Christine Ettrich Klaus Udo Ettrich Verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche
Christine Ettrich Klaus Udo Ettrich
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Christine Ettrich Klaus Udo Ettrich Verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche
Christine Ettrich Klaus Udo Ettrich
Verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche Mit 24 Abbildungen und 16 Tabellen
123
Prof. Dr. Christine Ettrich Kochstr. 54 04275 Leipzig
Prof. Dr. K. U. Ettrich Kochstr. 54 04275 Leipzig
ISBN-10 ISBN-13
3-540-33343-6 Springer Medizin Verlag Heidelberg 978-3-540-33343-2 Springer Medizin Verlag Heidelberg
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Springer Medizin Verlag. Ein Unternehmen von Springer Science+Business Media springer.de © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2006 Printed in Germany Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutzgesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Produkthaftung: Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag keine Gewähr übernommen werden. Derartige Angaben müssen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall anhand anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden.
Planung: Joachim Coch Projektmanagement: Joachim Coch Copy Editing: Daniela Böhle, Berlin Design: deblik, Berlin SPIN 1161 5910 Satz: TypoStudio Tobias Schaedla, Heidelberg Druck: Stürtz GmbH, Würzburg Gedruckt auf säurefreiem Papier 2126 – 5 4 3 2 1 0
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Vorwort Die Ergebnisse der Pisa-Studie sind erschreckend und gleichzeitig logisch. Sie spiegeln wider, was interessierte, engagierte, »nahe am Kind« arbeitende Pädagogen seit langem vermuteten und befürchteten: Unsere Kinder sind zu wenig leistungsfähig, weil sie zu wenig leistungsorientiert erzogen sind. Sie haben es nicht gelernt, sich Kenntnisse zu erarbeiten und dauerhaft einzuprägen. Und sie haben nicht gelernt, dasjenige Verhalten zu erbringen, das die Grundvoraussetzung für die Erarbeitung kognitiver Leistungen ist. Verbirgt sich hinter dem Schlagwort »Leistungsgesellschaft« vielleicht eine Gesellschaft, die immer weniger leistungsfähig ist, aber sich im Gegensatz dazu immer mehr leistet? Das wäre verhängnisvoll für die Zukunft unseres Landes. Wie immer ist nach solchen schockierenden Ergebnissen oder Meldungen eine Menge Aktivität zu finden, die sich leider manchmal in wildem Aktionismus äußert und auch schnell wieder erschöpft – dies oft nicht, ohne zunächst hohe Kosten verursacht zu haben. Es ist hingegen bekannt, dass Störungen des Sozialverhaltens von Kindern und Jugendlichen sowohl an Häufigkeit als auch an Intensität zunehmen. Die Medien sind täglich voll von immer neuen Berichten über Verhaltensexzesse von Kindern und Jugendlichen. Dieser Trend ist seit vielen Jahren ungebrochen. Häufig fällt es schwer, erziehungsbedingte und krankheitswertige Verhaltensauffälligkeiten voneinander zu trennen. Oftmals benötigen die betreffenden Kinder und Jugendlichen zur Korrektur ihrer Fehlverhaltensweisen den gleichzeitigen Einsatz mehrerer Helfersysteme: Familie, Schule und Ausbildungseinrichtung, Organe der Jugendhilfe bis hin zu Justizorganen, aber auch psychologische, psychiatrische und psychotherapeutische Hilfen. Das komplizierte Netz von Ursachen, aufrechterhaltenden und erschwerenden Faktoren ist mitunter schwer zu durchleuchten. Dies ist aber nötig, um den Kindern und Jugendlichen ihre spezifischen Entwicklungssituationen und mit ihren spezifischen Verhaltensmustern die am ehesten angemessene und damit effektivste Hilfe angedeihen zu lassen. Diese Fragen müssen wir sowohl im Interesse der Heranwachsenden als auch im Interesse der Gesellschaft stärker beachten und unser Herangehen auf Wirksamkeit überprüfen. Die Autoren des vorliegenden Buches meinen, dass es an der Zeit ist, im Interesse unserer Kinder und Jugendlichen und damit unserer Zukunft zum einen vorhandenes modernes theoretisches Wissen mehrerer Disziplinen übergreifend darzustellen und zum anderen vorhandene empirische Ergebnisse aus der Praxis vor diesem Hintergrund zu referieren und in künftiges Planen und Handeln einzubeziehen, damit Verhaltensgestörte nicht zu Außenseitern der Gesellschaft werden. Das vorliegende Fachbuch will sich dieser Herausforderung stellen, indem es interdisziplinäres theoretisches Wissen vertieft und mit neuen Erkenntnissen anreichert und dabei auch auf aktuelle Studien Bezug nimmt. Ergebnisse einer eigenen mehr als 10-jährigen prospektiven interdisziplinären Längsschnittstudie werden zur Verdeutlichung herangezogen. Einen Großteil der vielfältigen Ergebnisse haben wir in einer Monographie ausführlich dargestellt, im vorliegenden Buch nehmen wir lediglich auf inhaltliche Schwerpunkte Bezug, soweit sie der Illustration und Vertiefung des Inhaltes dienen. Diese Schwerpunkte stellen wir in den folgenden Kapiteln 1–5 dieses Buches in speziell hervorgehobenen Studienboxen vor. Interessenten für Details verweisen wir auf das Buch »Persönlichkeitsentwicklung verhaltensgestörter Kinder und Jugendlicher – Ergebnisse einer prospektiven Längsschnittstudie« (Ettrich u. Ettrich 2006). Wesentliche Teile des Buches werden die Kapitel 4 (Diagnostik) und Kapitel 5 (Therapie) sein, um Orientierung und Handlungsanleitung für den Praktiker zu bieten. Fallbeispiele und
VI
Vorwort
Interviewauszüge zur Illustration der theoretischen Ausführungen werden die Darstellung abrunden. Am therapeutischen Prozess sind Therapeutinnen wie Therapeuten, Psychologinnen wie Psychologen, Lehrerinnen wie Lehrer und männliche wie weibliche Angehörige anderer Berufsgruppen beteiligt. Zur besseren Lesbarkeit haben wir uns im vorliegenden Buch aber dazu entschieden, jeweils nur die männliche Form zu verwenden. Wir danken an dieser Stelle dem Regionalschulamt der Stadt Leipzig, den Verantwortlichen der Schule für Erziehungshilfe »Kurt Biedermann« bzw. des Förderschulzentrums, den Untersucherinnen innerhalb der Längsschnittstudie für die interdisziplinäre Zusammenarbeit. Frau Welke danken wir für die jederzeit schnelle und umsichtige Erledigung der Schreibarbeiten am Manuskript. Herrn Coch vom Verlag Springer und unserer betreuenden Lektorin Frau Böhle danken wir für die gute Zusammenarbeit und die Unterstützung bei der Herausgabe unseres Buches. Ein besonderer Dank gilt den Schülern für Erziehungshilfe und ihren Eltern, durch deren freiwillige Mitarbeit in unserer Studie deren vielfältige Ergebnisse erst ermöglicht wurden. Leipzig, im Sommer 2006 Prof. Dr. Christine Ettrich und Prof. Dr. Klaus Udo Ettrich
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Inhaltsverzeichnis 1
1.1 1.2 1.3
Notwendigkeit der Zusammenarbeit zwischen Pädagogik, Psychologie und Medizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1 Anlage-Umwelt-Kontroverse – aktuell betrachtet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Herausbildung und Vorkommenshäufigkeit von Störungen des Sozialverhaltens . . . . . . . . . . 8 Die Familie als soziale Basisstation. . . . . . . . . . .11
2
Verhalten: normales – auffälliges – gestörtes . . . . . . . 15
2.1 2.1.1
Normales Verhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .16 Entwicklung des sozialen und emotionalen Verhaltens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .18 Entwicklung der kognitiven Fähigkeiten . . . . .30 Entwicklung der körperlichen und motorischen Fähigkeiten . . . . . . . . . . . . . . .36 Auffälliges Sozialverhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . .40 Gestörtes Sozialverhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . .47 Welche Arten von Verhaltensstörungen unterscheiden wir? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .47 Entstehungswege und Verlauf von Störungen des Sozialverhaltens . . . . . . . . .57 Der Einfluss von Persönlichkeitsmerkmalen auf die Entwicklung des antisozialen Verhaltens . . . . . . . . . . . . . . . . .62 Die Bedeutung des sozialen Umfeldes . . . . . . .66 Familiäres Umfeld. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .66 Schulisch-institutionelles und Freizeit-Umfeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .71 Gesellschaftliches Umfeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . .75
2.1.2 2.1.3 2.2 2.3 2.3.1 2.3.2 2.3.3
2.4 2.4.1 2.4.2 2.4.3
3
Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung . . . . . . . . . . . . . . . . . 79
3.1 3.2 3.3
Symptomatik der ADHS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .83 Ursachen für ADHS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .84 Was bedeutet ADHS in verschiedenen Entwicklungsstadien? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .86 Diagnostik bei ADHS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .88 Schwerpunkte therapeutischer Möglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .89
3.4 3.5
4.1.2 4.1.3 4.2 4.2.1 4.2.2 4.2.3 4.2.4 4.2.5 4.2.6 4.2.7
4.2.8
Problembewältigungsmuster der Kinder und Jugendlichen . . . . . . . . . . . . . Verhaltensbeurteilung durch die Eltern . . . . Psychologische und medizinische Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erfassung der Symptomatik . . . . . . . . . . . . . . . Entwicklungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ermittlung kognitiver Voraussetzungen . . . Persönlichkeitsdiagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . Beurteilung sozialer Fähigkeiten . . . . . . . . . . Auswertung von Berichten zum aktuellen Verhalten des Kindes oder Jugendlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Körperliche und entwicklungsneurologische Untersuchung . . . . . . . . . . . . .
101 110 111 111 112 114 115 121 126
132 134
5
Wie kann man den betroffenen Kindern und ihrer Umwelt helfen? . . . . . 139
5.1 5.1.1
Hilfen im Elternhaus bzw. in der Familie . . . 142 Sprechen und Zuhören – als Zeichen der Wertschätzung des anderen . . . . . . . . . . . 144 Präventionsprogramme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Hilfen im Kindergarten bzw. in der Schule . .155 Hilfen vor der Einschulung . . . . . . . . . . . . . . . . 156 Pädagogische Hilfen in der Schule . . . . . . . . 157 Therapeutische Hilfen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 Basisnotwendigkeiten für die Therapie . . . . 184 Elternberatung, Elterntraining und Problemlösetraining . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 Verhaltenstherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 Weitere therapeutische Möglichkeiten . . . . 211
5.1.2 5.2 5.2.1 5.2.2 5.3 5.3.1 5.3.2 5.3.3 5.3.4
6
Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . 219
6.1 6.2
Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 Quellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 Über die Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240
4
4.1 4.1.1
Diagnostik von Verhaltensauffälligkeiten und assoziierten Störungen: pädagogisch – psychologisch – medizinisch . . . . . . . . . . 95 Pädagogische Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . .98 Standardisierte Verhaltensbeurteilung durch Lehrer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100
Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241
1
Notwendigkeit der Zusammenarbeit zwischen Pädagogik, Psychologie und Medizin
1.1
Anlage-Umwelt-Kontroverse – aktuell betrachtet – 4
1.2
Herausbildung und Vorkommenshäufigkeit von Störungen des Sozialverhaltens – 8
1.3
Die Familie als soziale Basisstation – 11
2
1
Kapitel 1 · Notwendigkeit der Zusammenarbeit zwischen Pädagogik, Psychologie und Medizin
In diesem Kapitel soll v. a. erklärt werden, warum Interdisziplinarität bei den von uns untersuchten verhaltensauffälligen und verhaltensgestörten Kindern und Jugendlichen so unabdingbar ist, warum also die ständige Sicht auf die biopsychosoziale Einheit des Schülers bzw. Patienten geboten ist. Wir begründen dies v. a. mit dem vielseitigen Ursachengefüge, das zu kindlichen Verhaltensauffälligkeiten und Verhaltensstörungen führt. Dabei gehen wir kurz auf die Anlage-Umwelt-Kontroverse aus aktueller Sicht ein und weisen auf die jeweils ganz individuelle Legierung biologischer, psychischer und sozialer Ursachen bei der Herausbildung von Verhaltensstörungen hin. Im Anschluss gehen wir auf deren Vorkommenshäufigkeit und Mechanismen der Herausbildung ein, um daraus wesentliche Handlungserfordernisse für den pädagogischen und klinischen Alltag abzuleiten. ! Das komplizierte Netz von Ursachen gestörter Entwicklung erfordert auch ein Netz von Hilfen bzw. Helfersystemen, um wirkungsvolle Korrekturen zu erzielen.
Das sagt sich leicht und bleibt heute auch an vielen Stellen unwidersprochen, doch wir sehen in der Realität immer wieder, dass die »Netze« in vielen Fällen zu schlecht geknüpft sind. Der jeweils über eine gewisse Zeit nicht unmittelbar beteiligte Partner zieht sich schnell zurück oder wird nicht mehr einbezogen, seine Aufmerksamkeit für spezielle Kinder bzw. Schüler oder Patienten lässt nach und er wird auf diese Weise schließlich zur Schwachstelle, an der das Netz reißt. Dabei entstehen solche Schwachstellen meist nicht aus Unvermögen oder gar Unwillen der betreffenden Personen, sondern zunehmend unter dem Blickwinkel der Einsparung. Nun wissen wir längst alle, dass Sparen an der falschen Stelle sehr teuer werden kann. Die Folgen sind für die Kinder häufig verheerend und die Ausbesserungsarbeiten am Netz mitunter um ein Vielfaches teurer als dessen Erhaltung. Wie geht man mit solchen Erkenntnissen sinnvoll um? Ein Beispiel: Als in den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts in den USA festgestellt wurde, dass der Forschungsstand auf dem Gebiet der Kinderpsychotherapie weit hinter dem bei Erwachsenen zurücklag, reagierte das NIMH (National Institute of Mental Health) darauf mit
einer Aufstockung der Forschungsgelder auf diesem Gebiet um das Fünffache (Schneider 1996). Dies ist jedoch nur die eine, die theoretische Seite der Medaille. Was ist in der Praxis zu tun? Es ist wieder und wieder darzulegen, wie die kindliche Entwicklung sich in einer vielfältigen Vernetzung von Biologischem, Kognitivem, Emotionalem und Sozialem vollzieht. Wenn wir die Biografien kinder- und jugendpsychiatrischer Patienten anschauen, die biologischen und sozialen Risiken der Entwicklung auflisten und abwägen und mit dem zum Zeitpunkt der Vorstellung des Patienten vorliegenden Störungsbild vergleichen, bekommen wir eine Ahnung davon, in welch immenser Vielfalt sich Risikofaktoren und protektive Faktoren, Vulnerabilität und Resilienz zu einem einzigartigen individuellen Entwicklungsmosaik zusammenfügen, das schließlich die Persönlichkeit des Kindes oder Jugendlichen zum Zeitpunkt X determiniert. Studienbox Eine von Vertretern der Pädagogik, Psychologie und Medizin seit 1994 durchgeführte interdisziplinäre Längsschnittstudie (Ettrich u. Ettrich 2006) beschäftigt sich mit Entwicklungsverläufen und Strategien der Lebensbewältigung bei verhaltensauffälligen Schülern. Die Studie sieht es als Notwendigkeit und gleichzeitig als Ziel an, die Gefühls- und Gedankenwelt der als verhaltensauffällig eingestuften Kinder zu erkennen und zu verstehen. Gerade vor dem Hintergrund aktueller Überlegungen zum Bildungswesen erscheint es sehr bedeutsam, darüber mehr zu wissen. Es wird auch der Frage nachgegangen, ob nur diejenigen Heranwachsenden auffällig sind, die es durch ihr Tun nach außen oft eindrucksvoll belegen, oder ob es nicht auch viele Jugendliche gibt, die innere Probleme wie Ängste, Einsamkeitsempfinden, mangelhaftes Selbstwertgefühl und Ähnliches haben, die aber dem Umfeld oft lange Zeit nicht auffallen. Die genannten Schüler besuchen eine Förderschule für Erziehungshilfe, sind aber während dieser Zeit zu einem hohen Prozentsatz für kürzere oder längere Phasen ▼
3 Kapitel 1 · Notwendigkeit der Zusammenarbeit
auch Patienten einer kinder- und jugendpsychiatrisch-psychotherapeutischen Klinik, sei es ambulant, tagesklinisch oder stationär. Dies kommt daher, dass die von den Schülern gezeigten Verhaltensauffälligkeiten einen Schweregrad aufweisen, dem ausschließlich mit pädagogischen Mitteln nicht zu begegnen ist, bzw. dass die Schüler außer den gezeigten Auffälligkeiten im Sozialverhalten eine ganze Reihe anderer Probleme aufweisen, v. a. im emotionalen Bereich. Diese Kombination von Faktoren in ihrer jeweils individuellen Vernetzung macht für die betreffenden Kinder auch ein Netz an Helfersystemen notwendig. Hierbei steht phasenweise das eine oder andere System im Vordergrund, grundsätzlich müssen aber alle Systeme in Bereitschaft sein. Als Helfersysteme kommen das Elternhaus, die Schule, das Jugendamt und die Medizin bzw. Psychologie mit jeweils spezifischen Schwerpunkten in Frage.
Sowohl Wissenschaftlern als auch Praktikern kommen in den letzten Jahren zunehmend die immensen Fortschritte auf dem Gebiet der Untersuchungstechniken zugute. Was noch zu Lurias und Leontjews Zeiten, also in der Mitte des 20. Jahrhunderts, in der Erforschung der Hirnfunktionen Postulat bleiben musste, ist heute Dank spezieller Untersuchungstechniken (moderne bildgebende Verfahren) nachweisbar geworden, die Aufeinanderbezogenheit kann also sowohl im positiven als auch im negativen Sinne dargestellt werden. Diese Vernetzungen und ihre Entwicklung müssen in Längsschnittstudien verfolgt und deren Ergebnisse allen Helfersystemen immer wieder nahe gebracht werden. Nur so können die einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen wahrhaft interdisziplinär arbeiten, indem sie die Auswirkungen ihres Tuns (und auch ihres Unterlassens) auf die Entwicklung unserer Kinder und Jugendlichen erkennen, verinnerlichen und im alltäglichen Handeln bedenken sowie für die Nachbardisziplinen plausibel darstellen. Es ist in den letzten 4-5 Jahren viel über Neuroplastizität, Neuromodulation, kortikale Landkarten, Neurotransmittersysteme und Zeitfenster geforscht
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und publiziert worden. Es ist vieles bekannt und belegbar, was vor 20 oder 30 Jahren Spekulation und Hypothese bleiben musste. Dennoch hat man als »Insider« oft den Eindruck, dass viel Bekanntes noch nicht Eingang in die Praxis aller mit der kindlichen Entwicklung befassten Disziplinen gefunden hat und häufig auch das, was man weiß, noch nicht ernst genug genommen und damit handlungsleitend wird. Dies verdeutlichen 2 Pressemeldungen, die die Autoren am gleichen Tag erreichten: ▬ »Nach Schätzungen der WHO wird die Anzahl der gestörten Kinder und Jugendlichen bis 2020 um 50% steigen.« (Pressedienst DGKJP) ▬ Sachsen: »Koalition legte Doppelhaushalt vor/ drastischer Stellenabbau vor allem bei Lehrern.« (LVZ vom 12.1.2005) Die erste der beiden Meldungen verlangt zwingend eine bessere Betreuung unserer Heranwachsenden. Diese darf durchaus nicht erst im medizinischen bzw. psychologischen Bereich, also bei den Störungen, ansetzen, sondern bei der ganz alltäglichen institutionellen Erziehung und Bildung. Die zweite Meldung, quasi als Antwort auf diese alarmierende Tatsache, kündigt einen weiteren Abbau an elementaren, nämlich schulischen, Betreuungsmöglichkeiten an, und dies sowohl im Bereich von Regelschulen als auch von Förderschulen. Nun mag die zweite Meldung regional begrenzt wirken, aber wir alle wissen, dass solche Kürzungen bundesweit an der Tagesordnung sind. Aus diesem Grunde wünschen sich die Autoren dieses Buches, dass Eltern, Mitarbeiter von Jugendämtern, Vertreter aus Pädagogik, Psychologie und Medizin sowie Studenten dieser Wissenschaftszweige und alle, die mit der Erziehung und Behandlung von Kindern und Jugendlichen befasst sind, sowohl ihr theoretisches Wissen interdisziplinär erweitern als auch die referierten empirischen Ergebnisse in ihre praktische Arbeit einbeziehen können. Vor allem wünschen sie sich, dass diese Aussagen sie motivieren, die Notwendigkeiten für kindliche Erziehung und Ausbildung auch bei den Politikern immer wieder anzumahnen, denn: ! Erkenntnis ist wichtig, aber erst die Tat kann verändern.
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Kapitel 1 · Notwendigkeit der Zusammenarbeit zwischen Pädagogik, Psychologie und Medizin
1.1
Anlage-Umwelt-Kontroverse – aktuell betrachtet
Wenn es um auffälliges oder gestörtes Verhalten unserer Kinder und Jugendlichen geht, sind Eltern, Mitarbeiter von Jugendämtern, Pädagogen, Psychologen und Mediziner gleichermaßen aufgerufen, ihren Beitrag zur Veränderung und Normalisierung des Verhaltens und damit zu einer möglichst störungsarmen Persönlichkeitsentwicklung zu leisten. Jahrhundertelang wurde erbittert eine AnlageUmwelt-Kontroverse geführt, die besagt, dass entweder den Anlagen (dem Angeborenen) oder der Umwelt die ausschließliche Grundlage für die Entwicklung zukommt. Diese Kontroverse scheint überwunden durch die Erkenntnis, dass nicht Anlage oder Umwelt, sondern Anlage und Umwelt für die Entwicklung eines Menschen verantwortlich sind. Das Wissen um den Einfluss biologischer Faktoren und Umweltfaktoren ist in den letzten 20 Jahren beeindruckend gewachsen. Vor allem auf biologischer Seite können wir heute Fakten und Abläufe nachweisen, die vor Jahrzehnten nur vermutet werden konnten, wie z. B. die bereits erwähnten von Luria (1970) und Leontjew (1980) postulierten »funktionellen Organe« oder »funktionellen Systeme« im Gehirn. Wir greifen auf die Beobachtungen und Hypothesen von Luria und Leontjew zurück, weil wir daran zeigen können, dass es Zeit, Erkenntnisfortschritt und technischer Neuerungen bedarf, bis gehaltvolle wissenschaftliche Vermutungen bewiesen werden können. So gilt es heute als unumstritten, dass das Gehirn seine Funktionen durch komplexe dynamische Strukturen entwickelt und aufrechterhält, die je nach geforderter Leistung mehr oder weniger umfassende Hirnareale in ihre Tätigkeit einbeziehen. Diese funktionellen Hirnorgane werden von Leontjew folgendermaßen charakterisiert: Bestimmte wiederkehrende Aufgaben evozieren die Herausbildung eines »Funktionsteams«, das diejenigen Hirnareale einschließt, die am zweckmäßigsten zur Erfüllung einer bestimmten Funktion beitragen können. Ist ein solches funktionelles System gebildet, so vollzieht sich seine Ausdifferenzierung und weitere Funktion als einheitliches
Organ. Es weist eine relativ hohe Beständigkeit auf und verfügt durch die Möglichkeit des Ersatzes von Einzelelementen über große Plastizität und Kompensationsfähigkeit. Diese funktionellen Hirnorgane fungieren nach Anochin (1964, 1967) als morphologische Einheiten, die einen heterogenen Reifungsprozess in Abhängigkeit von der Bedeutung des einzelnen Organs oder des Systems in der Auseinandersetzung des Individuums mit der Umwelt durchmachen (Ettrich 1990, 1994a; Ettrich u. Ettrich 2006). Aufgrund des von Anochin gefundenen Reafferenzprinzips ist es möglich, eine optimale Umweltanpassung zu erreichen, ohne die keine Erhaltung des Lebens und keine Entwicklung möglich wäre (Thalheim 1967; Neumärker 1968). Im Modell des Akertschen Bäumchens (Akert 1979) wird dies sehr anschaulich dargestellt. Das Modell besagt, dass eine bestimmte Anzahl neuronaler Verknüpfungen, die unter genetischer Kontrolle aufgebaut werden, der funktionellen Bestätigung bedürfen, um nicht der Rückbildung anheim zu fallen. Ebenso gibt es eine Anzahl neuronaler Verbindungen, die genetisch zwar möglich sind, aber sich erst durch die Umweltanforderungen (Förderung) herausbilden. Dieses z. B. von Rothenberger und Hüter 1997 bestätigte Modell zeigt, dass die Frage der Umwelt bzw. der genetischen Determination der Entwicklung von Hirnfunktionen keineswegs alternativ zu beantworten ist. Je nach Funktion in der Entwicklungsstufe kommt beiden Faktorengruppen natürlich unterschiedliche Bedeutung zu. ! Wir sprechen von dem Modell der Doppeldetermination von Hirnfunktionen. Hierdurch kann eine gestörte Funktion sowohl in biologischen (traumatischen, genetischen, entzündlichen, metabolischen usw.) als auch in Umweltfaktoren ihre Ursachen haben.
Im Folgenden möchten wir im Überblick darstellen, was man heute über die Entwicklung des Zentralnervensystems weiß und was als Grundlage diagnostischen und therapeutischen Vorgehens dienen sollte. Wir wissen heute, dass die Nervenzellen tatsächlich funktionelle Systeme bilden, die trotz räumlicher Trennung im Sinne einer bestimmten Funktion zusammenwirken und durch wiederhol-
5 1.1 · Anlage-Umwelt-Kontroverse – aktuell betrachtet
tes Zusammenwirken jeweils in ihrem Wirken bestätigt und damit stabilisiert werden. Wir wissen und können heute auch nachweisen, dass durch komplexe neuronale Verschaltungen in unserem Gehirn sog. kortikale Landkarten entstehen (Spitzer 1996), die durch ständige Adaptation und Reorganisation auf funktioneller Ebene unser Gehirn zu höheren kognitiven Leistungen befähigen. Wir wissen, dass diese Karten in höchstem Maße flexibel bis ins Alter hinein sind. Wenn wir uns die Entwicklungsneuropsychologie funktioneller Systeme im Kindesalter anschauen und hierbei fünf Entwicklungsstufen herausheben, kommen wir auf folgende funktionelle Systeme: ▬ die sog. Aktivierungseinheit, die an die Hirnstruktur der Formatio reticularis gebunden ist und sich bis zum Entwicklungsalter von 12 Monaten herausbildet, ▬ die primären, sensorischen und motorischen Areale; diese sind an die Hirnstrukturen der visuellen auditorischen, somatosensorischen und motorischen Regionen gebunden, bilden sich auch bis zum Entwicklungsalter von 12 Monaten aus und betreffen, wenn wir sie mit den Entwicklungsstufen nach Piaget (1990) vergleichen, die sensumotorische Entwicklung, ▬ das 3. funktionelle System, das die sekundären Assoziationsfelder und die Hemisphärendominanz betrifft, ist an die Hirnstrukturen der sekundären sensorischen und motorischen Regionen gebunden, bildet sich im Entwicklungsalter bis zu 5 Jahren heraus und ist vergleichbar mit der Entwicklungsstufe des präoperationalen anschaulichen Denkens nach Piaget, ▬ die tertiären sensorischen Inputareale sind strukturell an den Parietallappen gebunden und betreffen das Entwicklungsalter von 5-8 Jahren; dieses ist vergleichbar mit dem anschaulichen und konkret operativen Denken nach Piaget, ▬ die tertiären Outputareale und die Handlungsplanung sind strukturell an die Präfrontalregion gebunden und entwickeln sich im Alter zwischen 12 und 24 Jahren; in Anlehnung an Piaget sind sie vergleichbar mit dem formallogischen Denken. Wir können darüber hinaus nachweisen, dass an der Entstehung normaler und gestörter Hirnfunk-
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tionen verschiedene Neurotransmitter beteiligt sind, die auch das Zusammenspiel des emotionalen und kognitiven Systems bewirken. Das emotionale System wirkt v. a. motivierend und bewertend auf das kognitive ein und nimmt mit ihm gemeinsam eine verhaltensorganisierende Funktion wahr. Wir wissen weiterhin, dass es sowohl für die biologische Entwicklung des Gehirns als auch für die Wirksamkeit bestimmter Umwelterfahrungen sog. optimale Zeiten oder »Zeitfenster« gibt, in denen die Ansprechbarkeit des zentralen Nervensystems auf bestimmte Reize erhöht ist, während die gleichen Umweltreize nach dem Schließen dieses Zeitfensters ihre optimale Wirksamkeit wieder verlieren. So ist z. B. das Erlernen einer Fremdsprache simultan mit der Muttersprache am einfachsten und ökonomischsten, da sich zu diesem Zeitpunkt im Gehirn nur ein einziges Sprachzentrum ausbildet. Jede nach dieser Zeit erlernte Fremdsprache führt zur Ausbildung eines weiteren Sprachzentrums (Spitzer 2002) und ist damit für das Gehirn aufwändiger. Pauli-Pott (2004) sagt: »Basisprozesse der Persönlichkeitsentwicklung sind die Entfaltung der Anlagen (Reifung) und die Anpassung an die Umwelt, die durch neuronale Veränderungen assoziativer und nichtassoziativer Art erfolgt.« (S. 255)
Hierbei verstehen wir unter nichtassoziativer neuronaler Veränderung Anpassungsleistungen während der frühen Gehirnentwicklung und unter assoziativer neuronaler Veränderung Anpassung im gesamten Lebenslauf, wie er durch Lernprozesse erfolgt. Schon Spiel und Spiel (1987) erwähnen das »Phänomen der kritischen und sensiblen Perioden«. Sie schreiben: »Im Zuge der Beobachtung von Entwicklungsschritten konnte gefunden werden, dass Fähigkeiten und Fertigkeiten (...) sich zu definierten Zeitpunkten einstellen, in denen diese Funktionen, Fähigkeiten, Fertigkeiten, Leistungen und Vermögen erstmalig in Erscheinung treten; dann werden sie offensichtlich eine gewisse Zeitstrecke hindurch geformt, geprägt und schließlich in den Bestand internalisiert. Der
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1
Kapitel 1 · Notwendigkeit der Zusammenarbeit zwischen Pädagogik, Psychologie und Medizin
Lebensprozess hat scheinbar bestimmte Perioden dafür ausersehen – wobei wir annehmen dürfen, dass eine gewisse Korrelation zur Hirnreifung besteht – in dem »Neues« an Hirnleistung in Erscheinung treten kann.« (S. 14)
Benno ist das 2. von 3 Kindern seiner Mutter. Sein Bruder ist 3 Jahre älter als er, seine Schwester 2 Jahre jünger. Die beiden Brüder stammen aus der 1. Ehe der Mutter, die geschieden wurde, als sie mit Benno im 4. Monat schwanger war. Benno wird 1 Monat vor dem errechneten Geburtstermin ohne wesentliche Komplikationen geboren. Er entwickelt sich nach Aussage der Mutter im 1. Lebensjahr relativ problemlos. Kurz nach Bennos 1. Geburtstag heiratet seine Mutter erneut. Zu seinem leiblichen Vater hat Benno seitdem keinen Kontakt mehr, weil »der neue Vati das nicht will«, zum Stiefvater hat er nach Aussage der Mutter ein gutes Verhältnis. Leider sei ihr Mann berufsbedingt wenig zu Hause, denn seine
konsequente Erziehungshaltung sei für sie bei 3 Kindern sehr wichtig. Benno brauche diese Konsequenz besonders, da er in der letzten Zeit sehr häufig durch Wutausbrüche und Ungehorsam das familiäre Leben belaste, was dann wieder die Mutter in ihrer Hilflosigkeit harte Strafen androhen lasse, die sie gar nicht verwirklichen könne und wolle. Aber Benno würde, als wolle er sie herausfordern, dann noch mehr »aufdrehen«. Wir lernen Benno kennen, als er gerade 3 Jahre alt ist. Sein globaler Entwicklungsstand liegt im unteren Bereich der Altersnorm, auffallend sind starke Unterschiede in einzelnen Entwicklungsbereichen sowie eine hohe Symptombelastung im psychosomatischen Bereich. Obwohl bei dem Jungen noch kein krankheitswertiger Befund vorliegt, raten wir der Mutter, auch wegen des geschilderten Problemverhaltens, eine psychologische Beratungsstelle aufzusuchen. Sie lehnt dies aus Mangel an Zeit und Einsicht in die Notwendigkeit ab. Bei den folgenden Kontrolluntersuchungen im Rahmen der Längsschnittstudie stellen wir fest, dass sich sowohl seine Verhaltensauffälligkeiten als auch sein Entwicklungsrückstand zur Altersnorm leider nicht relativieren, sondern vergrößern. Die psychosomatischen Symptome ändern sich z. T. entwicklungsbedingt, einige sind jedoch überdauernd und nehmen an Intensität zu. So berichtet die Mutter beim 3. Messzeitpunkt (Benno ist zu dieser Zeit 6 Jahre alt und soll im Herbst eingeschult werden), dass der Junge inzwischen fast jede Nacht einnässt und auch ein vom Hausarzt zwischenzeitlich verordnetes Medikament keinerlei Erfolg brachte. Außerdem lasse sein Verhalten im Kindergarten und zu Hause zu wünschen übrig, so dass ihr vor der Einschulung jetzt schon bange sei. Die Mutter ist jetzt bereit, mit Benno eine psychologische Beratungsstelle aufzusuchen. Dort wird ein verhaltenstherapeutisches Programm mit dem Jungen begonnen, das leider bereits nach der dritten Stunde abgebrochen werden muss, da die Mutter ihn nicht mehr zur Therapie bringt und er allein den Weg noch nicht bewältigt.
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Das menschliche Verhalten wird also durch Interaktionsprozesse zwischen biologischen und Umweltfaktoren determiniert. Damit nicht genug: Es wird schließlich auch determiniert durch die vorangegangene Entwicklung bis zum Zeitpunkt X. Das bereits Entwickelte ist sinnbildlich ausgedrückt die Bühne, auf der sich das Zwei-PersonenStück zwischen Anlage und Umwelt abspielt. Dabei ist es wie im Theater: Nicht auf jeder Bühne kann alles gespielt werden. Allerdings verwandelt sich – anders als im Theater – durch dieses Spiel die Bühne selbst, so dass es unmöglich wird, mehrmals hintereinander dasselbe Stück aufzuführen. Das heißt, jede Sequenz ist gültig, ist gestaltend wirksam – es ist eben kein Spiel! Um dieses Zusammenspiel biologischer Parameter und sozialer Faktoren in positiver wie in negativer Hinsicht zu verdeutlichen, fügen wir an dieser Stelle exemplarisch 2 kurze Fallbeispiele ein, die uns in einer früheren Längsschnittstudie an Klein- und Vorschulkindern begegnet sind:
Fallbeispiele Benno und Anna Benno
7 1.1 · Anlage-Umwelt-Kontroverse – aktuell betrachtet
Die 4. Untersuchung im Rahmen unserer Längsschnittstudie führen wird in der Schule durch, wo uns Benno, jetzt Schüler der 1. Klasse, als ein sehr leistungsschwacher und extrem verhaltensauffälliger Junge geschildert wird, was sich in der Untersuchung auch im Wesentlichen bestätigt. Was wir außerdem sehen, ist eine ausgeprägte Onychophagie (Nägelkauen). Auf Befragen äußert der Junge, dass sein Bett noch immer fast jede Nacht nass sei. Aus diesem Grund gebe es v. a. sehr viel Streit mit dem Stiefvater, der ihm ständig die jüngere Schwester als Vorbild hinstelle und ihn häufig schlage, wenn er betrunken sei. Wahrscheinlich würden die Eltern sich bald wieder scheiden lassen. Der Vater habe schon eine neue Freundin und beide Eltern würden ihm die Schuld für ihre gescheiterte Beziehung geben, wenn sie sich gerade mal einig sind. Im folgenden Beratungsgespräch raten wir der Mutter nochmals eindringlich zu einer Therapie für Benno und melden ihn in der zuständigen Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie an; die stationäre Aufnahme kommt jedoch nicht zustande, weil der Stiefvater sie kategorisch ablehnt mit der Begründung, der Junge habe doch »nichts an der Kirsche«. Da unsere Längsschnittstudie mit dem 4. Messzeitpunkt im 1. Schuljahr endet, hören wir in den folgenden Jahren von dem Jungen nichts. Einige Jahre später erfuhren wir von Bennos Tod aus der Zeitung. Er hatte mit einer Bande Jugendlicher mit einem gestohlenen Auto einen tödlichen Verkehrsunfall erlitten.
Anna ist ein ehemaliges »Frühchen«. In der 31. Schwangerschaftswoche hatten bei der Mutter nach einem psychischen Schock (tragischer Tod ihres Vaters) plötzlich die Wehen eingesetzt. Sie bekam ihr erstes Kind im Alter von 19 Jahren, nachdem der Kindesvater sie bereits verlassen hatte, sobald ihm die Schwangerschaft bekannt geworden war. Als wir Anna im Alter von 3 Jahren zum ersten Mal sehen, hat sie körperlich, psychisch und sozial
ungefähr den Entwicklungsstand eines zweieinhalbjährigen Kindes mit besonderen Schwierigkeiten in der Formdifferenzierung, dem Sprachverstehen und dem aktiven Sprechen. Die interaktive Bedeutung der sprachlichen Äußerungen des Kindes ist durch ein erhebliches Stammeln eingeschränkt. Sie ist auch tagsüber noch nicht sauber und neigt zu rezidivierendem Erbrechen bei phasenweise eingeschränkter Nahrungsaufnahme. Wir beraten die Mutter ausführlich im Hinblick auf Tagesablauf, Ernährungsgewohnheiten, Sauberkeits- und Sprecherziehung. Die Mutter erscheint differenziert und engagiert, so dass zu erwarten ist, dass sie unsere Beratung in tägliches Handeln umsetzt. Wir empfehlen außerdem, Anna erst mit 4 Jahren in den Kindergarten zu geben, da die Großmutter Frührentnerin ist und sich tagsüber um das Kind kümmern kann. Beim 2. Messzeitpunkt, im Alter von 5 Jahren, wird uns Anna von ihrem »Papa« vorgestellt, weil, wie die Kleine freudig berichtet, die Eltern ihr ein Brüderchen versprochen haben und die Mama jetzt viel Ruhe braucht, damit sie es recht bald sehen kann und es nicht so lange nach der Geburt im Krankenhaus bleiben muss wie sie damals. Anna ist ein lebhaftes, mitunter etwas unruhiges Kind, das sich durch ihr derb-draufgängerisches Sozialverhalten viele Freunde vergrault und über das auch die Kindergärtnerin klagt. Ihr Essverhalten hat sich deutlich gebessert, sie erbricht nur noch im Rahmen somatischer Erkrankungen, z. B. fieberhafter Infekte, so dass sie sich körperlich der Altersnorm angeglichen hat. Schon seit über einem Jahr ist sie tags und nachts sauber; nur nach großen Anstrengungen kann es noch zu Einnässen kommen, was die differenzierten Eltern als entwicklungsbedingte Besonderheit nicht dramatisieren. Annas Wortschatz ist inzwischen recht umfangreich, so dass ihr die sprachliche Kommunikation sowohl mit Gleichaltrigen als auch mit Erwachsenen Freude bereitet und bis auf ein leichtes Lispeln gut gelingt. Der Stiefvater fragt nach Möglichkeiten der Schulung von Konzentration und Ausdauer und wird von uns beraten.
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Anna
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Kapitel 1 · Notwendigkeit der Zusammenarbeit zwischen Pädagogik, Psychologie und Medizin
Im Alter von 6 Jahren (3. Messzeitpunkt) liegt Anna in allen geprüften Bereichen innerhalb der Altersnorm, so dass die Einschulung problemlos sein dürfte. Die besorgte Mutter ist über dieses Resultat unserer Untersuchung sehr glücklich. Sie berichtet, dass das vergangene Jahr, in dem sie mit dem Baby zu Hause war, auch deutlich zu Annas Stabilisierung beigetragen habe. Sie sei in dieser Zeit im Kindergarten »Mittagskind« gewesen, nachmittags hätten sie immer etwas gemeinsam unternommen. Das solle auch nach der Einschulung noch eine Weile so bleiben. Einmal in der Woche besuche Anna einen Tanzkurs, was ihrem Bewegungsdrang entgegenkomme und ihr viel Freude bereite. Im Verhalten sei sie jetzt sowohl im Kindergarten als auch zu Hause angepasst und habe auch keine psychosomatischen Beschwerden mehr. Die Mutter habe den Eindruck, dass Anna jetzt ihren Platz im Leben gefunden habe. Als wir sie zum 4. Messzeitpunkt in der Schule untersuchen, ist Anna ein fröhliches, lernmotiviertes Kind, dessen Leistungen sich im oberen Drittel des Klassendurchschnitts bewegen und das von Mitschülern und Lehrern gemocht wird. Wir sind deshalb optimistisch, dass sie auch den in Kürze bevorstehenden – durch Umzug der Familie aufgrund väterlichen Arbeitsplatzwechsels bedingten – Schulwechsel nicht als Entwicklungsrisiko, sondern als eine zu bewältigende Herausforderung erleben und verarbeiten wird.
Diese beiden Fallbeispiele verdeutlichen, dass trotz ähnlicher Ausgangssituationen die individuellen Entwicklungsverläufe in unterschiedlichem sozialen Setting und bei unterschiedlicher Sensibilität für Hilfsangebote divergent sein können. Wer sich mit Störungen bei Kindern befasst, muss dies vor dem Hintergrund der Entwicklung tun. Diese vollzieht sich in der Auseinandersetzung mit der Umwelt. Sie ist mit positivem und negativem emotionalen Erleben verbunden. Dies kann mit körperlichen Reaktionen beantwortet werden, die in psychosomatischen Störungen und Krankheiten kulminieren. Sie haben Auswirkungen auf die weitere Entwicklung der Kinder. Psychische und psychosomatische Symptombelastungen sollten daher von
Anfang an ernst genommen, umfassend abgeklärt und geeigneten Interventionen zugeführt werden. Vieles ist noch unbekannt. Gut belegt und allgemein anerkannt ist inzwischen, dass Entwicklung ein lebenslanger Prozess ist (Thomae 1996), der sich auf verschiedenen Ebenen abspielt (motorische, kognitive, emotionale, soziale Ebene), die ihrerseits wieder vielfältige Interaktionen zeigen. Remschmidt (2003) verweist darauf, dass auch anerkannte Kenntnisse aus den Gebieten Pädiatrie, Kinder- und Jugendpsychiatrie und Entwicklungspsychologie noch keineswegs einen Niederschlag in präventiven Maßnahmen gefunden haben. Er verweist in diesem Zusammenhang noch einmal auf die Festlegung der Enquete-Kommission 1975: Prävention soll die geistig-seelische Entwicklungsstörung rechtzeitig beeinflussen, das Risiko psychischer Dekompensation im Erwachsenenalter herabsetzen, die Verfestigung von Verhaltensauffälligkeiten verhindern und die Auswirkungen von Behinderungen verringern. Wenn er bedauernd angibt, dass es naturgemäß fast ein Jahrzehnt dauert, bis neuere Ergebnisse der Forschung in die Praxis umgesetzt werden, ist leider zu konstatieren, dass diese Zeitspanne in wichtigen Feldern oft deutlich länger ist.
1.2
Herausbildung und Vorkommenshäufigkeit von Störungen des Sozialverhaltens
! Das Kindes- und Jugendalter gilt unbestritten als diejenige Zeit mit den rasantesten Entwicklungsfortschritten auf allen Ebenen. Rasante Entwicklungsfortschritte und zunehmende Komplexität bedeuten erhöhte Vulnerabilität, also erhöhte Störbarkeit. Daher sind Faktoren, die die Entwicklung stören, gerade in diesem frühen Lebensabschnitt so bedeutsam. Andererseits beinhaltet genau diese Zeitspanne ein großes Reservoir an Ressourcen, da Entwicklungspfade noch nicht »ausgetreten« sind, sondern sich durch positive Einflüsse besser korrigieren lassen als in jedem anderen Lebensabschnitt.
9 1.2 · Herausbildung und Vorkommenshäufigkeit von Störungen des Sozialverhaltens
Resch et al. (1999) weisen darauf hin, dass eine der wichtigsten Erkenntnisse der letzten Jahre bezüglich neuronaler Vernetzung darin besteht, dass sämtliche Nervengewebe in ihren Verschaltungen sich reaktiv auf äußere und innere Signale verändern. Schon von Beginn des Lebens an hinterlassen sie ihre Spuren im Substrat des Gehirns. Laucht, Schmidt und Esser (2002) berichten, dass in der frühen Kindheit hoch mit Risiken belastete Kinder im Alter von 11 Jahren 3-mal häufiger in ihrer Entwicklung beeinträchtigt waren als unbelastete Kinder. Die Autoren folgern, dass frühkindliche Entwicklungsrisiken spezifische und langfristige Auswirkungen haben, die sich ungünstig auch auf die schulische Entwicklung auswirken. Als organische Risikofaktoren wurden prä- und perinatale Komplikationen erfasst, während als psychosoziale Risiken familiäre Belastungsfaktoren berücksichtigt wurden, die während eines Elterninterviews erfragt wurden. Die deutlichsten Auswirkungen von prä- und perinatalen Risiken ergaben sich auf die motorische und kognitive Entwicklung, während sie sich nicht spezifisch auf das Sozialverhalten auswirkten. Der Anteil von Kindern ohne, mit leichten und mit schweren organischen Risiken ist bei Störungen des Sozialverhaltens in allen Teilgruppen etwa gleich hoch (ca. 4%). Demgegenüber treten bei Kindern mit hoher psychosozialer Risikobelastung gehäuft Störungen des Sozialverhaltens auf. Die Analysen lassen aber auch erkennen, dass psychosoziale Risiken sich nachteilig auf die motorische und kognitive Entwicklung auswirken. Die o. g. Autoren konnten zeigen, dass der Anteil schwerer Entwicklungsbeeinträchtigungen bei schwer organisch und psychosozial belasteten Kindern sprunghaft von durchschnittlich 4,4% auf 26,2% ansteigt. ! Nach DSM-IV bilden 6-10% der Jungen und 2-9% der Mädchen unter 18 Jahren eine Störung des Sozialverhaltens aus.
Petermann (1997) geht davon aus, dass mindestens 15% aller Kinder im Laufe ihrer Entwicklung Verhaltensstörungen herausbilden, also nicht nur vorübergehende auffällige Verhaltensweisen, sondern eine Symptomatik mit Krankheitswertigkeit. Bei vielen Kindern bilden sich Angststörungen aus (etwa 6-7%), ein weiterer relativ häufiger Prozent-
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satz zeigt aggressive Verhaltensmuster bzw. hyperaktives Verhalten mit Störungswert. Im Verlauf der Entwicklung lösen häufig einzelne Störungen einander ab. Nach Matthys, van Engeland und Resch (2003) weist die Statistik für kriminelles Verhalten von Kindern und Jugendlichen von 1993-1999 einen steilen Aufwärtstrend auf, wobei es seit 1999 eine Stagnation auf hohem Niveau gibt, von der das Delikt Körperverletzung mit weiterem Aufwärtstrend ausgenommen ist: »Jungen überwiegen vor allem bei den im Kindesalter beginnenden Störungen, wobei die Anzahl dissozialer Mädchen im Jugendalter ansteigt. Während Mädchen vor allem nicht aggressive Erscheinungsformen dissozialer Verhaltensweisen an den Tag legen, finden sich aggressive Verhaltensweisen bei jugendlichen männlichen Individuen gehäuft.« (S. 757)
Laucht et al. (2001) nennen Prävalenzraten bis zu 11,9% mit einem Zentralwert von 2% in Repräsentativstichproben (Lahey et al. 1999). Der Zentralwert bei oppositionellem Trotzverhalten liegt bei 3,2%, wobei die Störungen mit dem Alter zunehmen. Der Gipfel scheint im frühen Jugendalter zu liegen (Laucht unter Bezug auf Esser et al. 1992). Gegen diesen allgemeinen Trend gibt es eine kleine Gruppe Jugendlicher, deren Gewaltbereitschaft ungebrochen zunimmt. Häufig finden wir eine Komorbidität bestimmter Störungen. Dieser Komorbidität ist v. a. dann ein hoher Stellenwert beizumessen, wenn es sich um scheinbar konträre Störungen wie Aggressivität und Depressivität handelt. Der Zusammenhang von Delinquenz und psychischer Gestörtheit wird in von Branik (2006) mitgeteilten Untersuchungsergebnissen an 790 in Kalifornien inhaftierten Jugendlichen deutlich. Danach fanden sich bei diesen Jugendlichen zu 90% eine Störung des Sozialverhaltens, gleichzeitig zu 80% ein Substanzmissbrauch, bei weiteren 30-40% als Folge des Substanzmissbrauches eine Abhängigkeitsstörung und an der gleichen Untersuchungsgruppe bei 40-60% eine Internalisierende Störung. Im Durchschnitt wurden 4-5 Erkrankungen pro Proband ermittelt. Die enge Verkettung von Delinquenz und psychischen Störungen wird auch durch andere Unter-
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Kapitel 1 · Notwendigkeit der Zusammenarbeit zwischen Pädagogik, Psychologie und Medizin
suchungen belegt. Soderstrom et al. (2004) fanden bei 55% von jungen Gewalttätern Hinweise auf das Vorliegen von ADHS, Lernstörungen bzw. -behinderungen und Tics. Vor allem impulsive externalisierende Störungen in der Kindheit erhöhen die Wahrscheinlichkeit von Aggressivität und Delinquenz im Jugend- und frühen Erwachsenenalter (Rey et al. 2005) sowie die Entwicklung einer antisozialen Persönlichkeitsstörung (Simonoff et al. 2004). In Deutschland wird delinquentes Verhalten Jugendlicher derzeit mit großer Besorgnis betrachtet und steht im Zentrum des öffentlichen, wissenschaftlichen und kriminalpolitischen Interesses. In den Medien wird nahezu täglich über Straftaten junger Menschen berichtet: gewalttätiges Verhalten gegenüber Mitschülern oder Lehrern, Einbrüche und Diebstähle, räuberische Überfälle auf offener Straße, Erpressungen, Randale in Fußballstadien, Übergriffe auf Ausländer oder Zerstörungen und Beschädigungen öffentlicher Gegenstände und Einrichtungen. Abgesehen von der öffentlichen Aufmerksamkeit, ob nun künstlich geschürt oder nicht, waren von den im Jahr 2002 polizeilich registrierten 2.326.149 Tatverdächtigen 5,8% Kinder, 12,8% Jugendliche, 10,6% Heranwachsende und 70,8% Erwachsene über 21 Jahre. Bezogen auf 100.000 Einwohner der jeweiligen Altersgruppe wurden Jugendliche und Heranwachsende 2002 mehr als dreimal so häufig als Tatverdächtige registriert wie Erwachsene (Bundeskriminalamt, 2002) und sind damit, gemessen am Bevölkerungsanteil, überrepräsentiert. Wie wir bereits erwähnten, haben Spiel und Spiel (1987) darauf hingewiesen, dass Funktionen, Fähigkeiten, Fertigkeiten, Leistungen und Vermögen, »haben sie die für ihre Entwicklung kritische und sensible Periode sozusagen »verpasst«, im späteren Leben unter anderen Umständen nachgebildet werden können; wir bezeichnen sie jedoch dann als Surrogate (Ersatzstrukturen), denn es stellt sich heraus, dass das, was sich nicht zur rechten Zeit unproblematisch entwickeln konnte, sich später zwar bildet, aber bei Belastung dysfunktional leichter entgleist, leichter irritierbar ist, nicht so robust funktionsund anpassungsfähig und nicht so stabil ist wie jene Fähigkeiten, die sich »normal« gebildet
haben. Surrogate können leichter »ent«staltet werden« (S. 15).
Dafür gibt es vielfältige Beispiele aus der kindlichen und jugendlichen Entwicklung. So haben wir es bei kinder- und jugendpsychiatrischen oder psychologischen Patienten oft mit solchen zu tun, bei denen eine gewisse Funktionsstörung oder eine gewisse Vulnerabilität der Hirnstrukturen die Anfälligkeit für bestimmte schädliche biologische oder Umweltfaktoren erhöht und damit die Grundlage für Störungen aus dem kinder- und jugendpsychiatrischen Formenkreis liefert. Und bei Ettrich und Ettrich (2006) findet sich: »Nun ist sicher plausibel, dass solche leicht fehlerhaft zusammengesetzten funktionellen Systeme, um in Gang zu kommen oder in Gang zu bleiben, einen wesentlich höheren Energieaufwand benötigen als die fehlerfrei funktionierenden. Das heißt, »die Batterien sind eher leer«, die Leistungen können nur über kurze Zeiträume erbracht werden und trotz des höheren Energieaufwandes gelingen manche Hirnleistungen nur stockend. Wenn wir uns nun vor Augen führen, dass alle unsere wie auch immer gearteten Lebensäußerungen, also die motorischen ebenso wie die kognitiven, die emotionalen wie die sozialen, vom Gehirn als übergeordnetem Steuersystem »gemanagt » werden, geht hieraus eigentlich schon hervor, dass es Probleme auf all diesen Ebenen geben kann und, was nicht vergessen werden darf, das Gehirn ist nicht nur für alle Lebensäußerungen des Menschen verantwortlich, also für jeden erdenklichen Output, sondern ebenso für jeglichen Input, also für Wahrnehmungen jeglicher Art. Das wiederum bedeutet, es kommt durch die fehlerhafte Vernetzung bereits zu fehlerhaften Wahrnehmungen, und dies von frühester Kindheit an. Und wenn der Input fehlerhaft ist, wie soll dann der Output korrekt sein? Und selbst wenn er in Bezug auf den Input korrekt wäre, wäre er immer noch fehlerhaft, gemessen an der Norm. Sprich, wenn die Wahrnehmung des Kindes gestört ist, wie kann es dann normale Leistungen erbringen?« (S. 16)
11 1.3 · Die Familie als soziale Basisstation
Aus diesem Grund ist es wichtig, die Art der Interaktion zwischen den einzelnen Wirkgrößen genau zu beobachten, herauszufinden, wie vielfältig und individuell »normale Entwicklung« sein kann, aber auch sensibel zu sein für beginnende Abweichungen von diesem Pfad.
1.3
Die Familie als soziale Basisstation
In unserer prospektiven interdisziplinären Längsschnittstudie sind wir den unterschiedlichen Einflussfaktoren auf die kindliche bzw. jugendliche Entwicklung in akribischer Weise nachgegangen, was den Einsatz multimodaler Untersuchungsmethoden erfordert. Da Verhalten durch die sich entwickelnde Persönlichkeit determiniert wird, gleichzeitig aber durch häufig angewendetes Verhalten eine Persönlichkeitsformung geschieht, sind die von uns eingesetzten Verfahren u. a. Bestandteil der Persönlichkeitsdiagnostik, auf die wir im Kap. 4 noch zu sprechen kommen werden. ! Die erste und grundlegende Entwicklungsförderung sollte in der Familie geschehen.
Man hat hierfür den Begriff »Erziehung« gefunden, wohl wissend, dass man Entwicklung nicht dem Selbstlauf überlassen kann, wenn man ein bestimmtes Ziel verfolgt. Der Familie wird heute ganz allgemein nicht der Wert zugemessen, den sie für das Leben (und zeitweise das Überleben) ihrer Mitglieder hat. Demzufolge wird auch ihr Wert für die Persönlichkeitsformung der in ihr aufwachsenden Kinder und Jugendlichen unterschätzt. Zum einen ist in unserer modernen Welt die traditionelle Familie an sich sehr viel seltener geworden und wird durch vielfältige quasi-familiäre Arten des Zusammenlebens (bis hin zur Patchwork-Familie) mehr oder weniger gut ersetzt. Zum anderen wachsen in den modernen Familien unserer Tage sehr viel weniger Kinder auf als früher. Dies bedeutet für die Kinder, dass sie weniger etwa Altersgleiche zur Verfügung haben, mit denen und an denen sie sich erproben und damit wachsen können und es bedeutet für die Eltern, dass ihnen
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häufig der Blick für die große individuelle Spielbreite kindlicher Entwicklungsverläufe fehlt. »Familie ist unmodern. Und sie widersetzt sich der Modernisierung. Sie ist die Institution unserer globalisierten Welt, die wohl bis ans Ende der Tage – solange Affekte die Menschen regieren und Kinder unselbstständig auf die Welt kommen – niemals gänzlich modernisierbar sein wird. Deshalb tut die gegenwärtige Gesellschaft sie als unmodern ab.« (Schirrmacher 2006, S. 53)
Erziehung geschieht aber nicht nur in der Familie. Erziehung im Sinne der Entwicklungsbeeinflussung geschieht bereits in mehr oder weniger jungem Alter der Kinder auch institutionell (Kinderkrippe, Kindertagesstätte, Kindergarten, Schule) und allgemein gesellschaftlich. Vereine, Arbeitsgemeinschaften, Lebensgestaltung und Kultur etc. spielen ebenfalls eine Rolle. Hierbei ist die Erziehung durch die Gesellschaft umso stärker durch die Familie und Institution vermittelt, je jünger das Kind ist. Zuweilen bestehen zwischen den familiären, den institutionellen und den gesellschaftlichen Entwicklungs- und Erziehungszielen und –methoden große Diskrepanzen, welche die Erziehung erschweren und die Entwicklung eines Kindes ungünstig beeinflussen können. Dies kann so weit gehen, dass Erziehung in manchen Phasen und auf manchen Ebenen schwierig wird und die Entwicklung verlangsamt oder in manchen Bereichen sogar gestört wird. Was ist dann zu tun? Man kann versuchen, die familiäre Erziehung durch gesellschaftlich-institutionelle Erziehung zu unterstützen, und man kann versuchen, unter Einbeziehung dieser Hilfe bei der Erziehung die Entwicklung des Kindes durch therapeutische Maßnahmen zu fördern bzw. zu korrigieren. Bei dieser therapeutischen Einflussnahme im Sinne einer Entwicklungsoptimierung spielt die Erziehung eine ganz zentrale Rolle. ! Erziehung im Sinne der Entwicklungsförderung benötigt das heranwachsende Kind alltäglich. Darüber hinausgehende therapeutische Einflussnahme im engeren Sinne benötigt nur ein Teil der Kinder und nur in bestimmten Phasen der Entwicklung.
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Kapitel 1 · Notwendigkeit der Zusammenarbeit zwischen Pädagogik, Psychologie und Medizin
Wenn wir dieses allgemeine Schema auf konkrete Gegebenheiten transformieren, heißt das nichts anderes, als dass manche Kinder im Laufe ihrer Entwicklung bestimmte Phasen durchleben, in denen die gesamte Familie zusätzliche Hilfen bei der Erziehung benötigt (das ist im Schulalter mehr Hilfe, als gemeinhin von der Regelschule zu leisten ist). Hierfür hat man die sog. Schulen für Erziehungshilfe geschaffen. Auch die Organe der Jugendhilfe können hier einen positiven Beitrag leisten. Es heißt weiterhin, dass manche Kinder – auch wieder in bestimmten Phasen ihrer Entwicklung – aufgrund ihrer biologischen Ausstattung oder traumatischer Umwelteinflüsse einer therapeutischen Einflussnahme bedürfen, um einen positiven Entwicklungspfad einschlagen zu können. Nicht selten brauchen die Kinder beides: über längere Zeit eine schulische Erziehungshilfe und zusätzlich über kürzere Zeit eine Therapie. Studienbox In einer 1. Phase unserer prospektiven interdisziplinären Längsschnittstudie haben wir den Anteil von Kindern ermittelt, die zusätzlich zur Schule für Erziehungshilfe irgendwann eine Therapie benötigten und kamen auf ca. 86% (Ettrich, Herbst u. Nürnberger 1996). Als wir diesen Prozentsatz mit nationalen und internationalen Angaben verglichen, fiel auf, dass unsere Ergebnisse durchaus denen anderer Autoren ähnelten (Achenbach 1991). Anders ausgedrückt: Erziehung benötigt ein Kind für seine Entwicklungsförderung immer. Etwa 2-3% brauchen dafür über längere Zeit besondere Hilfen institutionell-gesellschaftlicher Art. Behandlung im Sinne der Entwicklungsförderung benötigt ein Kind nur selten und nur über kürzere Zeitabschnitte. Hier handelt es sich um ca. 10% der Kinder. Aber von denjenigen, die Erziehungshilfe brauchen, braucht ein hoher Prozentsatz auch psychotherapeutische Einflussnahme über eine gewisse Zeit. Das betont die Notwendigkeit einer guten Abstimmung zwischen Elternhaus, Schule für Erziehungshilfe, Jugendamt und therapeutischer Einrichtung.
! Allen an der Erziehung Beteiligten und für die Entwicklung des Kindes Verantwortlichen muss klar sein, dass jeder von ihnen seinen von seinem Beruf vorgegebenen Beitrag für die Entwicklung des Kindes bzw. der Kinder leisten muss und leisten kann.
Wenn wir uns die verschiedenen Umweltsysteme, in denen ein Kind heranreift und die es in seinem Entwicklungsprozess beeinflussen, einmal bildhaft vorstellen, dann sieht das in Anlehnung an Bronfenbrenner (1977, 1981, 1986) folgendermaßen aus: ▬ Im Mittelpunkt des Modells steht das Mikrosystem. Es umfasst das sich entwickelnde Kind, seine Eltern und Geschwister. Dies ist der Ort, an dem sich die für die Entwicklung bedeutsame zwischenmenschliche Kommunikation und Interaktion vollzieht. Das Mikrosystem bildet den Kern der Entwicklung. Es ist umschlossen von größeren und komplexeren sozialen Systemen, mit denen das heranwachsende Kind im Laufe seines Lebens in Beziehung tritt. Die gleichzeitige Teilhabe an mehreren Systemen ist typisch für menschliches Verhalten. ▬ Ein Mesosystem wird gebildet, wenn sich der Heranwachsende mit einem neuen Lebensbereich (z. B. Kindergarten, Schule usw.) »ins Benehmen« setzt. Seine Eltern und Geschwister sind an diesen Beziehungen nicht mehr unmittelbar, sondern nur indirekt beteiligt. ▬ Das noch umfassendere Exosystem wird durch die Lebensbereiche gebildet, mit denen das Kind nicht selbst in Interaktion tritt, die aber für seine Entwicklung direkt oder indirekt von Bedeutung sind (z. B. der Arbeitsplatz von Mutter bzw. Vater, die Schulklasse eines Geschwisterkindes). Die Wirkungen laufen über Personen, die an beiden Lebensbereichen beteiligt sind. ▬ Der Begriff Makrosystem bezieht sich auf die in einer Kultur oder Subkultur beobachtete grundsätzliche formale und inhaltliche Ähnlichkeit seiner konstituierenden Mikro-, Meso- und Exosysteme wie auch auf die das menschliche Verhalten beeinflussende Gesetzgebung, die gesellschaftlich akzeptierten Weltanschauungen, die gesellschaftlichen Wert- und Normorientierungen sowie die ökonomischen Faktoren.
13 1.3 · Die Familie als soziale Basisstation
Je besser die einzelnen Systeme sich in den Entwicklungsprozess des Kindes einbringen, desto besser verläuft die kindliche Entwicklung und umgekehrt. Nun kann man sagen, das sind theoretische Vorstellungen und Wünsche. Aber was ist das Ganze in der Praxis wert, ist es tatsächlich zielführend? In der heutigen Zeit werden auf allen Gebieten Belege für die Berechtigung einer Vorgehensweise oder einer bestimmten Maßnahme gefordert. Evaluation ist zum wichtigen Schlagwort geworden. Gleichwohl ist bekannt, dass man auch Evaluationsstudien manipulieren kann (vgl. Beck-Bornhold u. Dubben 2003) und dass es viele Dinge gibt, die nie Zugang zu einer Evaluationsstudie fanden, aber dennoch von unschätzbarem Wert sind, die ihre Evaluation schlicht durch das Leben selbst oder den Fortschritt der Menschheit erfuhren. Wenn man z. B. Böttgers Arbeit bei der Herstellung von Gold, so wie es der sächsische König in Auftrag gegeben hatte, evaluiert hätte, wäre das Ergebnis geradezu vernichtend gewesen, denn es wurde sehr viel Material und Geld verbraucht, es wurde sehr viel Zeit vertan und es entstand kein Gold. Das heißt, vom ökonomischen Standpunkt her wäre sein Tun in keiner Weise effizient gewesen. Wäre man also nach streng ökonomischen Gesichtspunkten verfahren, wäre das Verfahren der Porzellanherstellung unbekannt geblieben, und die Herstellung von Gold ist schließlich bis heute nicht gelungen. Das wiederum heißt, es ist nicht alles stringent planbar, sondern eine gewisse Kreativität und auch eine gewisse Zufälligkeit sind sinnvoll, allerdings nur dann, wenn man ihren Nutzen auch erkennt. Zurück zum Thema: Evaluation ist wichtig, um eine Aufwand-Nutzen-Optimierung zu ermöglichen, wir müssen uns also fragen lassen: Was wird mit dem geschilderten Vorgehen der Erziehungshilfe und der Behandlung erreicht? Wie sieht die Entwicklung der Kinder während und nach diesen Einflussnahmen aus? Was haben sie davon? Was hat die Gesellschaft davon? Was ist noch unzureichend bedacht? Was ist ungenügend in der Ausführung und deshalb vielleicht nicht oder wenig wirksam? Viele Fragen. Die Antworten darauf bekommen wir am besten durch die Analyse der Entwicklungsverläufe der Kinder.
1
2
Verhalten: normales – auffälliges – gestörtes
2.1
Normales Verhalten
2.1.1 2.1.2 2.1.3
Entwicklung des sozialen und emotionalen Verhaltens – 18 Entwicklung der kognitiven Fähigkeiten – 30 Entwicklung der körperlichen und motorischen Fähigkeiten – 36
– 16
2.2
Auffälliges Sozialverhalten
2.3
Gestörtes Sozialverhalten
2.3.1 2.3.2 2.3.3
Welche Arten von Verhaltensstörungen unterscheiden wir? – 47 Entstehungswege und Verlauf von Störungen des Sozialverhaltens Der Einfluss von Persönlichkeitsmerkmalen auf die Entwicklung des antisozialen Verhaltens – 62
– 40 – 47
2.4
Die Bedeutung des sozialen Umfeldes – 66
2.4.1 2.4.2 2.4.3
Familiäres Umfeld – 66 Schulisch-institutionelles und Freizeit-Umfeld Gesellschaftliches Umfeld – 75
– 71
– 57
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Kapitel 2 · Verhalten: normales – auffälliges – gestörtes
In diesem Kapitel beschäftigen wir uns mit menschlichem Verhalten, und zwar mit dem normalen, dem auffälligen und dem gestörten Verhalten im Kindes- und Jugendalter. Es ist aus unserer Sicht wichtig, zunächst eine ausführliche Charakteristik des normalen kindlichen und jugendlichen Verhaltens zu liefern, und zwar auf allen Ebenen (motorisch, kognitiv, emotional, sozial), um daraus dann beginnendes auffälliges oder gestörtes Verhalten abzuleiten. Auf den verschiedenen Verhaltensebenen gehen wir entlang der Entwicklungslinie auf unterschiedliche Alters- und Entwicklungsstufen ein, aber es werden auch solche Dinge wie Empathie, Bindungsentwicklung und Moral usw. eine Rolle spielen. Ein Fallbeispiel soll das Kapitel einleiten. Dieses Fallbeispiel wird über die einzelnen Unterkapitel immer weitergeführt: Vor dem Hintergrund der kindlichen bzw. jugendlichen Entwicklung wird sowohl die Herausbildung von Verhaltensauffälligkeit und –störung aus Normalverhalten als auch deren Veränderung unter verschiedenen therapeutischen Interventionen wieder zurück in die Normalität plastisch dargestellt. Im Unterkapitel »Auffälliges Verhalten« gehen wir besonders auf Risiko- und Resilienzfaktoren ein, weil dies der Bereich ist, von dem aus die Kinder bzw. Jugendlichen unterschiedliche Entwicklungspfade einschlagen können: in die ungestörte Richtung, aber auch in die gestörte Richtung. Uns ist es besonders wichtig, dass wir in diesem Bereich Verhaltensabweichungen sensibel wahrnehmen, als solche diagnostizieren und ihnen durch Interventionen begegnen. In dem Unterkapitel »Gestörtes Sozialverhalten« gehen wir zum einen auf die unterschiedlichen Klassifikationssysteme ein, die für die Diagnosefindung wichtig sind, zum anderen auf alters- und geschlechtsspezifische Einflüsse bei der Herausbildung gestörten Sozialverhaltens. Dazu referieren wir punktuell Ergebnisse aus unserer interdisziplinären Längsschnittstudie.
Normales Verhalten
2.1
Fallbeispiel Robin, Teil 1 Robin ist das erste von 2 Kindern gesunder, zum Zeitpunkt seiner Geburt 23-jähriger Eheleute. Die Schwangerschaft verläuft normal. Die Geburt wird durch Vakuumextraktion beendet, da es zu einem Geburtsstillstand auf Beckenbodenebene gekommen ist. Die Mutter, eine Grundschullehrerin, bleibt eineinhalb Jahre mit Robin zu Hause, inzwischen ist sie zum 2. Mal schwanger und entbindet in Robins 3. Lebensjahr seine Schwester Laura. Der Vater, ein Diplomingenieur, ist sehr an seiner Familie interessiert und verbringt viel Zeit mit ihr. Er unterstützt seine Frau in der Betreuung und Erziehung der Kinder sehr wirkungsvoll. Ebenso sind die im Ort lebenden Großeltern väterlicherseits sehr an den beiden Kindern interessiert, besonders an ihrem ersten Enkel Robin. Robin hat eine ungestörte Kindheit, die ihn im Alter von 2 Jahren auch in der kindlichen Gemeinschaft einer Kindertagesstätte seinen Platz finden lässt. In der Kindereinrichtung gilt er als aufgeschlossen, fröhlich, temperamentvoll, ohne motorisch unruhig oder in irgendeiner Weise negativ auffällig zu sein. Er hat zu den meisten Kindern seiner Gruppe eine gute Beziehung, auch zu seiner Erzieherin. Er liebt seine kleine Schwester und fühlt sich als deren großer Bruder. Die Einschulung des zu diesem Zeitpunkt knapp 7-jährigen Jungen erfolgt altersgerecht. Robin zeigt von Anfang an eine gute Auffassungsgabe, ein positives Sozialverhalten und eine gute Lernhaltung. Seine Zensuren in den Grundschuljahren sind gut bis sehr gut, ohne dass er dafür arbeiten muss. Er ist Mitglied mehrerer außerschulischer Gemeinschaften, so z. B. im Schach und im Fußball, und übt selbstständig mit einem Hauslehrer Gitarre. Eine einseitige Begabung oder Minderbefähigung lässt sich keinesfalls ausmachen. Robin ist selten krank, hat nur einige der üblichen Kinderkrankheiten wie Windpocken, Röteln, Mumps, eine Blinddarmentzündung im siebten Lebensjahr, deren Operation er komplikationslos übersteht und eine Tonsill▼
17 2.1 · Normales Verhalten
ektomie nach mehreren eitrigen Anginen im 10. Lebensjahr. Robin wird auf Grund seiner Körpergröße von Gleichaltrigen und Erwachsenen häufig überschätzt, es wird von ihm, da er auch ein sehr verantwortungsbewusst handelnder Junge ist, eine Menge verlangt, was er aber mit der Unterstützung seiner Familie sehr gut bewältigt.
Wir wenden uns dem unauffälligen oder normalen Verhalten des Kindes und Jugendlichen zu, um auf der Grundlage dieser Ausführungen abweichendes oder gestörtes Sozialverhalten verstehbar zu machen – wohl wissend, dass das kindliche bzw. jugendliche Verhalten auf jeder Entwicklungsstufe einer großen individuellen Spielbreite unterliegt. > Definition Verhalten beinhaltet die Gesamtheit der äußerlich wahrnehmbaren Lebensäußerungen eines Menschen. Verhalten ist in hohem Maße entwicklungsabhängig (Thompson et al. 2000). Alle kindlichen Verhaltensäußerungen sind also auf dem Hintergrund des Entwicklungsgeschehens zu sehen und zu beurteilen.
Aus dem Wechselspiel zwischen biologischen, psychischen und sozialen Faktoren bildet sich beim Kind ein internes Modell der Welt heraus, an dem es operieren und experimentieren kann, das Raum für Handlungsplanung einerseits und die Vorwegnahme von Handlungskonsequenzen andererseits lässt (Ettrich u. Ettrich 1990). Das Kind kann sich nur mit den Mitteln verhalten, die es zum Zeitpunkt X durch Biologie bzw. Umwelt besitzt. ▬ So ist es durchaus als normales Verhalten einzuschätzen, dass das 2-jährige Kind sich beim Spiel mit anderen Kindern, das es in diesem Alter schon recht lustvoll erleben kann, immer wieder rückversichern muss, dass die Mutter oder die bevorzugte Bezugsperson sich noch in Reichweite befindet. In einem Lebensabschnitt, in dem sich feste Bindungen und einzelne Bindungstypen eben erst herausgebildet haben oder noch herausbilden, ist das Spiel des Kindes, das Erkunden seiner Umwelt noch außerordentlich abhängig von der immer wieder hergestellten
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Beziehung zu seiner bevorzugten Bezugsperson. Dabei kann diese bevorzugte Bezugsperson über gewisse Zeiten des Tages vertreten werden, z. B. durch die Erzieherin in einer Kindertageseinrichtung. Wenn das Kind sich sicher ist, dass die Mutter es mittags oder nachmittags wieder abholt, kann es durchaus mit Gleichaltrigen unter Anleitung von Erwachsenen den Tag im lustvollen Spiel verbringen. Dabei ist jedoch wichtig, dass das Kind in Bezug auf die Größe der Gruppe, die sich um eine Bezugsperson schart, nicht überfordert wird und dass genügend Zuwendung der Bezugsperson für das einzelne Kind möglich und vorhanden ist. Mangelnde Zuwendung, die Kinder in diesem Alter immer irritiert, sowie mangelnde Verfügbarkeit der Bezugsperson lassen Kinder immer wieder ihren Wunsch und ihre Suche nach Bindung ausleben, was auf Kosten der Erkundung der Umwelt und auf Kosten des Spiels mit anderen geschieht. Das Verhalten wird sich danach richten, ob das Kind sich einer ausreichenden Zuwendung durch die Bezugsperson (auch die professionelle Bezugsperson) sicher ist, oder ob es sich diese Zuwendung immer wieder »erkämpfen« muss. ! Manches Fehlverhalten in diesem Alter ist allein oder teilweise dem Umstand der nicht ausreichend verfügbaren Zuwendung geschuldet. Das wird in Kindergruppen häufig zu wenig bedacht.
▬ Das 4-jährige Kind ist, wenn es normal entwickelt ist, bereits in der Lage, auch kommunikativ und interaktiv mit anderen Kindern, z. B. Gleichaltrigen, zu spielen. Hierbei können die einzelnen Spielteilnehmer in einem Spiel bereits unterschiedliche Funktionen wahrnehmen. Auch Rollenspiele sind in diesem Alter sehr beliebt. Aber auch hier ist es noch wichtig, dass die einzelnen Spielteilnehmer sich ausreichend angenommen und integriert fühlen und dass sie wissen, dass die erwachsene Bezugsperson in der Nähe oder zumindest für sie erreichbar ist. Es ist uns immer wieder ein Bedürfnis, auf die große individuelle Spielbreite in der Entwicklung von Kindern überhaupt, aber selbstverständlich auch in der Entwicklung des Sozialverhaltens hinzuweisen.
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Kapitel 2 · Verhalten: normales – auffälliges – gestörtes
▬ Bei einem 6-jährigen Kind sollte sich, eine normale Entwicklung vorausgesetzt, bereits eine gewisse Aufgabenhaltung entwickelt haben, so dass auch nicht unmittelbar selbstinitiierte, sondern teilweise fremdgesetzte Aufgaben vom Kind erfüllt werden, so wie das z. B. in der Schule dann notwendig ist. Diese hier sehr kursorisch aufgezeigten Verhaltensbeispiele setzen natürlich immer eine bis dahin gelungene Sozialisation des Kindes voraus. Wenn wir uns das vor Augen führen, bekommen wir vielleicht eine Ahnung davon, wie überfordert der 6- oder 7-jährige Schulanfänger sein muss, wenn er sich bereits mit 1 oder 2 Jahren der bevorzugten Bezugsperson unsicher war, wenn er aufgrund dessen die Umwelt unzureichend erkunden konnte, wenn er keine Fertigkeiten im Umgang mit Gleichaltrigen erworben hat und nun plötzlich fremdgesetzte Aufgaben bewältigen soll, die eine Bewertung und ab 2. Klasse dann sogar eine Benotung erfahren. Wenn diese primäre Sozialisation misslungen ist, müssen wir uns nicht wundern, dass das 6- oder 7-jährige Kind sich in seinem Sozialverhalten gebärdet wie ein 2- oder 3-jähriges Kind, dass es also immer wieder Sicherungstendenzen aufweist, dass es sich nicht aktiv genug seinen Aufgaben zuwenden kann, weil die Grundbedürfnisse nach Zuwendung und Geborgenheit nicht erfüllt wurden und werden. Neben der Zuwendung und der Bindung und der Sozialisation spielen noch eine Menge anderer Einflussfaktoren eine Rolle und es resultieren hieraus ganz individuelle »Legierungen« von kindlichen Sozialverhaltensweisen. Was in einer Schulklasse von 20 Schülern bei 2 Schülern mit gestörtem Sozialverhalten noch kompensierbar ist, wird beispielsweise bei einer Klassenstärke von 30 Schülern, wovon 6 oder noch mehr ein gestörtes Sozialverhalten zeigen, eskalieren müssen. Aber bleiben wir zunächst beim normalen Verhalten. Wenn wir in 2-Jahresschritten vorgehen, kommen wir nun zum 8-jährigen Kind. ▬ Für das 8-jährige Kind als ein Kind in der Mitte des Grundschulalters ist es z. B. normal, dass es während des Schulalltages ein gewisses Maß an Leistungsbereitschaft an den Tag legt, dass es ein mehr oder weniger langes Durchhalte-
vermögen auch bei fremdgesetzten Aufgaben zeigt, dass es aber auch genügend Möglichkeiten für seine spielerische Entfaltung benötigt. Dabei braucht es nicht mehr so engmaschig die Beaufsichtigung durch Erwachsene, aber es braucht weiterhin die Sicherheit, dass die bevorzugten Bezugspersonen (meist die Eltern) verfügbar sind und dass es sich bei Angst oder Kummer an diese Personen wenden kann. ▬ Das 10-jährige Kind, das sich im oberen Bereich des Grundschulalters befindet, zeigt schon eine relativ große Autonomie in Bezug auf Bewältigung schulischer Aufgaben und Hausaufgaben. Es kann sich im Spiel sowohl an ältere Kinder über weite Strecken anpassen, es kann sich aber auch auf jüngere einstellen und »heruntertransformieren«. Beides ist für das normal entwickelte 10-jährige Kind eine durchaus zu bewältigende Herausforderung. In diesem Alter dominieren v. a. Regelspiele, bei denen die Kinder zum einen ihre gestalterischen Fähigkeiten einsetzen und zum anderen auch die Wettbewerbsabsicht eine große Rolle spielt, also das Leistungsverhalten der Kinder zum Tragen kommt. Im Verlauf des Jugendalters nähert sich das Verhalten immer mehr dem des Erwachsenalters an, wobei wir immer wieder die große interindividuelle Spielbreite betonen möchten.
2.1.1 Entwicklung des sozialen
und emotionalen Verhaltens Das Wechsel- bzw. Zusammenspiel biologischer, psychischer und sozialer Faktoren bei der Entwicklung des Sozialverhaltens zeigt sich in jeder Altersstufe und führt zu Anforderungen, die im Prinzip von jedem Heranwachsenden bewältigt werden müssen. An der Art der Bewältigung sind wir in der Lage, die Entwicklung zu beurteilen bzw. auf Faktoren zu schließen, die zu einer Fehlentwicklung bzw. zu einer Verhaltensstörung führen. Unter den biologischen Faktoren für eine normale Entwicklung sei zunächst auf die Intaktheit des Zentralnervensystems, der Sinnesorgane und des motorischen Systems verwiesen, aber auch das
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Freisein von genetischen und stoffwechselbedingten Anomalien sei ausdrücklich betont. Die psychischen Faktoren sind unmittelbar an das Funktionieren des Zentralnervensystems gebunden. Das Psychische zeigt sich in der Widerspiegelungsfähigkeit oder Repräsentationsfähigkeit des Gehirns. Das Psychische stellt damit eine eigene Qualität dar, die sich in der Geschwindigkeit und Beweglichkeit der psychischen Vorgänge zeigt und die an das Wechselspiel emotionaler und kognitiver Prozesse gebunden ist. Dieses Wechselspiel hat unmittelbaren Einfluss auf wahrnehmungsbezogene Bewertungsprozesse. Es äußert sich z. B. darin, wie leicht Personen oder Objekte identifiziert werden und darin, ob diese einfach als vorhanden, als angenehm oder als bedrohlich erlebt (bewertet) werden. Als soziale Faktoren sind alle von Menschen ausgehenden bzw. von Menschen geschaffenen Umgebungsbedingungen zu bezeichnen. In erster Linie sind es die Interaktionen mit Bezugspersonen, die die weitere Entwicklung eines Heranwachsenden beeinflussen. Im weitesten Sinne sind hier auch alle soziodemographischen, kulturellen und Umwelteinflüsse zu nennen, mit denen der Heranwachsende sich auseinandersetzen muss.
Entwicklungsaufgaben als Normen und Motoren des prosozialen Verhaltens Anforderungen aus dem biologischen, psychischen und sozialen Bereich, die von allen Angehörigen einer Altersgruppe bewältigt werden müssen, werden Entwicklungsaufgaben genannt (Havighurst 1972). > Definition Entwicklungsaufgaben sind Anforderungen, die sich aus dem Zusammenwirken von biologischen, psychischen und sozialen Faktoren als für alle Individuen einer Altersgruppe und Kultur zu bewältigende Herausforderung herauskristallisieren und deren Bewältigung zu einer verbesserten Anpassung an die Lebenssituation führt.
Beispiele für solche Entwicklungsaufgaben am Ende des Säuglingsalters sind die Kommunikation in Ein-Wort-Sätzen, das Laufenlernen und das Verstehen und Ausüben sozialer Gesten, wie z. B. das »Bitten«. Die Bewältigung dieser Anforderungen ist zum einen abhängig von Reifungsveränderungen
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im Zentralnervensystem, der Nutzung der bereits vorhandenen individuellen psychischen und sozialen Fähigkeiten und zum anderen von der kindgemäßen (entwicklungsgemäßen) sozialen Stimulierung durch die unmittelbare personale Umwelt. Gerade in den frühen Lebensjahren ist eine gute Abstimmung zwischen Entwicklungspotenzen des Kindes und den Anforderungen der sozialen Umwelt für seine gesunde und harmonische Entwicklung von entscheidender Bedeutung. In Erweiterung des Konzepts der Bindungsentwicklung sprechen wir von sozialer Feinfühligkeit, die alle Personen, die an der Erziehung beteiligt sind, also Mutter, Vater, Großeltern, Erzieher besitzen sollten. Entwicklungsaufgaben im Vorschulalter beziehen sich auf die Verbesserung der Kommunikationsmöglichkeiten (sprachliche Entwicklung), auf die Ausgestaltung grob- und feinmotorischer Fähigkeiten, auf die Gestaltung der sozialen und emotionalen Beziehungen zu anderen Kindern, wobei es um die Veränderung dieser Beziehungen vom Gegeneinander über das Nebeneinander zum Miteinander geht, wobei die Kinder lernen, ansatzweise die Fähigkeiten anderer und ihre eigenen Fähigkeiten zu erkennen. Die Bewältigung dieser Entwicklungsaufgaben bildet eine gute Voraussetzung für den Schulbesuch, weil einmal die Voraussetzungen für den Erwerb der Kulturtechniken, zum anderen für das gemeinsame Lernen (soziale und emotionale Fähigkeiten) erreicht wurden. Das Grundschulalter hält eine Reihe weiterer Entwicklungsaufgaben für die Kinder bereit, die sich nach Dreher und Dreher (1985) u. a. auf die Entwicklung von Moral, Werten und Gewissen, auf die Entfaltung der eigenen Selbstständigkeit (partielle Lösung von den Eltern) und die Integration in unterschiedliche soziale Gruppierungen (Schulklasse, Freizeitgruppe bzw. Peer-Group, Sportgruppe) beziehen. Im Schuljugendalter (etwa ab 5. Klasse) müssen die Jugendlichen sich zunehmend mit der Übernahme der Geschlechtsrolle identifizieren, wobei sie sich mit der Frage nach typisch männlichem bzw. typisch weiblichem Verhalten auseinandersetzen müssen, dabei wird das Bild vom Geschlechtsstereotyp nicht nur durch die unmittelbaren Bezugspersonen, sondern vor allem auch von Medien beeinflusst. Vor dem Hintergrund der Geschlechts-
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Kapitel 2 · Verhalten: normales – auffälliges – gestörtes
rollendifferenzierung entwickelt sich auch das Sozialverhalten zum eigenen und zum anderen Geschlecht. Diese Zeit ist auch geprägt durch massive körperliche Veränderungen (Pubertät). Die Jugendlichen müssen lernen, diese Veränderungen als für sich spezifisch zu akzeptieren und die neuen körperlichen Möglichkeiten im Leistungs- und Sozialverhalten zu nutzen. Die Ablösung von den Eltern ist eine weitere Entwicklungsaufgabe, die im Schuljugendalter zu bewältigen ist. Die Jugendlichen lösen sich aus der engen emotionalen Bindung zu den Eltern. Zum einen haben Eltern längst ihre Stellung als unfehlbar Handelnde verloren. Sie sind auf das reduziert, was sie wirklich sind, auf Menschen mit besonderen Stärken, aber auch Schwächen. Aus diesem Grund haben andere Bezugspersonen, wie Freunde, aber auch Partner, an Bedeutung gewonnen, an denen man sich jetzt orientiert. Neben Bezugspersonen aus der unmittelbaren Umgebung erlangen nunmehr auch Ideale und Idole eine handlungsleitende Bedeutung, damit schaffen sich die Jugendlichen eine Zukunftsperspektive, indem sie diesen Vorbildern nacheifern.
Empathie als Kern des prosozialen Verhaltens Da wir uns in diesem Buch mit Störungen des Sozialverhaltens befassen, soll hier explizit auch auf die Entwicklung des sog. prosozialen Verhaltens eingegangen werden. Prosoziales Verhalten beinhaltet komplex ausgedrückt die Zusammenarbeit zugunsten einer Gemeinschaft, ohne dass das Individuum darunter leidet. Es entsteht ebenso wie anderes Verhalten im Kontext sozialer Interaktionen innerhalb eines sozialen Systems und umfasst Verhaltensweisen wie Helfen, Teilen, auf den Anderen Rücksicht nehmen, Anteilnahme, Mitfühlen und Kooperation. Für die Herausbildung prosozialen Verhaltens spielt die Entwicklung der Empathie eine große Rolle. > Definition Empathie meint das verstehende und gefühlsmäßige »Sich-Hineinversetzen« in eine andere Person, das Sehen einer Tatsache oder einer Situation »mit den Augen des anderen« und das »Sichhineinfühlen« in den anderen.
Empathie entwickelt sich nach Hoffman (1978, 1987, 1991) in folgenden Stadien, die er mit der kognitiven Entwicklung nach Piaget (1990) in Beziehung setzt, wobei jedes Stadium der Empathie mit einem neuen Stadium der kognitiven Entwicklung einhergeht. ▬ 1. Lebensjahr: Im 1. Lebensjahr gelingt es dem Kind noch nicht, zwischen sich selbst und anderen zu unterscheiden. Wenn sehr junge Kinder einen anderen Säugling weinen hören und sie in dieses Weinen einstimmen, so geschieht dies nicht, weil sie sich in den Kummer des anderen Kindes hineinversetzen können, sondern eher reflexhaft. Man spricht hier sehr treffend von »emotionaler Ansteckung« (sensomotorisches Stadium). ▬ 2. Lebensjahr: Im 2. Lebensjahr erfolgt nach Bishoff-Köhler (1989) eine deutliche Zunahme empathischer Fähigkeiten durch die SelbstAndere-Differenzierung. Die Kinder werden sich nicht nur ihrer Eigenständigkeit bewusst, sondern sie verstehen auch zunehmend zwischen dem eigenen Kummer und dem Leid anderer zu unterscheiden. Die enge Beziehung zwischen prosozialem Verhalten und Perspektivenübernahme einerseits und kognitiver Entwicklung andererseits wird auch daraus ersichtlich, dass nur solchen Kindern die Perspektivenübernahme gelingt, die sich selbst im Spiegel erkennen. ▬ 3.-6. Lebensjahr: Durch die rasante sprachliche Entwicklung wird es den Kindern möglich, auch ihre Gefühle subtiler auszudrücken. Das Nachempfinden von Gefühlen anderer wird beim Hören von Geschichten, dem Betrachten von Bildern oder dem Sehen von Filmen oder Videos deutlich. Die Kinder weinen vor Ergriffenheit oder zeigen Furcht, weil es zum Beispiel »dem Helden« der Geschichte oder des Filmes schlecht geht (präoperationales Stadium). ▬ 6.-10. Lebensjahr: Die Entwicklung von Empathie und prosozialem Verhalten wird durch die schulische Förderung in einen größeren Erfahrungsrahmen eingebettet. Die Kinder machen sich jetzt nicht nur Sorgen um ihre unmittelbaren Mitmenschen, sondern um Lebensbedingungen anderer, also z. B. Unterdrückung, Armut und Krankheit. Sie sind nunmehr fähig,
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nicht nur wie andere zu empfinden, sondern sich aktiv an der Veränderung der Situation zu beteiligen (konkret-operationales Stadium). ▬ Schuljugendalter: Prosoziales Verhalten zeigt sich im Jugendalter in der Entwicklung von Freundschaftsbeziehungen. In dieser Entwicklungsphase entstehen meist gleichgeschlechtliche Freundschaften, die in vielen Fällen für das weitere Leben halten. Als Freund bzw. Freundin werden andere Jugendliche bezeichnet, zu denen man uneingeschränktes Vertrauen hat. Der Freund bzw. die Freundin kennt einen besser als andere und ist eine Person, der man sich mit all seinen Problemen anvertrauen kann. Dies schließt auch das Akzeptieren von Fehlern des Freundes bzw. der Freundin ein. Das interpersonelle Verhältnis ist in Freundschaftsbeziehungen reziprok: Das, was man vom Freund bzw. der Freundin erwartet, ist man auch bereit, selbst zu geben. Aus gegengeschlechtlichen Freundschaften entwickeln sich nicht selten Partnerschaften, wobei sich prosoziales Verhalten in gegenseitigem Vertrauen und gegenseitiger Achtung zeigt. Normative Erwartungen an prosoziales Verhalten schließen ein, dass das Handeln der Heranwachsenden von sozialer Verantwortung getragen wird, zum anderen aber auch durch wechselseitige Gegenseitigkeit der Sozialpartner bestimmt wird und schließlich auch erkannt werden muss, wenn ein Mitglied der Gemeinschaft Bedürftigkeit zeigt, also der Hilfe und Unterstützung bedarf. Studienbox Interessant sind in diesem Zusammenhang die Ergebnisse einer Studie von Lindeman, Harakka und Keltikangas-Järvinen (1997), die an einer Stichprobe von 2594 Schülern im Alter von 11, 14 und 17 Jahren herausfanden, dass prosoziale Verhaltensweisen sowohl geschlechtspezifisch als auch altersbezogen bei Jungen und Mädchen variieren. Bei Jungen gehen zwischen dem 14. und 17. Lebensjahr prosoziale Verhaltensäußerungen zurück, während dieses Phänomen bei Mädchen bereits zwischen 11 und 14 Jahren zu beobachten ist. ▼
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Mit 17 Jahren gaben Jungen wieder im selben Umfang wie mit 14 prosoziale Verhaltensweisen an, während bei den Mädchen das Ausgangsniveau prosozialen Verhaltens nicht nur wieder erreicht, sondern deutlich überschritten wird. Die Untersuchungen bestätigen damit eine seit langem bekannte Tatsache, wonach allgemeine prosoziale und dabei v. a. empathische Fähigkeiten bei Mädchen und jungen Frauen besser als bei männlichen Jugendlichen und jungen Männern entwickelt sind.
Scheithauer (2003) weist einschränkend darauf hin, dass exzessives prosoziales Verhalten auch Ausdruck gestörten Verhaltens sein kann, wenn es nicht in den sozialen Kontext passt. Auch Petermann, Niebank und Scheithauer (2004) betonen, dass soziale Fertigkeiten nicht nur im Zusammenhang mit prosozialem Verhalten gesehen werden sollten. »Sinnvoller erscheint es, sie als neutrale Fertigkeiten zu betrachten, die sowohl prosozialem als auch dissozialem und aggressivem Verhalten zugrunde liegen können.« (S. 217)
Weitere Einflüsse auf das Sozialverhalten sind z. B. kulturelle Einflüsse, emotionale Grundstimmung und Temperament sowie kognitive Einflüsse.
Moral als Maßstab zwischenmenschlichen Verhaltens Auch die Moralentwicklung spielt für prosoziales Verhalten eine entscheidende Rolle. Nach Piaget (1932, 1990) folgt auf das sog. amoralische Stadium das Stadium der heteronomen Moral etwa ab dem 4./5. Lebensjahr. Dies bedeutet, dass Vorgesetzte, Eltern oder andere Autoritäten entscheiden, was gut oder böse, falsch oder richtig ist. Darauf folgt etwa ab dem Grundschulalter das Stadium der autonomen Moral, bei dem die Kinder nicht mehr direkt ihre Einschätzung »gut« oder »böse«, »falsch« oder »richtig« von erwachsenen Autoritäten übernehmen, sondern selbst mitentscheiden, was gut und richtig ist, selbst Maßstäbe setzen und Regeln vereinbaren.
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Kapitel 2 · Verhalten: normales – auffälliges – gestörtes
Aus seinen Untersuchungen hat Kohlberg (1963, 1984) 6 Stufen des moralischen Urteils herausgearbeitet, die er 3 Stadien der Moralentwicklung zuordnete. ▬ Das 1. Stadium geht dem eigentlichen moralischen Verhalten voraus und wird als vormoralisches oder prämoralisches Stadium bezeichnet. Der Beginn wird mit etwa 4-5 Lebensjahren datiert. – Auf der 1. Stufe, die als heteronome Moral bezeichnet wird, orientieren sich die Kinder an vorgegebenen Regeln, um Strafen zu vermeiden. Hinsichtlich ihrer moralischen Wertungen und ihres moralischen Verhaltens sind die Kinder noch unselbstständig und von anderen abhängig. Sie richten sich nach ihren Eltern und Erziehern oder anderen Personen, die ihre Anerkennung und Achtung besitzen. – Die Stufe 2, Hedonismus genannt, ist dadurch ausgezeichnet, dass die Kinder konformes Verhalten zeigen, um eine entzogene Vergünstigung zurückzuerlangen. Die Bezeichnung Hedonismus kann leicht irreführen, da sie, aus dem Griechischen kommend, das Streben nach Sinneslust und Genuss bezeichnet. Das Egoistische, das hier zum Ausdruck kommt, findet in der Bezeichnung dieser Stufe der Moralentwicklung insofern seinen Niederschlag, als die Bedürfnisse anderer nur unter Berücksichtigung der eigenen Interessen oder Verhaltensziele beachtet werden. ▬ Das Verhalten im 2. Stadium orientiert sich an der Rollenkonformität und ist als Ergebnis der Sozialisation zu werten. Die Heranwachsenden bemühen sich darum, dass ihr Verhalten mit dem der Personen der unmittelbaren Umgebung in Übereinstimmung, im Gleichklang steht, dass ihr Verhalten den Erhalt ihrer für sie bedeutsamen Sozialbeziehungen sichert. – Die 3. Stufe bezieht sich auf wechselseitige zwischenmenschliche Beziehungen. Das moralische Verhalten des Kindes dient der Herstellung und Aufrechterhaltung guter Beziehungen zu anderen (Moral des braven Kindes), v. a. zur eigenen Familie und zu unmittelbaren Bezugsgruppen (Kindergartengruppe, Schulklasse, Peer-Group).
– Die 4. Stufe bezieht sich auf gesellschaftlich vereinbarte Pflichten, Gesetze, Normen. Die Stufe der Autoritätsmoral ist durch normkonformes Verhalten gekennzeichnet. Die Kinder und Jugendlichen erleben sich als Teil eines gesellschaftlichen Systems, das als Gewissen im Interesse des Ganzen das Verhalten des Einzelnen lenkt und begrenzt. Dieses Verständnis von »Recht und Ordnung« ist die verbreitetste Entwicklungsstufe der Moralentwicklung, die von Jugendlichen und Erwachsenen in den meisten Gesellschaften erreicht wird. Sie ist auch ausreichend, um gut funktionierende soziale Gemeinschaften zu sichern. Haben Jugendliche diese Entwicklungsstufe erreicht, dann verstehen sie auch, was Verantwortung, Rechte und Pflichten für den einzelnen und für die Gemeinschaft bedeuten. Sie können sich auf dieser Grundlage mit normativen Anforderungen und ihren eigenen Ansprüchen auseinandersetzen. Sie begreifen auch, dass die mutwillige oder absichtliche Verletzung normativer Anforderungen von der Gemeinschaft im Interesse ihrer Existenz bestraft wird, ja bestraft werden muss. ▬ Im postkonventionellen 3. Stadium überschreitet die Moralentwicklung den Bezug zu normorientierten Anforderungen der Gesellschaft, ohne mit diesen in Widerspruch zu geraten. Die Jugendlichen und Erwachsenen orientieren ihr Handeln an selbst akzeptierten Grundsätzen. – Auf der 5. Stufe (Verständnis des Systems als Gesellschaftsvertrag) werden sich die Heranwachsenden zunehmend der sozialen Konvention von Regeln und Gesetzen bewusst. Sie verstehen, dass die Rechte des Einzelnen und von Gruppen im Interesse des Allgemeinwohls gewahrt werden müssen, dass es aber auch Situationen gibt, im Interesse höherer Werte und übergeordneter Ziele das Althergebrachte und den Rahmen des Erlaubten zu überschreiten (z. B. Greenpeaceaktivisten, Tier- und Umweltschützer). Die moralische und rechtliche Bewertung von Handlungen auf der 5. Stufe ist oftmals nicht einfach, weil hier Interessenkonflikte aufeinander prallen und die aktuelle Rechts-
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lage hinter den Notwendigkeiten der Realität oftmals hinterherhinkt. – Die Stufe 6, Moral aus Gewissensgrundsätzen, folgt selbst gewählten ethischen Prinzipien, die auf allgemeinen Regeln beruhen, solange diese nicht mit dem moralischen Gewissen des Handelnden im Widerspruch stehen. Obwohl die abgeleitete Stufenfolge eine Entwicklungssequenz nahe legt, zeigen die Ergebnisse von Kohlberg und vielen Nachuntersuchungen eine erhebliche Überlappung dieser Stufen. Auch wird das postkonventionelle Stadium im Entwicklungsverlauf nicht von allen Individuen erreicht. Für die Moralentwicklung kann auch die Schule für Erziehungshilfe einen wichtigen Beitrag leisten. So besteht nach Speck (1993) eine wichtige Aufgabe der Schule für Erziehungshilfe darin, dass ihre Aktivität darauf gerichtet ist, »durch lebensweltliche Haltgebungen und durch die Unterstützung der moralischen Entwicklung die Autonomiebildung des Einzelnen zu fördern«. Speck sagt weiter: »Moral und Erziehung sind unauflöslich miteinander verflochten. Keine Erziehung ohne Moral, keine Moral ohne Erziehung!« (...) »Kinder mit Verhaltensstörungen bleiben in der Regel in den ersten Entwicklungsstufen der Moral hängen.« (S. 36)
Kinder und Jugendliche mit Verhaltensstörungen haben die Ein- und Unterordnung ihres Verhaltens in den Rahmen der gesellschaftlichen Ordnung, also in »law and order« (Stufe 4 der Entwicklung des moralischen Urteils) nicht erreicht. Ihre Entwicklung ist auf der Stufe 3, dem Erfüllen von Anforderungen, solange die eigenen Interessen und Ziele Berücksichtigung finden, stehen geblieben. Aus diesem Grunde müssen Eltern, Lehrer und Erzieher sowie Therapeuten die Weiterentwicklung des moralischen Urteils unterstützen. Ein Weg, um die Entwicklung des moralischen Urteils verhaltensgestörter Kinder und Jugendlicher zu fördern, besteht darin, den Heranwachsenden die Eingebundenheit ihres Handelns in eine Gemeinschaft als Teil einer Familie, Klasse oder Gruppe permanent aufzuzeigen und ihnen zu verdeutlichen, dass gegenseitige Achtung und Anerkennung nicht nur
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soziale Vorteile bringt, sondern Einbindung in das Rechte und Gute auch Selbstachtung und Selbstständigkeit bewirken. »Die eigenen Urteile müssen sich der Diskussion stellen, die eigenen Handlungen müssen vor den anderen verantwortet werden. Besondere Bedeutung kommt der Persönlichkeit des Lehrers zu. Er kann sich nicht auf das bloße Arrangieren von Diskussionen beschränken, sondern muss auch wertende Stellung beziehen und Partei ergreifen für die Prinzipien des Rechten und Guten. Im Übrigen hat auch der Erzieher Autonomie zu beanspruchen. Der Verzicht darauf macht Kinder zu Tyrannen. Das erzieherische Verhältnis ist ein interautonomisches.« (Speck 1993, S. 38)
Neben der Bewältigung von Entwicklungsaufgaben, der Entwicklung des prosozialen Verhaltens und des moralischen Urteilens ist für eine gesunde sozio-emotionale Entwicklung der Prozess der Identitätsfindung insbesondere im Jugendalter von nachhaltiger Bedeutung. Obwohl Selbsterkenntnis ein lebenslanger Prozess ist, kommt ihm im Jugendalter besondere Bedeutung zu, weil die Abnabelung von den Eltern, das Streben nach Autonomie, nach Unabhängigkeit und Selbständigkeit erfordert, herauszufinden, »wer man ist«, durch welche Persönlichkeitsmerkmale man sich von anderen abhebt, »was man kann«, worin die besonderen Stärken des eigenen Leistungsvermögens bestehen und »wie man werden möchte«: Man muss sich also die Frage beantworten, inwieweit die eigenen Möglichkeiten mit den Zielvorstellungen, die man von sich hat, bereits übereinstimmen oder ob man noch weitere Anstrengungen in die Entwicklung eigener Fähigkeiten, in den Erwerb von Wissen oder körperliche Ertüchtigung investieren will oder muss, um den Vorstellungen von sich selbst in der Zukunft gerecht zu werden.
Identität als Selbstfindung und Verantwortungsübernahme Die Erarbeitung der eigenen Identität ist mehr als nur ein Akt der Selbsterkenntnis, weil sich in ihm Kräfte zur Weiterentwicklung der eigenen Person
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Kapitel 2 · Verhalten: normales – auffälliges – gestörtes
mobilisieren, die wegweisend für die berufliche Verwirklichung, für das Verhalten in Gruppen, für Partnerschaft und Familie sind.
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> Definition Identitätsfindung ist der Prozess der Selbsterkenntnis durch Betonung der physischen und psychischen Persönlichkeitsmerkmale, durch die sich die eigene Person von anderen abhebt, wodurch sie als einmalig und unverwechselbar erlebt wird und für die Eigenentwicklung ein Kräftereservoir bereitstellt.
Unter Bezug auf Erikson (1968) unterscheiden wir 3 Formen der Identität: ▬ Die persönliche Identität ergibt sich aus der Summe der Erfahrungen mit sich selbst, der realistischen Bewertung des eigenen Könnens, der eigenen Erfolge und Misserfolge. ▬ Die soziale Identität kennzeichnet, wie das eigene Verhalten von anderen bewertet wird (Anerkennung, Ablehnung, Zustimmung, Abwertung), wie sich der Einzelne »durch die Brille der Anderen« sieht, ob die eigenen Ziele der kulturellen und ideologischen Erwartungen sich in die produktiven Erwartungen der Gesellschaft integrieren lassen. ▬ Das Ideal-Selbst leitet sich der einzelne aus den Bewertungen seiner Zukunftsvorstellungen von der eigenen Person und aus den Äußerungen von Freunden, Eltern und Lehrern über die Erwartungen an die eigene Person ab. ! Für eine gesunde Persönlichkeitsentwicklung ist wesentlich, dass diese Komponenten der Identität untereinander in einem ausgewogenen Verhältnis stehen, damit Identitätsfindung zur Eigenentwicklung unter Beachtung von Wohlbefinden und Selbstachtung beitragen kann.
Identitätsbildung ist kein punktuelles Geschehen, sondern ein Entwicklungsprozess, bei dem sich nach Marcia (1980) unter Betonung von Festlegungen auf Beruf und Werte im Jugendalter 4 Formen von Identitätszuständen ableiten lassen, wobei zur näheren Kennzeichnung der Identitätszustände die Ausprägung von 5 Persönlichkeitsmerkmalen (Selbstwertgefühl, Autonomie, kognitiver Stil, Fähigkeit zur Intimität und soziale Interaktion) wesentlich sind.
▬ Der 1. der genannten 4 Identitätszustände, die diffuse Identität (keine Festlegung auf berufliche Ziele und Werte), ist der problematischste Identitätszustand, weil er dem Leben keine Entwicklungsperspektiven eröffnet. Diffuse Identität ist gekennzeichnet durch einen niedrigen Selbstwert und geringe Entfaltung von Autonomie. Die Betroffenen sind impulsiv, sie sind unfähig zu tiefen intimen Beziehungen und sozial weitgehend isoliert, sie fühlen sich von den Eltern nicht verstanden und orientieren sich an Peers und anderen Autoritäten. ▬ Der 2., ebenfalls nicht unproblematische Identitätszustand wird Moratorium genannt, was soviel wie Aufschub oder Stundung bedeutet. Es soll damit ausgedrückt werden, dass auch hier der Prozess der Identitätsfindung noch nicht zum Abschluss gekommen ist, sich die Betroffenen aber mit Fragen der Berufs- und Wertefindung auseinandersetzen. Psychisch befinden sich die Betroffenen in einer besseren Position als die Personen mit diffuser Identität. Ihr Selbstwertgefühl ist gut entwickelt, sie sind selbstbestimmt, aber hinsichtlich Beruf und Werten noch unentschlossen, ihr kognitiver Stil ist überlegt (reflexiv), sie sind zu tiefen intimen Beziehungen fähig und im Interaktionsverhalten frei und wettbewerbsorientiert. ▬ Die übernommene Identität ist dadurch gekennzeichnet, dass Beruf und Wertvorstellungen von den Eltern übernommen werden (»wie die Alten sungen, so zwitschern auch die Jungen«). Positiv ist bei dieser Gruppe von Jugendlichen hervorzuheben, dass sie in der sozialen Interaktion ausgeglichen und ruhig und i. Allg. auch glücklich sind, da eine sichere Lebensperspektive vorhanden ist. In den anderen Merkmalsbereichen lassen sich hier durchaus auch negative Persönlichkeitsmerkmale benennen: Ihre Autonomieentwicklung ist gering, im kognitiven Stil ist auf Impulsivität und geringe Komplexität der Denkprozesse zu verweisen und hinsichtlich intimer Fähigkeiten tendieren sie zu stereotypen Beziehungsmustern. Hinsichtlich der Entwicklung des Selbstwertgefühls wird von Marcia (1980) auf geschlechtsspezifische Unterschiede verwiesen. Während bei Jungen das Selbstwertgefühl bei
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übernommener Identität eher niedrig ausfällt, ist es bei Mädchen gut entwickelt. ▬ Die erarbeitete Identität ist der günstigste Identitätszustand des Jugendalters. Hier haben sich die Jugendlichen für einen Beruf und für Lebenswerte entschieden, die sie selbst ausgewählt haben. Alle Persönlichkeitsmerkmale weisen bei diesem Identitätszustand ein positives Entwicklungsniveau auf. Sie sind selbstkontrolliert, ihr Arbeitsstil ist reflexiv, sie sind fähig zu tiefen intimen Beziehungen und in der sozialen Interaktion zum Einsatz für andere bereit. Über einen Zeitraum von etwa 8-10 Jahren ist eine erhebliche Veränderung zwischen den beschriebenen Identitätszuständen festzustellen, wobei sich der relative Anteil von erarbeiteter Identität hin zum 20. Lebensjahr erhöht und der Anteil an diffuser Identität und v. a. an Moratorium verringert, während der Anteil an übernommener Identität über die Zeit konstant bleibt. Aus späteren Arbeiten von Marcia (1989) geht hervor, dass sich im Verlauf von ca. 10 Jahren (!) der relative Anteil der diffusen Identität im Beobachtungszeitraum von 20% auf 40% erhöhte, also verdoppelte. Dies ist ein bedenkliches Ergebnis, da sich die Möglichkeiten für eine Fehlentwicklung und damit für die Herausbildung einer Verhaltensstörung dadurch erhöhen, weil sich mit dieser Entwicklung eine Verminderung der Wertorientierung und Verpflichtungshaltung gegenüber Familie und Gesellschaft ergibt. Um einer globalen Schwarz-Weiß-Malerei vorzubeugen, hat Marcia die diffuse Identität weiter analysiert und dabei 4 Unterformen herausarbeiten können: ▬ Die ursprüngliche einfache Entwicklungsdiffusion hat gute Chancen, sich zum Moratorium bzw. zur erarbeiteten Identität hin zu verändern. ▬ Die Jugendlichen mit einer sorgenfreien Diffusion sind unauffällig, aber oberflächlich. Sie suchen »Fun«, wobei ihr Wertesystem keinerlei Stabilität aufweist. Für die weitere Entwicklung bleibt offen, ob sich Jugendliche dieses Identitätstyps des Generationsauftrages bewusst werden, dass sie später als Eltern ihrer Verantwortung ge-
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genüber den eigenen Kindern und damit gegenüber der Gemeinschaft nachkommen müssen. ▬ Fehlentwicklungen drohen aus der Störungsdiffusion, weil sich hier eine Konfundierung mit kritischen Lebensereignissen ergibt, für deren Bewältigung die Betroffenen über keine Ressourcen verfügen, so dass sie versuchen, ihre Situation durch Bedeutungs- und Größenphantasien zu meistern, was über kurz oder lang zu sozialen Problemen führt. ▬ Die kulturell adaptive Diffusion wird als Ergebnis der Veränderung unserer Gesellschaft hin zu einer multikulturellen Gemeinschaft gewertet. Offenheit, Unverbindlichkeit und Flexibilität, wie sie dieser Gesellschaftstyp fordert, werden als Möglichkeiten der raschen Adaptation geschätzt. Offen muss allerdings bleiben, ob diese Entwicklung erstrebenswert ist, da dies durch einen Verlust an Verbindlichkeit bezahlt werden muss.
Bindungserfahrungen als Basis des Interaktionsverhaltens Eine zentrale Rolle für die Herausbildung des menschlichen Sozialverhaltens spielen schließlich die frühzeitig in der Entwicklung entstehenden Bindungsmuster an nahe Bezugspersonen (Mutter, Vater, Großeltern, ältere Geschwister) sowie Beziehungen zu Erwachsenen, zu Gleichaltrigen, zu Freunden. Hauptmuster der frühen Bindung können »sicher«, »unsicher-vermeidend«, »unsicher-ambivalent« oder »desorganisiert« sein, wobei meist mehrere Muster anteilig bei einem Menschen zu finden sind. Die Art der frühen Bindung bildet die grundlegende Voraussetzung für die Kontaktaufnahme mit anderen Menschen. Bowlby (1969, 1995) geht in seiner Bindungstheorie davon aus, dass der Säugling im Laufe des ersten Lebensjahres auf der Grundlage des biologisch angelegten Bindungssystems und des komplementär arbeitenden Explorationssystems eine starke emotionale Bindung zu seiner Hauptbezugsperson (meist der Mutter) aufbaut. Sie gibt ihm im Leben emotionalen Halt und Sicherheit. Dabei haben Bowlby und seine Mitarbeiter mehrere Phasen oder Stufen der Bindungsentwicklung unterschieden:
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Kapitel 2 · Verhalten: normales – auffälliges – gestörtes
▬ In der Vorphase oder 1. Phase der Bindungsentwicklung richtet der Säugling seine Signale (sein Lächeln, Weinen, Schreien) an jeden und reagiert auch auf jeden, der sich ihm zuwendet. Aus diesem Grunde wird diese Entwicklungsstufe auch als Phase der unterschiedslosen sozialen Reaktionsbereitschaft bezeichnet. Dieses Verhalten des Säuglings ist sinnvoll, da er auf diese Weise seine sozialen Kontakte breit streut und damit seine Versorgung, sein Überleben sichert. In den unspezifischen Interaktionen der ersten 3 Lebensmonate lernt er allmählich die Interaktionspartner zu unterscheiden und als (unverwechselbare) Personen zu differenzieren. ▬ Die 2. Phase umfasst den Zeitraum vom 3.-6. Monat. Die Persondifferenzierung verbessert sich weiter und der Säugling unterscheidet nunmehr bekannte und unbekannte Interaktionspartner, indem er bekannte bevorzugt, aber unbekannte noch nicht zurückweist. Diese Entwicklungsstufe wird Phase der beginnenden Bindung oder der unterschiedlichen Interaktionsbereitschaft genannt. ▬ Die 3. Entwicklungsstufe wird als Phase der eigentlichen Bindung bezeichnet, weil der Säug-
ling sich durch eigene Aktivitäten (Krabbeln) in die Nähe der bevorzugten Bezugspersonen bringen kann und damit klar zum Ausdruck bringt, wer zu ihm gehört, von wem er Unterstützung und emotionale Zuwendung erwartet und von wem nicht. Auch die sprachliche Entwicklung unterstützt diese Aktivitäten. Bei Abwesenheit oder zu großer räumlicher Distanz zur bevorzugten Bezugsperson kann er sein Verhalten flexibel einsetzen, um sein Ziel zu erreichen, Mutter oder Vater in seine Nähe zu bringen und dort zu halten. Fremdeln und Trennungsangst zeigen, dass eine Bindung entstanden ist. Die Phase der eigentlichen Bindung erstreckt sich über einen Zeitraum vom etwa 6. Lebensmonat bis zum 3. Lebensjahr. ▬ Daran schließt sich nach dem 3. Lebensjahr als 4. Stufe die Phase der Dezentrierung oder der zielkorrigierten Partnerschaft an. Das Kind kann den Standpunkt von Mutter oder Vater einnehmen. Es versucht, die Ziele der Bezugsperson so zu beeinflussen, dass sie seinen
eigenen Bedürfnissen nach Nähe entsprechen, z. B. durch Überredung, durch Spielaufforderungen u. a. ! Aus den Erfahrungen eines Kindes mit seinen Bezugspersonen und dem Ausmaß der Feinfühligkeit dieser Personen für die Bedürfnisse des Kindes entwickeln die Kinder spezifische Bindungsmuster, die ihr Interaktionsverhalten nachhaltig beeinflussen, oftmals ein Leben lang.
Mit Hilfe des Fremde-Situation-Test (FST), einem standardisierten Beobachtungsverfahren, gelang es Ainsworth (1969, 1978), spezifische Formen des Bindungsverhaltens bei Kindern im Alter von 1218 (11-20) Monaten empirisch nachzuweisen. Die von ihr herausgearbeiteten Kategorien des Bindungsverhaltens werden nachfolgend beschrieben: Sichere Bindung Kinder, die in ihren ersten 12 Lebensmonaten dauerhaft die Erfahrung machen konnten, dass sie ihre Bedürfnisse zeigen können, dass sie bei Kummer und Leid getröstet werden und sich darauf verlassen können, dass dies zuverlässig geschieht, entwickeln eine sichere Bindung. ! Die Eltern dieser Kinder verfügen über eine ausreichend entwickelte Feinfühligkeit für die Absichten, Wünsche und Bedürfnisse des Kindes. Sie sind kindzentriert und können sich in ihre Kinder gut einfühlen.
Bei empirischen Untersuchungen zeigte sich, dass in unausgelesenen Stichproben etwa 50-75% der Kinder dieses Bindungsmuster in der frühen Kindheit erwerben (Grossmann et al. 1997; Ettrich u. Hartwig 2004). Kinder dieses Bindungstyps zeigen eine ausgewogene Balance zwischen Bindungs- und Explorationsverhalten (Erkundungsverhalten, Neugier). Die sichere Bindung zeigt sich in der offenen Kommunikation der Gefühle gegenüber der Bindungsperson, besonders wenn es sich um negative Gefühle handelt. Dadurch unterscheidet sich dieses Bindungsmuster von allen Formen der unsicheren Bindung gravierend. Bei Leid, Kummer, Unsicherheit und Bedrohungserleben suchen sicher gebundene Kinder ihre
27 2.1 · Normales Verhalten
Bezugsperson auf. Aus der Nähe zur Bindungsperson gewinnen die Kinder erneut Verhaltenssicherheit. Dieses Sicherheitserleben ermöglicht es ihnen, die Umwelt zu erkunden. Die Bindungsperson ist damit die »Basisstation« für Erkundungen, was eine gute Voraussetzung für die kognitive Entwicklung darstellt. In Gegenwart ihrer Bezugsperson zeigen sicher gebundene Kinder gegenüber Fremden ein offenes, aufgeschlossenes Interaktionsverhalten. Unsicher-vermeidende Bindung Kinder, die im 1. Lebensjahr erfahren mussten, dass Zuwendung und Unterstützung nur dann gewährt werden, wenn sie sich »ordentlich« verhalten, z. B. allein spielen, bilden eine unsicher-vermeidende Bindung aus. ! Diese Forderungen nach einem »lieben, braven Kind« werden von den Bezugspersonen sehr nachhaltig an die Kinder herangetragen. Sie sind Ausdruck dafür, dass die Bezugspersonen die Bedürfnisse der Kinder nach liebevoller Zuwendung, nach Trost und Hilfe nicht wahrnehmen oder nicht sehen wollen, da sie sonst Zeit in die Kinderbetreuung investieren müssten.
Diese Zurückweisung kindlicher Bedürfnisse führt dazu, dass die Kinder lernen, dass es für sie günstiger ist, die Zeichen eines aktivierten Bindungssystems (z. B. Weinen, Anschmiegen, Nachlaufen, Anklammern, Spielangebote machen) zu unterdrücken und dafür das Explorationssystem in einem Zustand dauernder Aktivität zu halten (allein spielen, etwas Bauen, Bilder(bücher) ansehen u. Ä.). Gefühle gegenüber der Bezugsperson, v. a. negative, werden verborgen und unterdrückt. In Perioden des Leids verhalten sich die Kinder distanziert aus Furcht vor Zurückweisung. Der Sicherheitsgewinn aus der Nähe zur Bindungsperson muss auf Umwegen erreicht werden, z. B. durch »braves« Spiel oder Leistung. Die Zuwendung von Fremden wird von diesen Kindern genutzt, um ihr Bedürfnis nach sozialem Kontakt, nach Kommunikation, Beachtung und Anerkennung zu befriedigen. Aus diesem Grunde sind sie freundlich zu Fremden. Entfernt sich die Bezugsperson, ist bei ihnen nur ganz schwach oder gar nicht zu erkennen, dass ihr Bindungssystem
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aktiviert ist. Entgegen der Annahme der Bindungstheorie verringert sich ihr Explorationsaktivität wenig oder gar nicht. Bei der Rückkehr der Bezugsperson fällt die aktive Vermeidung von Kontakt und Kommunikation zu ihr auf. Unsicher-vermeidend gebundene Kinder drehen sich von der Bezugsperson weg, schauen weg, bewegen sich weg, ja sie ignorieren sie, während Fremde freundlich behandelt werden und dies umso nachhaltiger, je länger die Abwesenheit der Bezugsperson dauerte. Aus physiologischen Untersuchungen wissen wir inzwischen, dass diese Unterdrückung des Bindungsverhaltens ihren Tribut fordert (Spangler u. Schieche 1995). Der Anteil unsicher-vermeidend gebundener Kindern ist ebenfalls recht hoch und variiert je nach Stichprobe zwischen 25% und 40%. Unsicher-ambivalente Bindung ! Unsicher-ambivalent gebundene Kinder verfügen im Gegensatz zu sicher gebundenen und unsicher-vermeidend gebundenen Kindern nicht über konsistente Erfahrungen mit ihren Bezugspersonen.
Einmal trösten die Bezugspersonen ihre Kinder bei Kummer, dann sind sie in einer ähnlichen Situation für die Kinder nicht erreichbar. Auf das Verhalten der Bezugsperson ist kein Verlass. Aus diesem Grunde sind diese Kinder in ihrer Bindung unsicher und riskieren lieber keine Trennung, sondern klammern sich an ihre Bezugspersonen. Sie leben in ständiger Angst, ihre Bezugsperson zu verlieren. Dies zeigt sich auch im stark überhöhten Bedürfnis nach Körperkontakt. Das Bindungssystem ist bei ihnen in ständiger Alarmbereitschaft. Die Angst vor der Trennung von der Bezugsperson engt das Explorationsverhalten dieser Kinder ein. Sie sind ängstlich, zurückhaltend gegenüber allem Neuen und besonders bei fremden Personen. Bei der Trennung von ihrer Bezugsperson zeigen sie eine untröstbare Verzweiflung. Bei Rückkehr der Bezugsperson sind sie nur sehr langsam und schwer zu beruhigen. Das Ambivalente im Verhalten dieser Kinder zeigt sich in der Vermischung von Kontaktstreben und Kontaktverweigerung.
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Kapitel 2 · Verhalten: normales – auffälliges – gestörtes
Der Anteil unsicher-ambivalent gebundener Kindern liegt bei 10-20%. In den Untersuchungen von Ainsworth bzw. mit dem von ihr entwickelten Verfahren (FST) ergab sich immer wieder eine Anzahl von Kindern, die sich nicht oder nur widersprüchlich diesen 3 Bindungsmustern zuordnen ließen. Mary Main ist es 1995 gelungen nachzuweisen, dass sich hinter diesen unklaren Fällen ein eigenständiges Bindungsmuster verbirgt, das sie als desorganisierte Bindung bezeichnete. Desorganisierte Bindung Bei diesen Kindern kann man zwar eine der 3 Grundstrategien des Bindungsverhaltens erkennen, nämlich sicher, unsicher-vermeidend oder unsicher-ambivalent, es ist aber als durchgängiges Muster nicht nachweisbar. In unausgelesenen Stichproben ist ihr Anteil relativ gering. Er wird meist mit 2-3% angegeben. Das Verhalten dieser Kinder wird durch bizarre Verhaltensweisen für mehrere Sekunden unterbrochen. Diese Kinder erstarren z. B. in ihren Bewegungen bei gleichzeitigem tranceähnlichem Gesichtsausdruck oder sie richten sich auf, um die Bezugsperson zu begrüßen, sinken dann aber in sich zusammen. ! Mary Main u. a. gehen davon aus, dass es bei diesen Kindern zu einem Zusammenbruch der Aufmerksamkeits- und Verhaltensstrategien kommt und dass dieses Bindungsmuster aus Interaktionserfahrungen mit Angst verbreitenden oder selbst verängstigten Bezugspersonen entsteht.
Durch diese werden die Kinder so verunsichert, dass sie keine Handlungs- oder Verhaltensstrategien für bedrohliche Situationen entwickeln können. Mary Main und ihre Mitarbeiter sehen im desorganisierten Verhalten Hinweise auf Verängstigung und Angst, ohne dass diese Kinder eine Person wissen, die ihnen Schutz und Hilfe geben kann. Als Ursachen der desorganisierten Bindung sind bis jetzt konstitutionelle Faktoren (z. B. Temperament) nicht völlig auszuschließen. Auffällig ist jedoch, dass in Stichproben speziell mit misshandelten Kindern der Anteil von Kindern mit desorganisierter Bindung extrem hoch ist. Die
untersuchten Kinder wurden in solchen Stichproben in bis zu 80% als desorganisiert gebunden klassifiziert. Dieser Befund legt nahe, das desorganisierte Bindungsverhalten auf die von den Kindern erlebte spezielle Form der Eltern-Kind-Interaktion zurückzuführen. Es ist Folge von Traumata durch bedrohliche Bezugspersonen bzw. resultiert aus der Weitergabe von Verhaltensmustern durch Bezugspersonen, die selbst durch Traumata verängstigt sind. Wir wollen diesen Abschnitt nicht verlassen, ohne noch die pathologischen Bindungsmuster betrachtet zu haben, da wir diese gerade bei verhaltensauffälligen oder –gestörten Kindern und Jugendlichen sehr häufig finden.
Typen gestörten Bindungsverhaltes Keine Anzeichen von Bindungsverhalten Die Kinder zeigen kein Bindungsverhalten, reagieren unberührt in emotionalen Situationen zu Bezugspersonen, entwickeln keine verlässliche Bindung. Sie zeigen ein oberflächlich zweckbetontes Verhalten und entwickeln meist deviante Karrieren. Undifferenziertes Bindungsverhalten Hier finden wir ein durchaus freundliches, dadurch aber inadäquates, distanzloses Bindungsverhalten, ohne Qualitätsunterschied zu Bezugspersonen (bezogen auf die eigentliche Nähe). Brisch (2001) spricht von einer »sozialen Promiskuität« mit hoher Selbstgefährdung und Kritiklosigkeit. Die Kinder zeigen ein hohes Risikoverhalten, meist verbunden mit fehlendem oder vermindertem Schmerzempfinden. Man findet hier durchaus kriminelle Karrieren, vordergründig Diebstähle z. B. Autodiebstahl und »sensation seeking« beim Fahrverhalten. Übersteigertes Bindungsverhalten Exzessives Klammern, überängstliches misserfolgsorientiertes, aggressives Verhalten als Reaktion auf übersteigerte Angst mit dem chronischen Gefühl, verlassen zu werden, sind hier an der Tagesordnung. Wir finden die sog. »Angstbeißer«, die in Angst machenden Situationen dieser Qualität unberechenbar aggressiv reagieren. Das Umfeld er-
29 2.1 · Normales Verhalten
kennt die Qualität der Angstauslösung aber meist nicht wegen sozialer Defekte und Milieustörung. Gehemmtes Bindungsverhalten Die Kinder wirken angepasst, eigentlich unauffällig, sie sind meist Gewaltopfer. Hier dominiert die Suche nach Schutz und Geborgenheit. Die Kinder werden meist bei Pflegefamilien untergebracht oder in pädagogisch orientierten Einrichtungen der Jugendhilfe betreut. Aggressives Bindungsverhalten Die Beziehungsgestaltung geschieht vordergründig über Aggressionen unterschiedlichen Kolorits: verbal bzw. körperlich, passiv bzw. aktiv, offen bzw. verdeckt. Aggressionen sind als Adaptionsleistung gemeint, um Bindungswünsche zu realisieren (gelernt). Der Kreislauf der Ablehnung verstärkt die Aggressionsentwicklung. Bei Erreichen der Adoleszenz (körperliche Überlegenheit) wird dieses Problemfeld erst richtig auffällig, da durch die inzwischen erreichte körperliche Überlegenheit vermeintliche Erfolge erreicht werden. Bindungsverhalten mit psychosomatischen Symptomen Die Kinder beantworten Bindungsunsicherheiten und Bindungsabbrüche mit psychosomatischen Symptomen wie Bauchschmerzen, Kopfschmerzen, Erbrechen usw. Noch im Jugend- und Erwachsenenalter sind diese Formen oder diese Typen des Bindungsverhaltens relativ gut nachweisbar, z. B. mit dem EBPR nach Strauß und Lobo-Drost (1999).
Qualität der Bindungsorganisation als Schutz- bzw. Risikofaktor Eine sichere Bindung ist Ausgangspunkt eines Entwicklungspfades zur Kompetenz. Eine sichere Bindungsorganisation ist gleichzeitig ein Risikopuffer zur Förderung der psychischen Stabilität und Belastbarkeit (Resilienz). Im ungekehrten Fall würde eine unsichere Bindungsorganisation im Sinne einer Vulnerabilität, also einer erhöhten Störbarkeit für Risikofaktoren, wirksam werden.
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Sichere Bindungsorganisation ist auch ein positiver Einflussfaktor auf Therapie und Intervention. So kann eine sichere Bindungsorganisation, z. B. auch in therapeutischen Prozessen, als positiver Prognosefaktor für den Therapieerfolg angesehen werden. Da im Therapieprozess versucht wird, über das Beziehungssystem Veränderungen herbeizuführen, sind die Fähigkeiten, Vertrauen in Beziehungen aufbauen und Hilfsangebote nutzen zu können, mit einer sicheren Bindungsorganisation verbunden. Sie können als Schutzfaktoren zu rascherem Erfolg der Therapie führen. Einflüsse von Trennung bzw. Scheidung auf Bindungen Sichere Bindungen können verunsichert werden. Bereits unsichere Bindungen können zu desorganisierten werden. Die resultierenden Bindungen können zu einer pathologischen Symptomatik bzw. zu einer pathologischen Persönlichkeitsstruktur führen. Als protektiver Faktor ist die sichere Bindung an zumindest ein Familienmitglied zu sehen. Individuelle Ressourcen und familiäre (weitere Familie) Resilienzfaktoren können zur Erhaltung und Rekonstruktion von Bindungsqualitäten durch Abschwächung der Traumatisierung beitragen. Externe Helfersysteme können Ressourcen aufspüren und wirksam werden lassen, sowie selbst bindungsfördernd sein.
Bindungsmuster und die alterspezifische Gestaltung von Interaktionen Bei Vorschulkindern etwa im Alter von 3-6 Jahren ist die Bindungsentwicklung und das spezifische Bindungsmuster (sicher, unsicher-vermeidend usw.) entscheidend für die Gestaltung ihrer sozialen Beziehungen. Sicher gebundenen Kindern fällt es leicht, auf andere zuzugehen, sie können deren Spielideen aufgreifen und im Interesse der Gemeinschaft umsetzen. Sie sind bei nahezu allen Spielpartnern beliebt. Unsicher-vermeidend gebundene Kinder, die sich bislang vornehmlich über Leistung definierten, haben es mitunter schwer, weil sie von anderen Kindern wegen ihrer Leistungshaltung als
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Kapitel 2 · Verhalten: normales – auffälliges – gestörtes
Streber eingeschätzt werden. Ihre hochgradige Impulskontrolle wird einerseits geschätzt, aber wegen mangelnder Spontaneität werden sie oftmals als Langweiler gesehen. Unsicher-ambivalent gebundene Kinder verhalten sich unter Gleichaltrigen oftmals hochgradig emotional, sie wollen andere für ihre Spiele fordernd gewinnen, können aber nicht mit Zurückweisungen oder Variationen ihrer Ziele umgehen. Spitzt sich das Gruppenklima zu, drohen sie zu Außenseitern der Gemeinschaft zu werden. Kinder mit einem desorganisierten Bindungsmuster gestalten ihre Interaktionen kontrollierend. Dies ist ein kompensatorisches Verhaltensmuster zu den verängstigenden Interaktionen in der frühen Kindheit. Mit zunehmendem Lebensalter gestaltet sich die Erfassung des Bindungssystems mittels Verhaltensbeobachtung immer schwieriger, weil sich das Leistungsspektrum der Heranwachsenden immer weiter ausbreitet und sich ihre Kontakterfahrungen im sozialen Bereich enorm vergrößern. Die Bindungserfahrungen mit der unmittelbaren Bezugsperson haben auch wegen der Erweiterung des Leistungs- und Sozialverhaltens ihre unmittelbar handlungsleitende Funktion verloren und sich zu einer Persönlichkeitseigenschaft weiterentwickelt. Sie werden nunmehr als internes Arbeitsmodell aufgefasst, das auf den Erfahrungen mit der Bezugsperson beruht und die Interaktionen mit anderen Menschen leitet. Wie alle anderen Persönlichkeitseigenschaften tendieren Bindungsmodelle zu Stabilität und existieren außerhalb des Bewusstseins (Fremmer-Bombik 1995). Dies ist auch der Grund dafür, dass sie im Jugendalter nur sehr schwer zu erfassen sind, so dass man auf indirekte Methoden zu ihrer Ermittlung zurückgreifen muss, auf Bindungsinterviews (George, Kaplan u. Main 1985; Strauß u. LoboDrost 1999). Im Jugendalter lässt sich der Einfluss der Bindungsmuster auf Identitätsfindung, Entwicklung von Freundschafts- und Partnerbeziehungen nachweisen. Längsschnittuntersuchungen (Grossmann 1995) lassen eine hohe Stabilität des einmal erworbenen Bindungsverhaltens erkennen, womit nicht gesagt wird, dass das frühe Bindungsverhalten als Schick-
sal zu betrachten ist. Bindungsverhalten kann sich unter dem Einfluss von gravierend veränderten Interaktionsbedingungen im Lebensfluss verändern, es kann aber auch unter dem Einfluss von therapeutischen Maßnahmen gezielt neu gestaltet werden. Allerdings dürfen wir hier nicht übersehen, dass es sich dann um eine aufwändige, Zeit und Energie erfordernde therapeutische Intervention handelt.
2.1.2 Entwicklung der kognitiven
Fähigkeiten Warum müssen wir uns in einem Buch, das sich mit Verhaltensstörungen befasst, also v. a. mit abweichendem Sozialverhalten, auch mit solchen psychischen Phänomenen wie Wahrnehmung, Lernen und Gedächtnis sowie mit Denken, Sprechen und Intelligenz auseinandersetzen? Die Antwort ist vielschichtig, weil diese psychischen Vorgänge zunächst etwas mit der allgemeinen psychischen Entwicklung und damit auch mit der Entstehung dieser Störungen zu tun haben. Ferner müssen wir für das Verstehen jeglichen Verhaltens, also auch von Verhaltensstörungen, wissen, wie die Kinder kognitiv entwickelt sind, ob das Verhalten altersund entwicklungsgemäß, also normal ist oder ob es davon abweicht. Letztendlich müssen wir bei der Anwendung erzieherischer oder therapeutischer Maßnahmen den kognitiven Entwicklungsstatus der Kinder und Jugendlichen berücksichtigen, damit es zu keiner Über- oder Unterforderung der Kinder und Jugendlichen kommt. Da es uns aus Platzgründen nicht möglich ist, alle Teilbereiche kognitiver Fähigkeiten hier ausführlich zu besprechen, beschränken wir uns auf Denken und Intelligenz, wobei wir wegen ihrer Praxisnähe die Denkentwicklung im System der strukturgenetische Entwicklungstheorie nach Piaget (1976, 1983) darstellen werden. Für Jean Piaget (1896-1984) ist Denken die grundlegende Form zur Auseinandersetzung des Menschen mit seiner Umwelt vom Säugling bis zum Greis. Dabei setzt sich der Mensch handelnd mit der Umwelt auseinander. Ihm stehen 2 grundsätzliche Formen des Austausches zwischen Individuum und Welt zur Verfügung, die Piaget Assimilation
31 2.1 · Normales Verhalten
und Akkommodation nennt. Mit Assimilation bezeichnet er die Aufnahme, die Angleichung der Umweltgegebenheiten an die Handlungsmöglichkeiten des Menschen. Ein Beispiel für Assimilation besteht darin, dass ein Vorschulkind sich rittlings auf einen Stuhl setzt und die Lehne des Stuhls wie ein Lenkrad gebraucht. Unter Akkommodation versteht er die Anpassung der Handlungsmöglichkeiten eines Menschen an die Erfordernisse der Umweltgegebenheiten. Als Beispiel für Akkommodation ist die Angleichung unserer Handhaltung an unterschiedliche Schreibwerkzeuge (z. B. Füller, Kugelschreiber) zu nennen. In der Auseinandersetzung über Assimilation und Akkommodation eignen wir uns eine Vorstellung vom Bild einer Person oder eines Gegenstandes, eine Vorstellung über deren Bedeutung und Sinn sowie über deren Handhabung und Verwendung an. In diesem Abbildungsprozess reihen wir Strukturen der Umwelt in unser internes Bild von der Welt ein. Interne Repräsentationen nennt Piaget Schemata, wobei ein Schema die typische Weise ist, eine Klasse von Umweltgegebenheiten zu handhaben. Beispiele: ▬ Schema des Werfens (motorisches Schema), ▬ Schema des Bittens (soziales Schema), ▬ Schema des Sich-Entschuldigens (soziales Schema), ▬ Schema der Proportionsrechnung (hochkomplexes kognitives Schema). Die Schemata können vom Individuum zu unterschiedlichen handlungsorganisierenden Strukturen verknüpft werden. Man kann sich das so vorstellen, dass in unterschiedlichen Computerprogrammen immer wieder die gleichen Subroutinen (Unterprogramme) einbezogen werden, was für die Programmierer den Arbeitsaufwand und für den agierenden Menschen den Einsatz von Energie und Handlungsplanung verringert. Die Entwicklung des Denkens erfolgt im Aufbau von Repräsentationsstufen oder Stadien: ▬ Das sensumotorische Stadium bezieht sich etwa auf die ersten beiden Lebensjahre des Kindes. ▬ Das präoperationale Stadium umfasst das 2.-6. Lebensjahr.
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▬ Das konkret-operationale Stadium umfasst das Grundschulalter, also das 6.-10. Lebensjahr. ▬ Das formal-operationale Stadium, in dem das Denken sein qualitativ höchstes Entwicklungsniveau erreicht, ist die Zeit ab dem 11. Lebensjahr. Piaget interessierte sich dafür, wie sich in einzelnen Stadien unterschiedliche Formen des Denkens, die er Strukturen nannte, herausbilden und was dies für die Denkleistung der Heranwachsenden bedeutet. Die Herausbildung der Strukturen war für ihn deshalb von Bedeutung, weil sich in ihnen das Entwicklungsgemäße der Denkleistungen zeigt. Die Dinge, über die dabei ein Kind nachdenkt (also die Inhalte des Denkens) waren austauschbar und deshalb für die Entwicklung des Denkens ohne Bedeutung. Inhalte sind konkret und darum faktisch immer verschieden, gleich bleibt jedoch das Schema, z. B. das Schema des Werfens: Es ist anwendbar auf Bälle, Steine, Vasen, Torten usw.
Stadium der sensumotorischen Entwicklung Das Stadium der sensumotorischen Entwicklung lässt sehr gut erkennen, wie aus den einfachsten nachgeburtlichen Verhaltensäußerungen am Ende dieses Stadiums im sensumotorischen Intelligenzakt ein qualitativer Sprung in der Auseinandersetzung von Kind und Umwelt erreicht wird. Es muss von nun an nicht mehr alles durch tatsächliches Verhalten »erforschen«, sondern können durch das Operieren am internen Modell Handlungsverlauf und Verhaltensergebnis von ihm vorweggenommen werden (⊡ Abb. 2.1), was die Qualität der Erforschung der Umwelt, die Komplexität der Umweltauseinandersetzung, enorm erhöht. ▬ 1. Stufe: Übung angeborener Reflexmechanismen (Übung des angeborenen [des vorgeburtlich erworbenen] Verhaltensinventars), ▬ 2. Stufe: Primäre Kreisreaktionen (Verhalten, Erfolg, Wiederholung des Verhaltens), ▬ 3. Stufe: Sekundäre Kreisreaktion (spezifisches Verhalten, spezifisches Ergebnis), ▬ 4. Stufe: Koordinierung erworbener Handlungsschemata und ihre Anwendung auf neue Situationen (spezifisches Verhalten x, y, z, Exploration),
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▬ 5. Stufe: Tertiäre Kreisreaktion (spezifisches Verhalten x, y, z, Handlungsziel, Erfolg, Integration in das Verhaltensinventar), ▬ 6. Stufe: (Übergang vom sensumotorischen Intelligenzakt zur Vorstellung: Verhaltenserprobung am internen Modell).
Entwicklung der Darstellungs- und Symbolfunktion In dieses Stadium fallen auch 3 wichtige Erkenntnisformen der Kinder. ▬ Mit etwa 6-8 Monaten beginnen sie aktiv nach Dingen zu suchen, die vor ihren Augen versteckt wurden. Sie erinnern sich also an das Vorhandensein von Dingen, auch wenn sie diese nicht mehr sehen, die Dinge sind also kognitiv repräsentiert. Die Objektpermanenz ist Ausdruck der kognitiven Eigenaktivität des Kindes. ▬ Das Nachahmungsverhalten von Mimik und Gestik insbesondere der Betreuungspersonen durch die Kinder dient dazu, ihr soziales Verständnis zu erweitern. Es lässt sich v. a. dann, wenn die Nachahmung zeitlich verzögert er-
folgt, folgern, dass das Verhalten auch intern repräsentiert ist. ▬ Etwa mit der Vollendung des 1. Lebensjahres sind Kinder zu Symbolhandlungen fähig. Sie verwenden Dinge dann in einem Handlungszusammenhang richtig, obwohl dem Objekt eigentlich eine andere Funktion zukommt. Auch aus den Symbolhandlungen ist die interne Repräsentation, in diesem Falle des Sinn- oder Bedeutungszusammenhangs zu erkennen. Beispielsweise spielt ein Kind »Zu-Bett-bringen« und verwendet, da kein Puppenbett vorhanden ist, einen Schuhkarton als Puppenbett.
Stadium des präoperationalen oder anschaulichen Denkens Das Studium des wissenschaftlichen Werkes Piagets legt die Vermutung nahe, dass er sich dieser Entwicklungsphase des Denkens nicht nur mit Akribie und Sorgfalt, sondern auch mit besonderer Liebe zugewendet hat. Es gelang ihm, viele Besonderheiten des Denkens bei 2- bis 6-jährigen Vorschulkindern herauszuarbeiten. Zum einen ist
Komplexität der Umweltauseinandersetzung
6. Verhaltenserprobung am internen Modell
5. Tertiäre Kreisreaktion
4. Koordination von Handlungsschemata
3. Sekundäre Kreisreaktion
2. Primäre Kreisreaktion
Operieren am internen Modell
1. Übung des angeborenen Verhaltens
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Kapitel 2 · Verhalten: normales – auffälliges – gestörtes
⊡ Abb. 2.1. Beziehung zwischen Stufen der Denkentwicklung im sensumotorischen Stadium und Komplexität der Umweltauseinandersetzung
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33 2.1 · Normales Verhalten
auf den Animismus zu verweisen. Kinder verhalten sich gegenüber unbelebten Gegenständen so, als seien sie belebt und handlungsfähig. Stößt sich beispielsweise ein Kind an einem Tisch, schimpft es ihn als »böse« aus oder erwartet, dass die Eltern den Tisch bestrafen. Zum anderen ist ihr Verständnis von Dingen und Vorgängen finalistisch, artifiziell (z. B. Natur von Menschen geschaffen) bzw. absolut (Die Dinge sind so, wie sie das Kind erklärt). Dabei stört es Vorschulkinder nicht, dass Ursache und Wirkung in ihren Erklärungen wechseln. Man nennt dies zirkuläre Schlussweisen (der Wind bewegt die Wolken, die Wolken machen den Wind). Diese Besonderheiten des Denkens entstehen, da die Kinder nur einen Aspekt des Geschehens erfassen und sie das Zusammenwirken von 2 und mehr Zusammenhängen noch nicht verarbeiten können. Das Stadium des präoperationalen Denkens wird abgeschlossen, wenn die Kinder Invarianzphänomene verstehen. Hierzu hat Piaget eine Reihe kindgemäßer Experimente durchgeführt, die viele Male nachvollzogen wurden. Hervorzuheben ist, dass Piaget größten Wert auf die Verständlichkeit und Anschaulichkeit der Experimente legte. Als Beispiel gibt ⊡ Abb. 2.2 die Versuchsanordnung zum Erfassen der Invarianz des Volumens wider. Zwei gleichgroße und gleich aussehende Gefäße werden vor den Augen des Kindes mit der gleichen Menge Flüssigkeit gefüllt. Dann wird das Kind aufgefordert zu beurteilen, ob in den beiden Gefäßen die Flüssigkeitsmengen gleich oder verschieden sind. Da die Höhe des Flüssigkeitstandes in beiden Gläsern gleich ist, kommen die Kinder zu dem Schluss: »gleich viel«. Nun wird vor den Augen des Kindes die Flüssigkeit des einen Gefäßes in ein neues Gefäß umgegossen, das einen kleineren Durchmesser hat, so dass der Flüssigkeitsstand in diesem dritten Gefäß steigt. Im Anschluss daran werden die Flüssigkeitsmengen der beiden Gläser verglichen. Kinder, die bei diesem Vergleich zu dem Schluss kommen: »gleich viel«, erfüllen das Invarianzkriterium, die anderen nicht. ⊡ Abb. 2.3 gibt für Jungen und Mädchen im Alter von 5;6 bis 6;5 (5 Jahre und 6 Monate bis 6 Jahre und 5 Monate) das Invarianzverständnis für Substanzen, Gewicht und Volumen wieder. Dabei zeigt sich, dass das Invarianzverständnis für unterschiedliche Sachverhalte bei denselben Kindern sehr variabel ist.
=
? =
⊡ Abb. 2.2. Umfüllversuch – Konstanz des Volumens
90 80 70 60 50 40 30 20
Volumen
10
Gewicht
0 Invarianz
Übergang
Substanz Nichterhaltung
⊡ Abb. 2.3. Entwicklung der Invarianz bei Mädchen und Jungen im Alter von 5;6 bis 6;5 Jahren
So entwickelt sich das Invarianzverständnis für Substanzen (wie z. B. beim Umformen von Knete) deutlich früher als das Verständnis für den Erhalt des Gewichts von Substanzen, während das Verständnis für den Erhalt des Volumens sich zuletzt entwickelt.
Stadium des konkret-operationalen Denkens Das Invarianzverständnis ist ein guter Indikator dafür, dass das präoperationale Stadium in der Denkentwicklung überwunden wurde und die Kinder zur Bewältigung von Denkanforderungen geistige Operationen heranziehen können. Sie sind in der Lage, Vergleichsprozesse vorzunehmen und Sys-
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Kapitel 2 · Verhalten: normales – auffälliges – gestörtes
teme von Kategorien zu bilden und damit Hierarchienbildungen vorzunehmen. Diese Fähigkeit beruht auch auf der Sprachentwicklung, die es den Kindern erlaubt, Begriffe und Oberbegriffe zu unterscheiden (z. B. Hund, Katze, Maus lassen sich der Kategorie Tiere, Hund und Katze der Kategorie Haustiere zuordnen). Dieses Beispiel lässt auch erkennen, dass Denken und Sprache zwar nicht identisch sind, jedoch eine Einheit bilden. Gruppierungen nach einer Dimension, wie Länge, Gewicht usw. sind nunmehr möglich. Lässt man z. B. unterschiedlich lange Legestäbchen nach einer Reihe (vom kleinsten zum größten) ordnen, gelingt dies Kindern im konkret-operationalen Stadium mühelos, indem sie auf einer Grundlinie die Seriation der Stäbchen vornehmen, also eine treppenförmige Anordnung bilden. Im präoperationalen Stadium gelingt dies nicht, sie ordnen die Stäbchen zu Paaren, später Dreiergruppen und bilden schließlich ein treppenähnliches Gebilde, ohne die Grundlinie zu beachten. Im konkret-operationalen Stadium setzen die Kinder gezielt Prozesse der Analyse und Synthese ein, sie können logisch folgern, wobei diese Prozesse nur dann funktionieren, wenn die Aufgaben konkret-anschaulich vorgegeben sind bzw. das Vorstellungsvermögen der Kinder ausreicht, sich die Inhalte konkret zu veranschaulichen. Man denke nur an den Horror vieler Kinder vor der Lösung von Sach- oder Textaufgaben, weil Eltern, Erzieher und Lehrer oftmals vergessen (bzw. nicht wahrhaben wollen), dass diese Anforderungen die Visualisierungsfähigkeit der Kinder übersteigen, so dass konkrete Hilfen erforderlich werden.
Diese 4 Stadien der Denkentwicklung sind durch zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen und Erfahrungen von Praktikern hinreichend belegt. Um Missverständnissen beim Umgang mit Jugendlichen vorzubeugen, muss man ehrlicherweise auch zugeben, dass das Endstadium der Denkentwicklung nicht von allen Jugendlichen erreicht wird und die Entwicklungsunterschiede zwischen Jugendlichen zum Teil erheblich sind. Auch Erwachsene greifen häufig bei der Lösung von Aufgaben auf Konkretisierungen und Veranschaulichungen zurück.
Entwicklung der Intelligenz Über die Entwicklung des kindlichen Denkens ließe sich noch vieles sagen, doch wir wollen uns auf das Notwendige und Praktische beschränken. Daher wenden wir uns nun der Beurteilung der Intelligenz zu, also der psychometrischen Bestimmung des Niveaus von Denkleistungen. Seit gut 100 Jahren sind wir in der Lage, die Intelligenz zu messen. Aus diesem Grunde wollen wir uns vergegenwärtigen, was man unter diesem Begriff verstand und auch heute noch weitgehend versteht. > Definition Stern (1912): »Intelligenz ist die Fähigkeit, Schwierigkeiten zu überwinden.« Wechsler (1940): »Intelligenz ist eine zusammengesetzte oder globale Fähigkeit, zielgerichtet zu handeln, rational zu denken und sich wirkungsvoll mit seiner Umwelt auseinanderzusetzen.«
Guthke et al. (1991) haben eine dem Stand der psychologischen Wissenschaften entsprechende Definition des Intelligenzbegriffes vorgeschlagen:
Stadium des formal-operationalen Denkens Das formal-operationale Denken ist nicht mehr an anschauliche Vorgaben gebunden. Da nunmehr die Vorstellungsfähigkeit über das Anschauliche hinausgeht, können die Jugendlichen logische Folgerungen durch den Aufbau von kombinatorischen Systemen erschließen. Piaget und Mitarbeiter zeigten den Aufbau kombinatorischer Systeme im Stadium des formal-operationalen Denkens z. B. am Pendelversuch und wiesen auch nach, dass das Verständnis von Proportionen nunmehr allein auf der kognitiven Ebene möglich ist.
> Definition Guthke et al. (1991): »Intelligenz ist der Oberbegriff für die hierarchisch strukturierte Gesamtheit jener allgemeinen geistigen Fähigkeiten, die das Niveau und die Qualität der Denkprozesse einer Persönlichkeit bestimmen und mit deren Hilfe die für das Handeln wesentlichen Eigenschaften einer Problemsituation in ihren Zusammenhängen erkannt und die Situation gemäß dieser Einsicht entsprechend bestimmter Zielstellungen verändert werden kann.«
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35 2.1 · Normales Verhalten
Mit der Intelligenzmessung werden folgende Ziele verknüpft: ▬ Feststellung des Intelligenzstatus zur groben Einordnung in die Kategorien der geistigen Leistungsfähigkeit: überdurchschnittlich, durchschnittlich und unterdurchschnittlich, ▬ Veränderung des Intelligenzstatus im Zeitverlauf (Längsschnitt), ▬ Ermittlungen der Veränderungsgeschwindigkeiten durch Vergleich der relativen Veränderungsbeträge von der 1. zur 2. Untersuchung, von der 2. zur 3. usw., ▬ Ermittlung der Veränderungsrichtung im Sinne von Stagnation (Stillstand), Regression (Rückbildung) und Akzeleration (Beschleunigung), ▬ Ermittlung des Veränderungsmusters im Sinne von Synchronität (Übereinstimmung des Entwicklungsniveaus untersuchter Merkmale zu einem Zeitpunkt) oder Diachronizität (Diskrepanzen im Entwicklungsniveau untersuchter Merkmale zu einem Zeitpunkt):
– der Merkmalsstruktur der Intelligenz (z. B. Unterschiede zwischen logischem Denken, räumlicher Vorstellung, sprachlichem Verständnis, Schnelligkeit der Wahrnehmung, Gedächtnis) bzw. – von Merkmalsbereichen (z. B. kognitive und soziale Fähigkeiten), ▬ Hilfe bei Schullaufbahnentscheidungen und ▬ Hilfe bei der Interventionsplanung. Die ⊡ Abb. 2.4, die nach Untersuchungsbefunden von Bayley (1949) von uns erarbeitet wurde, lässt deutlich erkennen, dass aus den sehr frühen Intelligenzmessungen (1.-7. Lebensjahr) die tatsächliche kognitive Leistungsfähigkeit eines jungen Erwachsenen nicht bzw. nur sehr ungenau vorhergesagt werden kann, dass aber ab dem 9. Lebensjahr sich Wiederholungskoeffizienten (0,8 und größer) ergeben, die auf praktische Parallelität der Intelligenzmessung verweisen. Die Intelligenzkoeffizienten ändern sich nunmehr wenig, somit sind die Befunde als für die Person charakteristisch zu betrachten.
1,00 0,87
0,90
0,80
0,80
0,84
0,68
0,70 0,60
0,52
0,50
0,39
0,40 0,30 0,20
0,14
0,10 0,00 1
2
4
7
9
11
15
⊡ Abb. 2.4. Korrelation von IQ-Werten aus früheren Lebensjahren mit den IQ-Werten im Alter von 18 Jahren. (nach Ergebnissen von Bayley 1949)
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Kapitel 2 · Verhalten: normales – auffälliges – gestörtes
2.1.3 Entwicklung der körperlichen
und motorischen Fähigkeiten
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Die Beachtung der motorischen Fähigkeiten der Heranwachsenden ist von besonderer Bedeutung, weil wir über deren Beobachtung Aufschlüsse über die Entwicklung und Veränderung der Funktionsweise des Zentralnervensystems insgesamt erhalten können. Greifen Gut beobachtbar im Säuglingsalter sind die Greifbewegungen des Kindes. Weil beim neugeborenen Kind der Beugetonus dominiert, sind auch die Hände der Kleinen überwiegend locker gefaustet. Beim Neugeborenen fällt uns auch der ausgeprägte Handgreifreflex auf. Dieser Reflex verliert in den nächsten 2-3 Monaten an Bedeutung, und es sind zunehmend aktive Greifbewegungen des Kindes zu erkennen. Am Ende des 3. Lebensmonats kann man feststellen, dass das Kind seine Hand auf einen vorgehaltenen Gegenstand zu bewegt. Diese Bewegung ist noch unsicher, zeigt uns aber, dass sich beim Kind die Auge-Hand-Koordination entwickelt. Am Ende des 5. Monats führt das Kind seine Hand sicher zu einem Spielzeug (z. B. Rasselkette) und berührt es. Einen Monat später ist das palmare Greifen entwickelt. Die Kinder erfassen den Gegenstand mit der ganzen Handfläche und mit gestrecktem Daumen. Diese nunmehr bevorzugte Greifform bleibt bis gegen Ende des 10. Monats erhalten. Dann ist der Pinzettengriff zu beobachten. Hier ergreift das Kind einen Gegenstand mit gestrecktem Zeigefinger und opponiertem Daumen. Diese Greifbewegung ermöglicht es den Kindern, auch relativ kleine Gegenstände sicher zu erfassen. Am Ende des 1. Lebensjahres entwickelt sich der Pinzettengriff zum Zangengriff (der Zeigefinger wird von nun an mit gebeugt), wie er ja auch für den Erwachsenen üblich ist. Sitzen In unserer Kultur ist das Sitzen des Säuglings ein besonderer Entwicklungsmarker. Wenn sich junge Eltern treffen, berichten sie den anderen stolz, dass das Kleine bereits sitzt bzw. registrieren bei anderen, dass deren Kind noch nicht sitzt.
Wir wollen deshalb der normalen Entwicklung dieser »Leistung« des Kindes etwas detaillierter nachgehen. Wenn man gegen Ende des 5. Monats versucht, einen Säugling an seinen Händchen zum Sitzen hochzuziehen, lässt sich beobachten, dass er sein Köpfchen anhebt und seine Beine anzieht. Er ist also aktiv und kommt unserer Zugbewegung (Traktion) hilfreich entgegen. Die Kopfkontrolle verbessert sich in den nächsten Monaten. Im siebten Monat können sich die Säuglinge selbstständig von der Rückenlage in die Bauchlage drehen und umgekehrt. Auch spielt das Kind in der Rückenlage vermehrt mit seinen Füßen. Es kommt zur Hand-Fuß-Koordination, wobei kräftige Zugbewegungen zwischen Hand und Fuß zu erkennen sind. Dies führt zur Kräftigung der Muskulatur, so dass sich die Kinder um den 8. Monat aus eigener Kraft bei angebotenen Fingern selbstständig zum Sitzen hochziehen können. Gegen Ende des 10. Monats ist das Kind nicht mehr auf unsere Hilfe angewiesen. Es kann sich nunmehr an Möbeln oder anderen Gegenständen ohne fremde Unterstützung zum Sitzen aufrichten. Bis Kinder zum selbstständigen Sitzen fähig sind, dauert es also gut ein Dreivierteljahr. Alle früheren »Erfolge« sind der Hilfen von Eltern (durch Kissen u.ä.) geschuldet, dadurch kann die Wirbelsäule der Kinder unnötig strapaziert werden. Fortbewegung Bei der Beurteilung der Motorik finden auch die Möglichkeiten der Fortbewegung des Kindes große Beachtung. Die erste selbstständige Lageveränderung, das Drehen von der Rückenlage in die Bauchlage und umgekehrt, haben wir bereits weiter oben beschrieben. Dieses Verhalten ist mit einer Kräftigung der Armmuskulatur verbunden, so dass die Kinder zwischen dem 8. und 9. Monat fähig werden, sich »robbend« auf die Bezugsperson oder einen Gegenstand zu zubewegen. Sie bewegen sich nur durch den Einsatz ihrer Arme, die Beine sind noch weitgehend funktionslos. Das Aufrichten des Oberkörpers gelingt immer müheloser und sie gelangen aus der Bauchlage über die Hüftbeugung zu Schaukelbewegungen auf Händen und Knien. Hieraus entwickelt sich relativ rasch das noch unkoordinierte Krabbeln, das sich etwa im 11. Monat zum
37 2.1 · Normales Verhalten
koordinierten Krabbeln mit der typischen Kreuzkoordination von Hand und Fuß weiterentwickelt, die wir (i. Allg.) lebenslang beibehalten. Das Krabbeln ist ein wesentlicher Entwicklungsfortschritt für die Kinder, weil sie schneller und mit größerer Sicherheit zu ihrer Bezugsperson und zu den Spielgegenständen gelangen können. Mit Vollendung des 1. Lebensjahres können die meisten Kinder mit Unterstützung durch Erwachsene stehen. Einen Monat später richten sie sich selbständig an Möbeln auf und sie beginnen auch Treppen durch Krabbeln zu erklimmen. Wieder 1 Monat später (14. Monat) können sie ihr Körpergleichgewicht so gut koordinieren, dass sie selbstständig stehen können. Mit 1 Jahr und 3 Monaten beginnen die meisten Kinder mit dem selbstständigen Laufen. Dies ist wiederum ein Entwicklungsmarker, der von nahezu allen Eltern stark beachtet wird, weil dies nicht nur als Anzeichen für Gesundheit, sondern auch als Voraussetzung für die selbstständige Erschließung der Umwelt, der Möglichkeit, Kontakt zu anderen aufzunehmen und damit am geselligen Leben teilzunehmen, gesehen wird. Grob- und Feinmotorik im Vorschulalter Im Vorschulalter (2.-6. Lebensjahr) sind bedeutsame Veränderungen in den grob- und feinmotorischen Fähigkeiten zu erkennen, die einerseits auf Reifungsvorgänge im Zentralnervensystem, andererseits aber auch auf Beübung durch motorisches Training verweisen. Dabei ist Training hier nicht vordringlich als gezielte Beübung durch Erwachsene zu verstehen, sondern auch als Selbsttraining der Kinder. Dinge, die sie (z. B. wegen guter neurologischer Entwicklung) gut können, werden von ihnen bevorzugt ausgeführt und Dinge, die sie (z. B. wegen eines Entwicklungsdefizits) nicht können, werden gemieden. In solchen Fällen stellt gezielte Entwicklungsförderung eine durchaus angemessene Hilfe für defizitäre Verhaltensmuster dar, denn die Funktion ( Kap. 1) ist Voraussetzung auch für Veränderungen, für Reifung und für Wachstum im Gehirn. Grobmotorik Veränderungen in der Grobmotorik sind sehr augenfällig. Die Kinder können verschiedene Gangarten (z. B. Hacken-Zehen-Gang, Zehen-Gang,
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Hacken-Gang) im unterschiedlichen Tempo ohne Probleme ausführen. Das Rumpfgleichgewicht kann jetzt über längere Zeit beim beidbeinigen Stehen mit offenen und geschlossenen Augen und beim Ein-Bein-Stand von den Kindern kontrolliert werden. Nach dem 4. Lebensjahr sind Fortschritte in der Extremitätenkoordination unverkennbar. Der Finger-Nase-Versuch kann mit offenen und geschlossenen Augen von den meisten Kindern problemlos bewältigt werden. Die Fortschritte beim Werfen und Fangen von Bällen sind ein weiterer Beweis für die gelungene Koordination der Extremitäten. Feinmotorik Die deutlichsten Entwicklungsunterschiede bei den 5- bis 6-Jährigen sind im Bereich der Feinmotorik zu erkennen. Sie werden augenfällig, wenn man die Kinder bittet, etwas abzumalen oder zu zeichnen. Sie treten aber auch beim Basteln und Bauen recht anschaulich zutage. Fordert man Kinder auf: »Male einen Mann!«, »Male die Mutti!« oder »Male einen Menschen!«, so zeichnen altersgerecht entwickelte Kinder einen Menschen, der alle wichtigen Körperteile (Kopf, Hals, Rumpf, Extremitäten und deren Details wie Hand und Finger) aufweist. Aber auch altersgemäß entwickelte Kinder unterscheiden sich hinsichtlich Detailgestaltung, Strichführung und Proportionalität ihrer Zeichnungen. Besonders beim Nachzeichnen von Bögen, Schlingen und Rundungen werden Unterschiede in der Feinmotorik deutlich, also bei Verhaltensweisen, die wenig später zu Problemen beim Erwerb der Kulturtechnik »Schreiben« führen. Betrachten wir die Geschlechtsdifferenzen beim Niveau der feinmotorischen Fähigkeiten, so können wir (Ettrich u. Ettrich 1991) bei Mädchen i. Allg. eine bessere Ausbildung dieser Fähigkeiten feststellen, was deren Eingliederung in die Schule erleichtert. Erster Gestaltwandel und Zähne Im Alter zwischen dem 5. und 7. Lebensjahr beobachten wir bei den Kindern erhebliche körperliche Veränderungen, die als erster Gestaltwandel bezeichnet werden. Die Gliedmaßen der Kinder strecken sich und es kommt zur Andeutung einer Taille.
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Kapitel 2 · Verhalten: normales – auffälliges – gestörtes
Die Milchzähne beginnen auszufallen und das bleibende Gebiss beginnt sich zu entfalten. Der Ausfall der Milchzähne wird von den meisten Kindern und deren Eltern als ein bedeutsamer Entwicklungsmarker erlebt, zeigt er den Kindern doch, dass sie nun zu den »Großen« gehören und dass die »unbeschwerte Kindheit« vorbei ist und ein Lebensabschnitt mit neuen Verpflichtungen beginnt, die Schulzeit. Am Ende des Gestaltwandels betragen die Kopf-Körper-Proportionen 1:6 und gleichen sich damit stärker den Erwachsenenproportionen an. Die Verbesserung der feinmotorischen Leistungen und der Rückgang assoziierter Bewegungen lassen auf Reifungs- und Myelinisierungsvorgänge im Gehirn schließen. Den Kindern gelingt es immer besser, komplizierte Bewegungen mit Richtungs- und Formenwechsel auszuführen. Für manche Kinder sind die schulischen Schreibübungen Leistungen, die erst gelernt werden müssen, so beobachten wir bei manchem Schulanfänger, dass er nicht nur mit der Hand, sondern »mit der Zunge mitschreibt«. Ein Anzeichen dafür, dass er erst das erforderliche »funktionelle Organ« ausbildet (Luria 1970; Leontjew 1973). Die Herausbildung solcher Funktionsmodule führt dazu, dass durch Automatisierung der Handlungsabläufe sich der energetische Aufwand erheblich reduziert und sich die bewusste Steuerung der Verhaltensabläufe verringert, so dass die Kinder ihre Aufmerksamkeit auf andere Sachverhalte richten können (Ayres 1984). Etwa ab Mitte bzw. Ende der Grundschulzeit haben die meisten Kinder den ersten Gestaltwandel beendet. Das Längenwachstum verlangsamt sich, so dass man von einer Latenzzeit im körperlichen Entwicklungsgeschehen spricht. Im Körperbau sind nunmehr geschlechtsspezifische Unterschiede deutlicher als beim Kleinkind zu erkennen. Neunjährige Mädchen haben im Vergleich zu gleichaltrigen Jungen ein Entwicklungsplus im Parameter Gewicht (28,46 kg : 28,13 kg) erreicht. Ein Jahr später vergrößert sich diese Diskrepanz (34,72 kg : 33,3 kg). Beim Parameter Körpergröße ergibt sich bei 9-Jährigen kein Unterschied. Mädchen und Jungen sind im Durchschnitt 132,2 cm groß. Mit 10 Jahren ist das Entwicklungsplus der Mädchen unübersehbar. Ihre Körpergröße liegt im Durchschnitt bei 144,5 cm, während die Jungen
durchschnittlich nur 140,3 cm erreichen. Dieser tendenzielle Unterschied in Gewicht und Größe zugunsten der Mädchen wird bis zum 14. Lebensjahr zu beobachten sein. Die Bewegungen der Extremitäten sind gut aufeinander abgestimmt, so dass der Eindruck von Harmonie entsteht. Koordination Entscheidende Fortschritte lassen sich im Alltag und bei der gezielten Leistungsüberprüfung im feinmotorischen Bereich feststellen. Die Auge-HandKoordination und die Entwicklung der Hand- und Fingermuskulatur ermöglichen den Kindern komplizierte Gebilde auszuschneiden oder zu zeichnen. Beim Suchen passender Puzzleteile leisten die Kinder nicht nur Gleiches wie Erwachsene, sondern sind diesen oft überlegen. Auch die Koordination von Körperbewegungen und Vestibularapparat (Gleichgewichtssinn) ist gut entwickelt. Beim Romberg-Versuch (Stehen mit geschlossenen Augen) lassen gesunde Kinder keine Pendelbewegungen oder Fallneigungen erkennen. Bei vielen sportlichen Betätigungen (z. B. Turnen, Ringen u. a.) ist die ausgezeichnete Koordination der Bewegungsabläufe zu erkennen. Jetzt sind die Kinder auch in der Lage, sich Bewegungsabläufe so intensiv vorzustellen, dass sie auch Bewegungsempfindungen erleben. Damit verkürzen sich die Übungszeiten und verbessern sich die Leistungsergebnisse erheblich. Auch dieses mentale Training fördert den Aufbau funktioneller Organe, wobei bestimmte Vorstellungen als »Unterprogramme« in unterschiedlichen Bewegungsabläufen genutzt werden können.
Pubertät – ein neues Körperverständnis und Lebensgefühl Etwa mit 10-11 Jahren beginnt bei Mädchen die Geschlechtsreifung oder Pubertät (Rice 1975). Das Wort »Pubertas« kommt aus dem Lateinischen und bedeutet, »mit Haaren bedecken«, ein Merkmal, das sehr zutreffend auf die sexuelle Reifung bei Mädchen und Jungen hinweist. Die Körperhaare wachsen auf Armen und Beinen, unter den Achseln und im Genitalbereich.
39 2.1 · Normales Verhalten
Bei Mädchen beginnt die Pubertät unter dem Einfluss spezifischer Hormone mit der Veränderung der Körperformen. Es kommt durch vermehrte Fettablagerungen zur Rundung der Hüften. Die Brüste und die Brustwarzen beginnen zu wachsen. Mit 11-14 Jahren kommt es zum Wachstum der Eierstöcke und der Gebärmutter sowie von Vagina und Schamlippen. Im Schambereich setzt die Behaarung ein, wobei die Schamhaare zunächst gerade wachsen, um dann in die gelockte Form überzugehen. Mit etwa 13-14 Jahren ist auch ein beschleunigtes Wachstum der Körpergröße und die zunehmende Behaarung in den Achselhöhlen festzustellen. Es kommt zur Aufrichtung der Brustwarzen und zur ersten Regelblutung (der Menarche). Die Monatsblutungen sind anfangs unregelmäßig, regulieren sich aber in einem Zeitraum von 1-2 Jahren auf den individualtypischen Monatszyklus ein. Ebenso formen sich Brust sowie Achsel- und Schambehaarung auf das Erwachsenenniveau aus. Hinsichtlich der körperlichen Entwicklung ist im Alter von 15-16 Jahren die volle Reife erreicht, biologisch sind die jugendlichen Mädchen zur Mutterschaft in der Lage. Bei Jungen beginnt die Pubertät meist 2 Jahre später als bei Mädchen. Im Alter von 12-13 Jahren beginnen ebenfalls unter dem Einfluss von Hormonen das Glied (Penis), die Hoden (Testes) und der Hodensack (Skrotum) zu wachsen. Bei vielen Jungen ist auch zeitweiliges Wachstum des Brustdrüsengewebes zu beobachten, das sich nach einiger Zeit wieder zurückbildet. Auch bei den Jungen setzt das Wachstum der Schambehaarung ein, wobei von ihnen die gleichen Stadien wie von den Mädchen durchlaufen werden. Im Alter von 13-16 Jahren erfolgt eine rasche Vergrößerung des Penis zunächst in dessen Länge und dann in dessen Dicke. Die Vorsteherdrüse (Prostata) und die Samenblasen wachsen zur vollen Reife heran. Die Achselbehaarung setzt ein und auf der Oberlippe zeigt sich der erste Bartwuchs. Etwa um das 15. Lebensjahr kommt es bei den meisten Jungen zum ersten Samenerguss (Ejakulation). Mit etwa 16 Jahren sind die Genitalien des männlichen Jugendlichen zur Erwachsenenform und –funktion gereift. Er ist damit zeugungsfähig. Zwischen dem 16. und 19. Lebensjahr erreichen die meisten Jungen ihre endgültige Körpergröße.
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Die Veränderungen der Körperformen und der Körperproportionen werden von Mädchen und Jungen oftmals als beunruhigend erlebt. Körperteile wachsen mit unterschiedlicher Geschwindigkeit. Jugendliche wissen mit diesen Veränderungen ihres Körpers oftmals nichts Rechtes anzufangen, wegen ihrer schlechten Körperhaltung oder ihrer schlaksigen Bewegungen werden sie von Eltern und Lehrern gerügt. Wie bereits erwähnt, wird die Pubertät bei Mädchen und Jungen über Veränderungen im Hormonhaushalt gesteuert. Die Hypophyse (Hirnanhangsdrüse) regt bei entsprechender Reife die Keimdrüsen und die Nebennierenrinde der Heranwachsenden zur Produktion neuer Hormone an. Bei männlichen Jugendlichen produzieren die Keimdrüsen von nun an das Testosteron, das die weitere sexuelle Entwicklung der Jungen reguliert. Bei Mädchen regt die Hypophyse die Eierstöcke und die Nebennieren zur Produktion von 2 Hormonen an, nämlich dem Östrogen, das die Entwicklung der Brüste, der Schambehaarung und der Fettablagerung stimuliert, und dem Progesteron, das den Menstruationszyklus reguliert. Dieses Geschehen ist von innen gesteuert, die Jugendlichen können auf die Veränderungen keinen Einfluss nehmen, so dass diese oftmals ängstlich beobachtet werden. Nach Arbeiten von Mrazek (1987) und Seiffge-Krenke (1995) nehmen v. a. Mädchen Veränderungen an ihrem Körper sehr sorgfältig wahr. Da diese objektiven Veränderungen den weiblichen Körper mehr als den männlichen betreffen, verwundert es nicht, dass Mädchen sehr viel mehr und sehr viel massiver ihre Unzufriedenheit mit ihrem Aussehen (Rundungen, Gewichtszunahme) äußern als Jungen. Vor allem ein ansteigendes Gewicht wird als Indikator von Nichtattraktivität, ja von Ablehnung durch andere gewertet. In unserem Kulturkreis gilt Schlanksein als Schönheitsideal, die irratonale Auseinandersetzung mit diesem führt bei einem Teil der Mädchen zu psychosomatischen Störungen wie Anorexia nervosa (Magersucht) oder Bulimia nervosa (EssBrech-Sucht). Jungen haben bei Akromegalie (Körperteilvergrößerungen) auch Probleme mit ihrem Aussehen, die aber, da sie zu Rückbildung bzw. Harmonisierung tendieren, sich bald wieder geben. Für Jun-
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Kapitel 2 · Verhalten: normales – auffälliges – gestörtes
gen ist Gewichtszunahme und Verbreiterung ihres Körperbildes (z. B. »ein breites Kreuz«) eher ein Hinweis auf Zunahme an Körperkraft, was positiv bewertet wird. Weiter oben haben wir herausgearbeitet, dass die Geschlechtsreife bei Mädchen und Jungen relativ früh erreicht wird. Untersuchungsergebnisse von Schmidt-Tannwald und Kluge (1998) u. a. lassen erkennen, dass im Vergleich zu früheren Befunden auch die Aufnahme sexueller Aktivitäten, einschließlich Geschlechtsverkehr, in unserem Kulturkreis sehr früh erfolgt und von den Heranwachsenden als etwas Schönes und Erstrebenswertes gesehen wird. Für uns als Eltern, Lehrer, Erzieher, Ärzte und Therapeuten ergibt sich die Aufgabe, die Jugendlichen in dieser schwierigen Entwicklungsphase besonders sensibel zu begleiten und so zu beeinflussen, dass dieses Erleben nicht z. B. durch ungewollte Schwangerschaften beeinträchtigt wird.
Auffälliges Sozialverhalten
2.2
Fallbeispiel Robin, Teil 2 Wir hatten Robin in seiner familiären und schulischen Situation ebenso wie in seinem Freizeitverhalten bis zum 10. Lebensjahr kennen gelernt. In dieser Zeit war er normal, gesund und altersgerecht aufgewachsen. Im 11. Lebensjahr erfolgte durch die berufliche Versetzung seines Vaters ein Umzug ins Ausland, wo die Familie sich in den nächsten Jahren aufhielt. Für die Familie sind viele Änderungen damit verbunden: Wohnung, Land, familiäre Bezüge (Großeltern nicht mehr in der Nähe), Tagesstruktur, berufliche Anforderungen des Vaters, Schulwechsel für beide Kinder, Mutter vor neuen Herausforderungen im Haushalt und beim Knüpfen von Sozialkontakten. Um das Einkommen der Familie aufzubessern, beginnt die Mutter, da sie ohnehin ihren Freundeskreis in Deutschland zurücklassen musste, sich als Übersetzerin etwas hinzuzuverdienen, was teilweise doch einen erheblichen Teil ihres Tages in Anspruch ▼
nimmt. In der ersten Zeit gibt es für alle die Phase des Sich-umgewöhnen-Müssens und alle meinen, dass die jeweiligen Probleme, die die einzelnen damit haben, vollkommen normal seien. Etwa nach einem halben Jahr kristallisiert sich aber heraus, dass Robin ganz offensichtlich am meisten unter der Veränderung leidet. Zwar sind seine Leistungen nur unwesentlich abgefallen, wobei er auch sehr ehrgeizig ist, aber sein Verhalten wird doch hin und wieder Gegenstand des Tadels von Klassenleiterin und auch mehreren Fachlehrern. Er hat in der Klasse noch immer keine Freunde finden können und sitzt in seiner Freizeit vorwiegend zu Hause vor dem Computer. Alle Versuche der Eltern, ihn an außerschulischen Aktivitäten zu interessieren, schlagen fehl. Er wirkt auch häufig resigniert und deprimiert. Er wird innerhalb des nächsten Jahres zu einem verlangsamt wirkenden, freudlosen, blassen Jungen, der ganz wenig Ähnlichkeit mit dem fröhlichen, kraftstrotzenden Robin aus der Grundschulzeit hat. Besonders traurig ist er immer nach Telefonaten mit der Großmutter, zu der er ein sehr enges Verhältnis hat. Die Kontakte zu seinen Freunden in Deutschland werden spärlicher, auch dies ist ein weiterer Meilenstein in seine Vereinsamung. Die Eltern überlegen schließlich, dass es so nicht weitergehen kann, und suchen eine Beratungsstelle auf. Sie kommen gemeinsam mit der beratenden Pädagogin zu dem Entschluss, dass ein Versuch, Robin wieder nach Deutschland zu schicken und von den Großeltern weiter erziehen zu lassen, vielleicht sinnvoll sein könnte. Robin willigt in diesen Entschluss ein, ohne davon, wie die Eltern eigentlich erwartet hatten, wirklich begeistert zu sein. Auch das Versprechen, dass die Familie, wenn die berufliche Situation des Vaters es zulässt, wieder nach Deutschland zurückkehren will, macht ihn nicht froher. Nach etwa 2 Jahren Auslandsaufenthalt kommt Robin also in die deutsche Heimat zurück und wird von da an in der Großelternfamilie erzogen.
41 2.2 · Auffälliges Sozialverhalten
Führende Kinder- und Jugendpsychiater wie Göllnitz (1970) und Lempp (1964) haben schon in der Mitte des 20. Jahrhunderts auf biopsychosoziale Bedingungen aufmerksam gemacht, die eine gesunde Entwicklung bzw. die Herausbildung einer psychischen Störung begünstigen. Sie haben damit einen Forschungszweig begründet, der in den folgenden Jahrzehnten sehr erfolgreich war. Wir verweisen hier nur auf die Arbeiten von Meyer-Probst und Teichmann (1984). Lempp (1964) betont: »Die alte Frage, ob eine kindliche Verhaltensstörung somatogen oder psychogen ist, entpuppt sich auch unter dieser Sicht als Scheinfrage. Sie ist grundsätzlich somatisch und psychisch bedingt, denn erst das Zusammentreffen von körperlicher Störung mit ihren dadurch hervorgerufenen psychopathologischen Veränderungen und ungünstigen Umweltverhältnissen ergibt die manifeste Neurose.« (S. 119)
Unter den biologischen Risikofaktoren sei auf die prä-, peri- und postnatalen Faktoren von Hirnfunktionsstörungen verwiesen (⊡ Tab. 2.1). Daraus resultieren ▬ neuropsychologische Defizite (wie z. B. Wahrnehmungsstörungen), ▬ hirnphysiologische Beeinträchtigungen (z. B. Impulsivität bzw. Aktivitätsverlust) und
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▬ biochemische Beeinträchtigungen (Störungen der Transmitterbalance). Es konnten aber auch mehr angeborene bzw. durch die Anlagen vermittelte psychische Eigenschaften als Risikofaktoren der Entwicklung identifiziert werden. Hier ist auf das schwierige Temperament eines Kindes zu verweisen, das sehr früh zu inadäquaten Formen der Persönlichkeitsentwicklung und der Impulsregulation führt. Ein niedriges Niveau der kognitiven Fähigkeiten (niedriger IQ) sowie eine Beeinträchtigung der sozial-kognitiven Informationsverarbeitung gehören ebenfalls zu den psychischen Bedingungen, welche die Vulnerabilität eines Kindes erhöhen. Diese Bedingungen sind oftmals Ursachen schlechter Schulleistungen, die nur begrenzt durch Erhöhung der Anstrengungsbereitschaft kompensiert werden können. Vloet, Herpertz und Herpertz-Dahlmann (2006) geben als biologische Risikofaktoren an: ▬ Läsionen des ZNS (Hypothalamus, Amygdala und präfrontaler Kortex), ▬ autonome Hyporeagibilität (reduzierte Hautleitwertreaktionen, schnellere Habituation, verminderte Ruhe-Herz-Frequenz), ▬ Störung der Hypophysen-NebennierenrindenAchse und ▬ serotoninerge Dysfunktion.
⊡ Tab. 2.1. Mögliche Ursachen der Entstehung frühkindlicher Hirnfunktionsstörungen Pränatal
Perinatal
Postnatal
Blutinkompatibilität (Rh, AB0)
Frühgeburten
Ernährungsschäden
Infektionen (Röteln, Toxoplasmose usw.)
Komplizierte Geburten
Meningitiden (bakterielle oder abakterielle)
Ernährungsfaktoren (z. B. Vitaminmangel)
Sectio caesarea
Enzephalitiden
Physikalisch-chemische Faktoren (Strahlen, Medikamente)
Nabelschnurkomplikationen
Hirntraumata
Endokrine Faktoren (z. B. Diabetes)
Vitamin-K-Mangel
Endokrine Störungen
Mechanische Faktoren (Verletzungen)
Plazentopathien
Miterkrankung des Gehirns bei anderen Kinderkrankheiten
Keimzellschäden (Strahlen, Keimgifte, seelische Dauerbelastungen)
O2-Mangel
Umweltfaktoren
Noch unbekannte Ursachen
Noch unbekannte Ursachen
Noch unbekannte Ursachen
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Kapitel 2 · Verhalten: normales – auffälliges – gestörtes
Unter den psychosozialen Faktoren nennen sie: ▬ niedriger sozioökonomischer Status, ▬ Zugehörigkeit zu einer ethnischen Minderheit, ▬ delinquente oder psychisch kranke Eltern, ▬ inkonsequenter Erziehungsstil mit zu vielen bzw. zu wenigen Regeln, ▬ Misshandlung und ▬ häufiger Wechsel der Bezugspersonen. Zuletzt nennen sie unter den Temperamentsfaktoren:
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explosives und impulsives Verhalten, ungehemmter Interaktionsstil, Gleichgültigkeit, Gefühllosigkeit und mangelnde Empathie.
Im sozialen Bereich sei zuerst auf die familiären Einflussfaktoren verwiesen, die als Entwicklungsrisiko gelten. Hier sind zunächst alle Formen der unsicheren bzw. desorganisierten Eltern-Kind-Bindung und der frühen Eltern-Kind-Konflikte zu nennen. Aber auch inkonsequentes Erziehungsverhalten, Vernachlässigung und Missbrauch des Kindes durch die Eltern oder einen Elternteil (sexueller Missbrauch und Misshandlungen) sowie Konflikte der Eltern oder Scheidung (Trennungsangst, Trennungsverlust) sind hier hervorzuheben. Ebenso sind psychische Erkrankungen der Eltern ein Risikofaktor für die kindliche Entwicklung. Auch psychischer Missbrauch, unter dem wir z. B. Rollenumkehr, das Hineindrängen des Kindes in die Partnerrolle sowie das Erzwingen eines bestimmten Verhaltens durch psychischen Druck verstehen, kann die Kinder negativ beeinflussen. Insofern kann eine Verhaltensauffälligkeit beim 4-jährigen retardierten Kind bereits darin bestehen, dass es sich (situativ bedingt) wie ein 2-jähriges Kind verhält. Diese Verhaltensauffälligkeit wäre dann auf eine Entwicklungsverzögerung zurückzuführen (z. B. aggressives Verhalten aufgrund mangelnder Problemlösefertigkeiten). Es kann sich aber auch um eine abweichende Entwicklung des Kindes handeln, auf deren Grundlage sich gestörtes Verhalten etabliert – eines, das ein sich normal entwickelndes Kind in keinem Alter zeigt. Dieses Verhalten äußert sich bei ein und derselben Person häufig durch Verhaltensexzesse auf der einen Seite (motorische Unruhe,
Aggressivität) und Verhaltensdefizite auf der anderen Seite (mangelnde Umgangsformen, mangelnde Problemlösefähigkeiten, mangelnde soziale Kompetenzen). Außerdem sind die Peer-Beziehungen eines Kindes oder Jugendlichen als schädigende Einflussfaktoren hervorzuheben, wenn sie sich auf Zurückweisungen und Ablehnungen Gleichaltriger sowie auf die Einbindung in eine Peer-Group beziehen, in der Verhaltensweisen als Lebensziele propagiert und verwirklicht werden, die z. B. Aggressivität, Delinquenz, Sich-Treiben-Lassen u. Ä. beinhalten. Auf der Grundlage der Isle-of-Wight-Studie, die familiäre und soziale Risikofaktoren von 10jährigen Kindern mit deren psychosozialem Status verglich, wurde ein sog. »Family Adversity Index« entwickelt, der Belastungen der Familie erfasst und von Voll et al. (1982) auf deutsche Verhältnisse adaptiert wurde. Merkmale aus diesem FAI sind: ▬ Vater ungelernter oder angelernter Arbeiter, ▬ beengte Wohnverhältnisse (wenigstens 4 Kinder oder mehr als eine Person pro Wohnraum), ▬ ständige Ehezwistigkeiten oder eine unvollständige Familie, ▬ Depression oder psychische Störung der Mutter, ▬ Kriminalität des Vaters und ▬ Heimaufenthalt des Kindes für mehr als 1 Woche. Rutter et al. (1977) sehen das Auftreten von 2 oder mehr Merkmalen aus diesem Katalog als Risiko für eine fehlangepasste kindliche Entwicklung. ! Studien belegen, dass die Vorläufer von antisozialem und delinquentem Verhalten in der Familie und in der frühen Kindheit liegen, also lange bevor negative Gruppeneinflüsse ungünstige Wirkungen zeigen können. Aus diesem Grund und weil sie elementare zwischenmenschliche Fähigkeiten betreffen üben sie einen viel nachhaltigeren Einfluss auf die spätere Entwicklung zu angepasstem oder abweichendem Verhalten aus als die Peer-Group.
43 2.2 · Auffälliges Sozialverhalten
In diesem Zusammenhang ist auf die Tübinger Jungtäter-Vergleichsuntersuchung, über die Bock (2006) berichtet, hinzuweisen, in der 200 zu mindestens 6 Monaten Haft verurteilte Jugendliche mit 200 verhaltensunauffälligen verglichen wurden. Aus diesen Ergebnissen lässt sich auf Entwicklungsrisiken folgern. Eine wesentliche familiäre Belastung stellt die Schichtzugehörigkeit dar, wobei insbesondere die Zugehörigkeit zur unteren Unterschicht bei der Gruppe der Straffälligen als Risiko hervorzuheben ist. Soziale Probleme der Familie haben ebenfalls erhebliche Auswirkungen darauf, ob ein Jugendlicher delinquent wird. Hier sind zu nennen: ▬ unzureichende Wohnverhältnisse (Wohnraumindex: <1), ▬ schlechtes Ansehen von Vater bzw. Mutter in der Gemeinde, ▬ soziale oder straffällige Auffälligkeiten einer Erziehungsperson und ▬ soziale oder straffällige Auffälligkeiten von Geschwistern. Ebenso zieht das Erziehungsverhalten der Eltern Entwicklungsrisiken nach sich, so ▬ wenn sich der Proband der elterlichen Kontrolle entziehen kann, ▬ wenn elterliche Kontrolle fehlt, ▬ wenn Kinder oder Jugendliche brutal misshandelt (gezüchtigt) werden und ▬ wenn es keine Übereinstimmung in der elterlichen Erziehung gibt. Auch Vloet, Herpertz und Herpertz-Dahlmann (2006) weisen auf die Bedeutung des Erziehungsverhaltens der Eltern für Entstehung und Aufrechterhaltung gestörten Sozialverhaltens hin, indem sie ausführen: »Dabei werden übermäßig viele bzw. zu wenig Regeln für die Kinder aufgestellt und diese dann nur inkonsequent durchgesetzt. (…) Diese Form von Erziehungsverhalten ist (…) mit weiteren psychosozialen Risikofaktoren wie psychiatrischen Störungen der Eltern (…), häufigem Wechsel der Bezugspersonen, Misshandlungen und alleinerziehenden Elternteilen assoziiert.« (S. 106/107)
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Patterson et al. (1991) haben Anfang der 90erJahre speziell für Jungen das sog. Early-starterModell herausgearbeitet, das die zentralen Thesen zu der Frage enthält, auf welchem Pfad sich der Einstieg in antisoziales Verhalten und Delinquenz vollzieht. Es wird hier auch darauf hingewiesen, dass in Familien, die mit Zwang und Nötigung erziehen, aus kleinen Kindern, die Aggressionen erfahren, häufig aggressiv handelnde Heranwachsende werden. Patterson et al. weisen darauf hin, dass diese »Early starters« sich bereits in den ersten Lebensjahren formieren, während es eine 2. Gruppe mit geringerem Risiko der sozialen Entgleisung gibt, die er die »Late starters« nennt, weil sich bei ihnen die Störung erst im Jugendalter ausbildet. Laucht (2001) verweist in seinem Beitrag auf die von Moffitt (1993) gefundenen 2 Entwicklungswege antisozialen Verhaltens: ▬ frühzeitig beginnend und über den Entwicklungsverlauf stabile Symptomatik (»life-course persistent«); dies betrifft 5 bis 10% der Kinder, vor allem Jungen und ist vergleichbar mit den von Patterson sog. Early Starters, ▬ auf das Jugendalter begrenzte (»adolescencelimited«) Symptomatik: Verursacht durch spezifische Entwicklungsbedingungen und die Nichtbewältigung von Entwicklungsaufgaben; dies wäre vergleichbar mit den von Patterson sog. Late Starters. Hier handelt es sich nach Moffitt (1993) um 25% der Jugendlichen. Laucht verweist darauf, dass die zuerst genannten Kinder das Resultat des spezifischen Austauschprozesses von Kind und Umwelt darstellen, zum einen durch genetische Belastungen, zum anderen durch psychosoziale Disposition (Temperament und Persönlichkeitsmerkmale). Als Komorbidität nennt er die Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung (ADHS), da sie ebenfalls bereits in der frühen Kindheit beginnt, weiterhin emotionale Störungen und die Tatsache, dass es hier vermehrt zu Schulschwierigkeiten und Drogenmissbrauch kommt. In diesem Zusammenhang sei nochmals auf die Studie von Vloet, Herpertz und Herpertz-Dahlmann (2006) verwiesen, die sich mit Ätiologie und Verlauf kindlichen dissozialen Verhaltens beschäf-
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Kapitel 2 · Verhalten: normales – auffälliges – gestörtes
tigt und Risikofaktoren für die Entwicklung einer antisozialen Persönlichkeitsstörung herausstellt. Sie betonen:
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»Vor dem Hintergrund der deutlichen Zunahme von Gewalt und Delinquenz im Kindes- und Jugendalter sowie der Gefahr einer dauerhaften dissozialen Entwicklung ist in den letzten Jahren die Frage nach Ätiologie, Verlauf und Behandlungserfolg verschiedener Subtypen kindlicher Störungen des Sozialverhaltens Gegenstand intensiver Forschung geworden.« (S. 102)
Die genannten Autoren verweisen darauf, dass die aktuelle Datenlage dafür spricht, dass eine psychopathische Persönlichkeitsdimension besonders bei Kindern mit frühen Störungen des Sozialverhaltens, also den »Early Starters« vorhanden ist. Sie verweisen darüber hinaus auf besondere biologische Merkmale, die vermittelnde Faktoren für die Entstehung einer antisozialen Persönlichkeitsstörung sind, wie z. B. hormonelle Einflüsse, autonome Hyporeagibilität, Temperaments- und Persönlichkeitsmerkmale sowie neuropsychologische Auffälligkeiten. Neuroanatomische Veränderungen werden bei aggressivem Verhalten besonders im Bereich des Hypothalamus, der Amygdala und dem präfrontalen Kortex beschrieben (Blanz 2001). In einer Studie mit MRT (Kruesi et al. 2004) konnte bei männlichen »Early-starter-Typen« ein signifikant vermindertes Volumen des rechten Temporallappens und der rechten temporalen grauen Substanz nachgewiesen werden. Im präfrontalen Kortex zeigten sich zumindest tendenzielle Unterschiede im Sinne eines reduzierten Volumens. Diese Ergebnisse konnten durch Untersuchungen mittels SPECT (Single-Photonen-Computertomographie) gestützt werden. Neuroradiologische und neurophysiologische Untersuchungen gehen ebenfalls in diese Richtung. Dolan und Park (2002) konnten Defizite sowohl im dorsolateralen präfrontalen Kortex, der für Handlungsplanung, Handlungskontrolle und Hemmung vorprogrammierten Verhaltens verantwortlich ist, als auch im ventromedialen Kortex, der für die Inhibition (die Hemmung eines primär verstärkten Verhaltensmusters, das keine weitere Belohnung erfährt) ver-
antwortlich ist, nachweisen. Interessant ist auch das Ergebnis von Herpertz et al. (2001a, 2003, 2005), dass in Untersuchungen von Jungen mit verschiedenen Formen extraversiver Störungen gezeigt werden konnte, dass bei Jungen mit Störungen des Sozialverhaltens vom »Early-Starter-Typus« eine verminderte autonome Hyporeagibilität zu finden ist, nicht aber bei solchen mit einer reinen ADHS. In neuroendokrinologischen Studien ergaben sich Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen aggressivem Verhalten und Geschlechtshormonen wie Testosteron (Brain u. Susmann 1997). Dabei weiß man heute, dass Testosteron hierbei weniger mit dem aggressiven Verhalten an sich, sondern eher mit dem dominanten Verhalten in sozialen Situationen in Zusammenhang steht. Die hormonelle Lage scheint auch auf den Verlauf der Störung Einfluss zu nehmen, so dass wir bei Jungen eine höhere Wahrscheinlichkeit für dissoziales oder delinquentes Verhalten auf die Dauer finden als bei Mädchen, die im Verlauf eher introversive Auffälligkeiten entwickeln. Hier ist die Studienlage jedoch noch nicht einheitlich. Unter den pränatalen Faktoren wird in der genannten Arbeit von Vloet, Herpertz und Herpertz-Dahlmann v. a. noch einmal auf das mütterliche Rauchen in der Schwangerschaft hingewiesen, das mit einem 2- bis 4fach erhöhten Risiko einer Entwicklung einer Störung des Sozialverhaltens verbunden ist. Eine hohe prognostische Bedeutsamkeit kommt auch der Grausamkeit gegenüber Tieren zu (Manuzza et al. 2004). Entwicklungsabweichungen und Verhaltensauffälligkeiten bis zu einem gewissen Grad können durch Förderung, Erziehung bzw. Behandlung durchaus ausgeglichen werden, d. h. es ist schließlich doch noch der Pfad in die angepasste Entwicklung möglich. Weil sich bei vielen klinischen Bildern im Kindes- und Jugendalter eher eine dimensionale Struktur zeigt, als dass eine klare Abgrenzung von »gesund« bzw. »krank« gelingt, ist es zweckmäßig, von Störungen statt von Erkrankungen zu sprechen. Solche familiären und sozialen Risikofaktoren konnten wir bei der Analyse unserer Daten in unserer prospektiven interdisziplinären Längsschnittstudie ebenfalls gehäuft auftretend nachweisen.
45 2.2 · Auffälliges Sozialverhalten
Studienbox Die Anzahl der Geschwister war für sich genommen kein Risiko für die Entwicklung einer Störung des Sozialverhaltens, allerdings ist die Anzahl der Geschwister im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung bei Schülern der Schule für Erziehungshilfe (E-Schülern) deutlich erhöht und in Wechselbeziehung mit der Schichtzugehörigkeit sind die Kinder der Unterschicht mit 3 und mehr Geschwistern deutlich gefährdet. In unserer Studie konnten wir nachweisen, dass bei den E-Schülern die Anzahl von Trennungen der Eltern seit der Geburt des Kindes im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung nahezu doppelt so häufig (66,8%) vorkommt. Damit sind Veränderungen der elterlichen Betreuungssituation als Risikofaktor für die Herausbildung einer Störung des Sozialverhaltens zu werten. In unserer Studie war der Anteil an Adoptivkindern gegenüber der Allgemeinbevölkerung um etwa das 10Fache erhöht. Damit ist auch diese Veränderung in der Betreuungssituation als potenzielles Risiko für die Herausbildung einer Störung des Sozialverhaltens zu sehen. Ebenso verhält es sich mit der zeitweisen Betreuung im Heim. Auch hier hatten wir im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung deutlich erhöhte Prozentzahlen.
»Pelerinenkinder«, protektive Faktoren, Resilienzkonzept Es ist für Lehrer und Erzieher ein bekanntes Phänomen, dass manche Kinder trotz misslicher Lebensbedingungen eine ungestörte Entwicklung durchlaufen, man hat den Eindruck, dass die widrigen Umstände von diesen Kindern nicht wahrgenommen werden. Die ältere Literatur spricht hier von »Pelerinenkindern«, die neuere von »Resilienz«. > Definition Resilienz ist die Möglichkeit des Menschen, auch mit widrigen Umständen (biologischen bzw. Umweltfaktoren) relativ gut und unbeschadet fertig zu werden, also die Widerstandsfähigkeit eines Menschen und die Möglichkeit des Einsatzes von Bewältigungsstrategien (Unverwüstlichkeit, das Abfedern von Störfaktoren).
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Zu den risikomildernden Faktoren zählen wir solche, die im Kind selbst liegen, wie z. B. erstgeborenes Kind, positives Temperament, hohe Impulskontrolle, überdurchschnittliche Intelligenz, weibliches Geschlecht und spezielle Fähigkeiten. Weiterhin gibt es Schutzfaktoren aus dem familiären Umfeld, wie z. B. die stabile emotionale Beziehung zu einer Bezugsperson, familiären Zusammenhalt, gute Ausbildung der Mutter, kleine Familiengröße, Eltern als positive Modelle, Struktur in der häuslichen Umgebung. Innerhalb des weiteren sozialen Umfeldes sind es Faktoren wie soziale Unterstützung (Ettrich 2001; Vloet et al. 2006), positive PeerBeziehungen und positive Schulerfahrungen. Als Resilienzfaktoren im engeren Sinne sind hervorzuheben: ▬ aktives Bewältigungsverhalten, ▬ positives Sozialverhalten, ▬ ein gut entwickeltes Selbstwertgefühl, ▬ hohe Sprachfertigkeiten, ▬ gute Distanzierungsfähigkeit, ▬ gute Planungs- und Selbsthilfefähigkeiten sowie ▬ realistische Selbstwirksamkeitsüberzeugung. Nach Untersuchungsergebnissen von Raine und Mitarbeitern (1990) kann eine erhöhte autonome Reagibilität als protektiver Faktor angenommen werden. Bei den prädisponierenden Faktoren für Risikoverhalten unterscheidet man solche, die in der Person (internal) verankert sind und auf den Einfluss vorausgehender Entwicklungseinflüsse hinweisen, wie kognitive Unruhe, asynchrone Entwicklungen usw., aber auch auf angeborene Verhaltensdispositionen wie Geschlecht, hormonelle Einflüsse und genetische Veranlagungen. Dem gegenüber stehen prädisponierende Faktoren, die sich aus der personellen und institutionellen Interaktion (external) ergeben, wie Peer-Anerkennung für Risikoverhalten, elterliches Risikoverhalten, aber auch ungünstige Erfahrungen mit der Institution Schule und ungünstige familiäre Lebensbedingungen. Protektive Faktoren, die sich also schützend für unangemessenes Sozialverhalten erwiesen haben, sind im internalen Bereich eine gute dispositionelle Ausstattung wie emotionale Ausgeglichenheit, gutes Selbstwertgefühl, eine angemessene Leistungsorientierung und eine Orientierung an religiösen
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Kapitel 2 · Verhalten: normales – auffälliges – gestörtes
Normen und Autoritäten. Im personalen Umfeld (external) ist auf die intakte Familie, die sichere Bindung an eine Bezugsperson und angemessene elterliche Kontrolle der kindlichen und jugendlichen Aktivitäten und Sozialbeziehung ebenso wie auf positive Beziehungen zu Gleichaltrigen zu verweisen, die Risikoverhalten ablehnen. Die Entwicklung der Resilienz vom Kleinkind bis zum mittleren Kindesalter wurde von Wyman et al. (1999) in einem sehr komplexen Modell dargestellt, das verdeutlichen soll, dass sich Anpassung vs. Fehlverhalten im mittleren Kindesalter schon sehr früh im Prozess der Auseinandersetzung von Kind und Umwelt herausbildet. So nehmen schon Konflikte der Eltern unmittelbar Einfluss auf die frühkindliche Erziehung und auch auf die Entwicklung der Eigenschaften der Eltern selbst und wirken über diese wiederum auf die frühe Erziehung. Ebenso beeinflussen z. B. Temperamentseigenschaften des Kindes die Eltern-Kind-Interaktionen und diese führen zu einer Balance bzw. Imbalance der Emotionsregulation des Kindes. Dies führt wiederum zur Quelle für Kontinuität vs. Diskontinuität für die Entwicklung von z. B. sozialemotionaler Kompetenz. Dieser Entwicklungspfad wird aber auch indirekt von den frühen Temperamentseigenschaften des Kindes beeinflusst, was zu mehr oder weniger gelungenen Anpassungen im Sinne der Selbstregulation führt. Dieses Gelingen oder Misslingen der Selbstregulation ist aber nicht nur über den kindlichen (dispositionellen) Entwicklungsweg erklärbar, sondern wird von den Erziehungsfähigkeiten, den familiären Veränderungen oder der familiären Stabilität und den sozialen Beziehungen der Eltern zum Kind, seiner Umwelt und den sozialen Beziehungen zu anderen Erwachsenen beeinflusst. Das von Wyman vorgelegte Modell ist somit nicht nur geeignet, die Entwicklung der Resilienz zu verdeutlichen, sondern mit diesem Modell ist letztlich sowohl eine normale als auch eine gestörte Entwicklung bis zur mittleren Kindheit zu erklären. Resilienzfaktoren fördern Adaptation (Anpassung) und Kompetenz (Handlungsfähigkeit). Die Wechselwirkungen zwischen risikoerhöhenden und risikomildernden Bedingungen sind noch nicht ausreichend untersucht. Fest steht jedoch, dass die risikomildernden Bedingungen zeitlich
vor den Auswirkungen der risikoerhöhenden Bedingungen in Erscheinung treten müssen, um deren schädliche Wirkung moderieren zu können (Rutter 1990). Das machen wir uns häufig nicht ausreichend bewusst. Wie verhält es sich im Hinblick auf diese Tatsache mit der Therapie? Kommen wir nicht – wenn risikomildernde Bedingungen bereits vor Eintreten der Auswirkungen risikoerhöhender Bedingungen in Erscheinung treten müssen – mit unseren therapeutischen Bemühungen auf jeden Fall zu spät, da wir ja erst an den Auswirkungen erkennen, dass etwas in der Entwicklung ungünstig verläuft? Ja und nein. Therapie kann eine Störung mildern oder beseitigen. Damit wird die Resilienz für kommende Entwicklungsaufgaben erhöht, die ohne Therapie nur mit einer Störung beantwortet werden könnten, durch die Anhebung der Resilienz jedoch ohne Störung überstanden werden. ! Gerade im Kindes- und Jugendalter ist Therapie sehr wichtig, da die noch rasch verlaufende Entwicklung immer neue Entwicklungsaufgaben und damit Herausforderungen bereithält.
Da die Übergänge von normalem zu gestörtem Verhalten fließend sind, fällt es umso schwerer, von diesen beiden Extremformen das auffällige Sozialverhalten sauber abzugrenzen. Allerdings zeigt die Praxis, dass es eine Menge auffälliger Verhaltensweisen gibt, die mitunter niemanden oder allenfalls das betreffende Umfeld des Kindes oder Jugendlichen stören, auf dem Hintergrund des Entwicklungsgeschehens jedoch noch Normvarianten darstellen und außerdem auf bestimmte Situationen und Zeitabschnitte begrenzt sind. Wichtig erscheint uns, dass es sich hierbei nicht um situationsübergreifende Verhaltensweisen handelt und sie das Kind bzw. den Jugendlichen in seiner Entwicklung nicht stören oder behindern. So gehören im Kindes- und Jugendalter auch Verhaltensweisen, die per se als auffällig gelten, z. B. gelegentliche Raufereien oder die Rebellion gegen die von Erwachsenen aufgestellten Regeln, durchaus zum Erproben von Fähigkeiten und Austesten von Grenzen. Sie sind damit einer gesunden Persönlichkeitsentwicklung nicht abträglich, wenn sie
47 2.3 · Gestörtes Sozialverhalten
sich auf einen bestimmten Kontext beschränken und – so dies nötig ist – in einer vertrauensvollen Atmosphäre erzieherisch beeinflusst werden können. Der letztgenannte Satz enthält 2 Aspekte, auf die wir noch einmal explizit hinweisen möchten: ! Zum einen soll betont werden, dass nicht jedes deplatzierte Verhalten gleich Störungswert hat und damit behandlungsbedürftig ist (eine Ansicht, die uns in der Praxis leider zunehmend begegnet), zum anderen aber auch, dass solche auffälligen Verhaltensweisen oft nicht dem Selbstlauf überlassen werden können, sondern eine erzieherische Einflussnahme des jeweiligen Umfeldes unerlässlich ist.
Auffälliges Verhalten gibt es in jeder kindlichen bzw. jugendlichen Entwicklung phasenweise bzw. situationsbezogen. Wichtig ist, dass es seiner Bezeichnung noch gerecht wird, nämlich auffällt. Denn es ist als Signal in Richtung gestörtes Verhalten zu werten. Damit aber etwas auffällt, muss es die Normalität geben, von der sich das Auffällige eben abhebt. ! Es ist an der Zeit, wieder Verhaltensnormen zu definieren, damit auffälliges Verhalten als auffällig wahrgenommen werden kann und weder als individuelle Spielbreite normalen Verhaltens noch als gestörtes Verhalten fehlinterpretiert wird.
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schon Auslandserfahrung hat, der 2 Sprachen spricht, der sich sehr locker bewegen kann, und die anderen empfinden einerseits Neid und andererseits auch Hemmungen ihm gegenüber. Er deutet dies als Ablehnung und versucht, sich auf alle möglichen und auch unmöglichen Weisen Freunde zu schaffen – zunehmend durch soziales Fehlverhalten bis hin zu ausagierendem, aggressivem Verhalten gegenüber Schülern und auch Lehrern. Seine Verhaltenseinschätzungen werden immer schlechter. Die Großeltern können diesen »Count-down« nicht stoppen. Schließlich werden auch Robins Leistungen immer schlechter, so dass ein Wechsel vom Gymnasium zur Mittelschule unvermeidlich erscheint. Hier ist er zwar leistungsmäßig einer der Besten, jedoch ist sein Sozialverhalten inzwischen katastrophal geworden. Schließlich findet er Anschluss an eine Clique gewaltbereiter Jugendlicher, mit der er sich nach der Schule trifft. Er ist mitunter bis in die Nacht von zu Hause abgängig, schwänzt die Schule, so dass eine Schuljahreswiederholung auch auf der Mittelschule schließlich ansteht. Inzwischen hat ein diagnostischer Prozess eingesetzt, als dessen erstes Ergebnis Robins Umschulung von der Mittelschule in die Schule für Erziehungshilfe stattfindet. Robin soll dort das nicht bewältigte 5. Schuljahr wiederholen.
2.3.1 Welche Arten von Verhaltens-
Gestörtes Sozialverhalten
2.3
Fallbeispiel Robin, Teil 3 Wir hatten gehört, dass Robin wieder in Deutschland ist. Da er eine sehr positive Beziehung zu den Großeltern hat, funktioniert das familiäre Miteinander anfangs recht gut. Er kommt allerdings in eine andere Schule, da er ja inzwischen Gymnasiast ist, und setzt die im Ausland bereits begonnene Klasse fort. Hier findet er aber keinen Anschluss, so verzweifelt er es auch versucht. Er erscheint den anderen als der Priviligierte, der ▼
störungen unterscheiden wir? Die Persönlichkeitsentwicklung als umfassender und lang dauernder Prozess kann an vielen Stellen durch Störungen des Verhaltens kompliziert werden. Dabei sollen hier unter Störungen des Verhaltens sowohl externalisierende Störungen (also solche, die im Verhalten des Kindes nach außen sichtbar werden) als auch internalisierende Störungen (also solche, die sich im Erleben des Kindes abspielen und deshalb der direkten Beobachtung nicht zugänglich sind) verstanden werden, da beide die gesunde Entwicklung der Persönlichkeit gefährden können. Was verstehen wir unter Störungen des Sozialverhaltens?
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Kapitel 2 · Verhalten: normales – auffälliges – gestörtes
Dieser Begriff hat eine relativ lange Geschichte, ohne dass diese bis heute zu einem gültigen Abschluss gekommen wäre. Auf dem 1. Internationalen Kongress für Psychiatrie 1950 wurde beschlossen, den Begriff »Verhaltensstörung« für alle Formen und Ausprägungsgrade von Fehlverhalten einzuführen (Benkmann 1992). Bis heute hat man keine für alle Wissenschaftszweige einheitliche Definition gefunden. Schmidtchen (2001) betont, dass Verhaltensstörungen stets ein Prozess sind und das Ergebnis komplexer wechselseitiger Austauschprozesse von Individuellem und Sozialem darstellen. Ein und dasselbe Störungsbild kann bei verschiedenen subjektiven und objektiven Ausgangslagen entstehen (Äquifinalität), aber ebenso können sich unterschiedliche Verhaltensstörungen bei scheinbar gleicher Ausgangslage (Multifinalität) entwickeln. Unter Verhaltensstörung verstehen wir eine Aktivität, die Personen, Situationen oder Sachen beeinträchtigt (Bach 1993): »Es wird im medizinischen Bereich auf hirnorganische Schädigungen, namentlich auf so genannte minimale cerebrale Dysfunktionen abgehoben, im psychologischen Bereich werden Verhaltensstörungen als fehlgelernte Verhaltensmuster (verhaltenspsychologischer Ansatz) als Mittel zur Durchsetzung eigener Ziele (individualpsychologischer Ansatz) oder als Anzeichen neurotischer Persönlichkeitsstruktur (psychoanalytischer Ansatz) verstanden, im pädagogisch-moralischen Bereich als Ausdruck unzureichender Erziehung und entsprechender Charakterverfassung.« (S. 27)
Bach betont, dass diese monistischen Sichtweisen zu überwinden sind zugunsten eines komplexeren Herangehens, welches Verhaltensstörungen als Relation begreift, und zwar als Diskrepanz zwischen bestimmten Verhaltenserwartungen und bestimmten Verhaltensdispositionen unter bestimmten Verhaltensbedingungen. »Als verhaltensgestört werden Kinder und Jugendliche bezeichnet, die in ihren sozialen Beziehungen erhöht auffällig werden. Sie erscheinen entweder als stark gehemmte Perso-
nen, die schüchtern und unsicher wirken, oder als »ausagierende« Personen, deren aggressive Konfliktbewältigung als bedrohlich empfunden wird. Die gestörten Beziehungen dieser jungen Menschen führen sie zunehmend in eine Isolation, aus der sie sich nur durch ein sozial nicht statthaftes Verhalten glauben befreien zu können (z. B. durch aggressive Reaktionsbereitschaft, delinquentes Verhalten, Vermeiden von Leistungsanforderungen). Diesen Kreislauf zu durchbrechen ist Aufgabe sonderpädagogischer Bemühungen.« (Neukäter 1996, S. 3)
Vor dem Hintergrund der allgemeinen Definition des Verhaltens in Kap. 2 sollen nachfolgend Arten von gestörtem Sozialverhalten dargelegt werden. Dabei möchten wir mit Wewetzer und Warnke (2000) sowie Matthys, van Engeland und Resch (2003) darauf hinweisen, dass die Definitionskriterien fließend sind und von Störungen dann gesprochen wird, wenn es sich um Sozialverhaltensweisen handelt, die auf den weiteren Entwicklungsverlauf einen ungünstigen Einfluss nehmen. Mit anderen Worten: ! Es geht nicht nur darum, wer sich vom jeweiligen Verhalten des Kindes gestört fühlt, sondern darum, ob und in welcher Weise das Kind durch seine Verhaltensweisen seine eigene Entwicklung stört oder behindert.
Wir haben uns entschieden, die Klassifikation von Verhaltensstörungen, wie sie im DSM-IV und der ICD-10 vorgenommen wird, hier noch einmal zu referieren, um damit das interdisziplinäre Verständnis verschiedener Berufsgruppen zu fördern. Nach dem DSM-IV (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders 1998) ist eine Störung des Sozialverhaltens (SSV 312.8) dadurch gekennzeichnet, dass es ein persistierendes Verhaltensmuster gibt, das durch Verstöße gegen soziale Normen und Regeln gekennzeichnet ist und gleichzeitig die grundlegenden Rechte anderer einschränkt. Wir geben die Symptomliste des DSM-IV vollständig wieder, weil sie in dieser Form beziehungsweise etwas variiert oder ergänzt den Inhalt zahlreicher diagnostischer Verfahren bildet, so z. B. des Fremd- bzw. Selbstbeurteilungsbogens für Störungen des Sozialverhaltens von Döpfner und Lehm-
49 2.3 · Gestörtes Sozialverhalten
kuhl (2000) bzw. von Döpfner und Görtz (2001), sowie des Beobachtungsbogens für aggressives Verhalten von Petermann und Petermann (2001). Dabei werden 4 Kategoriengruppen unterschieden (Saß, Wittchen u. Zandig 1998): ▬ Aggressives Verhalten gegenüber Menschen und Tieren: – bedroht oder schüchtert andere häufig ein; – beginnt häufig Schlägereien; – hat schon Waffen benutzt, die anderen schweren körperlichen Schaden zufügen können (z. B. Schlagstöcke, Ziegelsteine, zerbrochene Flaschen, Messer, Gewehre); – war körperlich grausam zu Menschen; – quälte Tiere; – hat in Konfrontation mit dem Opfer gestohlen (z. B. Überfall, Taschendiebstahl, Erpressung, bewaffneter Raubüberfall); – zwang andere zu sexuellen Handlungen. ▬ Zerstörung von Eigentum: – beging vorsätzliche Brandstiftung mit der Absicht, schweren Schaden zu verursachen; – zerstörte vorsätzlich fremdes Eigentum, Vandalismus. ▬ Diebstahl oder Betrug: – brach in fremde Wohnungen, Gebäude oder Autos ein; – lügt häufig, um sich Güter oder Vorteile zu verschaffen oder um Verpflichtungen zu entgehen (d. h. »legt andere herein«); – stahl Gegenstände von erheblichem Wert ohne Konfrontation mit dem Opfer (z. B. Ladendiebstahl, jedoch ohne Einbruch sowie Fälschungen). ▬ Schwere Regelverstöße: – bleibt schon vor dem 13. Lebensjahr trotz elterlicher Verbote von zu Hause bis spät in die Nacht weg; – lief mindestens 2 Mal über Nacht von zu Hause weg, während er noch bei den Eltern oder bei einer anderen Bezugsperson wohnte (oder nur einmal mit Rückkehr erst nach längerer Zeit); – schwänzt schon vor dem 13. Lebensjahr häufig die Schule. Wir unterscheiden hier 2 Subtypen, einmal den Typ mit Beginn in der Kindheit, bei dem die
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ersten charakteristischen Verhaltensweisen bereits vor dem 10. Lebensjahr auftreten (diese Kinder bilden im Erwachsenenalter häufig eine antisoziale Persönlichkeitsstörung aus), und den Subtyp mit Beginn in der Adoleszenz, bei dem erst nach dem 10. Lebensjahr die ersten charakteristischen Verhaltensweisen auftreten und bei dem es häufiger zu Remissionen bis zum Erwachsenenalter kommt (vgl. Laucht 2001; Patterson et al. 1991). Bezüglich der antisozialen Persönlichkeitsstörung hat sich wie bei den anderen Persönlichkeitsstörungen in den letzten Jahren durch die modernen neurobiologischen Untersuchungsbefunde die Sichtweise auf die Ätiologie insofern geändert, als heute nicht mehr für die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung die biologische Unversehrtheit des Gehirns gefordert wird (Herpertz 2006). Das ist absolut folgerichtig und war zu erwarten. Denn in dem Moment, in dem man Anlage- und Umweltfaktoren für die Entstehung des Verhaltens verantwortlich macht, ist es logisch, auch auf beiden Ebenen Faktoren auffinden zu können. Dies ist natürlich an die verfügbaren Untersuchungsmethoden gebunden. Interessant ist auch, dass man in der jüngsten Vergangenheit das jahrzehntelang verpönte Psychopathiekonzept wieder bemüht, wonach der Psychopath durch »Gemütsarmut« im Sinne von mangelnder Empathie, durch Furchtlosigkeit, Egozentrizität und einen ausbeuterischen Interaktionsstil gekennzeichnet ist. Es erfolgt eine Unterteilung in leichten, mittleren und schweren Grad sozialer Störungen, der das Ausmaß der Schädigung anderer berücksichtigt. ▬ Von einer leichten Störung des Sozialverhaltens sprechen wir, wenn sich der Schaden auf nicht invasive Verhaltensweisen wie Lügen, Schule schwänzen, von zu Hause ohne Erlaubnis wegbleiben beschränkt. ▬ Eine mittlere Störung des Sozialverhaltens führt zur Schädigung anderer ohne direkte Konfrontation mit dem Opfer (z. B. Stehlen ohne Konfrontation, Vandalismus). ▬ Eine schwere Störung des Sozialverhaltens schließt erheblichen Schaden anderer in sich ein (Benutzen von Waffen, körperliche Grausamkeit, Einbrüche, Stehlen mit Konfrontation, erzwungene sexuelle Handlungen).
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Kapitel 2 · Verhalten: normales – auffälliges – gestörtes
Die ICD-10 (Interational Classification of Deseases 1991) geht ebenfalls davon aus, dass eine Störung des Sozialverhaltens (SSV F91) dann vor-
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liegt, wenn die Symptome (1 bis 15) der DSM-IV, ergänzt durch solche Verhaltensweisen wie Tyrannisieren anderer, exzessives Streiten, extreme Ausmaße an Ungehorsam, Widerstand gegen Autoritäten, fehlende Kooperationsbereitschaft und ausgeprägte Wut- und Zornausbrüche, gegeben sind. Für die Diagnosestellung ist nicht eine Häufung der Symptome erforderlich, sondern das Verhalten als überdauerndes Muster. Die ICD-10 grenzt unterschiedliche Arten von Verhaltensstörungen ab. Einmal geht es um Verhaltensstörungen, die auf den Bereich der Familie beschränkt sind (F91.0), zum anderen um 2 Arten, die sich durch unterschiedliche Formen der Peer-Bindung auszeichnen. Hier wären als erstes Kinder und Jugendliche zu nennen, die nicht in eine Peer-Group integriert sind. Diese Kinder und Jugendlichen sind bei anderen unbeliebt, sie sind isoliert von anderen und es fehlt ihnen an Kooperationsbereitschaft. Die Beziehungen zu Erwachsenen sind ebenfalls beeinträchtigt. Es herrschen Unstimmigkeiten, Feindseligkeit und Verärgerung vor (Störung des Sozialverhaltens bei fehlender sozialer Bindung, F91.1). Als zweites werden Störungen des Sozialverhaltens erfasst, bei denen dissoziales und aggressives Verhalten bei guter Integration in eine Peer-Group besteht (Störung des Sozialverhaltens bei vorhandenen sozialen Bindungen, F91.2). Allerdings treten bei den Mitgliedern der Peer-Group ebenfalls Formen des gestörten Sozialverhaltens auf, das vorherrschende Gruppenklima begünstigt die Gruppe als Subkultur von dissozialem und aggressivem Verhalten des einzelnen besonders gegenüber Gruppenfremden. Gegenüber der eigenen Gruppe verhalten sich die Kinder und Jugendlichen absolut loyal. Die Beziehungen zu Erwachsenen sind bei »geistiger Nähe« gut, dagegen zu normorientierten Autoritäten schlecht. Die vorgenannten Störungen beziehen sich vorwiegend auf das Jugendalter, während bei jüngeren Kindern (unter dem 9. bzw. 10. Lebensjahr) ein eigenständiges Störungsbild erfasst wird, das sich auf oppositionelles, aufsässiges und trotziges Verhalten (Störung des Sozialverhaltens mit oppo-
sitionellem, aufsässigem Verhalten, SOT, F91.3)
bezieht. Es ist derzeit noch unklar, ob es sich bei diesem Syndrom um eine Vorform der oben beschriebenen Störungen (quantitativer Unterschied) oder tatsächlich um ein eigenständiges spezifisches Syndrom (qualitativer Unterschied) handelt. Das DSM-IV hebt folgende Symptome der Störung des Sozialverhaltens mit oppositionellem, aufsässigem Verhalten (SOT) hervor (Saß, Witt-
chen u. Zaudig 1998), die von Eltern, Lehrern und Erziehern berichtet werden, in der klinischen Untersuchung jedoch durchaus nicht beobachtbar sein können: ▬ Die Betroffenen werden schnell ärgerlich, ▬ sie streiten sich häufig mit Erwachsenen, ▬ sie widersetzen sich aktiv den Anweisungen oder Regeln von Erwachsenen oder weigern sich, diese zu befolgen, ▬ sie verärgern andere vorsätzlich, ▬ sie schieben die Schuld für eigene Fehler oder eigenes Fehlverhalten auf andere, ▬ sie sind leicht reizbar und lassen sich von anderen leicht verärgern, ▬ sie werden schnell wütend und beleidigend und ▬ sie sind boshaft und nachtragend. Wesentlich erscheint, dass es hier um Kinder geht, die v. a. mit Erwachsenen Probleme haben, weil sie bewusst Regeln missachten und andere absichtlich ärgern. Es ist dabei typisch, dass diese Störung sich besonders deutlich zeigt, wenn Kind und Sozialpartner (Erwachsener oder Gleichaltriger) sich gut kennen. Neben diesen charakteristischen Störungsbildern gibt es aber auch Verhaltensformen, die nicht eindeutig einem Störungsbild zuzuordnen sind (F91.8/F91.9). Diesen Formen gestörten Sozialverhaltens ist gemein, dass sie eindeutig als externalisierende Störungen zu kennzeichnen sind. Diese sind v. a. nach außen gerichtet und führen dadurch zu erheblichen Beeinflussungen und Beeinträchtigungen des Gemeinschaftslebens. Neben diesen eher als »beabsichtigt« klassifizierten Störungen des negativen Sozialverhaltens darf aber nicht vergessen werden, dass es auch ein eigenständiges Störungsbild gibt, nämlich die Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung
51 2.3 · Gestörtes Sozialverhalten
(ADHS), die wir wegen ihrer Bedeutung für die Praxis in einem eigenen Abschnitt abhandeln. Dieses Störungsbild wird in der ICD-10 im Abschnitt »Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend« (F9) unter F90 »Hyperkinetische Störungen« klassifiziert, wobei die heute international üblichen Bezeichnungen ADHS oder ADHD bzw. ADS die vorherrschende Symptomatik auf jeden Fall treffender bezeichnen ( Kap. 3). Im DSM-IV wird dem letztgenannten Fakt Rechnung getragen: Hier wird die Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung unter 314.01, der unaufmerksame Typ unter 314.00 und der hyperaktiv-impulsive Typ unter 314.01 klassifiziert. Schauen wir uns vor dem Hintergrund dieser klassifikatorischen Ausführungen die Wechselwirkungen und Verknüpfungen der als »externalisierend« bezeichneten Störungen noch einmal etwas genauer an. Bei externalisierenden Verhaltensweisen gibt es sowohl unbeabsichtigtes als auch beabsichtigtes Verhalten. Bei »unbeabsichtigt« finden wir besonders die Symptome der ADHS. Bei »beabsichtigt« finden wir das aggressiv-dissoziale Verhalten, das nun seinerseits sowohl offen als auch verdeckt auftreten kann. Zum offenen aggressiv-dissozialen Verhalten gehören das aggressive Verhalten und das Trotzverhalten. Beide Verhaltensweisen können in die Störung des Sozialverhaltens (SSV) bzw. in die Störung mit oppositionellem Trotzverhalten (SOT) einmünden. Die ADHS kann ihrerseits zur Störung mit oppositionellem Trotzverhalten führen. Unter dem verdeckten Verhalten werden delinquentes Verhalten und Substanzmissbrauch subsumiert. Delinquentes Verhalten kann sowohl verdecktes als auch offenes Verhalten sein und schließlich in Delinquenz münden, während Substanzmissbrauch zu Störungen mit Substanzkonsum führen kann. Zwischen Störung des Sozialverhaltens und Delinquenz und Störung des Sozialverhaltens und Störung mit Substanzkonsum gibt es Verbindungen, selbstverständlich auch zwischen den offenen und den verdeckten Verhaltensweisen und zwischen ADHS und Störung des Sozialverhaltens. Außerdem gibt es mögliche Verknüpfungen zwischen aggressivem Verhalten und delinquentem Verhalten sowie mögliche Verknüpfungen zwi-
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schen Substanzmissbrauch und Delinquenz. Diese Vorstellungen stehen damit etwas im Gegensatz zu den Ansichten von Achenbach, der z. B. ADHS nicht unter die externalisierenden Verhaltensweisen subsumiert, sondern hier lediglich das aggressive und das delinquente Verhalten aufführt. Uns erscheint dieses Denkschema aber für die Praxis recht brauchbar, weil es all die Verhaltensweisen beinhaltet, die tatsächlich externalisierend sind, und ebenso die zwangsläufigen bzw. möglichen Verknüpfungen darstellt und damit auch die Übergänge zwischen den einzelnen Störungsbildern plausibel macht. Die Beurteilung und pädagogische, psychologische und psychotherapeutische Betreuung sozial auffälliger Kinder und Jugendlicher wird noch dadurch erschwert, dass wir kombinierte Störungen des Sozialverhaltens und der Emotionen (F92) sowie emotionale Störungen des Kindesalters (F93) kennen. Hierunter verstehen wir eine Kom-
bination von andauerndem aggressivem, dissozialem oder aufsässigem Verhalten mit offensichtlichen und deutlichen Symptomen von Depression, Angst oder anderen emotionalen Störungen (z. B. gestörtes Bindungsverhalten), unter denen sehr viele Kinder leiden. Nach der ICD-10 können sie folgendermaßen klassifiziert werden: ▬ F92 – kombinierte Störungen des Sozialverhaltens und der Emotionen – F92.0 – Störung des Sozialverhaltens mit depressiver Störung: Hier handelt es sich
um die Kombination einer Störung des Sozialverhaltens im Kindes- und Jugendalter mit eindeutigen depressiven Symptomen wie ausgeprägter Traurigkeit, Interessenverlust, Aktivitätsverlust und Freudlosigkeit. – F92.8 – andere kombinierte Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen: Die
Kombination bezieht sich jetzt auf die Kriterien der Störung des Sozialverhaltens im Kindes- und Jugendalter und die Kriterien einer emotionalen Störung wie Angst, Phobie, Zwang, Depersonalisierung, Derealisierung oder Hypochondrie. ▬ F93 – emotionale Störungen des Kindesalters – F93.0 – emotionale Störungen mit Trennungsangst des Kindesalters: Kinder mit
diesem Störungsbild leiden massiv unter der irrealen Vorstellung, dass die Hauptbezugs-
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Kapitel 2 · Verhalten: normales – auffälliges – gestörtes
person sie verlässt, dass diese weggeht oder nicht wiederkommt, dass sie verschleppt werden.
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– F93.1 – phobische Störungen des Kindesalters: Bei dieser Störung leiden die Kinder an
einer sehr starken Furcht vor Tieren, Situationen oder sozialen Begebenheiten, wobei die Fokussierung auf ein Objekt und nicht eine generalisierte Angst im Vordergrund der Störung steht. – F93.2 – Störungen mit sozialer Überempfindlichkeit des Kindesalters: Kinder mit
dieser Störung leiden unter der Furcht vor Fremden (Erwachsene und/oder Gleichaltrige) oder meiden diese. Dieses Syndrom wird vor allem in Kontaktsituationen erkennbar. – F93.3 – emotionale Störungen mit Geschwisterrivalität: Geschwisterrivalität ist bei der
Geburt eines nachfolgenden Geschwisters durchaus normal. Eine Störung liegt vor, wenn intensive negative Gefühle gegenüber einem unmittelbar jüngeren Geschwisterkind geäußert werden, wenn massives regressives Verhalten, Wutausbrüche, Verstimmung oder Schlafstörungen auftreten. – F93.8 – andere emotionale Störungen des Kindesalters: Unter diesem Syndrom wer-
den Störungen, die mit allgemeiner Überängstlichkeit verbunden sind, Rivalitätsstörungen mit Gleichaltrigen sowie Störungen der Identitätsfindung zusammengefasst. ▬ F94 – Störungen sozialer Funktionen mit Beginn in Kindheit und Jugend – F94.1 – reaktive Bindungsstörungen des Kindesalters: Diese Störung wird bei Klein- und
Vorschulkindern (bis zum 5. Lebensjahr) beobachtet. Die Kinder zeigen widersprüchliche und ambivalente Reaktionen in Beziehungssituationen, die v. a. in Verabschiedungs- und Wiederbegegnungssituationen deutlich werden und mit Angst, Aggressionen, Unglücklichsein, mangelnder emotionaler Ansprechbarkeit, Übervorsicht u. Ä. verbunden sind. – F94.2 – Bindungsstörungen des Kindesalters mit Enthemmung: Diese Störung wird
ebenfalls v. a. im Klein- und Vorschulalter beobachtet, bleibt aber vereinzelt bis ins
späte Kindesalter bestehen. Dabei ist eine charakteristische Altersvariation im Verhalten festzustellen. Kleinkinder zeichnen sich besonders durch »klammerndes« Verhalten aus, während Vorschulkinder verstärkt ein nichtselektives aufmerksamkeitssuchendes Verhalten erkennen lassen. Im mittleren und späten Kindesalter können die Betroffenen selektive Bindungen entwickeln, das aufmerksamkeitssuchende Verhalten bleibt aber bestehen.
Aggressivität und Aggression > Definition Unter Aggression (lat. ad gredi, aggredi) wird sowohl »herangehen, sich an jemanden wenden« als auch »angreifen, überfallen« verstanden.
Aggression wird aus ethologischer Sicht als eine innere Energie gesehen. Damit ist sie ein unvermeidliches und elementares menschliches Merkmal, ein arterhaltender Instinkt, der das Überleben und die Fortpflanzung sichert (Lorenz 1974). Spiel und Spiel (1987) weisen darauf hin, dass »Aggression an sich eine notwendige biologische Lebensäußerung darstellt« und legen die unterschiedlichen Äußerungsformen der Aggression in verschiedenen kindlichen Entwicklungsetappen eindrucksvoll dar. Matthys, van Engeland und Resch (2003) betonen, »Selbstbehauptung und natürliche Aggression müssen entwickelt und in einem von Erwachsenen gelenkten Erziehungsprozess kooperativ entfaltet werden« (S. 755). Selg, Mees und Berg (1997) verstehen unter Aggression ein gegen einen Organismus oder Organismussurrogat gerichtetes schädigendes Verhalten. Dabei kann dieses offen (körperlich/verbal) oder verdeckt (phantasiert), positiv (von der Kultur gebilligt) oder negativ (missbilligt) sein. > Definition Im engeren Sinne verstehen wir unter aggressivem Verhalten heute ein Verhalten mit Schädigungsabsicht, das vom Opfer als verletzend wahrgenommen wird (vgl. Scheithauer 2003). Es bezieht die motivationale, die emotionale und die Verhaltensebene ein.
53 2.3 · Gestörtes Sozialverhalten
Vor diesem Hintergrund lassen sich verschiedene Formen aggressiven Verhaltens unterscheiden. Vitiello und Stoff (1997) haben verschiedene Formen herausgestellt, weil sie eine wichtige Rolle bei der Diagnostik und der Therapie aggressiver Verhaltensweisen im Kindes- und Jugendalter spielen: ▬ feindseliges Verhalten mit dem Ziel, einer Person Schaden zuzufügen, ▬ instrumentell aggressives Verhalten mit dem Ziel, etwas Bestimmtes zu erreichen, ▬ offen feindseliges Verhalten: offen trotzig, impulsiv, unkontrolliert, man kann den Gegner angreifen, mit ihm kämpfen, oder ihn durch verbale Streitereien verletzen, ▬ verdeckt aggressives Verhalten: eher kontrolliertes, instrumentelles Vorgehen wie z. B. beim Feuerlegen oder Stehlen, ▬ reaktiv aggressives Verhalten, also aggressiv als Reaktion auf eine wahrgenommene Bedrohung oder Provokation, ▬ aktiv aggressives Verhalten, um etwas Bestimmtes zu erreichen, also zielgerichtet feindselig, ▬ affektiv unkontrolliertes Verhalten, ungeplant und impulsiv oder ▬ räuberisch geplant und versteckt kontrolliert und zielorientiert. Obgleich das Kindes- und Jugendalter grundsätzlich alle diese Formen aggressiven Verhaltens zeigen kann, gibt es auch hier bestimmte individuelle bzw. Gruppenmuster, die auf der Grundlage des Entwicklungsgeschehens ihre spezifischen Pfade ausprägen. Cierpka (2002) liefert folgendes Erklärungsmodell für die Entstehung aggressiven Verhaltens im Kindes- und Jugendalter: ▬ Er unterscheidet prädisponierende Faktoren, über die wir bereits referiert haben, so z. B. die individuellen, die familiären, die schulischen und die gesellschaftlichen Faktoren, die ihrerseits wieder in engen Wechselbeziehungen stehen. ▬ Diese wirken auf bestimmte vermittelnde Faktoren ein: verstärkende oder korrigierende Lern- bzw. Beziehungserfahrungen des Kindes und Jugendlichen, der Grad der Verbundenheit und die Qualität der Bindungen zu wichtigen
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Bezugspersonen, die Zugehörigkeit und die Identifikation mit Gleichaltrigen, mit Institutionen und Vereinen. ▬ Als Drittes sind die auslösenden Faktoren zu nennen, z. B. objektive Faktoren aus der Lebensgeschichte, die Bedeutungszuschreibung biografischer Erlebnisse und die jeweils individuellen Bewältigungsmöglichkeiten des betreffenden Kindes oder Jugendlichen. ▬ Zuletzt sind die situativen Faktoren von Bedeutung, die sozusagen »das Fass zum Überlaufen bringen«, die in Frustrationen bestehen können, aber auch Angst machenden oder bedrohlichen Situationen sowie auch Möglichkeiten der Machtausübung und der kurzzeitigen Steigerung des Selbstwertgefühls. Sroufe (1997) weist auf die zentrale Bedeutung der bisherigen Entwicklung hin (der »Bühne«, vgl. Einleitung), auf deren Grundlage biologische und Umweltfaktoren ihr individuelles Spiel austragen (auch bei Ettrich u. Ettrich 1990). Caspi und Moffitt (1995) konnten am Beispiel des aggressiven Verhaltens zeigen, dass Kinder, deren Verhalten von früher Kindheit an aggressiv war, deutlich gefährdeter waren, später kriminell zu werden, als solche, bei denen das Problemverhalten erst im Jugendalter auftrat. Beide Gruppen befanden sich trotz ganz ähnlicher Ausprägung des Verhaltens im Jugendalter auf unterschiedlichen Entwicklungspfaden.
Persönlichkeit, Sozialisation und Temperament Diese »Bühne«, auf der das im Eingangskapitel beschriebene »2-Personen-Stück« zwischen Anlage und Umwelt ausgetragen wird, ist von großer Wichtigkeit. Wie kann sie »tragfähig« gestaltet werden? Hier sind v. a. die Prozesse der Persönlichkeitsentwicklung und der Sozialisation zu nennen. > Definition Mit »Persönlichkeit« bezeichnet man die individuelle Neigung, auf konsistente Art zu handeln, zu denken und zu fühlen. Sie beruht auf einer individuellen Legierung aus Temperament, Emotionen und intellektuellen Fähigkeiten.
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Kapitel 2 · Verhalten: normales – auffälliges – gestörtes
Herpertz schreibt (2006):
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»Im psychologischen und psychiatrisch-psychotherapeutischen Verständnis bedeutet Persönlichkeit die Summe aller psychischen Eigenschaften und Verhaltensbereitschaften, die dem Einzelnen seine unverwechselbare Individualität verleihen.« (S. 83)
Die Persönlichkeit formt sich im Laufe der kindlichen und jugendlichen Entwicklung und stellt damit die Grundlage für überdauernde, situationsübergreifende individuelle Verhaltensweisen dar, wobei die Ausformung der Persönlichkeit immer im Wechselspiel mit der Sozialisation erfolgt. > Definition Sozialisation ist der (lebenslange) Weg des Erwerbs von Werten, Verhaltensregeln, Glaubenssystemen und Einstellungen, der es einem Menschen ermöglicht, im kulturellen, historischen und sozialen Kontext seiner Gesellschaft zu »bestehen« und zu wirken.
Beides, sowohl Persönlichkeit als auch Sozialisation, basiert letztlich auf dem Temperament, dessen Merkmale als die frühesten sichtbaren Manifestationen der Persönlichkeit gelten und sich als recht stabil erweisen (vgl. Caspi 1998). > Definition Temperament wird definiert als »ein Ausdruck für individuelle Besonderheiten in emotionalen und formalen Aspekten des Verhaltens (unter Ausschluss von Intelligenz und Pathologie), die schon sehr früh in der Entwicklung zu beobachten sind, eine relativ hohe zeitliche Stabilität und eine enge Beziehung zu physiologischen Mechanismen aufweisen« (Zentner 2000, S. 260).
Wichtig für die Entwicklung der Verhaltenssteuerung ist auch die Art der Bewältigung von sozialen Anforderungen. Man unterteilt 3 Haupttypen des Bewältigungsverhaltens: ▬ das bewertungsorientierte Bewältigungsverhalten: Hier geht es um die logische Analyse eines Problems und kognitive Vorbereitung einer Lösung, um eine kognitive Neudefinition, um kognitives Vermeiden oder Verleugnen, ▬ die problemorientierte Strategie: Sie bezieht sich auf das Bemühen um Hilfe oder Informati-
on, auf problemlösendes Handeln, auf Streben nach anderen bzw. neuen Aufgaben, und ▬ die emotionsorientierte Strategie: Hier geht es um affektive Steuerung, emotionales Ausleben oder resigniertes Akzeptieren (Moos 1988). Eine zentrale Rolle für die Herausbildung des menschlichen Sozialverhaltens spielen schließlich die frühzeitig in der Entwicklung entstehenden Bindungsmuster an nahe Bezugsperson sowie Beziehungen zu Erwachsenen, zu Gleichaltrigen, zu Freunden. So bildet die Art der frühen Bindung (sicher, unsicher-vermeidend, unsicher-ambivalent oder desorganisiert, um nur die Hauptmuster zu nennen, von denen meist mehrere Muster anteilig bei einem Menschen zu finden sind) die grundlegende Voraussetzung für die Kontaktaufnahme mit anderen Menschen ( Kap. 2.1). Die Bedeutung von Störungen bei der Bezugsperson bzw. Störungen der Interaktion mit dieser ist nach van Ijzendoorn (1992) größer als diejenige durch biologisch bedingte Störungen des Kindes selbst. Allerdings können auch prä-, peri- und postnatale Störungen des Kindes mit z. B. längeren Krankenhausaufenthalten die Bindungsentwicklung nachhaltig stören (Scheithauer et al. 2000; Pauli-Pott et al. 2000; Ettrich 2004). Aber auch die Bindungen zu anderen Bezugspersonen als der Mutter (z. B. zum Vater, zu den Geschwistern, zu Pflegeeltern oder professionellen Betreuern) sind wichtig und werden seit einigen Jahren verstärkt untersucht. Interessant erscheint in diesem Zusammenhang, dass Kinder auch bei desolaten primären Bindungen im Laufe des Lebens eine enge sichere Bindung an eine Bezugsperson aufbauen können (z. B. zu professionellen Betreuern; vgl. Skuse 1984; Hodges u. Tizard 1989; Goossens u. van Ijzendoorn 1990; Ettrich 2004). Es ist also wichtig, auch die Bindungsbeziehungen zu anderen Bezugspersonen im Verlauf von Kindheit und Jugend im Blick zu haben. Hierzu gehören Freundschaften und Beziehungen in Peer-Groups, die eine wichtige Rolle für die Ausbildung und Verfestigung sowohl positiver als auch negativer sozialer Verhaltensweisen haben. Am schwersten haben es sicher die Kinder, die z. B. aufgrund einer angeborenen oder frühzeitig erworbenen hirnorganischen Vulnerabilität ganz
55 2.3 · Gestörtes Sozialverhalten
besonders stabile und sichere Umwelteinflüsse benötigen würden, um noch den Pfad in eine ungestörte Entwicklung einschlagen zu können, deren familiäre und weitere Umwelteinflüsse genau dies aber nicht hergeben. Es handelt sich um diejenigen Kinder, bei denen sich negative biologische Einflüsse (wenn auch minimaler Ausprägung) zu negativen Umwelteinflüssen addieren, ja mitunter potenzieren, so dass der Weg in die Störung, auch die und mitunter v. a. die des Verhaltens, hierdurch gebahnt wird. Petermann et al. (1999) stellen diesen Prozess sehr verkürzt in 4 Stufen dar: ▬ Auf der 1. Stufe des Prozesses steht das Trotzverhalten des Kindes, dem die Eltern mangelnde Erziehungsfertigkeiten auf der einen Seite, aber auch mangelnde Zuwendung auf der anderen Seite entgegenbringen, was zu einer Häufung aggressiven Verhaltens führt. ▬ In einer 2. Stufe wird der Radius aggressiver Verhaltensweisen erweitert, d. h. ein Lebensraum, nämlich die Familie, wird überschritten, das aggressive Verhalten tritt auch in der Schule auf, worauf hin über viele Zwischenschritte das Kind schließlich auch von den Mitschülern abgelehnt wird. ▬ Auf der 3. Stufe sucht sich das Kind Gleichaltrige mit ähnlich aggressivem Verhalten, wie es selbst zeigt, da es von den anderen abgelehnt wird und hieraus resultiert, dass die Gruppe der Gleichgesinnten aggressives Verhalten noch fördert und verstärkt. ▬ Schließlich folgen (4. Stufe) auf dieses Fehlverhalten, auf dieses aggressive oder gar delinquente Verhalten gesellschaftliche Sanktionen, die Jugendlichen werden strafmündig und auch durch ihr Verhalten straffällig. Der Tiefpunkt ist also erreicht. Es handelt es sich bei den hier beschriebenen Kindern und Jugendlichen um solche, bei denen die Resilienzfaktoren nicht ausreichend waren oder sind, um die z. T. massiven Risikofaktoren zu neutralisieren. Um die Bedeutung dieser sozialen Risikofaktoren zu unterstreichen, verweisen wir auf Ergebnisse unserer interdisziplinären Längsschnittstudie. Die hier von uns untersuchten Schüler der
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E-Schule sind als solche Kinder und Jugendliche mit teilweise hohem psychosozialen Risikoindex zu bezeichnen. Sie unterscheiden sich hinsichtlich der Geschlechtszusammensetzung eindeutig von Schülern aus Regelschulen. Von diesen Schülern sind 90,6% Jungen, während nur 9,4% Mädchen sind. Studienbox In unserer Längsschnittstudie konnten wir bezüglich der sozialen Schichtzugehörigkeit der von uns untersuchten Schüler herausfinden, dass die E-Schüler mütterlicherseits zu 59,2% der Mittelschicht und zu 39,5% der Unterschicht entstammen. Damit sind beide Schichten in der Schülerschaft der E-Schule überrepräsentiert. Aus vergleichenden Studien ist bekannt, dass psychische Auffälligkeiten mit sinkendem Sozialstatus zunehmen, wie bei Pauli-Pott (2004) nachzulesen ist. Da die soziale Schichtzugehörigkeit unmittelbar etwas mit der Erwerbssituation zu tun hat, konnten wir in unserer Studie nachweisen, dass eine ungünstige Einkommenssituation das Risiko für eine Störung des Sozialverhaltens erhöht. Hinsichtlich der Zugehörigkeit zur Ober-, Mittel- und Unterschicht unterscheiden sich Mütter und Väter dieser Kinder und Jugendlichen kaum: Mütter gehören zu 1,3% der Oberschicht, zu 55,1% der Mittelschicht und zu 39,6% der Unterschicht an, während Väter zu 1% Angehörige der Oberschicht, zu 64,3% Angehörige der Mittelschicht und zu 34,7% der Unterschicht sind. Diese Verteilung weicht auffällig von der Normalpopulation ab. Mitglieder der Oberschicht in der E-Schule sind deutlich unterrepräsentiert, während Mitglieder der Unterschicht deutlich überrepräsentiert sind. Gravierende Lebensereignisse wie Adoption oder Heimaufenthalte sind bei Schülern der ESchule deutlich häufiger als bei Regelschülern festzustellen. Es leben 6,3% der Kinder und Jugendlichen in Adoptivfamilien und 17,7% haben mindestens einen Heimaufenthalt erlebt.
Neben den genannten Faktoren sind bekanntermaßen auch kritische Lebensereignisse, sog. »life events«, Herausforderungen für die normale kind-
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Kapitel 2 · Verhalten: normales – auffälliges – gestörtes
liche Entwicklung. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit wären hier zu nennen: ▬ ständige Auseinandersetzungen mit den Eltern, ▬ Schwierigkeiten mit Geschwistern, ▬ körperliche bzw. sexuelle Misshandlungen, ▬ chronische körperliche Erkrankungen, ▬ Trennung oder Scheidung der Eltern, ▬ Tod eines nahen Verwandten, ▬ Verlust eines Freundes bzw. einer Freundin, ▬ Probleme im Umgang mit Klassenkameraden, ▬ Schulleistungsprobleme und schlechte Noten. Auch Schulwechsel und familiäre Veränderungen sind belastende Ereignisse.
Gesamtbeobachtungszeitraum von 10 Jahren ergeben sich nur geringfügige Veränderungen. Danach haben 82,2% der Schüler mindestens eine Behandlung erhalten. Ausschließlich ambulant wurden 30,6% betreut, ausschließlich tagesklinisch 44 Schüler 1-mal und 17 Schüler 2-mal. Für die stationären Aufenthalte stellt sich das Problem noch drastischer dar: 110 Schüler wurden 1-mal, 33 Schüler 2-mal und 11 Schüler sogar 3-mal im Beobachtungszeitraum behandelt. Berücksichtigen wir nur die ersten Aufenthalte, dann wurden 39,1% der Schüler stationär und 12,5% teilstationär wegen unterschiedlicher Anlässe kinder- und jugendpsychiatrisch betreut.
Studienbox Die Umschulung in die E-Schule nicht mitgerechnet, haben 67,3% dieser Schüler mindestens einen bis zu 6 (!) Schulwechsel bewältigen müssen. Zum Zeitpunkt der ersten Untersuchung leben 60,9% der Schüler der E-Schule in einer vollständigen Familie, wobei die Elternsituation aber nur bei einem Drittel (33,2%) dieser Kinder seit der Geburt konstant geblieben ist. Wir wissen, dass die familiäre Struktur und ihr Wandel einen bedeutsamen Risikofaktor für diese Kinder darstellen (vgl. Ettrich 1994b). Mit dem Begriff »familiäre Situation verändert« wurden alle im Laufe der kindlichen Entwicklung erfahrenen Veränderungen wie Scheidungen, Tod eines Elternteils, Hinzukommen neuer Partner u. Ä. erfasst, welche die Kinder zu bewältigen hatten.
Wir haben bereits mehrfach darauf verwiesen, dass die Schüler der E-Schule auch signifikant häufiger als Schüler der Regelschule im Laufe ihrer bisherigen Entwicklung kinder- und jugendpsychiatrische Patienten waren. Studienbox In einer ersten Auswertung der Befunde (Ettrich, Herbst u. Nürnberger 1996) konnten wir zeigen, dass etwa 86% der Schüler bereits ein- oder mehrmals ambulant bzw. teilstationär oder stationär in der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie behandelt worden waren. Für den ▼
Auch bei den dispositionellen Voraussetzungen des Verhaltens lassen sich gravierende Unterschiede sowohl zu Regelschülern als auch zwischen Selbsturteil mittels Youth Self-Report (YSR) und Fremdurteil mittels Teacher’s Report Form (TRF) nachweisen. Studienbox Von Schülern der E-Schule hatten wir erwartet, eine Konzentration bei externalen Störungen vorzufinden. Im Selbstbild trifft dies auch bei 40,1% der Schüler zu, während es im Fremdbild auf 69,2% der Schüler zutrifft. Aber auch Störungen des emotionalen Formenkreises waren zu erwarten und wurden auch tatsächlich über YSR und TRF nachgewiesen. Im Selbstbild sind es 29,9% der Kinder und Jugendlichen und im Fremdbild sogar 46,0%, die als mit diesen Störungen belastet gelten. Inwieweit das Selbstbild betroffen ist, ergab die Auswertung von Angst und Depression. Danach schätzen sich 14,8% der Kinder und Jugendlichen im YSR selbst und 20,8% der Lehrer ihre Schüler im TRF als betroffen ein. Delinquente Verhaltensweisen gaben 24,3% der Schüler der E-Schule an, während Lehrern diese Verhaltensweisen erheblich häufiger auffielen (35,4%). Ebenso wird aggressives Verhalten von 19,1% der E-Schüler in der Selbstbeurteilung zugegeben, während Lehrer solche Verhaltensweisen »streitet viel, ist grob zu anderen, bedroht andere« bei 44,9% dieser Schüler registrierten.
57 2.3 · Gestörtes Sozialverhalten
Loeber et al. (2000) unterscheiden zwischen primärer Störung und sekundärer Störung. Die primäre Störung ist hierbei das aggressive und oppositionelle Verhalten, das seinerseits zu Konflikten mit anderen und in der Schule führt. Als Mediatorfaktoren nennen sie sowohl die soziale Ablehnung, die schließlich in die soziale Isolation führt und soziale Defizite begünstigt, als auch schulische Probleme, die zu schulischen Misserfolgen und schulischen Defiziten führen. Beide Zweige führen schließlich in die sekundäre Störung, die depressive Stimmung. Wir wollen noch einmal aufzeigen, auf welche Weise Angst ein aggressives Verhalten begünstigen kann. Das ängstlich-unsichere Kind muss nicht immer eine Angststörung entwickeln, sondern es kann sich auch in die externalisierende Verhaltensrichtung verändern. Wenn es übermäßige Erwartungen hinsichtlich sozialer Anerkennung hat, wenn es übersensibel gegenüber Bedrohung ist und Unsicherheiten hinsichtlich zwischenmenschlicher Zuneigungen hat, kann es einen verzweifelten Versuch unternehmen, Aggression als Mittel einzusetzen, sich Respekt zu verschaffen. Dies ist zwar eine unangemessene Selbstbehauptung, führt aber zunächst einmal zur emotionalen Erleichterung, d. h. der Angstpegel sinkt ab. Weil das so ist, wird dieser Weg gebahnt und immer häufiger wird die soziale Angst durch Aggressionen abgebaut. Dies wiederum bewirkt schließlich Sanktionen seitens der Umwelt, aber auch soziale Ablehnung. Da das Kind aber ohnehin übersensibel gegenüber Bedrohung und Ungewissheit hinsichtlich zwischenmenschlicher Zuneigung ist und übermäßige Erwartungen hinsichtlich sozialer Anerkennung hat, wird es diese soziale Ablehnung von Seiten der Umwelt als erhöhte Bedrohung wahrnehmen, was wiederum in den Teufelskreis der Aggression als Mittel, sich Respekt zu verschaffen, führt. So können wir hinter der Fassade des aggressiven, »coolen« Kindes und Jugendlichen total verängstigte kindliche und jugendliche Persönlichkeiten finden, die, wenn diese Angst angesprochen wird, häufig vollkommen dekompensieren. Wir sehen das mitunter bei delinquenten Jugendlichen. Es ist in unserer Verantwortung, solche Probleme
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wie Depressionen und Ängste bei den hier zur Debatte stehenden, nach außen kühl, unerschrocken und aggressiv wirkenden Kindern und Jugendlichen rechtzeitig zu erkennen und dort diesen emotionalen Störungen durch die entsprechende Therapie, aber auch durch das entsprechende pädagogische Herangehen zu begegnen. Anders verhält es sich beim sog. psychopathischen Subtyp. Dieser ist durch folgende Auffälligkeiten gekennzeichnet: ▬ mangelnde Empathie auf Grund allgemeiner Gefühlsarmut, ▬ Egozentrismus und ▬ Furchtlosigkeit. In Studien wurde herausgefunden, dass sich bei Kindern und Jugendlichen mit gestörtem Sozialverhalten häufig zumindest psychopathische Tendenzen finden, die ihrerseits wiederum die Schwere der Verhaltensstörung sowie deren Prognose ungünstig beeinflussen. Eine besondere Störungsgruppe, bei der viele Auffälligkeiten des Sozialverhaltens sich wiederholen und bei der auch viele Ursachen mit den bereits genannten identisch sind, die aber doch ein eigenständiges Störungsbild darstellt, sind die Kinder mit ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung). Wir haben diesem Thema deshalb ein eigenes Kapitel gewidmet, in dem es vorwiegend um dieses schon gut erforschte Syndrom gehen soll, wobei Überschneidungen mit bereits Gesagtem oder noch zu Sagendem gewollt sind.
2.3.2 Entstehungswege und
Verlauf von Störungen des Sozialverhaltens Zunächst soll die lange Zeit vorherrschende Sicht auf ursächliche Zusammenhänge der modernen entwicklungspsychopathologischen Sicht der Ätiologie gegenübergestellt werden. Während seit dem 19. Jahrhundert psychogene, endogene und hirnorganische Faktoren für die Symptombildung verantwortlich gemacht wurden, ist es in den vergangenen Jahrzehnten zunehmend gelungen, dieses stärker mechanistische Denkmo-
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Kapitel 2 · Verhalten: normales – auffälliges – gestörtes
dell zugunsten eines multifaktoriellen, prozessualen Bedingungsgefüges zu verlassen. Die heutige entwicklungspathologische Sicht der Ätiologie psychischer Störungen weist auf das unmittelbare Zusammenwirken sozialer und biologischer Faktoren vor dem Hintergrund genetischer Anlagen hin, wodurch die spezifische, individuelle psychische Struktur begründet wird. Unter weiterem Einwirken von sozialen und biologischen Einflüssen in der Lebensgeschichte bilden sich individuelle Dispositionen, auch des Sozialverhaltens, heraus, die sich entlang der Entwicklungslinie unter dem Einfluss von negativen sozialen und biologischen Faktoren (Auslöser) zu Symptomen formieren und somit Störungswert erreichen.
Altersbezogene Erkenntnisse Da bei allen externalisierenden Störungen auch immer intensive oder weniger intensive Symptome gestörten Sozialverhaltens zu beobachten sind, haben sich zahlreiche Studien mit deren altersbezogenem Auftreten befasst (Patterson, De Baryshe u. Ramsey 1989; Loeber 1990; Cicchetti u. Toth 1992; Hinshaw, Lahey u. Hart 1993; Moffitt 1993). Es konnten unterschiedliche Entwicklungspfade aggressiv-dissozialen Verhaltens identifiziert werden. Hier ist v. a. auf die Befunde von Loeber und seinen Mitarbeitern hinzuweisen. Loeber (1990) fand 3 Entwicklungspfade heraus, die folgendermaßen zu charakterisieren sind: Studienbox Pfad A Entwicklung eines vielfältigen aggressiven Verhaltensspektrums vom Vorschulalter an: ▬ oppositionelles Trotzverhalten im Vorschulalter, ▬ Aggression und Hinterhältigkeit, ▬ verstärkt auftretende hyperkinetische Störungen, ▬ große soziale Defizite, ▬ kaum Beziehungen zu Gleichaltrigen, ▬ massive Schulprobleme, ▬ gehäuft auftretende zusätzliche Verhaltensprobleme und ▬ über die Zeit stabile Verhaltensstörungen. ▼
Pfad B Entwicklung eines eingeschränkten dissozialen Verhaltens vom späten Kindesalter an: ▬ Beginn in der späten Kindheit oder im frühen bzw. mittleren Jugendalter, ▬ meist nichtaggressives Trotzverhalten, ▬ keine deutlichen hyperkinetischen Störungen, ▬ keine sozialen Defizite, ▬ Kontakt mit devianten Gleichaltrigen, ▬ kaum zusätzliche Verhaltensprobleme und ▬ Delinquenz tritt nur vorübergehend auf.
Pfad C Entwicklung zum ausschließlichen Drogenmissbrauch vom Jugendalter an: ▬ Beginn im mittleren oder späten Jugendalter, ▬ keine externalisierenden Verhaltensstörungen sowie ▬ affektive Störungen (Depressionen sind möglich).
Auffällig ist, dass sich die Entwicklungspfade nicht nur in der Symptomatik, sondern v. a. hinsichtlich des Zeitpunktes ihres Beginns deutlich unterscheiden. Auch ist bekannt, dass eine Vielzahl von Symptomen die Störungspersistenz begünstigt. Der Entwicklungspfad A erweist sich als ein über den Entwicklungsverlauf stabiles Muster von Störungswert, so dass seine Verallgemeinerung auf Schwangerschaft und Geburt bis zur Adoleszenz nahe lag (Loeber 1990). Der Autor verdeutlicht, dass Erkrankungen der Mutter oder des Kindes während der Schwangerschaft, Geburtskomplikationen oder hirnorganische Erkrankungen den Weg ins Leben erschweren können. In der Säuglingszeit können Schrei-, Schlaf- und Fütterstörungen oder ein schwieriges Temperament des Kindes die Beziehungen von Eltern und Kind sehr belasten. Hyperkinetische Störungen v. a. als gesteigerte motorische Aktivität werden sehr früh registriert, etwa im 2. Lebensjahr. Im Vorschulalter sind bereits Symptome des oppositionellen Trotzverhaltens zu erkennen. Die Beziehungen zu Gleichaltrigen sind wegen der
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sozialen Defizite dieser Kinder schlecht. Im mittleren Schulalter treten dann Formen des aggressiven, also andere Menschen beeinträchtigenden Verhaltens auf, die durch nahezu parallel auftretende Schulprobleme noch eine Aggravation erfahren. Daneben führen deutliche Beeinträchtigungen sozialer Verhaltensweisen zu multiplen Problemen mit Erwachsenen und Gleichaltrigen, die den Anschluss an eine Clique Gleichgesinnter mit normabweichendem Verhalten begünstigen und letztlich im Jugendalter in delinquentes Verhalten münden. Auch Patterson et al. (1989, 1991) und andere Forscher haben ihre Vorstellungen über die Entstehung, Aufrechterhaltung und Aggravation aggressiver Verhaltensstörungen in einem Modell dargelegt: Sie gehen ebenfalls von Anlage- und Umweltfaktoren aus, die zu einer Störung des Sozialverhaltens im Entwicklungsverlauf führen, wobei sie von Anfang an die Wechselwirkung kindlicher und elterlicher Faktoren in den Vordergrund des Entwicklungsgeschehens stellen. Auf Seiten des Kindes wird von angeborenen Verhaltensweisen ausgegangen, welche die Interaktion von Eltern und Kind erschweren, wie schwieriges Temperament, Unruhe und Impulsivität. Auf Seiten der Eltern erschweren elterliche Streitigkeiten und Ablehnung des Kindes, die sich in emotionaler Vernachlässigung zeigt, die Interaktion mit dem Kind. Der Erziehungsstil dieser Eltern ist durch erlebte eigene Gewalt und dadurch geprägt, dass sie selbst Opfer von Gewalt bzw. körperlichem und sexuellem Missbrauch wurden. Diese ungünstigen beiderseitigen Entwicklungsvoraussetzungen führen in der Folge zu einer Beeinträchtigung von Selbstbild und Selbstwert, was im Bereich von Kindergarten und Schule zu Anpassungsproblemen in den sozialen Gemeinschaften, zu negativen Zukunftserwartungen und zu Verzerrungen der sozialen Wahrnehmungen führt. Im schulischen Bereich begünstigen schulische Misserfolge, die oftmals gekoppelt sind an fehlende häusliche Unterstützung in diesem Bereich und ausgeprägte Einschränkungen in den Lernvoraussetzungen (niedriger IQ, Teilleistungsstörungen, Konzentrationsprobleme und Beeinträchtigungen der Sprachentwicklung) die weitere
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Verschlechterung der Position des Kindes bzw. des Jugendlichen in der Gemeinschaft, was letztendlich das Abgleiten in sozial deviante Verhaltensweisen begünstigt, insbesondere dann, wenn eine PeerGroup, die ein solches Verhalten positiv bewertet, zur Verfügung steht. Beim Vergleich der Denkschemata von Loeber und Patterson fällt auf, dass sie trotz der unterschiedlichen Darstellung inhaltlich in erstaunlicher Weise übereinstimmen. Wir hatten weiter oben ausgeführt, dass in der ICD-10 2 Formen der Störung des Sozialverhaltens unterschieden werden, wobei noch unklar ist, ob es sich um 2 unabhängige Störungsbilder handelt oder die Störung mit oppositionellem Trotzverhalten (SOT) als Vorform der Störung des Sozialverhaltens (SSV) zu werten ist. Hinshaw, Lahey und Hart (1993) versuchten hier durch eine empirische Analyse Klarheit zu erlangen. Die Symptome der SOT treten tatsächlich deutlich früher als die der SSV auf. Allerdings bleibt unklar, ob die Symptome der SOT von der SSV unabhängig sind oder der Eindruck der Unabhängigkeit nur dadurch entsteht, dass die Symptome der SSV an andere Verhaltensvoraussetzungen (wie z. B. an die Körperkraft, die hormonelle Stimulation) als die SOT gebunden sind. Hier können nur sorgfältig geplante Längsschnittstudien zur endgültigen Klärung beitragen. Erst im Erwachsenenalter (also ab dem 18. Lebensjahr) wird bei einer großen Diskrepanz zwischen individuellem Verhalten und geltenden sozialen Normen und Regeln von einer dissozialen Persönlichkeitsstörung (F60.2, ICD-10) bzw. einer antisozialen Persönlichkeitsstörung (300.7, DSM-IV) gesprochen. Im Vordergrund stehen Verhaltensweisen, die durch fehlendes Schuldbewusstsein und die Unfähigkeit, aus negativen Erfahrungen (z. B. Bestrafung) zu lernen, eine besondere Note erhalten. Diese Personen stehen also mit den Normen und Regeln der Gesellschaft im permanenten Konflikt und stellen damit ein gesellschaftliches Gefahrenpotenzial dar. Aus diesem Grunde wäre es notwendig, alle gesellschaftlich-erzieherischen Ressourcen auf die Verhinderung einer solchen Entwicklung zu legen. Robins (1991) hat Entwicklungsprognosen aus dem »Schweregrad der Diagnose Störung des
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Kapitel 2 · Verhalten: normales – auffälliges – gestörtes
Sozialverhaltens« abgeleitet. Er kam zu folgenden Ergebnissen.
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Studienbox Wenn die Schwere der Diagnose »Störung des Sozialverhaltens« gering ist, tritt auch bei einem frühen Störungsbeginn, also vor dem 6. Lebensjahr, nur ein geringer Prozentsatz in die »antisoziale Persönlichkeitsstörung« im Erwachsenenalter (3,2%) über. Ganz anders sieht das aus, wenn ein mittlerer Schweregrad der Diagnose »Störung des Sozialverhaltens« auftritt und ebenfalls ein früher Beginn. Hier finden wir schon zu 24% die Diagnose »antisoziale Persönlichkeitsstörung« im Erwachsenenalter. Wenn die Symptombelastung, sprich die Schwere der Störung, noch höher ist und bereits vor dem 6. Lebensjahr beginnt, finden wir im Erwachsenenalter zu 71% die Diagnose »antisoziale Persönlichkeitsstörung«. Aus den Ergebnissen von Robins geht eindeutig hervor, dass eine hohe Anzahl von Symptomen und ein frühzeitiger Beginn der Störung mit hoher Wahrscheinlichkeit (71%) zur Entwicklung einer antisozialen Persönlichkeit führen. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass der Weg der Auslösung von Aggressionen vom frühen Kindesalter an viele 1000 Mal gebahnt wird und damit sehr stabil ist.
Es wird deutlich, dass der Auslösung und Aufrechterhaltung aggressiven Verhaltens selbstverstärkende Kreisprozesse zugrunde liegen, weil die Konsequenzen aggressiven Verhaltens in der Regel so beschaffen sind, dass sie dieses Verhalten nicht schwächen, sondern sogar noch verstärken. Resch et al. (1999) schreiben: »Bei aggressiven Kindern und Jugendlichen sind häufig Entwicklungen zu beobachten, die ihren Ursprung in frühkindlichen Erfahrungen haben können, immer aber auch eine familiärsoziale und politisch-gesellschaftliche Betrachtung notwendig machen, wenn wir die Frage nach der Entstehung, der Förderung, der Aktualisierung und Aufrechterhaltung sowie nach der Weitergabe aggressiver Verhaltensweisen beantworten wollen.« (S. 417)
Geschlechtsspezifische Einflüsse Die Aussagen zu altersbezogenen Erkenntnissen über die Entwicklung eines gestörten Sozialverhaltens wurden v. a. in Untersuchungen mit Jungen bzw. männlichen Jugendlichen abgeleitet. Bei Mädchen ist der Entwicklungsverlauf offensichtlich anders. Ettrich und Ettrich (1992) diskutieren die Entwicklungsunterschiede zwischen Jungen und Mädchen auf dem Hintergrund folgender Thesen: ▬ Jungen und Mädchen zeigen im Kindesalter eine unterschiedliche Entwicklungsgeschwindigkeit, die sich aus Unterschieden in der nervalen Reifung von Jungen und Mädchen ergibt. ▬ Jungen und Mädchen zeigen hinsichtlich ihrer Entwicklung im Kindesalter Unterschiede, die durch unterschiedliche Sozialisationsanforderungen herbeigeführt werden, wobei die Unterschiede im Sozialverhalten besonders deutlich sind, da diese als Anpassungsleistung (Geschlechtsschemahypothese) zu verstehen sind. ▬ Entwicklungsunterschiede zwischen Jungen und Mädchen werden auf die erhöhte Vulnerabilität der Jungen in der Kindheit zurückgeführt. Das Verhältnis von psychiatrisch bzw. klinisch-psychologisch behandlungsbedürftigen Kindern beträgt bei leichten Fällen 1:2, bei schwereren Fällen 1:4 zu Ungunsten der Jungen. In der neueren Literatur finden diese Thesen Bestätigung. So wird darauf verwiesen (Arens u. Huber 2005), dass es zwar den »typischen« Jungen nicht gibt, dass aber bereits bei jungen Kindern Unterschiede zwischen den Geschlechtern bestehen. Im Kindergartenalter sind Jungen den Mädchen sprachlich unterlegen, dafür haben sie eine besser entwickelte räumliche Orientierung und bessere grobmotorische Fähigkeiten, während die feinmotorischen wiederum in diesem Alter hinter denen der Mädchen zurückbleiben. Mädchen haben von frühester Kindheit an häufigeren Blickkontakt und bekunden größeres soziales Interesse. Hinlänglich bekannt sind die angeborenen Unterschiede im Denken: während Frauen öfter ihre beiden Gehirnhälften gleichzeitig nutzen, beschränken sich Männer eher auf die Seite, die zur Problemlösung
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notwendig ist. Aber wir dürfen bei all diesen angeborenen und sich im Laufe der Entwicklung weiter ausformenden Unterschieden nie vergessen, dass die Umgebung natürlich auch einen wesentlichen Anteil hat, damit das Mädchen zum »typischen« Mädchen und der Junge zum »typischen« Jungen wird. Jungen haben mehr Probleme unter der Geburt. Sie sind häufiger von Erbkrankheiten betroffen, sie sind häufig infektanfälliger, leiden häufiger an Allergien und haben zumindest im Kindesalter häufiger psychische Probleme als Mädchen. Außerdem bestehen in unserer gegenwärtigen Zeit relativ große Unsicherheiten, welche Verhaltensweisen man bei den unterschiedlichen Geschlechtern wünscht und fördert oder zumindest akzeptiert oder eben nicht. Die Veränderungen des gestörten Sozialverhaltens wurden bei Jungen auf dem Hintergrund der Befunde von Loeber (1990) und Patterson et al. (1989) bereits ausführlich besprochen, so dass wir uns hier nur noch einmal zusammenfassend mit Loeber u. Hay (1997) äußern müssen. ▬ Bereits im Säuglingsalter sind geschlechtspezifische Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen zu beobachten. Jungen verhalten sich oft fordernder gegenüber ihren Betreuungspersonen, sie sind emotional labiler und drücken ihre Emotionen, insbesondere ihren Ärger, sehr nachdrücklich aus. ▬ Im Kleinstkindalter sind bei den Kindern, die später aggressiv-dissozial gestört sind, vermehrt Konflikte mit Erwachsenen (ausgeprägtes Trotzverhalten) und Konflikte mit Gleichaltrigen (Streit um Besitz) zu beobachten. ▬ Im Vorschulalter nehmen bei Jungen körperliche Aggressionen zu, in einigen Fällen kommen aber auch Quälereien von Tieren und Gruppenmitgliedern vor. ▬ Im Schulkindalter nehmen Regelverstöße massiv zu, nun sind Verhaltensweisen, die auf Einschüchterung anderer gerichtet sind, deutlich zu beobachten. ▬ Im Jugendalter und frühen Erwachsenenalter bekommt aggressives Verhalten durch den Einsatz von Waffen und die dadurch herbeigeführten schweren Verletzungen anderer einschließlich Todesfällen eine besondere Note. Gleichaltrige führen gemeinschaftlich Gewalt-
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taten aus. Vom dissozial-aggressiven Verhalten der Jugendlichen bzw. jungen Erwachsenen sind zunehmend auch Eltern und Lehrer betroffen. So verdeutlicht der »Fall Mehmet«, der schon mehrere Jahre die Medien beschäftigt, auf eindrückliche Weise den Schweregrad antisozialen Verhaltens, zum anderen aber auch die Hilflosigkeit der Gesellschaft gegenüber solchen Jugendlichen und nicht zuletzt die gefährliche Fehleinschätzung einer möglichen Veränderbarkeit (Resozialisierung), die wohl mit dem Schlagwort »Sozialromantik« am treffendsten beschrieben ist. Die Untersuchungen von Silverthorn u. Frick (1999) belegen, dass dissozial-aggressives Verhalten 4-mal häufiger bei Jungen als bei Mädchen auftritt. Die Ergebnisse zeigen aber auch, dass bei Mädchen in den letzten 10 Jahren ein Anstieg des gestörten Sozialverhaltens zu beobachten ist, eine Erkenntnis, die mit unseren klinischen Erfahrungen übereinstimmt. Während bei Jungen die Problematik des aggressiv-dissozialen Verhaltens bereits sehr früh auftritt, ist bei Mädchen erst im Jugendalter mit einem signifikanten Anstieg von Störungen des Sozialverhaltens zu rechnen. Die Zunahme dieser Verhaltensweisen wird zum einen auf ungünstige Erziehungserfahrungen zurückgeführt (bei den auffälligen Mädchen dominieren Spannungen, Konflikte und Feindseligkeiten zwischen Mutter und Tochter), zum anderen auf das Erleben familiärer Gewalt (Familien mit Gewaltmissbrauch und sexuellen Übergriffen). Die Reaktionen der jugendlichen Mädchen sind dabei so massiv, dass ein Teil mit dem Gesetz in Konflikt gerät, was oftmals durch neue Gruppenerfahrungen (Gefängnisaufenthalt) zur Aggravation des Verhaltens führt. Zum anderen wurde bei diesen auffälligen Mädchen auch ein hoher Anteil anderer psychischer Störungen mit Suizidversuchen sowie Alkohol- und Drogenmissbrauch ermittelt. Hinzu kommen Leistungsprobleme im schulischen Bereich und am Arbeitsplatz sowie der Abbruch von Freundschaften und intimen Beziehungen, die eine Aufrechterhaltung des gestörten Sozialverhaltens begünstigen. Etwa jedes 2. Mädchen mit gestörtem Sozialverhalten wird vor dem 18. Lebensjahr schwanger.
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Kapitel 2 · Verhalten: normales – auffälliges – gestörtes
Studienbox
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Wir fanden in unserer Längsschnittstudie, dass Störungen des Sozialverhaltens bei Jungen deutlich eher (Risikofaktor Alter) als bei Mädchen in Erscheinung treten. Dies ermittelten auch andere Autoren (vgl. Silverthorn u. Frick 1999; Loeber 1990; Patterson, De Baryshe u. Ramsey 1989). In Abhängigkeit vom Geschlecht ist das Jugendalter nach dem 15. Lebensjahr bei Mädchen ein bedeutsamer Risikofaktor für die Entwicklung einer Störung des Sozialverhaltens.
Das Pfadmodell von Patterson, das auf der Grundlage eigener Studien entstand (»Oregon Youth Study«), verdeutlicht, dass ein frühes aggressives Verhalten (»Early starters«) in Kombination mit ungünstigem elterlichen Erziehungsverhalten zur weiteren Verschlechterung der sozialen Fähigkeiten führt. Über diesen Weg entwickelt sich das antisoziale Verhalten in den Folgejahren bei gleichzeitiger Verschlechterung der Beziehungen zu Gleichaltrigen immer mehr in Richtung Delinquenz und schließlich Kriminalität.
2.3.3 Der Einfluss von
Persönlichkeitsmerkmalen auf die Entwicklung des antisozialen Verhaltens
»Persönlichkeitsfragebogen für Kinder zwischen 9 und 14 Jahren« (PFK; Seitz u. Rausche 1992) und den Youth Self-Report (YSR) von Achenbach (1991) der Child Behavior Checklist (Döpfner et al. 1998) ein. Im Zusammenhang mit unserem Forschungsanliegen dient der PFK dazu, verhaltensauffällige Kinder zu charakterisieren, um hieraus Folgerungen für die heilpädagogische oder psychotherapeutische Betreuung dieser Kinder abzuleiten. Der PFK erfasst Trait-Merkmale für die Bereiche Verhaltensstile (manifeste, gut beobachtbare Charakteristika des Verhaltens), Motive (Beweggründe des Verhaltens) und Aspekte des Selbstbildes (Bewertungen des eigenen Verhaltens). ⊡ Tab. 2.2 gibt einen Überblick über die mit dem Persönlichkeitsfragebogen für Kinder zwischen 9 und 14 Jahren (PFK) erfassten Persönlichkeitsmerkmale und benennt Beispiel-Items, mit deren Hilfe die Persönlichkeitsmerkmale erschlossen werden. Die Autoren des PFK äußern sich sehr positiv über die Zuverlässigkeit der Merkmalsabbildungen (über die Messgenauigkeit der einzelnen Skalen), da sie dem Niveau anderer Persönlichkeitstests entsprechen.
Studienbox
In unserer eigenen prospektiven interdisziplinären Längsschnittstudie wurde dem Einfluss von Persönlichkeitsmerkmalen auf die Entwicklung des dissozialen Verhaltens in akribischer Weise nachgegangen. In die Analyse bezogen wir 2 spezifische Persönlichkeitstests, nämlich den
Wir wollen uns im Folgenden anschauen, welche gravierenden Unterschiede zwischen verhaltensgestörten und unauffälligen Schülern bestehen. Die Schüler der Schule für Erziehungshilfe, die diese Schule v. a. deshalb besuchen, weil sie in der Regelschule durch hohe Aggressivität, beginnende Delinquenz, massive psychische Auffälligkeiten und ein Nichtansprechen auf gängige Erziehungspraktiken auffielen, unterscheiden sich von der Normierungsstichprobe des PFK dadurch, dass sie in der Skala emotionale Erregbarkeit deutlich höhere mittlere T-Werte als diese aufweisen. Sie sind also irritierbarer, werden durch Widerstand leicht frustriert, sind ungeduldiger und zeigen bei Leistungsanforderungen verstärkt Unruhe und Nervosität. Das
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In der Erforschung von dissozialem Verhalten werden Persönlichkeitsmerkmale der Kinder und Jugendlichen herangezogen, um interindividuelle Unterschiede dieser Kinder und Jugendlichen z. B. durch den Vergleich mit unausgelesenen repräsentativen Stichproben zu erklären. Diese Untersuchungen stellen eine wichtige Ergänzung zur biologischen Forschung dar. Studienbox
63 2.3 · Gestörtes Sozialverhalten
Persönlichkeitsmerkmal fehlende Willenskontrolle tritt bei den E-Schülern ebenfalls im Durchschnitt deutlich stärker als bei der Normierungsstichprobe auf. Verhaltensgestörte übertreten Regeln und Gebote ihrer Lehrer, verletzen »Spielregeln« und verlieren leicht die Kontrolle über ihr Verhalten. Die extravertierte Aktivität der E-Schüler ist dagegen im Vergleich zu Normalschülern erheblich schwächer ausgebildet, d. h. sie sind missgelaunter und ihre spontane Aktivität ist vergleichsweise geringer entwickelt. Beim Persönlichkeitsmerkmal Zurückhaltung und Scheu im Sozialkontakt wird deutlich, dass die E-Schüler Probleme damit haben, auf andere zuzugehen, also Kontakte und Freundschaften eher meiden. Das Bedürfnis nach Ich-Durchsetzung, Aggression und Opposition ist bei den verhaltensgestörten Förderschülern im Vergleich zur Normierungsstichprobe ebenfalls erhöht, d. h. sie stiften andere zum Ungehorsam an oder reagieren aggressiv. Das Bedürfnis nach Alleinsein und Selbstgenügsamkeit ist bei Verhaltensgestörten deutlich niedriger als bei Normalschülern ausgebildet. Das bedeutet, sie zeigen ein unterdurchschnittliches Bedürfnis nach Geselligkeit, sie fühlen sich wohl, wenn sie von anderen in Ruhe gelassen werden. Hinsichtlich des schulischen Ehrgeizes unterscheiden sich E-Schüler nicht von Normalschülern. Dies widerspricht unseren Erwartungen, passt aber gut zu dem Bild, das wir durch PISA vermittelt bekommen haben. Auch unsere Regelschüler entwickeln – betrachten wir die breite Masse – heutzutage zu wenig schulischen Ehrgeiz. Beim Merkmal Bereitschaft zum sozialen Engagement unterscheiden sich E-Schüler und Normalschüler deutlich voneinander. E-Schüler sind im Vergleich zu Normalschülern erheblich weniger hilfsbereit und rücksichtsvoll. Auch beim Merkmal Maskulinität der Einstellungen gibt es wiederum deutliche Unterschiede. E-Schüler bevorzugen im Vergleich zu Regelschülern risikoreichere Verhaltensweisen. Sie ▼
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sind derb-draufgängerisch und robust-aggressiv. Die allgemeine Angst ist bei E-Schülern in der Tendenz stärker als bei Normalschülern ausgeprägt, aber nicht statistisch bedeutsam erhöht. Die Selbstüberzeugung der E-Schüler hinsichtlich des eigenen Erfolgs ist im Vergleich zu Normalschülern nur unterdurchschnittlich entwickelt. Dies begrenzt die Zielstrebigkeit ihrer Planung bei eigenen Vorhaben. Das Selbsterleben von Impulsivität ist bei den E-Schülern erwartungsgemäß stärker als bei Normalschülern ausgeprägt. Es fällt ihnen deutlich schwerer, Geduld bei der Lösung eines Problems aufzubringen. Beim Persönlichkeitsmerkmal egozentrische Selbstgefälligkeit fallen die verhaltensgestörten Kinder und Jugendlichen dadurch auf, dass sie von anderen stärker beachtet werden möchten, als ihnen dies auf Grund ihrer Leistung zukommt, und sie andere deutlich abwerten. Obwohl die Analyse der Selbstbewertungen im PFK bei E-Schülern eine deutlich gestörte Wahrnehmung von Verhaltensstilen, Motiven und Selbstwahrnehmungen ergibt, fühlen sich Schüler der E-Schule keineswegs stärker als Schülern der Normalschule hinsichtlich des Merkmals Selbsterleben von Unterlegenheit gekennzeichnet, sondern fühlen sich so wie andere.
Der Youth Self-Report (YSR) erfasst bei Kindern und Jugendlichen im Alter von 11-18 Jahren Selbsteinschätzungen zu folgenden Persönlichkeitsmerkmalen, die als Syndromskalen bezeichnet werden, weil ein unmittelbarer Bezug zu psychischen Störungen abgebildet werden kann (⊡ Tab. 2.3). Im YSR werden die Persönlichkeitsmerkmale entsprechend der kinder- und jugendpsychiatrischen Klassifikation zu internalisierenden Störungen die Persönlichkeitsmerkmale »sozialer Rückzug«, »körperliche Beschwerden« und »Angst bzw. Depression« gezählt, während abweichend von dieser Klassifikation nur »delinquentes Verhalten« und »aggressives Verhalten« als externalisierende Störungen bezeichnet werden. Die Skala »Aufmerksamkeitsstörungen« wird hier nicht ( Kap. 2.3) zu den externalisierenden, sondern zu den gemischten Störungen gerechnet.
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Kapitel 2 · Verhalten: normales – auffälliges – gestörtes
⊡ Tab. 2.2. Der Persönlichkeitsfragebogen für Kinder zwischen 9 und 14 Jahren (PFK)
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Persönlichkeitsmerkmal (Skala)
Beispiel-Item
VS1 Emotionale Erregbarkeit
Ich bin häufig aufgeregt. Ich bin leicht aus der Ruhe zu bringen.
VS2 Fehlende Willenskontrolle
Viele Dinge, die von mir verlangt werden, tue ich nur ungern. Manchmal versuche ich in der Schule zu mogeln.
VS3 Extravertierte Aktivität
Mir macht einfach alles Spaß. Ich erzähle oft einen Witz.
VS4 Zurückhaltung und Scheu im Sozialkontakt
In der Gegenwart anderer fühle ich mich gehemmt. Wenn andere streiten, ziehe ich mich zurück.
MO1 Bedürfnis nach Ich-Durchsetzung, Aggression und Opposition
Ich habe schon manchmal andere zu Ungehorsam angestiftet.
MO2 Bedürfnis nach Alleinsein und Selbstgenügsamkeit
Ich bin froh, wenn ich von anderen in Ruhe gelassen werde.
MO3 Schulischer Ehrgeiz
Ich habe den Ehrgeiz, unter den besten meiner Klasse zu sein.
Von Zeit zu Zeit muss ich irgendjemanden ärgern.
Ich würde viel lieber allein arbeiten als in einer Gruppe.
Der Lehrer oder die Lehrerin erteilt mir oft irgendwelche Aufträge. MO4 Bereitschaft zu sozialem Engagement
Wenn einem anderen etwas gelingt, freue ich mich mit ihm. Es macht mir Spaß, irgendwelche Aufgaben gemeinsam mit anderen zu lösen.
MO5 Neigung zu Gehorsam und Abhängigkeit gegenüber Erwachsenen
Ich habe gern immer jemand aus meiner Familie in meiner Nähe.
MO6 Maskulinität der Einstellungen
Ich könnte eine Spinne anfassen. (+)
Kinder sollten ihren Eltern gehorchen, ohne zu widersprechen.
Bei einem traurigen Film musste ich schon einmal weinen. (-) SB1 Selbsterleben von allgemeiner Angst
Ich hätte Angst, am Tage allein durch den Wald zu gehen. Ich kann nicht einschlafen, wenn ich weiß, dass niemand zuhause ist.
SB2 Selbstüberzeugung
Ich habe vor schwierigen Problemen keine Angst. Wenn ich mir vorgenommen habe, bei einer Tätigkeit durchzuhalten, schaffe ich es meist.
SB3 Selbsterleben von Impulsivität
Ich habe gern etwas in der Hand, womit ich spielen kann. Ich werde oft ermahnt, ordentlicher mit meinen Schulsachen umzugehen.
SB4 Egozentrische Selbstgefälligkeit
Ich glaube, dass ich viel erwachsener bin als die anderen. Ich habe viel mehr Spielzeug als die anderen.
SB5 Selbsterleben von Unterlegenheit
Die anderen Jungen oder Mädchen haben meist bessere Einfälle als ich. Den anderen gelingt meistens alles besser als mir.
65 2.3 · Gestörtes Sozialverhalten
⊡ Tab. 2.3. Syndromskalen und Skalen 2. Ordnung des Youth Self-Report (YSR) Skala
Beispiel-Items
Internalisierende Störungen Sozialer Rückzug
Ich bin gerne allein. Ich will nicht sprechen.
Körperliche Beschwerden
Ich fühle mich schwindlig. Ich bin immer müde.
Angst bzw. Depression
Ich habe mich absichtlich verletzt oder versucht mich umzubringen. Ich bin nervös, reizbar und angespannt.
Externalisierende Störungen Delinquentes Verhalten
Ich laufe von zu Hause weg.
Aggressives Verhalten
Ich bin gemein zu anderen.
Ich schwänze die Schule oder einzelne Schulstunden.
Ich greife andere körperlich an. Gemischte Störungen Soziale Probleme
Ich komme mit anderen Kindern oder Jugendlichen nicht zurecht. Ich bin zurückhaltend, nehme keinen Kontakt zu anderen auf.
Schizoid bzw. zwanghafte Störung
Ich höre Geräusche oder Stimmen, die sonst niemand zu hören scheint.
Aufmerksamkeitsstörungen
Ich kann nicht lange still sitzen.
Ich sehe Dinge, die andere nicht zu sehen scheinen.
Ich bin durcheinander oder zerstreut. Autoaggressives Verhalten und Identitätsprobleme
Ich mache meine eigenen Sachen kaputt. Ich denke darüber nach, mich umzubringen.
Gesamtauffälligkeit
Wenn wir uns auch hier die Ergebnisse unserer Stichproben anschauen, ergibt sich folgendes Bild:
Die Analysen der Ergebnisse mit dem YSR ergaben, dass alle erfassten Persönlichkeitsmerkmale und Störungsgruppierungen mit hoher statistischer Bedeutsamkeit von der Normierungsstichprobe abweichen. Das Persönlichkeitsmerkmal »sozialer Rückzug« lässt erkennen, dass E-Schüler im Vergleich zu Regelschülern ein beeinträchtigtes Kontaktverhalten zu Gleichaltrigen haben und an sich wahrnehmen. Von ihnen werden auch durchschnittlich mehr körperliche Beschwerden wahrgenommen,
was sowohl als kompensatorisches Verhalten als auch als Erleben der eigenen Minderwertigkeit zu verstehen ist. Gleichzeitig nehmen E-Schüler an sich im Mittel mehr Symptome von Angst und Depressivität wahr. Sie leiden unter dem Gefühl der Wertlosigkeit, sind gegenüber Gleichaltrigen und Erwachsenen verstärkt misstrauisch, fühlen sich einsamer und trauriger als Normalschüler. Sie weisen im Durchschnitt auch mehr soziale Probleme auf, die als Hinweis auf eine beeinträchtigte Bindungsentwicklung zu verstehen sind. Einerseits »klammern« sie in sozialen Beziehungen, andererseits kommen sie nicht gut mit anderen Personen aus. Ihr Den-
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Studienbox
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Kapitel 2 · Verhalten: normales – auffälliges – gestörtes
ken ist in Richtung der Skala »schizoid bzw. zwanghaft« im Vergleich mit Normalschülern verzerrt. Sie fallen v. a. dadurch auf, dass normabweichende Ideen geäußert und normabweichende Verhaltensweisen gezeigt werden. Die mit der Skala »Aufmerksamkeitsstörungen« erfassten Symptome entsprechen weitgehend den durch die ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung) erfassten Symptomen. Die Schüler der E-Schule leiden im Durchschnitt stärker als Regelschüler unter ihrer beeinträchtigten Konzentrationsfähigkeit, Impulsivität und Hyperaktivität, was mit schlechteren Schulleistungen verknüpft ist.
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Studienbox Die deutlichsten Unterschiede zwischen E-Schülern und Regelschülern ergeben sich hinsichtlich der Merkmale »delinquentes Verhalten« und »aggressives Verhalten«. Im Durchschnitt sind Symptome wie Lügen, Stehlen, Weglaufen und Schuleschwänzen, Alkohol- und Drogengebrauch sowie Zugehörigkeit zu einer Clique, in der Risikoverhalten positiv beachtet wird, bei E-Schülern stärker als bei Normalschülern ausgeprägt. Aber auch Verhalten, das andere einschränkt (Streit, Drohverhalten, Wutausbrüche, körperliche Angriffe) wird von Schülern der Schule für Erziehungshilfe praktiziert und an sich selbst deutlicher wahrgenommen.
2.4
Die Bedeutung des sozialen Umfeldes
2.4.1 Familiäres Umfeld Das soziale Umfeld spielt zu allen Zeitpunkten der kindlichen Entwicklung eine entscheidende Rolle. ! Bei der Sozialisation eines Kindes spielt die Familie die erste und entscheidende Rolle. Damit spielt sie auch eine entscheidende Rolle bei der Ausbildung jeglicher Sozialverhaltensweisen.
Meist befindet sich in der Familie auch die primäre Bezugsperson, mit der das Kind seine ersten Beziehungserfahrungen macht (Winnicott 1974). Es erlebt hier, ob die primäre Bezugsperson über genügend Feinfühligkeit verfügt, um seine Nöte zu erkennen, die sich häufig nicht verbal, sondern in Haltung, Mimik und Gestik ausdrücken. Das Kind erfährt hier im Alltag, wie in seiner Familie mit aggressiven Impulsen und Konflikten umgegangen wird, ob sie ausgetragen werden, welche Problemlösemuster dabei favorisiert werden und ob es eine Tradition aggressiver oder gewalttätiger Beziehungsmuster in der Familie gibt. Mit Fegert (1999) unterscheiden wir 6 große Bedürfnisbereiche des Kindes: ▬ Liebe, Akzeptanz und Zuwendung, ▬ stabile Bindungen, ▬ Bedürfnis nach Ernährung und Versorgung, ▬ Bedürfnis nach Gesundheit, ▬ Bedürfnis nach Schutz vor Gefahren von materieller und sexueller Ausbeutung sowie ▬ Bedürfnis nach Wissen, Bildung und Vermittlung hinreichender Erfahrung. Um diese »Basic-Needs of Children« zu erfüllen, wurden 5 Kerndimensionen elterlicher Voraussetzungen für das Kindeswohl definiert: ▬ die emotionale Verfügbarkeit für das Kind, ▬ die Kontrolldimension, auf der sich Flexibilität und Angemessenheit von Verboten und Erziehungsmaßnahmen beschreiben lassen, ▬ die Persönlichkeitsebene der Eltern, insbesondere eventuelle psychische Erkrankung der Eltern, ▬ das erzieherische Wissen der Eltern als Kenntnis der entwicklungsabhängigen Bedürfnisse von Kindern, ▬ Versorgungsprinzipien von Kindern sowie die Hingabe als Maß einer adäquaten Prioritätensetzung in Bezug auf die Versorgung der Kinder gemessen an deren Aufgaben. Cierpka (2002) verweist darauf, dass 5 Aspekte hierbei die wesentlichen Determinanten für das Kindeswohl bilden: ▬ Disziplin, ▬ Beaufsichtigung bzw. Begleitung, ▬ familiäre Problemlösestrategien, ▬ elterliches Interesse und ▬ positive Rückmeldungen.
67 2.4 · Die Bedeutung des sozialen Umfeldes
Der Aspekt der Disziplin bezieht sich auf Regeln in der Familie und die Konsequenzen bei Regelübertretungen. Besonders 2 schädliche Erziehungsstile werden hier charakterisiert: ▬ Zum einen ein Regeln vermeidendes und durch unklare Regeln gekennzeichnetes Verhalten der Eltern, die, wenn auch in allerbester Absicht, ihren Kindern keine oder wenige inkonsistent angewandte Grenzen setzen. Die Kinder erleben die Eltern dann als unberechenbar, als wenig greifbar und auch nicht beeinflussbar. Das Prinzip des Aufeinanderabgestimmtseins in der Familie wird dadurch nicht ausgebildet bzw. geht verloren. Die Kinder können die sporadisch von den Eltern gesetzten Grenzen nicht als solche akzeptieren und lernen auch nicht, Konflikte auszutragen. ▬ Die andere Extremposition der Erziehung besteht darin, in autoritärer, rigider Weise die Kinder zu kontrollieren und zu dominieren, so dass sie nur wenige Freiräume haben und v. a. nicht Regeln um des Sinnes willen zu lernen, sondern Grenzen um der Grenzen willen gesetzt zu bekommen. Wenn dabei die Eltern noch zur Konfliktlösung mit Gewalt tendieren, wird dies im Sinne des Modelllernens von den Kindern häufig nachgeahmt. Besonders schwer haben es die Kinder, bei denen die Eltern ständig zwischen diesen beiden Erziehungsstilen hin- und herpendeln. ! Es sei an dieser Stelle noch einmal ganz klar gesagt, Pendelerziehung besteht nicht darin, dass der Vater anders erzieht als die Mutter. Das kann ein Kind sehr rasch überblicken und kann damit sehr gut zurechtkommen, weil beide Eltern dann auf ihre Weise für das Kind berechenbar sind. Unberechenbar werden sie für das Kind, wenn sie in ähnlichen Situationen ganz unterschiedlich reagieren, so dass das Kind nie weiß, welche Folge ein bestimmtes Verhalten haben wird.
Über den Aspekt der Beaufsichtigung bzw. der Begleitung der Kinder durch die Eltern ist in amerikanischen und in deutschen Studien geforscht worden. Es wurde z. B. nachgewiesen, dass Kinder, deren Eltern keine Informationen über die kindli-
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chen Aktivitäten hatten, in der Schule signifikant häufiger in Schlägereien verwickelt waren und umgekehrt. Das zeigt, dass es hier kein ausreichendes familiäres Aufeinanderbezogensein gibt. »Die Qualität des Elternverhaltens nimmt mit der Zunahme der psychosozialen und sozioökonomischen Belastung der Familie ab.« (PauliPott 2004, S. 268)
! Auch Schwangerschafts- und Geburtskomplikationen treten gehäuft bei Schwangeren unter sozioökonomischen Mangelbedingungen und psychosozialen Belastungen auf. Daraus wird deutlich, dass das unzureichende Elternverhalten hier häufig auf Kinder trifft, die bereits von ihren biologischen Vorbedingungen her vulnerabler als andere sind. Es trifft also Kinder, bei denen das Elternverhalten eine ganz besondere Wertigkeit im positiven oder negativen Sinn hat. Bei diesen Kindern kommt es dann häufig nicht nur zu einer additiven Wirkung von biologischen und Umweltfaktoren, sondern zu einer überadditiven bzw. potenzierenden Wirkung solcher Störfaktoren.
Hoppe-Graff (2005) referiert eine Längsschnittstudie von Eron et al. (1991) aus dem Staat New York, die über 22 Jahre eine Kindergruppe von 875 Versuchsteilnehmern beobachteten. Hierbei wurden auf Seiten der Eltern besonders Merkmale wie Zurückweisung und Bestrafung und auf Seiten der Kinder v. a. die Identifikation mit den Eltern und das Ausmaß der Aggressivität bestimmt. Am Ende der Studie wurden verschiedene Aggressivitätsmaße und Kriminalitätsindizes erhoben. Wesentliche Resultate sind: Es ergeben sich hoch bedeutsame Beziehungen zwischen der Aggressivität der 8-jährigen Kinder und den zum selben Zeitpunkt gemessenen Erziehungsmerkmalen der Eltern. Die Richtung des Zusammenhangs weist darauf hin, dass diese Besonderheiten in den Erziehungs- und Beziehungsmerkmalen die Folge und nicht die Voraussetzung der Aggressivität sind. Die Eltern reagieren auf Aggressionen seitens der 8-jährigen Kinder mit harter Bestrafung, was wiederum als Verstärkung für aggressive und antisoziale Verhaltensweisen
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Kapitel 2 · Verhalten: normales – auffälliges – gestörtes
wirkt. Die Kinder ahmen schließlich, wenn sie selbst ins Erwachsenenalter gelangt sind und selbst Kinder haben, dieses Verhalten nach, was ebenfalls durch hochsignifikante Korrelationen nachgewiesen werden konnte. Hoppe-Graff weist deshalb explizit darauf hin: »In der Kindheit erworbene Aggressivität trägt zu einer Karriere als antisozialer oder sogar krimineller Erwachsener bei und sie ist eine Bürde, die Menschen leider auch an die nächste Generation weiterreichen, wenn sie selbst einmal als Eltern Kinder erziehen.« (S. 836)
Er weist allerdings auch darauf hin, dass in diesen Zusammenhängen keine Zwangsläufigkeit enthalten ist, sondern dass durch Prävention und Intervention Veränderungen möglich sind, jedoch meist keine »Heilungen«. ! Es geht weniger darum, möglichst lange am Tag für die Kinder physisch anwesend zu sein. Wir erleben heute immer wieder Mütter, die zwar Hausfrauen sind und sich den ganzen Tag um ihre Kinder kümmern könnten, dies aber bei weitem nicht tun – Mütter, die zwar physisch vorhanden sind, psychisch aber eine sehr konfliktreiche oder sehr lockere Beziehung zu ihren Kindern haben. Es ist nicht allein der Aspekt der Quantität des Zusammenseins, sondern dessen Qualität, der für die kindliche Entwicklung entscheidend ist.
Die Fähigkeit, Probleme zu erkennen und nach Lösungen zu suchen, die für alle Beteiligten akzeptabel sind, wird ebenfalls vorwiegend in der Familie vermittelt. Wenn dort auftretende Probleme totgeschwiegen oder gar nicht erkannt werden, trägt das nicht zur sozialen Kompetenz der Kinder bei. Es entstehen echte Verhaltensdefizite, die häufig von den Kindern versucht werden, gerade durch aggressive, manchmal bis hin zu gewalttätigen Verhaltensmustern, auszugleichen. In vielen Familien wird auch versäumt, die prosozialen Verhaltensweisen ( Kap. 2.1) der Kinder zu bekräftigen, um bei negativen Verhaltensweisen sehr wohl heftig zu reagieren, wodurch eher diese negativen Verhaltensweisen bekräftigt werden, da sie immerhin zur Zuwendung führen, wenn auch mit negativem Vorzeichen.
Ein wichtiger Punkt der Kompetenzentwicklung und eines prosozialen Verhaltens ist das elterliche Interesse an der kindlichen Entwicklung, am kindlichen Tun. Die Kinder lernen auf diese Weise, wie es ist, wenn ein anderer sich in sie hineinfühlt und hineindenkt und gefühlsmäßig auf sie eingeht. Sie erleben sich sozial kompetenter, entwickeln ein besseres Selbstwertgefühl und brauchen die Aufmerksamkeit nicht um den Preis von Verhaltensauffälligkeiten auf sich zu ziehen. Spiel und Spiel (1987) unterscheiden 3 große Gruppen an Schädigungsmechanismen in der Familie: ▬ Schädigende Bedingungen, die in der erzieherischen Zuwendung liegen, ▬ schädigende Bedingungen, die speziell den Stil der Erziehung und das familiäre Klima betreffen und ▬ die Bedingungen, die sich in der Apperzeption der Wahrnehmung des Kindes, seiner Probleme und seines Versuches, sie zu lösen, stellen. Schwierig wird es dann, wenn die Kinder, die ja von pränatal an die Beziehung zu ihren Eltern mitgestalten, als aktive Wesen sog. »schwierige Kinder« sind, d. h. ein schwieriges Temperament haben, unruhig sind, viel schreien, schlecht schlafen oder trinken usw. Wenn diese Kinder auf unerfahrene und unsichere Eltern treffen, die darauf mit Verhaltensweisen der Überforderung reagieren, steigert dies die Verhaltensauffälligkeiten des Kindes von Anfang an. Das wiederum führt zu einem Teufelskreis, da solches Kind von den Eltern weniger angenommen, weniger geliebt wird, weil die Eltern sich hilflos fühlen. Dies stellt eine zusätzliche Belastung für die weitere Beziehungsgestaltung zwischen Eltern und Kind dar. Eine weitere Schwierigkeit besteht darin, dass die Kinder heute oft von einem Elternteil allein erzogen werden. Durch den Verlust der Großfamilie fehlen in der heutigen Zeit mehr oder weniger die »externen« Berater in Erziehungsfragen. ! Es ist wichtig, dass die allein erziehenden Elternteile, meist sind das die Mütter, sich für ihr Kind bzw. ihre Kinder Miterzieher aus dem sozialen Umfeld holen. Das können die eigenen Eltern sein, das können Paten sein, Tanten und
69 2.4 · Die Bedeutung des sozialen Umfeldes
Onkel oder auch Freunde. Wichtig ist, dass diese Personen wirklich an dem Kind bzw. den Kindern interessiert sind, sich mitverantwortlich fühlen und nicht eine unüberschaubar große Anzahl von Erziehungshilfspersonen die Kinder durch ihren ständigen Wechsel überfordert.
Gerade bei Alleinerziehenden ist es auch wichtig, das Kind bzw. die Kinder nicht als Partnerersatz zu betrachten. Das gilt v. a. in Phasen, in denen Elternteil und Kind sich sehr nahe kommen, miteinander kuscheln, bestimmte Dinge besprechen. Allerdings sollten niemals Erwachsenenprobleme mit dem Kind besprochen werden. Das Kind wird sonst in eine falsche Rolle gedrängt bzw. zur Rollenumkehr gezwungen. Es gilt aber auch im umgekehrten Fall: Wenn das Kind sich so verhält, dass die allein erziehende Mutter oder der allein erziehende Vater nicht einverstanden sind mit seinem Verhalten, wird sehr schnell der Vergleich mit dem abwesenden Elternteil gesucht. Dies ist ebenso gefährlich für die ElternteilKind-Beziehung. Hier kommt es darauf an, dass Eltern sich selbstkontrolliert als Eltern verhalten. Auch hierbei können Freunde oder Verwandte helfen. Bei Kindern, die zum nicht in der Familie wohnenden Elternteil Kontakt haben, kommt es für den allein erziehenden Elternteil darauf an, dass kein Konkurrenzkampf zwischen beiden Elternteilen entsteht. Kinder können sehr wohl differenzieren, welche Besonderheiten es bei der Mutter und beim Vater gibt und können damit sehr gut zurechtkommen. Eine Rangelei ist für das Kind eher gefährlich, weil es sie in Loyalitätskonflikte stürzt. Es ist außerdem immer wichtig, dass Mutter und Vater die Eltern für das Kind bleiben, auch wenn man sich als Ehepartner getrennt hat. Selbst wenn ein Partner in der Partnerschaft »versagt« hat, muss er das als Elternteil noch lange nicht tun. Hier ist es auch wichtig, dass man die Gefühle des Kindes zwar respektiert, aber nicht dazu nutzt, den anderen Elternteil abzuwerten. Kinder lieben beide Eltern. Bei Unzuverlässigkeit eines Elternteils darf das Kind seine Gefühle zeigen. Diese sollten aber nicht von dem anwesenden Elternteil noch hochgespielt werden. Das Kind kann getröstet werden, aber es sollte nicht der abwesende unzuverlässige Partner als der »Böse« hingestellt werden. In welcher Rolle getrennt lebende Eltern sich auch befin-
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den, wichtig ist die Achtung vor der Leistung des anderen in der Erziehung der Kinder. Damit ist, so unterschiedlich diese Leistungen auch sein mögen, schon viel erreicht. Schwierig für die Kinder wird es auch, wenn die Eltern Konflikte auf der Paarebene nicht auf dieser Ebene austragen (können), sondern die Kinder mehr oder weniger offen, mehr oder weniger bewusst in diese Konflikte hineinziehen. Die Kinder kommen dann häufig in einen Loyalitätskonflikt, der insbesondere bei Trennungs- und Scheidungskindern die Entwicklung sehr negativ beeinträchtigt (»Parental Alienation Syndrom« oder PAS; Gardner 2002). ! Das PAS oder, auf Deutsch, das elterliche Entfremdungssyndrom wurde von Gardner 1992 erstmals beschrieben. Er ging davon aus, dass bei Scheidungskindern ein Elternteil mehr oder weniger bewusst den anderen Elternteil verteufelt und als Buhmann hinstellt und das Kind damit instrumentalisiert, um die Nähe und die Sicherheit der Beziehung zu dem dann allein erziehenden Elternteil oder dem Elternteil, bei dem sich das Kind aufhält, zu sichern.
Dieses ist zwar menschlich in Situationen, in denen ein Partner auf der Paarebene vom anderen sehr frustriert ist, und auch verständlich. Für die Kinder ist es aber auf jeden Fall sehr belastend, wenn nicht sogar krankmachend. Eltern sollten sich immer bewusst sein, dass die Kinder Vater und Mutter lieben. Sie werden durch dieses in den meisten Fällen nachträgliche, also nach einer Entwicklungsphase, wo dies nicht der Fall war, Schwarz-Weiß-Malen in schwere Loyalitätskonflikte gestürzt. Das geht mitunter bis dahin, dass Kinder glauben, bei der Mutter leben zu müssen, weil diese ohne sie nicht zurechtkomme, dass Kinder glauben, den Vater regelmäßig besuchen zu müssen, auch wenn sie das eigentlich gar nicht möchten, weil er gedroht hat, sich etwas anzutun. Das geht bis dahin, dass Kinder auch noch im Erwachsenenalter schwere Schuldgefühle haben, dass sie in dieser Kinderzeit sich nicht aktiver gegen die Wünsche des Elternteils, bei dem sie lebten, zur Wehr gesetzt haben. Es sind Schuldgefühle, die sich dem anderen Elternteil gegenüber aufgebaut haben und die die Kinder häufig bis zum Lebensende dieses Elternteils nicht verlassen.
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Kapitel 2 · Verhalten: normales – auffälliges – gestörtes
Hierbei geht es uns weniger darum, den entfremdenden Elternteil für seine Haltung und für seine Handlungen zu bestrafen, indem man ihm das Kind wegnimmt und zum entfremdeten Elternteil gibt, als vielmehr beide Elternteile darüber aufzuklären, was ihr Verhalten für Folgen für das Kind bzw. die Kinder haben kann. Oft sind beide Elternteile viel zu sehr und viel zu lange noch auf der Paarebene. Dies ist eine Zeit, die ihnen fehlt, um sich auf der Elternebene in Bezug auf die kindliche Entwicklung vernünftig zu verhalten. Hierbei brauchen sie häufig Beratung und auch therapeutische Unterstützung.
Familiäre aggressive und antisoziale Kommunikationsstile als eine Quelle gestörten Sozialverhaltens Schauen wir uns jetzt noch Familien mit aggressiven und antisozialen Kommunikationsstilen an: Häufig ist das Klima in Familien mit aggressiven Kindern oder weiteren aggressiven Familienmitgliedern durch unsichere bzw. desorganisierte Bindungsstile geprägt (Spangler u. Zimmermann 1999). Nicht selten sind solche Muster über Generationen hinweg tradiert. Wir finden immer wieder Familien, in denen die Reproduktion weit vor der Erkenntnis solcher negativen Muster stattfindet und es mitunter erst der 3. oder 4. Generation gelingt, durch therapeutische Einflussnahme etwas zu verändern. ! Schwierigkeiten entstehen auch daraus, dass sich gerade in sozial benachteiligten Familien durch eine Kumulation sozioökonomischer Stressoren weniger verfügbare Ressourcen finden, wodurch das Risiko erhöht wird, dass Kinder keine prosozialen Verhaltensweisen lernen, sondern sich aggressiv und mit Gewalt auseinandersetzen.
Fabian et al. (2004) konnten in einer Studie an über 20.000 Jugendlichen nachweisen, dass innerhalb der familiären Erziehung die Verwendung von Körperstrafen abgenommen hat. Allerdings »ist es zeitgleich zu einem Anstieg von Sanktionsformen gekommen, die als psychische Formen der Beziehungsverweigerung und
Demütigung aus kriminologischer wie auch entwicklungspsychologischer Sicht die Gefahr in sich tragen, dir Entwicklung sicherer emotionaler Bindungen zwischen Eltern und Kindern zu stören.« (S. 140)
Auch hier gilt es wieder, den Blick ganz vordergründig auf die Eltern zu richten und sie zu einer verantwortungsbewussten Erziehungshaltung zu befähigen. Die Hypothesen über ursächliche Bedingungen bzw. die Funktion aggressiven Verhaltens sind vielfältig: In einer Untersuchung von Cierpka und Mitarbeitern (2002) ergaben sich aus 22 möglichen familiendynamischen Kategorien als die 3 am häufigsten genannten: ▬ ungünstiges elterliches Erziehungsverhalten, ▬ Gewalt und Aggression als tradierte bzw. gelernte Konfliktlösestrategie sowie ▬ Paarkonflikt und unklare häusliche bzw. familiäre Situation. Entwicklungsförderndes Erziehungsverhalten beinhaltet ▬ liebevolle Zuwendung, emotionale Wärme, ▬ Achtung, Respekt, Anerkennung, ▬ Kooperation, partnerschaftliches Miteinander, ▬ Verbindlichkeit. Entwicklungshemmendes Erziehungsverhalten hingegen beinhaltet: ▬ emotionale Kälte, emotionale Überhitzung ▬ Missachtung, ▬ Dirigismus, Fremdbestimmung, ▬ Beliebigkeit. Cierpka (2002) hat herausgearbeitet, dass und auf welche Weise die Familie als System Risiken für die Ausbildung aggressiven Verhaltens im Kindes- und Jugendalter in sich birgt. Er zeigt eindrucksvoll, wie mitunter Familienprobleme noch aus der Großeltern- bzw. Urgroßelternfamilie die Verhaltens- und Persönlichkeitsentwicklung eines Kindes belasten können, wie sie in die gegenwärtigen Familien hineinwirken und eine Generation nach der anderen unglücklich machen, wenn nicht an einer Stelle einmal korrigierend eingegriffen wird.
71 2.4 · Die Bedeutung des sozialen Umfeldes
Bei der Betrachtung dieses Familienrisikomodells für die Entwicklung aggressiven Verhaltens bei Kindern müssen wir uns darüber hinaus noch im Klaren sein, dass es sich hierbei ausschließlich um nichtorganische Verursachungen von Verhaltensstörungen handelt. Wenn wir uns vergegenwärtigen, dass auf jeder Ebene noch organisch schädigende Einflussfaktoren hinzukommen können, so bekommt dieses gesamte Modell eine weitere, in der Praxis nicht zu vernachlässigende Dimension, die am vorliegenden Modell der Vereinfachung halber ausgespart wurde. In diesem Modell geht es v. a. darum, ▬ dass bereits auf der Urgroßeltern- oder Großelternebene Familienkonflikte vorlagen, ▬ dass es sich um instabile, sozial schwache Familien mit ökonomischen (und anderen) Krisen handelte, ▬ dass auf Grund dieser Problemlage Partnerschaftskonflikte und die Instabilität der betrachteten Familie (in diesem Falle Herkunftsfamilie) des Elternteiles vorprogrammiert waren. Die Eltern hatten bereits familiendynamische Konflikte, wiesen antisoziale Züge auf, benutzten Aggressionen als Modell zur Konfliktlösung. Die häufig darauf noch potenzierend einwirkenden schwierigen Umgebungsbedingungen führten zu gestörten Familien der Elterngeneration, die wiederum in einen Mangel an Erziehungsfertigkeiten für die eigenen Kinder mündeten. ! Mangelnde elterliche Fürsorge, mangelndes elterliches Engagement, geringe elterliche Aufmerksamkeit und Empathiemangel sind die elterlichen Merkmale, die zu gestörten familiären Beziehungen führen. Diese wiederum führen zu Entwicklungsdefiziten des Kindes und zu seinerseits ausgebildetem Empathiemangel mit einer Identitäts- und Selbstwertstörung. Hinzu kommen hier erstmals auch die Dispositionen des Kindes und der Einfluss von Peer-Groups. All das mündet in aggressives und gewaltbereites Verhalten der betrachteten Kinder und Jugendlichen ein, so wie wir das in der Praxis immer wieder erleben müssen.
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2.4.2 Schulisch-institutionelles
und Freizeit-Umfeld Aber nicht nur die Familie liefert den Boden für aggressives Verhalten von Kindern, sondern es müssen auch die institutionellen Umfelder betrachtet werden. Ein wichtiges institutionelles Umfeld ist und bleibt die Schule. Auch die Schule ist ein Umfeld, in dem die Sozialisation eines Kindes gefördert werden soll.
Schule Das beginnt bereits in den ersten Klassen. Dabei bereitet eine bis dahin gelungene Sozialisation, die eine Grundmotivation für schulische Aufgaben, also eine positive Lernhaltung des Kindes einschließt, den Boden für die Aufnahme und Verarbeitung der in der Schule angebotenen Förderreize. ! Es ist jenes Kind am besten für die Schule gerüstet, das bereits in der Familie oder in Familie und Kindergarten an eine gewisse Aufgabenhaltung gewöhnt wurde. Denn mit zunehmender Schwierigkeit des Lernstoffs wird das unwillkürliche, spontane Interesse immer mehr einer willkürlichen Aufmerksamkeit, einer Konzentration auch auf weniger interessierende Inhalte weichen müssen (Ettrich 2002b).
Leitner (1999) schreibt hierzu: »Wenn wir die Zeit nach der Einschulung näher betrachten, kommen wir zu einem Kontext, der sehr sensibel für Aufmerksamkeits- und Konzentrationsprobleme ist, dem schulischen Kontext.«
Dieses Konzentrationsvermögen auf fremdgesetzte Aufgaben wird in der Schule vorausgesetzt, aber gleichzeitig auch durch ständige Übung und Bekräftigung immer weiter entwickelt. Bleibt es deutlich hinter der Norm zurück, so ist es dem betreffenden Schüler häufig trotz guter intellektueller Voraussetzungen nicht möglich, die erwarteten Leistungen zu erbringen. Nun sind die kognitiven Fähigkeiten und Leistungen nur die eine Seite dessen, was Schule vermitteln will und kann.
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Kapitel 2 · Verhalten: normales – auffälliges – gestörtes
Mitunter ist es so, dass unter der bestehenden Leistungsorientierung die Schule als sozialer Erfahrungsraum zurücktritt und dass es gerade in höheren Schulklassen eher zur Entsolidarisierung und Isolierung für die einzelnen Schüler kommt. Dabei sind jene Schüler besonders benachteiligt, die von ihren kognitiven Fähigkeiten her Probleme haben, den Leistungsanforderungen zu folgen. Wenn wir uns nun vorstellen, dass Kinder bereits im familiären Rahmen nicht ausreichend gelernt haben, ihre Probleme und Konflikte sozial kompetent zu lösen, sondern aggressive Konfliktlösungen vorgelebt bekamen und selbst gelernt haben, so wundert es nicht, dass diese Schüler unter Leistungsanforderungen verstärkt mit diesen negativen Verhaltensmustern reagieren und das um so mehr, je stärker sie negative Sanktionen von Lehrern und Mitschülern wegen ihres Verhaltens erfahren. Durch die erlebte Frustration schraubt sich diese Spirale immer weiter hoch, bis die Aggressionen eskalieren oder der Schulbesuch verweigert wird. Die Schulverweigerung ist in der heutigen Zeit eine zunehmend häufiger anzutreffende Verhaltensweise bei Kindern und Jugendlichen. Dabei stellt die Schulphobie nach wie vor die am seltensten vorkommende Form der Schulverweigerung dar. Häufig prägt sich auf der Grundlage einer Schulangst ein längeres Schulschwänzen aus, wenn diese nicht rechtzeitig erkannt und ihr entgegengewirkt wird, da die elementarste Form der Angstbewältigung nun einmal ein Vermeiden Angst auslösender Situationen ist. Die hier vorgenommene Unterteilung der Formen der Schulverweigerung ist von großem Wert bei der Therapie von schulverweigernden Kindern. ▬ Bei der sog. Schulphobie müssen wir therapeutisch dafür sorgen, dass der Schulbesuch des Kindes bzw. des Jugendlichen wieder ermöglicht wird, indem das häusliche Milieu sich verbessert, so dass keine Gefahren für die psychische oder körperliche Identität von Elternteilen und Geschwistern besteht. ▬ Bei der Schulangst kommen ganz andere therapeutische Prämissen zum Tragen. Hier geht es darum, zunächst einmal in der Diagnostik festzustellen, ob der besuchte Schultyp der adäquate Schultyp entsprechend den Leistungs-
möglichkeiten des Schülers ist. Wenn dem so ist, muss z. B. durch Entängstigung, durch Selbstwertstärkung, durch kognitive Erfolgserlebnisse u. a. die Schulangst zu überwinden versucht werden, um den Schulbesuch wieder zu ermöglichen. ▬ Beim Schulschwänzen wird hingegen der therapeutische Weg meist ein längerer und mehrdimensionaler Weg sein müssen, der besonders von psychotherapeutischen und soziotherapeutischen Maßnahmen geprägt ist. ! Allen Formen der Schulverweigerung ist gemeinsam, dass die Sozialisation insofern nur mangelhaft geglückt ist, als das Kind den Schulbesuch nicht als seine spezifische, alterstypische Entwicklungsaufgabe begreift oder begreifen kann. In vielen Fällen kommt eine schulische Motivationsstörung hinzu.
Neukäter (1996) betont: »Extrem autokratisches Lehrerverhalten, stark ausgeprägte Lenkung sowie gering schätzende emotional kalte Behandlung können Verhaltensstörungen in der Schule verstärken oder auch auslösen. Weiter sind Misserfolgserlebnisse in der Auseinandersetzung mit schulischen Lerninhalten zu nennen, die oft nicht den Bedürfnissen des einzelnen Schülers angepasst sind (Über- oder Unterforderung). Da Verhaltensstörung und Leistungsversagen sich oft wechselseitig bedingen, lässt sich nicht immer deutlich ausmachen, was als primäre und was als konsekutive Beeinträchtigung anzusehen ist. Als weitere auslösende oder verstärkende Merkmale gelten häufiger Wechsel und ungünstige Zusammensetzung von Lerngruppen, öffentliche Etikettierung abweichenden Schülerverhaltens, der häufig beklagte Konkurrenz- und Leistungsdruck, die strukturellen Anpassungsmechanismen der Institution Schule, mangelnde Berücksichtigung der individuellen Lernvoraussetzungen sowie der individuellen Lebenslage.« (S. 4)
Es kann nachgewiesen werden, wie aufgrund einer misslungenen oder zumindest ungenügend gelungenen Sozialisation bei Leistungsanforderungen, wie sie die Schulsituation ja darstellt, die Moti-
73 2.4 · Die Bedeutung des sozialen Umfeldes
ve der Furcht vor Misserfolg gegenüber denen der Hoffnung auf Erfolg überwiegen. Aus dieser Furcht vor Misserfolg, vor Versagen, entsteht eine angstinduzierte meidende Motivation, d. h. die unlustbetonte Leistungssituation in der Schule soll umgangen werden. Nun ist die Schule aber ein Feld, in dem man sich Anerkennung durch Leistung verschafft. Das heißt, für den Schüler, der dieses nicht kann bzw. nicht will, weil er Angst vor dem Versagen hat, ist es wichtig, sich durch andere Aspekte des Verhaltens Anerkennung oder zumindest Aufmerksamkeit zu holen. Es kommt zur unrealistischen Aufgabenwahl und unrealistischen Zielsetzungen, wie es viele Kinder in ihren Verhaltensauffälligkeiten (Klassenclown) zeigen. Die normalerweise in der Schule erwünschten Leistungen in kognitiver Hinsicht werden hingegen ungünstig attribuiert, ganz besonders auch deshalb, da der Schüler diesen Leistungsanforderungen ja nicht gänzlich ausweichen kann und dort immer wieder erlebt, dass er auch tatsächlich häufiger als andere versagt. Dieses nährt die Ansicht und den Standpunkt bei den Schülern, dass eine Bewährung über kognitives Leistungsverhalten in der Schule »Quatsch« ist – man muss sich nur entsprechend »cool« verhalten, dann hat man auch die Aufmerksamkeit von Mitschülern und Lehrern. Diese beiden Dinge, der ungünstige Attributionsstil von kognitiven Leistungen sowie die unrealistische Aufgabenwahl in Bezug auf das Verhalten, führen in ihrer Vereinigung letztlich dazu, dass der Schüler ein mangelndes Fähigkeitskonzept ausprägt bzw. dieses von vornherein bestehende mangelnde Fähigkeitskonzept sich immer deutlicher herausbildet. Mit diesem mangelnden Fähigkeitskonzept ist wiederum die Furcht vor Misserfolg vorprogrammiert, d. h. der Teufelskreis ist geschlossen. Der Schüler wird sich über kurz oder lang ausschließlich über auffällige, störende Verhaltensweisen definieren und gar nicht mehr über kognitive Leistungen bzw. er wird diesen kognitiven Leistungsanforderungen auf jede nur mögliche Art aus dem Weg gehen. Genau das belegt unsere interdisziplinäre Langzeitstudie. Die Jugendlichen zeigen tatsächlich vorwiegend evasives Verhalten als eine Daseinstechnik, die sie bevorzugt zur Problembewältigung einsetzen.
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Studienbox Das Leistungsverhalten der E-Schüler ist unzureichend entwickelt, und zwar beachtenswerterweise unabhängig davon, ob es sich auf die Bereich Schule, Freizeit oder Familie bezieht. Dies trifft sowohl für die Aspekte Anstrengungsbereitschaft und Kenntniserwerb als auch auf persönliches Vorwärtskommen zu. Wir engen an dieser Stelle Leistung ausdrücklich nicht auf den schulischen Bereich ein und müssen damit auf Verhaltensmuster verweisen, welche die Lebensführung und den individuellen Erfolg dieser Personen im Leben hochgradig behindern, wenn nicht sogar überdauernd begrenzen.
Es sei an dieser Stelle noch ein Wort gesagt zu der häufig gut gemeinten vorzeitigen Einschulung, zu »Versetzen auf Beschluss«, zum Überspringen von Klassen usw. Diese Anmerkungen erfolgen aufgrund jahrzehntelanger praktischer Erfahrungen. Die Autoren mussten an einer Vielzahl von Kindern, bei denen diese gut gemeinten Maßnahmen der Förderung praktiziert wurden, immer wieder feststellen, dass das Gegenteil von »gut« nicht »böse« sondern »gut gemeint« ist. Häufig hat man damit diese Kinder überlastet, überfordert, in Störungen bzw. Verweigerungshaltungen hineingetrieben und damit ihrer Persönlichkeitsentwicklung eher geschadet denn genützt. Besonders in Pädagogenkreisen, aber durchaus auch bei Psychologen und Medizinern besteht häufig die Meinung, das Kind bzw. der Jugendliche müsse die beste Bildungschance erhalten. Das ist in unserer Leistungsgesellschaft nicht von der Hand zu weisen, allerdings muss er diese Bildungschance auch als Chance verkraften können, d. h. er darf von den vielen wohlgemeinten Fördermaßnahmen nicht so überflutet werden, dass eher das Gegenteil des Gewünschten der Fall ist. Diese Art von Kindern und Jugendlichen sehen wir in einer kinder- und jugendpsychiatrischen Einrichtung sehr häufig und es gibt kaum ein kinder- und jugendpsychiatrisches Störungsbild, das auf diesem Hintergrund nicht entstehen könnte. Wenn uns bewusst ist, welche Entwicklungsstufen in welchen Entwicklungsebenen welches Kind in welchem Alter normalerweise zu absolvieren hat, sollte uns gleichzeitig bewusst sein, dass ein zwanghaftes »Heben«
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Kapitel 2 · Verhalten: normales – auffälliges – gestörtes
auf eine nächst höhere Stufe dem Kind durchaus auch schaden kann. Zwar ist allgemein bekannt, dass man mit seinen Anforderungen wächst, aber dies gilt nur bis zu einer gewissen Grenze. Jenseits dieser Grenze kommt der Absturz in die Störung. Das intellektuell gut entwickelte Vorschulkind, das seinen Altersgenossen im kognitiven Bereich ein gutes Stück voraus ist, aber noch nicht in der Lage, die Verhaltensweisen zu zeigen, die man von einem Schüler erwartet, wird es sehr schwer haben, die Förderreize einer schulischen Belastung adäquat zu verarbeiten. ! Wenn wir Vorschuldiagnostik betreiben, müssen wir uns auch darum kümmern, ob eine entsprechende Leistungshaltung bei dem untersuchten Kind vorhanden ist. Es geht nicht, wie das häufig irrtümlicher- und wohlgemeinter Weise getan wird, nur um den Ausschnitt der kognitiven Entwicklung.
Das setzt sich im Schulalter fort. Hier haben wir häufig die Meinung von Lehrern und natürlich auch von stolzen Eltern, die sagen, das Kind ist so gut, dass es eine Klasse überspringen kann. Auch hier ist eine umfassende Diagnostik notwendig, um der Persönlichkeitsentwicklung des Kindes nicht mehr zu schaden als zu nützen. Dies wird durch die mitunter recht zweifelhafte Persönlichkeitsentwicklung von Hochbegabten immer wieder deutlich. Die Autoren des vorliegenden Buches sprechen sich auch eindeutig dagegen aus, Schüler auf Beschluss zu versetzen, die nicht nachgewiesen haben, dass sie den Stoff des gerade zu Ende gehenden Schuljahres zumindest in seinen Grundlagen verstanden haben, so dass sie im folgenden Schuljahr darauf aufbauen können. Mit diesem Weiterschieben von Schülern tun wir weder dem Schüler noch seinem Umfeld einen Gefallen, denn der Schüler wird seine kognitiven Defizite in irgendeiner Form wahrnehmen und darauf in der bereits weiter vorn geschilderten Weise reagieren. Dies wiederum wird das Umfeld alles andere als kalt lassen. Dieses Weiterschieben ist zwar mitunter menschlich verständlich unter dem Motto, »dann bin ich ihn los«, aber wenn das viele so machen, ist man zwar den Schüler X los, aber es kommen Schüler Y und Z nach und am Ende hat man statt
des einen die doppelte Anzahl in der Klasse. Und tut man es unter dem gut gemeinten Vorsatz, »ich will dir nochmals eine Chance geben«, dann sollte von vornherein klar sein, dass das keine wirkliche Chance ist. Das ist eine Herausforderung, welcher der Schüler nicht gewachsen ist. Sie kann deshalb von ihm weder als Chance begriffen noch genutzt werden. Die Autoren möchten sich aus gegebenem Anlass auch noch einmal klar positionieren zu dem heute vielfach angewendeten Mittel des Schulverweises. Aus unserer therapeutischen Sicht und aufgrund vielfältiger praktischer Erfahrungen kann man niemanden an einen regelmäßigen Schulbesuch gewöhnen, den man für Tage oder Wochen davon suspendiert. Man wird damit genau das Gegenteil erreichen. Wenn wir Schüler zu einem besseren oder angemessenen Sozialverhalten in der Schule befähigen wollen, müssen wir sie in erster Linie an diesem Ort halten. Dies erfordert eine interdisziplinäre Zusammenarbeit von Pädagogen und Psychologen bzw. Medizinern und natürlich den Eltern. Und hier liegt häufig das Problem: Kinder, die im Elternhaus nicht ausreichend erzogen und gefördert werden, benötigen eine besonders gute Erziehung und Förderung in der Schule – welchen Typs auch immer diese Schule ist. Das ist meist eine personell aufwändige Sache. Aber, wie Schirrmacher betont: »Es gibt nicht nur keine Bildungsoffensive, die sinkenden Kinderzahlen werden sogar zum Sparen herangezogen – durch Schulschließungen und Verringerung von Bildungsangeboten.« (S. 120)
Gleiches gilt für die Streichung von Lehrerstellen, wie wir weiter vorn ausgeführt haben. Das ist die eine Seite der Medaille. Die andere ist, wenn wir Vorschulkinder vom Schulbesuch zurückstellen oder wenn Klassenwiederholungen erforderlich sind (freiwillige oder unfreiwillige), dann muss in dieser Zeit auch etwas geschehen, was die Entwicklung des Schülers begünstigt. Es reicht nicht, das Vorschulkind einfach ein Jahr länger im Kindergarten zu belassen in der Hoffnung, dass es schon nachreifen wird, sondern es muss in dieser Zeit etwas für seine Förderung getan wer-
75 2.4 · Die Bedeutung des sozialen Umfeldes
den, damit es beim nächsten Schuljahresbeginn an das Niveau der anderen Schulanfänger heranreicht. Gleiches gilt bei Klassenwiederholungen: Hier ist immer wieder zu prüfen, ob der Schüler sich in kleinen Schritten in einer Wiederholung das mangelnde Wissen erarbeiten kann und ob dieses Wissen auch anwendungsbereit ist, so dass er mit einem besseren kognitiven Niveau in die nächste, dann wieder neue Klassenstufe hineingeht. Wir werden anhand unserer Ergebnisse aus der erwähnten Längsschnittstudie immer wieder zeigen können, dass Schüler, die in der Schule ausschließlich auf kognitivem Gebiet erzogen werden und deren Persönlichkeitsreifung damit nicht Schritt hält, mit diesen kognitiv erworbenen Fortschritten im Leben wenig anfangen können, sondern dass sie Charaktereigenschaften ausbilden, die nicht oder sehr wenig zu einer erfolgreichen Lebensbewältigung befähigen.
Freizeit Ein weiterer wesentlicher Bezugsrahmen für das heranwachsende Kind bzw. den Jugendlichen ist der Freizeitbereich. Hier gewinnt mit zunehmender Ablösung vom Elternhaus die Peer-Group immer mehr an Bedeutung. In der Peer-Group findet der heranwachsende junge Mensch emotionale Geborgenheit, er erfährt Unterstützung im Ablösungsprozess von den Eltern und der eigenen Identitätsfindung und er findet soziale Freiräume für die Erprobung neuer Formen des Sozialverhaltens. Studienbox In Studien wurde nachgewiesen, dass sich normalerweise Kinder nicht so sehr wie bisher angenommen in einem Spannungsfeld zwischen Elternhaus und Peer-Group entwickeln, sondern dass in der normalen Entwicklung sich eher eine Art Aufgabenteilung zwischen Elternhaus und Peer-Group ergibt. Die Jugendlichen orientieren sich in Bezug auf ihre künftige Entwicklung eher am Elternhaus, in aktuellen Fragen jedoch eher an der Peer-Group. Dabei beeinflusst das Elternhaus die Peer-Beziehungen der Kinder und Jugendlichen entscheidend mit.
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Festzuhalten bleibt, dass Schule nicht nur ein institutioneller Rahmen ist, in den unbewältigte Konfliktlösemuster aus der Familie durch die Kinder importiert werden. Doch sie ist bei aller Anforderungs- und Leistungsorientiertheit seinerseits und allem teilweise negativen Gruppendruck auch nicht der Rahmen, in dem aggressiv-dissoziale Verhaltensweisen erst erzeugt werden, wenn hierfür nicht vorher die Grundlagen gelegt und der »Boden bestellt« wurde. Unter systemischem Blickwinkel sind Schüler Angehörige von 2 Systemen, der Familie und der Schule. Die Erfahrungen in einem System beeinflussen das Verhalten des Kindes im anderen System. Das heißt, elterliche Auseinandersetzungen können das Lernverhalten eines Kindes sehr schwer belasten und negativ beeinflussen. Andererseits wird bei einem Schüler, der schlechte Noten und Beurteilungen mit nach Hause bringt, der Konflikt in der Familie meist vorprogrammiert sein, so dass das familiäre Klima dadurch überschattet wird. Umgekehrt wird im positiven Fall ein Kind mit stabilen Familienbindungen aus einem entwicklungsfördernden Familiensystem in der Schule sowohl auf kognitiver als auch auf emotionaler und sozialer Ebene sicherer und stärker sein. Ein Schüler, der mit guten Noten und Beurteilungen seinen Heimweg von der Schule antreten kann, wird auch in der Familie und im Freizeitbereich davon profitieren. Und so werden alltäglich sehr individuelle Entwicklungspfade beschritten, die sich im positiven wie negativen Sinne festigen und verfestigen können und denen im positiven Fall auch schwierige Life events wenig ausmachen, denen im negativen Fall aber auch mit korrigierenden Maßnahmen schwer beizukommen ist.
2.4.3 Gesellschaftliches Umfeld Durch die gesellschaftlichen Modernisierungsprozesse in den westlichen Industriegesellschaften wird schließlich auch der sozialökologische Kontext von Familien geprägt. Cierpka (2002) betont, dass der Wegfall traditioneller und kollektiver Lebenszusammenhänge sich v. a. auf die Labilisierung familiärer Strukturen bzw. auf die Pluralisierung von Lebensformen bezieht. Dies kommt in
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Kapitel 2 · Verhalten: normales – auffälliges – gestörtes
einer deutlichen Zunahme der Ehescheidungen, der steigenden Anzahl von Alleinerziehenden, dem Ansteigen nichtehelicher Lebensgemeinschaften und der starken Abnahme von Geburten zum Ausdruck. So entsteht zunehmend der Eindruck, dass Verhaltensweisen, die früher als egoistisch bezeichnet wurden und damit eine negative Bewertung erfuhren, heute unter dem Begriff »Individualismus« subsumiert werden und damit einen durchaus legitimen und sogar positiven Anstrich bekommen. Speck (1993) bezeichnet das mit »Egoismusepidemie oder Ich-Fieber«. Er sagt: »Die damit bedingten sozialen Entkoppelungsprozesse und die wachsende normative Desparatheit der verschiedenen Teilsysteme, denen ein Kind angehört (Familie, Spielgruppe, Schule, Freizeitclub usw.) erschweren eine normative Orientierung und das Hineinwachsen in soziale Verbindlichkeiten. Immer mehr Kinder bleiben im normativen Chaos hängen. Viele können die entstehenden Isolationen und Benachteiligungen im egoistischen Gewinn- und Verlierspiel nicht verkraften und schlagen zu.« (S. 35)
Neukäter (1996) schreibt: »Jugendliche mit Verhaltensstörungen sind vielfältigen Vorurteilen ausgesetzt. Dies gilt besonders für Jugendliche, die in Heimen aufgewachsen sind oder eine Sonderschule besucht haben. Das negative Etikett gerät im Extremfall zum Stigma. Die seelische Notlage dieser Jugendlichen wird selten erkannt. Man hält sie für renitent, faul und dumm und versteht nicht, dass die Jugendlichen paradoxerweise durch abweichendes Verhalten einen Weg aus ihrer seelischen Notlage suchen. Die negative Reaktionsweise ist gleichsam ein unbewusstes positives Signal, das den Mitmenschen die eigenen Schwierigkeiten verrät. Dieses Signal wird indes nicht in seinem Kern, sondern in seiner aggressiven Form aufgefasst und als Bedrohung erlebt. Nur wenn es gelingt, das sozial unangepasste Verhalten als Notsignal zu entschlüsseln, besteht die Chance, den Kreislauf der »Verhaltensstörung« zu durchbrechen.« (S. 3)
Auf die besonders negative und gefährliche Haltung der Massenmedien in unserer Gesellschaft
macht Remschmidt (2003) eindrücklich aufmerksam. Er verweist darauf, dass von ARD, ZDF, SAT1 und RTL pro Unterhaltungssendung durchschnittlich 5,64% der Sendezeit Gewaltakte gezeigt werden und besonders das Vorabendprogramm bei manchen Sendern sehr gewaltträchtig ist. Die Untersuchung von Videofilmen, die von Kindern und Jugendlichen konsumiert werden, zeigte bereits 1983 zu 45% extreme Gewalt- und Horrordarstellungen. Der Autor warnt davor, dass sozial akzeptierte Gewalt nachweisbar negative Folgen hat, dass belohnte Gewalthandlungen beim Zuschauer den Eindruck eines wirksamen Problemlöseverhaltens erwecken und insofern von größerem Einfluss sind, dass Gewalthandlungen, die für die Lösung einer Konflikt- und Problemsituation relevant sind, eine verstärkende Wirkung auf die Auslösung von Gewalthandlungen beim Zuschauer haben und ein gesteigertes Erregungsniveau des Zuschauers nachweislich die Gewaltbereitschaft erhöht. Remschmidt (2003) schreibt: »Dies alles ist bekannt, aber praktisch geschieht wenig. (...) Solange aber zugelassen wird, dass unser Fernsehprogramm einen derartig hohen Anteil an Gewaltdarstellungen aufweist, werden Aufklärungs- und Erziehungsmaßnahmen gegen Gewalttätigkeit unglaubwürdig. (...) Insofern wird Prävention durch Aufklärung nur wenig ausrichten, solange nicht im Sinne einer politischen Entscheidung Gewaltdarstellungen in den Medien drastisch reduziert werden.« (S. 117)
Martinius (2003) betont: »Hinzu kommt, dass sich irgendwann die Grenzen zwischen Realwelt und Scheinwelt auflösen und das fiktive Leben in den Medien den Platz der Realität einnimmt.« (S. 118)
Das ist besonders bei Kindern und Jugendlichen mit ihrer noch nicht gefestigten Persönlichkeit außerordentlich gefährlich, aber genau diese Mitglieder unserer Gesellschaft sind häufig diejenigen, die am meisten Fernsehkonsum betreiben. Martinius beschreibt es so: »Es trifft eben fatalerweise die, die es am wenigsten vertragen können.« (S. 119)
77 2.4 · Die Bedeutung des sozialen Umfeldes
Remschmidt (2003) verweist auf die Bedeutung eines frühzeitigen Beginns von Aufklärung und Gesundheitserziehung. Er sagt: »Erfahrungen auf anderen Gebieten haben gezeigt, dass früh begonnene Lernvorgänge langfristig am wirksamsten sind. Dies bedeutet, dass ein praktisches Einüben von »präventiv wirksamen Verhaltensweisen« bereits im Kindergartenalter und in der Grundschule beginnen muss, wobei die Prinzipien der »handlungsbezogenen Vermittlung« in einer Situation, die »Identifikationsmöglichkeiten« erlaubt, am günstigsten ist.« (S. 116)
! Die beschriebenen sozialökologischen Veränderungen der Gesellschaft stellen an heranwachsende Kinder und Jugendliche hohe Anforderungen bei der Identitätsentwicklung. Ihnen können gerade die entweder durch biologische Faktoren oder Umweltfaktoren oder beides vulnerabel gewordenen kindlichen Persönlichkeiten nicht gerecht werden. Wenn dann die familiäre Umwelt nicht in der Lage ist, den Kindern stabile Beziehungen, Rückhalt und Förderung der Identitätsentwicklung in ausreichendem Maße zu gewähren, ist häufig der Weg in die Negativschiene und in ein antisoziales Verhalten vorprogrammiert.
Die Kultusministerkonferenz 1994 wies auf folgende gesellschaftliche Schwierigkeiten bei der Entwicklung und Erziehung von Kindern und Jugendlichen hin: ▬ Finanzielle Notlagen: Diese führen für Kinder und Jugendliche aus unterprivilegierten Familien häufig dazu, dass sie ihre Konsumwünsche nicht befriedigen können und den dadurch erzwungenen Verzicht als Makel erleben. Sie ziehen sich aus sozialen Beziehungen zurück und finden häufig nur noch Anschluss an Negativgruppen, was ihren Pfad in die Dissozialität begünstigt. ▬ Überflutung durch die Medien: Auf den Negativeinfluss durch die Medien wurde bereits weiter oben verwiesen. Besonders problematisch erweist sich hier, dass keine deutliche Orientierung an positiven Normen und Werten erfolgt,
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was bei störbaren Kindern und Jugendlichen den Aufbau und die Festigung eines eigenen positiven Wertesystems erschwert. ▬ Aggressivität und Gewaltbereitschaft in der Gesellschaft: Diese sind bereits in einem Maße gestiegen, dass sie die Toleranzschwelle allgemein und insbesondere bei Kindern und Jugendlichen erhöht haben, so dass die Ächtung von Aggressivität und Gewalt in der Bevölkerung längst nicht mehr ausreichend gegeben ist. Auf der Grundlage dieser Verwischung von Grenzen werden neue Forderungen nach Extrempositionen laut. Gewaltbereite Kinder und Jugendliche sind häufig selbst Opfer von Gewalt geworden und haben häufig keine Handlungsalternativen erworben. ▬ Gefährdung durch Drogen: Bei der allgemeinen Zunahme der Gefährdung durch Drogen müssen wir uns bewusst sein, dass hier wiederum die störbaren oder bereits gestörten Kinder und Jugendlichen, wie wir sie unter Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf häufig finden, besonders anfällig sind. Auf diese Weise können sie kurzzeitig der ungeliebten Realität entfliehen. Es wird darauf hingewiesen, dass sonderpädagogische Förderung bei Schülern mit Drogenmissbrauch nur gemeinsam mit außerschulischen Hilfsangeboten (Polizei, Gerichte, Jugendstrafvollzug, psychotherapeutische und psychiatrische Einrichtungen) erfolgreich sein kann. »Mangelnde Lebensorientierung im Hinblick auf Normen und Werte und unsichere Perspektiven machen junge Menschen anfällig für Manipulationen durch Jugendsekten und radikale Gruppierungen. Drogengefährdung, Alkoholismus, Selbstmordgedanken sowie kriminelle Gefährdung sind mögliche Folgen einer verstädterten Umwelt, in der kurzfristige Bedürfnisbefriedigung und Konsum von erhöhter Bedeutung sind.« (S. 2)
Neukäter (1996) verweist darauf, dass Jugendliche mit Verhaltensstörungen diesen »Verführungen« besonders leicht erliegen, weil sie vertrauensvoll enge persönliche Bindungen nicht aufbauen konnten. Deshalb benötigen sie besondere Hilfe und Zuwendung von Seiten der Gesellschaft, sprich
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Kapitel 2 · Verhalten: normales – auffälliges – gestörtes
der Lehrkräfte, Berufsberatung, der Arbeitswelt, um diesen Rückhalt zu erfahren und Bindungen, die Stabilität bieten, aufbauen zu können. Damit erhalten sie die Chance, sich eine persönliche Zukunft aufzubauen. Hierbei, so sagt der Autor, ist es wichtig, dass durch gemeinsame Anstrengungen eine Erziehung zur Autonomie verwirklicht wird. Den Autoren des vorliegenden Buches fällt zunehmend auf, dass mit der in unserer Gesellschaft gegenwärtig gelebten Freiwilligkeit der Familienvorsorge und allgemein freiwilligen Untersuchungen die Gesundheit und Entwicklung unserer Kinder und Jugendlichen immer mehr leidet. Hier wäre es an der Zeit, andere Maßnahmen zu ergreifen, die zwar immer noch den Charakter der Freiwilligkeit haben können, aber bei denen regelmäßige Untersuchungen, regelmäßige Entwicklungschecks, regelmäßige Gesundheitsvorsorgeuntersuchungen auch gesellschaftlich belohnt werden. So kann man auch die Familien motivieren, die aus Gründen der Freiwilligkeit und der Nachlässigkeit diese Untersuchungen nicht wahrgenommen haben. Auf diese Weise würde man eher Interventionen bei den betroffenen entwicklungsgefährdeten oder entwicklungsbehinderten Kindern platzieren können, die sich dann wiederum gesünder entwickeln würden. Am Ende wäre eine zunächst teuer erscheinende Maßnahme sehr viel preiswerter als das gegenwärtige Vorgehen. Wir müssen ohnehin die Bevölkerung stärker auf Gesundheit als auf Krankheit orientieren. Es muss wieder etwas wert werden, gesund zu ein, was die psychische Gesundheit einschließt. Eine weitere Möglichkeit, auf die wir später noch einmal kommen werden, ist die Möglichkeit der aufsuchenden Hilfen in den Familien. Sie ist derzeit zwar in Anfängen vorhanden, erfolgt aber nach unserer Einschätzung viel zu niedrigschwellig und in viel zu wenig professioneller Weise. Mit solchen Maßnahmen kann man sehr viel Geld ausgeben, ohne den erwünschten Erfolg zu erreichen, was wir in der Klinik immer wieder sehen. Bei aufsuchenden Familienhilfen sollte es die Regel werden, dass die Familien anschließend einen Nachweis erbringen müssen, dass sie von der Maßnahme profitiert haben.
3
Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung
3.1
Symptomatik der ADHS – 83
3.2
Ursachen für ADHS – 84
3.3
Was bedeutet ADHS in verschiedenen Entwicklungsstadien? – 86
3.4
Diagnostik bei ADHS – 88
3.5
Schwerpunkte therapeutischer Möglichkeiten
– 89
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Kapitel 3 · Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung
Im folgenden Kapitel gehen wir explizit auf das Störungsbild der Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung (ADHS) ein, da sie im Kontext der Entstehung von Störung des Sozialverhaltens eine wichtige Rolle spielt. Zum einen kann sie prädisponierend für verschiedenste Störungen des Sozialverhaltens sein, zum anderen kann sie komorbid bei Störungen des Sozialverhaltens auftreten. Bei der ADHS handelt es sich um eines der am besten untersuchten kinder- und jugendpsychiatrischen Störungsbilder. Daher sind in diesem Kapitel spezifische diagnostische und therapeutische Herangehensweisen dargestellt, die sich häufig mit denen bei gestörtem Sozialverhalten überschneiden, die aber bei ADHS am besten evaluiert sind.
Maximilian P. ist das erste Kind einer bei seiner Geburt 19-jährigen Mutter. Sein Vater hat nie mit der Mutter zusammengelebt, da er in einer anderen Beziehung gebunden ist. Als Maximilian 2 Jahre alt ist, lernt die Mutter den heutigen Stiefvater Herrn S. kennen. Er ist 30 Jahre alt und geschieden und hat 2 Kinder aus 1. Ehe. Frau P. und Herr S. bekommen 1 Jahr später ein weiteres Kind, Maximilians Bruder Florian. Zur frühkindlichen Entwicklung von Maximilian ist zu sagen, dass er sich in der Schwangerschaft gut entwickelte, am Termin entbunden wurde, in den ersten Lebenstagen jedoch unter einem Neugeborenenikterus und unter zeitweiligen Atemdepressionen litt. Die frühkindliche Entwicklung (Sitzen, freies Laufen, erstes sinnvolles Wort, erster Zwei-WortSatz) verlief leicht verzögert. Nach der Geburt seines Bruders besuchte Maximilian einen Kindergarten, wo er durch unruhiges, unkonzentriertes, häufig vorlautes, mitunter aber auch deutlich trauriges Verhalten auffiel. Mit der Mutter wurden diesbezüglich mehrere Gespräche geführt. Die Mutter hatte einen guten Kontakt zu Maximilians Kindergarten. Sie stellte den Jungen auf Vorschlag der Kindergärtnerin auch bei einer Kinderpsychologin vor. Hier wurde erstmals die Möglichkeit
eines hyperkinetischen Syndroms (ADHD, ADS) angesprochen. Maximilians Entwicklungsstand – er war inzwischen 5 Jahre alt – entsprach dem eines 4;6 Jahre (4 Jahre und 6 Monate) alten Kindes. Maximilian wurde für längere Zeit ambulant ergotherapeutisch, über kurze Zeit auch ambulant physiotherapeutisch betreut. Durch beide Behandlungsversuche nahm die Mutter und mit ihr übereinstimmend auch die Kindergärtnerin eine leichte Verbesserung des Verhaltens des Kindes, v. a. aber eine Entwicklungsbeschleunigung wahr. Im Hinblick auf die bevorstehende Einschulung wurde Maximilian im 6. Lebensjahr in einer Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie vorgestellt. Eine umfassende Diagnostik ergab einen etwa altersgerechten körperlichen Befund und einen leicht retardierten entwicklungsneurologischen Befund mit »neurological soft signs«. Das Hirnstrombild (EEG) zeigte unspezifische Veränderungen, wie sie bei Kindern mit leichter Hirnfunktionsstörung häufig vorkommen. Der kognitive Leistungsstand lag mit einem IQ von 91, gemessen mit dem Hannover-Wechsler-Intelligenztest für Vorschulkinder, im Normbereich. Die konzentrativen Fähigkeiten lagen deutlich unter der Norm. Es kamen folgende Verfahren zur Anwendung: Konzentrations-Handlungs-Verfahren für Vorschulkinder (KHV-VK) und Matching–FamiliarFigures-Test (MFF). Im KHK-VK fiel der Junge durch ein sehr ungleichmäßiges Arbeitsverhalten auf. Zum Arbeitsbeginn und im weiteren Arbeitsablauf musste er mehrfach an die Instruktion erinnert werden. Im Intervall von 10 Minuten legte Maximilian 35 Karten ab. Dabei unterliefen ihm 18 Fehler, wobei es sich bei 10 davon um übersehene und bei 8 um hineingesehene kritische Reize handelte. Das konzentrative Verhalten war damit hinsichtlich Zeit und Fehler auffällig. Im MFF war ebenfalls ein hochgradig auffälliges Arbeitsverhalten von Maximilian zu beobachten. Sein kognitiver Arbeitsstil war als impulsiv zu klassifizieren.
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Fallbeispiel Maximilian
81 Kapitel 3 · Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung
Auch die Befragung der Betreuungspersonen (Kindesmutter und Kindergärtnerin) mittels der Conners-Skalen erhärtete den Befund einer ADHS mit Beeinträchtigungen der Konzentrationsfähigkeit, Hyperaktivität und Impulsivität sowie Problemen im Sozialverhalten. Nach umfassender Diagnostik und der Absicherung der Diagnose erfolgte ein Behandlungsversuch mit Methylphenidat (Ritalin), das der Junge sehr gut tolerierte und das ihm auch deutliche Vorteile sowohl im konzentrativen Bereich als auch im Sozialverhalten brachte. Es wurde ergänzend ein verhaltenstherapeutisch orientiertes Konzentrationstrainingsprogramm (KTP; Ettrich 2004) im Kindergarten durchgeführt. Bei der Nachuntersuchung mit den identischen Testverfahren ergaben sich folgende Werte: Im KHV-VK wurden nunmehr alle Karten in 6 Minuten sortiert, was einer deutlichen Verbesserung entspricht, die auch im MFF nachweisbar war. Maximilian hatte gute Möglichkeiten, den Transfer zwischen gezielter Trainingsstunde und Alltagsbewältigung zu nutzen, da die Hauptbezugspersonen für ihn identisch waren. Die Mutter arbeitete sehr gut mit und Intentionen, die im KTP vermittelt werden, konnte sie bei Alltagsaufgaben mit Maximilian bekräftigen. Im März des Jahres waren die 20 Einheiten des Konzentrationstrainingsprogramms absolviert. Alle Kinder seiner Gruppe hatten das Training erfolgreich bewältigt. Es erfolgte eine weitere Postdiagnostik kurz vor der Einschulung. Die dabei erzielten Werte zeigten weitere Verbesserungen. Im Sozialverhalten trat ebenfalls eine Besserung ein. Maximilian wurde jetzt von anderen Kindern als Spielpartner gewählt und wegen seiner Spielideen geschätzt. Im August des Jahres wurde Maximilian altersgerecht (mit 7 Jahren »alter Einschüler«) eingeschult. Inzwischen hat er sich in seiner Klasse gut eingelebt, will lernen und freut sich auf jeden Schultag. Das Verhalten zu Hause ist ▼
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deutlich angepasster als im Kindergartenalter geworden. Die Mutter konnte ihn auch zu Hause mit kleinen Aufgaben betrauen, die er gewissenhaft und mit Hilfe der trainierten Lösungswege ausführt. Die Mutter ist inzwischen mit Maximilians Stiefvater verheiratet und erwartet mit diesem ein weiteres Kind. Der leibliche Vater hat vor kurzem wieder Kontakt zu seinem Jungen aufgenommen, d. h. der leibliche Vater pflegt einen mehr oder weniger regelmäßigen Umgang mit seinem Sohn. Maximilian erhält weiterhin 10 mg Ritalin pro Tag morgens vor der Schule. Der Junge bleibt in ambulanter kinder- und jugendpsychiatrischer Betreuung. Bei einem kürzlichen Besuch in der Sprechstunde wies die Mutter darauf hin, dass das an Maximilian Gelernte und Trainierte für sie auch für den jüngeren Bruder des Jungen wichtig sei, dass ihr also manche Dinge in der Erziehung deutlich »energiesparender« gelingen, als das noch bei Maximilian der Fall war. Ihre familiäre Situation sei stabil, sie sei für die Kinder verantwortlich und ihr Mann habe einen festen Job, so dass sie ohne Ängste dem kommenden Kind entgegensehen könne. Die Umgangsregelung zwischen Maximilian und seinem leiblichen Vater sei nach anfänglichen Befürchtungen ihrerseits für alle eher entlastend. Auch ihr Mann habe sich inzwischen damit gut arrangieren können.
Obgleich Maximilian noch ganz am Anfang seiner Schullaufbahn steht, wird aus unserer Sicht an diesem Fallbeispiel deutlich, dass durch ein positives Zusammenarbeiten von Elternhaus und Institutionen (Mutter, Stiefvater, Kindergarten, Ergotherapie, Physiotherapie, ambulante Psychologin, Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, leiblicher Vater, Schule) doch eine positive Prognose für die Schulbewährung auch bei bestehender Diagnose ADHS und auf der Grundlage eines etwas ungünstigen Lebensstartes (postnatale Komplikationen) gestellt werden kann. Kinder, die unaufmerksam, hyperaktiv und impulsiv sind, werden von Eltern, Lehrern und Erziehern oftmals als verhaltensauffällig oder ver-
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Kapitel 3 · Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung
haltensgestört bezeichnet, weil ein erhöhter Erziehungsaufwand zur Erfüllung alltäglicher Pflichten (z. B. Hausaufgaben) bei gleichzeitig ungünstigem Arbeitsergebnis (viele Flüchtigkeitsfehler, unvollständige Aufgaben) das Zusammenleben mit ihnen erschwert. Für diese Kinder wird die Bezeichnung »verhaltensauffällig« oder »verhaltensgestört« verwendet, obwohl sie unter einem definierten Krankheitsbild leiden, der Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung (ADHS). Das bereits von Dr. Heinrich Hofmann 1845 treffend beschriebene »Zappelphilipp-Syndrom« hat in den letzten Jahrzehnten große Beachtung gefunden. Die über viele Jahre bestehende nomenklatorische Verwirrung (hyperkinetisches Syndrom – HKS, minimale zerebrale Dysfunktion – MCD, minimal brain dysfunction – MBD, Aufmerksamkeitsdefizitstörung – ADS/ADD, Hyperaktivität, hirnorganisches Psychosyndrom, psychoorganisches Syndrom – POS) ist weitgehend überwunden. Vieles über die Entstehung, Diagnostizierung und Therapie der ADHS ist inzwischen bekannt. Sie zählt zu den im kinder- und jugendpsychiatrischen bzw. -psychotherapeutischen Bereich am besten untersuchten Störungsbildern. Sie bleibt häufig bis in das Erwachsenenalter erhalten (die bisherigen Studien belegen, dass ca. 4% der Erwachsenen unter einer ADHS leiden) und ist also eine Störung der Lebensspanne. Daher ist es wichtig, dass auch in der Erwachsenenpsychiatrie entsprechende diagnostische und therapeutische Kriterien gefunden werden. Prävalenzangaben der ADHS schwanken zwischen 3 und 10% im Schulalter, was auch auf die unterschiedlichen Stichproben zurückzuführen ist. Stadt-Land-Unterschiede wurden nicht gefunden, auch gibt es keine eindeutige Altersabhängigkeit. In kinder- und jugendpsychiatrischen Einrichtungen beträgt die Prävalenz 15-20%. Bei der Geschlechterrelation variieren die Angaben zwischen 1:3 und 1:9 zu Ungunsten der Jungen, wobei psychopathologische Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen bislang nicht nachgewiesen werden konnten. An dieser Stelle ist auch darauf zu verweisen, dass in den subjektiven Einschätzungen durch Eltern und Erzieher das Problemverhalten bei Jungen deutlicher betont wird als es sich durch Untersuchungen nachweisen lässt, während bei Mädchen
der umgekehrte Fall vorliegt, also der Geschlechtsstereotyp eine Rolle spielt. Die gesellschaftliche und ökonomische Bedeutung der Störung zeigt sich u. a. an folgenden Prozentzahlen: Etwa 40% der Unfallkosten im Kindesalter werden durch ADHS-Patienten verursacht, ca. 20% der Straftäter und 50% der Erststraftäter sind ADHS-Patienten. Die Schulabbruchrate bei ADHS-Patienten ist um den Faktor 4 erhöht. Loeber et al. (2000) zeigen die vielfältigen Entwicklungsmöglichkeiten: ▬ eine ADHS kann in oppositionelles Verhalten übergehen, ▬ eine ADHS kann in aggressiv-dissoziales Verhalten übergehen, ▬ oppositionelles Verhalten kann Vorläufer einer Depression im Jugendalter werden, ▬ aggressiv-dissoziales Verhalten und Depression können im Jugendalter gemeinsam vorkommen. Im jungen Erwachsenenalter kann sich ▬ aus aggressiv-dissozialem Verhalten eine antisoziale Persönlichkeitsstörung entwickeln, ▬ aus aggressiv-dissozialem Verhalten eine Persönlichkeitsstörung mit Substanzmissbrauch herausbilden, ▬ aus der Depression ein Substanzmissbrauch entwickeln. Bezogen auf das Jugendalter gibt es einen deutlichen Zusammenhang zwischen aggressiv-dissozialem Verhalten und Depression. Wenn wir uns die ADHS in der frühen Kindheit anschauen, so kann ▬ sich eine Störung des Sozialverhaltens mit oppositionellem Trotzverhalten entwickeln, ▬ ein bis ins Jugendalter reichendes aggressivdissoziales Verhalten resultieren, ▬ sich aus dem oppositionellen Verhalten eine Depression entwickeln, ▬ aus dem oppositionellen Verhalten auch ein aggressiv dissoziales Verhalten folgen, aus dem sich schließlich im jungen Erwachsenenalter eine antisoziale Persönlichkeitsstörung entwickeln kann, ▬ aus aggressiv-dissozialem Verhalten und Depression, die sich auch gegenseitig bedingen können, ein Substanzmissbrauch entstehen.
83 3.1 · Symptomatik der ADHS
3.1
Symptomatik der ADHS
Definiert ist die ADHS durch »ein durchgehendes Muster von Unaufmerksamkeit, Überaktivität und Impulsivität, das in einem für den Entwicklungsstand des Betroffenen abnormen Ausmaß situationsübergreifend auftritt. Die Störung beginnt vor dem Alter von sechs Jahren und sollte in mindestens zwei Lebensbereichen bzw. Situationen (z. B. in der Schule, in der Familie, in der Untersuchungssituation) konstant auftreten.« (Leitlinien Nr. 19, 2003)
Die Hauptsymptome bestehen in motorischer Unruhe und Überaktivität, einer Konzentrationsstörung und einer Impulsivität im sozialen und kognitiven Bereich. Was bedeutet das? Motorische Unruhe bzw. Überaktivität Das Kind zappelt mit Händen oder Füßen oder windet sich auf seinem Sitz. ▬ Es verlässt seinen Platz während des Unterrichts oder in anderen Situationen, in denen Sitzenbleiben erwartet wird. ▬ Es läuft herum oder klettert exzessiv in Situationen, in denen dies unpassend ist (bei Jugendlichen ist oft nur ein Gefühl innerer Unruhe vorhanden). ▬ Das Kind ist häufig beim Spiel übermäßig laut oder hat Schwierigkeiten, sich leise zu beschäftigen. ▬ Es zeigt ein anhaltendes Muster exzessiver motorischer Aktivität, das durch die soziale Umgebung oder durch Aufforderungen nicht durchgreifend beeinflussbar ist. Konzentrationsstörung Das Kind ist häufig unaufmerksam gegenüber Details oder macht Sorgfaltsfehler bei Schularbeiten oder anderen Arbeiten bzw. Tätigkeiten. ▬ Es kann die Aufmerksamkeit bei Aufgaben oder dem Spiel häufig nicht aufrechterhalten. ▬ Es scheint häufig nicht zu hören, was gesagt wird. ▬ Es führt häufig Aufträge nicht durch oder erfüllt häufig Schularbeiten oder andere Pflichten
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oder Aufgaben am Arbeitsplatz nicht (nicht wegen oppositionellen Verhaltens oder weil Erklärungen nicht verstanden werden). Das Kind kann Aufgaben und Aktivitäten nicht organisieren oder strukturieren. Es vermeidet häufig oder hat einen starken Widerwillen gegen Aufgaben, die geistiges Durchhaltevermögen erfordern (z. B. Hausaufgaben). Es wird häufiger durch äußere Reize leicht abgelenkt. Es verliert häufig Gegenstände, die für bestimmte Aufgaben oder Aktivitäten notwendig sind, z. B. Schulaufgaben, Bleistifte, Spielsachen oder Werkzeuge. Es vergisst häufig Dinge im täglichen Ablauf.
Impulsivität Das Kind platzt häufig mit Antworten heraus, bevor Fragen zu Ende gestellt sind. ▬ Es kann häufig nicht in einer Reihe warten oder bei Spielen oder Gruppensituationen warten, bis es an der Reihe ist. ▬ Es unterbricht oder stört andere häufig (z. B. platzt in die Unterhaltung oder Spiele anderer). ▬ Es redet häufig übermäßig viel, ohne angemessen auf soziale Beschränkungen zu reagieren. Häufig assoziierte Symptome bzw. Folgen neben den genannten Hauptsymptomen sind: ▬ Kontaktschwierigkeiten, ▬ Distanzlosigkeit, ▬ soziale Isoliertheit, ▬ häufige Konflikte, ▬ Lern- und Leistungsprobleme (z. B. Teilleistungsstörungen), ▬ emotionale Symptome (z. B. niedriges Selbstwertgefühl). Die ICD-10 unterscheidet zwischen der einfachen Aufmerksamkeitsstörung (F90.0) und der hyperkinetischen Störung des Sozialverhaltens (F90.1), bei der sowohl die Kriterien für eine hyperkinetische Störung als auch für eine Störung des Sozialverhaltens erfüllt sind. Diese Kombinationsdiagnose wird durch die Häufigkeit begründet, mit der beide Störungen gemeinsam auftreten, sowie durch die Tatsache, dass die ADHS zu einer ausgeprägten Störung des Sozialverhaltens führen kann – mit
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Kapitel 3 · Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung
der im Vergleich zur einfachen Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung vermutlich ungünstigeren Prognose. Hinsichtlich der Klassifikation von Subtypen konnte bislang nomenklatorisch noch kein Konsens gefunden werden. Nach DSM-IV lassen sich hyperkinetische Störungen (Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörungen) unterteilen in den vorherrschend unaufmerksamen Subtypus, den vorherrschend hyperaktiv-impulsiven Subtypus und den gemischten Subtypus. Bei Jugendlichen und Erwachsenen, die nicht mehr alle Symptome zeigen, kann die Diagnose nach DSMIV durch den Zusatz »in partieller Remission« spezifiziert werden. Nach DSM-IV haben wir also die Möglichkeit, auch den v. a. unaufmerksamen, aber nicht unbedingt hyperkinetischen Subtyp zu charakterisieren und zu klassifizieren. Wenn wir uns diese Symptomkataloge anschauen, fällt auf, dass hiermit das Verhalten bzw. Fehlverhalten besonders von Kindern im jüngeren Schulalter gut beschrieben wird. Es wird die Aufgabe künftiger Klassifikationssysteme sein, auch das ADHS-Verhalten von Kleinkindern und Jugendlichen differenzierter abzubilden.
3.2
Ursachen für ADHS
Grundsätzlich wird heute von einer multifaktoriellen Genese der ADHS ausgegangen, also einer Interaktion biologischer und psychosozialer Faktoren. ▬ Organische Faktoren: Hierzu zählen z. B. Zustände nach frühkindlichen Hirnschädigungen prä-, peri- und postnataler Art (⊡ Tab. 2.1). Hierdurch kann es zu einer Dysfunktion im kortikostriatalen Netzwerk der Betroffenen kommen, was eine Beeinträchtigung der Steuerung bedingt. Die hier genannten frühkindlichen Beeinträchtigungen der Hirnfunktion können auch als mögliche biologische Faktoren für die Verursachung anderer Verhaltensstörungen infrage kommen, weil sie eine Störung der Hirnfunktion oder zumindest deren Vulnerabilität bedingen. ▬ Genetische Einflüsse: Hierfür spricht die hohe Konkordanz des Syndroms bei eineiigen Zwillingen (ca. 40%) ebenso wie die Tatsache, dass
die Eltern von ADHS–Kindern, insbesondere deren Väter, ebenfalls gehäuft hyperaktiv waren bzw. noch sind, sowie die deutliche Knabenwendigkeit der Symptomatik. Allerdings ist bislang keine eindeutige Genlokalisation gelungen. Die bisherigen Befunde sprechen dafür, dass eine Vielzahl von Genen für das Auftreten einer ADHS verantwortlich ist. ▬ Allergische Reaktionen (neuroimmunologische Einflüsse) auf bestimmte Nahrungsmittel bzw. Nahrungsmittelzusätze (so z. B. salizylatreiche Nahrungsmittel, Zucker, Phosphate sowie fakultativ allergen wirkende Stoffe in Nahrungsmitteln). ▬ Nicht vergessen werden sollten – wie auch bei vielen anderen Störungen – die aggravierenden bzw. aufrechterhaltenden Einflüsse
von ungünstigen Faktoren aus der familiären, schulischen und gesellschaftlichen Umwelt der betreffenden Kinder.
▬ Kombinationen verschiedener Ursachen. Durch welche Methoden und anhand welcher Befunde können die neurobiologischen Grundlagen der ADHS bisher belegt werden? ▬ Neuroanatomische Faktoren: Hier finden sich z. B. Größenunterschiede in Teilen des frontalen Kortex zwischen ADHS-Kindern und anderen Kindern. Ebenso lassen sich mit Hilfe der Magnetresonanztomografie Abweichungen im Kleinhirn von ADHS-Kindern nachweisen. ▬ Faktoren aus der Neurophysiologie: ADHSKinder haben in 15-40% auffällige EEG-Befunde, die allerdings unspezifisch sind. Die funktionelle Magnetresonanztomografie (fMRT) kann bei ADHS-Kindern eine vermehrte frontale und verminderte striatale Aktivierung nachweisen (die sich z. B. unter der Gabe von geeigneten Medikamenten, z. B. Stimulanzien, erhöht). ▬ Faktoren aus der Neurochemie: Hier ist besonders die Neurotransmitter-Imbalance (Neurotransmitterungleichgewicht) zu nennen. Die Dopaminmangelhypothese besagt, dass der Dopaminstoffwechsel im frontostriatalen System verringert ist. Aber auch für Noradrenalin, Serotonin und Monoaminooxydase ließen sich Hinweise auf Veränderungen der Konzentration finden.
85 3.2 · Ursachen für ADHS
▬ Faktoren aus der Neuropsychologie: Neuropsychologische Modelle gehen von einem inhibitorischen Defizit (Hemmung von Impulsen) und seiner Bedeutung für Selbstregulation, Planung und Organisation von Verhaltensabläufen aus. Auf diese Weise können von den Kindern Impulse schlechter kontrolliert und beschleunigte Antwortprozesse schwerer unterbrochen werden. Die funktionelle Störung wird hierbei hauptsächlich im Bereich des Frontalhirns, im limbischen System und im Striatum lokalisiert. Für das erschwerte Erkennen sozialer Regeln, die mangelnde Ausdrucksfähigkeit eigener Gefühle und die eingeschränkte Raum-LageWahrnehmung werden Rechtshirnschädigungen verantwortlich gemacht. Für die Auffassung der ADHS als Inhibitionsstörung gibt es verschiedene Theorien, die weiter unten ausführlicher dargestellt werden. ▬ Faktoren aus der Neurotoxikologie: Hier spielen z. B. Intoxikationen durch Blei, Alkohol und Drogen eine Rolle. Mann kann also sagen, ADHS beruht auf einer Unterfunktion des Stirnhirns und der mit dem Stirnhirn verbundenen und zusammenarbeitenden Zentren. Ursache dafür sind ein Mangel bzw. eine Imbalance an Botenstoffen (Neurotransmitter: Dopamin, Noradrenalin, Serotonin und Acetylcholin). Bedeutung dieser Botenstoffe: ▬ Dopamin dient dem Antrieb und der Aktivierung, ▬ Noradrenalin reguliert die Aufmerksamkeit und das emotionale Gedächtnis, es ist wichtig für Angst- und Stressabbau, ▬ Serotonin ist wichtig für die Impulskontrolle, ein Mangel an Serotonin findet sich auch bei Depressionen und Zwangsstörungen und ▬ Acetylcholin ist wichtig für Gedächtnisleistungen. Vielfach wird heute die ADHS als Inhibitionsstörung aufgefasst, also als Störung der neuronalen Hemmprozesse. Hierfür gibt es verschiedene Theorien: In der Theorie von Gray (1982) und Quay (1997) wird die Inhibition als Konditionierungs-
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defizit gesehen. Hier werden zwei im Gegensatz arbeitende neuropsychologische Systeme postuliert, ein Behaviour-inhibition-System (BIS) und ein Behaviour-activation-System (BAS). Die Patienten mit ADHS weisen ein unteraktiviertes Behaviour-inhibition-System auf und können deshalb schlechter Reaktionen auf Konditionierungsreize hemmen, die mit Strafe oder fehlender Verstärkung assoziiert sind. Logan (1994) betrachtet ADHS als ineffizienten inhibitorischen Kontrollprozess. Sie wird von ihm definiert als eine von mehreren Kontrollfunktionen im exekutiven System, das die Informationsverarbeitung reguliert und Selbstkontrolle ermöglicht. Die schlechtere Inhibitionsleistung bei ADHS-Patienten könnte entweder auf einen sehr schnellen primären Reaktionsprozess oder einen verlangsamten Inhibitionsprozess zurückzuführen sein, wobei empirische Befunde letzteres eher zu bestätigen scheinen. Von Barkley (1997) wird postuliert, dass die Inhibition ein primäres Defizit ist. Es handelt sich hier um das elaborierteste Modell zur ADHS. Barkley nimmt an, dass ein Defizit in der Inhibition das primäre Defizit bei ADHS-Patienten darstellt, das wiederum zu sekundären Problemen in vier exekutiven Funktionen, nämlich dem Arbeitsgedächtnis, der Selbstregulation des affektiv-motivationalen Arousals, der Internalisierung von Sprache und der Rekonstruktion führt. Diese Funktionen wiederum sind für eine effektive Selbstregulation und adaptive Funktion notwendig. Die Theorie von Sonuga-Barke (1995) postuliert eine abweichende Inhibition, aber kein Inhibitionsdefizit. Die Delay-Aversions-Theorie geht davon aus, dass ADHS-Kinder sich von gesunden Kindern hinsichtlich ihrer kognitiv-motivationalen Einstellung unterscheiden. Demnach stellt das impulsive Verhalten der ADHS-Patienten einen situativen Versuch dar, den Aufschub von Belohnung zu vermeiden. In neueren Arbeiten modifizierten Sonuga-Barke, Saxton u. Hall (1998) die DelayAversions-Annahme dahingehend, dass sie diese auf ein Defizit in der zeitlichen Wahrnehmung und auf eine falsche Einschätzung von Zeitintervallen zurückführten. Schließlich ist nach den Vorstellungen von Sergeant (2000) die Inhibition als Dysfunktion
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Kapitel 3 · Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung
im Aktivierungsprozess zu werten. Das kognitivenergetische Modell, das v. a. von europäischen Forschergruppen favorisiert wird, basiert auf dem Modell von Sanders (1983). Dieses Modell nimmt energetische Mechanismen an, die elementare Operationen modulieren können. Schwankendere und weniger akkurate Reaktionen von ADHS-Patienten werden entsprechend dem Rahmen dieses Modells durch Defizite in den Anstrengungs- oder Aktivierungsmechanismen erklärt. Tannock (1998) hat diese z. T. recht divergenten Befunde versucht in einem integrativen Modell zusammenzufassen, das als Grundlage für die Entwicklung therapeutischer Strategien zum gegenwärtigen Zeitpunkt bedeutsam ist. Die Diagnose ADHS wird bei Vorliegen folgender Kriterien gestellt: ▬ mindestens 6-monatige Dauer des Syndroms mit Vorhandensein von mindestens 8 Einzelfaktoren des Gesamtbildes, ▬ Beginn vor Vollendung des 6. Lebensjahres, ▬ Nichtzutreffen der Kriterien für eine tiefgreifende Entwicklungsstörung.
3.3
Was bedeutet ADHS in verschiedenen Entwicklungsstadien?
Säuglingsalter Die motorische Unruhe der Kinder ist häufig schon im Mutterleib spürbar, d. h. Mütter, die mehrere Kinder haben, können an der erwähnten Unruhe der ADHS-Kinder diese schon während der Schwangerschaft oft sehr sicher von ihren anderen Kindern unterscheiden. Bereits im Säuglingsalter sind ungefähr 60% der später hyperkinetischen Kinder extrem unruhig und weisen Schlafstörungen und andere Regulationsstörungen auf, z. B. Koliken. Mitunter kommt es hier schon zu Entwicklungsverzögerungen bezüglich Sauberkeit oder Sprache. Die Kinder sind durch Außenreize jederzeit leicht störbar. Vorschulalter Im Vorschulalter zeigen die Kinder eine deutliche Bewegungsunruhe im Vergleich zu Gleichaltrigen,
dadurch begeben sie sich z. T. in starke Gefährdungen bezüglich Vergiftungen, Verletzungen und haben auch entsprechend häufig Unfälle. Sie sind deutlich erschwert lernfähig bei negativen Erfahrungen, d. h. wenn ein gesundes Kind eine Erfahrung ein-, zwei- oder dreimal macht, hat es in aller Regel daraus fürs Leben gelernt. Das ist bei ADHS-Kindern nicht der Fall. Sie brauchen immer wieder Bekräftigungen solcher Erfahrungen. Bei Frustrationen zeigen sie starke Wutausbrüche. Schulalter Im Schulalter dominiert weiterhin die motorische Unruhe, aber immer stärker wird hier auch die Konzentrationsstörung zum wesentlichen Parameter. Diese und die Impulsivität im Arbeitsstil hindern insgesamt die Kinder bei der Aufnahme und angemessenen Verarbeitung der angebotenen Förderreize. Das heißt, die schulischen Ergebnisse dieser Kinder bleiben meist deutlich unter den intellektuellen Möglichkeiten. Das erschwerte Lernen aus Erfahrungen zeigt sich zunehmend auch im Sozialbereich, d. h. die Kinder brauchen auch hier immer wieder Erfahrungen und machen dieselben Fehler leider immer wieder. Vermehrte pädagogische Bemühungen drängen diese Kinder immer mehr in eine Außenseiterrolle. Das Frustrationserleben wird verstärkt und verstärkt seinerseits wiederum die innere und auch äußere Unruhe. Schließlich kommt es zur Außenseiterrolle und Isolation der gesamten Familie mit sekundären Neurotisierungen. Adoleszenz Im Adoleszentenalter ist dann meist ein Rückgang der motorischen Unruhe zu verzeichnen, allerdings bleiben Konzentrationsstörungen und Impulsivität erhalten. Der Frust hat meist inzwischen aggressive Problembewältigungsmuster erzeugt, mitunter ergeben sich hier schon Übergänge in delinquente Verhaltensweisen. Die Jugendlichen sind weiterhin erhöht verletzbar im psychischen Bereich. Sie haben ein geringes Selbstwerterleben, die Schulleistungen bleiben nicht selten weit unter dem Intelligenzniveau. Es kommt zu häufigen Schulwechseln, keiner will sie als Schüler haben, die Folge sind Schulabbrüche und Schulverweigerungen. Die innere Unruhe wird jetzt von den Jugendlichen selbst
87 3.3 · Was bedeutet ADHS in verschiedenen Entwicklungsstadien?
im Gegensatz zu ihrer Umgebung als eher belastend erlebt. Auseinandersetzungen mit Gleichaltrigen und Erwachsenen mit gehäuft stattfindenden Unfällen sind an der Tagesordnung. Erwachsenenalter Im Erwachsenenalter schließlich zeigt sich bei 70-75% der ehemals hyperkinetischen Kinder die Problematik Konzentrationsprobleme, Impulsivität und Überaktivität, wobei die motorische Überaktivität meist nicht mehr so stark in Erscheinung tritt. Diesbezüglich haben sich die meisten Patienten im Erwachsenenalter dann ganz gut »im Griff«. Weiterhin besteht allerdings eine erhöhte Gefährdung bezüglich anderer psychiatrischer Symptomatik, so z. B. Angstsyndrome, Suchtproblematik (Alkohol, Drogen), Depressionen. Weiter besteht auch eine erhöhte Unfallgefahr, ferner zeigt sich ein niedrigeres Selbstbewusstsein und häufigere delinquente Handlungen kommen vor. Risikofaktoren Als Risikofaktoren für eine besonders ausgeprägte Symptomatik sowie einen chronifizierenden Verlauf der ADHS gelten Faktoren des Kindes selbst, z. B. niedrige Intelligenz, frühe und schwerwiegende oppositionell-aggressive Verhaltensstörungen, aber auch soziale Faktoren wie familiäre Instabilität, ungünstiger Erziehungsstil, Beziehungsstörungen innerhalb und außerhalb der Familie, niedriger sozioökonomischer Status, psychische Störungen der Eltern. Die nachfolgende Übersicht zeigt, welche Störungen häufig mit ADHS assoziiert sind: ▬ Depressionen (20-44% häufiger in Verbindung mit ADHS), ▬ Teilleistungsstörungen, Rechtschreibschwäche (50% häufiger bei ADHS), ▬ Angststörungen (20-50% häufiger bei ADHS), ▬ Tic- und Tourette-Syndrom (10–30% häufiger bei ADHS), ▬ Zwangsstörungen (20–50% häufiger mit ADHS), ▬ Einnässen (25% häufiger mit ADHS), aber auch ▬ Störungen der Sprach- und Feinmotorik, Schlafstörungen, Essstörungen, posttraumatische Belastungsstörungen, Abhängigkeitserkrankungen, Störungen im Sozialverhalten.
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Die Leitlinie der 3 Fachgesellschaften für Kinderund Jugendpsychiatrie/Psychotherapie zur ADHS weist darauf hin, dass die häufigsten psychiatrischen Komorbiditäten die Störung des Sozialverhaltens und umschriebene Entwicklungsstörungen sind, wobei emotionale Störungen am häufigsten übersehen werden. Was wir bisher dargestellt haben, waren die negativen Symptome des Bildes. Allerdings haben diese Kinder und Jugendlichen und häufig auch diese Erwachsenen durchaus auch positive Eigenschaften, so z. B. ihre Kreativität, ihr auffallendes Wissen auf Einzelgebieten, ihre große Hilfsbereitschaft, ihre Risikofreudigkeit und ihr ausgeprägter Gerechtigkeitssinn, ihre Begeisterungsfähigkeit für Neues und ihre häufig guten Erfolge in sportlichen Disziplinen. Dies macht sie im Lernverhalten neben allen negativen Faktoren, die bereits genannt wurden, immer auch bereit und fähig, neue und kreative Lösungswege zu finden. Erwachsene sind mitunter erstaunt, welche Fähigkeiten die ADHSKinder darin entwickeln. Allerdings haben sie Schwierigkeiten mit der Handlungsplanung, mit der Überprüfung des Handlungsergebnisses und mit dem regelmäßigen Üben bestimmter Sachverhalte. Bis ins Erwachsenenalter erhalten bleibt trotz besserer Steuerung der motorischen Unruhe häufig die emotionale und verbale Impulsivität, die allerdings auch in positive Bahnen gelenkt werden kann. Es muss eine differentialdiagnostische Abgrenzung der ADHS gegenüber einem altersunangemessenen Aktivitätsniveau erfolgen, wie es sich bei anderen Störungen findet. Dies gilt z. B. bei Psychosen oder Thyreotoxikose oder im Rahmen anderer schwerer Erkrankungen, tritt aber auch in einem schlecht organisierten, belasteten häuslichen Milieu auf. Während der leichten ADHS im pädagogischen Alltag durch konsequente, strukturierte Unterrichtsführung und –gestaltung (nicht ein pädagogisches »Mehr«, sondern ein pädagogisches »Anders«) noch relativ gut begegnet werden kann, besonders wenn das häusliche Milieu auch in diesem Sinne gestaltet wird, ist der ausgeprägten ADHS nur durch gemeinsame Bemühungen von Eltern, Lehrern, Psychologen und Medizinern zu begegnen.
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88
Kapitel 3 · Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung
3.4
Diagnostik bei ADHS
In diesem Abschnitt bringen wir zunächst eine Übersicht möglicher diagnostischer Maßnahmen bei ADHS. Diese Methoden gehören auch zum diagnostischen Instrumentarium bei Störungen des Sozialverhaltens. In diesem Zusammenhang gehen wir noch eingehender auf einzelne diagnostische Verfahren ein. Nach den Leitlinien wird folgendes Procedere vorgeschlagen (die im Folgenden dargestellten diagnostischen Untersuchungsschritte sind als obligat anzusehen, während die erwähnten psychodiagnostischen Verfahren als in der Praxis häufig angewendete Methoden zur Diagnostik bei ADHS zu werten sind): 1. Exploration des Umfeldes: Hierunter verstehen wir eine subtile Befragung des familiären und des institutionellen Umfeldes (Kindergarten, Schule, Freizeitgruppe); 2. Exploration des Kindes oder Jugendlichen, 3. Exploration des bisherigen Verlaufes, 4. Standardisierte Fragebögen: – 4.1. Symptomfragebögen für Patienten, Eltern, Lehrer und Erzieher, z. B. Conners-Skalen (Lehrer-Eltern-Fragebogen in Lang- und Kurzform), Fragebogen zum Hyperkinetischen Syndrom von Klein, Fragebogen von Steinhausen, – 4.2. umfassende Elternfragebögen der Child Behaviour Checklist (CBCL 4–18 Jahre, CBCL eineinhalb bis 5 Jahre), – 4.3. Elternfragebogen über Problemsituationen in der Familie (HSQD), – 4.4. Persönlichkeitsfragebogen für Kinder (PFK 9–14 Jahre), – 4.5. Depressionsinventar für Kinder und Jugendliche (DIKJ) bzw. Depressionstest für Kinder (DTK), – 4.6. Kinder-Angst-Test (KAT-II), Angstfragebogen für Schüler (AFS), 5. Leistungsdiagnostik: – 5.1. Intelligenz-, Entwicklungs- und Teilleistungsstörungsdiagnostik (HAWIK, HAWIVA, Kaufmann-ABC, CFT 1 und CFT 2, Kramer-Test, Raven), – 5.2. Diagnostik von Aufmerksamkeitsfunktionen, neuropsychologische Diagnostik:
– 5.2.1. Continuous-Performance-Test (CPT), – 5.2.2. Problemlöseaufgaben (spezifischere exekutive Funktionen), – 5.2.3. Dortmunder Aufmerksamkeitstest (DAT), – 5.2.4. Selbstregulations- und Konzentrationstest für Kinder (SRKT-K), – 5.2.5. Papier-Bleistift-Tests (D2, DL-KE, ZVT), – 5.2.6. Sortiertests (KVT, KHV, KHV-VK), 6. körperliche und neurologische Untersuchung: Hier ist wiederum darauf zu verweisen, dass sowohl die körperliche als auch die neurologische Untersuchung sich am Entwicklungsstand des Kindes bzw. des Jugendlichen orientieren müssen. In Kap. 4 gehen wir auf die Mehrzahl dieser Verfahren detaillierter ein.
Fallbeispiel Christian Bei der Vorstellung in der kinderpsychologischen Sprechstunde war Christian 6;5 Jahre alt. Als Grund für die Vorstellung nannte die Mutter die seit Jahren bestehende hochgradige Unruhe, Sprunghaftigkeit und Zerstreutheit des Jungen. Sie befürchtete dadurch negative Auswirkungen auf den kommenden Schulbesuch. Auch vermutete sie, dass der Junge an einem Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom leide, »von dem man ja jetzt soviel hört«. Christian, so die Kindesmutter, sei immer in Bewegung und könne nicht still sitzen. Er fange immer etwas an, ohne es richtig zu Ende zu bringen. Er baue beispielsweise an einem Kran und beginne parallel dazu, an einem Auto zu basteln. Wenn sie ihn frage, warum er den Kran nicht erst fertig baue, schaue er so, als wüsste er nicht, wovon die Mutter rede. »Es ist einfach nicht mehr in seinem Kopf.« Während des Berichtes der Mutter läuft Christian im Sprechzimmer hin und her und schaut auch mal in ein Regal oder einen Schrank. Er ist dabei freundlich und interessiert. ▼
89 3.5 · Schwerpunkte therapeutischer Möglichkeiten
Der Untersucher versucht ihn durch ein Bilderbuch zu fixieren, was aber nur kurzzeitig gelingt. Die Mutter berichtet weiter, dass Christian ein Wunschkind sei. Die Schwangerschaft sei problemlos verlaufen. Die Geburt begann termingerecht, wurde aber durch Wehenschwäche unterbrochen und kam auch durch einen Wehentropf nicht mehr richtig in Gang. Aus diesem Grunde wurde der Junge nach 18 Stunden per Zange entbunden. Die Haut des Jungen war zyanotisch verfärbt. Arzt und Hebamme bemühten sich, den Jungen zum Atmen zu bringen. Der 5-Minuten-Apgar betrug 7 und normalisierte sich auf 9 nach einer Stunde. In den folgenden Jahren fiel der Mutter immer wieder eine Diskrepanz zwischen motorischer und sprachlicher Entwicklung auf. »Christian sprach, bevor er laufen konnte.« Der Beginn des freien Laufens lag bei 18 Monaten. Auch heute noch erkläre er alles, habe aber »zwei linke Hände«, so dass bei aller guten Absicht viel Malheur passiere. Im Kramer-Test (BSK) arbeitet er bereitwillig mit und löst alle Aufgaben der Altersgruppe VI und VII, wobei er immer sehr energisch auf die jeweilige Instruktion hingewiesen werden muss (IQ=110). Seine feinmotorischen Leistungen repräsentieren gut die Form, die gestalterische Umsetzung lässt dagegen einiges zu wünschen übrig. Auch die Aufgabenstellung zum KHV-VK wird sofort verstanden. Er wiederholt die Instruktion und setzt dieses Vorgehen auch selbstständig noch einige Zeit fort. Solange Christian diesen Arbeitsstil beibehält, arbeitet er fehlerfrei. Nach Absetzen dieser Selbstkontrolle erhöht er deutlich sein Arbeitstempo und macht die typischen Streuungsfehler, die sich gegen Ende sogar massieren. Er arbeitet schnell, aber mit erhöhter Fehlerzahl. Es handelt sich hier, wie diese und weitere Untersuchungsergebnisse zeigten, um eine Konzentrationsstörung im Rahmen eines AufmerksamkeitsdefizitHyperaktivitäts-Syndroms auf der Grundlage einer minimalen zerebralen Dysfunktion. ▼
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Der Mutter wurde u. a. geraten, Christian an einer psychotherapeutischen Betreuung (Konzentrationstraining) zur Verbesserung des reflexiven Arbeitsstils und an einer ergotherapeutischen Betreuung zur Veränderung seiner fein- und grobmotorischen Probleme teilnehmen zu lassen. Beide Maßnahmen wurden vor Schulbeginn erfolgreich beendet.
3.5
Schwerpunkte therapeutischer Möglichkeiten
Bei der ADHS spielt die Erziehung eine geradezu therapeutische Rolle, doch Erziehung allein reicht häufig nicht aus, um das Problem zu beheben. Der Erziehung kommt insofern eine herausragende Bedeutung zu, als die zu erziehenden Kinder häufig eine genetisch bzw. somatisch verursachte Störung aufweisen, der es mit einer besonderen erzieherischen Konsequenz und vielfältigen pädagogischstrukturierenden Maßnahmen zu begegnen gilt, die also einen erhöhten pädagogischen Aufwand erfordert. Dies gilt sowohl für die Erziehung im Elternhaus (Ettrich u. Murphy-Witt 2003) als auch in der Schule. Allerdings ist dieser Aufwand auch für alle anderen Kinder der Familie oder der Schulklasse von Nutzen. Für den pädagogischen Alltag sind besonders folgende Gesichtspunkte wesentlich: Lehrer sollten insofern über das Störungsbild ADHS aufgeklärt werden, als das Verhalten der Kinder das Resultat ihrer Anlagen und ihrer Umwelt und ihrer Entwicklung ist und nicht primär aus der Ablehnung des Lehrers resultiert. Sie sollten verinnerlichen, dass es nicht um ein pädagogisches »Mehr«, sondern um ein pädagogisches »Anders« geht. Die Kompetenz des Lehrers sollte erhöht werden, indem der Lehrplan nicht als Dogma zu sehen ist, sondern als Richtschnur. Sie sollten Stundenablauf und Pausenzeiten variabel gestalten können. Die Lehrer sollten zu detaillierten Verhaltensbeobachtungen und deren Protokollierung angehalten werden, und zwar sowohl positiver als auch negativer Verhaltensweisen. Dem Schüler sollte
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Kapitel 3 · Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung
möglichst eine stabile schulische Entwicklung gewährt werden mit möglichst geringer Anzahl von Schulwechseln. Lehrer können an Konfliktbewältigungstrainings nach Analyse von Konfliktsituationen teilnehmen und davon profitieren. Sie sollten als Co-Therapeuten z. B. beim Training von Reflexivität anstelle von Impulsivität tätig werden. Sie sollten befähigt werden, sich an den positiven Seiten und den Fähigkeiten statt an den Mängeln des betreffenden Schülern zu orientieren. Sie sollten zu allererst die gesunde und möglichst störungsarme Entwicklung des Schülers im Auge haben. Der Lehrer sollte den Schüler nicht als seinen Feind erleben, der ihm das Leben bzw. den Unterricht erschwert, sondern daran denken, dass der Schüler eine Störung hat und sich also nicht absichtlich unangepasst verhält. Er sollte versuchen, Machtkämpfe zu umgehen und den Schüler stattdessen als pädagogische Herausforderung anzunehmen und zu ihm eine tragfähige Beziehung herzustellen. Er sollte es einem ADHS-Kind ermöglichen, in kleinen Abschnitten zu lernen und regelmäßig zu wiederholen. Dabei muss das Wiederholen von besonderen Anreizen begleitet sein, da das ADHS-Kind sehr ungern etwas wiederholt. Der Lehrer sollte mit den Eltern zusammenarbeiten. Vereinbarungen sollten ebenso wie im Elternhaus rechtzeitig getroffen werden. Die gesetzten Ziele sollten realistisch sein, damit das ADHS-Kind Erfolge haben kann. Ganz häufig erleben wir in der Praxis noch, dass gerade ADHS-Kinder in den hinteren Bankreihen sitzen, was für sie mit Sicherheit nicht zur Erhöhung der Konzentrationsfähigkeit beiträgt. Das Kind sollte in der Nähe des Lehrertisches sitzen und möglichst allein an einem Tisch. Es ist dem Geschick des Lehrers überlassen, wie er der Klasse dieses Alleinsitzen so erklärt, dass das betreffende Kind sich nicht diskriminiert, sondern eher privilegiert fühlt. Gute Lehrer können das. Überhaupt ist die Grundlage eines gelingenden Unterrichts gegenseitige Wertschätzung von Schüler und Lehrer, wobei der Lehrer als der Erwachsene damit beginnen sollte, aber darauf vertrauen kann, dass das Kind zunächst einmal in aller Regel ihm positiv wertschätzend entgegenkommt. Der Stundenablauf muss für ADHS-Kinder nicht besonders »prickelnd« sein und den letzten »Kick« aufweisen. Er sollte einem guten, kontinuierlichen Ablauf fol-
gen, so dass das Kind lernt, sich auf diese äußere Struktur einzustellen und sie als verlässlich erlebt. Auch während des Unterrichts sind Verstärkerpläne sehr wichtig, um bestimmte Verhaltensweisen zu honorieren und damit nachhaltig und schnell zu verbessern. Die Kreativität des ADHS-Kindes ist häufig im Unterricht recht gut zu gebrauchen, wenn der Lehrer souverän damit umgehen kann. Der Lehrer sollte sich nicht scheuen, auch im Spiel bestimmte Verhaltensweisen erlernen und festigen zu lassen, denn das Kind lernt immer. Aber, und das sei an dieser Stelle nochmals betont: ! Ebenso, wie es im Kindes- und Jugendalter keine Behandlung ohne Erziehung gibt, ist auch eine Erziehung ohne Beziehung schwierig und zum Scheitern verurteilt.
Ein wichtiges und gerade von Eltern mit ADHSKindern gern wahrgenommenes niedrigschwelliges Angebot sind Selbsthilfegruppen, die sich inzwischen fast flächendeckend über die Bundesrepublik verbreitet haben. Hier können sich Eltern verstanden erleben, da sie merken, dass sie mit ihrem Problem nicht allein sind, und sie können sich von anderen Betroffenen oder eingeladenen Fachleuten Rat und Hilfe holen. Als die 3 tragenden Säulen der ADHS-Therapie im engeren Sinne gelten derzeit: ▬ die Elternberatung, ▬ die Verhaltenstherapie und ▬ die Pharmakotherapie. Die Beratung des Betroffenen und seiner Bezugspersonen ist unerlässlich, um eine psychoedukative Beeinflussung des Verhaltens und der sozialen Umwelt zu erreichen. Hinzu kommen spezifische Elternhilfen, wie z. B. die von Neuhaus (1999, 2000), von Ettrich und Murphy-Witt (2004, 2005, 2006) und von Ettrich (2005). Es sollten klare Strukturen mit eindeutiger Rollenverteilung existieren bzw. geschaffen werden. Der Tagesablauf soll strukturiert werden und Verhaltensrituale sind als wichtige Struktureinheiten zu sehen. Es sollte eine sensible Verhaltensbeobachtung und Protokollierung positiver und negativer Seiten des Kindes erfolgen. Formen des Elterntrainings und Familien-, evtl. auch Paarthe-
91 3.5 · Schwerpunkte therapeutischer Möglichkeiten
rapie, können indiziert sein. Die Eltern sollten befähigt werden, als Co-Therapeuten zu fungieren. Zur Wahrnehmungsschulung sollte das betreffende Kind stärker in den Familienalltag einbezogen werden, z. B. im Haushalt oder bei handwerklichen Tätigkeiten helfen. Bei der Verhaltenstherapie werden sowohl allgemeine Techniken der Verhaltensmodifikation eingesetzt als auch spezifische Verfahren bis hin zu speziellen Interventionsprogrammen angewendet (Ettrich 1998, 2002; Ettrich u. Ettrich 1999; Lauth u. Schlottke 1999; Döpfner, Schürmann u. Frölich 2002). Die pharmakotherapeutische Behandlung von Kindern und Jugendlichen hat in den vergangenen Jahren auch in Deutschland erheblich zugenommen. Die in der ADHS-Therapie am häufigsten eingesetzten Präparate gehören zur Gruppe der Stimulanzien (Methylphenidat: Ritalin, Medikinet, Equasym, Concerta). Wie wirkt diese Substanz? Methylphenidat wirkt akut (Sofortwirkung) und auch auf Dauer in der Behandlung von ADHS auf die Kardinalsymptome in folgender Weise ein: ▬ die übermäßige motorische Unruhe wird reduziert, ▬ die Impulsivität wird vermindert, ▬ die Aufmerksamkeit wird verbessert. Zusätzlich erhöht Methylphenidat den Wachheitsgrad und verbessert auch das Sozialverhalten beim Kind mit Störung des Sozialverhaltens. Beim einzelnen Kind können sich Handschrift und schulisches Notenbild deutlich verbessern. Flüchtigkeitsfehler können sich reduzieren. Nicht wenige Kinder mit ADHS werden unter Methylphenidat emotional ausgeglichener. Das oppositionell-aggressive Verhalten wird schwächer, seltener und kürzer in der Dauer und die sozialen Beziehungen können sich entscheidend verbessern. Die erwünschte Wirkung wird dauerhaft bei ca. 70% der Patienten mit ADHS erreicht (Schulte-Markwort u. Zinke 2005). Wechselwirkungen von Methylphenidat mit anderen Medikamenten (Rosenberg et al. 1994): ▬ Hemmung der Verstoffwechslung von: – Antikonvulsiva, – trizyklischen Antidepressiva, – Antikoakulanzien,
3
▬ Symptome der Wechselwirkung mit Imipramin: – Verwirrtheit und Agitiertheit, – Stimmungslabilität, – Gereiztheit und Aggressivität, – psychotische Symptome, ▬ Verstärkung von allen Sympathikomimetika, ▬ Verminderung der blutdrucksenkenden Wirkung von Guanethidin. Die medikamentöse Therapie bildet häufig die Grundlage, auf der ein Einsatz verhaltenstherapeutischer Interventionen erst möglich ist. Studien, u. a. auch eine eigene (Ettrich 1998), fanden heraus, dass die gleichzeitige Applikation von Verhaltenstherapie und Medikament deutlich bessere Therapieerfolge erbrachte. Das bedeutet, die Kinder können von Therapieprogrammen, wie sie im Therapieteil dargestellt werden, am besten profitieren, wenn sie medikamentös auf eine längere Aufmerksamkeitsspanne eingestellt sind. Gleichzeitig ist bekannt, dass ohne therapeutische Gesamtstrategie, die auch verhaltenstherapeutische Elemente beinhaltet, bei Absetzen des Medikamentes ein Rückfall in den vorbestehenden Zustand erfolgt. Das Mittel der Wahl für viele ADHS-Patienten ist also die kombinierte Applikation von Stimulanzien und Verhaltenstherapie. Wichtig ist eine einfühlsame, in das Gesamttherapiekonzept eingebettete medikamentöse Vorgehensweise. So können mögliche Nebenwirkungen, die in den Medien in den vergangenen Jahren viel Aufsehen erregten, so gering wie möglich gehalten werden. Seit 2005 wird auch ein hochselektiver Noradrenalinwiederaufnahmehemmer, das Strattera, mit dem Wirkstoff Atomoxetin verstärkt eingesetzt. In Studien wurde eine mit dem Methylphenidat vergleichbare Wirkung auf Aufmerksamkeit, Impulsivität und Hyperaktivität gezeigt. Das Medikament wird bei Patienten eingesetzt, die mit Methylphenidat in welcher Form auch immer nur geringe Wirkungen erzielten bzw. bei denen zu viele Nebenwirkungen auftraten. Bei Kindern mit Tic-Störungen wird sogar der primäre Einsatz von Strattera empfohlen, da unter Methylphenidat mitunter Tics verschlimmert oder ausgelöst werden können. Das Medikament wirkt über den ganzen Tag, so dass seine Verfügbarkeit länger als beim längst wirkenden Methylphenidat einzuschätzen ist.
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Kapitel 3 · Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung
Andere Medikamente wie Antidepressiva und Neuroleptika spielen beim ADHS eine eher untergeordnete Rolle. Ein anhaltender Effekt homöopathischer Präparate ist bisher nicht nachgewiesen.
3
! Bei der Indikationsstellung für eine medikamentöse Behandlung ist immer daran zu denken, dass die Nebenwirkungen eines richtig eingesetzten Medikamentes deutlich geringer sind als die Auswirkungen für das Kind, wenn man ihm das Medikament vorenthält.
Die Kombination von Pharmakotherapie und Verhaltenstherapie ist der alleinigen Therapie mit Medikamenten oder verhaltenstherapeutischen Interventionen überlegen, wie in mehreren Studien nachgewiesen werden konnte. Die drei wesentlichen therapeutischen Interventionsmöglichkeiten sind zweckmäßigerweise individuell zu ergänzen durch eine oder mehrere der nachfolgend aufgeführten Therapien, für die zum Teil der klinische Effektivitätsnachweis noch fehlt: ▬ Entspannungsverfahren (autogenes Training, progressive Muskelrelaxation, konzentrative Entspannung), ▬ Familientherapie, ▬ Elterntraining, ▬ Spieltherapie, ▬ Ergotherapie, ▬ Physiotherapie und ▬ sensorische Integration (vgl. Ettrich 2001b, 2002b). Doch eine Therapie durch Fachleute allein reicht nicht aus. Wirklich erfolgreich ist eine solche Behandlung nur, wenn auch die Eltern ihr Kind fördern, und zwar spielerisch und am besten ganz nebenbei. Sie können dadurch zwar die neurobiologischen Ursachen der Erkrankung nicht verändern, sie können aber viel dazu beitragen, die ADHS-Symptome zu mildern. So gelingt es ihrem Kind besser, trotz seiner Probleme sein Leben zu meistern, denn unser Gehirn wird durch Erziehung und spielerische Förderung geformt und kann noch bis ins hohe Alter hinein lernen (Ettrich u. Murphy-Witt 2004). Anschließend sollen noch ein paar fehlerhafte Einschätzungen für die ADHS in Gegenüberstel-
lung zu zutreffenden Einschätzungen aufgezeigt werden (⊡ Tab. 3.1). Schauen wir uns abschließend an, wie erfolgreich ADHS-Therapie sein kann: Ohne Therapie: ▬ Wir finden ca. 25% unauffällige Verläufe. ▬ Bei ca. 30% stellen sich weitere psychische Störungen ein. ▬ Etwa 25% gleiten in den Drogenkonsum ab und etwa 20% in die Delinquenz. Mit Therapie:
▬ Es ergeben sich ca. 60% unauffällige Verläufe. ▬ Bei ca. 20% etablieren sich weitere psychische Störungen. ▬ Etwa 10% gleiten in den Drogenkonsum und etwa 10% in die Delinquenz ab. Diese Zahlen zeigen, dass zwar nicht alle Patienten mit dieser Symptomatik geheilt werden können, dass durch die Therapie aber wesentliche Verbesserungen erzielt werden. Dies ist sowohl individuell als auch gesellschaftlich und ökonomisch von großer Bedeutung.
93 3.5 · Schwerpunkte therapeutischer Möglichkeiten
⊡ Tab. 3.1. Gegenüberstellung von fehlerhaften und zutreffenden Einschätzungen zu Diagnostik und Therapie der ADHS (mod. nach Lehmkuhl et al. 2004) Fehleinschätzung
Zutreffend
ADHS ist eine klar abgrenzbare psychische Störung
ADHS zeigt sich in unterschiedlichen Subtypen.
Die Diagnose kann der Arzt bzw. Psychologe alleine durch eine Untersuchung des Kindes stellen.
Informationen der Eltern sind ebenfalls für die Diagnosefindung von Bedeutung
ADHS wird vor allem durch ungünstige Familienbedingungen oder Nahrungsmittelunverträglichkeiten ausgelöst.
Genetische Faktoren spielen die größte Rolle. Familiäre bzw. schulische Bedingungen können zur Aufrechterhaltung beitragen.
Kinder mit ADHS müssen eine Sonder- bzw. Förderschule besuchen.
In der Mehrzahl der Fälle kann die Regelschule weiter besucht werden, wenn die Kinder ambulant behandelt werden.
Kinder mit ADHS brauchen einen großen pädagogischen Freiraum.
ADHS-Kinder benötigen einen strukturierten Tagesablauf, der auch Wechsel in der Betreuung und im Tätigkeitsablauf einschließt.
Eine psychologische Therapie ist immer besser als eine Pharmakotherapie.
Bei stark auffälligen Kindern ist eine gleichzeitige Behandlung mit Psychopharmaka und Verhaltenstherapie unerlässlich und hocheffektiv.
Pharmakotherapie ist prinzipiell notwendig.
Bei vielen Kindern ist eine medikamentöse Therapie nicht unbedingt notwendig. Es gibt aber Kinder, die durch andere Maßnahmen nicht hinreichend profitieren, so dass multimodale Behandlungsansätze unter Einbezug von Pharmakotherapie angewandt werden müssen.
Pharmakotherapie ist allein Sache des Arztes.
Informationen der Eltern und Lehrer sind notwendig, um eine optimale medikamentöse Einstellung des Kindes zu gewährleisten. Um die richtige Dosierung zu finden, ist eine Verlaufsbeurteilung sowie genaue Titration notwendig.
Eine psychologische Therapie des Kindes kann Probleme in der Schule lösen.
Um Probleme in der Schule zu verbessern, müssen auch in der Schule Interventionen durchgeführt werden.
Interventionen in der Schule sind nicht durchführbar.
Die Erfahrungen zeigen, dass schulische Interventionen mit den Lehrern abgesprochen werden sollten. Häufig helfen schon einfache Maßnahmen (z. B. Tagesrückmeldungen), allerdings müssen in der Schule auch entsprechende Ressourcen zur Verfügung gestellt werden.
3
4
Diagnostik von Verhaltensauffälligkeiten und assoziierten Störungen: pädagogisch – psychologisch – medizinisch
4.1
Pädagogische Diagnostik
4.1.1 4.1.2 4.1.3
Standardisierte Verhaltensbeurteilung durch Lehrer – 100 Problembewältigungsmuster der Kinder und Jugendlichen – 101 Verhaltensbeurteilung durch die Eltern – 110
– 98
4.2
Psychologische und medizinische Diagnostik – 111
4.2.1 4.2.2 4.2.3 4.2.4 4.2.5 4.2.6 4.2.7
Allgemeines – 111 Erfassung der Symptomatik – 112 Entwicklungsgeschichte – 114 Ermittlung kognitiver Voraussetzungen – 115 Persönlichkeitsdiagnostik – 121 Beurteilung sozialer Fähigkeiten – 126 Auswertung von Berichten zum aktuellen Verhalten des Kindes oder Jugendlichen – 132 Körperliche und entwicklungsneurologische Untersuchung
4.2.8
– 134
96
4
Kapitel 4 · Diagnostik von Verhaltensauffälligkeiten und assoziierten Störungen
Entsprechend dem interdisziplinären Anliegen unseres Buches gehen wir in diesem Kapitel explizit auf die pädagogische, die psychologische und die medizinische Diagnostik ein. Wir stellen dabei ausgewählte, in der Praxis häufig und erfolgreich eingesetzte Verfahren etwas ausführlicher dar. Auf diese Weise bekommt der Leser einen Überblick über standardisierte diagnostische Verfahren, die dem Laien helfen, das diagnostische Prozedere zu verstehen und dem Fachmann die Auswahl aus einer Vielzahl diagnostischer Möglichkeiten erleichtern soll. Die Auswahl erhebt nicht den Anspruch auf Vollständigkeit, spiegelt aber die derzeitige Praxis bundesweit eingesetzter Verfahren wider. Inzwischen gibt es eine ganze Reihe z. T. störungsspezifischer Verfahrensneuentwicklungen, die jedoch ihren Wert für die pädagogische, psychologische und medizinische Praxis in den kommenden Jahren erst beweisen müssen und die demzufolge hier noch keinen Eingang finden. Eingebettet in dieses Kapitel sind Interviews mit den Schülern zu Themen der Schule, der Freizeit und der Familie, die diagnostisch genutzt werden, um Daseinstechniken und Alltagsbewältigungen sowie Formen der Auseinandersetzung mit der Umwelt zu erschließen.
Fallbeispiel Robin, Teil 4 Wir hatten unter Kap. 2.3 (gestörtes Sozialverhalten) über Robins weiteren Weg nach Rückkehr aus dem Ausland gehört. Wir wissen, dass er zurzeit bei den Großeltern erzogen wird und dass aufgrund seiner Verhaltensstörung eine Umschulung in die Schule für Erziehungshilfe (E-Schule) ansteht. Robin empfindet diese Umschulung als sozialen Abstieg, den er keinesfalls tolerieren und akzeptieren will. Sein Frust wird immer größer. Seine Eingliederung in der Schule für Erziehungshilfe gelingt nicht. Er beginnt schon nach wenigen Wochen dort wieder mit dem Schulschwänzen, bekommt Direktorenverweise, sein Verhalten wird immer auffälliger, immer ist er bei denen, die aggressiv und bis hin zu delinquenten Handlungen in ihrem Verhalten ausufernd sind. ▼
Die Großeltern wissen sich keinen Rat mehr und kommen mit den Lehrern der Schule für Erziehungshilfe überein, hier eine klinische Diagnostik und initiale Therapiephase einzuschalten. Die bei Robin eingesetzten diagnostischen Verfahren zeigen folgende Ergebnisse: ▬ Robin ist ein körperlich knapp altersgerecht entwickelter 11-jähriger Schüler, der durch seine mangelnde Mimik und seine muskuläre Schlaffheit auffällt. Im klinischen Status findet sich außer einem leichten Rundrücken und angedeuteten Knick-Senk-SpreizFüßen kein krankhafter Befund. ▬ Der neurologische (entwicklungsneurologische) Befund weist soft signs in mehreren Untersuchungsgebieten auf, so z. B. auf der Ebene der Auge-Hand-Koordination, der Feinmotorik und der Mit- und Ausgleichsbewegungen. Pathologische Reflexmuster und Seitendifferenzen finden sich nicht. ▬ Das Hirnstrombild zeigt eine leichte subkortikale Funktionsstörung bei altersgerechter Entwicklung der allgemeinen bioelektrischen Hirnaktivität, es ist jedoch frei von »harten« klinischen Zeichen wie Spitzenpotenzialen, Herdbefunden oder Allgemeinveränderungen. ▬ CT und MRT sind unauffällig. Laborbefunde liegen sämtlich im Normbereich. Zu den psychologischen Untersuchungen ist Folgendes zu sagen: ▬ In der Leistungsdiagnostik schneidet Robin gut durchschnittlich ab. Er erreicht im Hamburg-Wechsler-Intelligenztest für Kinder III (HAWIK-III-R) einen Gesamt-IQ von 112, wobei die hohe Diskrepanz zwischen Verbalund Handlungsteil auffällt, was im Sinne der leichten Hirnfunktionsstörung erwartungsgemäß ist. Das heißt, mit diesem Intelligenzquotienten könnte er durchaus die Anforderungen des Gymnasiums bewältigen. ▬ Die konzentrativen Fähigkeiten sind im Kurzzeitverfahren d2 unauffällig, während sich im Konzentrationsverlaufstest (KVT) ▼
97 Kapitel 4 · Diagnostik von Verhaltensauffälligkeiten und assoziierten Störungen
eine Minderung der konzentrativen Leistungsfähigkeit findet. Dieser Konzentrationsmangel ist aber nicht so gravierend, dass Robins schulische Leistungsfähigkeit dadurch wesentlich beeinträchtigt würde. ▬ In der Persönlichkeitsdiagnostik, durchgeführt mit dem Persönlichkeitsfragebogen für Kinder (PFK) und dem Youth Self-Report (YSR) aus der Child Behavior Checklist (CBCL), finden sich bei Robin deutliche Hinweise auf eine depressive Störung sowie auf eine emotionale Labilität. Die Skala »Angst bzw. Depressivität« des YSR liegt im klinischen Bereich. Deshalb wird diesen Merkmalen noch einmal detailliert bei ihm nachgegangen mit dem Angstfragebogen für Schüler (AFS) und dem Schulangsttest (SAT), wobei Robin in beiden Verfahren überdurchschnittlich hohe Werte, also klinisch auffällige Werte, zeigt. Im Depressionsinventar für Kinder und Jugendliche (DIKJ) finden sich ebenfalls hohe Werte für Depressivität. ▬ Im YSR hatten sich aber gleichzeitig die externalisierenden Störungen als deutlich erhöht erwiesen, so dass wir auch dem im diagnostischen Prozedere nachgingen und den SET, den sozialen Einstellungstest, einsetzten. Hier zeigt Robin einen deutlichen Mangel an sozialer Reife, wobei er aufgrund seiner guten intellektuellen Fähigkeiten jedoch versucht, die Fragen im Sinne der sozialen Erwünschtheit zu beantworten. Mit anderen Worten, er macht sich besser, als er ist. ▬ Im Interview nach den Thomaeschen Kategorien fällt bei Robin v. a. eine geringe Leistungshaltung auf, eine »Null-Bock-Haltung« überhaupt, und zwar nicht nur im schulischen, sondern auch im familiären und im Freizeitbereich, ein evasives Verhalten. Er geht Anforderungen gern aus dem Weg, so wie das bei diesen Kindern und Jugendlichen meistens ist, ohne damit befreit und glücklich zu sein, sondern er bleibt depressiv. ▼
4
Die Befragung der Großeltern ergibt das eingangs bereits Genannte zum Verlauf von Robins Entwicklung. Die Befragung der Lehrer mit der Teacher’s Report Form (TRF) ergibt auch hier deutlich gesteigerte Werte für aggressives und delinquentes Verhalten. Robin ist schon mehrfach mit Altersgleichen in delinquente Verhaltensweisen wie Schlägereien, Stehlen usw. verwickelt gewesen. Die Großeltern haben große Sorge, dass Robin vor einem Richter stehen könnte, sobald das Jugendstrafrecht greift. Insgesamt gesehen ergibt sich bei dem Jungen entsprechend des multiaxialen Klassifikationsschemas nach der ICD-10 folgende Diagnose: Achse I
Kombinierte Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen
Achse II
Entwicklungsrückstand im Bereich des Sozialverhaltens
Achse III
Gut durchschnittliches kognitives Leistungsniveau
Achse IV
Keine körperlichen Erkrankungen
Achse V
Aufwachsen in anderer als der Herkunftsfamilie
Achse VI
Das psychosoziale Funktionsniveaus des Jungen ist deutlich eingeschränkt
Wir haben in den vorangehenden Kapiteln versucht, die Vielschichtigkeit kindlicher und jugendlicher Verhaltens- und Fehlverhaltensweisen in ihrer Determination durch äußere und innere Faktoren darzulegen. In der Entwicklung eines Menschen spielen biologische Parameter, Umweltparameter und lebensgeschichtliche Parameter eine Rolle, die sich in ständiger Wechselwirkung befinden. Daraus kann bei positiven und stabilen biologischen Gegebenheiten auch in einer defizitären Umwelt eine relativ positive Entwicklung resultieren. Bei defizitären oder vulnerablen biologischen Gegebenheiten spielen Umweltfaktoren als deprivierende oder korrigierende Kräfte eine ganz
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4
Kapitel 4 · Diagnostik von Verhaltensauffälligkeiten und assoziierten Störungen
entscheidende Rolle. Liegen jedoch sowohl auf Seiten der biologischen Voraussetzungen als auch auf Seiten der Umwelteinflüsse negative Faktoren vor, so sind Entwicklungsschwierigkeiten, Entwicklungsrückstände und Entwicklungsabweichungen nicht mehr ausschließlich durch den Alltag des Kindes zu beeinflussen und zu korrigieren. Mitunter können therapeutische Bemühungen hier in Grenzen hilfreich sein. Bei einer Vielzahl der Kinder, die aufgrund von Verhaltensauffälligkeiten nicht oder nicht mehr in der Regelschule beschult werden können, liegen Defizite sowohl auf der biologischen als auch auf der Umweltebene vor. ! Es muss das erklärte Ziel einer guten Diagnostik sein, die Facetten der schädigenden Einflüsse möglichst genau zu untersuchen und zu benennen, um auf diesem Hintergrund zu einer Diagnose zu kommen, die ein gezieltes und effizientes pädagogisches bzw. therapeutisches Vorgehen ermöglicht.
Da eine gelingende vs. misslingende Entwicklung die Voraussetzung für jede Auffälligkeit menschlichen Sozialverhaltens darstellt, ist bei den betroffenen Kindern zunächst einmal eine Entwicklungsdiagnostik durchzuführen, um damit eine Basis zu haben, vor deren Hintergrund die auftretenden Besonderheiten diagnostiziert, bewertet und therapiert werden können. ! Eine umfassende entwicklungsdiagnostische Untersuchung beinhaltet die Beurteilung des körperlichen Gesundheits- und Reifestatus ebenso wie eine entwicklungsneurologische Beurteilung der zentralnervösen Funktionen nach ihrem Entwicklungsstand und ihrer Integrität. Sie beinhaltet weiterhin die Prüfung kognitiver Voraussetzungen für die Bewältigung altersentsprechender Leistungsanforderungen und die Beurteilung emotionaler Besonderheiten. Erst wenn dieses Grundgerüst an diagnostischen Aussagen angelegt ist, kann die spezielle Verhaltensauffälligkeit oder Verhaltensstörung nebst komorbiden Symptomen gezielt diagnostiziert werden, um das diagnostische Mosaik sinnvoll zu ergänzen.
4.1
Pädagogische Diagnostik
In den folgenden Abschnitten werden die verschiedenen diagnostischen Methoden vorgestellt, die derzeit genutzt werden. Ergebnisse unserer Längsschnittstudie, die mit vielen dieser Methoden erzielt werden konnten, werden in Studienboxen vorgestellt. Die Beobachtung ist das hauptsächliche Verfahren für Lehrer und Erzieher, wenn sie das Verhalten von Kindern oder Jugendlichen beurteilen und deren Eigenschaften, Fähigkeiten und Fertigkeiten erfassen wollen. Dabei ist es von großem Vorteil, dass das Verhalten der Kinder und Jugendlichen in natürlichen Situationen (z. B. beim Spielen, in unterschiedlichen Anforderungssituationen, in Pausen, im Unterricht, aber auch auf dem Weg zur Institution oder bei anderen Gelegenheiten), also ökologisch valide, ermittelt werden kann. Diese Möglichkeit der permanenten Erfassung des Verhaltens wird immer wieder als Stärke der pädagogischen Diagnostik hervorgehoben. Es wird aber oft übersehen, dass Lehrer und Erzieher von dieser für sie permanenten Aufgabenstellung überfordert werden können. Kein Mensch ist in der Lage, die Entwicklung des Leistungs- und Sozialverhaltens einer Gruppe von 20-30 Kindern oder Jugendlichen zur gleichen Zeit umfassend zu erfassen und zu analysieren. Denn Verhaltensbeobachtung ist zunächst nur Deskription. Ob ein Verhalten normgemäß oder auffällig oder gar gestört ist, bedarf der Analyse und Bewertung. Lehrer und Erzieher sind also gut beraten, wenn sie ihre Beobachtungstätigkeit gezielt auf eine begrenzte Anzahl von Kindern oder Jugendlichen mit einer spezifischen Fragestellung einengen und sich manchmal auch auf »schwierige Fälle« konzentrieren (Ettrich 1985, 2000). Durch Verhaltensbeobachtung lassen sich sehr gut (und auch direkt) Eigenschaften und Fähigkeiten externalisierenden Verhaltens (ausagierendes Verhalten, zu dem ja auch Verhaltensstörungen gehören) erschließen. Merkmale internalisierenden Verhaltens wie emotionale Labilität, Depressivität oder Angst sind nicht immer direkt am Verhalten ablesbar und müssen auf andere Weise (indirekt) erschlossen werden. Die Verhaltensbeobachtung bedarf also des gezielten Trainings in dieser Methode und der
99 4.1 · Pädagogische Diagnostik
Intervision bzw. kollegialen Supervision, um Fehlinterpretationen und Selbsttäuschungen zu vermeiden. Intervision ist das kollegiale Bearbeiten eines Problemfalles. Ziele von Intervision sind: ▬ Herstellen eines Gruppengefühls, ▬ Offenheit gegenüber eigenen und fremden Schulproblemen, ▬ Einüben kommunikativer Kompetenzen, die ein befriedigendes Miteinander ermöglichen, ▬ emotionale Entlastung durch die Erfahrung, dass die Kollegen ähnliche Probleme haben, ▬ Kennenlernen der Perspektiven von anderen Kollegen zu einem Problem, wodurch neue Ideen und Hypothesen gebildet werden können, ▬ Erarbeiten und Diskutieren von Handlungsmöglichkeiten, die im Alltag praktikabel sind. Intervision verläuft im Wesentlichen in 4 Phasen: ▬ Fallvorstellung, Interview mit dem Moderator, ggf. Skulptur, Fragen der Kolleginnen und Kollegen ▬ Rekapitulation, Wahrnehmungen der Kollegen, ggf. Standbilder ▬ Hypothesen, Lösungsangebote ▬ Feedback des vorstellenden Kollegen, ggf. Rollenspiel Die pädagogische Diagnostik beschränkt sich nicht auf die Beobachtungsmethode, sondern bezieht auch andere Verfahren wie die Befragung oder die Analyse von Produkten der Kinder und Jugendlichen ein. Die Befragung kann sich z. B. explorativ an ein bestimmtes Kind mit einer spezifischen Zielstellung richten, sie kann aber auch als schriftliche Befragung der Erfassung des Wissens von Lehrern und Erziehern über Eigenschaften, Verhalten und Erleben ihrer »Schutzbefohlenen« dienen. Für den Vorschulbereich verweisen wir exemplarisch auf den Kinderbeobachtungsbogen (KBB; Ettrich 1985), für den schulischen Bereich auf die Conners-Skalen (Steinhausen 1988) und die Teacher’s Report Form (TRF) der Child Behaviour Checklist (CBCL; Achenbach 1991; Döpfner, Berner u. Lehmkuhl 1994). Unter den Produktanalysen soll hier nur auf die Aufsatzmethode verwiesen werden. Über diesen
4
Weg lassen sich neben Leistungsqualitäten (mentale Bearbeitung von Fakten und Problemen) auch Einstellungen, Lebensziele u. Ä. erschließen. Aufsatzanalysen sind auch Indikator für formalere Haltungen wie Sauberkeit, Anstrengungsbereitschaft, aber auch für die Einheit von Wort und Tat. Da es bei Verhaltensauffälligkeiten in Gemeinschaften (Gruppen, Schulklassen) vordergründig um Beeinträchtigungen sozialer Beziehungen geht, sind beispielsweise folgende Fragestellungen interessant: ▬ Wie verhalten sich die Schüler untereinander? ▬ Gibt es in der Klasse eine freudige, optimistische Gruppenatmosphäre? ▬ Schließt dies gegenseitige Achtung und Anerkennung sowie gegenseitigen Schutz und Hilfe der Klassenmitglieder (Gruppenmitglieder) ein oder kommen Formen von sozialem Rückzug, egozentrischer Selbstgefälligkeit, Impulsivität und Aggressivität oder gar delinquentem Verhalten vor, ohne dass Lehrer, Eltern und Mitschüler sich damit intensiv auseinandersetzen? ▬ Welche Wertschätzung wird von Lehrern und Schülern solchen Verhaltensweisen wie Ordnung (Vollständigkeit der Arbeitsmaterialien, Pflege dieser Materialien) und Disziplin (pünktlicher Unterrichtsbeginn, Vermeiden von Störverhalten, rege Mitarbeit) entgegengebracht? ▬ Werden selbstständiger Erwerb neuen Wissens und Könnens, die selbstständige Erarbeitung von Kenntnissen und Erfahrungen angeregt und positiv bewertet? ▬ Werden Berichte über eigene Erlebnisse oder Beobachtungsaufgaben über bestimmte Vorgänge in Natur und Gesellschaft angeregt? ▬ Wird über die Arbeitshaltung des Einzelnen, sein Verhalten, seine Leistungen und konzentrierte Mitarbeit sowie über seine Lernmotivation gesprochen und wird gezielt in diesen Bereichen gefördert? ▬ Werden Verhaltensnoten und Verhaltensbeurteilungen erzieherisch genutzt? ▬ Werden Fehlentwicklungen im Leistungs-, Persönlichkeits- und Verhaltensbereich erkannt und wird versucht, ihnen mit pädagogischen, psychologischen und medizinischen Mitteln entgegenzuwirken?
100
Kapitel 4 · Diagnostik von Verhaltensauffälligkeiten und assoziierten Störungen
4.1.1 Standardisierte Verhaltens-
beurteilung durch Lehrer
4
Die Teacher’s Report Form (TRF) ist ein Fragebogen für Lehrer, mit dessen Hilfe das Verhalten von Kindern und Jugendlichen erfasst werden kann. Er wurde in Analogie zum Youth Self-Report (YSR) entwickelt. Die Item-Formulierungen wurden für die Selbst- und Fremdbeurteilung so ähnlich wie möglich formuliert. Einige Beispiele sollen dies verdeutlichen (⊡ Tab. 4.1).
In einigen Fällen mussten item- und faktorenanalytisch syndromspezifisch äquivalente Aussagen (»statements«) erarbeitet werden. So wurden in den Lehrerfragebogen die Items »Starrt ins Leere« und »Schmollt viel oder ist leicht eingeschnappt«, die das Merkmal »Sozialer Rückzug« abbilden, zusätzlich zu den parallelen Items des YSR aufgenommen. ⊡ Tab. 4.2 informiert über die Skalen der Teacher’s Report Form (TRF) und illustriert die Ermittlung der Persönlichkeitsmerkmale durch Beispiel-Items.
⊡ Tab. 4.1. Vergleich von Item-Formulierungen zur Fremd- und Selbsteinschätzung TRF 3: Streitet oder widerspricht viel
TRF 42: Ist lieber allein als mit anderen zusammen
YSR 3: Ich streite häufig oder widerspreche
YSR 42: Ich bin lieber allein als mit anderen zusammen
TRF 8: Kann sich nicht konzentrieren, kann nicht lange aufpassen
TRF 87: Zeigt plötzliche Stimmungs- oder Gefühlswechsel
YSR 8: Ich habe Schwierigkeiten, mich zu konzentrieren oder länger aufzupassen
YSR 87: Meine Stimmung oder Gefühle wechseln plötzlich
⊡ Tab. 4.2. Syndromskalen und Skalen 2. Ordnung der Teacher’s Report Form (TRF) Skala
Beispiel-Items
Internalisierende Störungen Sozialer Rückzug
Ist verschlossen, behält Dinge für sich. Zieht sich zurück, nimmt keinen Kontakt zu anderen auf.
Körperliche Beschwerden
Klagt über Schmerzen (außer Kopf- oder Bauchschmerzen). Klagt über Übelkeit.
Angst bzw. Depression
Fühlt sich wertlos und unterlegen. Hat Angst, Fehler zu machen.
Externalisierende Störungen Delinquentes Verhalten
Hat Umgang mit anderen, die in Schwierigkeiten geraten. Schwänzt die Schule oder fehlt unentschuldigt.
Aggressives Verhalten
Ist trotzig, ablehnend oder frech zu den Lehrern. Hat Wutausbrüche oder hitziges Temperament.
Gemischte Störungen Soziale Probleme
Verhält sich zu jung für sein Alter. Kommt mit anderen Schülern nicht aus.
Schizoid bzw. zwanghafte Störung
Tut bestimmte Dinge immer und immer wieder, wie unter einem Zwang. Hat seltsame Gedanken oder Ideen.
Aufmerksamkeitsstörungen
Bringt angefangene Aufgaben nicht zu Ende. Ist unaufmerksam oder leicht ablenkbar.
Gesamtauffälligkeit
101 4.1 · Pädagogische Diagnostik
Eigenschaften oder Verhaltensweisen, die vom Lehrer oder der Lehrerin in den letzten 2 Monaten häufig beobachtet wurden, werden mit 2 gewichtet. Traten die Eigenschaften oder Verhaltensweisen manchmal auf, werden sie mit der Zahl 1 gewichtet. Konnten die Eigenschaften oder Verhaltensweisen nicht beobachtet werden, wird die Gewichtszahl 0 vergeben. Studienbox In unserer Studie zeigte sich, dass die Lehrer der Schule für Erziehungshilfe (E-Schule) bei ihren Schülern insgesamt eine hohe Symptombelastung wahrnehmen, und zwar deutlicher als diese an sich selbst. Dies hängt mit den unterschiedlichen Bewertungssystemen von Lehrern und Schülern zusammen. Während Lehrer sich am gesellschaftlichen Normsystem orientieren, orientieren sich die Schüler von E-Schulen am Normsystem ihrer Peer-Group. Das bedeutet, diese Schüler erleben sich normaler, als sie es im Vergleich mit gesellschaftlichen Normen tatsächlich sind. Die Lehrer sehen das externalisierende Syndrom bei ihren Schülern besonders deutlich ausgeprägt. Dies spiegelt sich auch in den Beobachtungen zum delinquenten und aggressiven Verhalten ihrer Schüler wider. Aber auch das internalisierende Syndrom wird als hoch auffällig ausgeprägt beobachtet (hierbei sind »Delinquenz« und »Aggressivität« Unterskalen des »Externalisierenden Syndroms« und »Angst« und »Depressivität« Unterskalen des »Internalisierenden Syndroms«). Die deutliche Ausprägung von Angst und Depressivität in den Beobachtungen der Lehrer bei ihren Schülern soll nachdrücklich hervorgehoben werden. Die starke Ausprägung von Angst und Depressivität bei E-Schülern macht deutlich, dass es sich hier nicht nur um Kinder und Jugendliche handelt, die als antisozial oder dissozial zu charakterisieren sind, sondern auch um solche, die emotional als beeinträchtigt zu gelten haben. Hinzu kommt, dass sie in überdurchschnittlichem Maße an sozialen Problemen leiden, was auf misslungene Bindungserfahrungen zurückgeführt werden kann.
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4.1.2 Problembewältigungsmuster
der Kinder und Jugendlichen Interviews stellen einen Teil der pädagogischen Diagnostik dar. Wir unterscheiden hier v. a. standardisierte und nichtstandardisierte Befragungen, um die Sichtweise der Befragten auf bestimmte Sachverhalte zu erschließen und Einblick in die Art der Problembewältigung zu erhalten (Ettrich 1991). Studienbox Um Einsichten über den Alltag der Kinder und Jugendlichen einer E-Schule zu gewinnen, wurde in unserer Studie mit ihnen ein halbstandardisiertes Interview zu den Themen Tagesablauf, Schule, Freizeit und Familie durchgeführt, wobei z. B. zum Thema Schule folgende Fragen interessierten: ▬ Wie ist i. Allg. das Verhältnis von Lehrern und Schülern in Deiner Klasse? ▬ Gibt es einen Lehrer, den Du besonders gern hast? Wie ist der so? ▬ Du hast mir jetzt einen Lehrer genannt, den Du besonders gut findest, wie unterscheidet der sich denn von den Lehrern, die Du nicht gut findest? ▬ Wie müsste denn ein Lehrer sein, dass Du sagen könntest, das ist ein idealer Lehrer? ▬ Wie viele Deiner Lehrer findest Du gut? ▬ Wie viele würdest Du eher negativ beurteilen? ▬ Was, meinst Du, sollten Deine Lehrer mehr tun und was weniger? ▬ Ab und zu hat jeder mal Schwierigkeiten, Meinungsverschiedenheiten, Probleme. Wie ist das bei Dir? ▬ Wenn Du ab morgen nicht mehr zur Schule zu gehen brauchtest, wie wäre das denn so? ▬ Hat sich in letzter Zeit Deine Einstellung zur Schule, haben sich Deine Gefühle gegenüber der Schule geändert? ▬ Wenn wir jetzt einmal über Deine Mitschüler sprechen, wie findest Du die meisten? ▬ Gibt es unter Deinen Mitschülern auch welche, zu denen Du überhaupt keinen Kontakt hast? ▼
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Kapitel 4 · Diagnostik von Verhaltensauffälligkeiten und assoziierten Störungen
▬ Was meinst Du, woran könnte das liegen, wo sind die Gründe dafür?
▬ Möchtest Du zu einigen dieser Klassenkameraden einen besseren Kontakt haben?
▬ In der Schule sind ab und zu ein paar be-
4
▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬
▬
sondere Aufgaben zu erledigen, bestimmte Ämter wahrzunehmen, hast Du auch schon mal so etwas gemacht? Was war das? Was ist eigentlich Dein Lieblingsfach? Was gefällt Dir an Deinem Lieblingsfach besonders gut? Gibt es auch ein Fach, das Du gar nicht gerne hast? Welches? Was gefällt Dir an diesem Fach nicht? Könntest Du mir mal erzählen, welche Noten auf dem letzten Zeugnis Du in folgenden Fächern hattest (Deutsch, Mathematik, Englisch, Sport)? Wie siehst Du Dich selbst als Schüler?
Der Interviewteil zum Bereich Freizeit erfasst Aussagen zu den Mahlzeiten, zur Anfertigung der Hausaufgaben, zu den Freizeitaktivitäten, zum Freundeskreis, zu Reibereien und der Art der Konfliktlösung. Im Interviewteil Familie wird das Ausmaß des familiären Zusammenhalts erfragt, aber auch ob und inwieweit sich die Eltern für den Freundeskreis der Kinder interessieren. Die Beziehungen zu den Geschwistern, die gegenseitige Unterstützung oder Behinderung werden ermittelt. Die Beziehungen zu Vater und Mutter, die Eigenschaften, die an ihnen geschätzt werden (bzw. die abgelehnt werden), Lob, Anerkennung, Tadel und Ablehnungen durch Vater und Mutter werden erfragt. Auch der Umfang gemeinsamer Freizeit- und Urlaubsaktivitäten ist Gegenstand des Interviewteils Familie, ebenso das Ausmaß der Autonomie des Schülers bezüglich Taschengeld, Kleider- oder Frisurwahl. Die Unterstützung des Familienlebens durch Verwandte, Nachbarn und Freunde wird ergänzend erfasst.
Die Auswertung der Interviews orientiert sich an der biografischen Persönlichkeitstheorie von Thomae (1996). Damit stehen Themen des Daseins-
vollzuges als kognitive Repräsentanzen und handlungsleitende Reaktionsformen im Mittelpunkt der Betrachtungen. Dabei hatten die Interviewer einzuschätzen, wie stark ausgeprägt sich im Interviewmaterial kognitive Repräsentanzen und Reaktionsformen zeigten und diese mit den folgenden Kategorien zu bewerten: 1
Sehr gering ausgeprägt
2
Gering ausgeprägt
3
Normal ausgeprägt
4
Stark ausgeprägt
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Sehr stark ausgeprägt
Kognitive Repräsentanzen sind Maße zur Bewertung der gesamten Lebenssituation. Sie beziehen sich auf ▬ den Grad der Zufriedenheit (hier im Interview mit Schule, Freizeit und Familie), ▬ den Grad der Belastung, ▬ den Grad der aktiven Auseinandersetzung, ▬ den Grad der Bezogenheit auf den Bereich, ▬ die persönliche Bedeutsamkeit der Situation, ▬ die erlebte Autonomie, ▬ die erlebte Veränderbarkeit der Situation, ▬ die positive Tönung des Erlebens der Situation, ▬ die negative Tönung des Erlebens der Situation, ▬ die selbsterlebte Kompetenz, ▬ die erlebte Antizipation der Situation, ▬ die erlebte Offenheit der Situation, ▬ die erlebte Einstellung der Umwelt und ▬ das erlebte Gefühl, gebraucht zu werden. Die Kategorie 5 zur Bewertung des Grades der Zufriedenheit mit der Schule wird vergeben, wenn der Schüler sich sehr (ausgeprägt) zufrieden über sein Wohlbefinden in der Schule, über Lehrer und Mitschüler, über seine Leistungen und sein Verhalten äußert. Äußert er sich dagegen sehr ablehnend über die Institution Schule und bekundet er seinen Unwillen zur Lösung schulischer Probleme, erfolgt die Bewertung mit 1. Die Bewertung wird von speziell geschulten Personen, den Ratern (engl.: to rate, einschätzen),
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vorgenommen, bei denen vorab sichergestellt wurde, dass ihre Beurteilungen eine hinreichende Übereinstimmung zeigen. Bei der Datenanalyse werden 2 Aspekte beurteilt. Erstens geht es darum, inwieweit die Förderschüler der E-Schule selbst beurteilen, dass ihre kognitiven Repräsentanzen von der Normalität abweichen, und 2. überprüfen wir, ob die Unterschiede in den Mittelwerten zwischen Regelschülern und Schülern der E-Schule signifikant sind. Die hierbei gefundenen Ergebnisse sehen folgendermaßen aus: Die biografische Analyse der Interviews der Förderschüler lässt eine Gruppe von Reaktionsformen erkennen, mit deren Hilfe die Lebensbewältigung dieser Probanden charakterisiert werden kann. Zunächst sei auf Aspekte des Leistungsverhaltens verwiesen. Das sind Aspekte, welche die Relation von Anstrengung und Effekt einer Arbeit oder Aktivität berücksichtigen. Unter den vielfältigen Aspekten des Leistungsverhaltens (ausführliche Darstellung s. Ettrich u. Ettrich 2006) haben wir uns auf 3 konzentriert, nämlich auf die direktive, kognitive und produktive Leistung, und diese im Kontext von Schule, Freizeit und Familie betrachtet.
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sich etwas zu machen (produktive Leistung), ist bei den verhaltensgestörten Jugendlichen nur schwach entwickelt. Gravierend auffällig bei Verhaltensgestörten ist nicht nur ihr ausagierendes, andere mit Worten oder Taten verletzendes Verhalten, sondern die geringe Anstrengungsbereitschaft, etwas zu lernen, etwas zu erreichen, selbstständig Ziele zu wählen und sich auf diese hinzubewegen (defizitäres Leistungsverhalten). Diese Einschätzung bezieht sich nicht nur auf den Bereich Schule, sondern ist als eine übergreifende Verhaltenstendenz dieser Jugendlichen zu sehen, die auch auf ihr Freizeitverhalten und ihr familiäres Verhalten zutrifft.
Betrachten wir nunmehr die Ergebnisse zu der Reaktionsform Anpassung an die institutionellen Aspekte der Situation. Über die Analyse dieses Merkmals in unterschiedlichen Situationen erfahren wir, inwieweit die normative Orientierung in den unterschiedlichen Probandengruppen gelungen ist.
Studienbox
Studienbox
Wie die Analysen zeigen, sind die Unterschiede zwischen Förderschülern und Regelschülern für die Reaktionsformen direktive, kognitive und produktive Leistung unabhängig vom situativen Kontext in zweierlei Hinsicht bemerkenswert konstant: Die mittleren Merkmalsausprägungen fallen unabhängig vom situativen Kontext zu Ungunsten der Förderschüler aus. Dies hat bei letzteren negative Auswirkungen auf die Einschätzung der eigenen Selbstwirksamkeit und führt zu einem geringen Selbstwertgefühl. Sie lassen ein geringes Ausmaß der Anstrengungsbereitschaft (Willenseinsatz) bei der Erreichung von Zielen, ein geringes Ausmaß an Steuerung des eigenen Verhaltens und der Ich-Kontrolle erkennen (direktive Leistung). Ebenso ist ihre Bereitschaft zum Kenntniserwerb oder zur Kenntniserweiterung unzureichend ausgeprägt (kognitive Leistung). Auch ihre Bemühungen zum Vorwärtskommen, aus
Wie erwartet, ergibt sich hinsichtlich der An-
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passung an die institutionellen Aspekte der Situation eine deutliche Variation dieser Reaktionsform in Abhängigkeit vom situativen Aspekt. Im Bereich Freizeit fühlen sich die Schüler der Schule für Erziehungshilfe besonders wohl. Für diesen Bereich gibt es auch keinen bedeutsamen Unterschied in der mittleren Merkmalsausprägung von Förder- und Regelschülern. Die größere Freizügigkeit bei der Gestaltung der Freizeit im Vergleich zu Schule und Familie führt dazu, dass die E-Schüler diese Situation ähnlich wie die Regelschüler erleben und bewerten. Das bedeutet, dass der statistische Vergleich keine signifikanten Unterschiede zeigt, obwohl bekanntermaßen qualitative Unterschiede durch Peer-Groups und Art der Freizeitgestaltung bei beiden Schülergruppen vorhanden sind. Die signifikanten Unterschiede zwischen Förder- und Regelschülern in den Bereichen
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Kapitel 4 · Diagnostik von Verhaltensauffälligkeiten und assoziierten Störungen
Schule und Familie machen deutlich, dass die normbezogene Orientierung bei Verhaltensgestörten i. Allg. geringer als bei den Regelschülern ausfällt. Bitten um Hilfe ist eine kommunikative Reaktionsform, bei der ein Betroffener eingesteht, dass er selbst mit einem Problem nicht fertig wird. Das Eingestehen solcher Schwächen wird von E-Schülern als das Eingestehen von Minderwertigkeit erlebt und deshalb im Vergleich zu Regelschülern deutlich weniger praktiziert. Verhaltensgestörte Jugendliche sind sozial ungeschickt, insbesondere dann, wenn sie sich Hilfe und Unterstützung von anderen sichern müssten. Anders gesagt, sie sind unfähig, sich soziale Ressourcen zu erschließen.
Depression und Angst sind Reaktionsformen, die sowohl einzeln als auch in Kombination bei Verhaltensgestörten häufig vorkommen und sich mitunter zu Störungen auswachsen. Studienbox Die Ausprägung der depressiven Reaktionsform liegt bei Förderschülern und Regelschülern in den Bereichen Schule und Freizeit etwa auf gleichem Niveau. Nur in der Situation Familie berichten E-Schüler signifikant häufiger über Niedergeschlagenheit, Resignation und Ohnmacht. Das sollte zu denken geben. Angst ist eine Reaktionsform, die in den Bereichen Schule, Freizeit und Familie sehr verbreitet ist. Die Auswertung der Daten zeigt, dass diese Reaktionsform bei E-Schülern und Regelschülern keine Besonderheiten erkennen lässt. Zum einen liegen die Mittelwerte aller Schüler im Bereich der Normalität und zum anderen sind die Unterschiede zwischen den Vergleichsgruppen nichtsignifikant. Bei der detaillierten Auswertung der Ergebnisse wird jedoch deutlich, dass hier ganz offensichtlich sowohl bei Regelschülern als auch bei Verhaltensgestörten eine Tendenz zur Bagatellisierung von Angst besteht. Dies ist z. B. daraus zu folgern, dass die Interviewbewertungen bei den Regelschülern in jedem Fall den mittleren Wert 3 ergeben.
Im nächsten Untersuchungsschritt gehen wir der Frage nach, wie sich Verhaltensgestörte im Vergleich zu Regelschülern in Anforderungssituationen verhalten, ob und wann sie evasives vs. aggressives Verhalten praktizieren. Studienbox Während bei den Regelschülern die mittlere Ausprägung der evasiven Reaktion im Bereich der Normalität liegt, ist sie bei den Schülern der Schule für Erziehungshilfe in allen 3 Situationen (Schule, Freizeit, Familie) stark ausgeprägt. Die Differenzen der Mittelwerte zwischen E-Schülern und Regelschülern sind statistisch hochbedeutsam. Alle Formen des tatsächlichen oder symbolischen »Aus-dem-Felde-Gehens« wie Weglaufen, alles stehen und liegen lassen, alles hinwerfen sind für Verhaltensgestörte charakteristisch. Die nachgewiesene Stärke der evasiven Reaktion macht verständlich, dass diese Schüler mit »normalen« pädagogischen Erziehungshilfen nur sehr schwer bzw. nicht zu führen sind. Hier ist also ein konsequentes »Dranbleiben« am Schüler Voraussetzung für eine positive Entwicklung. Dies verlangt aus unserer Sicht ein Umdenken im pädagogischen Umgang mit diesen Schülern. Wenn ein solcher Schüler, dessen Bewältigungsstrategie ohnehin schon in einer evasiven Reaktion besteht, auch noch für längere Zeit vom Unterricht suspendiert wird, wie das heute zunehmend geschieht, dann wird dadurch vielleicht der Lehrer und die übrige Klasse entlastet, für den betreffenden Schüler ist jedoch genau das eine Verstärkung seines pathologischen Musters und damit in keiner Weise hilfreich. Für diese Schüler muss sich der Lehrer, um sie in der Klasse zu halten, selbst Verstärkung holen, z. B. in Form einer pädagogischen Unterrichtshilfe. Es ist wie in anderen gesellschaftlichen Bereichen auch: Man kann niemand durch Ausgrenzung anpassen, sondern immer nur durch Integration. Mit dem Begriff Aggression werden sowohl verbale Auseinandersetzungen als auch körperliche Angriffe erfasst. Die Daten zeigen, dass bei ▼
105 4.1 · Pädagogische Diagnostik
den Schülern der Schule für Erziehungshilfe die Merkmalsausprägung hochsignifikant in den Bereichen Schule, Freizeit und Familie von der Normalität abweicht. Das ist bei den Regelschülern ganz anders. Hier liegen die mittleren Merkmalsausprägungen nahe an der Normalität. Der Vergleich von Regelschülern und E-Schülern lässt somit hochsignifikante Mittelwertsunterschiede zu Ungunsten der verhaltensgestörten E-Schüler erkennen. Es fällt auf, dass es widersprüchliche Formen der Auseinandersetzung in Konfliktsituationen bei Verhaltensgestörten gibt. Zum einen sind es aggressive Formen, die bei der Lösung von Konflikten vorherrschen, besonders dann, wenn der Konfliktgegner als schwächer, bestenfalls als ebenbürtig eingeschätzt wird. Wird der Konfliktgegner als stärker bewertet, ziehen Verhaltensgestörte i. Allg. evasive Verhaltensmuster vor. Das bedeutet, sie gehen Auseinandersetzungen und Konflikten aus dem Wege, indem sie einfach weglaufen bzw. aus dem Felde gehen. In der Auseinandersetzung mit Erwachsenen tendieren sie dazu, sich aus der Situation zurückzuziehen und ihre Mitarbeit an der Konfliktbewältigung zu verweigern. Sie werfen alles hin und begeben sich in eine oppositionellpassive Verweigerungshaltung (»Macht euren Dreck alleine«).
! Bei Verhaltensstörungen, die erst im Schuljugendalter förderpädagogisch betreut werden, kommt diese (notwendige) Maßnahme um Jahre zu spät. In der Zeit des Zuschauens, des Interpretierens, der Überlegungen, der Meinungsverschiedenheiten bezüglich des auffälligen Sozialverhaltens des Kindes, der Schuldzuweisungen, aber auch des (ungeeigneten) pädagogischen Bemühens, dieser Fehlentwicklung Einhalt zu gebieten, wird dem Kind keine effektive Hilfe und Therapie angeboten, so dass sich die Störung qualitativ entfaltet und verfestigt. Die dann einsetzenden förderpädagogischen und therapeutischen Maßnahmen haben es schwer,
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die bis dahin entwickelte und bereits hochgradig verfestigte Persönlichkeitsstruktur und das vorhandene Verhaltensrepertoire zu verändern und zu einer sozial angepassten und aktiven Persönlichkeit zu korrigieren, die fähig und bereit ist, ihre individuellen emotionalen, kognitiven, motorischen und sozialen Ressourcen für ein förderliches Zusammenleben bei gleichzeitiger Sicherung des eigenen Aus- und Fortkommens einzusetzen.
Das Fehlen von Lebenszielen (»Was soll aus mir werden?«, »Was will ich werden?«, »Was will ich beruflich erreichen?«, »Wie soll meine Familie aussehen?«) ist charakteristisch für Verhaltensgestörte. Aus diesem Grund sollte die förderpädagogische Hilfe hier einen Schwerpunkt ihrer Bemühungen sehen. An realen Nahzielen ist den Jugendlichen zu vergegenwärtigen, dass sich eigene Anstrengungsbereitschaft lohnt und dass sie der Weg ist, um sich selbst voranzubringen. Da der Erwerb schulischen Wissens bei Verhaltensgestörten nicht der primäre Weg zur Förderung von Eigenaktivität ist, muss ihnen immer wieder an ganz praktischen Beispielen verdeutlicht werden, dass Wissen (und Können) bei der Gestaltung des eigenen Lebens von Vorteil ist. Mit ⊡ Abb. 4.1 möchten wir für die 9 Reaktionsformen zeigen, dass diese Bewältigungsmuster auch Einfluss auf die Verhaltensstruktur haben. In der nachfolgenden Abbildung wurden die Reaktionsformen der E-Schüler entsprechend dem mittleren Ausprägungsgrad in eine Rangreihe gebracht. Hier zeigt sich, dass die evasive Reaktionsform bei diesen Schülern den höchsten Stellenwert besitzt, die produktive Leistung hingegen den geringsten. Ebenso wurde eine Rangordnung für Regelschüler vorgenommen. Der Vergleich zeigt, dass sich E-Schüler und Regelschüler hinsichtlich des Erlebens und Verhaltens in ihren Reaktionsmustern erheblich unterscheiden. Dies sollen die Pfeile verdeutlichen. Vom allgemeinen Ergebnis abweichend und aus unserer Sicht hoch interessant ist die Tatsache, dass in beiden Schülergruppen übereinstimmend die produktive Leistung, also die Anstrengungen zum Vorwärtskommen, den geringsten Stellenwert einnimmt, was auch die Ergebnisse der PISA-Studie belegten.
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Kapitel 4 · Diagnostik von Verhaltensauffälligkeiten und assoziierten Störungen
Rangreihe E-Schüler
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Rangreihe Regelschüler
Evasive Reaktion
3,85
Anpassung a. d. Sit.
3,36
Aggressivität
3,74
Kognitive Leistung
3,24
Depressive Reaktion
3,18
Direktive Leistung
3,20
Angst
3,10
Evasive Reaktion
3,04
Anpassung a. d. Sit.
2,98
Depressive Reaktion
3,00
Bitten um Hilfe
2,70
Angst
3,00
Kognitive Leistung
2,55
Bitten um Hilfe
2,96
Direktive Leistung
2,46
Aggressivität
2,94
Produktive Leistung
2,45
Produktive Leistung
2,84
⊡ Abb. 4.1. Vergleich der Bedeutung von Reaktionstendenzen bei Verhaltensgestörten und Regelschülern im Bereich Schule
Studienbox Die Unterschiede zwischen Regelschülern und verhaltensgestörten E-Schülern haben wir weiter vorn ausführlich besprochen. Das ausgeprägteste Verhaltensmuster ist bei Verhaltensgestörten die evasive Reaktion. Diese tritt bei Regelschülern erst an 4. Position auf und ist dabei auf nur durchschnittlichem Niveau. Die aggressive Reaktion nimmt bei Verhaltensgestörten den 2. Platz in der Reaktionshierarchie ein, während bei Regelschülern diese Reaktionsform den 8. Platz einnimmt. Während Aspekte des Leistungsverhaltens bei Verhaltensgestörten nur auf den hinteren Rangplätzen zu liegen kommen, nehmen bei den Regelschülern die Rektionsformen kognitive Leistung den 2. und direktive Leistung den 3. Platz ein. Es wird also deutlich, dass sich die beiden verglichenen Schülergruppen grundsätzlich unterscheiden und damit zu entgegengesetzten Verhaltensmustern tendieren, was in der Praxis von allergrößter Bedeutung ist.
Nachfolgend soll anhand von Interviewbeispielen mit 3 Schülern der Förderschule für Erziehungs-
hilfe das zu dieser Thematik allgemein Formulierte noch einmal am Einzelbeispiel verdeutlicht werden. Die folgenden Interviewauszüge beinhalten Fragen, wie sie in dem halbstandardisierten Interview zu den Thomaeschen Kategorien an die Schüler gestellt werden. Wir haben von den 3 als Fallvignetten vorgestellten Schülern (Ralf, Ivo und Thomas) jeweils einige Fragen und Antworten zum 2. Messzeitpunkt (6. Klasse) zu den 3 Bereichen Schule, Freizeit und Elternhaus ausgewählt und werden diese nachfolgend vorstellen.
Interview Ralf Zum Bereich Schule Frage: Was ist denn jetzt dein Lieblingsfach? Antwort: Hab ich nicht. Frage: Woran mag das wohl liegen? Antwort: Weiß ich nicht. Manchmal ist Geografie ganz schön, wenn die Lehrerin Witze macht. Frage: Wie würdest du dir einen idealen Lehrer vorstellen? ▼
107 4.1 · Pädagogische Diagnostik
Antwort: Lustig sollte er sein und manchmal auch bisschen streng. Und vor allem gerecht. Und manchmal sollte er auch in der Freizeit etwas mit den Schülern machen. Frage: Wie siehst du dich selbst so als Schüler? Von deinen Leistungen und deinem Verhalten her? Antwort: Ich hab mich in den Leistungen hier schon verbessert, besonders in Mathe. Vom Verhalten, na ja, da geht’s noch nicht so gut. Ich komme oft mit den anderen in Streit.
Zum Bereich Freizeit Frage: Wie sieht es denn mit deiner Freizeit aus? Erzähl mir doch mal, was du da so unternimmst! Antwort: Am liebsten bin ich in meiner Clique, da ist immer was los. Ansonsten hänge ich zu Hause rum. Frage: Hättest du gern mehr Freunde oder Spielkameraden? Antwort: Nö. Frage: Was ist es, was dir an deinen Freunden gut gefällt? Antwort: Dass sie zu einem halten, dass sie cool sind, sich was trauen, gute Ideen haben und sich auch durchsetzen, manchmal auch gegen Erwachsene.
noch klein, da waren wir mit dessen Vater, dem damaligen Freund meiner Mutter, an der Ostsee, das war cool. Aber seitdem sind wir im Urlaub nicht mehr weggefahren. Frage: Wenn du mal ein Problem hast, zu wem gehst du denn da meistens? Antwort: Ja, da finde ich meist erst mal gar niemanden. Dann muss ich sehen, dass ich es mit einem Kumpel bespreche. Manchmal kann ich auch zu meiner Klassenleiterin gehen. Frage: Was ist für dich zurzeit in deinem Leben am problematischsten? Antwort: Na, ob ich das alles schaffe mit der Schule hier, dass ich einen Abschluss machen kann und später mal ‘nen Beruf krieg. Und dass ich mein Verhalten in den Griff kriege. Dass ich nicht kriminell werde.
Interview Ivo Zum Bereich Schule
Frage: Wie ist dein Verhältnis zu deinem Vater? Antwort: Den kenne ich doch gar nicht. Frage: Und hat deine Mutter einen neuen Partner? Antwort: Ja, immer mal andere. Der zurzeit ist manchmal ganz cool, aber oft trinkt er auch oder kifft. Dann gibt es Streit zwischen den Eltern. Frage: Und wie ist dein Verhältnis zur Mutter? Antwort: Die ist meist sehr gestresst und hat wenig Zeit für mich. Als Opa noch gelebt hat, hat mir immer einer zugehört, Opa hatte immer Zeit für mich. Aber der ist vor 2 Jahren gestorben. Frage: Wie sieht es mit gemeinsamen Unternehmungen in der Familie aus? Antwort: Gibt es nicht. Allenfalls mal auf die Kleinmesse (Leipziger Vergnügungspark; Anm. d. Autoren) oder so. Einmal, da war mein Bruder
Frage: Was ist in der Schule dein Lieblingsfach? Antwort: Ach, ich mag ganz gerne Mathe und Geografie. Frage: Warum? Woran liegt das? Antwort: Ich glaube, am meisten an den Lehrerinnen in diesen Fächern. Die sind einfach cool, aber auch, wenn man merkt, dass man nicht doof ist. Frage: Wie muss denn ein Lehrer sein, damit du sagen kannst, es ist ein idealer Lehrer, so sollten alle sein? Antwort: Er muss sich Zeit für die Schüler nehmen, muss nicht einfach den Stoff durchhecheln, sondern auch auf den Einzelnen Rücksicht nehmen. Er muss aber auch streng und konsequent sein und seine Forderungen durchsetzen. Und er muss auch lustig sein. Immer mal Witze einstreuen oder so. Er sollte, so wie unsere Klassenleiterin, sich auch außerhalb der Schule für den Schüler Zeit nehmen. Frage: Wie siehst du dich selbst so als Schüler in deinen Leistungen und in deinem Verhalten? Antwort: Na, meine Leistungen sind immer ganz gut. Hier eher noch besser als an der Regelschule. Mein Verhalten hat sich auch schon
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Zum Bereich Familie
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Kapitel 4 · Diagnostik von Verhaltensauffälligkeiten und assoziierten Störungen
gebessert, sagen alle, und es geht mir gut damit. Ich habe Freunde gefunden und komme jetzt auch im Alltag insgesamt besser klar.
Zum Bereich Freizeit
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Frage: Was machst du so vorwiegend in deiner Freizeit? Antwort: Ich bin mit Freunden zusammen, wir machen Sport, wir fahren mit dem Rad rum, gucken auch Videos, manchmal gucke ich auch alleine Fernsehen oder Videofilme oder ich mache Computerspiele. Frage: Hättest du gern mehr Freunde oder Spielkameraden? Antwort: Nee, ist so in Ordnung. Frage: Was gefällt dir an deinen Freunden gut? Antwort: Dass sie zu mir halten, dass wir gemeinsam Spaß haben können, dass man aber auch gemeinsam über Probleme reden kann.
Zum Bereich Familie Frage: Wie ist dein Verhältnis zu deinem Vater? Antwort: Eigentlich gut. Ich denke, er macht sich schon viel Gedanken um mich. Wir machen auch vieles zusammen, am Wochenende zum Fußball gehen oder selber Fußball spielen oder auf die Kleinmesse. Frage: Wie ist dein Verhältnis zu deiner Mutter? Antwort: Na, mit der bin ich ja selten zusammen. Wenn ich an den Wochenenden hingehe, ist es immer sehr schön. Aber mit Carola, der jetzigen Frau meines Vaters, komme ich auch gut klar. Wir fahren auch jedes Jahr gemeinsam in den Urlaub. Da gibt es immer viel Spaß. Da sind wir alle richtig froh. Frage: Zu wem gehst du mit Problemen? Antwort: Ja, meist zu Carola, weil die immer zu Hause ist. Aber am Wochenende rede ich auch mit meinem Vater darüber und wenn ich bei der Mutter bin, kann ich manches auch mit ihr besprechen. Frage: Was ist zurzeit für dich in deinem Leben am problematischsten? Antwort: Ich will mein Verhalten in den Griff kriegen und will nicht, dass meine Tics wieder ▼
auftreten, weil ich dann wieder gehänselt werde. Und ich möchte, dass unsere Familie zusammenbleibt. Auch mit den kleinen Schwestern verstehe ich mich jetzt schon ganz gut. Später möchte ich mal eine Lehre machen, eine Handwerkerlehre, wahrscheinlich was mit Holz.
Interview Thomas Zum Bereich Schule Frage: Was ist denn zurzeit dein Lieblingsfach? Antwort: Deutsch eigentlich. Vielleicht noch Bio. Frage: Woran kann das liegen? Antwort: Ja, Bio ist sehr interessant, man lernt was von Tieren und Menschen und wie das alles so zusammenhängt. Und in Deutsch lesen wir immer viele Dinge, die andere geschrieben haben und das ist manchmal recht interessant. Gedichte lernen mag ich natürlich nicht. Und die Lehrer sind auch ziemlich cool. Frage: Wie müsste denn ein Lehrer sein, dass du sagen kannst, das ist ein idealer Lehrer? Antwort: Na, der müsste streng und gerecht sein und müsste auch lustig sein. Müsste mit den Schülern Spaß machen, aber auch ernsten Unterricht und das alles gut abwechselnd. Eben so wie unsere Klassenleiterin. Und er sollte auch für die Schüler außerhalb des Unterrichts mal Zeit haben. Frage: Wie siehst du dich denn selbst so als Schüler? Antwort: Also, ich bin jetzt hier schon in den Leistungen besser geworden, zwar noch nicht gut, aber besser. Und mein Verhalten hat sich auch schon gebessert. Manchmal kracht es zwar noch mit den Mitschülern, aber meine Lehrerin sagt, ich bin auf dem Weg der Besserung.
Zum Bereich Freizeit Frage: Wie sieht es mit deinen Freizeitunternehmungen aus, was machst du da so? Antwort: Ich bin viel in meinem Zimmer, gucke Videofilme oder mache Computerspiele. Ich geh nicht so gern raus. Manchmal helfe ich Mutti im Haushalt. Ich versuche immer nachmittags nach ▼
109 4.1 · Pädagogische Diagnostik
der Schule schnell nach Hause zu kommen, weil ich dann noch mit meiner Mutter allein bin. Wenn der Vater von der Arbeit kommt, verschwinde ich in meinem Zimmer. Frage: Hättest du gern mehr Freunde oder Spielkameraden? Antwort: Ja schon, aber mit meinem Verhalten kriege ich manchmal nicht so richtig die Kurve. Da hält es dann keiner so recht bei mir aus. Und die ich aus der Schule kenne, die wohnen zu weit weg. Frage: Was ist es denn, was dir an einem Freund gut gefallen würde? Antwort: Ja, ein Freund muss mit einem durch dick und dünn gehen, muss immer zu einem halten. Er muss immer ehrlich sein, auch wenn es manchmal weh tut. Er sollte möglichst klug sein, so dass man was von ihm lernen kann.
Zum Bereich Familie Frage: Wie ist dein Verhältnis zum Vater? Du hast ja schon gesagt, dass du, wenn er nach Hause kommt, lieber in deinem Zimmer verschwindest. Antwort: Ja, wir mögen uns nicht besonders, gehen uns lieber aus dem Weg. Der macht mich immer so runter und dann muss ich heulen. Dann wird er wütend und sagt, ich bin ein Weichei. Meine Mutter sagt immer, ich soll mir an ihm ein Vorbild nehmen, aber so ein Macho wie der will ich gar nicht werden. Frage: Und dein Verhältnis zur Mutter, das ist besser, oder? Antwort: Ja, Mutti hab ich richtig lieb und die mich auch. Mit uns ist es richtig schön. Die versteht mich auch, zu der kann ich mit all meinen Problemen kommen. Und die will, dass es mir gut geht und dass ich glücklich bin. Frage: Wie sieht es mit gemeinsamen Unternehmungen aus, Urlaub zum Beispiel? Antwort: Na ja, manchmal war es ganz gut, aber manchmal habe ich mir auch gewünscht, wieder zu Hause zu sein, denn im Urlaub kann ich ja meinem Stiefvater nicht immer aus dem Weg gehen. Frage: Was ist für dich zurzeit in deinem Leben am problematischsten? ▼
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Antwort: Dass ich mein Verhalten in die Reihe kriege, dass ich nicht alle verprelle, dass ich nicht so ein Schwarz-Weiß-Verhalten habe, wie meine Lehrerin sagt. Entweder kuschen oder draufhauen, ich muss lernen, den Raum dazwischen auszufüllen. Ich bemühe mich ja schon, aber es klappt noch nicht immer. Ich möchte schließlich mal einen guten Beruf haben, Geld verdienen, eigene Familie, eigenes Haus, glücklich sein eben.
Ohne auf Einzelheiten nochmals einzugehen, möchten wir zusammenfassend den Blick des Lesers darauf richten, dass die interviewten Schüler sich v. a. eines wünschen, nämlich Zuwendung. In der Herkunftsfamilie kann diesem Wunsch aus unterschiedlichsten Gründen nur bedingt Rechnung getragen werden. Die Schüler suchen deshalb nach Kompensationen im schulischen oder Freizeitumfeld. Sie haben dabei ziemlich genaue Vorstellungen davon, wie Bezugspersonen sein sollten, damit sie sich zum einen wohl fühlen und zum anderen in ihrer Entwicklung vorankommen. Diesbezüglich sind die Vorstellungen der interviewten Schüler erstaunlich einheitlich. Auffallend ist, dass die Jugendlichen hohe Erwartungen an den Gerechtigkeitssinn ihrer Bezugspersonen haben, obwohl sie selbst dieses Verhalten, wie wir aus Beobachtungen wissen, häufig nicht praktizieren. Optimistisch stimmt, dass die Jugendlichen sehr klar wissen und auch benennen können, dass zu ihrer Entwicklung auch feste familiäre und schulische Strukturen und eine konsequente Haltung der Bezugspersonen gehören. Dabei sind die hier veröffentlichten Interviews keine Positivauswahl. Es darf aber auch nicht übersehen werden, dass die Schüler das in den Untersuchungsverfahren gezeigte evasive Verhalten auch verbalisieren, dass sie nicht über genügend Durchsetzungs- und Durchhaltevermögen verfügen, um ihre Ziele im Vertrauen auf die eigene Kraft anzusteuern. Dies zeigt sich unter anderem daran, dass sie auch ihre persönlichen Ziele mit relativ wenig Ichbezug formulieren, hier also eine erhöhte Fremdsteuerung von ihnen im positiven Sinne erwartet, im negativen Sinne aber auch zugelassen wird.
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Kapitel 4 · Diagnostik von Verhaltensauffälligkeiten und assoziierten Störungen
4.1.3 Verhaltensbeurteilung
durch die Eltern
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Die Beurteilung des Sozialverhaltens gehört zu den alltäglichen Aufgaben von Müttern und Vätern. Aus diesem Grunde könnte man erwarten, dass Pädagogik, Psychologie und Medizin den Eltern einfach zu handhabende diagnostische Verfahren zur Verfügung stellen, damit sich diese in ihrer Erziehungsarbeit orientieren können und bei Problemen mit ihren Kindern die Kooperation mit Lehrern, Erziehern, Psychologen und Ärzten erleichtert wird. Dies ist jedoch nicht der Fall. Allenfalls kann man deshalb auf spezifische Fragebogenverfahren zurückgreifen. In diesen Verfahren können Mütter und Väter ihre Beobachtungen niederlegen. Die weitere diagnostische Auswertung ist dann den Spezialisten (Psychologen, Kinder- und Jugendpsychiatern und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten) vorbehalten. Trotz dieser Einschränkung sind diese Verfahren gute Hilfsmittel zur Erfassung der Verhaltensbeurteilungen von Eltern. Nachfolgend werden wir auf 2 dieser Fragebögen näher eingehen. Der noch zu leistende Schritt besteht in der Schaffung von Verfahren zur Selbstdiagnostik von Eltern über das Sozialverhalten ihrer Kinder in unterschiedlichen Altersstufen.
Beurteilung der Selbstständigkeit Unter den sozialen Fähigkeiten kommt der Beurteilung der Selbstständigkeit der Kinder und Jugendlichen eine hohe lebenspraktische Bedeutung zu, da Selbstständigkeit ja auch immer Ausdruck für Autonomie ist, für die Bereitschaft, Verantwortung für sich und ihr Tun innerhalb der Familie, dem Kindergarten, der Schulklasse, der Peer-Group, kurz der Gemeinschaft, zu übernehmen. Selbstständigkeit ist deshalb ein wesentlicher Indikator für das, was man als »soziale Reife« oder »soziale Kompetenz« bezeichnet. Vineland Social Maturity Scale Ein spezielles Verfahren zur Erfassung der Sozialen Reife vom Vorschulalter bis zum Jugendalter
wurde von Doll (1953) in Form eines Fragebogens (Vineland Social Maturity Scale, VSMS) vorgelegt. Eine spezielle deutschsprachige Bearbeitung der VSMS für Vorschulkinder wurde von Eggert (1972, 1974) erarbeitet. Nachfolgend einige Beispiel-Items:
1.
Kann das Kind seine Jacke und Kleidung ausziehen?
(Ja/Nein)
11.
Hilft es bei kleinen Hausarbeiten mit?
(Ja/Nein)
18.
Kann es über seine Erlebnisse oder Erfahrungen berichten?
(Ja/Nein)
33.
Kann man ihm Geld anvertrauen?
(Ja/Nein)
43.
Liest es aus eigenem Antrieb?
(Ja/Nein)
Die Eltern werden gebeten, ihre Beobachtungen bei Alltagsverrichtungen (An- und Ausziehen, Essen, Waschen, Besorgungen, Beteiligung am Spiel und an kleinen Hausarbeiten) im Fragebogen anzugeben. Aus diesen Angaben lässt sich dann sehr gut bestimmen, ob ein Kind hinsichtlich seiner sozialen Kompetenz altersgerecht entwickelt ist oder ob hier noch Förderbedarf besteht. Kritiker dieser Methode wenden ein, dass die Eltern ihre Urteile in Richtung sozialer Erwünschtheit verzerren. Dies ist aber nicht der Fall, da sich die Beobachtungen der Eltern auf spezifische Verhaltensweisen konzentrieren. Anhand der Daten einer früheren eigenen Längsschnittstudie (Ettrich u. Ettrich 2000) konnten wir beim Vergleich altersgerecht entwickelter Kinder und leicht und deutlich beeinträchtigter Kinder feststellen, dass die Mütter dieser Kinder deren Verhalten korrekt beschreiben, aber unterschiedlich bewerten. Ein Teil der Mütter retardierter Kinder bezeichneten das Verhalten ihrer Kinder als durchaus altersgerecht. Die Gefahr für die Entwicklung der Kinder besteht darin, dass diese Kinder nicht gezielt in ihrer sozialen Entwicklung gefördert werden. Wer aber nicht weiß, dass das Verhalten seines Kindes nicht seinem Lebensalter entspricht, sieht natürlich auch keinen Grund für eine spezielle Förderung.
111 4.2 · Psychologische und medizinische Diagnostik
Elternbefragungen Child Behavior Checklist: Elternfragebogen über das Verhalten von Kindern und Jugendlichen Der Elternfragebogen über das Verhalten von Kindern und Jugendlichen (4-18) der Child Behaviour Checklist (Achenbach 1991; Döpfner et al. 1998) bezieht sich zum einen auf die Erfassung von ▬ Aktivitäten (z. B. Nennen Sie bitte die Sportarten, die Ihr Kind am liebsten ausübt!), ▬ sozialer Kompetenz (z. B. Wie spielt oder arbeitet Ihr Kind alleine?) und ▬ Bewältigung schulischer Anforderungen (z. B. Sind bei Ihrem Kind schon einmal Lernschwierigkeiten oder andere Probleme in der Schule aufgetreten?), und zum anderen auf die Erfassung von Verhaltensauffälligkeiten, die in den letzten 6 Monaten zu beobachten waren, die auf die Ausprägung folgender Persönlichkeitsmerkmale hinweisen: ▬ sozialer Rückzug (Beispiel-Item: Ist lieber allein als mit anderen zusammen), ▬ körperliche Beschwerden (Beispiel-Item: Hat Kopfschmerzen), ▬ Angst bzw. Depressivität (Beispiel-Item: Fühlt sich wertlos oder unterlegen), ▬ soziale Probleme (Beispiel-Item: Ist bei anderen Kindern bzw. Jugendlichen nicht beliebt), ▬ schizoid bzw. zwanghaft (Beispiel-Item: Hat seltsame Gedanken oder Ideen), ▬ Aufmerksamkeitsstörung (Beispiel-Item: Kann sich nicht konzentrieren, kann nicht lange aufpassen), ▬ delinquentes Verhalten (Beispiel-Item: Lügt, betrügt oder schwindelt) und ▬ aggressives Verhalten (Beispiel-Item: Ist roh zu anderen oder schüchtert sie ein). Da es zu diesen Persönlichkeitsmerkmalen bedeutungsgleiche Verfahren für Lehrer und Erzieher (Teacher’s Report Form, TRF) für den Altersbereich 5 bis 18 gibt und mit dem YSR gleichzeitig ein Verfahren zur Selbstbeurteilung der Kinder und Jugendlichen für den Altersbereich 11 bis 18 existiert, lassen sich mit diesem Beurteilungssystem zahlreiche und diagnostisch sehr aufschlussreiche Vergleiche durchführen.
4
Darüber hinaus gibt es auch eine Kindergartenversion für die Altersgruppe der 2- bis 5-jährigen Kinder.
4.2
Psychologische und medizinische Diagnostik
4.2.1 Allgemeines Die Diagnostik in der Kinder- und Jugendpsychiatrie bzw. Psychotherapie orientiert sich nicht nur am Störungsbild des jeweiligen Patienten, sondern bezieht die gesamte kindliche bzw. jugendliche Persönlichkeit einschließlich des sozialen Umfeldes in die diagnostischen Überlegungen ein. Das Multiaxiale Klassifikationsschema (Rutter, Shaffer u. Shepherd 1976; Remschmidt, Schmidt u. Poustka 2001) mit seinen 6 Achsen ist ein gutes Instrument, um dies abzubilden. Achse I
Klinisch-psychiatrisches Syndrom
Achse II
Umschriebene Entwicklungsrückstände
Achse III
Intelligenzniveau
Achse IV
Körperliche Symptomatik
Achse V
Abnorme psychosoziale Umstände
Achse VI
Globalbeurteilung der psychosozialen Anpassung
▬ Auf der 1. Achse wird die psychische Symptomatik kodiert, wegen welcher der Patient vorgestellt wird, ▬ auf der 2. Achse erfolgt die Kodierung des Entwicklungsniveaus bzw. möglicher Entwicklungsrückstände, ▬ auf der 3. Achse wird das kognitive Leistungsvermögen abgebildet, ▬ auf der 4. werden möglicherweise bestehende körperliche Besonderheiten, Symptome oder Erkrankungen kodiert, ▬ die 5. Achse schließlich bezieht sich auf das psychosoziale Umfeld, in dem der Patient aufwächst und ▬ die 6. Achse besagt, welche Einschränkungen für den Patienten aufgrund der kodierten Besonderheiten auf der Achse I bis V bestehen.
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Kapitel 4 · Diagnostik von Verhaltensauffälligkeiten und assoziierten Störungen
Eine komplette kinder- und jugendpsychiatrische Diagnostik umfasst also neben der körperlichen und neurologischen (entwicklungsneurologischen) Untersuchung die psychiatrische und psychologische Untersuchung. Bei letzterer wiederum werden die Leistungsdiagnostik und die Persönlichkeitsdiagnostik, für die es eine Vielzahl relevanter standardisierter Verfahren gibt, sowie auch die Diagnostik spezieller Beeinträchtigungen durchgeführt. Komplettiert werden all diese Untersuchungen durch paraklinische Verfahren wie Labordiagnostik, EEG, CT, MRT und weitere spezielle Untersuchungsmethoden, deren Einsatz sich nach dem jeweiligen Beschwerde- bzw. Symptombild des Patienten richtet. Die Aussagen von Lehrern, Erziehern, Ausbildern werden ebenso wie die Aussagen von Eltern bzw. Großeltern in das diagnostische Repertoire integriert. Wir unterscheiden eine Eingangsdiagnostik und eine Verlaufsdiagnostik. Die Eingangsdiagnostik bildet die Basis, um auch therapeutische Fortschritte im Verlauf besser verdeutlichen zu können. Die diagnostischen Maßnahmen werden grundsätzlich mit den Eltern oder sonstigen Erziehungsberechtigten vor Anwendung abgesprochen. Dies gilt besonders dann, wenn es sich nicht um Maßnahmen der Routinediagnostik, sondern um spezielle Untersuchungsverfahren handelt. Das diagnostische Geschehen bei der Abklärung eines Verdachtes auf Störung des Sozialverhaltens ist ein hochkomplexer Vorgang, der sich nicht nur am beobachteten oder berichteten Verhalten des Kindes oder Jugendlichen orientieren darf, weil damit nichts über verursachende und aufrechterhaltende Bedingungen ausgesagt werden kann. Trotzdem sollte das Verhalten des Kindes oder Jugendlichen, das zum Verdacht auf eine Störung des Sozialverhaltens führt, möglichst umfassend und präzise protokolliert werden. Dies betrifft die Art des auffälligen Verhaltens (z. B. schwere Wutausbrüche) ebenso wie die Häufigkeit, mit der das spezifische Verhalten an einem Tag, in der Woche, im Monat zu beobachten ist. Es ist auch wichtig zu erfassen, in welchen Situationen (z. B. Familie, Nachbarschaft, Kindergarten, Schule, Hort) das normabweichende Verhalten auftritt und ob es an bestimmte Interaktionsformen geknüpft ist (z. B. Freizeit mit
Gleichaltrigen, in altersgemischten Gruppen, der Spielgruppe, beim Anfertigen der Hausaufgaben, der Erfüllung von Pflichten wie Müll wegbringen, eigenes Zimmer aufräumen u. Ä.). Auch sollten die Folgen oder Konsequenzen, die das Verhalten nach sich zieht, ermittelt werden (z. B. andere ordnen sich dem Kind unter, geben nach, erkennen es als Anführer an; wenden sich vom Kind ab, drängen es in eine Außenseiterrolle; Kind zieht sich, von anderen gekränkt, beleidigt zurück). Das diagnostische Prozedere umfasst ▬ die Erfassung der Symptomatik, der Entwicklungsgeschichte eines Kindes oder Jugendlichen, ▬ die Ermittlung seiner kognitiven Voraussetzungen zur Bewältigung von Alltagssituationen, ▬ die Erfassung von Persönlichkeitsmerkmalen als potenzielle Möglichkeiten des Verhaltens, ▬ die Beurteilung der sozialen Reife und sozialer Fähigkeiten im Interaktionsgeschehen sowie ▬ die ergänzende Erfassung und Auswertung von Berichten zum aktuellen Verhalten des Kindes oder Jugendlichen von Eltern, Lehrern, Erziehern, Sozialarbeitern. Wenden wir uns nunmehr den einzelnen diagnostischen Bereichen etwas ausführlicher zu.
4.2.2 Erfassung der Symptomatik Bei der Erfassung der Symptomatik konzentrieren wir uns zunächst auf die spontan berichteten Auffälligkeiten, die zur Vorstellung des Kindes oder Jungendlichen in der kinder- und jugendpsychiatrischen bzw. psychologischen Sprechstunde führt. Da die spontan berichteten Auffälligkeiten der subjektiven Wertung der Eltern unterliegen, ist es zweckmäßig, die Befragung durch spezielle diagnostische Instrumente zu ergänzen. Marburger Verhaltensliste von Ehlers, Ehlers und Makus Ein sehr verbreitetes Instrument zur Abklärung kindlicher Verhaltensprobleme im Alter von 6 bis 12 Jahren stellt die Marburger Verhaltensliste (MVL) von Ehlers, Ehlers und Makus (1978) dar. Mit diesem Elternfragebogen werden Beobachtun-
113 4.2 · Psychologische und medizinische Diagnostik
gen der Eltern in den letzten 14 Tagen erfasst. Mit diesen wird auf Probleme in den Bereichen gefolgert, die durch einige Beispielitems veranschaulicht werden sollen: Emotionale Labilität
Zieht sich bei Angst Bettdecke über den Kopf (Ja/Nein) Wacht nachts angstvoll weinend oder schreiend auf (Ja/ Nein)
Kontaktangst
Steht einfach herum, wenn andere Kinder spielen (Ja/Nein) Spielt am Nachmittag allein oder mit Geschwistern (Ja/Nein)
Unrealistisches Selbstkonzept
Erzählt Phantasiegeschichten, um Eindruck zu machen (Ja/Nein) Ahmt andere Kinder auffallend stark nach (Ja/Nein)
Unangepasstes Sozialverhalten
Stößt, kneift oder schlägt andere Kinder (Ja/Nein)
Diagnostisches Interview bei psychischen Störungen im Kindes- und Jugendalter Mit dem Diagnostischen Interview bei psychischen Störungen im Kindes- und Jugendalter (KinderDIPS) nach Unnewehr, Schneider und Margraf (2000) lassen sich neben anderen psychischen Störungen auch expansive Verhaltensstörungen erfassen so wie ▬ Aufmerksamkeits-/ Hyperaktivitätsstörung ▬ Störung mit oppositionellem Trotzverhalten und ▬ Störung des Sozialverhaltens. Hierzu wurden spezielle Interviewleitfäden erarbeitet, aus denen wir nachfolgend wieder einige BeispielItems (⊡ Tab. 4.3) nennen: Anhand der Antworten der Befragten schätzt der Untersucher in der Kinderversion die Häufigkeit der Symptome mit folgender Urteilsskala ein, wobei Symptome, die mit 2 und 3 kodiert werden, zur Diagnosefindung herangezogen werden:
Ärgert andere über längere Zeit, stichelt, ohne aufzuhören (Ja/Nein) Instabiles Leistungsverhalten
4
Ist schnell von etwas begeistert, hält aber nicht lange durch (Ja/Nein)
0
Nie bzw. selten
1
Manchmal
2
Oft
3
Sehr oft
⊡ Tab. 4.3. Vergleich der Kinder- und der Elternversion des DIPS Beispiel-Items aus der Kinderversion des Interviewleitfadens Kinder-DIPS
Beispiel-Items aus der Elternversion des Interviewleitfadens Kinder-DIPS
Aufmerksamkeits-/ Hyperaktivitätsstörung
Aufmerksamkeits-/ Hyperaktivitätsstörung
Wenn Du z. B. Schulaufgaben machst, wie sieht es da mit Flüchtigkeitsfehlern aus?
Wenn Ihr Kind z. B. Schulaufgaben macht, wie sieht es da mit Flüchtigkeitsfehlern aus?
Kommt es vor, dass Du andere Kinder störst, wenn sie spielen, oder dass Du andere bedrängst?
Kommt es vor, dass Ihr Kind andere Kinder stört, wenn sie spielen, oder dass es andere bedrängt?
Störung mit oppositionellem Trotzverhalten
Störung mit oppositionellem Trotzverhalten
Tust Du mit Absicht etwas, was andere ärgert?
Tut Ihr Kind mit Absicht etwas, was andere Personen verärgert?
Kommt es oft vor, dass Du wütend oder beleidigend bist?
Kommt es oft vor, dass Ihr Kind wütend oder beleidigend ist?
Störung des Sozialverhaltens
Störung des Sozialverhaltens
Kommt es vor, dass Du fremde Sachen beschädigst oder mit Absicht etwas kaputt gemacht hast?
Kommt es vor, dass Ihr Kind fremde Sachen beschädigt oder mit Absicht etwas kaputtmacht?
Ist es schon einmal vorgekommen, dass Du von zu Hause weggegangen oder weggelaufen bist und Du dann nachts nicht mehr nach zu Hause zu Deinen Eltern (anderen Bezugspersonen) zurückgekehrt bist?
Ist es schon einmal vorgekommen, dass Ihr Kind von zu Hause weggegangen oder weggelaufen ist und dann nachts nicht mehr nach Hause zu Ihnen zurückgekehrt ist?
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Kapitel 4 · Diagnostik von Verhaltensauffälligkeiten und assoziierten Störungen
In der Elternversion beurteilen die Eltern direkt die Häufigkeit, mit der sie das Auftreten von Symptomen bei ihrem Kind beobachten.
4
Das Diagnostiksystem für psychische Störungen im Kindes- und Jugendalter nach ICD-10 und DSM-IV Das Diagnostiksystem für psychische Störungen im Kindes- und Jugendalter nach ICD-10 und DSM-IV (DISYPS-KJ) von Döpfner und Lehmkuhl (1998) konzentriert sich auf 7 Störungsbilder im Alter von 11 bis 18 Jahren, von denen uns hier aber nur die ersten 4 interessieren. Erfasst werden die Fremdbeurteilungen von Eltern, Lehrern und Erziehern (FBB) sowie die Selbstbeurteilungen der Schüler (SBB). Hyperkinetische Störungen mit folgenden Aspekten: ▬ Aufmerksamkeitsstörungen (z. B. Ich lasse mich oft durch die Umgebung ablenken), ▬ Überaktivität (z. B. Ich laufe häufig herum oder klettere permanent, wenn es unpassend ist), ▬ Impulsivität (z. B. Ich platze häufig mit Antworten heraus, bevor Fragen gestellt sind). Störungen des Sozialverhaltens: ▬ oppositionell-aggressives Verhalten (z. B. Ich streite häufig mit Erwachsenen), ▬ dissozial-aggressives Verhalten (z. B. Ich schwänze die Schule). Angststörungen: ▬ Störungen mit Trennungsangst (z. B. Ich schlafe nur sehr widerwillig oder gar nicht außerhalb von zu Hause), ▬ generalisierte Angst (z. B. Ich fühle mich ständig müde und erschöpft), ▬ soziale Angst (z. B. Ich habe wenig Kontakt zu Jungen oder Mädchen meines Alters), ▬ spezifische Phobien (z. B. Ich habe starke Angst vor bestimmten Tieren, die eigentlich übertrieben und unbegründet ist, z. B. vor Hunden, Spinnen, Mäusen). Depressive Störungen: ▬ depressive Symptome (z. B. Ich denke immer wieder an den Tod oder daran, mich selbst umzubringen),
▬ somatische Symptome (z. B. Ich fühle mich hoffnungslos und verzweifelt). Die klinische Beurteilung der erfolgt über differenzierte Diagnosechecklisten, in denen die Beurteilungen von Eltern, Lehrern und Erziehern, die Selbstbeurteilungen der Kinder und Jugendlichen sowie die Beurteilungen der Untersucher kombiniert werden, so dass die Ergebnisse der Verhaltens- und Persönlichkeitsdiagnostik sowohl kategorial als auch dimensional nach ICD-10 und DSM-IV analysiert werden können.
4.2.3 Entwicklungsgeschichte Die Entwicklungs-, Lebens- und Krankengeschichte eines Kindes oder Jugendlichen und die Geschichte seiner Familie ermitteln wir über die Anamnese.
Die Ermittlung der entwicklungs- bzw. lebensbezogenen Daten erfolgt vorwiegend im Gespräch. Der Untersucher konzentriert sich dabei zunächst auf die spontan berichteten Fakten und hält diese fest. Er ergänzt das Gespräch durch gezielte Fragen: ▬ zur vorgeburtlichen Entwicklung: z. B. Infektionen der Mutter durch Röteln, Mumps, Masern, Windpocken, Toxoplasmose, Herpes, AIDS; toxische Einflüsse durch Alkohol-, Nikotin- und Drogenkonsum, Medikamentengebrauch und -missbrauch, Umweltgifte; spezifische Erkrankungen und Schädigungen: Epilepsie bei der Mutter, Diabetes, Nierenerkrankungen, Fehloder Mangelernährung der Mutter, Strahlenschäden; ▬ zur Geburt: z. B. Frühgeburt, niedriges Gestationsalter, verzögerte Geburt, mechanische Verletzungen des Kopfes durch Zangen- oder Vakuumextraktion; ▬ zur frühkindlichen Entwicklung: z. B. Saugund Schluckstörungen, Ernährungsstörungen, Krampfanfälle, Hirnhaut- und Hirnentzündungen, Schädel-Hirn-Traumen (z. B. durch Unfälle, Misshandlungen), motorische Entwicklung (z. B. Beginn des freien Laufens), sprachliche Entwicklung (z. B. Sprechen des 1. Wortes, des 1. Satzes; Lautbildungsfehler);
115 4.2 · Psychologische und medizinische Diagnostik
▬ zur Familie: z. B. ungünstiges familiäres Milieu (ungünstiges Erziehungsverhalten), soziale Deprivation, sozioökonomische Faktoren (berufliche und Wohnsituation), psychosoziale Faktoren (z. B. Trennung der Eltern, Patchwork-Familie, Krankheit, Tod), kulturelle Faktoren (unterschiedliche Erziehungshaltung der Eltern aufgrund von Kulturunterschieden), Arbeitslosigkeit der Eltern, körperliche Misshandlungen, sexueller Missbrauch, psychische Erkrankungen in der Familie. Die in der Anamnese ermittelten Angaben weisen jedoch meist nur eine unzureichende lebenslaufbezogene Struktur auf, so dass diese vom Untersucher geschaffen bzw. rekonstruiert werden muss. Erst über diese Analyse wird die Entwicklung eines Menschen, seiner Fähigkeiten und Eigenschaften, aber auch seiner möglichen Fehlentwicklungen im Interaktionsprozess von Individuum (was hat er an Entwicklungspotenzen mitgebracht?) und Umwelt (welche Erfahrungen stellte die Umwelt bereit und wie konnte er an diesen partizipieren?) verstehbar. Zur umfassenden Diagnostik des Gesundheitsund Reifestatus eines Kindes ist die psychologische Untersuchung unerlässlich. Sie gliedert sich in die großen Bereiche »Leistungs-« und »Persönlichkeitsdiagnostik«, für die es eine Vielzahl von standardisierten und nichtstandardisierten Verfahren mit festgelegten Bewertungsmaßstäben gibt.
4.2.4 Ermittlung kognitiver
Voraussetzungen Den Schwerpunkt der Diagnostik kognitiver Fähigkeiten bilden Verfahren, die die allgemeine Intelligenz abbilden. Im Ergebnis der Untersuchung erhalten wir hinreichende Informationen darüber, ob die kognitiven Fähigkeiten ausreichen, um mit alltäglichen Situationen umzugehen und schulische Anforderungen zu bewältigen. Im negativen Fall müssen wir uns fragen, ob das aggressive Verhalten ein Bewältigungsmuster zur Überwindung einer permanenten Überforderungssituation ist. Als Beispiele für Tests zur Ermittlung der Allgemeinen Intelligenz verweisen wir exemplarisch auf folgende:
4
▬ Vorschulalter: Hannover-Wechsler-Intelligenztest für das Vorschulalter (HAWIVA-III von Fritz-Stratmann et al. 2005), ▬ Schulkindalter: Hamburg-Wechsler-Intelligenztest für Kinder III (HAWIK-III von Tewes, Schallberger u. Rossmann 2000), ▬ Jugendalter: Hamburg-Wechsler-Intelligenztest für Erwachsene (HAWIE-III von Tewes, Neubauer u. v. Aster 2004). Bei der Untersuchung von Jugendlichen können wir uns je nach dem Lebensalter zwischen dem HAWIK (6 bis 15 Jahre) und dem HAWIE (10 Jahre und älter) entscheiden. Für die Bewertung leistungsdiagnostischer Ergebnisse wurden spezifische Maßeinheiten entwickelt, die es erlauben, Ergebnisse unterschiedlicher Verfahren vergleichend zu bewerten. So wurde für kognitive Fähigkeitstests von Stern (1912) der Intelligenzquotient kreiert, der die Relation von Intelligenzalter zu Lebensalter beschreibt: IQ =
Intelligenzalter Lebensalter x 100
IQ = 100 ± 15
(x–M) s
x 100
x 100
IQ Intelligenzquotient x Individueller Punktwert im Test M Mittelwert der Referenzstichprobe s Standardabweichung der Referenzstichprobe
Die Differenz zwischen Individualleistung im Vergleich zum Mittelwert der Referenzstichprobe, dividiert durch die Streuung der Referenzstichprobe, standardisiert auf den Wert 100 und die Streuung 15 ergibt in der modernen Fassung den IQ-Wert einer beliebigen Person. Damit ergibt sich, dass der durchschnittliche IQ-Bereich die Werte von 85 bis 115 umfasst. Für die Intelligenzuntersuchung wurden spezielle Verfahren erarbeitet, von denen die ersten auf Binet und Simon (1905) zurückgehen. Trotz ihres ehrwürdigen Alters sind Binet-Tests (wenn auch mehrfach überarbeitet) auch heute noch im Gebrauch. Diese Tests zielen auf die Erfassung der Allgemeinintelligenz und nicht auf die Messung einzelner Fähigkeiten ab, die zur Intelligenz gerech-
116
4
Kapitel 4 · Diagnostik von Verhaltensauffälligkeiten und assoziierten Störungen
net werden. Allen Kindern und Jugendlichen werden Aufgaben unterschiedlicher Anforderungen gestellt, wobei diese Aufgaben zu Altersstufen zusammengefasst werden. Wir gehen nachfolgend auf einige Items aus dem Kramer-Test (Kramer 1972) ein, der in der 4. revidierten Auflage vorliegt. Bei Item VII/5 wird vor das Kind eine Karte mit einem Rhombus gelegt. Das Kind wird aufgefordert: »Zeichne auch so eine Figur wie diese hier.« Das Arbeitsergebnis des Kindes wird mit Bewertungsvorlagen verglichen. Ein Punkt wird vergeben, wenn die gezeichnete Figur etwa der Vorlage entspricht. Drachenähnliche Gebilde und auf die Spitze gestellte Quadrate werden mit einem halben Punkt bewertet. Danach werden vor das Kind 1 Rechteck und 2 Dreiecke gelegt, die durch Zerschneiden des Rechtecks entstanden sind. Nun wird das Kind aufgefordert, die beiden Dreiecke zu einem Rechteck zusammenzulegen. »Du darfst die beiden Teile verschieben, wie du willst oder auch einen Teil umdrehen.« Gelingt die Lösung innerhalb einer Minute, wird ein Punkt vergeben. Gelingt die Lösung erst zwischen 1 und 2 Minuten, wird das Resultat mit einem halben Punkt bewertet. Der Versuchsleiter darf wiederholt darauf verweisen: »Du darfst schon einen der Teile umdrehen.«
Wenn 75% der Kinder einer Altersgruppe eine Aufgabe lösen, dann gilt sie als alterspezifisch. Man geht, und das wurde vielfach nachgewiesen, davon aus, dass sich die Intelligenzleistungen in der Normalbevölkerung nach der Gaußschen Glockenkurve verteilen. Es gibt also sehr viele Kinder eines Jahrgangs mit durchschnittlicher und wenige mit niedriger und ebenso wenige mit hoher Intelligenz. Die geistige Leistungsfähigkeit entwickelt sich mit dem Lebensalter immer weiter, so dass man ein Maß für die Beurteilung der geistigen Leistungsfähigkeit braucht. Da man befürchtete, dass Bildungseinflüsse das Untersuchungsergebnis verfälschen könnten, hat man neben den Binet-Tests sog. kulturunabhängige Intelligenztests entwickelt. Die bekanntesten sind die Tests von Raven: ▬ Coloured Progressive Matrices (CPM; Altersbereich: 5-11 Jahre; Raven 1962), ▬ Standard Progressive Martices (SPM; Altersbereich: 8 Jahre und älter; Raven 1956). Hier geht es darum, dass die Probanden ein fehlendes Element aus einem Angebot von 6 möglichen Elementen auswählen und damit ein nach den Gesetzen der Logik konzipiertes Muster komplettieren müssen.
Studienbox Ein Beispiel soll die Bestimmung des IQ in einem Binet-Test dem Leser anschaulich vor Augen führen: Es handle sich um ein genau 7-jähriges Kind. Alle Aufgaben der jüngeren Altersgruppen, wenn auch vom Kind nicht bearbeitet, gelten als gelöst.
Dies entspricht einem Intelligenzalter (IA) von
48 Monaten
Anzahl gelöster Aufgaben der Altersgruppe V (10/10)
entspricht einem IA von
12 Monaten
Anzahl gelöster Aufgaben der Altersgruppe VI (6/8)
entspricht einem IA von
9 Monaten
Anzahl gelöster Aufgaben der Altersgruppe VII (3/8)
entspricht einem IA von
4,5 Monaten
Summe IA
73,5 Monate
Lebensalter
84 Monate
Stimmen Intelligenzalter und Lebensalter absolut überein, ergibt sich ein IQ von 100. In unserem Fall haben wir eine Diskrepanz zwischen Intelligenzalter und Lebensalter festgestellt, was zu einem IQ von ca. 88 führt. Dieses Kind weist also ein knapp durchschnittliches Intelligenzniveau auf.
117 4.2 · Psychologische und medizinische Diagnostik
Columbia Mental Maturity Scale Auch die Columbia Mental Maturity Scale (CMM) von Burgemeister, Blum und Lorge (1954) und Ettrich (2000) wird in der Praxis häufig angewendet. Sie wurde als kulturfreier (sprachfreier) Test für die Diagnostik von Abstraktionsfähigkeit und logisch-schlussfolgerndem Denken bei 3- bis 12jährigen Kindern entwickelt. Die CMM besteht aus 100 Testkarten mit jeweils 3-5 gegenständlichen oder geometrischen Abbildungen, die nach logischen Prinzipien gruppiert sind. Bei jeder Karte (Item) müssen die Kinder das Element herausfinden, das nicht in den logischen Zusammenhang passt. Die CMM ist ein guter Indikator der allgemeinen Intelligenz, die mit einem Minimum an sprachlicher Mitteilung auskommt, da das geforderte Leistungsverhalten durch Zeigen auf der Testkarte gut demonstriert werden kann und die Aufgabenlösungen von den Kindern ebenfalls durch Zeigen mitgeteilt werden können. Bei Tests dieser Art ist die Alterszuordnung der Items (der Testaufgaben) sehr schwierig, ja sogar unmöglich. Daher ermittelt man den IQ als Abweichungswert vom Mittelwert der Vergleichspopulation, der der untersuchte Proband angehört. Beispiel: Ein 13-jähriger Jugendlicher erreicht in einem fiktiven Intelligenztest 16 Punkte. Der Mittelwert aller 13-Jährigen liegt bei10 Punkten, die Streuung der 13-Jährigen beträgt 5 Punkte. Nach der unteren Formel beträgt der IQ dieses Jugendlichen 118. Damit liegt die individuelle Leistung dieses Jugendlichen im überdurchschnittlichen Bereich. IQ = 100±15
(x–M) s
IQ = 100±15
(16–10) = 118 5
Hamburg-Wechsler-Intelligenztest für Kinder Seit gut 50 Jahren wird, wenn auch mehrfach überarbeitet, der Hamburg-Wechsler-Intelligenztest für Kinder (HAWIK) bei Kindern und Jugendlichen im Alter von 6-15 Jahren angewandt. Er besteht aus 10 (bzw. 11) Aufgabengruppen (Untertests):
4
Allgemeines Wissen (AW)
Kenntnisfragen
Allgemeines Verständnis (AV)
Begründen von Verhaltensweisen
Rechnerisches Denken (RD)
Einfache Rechenaufgaben
Gemeinsamkeiten finden (GF)
Oberbegriffe finden
Zahlen nachsprechen (ZN, fakultativ)
Gedächtnisleistungen
Wortschatz (WT)
Bedeutung von Wörtern erklären
Zahlen-Symbol-Test (ZS)
Konzentrationsleistung
Bilderergänzen (BE)
Fehlenden Teil eines Bildes finden
Bilderordnen (BO)
Handlungssequenzen erkennen
Mosaiktest (MT)
Muster legen
Figurenlegen (FL)
Puzzle vervollständigen
Anhand des HAWIK-Tests lässt sich das Leistungsprofil eines Kindes oder Jugendlichen erarbeiten. Es kann verdeutlicht werden, über welche kognitiven Stärken oder Schwächen es bzw. er verfügt. Mit Hilfe der Intelligenzmessung können wir sehr schnell und zuverlässig Auskunft über das Entwicklungsniveau kognitiver Fähigkeiten gewinnen. Tests nach Binet ermöglichen sehr rasch einen Einblick in das allgemeine Entwicklungsniveau, während Tests vom Typ HAWIK einen tieferen Einblick in die Entwicklung wesentlicher kognitiver Fähigkeiten gestatten. Allerdings ist der Untersuchungsaufwand bei diesen Verfahren auch deutlich höher.
Fallbeispiel Mario Mario wird im Alter von 7;3 (7 Jahre und 3 Monate) zur psychologischen Untersuchung vorgestellt, weil er in der Schule durch zunehmend unruhiges, störendes und aggressives Verhalten auffällt. Er stört die Tätigkeit anderer und macht manchmal auch ein Resultat kaputt, indem er es vom Tisch fegt. Aus diesem Grunde gäbe es bereits Beschwerden von anderen Eltern. ▼
118
4
Kapitel 4 · Diagnostik von Verhaltensauffälligkeiten und assoziierten Störungen
Begonnen haben die Auffälligkeiten bereits im Kindergartenalter. Die Kindesmutter berichtet, dass die Schwangerschaft und Geburt des Kindes unauffällig verlaufen seien. Auch die motorische Entwicklung sei altersgerecht verlaufen, die sprachliche dagegen leicht verzögert, so habe der Junge erst mit 18 Monaten sein erstes Wort gesprochen und kleine Sätze erst nach seinem 2. Geburtstag. In den Kindergarten wurde Mario mit 4 Jahren aufgenommen. Er sei zunächst gern hingegangen, aber im letzten Jahr habe er zunehmend Probleme mit Gleichaltrigen und mit den Erzieherinnen bekommen. Im Kontakt zum Untersucher ist der Junge anfangs eher zurückhaltend und reagiert auf Leistungsanforderungen eher ablehnend-aggressiv. Im HAWIK ermittelten wir einen Gesamt-IQ von 82 (Verbalteil: 78, Handlungsteil: 86). Im anschließend dargebotenen KHV folgt der Junge der Instruktion aufmerksam und legt mit dem Untersucher die ersten Karten richtig ab. Nach der Aufforderung, dass er nun allein weiterarbeiten könne, sortiert er die Karten sehr schnell, so dass nach Karte 16 der Untersucher die Tätigkeit des Jungen unterbricht und nochmals die Instruktion wiederholt. Jetzt arbeitet Mario ebenfalls mit hohem Tempo und vielen Fehlern weiter, was Hinweis auf eine Konzentrationsstörung im Rahmen einer Lernstörung ist. Die extreme Fehlermenge zu Beginn des Tests und die deutliche Tempoerhöhung weisen darauf hin, dass die unzureichende Sorgfaltsleistung dem verminderten Aufgabenverständnis des Jungen geschuldet ist. Die Wiederholung der Instruktion trägt zur Verbesserung des Arbeitsergebnisses bei, lässt aber das typische Streubild eines konzentrationsgestörten Kindes weiterhin erkennen. Im folgenden Beratungsgespräch, zu dem auch die Lehrerin eingeladen war, wurde u. a. empfohlen, v. a. auf positive Rückmeldungen zur Arbeitsweise und zum Arbeitsergebnis zu achten, um auf diese Weise eine reflexive Arbeitsweise des Jungen zu fördern. Gleichzeitig wurde darauf orientiert, dass bei der vorliegenden Leistungsstörung mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Umschulung in eine Lernförderschule das Mittel ▼
der Wahl sein wird. Hierdurch wird der Junge wieder in die Lage versetzt, Erfolgserlebnisse zu haben, so dass er sich nicht mehr über Verhaltensauffälligkeiten definieren muss. In einer Kontrolluntersuchung nach 2 Jahren bestätigte sich die geäußerte Prognose.
Adaptives Intelligenzdiagnostikum von Kubinger und Wurst An den HAWIK-Tests anknüpfend, wurde von Kubinger und Wurst (1985) das Adaptive Intelligenzdiagnostikum (AID 2) entwickelt, das bei Probanden im Alter von 6;0 bis 15;11 einsetzbar ist. Der Vorteil des AID besteht darin, dass die Untersuchungspersonen nicht mehr alle Aufgaben abarbeiten müssen, sondern dass sich die Testdurchführung an deren individuelles Leistungsvermögen optimal anpasst. Neben der quantitativen Bestimmung der Intelligenz (IQ) ermöglicht die Profilinterpretation eine exakte Analyse des Fähigkeitsspektrums. Kaufman Assessment Battery for Children von Kaufman und Kaufman Die Kaufman Assessment Battery for Children von Kaufman und Kaufman (K-ABC) steht seit 2003 in der deutschen Version von Melchers und Preuß zur Verfügung. Neu ist bei diesem Verfahren, dass Intelligenz nicht nur aus den Aufgabenlösungen, sondern auch aus dem Prozess der Lösungsfindung erschlossen wird. Es wird ferner zwischen intellektuellen Fähigkeiten und erworbenen Fertigkeiten (Lernen und Wissen) unterschieden. Aus diesem Grund wird das K-ABC in 4 Skalen untergliedert: ▬ Skala einzelheitlichen Denkens, ▬ Skala ganzheitlichen Denkens, ▬ Fertigkeitenskala und ▬ sprachfreie Skala. Der Test ist sehr kindgerecht gestaltet, was die Untersuchung kognitiver Handlungsvoraussetzungen bei Kindern im Alter von 2;6 bis 12;5 Jahren sehr erleichtert. Unter den leistungsdiagnostischen Verfahren nimmt der Zahlenverbindungstest insofern eine Sonderstellung ein, als mit ihm Aussagen zu Störungen der Hirnfunktion beantwortet werden können.
4
119 4.2 · Psychologische und medizinische Diagnostik
Zahlen-Verbindungs-Test von Oswald und Roth Der Zahlen-Verbindungs-Test (ZVT) von Oswald und Roth (1987) dient der Diagnostik von Hirnleistungsstörungen, indem er die basale, milieuunabhängige und genetisch bedingte kognitive Leistungsgeschwindigkeit ermittelt. Das Verfahren kann als Einzel- oder Gruppentest im Alter von 8-95 Jahren angewendet werden. Nachfolgende Abbildung (⊡ Abb. 4.2) zeigt einen Übungsteil aus einem Arbeitsblatt des ZVT. Diagnostikum für Zerebralschädigung Ein weiteres Verfahren, dass sich speziell für den Nachweis von Hirnfunktionsstörung eignet, ist das Diagnostikum für Zerebralschädigung nach Hiller (DCS) von Weidlich und Lamberti (2001). Es handelt sich um einen visuellen Lern- und Gedächtnistest für die Altersgruppen von 6-79 Jahren. Die Untersuchungspersonen haben mit 5 Holzstäbchen 9 symmetrisch-geometrische Zeichen aus dem Gedächtnis nachzulegen (⊡ Abb. 4.3). Die Zeichen werden einzeln auf Karten im Format 9 × 9 cm dargeboten, wobei die Strichlänge jeweils 4 cm beträgt. Eine ungestörte Hirnfunktion liegt vor, wenn es den Personen gelingt, innerhalb von 6 Lerndurchgängen die Zeichen korrekt nachzulegen. In der Testleistung drücken sich Fähigkeiten zur Gestaltwahrnehmung, -speicherung und -reproduktion sowie selektive Aufmerksamkeit aus, wobei letzterer eine zentrale Rolle für das Gelingen oder Misslingen der Aufgabenlösung zukommt. Aus dem Ergebnis kann auf das Ausmaß einer mnestischen Hirnfunktionsstörung geschlossen werden. Alle vorgenannten Untersuchungsinstrumente gehören in die Hände von Fachleuten (Psychologe, Psychotherapeut oder Psychiater), da die Untersuchungsbefunde nicht frei von verfälschenden Einflüssen gewonnen werden können, die bei der Interpretation der Ergebnisse berücksichtigt werden müssen. Als wichtigste sind zu nennen: ▬ Zeitbegrenzungen, Zeitdruck: Durch Zeitbegrenzungen kann der Schwierigkeitsgrad einer Testaufgabe variiert werden. Je stärker die Zeitbegrenzung, umso schwieriger die Testaufgabe. Durch Zeitbegrenzung verstärkt sich der psychische Druck auf den Probanden, dadurch entsteht Stress und Verunsicherung, wodurch der Prozess der Informationsverarbeitung erschwert wird.
ÜBUNGSAUFGABE 1: Aufgabe: Verbinde die Zahlen in fortlaufender Folge: 1 - 2 - 3 - 4 - 5 - 6 usw. ... ANFANG 1
2
4
5
6
19
20
3
7
9
ENDE 18
16
13
10
8
17
14
15
12
11
⊡ Abb. 4.2. Übungsaufgabe zur Form A des ZVT. (Oswald u. Roth 1987)
Figur 7
Figur 8
⊡ Abb. 4.3. Zeichen, die im DCS reproduziert werden müssen. (Weidlich u. Lamberti 2001)
▬ Testanforderungen (Aufgaben): Die Aufgaben sollen dem Lebensalter des Probanden entsprechen. Sie sollten möglichst Alltagsanforderungen beinhalten. Andererseits besteht die Gefahr, dass Vorerfahrungen das Testergebnis beeinflussen. Aus diesem Grund sollten Testaufgaben ferner schulfremd sein. Neben den Aufgaben, die konvergentes Denken (»Es gibt nur eine Lösung«) erfordern, sollte es auch solche geben, die divergente Denkleistungen (»Es gibt mehr als eine zutreffende Lösung«) hervorrufen. ▬ Leistungsmotivation: Probanden unterscheiden sich deutlich in ihrer Erfolgsorientierung bzw. Misserfolgserwartung. Diese Grundeinstellung wirkt sich auf Aufgabenübernahme, individuelle Anspruchsniveausetzung und Anstrengungsbereitschaft und damit auf das Untersuchungsergebnis direkt aus. ▬ Angst: Die allgemeine Ängstlichkeit, sich mit neuen Situationen auseinanderzusetzen, beein-
120
Kapitel 4 · Diagnostik von Verhaltensauffälligkeiten und assoziierten Störungen
flusst auch das Ergebnis von Intelligenztests. Je größer die Angst, desto schlechter das Testergebnis. Aber auch das Persönlichkeitsmerkmal »Neurotizismus« (emotionale Labilität) hat auf die Testergebnisse ähnliche Auswirkungen wie die allgemeine Ängstlichkeit.
4
Ergebnisse von Intelligenztests sind auch davon abhängig, wie der Proband bzw. Patient sich auf die gestellten Aufgaben konzentrieren kann. Aus diesem Grunde ist die Überprüfung der Konzentrationsfähigkeit eine wichtige Voraussetzung für die korrekte Bewertung von Intelligenztestergebnissen. Ganz besonders, wenn sich beim Kind oder Jugendlichen Hinweise auf Impulsivität, Hyperaktivität bzw. Konzentrationsprobleme ergeben, sollte dies durch einen Konzentrationstest abgeklärt werden. Zu empfehlen wären hier z. B. das Konzentrations-Handlungsverfahren für Vorschulkinder (KHV-VK) von Ettrich und Ettrich (2005), das Konzentrations-Handlungsverfahren (KHV) von Koch und Pleißner (1984) sowie der Konzentrationsverlaufstest (KVT) von Abels (1974).
Konzentrations-Handlungsverfahren für Vorschulkinder von Ettrich und Ettrich Im Konzentrations-Handlungs-Verfahren für Vorschulkinder (KHV-VK) von Ettrich und Ettrich (2005) haben die Kinder 44 Karten z. B. nach den Merkmalen »Kamm«, »Baum«, »Kamm und Baum« und »weder Kamm noch Baum« zu sortieren. Die Arbeitszeit beträgt maximal zehn Minuten. Der Test ist für Kinder im Alter von 3;0 bis 6;11 anwendbar. Der Test ist wegen flexibler Durchführungsvarianten und Parallelformen sehr ökonomisch in den diagnostischen Prozess zu integrieren (⊡ Abb. 4.4). Konzentrationsverlaufstest von Abels Ein weiterer Sortiertest, der sowohl bei Kindern als auch Erwachsenen eingesetzt werden kann, ist der Konzentrationsverlaufstest (KVT) von Abels (1974). Es müssen 60 Kärtchen mit jeweils 36 zweistelligen Zahlen nach den Merkmalen »43«, »63«, »43 und 63« sowie »weder 43 noch 63« sortiert werden. Gemessen werden Zeit, Fehler und Sorgfaltsleistung. Ferner kann die Arbeitsverlaufskurve dargestellt und qualitativ interpretiert werden.
⊡ Abb. 4.4. Beispiel-Items zum KHV-VK. (Ettrich u. Ettrich 2005)
Continuous Performance Test von Knye et al. Der Continuous Performance Test (CPT) von Knye et al. (2003) ist geeignet für Kinder und Jugendliche im Alter von 7-19;11 Jahren und ermittelt Parameter der selektiven Aufmerksamkeit, der Daueraufmerksamkeit und der Impulsivität. Der CPT ist ein ökonomisches Verfahren, weil der Test mittels Computer appliziert wird und die Untersuchungsergebnisse nach der Untersuchung unmittelbar zur Verfügung stehen. Aufmerksamkeitsgestörte Kinder fallen durch längere Reaktionszeiten und eine größere Anzahl von Reaktionen auf irrelevante Zeichen auf. Aufmerksamkeits-Belastungs-Test (d2) von Brickenkamp Der Aufmerksamkeits-Belastungs-Test (d2) von Brickenkamp (2000) liegt nunmehr in der 9. Auflage vor und ist ein sog. Durchstreichtest für Untersuchung von Arbeitstempo und Sorgfalt des Aufmerksamkeitsverhaltens bei der visuellen Dis-
121 4.2 · Psychologische und medizinische Diagnostik
krimination ähnlicher Reize. Der d2 ist in der psychodiagnostischen Praxis gut eingeführt und wird auch wegen seiner Objektivität, seiner hohen Reliabilität und guten Validität sowie des geringen Zeit- und Materialaufwandes sehr geschätzt. Es liegen Normen vom 9.-60. Lebensjahr vor. Differentieller Leistungstest von Kleber und Kleber Der Differentielle Leistungstest (DL-KE) von Kleber und Kleber (1974) für Kinder von 5-7 Jahren und der Differentielle Leistungstest (DL– KG) von Kleber, Kleber und Hans (1999) für das Grundschulalter sind ebenfalls Durchstreichtests, die geeignet sind, frühzeitig Störungen des Arbeitsverhaltens bei fremdgesetzten Aufgaben zu erkennen. Die Untersuchung mit diesen Testverfahren soll helfen, Überlastungen der Kinder und damit Störungen der Leistungsmotivation zu vermeiden. Frostigs Entwicklungstest der visuellen Wahrnehmung von Lockowandt Frostigs Entwicklungstest der visuellen Wahrnehmung (FEW) von Lockowandt (2000) dient zur Untersuchung eines speziellen Leistungsaspekts, nämlich der visuellen Wahrnehmung mit der Prüfung von Auge-Hand-Koordination, Figur-GrundDifferenzierung, Formkonstanz und Gestaltidentifikation und -reproduktion. Hiermit können Störungen der Wahrnehmungsfunktionen erfasst werden. Matching-familiar-figures-Test von Kagan Der Matching-Familiar-Figures-Test (MFF) von Kagan (1968) besteht aus 12 bzw. 20 Aufgaben. Den Kindern werden jeweils 12 figürliche Abbildungen zum gleichen Inhalt vorgelegt. Sie müssen herausfinden, welche der 6 Abbildungen genau einem vorgelegten Standardbild entspricht. Auch hier werden die Zeit gemessen und die Fehler gezählt. Der Test wird mittels standardisierter Instruktion im Einzelversuch ohne Zeitbegrenzung durchgeführt. Bei der Durchführung werden sowohl die Antwortlatenzzeiten je Item (Zeit bis zur 1. Antwort – unabhängig davon, ob sie richtig oder falsch ist) registriert. Die Latenzzeiten und Fehler werden addiert und mit einer Referenzstichprobe verglichen.
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Aus dem Ergebnis kann auf den Arbeitsstil (langsam-ungenau, langsam-genau, schnell-ungenau und schnell-genau) geschlossen werden. Als reflexiv werden Kinder bezeichnet, die langsam und genau arbeiten und als impulsiv solche, die schnell und ungenau arbeiten.
4.2.5 Persönlichkeitsdiagnostik Die Diagnostik von Persönlichkeitsmerkmalen ist bei der Analyse von Störungen des Sozialverhaltens von hoher Bedeutung, da Persönlichkeitsmerkmale Verhaltens- und Handlungsdispositionen darstellen, mit deren Hilfe wir Verhalten verstehen oder erklären können. Deshalb sei zunächst auf 2 Verfahren eingegangen, die sich speziell mit der Diagnostik von Aggressivität im Kindes- und Jugendalter beschäftigen: Erfassungsbogen für aggressives Verhalten in konkreten Situationen von Petermann und Petermann Der Erfassungsbogen für aggressives Verhalten in konkreten Situationen (EAS) von Petermann und Petermann (2000) umfasst für Jungen und Mädchen im Alter von 9-12 Jahren jeweils 22 geschlechtsspezifische Items in Form von Bildergeschichten (⊡ Abb. 4.5). Die dargestellten Szenen beziehen sich auf Schule, Elternhaus und Freizeit. Das aggressive Verhalten richtet sich gegen Gegenstände und Personen. Die Antwortmöglichkeiten sind so gestaltet, dass Aggressionen offen gezeigt oder verdeckt (hinterhältig) und dass sie verbal oder körperlich ausgetragen werden sowie dass der Antwortende sich als aktiven oder Partei ergreifenden Beobachter darstellen kann. Aus den Antworten kann der Untersucher schließen auf die ▬ Art des aggressiven Verhaltens, ▬ Intensität der Aggressivität, ▬ den bevorzugten Umweltbereich aggressiver Aktivitäten und die ▬ Zielrichtung der Aggressivität. Der Untersucher kann ferner erkennen, ob das Kind aktiv aggressiv ist oder passiv die Partei des Aggressors ergreift.
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Kapitel 4 · Diagnostik von Verhaltensauffälligkeiten und assoziierten Störungen
Hartmut ist ganz gut in der Schule und macht immer seine Hausaufgaben. Ich frage ihn vor der Deutschstunde, ob ich seine Hausaufgaben für Deutsch schnell abschreiben darf. Er ist dagegen und sagt, ich soll meine Aufgaben gefälligst selbst machen.
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▬ Als Hartmut sich umdreht, klaue ich schnell sein Deutschheft. ▬ Ich sage zu Hartmut: »Wenn ich Dir das nächste Mal etwas geben soll, kannst Du lange warten!« ▬ Als der Lehrer in die Klasse kommt, gehe ich zu ihm und sage, dass ich die Hausaufgaben nicht gemacht habe. ⊡ Abb. 4.5. Beispiel-Item aus dem EAS-J. (Petermann u. Petermann 2000)
Fragebogen zur Erfassung von Aggressivitätsfaktoren Der Fragebogen zur Erfassung von Aggressivitätsfaktoren (FAF) von Hampel und Selg (1975) ist Spontane Aggressivität
erst ab dem Jugendalter (15 Jahre und älter) einsetzbar. Der Test ermittelt nachfolgend genannte Aggressionsbereiche, die wir durch Beispiel-Items verdeutlichen:
Es macht mir offen gestanden manchmal Spaß, andere zu quälen. (Ja/Nein) Ich spreche oft Drohungen aus, die ich gar nicht ernst meine. (Ja/Nein)
Reaktive Aggressivität
Ein Hund, der nicht gehorcht, verdient Schläge. (Ja/Nein) Lieber jemanden die Nase einschlagen, als feige zu sein. (Ja/Nein)
Erregbarkeit, Wut und Ärger
Ich verliere schnell die Beherrschung, aber ich fasse mich auch schnell wieder. (Ja/Nein) Ich bin leicht aus der Ruhe gebracht, wenn ich angegriffen werde. (Ja/Nein)
Selbstaggressivität
Öfter habe ich depressive Stimmungen. (Ja/Nein) Es gibt so viel, worüber man sich ärgern muss. (Ja/Nein)
Aggressivitätshemmung
Ich schlage selten zurück, wenn man mich schlägt. (Ja/Nein) Wenn ich etwas Unrechtes tue, straft mich mein Gewissen heftig. (Ja/Nein)
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123 4.2 · Psychologische und medizinische Diagnostik
Durch Zusammenfassung der Ergebnisse der Skalen 1-3 erhält man eine umfassende Charakteristik für die Aggressivität einer Person. Im diagnostischen Prozess wird aus der Art der Beantwortung von Fragen oder Statements (also Selbsturteilen) auf Persönlichkeitsmerkmale geschlossen: Frankfurter Kinder-Selbstkonzept-Inventar Bereits ab dem 3. Lebensjahr bis zum Alter von 13;11 Jahren ist das Frankfurter Kinder-Selbstkonzept-Inventar (FKSI) von Deusinger (2002) anwendbar, das u. a. Angst, Selbstsicherheit, Moralorientierung, Durchsetzungsfähigkeit und Kontaktund Umgangsfähigkeit diagnostiziert. Bei jüngeren Kindern wird der Test als Fragespiel, bei älteren als Fragebogen durchgeführt. Persönlichkeitsfragebogen für Kinder zwischen 9 und 14 Jahren Speziell zur Früherkennung verhaltensauffälliger Kinder wurde der Persönlichkeitsfragebogen für Kinder zwischen 9 und 14 Jahren (PFK 9-14) von Seitz und Rausche (1992) entwickelt. Über die näheren Inhalte des Verfahrens, das in die Bereiche Verhaltensstile, Motive und Aspekte des Selbstbildes gegliedert ist, kann sich der Leser in Kap. 2.3.3 informieren. Youth Self-Report Der Youth Self-Report der Child Behavior Checklist von Achenbach (1991) für Jugendliche von 11-18 Jahren ermittelt internale und externale Störungen in 8 Syndromskalen ( Kap. 2.3.3), wobei die Skalen »Aggressivität« und »Delinquenz« im Zusammenhang mit der Diagnostik von Störungen des Sozialverhaltens besonders hervorzuheben sind. Mit gleicher diagnostischer Zielsetzung werden von Eltern, Erziehern und Lehrern (also Fremdurteilern) die Syndromskalen der Child Behavior Checklist bearbeitet. Wir sind auf die Teacher’s Report Form (TRF) in Kap. 3.1.1 näher eingegangen. Für die Bewertung von Persönlichkeitstests (wie z. B. YSR) werden T-Werte verwendet, die wie folgt bestimmt werden: T = 50±10
(x–M) s
T Standardwert X Individueller Punktwert im Test M Mittelwert der Referenzstichprobe s Standardabweichung der Referenzstichprobe (Das Symbol T verweist auf den Psychologen Lewis M. Terman und wurde als Wertschätzung für seine Forschungsleistung eingeführt.)
Weitere Persönlichkeitstests, die im Rahmen der Diagnostik von Störungen des Sozialverhaltens von Bedeutung sind, beziehen sich auf spezifische Aspekte der Komorbidität mit Depression und Angst. Beispiele für solche Verfahren sind: Depressionsinventar für Kinder und Jugendliche von Stiensmeier-Pelster, Schürmann und Dudda Das Depressionsinventar für Kinder und Jugendliche (DIKJ) von Stiensmeier-Pelster, Schürmann und Dudda (2000) wurde entwickelt, um in der klinisch-psychologischen und pädagogisch-psychologischen Praxis den Verdacht auf das Vorliegen einer Depression in der Altersgruppe der 8- bis 16-Jährigen abzusichern. Das DIKJ umfasst 26 Items, die den Kindern und Jugendlichen jeweils in 3 Antwortalternativen dargeboten werden. Auf diese Weise kann sowohl das Vorliegen einer depressiven Störung als auch deren Schweregrad abgebildet werden. Zwei Beispiel-Items sollen die Vorgehensweise illustrieren: Beispiel 1 Ich hasse mich.
(2)
Ich mag mich nicht besonders.
(1)
Ich mag mich.
(0)
Beispiel 2 In letzter Zeit habe ich jede Nacht schlecht geschlafen.
(2)
In den letzten Nächten habe ich manchmal schlecht geschlafen.
(1)
Ich kann meist ganz gut schlafen.
(0)
Depressionstest für Kinder von Rossmann Der Depressionstest von (DTK) Rossmann (1993) enthält bei Kindern im Alter von 9-14 Jahren folgende Subskalen:
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Kapitel 4 · Diagnostik von Verhaltensauffälligkeiten und assoziierten Störungen
Dysphorische Stimmung und Selbstwertprobleme
Denkst Du oft, dass Du ein schlechter Mensch bist? (Ja/Nein) Fühlst Du Dich oft wertlos? (Ja/Nein)
Tendenzen zu agitiertem Verhalten
Gibst Du manchmal in der Schule freche Antworten? (Ja/Nein) Wirst Du in der Schule oft ermahnt, ruhig zu sein? (Ja/Nein)
4 Müdigkeit und autonome Reaktionen (psychosomatische Aspekte)
Bist Du oft den ganzen Tag müde? (Ja/Nein) Stehst Du am Morgen schwer auf? (Ja/Nein)
Die Gültigkeit dieses Verfahrens zur Diagnostik depressiver Störungen wurde mehrfach sowohl faktorenanalytisch als auch korrelativ als gesichert nachgewiesen. Von besonderem Interesse ist dieses diagnostische Verfahren, weil es auch auf Aspekte der Depressivität hinweist, die im Kindes- und Jugendalter als Form von Aggressivität oder Überforderung fehlinterpretiert werden können. Kinderangsttest von Thurner und Tewes Der Kinderangsttest (KAT) von Thurner und Tewes (1969) wird seit mehr als 30 Jahren in Klinik und Erziehungsberatung bei 9- bis 15-Jährigen eingesetzt. Seit dem Jahre 2000 ist eine überarbeitete Fassung des KAT einsetzbar, der ▬ neben der Ermittlung des dispositionellen Ängstlichkeitsgrades (Form A), ▬ die Selbsteinschätzung akuter Erwartungsängste (Form P) und im Anschluss daran ▬ die Erfassung von tatsächlichen Angstreaktionen (Form R) ermöglicht. Form A
Ich mache mir manchmal Sorgen um die Zukunft. (Ja/Nein) Fast jeden Tag habe ich wegen irgendetwas ein schlechtes Gewissen. (Ja/Nein)
Form R (erinnerte Ängste in Belastungssituationen)
Ich war nervös. (Ja/Nein) Ich fühlte mich schlecht. (Ja/Nein)
Die Belastungssituationen beziehen sich auf schulische Leistungsanforderungen, medizinische Maß-
nahmen, sportliche Leistungsvergleiche und Belastungen, die durch Trennung z. B. von den Eltern (Ferienlager) entstanden sind. Mit dem gleichen Item-Pool werden Erwartungsängste (Form P) in verschiedenen Belastungssituationen erfasst. Mit dieser Untergliederung entspricht der neue Kinderangsttest besser den Anforderungen der Kinder- und Jugendpsychotherapie. Angstfragebogen für Schüler von Wieczerkowski et al. Der Angstfragebogen für Schüler (AFS) von Wieczerkowski et al. (1981) ermittelt folgende Aspekte: Püfungsangst (PA)
Manchmal ist mir so, als ob die anderen in meiner Klasse alles viel besser als ich können. (stimmt/stimmt nicht) Wenn geprüft wird, bekomme ich jedes Mal ein komisches Gefühl im Magen. (stimmt/stimmt nicht)
Allgemeine Angst (MA)
Ich habe oft Angst, dass ich bei anderen einen schlechten Eindruck mache. (stimmt/stimmt nicht) Ich habe oft Angst, dass ich nicht das Richtige tue. (stimmt/stimmt nicht)
Schulunlust (SU)
Ich gehe gern zur Schule. (stimmt/stimmt nicht) Oft bin ich im Unterricht schlecht gelaunt. (stimmt/stimmt nicht)
Soziale Erwünschtheit (SE)
Ich verhalte mich immer freundlich und zuvorkommend. (stimmt/stimmt nicht) Ich habe noch nie gelogen. (stimmt/ stimmt nicht)
Die Skala »Prüfungsangst« beschreibt Gefühle der Unzulänglichkeit und Hilflosigkeit in schulischen Prüfungssituationen sowie Ängste vor einem Leistungsversagen, die vielfach mit vegetativen Reaktionen verbunden sind. Die Skala »Manifeste Angst« oder »Allgemeine Angst« enthält Items, die mit allgemeinen Angstsymptomen wie Herzklopfen, Nervosität, Einschlaf- und Konzentrationsstörungen sowie mit Furchtsamkeit und einem reduzierten Selbstvertrauen eingehen. Die Skala »Schulunlust« erfasst die innere Abwehr von Kindern und Jugendlichen gegen die Schule und einen
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durch unlustvolle Erfahrungen bewirkten Motivationsabfall gegenüber unterrichtlichen Gegenständen. Ferner enthält der AFS eine Skala zur Erfassung der Tendenz von Schülern, sich angepasst und sozial erwünscht darzustellen (SE). Die Anwendung des AFS ist angezeigt, wenn die Verhaltensauffälligkeiten sich auf den schulischen Bereich konzentrieren. Mit Hilfe dieses Verfahrens erhalten wir Einblick in die ängstlichen und unlustvollen Erfahrungen von Kindern und Jugendlichen der Altersgruppen von 9-17 Jahren. Der AFS ist bei Problemfällen auch deshalb zu empfehlen, weil neben der Selbsteinschätzung der Schüler auch das Lehrerurteil mit erhoben werden kann. Schulangst-Test von Husslein Der Schulangst-Test (SAT) von Husslein (1978) ist ein projektives Verfahren. Den Kindern werden 10 Bildtafeln vorgelegt, zu denen sie Geschichten erzählen sollen. Bei den Bildtafeln handelt es sich sowohl um Kohlestiftzeichnungen als auch Tuschzeichnungen unter Verwendung der Wischtechnik zu den Themen »Vor dem Schulgebäude«, »Unterrichtsgespräch«, »Zu spät kommender Schüler«, »Gespräch mit dem Lehrer«, »Pausenspiel«, »Drankommen im Unterricht«, »Nachsitzen«, »Elterngespräch«, »Schlüssellochgucker« (⊡ Abb. 4.6) »Zeugnisverteilung«. Die Zeichnungen sind so beschaffen, dass eine eindeutige Interpretation nicht möglich ist, so dass Freiraum für subjektives Erfas-
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sen des Inhaltes und Wiedergabe eigenen Erlebens besteht. Die Erzählungen werden nach 5 Merkmalen der Angst ausgewertet: ▬ emotionale Befindlichkeit (z. B. äußert Angstgefühle, ist voller Erregung), ▬ körperliche Symptome von Angst (z. B. hat Bauchschmerzen oder Herzklopfen), ▬ Ich-Abwertung (z. B. macht sich Vorwürfe, hält sich für einen Versager), ▬ soziale Angst (z. B. hat keine Freunde, hat Angst, dass der Lehrer die Eltern ruft) und ▬ zukunftsorientierte Bedrohung (z. B. befürchtet, dass er die Hausaufgaben noch einmal machen muss, befürchtet Schlimmes). Über Expertenurteile liegen relative Antwortnormen für die Bewertung der Angstmerkmale vor. Die Ausprägung des Stärkegrades eines jeden Angstmerkmals wird vom Untersucher bei jedem Item (Bild) mit einer 7-stufigen Schätzskala beurteilt, wobei 0 »Angstmerkmal nicht vorhanden« und 6 »Voller Entsetzen« bedeutet. Inventar zur Erfassung von Impulsivität, Risikoverhalten und Empathie bei 9- bis 14-jährigen Kindern Unter den Persönlichkeitstests sei abschließend auf das Inventar zur Erfassung von Impulsivität, Risikoverhalten und Empathie bei 9- bis 14-jährigen
⊡ Abb. 4.6. Item aus dem Schulangst-Test von Husslein (1978)
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Kapitel 4 · Diagnostik von Verhaltensauffälligkeiten und assoziierten Störungen
Kindern (IVE) von Stadler, Janke und Schmeck (2004) verwiesen, da es auch Wesentliches zur Aufklärung der Komorbidität von Störungen des Sozialverhaltens und ADHS, Lern- und Leistungsstörungen, Bulimia nervosa, Drogenabhängigkeit und Sucht, dissozialen Persönlichkeitsstörungen und Tics leisten kann. Aus dem Befund lassen sich außerdem Vermutungen auf das Vorliegen eines organischen Psychosyndroms bzw. von Hirntumoren ableiten. Mit »Impulsivität« wird die mangelnde Vorwegnahme der Konsequenzen des eigenen Verhaltens, keine klare Ausrichtung auf zukünftige Ziele sowie ein schneller ungenauer Arbeitsstil charakterisiert. Unter »Risikoverhalten« wird die Neigung zu Sensationssuche verstanden, die Skala »Empathie« erfasst den Grad des Einfühlungsvermögens in andere bzw. das Miterleben von Gefühlen anderer. Beispiel-Items: Impulsivität
Ich tue und sage etwas, ohne darüber nachgedacht zu haben. (Ja/Nein)
4.2.6 Beurteilung sozialer Fähigkeiten Obwohl Persönlichkeitstests immer auch soziale Fähigkeiten miterfassen, ist oftmals die Einbeziehung spezieller Testverfahren sehr nützlich. Wir verweisen zunächst auf Verfahren zur Ermittlung des Schulklimas, die Aufschluss über die Sozialbeziehungen in einem Lebensbereich gewähren, der für Entstehung und Aufrechterhaltung von Störungen des Sozialverhaltens von großer Bedeutung ist. Zu erwähnen sind hier die Landauer Skalen zum Sozialklima für 4.-13. Klassen (LASSO 4-13) von v. Saldern und Littig (1987) und das diagnostische Soziogramm von Müller (1980). Landauer Skalen zum Sozialklima für 4. bis 13. Klassen Bei den Landauer Skalen zum Sozialklima unterscheiden wir nach den in der Tabelle folgenden Bereichen: Skala
Subskala
Lehrer-SchülerInteraktion
Fürsorglichkeit des Lehrers Aggression gegen den Lehrer
Ich mache meistens das, was mir gefällt. (Ja/Nein)
Zufriedenheit mit dem Lehrer Ausmaß des autoritären Führungsstils des Lehrers
Manchmal halte ich mich nicht an Vorschriften oder Regeln. (Ja/Nein) Risikoverhalten
Ich mache manchmal gern etwas Riskantes. (Ja/Nein) Empathie
Bevorzugung oder Benachteiligung von Schülern durch den Lehrer
Ein Leben ohne Gefahr wäre mir langweilig. (Ja/Nein) Schüler-SchülerInteraktion
Ausmaß der Cliquenbildung Hilfsbereitschaft von Mitschülern und Zufriedenheit mit den Mitschülern
Ich kann mir gut vorstellen, wie es sein muss, wenn jemand sehr einsam ist. (Ja/Nein)
Aggression gegen Mitschüler
Es nimmt mich sehr mit, wenn ich jemanden weinen sehe. (Ja/Nein)
Diskriminierung von Mitschülern Konkurrenzdenken von Mitschülern
Wenn Impulsivität und Risikoverhalten hoch sind, besteht eine erhöhte Vergesellschaftung mit Alkoholabhängigkeit, Bulimia nervosa und Delinquenz (gefährliches Fahren, auffälliges sexuelles Verhalten). Sind Impulsivität und Risikoverhalten stark ausgeprägt und gleichzeitig Empathie schwach, besteht eine starke Tendenz zu enthemmtem, aggressivem Verhalten.
Merkmale des Unterrichts
Leistungsdruck Zufriedenheit mit dem Unterricht Disziplin und Ordnung Fähigkeit des Lehrers zur Vermittlung von Lerninhalten Reduzierte Unterrichtsteilnahme Resignation
127 4.2 · Psychologische und medizinische Diagnostik
Die LASSO sind vielseitig anwendbar, wobei sich ihr häufigster Einsatz auf die Erfassung der tatsächlichen Lernumwelt aus der Sicht des Schülers bezieht (LASSO-Real). Durch geringfügige Veränderung der Durchführungsinstruktion lässt sich auch die vom Schüler gewünschte schulische Umwelt ermitteln (LASSO-Ideal). Aus den Diskrepanzen von LASSO-Real und LASSO-Ideal lässt sich auf notwendige Veränderungen in der schulischen Umwelt folgern.
Ergänzende persönlichkeitsdiagnostische Verfahren (projektive Verfahren) Unter projektiven Verfahren verstehen wir Deuteund Gestaltungsverfahren. Der Begriff »Projektive Verfahren« wurde von Frank (1948) eingeführt. Er verstand darunter: »Methoden, welche die Persönlichkeit dadurch untersuchen, dass sie die Versuchsperson einer Situation gegenüberstellen, auf welche die Versuchsperson entsprechend der Bedeutung reagiert, die diese Situation für sie besitzt (…). Das Wesen eines projektiven Verfahrens liegt darin, dass es etwas hervorruft, was – auf verschiedene Art – Ausdruck der Eigenwelt des Persönlichkeitsprozesses der Versuchsperson ist.« (S. 46)
Wir müssen uns dabei bewusst sein, dass Projektion ein allgemeiner Prozess ist, also nicht an eine bestimmte strukturierte Persönlichkeit (gesund oder krank) gebunden ist, und dass Projektion als ein Hinausverlegen innerer Vorgänge in persönlichkeitsunabhängige Objekte zu erklären ist. In welcher Weise läuft nun Diagnostik mittels projektiver Verfahren ab? ▬ »Die Person wird mit einer Situation, die Aufforderungscharakter besitzt, konfrontiert. Diese Situation ist der Teststimulus. ▬ Die Person geht mit dem Stimulus eine wertende Beziehung ein. ▬ Die wertende Beziehung ist Ausdruck der Persönlichkeit. ▬ Aufgrund der spezifischen Bedeutung des Stimulus für die Person kommt es zu einer Entäußerung, einer Reaktion.
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▬ Die Reaktion ist ein Korrelat von Stimulus und Persönlichkeit. Der Diagnostiker zerlegt in nicht näher festgelegter Weise die Reaktion in ihre objektive und subjektive Komponente und gewinnt somit Einblick in die Persönlichkeit:« (Ettrich 1999, S. 145) Aus der Vielzahl heute Verwendung findender projektiver Untersuchungsverfahren sollen exemplarisch 7 herausgestellt werden: ▬ Scenotest von v. Staabs (1992), ▬ Formdeuteversuch von Rorschach (1921), ▬ Foto-Hand-Test von Belschner, Lischke und Selg (1971), ▬ Thematischer Apperzeptionstest (TAT) von Murray (Revers 1958), ▬ Wartegg-Zeichen Test (Wartegg 1939, 1953), ▬ Schwarzfuß-Test (Corman 1992) und ▬ Familie in Tieren (Brem-Gräser 2001). Scenotest Bei Kindern und Jugendlichen aller Altersgruppen vermitteln spielerische Gestaltungsverfahren wie der Scenotest von v. Staabs (1992) einen guten Einblick in die sozialen Einstellungen und Interaktionsformen mit anderen Menschen. Das Testmaterial besteht aus biegbaren Puppen vom Baby über Kleinkind, Schulkind bis hin zu Figuren aus dem Erwachsenenalter, die als Eltern, Großeltern, aber auch Arzt oder Lehrer identifiziert werden können. Ferner gehören zum Spielmaterial allerlei Haushaltsgeräte, Möbel, Fahrzeuge, Bausteine und Tiere (⊡ Abb. 4.7). Von Staabs geht davon aus, dass die Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen im gestaltenden Spiel Konflikte und Wünsche zum Ausdruck bringen. Der Untersucher gewinnt seine Daten durch ▬ Verhaltensbeobachtung (zu Produktivität, Selbstsicherheit, Gehemmtheit, Aufmerksamkeit, persönliches Arbeitstempo usw.), ▬ Analyse der Spielthematik (in der Untersuchung ist es dem Kind oder Jugendlichen frei gestellt, welche Szene er gestaltet; dadurch gewinnt man einen Eindruck davon, wie sich der Betreffende mit der Umwelt auseinandersetzt, welche Schwierigkeiten er gegenüber der Umwelt erlebt bzw. empfindet) und
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Kapitel 4 · Diagnostik von Verhaltensauffälligkeiten und assoziierten Störungen
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⊡ Abb. 4.7. Arbeitsmaterial zum Scenotest. (v. Staabs 1992)
▬ Analyse der Darstellungsweise (Verhaltensgestörte bringen oftmals eine hohe Spieldramatik in ihr Handeln ein; durch Überschreiten der Spielfläche bringen sie beispielsweise zum Ausdruck, dass sie sich über Regeln des Zusammenlebens hinwegsetzen). Es ist allerdings nachdrücklich darauf zu verweisen, dass sowohl Einsatz als auch Auswertung des Sceno-Tests (und das gilt für alle projektiven Verfahren) in die Hand des Geübten gehören und er keinesfalls – wie manchmal in der Praxis leider gesehen – zum bloßen Spielzeug verkommen darf. Formdeuteversuch Im Formdeuteversuch von Rorschach (1921) werden den Kindern und Jugendlichen schwarz-weiße, schwarz-graue und farbige Klecksographien vorgelegt. Es handelt sich dabei um Zufallsgebilde, die durch Farbmischung auf einem Blatt
⊡ Abb. 4.8. Tafel zum Formdeuteversuch von Rorschach. (Rorschach 1921)
Papier und dessen Faltung entstehen. ⊡ Abb. 4.8 gibt solch ein symmetrisches Zufallsgebilde wieder. Die Kinder und Jugendlichen werden aufgefordert, alles zu nennen, was sie in dem Bild sehen. Es ist ihnen überlassen, ob sie das ganze Gebilde oder Teile benennen. Der Formdeuteversuch
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nutzt die gut gesicherte Erfahrung, dass individuelle Wahrnehmungen von subjektiven Erfahrungen und Erlebenszuständen beeinflusst werden. Die Anwendung des Formdeuteversuchs bedarf großer Erfahrung, weil der Test nicht auf ein bestimmtes Merkmal oder eine bestimmte Reaktionstendenz verweist, sondern vom Untersucher mit seiner Persönlichkeitstheorie in Übereinstimmung gebracht werden muss. Sehr gut lassen sich Tendenzen zu Handlungs- bzw. Verhaltenswiederholungen, Unsicherheit und Affektverdrängung, Aggressionshemmung, aber auch Ängste und Phobien nachweisen. Foto-Hand-Test Der Foto-Hand-Test (FHT) von Belschner, Lischke und Selg (1971) dient dem speziellen Nachweis von Aggressivität. Der Foto-Hand-Test besteht aus 34 Fotos einer männlichen Hand in unterschiedlichen Positionen. Die Kinder oder Jugendlichen müssen zu jedem Foto mitteilen, was die Hand gerade tut. Auch bei diesem Test nutzt man die Erfahrung, dass individuelle Wahrnehmungen von subjektiven Erlebenszuständen und Reaktionstendenzen mitbestimmt werden. Aus den Vergleichen von Delinquenten und unauffälligen Personen sowie aggressiven und nichtaggressiven Kindern und Jugendlichen geht hervor, dass das Persönlichkeitsmerkmal »Aggressivität« mit dem Foto-Hand-Test sicher beurteilt werden kann, man also nicht auf Selbsteinschätzungen angewiesen ist. Thematischer Apperzeptionstest Der Thematische Apperzeptionstest (TAT) von Murray (Revers 1958) geht davon aus, dass die Darstellung des subjektiven Erlebens umso besser gelingt, je stärker sich die Patienten mit dem Dargestellten identifizieren können. Aus diesem Grunde wurden für die Bildtafeln Darstellungen ausgewählt, die Menschen in vielfältigen Lebenssituationen zeigen. Durch eine gewisse Unschärfe in der Darstellungsart will man erreichen, dass in den Geschichten, welche die Betroffenen zu den Bildern erzählen, deren subjektives Erleben zum Ausdruck kommt (z. B. Trauer, Enttäuschung, Frustration, Konflikt, Streit, Aggression, Wut, Rivalität oder Outsider-Situation).
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Die Probanden sollen sich bei ihren Erzählungen auf 4 Fragen zu den Bildinhalten konzentrieren: ▬ Wie ist es zu der Situation gekommen? ▬ Was passiert gerade? ▬ Welche Gedanken und Gefühle haben die beteiligten Personen? ▬ Wie wird die Geschichte weitergehen? Auch der Thematische Apperzeptionstest ist ein Untersuchungsinstrument, mit dem sich im indirekten Vorgehen das Ausmaß an Aggressivität einer Person sehr gut identifizieren lässt. Zudem lassen sich bezogen auf den Einzelfall die TAT-Geschichten sehr gut therapeutisch nutzen. Wartegg-Zeichen Test Im Wartegg-Zeichen Test (WZT) von Wartegg (1939, 1968) erhalten die Personen die Aufgabe (⊡ Abb. 4.9), 8 Teilfiguren (sog. Anfangszeichen) zu einem sinnvollen Ganzen zu ergänzen. Aus der Art des Zeichnens wird auf Antrieb, Empfindungen und kortikale Steuerung geschlossen. Wartegg geht davon aus, dass durch die Anfangszeichen die weitere Arbeit der Betroffenen determiniert wird. Der qualitative Aufforderungscharakter wirkt sich auf die Größengestaltung, die Formenwahl und die Raumnutzung und Raumlage aus. Auf Grund dieser Annahme kann man zwischen adäquater und inadäquater Reizverarbeitung differenzieren. Unter Berücksichtigung der Darstellungsmittel kann im WZT auf Affekte, Antrieb, Empfindsamkeit, Aufgeschlossenheit, Gemüt, Innerlichkeit und Idealismus, aber auch auf Willensgerichtetheit, Genauigkeit, Kollektivität und Originalität geschlossen werden. Schwarzfuß-Test von Corman Der Schwarzfuß-Test (SFT) von Corman (1992) zielt darauf ab, die Personen herauszufiltern, mit denen sich Kinder oder Jugendliche bevorzugt identifizieren, bzw. Konfliktthemen und Konfliktpersonen herauszufinden. Bezogen auf unsere Thematik sind besonders die Bereiche aggressive Themen und Aggressivität gegen die Eltern von Interesse. Aus den Untersuchungen von Corman geht hervor, dass Jungen im Vergleich zu Mädchen erwar-
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Wartegg - Zeichenvorlagebogen (WZT)
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Versuchs Nr.
Vor- und Zuname
Datum
Beruf
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⊡ Abb. 4.9. Zeichenvorlagebogen zum Wartegg-Test. (Wartegg 1968)
tungsgemäß häufiger aggressive Äußerungen zu den Bildern abgeben. Bei Aggressivität gegen die Eltern ist es bei Jungen v. a. der Vater, mit dem sich aggressiv auseinandergesetzt wird, während Mädchen in diesem Verfahren aggressive Themen generell eher meiden. Das folgende kurze Fallbeispiel soll zur Illustration des Gesagten dienen und gleichzeitig die enge Aufeinanderbezogenheit von zu Grunde liegendem Konflikt und dessen Ausdruck in einem völlig anderen Entwicklungsbereich verdeutlichen. Hiermit soll gleichzeitig die Notwendigkeit eines komplexen diagnostischen Vorgehens unterstrichen werden.
Fallbeispiel Marie Marie ist das 1. von 2 Kindern der Familie. Sie wird im Alter von 8;6 Jahren von den Eltern in der kinderpsychologischen Sprechstunde vorgestellt, weil das Mädchen seit etwa 4 Jahren den Eltern wegen zunehmender Dunkelangst und Angst vor dem Alleinsein große Sorgen bereite. Die Eltern müssen gewährleisten, dass Licht im Zimmer brennt und die Tür zum Kinderzimmer offen bleibe, wenn Marie und ihr 4 Jahre jüngerer Bruder schlafen sollen. Dem Bruder sei dies eigentlich egal, aber er schließe ▼
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sich zunehmend den Wünschen der großen Schwester an. Die Kindesmutter berichtet, unterstützt durch Einwürfe des Kindesvaters, dass Schwangerschaft, Geburt und frühkindliche Entwicklung normal verlaufen seien. Mit der Geburt des jüngeren Bruders Benjamin habe sich eine Veränderung in Maries Verhalten ergeben. Die Eltern meinen, daran vielleicht nicht unbeteiligt gewesen zu sein. Sie haben die Tochter, um die Anpassung an die neue Familiensituation zu erleichtern, in die Betreuung des Bruders einbezogen. Der Junge sei als Baby schon recht lebhaft gewesen. Als er 6 Monate alt war und die Mutter ihn wickeln wollte, klingelte das Telefon. Die Mutter ging in den Flur, um das Gespräch anzunehmen, Marie sollte auf den Bruder aufpassen. Nach kurzer Zeit schrie Marie laut und eindringlich, so dass die Mutter ins Kinderzimmer zurücklief. Sie fand den Jungen auf dem Boden liegend und daneben, ebenfalls schreiend, Marie. Benjamin hatte keinerlei Verletzungen und war fröhlich wie immer. Auch der Besuch beim Kinderarzt ergab keinerlei krankhaften Befund. Die Mutter konnte Marie nur schwer beruhigen und Marie war nicht zu bewegen, das, was vorgefallen war, zu beschreiben. Seit dieser Zeit sei Marie ängstlich und traue sich nichts mehr zu. Neben der Dunkelangst habe Marie Angst vor allen neuen Situationen. Mit Beginn der Schule hätten sich diese Auffälligkeiten noch verstärkt. In der psychologischen Untersuchung arbeitet Marie bereitwillig mit. Im HAWIK erreicht sie ein überdurchschnittliches Ergebnis (IQ: 121) und in der Columbia Mental Maturity Scale (CMM) ein annähernd gleiches Resultat (T: 65). Beide Befunde sprechen für eine sehr gute kognitive Entwicklung des Kindes. Im KHV hat Marie offensichtlich Entscheidungsprobleme bei Items mit 2 kritischen Merkmalen. Sie bewegt die jeweilige Karte zwischen den Feldern hin und her, obwohl sie sicher weiß, in welchem Feld sie die jeweilige Karte ablegen müsste. Ganz offensichtlich handelt es sich bei Marie um eine neurotische Störung, die sich im Arbeitsverhalten beim KHV niederschlägt. ▼
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Im Sceno-Test gestaltete sie bevorzugt Szenen mit dem Baby. Die behutsamen Explorationen zu den Szenen ließen das verursachende Geschehen erkennen. Marie hatte die Abwesenheit der Mutter genutzt, den Bruder hoch zu heben, dabei war er ihr aus den Händen geglitten und zu Boden gerutscht. Marie hat seitdem befürchtet, alles falsch zu machen, weil sie nicht auf die Mutter gehört hatte. Noch mehr befürchtete sie, deshalb die Liebe der Eltern zu verlieren. Mit Marie wurde eine psychotherapeutische Behandlung aufgenommen, die erfolgreich zur Beseitigung der Dunkelangst führte.
Familie in Tieren Dieses Verfahren ist ebenfalls projektiver Natur. Es wurde von L. Gräser entwickelt und dient dazu, Familienstrukturen im Sinne von Hierarchien und Beziehungsmustern zu erhellen. Die Verwandlung in Tiere ist in ihrer symbolischen Bedeutung ebenfalls von Relevanz. Dabei ist der Doppelcharakter der Tierinterpretationen in Rechnung zu stellen.
Familien- und Interaktionsdiagnostik Speziell für die Analyse familiärer Interaktionsbeziehungen wurden z. B. der Familien- und Kindergarteninteraktionstest (FIT-KIT) von Sturzbecher und Freytag (2000), der Familiensytemtest von Gehring (1998) und der Familienbeziehungstest (F-B-T) von Howells und Lickorish (1994) entwickelt. Elternfragebogen über Problemsituationen in der Familie Der Elternfragebogen über Problemsituationen in der Familie (HSQ-D, Döpfner et al. 1998) ist die eine deutsche Version des von Barkley (1997) entwickelten Home Situations Questionnaires. Im Fragebogen schätzen Eltern anhand von 16 Alltagssituationen aus dem Familienleben zunächst ein, ob es in diesen Situationen im Verhalten ihres Kindes Probleme gibt. Danach bewerten die Eltern bei jeder als problematisch eingeschätzten Situation auf einer 9-stufigen Skala (1: schwach bis 9: sehr stark) das Ausmaß des gestörten Verhaltens. Der Fragebogen ist für klinische Zwecke sehr infor-
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Kapitel 4 · Diagnostik von Verhaltensauffälligkeiten und assoziierten Störungen
mativ und eignet sich auch für den Nachweis von Behandlungseffekten.
4
Erziehungsstilinventar Das Erziehungsstilinventar (ESI) von Krohne und Pulsack (1995) erfasst das Erziehungsverhalten von Mutter, Vater oder beiden Eltern bei Kindern und Jugendlichen im Alter von 8-16 Jahren. Obwohl die Erziehungsstilforschung eine lange Tradition hat, ist erst durch den Wechsel von der Erwachsenperspektive auf die Kinderperspektive der entscheidende Fortschritt für Erziehungsberatung und Therapie gelungen. Denn auch hier gilt: ! Es ist nicht verhaltenswirksam, wie wir Erwachsenen unseren Erziehungsstil sehen oder bewerten, sondern wie unser Erziehungsverhalten auf unsere Kinder wirkt, also von ihnen wahrgenommen und erlebt wird.
▬ schimpft sie (er) mit mir, ▬ verbietet sie (er) mir meine Lieblingsbeschäftigung (z. B. Fernsehen, Radfahren), ▬ gibt sie (er) mir Stubenarrest bzw. ▬ schlägt sie (er) mich. Mancher Leser wird sich möglicherweise an der Aussage des Antwortmodells »schlägt sie (er) mich« stören. Hier müssen wir aber daran erinnern, dass Verhaltensgestörte oftmals selbst Opfer von Gewalt sind, und wir deshalb diesen Sachverhalt miterfassen müssen.
4.2.7 Auswertung von Berichten
zum aktuellen Verhalten des Kindes oder Jugendlichen
Der Test besteht aus 2 Teilen. Der 1. Teil dient dazu, Ursachen von Verhaltensproblemen aufzuklären. Das Erziehungsstilinventar erfasst dabei das elterliche Verhalten in den Dimensionen ▬ Unterstützung (Meine Mutter (mein Vater) zeigt mir, wie die Dinge funktionieren, mit denen ich umgehen möchte.), ▬ Einschränkung (Meine Mutter (mein Vater) sagt mir, dass ich für bestimmte Dinge, die ich gern tun möchte, noch zu jung bin.), ▬ Lob (Meine Mutter (mein Vater) freut sich, wenn ich bei einer Arbeit geholfen habe.), ▬ Tadel (Meine Mutter (mein Vater) wird ärgerlich, wenn ich nicht pünktlich nach Hause komme.) und ▬ Inkonsistenz (Meine Mutter (mein Vater) lässt sich lange Zeit nicht anmerken, dass sie (ihn) etwas ärgert, wird dann aber plötzlich richtig wütend.).
Beobachtungen und Berichte von Eltern, Lehrern, Erziehern, Sozialarbeitern können wesentlich zur Abklärung der Diagnose »Störung des Sozialverhaltens« beitragen, wenn man von diesen möglichst exakte Schilderungen über das Verhalten (den Verhaltensexzess), über die Situation, die beteiligten Personen, über die vermuteten Auslöser des Verhaltens und seine Konsequenzen erlangen kann. Darüber hinaus sind auch Informationen über die Führbarkeit der Kinder und Jugendlichen durch Eltern, Lehrer und andere Erwachsene sowie die Freizeitgestaltung von Interesse. Wir wissen, PeerGroups können zur Aufrechterhaltung bzw. zur Aggravation von Störungen des Sozialverhaltens beitragen. Auch sollte der Leistungsfortschritt der Kinder erfasst werden. Dabei ist von Bedeutung, ob es erhebliche Diskrepanzen zwischen individuellen Leistungen und schulischen Anforderungen gibt.
Der 2. Teil analysiert die elterliche Strafintensität. Hierzu wird aus jeder der vorstehenden Skalen ein Item ausgewählt und mit folgendem Antwortmodell bewertet: z. B. Wenn ich nicht pünktlich nach Hause komme, ▬ nimmt sie (er) es mir nicht übel, ▬ zeigt sie (er) mir, dass ich ihr (ihm) Kummer gemacht habe,
Fragebogen von Conners Die diagnostischen Verfahren von Conners (1969, 1973) sind für die Erfassung von Beobachtungen zum Verhalten des Kindes seit mehr als 30 Jahren als Lang- und Kurzform im diagnostischen Gebrauch (⊡ Abb. 4.10). Auch wegen ihrer Einsatzmöglichkeit beim Nachweis von Verhaltensänderungen durch Therapie sei der Eltern-LehrerErzieher-Fragebogen hier wiedergegeben.
133 4.2 · Psychologische und medizinische Diagnostik
4
Eltern-Lehrer-Erzieher-Fragebogen Bitte beurteilen Sie das Kind____________________________________________ hinsichtlich der aufgeführten Verhaltensweisen! über- ein ziemsehr haupt wenig lich stark nicht 0
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1. unruhig oder übermäßig aktiv
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2. erregbar, impulsiv
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3. stört andere Kinder
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4. bringt angefangene Dinge nicht zu Ende kurze Aufmerksamkeitsspanne
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5. ständig zappelig
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6. unaufmerksam, leicht ablenkbar
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7. Erwartungen müssen umgehend erfüllt werden, leicht frustriert
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8. weint leicht und häufig
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9. schneller und ausgeprägter Stimmungswechsel
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10. Wutausbrüche, explosives und unvorhersehbares Verhalten
ausgefüllt von: Mutter/Vater/Lehrer(in)/Erzieher(in)
⊡ Abb. 4.10. Eltern-Lehrer-Erzieher-Fragebogen. (Kurzform nach Conners 1973; aus Ettrich 2004)
Fragebogen zum Hyperkinetischen Syndrom von Klein Der Fragebogen zum Hyperkinetischen Syndrom (HKS) von Klein (1993) ermittelt über Bezugspersonen (z. B. Mutter) die Hauptsymptome der ADHS. Das Ausfüllen des Fragebogens und die Ermittlung der diagnostischen Aussage dauern nur wenige Minuten, so dass wir von einem ökonomischen Verfahren sprechen können. Die Reliabilität des Fragebogens HKS ist sehr zufriedenstellend. Dem Test ist ein Therapieleitfaden beigefügt, der es
dem Fachmann erlaubt, im Bedarfsfall unmittelbar zur Behandlung von 5- bis 10-Jährigen überzugehen, wobei nach einer Behandlungszeit von 12 Wochen eine Effizienzanalyse vorgesehen ist. Exploration von Eltern, Lehrern und anderen Bezugs- bzw. Kontaktpersonen von Kindern und Jugendlichen Für die vertiefende Exploration von Eltern, Lehrern und anderen Bezugs- bzw. Kontaktpersonen (EPSKI) von Kindern und Jugendlichen mit Ver-
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4
Kapitel 4 · Diagnostik von Verhaltensauffälligkeiten und assoziierten Störungen
dacht auf eine Störung des Sozialverhaltens haben Döpfner und Lehmkuhl (2000) eine Checkliste herausgegeben, die auf folgende thematische Schwerpunkte fokussiert: ▬ Ermittlung der aktuelle oppositionelle, aggressive oder dissoziale Problematik, ▬ Beurteilung spezifischer psychischer Komorbiditätsstörungen, ▬ Erfassung von häufig kovariierenden Symptomen, wie z. B. Fehlwahrnehmungen, ▬ Erfassung und Beurteilung des familiären und sozialen Hintergrundes: – z. B. Familienstruktur, Wechsel von Bezugspersonen, elterliches Erziehungsverhalten, – psychische Auffälligkeiten bei anderen Familienmitgliedern, – Besonderheiten im Wohnumfeld, Kindergarten, Schule, – traumatische Lebensbedingungen (Gewalt, Misshandlungen, sexueller Missbrauch) sowie ▬ Ermittlung der Entwicklungsgeschichte des Patienten. Fragebogen von Steinhausen Auch mit dem von Steinhausen (1981) bearbeiteten Fragebogen, der sich an den zentralen Merkmalen der ADHS orientiert, kann die Störung und deren Ausprägung sowohl bei der Erstdiagnostik als auch im Therapieverlauf beurteilt werden. Im Fragebogen werden die Kardinalsymptome »Impulsivität«, »Hyperaktivität« und »Aufmerksamkeitsstörung« erfasst, aber auch die Nebensymptome »Erregbarkeit«, »emotionale Störungen«, »dissoziales Verhalten« und »Lernstörungen«. Insofern geht er über die vorher angegebenen Fragebögen hinaus.
4.2.8 Körperliche und entwicklungs-
neurologische Untersuchung Der körperliche Gesundheits- und Reifestatus ist in aller Regel vom Kinder- oder Hausarzt des entsprechenden Kindes bzw. Jugendlichen zu erfahren. Die entwicklungsneurologische Beurteilung
erfolgt durch den Kinder- und Jugendpsychiater (Ettrich 1994a, 2000a). Hier geht es nicht nur um die Feststellung des motorischen Leistungsvermö-
gens im Vergleich zur Altersnorm und nicht nur um die Feststellung von Seitenabweichungen oder Reflexdifferenzen, sondern darum, wie bestimmte Bewegungen von den Kindern ausgeführt werden. Dies lässt Rückschlüsse darauf zu, ob z. B. im Alltag benötigte Bewegungsmuster auf energetisch niedrigem Niveau (also nahezu spielend bzw. automatisiert) ausgeführt werden können, oder ob dafür eine hohe Energie vom ZNS aufgewendet werden muss. Das ist Energie, die dann für andere Aufgaben nicht zur Verfügung steht (vgl. Ayres 1984). Ganz wichtig für das Schulkind ist in diesem Zusammenhang die genaue Untersuchung feinmotorisch- koordinativer Fähigkeiten, da diese ja im schulischen Alltag immer wieder gebraucht werden. Durch eine gewissenhafte entwicklungsneurologische Untersuchung kann man wichtige Hinweise auf eine wie auch immer geartete Hirnfunktionsstörung erhalten, die bei Bedarf durch neuropsychologische bzw. neuroradiologische Mittel (CT, MRT) zu ergänzen ist. Ein Untersuchungsverfahren für das Kindesund Jugendalter sollte also den folgenden Ansprüchen genügen: Es sollte ▬ einen weiten Geltungsbereich besitzen, d. h. auf eine breite Altersspanne anwendbar sein, ▬ ohne großen technischen Aufwand durchführbar sein, ▬ nicht nur eine bestimmte Diagnose verifizieren, ▬ Hinweise auch auf minimale und unspezifische Auffälligkeiten liefern und ▬ hinsichtlich Durchführung und Auswertung weitgehend standardisiert sein (Ettrich 1994). Die neurologische Untersuchung im Kinder- und Jugendbereich muss immer eine entwicklungsneurologische Untersuchung sein, da sich, wie bereits mehrfach betont, das kindliche bzw. jugendliche ZNS in einer Phase der raschen Umgestaltung befindet. Die entwicklungsneurologische Untersuchung hat 2 Fragestellungen zu berücksichtigen, und zwar: ▬ Sind die gezeigten neurologischen Parameter altersgerecht vor dem Hintergrund des Entwicklungsgeschehens entwickelt (was leistet das Kind)? ▬ Sind sie normgerecht entwickelt (wie leistet das Kind)?
135 4.2 · Psychologische und medizinische Diagnostik
Als ein solches Verfahren hat sich das von Touwen und Prechtl (1970) inaugurierte entwicklungsneurologische Untersuchungsverfahren bewährt und seit seiner Publikation 1982 auch im deutschen Raum zumindest in Modifikationen durchgesetzt, seitdem Macke (1977), Wittrock (1976), Konstantopoulos (1985), Schirm, Sadowsky und FausKessler (1986) sowie Schuldlos (1983) mit Modifikationen dieses Verfahrens Erkenntnisse gewonnen hatten und dies favorisierten. Die Autorin des vorliegenden Buches hat in den 80er-Jahren mit diesem Verfahren in seiner ursprünglichen Form und in seiner Gesamtheit eigene Erkenntnisse in über 1000 Untersuchungen bei 3- bis 7-jährigen Kinder sammeln können (Leipziger Kleinkinderlängsschnittstudie; vgl. Ettrich 1991, 1994). Es handelt sich hierbei um ein Untersuchungsprogramm, das für Kinder zwischen 3 und 12 Jahren standardisiert ist und insgesamt über 500 Items enthält, die allerdings vorzugsweise durch Beobachtung der Motorik des Kindes erhoben oder beurteilt werden können. Es ist damit ein sehr umfassendes Programm, das Einblick in verschiedene Subsysteme der neurologischen Leistungsfähigkeit erlaubt. Insgesamt sind dies 10 Subsysteme. Parallel dazu werden jeweils noch der Aktivitätszustand und das Verhalten des Kindes beobachtet und kodiert. Es handelt sich um ein sehr komplexes Untersuchungsverfahren, das nicht jeder Kinder- und Jugendpsychiater umfassend anwendet, jedoch ist der Stand derzeit so, dass die meisten Kollegen ausgewählte Teile dieses Verfahrens verwenden. Je mehr die Kinder in den Jugendlichenbereich wechseln, desto eher greifen selbstverständlich auch die Untersuchungsmethoden der Erwachsenendiagnostik, die jedoch noch lange Zeit, so ist es die Erfahrung der Autoren, auf dem Hintergrund des Entwicklungsgeschehens zu bewerten sind. So ist es keine Seltenheit, z. B. bei einem 15-, 16-jährigen Jugendlichen noch suboptimale Zeichen mit dem Touwen-Verfahren nachweisen zu können. Die 10 Subsysteme des Touwen-Verfahrens sind die folgenden: ▬ Sensomotorik: Diese prüft neben dem Zusammenspiel sensibler und motorischer Anteile des Reflexbogens (Eigenreflexe, Fremdreflexe) Parameter wie Muskelkraft, Bewegungsausmaß, Widerstand gegen passive Bewegungen in verschiedenen Körperregionen.
4
▬ Das Subsystem Haltung steht mit dem sensomotorischen Subsystem in engem inhaltlichen Zusammenhang, da es das Zusammenspiel von protagonistischen und antagonistischen Muskelgruppen sowohl in verschiedenen Ruhestellungen als auch in Bewegung prüft. ▬ Rumpfgleichgewicht: Durch dessen Untersuchung gewinnt der Untersucher Einblick in Störungen der Rumpfkoordination zerebellarer und propriozeptiver Genese. Hierunter fallen z. B. solche Einzeluntersuchungen wie Verfolgen von Gegenständen mit Augen und Kopf, der Romberg-Versuch oder der Seiltänzergang. ▬ Subsystem Extremitätenkoordination: Die Funktionsprüfungen in diesem Bereich beziehen sich auf die Beurteilung des Zusammenspiels verschiedener Muskelgruppen im Bewegungsablauf. Es bestehen enge Beziehungen zur Feinmotorik, und zwar dergestalt, dass die intakte Koordination die Grundlage für korrekt ausgeführte feinmotorische Bewegungsabläufe bildet. In das Subsystem »Extremitätenkoordination« gehen z. B. folgende Prüfungen ein: Finger-Nase-Versuch, Diadochokinese, KnieHacken-Versuch, Finger-Finger-Versuch. ▬ Feinmotorik: Feinmotorische Störungen können Folge einer Reifungsverzögerung, eines Defektes im propriozeptiven System, einer Intoxikation, aber auch Folge einer kortikalen Funktionsstörung sein. Feinmotorische Fähigkeiten, wie sie gerade in der Schule ja von Anfang gebraucht werden, benötigen ein hochgradig differenziertes System von Muskeln und deren intakte Koordinationsfähigkeit. Sie sind demzufolge die komplexesten und kompliziertesten der geprüften motorischen Leistungen. Das Subsystem »Feinmotorik« beinhaltet z. B. nachstehende Prüfungen: Finger-Daumen-Versuch, Finger-Folge-Versuch, Kreisversuch. ▬ Dyskinesien: Die Funktionsprüfung dieses Subsystems beinhaltet die Beobachtung jenes gewissen »funktionslosen Bewegungsplus« verschiedener Art, das auf Beeinträchtigungen oder Reifungsverzögerungen von Striatum und Basalganglien und in deren Folge auf eine Instabilität motorischer Entitäten hinweist. Dieses
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Kapitel 4 · Diagnostik von Verhaltensauffälligkeiten und assoziierten Störungen
Subsystem beinhaltet u. a. folgende Prüfbereiche: choreiforme Bewegungen, Dyskinesien bei Spontanbewegungen, choreatische und athetotische Bewegungen sowie Tremor und Faszikulationen. Subsystem Grobmotorik: Grobmotorische Leistungen sind nur auf dem Hintergrund von Haltung und Koordination zu interpretieren. Sie beinhalten u. a. folgende Funktionsprüfungen: Gang (Zehen-Hacken-Gang, Zehengang, Fersengang), Einbeinstand, Hüpfen auf einem Bein, Aufsetzen vom Liegen in Rückenlage, Quantität der spontanen Grobmotorik. Das Subsystem Qualität der Motilität beschreibt die Art des motorischen Verhaltens. Die Motilität wird durch Geschwindigkeit, Geschmeidigkeit und Adäquanz von fein- und grobmotorischen Bewegungsabläufen charakterisiert. Dieses Subsystem steht somit auch in Korrelation zu Hyperaktivität, wie überhaupt seine Bedeutung zum großen Teil von den Befunden der ersten 6 Subsysteme abhängig ist. Hier geht es also um Prüfbereiche wie Geschwindigkeit der Grob- und Feinmotorik, Adäquanz von Grob- und Feinmotorik, Geschmeidigkeit von Grob- und Feinmotorik. Assoziierte Bewegungen: Unter assoziierten Bewegungen verstehen wir Begleitbewegungen willkürlicher und unwillkürlicher Bewegungsabläufe. Sie treten gehäuft bei jungen Kindern auf und ihr Auftreten ist mit zunehmendem Lebensalter stark rückläufig, so dass assoziierte Bewegungen ein guter Reifungsindikator des Nervensystems sind. Die Persistenz solcher Bewegungen über ein bestimmtes Alter hinaus muss als Zeichen einer beeinträchtigten neurologischen Funktion gesehen werden. Das Subsystem beinhaltet u. a. folgende Prüfbereiche: Mund-Öffnen-Fingerspreiz-Phänomen, begleitende assoziierte Bewegungen in der kontralateralen Hand bei Diadochokinese, begleitende assoziierte Bewegungen beim Zehengang und beim Fersengang sowie beim Finger-Daumen-Versuch. Visuelles Subsystem: Diese letzte Itemgruppe des neurologischen Untersuchungsverfahrens besteht aus einer Ansammlung unterschiedlicher Items, deren Störungszeichen verschie-
denartiger Genese sein können (z. B. unspezifische geringgradige Funktionsstörungen, intrazerebrale Läsionen usw.). Touwen subsumiert darunter v. a. Items des visuellen Systems wie Strabismus, Nystagmus, Konvergenzstörungen usw., aber auch Störungen der Hörfähigkeit und der Geräuschlokalisation, so dass nach Meinung der Autorin dieses Subsystem – auch der Intention Touwens entsprechend (vgl. Touwen 1982) – besser als Subsystem »Sensorik« zu bezeichnen wäre. Es umfasst folgende Prüfbereiche: Augenstellung und Strabismus, Blickrichtungsnystagmus, Spontannystagmus, optokinetischer Nystagmus, Folgebewegungen der Augen, Gesichtsfeld, Fixieren, Sehschärfe, Pupillenreaktion, Imbalancen, Konvergenz, Hörfähigkeit, Geräuschlokalisation. Ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal für die Abgrenzung der beiden Subsysteme »Sensomotorik« und »Haltung« liegt darin, dass »Sensomotorik« hauptsächlich Items zusammenfasst, die eine Manipulation am Patienten erfordern, während »Haltung« aus Items besteht, die beobachtet werden können. Zusatzskalen Verhaltenszustand und Kooperativität Psychische Verspannung und Aufgeregtheit des Kindes wirken sich negativ auf das Ergebnis der neurologischen Untersuchung aus, das in diesem Falle ja sehr an die Mitarbeit des Kindes bzw. Jugendlichen gebunden ist. Aus diesem Grunde fordert Touwen mit Recht, dass der Untersucher sich um einen optimalen Verhaltenszustand des Kindes aktiv bemüht. Ferner fordert er, dass der Zustand in jedem Stadium der Untersuchung bewertet und registriert wird. Der Verhaltenszustand eines Kindes ist kein neurologischer Parameter, bildet aber die Grundvoraussetzung für eine exakte Durchführung der Untersuchung und kann zur Beurteilung der internen Validität des Untersuchungsergebnisses herangezogen werden. Der optimale Verhaltenszustand ist für die mit dem Touwen-Verfahren untersuchten Kinder 0, wobei auch ein Verhaltenszustand von 1 im Wesentlichen noch brauchbare Ergebnisse liefert.
137 4.2 · Psychologische und medizinische Diagnostik
0
Wach, entpannt
1
Wach, verspannt und rigide
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Wach, aufgeregt
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Wach, weint
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Schreit
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Anderes
Bezüglich einer Beurteilung der Kooperativität ist zu sagen, dass viele Prüfbereiche der entwicklungsneurologischen Untersuchung der aktiven Kooperation des Kindes bzw. Jugendlichen bedürfen. Daher ist die Beurteilung der Kooperationsbereitschaft, also der Art und Weise, wie das Kind auf Anforderungen der Untersuchung im Sinne eines gemeinsamen Lösungsbemühens reagiert, ebenfalls eine wichtige Größe zur Bewertung der internen Validität der Untersuchungsergebnisse. Die Kooperationsbereitschaft des Kindes wird am Ende eines jeden Untersuchungsabschnitts mit nachfolgender Ratingskala dokumentiert: 0
Interessiert, kommt Aufforderungen nach, braucht keine Stimulation, Gesichtsausdruck wach
1
Desinteressiert, kommt aber Aufforderungen nach, braucht keine besondere Ermunterung, aber nicht aufmerksam
2
Zögernd, braucht Ermunterung, scheint ängstlich, Gesicht verspannt
3
Zögernd, braucht Ermunterung, scheint verdrossen, zurückgezogen
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Schreckt bei Annäherung zurück, kommt Aufforderungen nicht nach, scheint erschreckt
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Kommt Aufforderungen nicht nach, scheint teilnahmslos
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Wehrt sich, schubst den Untersucher weg, versucht zu entwischen
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Weiteres
Der optimale Wert für die Kooperationsbereitschaft ist selbstverständlich auch die Stufe 0, wobei auch Stufe 1 für die meisten Prüfbereiche gut verwertbare Ergebnisse liefert.
4
An dieser Stelle noch ein Wort zu den »soft signs«. Als »soft signs« bezeichnen wir leichte neurologische Auffälligkeiten, die solitär und nur in bestimmten Entwicklungsphasen auftreten. Sie müssen durchaus keine Bedeutung für die übergeordneten zentralnervösen Parameter haben, bei einer Häufung muss aber sowohl an eine Reifungsverzögerung als auch eine fehlerhafte Entwicklung gedacht werden. Feinneurologische Zeichen im Sinne einer Entwicklungsverzögerung, d. h., die beobachtete Verhaltensweise kann zwanglos einer jüngeren Altersstufe zugeordnet werden: ▬ unwillkürliche seitengleiche Spiegelbewegungen, ▬ verspätetes Erreichen psychomotorischer Meilensteine (z. B. Stehen, Gehen, Sprechen), ▬ motorische, nicht altersentsprechende Ungeschicklichkeit (z. B. beim Halten eines Stiftes, beim Ballfangen), ▬ Verlangsamung in motorischen Bewegungsabläufen, ▬ leichte Artikulationsschwierigkeiten bzw. ▬ vermehrt langsame Wellen im EEG. Feinneurologische Zeichen im Sinne einer Entwicklungsabweichung, d. h., die beobachtete Verhaltensweise kommt bei normaler Entwicklung eines Kindes in keiner Altersstufe vor: ▬ abnormer Muskeltonus, ▬ unphysiologischer Nystagmus, ▬ Reflexasymmetrien, ▬ pathologische Reflexe, ▬ Störung des Mundschlusses bzw. ▬ auffällige Graphoelemente im EEG. Wichtig ist, dass durch das Auffinden eines oder auch mehrerer »soft signs« noch nicht zwangsläufig eine Störung vorliegt. ! Erst die Analyse der Teilbefunde und ihre Zusammenschau ermöglicht eine sichere Diagnosestellung und die differentialdiagnostische Abgrenzung der Störung des Sozialverhaltens z. B. von der Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung, aber auch von Verhaltensauffälligkeiten im Rahmen einer beginnenden schizophrenen Erkrankung oder einer manischen Episode.
5
Wie kann man den betroffenen Kindern und ihrer Umwelt helfen? 5.1
Hilfen im Elternhaus bzw. in der Familie – 142
5.1.1
Sprechen und Zuhören – als Zeichen der Wertschätzung des anderen – 144 Präventionsprogramme – 145
5.1.2
5.2
Hilfen im Kindergarten bzw. in der Schule – 155
5.2.1 5.2.2
Hilfen vor der Einschulung – 156 Pädagogische Hilfen in der Schule – 157
5.3
Therapeutische Hilfen – 182
5.3.1 5.3.2 5.3.3 5.3.4
Basisnotwendigkeiten für die Therapie – 184 Elternberatung, Elterntraining und Problemlösetraining – 186 Verhaltenstherapie – 192 Weitere therapeutische Möglichkeiten – 211
140
5
Kapitel 5 · Wie kann man den betroffenen Kindern und ihrer Umwelt helfen?
Dieses Kapitel sehen wir als das wesentliche Kapitel unseres Buches an, da hier Möglichkeiten aufgezeigt werden, wie nach erfolgter Diagnostik den betroffenen Kindern und Jugendlichen effektiv und interdisziplinär geholfen werden kann. Wir beginnen mit Hilfen, die bereits im Familienalltag möglich sind, leiten über zu Beratung und Präventionsprogrammen und kommen schließlich zu den therapeutischen Möglichkeiten im engeren Sinne. Diese umfassen im pädagogischen Bereich die Förderschule für Erziehungshilfe sowie die Arbeit von Beratungslehrern und Schulpsychologen und im psychologisch-medizinischen Sinne psychotherapeutische Interventionen bis hin zu fest gefügten Therapieprogrammen und schließlich zur medikamentösen Einflussnahme. Wir haben dabei bewusst darauf verzichtet, die Therapien im engeren Sinne bestimmten Settings (ambulant, tagesklinisch oder stationär) zuzuordnen. Die meisten Ansätze können in mehreren Settings zur Anwendung kommen und, wie die Realität und auch unsere Längsschnittstudie zeigen, verhaltensgestörte Kinder und Jugendliche können durchaus zu unterschiedlichen Zeiten von verschiedenen Settings profitieren. Anders als in Kap. 4 (Diagnostik) haben wir uns entschlossen, in dieses Kapitel auch neuere Verfahrensentwicklungen mit aufzunehmen, die ihre Effizienz in der alltäglichen Praxis noch untermauern müssen, wobei auch das hier gewählte Vorgehen nicht den Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. Eingebettet in dieses Kapitel sind Interviews mit Schülern der Schule für Erziehungshilfe und deren Lehrerinnen sowie einer Untersucherin aus der Längsschnittstudie. Dabei kommt es uns besonders darauf an, am Erleben und Verhalten der interviewten Schüler und Lehrerinnen das von uns theoretisch Dargestellte zu veranschaulichen. Wie bereits in Kap. 1.2 dargelegt, weisen 6-16% der Jungen und 2-9% der Mädchen unter 18 Jahren nach DSM-IV (1998) eine Störung des Sozialverhaltens auf. Keine Frage also, dass hier Hilfen in Richtung eines angemessenen, sozial kompetenten bzw. prosozialen Verhaltens dringend nötig sind. Die Verbesserung des aggressiv-impulsiven und dissozialen Verhaltens ist nur in einem interdisziplinären Kontext möglich.
! Die Grundlage der kindlichen Entwicklung ist neben biologischen Gegebenheiten das Lebensumfeld in Familie, Institution und Gesellschaft. Es kommt also zunächst bei der pädagogischen Einflussnahme auf die Arbeit mit Eltern, Lehrern und Bezugspersonen an. Das Entwicklungsniveau des Kindes hängt schließlich von Methoden der Kontakt- und Beziehungsgestaltung zwischen den einzelnen Umfeldern oder Lebensumwelten ab.
Bei Störungen sowohl im körperlichen als auch im psychischen Bereich, bei Reifungs- und Entwicklungsstörungen müssen jeweils andere professionelle Helfersysteme zum Einsatz kommen. Bei körperlichen Störungen ist die Verhaltensmedizin gefragt, bei psychischen Störungen die Verhaltenstherapie und bei Entwicklungs- und Reifungsstörungen des Sozialverhaltens die pädagogische Verhaltensmodifikation. Dies zeigt, was weiter vorn mit dem professionellen Netz gemeint war, das die Kinder in ihrer Entwicklung hält und auffängt: Bei unterschiedlichen Auffälligkeiten bzw. Störungen müssen unterschiedliche Helfersysteme auf den Plan treten, um die Entwicklung des Kindes bzw. Jugendlichen positiv zu beeinflussen. Soziale Kompetenz ergibt sich aus dem Zusammenwirken von kognitiven Fähigkeiten und sozialen Fertigkeiten. Beides ist bei den betroffenen Kindern meist (wenn auch mit unterschiedlicher Wichtung) mangelhaft ausgebildet. An beiden Parametern muss fördernd und korrigierend angesetzt und gearbeitet werden. Zunächst geht es um die korrekte »Aufnahme und Verarbeitung von Informationen«, um ein sozial kompetentes Handeln daraus abzuleiten.
Wahrnehmungen und ihre Verarbeitung als Grundlage der Therapie Wir wissen, dass Verhaltensunauffällige und Verhaltensgestörte sich in Bezug auf Informationsverarbeitungsprozesse grundlegend unterscheiden. Wir können heute auch nachweisen, warum das so ist. Der Prozess der Informationsverarbeitung und seine Nutzung für Therapie, Erziehung und Kor-
141 Kapitel 5 · Wie kann man den betroffenen Kindern und ihrer Umwelt helfen?
rektur wurde von Vertretern der kognitiven Verhaltenstherapie (z. B. Mahoney 1977) gründlich analysiert und immer wieder bei der Planung und Durchführung von Behandlungsprogrammen und Trainingsmaßnahmen propagiert (z. B. Petermann et al. 1999). ▬ Diese Trainingsprogramme setzen sinnvollerweise bei den Stufen der Informationsverarbeitung an. Die Informationsverarbeitung beginnt mit der Wahrnehmung. Eine günstige Informationsverarbeitung auf der Wahrnehmungsebene besteht darin, möglichst alle relevanten Informationen zu erfassen. Eine ungünstige Informationsverarbeitung hingegen bedeutet eine eingeschränkte und selektive Aufnahme von Informationen. ▬ Auf der 2. Stufe der Informationsverarbeitung erfolgt die Interpretation. Hier finden wir bei günstiger Informationsverarbeitung eine situationsangemessene Gewichtung, Kombination bzw. Interpretation relevanter Informationen und bei ungünstiger Informationsverarbeitung eine Akzentuierung (z. B. Unterstellen von Feindseligkeit). ▬ Auf der 3. Stufe der Informationsverarbeitung, auf der Ebene der Reaktionssuche, finden wir bei günstiger Informationsverarbeitung ein breites Reaktionsrepertertoire und eine flexible Suche nach Problemlösungen, während wir bei ungünstiger Informationsverarbeitung ein einseitiges Reaktionsrepertoire und eine unflexible Suche nach Probemlösungen vorfinden. ▬ Die 4. Stufe der Reaktionsverarbeitung im Verlauf des Informationsverarbeitungsprozesses bedeutet im günstigsten Falle, dass der Mensch in der Lage ist, kurz-, mittel- und längerfristige Konsequenzen gegeneinander abzuwägen. Im Falle der ungünstigen Informationsverarbeitung reicht es nur bis zum Abwägen kurzfristiger Konsequenzen. Deshalb werden aggressive, isolierende, ängstliche Reaktionstendenzen präferiert. ▬ Auf der 5. Stufe der Informationsverarbeitung, dem Handeln, finden wir im günstigen Falle die Fähigkeit, ein differenziertes Sozialverhalten zu äußern, während im ungünstigen Fall sich eine mangelnde Fähigkeit zeigt, differenziertes Sozialverhalten zu äußern.
5
Therapie, Erziehung und Korrektur können dabei auf allen Stufen ansetzen. Die erste wichtige Stufe ist die Wahrnehmung. Nun wissen wir, dass es gerade um die Wahrnehmung bei vielen unserer verhaltensauffälligen Kinder nicht zum Besten bestellt ist. Es ist also großes Augenmerk auf die Schulung der Selbst- und Fremdwahrnehmung dieser Kinder bzw. Jugendlichen zu lenken. ! Eine angemessene Selbstwahrnehmung ist eine gute Grundlage für die Erkennung von Gefühlen. Wer gelernt hat, die eigenen Gefühle wahrzunehmen, kann sich meist auch in andere hineinfühlen, hineinversetzen, die Position anderer einnehmen und die Dinge »mit den Augen anderer sehen«.
Dies wiederum hat eine enge Verbindung zu prosozialem Handeln, da mit dem Einfühlungsvermögen nicht nur ein Perspektivenwechsel gelingt, sondern auch die Vorwegnahme von Konsequenzen ( Kap. 2.1). Bach (1993) beklagt, dass sich entsprechend den skizzierten einseitigen Auffassungen von Verhaltensstörungen auch in der Therapie monistische, manchmal einander widerstreitende Ansätze hinsichtlich der pädagogischen Maßnahmen finden. Wir unterscheiden individuumszentrierte Maßnahmen von umfeldorientierten und normenkritisch bestimmten Maßnahmen. Der Autor weist darauf hin, dass sowohl bezüglich der diagnostischen als auch hinsichtlich der pädagogischen Maßnahmen die 3 Komponenten Verhaltensdisposition, Verhaltenserwartung und Verhaltensbedingung grundsätzlich ins Auge zu fassen sind. Monistische Vorgehensweisen müssen also durch komplexe Vorgehensweisen überwunden werden. Besonders wichtig erscheint in diesem Zusammenhang der Hinweis von Bach (1993), dass die »unbewussten Verhaltensweisen nicht selten die bewusst intendierten geradezu aufheben, (...) weil ein weitgehend unterschätzter Einfluss von nicht bewusst erziehenden Personen (z. B. Altersgenossen, von Medien und von anderen Umfeldgegebenheiten) ausgeht. Im Hinblick auf Verhaltensstörungen kommt diesen Faktoren teils fundierende, teils auslösende, teils erhaltende oder verstärkende Bedeutung zu.« (S. 32)
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Kapitel 5 · Wie kann man den betroffenen Kindern und ihrer Umwelt helfen?
Bach weist darauf hin, dass eine wirksame Auseinandersetzung mit Verhaltensstörungen der entscheidenden Erweiterung der erzieherischen Verantwortung auf die gesamten sozialisierenden Einflüsse bedarf. ! Der Mensch, ob Kind oder Erwachsener, reagiert nicht nur auf seine Umwelt, sondern setzt sich aktiv mit ihr auseinander. Im Prozess dieser Auseinandersetzung bilden sich beim Einzelnen spezielle Abbilder seiner Umwelt heraus. Er speichert diese als kognitive Repräsentationen, als spezielle Bilder (ikonische Repräsentation) oder als Bedeutungszuschreibungen (semantische Repräsentation). Aus diesem Grunde ist das Abbild der Umwelt beim Einzelnen immer ein spezielles, ein subjektiv beeinflusstes Bild.
5
Kinder und Jugendliche mit Verhaltensstörungen interpretieren vor dem Hintergrund dieser subjektiven Abbilder die Umwelt als angstauslösender und bedrohlicher als andere Kinder und Jugendliche, die diese Störung nicht entwickelt haben. Das Verhalten, das z. B. von den meisten anderen als liebenswürdige Neckerei aufgefasst wird, bewertet der Verhaltensgestörte als Angriff auf seine Person, gegen den er sich zu wehren hat. Diese verzerrten Wahrnehmungen werden als Erfahrungen gespeichert und durch Situationen bekräftigt, die ähnlich ablaufen, so dass sie die Suche nach alternativen Handlungsmöglichkeiten stark einengen. Es bilden sich (vgl. Dutschmann 2000) dann spezifische Verhaltensformen heraus, die als subjektiv erfolgreich bewertet werden. Auf diese Weise schließt sich der Kreis eines negativen Prozesses der Informationsverarbeitung, der durch weitere Bekräftigung immer wieder verstärkt und gebahnt und damit handlungsleitend wird.
5.1
Hilfen im Elternhaus bzw. in der Familie
Trappmann und Rotthaus (2004) erinnern an einen Umstand, der gemeinhin gern vergessen wird, wenn es um verhaltensgestörte Kinder und Jugendliche geht: Das gezeigte Verhalten eines Menschen ist vor dem Hintergrund von Anlage, Umwelt und
eigener Entwicklung zum Zeitpunkt X das »stimmige, häufig das einzig mögliche Verhalten«. »Auch für das Kind ist das verhaltensauffällige oder verhaltensgestörte Verhalten angesichts seiner persönlichen und situativen Bedingungen die subjektiv beste Lösung. (...) Das bedeutet: das Kind kann dieses Verhalten gar nicht aufgeben, ohne dass Änderungen in seinen Persönlichkeitsbedingungen oder in seinem Lebensfeld bei seinen wichtigsten Bezugspartnern (z. B. in seiner Familie) auftreten.« (S. 17-18)
Das heißt, wenn wir dem Kind helfen wollen, müssen wir den Eltern helfen und umgekehrt. In der Praxis zeigt sich immer wieder, wie Familiensysteme sich ändern, wenn ein Familienmitglied sich ändert, und wie sich die Familienmitglieder ändern, wenn das System sich ändert. Der Anfang einer Änderung kann z. B. darin bestehen, dass man bei den Eltern den Blickwinkel, die Sichtweise auf ihren Sprössling ändert. Das beginnt damit, dass sie sein Verhalten als Resultat aus Anlage, Umwelt und bisheriger Entwicklung sehen können und nicht mehr als etwas, das ihnen zum Ärger angetan wird. Kein Kind wird als Monster geboren (die Negativspiralen drehen sich allerdings bei täglicher Bekräftigung in relativ kurzer Zeit manchmal in schwindelerregende Höhen!). ! So ist es wichtig zu versuchen, auch aggressives Verhalten beim Kind zu verstehen, und zwar vom kindlichen Standpunkt aus zu verstehen. Aber genauso wichtig ist es, es nicht zu akzeptieren und zu tolerieren. Wir müssen im Leben vieles akzeptieren, was wir nicht verstehen (können bzw. wollen), wir können auch vieles verstehen, was wir nicht akzeptieren.
Eltern muss klar sein, dass es für ihr sich entwickelndes Kind von enormer Wichtigkeit ist, wenn es ihnen gelingt, sich in die Position des Kindes einzufühlen und es von dieser Position aus zu verstehen (das setzt allerdings eine intakte elterliche Wahrnehmung voraus). Als Mutter bzw. Vater kann man bei Fehlverhalten dem Kind auch sagen, dass man es versteht,
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und nicht nur, wie viele Eltern dies tun, wenn man mit anderen über das Kind spricht. Man kann und muss dem Kind im gleichen Satz aber auch sagen, dass man sein Verhalten nicht akzeptiert und es nicht tolerieren wird. Kinder kommen mit diesen »2 Seiten einer Medaille«, diesen 2 Botschaften sehr gut zurecht. Verheerend für das Kind wäre die elterliche Haltung »weil ich dich verstehe, toleriere ich dein Verhalten«. Das wäre der Beginn einer Negativspirale, da das Kind ja Grenzen und Begrenzungen braucht und sucht. Solange es diese nicht findet, wird es in seinen Verhaltensweisen immer ausufernder in der (unbewussten) Hoffnung, von seinen nächsten Bezugspersonen Grenzen zu erleben, die Schutz bieten, ein festes Geländer, an dem man zwar einmal »turnen« und auch versuchen darf, es zu überklettern, das aber letztlich in der gesamten kindlichen und jugendlichen Entwicklung einen festen Halt bietet. ! Von großer Wichtigkeit ist, dass Eltern sich bewusst sind, dass sie für ihre Kinder immer eine Vorbildwirkung haben. Auch dann, wenn sie das gar nicht beabsichtigen. Häufig sind sie dann negative Vorbilder, aber sie bleiben die ersten und unmittelbaren Vorbilder oder Modelle für das Kind.
Es ist deshalb von vornherein schwierig oder zum Scheitern verurteilt, von Kindern etwas zu verlangen, was man selbst nicht bereit ist, einzuhalten bzw. zu beherzigen. Die Mutter, die ihre schlechte Beziehung zur eigenen Mutter beklagt, wird damit die Beziehung zu ihrer Tochter nicht verbessern, denn sie liefert selbst dann, wenn die Inhalte objektiv beklagenswert sind, ganz vordergründig das Modell der anklagenden Tochter. Dieses Modell wirkt auf die eigene Tochter um ein Vielfaches prägender als die Inhalte der Klagen. Ein anderes Negativmodell bietet der Vater, der von seinem Sohn absolute Ehrlichkeit verlangt, selbst aber verschweigt, dass er seinen Job verloren hat und vielleicht seine Familie noch einspannt, ihn nicht bei seinen eigenen Eltern zu verraten. Was beim Sohn davon ankommt, ist auch hier das Modell im Sinne von »Notlügen sind erlaubt, ich muss nur gut genug lügen und Verbündete haben, die mir beistehen«.
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Kurz gesagt, es ist unsere elterliche Verantwortung, unseren Kindern das Modell zu bieten, das wir uns für sie wünschen. Ein Wort noch zur Laizzes-faire-Erziehung (nichtbegrenzender Erziehungsstil), die ja häufig unter vollmundigen Sprüchen, wie »unser Kind soll es einmal besser haben«, oder »die kindliche Persönlichkeit weiß selbst am besten, was gut für sie ist« gelebt wird. Kinder, die es auf diese Weise besser haben, haben es nicht wirklich besser, sondern im Gegenteil mitunter im Leben sehr schwer. Denn jede Gruppe hat ihre Regeln, wenn sie bestehen will und Autonomie ist die »reifere Form der Heteronomie« (Speck 1993). Das Kind erfährt auf seinem Weg in die Autonomie gleichzeitig die zunehmende Einbindung in Gruppen mit ihren jeweils gültigen Regeln. ! Grenzenlose Freiheiten erzeugen Tyrannen, die sich ihrer Tyrannei noch nicht einmal erfreuen können, sondern meist tieftraurige Menschen sind. Nichts bereitet mehr Lust, als sich mit Grenzen auseinanderzusetzen. »Am förderlichsten ist der autoritative Erziehungsstil. Dieser zeichnet sich durch emotionale Zuwendung, Unterstützung der Autonomieentwicklung und Struktur aus. Positive Auswirkungen dieses Stils bestehen in einer hohen sozialen Kompetenz, guter emotionaler Anpassung und erfolgsorientierter Leistungsmotivation der Kinder.« (Pauli-Pott 2004, S. 267)
Genauso wie Eltern sind auch andere Personen für die Kinder positive oder negative Vorbilder. Ganz deutlich ist dies z. B. bei Fernsehfiguren, die häufig zu diesem Zweck erfunden und eingesetzt werden. Hier ist es zum einen wichtig, dass Eltern wissen, welche »geistige Diät« sie ihren Sprösslingen zukommen lassen, und zum anderen, dass diese Diät nicht zu üppig ausfällt, um auch noch »verdaut« werden zu können. Dabei hat das gemeinsame Sehen von und das Reden mit dem Kind über das Gesehene einen hohen Stellenwert. Dabei können, dürfen und sollen solche Gespräche von Seiten der Eltern ruhig etwas moralisierend im besten Sinne des Wortes sein. Denn: Es gibt keine Erziehung ohne Moral und keine Entwicklung ohne Erziehung. Sinnlos bzw. sogar schädlich für das Kind ist
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Kapitel 5 · Wie kann man den betroffenen Kindern und ihrer Umwelt helfen?
es, stundenlang im Kinderzimmer vor dem eigenen Fernseher zu sitzen und mit dem Gesehenen dann auch noch allein gelassen zu werden, weil es in der Familie nicht darüber reden kann. Die jüngste »Perversion« auf diesem Gebiet ist das aus den USA kommende »Baby First TV«, welches rund um die Uhr ausgestrahlt wird und die Kinder vom frühesten Alter an auf den Fernseher prägt. Unter der vorgetäuschten Absicht der Entwicklungsförderung wird ihre Entwicklung in vielfältiger Weise gehemmt. Die Grenze zwischen realer und virtueller Welt verschwimmt. Von vordergründiger Wichtigkeit für die kindliche Entwicklung ist die feste Beziehung zu seinen Familienmitgliedern, die emotional sichere Bindung und die positive Wertschätzung. Speck (1993) weist darauf hin, dass sich Aggressivität auch durch das Scheitern von Bindung und den Mangel an Anteilnahme begründen lässt.
5.1.1 Sprechen und Zuhören –
als Zeichen der Wertschätzung des anderen Der bekannte Erziehungsexperte Grothe (2005) gibt für die Kommunikation zwischen Kindern und Eltern folgende 3 Grundregeln an: ▬ »Wer mit Kindern spricht, sollte sich, soweit es die Situation zulässt, auf dieses Gespräch konzentrieren. ▬ Jedes Gespräch sollte ein wechselseitiges Miteinander sein. Keinesfalls ein Monologisieren. Es sollte wie beim Tischtennis laufen: erst du, dann ich, dann wieder du. Ein steter Wechsel: »Ping, Pong, Ping, Pong. ▬ »Die dritte Grundbedingung einer guten Kommunikation zwischen uns und unseren Kindern heißt Geduld.« (S. 86) Er verweist arauf, dass es wichtig ist, sich im ganz wörtlichen Sinne bei der elterlich-kindlichen Kommunikation den Kindern zuzuwenden. Anteilnahme bedeutet, dem anderen zuzuhören und zu versuchen, seine Botschaft zu verstehen. Nun wissen wir alle, dass jede Botschaft mehrere Aspekte enthält. Was meint zum Beispiel die Beifahrerin im Auto, wenn sie sagt: »Da vorn ist Rot« (vgl. v.
Schlippe 1988)? Auf der Sachebene teilt sie schlicht mit, dass die Ampel auf Rot geschaltet ist. Die Nachricht enthält aber noch 3 weitere Aspekte, z. B. den Appell: »Fahr vorsichtig!«, den Beziehungsaspekt: »Ich will Dir helfen«. Oder aber: »Du hättest das vielleicht übersehen«, und den Selbstoffenbarungsaspekt: »Ich traue Dir nicht zu, dass Du das allein mitkriegst«, oder aber »Ich will mit Dir eine schöne Fahrt ohne Probleme haben«. Auch die einfache Frage eines Kindes: »Wann gibt es Essen, Mama?« enthält diese 4 Aspekte einer Botschaft. ▬ Sachinhalt: Worüber wird informiert? ▬ Selbstoffenbarungsaspekt: Was teilt der Sender über sich selbst mit? ▬ Beziehungsaspekt: Wie steht der Sender zum Empfänger? Wie definiert er die Beziehung zu ihm? ▬ Appell: Wozu möchte der Sender den Empfänger veranlassen? Eltern sollten trainieren, bei ihrem Kind möglichst die Mehrzahl der 4 Aspekte einer Botschaft wahrzunehmen und auf verschiedenen Ebenen reagieren bzw. bewusst auf der ihnen am vordergründigsten erscheinenden Ebene. Eltern sollten sich bemühen, die 4 Aspekte einer Botschaft oder zumindest die Mehrzahl davon mitzubekommen, d. h. sie sollten »hinter die Wörter hören«. Das gelingt im Alltag mitunter nur mangelhaft und bisweilen gar nicht, aber man kann es trainieren. Wenn es nicht gelingt, liegt dies v. a. daran, dass wir alle auf Grund unserer Biografie sog. kortikale Landkarten ausgebildet haben, die unser Verhalten steuern. Wir wissen, dass das gezeigte Antwortverhalten zum weitaus größeren Teil »von oben« kommt und nur zu einem geringen Teil durch das von außen Aufgenommene ausgelöst wird. Die frustrierte Mutter wird möglicherweise aus der Frage ihres Sprösslings »Wann gibt es Essen, Mama?« ausschließlich heraushören: »Du bist zu langsam«. Sie wird das in Sekundenschnelle zu dem Vorwurf verarbeiten: »Du kannst nicht für ein Kind (mich) sorgen«, »Du bist ein Versager auf allen Gebieten« usw. Die Antwort wird dementsprechend nicht die Mitteilung der Essenszeit sein, sondern mit hoher Wahrscheinlichkeit ein
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Vorwurf an das Kind im Sinne von: »Hast du nichts anderes zu tun?« oder »Ich kann nicht hexen!« oder gar »Du sollst nicht soviel essen, bist eh schon zu dick« usw. bis hin zu »Wenn du nörgelst, gibt’s gar kein Essen!«. Ganz anders dagegen wird sich der Dialog mit einer Mutter abspielen, die ruhig und auf das Kind konzentriert ist. Sie wird auf dieselbe Frage wahrscheinlich antworten: »Es dauert nur noch 10 Minuten, Du hast wohl schon mächtig Appetit?« oder »Du kannst noch dies und jenes machen bis dahin, ich ruf ’ Dich dann.« usw. Für Eltern ist es wichtig, vor der Antwort zu versuchen, den Hauptaspekt der Botschaft zu entschlüsseln und darauf sachlich, liebevoll und konsequent zu antworten. Das bedeutet, wenn Kinder mit Erwachsenen sprechen, sollten die Erwachsenen sich bemühen, » beim Kind zu sein«, sich in das Kind einzufühlen. Wir müssen zwangsläufig aneinander vorbeireden, wenn wir nur »bei uns selbst« sind. Das klingt aufwändig und ist es mitunter auch. Aber keine Sorge, auch in diesem Fall sind wir Modell, d. h., das Kind wird auch dieses unser Verhalten, wenn es mit einer gewissen Zuverlässigkeit gezeigt wird, nachahmen. Und damit bekommen wir zurück, was wir bereit waren zu geben. Das hier Gesagte gilt ebenso für Lehrer bzw. Erzieher. Wichtig ist, dass der Erwachsene den Anfang macht. Solche Dinge können in Elternseminaren oder Elterngruppen trainiert werden, wie z. B. in dem von Cierpka und Mitarbeitern vorgestellten Elternseminar (Cierpka 2002), das im Rahmen des Modellprojektes »Kinder und Gewalt« konzipiert wurde. Das Ziel des Seminars besteht darin, die Erziehungskompetenz der Eltern zu stärken und ihnen Informationen, Hilfen und auch Fertigkeiten zukommen zu lassen. Es kann grundsätzlich von allen therapeutisch-pädagogisch tätigen Berufsgruppen und Institutionen, die mit Eltern arbeiten, angeboten und durchgeführt werden. Wichtig ist, dass bei diesem Seminar der primäre Fokus auf Veränderungseffekten im elterlichen Verhalten liegt und erst der sekundäre auf der Änderung der kindlichen Verhaltensweisen, die sich aber logisch aus der Erfüllung des ersten Anspruchs ergeben. Es wird in verhaltenstherapeutischer Sichtweise davon ausgegangen, dass die Eltern
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▬ sowohl Verhaltensdefizite haben, was Handlungsalternativen in der Erziehung von Kindern und Jugendlichen betrifft, als auch oder vielleicht aus diesem Grund ▬ Verhaltensexzesse in ihrem Alltag leben, weil ihnen einfach alternative Erziehungsmethoden fehlen (z. B. Verhaltensexzesse, die in aggressiven Verhaltensweisen bestehen). Das Seminar besteht aus 4 Blöcken mit gut strukturierten Angeboten für die einzelnen Sitzungen. Es enthält sowohl edukative Anteile als auch Übungen und Hausaufgaben.
5.1.2 Präventionsprogramme Präventionsprogramme verfolgen das Ziel, die Entwicklung zu optimieren und Fehlentwicklungen vorzubeugen. Im Allgemeinen geht es hierbei darum, die elterliche Erziehungskompetenz zu verbessern und Erfahrungen zum Vermeiden von Beziehungsstress zu vermitteln. Wir werden nachfolgend auswählend einige solche Programme vorstellen.
Triple-P-Ansatz Das positive Erziehungstraining wurde in der Arbeitsgruppe um Sanders (1999) in Australien entwickelt. Im deutschsprachigen Raum wurde es durch Hahlweg (2001) in die präventive Elternarbeit eingebracht (Triple P: »Positive Parenting Program«). Im positiven Elterntraining werden 4 Ziele angestrebt: ▬ die Erhöhung des Wissens um und der Kompetenz bezüglich der Bewältigungsstrategien der Eltern im Umgang mit ihren verhaltensauffälligen und entwicklungsauffälligen Kindern, ▬ die Umwandlung ungünstiger Erziehungspraktiken und –muster in angemessene und effektive Strategien, ▬ die Verbesserung der Kommunikationsfähigkeiten und die Verbesserung des Austausches über Erziehungsfragen in der Familie sowie ▬ die Reduktion von mit der Kindererziehung verbundenen Stressoren.
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Kapitel 5 · Wie kann man den betroffenen Kindern und ihrer Umwelt helfen?
Das Programm basiert auf der praxisorientierten Anwendung verhaltenstherapeutischer Techniken wie dem Lernen am Erfolg (operantes Konditionieren, s. auch Konzentrationstrainingsprogramm KTP: positive Verstärker) und den Erkenntnissen zum sozialen Lernen (Modelllernen) unter Berücksichtigung erziehungswissenschaftlich-pädagogischer Erfahrungen in der Verbesserung des Interaktionsverhaltens von Eltern und Kind. Das Programm will präventiv Wissen und elterliche Erziehungskompetenz zum Aufbau positiver, d. h. vertrauensvoller Eltern-Kind-Beziehungen vermitteln. Auf diese Weise soll Störungen mit oppositionellem Trotzverhalten, Störungen des Sozialverhaltens und emotionalen Störungen vorgebeugt werden. Das Programm wurde für Eltern mit Kindern im Alter von 2-12 (16) Jahren gestaltet. Der Triple-P-Ansatz orientiert sich an 5 Prinzipien einer positiven Erziehung, die durch das Training zu verhaltensleitenden Erziehungsfertigkeiten verfestigt werden sollen: ▬ Für eine sichere und interessante Umgebung sorgen: Dieses Prinzip zielt darauf ab, das kindliche Explorationsverhalten zu nutzen, damit es seine Erkundungen und das Sammeln von Erfahrungen in einem gefahrenfreien Umfeld durchführen kann. Es sieht außerdem Eltern nicht nur als Aufsichtspersonen, sondern auch als Möglichkeit, bei emotionalen Belastungen als Hort des Rückzuges zur Verfügung stehen. Beispiel: Wenn Mutter in der Küche nebenan Essen zubereitet, kann Paul (2 Jahre alt) sein neues Kinderzimmer gefahrlos erkunden, weil er sich jederzeit wieder aus eigener Kraft die unmittelbare Nähe der Mutter sichern kann (Rufen der Mutter oder zu ihr hingehen). ▬ Eine positive Lernumgebung schaffen: Durch Anregung, Zuwendung und Kontrolle sollen die Kinder erkennen, dass sich ihre Eltern für sie, ihre Erlebnisse und ihr soziales Verhalten interessieren und sie aus Lob und Wertschätzung entnehmen können, was ihre Eltern an ihnen schätzen. Beispiel: Alexander (7 Jahre alt) zeigt gern seinem Vater, wenn dieser abends von der Arbeit kommt, was er mit seinem Baukasten gebaut hat. Da der Vater sich
dafür sehr interessiert, sich das Funktionieren erklären lässt, ihn lobt und häufig einen guten Rat erteilt, zeigt Alexander ihm anschließend auch ungefragt seine Schulsachen, da er sicher sein kann, dass das Verhalten des Vaters hier ebenso ist. ▬ Konsequentes Erziehungsverhalten zeigen: Konsequentes Erziehungsverhalten hat nichts mit autoritärer Erziehung zu tun. Es setzt auch nicht voraus, dass Mutter und Vater sich immer in gleicher Weise verhalten, sondern dass Mutter oder Vater normabweichendes Verhalten nicht einmal billigen und dann wieder missbilligen. Kinder müssen wissen und erfahren, was wir als Eltern auf keinen Fall zulassen werden. Beispiel: Benjamin gibt Oma und Opa zur Begrüßung nicht die Hand. Wenn Eltern und Großeltern dies einmal rügen und beim nächsten Mal tun, als merkten sie es nicht, wird es lange dauern, bis Benjamin das gewünschte Verhalten konsistent zeigt. ▬ Realistische Erwartungen an das Kind und gegenüber sich selbst aufbauen: Dem Streben nach dem perfekten Kind wird ebenso wie dem Streben nach elterlicher Perfektion eine Absage erteilt. Eltern sollen die Leistungsfähigkeit und Belastbarkeit ihres Kindes richtig einschätzen lernen. Durch Erprobung, durch Versuch und Irrtum erfahren Kind und Eltern sowohl neue Verhaltensmuster als auch die Grenzen der eigenen Handlungsfähigkeit. Beispiel: Unmittelbar nach einem sportlichen Wettkampf, der Celine sehr viel Kraft gekostet hat, aber leider nicht den erwünschten Erfolg brachte, ist es für alle Beteiligten überfordernd, eine Übungsstunde in derselben Disziplin anzuschließen. ▬ Auch die eigenen elterlichen Bedürfnisse erfüllen: Kinder sollen erfahren, dass Mutter und Vater für sie da sind, aber diese auch eigene partnerschaftliche und persönliche Bedürfnisse haben und beides im Zusammenleben Berücksichtigung finden muss. Beispiel: Dominik (6 Jahre alt) darf zwar in besonderen Fällen im Bett der Eltern einschlafen (z. B. in fremder Umgebung), wird aber beim Zubettgehen der Eltern in sein eigenes Bett gebracht, damit auch die Eltern ungestört schlafen können.
147 5.1 · Hilfen im Elternhaus bzw. in der Familie
Das positive Erziehungsprogramm ist für die Verbesserung der Erziehungsfähigkeit aller Eltern konzipiert. Es umfasst 5 Interventionsstufen. Auf jeder höheren Stufe findet sich einerseits eine Steigerung des Intensitätsgrades der elterlichen Auseinandersetzung mit Erziehungsfragen, andereseits beinhaltet diese auf der Seite des Kindes Verhaltensweisen, die mit bekannten Mitteln und Methoden von den Eltern nicht bewältigt werden können. Interventionsebene 1: Universelle Information über Erziehung Auf der 1. Ebene werden alle Eltern über Massenmedien (Radio, Fernsehen, Tageszeitungen, Illustrierte und spezielle Elternzeitschriften), durch Informationsblätter und Selbsthilfematerialien, aber auch über Expertenvorträge angesprochen. Es werden Informationen über altersspezifische Entwicklungsbesonderheiten, über positive Erziehung und über effektive Erziehungsstrategien vermittelt. Eltern werden über diese Wege an ihre Verantwortung für die Entwicklung ihrer Kinder erinnert und ermutigt, sich bewusst mit dem Erziehungsgeschehen auseinanderzusetzen. Es werden alltägliche Verhaltensprobleme erläutert und Tipps gegeben, wie sie zu beheben sind (z. B. »Ratgeber Erziehung«, wie sie von vielen Rundfunkstationen gesendet werden). Interventionsebene 2: Kurzberatung für spezifische Erziehungsprobleme Eltern mit spezifischen Sorgen über das soziale Verhalten ihres Kindes, über spezifische Entwicklungsprobleme wenden sich an psychologische, pädagogische und medizinische Fachkräfte und werden von diesen meist in 1-4 kurzen Sitzungen von etwa 15 min z. B. bei Wutanfällen, Problemen mit dem Zubettgehen oder Toilettengang u. v. m. gezielt beraten. Mit Informationsblättern und Videoaufzeichnungen werden die Erziehungsstrategien erläutert und demonstriert. Interventionsebene 3: Kurzberatung und aktives Training Die 3. Ebene der Intervention ist bereits eine intensivere und aktivere Form der Auseinandersetzung mit Erziehungsproblemen. Es werden meist 4 Sitzungen zu 15-30 min angeboten. Die Verhaltens-
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probleme des Kindes werden herausgearbeitet und gemeinsam Erziehungsstrategien erarbeitet, die in Rollenspielen geübt werden. In jeder Folgesitzung werden Fortschritte und mögliche Schwierigkeiten diskutiert und Verhaltensweisen geübt. Interventionsebene 4: Intensives Elterntraining Das Angebot des Intensiven Elterntrainings wendet sich an Eltern, deren Kinder erhebliche Verhaltensprobleme aufweisen und bei denen die Gefahr der Verschlechterung und Verfestigung dieser unerwünschten Verhaltensweisen besteht. Hier sind v. a. Eltern angesprochen, deren Kinder oppositionelles, aggressives und delinquentes Verhalten sowie Störungen der Aufmerksamkeit zeigen. Die Betreuung wird als Elternkurs durchgeführt, in den 5-6 Elternpaare einbezogen werden. Das intensive Elterntraining umfasst 4 Wochen Gruppenarbeit und 4 Wochen Einzelbetreuung. ▬ In der 1. Gruppensitzung werden die Grundsätze der positiven Erziehung herausgearbeitet. Die Verhaltensprobleme werden analysiert und die Zielvorstellungen zur Verhaltensänderung werden diskutiert. Es werden Methoden der Verhaltensbeobachtung geübt und es wird über Ursachen von Verhaltensproblemen (Risikokonzept) informiert. ▬ In der 2. Gruppensitzung werden gemeinsam förderliche Erziehungsstrategien erarbeitet und diese in Rollenspielen geübt. Dabei wird auf die Umsetzung der Prinzipien des positiven Elternverhaltens in den Rollenspielen explizit geachtet. ▬ Die 3. Trainingseinheit dient dem Erarbeiten alternativer Verhaltensmöglichkeiten in Problemsituationen des Kindes und der Erarbeitung und Einübung von Erziehungsstrategien und ihrer Umsetzung. ▬ In der 4. Sitzung werden Aktivitätspläne für Risikosituationen erarbeitet. Zwischen den Sitzungen werden die Teilnehmer angehalten, das Erlernte in der eigenen Familie anzuwenden. An die Gruppenarbeit schließen sich für einen Zeitraum von 4 Wochen Einzelkontakte zu den Gruppenteilnehmern an, in denen sie Fortschritte und Schwierigkeiten in der Erziehungsarbeit besprechen können.
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Kapitel 5 · Wie kann man den betroffenen Kindern und ihrer Umwelt helfen?
Interventionsebene 5: Erweiterte Intervention auf Familienebene Diese Interventionsform kommt zur Anwendung, wenn es sich um Eltern mit Kindern handelt, deren Kinder deutlich Verhaltensstörungen im Sine von SOT (Störung mit oppositionellem Trotzverhalten), SSV (Störung des Sozialverhaltens) oder Delinquenz zeigen oder bei denen eine Multi-ProblemFamiliensituation vorliegt. Neben den Problemen der Kinder ist ein hochgradig gestörtes Verhalten der Eltern zu beobachten. Hier kommt ein um 4 Module erweitertes Training zum Einsatz, es wird ergänzt um Stimmungs- und Stressmanagement. Hausbesuche werden durchgeführt, um direkt vor Ort Verhaltenskorrekturen zu veranlassen und den aktiven Elternteil in seiner Erziehungsfähigkeit zu unterstützen. Fazit Bei dem Triple-P-Ansatz handelt es sich um ein empirisch gut abgesichertes Präventionsprogramm zur Verbesserung der Erziehungskompetenz von Eltern mit verhaltensauffälligen Kindern. Die Ergebnisse des Programms, das in vielen Studien evaluiert wurde, zeigen, dass es sich um einen effektiven Mehrebenenansatz handelt (Sanders 1999; Hahlweg 2001). Es zeigte sich, dass die Häufigkeit und Intensität der Verhaltensprobleme nach Einsatz der entsprechenden Interventionsstufe deutlich rückläufig waren. Das praktizierte Vorgehen wurde von den Eltern akzeptiert und fand auch unter professionellen Helfern (Förderpädagogen, Psychologen, Psychotherapeuten, Kinder- und Jugendpsychiatern) Anerkennung. Dies führte in Australien zum Aufbau eines Triple-P-Netzwerkes, das die systematische Anwendung des Triple-PAnsatzes unterstützt. Die Autoren könnten sich ein ähnliches Vorgehen durchaus auch in Deutschland vorstellen.
Elternkurs »Starke Eltern – starke Kinder« Auch das Programm »Starke Eltern – starke Kinder« des Deutschen Kinderschutzbundes (2005) kann Eltern zu einer besseren Befähigung im Umgang mit ihren Kindern verhelfen. Das Programm unterstützt die Eltern, ihren Kindern mit liebevoller Zuwendung und emotionaler Wärme, mit Achtung, An-
nerkennung und gleichzeitig mit Respekt zu begegnen, partnerschaftlich mit ihnen umzugehen und durch Rituale und Regeln Struktur zu vermitteln. Dazu schreibt der Deutsche Kinderschutzbund: »Für den Elternkurs »Starke Eltern – starke Kinder« gelten die Grundorientierungen des Kinderschutzbundes: Kindorientierung, Familienorientierung, Lebensweltorientierung und Ressourcenorientierung. ▬ Kindorientierung: Das Kind ist Subjekt mit dem Recht auf Entwicklung, Versorgung, Schutz und Beteiligung. ▬ Familienorientierung: Familie ist der primäre Entwicklungs- und Erfahrungsort für Kinder. ▬ Lebensweltorientierung: Die Komplexität der Lebenssituation von Familien und dem Einfluss der Umgebung auf die Gestaltung des Familienlebens wird Rechnung getragen. ▬ Ressourcenorientierung: Förderung der Stärken der Eltern und ihrer Partizipation (Lebensgestaltung).«
Das Elternprogramm ist ein präventives Angebot und keine Therapiemethode. Es gilt für alle Eltern, aber besonders für solche mit Problemen in der Erziehung oder mit Partnerschaftsproblemen. Das Modell wird in 5 aufeinander aufbauenden Stufen erklärt, erprobt und beübt. ▬ Klärung der Wert- und Erziehungsvorstellungen in der Familie: Der Kursleiter verschafft sich zunächst ein Bild von der Familie als agierendem System, von den herrschenden (und tradierten) Mustern der Lebensbewältigung und der praktizierten Erziehungsstile. Er erkundet, welche Erziehungsstile die Familie auf Grund der genannten Faktoren hat und macht dies den Familienmitgliedern bewusst. ▬ Festigung der Identität als Erziehende: Die Eltern werden in ihrer Führungsrolle dem Kind bzw. den Kindern gegenüber bestätigt und aufgewertet. ▬ Stärkung des Selbstvertrauens zur Unterstützung kindlicher Entwicklung: Die Eltern lernen, dass eine positive Wertschätzung der eigenen Fähigkeiten der positiven Entwicklung des Kindes bzw. der Kinder dient.
149 5.1 · Hilfen im Elternhaus bzw. in der Familie
▬ Bestimmung von klaren Kommunikationsregeln in der Familie: Es wird Wert auf die Ausarbeitung klarer Kommunikationsregeln in der Familie gelegt. Die Einhaltung dieser selbst erarbeiteten Regeln wird an Alltagsbeispielen trainiert. ▬ Befähigung zur Problemerkennung und –lösung: Die Eltern werden befähigt, das problematische Verhalten ihres Kindes bzw. ihrer Kinder aus seiner Entstehung heraus zu verstehen, ihm jedoch mit den erarbeiteten klaren Kommunikationsregeln zu begegnen. Der Elternkurs »Starke Eltern – starke Kinder« ist ein Modell für die Umsetzung der so genannten anleitenden Erziehung. Es handelt sich um ein bundesweit einheitliches Angebot des Deutschen Kinderschutzbundes. Der zeitliche Umfang des Elternkurses beträgt 8-12 Einheiten mit mindestens 16 Zeitstunden. Es gilt das Prinzip der Freiwilligkeit. Der Kurs wird von geschulten Elternkursleitern angeboten.
Selbsthilfeprogramm für Eltern – der Elternleitfaden In dem Buch »Wackelpeter und Trotzkopf« haben Döpfner, Schürmann und Lehmkuhl (2000) u. a. ein Selbsthilfeprogramm für Eltern vorgestellt, deren Kinder durch ein hochgradig gestörtes Sozialverhalten das Familienleben, aber auch ihre Integration in Kindergarten und Schule beeinträchtigen. Der Elternleitfaden wurde von den Autoren speziell für Kinder mit ADHS ( Kap. 3) und solche mit oppositionellen und aggressiven Verhaltensauffälligkeiten ( Kap. 2.3) konzipiert. Diese Sichtweise erscheint uns sinnvoll, da die genannten Störungen häufig vernetzt auftreten und ADHS oftmals die Basis für die Entwicklung einer SOT bzw. einer SSV bildet. Bevor sich Eltern mit diesem Elternleitfaden auseinandersetzen, sollten sie sich nach unserer Einschätzung folgende Fragen stellen: ▬ Sind die Schwierigkeiten, die wir mit unserem Kind haben, tatsächlich so groß, dass nur durch eine Veränderung unserer Beziehungen und seines Verhaltens seine weitere Integration in die Gesellschaft gesichert werden kann?
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▬ Sind wir uns bewusst, dass Veränderungen auch von uns als Eltern Anstrengungen erfordern und dass wir Kraft und Zeit investieren müssen? ▬ Denken wir auch daran, dass wir mit der Durcharbeitung des Elternleitfadens nicht nur neue Kenntnisse erwerben, sondern diese Erkenntnisse in eigenes erzieherisches Verhalten umsetzen müssen? Nur wer diese 3 Fragen für sich positiv beantworten kann, wird genug Kraft und Geduld aufbringen, um zu lernen, sein Verhalten, die Beziehungen zu seinem Kind und dessen Verhalten neu zu gestalten. Die ersten 3 Stufen dieses Elternleitfadens befassen sich mit der genauen Beschreibung und Differenzierung des kindlichen Problemverhaltens. Stufe 1: Welche Probleme hat mein Kind? ▬ Verhaltensprobleme erfassen Zunächst geht es darum, die Verhaltensprobleme zu erfassen. Das ist für viele Eltern schon deshalb sehr schwierig, weil sich bei ihnen aus dem täglichen Umgang mit ihren Kind der Eindruck entwickelt hat, dass es von früh bis abends nur Schwierigkeiten gibt. Das Kind hört nicht zu. Es widerspricht. Bei Anforderungen reagiert es mit Trotz oder diskutiert, um die Aufgabe nicht erledigen zu müssen usw. Um den Eltern bei der Problemerfassung zu helfen, haben die Autoren 2 Beurteilungsbögen beigefügt, wobei der erste die wesentlichen Verhaltensauffälligkeiten beim ADHS (Beurteilungsbogen: Hyperkinetische Verhaltensauffälligkeiten) und beim SOT und SSV (Beurteilungsbogen: Oppositionelle und aggressive Verhaltensauffälligkeiten) beschreiben. Es geht hier nicht um eine Diagnosestellung, sondern um eine Sensibilisierung der Eltern dafür, wie vielfältig auffälliges und gestörtes Verhalten sein kann. Diese Beurteilungsbögen sollten von Mutter und Vater gesondert ausgefüllt werden. Anschließend sollten die Eltern das Ergebnis vergleichen. Über die Gemeinsamkeiten und Unterschiede sollten die Eltern miteinander sprechen. Es kann sein, dass sich die Kinder unterschiedlich gegenüber Mutter und Vater verhalten, es kann aber auch sein,
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Kapitel 5 · Wie kann man den betroffenen Kindern und ihrer Umwelt helfen?
dass die Eltern ihren Urteilen unterschiedliche Verhaltensnormen zu Grunde legen. Als nächstes wird den Eltern empfohlen, den Fragebogen über Problemsituationen in der Familie zu bearbeiten. Es geht im Fragebogen darum, familiäre Situationen herauszufinden, bei denen das Kind Schwierigkeiten bei der Einhaltung von Anweisungen oder Regeln hat (z. B. bei den Mahlzeiten oder beim Anfertigen der Hausaufgaben).
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▬ Problemdifferenzierung und genaue Analyse Nachdem sich die Eltern über die Schwierigkeiten des Kindes im Klaren sind, beginnt die Arbeit am Veränderungsprozess. Hierzu sollten die 3 Problemlisten nochmals durchgegangen und 3 Probleme ausgewählt werden, die sich einerseits gut umschreiben lassen und die andererseits das Familienleben stark belasten. Diese 3 Verhaltensprobleme werden von den Eltern einer detaillierten Analyse unterzogen. Um den Eltern die Analyse zu erleichtern, wurde von den Autoren wiederum ein spezielles Arbeitsblatt bereitgestellt, auf dem zu jedem Problem folgende Fragen zu beantworten sind: – »Beschreiben Sie das Problemverhalten konkret: Was macht das Kind? – Beschreiben Sie konkret die Situation(en), in denen das Problemverhalten auftritt. – Wie reagieren Sie üblicherweise auf das Problemverhalten Ihres Kindes? – Was macht das Kind dann üblicherweise? – Wie geht die Situation meistens zu Ende? – Wie oft tritt das Problemverhalten gar nicht oder nur in schwächerer Form auf? (Immer, in mehr als der Hälfte der Situationen, in weniger als der Hälfte der Situationen) – Kommt es vor, dass das Problem gar nicht oder nur in schwächerer Form auftritt? – Wie reagieren Sie, wenn sich Ihr Kind in solchen Situationen weniger problematisch oder angemessen verhält?« (Döpfner et al. 2000, S. 281-282) ▬ Verhaltensbeobachtung Nachdem Sie als Eltern schwerwiegende, aber gut beobachtbare Verhaltensweisen analysiert haben, werden Sie zu einer mehrwöchigen Beobachtung genau dieser Verhaltensprobleme aufgefordert. Die Häufigkeit eines jeden
Problems in einer Woche sollen Sie mit einer 6-stufigen Ratingskala beurteilen: 0
Nie
1
1 Mal
2
2-3 Mal
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Täglich
4
Mehrmals täglich
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Ständig
Ferner ist der Grad der Belastung durch das Problem auf einer 10-stufigen Ratingskala zu bewerten, wobei hier nur die Pole der Skala verbal unterlegt sind: 0
Kein Problem
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Es hätte nicht schlimmer sein können
Auf der 1. Stufe des Selbsthilfeprogramms konnten Eltern lernen, wie man ein Problem des Kindes analysiert und wie Eltern mit diesen Problemen bislang umgegangen sind. Letztlich wurden sie zur genauen Beobachtung von Problemverhalten angeregt. Wir sehen jetzt sehr deutlich, dass Eltern Zeit und Energie in die Modifikation von Problemverhalten investieren müssen. Neben der täglichen Hausarbeit und möglichen beruflichen Verpflichtungen braucht man bis zu einer Woche, um sich mit Stufe 1 intensiv auseinanderzusetzen. Stufe 2: Probleme, Belastungen und Stärken in unserer Familie Wenn Eltern an der Veränderung des Verhaltens interessiert sind, sollten sie sich positive Konsequenzen für angemessenes Verhalten und negative Konsequenzen für unangemessenes Verhalten überlegen. Wenn sie aber mehr über ihr Kind und sich selbst in Erfahrung bringen wollen, müssen sie sich mit den Stärken und Schwächen des Kindes, aber auch mit denen der Elternteile und der Familie auseinandersetzen. ▬ Eigenschaftsanalyse Um sich konzentriert und bewusst mit eigenen Stärken und Schwächen und denen von anderen auseinanderzusetzen, ist es von Vorteil,
151 5.1 · Hilfen im Elternhaus bzw. in der Familie
wenn man sich eine 2-spaltige Tabelle herstellt und Spalte 1 mit Schwächen (Problemen) und Spalte 2 mit Stärken überschreibt (⊡ Tab. 5.1). ▬ Analyse der Stärken und Schwächen Nachdem man sich mit den Stärken und Schwächen seines Kindes, von sich selbst, seinem Partner und der Familie in obiger Form auseinandergesetzt hat, ergibt sich ganz von selbst die Einsicht, dass niemand nur gut oder nur schlecht ist. Wir erkennen oftmals sehr deutlich, wie die Schwierigkeiten des einzelnen zu verstehen sind und welche soziale Ressource für den Erziehungsprozess genutzt werden kann, wodurch das Problemverhalten des Kindes oftmals schon deutlich reduziert wird. Stufe 3: Der Teufelskreis ▬ Wie entsteht ein Teufelskreis? Psychische Probleme werden oftmals von sog. Teufelskreisprozessen aufrechterhalten, die Störung kann sich im Zeitverlauf verschlimmern. Döpfner, Schürmann u. Lehmkuhl (2000) zeigen am Beispiel einer normalen Erziehungssituation (Stellen einer Aufforderung), dass Eltern bei unangemessenem eigenen Verhalten (z. B. unverhältnismäßig hohe Androhungen von Strafe) sich bei einem Kind, das bevorzugt mit Verweigerung reagiert, sehr schnell in die Position des Rat- oder Hilflosen bringen können. Dies verstärkt das Verhal-
⊡ Tab. 5.1. Analyse der Schwächen und Stärken des eigenen Kindes
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tensmuster des Kindes noch, weil dies für das Kind erfolgreich ist. Wenn wir nunmehr zur Stufe 1 zurückkehren, dann dürfte es uns nicht schwer fallen, mögliche Teufelskreise für die Verhaltensprobleme unseres Kindes nachzuempfinden, die uns auch veranschaulichen, wie wir bei unserem Kind in die »Erziehungsfalle« geraten. ▬ Durchbrechen von Teufelskreisen Die Autoren machen in ihrem Selbsthilfeprogramm auf 5 Grundprinzipien aufmerksam, mit deren Hilfe es möglich ist, Teufelskreise zu durchbrechen (a. a. O. 136-138): – Sorgen Sie dafür, dass Sie gemeinsam mit Ihrem Kind wieder vermehrt positive Erfahrungen machen können. – Stellen Sie eindeutige Regeln auf und geben Sie Ihrem Kind wirkungsvolle Anweisungen. – Positive Konsequenzen kommen vor negativen Konsequenzen. – Positive und negative Konsequenzen müssen unmittelbar erfolgen. – Verlangen Sie nicht zu viel von ihrem Kind und von sich selbst. Stufe 4: Was mögen Sie an ihrem Kind? Eltern mit schwierigen Kindern sind oftmals nicht mehr in der Lage, die guten Seiten ihrer Kinder zu erkennen, sie sind im Reglementieren, Zurechtweisen, Bestrafen gefangen. Aus diesem Grund ist es wichtig, sich wieder an den positiven Seiten des Kindes zu orientieren. Stufe 2 war dagegen ein grobes Raster von Stärken und Schwächen. Jetzt wird von den Eltern eine viel differenziertere Beachtung der positiven Eigenschaften des Kindes verlangt (⊡ Tab. 5.2).
Schwächen bzw. Probleme meines Kindes
Stärken meines Kindes
1. Streitet oft mit mir
1. Sportlich
2. Streitet sich oft mit seinem älteren Bruder
2. Zielstrebig
3. Schikaniert andere Kinder
3. An vielem interessiert
4. Lügt, um sich Vorteile zu verschaffen
4. Schmust gern
5.
5.
3.
6.
6.
4.
⊡ Tab. 5.2. Was schätze ich an meinem Kind? (Beispielantworten) Was gefällt Ihnen an Ihrem Kind? Bitte eintragen! 1.
Es ist hilfsbereit
2.
Es ist nicht nachtragend
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Kapitel 5 · Wie kann man den betroffenen Kindern und ihrer Umwelt helfen?
– Achten Sie darauf, was Ihnen an Ihrem Kind gefällt. Tragen Sie mindestens 4 Eigenschaften oder Verhaltensweisen in eine kleine Tabelle ein. – Was lief in den letzten Tagen gut? Auch Kleinigkeiten und »Selbstverständlichkeiten« eintragen. – Welche schwierigen Situationen laufen auch manchmal besser? Bitte eintragen. – Zeigen Sie Ihrem Kind, wenn Sie etwas gut finden. – Schreiben Sie jeden Abend auf, was gut gelaufen ist (»Positivtagebuch«). – Sprechen Sie mit ihrem Kind über positive Ereignisse des Tages. – Erwarten Sie keine Wunder! Diese Übungen zu positiven Erleben sollten von den Eltern mindestens 1 Woche lang praktiziert werden, weil durch ihre Stabilisierung im Verhaltensrepertoire der Eltern positive Wirkungen auf das Familienklima zu erwarten sind. Stufe 5: Die Spaß-und-Spiel-Zeit Bei verhaltensgestörten Kindern und deren Eltern sind die Kommunikation und Interaktion oftmals nur auf das Nötigste begrenzt, so dass Kinder und Eltern kaum miteinander positive Erfahrungen machen können. Aus diesem Grunde regen die Autoren an, eine besondere Spaß-und-Spiel-Zeit zwischen Eltern und Kind herbeizuführen, so dass sich über dieses Vehikel Kontakt, Kommunikation und Interaktion normalisieren und entwickeln können. Spiele tragen in sich auch immer eine verhaltenssteuernde Funktion, da sie nach Regeln ablaufen, an die sich alle Teilnehmer halten müssen. Es geht bei der Spaß-und-Spiel-Zeit nicht vordergründig um Gewinnen und Verlieren, sondern um gemeinsam verbrachte Zeit und darum, sich gegenseitig näher zu kommen. ▬ Spielvorbereitung An der Vorbereitung der Spaß-und-Spiel-Zeit sollten sich Kinder und Eltern gemeinsam beteiligen. Eltern sollten die Spielideen ihres Kindes schriftlich festhalten. Auch sollten am Spiel nur Eltern und Problemkind teilnehmen, andere Geschwister und fremde Kinder sind vom Mitspielen ausgeschlossen. Die Autoren empfehlen, diese Spiele in Zeiten zu verlegen, in denen ältere Geschwister in der Schule sind
oder jüngere Geschwister ihren Mittagsschlaf halten. Da sie ferner auch empfehlen, diese Spiele täglich (etwa 20 min) durchzuführen, sind diese Spiele in der Regel auf ein Elternteil (meist die Mutter) beschränkt. ▬ Spieldurchführung Grundsätzlich legen die Kinder fest, was und wie gespielt wird. Der erwachsene Spielpartner hat dadurch Gelegenheit, entspannt sein Kind zu beobachten. Das Handeln soll den Kindern überlassen bleiben, der Erwachsene bietet seine Unterstützung an, er soll aber nicht das Spiel lenken oder leiten. Immer dann, wenn es passend ist, sollen die Mutter oder der Vater ihre Anerkennung zum Ausdruck bringen (»Mir gefällt es, wenn wir beide so schön miteinander spielen, bauen oder puzzeln«, »Das ist dir aber gelungen!« usw.). Die Autoren des Programms empfehlen, beim Spielen unangemessenes Verhalten zu ignorieren, was aus unserer Sicht nur bis zu einem gewissen Grad sinnvoll ist. Sie empfehlen den Eltern, ihre Eindrücke zum Spielablauf regelmäßig zu notieren, damit Verhaltensänderungen nachvollzogen werden können. Sie haben deshalb eine spezielle Karte mit Verhaltensanweisungen (Memo-Karte) für die Eltern entworfen. Stufe 6: Familienregeln Das Setzen von Grenzen, das Aufstellen von Verhaltensregeln für die Verhaltensorientierung und Verhaltenssteuerung ist für verhaltensgestörte Kinder und Jugendliche sehr wichtig. ▬ Regeln, Aufforderungen und Bitten Döpfner, Schürmann u. Lehmkuhl (2000) schlagen den Eltern vor, zwischen Regeln, Aufforderungen und Bitten zu unterscheiden. Regeln sind Verhaltensvorschriften, die einzuhalten sind. Werden Regeln verletzt, müssen Konsequenzen folgen. Gleiches gilt für Aufforderungen. Dagegen ist es dem Kind freigestellt, ob es auf eine Bitte eingeht oder nicht. Wichtig erscheint uns, dass Regeln mit den Kindern oder Jugendlichen gemeinsam erarbeitet werden müssen. Sie sollen begreifen, dass Regeln unser Zusammenleben erleichtern und keine Willkürhandlungen der Eltern
153 5.1 · Hilfen im Elternhaus bzw. in der Familie
und keine sinnlosen Beschränkungen der Freiheit sind. ▬ Klarheit und Transparenz der Regeln und Aufforderungen Eltern müssen sich zunächst einmal Klarheit über Regeln und Aufforderungen verschaffen, die für die Familie gelten. Aus diesem Grund ist es zweckmäßig, sie sich aufzuschreiben. Oftmals sind Regeln und Aufforderungen Selbstverständlichkeiten, so dass wir sie nicht mehr als solche wahrnehmen. ▬ Gegen welche Regeln oder Aufforderungen wird häufig verstoßen? Über manches werden wir uns erst im Klaren, wenn wir erkennen, dass wir dadurch Schwierigkeiten bekommen. So ist z. B. in vielen Familien das morgendliche Wecken das erste Problem und das Zubettgehen zu einer bestimmten Zeit das letzte Problem eines Tages. Aber auch andere Regeln wie z. B. »Timo darf seinen Bruder nicht schlagen«, »Er muss seine Aufträge selbst erledigen und sie nicht auf den Bruder abwälzen« u. a. sind zu beachten. ▬ Klare Konsequenzen auf Regelverstöße oder Nichtbefolgen von Auforderungen Den Kindern und Jugendlichen muss verdeutlicht werden, dass auf Verstöße von Vereinbarungen Konsequenzen folgen. Dazu ist es wichtig, diese Konsequenzen mit den Heranwachsenden abzusprechen und sie auch konsequent einzuhalten. Auf der anderen Seite sollte man aber auch nicht vergessen, dass eingehaltene Regeln und durchgeführte Aufforderungen von Zeit zu Zeit auch belohnt werden müssen. Stufe 7: Geben Sie wirkungsvolle Aufforderungen ▬ Wie sollte man Aufforderungen stellen? Mit Recht weisen Döpfner, Schürmann u. Lehmkuhl (2000) darauf hin, dass Eltern nur das von ihren Kindern fordern sollten, was sie auch bereit sind durchzusetzen. Forderungen sollten nicht nebenbei gestellt werden, die Situation erfordert, dass die Aufmerksamkeit des Kindes oder Jugendlichen angesprochen wird (Blickkontakt halten, deutlich sprechen, Aufforderung nur einmal stellen).
5
▬ Konsequent die Einhaltung der Forderung überprüfen Es ist sinnvoll, in der Nähe des Kindes oder Jugendlichen zu bleiben, um sicher zu gehen, dass er die Forderung auch ausführt. Bei Nichterfüllung sollte die Aufforderung möglichst ruhig nochmals gestellt und vom Heranwachsenden wiederholt werden. Die Ausführung der Aufforderung sollte in jedem Falle belohnt werden (z. B. »Ich freue mich, wie schön jetzt Dein Zimmer aussieht«). Stufe 8: Loben Sie Ihr Kind, wenn es Aufforderungen und Regeln befolgt Eltern sollten das Befolgen von Regeln und Aufforderungen nicht als etwas Selbstverständliches betrachten. Aus diesem Grunde ist es wichtig, dass das Kind für das Befolgen von Regeln und Aufforderungen gelobt, belohnt wird. Diese Bekräftigungen des Verhaltens führen dazu, dass das Verhalten häufiger ausgeführt wird. Dies ist wichtig, da Kinder mit ausagierenden Verhaltensstörungen im sozialen Bereich schwerer als andere Kinder lernen. Lob, Annerkennung und Belohnung sollten immer unmittelbar auf das erwünschte Verhalten folgen. Das ist kein großer Akt. Sagen Sie einfach »Danke, dass Du (…)«. Oder: »Weil Du (…), habe ich Dir eine heiße Schokolade gekocht« usw. Nehmen Sie sich die Zeit, den Tag abends noch einmal Revue passieren zu lassen, und sagen Sie ihrem Kind, was Ihnen an ihm heute besonders gefallen hat. Dazu sollte möglichst eine natürliche Situation genutzt werden, bei Kindern z. B. das Zubettbringen, bei Jugendlichen ein Gespräch am Ende des Abendessens. Die Autoren empfehlen, den Umgang mit Lob mindestens 2 Wochen zu praktizieren, damit die Eltern diese Umgangsform mit dem Kind in ihr Verhaltensrepertoire aufnehmen können und sie sich vom Druck des bewussten Handelns lösen können. Stufe 9: Setzen Sie natürliche Konsequenzen, wenn Ihr Kind Aufforderungen und Regeln nicht befolgt Denken wir beim Abarbeiten dieses Programmschritts immer daran, dass Lob bei der Verhaltenssteuerung immer wirksamer als Strafe ist, dass aber
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Kapitel 5 · Wie kann man den betroffenen Kindern und ihrer Umwelt helfen?
Erziehung ohne Strafe auch nur eine Illusion ist. Wir müssen als Eltern deshalb sehr sorgfältig mit Strafen umgehen. Die Autoren sprechen deshalb auch lieber von negativen Konsequenzen. ▬ Was man über negative Konsequenzen wissen muss Sollen negative Konsequenzen verhaltenswirksam sein, müssen wir Folgendes beachten: – Negative Konsequenzen müssen durchführbar sein. Eltern sollten sich das Ausmaß der Strafe wohl überlegen (nicht: »4 Wochen Fernsehverbot« sondern »Heute darfst Du nicht Fernsehen«, nicht: »Du darfst Dich nie wieder mit x treffen«, sondern »Für heute ist der Ausgang für dich gestrichen«). – Negative Konsequenzen müssen einem Regelverstoß sofort folgen. Es geht nicht an, dass wir einmal einen Regelverstoß tolerieren, ihn übersehen und ein anderes Mal das Kind oder den Jugendlichen unsere Empörung (unsere Macht) spüren lassen. – Negative Konsequenzen sollten so natürlich wie möglich sein (z. B. Wiedergutmachung, Ausschluss aus der Situation, Entzug von Privilegien, Einengung des Handlungsspielraums. ▬ Wie verhält man sich bei einem Regelverstoß – Eltern müssen dem Kind oder Jugendlichen bewusst machen, dass eine Regel verletzt wird, indem Sie die Regel benennen und die negative Konsequenz ankündigen. – Beendet daraufhin das Kind oder der Jugendliche das unangemessene Verhalten, loben Sie es bzw. ihn. – Geben Sie dem »Störer« Gelegenheit, über die Gründe seines Verhaltens zu sprechen. – Begründen Sie nochmals die Notwendigkeit der Regel. – Wenn das Kind oder der Jugendliche nach Schritt 1 nicht zur »Normalität« zurückfindet, wenden Sie konsequent die angekündigte negative Konsequenz an. ▬ Wie sollten wir uns bei der Anwendung negativer Konsequenzen verhalten Ein Fehler, auf den viele Eltern hereinfallen, ist es, sich von ihrem Kind in endlose Diskussionen verwickeln zu lassen. Richtiger und wirksamer ist, Diskussionen über Regelverletzungen zu
unterbinden. Wenn es notwendig ist, eine negative Konsequenz auszusprechen, sollte dies nicht als Ärger- oder Wutäußerung erfolgen, sondern mit möglichst ruhiger Stimme, aber bestimmter Haltung vorgebracht werden. Da der Umgang mit negativen Konsequenzen v. a. das emotionale Verhalten der Eltern tangiert, empfehlen Döpfner, Schürmann u. Lehmkuhl (2000), sich bei dieser Stufe des Selbsthilfeprogramms für Eltern mindestens 3 Wochen Zeit zu lassen. Es geht auch hier wiederum darum, dass das Verhalten als Selbstverständlichkeit praktiziert werden kann. Stufe 10: Wenn Lob alleine nicht ausreicht Auf dieser Stufe des Selbsthilfeprogramms werden Eltern in die Technik des Token-economy eingeführt, um besonders hartnäckigen Verhaltensproblemen zu begegnen. Dabei werden viele der vorher erarbeiteten Techniken wieder aktiviert. Eltern werden aufgefordert, das Problemverhalten und die Situation bzw. die Situationen, in denen es auftritt, möglichst genau aufzuschreiben und dazu das erwünschte Zielverhalten des Kindes zu bestimmen. Im Sinne der Verhaltensformung werden Verhaltenspunkte für jede erwünschte Verhaltensweise vergeben. Mit dem Kind wird eine Liste von Sonderbelohnungen erarbeitet, die als Eintauschverstärker dem Kind bei Erreichung einer bestimmten Punktzahl zur Verfügung stehen. Aus diesem Grund muss man festlegen, am besten zusammen mit dem Kind, wie viele Punkte eine Sonderbelohnung wert sind. Verhaltensregeln und Punkteplan werden für das Kind gut sichtbar in Küche oder Kinderzimmer aufgehängt. Hat das Kind sich unproblematisch verhalten, sollte es sofort mit den vereinbarten Punkten belohnt werden. Zusätzlich sollte noch zum Ausdruck gebracht werden, wie sehr man sich über das Verhalten des Kindes freut. Mindestens einmal am Tag, am besten abends, sollte man mit dem Kind über die Ereignisse des Tages, was gut geklappt hat und was noch nicht so gut war, sprechen. Aus eigener Erfahrung im Umgang mit Punkteplänen kann Eltern nur empfohlen werden, die
155 5.2 · Hilfen im Kindergarten bzw. in der Schule
5
Hürden für die Erreichung der Punkte nicht zu hoch zu legen. Ist das Punktekonto zur Erfüllung eines Wunsches der Liste der Sonderbelohnungen erreicht, sollte diese bei noch bestehendem Wunsch des Kindes unbedingt erfüllt werden. Das Kind darf aber auch die erarbeiteten Punkte »ansparen«, um sich einen höherwertigen Wunsch zu erfüllen.
des Normalverhaltens durchdenken müssen und schließlich neue Verhaltensregeln und positive und negative Konsequenzen festlegen müssen. Eltern wissen auch, dass sie möglicherweise selbst in alte Verhaltensmuster zurückgefallen sind und damit das Fehlverhalten des Kindes erst ermöglichen. Sie müssen sich also selbst wieder aktivieren.
Stufe 11: Wie man einen Punkteplan verändert und beendet Da Verhaltensänderungen Zeit brauchen, solle man die Einbeziehung von Punkteplänen nicht zu schnell aufgeben, sondern die Liste der Sonderbelohnungen mit dem Kind von Zeit zu Zeit überarbeiten. Andererseits lassen sich Punktepläne auf andere problematische Verhaltensweisen ausdehnen. Die Arbeit mit Punkteplänen ist bei Döpfner, Schürmann u. Lehmkuhl (2000) Arbeit mit positiven Verstärkern, negative Konsequenzen (Wegnahme von Punkten) sind in Stufe 11 nicht vorgesehen. Diese Methode wird in Stufe 12 in einer besonderen Arbeitsform eingeführt.
Stufe 14: Wenn sich Probleme nicht lösen lassen Sollten trotz intensiver Auseinandersetzung mit diesem Selbsthilfeprogramm Eltern zu keinem befriedigenden Erziehungsergebnis kommen, sollte man zunächst analysieren, ob besondere Belastungen in der Familie, in der Verwandtschaft oder im Beruf vorliegen, die den Erfolg des Programms und Ihrer Bemühungen behindern. Sollten Eltern zu dem Schluss kommen, dass die Probleme ihres Kindes bereits verfestigt sind, sollten sie sich nicht scheuen, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen, um dem Kind oder Jugendlichen zu helfen, seine weitere Entwicklung norm- und erwartungsgemäß zu gestalten.
Stufe 12: Der Wettkampf um lachende Gesichter Beim Wettkampf um lachende Gesichter geht man zunächst wie in Stufe 10 und 11 vor, nur dass die Punkte durch lachende Gesichter ersetzt werden. Ergänzend wird bei Fehlverhalten dem Kind ein lachendes Gesicht entzogen (Verstärkerentzug). Da das Ganze als Spiel an die Kinder herangetragen wird, müssen Beginn und Ende der Spielzeit definiert werden. Auch hier legt man eine Liste der Sonderbelohnungen an und legt fest, für wie viele lachende Gesichter eine Sonderbelohnung eingetauscht werden kann. Ansonsten wird wie in Stufe 10 und 11 verfahren. Stufe 13: Wenn neue Probleme auftauchen Wenn Eltern das Selbsthilfeprogramm durchgearbeitet haben und eigentlich mit dem Erreichten zufrieden sind, kann es zu Rückfällen und auf dem Hintergrund des Entwicklungsgeschehens zu neuen Schwierigkeiten kommen. Nur sind die Eltern zur Überwindung dieser Probleme jetzt besser gerüstet. Sie wissen, dass sie das Problem gründlich analysieren müssen, dass sie Alternativen
Fazit Wir haben das oben beschriebene Selbsthilfeprogramm zum einen deshalb so ausführlich besprochen, weil wir es für einen gute Möglichkeit halten, die eigenen Erziehungsfähigkeiten zu überprüfen und zu erweitern. Zum anderen wollten wir verdeutlichen, dass Eltern verhaltensauffälliger und verhaltensgestörter Kinder und Jugendlicher intensiv an sich arbeiten müssen, um mit diesen Problemen fertig zu werden, weil es nicht nur um Wollen, sondern um den dornigen Pfad des Erwerbs spezifischer Fähigkeiten geht.
5.2
Hilfen im Kindergarten bzw. in der Schule
Da es sich bei den Methoden und Prinzipien des Elterntrainings um ein Training der Erziehungsfähigkeiten und -fertigkeiten handelt, können solche Methoden auch auf andere Erziehungsumgebungen, z. B. den Kindergarten, die Schule oder tagesklinische Gruppen, übertragen werden. Man bezeichnet diese Form der Beeinflussung des Verhaltens in Alltagssituationen als Kontingenzmanagement.
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Kapitel 5 · Wie kann man den betroffenen Kindern und ihrer Umwelt helfen?
> Definition Kontingenzmanagement ist der geplante Einsatz von Verstärkern, z. B. Abbau unerwünschten Verhaltens und Aufbau von vereinbartem Zielverhalten.
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Diesen Strategien liegt der Gedanke zu Grunde, dass sowohl Faktoren auf Seiten des Kindes als auch auf Seiten der Umgebung in synergetischer Weise beeinflusst werden müssen, wenn das problematische Verhalten des Kindes dauerhaft gebessert werden soll.
5.2.1 Hilfen vor der Einschulung Die früheste Form institutioneller Erziehung erfahren Kinder heute in den Kindertagesstätten und Kindergärten. Nach allem bisher Dargelegten ist neben der Entwicklungsförderung des Klein- und Vorschulkindes (die heutzutage von den Eltern aus einer Vielzahl unterschiedlicher Angebote ausgewählt werden kann) bereits hier und gerade hier der Grundstein für den Umgang mit Institutionen zu legen. Sicher spielen bei der Auswahl ganz verschiedene Aspekte eine Rolle, so z. B. die Konzeption der jeweiligen Einrichtung, die Wohnortnähe und Erreichbarkeit, die anfallenden Kosten und vieles andere. Jedoch sollte immer auch geprüft werden, ob die Eltern den Förder- und Erziehungsstil der jeweiligen Einrichtung (bis hin zu den Erziehungsmethoden der jeweiligen Erzieherin, falls diese bekannt sind) als sinnvolle Ergänzung ihrer eigenen familiären Erziehung sehen und akzeptieren können. Je besser hier das Passungsgefüge ist, je weniger Brüche das Kind erlebt und je klarer die Rollenverteilung auch zwischen Elternhaus und institutioneller Erziehung ist, desto förderlicher wird die Gemeinschaftserziehung für das jeweilige Kind sein. Querelen zwischen Elternhaus und Institution sind häufig lästig für beide Seiten, aber immer belastend für das Kind, das dadurch häufig in handfeste Loyalitätskonflikte gerät. Nun hat auch die Vorschulerziehung in den vergangenen Jahrzehnten einige Veränderungen erlebt. Wichtig aus unserer Sicht ist und bleibt jedoch, dass das Klein- und Vorschulkind in eine Gruppe strebt und sich dort (mitunter erstmalig)
als Mitglied einer Gruppe erlebt und in dieser Gruppe eine Position entwickelt, die ihm Identifikation erlaubt und Zugehörigkeit vermittelt. ! Identifikation und Zugehörigkeit sind 2 Faktoren, auf die es ein Leben lang zurückgreifen muss. Wir sind der Meinung, dass man Vorschuleinrichtungen zwar nicht »verschulen« sollte, jedoch im Verlauf der Vorschulerziehung ganz bewusst daran arbeiten, dass Kinder Regeln und Grenzen vermittelt bekommen und sie bereits eine gewisse Aufgabenhaltung entwickeln. Diese muss anerzogen, ja trainiert werden. Sie entwickelt sich nicht im Selbstlauf und ist nicht bei Einschulung plötzlich vorhanden. Es reicht für das Kind nicht, einzusehen, dass es sich jetzt in eine Gruppe einordnen muss, wenn dies niemals vorher trainiert wurde.
Wir erinnern: Im Vorschulalter ist hierfür das Zeitfenster weit geöffnet. Dies ist ein Umstand, der in der Vorschulerziehung der vergangenen Jahre häufig übersehen wurde. Die Konsequenz war, dass Kinder nach der Einschulung sich sehr bald als »gruppenunfähig«, weil nicht anpassungsfähig, erwiesen. Diese Anpassungsfähigkeit ist aber gerade die wichtigste Voraussetzung dafür, dass kognitive Förderreize von dem Schüler der ersten Klassen aufgenommen werden können. Ein Kind, das in seinem Sozialverhalten so unangepasst ist, dass es sich nicht in eine Gruppe einfügen kann, nämlich die Schulklasse, stört damit nicht nur die anderen, sondern behindert sich selbst beim Lernen. Nicht zuletzt deshalb entstehen mitunter sehr schlechte Lernergebnisse nicht auf der Grundlage einer kognitiven Minderbefähigung, sondern auf der Grundlage eines Nichtaufnehmenkönnens von Lernstoff. Das wichtigste, was wir im Kindergarten unseren Kindern vermitteln können und müssen, ist die Leistungshaltung, die Aufgabenhaltung, die sie motiviert, in der Schule die kognitiven Inhalte aufzunehmen und zu verarbeiten. Wir können Kindergartenkindern auch mit gezielten Trainings helfen, ihre sozial-emotionalen Kompetenzen zu fördern und einen Beitrag zur Gewaltprävention zu leisten. Hierzu eignet sich z. B. die Kindergartenversion des für die Grundschule erarbeiteten Programms FAUSTLOS von
157 5.2 · Hilfen im Kindergarten bzw. in der Schule
Cierpka und Schick (2005). Dies ist ein Programm zum Training sozialer Kompetenzen und der Vermeidung impulsiven und aggressiven Verhaltens. Es lässt sich leicht in den Kindergartenalltag integrieren. Es besteht aus 28 »Lektionen« zu jeweils 20 min. Das Programm vermittelt alters- und entwicklungsadäquate prosoziale Kenntnisse und Fähigkeiten in den Bereichen Empathie, Impulskontrolle und Umgang mit Ärger und Wut. Dieses übergeordnete Ziel ist in folgende Teilziele untergliedert: Die Kinder sollen lernen, ▬ Gefühle anderer zu identifizieren, ▬ die Perspektiven anderer zu übernehmen und empathisch auf andere zu reagieren. ▬ Impulsives Verhalten von Kindern soll vermindert werden: ▬ Anwendung eines Problemlöseverfahrens, das Üben prosozialer Verhaltensweisen. ▬ Aggressives, gewalttätiges Verhalten von Kindern soll vermindert werden: ▬ eine verbesserte Wahrnehmung von Wut und Ärger und ▬ den Gebrauch von Beruhigungstechniken. Zur Vermittlung eines adäquaten Arbeitsstils ist hier auf das Konzentrationstrainingsprogramm (KTP) für Vorschulkinder zu verweisen (vgl. auch Kap. 2.3.3).
5.2.2 Pädagogische Hilfen
in der Schule Es gibt Kombinationsbehandlungen aus Elterntrainings und Kontingenzmanagement für die Kinder in Schulen sowie das Training sozialer Problemlösestrategien, die auch außerhalb der Familie mit Erfolg angewendet werden können und länger anhaltende Effekte zeigen (Kazdin et al. 1987; Long et al. 1994). Mehrere gut strukturierte verhaltenstherapeutische Programme haben Petermann und Petermann (2001; Training mit aggressiven Kindern) und Petermann et al. (1999; Sozialtraining in der Schule) vorgelegt. Bei all diesen Verfahren geht es schließlich um ein Verstärken (Loben und Belohnen) von erwünschtem Verhalten, ein Negieren milderer For-
5
men unerwünschten Verhaltens und einen angemessenen Verstärkerentzug bzw. die negative Verstärkung von deutlich unerwünschtem Verhalten. Es werden Punktepläne eingesetzt, »Tokens« (Eintauschverstärker) vergeben, bei unerwünschtem Verhalten werden Punkte nicht vergeben bzw. abgezogen. Wichtig ist, dass man die von den Kindern erwünschten Verstärker einsetzt, d. h. soziale Verstärker stehen i. Allg. über materiellen Verstärkern und bei den sozialen Verstärkern kommt es generell sehr auf die individuellen Vorlieben des Kindes an. Da die Erarbeitung eines umfangreichen Spektrums von Verstärkern sehr viel Zeit erfordert, diese für die praktische Arbeit aber möglichst sofort zur Verfügung stehen müssen, wurde ein spezielles diagnostisches Verfahren, nämlich die »Liste zur Erfassung von Verstärkern für Kinder« (LEV-K), entwickelt. Die LEV-K umfasst 90 Items des Verfahrens für Erwachsene von Windheuser und Niketta (1972). Anhand einer 5-stufigen Skala mit den Abstufungen von ungern (1) bis sehr gern (5) sind die die Items charakterisierenden Tätigkeiten von Kind und Eltern unabhängig voneinander zu bewerten (⊡ Tab. 5.3). Alle Items, die mit »sehr gern« bewertet wurden, lassen sich gut als Eintauschverstärker verwenden. Die Rolle des Lehrers besteht ▬ in der Beratung der Eltern, ▬ in der Kooperation mit den Eltern, ▬ in der Kooperation bei der Diagnostik, ▬ in der Unterstützung der Therapiemaßnahmen, ▬ in Rückmeldungen über den Fortschritt, ▬ letztlich auch in Unterrichtsgestaltung und erzieherischen Maßnahmen.
⊡ Tab. 5.3. Beispiel-Items aus dem Fragebogen LEV-K 1. Eiskrem essen
40. Zoologische Gärten besuchen
10. Fruchtsaft trinken
45. Mit Tieren beschäftigen
17. Sport treiben
61. Einkaufen gehen
21. Lesen
68. Gelobt werden
27. Fernsehen
84. Jemandem helfen
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Kapitel 5 · Wie kann man den betroffenen Kindern und ihrer Umwelt helfen?
Die Verdeutlichung von Erwartungen und die Akzeptanz und Unterstützung sind Anteile einer guten Erziehung und einer autoritativen Grundhaltung, die gute, erfolgreiche Eltern und ebensolche Lehrer gemeinsam haben.
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»Schulische Interventionsprogramme mit dem Ziel, soziale Kompetenzen und den Schulerfolg zu fördern, könnten also aus Erfahrungen profitieren, die in Familien und mit Elterninterventionsprogrammen gewonnen worden sind.« (Wentzel 2002)
Mutzeck und Pallack (1991) nennen als verhaltensbeeinflussende Faktoren im Unterricht, die den verhaltensauffälligen Schüler tangieren: ▬ den Lehrer mit seinem Erziehungsstil, seiner Leistungsnorm, seinen Erwartungen usw., ▬ die angewendete Lehrmethode (Motivierung, Schrittfolge, Arbeitsform usw.), ▬ den Lehrstoff, ▬ die Lerninhalte, ▬ die Lernsituation im Hinblick auf Lernvoraussetzungen (wie Platz, Material, Klima usw.) und natürlich ▬ die Mitschüler, bei denen sich der verhaltensauffällige Schüler einer gewissen Beliebtheit oder Unbeliebtheit erfreut, einen gewissen Status innehat. Die Autoren haben eine Integrationskonzeption vorgelegt, die von 4 Ansatzpunkten ausgeht: ▬ Eine Einstellungsveränderung bei Lehrern und deren verstärkte Erziehungskompetenz: Hierunter fasst er die sonderpädagogischen Anteile in der Grundschul- (und Hauptschul-)Lehrerausbildung sowie schulinterne und regionale Lehrerfortbildung, z. B. das problemorientierte Lehrertraining. ▬ Eine Strukturveränderung der Regelschule mit dem Ziel der Erweiterung der Förderkompetenz: Hierunter subsumiert der Autor die integrierte Förderklasse bzw. integrierte Fördermaßnahmen. ▬ Eine Erweiterung des Selbstverständnisses des Erziehungsauftrages: Hier meint er z. B. sowohl den verhaltenspädagogischen Dienst als auch ambulante sozialpädagogische Gruppen.
▬ Herstellung bzw. Erweiterung integrativer ambulanter Betreuung: Darunter versteht er z. B. einen Gesprächskreis aus Arzt, Lehrer, Psychologe (auch Erziehungsberater, Schulpsychologe) und Eltern. Sie betonen: »Gerade das Zusammenwirken mehrerer sich ergänzender abgestufter Maßnahmen wird dem schwierigen und sehr differenzierten Phänomen Verhaltensstörung am ehesten gerecht.« (S. 24)
Hoppe-Graff (2005) betont unter Zugrundelegung der Ergebnisse von PISA 2000 zum einen, dass aufgrund der querschnittlichen Anlage der Studie belastbare kausale Aussagen in der Regel nicht möglich sind. Zum anderen stellt er fest, dass die pädagogische Psychologie grundsätzlich andere Faktoren in Erwägung zieht, als sie in der Diskussion nach PISA eine Rolle spielen. Er verweist hierbei auf individuelle Leistungsvoraussetzungen wie Intelligenz oder Motivation sowie auf den unmittelbaren Lebenskontext der Schüler wie etwa die soziale und ökonomische Situation im Elternhaus. Weiterhin referiert er Fend (2002), der betont, dass kognitive Kompetenzen und Motivation gestützt durch den Hintergrund des Elternhauses in verschiedenen Schulsystemen unterschiedlichen Einfluss haben: »Welche Bedeutung (psychologische) Mikrofaktoren im einzelnen für die Leistungsentwicklung eines Kindes haben, wird von (institutionellen) Makrofaktoren festgelegt.« (S. 142)
Auf der Grundlage dieser Überlegungen entwarf Fend ein Angebot-Nutzungs-Modell von Schulleistungen, in dem Mikro- und Makrofaktoren zusammengeführt werden. Dieses eignet sich zum einen zur Verdeutlichung des Beitrages der pädagogischen Psychologie bei der Erforschung von Bildungsprozessen, zum anderen aber auch zur Verdeutlichung der Notwendigkeit einer interdisziplinären Zusammenarbeit. Hier geht es also darum, eine Verminderung meidender Motivation zugunsten einer Befähigung zu realistischen Zielsetzungen zu erreichen. Eine Veränderung ungünstiger Attributionen und eine
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Veränderung des Konzeptes eigener Fähigkeiten können sowohl erzieherisch als auch therapeutisch gefördert werden. Eine motivationsförderliche Unterrichtsgestaltung, sprich eine positive Motivierung über die Schule, lässt sich unter Bezug auf Rheinberg und Fries (1998) über folgende Maßnahmen erreichen: ▬ Einführung individueller Bezugsnormen: Es kommt darauf an, dass der Lehrer es schafft, dem Schüler seine individuelle Leistungsnorm zu verdeutlichen, ihn immer wieder zu motivieren, dieses individuelle Leistungsziel auch zu erreichen, ihn nicht fallen zu lassen, weil er nicht besser ist, aber auch nicht zu Höchstleistungen zu drängen, weil er ihn damit überfordern würde. ▬ Angemessener Wechsel der Anforderungen: Hierunter ist zu verstehen, dass die Anforderungen unterschiedliche Sinnesbereiche im Wechsel ansprechen müssen, so dass es immer möglich ist, ein Sinnessystem in absoluter Aktivität zu halten, während die anderen sich »erholen« können. Es kommt außerdem auf die Abwechslung von kognitiv leichteren und kognitiv schwierigeren Aufgaben an, da die volle kognitive Energie nicht während einer gesamten Schulstunde aufrechterhalten werden kann. ▬ Empfundene Wichtigkeit der Tätigkeiten: Hier ist es wichtig, dass es dem Lehrer gelingt, die Wertigkeit einzelner Aufgaben und einzelner Tätigkeiten für die Gesamtleistung immer wieder zu verbalisieren und damit die Schüler zum Weiterarbeiten zu motivieren. Auch der Moralisierungsaspekt, auf den wir schon weiter vorn eingegangen sind (vgl. Speck 1993), hat hier eine wichtige Funktion. Es darf nicht übersehen werden, dass die Veranschaulichung der Aufgaben ein Mittel ist, um die Wichtigkeit der jeweiligen Tätigkeit zu verdeutlichen. Dem Lehrer muss dabei bewusst sein, dass viele seiner Schüler auf der konkret anschaulichen kognitiven Leistungsstufe beharren. Die Stufe des formalen Denkens erreichen sie oft erst später oder gar nicht. Auch die Schüler, die diese letzte Stufe der kognitiven Leistung bereits erreicht haben, haben etwas davon, wenn der Lehrer bestimmte Aufgaben veranschau-
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licht, weil sie dann besser den Realitätsbezug herstellen können. ▬ Rückmeldung durch die Aufgaben: Die Aufgabenlösung selbst soll dem Schüler die Güte seiner Arbeit verdeutlichen, zum anderen aber auch die Möglichkeit der Fehleranalyse einräumen, weil Fehler Chancen zum Lernen sind. ▬ Möglichkeit zur Zusammenarbeit mit anderen: Dem Lehrer sollte es gelingen, Lerngruppen, wenn auch nur für ganz spezifische Aufgaben, so zusammen zu setzen, dass sie gute und schwächere Schüler vereinen. Auf diese Weise wird die Lösung der Aufgabe für alle zum Gewinn. Und es geht darum, nicht nur die Arbeit des Einzelnen, sondern auch die Arbeit der gesamten Gruppe zu bewerten. ▬ Angemessener Handlungsspielraum durch die Gewährung von Autonomie: Hier geht es darum, dass Schüler Freiräume dafür bekommen, welche Aufgaben sie als nächstes lösen müssen, dass ihnen die Abfolge freigestellt wird – nicht jedoch, ob sie überhaupt eine der Aufgaben lösen werden. In einer von uns betreuten Promotionsarbeit stellte sich heraus, dass Schüler, die lange Zeit keine Erfolgserlebnisse in der Schule hatten und bereits in der 6. Klasse waren, bei gewährter Autonomie auf Aufgaben der 1. Klasse zurückgriffen, um überhaupt wieder einmal ein Erfolgserlebnis zu haben. Über diesen Weg kam es dann zu einer Leistungssteigerung, welche die Schüler wieder an ihr Klassenniveau heranführte. »Diese Maßnahmen können kaum für den Einzelfall eingeführt werden, sind aber als Peilmarken der Unterrichtsgestaltung zur Vermeidung von Schulunlust und Motivationsmangel in hohem Maße nützlich.« (S. 180)
Studienbox In unserer interdisziplinären Längsschnittstudie haben wir die Sensibilität der Lehrer für kindliche bzw. jugendliche psychische Störungen explizit untersucht. Wir verwendeten dafür die Teacher’s Report Form (TRF) aus der Child Behaviour Checklist (CBCL). ▼
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Kapitel 5 · Wie kann man den betroffenen Kindern und ihrer Umwelt helfen?
In ⊡ Abb. 5.1 haben wir das Ergebnis der 198 Förderschüler, die zum 1. Messzeitpunkt (MZP) mit dem TRF erfasst wurden, den Ergebnissen zum 2. MZP (n = 179) und zum 3. MZP (n = 81) gegenübergestellt. In den Syndromskalen ergeben sich keine signifikanten Unterschiede in den mittleren Rohwertausprägungen, im Urteil der Lehrer ergeben sich somit keine Veränderungen zwischen den Messzeitpunkten. Die Schüler, die sie betreuen, werden von ihnen als hochgradig gestört charakterisiert. Besonders herausragend sind zu allen 3 Messzeitpunkten die Einschätzungen der Lehrer bezüglich der Skalen »Aufmerksamkeitsstörungen« und »Aggressives Verhalten«. Auch die Befunde der Skalen 2. Ordnung folgen im Lehrerurteil diesem Trend (⊡ Abb. 5.2).
Einigkeit von Schülern, Eltern, Lehrern und Schulbehörden – eine Voraussetzung zur Bekämpfung von Gewalt an Schulen Interventionsprogramm von Olweus Olweus (1996) berichtet über einen sehr erfolgreichen Schulversuch zur Bekämpfung von Gewalt, der an 42 Schulen der Stadt Bergen in Norwegen durchgeführt wurde. Die vorgelegten Materialien verdeutlichen, dass nur ein komplexes, gut integriertes Interventionsprogramm, das folgende Maßnahmen umfasst, die Gewaltausübung unter Schülern drastisch senkt und gleichzeitig der Gewaltprävention dient: ▬ Maßnahmen auf Schulebene, ▬ Maßnahmen auf Klassenebene und ▬ Maßnahmen auf der persönlichen Ebene. Unter den Maßnahmen auf Schulebene ist darauf zu verweisen, dass es eine enge Zusammenarbeit von Schulbehörde, Schulleitung, Lehrern und Eltern bei der Bekämpfung von Gewalt an Schulen geben muss. Diese muss sich auf Maßnahmen der Diagnostik zur Erfassung des Ist-Zustandes, auf die Schaffung einer speziellen Arbeitsgruppe von Lehrern zur Diskussion von Gewaltproblemen an den Schulen und die Aktivierung der Elternbeiräte beziehen. Es wird außerdem empfohlen, ein
Kontakttelefon für Schüler, die Opfer von Gewalt wurden, einzurichten, um betroffenen Schülern Hilfe und Unterstützung anzubieten. Wir werden im Folgenden auf die praxisbedeutsamen Ergebnisse dieser Studie aus dem Bereich »Schulklasse« näher eingehen. Wir empfehlen jedoch den Lesern, insbesondere den Lehrern unter ihnen, sich eingehend mit der Arbeit von Olweus zu beschäftigen. Die erste Maßnahme »Klassenregeln gegen Gewalt« zielt auf die Verbesserung des Klassenklimas ab. Der Klassenlehrer sollte mit seinen Schülern klare Verhaltensregeln herausarbeiten, die von der Klasse verabschiedet werden und die im Klassenraum gut sichtbar ausgehängt werden: z. B. ▬ Wir wenden keine Gewalt gegen andere Schüler an. ▬ Wir machen anderen keine Schulsachen kaputt. ▬ Wenn wir sehen, dass sich 2 streiten, trennen wir sie und versuchen zu schlichten. ▬ Wenn wir merken, dass jemand isoliert oder ausgegrenzt wird, versuchen wir ihn in die gemeinsame Arbeit einzubeziehen. Diese 4 Regeln sind Beispiele, die je nach Problemlage in der Klasse anders gestaltet werden können. Wichtig ist, dass sie eine klare Orientierung für die Schüler bilden. Als 2. Maßnahme zur Verhaltensmodifikation wird auf die Anwendung von Lob verwiesen. Es ist wichtig, das regel- und normgemäße Verhalten des einzelnen, einer Gruppe oder der Klasse zu bekräftigen. Aggressive Kinder sollten immer dann gelobt werden, wenn sie solche Verhaltensäußerungen unterlassen haben oder sich an aggressiven Akten anderer nicht beteiligten. Mit den Schülern sollten aber auch Strafen für unerwünschtes Verhalten vereinbart werden. Olweus schlägt beispielsweise folgende Strafen vor: ▬ »ein ernsthaftes Gespräch mit dem Schüler oder der Schülerin; ▬ den Schüler oder die Schülerin vor dem Büro des Schulleiters oder der Schulleiterin während mehrerer Pausen sitzen zu lassen; ▬ den Schüler oder die Schülerin mehrere Stunden in einer anderen Klasse verbringen zu lassen, vielleicht mit jüngeren Schülern und Schülerinnen;
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161 5.2 · Hilfen im Kindergarten bzw. in der Schule
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1. MZP 2. MZP 3. MZP
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⊡ Abb. 5.1. Veränderungen im TRF vom 1. zum 3. Messzeitpunkt. (Ettrich u. Ettrich 2006)
60,00
50,00
40,00 1. MZP 2. MZP
30,00
3. MZP
20,00
10,00
0,00 Gesamtrohwert
Gesamtwert internalisierter Störungen
Gesamtwert externalisierter Störungen
⊡ Abb. 5.2. Veränderungen in den Skalen 2. Ordnung des TRF vom 1. zum 3. MZP. (Ettrich u. Ettrich 2006)
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Kapitel 5 · Wie kann man den betroffenen Kindern und ihrer Umwelt helfen?
▬ den Schüler oder die Schülerin während mehrerer Pausen in die Nähe des aufsichtführenden Lehrers oder der Lehrerin zu befehlen; ▬ einen Schüler oder eine Schülerin zu einem ernsthaften Gespräch zum Schulleiter oder der Schulleiterin zu schicken; ▬ dem Schüler oder der Schülerin gewisse Privilegien vorzuenthalten.« (S. 88f)
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Gespräche zwischen den Schülern und zwischen Schülern und Lehrern sind zur permanenten Überprüfung des Erreichten notwendig. Aus diesem Grunde werden regelmäßige Klassengespräche empfohlen, die in vereinbarten Abständen durchzuführen sind. Zur Verbesserung sozialer Beziehungen wird die Anwendung der Methode des kooperativen Lernens herangezogen. Die Schüler arbeiten in kleinen Gruppen und lösen gemeinsam eine Aufgabe. Der Lehrer verdeutlicht seinen Schülern, dass die Leistung der Gruppe für jeden einzelnen zählt und dass jedes Gruppenmitglied in die Lage zu versetzen ist, das Ergebnis der Gruppe vorzutragen. Die Methode ist geeignet, positive Abhängigkeiten zwischen den Kindern zu fördern. Diese Methode zur Verbesserung des sozialen Klimas sollte durch gemeinsame positive Aktivitäten der Klasse ergänzt werden, die sich auch auf Freizeit und Ferienzeit beziehen. Olweus weist darauf hin, dass die vorgenannten Maßnahmen mit dem Klassenelternbeirat und den anderen Lehrkräften einer Klasse abzustimmen sind. Insgesamt muss eine Atmosphäre erzeugt werden, die erkennen lässt, dass alle Beteiligten (Eltern, Schüler und Lehrer) Gewalt als Mittel zur Lösung sozialer Probleme ablehnen. Die Maßnahmen auf der persönlichen Ebene zielen darauf ab, Kommunikationsprobleme zwischen Gewalttätern und Opfern zu vermindern, wobei die Eltern beider Gruppen in diese Bemühungen mit einbezogen werden. Diesbezüglich neutralen Schülern kommt in diesen Gesprächen die Rolle von Mediatoren oder Schlichtern zu (vgl. auch Streitschlichterprogramme an Schulen). Als letzte Maßnahme wird aber auch ein Klassenbzw. Schulwechsel diskutiert, wenn sich dadurch die Kontrahenten besser aus dem Wege gehen können.
Die empfohlenen Maßnahmen auf Schulebene, Klassenebene und persönlicher Ebene sind so einfach und eindeutig realisierbar, dass es eigentlich verwundert, dass über »Gewalt an Schulen« so häufig gesprochen und so selten effektiv gearbeitet wird (Ettrich u. Rossbach 1996). Die Gründe sehen wir in der Betonung, ja Überbetonung von Individualismus in unserer Gesellschaft und die Hintansetzung der Erkenntnis, dass eine Gesellschaft nur dann gut funktioniert, wenn sie vom einzelnen die Ein- und Unterordnung in die Gemeinschaft erwartet und als Wert hervorhebt. Von namhaften Pädagogen (vgl. Biegert 2001) wird immer wieder auf folgende Punkte hingewiesen: ▬ Ein hohes Maß an Ablenkbarkeit, kurze Aufmerksamkeitsdauer, mangelnde Befähigung zur Selbststrukturierung und Selbstorientierung und die ständige Suche nach neuen Reizen sind vorprogrammierend für schulische Misserfolge. ▬ Dadurch kommt es zu ausgrenzenden Sozialerfahrungen und bei den ausbleibenden schulischen Erfolgen führt dies schließlich zu einer erheblichen Beeinträchtigung des Selbstbildes, zu einem mangelnden Zutrauen in eigene Fähigkeiten. Daraus folgt Motivationslosigkeit und Misserfolgerwartungen und am Ende eine oppositionelle Verweigerungshaltung oder der depressive Rückzug. ▬ »Kinder brauchen in ihrem Lebensraum Schule, aber auch unter Gleichaltrigen, und auch im Elternhaus genügend gute Beispiele, Strukturen, Routinen, Muster, Anregungen, im Klartext Bilder für das, was sie an Verhalten und Einstellungen erwerben sollen.« (S. 42) ▬ Diese Kinder brauchen eine intensive pädagogische Führung mit – eindeutigen Regeln, – Umsicht und Übersicht des Lehrers, – eindeutigen knappen und vorwurfsfreien Anweisungen, – einer Nichtdramatisierung von Regelverstößen, aber – einem Normen- und Sanktionskatalog, – Standhaftigkeit und Konsequenz des Erziehers,
163 5.2 · Hilfen im Kindergarten bzw. in der Schule
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räumlicher Nähe zum Kind, festem Sitzplan, gezielten überschaubaren Aufträge, einer Nichtüberforderung mit offenen Unterrichtsformen.
Der Unterschied in der Störintensität nimmt mit dem Mangel an Struktur zu. In der sehr lehrerzentrierten stringenten Unterrichtsform beträgt die Störintensität laut Erhebung maximal 10–15%, während in der offenen Klassendiskussion etwa über Klassenfahrten etc. das Störverhalten extrem wird. Je freier die Unterrichtsform, je offener der Unterricht, umso höher das Störpotenzial, umso weniger angepasst das Verhalten. Wenn wir von adaptiven Anforderungen sprechen, so beinhaltet dies ganz zwangsläufig immer auch eine Adaption auf der methodischen Ebene. Eine ebenso wichtige Forderung aus Pädagogenkreisen ist die nach dem emotionalen Rückhalt des Schülers sowohl in der Familie als auch in der Schule. Hierzu gehören umfassende Aufklärung und Beratung, eine Kooperation zwischen Schule und Elternhaus, positive Rückmeldungen über Erreichtes. Die Anerkennung der persönlichen Lernvoraussetzungen des Schülers, eine immer wieder erfolgende Ermutigung statt einer Entmutigung, eine angstfreie Lernatmosphäre, Einfühlungsvermögen und Geduld des Lehrers, seine ständige Gesprächsbereitschaft und eine positive Einstellung zum Kind. Das alles sind Dinge, die selbstverständlich klingen und dennoch im Alltag sehr schwer zu verwirklichen sind. »FAUSTLOS 1-3« von Cierpka Ein Curriculum zur Prävention aggressiven und gewalttätigen Verhaltens bei Kindern der Klassen 1–3 (FAUSTLOS 1-3), das der Vermittlung von prosozialen Verhaltensweisen dient, wurde von Cierpka (2001) entwickelt. Durch Vermittlung von Kenntnissen und in Rollenspielen lernen die Kinder, andere besser zu verstehen (Empathie), aber auch Ärger und Wut zu beherrschen (Impulskontrolle). Die Kinder bekommen aber auch Kenntnisse und Fertigkeiten im Lösen sozialer Probleme und der Selbstinstruktion zur Vermeidung von Konflikten vermittelt. Das Programm FAUSTLOS 1-3 umfasst 51 Lektionen, die von Lehrerinnen
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und Lehrern von Grundschulen nach entsprechender Zusatzqualifikation in die pädagogische Arbeit einbezogen werden können.
Beratungslehrer und Schulpsychologen als professionelle Helfer bei der Betreuung aggressiver Kinder und Jugendlicher Beratungslehrer und Schulpsychologen können unter Anwendung des »Trainings mit aggressiven Kindern« (Petermann u. Petermann 1997), des »Trainings mit Jugendlichen« (Petermann u. Petermann 2003) und »Sozialtraining in der Schule« (Petermann et al. 1999) in den Schulen direkt oder im schulischen Bereich Kindern und Jugendlichen helfen, ihre aggressiv-dissoziale Symptomatik zu verringern und an ihrer Stelle prosoziale Verhaltensweisen zu entwickeln. Alle 3 Verfahren beruhen auf Konzepten der Kinder- und Jugendlichenverhaltenstherapie unter Einbeziehung von Erfahrungen mit der Elternund Familienberatung. Training mit aggressiven Kindern Das Training mit aggressiven Kindern ist für die Altersgruppe 7-13 konzipiert. Es verbindet Einzel- und gruppentherapeutische Maßnahmen miteinander. An den Gruppensitzungen nehmen 3-4 Kinder teil. Im ersten Teil des Trainings lernen die Kinder anhand von Videoaufnahmen und gemeinsam mit den Kindern analysierten Alltagssituationen ihre soziale Wahrnehmungsfähigkeit zu verbessern und erlernen in Rollenspielsituationen neue soziale Verhaltensmöglichkeiten. Die Kinder werden systematisch zur Beobachtung des eigenen Verhaltens erzogen. In jeder Sitzung werden Regeln und Ziele der Selbstbeobachtung festgelegt (Detektivbogen) und die Ergebnisse der Selbstbeobachtung werden in der nächsten Trainingsstunde ausgewertet. Begleitend zum Kindertraining werden 4-5 Eltern- oder Familiensitzungen durchgeführt, um den Familienalltag besser zu strukturieren und die elterliche Erziehungskompetenz zu verbessern. Für die Senkung des emotionalen Erregungsniveaus haben Petermann und Petermann eine spezielle Imaginationstechnik (Kapitän-Nemo-Ge-
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Kapitel 5 · Wie kann man den betroffenen Kindern und ihrer Umwelt helfen?
schichten) entwickelt, die regelmäßig innerhalb des Trainings zur Anwendung kommt. Ergänzt wird das Training durch Methoden zur Verbesserung der Selbstkontrolle, der gewaltfreien Selbstbehauptung in Konfliktsituationen und des einfühlenden Verstehens.
am Training beteiligten Lehrer und Psychologen beurteilten das Programm als sehr effektiv. Insbesondere wurde auf Verbesserungen des Klassenklimas und der Kommunikation der Schüler untereinander aufmerksam gemacht.
Training mit Jugendlichen Das Training mit Jugendlichen ist für die Altergruppen der 13- bis 20-Jährigen konzipiert. Im Mittelpunkt steht die Entwicklung sozialkompetenten Verhaltens. Das Programm umfasst Einzel- und Gruppensitzungen (bis zu 5 Jugendliche), wobei folgende Ziele angestrebt werden: ▬ Verbesserung der Selbstwahrnehmung und Selbstkontrolle, ▬ Verbesserung der empathischen Fähigkeiten, ▬ Stabilisierung eines positiven Selbstbildes, ▬ angemessener Umgang mit Misserfolgen, Kritik und Selbstkritik, aber auch Lob und Anerkennung.
Streitschlichterprogramme an Schulen
Die Zukunftsthematik spielt innerhalb des Trainings eine bedeutende Rolle und wird in Einzelsitzungen zu folgenden Themen bearbeitet: ▬ Beruf und Zukunft, ▬ Freizeit und Familie, ▬ Eigenverantwortung und Anstrengungsbereitschaft sowie ▬ Vermeiden von Situationen, die zu dissozialem Verhalten verführen. Für das Erlernen sozialkompetenten Verhaltens wird v. a. intensiv von der Rollenspieltechnik Gebrauch gemacht. Sozialtraining in der Schule Das Sozialtraining in der Schule ist für Schüler der Klassen 3-6 konzipiert. Es ist auf die Herausbildung von sozialer Kompetenz gerichtet. Im Programm werden die Schüler befähigt, gewaltfreie Lösungen in Konfliktfällen zu finden und einzusetzen. Es werden empathische Fähigkeiten ausgebildet und trainiert, um die Schüler zu befähigen, sich in andere hineinzuversetzen, ihnen zu helfen und Kompromisse zu akzeptieren. Es liegt ein standardisiertes verhaltenstherapeutisches Trainingsmaterial für 9 Sitzungen vor. Die
Im schulischen Alltag haben sich Streitschlichterprogramme bei der Lösung von Konflikten in Gleichaltrigengruppen bewährt. Dieses Vorgehen wurde von Schrumpf, Crawford und Usadel (1991) unter der Bezeichnung »Peer mediation: Conflict resolution in schools« in die pädagodische Arbeit eingeführt. Dieser Ansatz wurde von Jeffreys und Noack (1996) und Graun und Hünicke (1996) für deutsche Verhältnisse adaptiert. Es geht in diesen Programmen darum, den Schülerinnen und Schülern Verantwortung für die Lösung von Konflikten zu übertragen. Streitschlichterprogramme sind von der Grundschule an anwendbar. Zunächst sollte über einen Grundschullehrer das Verhalten als Streitschlichter demonstriert werden. Er ist damit das Modell, an dem die Kinder lernen können. Die Funktion des Schlichters sollte, damit es unter Peers funktioniert, möglichst rasch an ein Kind, das nicht in den Konflikt einbezogen ist, weitergegeben werden. Nach Graun und Hünicke ist folgendes Vorgehen angezeigt: In der Einleitungsphase eines Streitschlichtungsgespräches verdeutlicht der Schlichter (der Vorsitzende oder Vermittler), dass es darum geht, dass die Streitenden selbst nach einer Lösung ihres Konflikts suchen, der von allen Beteiligten akzeptiert werden kann. Der Schlichter bietet dabei seine Unterstützung an und sichert den Streitenden Verschwiegenheit und Neutralität zu. Der Schlichter erklärt den Ablauf des Schlichtungsprozesses: ▬ Jeder Streitende darf den Gegenstand des Konflikts aus seiner Sicht vortragen und auch Vorschläge für dessen Lösung unterbreiten. Der Schlichter protokolliert die »Aussagen«. ▬ Wichtig ist, die Streitenden auf folgende Verhaltensregeln aufmerksam zu machen (den Sprechenden nicht unterbrechen, nicht beschimpfen und angreifen).
165 5.2 · Hilfen im Kindergarten bzw. in der Schule
▬ Der Schlichter verpflichtet die Streitenden zur Einhaltung dieser Regeln. Der Schlichter hat das Recht, an die Einhaltung dieser Regeln zu erinnern. Es wird vereinbart, wer mit seinen Darlegungen beginnen kann. Wenn sich die Kontrahenten nicht einigen können, lässt der Schlichter das Los entscheiden. Dem schließt sich die Klärungsphase an. In der festgelegten Reihenfolge tragen die Konfliktparteien ihre Sicht auf den Konflikt vor. Der Schlichter fasst die wesentlichen Inhalte zusammen und vergewissert sich, ob seine Darlegungen den Inhalt korrekt wiedergeben. Um Gefühle und Motive der Beteiligten zum Zeitpunkt des Konflikts zu verdeutlichen, sollte er Rückfragen stellen, z. B. »Was hast Du Dir gedacht, als …?« Um den Schlichtungsprozess voran zu bringen, ist es u. a. notwendig, die gegenwärtigen Gefühle zu verdeutlichen. Der Schlichter fragt nach dem augenblicklichen Befinden oder der Stimmung der Konfliktparteien als eine Form der Rückmeldung über das gerade Gehörte (»Wir kommen vielleicht ein Stück weiter, wenn Ihr sagen könnt, wie es Euch jetzt im Augenblick geht«). Den möglichen Anteil des einzelnen am Konflikt lässt sich möglicherweise leichter besprechen, wenn Schuldzuweisungen vermieden werden (z. B. »Kannst Du sagen, was Du zum Konflikt oder seinem Anwachsen beigetragen hast?«). Nachdem die Standpunkte und Sachverhalte geklärt sind, sollte der Schlichter zur Konfliktlösung überleiten. Dazu fasst er nochmals das Gesagte zusammen. Zeigt es sich, dass sich die Standpunkte der Kontrahenten nicht angenähert haben, oder sollte es zu Verletzungen der vereinbarten Regeln gekommen sein, sollte der Schlichter den Schlichtungsprozess unterbrechen und Einzelgespräche mit den Parteien führen und notfalls einen neuen Termin zur Fortsetzung des Schlichtergespräches vereinbaren. Diese »Auszeit« muss den Konfliktparteien als Gelegenheit zum Überdenken des eigenen Standpunktes und zum Suchen nach Lösungen nahe gebracht werden. Der Schlichter sollte sich die
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Erlaubnis der Parteien einholen, sich mit anderen (Schlichtern, Lehrern) zu beraten. Eventuell ist der Schlichtungsprozess durch Einbeziehung eines Co-Schlichters (durch 2 Personen in der Gesprächsleitung) personell auszuweiten. Die Lösungsphase beinhaltet die gemeinsame Erarbeitung von Vorschlägen zur Konfliktbewältigung. ▬ Jeder notiert für sich seine Lösungsvorstellungen (jeder überlegt dabei: »Was bin ich bereit zu tun, was erwarte ich vom anderen?«). ▬ Jeder trägt seine Lösungsvorschläge vor. Diese Vorschläge werden vom Schlichter z. B. an der Tafel, einem Flip-chart oder auf Kärtchen notiert. ▬ Die Vorschläge werden gemeinsam hinsichtlich Realisierbarkeit, Ausgewogenheit und Präzision bewertet. Die möglichen Vereinbarungen werden mündlich genannt und es wird geprüft, ob die Konfliktpartner diesen Lösungsvorschlägen zustimmen können. ▬ Die beste Konfliktlösung wird erarbeitet (sie kann aus einer Kombination von Einzelvorschlägen bestehen). ▬ Das Schlichtergespräch führt zu einer schriftlich abgefassten Vereinbarung (wie verhalten wir uns, damit dieser Konflikt in Zukunft vermieden wird? Wie ist ein materieller Schaden zu beheben?). Die Vereinbarung wird Satz für Satz vorgelesen. Der Schlichter fragt nach, ob der Inhalt von allen gebilligt wird oder ob noch Fragen offen sind. Gegebenenfalls sollte festgehalten werden, was passiert, wenn eine Partei ihre Pflichten aus dem Vertrag nicht erfüllt, z. B. dass der Schlichtungsprozess fortgesetzt bzw. wieder aufgegriffen wird. Alle Kinder und Jugendlichen, die an diesem Streit beteiligt waren, unterschreiben die Vereinbarung.
Förderpädagogik Welche Ziele verfolgt Förderpädagogik? Mit Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 06.05.1994 wurden die »Empfehlungen zum Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwick-
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Kapitel 5 · Wie kann man den betroffenen Kindern und ihrer Umwelt helfen?
lung« vorgelegt. Hierin heißt es unter »Ziele und Aufgaben«:
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»Sonderpädagogische Förderung soll das Recht der Kinder und Jugendlichen mit Förderbedarf im Bereich der emotionalen und sozialen Entwicklung, des Erlebens und der Selbststeuerung, des Umgehen-Könnens mit Störungen des Erlebens und Verhaltens auf eine ihren individuellen Möglichkeiten entsprechende schulische Bildung verwirklichen. Sie orientiert sich grundsätzlich an den Bildungszielen der allgemeinbildenden und berufsbildenden Schulen. Darüber hinaus hat sie eigenständige Bildungsaufgaben zu erfüllen, die sich aus der Lebenswirklichkeit der Schülerinnen und Schüler mit einer Beeinträchtigung der emotionalen und sozialen Entwicklung ergeben. Die Schülerinnen und Schüler können unabhängig vom jeweiligen Förderort die Bildungsabschlüsse der Schularten erreichen, nach deren Bildungsplan sie unterrichtet werden.« (S. 3)
Unter »Pädagogische Ausgangslage« ist außerdem zu lesen: »Beeinträchtigungen im Verhalten stellen keine feststehenden Größen dar, sondern unterliegen Entwicklungsprozessen, die durch veränderbare, außerindividuelle Gegebenheiten in starkem Maße beeinflusst werden. Sie sind daher weniger auf feste Persönlichkeitseigenschaften zurückzuführen, sondern eher als Folge einer inneren Erlebens- und Erfahrungswelt anzusehen, die sich in Interaktionsprozessen herausgebildet hat. Pädagogische Interventionen sind deshalb in erster Linie auf die Veränderung innerer Strukturen gerichtet, die den Erwerb und die Verstärkung sozial-emotionaler Kompetenzen ermöglichen.« (S. 4)
Schauen wir uns an, was sonderpädagogische Förderung erreichen soll: »Sonderpädagogische Förderung ist in erster Linie auf den Erwerb sozial-emotionaler Kompetenzen sowie den Aufbau und die Entfaltung von Fähigkeiten gerichtet. Darüber hinaus unterstützt und begleitet sie diese Kinder
und Jugendlichen durch ein breites Angebot spezifischer und individueller Hilfen, die ▬ Interesse für das Lernen, Verständnis für die Zusammenarbeit und Sinn für das Handeln mit anderen vermitteln, ▬ die Wahrnehmung für ihr eigenes sowie fremdes Empfinden, die Einsichtsfähigkeit in ihr eigenes Denken und Handeln sowie in das von anderen erweitern, dabei Rücksichtnahme und Toleranz gegenüber anderen entfalten, ▬ ihre Selbststeuerungskräfte aktivieren und dadurch die Motivation für dauerhafte Veränderungen initiieren, ▬ die Steuerungsfähigkeit ihres Verhaltens langfristig stabilisieren sollen.« (S. 3)
Das sind alles Dinge, die wünschenswert und notwendig sind. Doch sowohl Forschung als auch tägliche Realität zeigen, dass im Alter eines Kindes von 10 oder 12 Jahren das Fehlverhalten bereits so hochgradig stabilisiert sein kann, dass Korrekturen ausschließlich mit pädagogischen Mitteln hier nicht mehr ausreichend greifen. Noch deutlicher gesagt: Wir müssen leider viel zu häufig feststellen, dass kindliche Entwicklungswege trotz pädagogischer plus psychologischer plus medizinischer Einflussnahme sich bereits in diesem Alter als weitgehend unkorrigierbar erweisen, also das Lebensschicksal eines solchen jungen Menschen im Grunde bereits besiegelt ist. Die Lehre, die daraus zu ziehen ist, lautet: Wirksame Hilfen müssen viel eher und integrierter erfolgen. Kinder und Jugendliche werden in die Schule für Erziehungshilfe aufgenommen, wenn deren Verhaltensauffälligkeiten Folgen von Entwicklungsstörungen oder traumatischen Erlebnissen sind und diese durch spezielle Fördermaßnahmen wieder abgebaut werden können. Ferner werden Schüler in diesen Schultyp integriert, wenn deren Auffälligkeiten im Verhaltens- und Leistungsbereich auch oder ausschließlich auf soziokulturelle Einflüsse zurückzuführen sind und bereits Hilfen zur Erziehung geleistet werden. Aufnahmeverfahren Die Aufnahme an einer Förderschule erfolgt in allen Bundesländern nach einheitlichen Regelungen.
167 5.2 · Hilfen im Kindergarten bzw. in der Schule
Auf Grundlage dieser Empfehlungen und unter Beteiligung der Eltern und anderer Dienste sowie unter Beachtung der schulischen und außerschulischen Bedingungen entscheiden Schule und Schulaufsicht, ob die Schülerin oder der Schüler in die allgemeine Schule aufgenommen wird, dort verbleibt, oder seine schulische Bildung in einer Förderschule, in besonderen Klassen oder kooperativen Formen erhält. In diese Entscheidung kann auch die Inanspruchnahme von Einrichtungen mit ergänzenden Ganztags- oder Betreuungsangeboten, v. a. seitens der Jugendhilfe, einbezogen werden. Die Bildungsinhalte und Bildungsabschlüsse der berufsbildenden Förderschule entsprechen denen der übrigen berufsbildenden Schulen. Der Unterricht in der Schule für Erziehungshilfe findet im Klassenverband wie auch in Gruppen, als Kurs oder als Einzelunterricht statt. Dies richtet sich jeweils nach den Verhaltensauffälligkeiten und Lernvoraussetzungen der Schüler, den Lerninhalten und didaktischen Notwendigkeiten sowie den personellen, räumlichen und organisatorischen Gegebenheiten. Der Unterricht in den Schulen für Erziehungshilfe erfolgt in Doppelbesetzung (2 Sonderschullehrer oder Sonderschullehrer und Sozialpädagoge). Alle Länder versuchen, den Unterricht in den Schulen für Erziehungshilfe nach den Empfehlungen zum Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung zu gestalten. Diese besa-
gen, dass vielfältige Bewegungsmöglichkeiten, ein Wechsel zwischen Anspannung und Entspannung in den Unterricht eingebunden sein sollten, um neue Anreize zu entdecken, neue Bewegungsabläufe kennen zu lernen, zu improvisieren und zu realisieren. Des Weiteren sollten u. a. Geschicklichkeitsspiele, rhythmische Bewegungsspiele, Partner- und Gruppenübungen in den Unterricht einbezogen werden. Die selbstständige Entwicklung von Handlungskompetenzen bei Belastungen im Bereich des Erlebens und der sozialen Erfahrung sollte einen besonders hohen Stellenwert einnehmen. Wesentlicher Bestandteil der Förderung sollte auch die Entfaltung der persönlichen Kräfte und Fähigkeiten sein. Der Unterricht muss einen hohen Aufforderungscharakter zum sprachlichen Handeln besitzen und kommunikative Handlungsfähigkeiten müssen ausgebaut werden. Für die di-
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daktisch-methodische Gestaltung bieten sich daher handlungs- und projektorientierter Unterricht, die Gestaltung lebensweltbezogener Unterrichtssituationen und das Aufsuchen außerschulischer Lernorte an. Tätigkeiten, die zu handwerklichen und technischen Arbeiten, künstlerischen Darstellungen und sozialen Hilfeleistungen führen, sind von Bedeutung. Großer Wert wird auf die Schaffung von Unterrichtssituationen gelegt, die gegenseitige Wertschätzung zur Stabilisierung des Selbstwertgefühls ermöglichen, kooperatives und kommunikatives Handeln fördern, Selbst- und Fremdwahrnehmung stärken und zur Entwicklung tragfähiger Konfliktlösungsstrategien beitragen. Die Voraussetzung, um all dies gewährleisten zu können, ist eine tragfähige Lehrer-Schüler-Beziehung. Um die Lernprozesse auf Seiten der Lehrer zu unterstützen, eignen sich themenspezifische Fallbesprechungen, Dienstbesprechungen oder Möglichkeiten zur Supervision. Beratungsstellen In den Förderschulen gibt es auch Beratungsstellen, die für die Früherfassung, Früherkennung und Frühförderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder zuständig sind. Diese sollen mit Frühförder- und Frühberatungsstellen, mobilen sonderpädagogischen Diensten und sozialpädiatrischen Zentren zusammenarbeiten. Ihnen obliegt die spezifische Beratung von Regelschullehrern und Eltern. ⊡ Abb. 5.3 informiert über Aufgaben und Arbeitsweise einer solchen Beratungsstelle an Schulen für Erziehungshilfe. Diese Beratungsstellen wurden auf der Grundlage des Beschlusses der Kultusministerkonferenz eingerichtet und erfüllen seit mehreren Jahren erfolgreich ihre Aufgaben. In der Arbeit der Beratungsstellen kristallisierten sich dabei 2 Schwerpunkte heraus: ▬ Es geht um die Zusammenarbeit mit Regelschulen. Die Beratungsstellen unterstützen die Regelschulen bei der diagnostischen Abklärung, ob ein Fall von Störung des Sozialverhaltens vorliegt oder es sich um eine andere Form beeinträchtigten Verhaltens handelt. Sie erarbeiten gemeinsam mit der Regelschule Maßnahmen zur Betreuung dieser Schüler im Regelschulbereich und unterstützen die Lehrer
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Kapitel 5 · Wie kann man den betroffenen Kindern und ihrer Umwelt helfen?
Kind zeigt im Regelschulbereich Verhaltensauffälligkeiten
Bitte um Hilfe durch die Regelschule
Bitte um Hilfe durch Erziehungsberechtigte
1. Phase: Kind-Umfeld-Analyse durch Lehrer der Schule für Erziehungshilfe im Einverständnis mit Eltern und in Zusammenarbeit mit anderen Institutionen
5 2. Klärungsphase Schwerpunktsetzung durch die förderpädagogische Konferenz
Beratung war ausreichend
Vermittlung anderer Dienste Weiterleitung an eine andere Förderschule
3. Begutachtungsphase Einleitung eines Förderschulaufnahmeverfahrens (mit Einverständnis der Eltern) nach den vorgegebenen gesetzlichen Bestimmungen
Festlegung des sonderpädagogischen Förderbedarfs Festlegung des Förderortes
4. Phase: Sonderpädagogische Begleitung und Betreuung
Förderort Grund- oder Mittelschule Kooperation bzw. Integration begleitet durch Lehrer der Schule für Erziehungshilfe Aufstellen eines Förderplanes mit Maßnahmen schulisch und außerschulisch
Wechsel des Förderortes Stammschule zum Förderort Regelschule mit Betreuung Kooperation bzw. Integration
Förderort Stammschule Schule für Erziehungshilfe zeitlich begrenzt mit besonderen Angeboten schulisch und außerschulisch
Rückführung in die Regelschulbereich mit »loser« Betreuung
⊡ Abb. 5.3. Aufgaben und Arbeitsweise einer Beratungsstelle an einer Schule für Erziehungshilfe. (mod. nach Fuchs 1997)
169 5.2 · Hilfen im Kindergarten bzw. in der Schule
der Regelschule bei der Umsetzung der getroffenen Maßnahmen. In Kooperation mit den Regelschulen sollen auf der Grundlage der gesetzlichen Bestimmungen alle Möglichkeiten der Prävention und Integration ausgeschöpft werden. Wenn sich zeigt, dass der erwartete Erfolg unzureichend ist oder ausbleibt, erfolgt die Umsetzung des betroffenen Schülers in die Stammschule. Diese Maßnahme hat gravierenden Einfluss auf die Persönlichkeitsentwicklung, weil durch sie die soziale Integration dieser Schüler verändert wird. Diese Maßnahme ist mit einer Separierung dieser Schüler verbunden. Sie ist aber notwendig, um zum einen die Gemeinschaft vor der Gewalt und der Gewaltbereitschaft einzelner zu schützen und ist zum anderen notwendig, um die Fehlentwicklung der Betroffenen in ihrem eigenen Interesse besser korrigieren zu können. ▬ Die Arbeit an der Stammschule ist primär auf die Auseinandersetzung des Schülers mit seinem Fehlverhalten orientiert und dient dessen Persönlichkeitsentwicklung durch den Aufbau prosozialer Verhaltensweisen. Die Betreuung durch die Stammschule ist als zeitweilige Maßnahme gedacht und die Möglichkeit der Rückführung in den Regelschulbereich (Fuchs 1997) ist oberstes Gebot. In einigen Bundesländern wurde aufgrund des steigenden Bedarfs an Förderschulen die Institutionalisierung der vorbeugenden Maßnahmen durch Einrichtung von Diagnose- und Förderklassen, Vorschulklassen, schulvorbereitende Einrichtungen sowie mobilen Beratungs- und Unterstützungsdiensten, die besonders im Elementar- und Primarbereich tätig werden, gefördert. Die Unterstützung vorschulischer Einrichtungen durch sonderpädagogische Lehrkräfte erweist sich v. a. beim Übergang in die Schule als hilfreich und wird in allen Ländern praktiziert. In den einzelnen Ländern gibt es teilweise unterschiedliche Träger und Zugangsvoraussetzungen zur Frühförderung. Auf der Basis der Empfehlungen der Kultusministerkonferenz und der landesspezifischen Schulgesetze haben die einzelnen Förderschulen für Erziehungshilfe ihr spezifisches Ausbildungs-
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und Erziehungsprogramm abgeleitet, in denen die Zielstellungen für das Schülerverhalten, die Arbeit mit den Eltern und die Kooperation mit den Regelschulen mehr oder weniger detailliert aufgelistet werden. Nach Ansicht der Autoren ist es einerseits gut und richtig, spezielle Ziele und Regeln für die Arbeit mit emotional und sozial auffälligen Schülern, deren Eltern und Regelschullehrerinnen bzw. Regelschullehrern herauszuarbeiten, weil eine klare Orientierung die Arbeit aller Beteiligten erleichtert. Andererseits erschwert aber, und das halten wir für die Crux vieler dieser Programme, dass die Vielzahl der formulierten Zielstellungen und Verhaltensregeln die praktische Umsetzung der Interventionsprogramme erschwert. Hier wäre also weniger oftmals mehr. Neukäter (1996) weist darauf hin, dass die »Verzahnung von Schule und Werkstatt« ein wichtiges Konzept in der Persönlichkeitsentwicklung der verhaltensauffälligen Jugendlichen ist, was in mehreren Projekten bereits praktiziert wird. Dadurch soll erreicht werden, dass die Schüler nicht erst am Ende der Schulzeit, sondern bereits während der Schulzeit an vielfältigen Beispielen erleben, wozu schulisches Lernen gut ist und wofür es gebraucht wird. Diese Praktika, diese Projekttage oder wie immer diese praktische Tätigkeit genannt wird, können dazu führen, dass die Schüler auch (wieder) zur schulischen Arbeit motiviert werden. Zu Recht verweist der Autor darauf, dass gerade die Jugendlichen, um die es hier geht, häufig schon im Laufe ihrer gesamten Kindheit und Jugend negative Erfahrungen mit Institutionen und Behörden gemacht haben. Andererseits sind sie aber gerade auf diese Institutionen (Arbeitsamt, Jugendhilfe, Betriebe) angewiesen. Sie müssen deshalb einen angemessenen Umgang mit den Institutionen lernen, um ihr späteres Leben oder ihre spätere berufliche Laufbahn zu ermöglichen und zu bewältigen. Neukäter schlägt deshalb vor, dass diese »Auftritte« bei Behörden und Institutionen mit den Schülern vorab geübt werden. Wir wollen nachfolgend anhand von Interviews eines Journalisten mit 2 Schülern der Förderschule (7. bzw. 8. Klasse) sowie 2 Lehrerinnen und einer Untersucherin aus der Längsschnittforschung die theoretischen Ausführungen zur förderpädagogischen Hilfe veranschaulichen.
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Kapitel 5 · Wie kann man den betroffenen Kindern und ihrer Umwelt helfen?
Hierbei geht es zunächst darum zu zeigen, wie die Schüler diesen Schultyp »Schule für Erziehungshilfe« (E-Schule) erleben und wie sie mit ihren Ressourcen dort zurechtkommen – aber auch, welche Probleme von den Schülern gesehen werden.
Interview mit den 2 Schülern Timo und Kai
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Frage: Timo, kannst du mir einmal sagen, warum du auf diese Schule für Erziehungshilfe gekommen bist? Antwort: Ja. Früher war es so, dass ich immer gehänselt wurde, ich wurde viel geärgert und da bin ich dann immer ausgeflippt. Und da sind dann erst meine Verhaltensnoten und dann auch die anderen Noten immer weiter runter gegangen. Dann bin ich auf diese Schule hier gekommen und jetzt ist es wieder besser geworden. Hier werde ich in Ruhe gelassen. Frage: Du wirst also nicht mehr gehänselt jetzt? Antwort: Ja, hier werde ich so gut wie nicht mehr gehänselt. Und die Klassen sind kleiner. Frage: Kai, wie war es bei dir? Antwort: Bei mir war es fast genauso. Ich wurde in der Regelschule immer nur geärgert, da sind bei mir auch die Noten immer schlechter geworden. Ich bin auch öfter ausgerastet. Und als ich dann in diese Schule hier kam, wurde alles besser. Ich verstehe mich mit den Klassenkameraden besser, die Klassen sind kleiner. Mit den Lehrern verstehe ich mich auch besser. Das ist es eigentlich. Frage: Kai, du hast gesagt, dass du dich mit den Lehrern hier besser verstehst. Warum ist das so? Antwort: Die Lehrer helfen den Schülern mehr. Sie können sich mehr um den Einzelnen kümmern und drücken auch mehr Zuversicht aus. Nicht so wie in den großen Klassen, wenn dort einer was nicht kapiert, machen sie einfach weiter. Die hier sind netter. Frage: Timo, wie war das denn bei deinen Lehrern an der Mittelschule? Antwort: Die haben immer mitgekriegt, wenn ich mich daneben benommen habe, haben mir ▼
dann einen Tadel gegeben, haben die Eltern angerufen, dass die mich abholen. Das war immer so, die haben sich mit meinem Verhalten gar nicht auseinander gesetzt. Meistens habe nämlich gar nicht ich angefangen. Die haben mir eigentlich gar nicht geholfen, haben nur zugeschaut und ich hab’ am Ende den Ärger gekriegt. Frage: Was habt ihr denn für Pläne für die Zukunft? Kai, wie ist es bei dir? Antwort: Ja, ich möchte eine Arbeitsstelle kriegen, möglichst in der Dreherei. Frage: Und bei dir, Timo? Antwort: Ich weiß eigentlich noch nicht so recht, was ich machen will. Ich überleg’ noch. Frage: Wie ist es denn bei euch zu Hause? Seid ihr gern in der Familie? Zum Beispiel du, Timo? Antwort: Ich bin schon lieber zu Hause als in der Schule. Die Schule gefällt mir eigentlich, aber trotzdem ist man lieber zu Hause. Frage: Und bei dir Kai, wie ist es da? Antwort: Ich bin auch lieber zu Hause, da habe ich meine Ruhe und keinen, der nervt. Ich kann meinen Freizeitinteressen nachgehen, z. B. Computer spielen, Fernsehen gucken. Frage: Gibt es denn auch gemeinschaftliche Familienaktivitäten? Antwort Timo: Nein. Antwort Kai: Eher selten. Frage: Und was macht ihr sonst in eurer Freizeit? Geht ihr auch mit Freunden raus oder so? Antwort Timo: Nee, meist Fernsehen gucken, Video spielen. Antwort Kai: Meist zu Hause im Zimmer vorm Fernseher sitzen oder Computerspiele machen.
Diese kurzen Interviewauszüge zeigen, dass die Schüler zum einen mit der Schulform der Schule für Erziehungshilfe recht zufrieden sind, sich dort von den Lehrern angenommen fühlen und von den Mitschülern nicht mehr ausgegrenzt werden. Dennoch entstehen kaum einmal Freundschaften, die auch in der Freizeit zu gemeinsamen Beschäftigungen führen. Die Lernergebnisse werden von den Schülern der Schule für Erziehungshilfe als eindeutig positiv geschildert und es wird auch
171 5.2 · Hilfen im Kindergarten bzw. in der Schule
deutlich, dass sie Zukunftswünsche und Hoffnungen haben, die sie glauben, mit ihren Leistungen an dieser Schule verwirklichen zu können. Sie fühlen sich dabei von den Lehrern unterstützt. Das familiäre Zusammenleben gestaltet sich bei den beiden befragten Schülern eher ungünstig, die Kinder sind in ihrer Freizeit meist sich selbst überlassen. Freundschaften aus der Schule gelingen schwer, da die Wohnorte so weit voneinander entfernt sind, gemeinsame familiäre Unternehmungen gibt es nicht oder kaum, so dass die Kinder in der Freizeit mehr auf Fernseher, Computer und Videos angewiesen sind. Es mangelt also an einer ausreichenden familiären interpersonellen Interaktion. Wir verweisen hier noch einmal auf die ausführlichen Interviews nach Thomaeschen Kategorien, die im Laufe unserer Untersuchungen zu den einzelnen Messzeitpunkten geführt wurden.
Frage: Frau X, wie haben Sie denn den Timo kennengelernt? Antwort: Ja, der Timo ist mein Schüler und ich kenne ihn noch aus der Zeit, als er an unsere Schule kam. Er war damals nicht in der Lage, sich zu konzentrieren, er konnte mit Hänseleien nicht umgehen, dann wurde er dermaßen aggressiv, dass er um sich geschlagen und getreten hat, dass er gebissen hat, dass wir manchmal sogar den Arzt holen mussten, das war ganz schlimm. Und jetzt in diesen 3 Jahren, in denen er hier an der Schule ist, hat er gelernt, mit diesen Gewaltausbrüchen umzugehen, d. h. sie erst einmal zu kompensieren, sich zurückzunehmen, wenn irgendwie ein Problem auftritt. Er hat gelernt, über das Problem zunächst nachzudenken und es hinterher in Ruhe zu klären. Ich denke, das ist ein riesengroßer Schritt, den er nach vorne gemacht hat, und es hat ihm auch sehr geholfen in seiner Persönlichkeitsentwicklung. Natürlich gibt es auch hier ab und zu Dinge, die ihn ärgern, das ist klar, aber wir haben sein Verhalten trainiert, wir haben es auch im Klassenverband mit seinen Mitschülern trainiert, indem
wir Normen und Regeln aufgestellt haben und Timo musste ganz einfach lernen, wie kriege ich das momentan in die Reihe, wie kann ich das machen. Dazu gab es sowohl Ratschläge, wie man sich als Erwachsener in solchen Situationen verhält, und es gab aber auch echtes Verhaltenstraining. Frage: Wie schaffen Sie das, wenn Sie tagtäglich mit solchen Schülern umgehen müssen, die quasi wie auf einem »Pulverfass« sitzen, muss man da nicht ein Genie sein? Antwort: Ich bin kein Genie, auch kein Superman, auch kein Superlehrer, das sind Sachen, die man an sich selbst zunächst einmal trainieren muss. Für mich ist es ganz wichtig, erstmal in jeder Situation ruhig zu bleiben und diese Ruhe auch in die Klasse zu den Schülern hineinzutragen. Und dadurch, dass ich diese Ruhe hineinbringe, lernen sie auch quasi modellartig dieses ruhige Verhalten zu übernehmen, d. h. auf sich selbst zu übertragen nach dem Motto: »Wenn das der Lehrer kann, muss ich das ja auch ein bisschen können.« Und durch diese ruhige Atmosphäre, die wir versuchen zu schaffen, kann man mit Problemen auch ganz anders umgehen und wir können ein Klima in der Klasse schaffen, bei dem wir in der Lage sind, die Unterrichtseinheiten zu bewältigen, den Lehrplan zu schaffen und solche Dinge mehr. Dadurch können wir alle ruhiger arbeiten und das gefällt den Kindern nachher auch. Viele kommen morgens mit Frust in die Schule, und wenn sie dann mittags hier raus gehen, dann hatten sie doch meistens etwas Spaß am Unterricht. Und das ist eigentlich der Sinn und Zweck meiner Aufgabe, also es ist meine Aufgabe, das Verhalten mit den Schülern zu trainieren und 2. ihnen wieder Spaß an der Schule zu ermöglichen. Ich bin mit Leib und Seele Lehrerin, das ist für mich kein Job, das ist für mich Berufung, und aus dem Grunde wahrscheinlich habe ich einen ganz anderen Draht zu den Kindern und komme deshalb sehr gut mit ihnen aus. Frage: Sie sagten, manche kommen morgens mit Frust in die Schule. Woran merken Sie das? Antwort: Das kriegt man schon mit, wenn sie morgens ankommen mit einem gefrusteten Ge-
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Interview mit der Klassenleiterin von Timo und Kai
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Kapitel 5 · Wie kann man den betroffenen Kindern und ihrer Umwelt helfen?
sicht. Aber sie haben auch da gelernt, dass sie zu mir kommen und mit mir darüber sprechen können. Ich bin immer eine halbe Stunde vor Unterrichtsbeginn im Schulhaus und sie wissen, sie brauchen dann nur bei mir zu klopfen, dann können sie reinkommen, können mir alles erzählen, und ich klinke mich auch im Elternhaus mit ein, wenn es nötig ist. Ich mache sehr viele Elternbesuche, in denen ich die Gespräche mit den Eltern suche, und wenn es um das Wohl des Kindes geht, dann spreche ich auch mal im Sinne des Kindes mit den Eltern, d. h. ich sage ihnen auch, was sie eigentlich besser machen müssten und worauf es ankommt. Frage: Kriegen Sie da nicht Probleme mit den Eltern? Antwort: Nein, im Großen und Ganzen nehmen es die Eltern gut an, weil sie sich meist freuen, solche Hinweise und Tipps zu bekommen. Es kommt eben darauf an, wie man solche Dinge rüberbringt. Viele Eltern sind sehr schwer in der Lage, ein Kind zu erziehen, haben schon viele Fehler in ihrer Erziehung gemacht und möchten es eigentlich mit uns gemeinsam besser machen. Frage: Können Sie sich noch an die familiären Probleme von Timo erinnern? Antwort: Ja, der hatte am Anfang ein Riesenproblem zu Hause. Die Mutter hatte ein Alkoholproblem und er hatte es sehr schwer am Anfang. Aber dadurch, dass wir das Familienmilieu geklärt haben, dass ein Familienhelfer in die Familie kam und wir auch ein Kind aus der Familie herauslösen mussten, das jetzt in einer Wohngemeinschaft lebt, haben wir zu Hause viel Ruhe reinbekommen, und die Mutter hat eine Therapie gemacht, die erfolgreich war. Davon profitiert Timo natürlich auch in der Schule. Frage: Sollte man bei besonders aggressiven Kindern in der Schule zweckmäßigerweise sich das Elternhaus immer anschauen? Antwort: Ja, Sie haben recht, wenn ein Kind sehr aggressiv ist und besonders auffällt, hat es oft größere Probleme zu Hause. Aber das liegt dann wieder am »Feeling« des Lehrers, wenn der
Schüler hierher kommt. Das heißt, es muss ein Vertrauensverhältnis entstehen zwischen Lehrer und Schüler und wenn man das geschafft hat, dann erzählen die Kinder auch darüber und sind froh, wenn sie sich was von der Seele reden können. Und je mehr man dann Einfluss nehmen kann, desto besser kommen die Kinder zur Ruhe und desto besser können sie auch in der Schule ruhig sein und sich am Lernen beteiligen. Frage: Wie lange dauert ein solcher Prozess des Vertrauensaufbaus? Antwort: Das ist sehr individuell unterschiedlich, man muss halt dahintersteigen, es wird nicht gleich am 1. Tag passieren, das dauert vielleicht von Schuljahresbeginn bis Weihnachten, also manchmal ein halbes Jahr. Aber dann haben wir i. Allg. den Kontakt zu den neuen Schülern hergestellt, dann ist das Vertrauensverhältnis da und dann kommen solche »Offenbarungen« von ganz alleine, da sprechen die Kinder dann auch über solche Sachen mit uns. Oder aber, wenn das Kind in der Gruppe ist und man kommt auf das Thema zu sprechen, wir haben ja hier an der Schule so etwas wie Sonderverhaltensstunden, wo sie über solche Probleme sprechen können, wenn dann ein Kind erzählt, was es bedrückt, dann kommen die anderen hinterher. Denn die Klasse ist für sie auch ganz wichtig, das ist wie so eine Art Mittelpunkt, so ’ne Art Diskussionsrunde haben sie dann, wo sie einfach frisch und frei sprechen können, denn sie wissen, die anderen haben die gleichen Probleme oder ähnliche wie sie. Frage: Was sind so Ihre pädagogischen Geheimtipps für den Umgang mit diesen schwierigen Schülern? Antwort: Ja, also wenn sie in der Schule ankommen, ist es erst einmal wichtig, dass sie Frust ablassen können. Zum Zweiten versuche ich den Unterricht so aufzubauen, dass man alle einbeziehen kann. Für mich ist maßgebend, wenn ich so eine Klasse übernehme, dass die ersten Stunden, wie ich immer sage, das müssen so richtige »Knaller« sein, da muss ich die Kinder begeistern können, ich muss sie natürlich »kitzeln« an den
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Stellen, wo ich weiß, dass sie etwas wissen, dass da was rüberkommt, wo sie auch Erfolgserlebnisse haben. Und wenn wir das gepackt haben, dann lernen wir langsam auch mit Misserfolgen umzugehen, denn die haben die Kinder natürlich auch, das kann man nicht abstreiten, die haben nicht nur gute Noten hier. Aber sie können das dann besser verkraften, weil sie am Anfang gemerkt haben, ich bin ja gar nicht blöd, ich bin nicht dumm, und in der anderen Schule ist das wirklich aufgrund meines Verhaltens gewesen, dass ich diese schlechten Noten gehabt habe. Hier hab’ ich die Chance, mich zu verbessern, und wenn sie das sehen, wenn sie das ungefähr 4, 5 Mal gesehen haben, dann kann man darauf aufbauen und ich kann ihnen auch sagen: »Pass auf, du musst nicht jedes Mal ’ne Note 1 haben, auch eine 4 ist eine Zensur, die gehört einfach zum Leben dazu. Die hat jeder, jeder Mensch hat mal einen Misserfolg gehabt, auch ein Lehrer hat früher mal Misserfolge gehabt, anders geht das gar nicht.« Und wenn sie das dann verstanden haben, kann man solche Problematiken wie die des Verhaltens auch angehen und dann kann man eine entspannte Atmosphäre in der Klasse schaffen.
Aus dem Interview zwischen Journalist und einer Klassenleiterin der Schule für Erziehungshilfe geht hervor, dass die Klassenleiterin insgesamt sehr präsent ist und mit sehr viel Engagement ihre Tätigkeit versieht. Dass die Arbeit mit diesen schwierigen Kindern ihr Freude bereitet, ist vermutlich sehr wesentlich, weil sie daraus die Motivation nimmt, sich jeden Tag neu den Verhaltensbesonderheiten dieser Schüler zu stellen und ganz besonders neben der Vermittlung von Wissen den erzieherischen Aspekt im Auge hat. Einige Mittel, ein Vertrauensverhältnis zu den Schülern herzustellen, hat sie genannt, z. B. dass sie morgens schon vor dem Unterricht für einzelne erreichbar ist, dass sie Verhaltensstunden einbaut, dass sie Gesprächsrunden über auch problematische Themen mit der Klasse initiiert und dass sie auch bereit ist, auf der Seite ihrer Schüler in deren Elternhaus zu kämpfen. Das muss natürlich mit viel Fingerspitzengefühl ge-
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schehen, allerdings zeigen die genannten Resultate, dass es dieser interviewten Lehrerin offenbar recht gut gelingt. Die Eltern lehnen sie nicht ab, sondern suchen mit ihr gemeinsam nach Lösungen, die ihrem Kind den Schulalltag erleichtern und einen störungsärmeren Weg ins Leben bahnen.
Interview mit der Schulleiterin Frage: Frau Y, was ist das Hauptproblem der hier beschulten Schüler? Ist es die mangelnde Leistungsbereitschaft oder sind es die Verhaltensprobleme, die die Kinder mitbringen? Antwort: Es sind 2 massive Problembereiche. Zum einen ist es die bisher recht ungünstig verlaufene Schullaufbahn bei den meisten. Durch die Misserfolge, die in der Schule erlebt wurden, oft über Jahre hinweg, ist eine mangelnde Leistungsbereitschaft entstanden. Zum anderen haben sich Aggressionen aufgebaut, die sich in der Schule und natürlich auch im Elternhaus und im Freizeitbereich Bahn brechen. Ich sehe beide Probleme als gleich wichtig an. Frage: Wie kommt man als Lehrer damit klar? Was sind die Hauptprobleme, die die Lehrer an Sie herantragen, an Sie als Schulleiterin? Antwort: Die Lehrer sind auf sehr viele Dinge eingestellt, das muss ich sagen. Die Lehrer gehen sehr individuell auf unsere Schüler ein. Sie versuchen ständig, jeden wieder neu zu motivieren. Sie resignieren auch nicht bei Misserfolgen. Es wird praktisch jedem Schüler jeden Tag ein Neuangebot gemacht und ein Neubeginn geboten, das ist für unsere Kinder außerordentlich wichtig. Denn selbst, wenn sie mit einer Aggression die Schule verlassen am Tag zuvor, wird am nächsten Tag das Ding nicht neu aufgerollt, sondern es wird ein Neustart geboten. Das ist für unsere Kinder ein sehr gutes Zeichen. Sie kommen auch deshalb gern hierher, weil sie sich hier angenommen fühlen, wenigstens der größte Teil. Sicher gibt es auch da immer Ausnahmen. Wichtig sind die Motivationsfragen, und es ist sehr wichtig, dass möglichst alle an einen Tisch kommen. Wir brauchen dazu häufig die Therapeuten der Kinder, wir brauchen ganz ▼
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wichtig die Eltern dazu und natürlich unser Schulpersonal, denn da die Kinder i. Allg. schon sehr zeitig die Motivation verloren haben, ist es ein langer Prozess, diese wieder aufzubauen. Frage: Sie sagten, die Kinder kriegen hier die Möglichkeit eines Neuanfangs. Offensichtlich kriegen sie die ja nicht in ihrem sozialen Umfeld, wenn sie die Schule verlassen? Antwort: Das spielt natürlich eine sehr große Rolle. Im Allgemeinen verbleiben die Schüler in ihrem alten sozialen Umfeld. Die Einflüsse von dort sind natürlich sehr groß. Da leben die Schüler häufig in verschiedenen Welten, einmal hier in der Schule, und wenn die Schultür mittags zu ist, sind sie in ihrem alten sozialen Umfeld drin und verfallen dann oft sehr schnell wieder in alte Muster, die sie kennen. Frage: Für den Laien klingt es ja eher beunruhigend, dass Ihre Schüler zum großen Teil schon in kinder- und jugendpsychiatrischer oder psychologischer Betreuung waren. Antwort: Ja, ein Großteil dieser Schüler waren oder sind entweder ambulant, manche auch tagesklinisch und ein kleiner Teil stationär, für eine Zeit Patienten in der Klinik gewesen oder sind es noch. Es gibt da schon Überschneidungsfelder, aber das ist auch günstig, weil dann Persönlichkeitsauffälligkeiten praktisch schon im Entstehen mitbehandelt werden können. Es ist aus unserer Sicht gut so, denn oft leiden die Schüler auch unter Ängsten und Depressionen, da ist es günstig, dass neben dem erzieherischen Alltag auch gleich eine Behandlung mit stattfinden kann. Frage: Angst und Depression – könnten Sie ausführen, was das für Ihre Schüler bedeutet? Antwort: Das ist manchmal erst in den Untersuchungen herauszufinden. Denn viele dieser ängstlichen oder depressiven Kinder wirken auf den ersten Blick aggressiv, weil das ihr Bewältigungsmechanismus ist, mit dem sie sich in der Umwelt zunächst einmal für kurze Zeit Gehör verschaffen. Für kurze Zeit haben sie dann auch ein Erfolgserlebnis, aber dieses hält natürlich nicht an, weil ja die Sanktionen der Umgebung dann wieder negativ sind und dann werden sie
wieder in den Teufelskreis von Frust, Angst und Depression hineingeschleudert. Frage: Bei den aggressiven Schülern ist es ja so, dass Sie die im schulischen Alltag erkennen und dann auch an eine Diagnostik oder Therapiestelle zuweisen könnten? Wo ist die Studie aber hilfreich, um Probleme zu entdecken, die Sie vielleicht im schulischen Alltag weniger wahrnehmen? Antwort: Das sind z. B. die Schüler, die nicht nach außen hin durch Aggressivität auffällig werden, die eher mal traurig und zurückgezogen sind, im Unterricht und in den Pausen eher »pflegeleicht« im Vergleich zu den anderen sind, die aber fressen vieles in sich hinein und machen es mit sich selbst aus bis zu einem Level, wo das nicht mehr geht und sie schließlich erkranken, und dann brauchen sie natürlich professionelle Hilfe. Wir sollten diese Teilgruppe unserer hier untersuchten Schüler in der Gesellschaft nicht unterschätzen. Frage: Wie können Sie sagen, wie man über solche Probleme ins Gespräch kommt mit solchen Kindern? Antwort: Ich denke, man merkt es ganz besonders daran, dass diese Kinder oft sozial ganz schlecht integriert sind in der Gruppe der Gleichaltrigen. Dass sie schon in der Klasse Ängste haben vor Stärkeren. Das ist erstmal diese eine Seite, aber wenn man ein bisschen in die Vorgeschichte im familiären Bereich hineinschaut, wie sie beachtet wurden und mit Aufmerksamkeit bedacht wurden, dann ist dies häufig sehr defizitär und man muss immer wieder sagen, Kinder, die selbst keine Aufmerksamkeit oder sehr wenig Achtung für sich gespürt haben, haben dann auch Probleme, diese Achtung oder diese Aufmerksamkeit anderen zu geben. Ich glaube, das ist eine ganz wichtige Sache, die es zu beachten gilt. Deshalb sind diese Schüler mit großer Aufmerksamkeit zu betrachten und man muss auch davon ausgehen, dass es notwendig ist, sie in die Gruppe hier zu integrieren, also in die Schulklasse. Diese stillen und vielleicht auch ein bisschen depressiv-ängstlichen Kinder, die haben es
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ja auch in einer solchen Schule nicht leicht. Wir müssen immer wieder feststellen: Wir erfassen in unserer Untersuchung sowohl die Aussagen der Kinder über ihre Befindlichkeit als auch das Fremdurteil durch den Klassenlehrer. Da kommt das noch stärker zum Ausdruck. Die Klassenlehrer haben eine ausgezeichnete Sensibilität für Störungen ihrer Kinder, auch die Störungen, die nicht so aggressiv und expressiv sind. Die Lehrer nehmen z. B. Angst und Depressivität bei den Kindern recht gut wahr. Das ist immer wieder erstaunlich, dass sie manchmal mehr als die Kinder selbst eine solche Richtung bei den Schülern entdecken und aus ihrer Professionalität heraus wissen, aha, das hängt oft mit einer verdeckten Depressivität zusammen. Die sind so »cool« und haben aber eigentlich Defizite auf der emotionalen Seite. Frage: Es gibt also in der Untersuchung eine Befragung der Schüler zu ihrer eigenen Befindlichkeit und eine solche Befragung der Lehrer über die Befindlichkeit ihrer Schüler? Antwort: Ja, das ist eine ganz interessante Sache, dass die Schüler sich selbst einschätzen und die dazugehörenden Klassenleiter die ähnliche Fragestellung beantworten. Wir konnten in unserer Studie dabei feststellen, dass die Rangfolge der Auffälligkeiten sehr ähnlich ist. An der Veränderung dieser Einschätzungen können wir auch den Erfolg unserer Arbeit messen. Frage: Die Schüler, die Ihrer Schule zugewiesen werden, kommen ja von Regelschulen. Haben Sie das Gefühl, dass alle Ihnen zugewiesenen Schüler an Ihrer Schule an der richtigen Stelle sind? Antwort: Ich muss erst einmal sagen, dass wir seit einigen Jahren ein ganz konkretes Aufnahmesystem haben. Die Regelschulen melden die Schüler ans Regionalschulamt mit der Bitte um Überprüfung der Bedürftigkeit und wir ermitteln dann, ob der förderpädagogische Bedarf in unserem Bereich besteht. Sicherlich gibt es auch Probleme, die sich durch einen Schulwechsel im Regelbereich relativ leicht lösen lassen, sicher gibt es Problemschüler, die
durch ihr schulisches Umfeld weiter »zum Problem gemacht« werden, und wenn man sich in solch einem Teufelskreis befindet, dann ist es für Schüler und für Lehrer sehr schwierig, dort wieder herauszukommen. Ich könnte prinzipiell nicht sagen, dass es ein Abschieben der Probleme an die Förderschule ist, das ist sicherlich nur in sehr wenigen Fällen so. Weiterhin muss man sich überlegen, was würde aus den Kindern, wenn es diesen Förderschulbereich nicht gäbe, wo wären sie dann mit ihren aggressiven Verhaltensweisen? Sie würden überhaupt nicht mehr in die Schule gehen, würden den ganzen Tag nur rumhängen, würden aggressive Verhaltensweisen bis hin zur Delinquenz zeigen, also es wäre sehr viel schlechter um sie bestellt und um unsere Gesellschaft, wenn es diese Förderschule nicht gäbe. Frage: Delinquenz, delinquentes Verhalten, was bedeutet das? Antwort: Delinquentes Verhalten bedeutet, dass man Straftaten begeht, die dann eine Strafverfolgung nach sich ziehen. Und aus der Aggression heraus geschehen ja oft auch Verletzungen von Regeln, geschehen Delikte, die man in diesem Moment gar nicht einkalkuliert und nicht beabsichtigt, aber es wird eben zerstört, es werden eben bestimmte Dinge nicht geachtet oder sie werden entwendet und das sind dann diese delinquenten Verhaltensweisen, die entsprechend wieder mit Strafen geahndet werden müssen. Frage: Dann ist ja in bestimmten Abständen bei Ihnen auch die Polizei zu Gast? Antwort: Ja, wir müssen in bestimmten Situationen schon mal die Polizei bemühen, versuchen aber i. Allg., die Probleme erst mal selbst zu lösen an der Schule. Es müssen schon massive Sachen sein, bei denen wir dann die Polizei einschalten, beispielsweise wenn Messer auftauchen, die verboten sind, oder nazistische Äußerungen geschehen, wenn die Drogenproblematik für uns nicht mehr überschaubar ist usw. Aber es ist durchaus nicht so, dass wir jeden Tag hier die Polizei im Haus haben.
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Frage: Was würden Sie sagen, in wie vielen Fällen oder in wie viel Prozent der Fälle ziehen die Familien der hier beschulten Schüler mit Ihnen an einem Strang? Antwort: Das ist sehr unterschiedlich, ich denke, hier kann man keine konkreten Prozentzahlen nennen, weil das ja auch ein Prozess ist. Wir haben viele Eltern, die sehr gut mitziehen, die sehr dankbar sind für die gemeinsame Arbeit zwischen Schule und Elternhaus, aber wir haben natürlich auch Eltern, die soviel negative Erfahrungen gemacht haben mit der Schule bisher, dass es sehr lange dauert, bis man sie für eine vernünftige Zusammenarbeit wieder aufgeschlossen hat, und wir haben auch Eltern, die überfordert sind mit jeglicher Zusammenarbeit, bei denen wir unbedingt die Hilfe vom allgemeinen Sozialdienst brauchen, um dort eine gemeinsame vernünftige Arbeit hinzukriegen. Frage: Sie sehen die vorliegende interdisziplinäre Längsschnittstudie also als etwas Positives für Ihre Schule und Ihre Schüler und Lehrer und Sie wären froh, wenn Sie bald auch die abschließenden Ergebnisse aus der Studie hätten, um sie für Ihre pädagogischen Bemühungen mit zu nutzen? Antwort: Es geht nicht darum, mich froh zu machen, sondern es geht darum, für die Schüler, auch die künftigen Schülergenerationen, eine Basis zu schaffen, die wir glauben, mit dieser Studie legen zu können und die in den vergangenen 10 Jahren immer solider geworden ist. Es geht darum, dass wir die Endauswertung noch möglichst sauber und differenziert hinbekommen, so dass das umfangreiche Material, das bisher zusammengetragen wurde, auch sinnvoll und umfassend aufbereitet und ausgewertet werden kann und damit einer weiteren Arbeit auf allen Gebieten, die sich an der Studie beteiligt haben, zugänglich gemacht wird. Somit wird für diese Schüler, aber v. a. für künftige Schülergenerationen und auch Lehrer etwas Sinnvolles geschehen. Ich denke, es kann nur eine interdisziplinäre Problemlösung geben: Schule, Elternhaus und Unterstützung durch Jugendamt und Therapeuten.
Aus dem Interview mit der Schulleiterin wird deutlich, dass bei den Pädagogen dieser Sonderschule eine große Sensibilität für die notwendige Interdisziplinarität der Erziehung und Betreuung der ihnen anvertrauten Schüler besteht, dass sie bewusst auf Hilfen von Fachleuten anderer Disziplinen zugreifen, weil sie wissen, dass ihre eigene pädagogische Arbeit dadurch effizienter wird. Andererseits ist es im Sinne des gegenseitigen Gebens und Nehmens auch wichtig, dass zu allen Untersuchungen die Motivation der Schüler und ihrer Eltern, die ja die Einwilligung dafür geben müssen, zusätzlich von den Lehrern der Schule gestärkt wird. Dieses über 10 Jahre durchzuhalten, bedarf schon einer hohen Motivation aus Einsicht in die Notwendigkeit und geschieht aus der begründeten Hoffnung und dem Wissen, dass die Ergebnisse der Studie befruchtend für den Umgang mit diesen Schülern insgesamt sein können.
Interview mit einer Untersucherin Bei der hier sog. Untersucherin handelt es sich um eine Mitarbeiterin, welche die Schüler der E-Schule zu allen 3 Messzeitpunkten befragte und die damit u. a. über die Gestaltung des Beziehungsaspektes gut auskunftsfähig ist. Frage: Frau Z, vielleicht können Sie zunächst einmal ausführen, was hinter Ihrer Studie steckt, was Sie erreichen wollen, wie der Zeitrahmen ist usw. Antwort: Ja, der Zeitrahmen ist bewusst sehr lang gewählt. Wir sind jetzt im 10. Jahr der Untersuchungen. Die Studie ist so konzipiert, dass wir 10 Jahre untersuchen und dann die Endauswertung durchführen. Die einzelnen Untersuchungsabschnitte sind ja auch nicht in wenigen Minuten mit den Kindern zu erledigen, die dauern z. T. auch eine Stunde oder länger, je nachdem, wie hoch die Belastbarkeit der Kinder zum einzelnen Zeitpunkt ist. Die Absicht, die wir verfolgen, ist, dass wir die Persönlichkeitsentwicklung der Kinder, die hier im Förderschulbereich beschult werden, zum einen im Längsschnitt untersuchen und praktisch auch die Bewährung der kindlichen Persönlichkeiten ▼
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und ihre Lebensbewältigung in dieser Zeit analysieren. Dies geschieht, um wissenschaftlich exakt zu sein, immer im Vergleich zu gesunden Schülern (Schüler von Regelschulen). Frage: Welche Methoden gibt es innerhalb der Studie? Antwort: Es gibt zum einen das halbstandardisierte Interview und dann natürlich noch eine ganze Reihe anderer Untersuchungsverfahren, Fragebogenmethoden usw., wo die Kinder oder auch Lehrer etwas ankreuzen müssen oder antworten müssen oder Ähnliches. Frage: Wie kann man sich das als Laie vorstellen? Das ist doch sicher schwierig, mit solchen verhaltensauffälligen Kindern ins Gespräch zu kommen, oder? Antwort: Ja, leicht ist das nicht, aber im Prinzip haben wir es so gehandhabt, dass die Schüler uns recht gut kennengelernt haben. Wir haben viel Wert darauf gelegt, dass die Untersuchungspersonen stabil bleiben, dass derselbe Schüler immer zur gleichen Untersucherin kommt, dass auch der äußere Untersuchungsrahmen möglichst gleich bleibt, und das schafft natürlich Beziehungen und die sind sehr wichtig. Manche Kinder öffnen sich sehr langsam, aber meist wird doch recht schnell ein Kontakt hergestellt, der häufig über die Untersuchungsphase hinausgeht. Frage: Wie sind diese Kinder? Sie sind unaufmerksam, sie streiten sich, sie verletzen sich? Trifft es das, kann man sich das so vorstellen? Antwort: Ja, das trifft es eindeutig und in all diesen Facetten zeigen sich diese Kinder und sind natürlich mal mehr, mal weniger aggressiv, sind mal mehr, mal weniger traurig, und ich glaube, man merkt das auch gut während der Untersuchung, dass sie sich dann in unterschiedlicher Weise äußern und sich in Abhängigkeit von ihrer Befindlichkeit unterschiedlich beteiligen. Frage: Was würden Sie sagen, was sind wesentliche Ergebnisse der interdisziplinären Längsschnittstudie? Antwort: Es geht uns ja darum, in einem biografisch sehr lebensnahen Ansatz das Interview
zu gestalten, dass man immer ein bisschen guckt, wie geht es den Kindern von frühauf und bis jetzt, und da suchen wir vor allen Dingen auch nach Reaktionsformen von ihrer Seite, die sie auf Belastungen zeigen und hierbei stellten wir fest, dass zum großen Teil ein evasives Verhalten zutage tritt, d. h. die Schüler entziehen sich oft den Anforderungen. Wir haben einen sehr geringen Anteil an Leistungen produktiver Art gefunden und wir haben festgestellt, dass sich das Ganze sogar im Laufe der wiederholenden Untersuchungen verstärkt. Das gibt uns sehr zu denken, weil dies ja keine gute Basis ist, um das eigene Leben richtig zu gestalten, und hier ist natürlich die Frage, wenn sich das in der Endauswertung so hält, müssen wir natürlich in unserem interdisziplinären Herangehen Möglichkeiten finden, wie mit solchen Verläufen umzugehen ist. Hier müssen Methoden gefunden werden, Möglichkeiten gefunden werden für die Schüler, dass sie ihre Ressourcen wieder nutzen können und auch nutzen wollen. Frage: Das klingt nach intensiver Betreuung. Antwort: Ja, das sind Dinge, die hier mit diesem Personal anzufangen sind und die manchmal auch therapeutische Hilfen implizieren. Es müssen also Schule und Psychologen und Ärzte, wie das in vielen Fällen schon der Fall ist, an einen Tisch kommen und überlegen, wie man diese Schüler von vornherein besser motivieren kann, wie man sie besser integrieren kann, und da sind ja auch schon eine Menge Bemühungen erfolgreich gelaufen. Frage: Was denn zum Beispiel? Antwort: Als positiv ist festzustellen, dass wir analysieren konnten, dass bei der Frage nach der Befindlichkeit in der Erstuntersuchung eine hohe Störungsdarstellung vorherrscht, während in den nachfolgenden Untersuchungen eine deutliche Verbesserung in der eigenen Befindlichkeit zu finden war. Wir haben also feststellen können (vgl. Interview mit den Schülern), dass die Schüler sich ausgesprochen wohl fühlen, einen hohen Grad an Zufriedenheit mit
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Kapitel 5 · Wie kann man den betroffenen Kindern und ihrer Umwelt helfen?
der Schule zeigen und sich hier, also in dieser Schulart und von den Lehrern, gut angenommen fühlen. Wir haben in dieser Schule ja sehr viele Schüler, die schon über sehr viele negative Erfahrungen auf dem schulischen Ausbildungsweg verfügen und die 3, 4, 5 bis 6 Schulwechsel bereits erlebt haben und dies alles mit recht negativen Verläufen. Und jetzt sind diese Schüler so, dass man sagen kann, ihre Befindlichkeit ist nach 1 Jahr deutlich gebessert. Es ist aber leider noch nicht so, dass wir auch gleichzeitig feststellen können, dass sie mehr Leistungswillen zeigen. Hier muss unbedingt im interdisziplinären Team noch analysiert werden, warum das so ist und die Folgerungen daraus gezogen werden. Hier geht es darum, neue Inhalte zu überlegen und Methoden, mit denen man diese Ziele erreichen kann.
Aus dem Interview wird deutlich, dass für die Arbeit mit den verhaltensgestörten Schülern der Aufbau einer positiven Interaktionsbeziehung unerlässlich ist. Die Schüler öffnen sich nur dann, wenn sie das ernsthafte Bemühen um Verständnis und Hilfe beim Untersucher spüren, quasi unter der Grundhaltung: Ich mag dich. Dass man sie auch mögen kann, zeigen ihre Antworten in den Interviews. Wir müssen uns ja immer bewusst sein, dass wir es bei den interviewten Schülern mit solchen zu tun haben, die aggressives, teilweise delinquentes Sozialverhalten zeigen und deshalb von der Mehrzahl der Mitmenschen abgelehnt werden.
Veränderungen im Youth Self Report und der Teacher’s Report Form unter dem Einfluss der Schule für Erziehungshilfe Wir haben im vorangehenden Kapitel gesehen, welch umfassende Aufgaben und Ziele sich die Schule für Erziehungshilfe im Hinblick auf die Korrektur des Leistungs- und Sozialverhaltens sowie die Persönlichkeitsentwicklung ihrer Schüler stellt. Unter dem Aspekt der Evaluation ist deshalb zu fragen, ob und in welchem Ausmaß das angewendete Konzept erfolgreich ist. Nun kann man mit einzelnen diagnostischen Verfahren immer
nur einen Teil dieses komplexen Geschehens erfassen und abbilden, andererseits sind die von uns eingesetzten Verfahren Youth Self Report (YSR) und Teacher’s Report Form (TRF) zum einen sehr aussagekräftig, zum anderen sind sie in Forschung und Praxis so gut eingeführt, dass sie verallgemeinerbare Befunde erwarten lassen. Wir werten im Folgenden Veränderungen der Rohwerte des YSR aus, da die Normierung (vgl. Döpfner et al. 1998) keinesfalls sensibel genug für dieses Geschehen ist. Das dort verwendete Normierungsverfahren führt zu deutlichen Abweichungen von der Normalverteilungshypothese (vgl. auch Achenbach 1991). Vorab zusammenfassend: Das Milieu der Schule für Erziehungshilfe lässt eine günstige Beeinflussung der Störungswahrnehmung im Selbstbild der E-Schüler im YSR erkennen, wobei die Dauer des Schulbesuches durchaus als Einflussfaktor zu werten ist. Schauen wir uns augewählte Ergebnisse an: Studienbox In unserer Stichprobe haben 205 Schüler mindestens 2 Jahre und 92 Schüler mindestens 3 Jahre die Förderschule besucht. Die Schüler, die nach 1 Jahr wieder in die Regelschule zurückgeführt werden konnten, unterscheiden sich signifikant in der Wahrnehmung eigener psychischer Probleme in folgenden Syndromskalen: Sie hatten eine signifikant geringere Anzahl von Symptomen in den Skalen »Körperliche Beschwerden«, »Angst und Depression« und »Schizoid-zwanghaft«. Bei den Skalen 2. Ordnung liegt der Symptomwert für die Skala »Internalisierende Störungen« bei den nach einem Jahr rückgeführten Schülern deutlich niedriger als bei den verbleibenden Förderschülern. Förderschüler, die nach 2 Jahren oder später in die Regelschule zurückgeführt wurden, unterscheiden sich in keiner Syndomskala des YSR signifikant von den noch in der Förderschule verbleibenden Schülern. Der Vergleich der Ergebnisse vom 1. zum 2. Messzeitpunkt ergibt günstige Veränderungen in der Persönlichkeitsentwicklung. So sind die ▼
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Kinder weniger ängstlich und depressiv, weniger zwanghaft und haben weniger soziale Probleme. Die Skalen für »Externalisierende Störungen« ergeben vom 1. zum 2. Messzeitpunkt positive Veränderungen in Bezug auf Aufmerksamkeit und aggressives Verhalten. Vom 2. zum 3. Messzeitpunkt ergibt sich erneut eine statistisch bedeutsame Reduktion in Bezug auf sozialen Rückzug, körperliche Beschwerden, Angst bzw. Depression und soziale Probleme. Besonders hervorzuheben ist die positive Veränderung der Aufmerksamkeit sowie die nachlassende Tendenz zur Selbstschädigung. Mit anderen Worten, der Gesamtwert psychischer Auffälligkeiten reduziert sich von der 1. zur 2. und nochmals von der 2. zur 3. Untersuchung statistisch bedeutsam, was zu einer Besserung von Erleben und Verhalten der Schüler führt.
Die vorgelegten Befunde sprechen in ihrer Gesamtheit dafür, eher eine längerfristige Betreuung durch die Förderschule anzustreben.
Zusammenarbeit mit der Jugendhilfe Wir haben schon wiederholt darauf hingewiesen, dass heranwachsenden Kindern und Jugendlichen häufig besonders dann, wenn sie unter Verhaltensauffälligkeiten oder Verhaltensstörungen leiden, durch Elternhaus und Schule nicht ausreichend geholfen werden kann und dass sie dadurch nicht ausreichend gefördert werden können. Hier ist ein ganzes Netzwerk von Helfersystemen nötig. Ein wesentlicher Teil dieses Netzwerkes ist die Jugendhilfe, die bundesweit mit sehr komplexen und nicht leichter werdenden Aufgaben konfrontiert ist. Besonders wichtig ist, dass sowohl Pädagogik (Förderpädagogik) als auch Jugendhilfe sowie Kinder- und Jugendpsychologie und –psychiatrie besonders in Überschneidungsfeldern eng zusammenarbeiten, um den betreffenden Kindern und Jugendlichen eine maßgeschneiderte Förderung zuteil werden zu lassen. Eine erfolgreiche Kooperation ist noch keineswegs überall möglich und selbstverständlich. Das beginnt bereits damit, dass die einzelnen Disziplinen mitunter sehr unterschiedliche Begriff-
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lichkeiten haben, also erst zu einer gemeinsamen Sprache finden müssen. Inzwischen gibt es bundesweit Modellversuche, wie an Schnittstellen zwischen Elternhaus, Schule, Jugendhilfe und Kinder- und Jugendpsychiatrie Ressourcen der einzelnen Disziplinen mobilisiert und Kräfte gebündelt werden können, um den Jugendlichen effektiv zu helfen. Dabei gehen solche Kooperationen von allgemeinen schriftlichen Vereinbarungen bis hin zu Fallkonferenzen mit allen Beteiligten für ein betreffendes Kind. Es gibt fallübergreifende Vereinbarungen, was die Informationsvermittlung und die Entwicklung eines gemeinsamen Grundverständnisses über Problemdefinitionen und Fallbearbeitung betrifft. Hier sind auch gemeinsame Fortbildungen wichtig und nützlich. Es werden thematische Arbeitsgruppen gebildet, z. B. zur Problematik der Kindeswohlgefährdung. Es gibt darüber hinaus fallbezogene Vereinbarungen, die Modalitäten bei Aufnahme von Kindern in die Kinder- und Jugendpsychiatrie oder Behandlungen in der sowie Entlassungen aus der Klinik festschreiben. Es gibt Vereinbarungen über die Nachbetreuungen und es muss natürlich eine Evaluation des Ganzen stattfinden. Zitat aus der Präambel der Kooperationsvereinbarung zwischen dem Jugendamt und der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Leipzig: »Gemeinsame Aufgabe der beiden Institutionen Jugendamt und Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie ist die fördernde Begleitung von Entwicklungsprozessen und Krisen bei Kindern und Jugendlichen. Grundlegend hat sowohl die Kinder- und Jugendpsychiatrie als auch das Jugendamt für die in ihrer Verantwortung stehenden Behandlungen bzw. Hilfemaßnahmen eigene Verfahrensregelungen. Sind im konkreten Einzelfall sowohl Kinder- und Jugendpsychiatrie als auch Jugendamt involviert, bleibt dieser gesetzlich geregelte Verantwortungsbereich für jeden Kooperationspartner erhalten. Sofern z. B. neben der psychiatrischen Behandlung ein Hilfebedarf an Maßnahmen der Jugendhilfe von Seiten der Personensorgeberechtigten benannt wird, ist für diese Hilfen
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zur Erziehung im Einzelfall der allgemeine Sozialdienst des Jugendamtes (ASD) und bei Jugendstrafverfahren die Jugendgerichtshilfe (JGH) zuständig.«
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Die Kooperationsvereinbarung zwischen Jugendhilfe und Kinder- und Jugendpsychiatrie in Leipzig entstand vor dem Hintergrund u. a. eines Modells des Landesjugendamtes Westfahlen-Lippe, eines Modellprojektes in Meißen und eines Modellprojektes in Uchtspringe (Stendal). Das Ziel der Hilfe durch beide Institutionen besteht darin, dem Kind bzw. Jugendlichen die notwendige und geeignete Hilfe für einen konkreten Zeitraum und in Verbindung mit seiner Familie bzw. seinem primären Bezugssystem, in dem es lebt, zu gewähren. Damit sollen Entstehung und Zuspitzung akuter Krisen ebenso wie chronische Entwicklungen vermieden werden. Hier ist es wichtig, dass die Kooperationspartner die Autonomie des jeweils anderen Partners in seinem Kompetenzbereich achten und beide Institutionen wiederum Achtung vor den Kompetenzen der Personensorgeberechtigten (in der Regel der Eltern) oder anderen primären Bezugssystemen der Kinder haben. Die geltenden Grundsätze der Kooperationsvereinbarung und die wesentlichen Linien der Arbeitsweisen sollen nicht nur zwischen den Kooperationspartnern, sondern auch für die entsprechenden Kinder bzw. Jugendlichen und ihre Familien transparent gemacht werden. »Speziell soll die Vereinbarung die beteiligten Fachkräfte unterstützen, grundlegende strukturelle Minimalbedingungen an eine verlässliche Zusammenarbeit erfüllen zu können, indem Regelungen für das Erreichen eines gemeinsamen fachlichen Grundverständnisses, die Informationsübermittlung, das Führen gemeinsamer Fallgespräche und die gegenseitige Ansprechbarkeit in Krisensituationen getroffen werden.«
Im nachfolgenden Fallbeispiel sollen gemeinsame Bemühungen von Kinder- und Jugendpsychiatrie und Jugendhilfe dargestellt werden, wobei, wie der Verlauf zeigt, beide Institutionen zeitweise mit durchaus unterschiedlichen Intentionen tätig sein können.
Fallbeispiel Nicole Nicole ist das 3. von inzwischen 6 Kindern der Familie S. Sie wird geboren, als ihre Mutter 23 und ihr Vater 22 Jahre alt ist. Ihre beiden älteren Geschwister, 2 Jungen, stammen aus einer ersten Beziehung der Mutter. Nicole und ihre Schwester, die 1 Jahr später geboren wird, stammen vom gleichen Vater. Danach bekommt Frau S. noch 1 Mädchen und 1 Jungen, jeweils von unterschiedlichen Vätern. Als wir Nicole kennen lernen, ist sie 15 Jahre alt. Ihre älteren Geschwister sind 17 und 19, ihre jüngeren 13 und 12 Jahre. Die beiden älteren Brüder leben inzwischen in unterschiedlichen Heimen. Nicole selbst hat phasenweise im Heim gelebt. Ihr jüngerer Bruder ebenso, bis die Mutter beide Kinder wieder aus dem Heim heraus und in die Familie zurück nahm. Die Mutter hat inzwischen einen neuen Lebensgefährten und ist erneut schwanger. Die Einweisungsdiagnose in die Klinik lautet: Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen. Nicole hat 2 Suizidversuche hinter sich und befindet sich gegenwärtig in einer depressiven Phase, in der sie sich auch häufig selbst verletzt. Die Störung des Sozialverhaltens hat zu mehreren Einbruchdiebstählen geführt, außerdem zeigt Nicole sowohl in der Schule als auch zu Hause ein aggressives, unangepasstes Sozialverhalten. Sie ist häufig von zu Hause abgängig, treibt sich wochenlang herum, wohnt dann bei Freunden, hat auch Kontakt mit der Drogenszene gehabt. Ihre Freizeit verbringt sie in einer Clique, die rechtsorientiert ist. Die Mutter möchte, dass Nicole regelmäßig zu Hause ist, um auch die jüngeren Geschwister mit zu erziehen. Nicole aber möchte frei sein und ist nur sehr ungern zu Hause, zumal der neue Lebenspartner der Familie sie sehr »nerve«. Einer Zusammenarbeit mit dem Jugendamt stand und steht die Mutter sehr ablehnend gegenüber, da sie diesem vorhält, ihr die Kinder entzogen zu haben. So akzeptiert sie keinen Erziehungsbeistand und auch keinen Einzelfallhelfer für Nicole. Als ihr jedoch die Tochter völlig zu entgleiten droht, ▼
181 5.2 · Hilfen im Kindergarten bzw. in der Schule
stellt sie doch einen Antrag auf Hilfe zur Erziehung beim Jugendamt, so dass gemeinsam mit Tochter, Mutter und Jugendamt und den Sozialarbeitern der Klinik eine Wohngemeinschaft (WG) für Nicole gefunden wird, in die Nicole nach dem ersten stationären Aufenthalt von 3 Monaten einziehen kann. Die stationäre Diagnostik ergibt folgendes Bild: ▬ Körperlich: Bei Nicole handelt es sich um ein körperlich leicht akzeleriertes, 15-jähriges Mädchen in gutem Allgemein-, mäßigem Ernährungs- und Pflegezustand. Internistische Befunde von Krankheitswert finden sich nicht. Mehrere Narben nach Schnittverletzungen an den Armen und Unterschenkeln. ▬ Neurologisch keine pathologischen Auffälligkeiten. ▬ Psychologisch findet sich in der Leistungsdiagnostik eine leicht unterdurchschnittliche intellektuelle Befähigung mit einem Gesamt-IQ von 89. Die Konzentrationsfähigkeit liegt im Normbereich. Die Persönlichkeit der Patientin ist gekennzeichnet durch derb-draufgängerisches, wenig einfühlsames Verhalten bei deutlicher Neigung zu Angst und Depressivität. Im YSR zeigt sie hohe Werte in den Skalen »Aggressivität« und »Delinquenz« sowie in »Angst bzw. Depressivität« und leicht erhöhte Werte auf der Skala »schizoid bzw. zwanghaft«. Diese Auffälligkeiten spiegeln sich auch im DIKJ wieder. In projektiven Verfahren finden sich Hinweise auf eine frühe Traumatisierung, über die Nicole anfangs nicht spricht, über die sie nur Andeutungen macht. In der Schule hat Nicole bisher den Abschluss der 7. Klasse geschafft. Sie ist dabei, die 8. Klasse wegen mangelnder Leistungen und häufigen Schuleschwänzens zu wiederholen. Sie möchte am liebsten nie wieder in die Schule gehen, es mache ihr alles keinen Spaß. Sie hat auch keinen Lebensplan und keine Zukunftsperspektive. Nach anfänglicher Rebellion ist
Nicole froh, in der Klinik zu sein, und fühlt sich zunehmend verstanden, wobei sie ab und zu durch ihr gestörtes Sozialverhalten die Grenzen der Belastbarkeit von Personal und Mitpatienten austesten muss. Ihr Sozialverhalten bessert sich durch verhaltenstherapeutische Interventionen sowohl in der Einzelsituation als auch in der Gruppe zunehmend. Nicole wird nach der Diagnostikphase zunächst in der Klinikschule beschult, was ihr erstaunlicherweise großen Spaß macht und wobei sie auch trotz ihrer großen Lücken relativ gut mitkommt. Sie lernt allmählich, sich Freunde durch adäquate Verhaltensweisen zu schaffen und nicht wie bisher durch ihr derb-draufgängerisches, die anderen eher abstoßendes Verhalten. Es gelingt Nicole innerlich und äußerlich mit Hilfe der Therapeutin zunehmenden Abstand von ihrer Clique zu bekommen, indem sie begreift, was sie wirklich im Leben sucht und dass sie von der Clique im Grunde nur ausgenutzt wird. Sie selbst kann die Begleitung durch das Jugendamt, im Gegensatz zu ihrer Mutter, sehr gut annehmen und freut sich auf die WG, die schließlich mit Hilfe der Sozialarbeiterin der Klinik gefunden, gemeinsam mit der Patientin angeschaut wird und Nicole gut gefällt. Die letzten Wochen gestalten sich so, dass Nicole am Wochenende bereits in die WG beurlaubt wird und sich dort zunehmend einlebt. Im Rahmen der komplementären Therapien, die sie in der Klinik bekommt (Ergotherapie, Physiotherapie, therapeutisches Reiten) gelingt es Nicole zunehmend, eigene Stärken zu entdecken und diese als Ressourcen zu nutzen. Als die Kindesmutter in einem der Gespräche im Beisein von Nicole der Therapeutin mitteilt, dass Nicole eigentlich ein unerwünschtes Kind ist und dass sie mit ihr nie zurechtgekommen sei, erlebt Nicole noch einmal einen Zusammenbruch, der auch mit selbstverletzendem Verhalten beantwortet wird (tiefe Schnitte an beiden Unterarmen). Im therapeutischen Prozess wird dieser Zusammenbruch aufgearbeitet. Es geschieht ein Reframing des gesamten Prozesses,
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Kapitel 5 · Wie kann man den betroffenen Kindern und ihrer Umwelt helfen?
so dass Nicole auch hier eigene Ressourcen mobilisieren und ihre eigenen Kräfte stärken kann. Gegen Ende der stationären Behandlung berichtet Nicole von dem, was sie bislang nicht preisgeben wollte, nämlich dass sie vom Stiefvater, dem Vater der jüngeren Schwester über mehrere Jahre sexuell missbraucht worden sei. Sie habe sich damals der Mutter anvertrauen wollen, die dieses jedoch sofort zurückgewiesen habe und sie vor den Übergriffen des Stiefvaters nicht schützen konnte. Nicole berichtet weiterhin, dass sie mit 13, 14 Jahren nicht nur in der Drogenszene war, sondern sich auch prostituiert habe, was die Mutter bis heute nicht wisse und was ihr vermutlich auch gleichgültig sei. Es habe auch Zeiten gegeben, in der sie glaubte, nicht zur Schule gehen zu können, weil die jüngere Schwester durch den neuen Partner der Mutter evtl. das gleiche hätte erleiden können (sexueller Missbrauch) wie sie damals. Meist habe sie sich aber rumgetrieben, habe keinen Sinn in der Schule und auch gar nicht im Leben gesehen. Erst jetzt fasse sie wieder Mut zum Leben, auch Mut, in der Schule weiter zu machen, sie wolle möglichst die 10. Klasse abschließen, aber notfalls sei sie auch mit einem Hauptschulabschluss zufrieden. Auf jeden Fall wolle sie später einen sozialen Beruf ergreifen (z. B. Sozialassistentin). Nicole bekommt phasenweise ein Antidepressivum, das sie aber bei Entlassung aus der Klinik nicht mehr braucht. Sie wird weiterhin ambulant durch die Institutsambulanz der Klinik betreut und hat inzwischen den Abschluss der 8. Klasse geschafft. Nach einem halben Jahr wird ihr leider der WG-Platz gestrichen, so dass sie wieder »auf der Straße steht«, da sie sich zu Hause nicht zu Hause fühlt. Sie wird erneut in der Klinik aufgenommen, da sie inzwischen erneut selbstverletzendes Verhalten, aber auch die Symptomatik einer Essstörung vom bulimischen Typ zeigt und wieder mehrere Kaufhausdiebstähle begangen hat. Zwischen Klinik und Jugendamt laufen Fallbesprechungen, die schließlich zu dem Ziel führen, dass das Jugend▼
amt versteht, dass eine halbjährliche Maßnahme (WG-Betreuung) bei einem so schwer gestörten und störbaren Mädchen nicht ausreicht. Es kann keine Rückführung in die ursprüngliche WG geben, da der Platz inzwischen vergeben ist. Es wird eine neue WG gesucht und schließlich auch gefunden. Es ist diesmal eine therapeutische WG, was allen Beteiligten für den weiteren Lebensweg von Nicole am sinnvollsten erscheint. In der Schule hat sie inzwischen wieder reichlich Ausfälle gehabt, so dass es wohl doch auf eine Beendigung der Schullaufbahn mit Hauptschulabschluss hinauslaufen wird. Nicole nimmt sich vor, dann, wenn sie gesundheitlich stabiler ist, eventuell die 10. Klasse auf der Volkshochschule nachzuholen.
Therapeutische Hilfen
5.3
Fallbeispiel Robin, Teil 5 Nachdem mit einer umfassenden Diagnostik das Beschwerde- und Zustandsbild Robins erfasst werden konnte, ist es den Großeltern und auch Robin selbst ein Anliegen, seine Störung zu verlieren, um sich wieder normal in die Gemeinschaft integrieren zu können. Wie häufig in solchen Fällen führt die Besprechung der diagnostischen Ergebnisse auf Seiten der Familie zu einer gewissen Betroffenheit, in die auch die Jugendlichen einbezogen sind, die dann häufig schon motiviert sind, ihre Störung zu verlieren. Robin wird also auf der Jugendstation der Klinik aufgenommen und zunächst von einem Betreuungszeitraum von 3 Monaten ausgegangen. In diesem Zeitraum sollen Grundlagen für die Verhaltensänderung gelegt werden. Robin wird in das multimodale, aber individuell zugeschnittene Therapiekonzept der Station eingegliedert. Ganz vordergründig ist bei ihm die Verhaltensmodifikation, deshalb wird er mit einer engmaschigen Einzelverhaltenstherapie betreut, verhaltenstherapeutische Elemente ▼
183 5.3 · Therapeutische Hilfen
kommen auch im gesamten Stationsalltag zum Tragen. Punktepläne (Token-System), »Response cost«, zuweilen ist auch »Time out« nötig. Schrittweise wird der Patient in das verhaltenstherapeutische Gruppenprogramm eingebunden sowie in eine Gruppe zum Sozialtraining. Darüber hinaus erhält er Ergotherapie in der Gruppe, Physiotherapie, tiergestützte Therapie mit Hunden und therapeutisches Schwimmen. Nach der Diagnostikphase wird er zunächst stundenweise in der Klinikschule beschult und nach 3 Wochen erfolgt die Wiedereingliederung in die Schule für Erziehungshilfe. Es wird darauf geachtet, dass Robin regelmäßig dort erscheint und nach 1 Woche Anlaufzeit auch die gesamte Schulzeit dort bleibt. Regelmäßige Besprechungen zwischen den Lehrern der Förderschule für Erziehungshilfe und den Therapeuten flankieren diese Maßnahmen. Robin lernt über diesen Weg, sich besser in die soziale Gemeinschaft zunächst der Station, später auch seiner Klasse einzugliedern. Er kann zunehmend Selbstbewusstsein aufbauen und wird auf der Station eine Zeit lang zum Patientensprecher gewählt. Besonders positiv fällt bei stationsübergreifenden Aktivitäten seine Bemühung um jüngere Patienten auf, mit denen er sehr fürsorglich und liebevoll umgeht. Nach 3 Monaten erfolgt eine Entlassung ins häusliche Milieu und Robin besucht weiterhin regelmäßig und mit guten Ergebnissen, die ja seinem Leistungsvermögen entsprechen, die Schule. Bei der 2. Untersuchung innerhalb unserer Längsschnittstudie finden sich bei Robin sowohl im PFK als auch im YSR wesentlich weniger Hinweise auf Aggressivität und Depressivität, sein Verhalten ist deutlich angepasster geworden. Auch die Großeltern berichten, dass es jetzt relativ gut mit ihm zu Hause gehe. Im Verlauf der 7. Klasse kommen seine Eltern und seine jüngere Schwester aus dem Ausland zurück und Robin soll wieder in deren Haushalt erzogen werden, was für die Großeltern eine angestrebte Entlastung bedeuten würde und auch von Eltern und Robin so gewünscht wird. ▼
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Nun könnte die Phantasie entstehen, dass alles wieder gut und heil wäre, allerdings gelingt Robin die Eingliederung in seine Familie unter den neuen Bedingungen auch am Heimatort nicht mehr. Die Lebenswege der Familienmitglieder haben sich zu sehr auseinander entwickelt, als das in dieser schwierigen Entwicklungssituation des Jungen eine problemlose Eingliederung möglich wäre. Es kommt sogar dazu, dass Robin erneut die Schule über mehrere Wochen schwänzt, allerdings hat die Familie und auch er selbst jetzt einen Ansprechpartner und er kommt nahezu aus eigenem Antrieb zum 2. Mal in die Klinik. Der Aufenthalt ist nur auf 6 Wochen beschränkt. Robin beginnt sehr schnell wieder den Einstieg in die Schule, weil er ja selbst will, allerdings wird im Verlauf der therapeutischen Bemühungen, die jetzt zunehmend familientherapeutisch sind, auch klar, dass Robin wohl seinen sozialen Weg besser mit dem Wohnen in einer WG gehen kann. Das tut besonders der Mutter sehr weh, aber schließlich können sich alle Beteiligten darauf einigen. Es wird mit Hilfe des Sozialdienstes der Klinik eine entsprechende WG gesucht und auch gefunden. Robin fasst dort gut Fuß, sein Verhalten bleibt stabil, so dass am Ende der 8. Klasse festgelegt werden kann, dass eine Rückführung in die Regelschule erfolgt, damit er dort den Realschulabschluss erreichen kann. Bei der 3. Untersuchung innerhalb unserer Längsschnittstudie haben sich Robins Werte weiterhin verbessert, d. h. sein Verhalten ist weiter adäquater geworden, seine neurotischen Auffälligkeiten sind weiterhin rückläufig. Schließlich gelingt es Robin, den Realschulabschluss mit Note 2 zu bewältigen. Er nimmt sich vor, später auf dem 2. Bildungsweg das Abitur nachzuholen. Nach dem Realschulabschluss beginnt er zunächst eine Lehre als Tischler.
Wir sind jetzt bei den Kindern angelangt, denen durch pädagogische Maßnahmen nicht oder nicht mehr ausreichend gut geholfen werden kann. Diese Kinder bzw. Jugendlichen bedürfen zu bestimmten Zeiten der therapeutischen Einflussnahme durch einen Psychologen oder Kinder- und Jugendpsych-
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Kapitel 5 · Wie kann man den betroffenen Kindern und ihrer Umwelt helfen?
iater bzw. Psychotherapeuten, sei es auf ambulantem, tagesklinischem oder stationärem Wege. Voraussetzung für therapeutische Bemühungen ist das klinische Verständnis der aufgetretenen Störungen. Hierbei müssen Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie, der Neuropsychologie, der Psychobiologie, der psychiatrischen Epidemiologie, der Sozialwissenschaften sowie kognitionstheoretische Vorstellungen und psychodynamische Theorien sowie Erkenntnisse der klinischen Psychologie zu einem komplexen psychopathologischen Modell zusammengeführt werden, das schließlich das klinische Verständnis bestimmt. Es liegt uns fern, therapeutischem Nihilismus das Wort zu reden, dennoch muss auf folgenden Fakt gleich einleitend verwiesen werden: Bei Kindern und Jugendlichen mit Störungen des Sozialverhaltens ist es auch bei intensiven therapeutischen Bemühungen sehr schwierig, durchgreifende und langfristige Verbesserungen des Sozialverhaltens zu erreichen (vgl. Kazdin 1997). Dafür ist neben der Komplexität der Symptomatik die Tatsache verantwortlich zu machen, dass die Compliance von Familien mit verhaltensgestörten Kindern und Jugendlichen i. Allg. sehr gering ist. So berichtet Kazdin (1990), dass die Hälfte der therapiebedürftigen Kinder und Jugendlichen eine Therapie gar nicht erst beginnen oder abbrechen. Lehmkuhl et al. (1998) fanden, dass von Familien mit verhaltensgestörten Kindern sich nur etwa 10% für therapiebedürftig halten und von diesen 10% sich wiederum nur ein Viertel in Behandlung begibt. Es ist aus Sicht der Autoren wichtig zu betonen, dass man heutzutage zu sehr auf Einsicht der betreffenden Personen in ihre Hilfsbedürftigkeit baut. Mit den o. g. Zahlen kann aber nachgewiesen werden, dass diese Einsicht mehrheitlich nicht vorhanden ist, d. h. es müssen ergänzend mehr als bisher aufsuchende Hilfen ermöglicht werden. Matthys, van Engeland und Resch (2003) weisen zu Recht auf Folgendes hin: »Adäquate pharmakologische Behandlungsmöglichkeiten, psychotherapeutische Ansätze und soziotherapeutische Maßnahmen können nur synergetisch der Zunahme dissozialer Verhaltensweisen entgegenwirken.« (S. 770)
Nur mit einem interdisziplinären »Netz« an Helfersystemen können diese Kinder und Jugendlichen aufgefangen und vor dem Pfad in die Delinquenz bewahrt werden. Dieses interdisziplinäre Netz an Helfersystemen besteht aus Erziehungsberatungsstellen, Beratungslehrern, Schulpsychologen, Familientherapeuten (vgl. Ettrich u. Rossbach 1996; Ettrich 1999; Ettrich 2002a), Psychologen, Ärzten und Pädagogen sowie Mitarbeitern der Jugendhilfe gleichermaßen.
5.3.1 Basisnotwendigkeiten
für die Therapie Nachfolgend sollen einige therapeutische Basisnotwendigkeiten für die Therapie solcher Kinder dargelegt werden. Das wesentliche Behandlungsziel bei einer Störung des Sozialverhaltens besteht in einer drastischen Senkung der aggressiven, dissozialen oder delinquenten Verhaltensweisen. Weil dieses Geschehen nur in Kooperation zwischen Psychologen, Kinder- und Jugendpsychiatern, Eltern, Lehrern, Erziehern und Jugendamtsmitarbeitern gelingen kann, ist die vertrauensvolle Zusammenarbeit aller unter der Leitung eines erfahrenen professionellen Therapeuten (Kinder- und Jugendpsychiater oder Psychologe oder Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut) unerlässlich: ▬ Dieser Therapeut muss von Anfang an klar und bestimmt die Position vertreten, dass er jede Form aggressiven Verhaltens ablehnt, sei es Bedrohen oder Einschüchtern anderer, Schlägereien oder gar das Benutzen von Waffen jeglicher Art, die Unterdrückung und Nötigung von anderen, Diebstähle und Betrug sowie Regelverstöße, die das Zusammenleben in einer Gemeinschaft (Gruppe, Familie) erschweren ( Kap. 2.3). ▬ Die Therapie kann nur gelingen, wenn alle Beteiligten diese Grundhaltung teilen und sie auch leben. Um dieses Ziel zu erreichen, wird der Therapeut den Eltern, Lehrern und Erziehern (im Sinne von Co-Therapeuten) die notwendigen Informationen vermitteln, sie in Formen der Gesprächsführung unterweisen und notwendige Verhaltensübungen (z. B. Rollenspiele) zur Deeskalaltion kritischer Situatio-
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nen durchführen. Er wird ggf.ein Eltern- bzw. Erziehertraining anbieten. Ein weiteres Ziel der Therapie besteht darin, die Betroffenen dazu anzuregen, die Konsequenzen ihres Handelns zu überdenken und sich Handlungsalternativen zu überlegen (zu suchen), die geeignet sind, Konflikte aufzulösen oder nicht erst entstehen zu lassen. Es ist eine permanente Aufgabe aller am therapeutischen Prozess Beteiligten, dem Betroffenen seine handlungsleitenden Gedanken und Gefühle zu verdeutlichen, um damit seine Einsichtsfähigkeit zu verbessern und seine Fähigkeiten zum Finden und Entdecken von Verhaltensalternativen zu fördern. Auf diese Weise werden nicht nur die Fähigkeiten eines Kindes oder Jugendlichen zur Konfliktbewältigung und Konfliktvermeidung verbessert, es wird auch sein Selbstbild durch den Vergleich des Realselbstbilds mit dem Ziel-(Ideal-)Selbstbild und der schrittweisen Annäherung von beiden positiv beeinflusst. Der Erwerb von alternativen Verhaltensweisen darf nicht nur auf der verbal-mentalen Ebene erfolgen. Er muss durch deren Übung und durch Modelllernen und in Rollenspielsituationen gezielt unterstützt werden. Auf diese Weise lassen sich Verhaltensdefizite und Verhaltensexzesse relativ gut und rasch beseitigen und durch Formen prosozialen Verhaltens ersetzen. Die Betroffenen erlernen den gezielten Gebrauch prosozialer Verhaltensweisen, was aber noch nicht deren situationsadäquate Anwendung sichert. Um dies zu erreichen, müssen Therapeut und Co-Therapeuten die selbstständige Anwendung dieser neuen Verhaltensweisen bekräftigen bzw. durch häufige Wiederholungen zu ihrer Automatisierung beitragen. Es darf nicht vergessen werden, dass Störungen des Sozialverhaltens u. a. durch Bildungsund Ausbildungsdefizite verursacht und aufrechterhalten werden. Aus diesem Grund ist es erforderlich, das Ausmaß von Wissens- und Bildungsmängeln detailliert zu erfassen und an deren Beseitigung gezielt zu arbeiten. Wenn Fördermaßnahmen nicht mehr zur Korrektur ausreichen, ist auch an eine Verlängerung des Bildungsweges (z. B. Klassenwiederholung)
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oder an eine Korrektur des eingeschlagenen Bildungsweges (z. B. Umschulung von der Realschule in die Hauptschule) zu denken. Über die Korrektur von Bildungs- und Ausbildungsmängeln lassen sich Veränderungen des Selbstbildes und damit Veränderungen des Sozialverhaltens günstig beeinflussen. Die Autoren sind der festen Überzeugung, dass rechtzeitige Schullaufbahnkorrekturen eine Vielzahl späterer Straftaten verhindern könnten. Dies sollte in Erwägung gezogen werden, bevor der bei Straftaten zu Rate gezogene Sachverständige eine Strafminderung wegen unzureichender geistiger Reife vorschlagen muss. ▬ Es ist Aufgabe von Therapeuten, Eltern, Lehrern und Erziehern zu verdeutlichen, dass Inhalt und Art ihrer Kommunikation für die Heranwachsenden Verhaltensmodelle darstellen. Das betrifft sowohl die Interaktion zwischen den Eltern sowie zwischen Eltern und Lehrern (Erziehern), als auch die unmittelbare Interaktion zwischen Erwachsenen und Kind bzw. Jugendlichen. Aus diesem Grund sollten unangemessene Strafandrohungen (ohne zeitnahe Konsequenzen) ebenso gemieden werden wie körperliche Bestrafungen (Schläge, Klapse) der Heranwachsenden. Unangemessene Strafen (z. B. Haus- oder Stubenarrest von 4 Wochen oder bis zur Verhaltensänderung) veranlassen Eltern zur nachträglichen Korrektur, was ihre Glaubwürdigkeit bei der Bekämpfung unangemessenen Verhaltens in Frage stellt. Über körperliche Bestrafungen lernen die Heranwachsenden, dass Gewalt ganz offensichtlich ein Vorgehen ist, sich »effektiv« durchzusetzen. Aber auch solche Formen der Bestrafung wie das Ignorieren des Kindes oder Jugendlichen im Sinne des absichtlichen Übersehens (nicht eines bestimmten Fehlverhaltens, sondern der Person) lösen bei den Betroffenen eher negative Emotionen aus, die zu destruktiven Reaktionen gegen sich selbst oder andere führen. Ein solches Verhalten des Erwachsenen ist zur Verhaltenssteuerung ungeeignet, weil es dem Betroffenen das Fehlverhalten nicht verdeutlicht, sondern eher die Beziehung zwischen Kind und Erwachsenem gefährdet oder gar zum Beziehungsabbruch führt.
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Kapitel 5 · Wie kann man den betroffenen Kindern und ihrer Umwelt helfen?
▬ Altersgemäßes prosoziales Verhalten sowie das Unterlassen verbal-aggressiver oder aggressivhandlungsbezogener Verhaltensweisen sollten von Therapeuten und Co-Therapeuten belohnt werden. Hierzu hat es sich als nützlich erwiesen, ein Punkt- oder Tokensystem gemeinsam mit den Heranwachsenden zu erarbeiten, in welchem genau festgelegt ist, welches Verhalten in welchem Zeitraum mit einem Punkt oder Token belohnt wird, für welches Fehlverhalten es keinen Punkt gibt bzw. für welches Fehlverhalten sogar ein Punkt abgezogen wird (Strafe). Es muss auch klar vereinbart werden, gegen welche Belohnungen eine bestimmte Anzahl erreichter Token eingetauscht werden kann. Es können beispielsweise bei jüngeren Kindern Token gegen Spielsachen, bei Jugendlichen gegen Zulagen zum Taschengeld, dem Besuch einer Sport- oder Kulturveranstaltung o. Ä. getauscht werden. Aus praktischer Erfahrung weisen wir darauf hin, dass Token-Systeme so beschaffen sein müssen, dass für normgemäßes Verhalten ein Überschuss an Pluspunkten erzielt wird, nicht aber umgekehrt eine Negativliste entstehen kann. Im letzteren Fall geben Kinder bzw. Jugendliche wegen des dadurch eintretenden Motivationsverlustes die Behandlung schnell auf. ▬ Eine besondere Schwierigkeit bei der Behandlung von Störungen des Sozialverhaltens stellt die Herauslösung der Kinder- und Jugendlichen aus Peer-Groups dar, die eine negative Auswirkung auf deren Sozialverhalten haben und in denen Aggressivität und Delinquenz als Lebensziele verherrlicht werden. Mit dem Verbot, sich mit den Angehörigen einer solchen Gruppe zu treffen, ist hier i. Allg. nichts zu erreichen. Sinnvoller ist es, durch eine stationäre Behandlung die Kontaktmöglichkeit zur Gruppe mit dissozialem Verhalten zunächst einzuschränken oder zu unterbinden und über die Behandlung die Integration in Gruppen mit normkonformem Verhalten zu ermöglichen. Letztlich ist es das Ziel der Behandlung, das Kind oder den Jugendlichen zu alternativem, prosozialem Verhalten und zur Einsicht zu führen, dass ein aggressionsfreies Verhalten das Zusammenleben mit anderen bereichert.
Auf diese Weise wird die Grundhaltung vermittelt, dass der Betroffene den Umgang mit einem dissozialen Gruppenmilieu von sich aus ablehnt. Mitunter ist anfangs auch der Schutz des Betroffenen vor der Gruppe nötig (z. B. begleiteter Ausgang).
5.3.2 Elternberatung, Elterntraining
und Problemlösetraining Elternberatung ! Die Elternberatung ist immanenter Bestandteil jeder Therapie des Kindes oder Jugendlichen. Häufig wird die Beratung über das Elternhaus hinaus entweder auf die erweiterte Familie oder auch auf die Institution (Kindergarten, Schule, Ausbildungseinrichtung) ausgedehnt. Außerdem kommt es vor, dass die Elternberatung als niedrigschwelliges Angebot über gewisse Phasen die einzige Interventionsform bei kindlichen und jugendlichen Verhaltensauffälligkeiten darstellt.
Bei der Elternberatung steht im Vordergrund, dass die Bezugspersonen des Kindes bzw. Jugendlichen in die Beratung kommen oder Beratung suchen, also erwachsene Menschen. Diese Personen kommen einmal wegen der Schwierigkeiten, die ihr Kind verursacht, zum anderen aber auch wegen der Schwierigkeiten, die sie selbst im Umgang mit diesem »schwierigen« Kind haben. Das heißt, sie sind mittelbar und unmittelbar Betroffene zugleich. Diesem Umstand muss der Berater Rechnung tragen. Bezogen auf die von uns hier betrachteten Kinder und Jugendlichen stehen immer die beiden Fragen im Mittelpunkt: ▬ Wie ist es zu den Auffälligkeiten bei meinem Kind gekommen? ▬ Wie kann ich damit besser als bisher damit umgehen? Diese beiden Beratungsanlässe sind wesentlich. Von der Ursachenzuschreibung, also davon, was die Eltern selbst als verursachend für die Auffälligkeiten ihres Kindes sehen, hängt auch ab, welche Möglichkeiten der Veränderung sie daraus ableiten (Konsequenzantizipation). Eltern haben i. Allg.
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bevor sie in die Beratung gehen schon selbst mehr oder weniger versucht, das Verhalten des Kindes zu ändern, allerdings mit unzureichendem Erfolg. Das wiederum führt teilweise auch zu Widerständen in der Beratung, weil eine Veränderung, die durch die Beratung ermöglicht wird, ein Schuldeingeständnis für die eigenen unzureichenden Versuche wäre. Allerdings haben Ratsuchende den Wunsch, ihre Schwierigkeiten zu reduzieren und einen bestimmten Sollzustand zu erreichen, der sehr unterschiedlich verbalisiert wird. Dies reicht von »Ich möchte mir die Erziehung erleichtern« bis hin zu »Alles muss ganz anders werden«. Erwartungen der Ratsuchenden an den Berater bzw. die Beraterin sind sehr unterschiedlich. Mitunter wird erwartet, dass der Berater den Beratungserfolg garantiert, ohne dass die beratenen Personen einen eigenen Beitrag leisten. Üblicherweise ist es jedoch so, dass die Eltern Denkanstöße, Handlungsvorschläge usw. erwarten. Die Ratsuchenden sind damit innerhalb des Beratungsprozesses sehr aktive Teilnehmer, die über selbstbestimmte Handlungsfähigkeit verfügen, d. h. sie bleiben als Ratsuchende die Handelnden. Sie werden nicht behandelt. Um sich selbst und sein Handeln zu verändern, muss der Beratene bestimmte Zusammenhänge erkennen und bewerten und natürlich versuchen, sie in konkrete Handlungen umzusetzen. Auf Seiten des Beraters sind zum einen die sog. Basiskompetenzen nach Rogers (1961) wie Empathie, Akzeptanz und Kongruenz wesentlich und zum anderen natürlich die Zusatzkompetenzen für gewisse Zielgruppen und Problemlagen. ▬ Zu Empathie hatten wir an anderer Stelle bereits einige Ausführungen gemacht, sie kann definiert werden, als das Sich-Hineinversetzen in eine andere Person mit dem Ziel, Gedanken und Gefühle dieser Person zu erleben und zu erfahren und zu verstehen. ▬ Akzeptanz bedeutet, das Gegenüber als Person zu achten, unabhängig davon, wie sie sich in konkreten Situationen oder im Augenblick verhält. ▬ Kongruenz bedeutet, dass der Berater fähig ist, sein eigenes Fühlen, Beziehungsverhältnis für sein Gegenüber transparent zu machen, um dadurch in gewisser Weise als Modell zu fungieren.
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Innerhalb des Beratungsgespräches spielt die Beziehung zwischen Ratsuchendem und Berater eine wichtige Rolle. Sie bewegt sich zwischen den beiden Polen Nähe und Distanz. Ebenso wie bei der Therapie ist es wichtig, dass Beratung konkrete Ziele aufstellt und diese Ziele in gewissen Abständen bzw. abschließend auch überprüft. In vielen Fällen ist es jedoch so, dass die alleinige Beratung der Eltern bei verhaltensauffälligen oder gar verhaltensgestörten Kindern oder Jugendlichen bei weitem nicht ausreicht, sondern dass hier das Kind ganz im Vordergrund der Interventionen steht, also behandelt werden muss. Eine Kombination zwischen Behandlung von Eltern und Kindern stellen Elterntrainings und Problemlösetrainings dar, auf die wir im Folgenden näher eingehen wollen. Die Umsetzung von Inhalten der Beratungsgespräche wird häufig durch tradierte negative Kommunikationsmuster behindert (vgl. Döpfner u. Kühn 2002). Die Autoren haben mehrere Arten von Problemverhalten dargestellt und gleichzeitig Verhaltensalternativen aufgezeigt, die den Betroffenen in aller Regel nicht geläufig sind und auch ihren Bezugspersonen weitgehend fehlen. Es geht also um den Abbau des Problemverhaltens und den Aufbau neuer Kommunikationsmuster. Es ist z. B. problematisch, durch Dritte zu sprechen. Es ist sehr viel geschickter, direkt zu der Person zu sprechen, mit der man sprechen will. Es ist für den anderen schwer annehmbar, wenn anklagende, beschuldigende oder beleidigende Aussagen gemacht werden. Hier ist es sehr viel klüger, IchBotschaften zu senden im Sinne von, »ich fühle mich (...), wenn so etwas passiert«, z. B. »Ich fühle mich hilflos, wenn mein Sohn mich im Supermarkt vor allen blamiert, indem er erzwingen will, bestimmte Süßigkeiten aus dem Regal zu kaufen«. Es ist problematisch, wenn man andere abwertet oder beschämt, wenn man sich, mit anderen Worten, dadurch erhöhen will, dass andere erniedrigt werden. Hier ist es als Alternative zu sehen, einen eigenen Anteil am Konflikt zu akzeptieren und wiederum Ich-Botschaften zu senden. Es ist nicht nur ungezogen, sondern auch für den anderen schwer zu ertragen, wenn man ständig unterbrochen wird. Hier kann man zunächst zuhören. Wenn das nicht
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Kapitel 5 · Wie kann man den betroffenen Kindern und ihrer Umwelt helfen?
mehr gelingt, kann man durch Handheben o. a. zeigen, dass man auch sprechen möchte und dann sich aber so kurz fassen, wie man es sich von dem anderen auch wünscht. Es ist ein problematisches Verhalten, wenn alles verallgemeinert wird, wenn extreme, rigide Aussagen gemacht werden, wenn »Katastrophen an die Wand gemalt« werden. Hier ist es sehr viel geschickter, qualifizierte, vorsichtige Aussagen zu machen, zutreffende quantitative Aussagen zu machen, also auch ein Manchmal, ein Eventuell, ein Ungefähr zu akzeptieren und selbst zu benutzen. Es ist schwer erträglich, wenn Eltern oder Erzieher ständig Vorträge halten, die Kinder und Jugendlichen belehren, moralisieren. Hier ist es sehr viel wirkungsvoller, kurze explizite Problemaussagen zu machen wie »ich möchte gerne (…), z. B. (…) dass du dich daran hältst, weil ich es möchte (…)« bei kleineren Kindern. Diskutieren kann man erst mit Größeren oder mit Jugendlichen – und das auch nicht in jeder Umgebung. Es ist unangenehm, einen sarkastischen Tonfall zu benutzen und keinen Blickkontakt zu halten. Ein neutraler Tonfall mit Blickkontakt zu der Person, zu der man spricht, ist eine wirkungsvolle Alternative. Es ist schwer erträglich für das Gegenüber, durch Zappeln, durch hin und her Rutschen auf dem Stuhl, durch wildes Gestikulieren den anderen beeindrucken oder beeinflussen zu wollen. Hier ist eine bessere Vorgehensweise, sich entspannt hinzusetzen, oder sich zumindest für seine Unruhe, wenn diese vorhanden ist, zu entschuldigen. Es ist ungeschickt, im Sinne des »Gedankenlesens« alles vorweg zu nehmen, was den anderen bewegt. Hier ist es geschickter, sich Zeit zum Überlegen zu lassen, manche Dinge zu umschreiben und auch immer wieder auf ihre Gültigkeit zu überprüfen. Es kommt häufig vor, gerade in therapeutischen Gesprächen, dass das eigentliche Kernthema verlassen wird, dass Eltern auf Nebenschauplätze ausweichen oder bereits auf das nächste Konfliktthema kommen. Hier ist es wichtig, dass der Berater es lernt, sich selbst und die zu Beratenden wieder zum Thema zurückzuholen und zu dem definierten Problem zurückzukehren. Brezinka (2002) wertete zahlreiche Studien zur Verhaltenstherapie bei Kindern mit aggressiv-dissozialen Störungen aus. Sie konstatiert, dass sowohl Elterntraining als auch sozial-kognitives
Problemlösetraining für die betroffenen Kinder und Jugendlichen die angestrebten Effekte erzielt, wobei für jüngere Kinder eher das Elterntraining indiziert ist und für ältere Kinder und Jugendliche eher ein Problemlösetraining. Die Behandlung kann laut Brezinka optimiert werden durch fest gefügte Programme, so z. B. zum Elterntraining und auch zum sozialen Problemlösetraining. Da Elterntraining und Problemlösetechniken von allen Experten als die erfolgreichsten Behandlungsstrategien genannt werden, soll nachfolgend verallgemeinernd auf diese eingegangen werden.
Elterntraining ! Elterntrainings zielen darauf ab, die erzieherischen Fähigkeiten und Fertigkeiten bei Eltern psychisch kranker Kinder und Jugendlicher so zu entwickeln, dass diese zur besseren Beobachtung und Beurteilung des kindlichen Verhaltens befähigt werden und darüber hinaus die Interaktionen zwischen Eltern und Kind in erzieherisch und therapeutisch wirksamer Weise die Entwicklung der Heranwachsenden voranbringen. Allgemein geht es darum, die Erziehungskompetenz von Eltern zu verbessern.
Bei Störungen des Sozialverhaltens muss das Training die Eltern dafür sensibilisieren, dass sie das Verhalten möglichst rasch kontextspezifisch erfassen und erklären, um differenziert darauf zu reagieren. Das Elterntraining ist auch eine ökonomische Behandlungsform, da man in einer Trainingsgruppe 4 bis 5 Elternpaare zusammenfassen kann. Der Austausch mit anderen Eltern hat für das einzelne Gruppenmitglied gleichzeitig eine entlastende Funktion (»Ich oder wir sind nicht die einzigen, die ein schwieriges Kind haben«). Das Gruppengeschehen ermöglicht es auch, soziale Lernprozesse intensiv zu erleben. ▬ Wissensvermittlung: Im Elterntraining kommt zunächst der Wissensvermittlung über die verursachenden und aufrechterhaltenden Bedingungen gestörten Sozialverhaltens große Bedeutung zu. Die Eltern müssen begreifen, dass ihr Kind nicht unartig oder böse ist, dass es sie nicht
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ärgern will, sondern dass es eine Störung hat, dass es krank ist und durch sein Verhalten die eigene Entwicklung erheblich gefährdet. In den Diskussionen mit den Eltern arbeitet der Therapeut das individuelle Profil der Verhaltensauffälligkeiten der Kinder und Jugendlichen heraus. ▬ Differenzierungsübungen: Die Sitzungen zur Wissensvermittlung werden durch Übungen zur Differenzierung und Erklärung des Verhaltens anhand von Videoaufnahmen ergänzt. Manche Therapeuten lassen auch ein Gruppenmitglied mit seinem Kind beim Lösen einer Anforderung beobachten, wobei die Gruppe über einen Einwegspiegel das Verhalten beobachten kann bzw. eine Videoaufnahme direkt in den Beobachtungsraum übertragen wird. Im letzteren Fall steht die Aufnahme auch für spätere Analysen noch zur Verfügung. ▬ Bearbeiten familiärer Einflüsse: Bei Störungen des Sozialverhaltens wird intensiv auf Auswirkungen des Modelllernens im normalen Leben eingegangen. Solcherart gestörte Kinder erleben in ihren Familien oftmals viel Streit und bei der Lösung von Konflikten oftmals die Anwendung von Gewalt. Aus diesem Grunde müssen Eltern lernen, dass ein solches Familienmilieu nicht nur eine Belastung für die Eltern selbst und die Familie, sondern insbesondere für das gestörte Kind darstellt, weil diese Kinder das unangepasste Verhalten von ihren Vorbildern (Modellen) als scheinbar effektives, allgemein akzeptiertes Verhalten übernehmen. ▬ Übungen zum Zuhören: Eltern müssen lernen, sich gegenseitig und dem Kind bzw. dem Jugendlichen zuzuhören. Gegenseitiges Zuhören ist Ausdruck des Vertrauens, des Mitempfindens und damit ein Hinweis auf gegenseitige Achtung und Anerkennung. ▬ Erlernen nichtaggressiver Verhaltensalternativen: Solche Eltern müssen selbst lernen, nichtaggressive Verhaltensalternativen zu entdecken und anzuwenden. Der Therapeut wird diesen Lernprozess durch gezielte Übungen (Rollenspiele) unterstützen. Mit dem Suchen, Üben und Praktizieren alternativer Verhaltensweisen erlernen Eltern eine Strategie, die auch für die Betreuung ihrer sozial gestörten Kinder von hoher Effizienz ist.
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▬ Kontrolle von Stimmung und Erregung: Eltern müssen auch lernen, mit eigenen Stimmungsschwankungen und eigener Erregung besser umzugehen. Eine ausgeglichene Stimmung und ein geringes Niveau an Erregbarkeit ermöglichen den Eltern Verhaltensformen, welche die Kommunikation und Interaktion mit sozial gestörten Kindern und Jugendlichen erleichtern, weil deren provokative und verletzende Verhaltensweisen nicht einen Kommunikationspartner treffen, dessen Gefühlslage zur weiteren Eskalation der Verhaltensexzesse beiträgt. Eine ausgeglichene Stimmung wirkt eher beruhigend und ist geeignet, die Kinder und Jugendlichen zum Überdenken alternativer Verhaltensweisen anzuregen. Über die Einbeziehung der progressiven Muskelrelaxation in das Elterntraining lässt sich die eigene emotionale Kontrolle deutlich verbessern. ▬ Umgang mit schwierigen Erziehungssituationen: Auch die Vermittlung von speziellen Problemlösungen für häufig beobachtete Symptome eines Fehlverhaltens sollten von der Elterngruppe gemeinsam mit dem Therapeuten erarbeitet werden: z. B. Wie helfe ich meinem Kind, mit seinen »Wutanfällen« fertig zu werden? oder Wie spreche ich mit meinem Kind über das »Alltagsgeschehen«? (Wie verarbeiten wir Frust und Enttäuschungen?) Eltern können hier zeigen, was sie bei den Übungen im ruhigen Zuhören (»Übungen zum Zuhören«, s. oben) gelernt haben. Es kommt darauf an, die Schilderungen der Kinder nachzuerleben, weil wir nur auf diese Weise ihr Verhalten auch verstehen (was aber nicht billigen heißt) können. Wir müssen abwarten, ob die Kinder von sich aus Alternativen zum eigenen Verhalten anbieten. Bleiben diese aus, müssen wir gemeinsam mit ihnen danach suchen. Eltern sollten die Kinder anregen, sich nochmals in die Situation zu versenken, um gedanklich das alternative Verhalten zu erleben. Auch hier bieten sich Rollenspiele an, um das neue Verhalten zu üben. Brezinka (2002) weist bei der Bewertung von Elterntrainings auch darauf hin, dass die höchste Abbruchrate bei Eltern mit den meisten Risikofaktoren zu verzeichnen ist. Mit anderen Worten:
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Kapitel 5 · Wie kann man den betroffenen Kindern und ihrer Umwelt helfen?
Diejenigen, die eine Behandlung am dringendsten nötig hätten, fallen am häufigsten aus. Dieses Dilemma beweist auch das Beispiel der Absage einer Verlagsmitarbeiterin eines Ratgeberverlages: »Solche Ratgeber finden bei uns so wenig Abnehmer, weil die Zielgruppe, an die es sich richtet, das Buch nicht kauft.« Das heißt, von renommierten Verlagen, die die Thematik gut darstellen würden, kann man aufgrund ökonomischer Zwänge nicht einmal die Verbreitung solcher Literatur erwarten. Was ist zu tun? Wenn die visuellen Medien wie Fernsehen, DVD usw. so stark unser gesellschaftliches Interesse und so stark das Verhalten unserer Kinder beeinflussen wie sie das bisher tun, ist es vielleicht wirklich am zweckmäßigsten, über solche Medien an die Zielgruppe heranzukommen. Inhaltlich wäre es notwendig, um die Kinder weg vom Fernseher und hin z. B. zu sportlichen Betätigungen zu führen, dass die Fernsehidole die Kinder auffordern, den Fernseher auszuschalten und nach draußen zu gehen. Im Zeitalter des interaktiven Fernsehens wären hier sogar konkrete, belohnbare Zielaufträge möglich. Das wiederum erfordert eine gute Zusammenarbeit und ein sich aufeinander Einlassen von Fachleuten und Journalisten. Hier ist noch viel Arbeit zu leisten. Brezinka verweist darauf, dass das Problem von Elterntrainings trotz guter Erfolge zum einen in der hohen Abbruchrate der Eltern mit den meisten Risikofaktoren und zum anderen darin besteht, dass die Kinder trotz ihrer signifikanten Verbesserungen noch immer im klinischen Bereich für aggressives Verhalten bleiben. Serketich und Dumas (1996) konnten in einer Metaanalyse an 26 Studien zum Elterntraining mit aggressiven, oppositionellen und dissozial gestörten Kindern jedoch immerhin eine Effektstärke von 0,86 nachweisen. Das bedeutet, dass die speziellen Elterntrainings zur Therapie von Störungen des Sozialverhaltens i. Allg. gut geeignet sind.
Problemlösetraining Beim Elterntraining handelt es sich um eine indirekte Form der Behandlung von Kindern mit Störungen des Sozialverhaltens, da die Behandlung
der gestörten Kinder nicht durch den Therapeuten, sondern über die Verbesserung der erzieherischen und therapeutischen Fähigkeiten und Fertigkeiten der Eltern geschieht. ! Beim Problemlösetraining erfolgt die Behandlung der Kinder bzw. Jugendlichen direkt, also im unmittelbaren Kontakt mit dem Therapeuten. Dieser Unterschied im Behandlungsansatz verdeutlicht, dass das Elterntraining v. a. zur Behandlung von Vorschul- und jüngeren Schulkindern geeignet ist, während das Problemlösetraining bei Kindern nach dem 10. Lebensjahr und bei Jugendlichen voll zur Geltung kommt. Diese Unterscheidung im therapeutischen Vorgehen ergibt auch Sinn, da wir es im Falle der jüngeren Kinder noch nicht so sehr mit einer Verfestigung der Symptomatik des gestörten Sozialverhaltens zu tun haben wie bei älteren Kindern bzw. Jugendlichen. Dies erfordert auch eine intensivere therapeutische Einflussnahme.
Das Problemlösen wurde von D’Zurilla und Goldfried (1971) auf der Grundlage von Erkenntnissen zur Psychologie des Denkens und der Informationsverarbeitung in die Psychotherapie psychiatrischer Patienten eingeführt und hat seit dieser Zeit eine breite Anwendung und methodische Weiterentwicklung erfahren. Nach D’Zurilla und Goldfried entstehen viele Formen des Fehlverhaltens dadurch, dass der Betroffene in einer Situation handeln muss, für die er über keine effektiven Reaktionsmuster verfügt, so dass das Verhaltern als unangemessen, unangepasst oder gestört zu bewertet ist. Will man diesen Kindern oder Jugendlichen helfen, so sind nach Kanfer, Reinecker und Schmelzer (1996), Hahlweg (1996), Ettrich (1998), Bellingrath (2001) u. a. folgende Schritte im Behandlungsprozess zu beachten: ▬ Erkennen eines Problems (einer Schwierigkeit): Bei Störungen des Sozialverhaltens bereitet den Kindern oder Jugendlichen oftmals schon das Erkennen Schwierigkeiten, dass ein Problem vorliegt. Sie handeln in einer Situation, sie geben sich mit dem Erreichen nahe liegender Ziele (z. B. »Wenn ich X einschüchtere, habe ich meine Ruhe«) zufrieden. Auf Grund
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von Verhaltensbeobachtungen ist es notwendig, sie in der ersten Phase des Problemlösens mit ihrem Fehlverhalten zu konfrontieren, damit die Kinder oder Jugendlichen überhaupt erkennen, dass sie ein Problem haben. Die meisten Jugendlichen verleugnen, dass ihr Verhalten unangemessen ist. Sie gehen Schwierigkeiten aus dem Wege oder wenden Verhaltensmuster an (z. B. andere verbal oder tätlich anzugreifen), die sie schon oft ausgeübt haben und die ihnen erfahrungsgemäß raschen Erfolg sichern. Selbst wenn sie ein zwischenmenschliches Problem erkennen, weisen sie die eigene Verantwortung dafür zurück und machen andere dafür verantwortlich. In dieser Phase der Behandlung muss es unser Ziel sein, ihnen ihre Emotionen sowie die Begrenztheit ihres Verhaltensrepertoires und die negativen Folgen daraus zu verdeutlichen. ▬ Analysieren, unter welchen Bedingungen das Problem auftritt: Gemeinsam mit den Betroffenen (unter Einbeziehung der Informationen von Eltern, Lehrern und Mitschülern) müssen die Formen und Bedingungen des Fehlverhaltens detailliert analysiert werden. Es geht hier v. a. um die Erfassung von Alltagssituationen, die schnell zu einem Konflikt eskalieren. Die Gefühle von Angst, Zurücksetzung, Zorn und Wut, die dabei entstehen, sollten ebenso herausgearbeitet werden wie die Gewinne und Verluste, die durch aggressives Verhalten entstehen. Durch Rollenspiele, Übungen und Hausaufgaben sind die Betroffenen zur Selbstbeobachtung anzuhalten. ▬ Alternative Handlungsmöglichkeiten sammeln, diskutieren und üben: Da es sich bei Störungen des Sozialverhaltens v. a. um impulsgesteuertes Verhalten handelt, wird oftmals von den Kindern oder Jugendlichen das Unterlassen des Verhaltensexzesses als einzige Handlungsalternative angeboten. Dies sollte zunächst auch akzeptiert werden. Aus diesem Vorschlag sind das Handlungsziel und die damit verbundenen positiven Konsequenzen des Verhaltens herauszuarbeiten. In der Behandlung sollten wir uns aber damit nicht zufrieden geben, sondern die Kinder oder Jugendlichen zum Benennen weiterer Handlungsmöglichkeiten
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anregen. Diese sollte man zunächst ohne Bewertung notieren, um sie dann mit den Betroffenen zu diskutieren. Dabei sollten die Kinder bzw. Jugendlichen zu Bewertungen der eigenen Vorschläge unter den Aspekten »niemand wird von mir verletzt oder benachteiligt« und »mein Verhalten ist für andere akzeptabel« angeregt werden. Die verbale Auseinandersetzung mit dem Problemverhalten ist jedoch für eine Verhaltensänderung meist nicht ausreichend, so dass die erarbeiteten prosozialen Verhaltensmuster z. B. durch Rollenspiele (vgl. Petermann u. Petermann 2001) geübt werden müssen. ▬ Beste Verhaltensmöglichkeit auswählen und auf ihre Durchführbarkeit überprüfen: Der nächste Schritt im Problemlösetraining besteht darin, die beste Verhaltensmöglichkeit aus dem Pool der erarbeiteten Verhaltensalternativen auszuwählen und auf ihre Durchführbarkeit zu überprüfen. Insbesondere sollten nochmals die erwarteten kurz- und langfristigen Konsequenzen herausgestellt werden (kurzfristig z. B. »ich habe keinen Ärger mit meinen Eltern«; langfristig z. B. »meine Beziehungen zu anderen verbessern sich«). Zur Automatisierung des erwünschen Verhaltens sind auch in dieser Phase des Problemlösens Übungen erforderlich. ▬ Realisierung des Verhaltens und Überprüfung des Erfolges, Selbstbelohnung von Erfolg und Fremdbekräftigung durch Lob und Anerkennung: Die Ausführung des Verhaltens
im Rollenspiel dient dem Erreichen des therapeutischen Zieles, die Ausführung in der Realität stellt die Nagelprobe für den individuellen Erfolg des Trainings dar. Da dies i. Allg. außerhalb des therapeutischen Settings geschieht, ist es wichtig, dass der Betroffene bereits in den Übungssituationen lernt, die Ausführung seines Verhaltens zu bewerten und sich für zieladäquates Verhalten auch zu loben (z. B.: »Gut gemacht!«, »War schon besser als erwartet, das nächste Mal mache ich es noch besser«). Auch sollten Eltern, Lehrer und der Therapeut die miterlebte oder berichtete Ausführung durch Fremdbekräftigung belohnen. Die Vereinbarung von Tokens zur Fremdbekräftigung und zur Motivierung des prosozialen Verhaltens ist hier sehr nützlich.
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Kapitel 5 · Wie kann man den betroffenen Kindern und ihrer Umwelt helfen?
Wenn wir das Vorgehen des Problemlösetrainings beim gestörten Sozialverhalten überdenken, so fällt auf, dass das Vorgehen darauf abzielt, impulsgesteuertes Verhalten zu reduzieren und durch reflektiertes zu ersetzen. Nach Weisz et al. (1987, 1995) ist die Effektivität von Problemlösetrainings je nach ihrer konkreten Umsetzung in spezifischen Trainingsprogrammen sehr differenziert einzuschätzen. In die Metaanalyse von 1987 wurden 17 Untersuchungen an Patienten mit sozialen Verhaltensstörungen einbezogen. Es ergab sich eine durchschnittliche Effektstärke von 0,75, was für einen guten bis befriedigenden Behandlungserfolg spricht. In der Analyse von 1995 an 11 Untersuchungen war nur ein mäßiger Behandlungserfolg bei einer Effektstärke von 0,34 zu verzeichnen. Das sollte uns – auch wenn wir die einzelnen Studien nicht kennen – insofern zu denken geben, als im 10-Jahresabstand die Methoden offenbar weniger greifen. Der Behandlungserfolg des Problemlösetrainings wird beispielsweise durch die Einbeziehung von Entspannungsverfahren, Methoden der Ärgerkontrolle und die Kombination von Problemlösen und Elterntraining deutlich verbessert. Esser (2003) nennt als aussichtsreiche Therapieverfahren das Training von Problemlöseverhalten, das Elterntraining, die funktionelle Familientherapie, die multisystemische Therapie und eine Kombinationsbehandlung aus diesen Therapieformen. Wichtig erscheint auch die Anmerkung des genannten Autors: »Die Behandlung in Gruppen, die sich ausschließlich aus Kindern und Jugendlichen mit einer Störung des Sozialverhaltens zusammensetzen, kann die Symptomatik verschlimmern und ist deshalb kontraindiziert.« (S. 208)
5.3.3 Verhaltenstherapie Da es sich in unserem Buch um Kinder und Jugendliche mit Verhaltensstörungen handelt, ist die Verhaltenstherapie unter den therapeutischen Möglichkeiten das Mittel der Wahl und nimmt demzufolge einen breiten Raum ein. Selbstverständlich sind Elternberatung, Elterntraining und
Problemlösetraining, die wir im vorangehenden Abschnitt behandelt haben, bereits verhaltenstherapeutisch orientiert. Nachfolgend soll es jedoch um verhaltenstherapeutisches Vorgehen im engeren Sinne sowie um die Darstellung standardisierter verhaltenstherapeutischer Programme gehen.
Grundsätze und Grundbegriffe der Verhaltenstherapie Die Kinder- und Jugendlichenverhaltenstherapie ist eine vergleichsweise junge Fachdisziplin, auch wenn ihre Vorläufer bis in die Anfänge des 20. Jahrhunderts zurückreichen. Verhaltenstherapie im Kindes- und Jugendalter ist problem- und zielorientiert. Sie fußt ebenso wie die Verhaltenstherapie insgesamt auf den Lerngesetzen (klassisches Konditionieren, operantes Konditionieren, Modelllernen usw.), den Erkenntnissen der Entwicklungspsychologie und der Entwicklungspsychopathologie. Die Verhaltenstherapie geht davon aus, dass Fehlverhalten fehlerhaft gelerntes Verhalten ist, das durch ein Um- und Neulernen korrigiert werden kann. Verhaltenstherapie im Kindes- und Jugendalter ist nicht nur problem- und zielorientiert, sondern natürlich auch handlungsorientiert. Es reicht nicht aus, Einsicht in die Fehlverhaltensweisen und ihre Entstehung zu erlangen, sondern es kommt auf die aktive Veränderung und Besserung des Verhaltens an. Dabei ist es immer wichtig, dass in der therapeutischen Situation geübte Strategien den Transfer in die jeweils andere Situation z. B. Elternhaus oder Schule, bestehen. Die Kinder und Jugendlichen müssen also lernen, ihre gelernten Verhaltensweisen situationsübergreifend einzusetzen. Verhaltenstherapie im Kindes- und Jugendalter sollte besonders offen und transparent sein und die Eigenverantwortlichkeit des Patienten und seiner Familie schrittweise erhöhen. Damit wird einerseits die Motivation der betreffenden Personen verbessert, andererseits ist es eine Hilfe zur Selbsthilfe in ähnlichen Situationen. Wir wollen im Folgenden kurz skizzieren, was unter den gebräuchlichen verhaltenstherapeutischen Wortmarken zu verstehen ist, und auf die wesentlichen Lerngesetze (klassisches Konditionieren, operantes Konditionieren, Modelllernen, kognitives Paradigma) eingehen.
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> Definition Unter klassischem Konditionieren verstehen wir die Verknüpfung eines nicht ursprünglichen Reizes mit einer Reaktion, die eigentlich auf den ursprünglichen Reiz erfolgt.
Ein Beispiel für klassisches Konditionieren ist: Der Hund bekommt Futter angeboten, daraufhin setzt sein Speichelfluss ein. Dies Angebot an Futter wird kombiniert mit dem Ertönen einer Glocke. Der Hund reagiert auf beide Reize mit Speichelfluss, auf den ursprünglichen (primären) und den nicht ursprünglichen (sekundären). Allmählich wird der primäre Reiz ausgeblendet und der Hund ist bereit, auch auf den sekundären Reiz, nämlich die Glocke, mit Speichelfluss zu reagieren. Die folgenden Beispiele stammen aus der Kindererziehung: Eine ganze Reihe von Verhaltensweisen werden durch solche Reiz-Reaktions-Kopplungen gelernt, ohne dass die Kinder besondere Anstrengungen unternehmen müssen. Wir nennen z. B. dem Kind Farben und stellen durch das gleichzeitige Benennen eines typischen Trägers dieses Farbmerkmals eine dauerhafte Assoziation her (das Gras ist grün). Auf gleichem Weg erlernt aber ein Kind auch, dass es besser ein Verhalten unterlässt. Wenn wir sehen, dass ein kleines Kind in eine Kerzenflamme fassen will, warnen wir mit »heiß« und dem Hinweis auf die drohenden Schmerzen. Das Explorationsverhalten der Kinder ist oftmals so stark, dass sie unsere Warnung ignorieren. Die Erfahrung, die sie nun machen müssen, führt zu einer dauerhaften Assoziation von Kerzenflamme und Schmerz. > Definition Das operante Konditionieren geht davon aus, dass die Auftrittswahrscheinlichkeit eines bestimmten Verhaltens durch die darauf folgenden Konsequenzen (Verstärker) verändert wird (Lernen durch Verhaltenskonsequenzen).
Dieses operante Konditionieren, die operanten Methoden werden ganz bevorzugt beim Abbau von Problemverhalten und Aufbau erwünschten Verhaltens eingesetzt. Als Verstärker können die sog. materiellen Verstärker und sozialen Verstärker sowie auch Selbstverstärker und komplexe Verstärkersysteme wirken. Es wird außerdem in primäre und sekundäre Verstärker unterschieden.
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> Definition Unter primären Verstärkern verstehen wir die Befriedigung elementarer Bedürfnisse, z. B. nach Nahrung, Wohnung usw. Unter sekundären Verstärkern ist die Befriedigung höherer Bedürfnisse, wie z. B. nach Kenntniserwerb zu verstehen.
Während die Darbietung positiver Verstärker und die Ausblendung negativer Verstärker die Auftrittswahrscheinlichkeit eines erwünschten Verhaltens steigert, bewirkt der Entzug von positiven Verstärkern oder die Bestrafung die abfallende Auftrittswahrscheinlichkeit eines bestimmten Verhaltens. Diese Paradigmen werden in der Verhaltenstherapie vorzugsweise genutzt, indem bestimmte operante Methoden zum Aufbau von gewünschtem und Abbau unerwünschten Verhaltens eingesetzt werden. Schauen wir uns nun im Beispiel an, wie das operante Konditionieren bei Störungen des Sozialverhaltens therapeutisch genutzt wird: Gerade bei sozialen Verhaltensstörungen haben sich die Techniken des operanten Konditionierens mit ihren grundlegenden Parametern Verstärkung, Bestrafung, Stimuluskontrolle und Token-Economy (Verstärkerprogramme), Kontingenzverträgen, Time out und positivere Zuwendung durch-
gesetzt. So ist es z. B. dem verhaltensgestörten Kind möglich, durch angemessenes Verhalten eine positive Verstärkung zu erfahren, indem es sich sog. Tokens verdient, die dann in von dem Kind selbst gewählte Verstärker eingetauscht werden können. ! Die eingesetzten Verstärker sind dabei umso erfolgreicher, je näher sie den Wünschen des Kindes kommen und je angemessener sie dem gezeigten Verhalten sind.
Grundsätzlich ist festzuhalten, dass ein Kind sehr viel mehr von sozialen als von materiellen Verstärkern profitiert. Die Methode des Token-Economy kann gleichzeitig kombiniert werden mit der Methode des Response cost, d. h. einmal erworbene Verstärker müssen vom Kind bei Fehlverhaltensweisen wieder zurückgegeben werden. Die genannten verhaltenstherapeutischen Methoden haben sich sowohl in der Schule als auch in Heimen und psychiatrischen Stationen bewährt. Sie sind Bestandteil komplexer Trainingsprogramme
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Kapitel 5 · Wie kann man den betroffenen Kindern und ihrer Umwelt helfen?
(vgl. Döpfner 1997; Ettrich 1998). Auch neueste Therapiestudien konnten die Wirksamkeit der entsprechenden verhaltenstherapeutischen Ansätze bestätigen. Im Elternhaus sind Methoden und Elemente der Verhaltenstherapie in der Erziehung der Kinder und Jugendlichen ebenfalls sehr gut einsetzbar. Eltern können dazu gezielt geschult werden (Verhaltenstraining für Eltern). Kern dieses Trainings ist es, ▬ dass die Eltern für ihr Kind transparent handeln, ▬ dass sie entwicklungsangemessene Forderungen an das Kind stellen und ▬ dass sie die Erfüllung dieser Forderungen auch konsequent kontrollieren und positiv oder negativ sanktionieren. Auch in die Familientherapie werden Ansätze des operanten Konditionierens integriert, aber auch andere verhaltenstherapeutische Methoden wie das Modelllernen. Eine weitere wichtige Rolle in der verhaltenstherapeutischen Behandlung von Störungen des Sozialverhaltens, insbesondere externalisierenden Störungen, spielen kognitive Ansätze, da wir es hier (meist auch) mit Defiziten im kognitiven Bereich zu tun haben. Diese Bemühungen gehen besonders auf Bandura und Ross (1961) zurück. Es kommen Methoden des inneren Sprechens (Meichenbaum 1979) zum Tragen, weil z. B. durch die von Meichenbaum inaugurierte Methode des inneren Monologs auch die innere Instruktion, also Selbstinstruktion, verbessert wird und sich dadurch die Selbstregulation des betreffenden Kindes oder Jugendlichen bessert. Lauth und Schlottke (1997) haben diese Methoden besonders in ihr Programm zur Behandlung von ADHS-Kindern aufgenommen, ebenso sind sie immanenter Bestandteil eines von uns selbst herausgegebenen Konzentrationstrainingsprogramms (Ettrich 1998). Da das aggressive, das externalisierende Verhalten häufig und besonders auf fehlerhaften Wahrnehmungen der Umwelt beruht, ist es sehr wichtig, die Wahrnehmung zu schulen und prosoziale Verhaltensweisen zu trainieren. Das kommt bei den Programmen von Petermann und Petermann (1997) zum Tragen. Außerdem ist es wichtig, gerade bei aggressiven und delinquent handelnden Jugendlichen Metho-
den der Stressimpfung einzusetzen, da hier bereits eine neutrale Umwelt häufig als bedrohlich und feindselig erlebt wird. Unter Stressimpfung verstehen wir eine Technik der Selbstverbalisation zur Bewältigung von Stress-, Angst- und Schmerzreaktionen durch Vermittlung von Informationen, durch Problemanalyse und Analyse der inneren Monologe, durch Vermittlung und Übung angemessener Selbstverbalisierungen und durch Erprobung in Rollenspielen und Anwendung im Alltag. Auch die Methode der systematischen Desensibilisierung spielt als verhaltenstherapeutischer Ansatz in der Behandlung von Sozialverhaltensstörungen eine wichtige Rolle. > Definition Das Verfahren der systematischen Desensibilisierung beruht auf der Grundlage, dass Entspannung und Anspannung einander ausschließen. Stadien der Angstentwicklung können durch Induktion entspannender Stadien gemildert bzw. habitualisiert werden. Klassischerweise besteht die systematische Desensibilisierung aus den 3 Bestandteilen ▬ Entspannungsverfahren, ▬ Angsthierarchie und ▬ Darbietung der einzelnen Stufen der Angsthierarchie mit jeweiliger Rücknahme in der Entspannung.
Als Entspannungsverfahren hat sich für Kinder die progressive Muskelrelaxation nach Jacobson durchgesetzt. Besonders bei Patienten mit geringer Therapiemotivation war sie dem autogenen Training überlegen. Die Ergebnisse einer von uns betreuten Qualifikationsarbeit (Hochmuth 1988) sprechen dafür, dass die progressive Muskelrelaxation dem autogenen Training gerade im Kindesund Jugendalter überlegen ist und über diesen Weg sich außerdem Väter besser in die Therapie integrieren lassen. Die Angsthierarchie sollte akribisch mit dem Patienten gemeinsam erstellt werden. Es sollten die einzelnen Stufen der qualitativen und quantitativen Angstzunahme sauber herausgearbeitet werden, nach Möglichkeit in den 3 wesentlichen Bereichen, in denen sich Angst manifestiert, und zwar auf der physiologischen, der kognitiven und
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der Verhaltensebene. Auf Einzelheiten der systematischen Desensibilisierung kann in diesem Buch nicht näher eingegangen werden (vgl. Ettrich et al. 1983). Auch durch Konfrontation kann die Wahrnehmung bestimmter bedrohlicher Reize verändert werden. Damit wird die Möglichkeit des Aufbaus neuer Verhaltensmuster geschaffen. Wichtig ist hierbei ganz grob gesagt, dass der Betroffene lernt, die Angst machende, die bedrohliche Situation eine gewisse Zeit lang unter therapeutischer Begleitung auszuhalten. Darüber wird eine gewisse Gewöhnung an die Angst auslösende Situation mit Rückgang der entsprechenden psychophysiologischen Erregung erreicht. Die kognitive Umstrukturierung, eine weitere Technik der Verhaltenstherapie, bezieht sich auf Einstellungen, Erwartungen, Attributionen und automatische Gedanken und versucht über deren Veränderung die psychischen Probleme zu lösen. Das geht zurück auf die rational-emotive Therapie nach Ellis (1978), in deren Zentrum irrationale Überzeugungen als Ursache psychischer Störungen stehen. Die Patienten lernen in der Therapie diese irrationalen Überzeugungen zu relativieren oder durch rationalere zu ersetzen. Komplexere Programme, die auf diesen Techniken aufbauen und mehrere dieser Techniken vereinigen, sind z. B. das Elterntraining oder das Problemlösetraining für die Jugendlichen.
Trainingsprogramme Viele Störungsbilder der Kinder- und Jugendpsychiatrie sind so häufig, dass es sich lohnt, dafür spezifische standardisierte und evaluierte Behandlungsprogramme zu entwickeln. Ferner sind an der Behandlung und Betreuung dieser Kinder und Jugendlichen neben psychotherapeutisch ausgebildeten Psychologen und Kinder- und Jugendpsychiatern auch immer Eltern, Lehrer und Erzieher, Förderpädagogen, Sozialarbeiter und Mitarbeiter von Jugendämtern beteiligt, die keine spezielle psychotherapeutische Ausbildung haben, auf deren Mitarbeit, Hilfe und Unterstützung aber nicht verzichtet werden kann. Man kann sie über die Einbeziehung und Befähigung zur selbstständigen Durchführung standardisierter evaluierter Behandlungsprogramme zu effektiver »Therapie« befähigen.
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Solche Behandlungsprogramme, die sowohl bei Kindern mit ADHS als auch Kindern mit SSV und SOT angewendet werden können, sind die nachfolgend zu besprechenden KonzentrationstrainingsProgramme für Kinder im Vorschulalter, für Schüler der 1. und 2. Klasse und für Schüler der 3. und 4. Klasse (Ettrich 1998). Mit diesen Programmen verfügen wir über eine früh einsetzbare, breit anwendbare und effektive Behandlungsmethode.
Konzentrationstrainingsprogramme Therapeutische Ziele Bei den von uns vorgelegten Konzentrationstrainingsprogrammen geht es nicht nur um die Verbesserung konzentrativen Arbeitens in der Schule. Das therapeutische Ziel ein viel umfassenderes: Es geht darum, Fähigkeiten und Verhaltensweisen zu entwickeln und zu trainieren, die zur Verbesserung des allgemeinen Verhaltens, letztlich des allgemeinen Lebensstils in allen Lebenssituationen beitragen können. ▬ Das vordringliche Ziel besteht darin, impulsives, ungesteuertes Verhalten abzubauen und einen reflexiven, überlegten Arbeitsstil aufzubauen. Die Kinder werden zunächst besonnener und damit langsamer, bis sich der neue Arbeitsstil automatisiert hat. ▬ Durch die Koordination von Wahrnehmungen und bewusster Handlungsausführung wird die motorische Steuerungsfähigkeit der Kinder verbessert. ▬ Es geht darum, zu erkennen, dass nicht nur das, was Spaß und Freude macht, im Leben wichtig ist, sondern auch fremd gestellten Aufgaben verantwortungsbewusst und in guter Qualität erledigt werden müssen. Dies erleichtert das Zusammenleben mit anderen und ist auch für die eigene Entwicklung vorteilhaft. ▬ Im Training geht es weniger um die effektive Lösung von Aufgaben, sie sind nur das Vehikel der Arbeit mit dem Kind, sondern um die normative Formung des kindlichen Verhaltens. In Trainerschulungen wird immer wieder deutlich, dass dieser Aspekt von den Anwendern nicht von vornherein klar genug erkannt wird. ▬ Es soll ein effektives Problemlöseverhalten verinnerlicht werden, das universell vom Kind
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Kapitel 5 · Wie kann man den betroffenen Kindern und ihrer Umwelt helfen?
auch außerhalb des Trainings angewendet werden kann. ▬ Das Training zielt außerdem darauf ab, die Antizipation des eigenen realen Leistungsvermögens des Kindes zu verbessern und das Kind zu angemessenen Selbstbewertungen der eigenen Leistung und der eigenen Leistungsprodukte zu befähigen.
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Aufbau des Trainings Das Konzentrationstrainingsprogramm nimmt Rücksicht auf die kindliche Leistungsfähigkeit. Aus diesem Grunde wurden die oben erwähnten Altersgruppen in seinem Aufbau berücksichtigt. Das Programm jeder Altersgruppe umfasst 20 Trainingseinheiten à 35 min (Vorschulalter) bzw. 45 min (Grundschulalter). ▬ Entsprechend dem pädagogischen Prinzip »vom Leichten zum Schweren« werden anfangs 3, später 2 Aufgaben pro Trainingseinheit durchgeführt. Die Anforderungen an konzentratives Arbeiten steigen im Trainingsverlauf an. ▬ Der Schwierigkeitsgrad des intellektuellen Anforderungsniveaus bleibt i. Allg. unter den Möglichkeiten des betreffenden Kindes. Bei lernbehinderten Kindern empfiehlt es sich, das Training mit einem Programm für jüngere Kinder durchzuführen. ▬ Für diejenigen, die das Programm anwenden wollen, ist eine vorausgehende Trainerschulung zu empfehlen. Wenn Eltern das Konzentrationstrainingsprogramm selbst durchführen wollen, empfiehlt sich die vorherige Beratung mit einem Therapeuten, um individuelle Schwerpunkte festzulegen und initiale Fragen zu klären. Auch während der Durchführung des Trainings durch Eltern ist die Möglichkeit des regelmäßigen Kontakts mit einem Therapeuten zu gewährleisten. ▬ Auch wenn das Training von einem erfahrenen Therapeuten durchgeführt wird, sind Absprachen zwischen Kind, Eltern, Lehrer und Therapeuten vor, während und nach dem Training zur Absicherung der erreichten Verhaltensänderungen dringend erforderlich. Besonders zu Beginn sind Lehrer auf das vorübergehend langsamere Arbeitstempo des betreffenden Schülers hinzuweisen.
▬ Der Kontakt zu allen Beteiligten ist insbesondere für die Zwischenauswertung und Endauswertung erforderlich, da z. B. auch Lehrer, die am Training selbst nicht beteiligt sind, für das Kind, für die Eltern und Trainer Indikatoren für Verhaltensänderungen sind. ▬ Die Trainingsgruppen sind auf maximal 4 Kinder zu begrenzen, damit der Trainer diese schwierigen Kinder auch noch handhaben kann. Bei sehr unruhigen Kindern ist es zweckmäßig, das Training mit 2 oder 3 Einzelsitzungen zu beginnen, um dann sukzessiv die Gruppe aufzubauen. Inhaltliche Gestaltung der Trainingsaufgaben Die Aufgaben stellen Anforderungen an unterschiedliche Sinnesbereiche, vgl. ⊡ Tab. 5.4. Zum Repertoire gehören Suchbilder (⊡ Abb. 5.4), Perlenfädeln (große und kleine Perlen, Auffädeln mit offenen und verbundenen Augen), Labyrinthe, Durchstreich- und Ergänzungsübungen, Bildvergleiche (⊡ Abb. 5.5), Gedächtnisübungen (z. B. Kofferpacken, Einkaufen gehen, Memory), Puzzlespiele und im Schulalter Kopfrechnen (⊡ Abb. 5.6). In den ersten Trainingsstunden wird zum Erwerb einer adäquaten Arbeitshaltung wiederholt auf denselben Aufgabentyp unter Variation von Einzelmerkmalen zurückgegriffen. Alle Instruktionen im Konzentrationstrainingsprogramm zielen vorwiegend auf die Qualität der Arbeit ab. Alle Zeitvorgaben sind stets so bemessen, dass die Kinder ohne Zeit- und Leistungsdruck arbeiten können.
⊡ Tab. 5.4. Typen von Beispielaufgaben aus dem Trainingsprogramm Durchstreichaufgaben
Töne erkennen
Sortieraufgaben
Merkfähigkeits- und Gedächtnisübungen
Perlen fädeln
Unterschiede und Gemeinsamkeiten finden
Tastsäckchen
Kodier- und Dekodieraufgaben
Geräusche orten
Übungen zur Selbsteinschätzung Wechsel von Trainer- und Trainiertenrolle
197 5.3 · Therapeutische Hilfen
⊡ Abb. 5.4. Durchstreichaufgabe (aus dem 18. Tag des Programms für Vorschulkinder; Ettrich 2004)
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⊡ Abb. 5.5. Bestimmung von Ordinal- und Kardinalzahlen (aus dem 8. Tag des Programms für die 1. und 2. Klasse; Ettrich 2004)
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⊡ Abb. 5.6. Rechnen mit Zahlensymbolen (aus dem 20. Tag des Programms für die 3. und 4. Klasse; Ettrich 2004)
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Kapitel 5 · Wie kann man den betroffenen Kindern und ihrer Umwelt helfen?
Modellfunktion der Übungen Grundsätzlich sind die im Programm enthaltenen Übungsaufgaben lediglich als Modell anzusehen, an denen die Kinder einen angemessenen Arbeitsstil erlernen können. Es geht nicht darum, besonders schnelle und perfekte Lösungen zu erzielen, sondern vielmehr darum, anhand vorgelegter konkreter Aufgaben die systematische Abfolge und die sinnvolle Integration der einzelnen Lösungsschritte zu erkennen und zu üben.
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Grundregeln für die Durchführung des Konzentrationstrainingsprogramms Das Training findet in einer entspannten, spielerischen Atmosphäre der emotionalen Zuwendung und des einfühlenden Verstehens statt. ▬ In jeder Trainingsstunde wird auf wechselnde Phasen von Anspannung und Entspannung geachtet, um Überforderung und Ablenkung zu vermeiden. ▬ Am Anfang des Trainings sind die Übungsphasen kurz, sie werden allmählich länger und lassen einen ansteigenden Schwierigkeitsgrad hinsichtlich Monotonie erkennen. Der Schwierigkeitsgrad wird auch dadurch erhöht, dass es für die Antworten anfangs keine Zeitbegrenzung, aber auch nachträglich keine Möglichkeit der Berichtigung gibt, d. h., die erste Lösung gilt. ▬ Die verwendeten Aufgaben stellen keine besonderen Anforderungen an die intellektuellen Fähigkeiten der Kinder. Die verwendeten Arbeitsmaterialien sind für die meisten Kinder attraktiv. ▬ Beständig werden die Kinder zum inneren Monolog aufgefordert (zur Selbstverbalisation, zur Selbstinstruktion). ▬ Die Kinder werden befähigt, ihre Fehler mit Hilfe selbst zu finden und zu korrigieren. ▬ Im Training werden Lob und Ermutigung (positive Verstärkung) gezielt zum Verhaltensaufbau eingesetzt. Ungeduld und Tadel sind aus dem Training verbannt. ▬ Durch besondere Beachtung prosozialer Verhaltensweisen wird die Integration der Kinder in eine (Klein-)Gruppe gefördert. ▬ Die Kinder werden zur Generalisierung der gelernten Fähigkeiten außerhalb des Trainings
angehalten. So wird zunehmend ihre Unabhängigkeit vom Trainer gefördert. ▬ Die Kinder werden zur Vorabfestlegung des eigenen individuellen Trainingszieles (Punkte für die Trainingseinheit, Gesamtpunkte) mit ständig begleitender Selbsteinschätzung angehalten. Durch den Vergleich mit dem objektiv erreichten Ziel (Training der Selbstwahrnehmung) wird die Fähigkeit zur Selbstbewertung und Selbstkontrolle geübt (⊡ Tab. 5.5). ▬ Durch den gegen Ende des Konzentrationstrainingsprogramms (KTP) möglichen Rollentausch von Trainer und Trainiertem werden Wahrnehmung und Verständnis für das Gegenüber trainiert. Therapeutische Prinzipien Ausgangspunkt des therapeutischen Vorgehens sind verhaltenstherapeutische Grundüberlegungen, die darauf abzielen, die Reduktion inadäquaten mit gleichzeitigem Aufbau adäquaten Verhaltens zu kombinieren. Aus diesem Grund ist die Erklärung einiger verhaltenstherapeutischer Fachtermini notwendig: ! Therapeut-Kind-Beziehung Tragende Grundlage der Beziehung zum Kind sind mitmenschliche Wärme, Annehmen des Kindes, wie es ist, Erkennen von Gefühlen des Kindes, Förderung von Gefühlsäußerungen beim Kind und Reflexion von Gefühlen. Darüber hinaus sind als spezifische Elemente der Therapeut-Kind-Beziehung bei verhaltensformenden Techniken wie dem KTP anzusehen: gemeinsame Bestimmung von Lernzielen, Vermittlung spezifischer Verhaltensmuster, Anregung einer eigenständigen Verhaltenskontrolle, konsequente Produktion von Modellverhalten.
Die Beziehungen zwischen dem Therapeuten und den Kindern sollten freundlich und wohlwollend, jedoch vorrangig sachlich und nicht zu sehr persönlich orientiert sein. Ziel der Übungen ist es, konzentrative Leistungen und Sozialverhalten zu verbessern und damit vom Kind auch Leistungen zu fordern. Dies kann nicht in einer autoritätsaufgelösten, vorwiegend emotionalen Atmosphäre geschehen. Besonders in späteren Trainingsabschnit-
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5
⊡ Tab. 5.5. Punktetabelle als Beispiel für ein Token-Programm. (Ettrich 2004) Aufgabe A
Aufgabe B
Aufgabe C
Summe
1. Tag
(4)
(3)
(3)
(10)
2. Tag
(4)
(2)
(4)
(10)
3. Tag
(3)
(3)
(4)
(10)
4. Tag
(4)
(3)
(3)
(10)
5. Tag
(4)
(2)
(4)
(10)
6. Tag
(5)
(2)
(3)
(10)
7. Tag
(3)
(3)
(4)
(10)
8. Tag
(4)
(3)
(3)
(10)
9. Tag
(3)
(4)
(3)
(10)
10. Tag
(4)
(4)
(2)
(10)
Summe 1.-10. Tag
(38)
(29)
(33)
(100)
11. Tag
(3)
(4)
(3)
(10)
12. Tag
(3)
(4)
(3)
(10)
13. Tag
(3)
(3)
(4)
14. Tag
(7)
(3)
(10)
15. Tag
(5)
(5)
(10)
16. Tag
(5)
(5)
(10)
17. Tag
(7)
(3)
(10)
18. Tag
(5)
(5)
(10)
19. Tag
(6)
(4)
(10)
20. Tag
(8)
(2)
(10)
Summe 11.-20. Tag
(52)
(38)
(10)
(100)
Summe 1.-20. Tag
(90)
(67)
(43)
(200)
(10)
[In Klammern steht jeweils die Höchstpunktzahl pro Aufgabe und Tag]
ten, in denen kritische Hinweise an Bedeutung zunehmen, führt ein übermäßig stark emotional geprägtes Klima bei den Kindern zu Schwierigkeiten, kritische Hinweise und Misserfolge verarbeiten zu können. Fehler bei der Aufgabenlösung sollten vom Trainer nicht bagatellisiert, sondern gemeinsam mit den Kindern deren Ursachen herausgearbeitet werden. Sie haben die Funktion von Lernmöglichkeiten für erfolgreicheres Arbeiten. Der Fehlerkorrektur kommt deshalb eine besondere Bedeutung
zu, was auch bei der zeitlichen Planung zu berücksichtigen ist. Kritische Hinweise müssen stets sachbezogen bleiben und dürfen nicht einen moralisierenden Charakter annehmen. Gerade konzentrationsgestörte und verhaltensgestörte Kinder sind aufgrund ihrer Anamnese besonders empfindsam und erleben oftmals auch sachliche Kritik als persönlichen Tadel. Ein formales Registrieren des Fehlers regt das Kind eher zum Nachdenken an als eine moralisierende Auswertung.
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Kapitel 5 · Wie kann man den betroffenen Kindern und ihrer Umwelt helfen?
> Definition Modelllernen Aneignung neuer Verhaltensweisen über die Beobachtung des Verhaltens anderer und der Konsequenzen, die diesem Verhalten folgen. Die Wirksamkeit des Modelllernens in der Psychotherapie wird von der Identifikationsbereitschaft des Kindes mit dem Modell stark beeinflusst.
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Der Trainer muss immer daran denken, dass Kinder allein durch Beobachtung neue Verhaltensweisen erlernen können. Aus diesem Grund kommt dem Trainer eine Vorbildfunktion zu. Er muss deshalb immer bei der Sache sein und sich voll auf die Bewältigung der Trainingsstunde konzentrieren. Er kann keinesfalls in dieser Zeit ein anderes Problem durchdenken oder sich mit Verhaltensweisen des Kindes außerhalb des Trainings beschäftigen. Nur wenn wir selbstgesteuert und konzentriert arbeiten, können die Kinder erkennen, dass die Übernahme des Verhaltens des Trainers auch ihnen Erfolg garantiert. > Definition Positive Verstärkung
sei der Willkür des Trainers überlassen, was zum Aufbau emotionaler Spannungen führen würde. > Definition Entzug positiver Verstärker Rücknahme positiver Verstärker durch den Therapeuten (z. B. Rückgabe von Punkten, über die das Kind bereits verfügt). Diese Technik sollte sehr vorsichtig gehandhabt werden.
Der Entzug positiver Verstärker, also die Rücknahme von bereits erarbeiteten Punkten, wird von den Kindern als indirekte Bestrafung erlebt. Dieses Vorgehen ist bei groben Regelverletzungen unvermeidlich, sollte jedoch vom Trainer wohlüberlegt durchgeführt werden. Auf keinen Fall sollte der Trainer im Affekt handeln. Entzug positiver Verstärker darf nicht zur Gefährdung des Therapiezieles führen (also nicht: »alle Punkte sind weg«, sondern z. B. »weil Du immer durch Dein Zwischenrufen die Arbeit der Gruppe störst, muss ich Dir heute 2 Punkte von Deinem Ergebnis abziehen«). > Definition Selbstverbalisation
Hier handelt es sich um Konsequenzen belohnenden Charakters auf ein bestimmtes Verhalten des Kindes. Durch positive Verstärkung werden Verhaltensweisen gefestigt und ihre Auftrittswahrscheinlichkeit erhöht sich.
Hier ist sowohl die Technik des Selbstinstruktionstrainings als auch die Fähigkeit des Kindes gemeint, sich das Was und Wie des eigenen Tuns zu vergegenwärtigen, das eigene Verhalten während der Ausführung durch Selbstanweisungen zu steuern und das Ergebnis bewusst zu kontrollieren.
Es ist nötig, richtige Ansätze und zielorientierte Bemühungen der Kinder differenziert zu verstärken. Der Fachbegriff heißt hier Shaping, Verhaltensformung. Die Kinder sollen genau erfahren, was in ihrem Vorgehen gut oder schlecht für die Aufgabenlösung war. Immer sollten wir konsequent richtiges (erstrebtes) Verhalten belohnen (verstärken). Unspezifische allgemeine Belobigungen sind wenig effektiv und können sogar irritierend wirken. Dies gilt besonders für das Ende jeder Therapiestunde. Hier ist das Geschehen vom Trainer einerseits zusammenzufassen, andererseits eine differenzierte Punktevergabe zu begründen. In den Programmen ist zu jeder Aufgabe eine detaillierte Punktebewertung vorgegeben. Es liegt auch fest, für welche Fehler oder Mängel es Punktabzüge gibt. Dieses Vorgehen ist notwendig, damit bei den Kindern nicht der Eindruck entsteht, die Punktvergabe
Bei der Selbstverbalisation (Meichenbaum 1979) geht es darum, dem Kind das eigene Handeln bewusst zu machen und damit zu verdeutlichen, dass Überlegungen und Struktur die Durchführung des Verhaltens, die Erfüllung von Aufgaben und Pflichten erleichtern. Trainer sollten von Anfang an den Kindern dieses Vorgehen demonstrieren (Modelllernen). Sie sollten die 4 Schritte der Selbstverbalisation permanent bei der Aufgabenerklärung durchhalten: ▬ Problembestimmung – Was soll ich tun? z. B. »Unterschiede zwischen 2 Bildern herausfinden.« ▬ Art der Ausführung – Wie soll ich es tun? z. B. »Teil für Teil der Reihe nach vergleichen.« ▬ Aufgabenbezogene Selbstanweisung – z. B. »Sieht dieser Baum genauso aus wie jener Baum?«
5
203 5.3 · Therapeutische Hilfen
▬ Selbstständige Überprüfung der Ergebnisse – z. B. »Ist alles richtig? Fehlt nichts?« Aus den Erfahrungen in der Anwendung des KTP wissen wir, dass etwa ab der 2. Hälfte des Trainings die Kinder beginnen, ihr Verhalten selbstständig zunächst offen, später innersprachlich verbal zu begleiten, wodurch eine deutliche Verbesserung des Verhaltens erreicht wird. Umfang von Erklärungen und Hinweisen Alle getroffenen Erklärungen und Hinweise für die Kinder sollten möglichst kurz und spezifisch sein. Vorschulkindern und jungen Schulkindern ist es prinzipiell nur schwer möglich, längeren Erläuterungen zu folgen und sie dann in eigenes zielgerichtetes Handeln umzusetzen. Bei konzentrationsgestörten und verhaltensgestörten Kindern tritt dies noch stärker in Erscheinung. Aus diesem Grund sollten die steuernden Hinweise eindeutig und einprägsam sein: ▬ Hört zu! Seht her! Passt auf! ▬ Warte! Wiederhole! Überlege! Wie mache ich das? ▬ Fangt an! Beginnt! ▬ Achte nur auf Dich selbst! Wir vergleichen später gemeinsam! ▬ Schaut nochmals nach! Kontrolliert! Ist alles richtig?
Wirksamkeit des Konzentrationstrainingsprogramms Das oben vorgestellte Konzentrationstrainingsprogramm (KTP) wurde in zahlreichen empirischen Studien auf seine Wirksamkeit untersucht. Wir werden nachfolgend einige wichtige Ergebnisse vorstellen und anschließend eine zusammenfassende Bewertung vornehmen. Für den Nachweis der Wirksamkeit des KTP setzten wir u. a. im Vorschulalter den Kramer-Test, das Konzentrationshandlungsverfahren für Vorschulkinder (KHV-VK; Ettrich u. Ettrich 2005) und den Matching-Familiar-Figures-Test (MFF; Kagan 1968) ein. Alle genannten Verfahren sind im Kap. 4.2 beschrieben. Gemessen werden Zeit und Anzahl der Fehler, die den Kindern beim Einsortieren unterlaufen. Ist das Training der Kinder erfolg-
reich, nimmt die Zeit für das Sortieren zwischen der Untersuchung vor dem Training (Prä-Messung) und nach dem Training (Post-Messung) zu, weil die Kinder überlegter, also reflexiver die Sortierhandlung vornehmen. Gleichzeitig erwarten wir, dass sich die Fehlerzahl im Prä-Post-Vergleich verringert. Der MFF besteht aus 12 bzw. 20 Aufgaben. Den Kindern werden jeweils 12 figürliche Abbildungen zum gleichen Inhalt vorgelegt. Sie müssen herausfinden, welche der 6 Abbildungen genau einem vorgelegten Standardbild entspricht. Auch hier werden Zeit gemessen und Fehler gezählt. Der Prä-Post-Vergleich müsste bei einem erfolgreichen Training wiederum zur Zunahme der Zeit und zur Abnahme der Fehlerwerte führen. ⊡ Abb. 5.7 lässt erkennen, dass die Kinder, die am Training teilnahmen (VG), ihre Zeitwerte in beiden Verfahren deutlich erhöhten. Dies ist ein erwünschter Behandlungserfolg, weil die Kinder sich bei der Lösung der Aufgaben nun mehr Zeit nehmen, also reflexiver arbeiten. Im KHV-VK (linke Seite des Diagramms) ist bei Trainierten das erwünschte reflexive Verhalten deutlich stärker ausgeprägt als bei den Untrainierten. Im MFF (rechte Seite des Diagramms) ergibt sich ebenfalls, dass sich bei den Trainierten das Arbeitstempo verlangsamt und der Zeitverbrauch erhöht. Dies spricht dafür, dass das reflexive, das überlegte Verhalten bei ihnen zugenommen hat. Bei den Untrainierten verschlechtert sich im Zeitverlauf das Arbeitsverhalten, sie werden impulsiver und oberflächlicher als vorher.
0 ,8 0 ,6 VG KG
0 ,4 0 ,2 0
KHV
MFF
-0 ,2 -0 ,4 ⊡ Abb. 5.7. Veränderung der Zeitwerte im KHV-VK und dem MFF im Prä-Post-Vergleich. Versuchsgruppe (VG) n = 262 und Kontrollgruppe (KG) n = 103. (Ettrich u. Ettrich 2006)
204
Kapitel 5 · Wie kann man den betroffenen Kindern und ihrer Umwelt helfen?
Die Ergebnisse in ⊡ Abb. 5.8 verdeutlichen, dass sich unter dem Verhaltenstraining die Ergebnisse der Fehlerwerte im KHV-VK der trainierten Kinder deutlich verbessert haben. Die Kinder arbeiten nach dem Training konzentrierter und qualitativ anspruchsvoller, also sorgfältiger, was sich im Rückgang der Fehlerwerte zeigt. 6
5
5 VG KG
4 3 2 1 0
KHV
MFF
-1 -2 ⊡ Abb. 5.8. Veränderung der Fehlerwerte im KHV-VK und im MFF im Prä-Post-Vergleich. Versuchsgruppe (VG): 262 Kinder; Kontrollgruppe (KG): 103. (Ettrich u. Ettrich 2006)
Im MFF ist der Befund sogar noch deutlicher ausgeprägt, da hier erkennbar ist, dass sich das Verhalten der Kinder, die nicht am Training teilnahmen, im Zeitraum des Prä-Post-Vergleiches noch verschlechterte. Für die nichttrainierten Kinder ist also im Zeitverlauf eine Verschlechterung in Richtung fehlerhaftes, unüberlegtes und impulsives Verhalten festzustellen. Für die Schüler der 1.-4. Klasse ergab die Auswertung von 278 ambulant behandelten Kindern (⊡ Abb. 5.9), dass der Behandlungserfolg mit dem Lebensalter kovariiert, d. h. der Anteil der nicht mit dem Programm erreichbaren Schüler ist von der 1. zur 4. Klasse eindeutig rückläufig. Der Anteil der trainierten Kinder, die eine Verbesserung des Verhaltens erreichten, liegt bei allen Altersstufen über 90%. Das ist ein sehr schönes Resultat, da diese Kinder in Schule und Elternhaus weniger durch unaufmerksames Verhalten und Störungen im Sozialbereich auffallen, sondern sie sich in Richtung auf unauffälliges Verhalten verändert haben. Zusätzlich haben wir untersucht, wie groß der Anteil der Kinder ist, die nach einem einmaligen
%
100
80
60
40
20
0 1. Klasse
2. Klasse kein Effekt
3. Klasse Verbesserungen
4. Klasse davon qualitativer Sprung
⊡ Abb. 5.9. Ergebnisse des KTP im Schulkindbereich (n = 278; Ettrich u. Ettrich 2006)
Summe
205 5.3 · Therapeutische Hilfen
Training von 20 Stunden sogar einen qualitativen Sprung vom gestörten in unauffälliges Verhalten aufweisen. Der Anteil dieser Kinder, der nunmehr als unauffällig zu bezeichnen ist, beträgt in allen Altersstufen mehr als ein Drittel der behandelten Kinder. Grenzen von Konzentrationstrainingsprogrammen ▬ Abhängigkeit vom Schweregrad der Störung: Je schwerer die Störung ausgeprägt ist, umso geringer ist der zu erwartende Therapieerfolg, der aber letztlich bei nahezu allen Kindern zu verzeichnen ist. ▬ Abhängigkeit von der Applikationsform: Die stationäre Behandlung ist allen Formen der ambulanten Behandlung überlegen, weil hier das KTP eingebettet in ein multimodales Gesamtkonzept appliziert werden kann. ▬ Abhängigkeit von Kombinationsbehandlung (Verhaltenstherapie und Pharmakotherapie): Die Kombinationsbehandlung von medikamentöser und psychotherapeutischer Betreuung ist der alleinigen psychotherapeutischen Behandlung und v. a. der alleinigen medikamentösen Behandlung deutlich überlegen. ▬ Abhängigkeit vom betrachteten Katamnesezeitraum vs. »Auffrischen«: In Abhängigkeit vom betrachteten Katamnesezeitraum (ein Vierteljahr bzw. eineinhalb Jahre) gehen die Effekte des KTP wieder leicht zurück, weshalb sich ein Auffrischungstraining nach einem halben bzw. nach einem Jahr empfiehlt. Die Wiederholung der psychotherapeutischen Betreuung (Auffrischung) trägt entscheidend zur Festigung des erwünschten Verhaltens bei. ▬ Abhängigkeit von Umweltfaktoren und »life events«: Umweltfaktoren wie z. B. ungünstige familiäre Verhältnisse und belastende Lebensereignisse wie z. B. Scheidung der Eltern können den Behandlungserfolg vorübergehend beeinträchtigen. Zum KTP liegen auch Katamneseergebnisse zu 248 stationär behandelten Schülern der 1.-4. Klasse vor. Die 1. Nachuntersuchung erfolgte ein Vierteljahr nach Abschluss der stationären Behandlung. Es konnten 90% der Kinder erfasst werden. Eine
5
2. Nachuntersuchung wurde nach eineinhalb Jahren durchgeführt. In diesem Untersuchungsgang wurden noch 80% der Ausgangsstichprobe einbezogen. Folgende Ergebnisse sind hervorzuheben: ▬ Die besten Ergebnisse wurden bei kombinierter Behandlung (KTP und Stimulanzien) erzielt, diese waren auch eineinhalb Jahre später noch signifikant nachweisbar. ▬ Vergleichbare, in der Ausprägung etwas schwächere Effekte ergaben sich bei alleiniger Anwendung des KTP. ▬ In den Schulleistungen zeigten sich die günstigsten Effekte bei unter Stimulanzien trainierten Kindern, dies auch noch eineinhalb Jahre nach Absetzen der Stimulanzien. ▬ Die Selbsteinschätzungen der Kinder zeigten unabhängig von den unterschiedlichen Behandlungsmodi günstige Effekte bezüglich Selbstbild, die auch eineinhalb Jahre nach Therapieende noch nachweisbar waren. Die vorstehenden Aussagen zum Therapieerfolg beziehen sich auf die Konzerntrationstrainingsprogramme von Ettrich (1998, 2004).
Training mit aufmerksamkeitsgestörten Kindern Aus den verhaltenstherapeutischen Möglichkeiten sei nachfolgend auf einige in der Praxis gut eingeführte und häufig genutzte Programme verwiesen. Das Training mit aufmerksamkeitsgestörten Kindern von Lauth und Schlottke (1997) ist ein in der Praxis gut eingeführtes Trainingsprogramm für Kinder im jüngeren Schulalter für die Hand von Lehrern, Erziehern und Eltern. Aus dem Handbuch sind konkrete Handlungsanweisungen zur sorgfältigen Diagnostik und Korrektur von Störungen des Aufmerksamkeitsverhaltens zu entnehmen. Die spezifischen Arbeitsmaterialien bestehen zum einen aus handelsüblichen Spielmaterialien, zum anderen aus spezifischen Aufgaben, an denen sich konzentratives Arbeiten trainieren lässt. Das Training gliedert sich in 4 Therapiebausteine: ▬ Basistraining zur Ausbildung der Eigensteuerung,
206
Kapitel 5 · Wie kann man den betroffenen Kindern und ihrer Umwelt helfen?
▬ Strategietraining zur Entwicklung eines reflexiven Arbeitsstils, ▬ Informationsvermittlung, um den Transfer auf die Schule zu erleichtern sowie ▬ Elternanleitung zur Verbesserung des Erziehungsverhaltens, um die Verhaltensänderungen der Kinder zu unterstützen und den Eltern bei der Bearbeitung spezifischer Interaktionsoder Erziehungsprobleme zu helfen.
5
Für den Nachweis des Therapieerfolges wurden die Conners-Skalen ( Kap. 4.2) für Eltern und Lehrer herangezogen. Alle Kinder wiesen zum Zeitpunkt des Prä-Tests (Erstuntersuchung) eine behandlungsbedürftige Symptombelastung in den Bereichen Aufmerksamkeitsstörung, Überaktivität und Impulsivität auf. Da jedoch nicht alle Kinder (wegen zu großen Anzahl der Fälle) auf einmal behandelt werden konnten, bildeten die Untersucher eine Versuchsgruppe (Therapiegruppe), die anderen Kinder mussten mit der Behandlung warten, bis die Therapiegruppe ihre Arbeit beendet hatte. Zum Zeitpunkt des Abschlusses der Behandlung der Therapiegruppe wurden die Kinder beider Gruppen, also Therapiegruppe und Wartegruppe ein 2. Mal (Post-Test) mit der Conners-Skala beurteilt. Im Elternurteil verschlechterte sich die Symptomatik der nichtbehandelten Kinder im Zeitverlauf leicht, während sich die Symptomatik der behandelten Kinder deutlich verbesserte (obere Hälfte von ⊡ Abb. 5.10). Aus der gleichen Abbildung geht hervor (untere Hälfte), dass im Urteil der Lehrer die Kinder, die behandelt wurden, erheblich gestörter als die Probanden der (vorerst) nichtbehandelten Wartegruppe beurteilten und sich die Symptomatik der nichtbehandelten Kinder im Zeitverlauf verschlechterte. Ein pädiatrisches Rehabilitationsangebot, das besonders mit Auszügen aus dem Programm von Lauth und Schlottke arbeitet, ist die sequenzielle Therapie1 für hyperaktive und aufmerksamkeits-
1
Die sequenzielle Therapie wird bisher ausschließlich für ADHS-Kinder angeboten.
gestörte Kinder, wie sie im Caritas-Haus Feldberg angeboten wird. Hierbei werden Kinder und ein Elternteil über mehrere Phasen zu kurzzeitiger stationärer Intervention aufgenommen, wobei die therapeutischen Bemühungen sowohl am Kind als auch an den Eltern ansetzen. Innerhalb von eineinhalb bis 2 Jahren folgen 3 1- bis 2-wöchige stationäre Aufenthalte. Zwischenzeitlich werden die Kinder ambulant betreut. Die Vernetzung ambulanter und stationärer Bemühungen sowie die sequenzielle Strategie gewährleistet eine kontinuierliche therapeutische Begleitung des Patienten ohne zu kliniklastig zu sein. Ganz wesentlich wird an der Stärkung elterlicher Erziehungskompetenz gearbeitet. Eine enge Kooperation mit den Einrichtungen der Jugendhilfe, den Schulen und dem sozialen Umfeld wie Selbsthilfegruppen, Jugendgruppen, Sportvereine gehören zum multimodalen Behandlungsgefüge. Während der stationären Therapiephasen geht es um folgende Bausteine: ▬ Verhaltenstraining, ▬ soziales Kompetenztraining, ▬ Psychomotorik, ▬ Klinikschule, ▬ Videointeraktionstraining, ▬ Medikamentenstrategie, ▬ Elterngruppenarbeit, ▬ Elternschulung und –training, ▬ Einzel- und Familiengespräche sowie ▬ Eltern-Kind-Entspannung.
Therapieprogramm für Kinder mit hyperkinetischem und oppositionellem Problemverhalten Das Therapieprogramm für Kinder mit hyperkinetischem und oppositionellem Problemverhalten (THOP; Döpfner et al. 1998) ist ein multimodales Interventionsprogramm, bei dem je nach Indikation verhaltenstherapeutische Interventionen im Kindergarten, in der Schule, aber auch in der Familie mit medikamentöser Intervention kombiniert werden kann. Es kann im Alter von 3 bis etwa 12 Jahren eingesetzt werden und besteht aus dem Eltern-Kind-Programm und den Interventionen im Kindergarten und in der Schule. Das Eltern-KindProgramm besteht seinerseits aus 21 Behandlungsbausteinen in 6 Themenkomplexen. Hier sind die
207 5.3 · Therapeutische Hilfen
5
x 12
Wartekontrollgruppe
10 8 6
Therapiegruppe
4 2 0
prä 12
post
x
10 8
Wartekontrollgruppe
6
Therapiegruppe 4 2 0
prä
post
⊡ Abb. 5.10. Behandlungserfolg des Trainings nach Lauth und Schlottke im Urteil von Eltern (oben) und Lehrern (unten; Lauth u. Schlottke 2002)
familienzentrierte Intervention und die kindzentrierte Intervention miteinander verbunden. Die familienzentrierten Interventionen stellen das Kernstück des Eltern-Kind-Programmes dar und können auch unabhängig von den kindzentrierten Interventionen durchgeführt werden. ▬ Zunächst werden mit gemeinsam mit der Erzieherin bzw. Lehrerin die Verhaltensauffälligkeiten des Kindes genau definiert. Es wird ein gemeinsames Störungskonzept aufgebaut und organisatorische Aspekte werden thematisiert.
▬ Im 2. Schritt werden pädagogisch-therapeutische Strategien diskutiert und erarbeitet, die auf Verminderung der Verhaltensprobleme des Kindes abzielen. ▬ In einem 3. Schritt werden spezielle operante Techniken wie v. a. Token-Systeme und Response-cost-Verfahren eingesetzt. ▬ Im 4. Schritt wird für das ambulant begonnene Selbstinstruktionstraining der Transfer in die Realität, also in den schulischen Alltag diskutiert und erprobt.
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5
Kapitel 5 · Wie kann man den betroffenen Kindern und ihrer Umwelt helfen?
Das im THOP enthaltene Elternbuch ist in 3 Teile gegliedert, wobei sich im 1. Teil Fragen und Antworten zu hyperkinetischem und oppositionellem Verhalten finden. Der 2. Teil ist der Elternleitfaden, in welchem die Eltern Anleitungen erhalten, zum einen Probleme genau zu erfassen und zum anderen bestimmte Maßnahmen zu erproben und durchzusetzen und der 3. Teil bietet konkrete Anwendungsbeispiele. Die 6 Themenbereiche des Eltern-Kind-Programmes aus THOP sind: ▬ Problemdefinition, Entwicklung eines Störungskonzeptes und Behandlungsplanung, ▬ Förderung positiver Eltern-Kind-Interaktionen und Eltern-Kind-Beziehungen, ▬ pädagogisch-therapeutische Interventionen zur Verminderung von impulsiven und oppositionellem Verhalten, ▬ Token-Systeme, Respons cost und Auszeit, ▬ Interventionen bei spezifischen Verhaltensproblemen sowie ▬ Stabilisierung der Effekte. Zur Wirksamkeit von Therapieprogramm für Kinder mit oppositionellem Problemverhalten THOP (Döpfner, Lehmkuhl u. Schürmann 1996) liegen die folgenden Angaben vor. Döpfner berichtet über eine Untersuchung an 75 Kindern im Alter von 6-10 Jahren, wobei mehrere Applikationsformen zur Anwendung kamen. Das Elternurteil bezüglich des Erfolges des THOP fällt gewöhnlich besser aus als das Lehrerurteil: Von einem sehr guten Erfolg sprechen die Eltern in 50-60% der Fälle, die Lehrer in 35–40%. Der Erfolg von THOP in Kombination mit einem Medikament liegt um etwa 30% höher als die ausschließliche Behandlung mit THOP, so dass eine Kombinationsbehandlung üblicherweise vorgezogen werden sollte. Eine Abwandlung des THOP, speziell für den Vor- und Grundschulbereich, stellt das Präventionsprogramm für expansive Verhaltensweisen (PEP) von Plück et al. (2006) dar. Die in den USA durchgeführte MTA-Studie (»multimodal treatment study of children with ADHD«) bezieht sich auf Beobachtungen an 579 Kindern.
Es zeigte sich, dass Maßnahmen, die ausschließlich auf der Familienebene durchgeführt wurden wie Elterntraining und kindzentrierte Interventionen zu einer deutlichen Symptomreduktion führten. Die Befunde sprechen für eine Forcierung der Medikation (Methylphenidat), da mit Beratung plus Medikation wirkungsvolle Ergebnisse erzielt werden konnten. Die Autoren bzw. Referenten der MTA-Studie sprechen von einer Überlegenheit der Stimulanzienbehandlung v. a. im Bereich Schule, weil mit dieser Behandlung allein bessere Resultate als mit der Verhaltenstherapie erzielt werden konnten.
Das Marburger Konzentrationstraining Das Marburger Konzentrationstraining (Krowatschek 1999) für Kindergarten- und Vorschulkinder sowie für Schulkinder (1994) ist eine Trainingsmethode, die Kindern hilft, strukturiertes Denken und Konzentration zu trainieren. Damit ist es besonders für Kinder mit ADHS und Störungen des Sozialverhaltens geeignet. Inhaltlich ist das Training an Konzepten der Verhaltenstherapie orientiert, so kommen verbale Selbstinstruktion, Modelllernen, Wechsel von Anspannung und Entspannung sowie gezielte Übungen und Token zur Anwendung. Bezüglich der Wirksamkeit einzelner verhaltenstherapeutischer Verfahren haben sich in Studien Elterntraining sowie Problemlösetraining als die effizientesten Verfahren herausgestellt. Vor allem finden sich in den neueren Studien deutlich höhere Effektstärken für externalisierende Störungen, d. h. die Therapie externalisierender Störungen ist vom verhaltenstherapeutischen Standpunkt her zunehmend effektiver geworden, was bei der bereits besprochenen Problemlage auch bitter nötig ist.
Typenspezifischer Umgang mit aggressiven Kindern Ein Programm zur Verhaltenssteuerung aggressiver Kinder und Jugendlicher legte auch Dutschmann (Aggressionsbewältigungsprogramm 2000) vor. Als Grundlage für dieses Programm hat der Autor eine ABC-Typologie des aggressiven Ver-
209 5.3 · Therapeutische Hilfen
haltens entwickelt, die im pädagogisch-therapeutischen Vorgehen wirkungsvoll nutzbar ist. Er teilt wie folgt ein: Typ A: Instrumenteller Typ oder Provokationstyp Diese Kinder oder Jugendliche setzen ihr Verhalten gezielt als Instrument ein, um ein Ziel zu erreichen. Sie gehen dabei »cool« und berechnend vor. Emotionen und Erregung stehen bei den Betroffenen im Hintergrund. Ihnen geht es um Macht und Anerkennung, indem sie andere in Angst versetzen und emotional verletzen oder ihnen drohen, sie körperlich zu verletzen. Lassen Eltern, Lehrer und Erzieher sich provozieren und zeigen sie Ärger oder Wut, haben diese Kinder oder Jugendlichen ihr Ziel erreicht. Sie haben ihre Macht demonstriert. Dies ist für sie ein Erfolgserlebnis und das aggressive Verhaltensmuster wird damit aufrechterhalten. Typ B: Emotionaler Typ Eine erlebte Einengung, eine erlebte Verletzung der Ehre oder eine erlebte Bedrohung des Besitzes versetzt diese Kinder oder Jugendlichen in starke emotionale Erregung, sie wehren sich durch aggressives Verhalten, das andere einschüchtert, wobei auch die Schädigung des anderen als Konfliktlösung von ihnen akzeptiert wird. Das Wahrnehmen und Empfinden dieser Kinder oder Jugendlichen entscheidet, ob eine Frustration vorliegt oder nicht. Die Realität ist dabei für sie ohne Bedeutung. Eine emotionale Erregung löst bei diesen Kindern oder Jugendlichen das aggressive Verhaltensmuster aus: ▬ eine Beleidigung ruft beim Betroffenen eine starke emotionale Erregung hervor, die er durch aggressives Verhalten bewältigt, ▬ die schimpfende Mutter z. B. in der Hausaufgabensituation erweckt Widerwillen, Abwehr und Unlust, der Betroffene »mault« oder schmeißt seine Schulsachen auf den Boden, ▬ beim Anblick der Schule verspürt der Betroffene Unbehagen bzw. Angst, die er durch forderndes Verhalten gegenüber anderen überwindet. Typ C: Erregungstyp oder »Black-out-Typ« Diese Kinder oder Jugendlichen geraten in akuten Frustrations- bzw. Stresssituationen außer sich, sie wissen in akuter Erregung nicht, was sie tun, und
5
nehmen dabei körperliche und andere Schäden für sich und auch bei anderen in Kauf. Eltern verhaltensgestörter Kinder oder Jugendlicher sehen sich nahezu täglich mit aggressiven Handlungen gegen sich selbst oder andere Familienmitglieder konfrontiert und Lehrer und Erzieher müssen sich in ihrer ganz normalen pädagogischen Tätigkeit mit verhaltensgestörten Kindern oder Jugendlichen auseinandersetzen. Daher ist es zweckmäßig, sich eine Grundhaltung zu diesen Problemen anzugewöhnen, um nicht immer wieder überrascht und hilflos zu reagieren. Diese Grundhaltung ist auf wenige Grundregeln rückführbar: ▬ Positiv denken: Dazu gehört die Überzeugung, dass ich in der Lage bin, eine Problemsituation zu entspannen, dass meine Fähigkeiten, mit Verhaltensgestörten zu leben oder zu arbeiten, mit jeder Konfliktlösung besser wird und ich mich zum Experten entwickle. ▬ Konstruktiv und kooperativ Probleme angehen: Es ist wichtig immer daran zu denken, dass es nicht nur eine Möglichkeit gibt, ein Problem zu lösen. Deshalb ist es notwendig, Alternativlösungen für sich selbst, mit Betroffenen und mit Kollegen zu erarbeiten (zu sammeln). ▬ Grenzen der Handlungsfähigkeit erkennen: Der Erziehende (Eltern, Lehrer) muss erkennen, ob er in der Lage ist, mit bestimmten Problemen fertig zu werden, ob er die notwendigen Fähigkeiten und auch Ressourcen zur Überwindung dieser Schwierigkeiten besitzt. Bei Kindern oder Jugendlichen, die nahezu ständig Verhaltensprobleme verursachen, sollte man sich nicht scheuen, professionelle Hilfe durch Kinder- und Jugendpsychiater und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten in Anspruch zu nehmen. Aber auch die Handlungsfähigkeit von Regelschulen ist begrenzt. Es muss also rechtzeitig die Kooperation zu förderpädagogischen Einrichtungen, Einrichtungen der Jugendhilfe und der stationären Kinder- und Jugendpsychiatrie aktiviert werden, um Verfestigungen von Verhaltensstörungen entgegenwirken zu können. Es ist aber auch erforderlich zu überprüfen, ob die Kinder oder Jugendlichen die kognitiven Voraussetzungen für die unterstellte Handlungsfähigkeit besitzen.
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Kapitel 5 · Wie kann man den betroffenen Kindern und ihrer Umwelt helfen?
»Nicht selten reagieren z. B. intellektuell defizitäre Kinder auf die wohlgemeinten Bemühungen von Lehrern und Eltern mit Abwehr und Aggressionen.« (Dutschmann 2000; S. 21)
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▬ Eigenanteile bei der Problemaufrechterhaltung berücksichtigen: Jeder, der mit der Betreuung von Verhaltensgestörten zu tun hat, muss auch immer reflektieren, ob er durch sein Verhalten nicht zur Aufrecherhaltung der Probleme beiträgt, ob er nicht Teil eines Teufelskreises ist, also sich in eine Erziehungsfalle hineinmanövrieren hat (ob er z. B. zu schnell oder zu viel redet, sich auf Diskussionen einlässt, sich emotional zu stark provozieren lässt, er sich dabei erwischt, dass er immer in gleicher Weise reagiert oder die Schuld für die Schwierigkeiten entweder grundsätzlich bei sich oder anderen sucht). Für die Praxis ist die Einteilung nach A-, B- oder C-Typ des aggressiven Verhaltens sinnvoll, weil dadurch eine schnelle Orientierung möglich wird. Jede pädagogische Intervention beginnt mit der genauen Beobachtung und der Bewertung des Verhaltens. Aus den Erfahrungen im Umgang mit einem Kind oder Jugendlichen wissen wir, mit welcher Absicht, mit welcher Intension sich diese Heranwachsenden in die Kommunikation und Interaktion einbringen und wie sie in Konfliktsituationen reagieren. Das pädagogisch-therapeutische Herangehen muss, um Erfolg zu haben, je nach Typ recht unterschiedlich sein. Beim Typ A kommt es darauf an, dem Kind oder Jugendlichen das Erfolgserlebnis zu entziehen, da jede erfolgreiche Aggressionshandlung die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass auch künftig aggressives, antisoziales Verhalten gezeigt wird. Gleichzeitig muss natürlich dem Kind geholfen werden, seine unangepassten Verhaltensweisen durch alternative, sozial angepasste Verhaltensweisen zu ersetzen. Dafür müssen sie Erfolgserlebnisse vermittelt bekommen. Dutschmann (2000) empfiehlt u. a., einem Kind oder Jugendlichen, das aggressives Verhalten als Instrument zur Durchsetzung seiner Wünsche oder Ziele gebraucht, durch Ignorieren zu begegnen. Dies
ist v. a. bei Beschimpfungen, Schneiden von Fratzen und demonstrativen Wutanfällen angezeigt. Aber auch das Isolieren des Aggressors durch Verweisen aus der Situation (»time out«) kann hier hilfreich sein. Ebenso ist das humorvolle Reagieren (z. B. auf den Gebrauch von Schimpfworten) geeignet, das Kind oder den Jugendlichen um den erwarteten Erfolg zu bringen, da Kinder oder Jugendliche vom A-Typ immer schon ihr Ziel erreicht haben, wenn sich der andere über sie ärgert oder aufregt. Aus diesem Grunde ist es wichtig, dass Eltern oder Lehrer und Erzieher lernen, ihr eigenes Erregungsniveau zu steuern, damit sie nicht mit Schimpfen auf das unangemessene Verhalten reagieren. Um besser mit der eigenen Erregung umzugehen, rät Dutschmann (2000) zur Selbstbeobachtung in Konfliktsituationen. Die Erwachsenen sollen Zeichen der Erregung (wie Mundtrockenheit, Zittern, Schwindelgefühl, Unfähigkeit, die Situation noch zu überblicken oder zu analysieren) an sich wahrnehmen und sich fest vornehmen, »in der nächsten Konfliktsituation beim Auftreten des ersten Erregungssymptoms innezuhalten, tief Luft zu holen oder sonst etwas zu tun, was den beginnenden Erregungskreislauf unterbrechen könnte.« (S. 35) Beim Typ B geht es v. a. um die Verringerung der emotionalen Erregung auf ein Niveau, das eine konstruktive Problemlösung ermöglicht. Eltern, Lehrer, Erzieher und Therapeuten sollten sich bewusst sein, dass auf Einsicht und Kooperationsbereitschaft beruhende Problemlöseversuche bei hoher Erregung wirkungslos sind. Nach Abklingen der Erregung bestehen hierfür deutlich bessere Möglichkeiten. Aus diesem Grunde ist es empfehlenswert, das Aktivierungsniveau der Kinder oder Jugendlichen zu beobachten und durch Handlungswechsel zu vermeiden, dass sich emotionale Erregungen aufstauen. Auch sollten Erwachsene darauf achten, dass sie selbst keine Entscheidungen unter dem Einfluss von emotionaler Erregung fällen. Günstiger ist es, die Entscheidung »zu überschlafen«. Da bei diesen Kindern oder Jugendlichen das Hauptproblem im Erleben einer Situation liegt, ist es notwendig, mit diesen die konfliktauslösenden Situationen durchzuarbeiten. Dazu empfehlen sich Gespräche in entspannter Atmosphäre, man lässt sich vom Betroffenen die Situation, wie er sie erleb-
211 5.3 · Therapeutische Hilfen
te, schildern und sucht mit ihm gemeinsam nach alternativen Möglichkeiten, diese zu verstehen. Dabei sind auf Seiten des Erziehers und auf Seiten des Kindes oder Jugendlichen die Aspekte der Kommunikation (Schulz von Thun 1994) zu beachten, nämlich der Sachinhalt, der Selbstoffenbarungsaspekt, der Beziehungsaspekt, der Appell. Es geht also nicht nur darum, die erlebte Situation zu erfassen, sondern immer auch darum, dem Betroffenen das Interesse an seiner Person zu signalisieren und die Motive seines Verhaltens zu begreifen und ihm zu verdeutlichen, dass ein anderes Verhalten für ihn selbst und die Gemeinschaft von Vorteil ist. Beim Typ C besteht das Hauptziel darin, bereits in der Eskalationsphase zu erkennen, dass sich eine gefährliche Situation anbahnt, und diese zu vermeiden. Bei Unvermeidbarkeit haben Sicherheitsmaßnahmen absolute Priorität, pädagogische Einflussnahme ist erst ab der Entspannungsphase wieder indiziert. Wichtig ist bei solchen hocherregbaren Kindern oder Jugendlichen, die Symptome von Erregung präzise wahrzunehmen (z. B. geballte Fäuste, Herumzappeln, Vermeiden von Blickkontakt oder Anstarren, Schwitzen, unkoordiniertes Sprechen), um rechtzeitig beruhigend auf die Heranwachsenden einzuwirken. Bei hochgradig Erregten ist es sinnvoll, andere Kinder oder Jugendliche aus dem Raum zu schicken, damit sich eine Reduzierung von möglichen Irritationen und Provokationen von selbst ergibt. Als Faustregel gilt, »dass man, auch wenn man Erregung nicht immer vermeiden kann, deutlich ruhiger handeln muss als der Aggressor« (Dutschmann 1999, S.39). Wichtig ist, dass man auch an die eigene Sicherheit denken muss, sich also einen sicheren Fluchtweg freihält. Als Einzeltechniken zur Reduzierung von Erregung in der Eskalationsphase sind hervorzuheben: ▬ aggressionsmindernde Erklärungen (z. B. »Paul hat das nicht so gemeint«), ▬ Eingehen auf Gefühle und Erlebnisinhalte (z. B. »Ich verstehe, was Du meinst«), ▬ Ich-Botschaften (z. B. »Ich finde es schade, dass Ihr euch streitet«), ▬ Tipps zum Erreichen eines Zieles (z. B. »Komm doch einfach mal zu mir, dann wird uns schon etwas einfallen«),
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▬ Trennen von Kontrahenten (z. B. einen der Beteiligten in ein Gespräch einbinden), ▬ nicht auf ein erregtes Kind oder einen erregten Jugendlichen einreden und ▬ Spannungen durch andere Aktivitäten »abreagieren« lassen (z. B. rennen lassen). In der Phase der höchsten Erregung sollte man die Kinder oder Jugendlichen völlig in Ruhe lassen. Isolieren sich die Betroffenen selbst, verlassen sie z. B. wütend das Zimmer, sollte man ihnen nicht nachgehen, sondern deren Rückkehr abwarten. Erst in der Entspannungsphase sollte man wieder mit der pädagogischen Arbeit beginnen. Dann ist über das Vorgefallene mit dem Betroffenen zu sprechen und dabei ähnlich wie beim Typ B vorzugehen. Zusätzlich ist aber auch über Wiedergutmachungsleistungen bei angerichteten Schäden zu sprechen. Es ist uns wichtig, an dieser Stelle zu betonen, dass verhaltenstherapeutische Maßnahmen sich bei Störungen des Sozialverhaltens am wirksamsten unter den psychotherapeutischen Methoden erwiesen haben, deshalb haben wir ihnen auch einen so breiten Raum gewidmet. Allerdings meinen wir mit Verhaltenstherapie immer eine »integrative Verhaltenstherapie«, welche die Suche und nach Möglichkeit die Lösung von Konflikten sowie die Betonung emotionaler Bereiche mit einbezieht, also durchaus auch an der tiefenpsychologischanalytischen Psychotherapie partizipiert.
5.3.4 Weitere therapeutische
Möglichkeiten Familientherapeutisches Vorgehen Eine wichtige Säule in der Behandlung kindlicher und jugendlicher Verhaltensgestörter ist die Familientherapie und hier wiederum die systemische Familientherapie, welche die Familie im Sinne Bronfenbrenners (1981) als System innerhalb anderer Systeme sieht. Was ist ein System? Die weiteste Definition ist die folgende (v. Schlippe 1988): »Ein System ist ein Aggregat von Objekten zusammen mit den Beziehungen zwischen den Objekten und zwischen ihren Merkmalen und Fragen. (…) Systeme sind Ganzheiten. Alles was
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Kapitel 5 · Wie kann man den betroffenen Kindern und ihrer Umwelt helfen?
existiert, existiert in ganzheitlichen Zusammenhängen. Als System betrachtet ist die Familie ein Ganzes. Etwas qualitativ anderes als die Summe ihrer Teile, mit denen sie sich (und diese untereinander) in Wechselwirkung befindet: Jeder einzelne ist mit dem anderen so verbunden, dass eine Änderung des einen automatisch eine Veränderung des gesamten Systems mit sich bringt. Statt das System in seine Bestandteile aufzusplittern und damit seine Ganzheit zu zerstören, ist es möglich, es als Ganzes zu untersuchen und seine Eigenschaften und Verhaltensweisen zu beschreiben.« (S. 22)
Es gibt verschiedene Schulen der Familientherapie, die teilweise schwer voneinander zu trennen sind, da ihre Vertreter auch gegenseitig voneinander Impulse empfangen und einander Impulse gegeben haben. Der Versuch einer Ordnung der einzelnen Schulen könnte nach von Schlippe (1988) folgendermaßen aussehen: ▬ von der Psychoanalyse her kommende Familientherapien; hiermit sind Namen wie Stierlin, H. E. Richter, Wynne und Boszormenyi-Nagy verbunden, ▬ strukturelle Familientherapie (Minuchin, Haley), ▬ Kurztherapien paradoxaler Ausprägung, systemische Familientherapie (Selvini-Palazzoli, Watzlawick, Weakland), ▬ entwicklungsorientierte, erlebnisorientierte, integrative Familientherapie (Satir, Jackson, Bosch), ▬ verhaltenstherapeutische Familientherapie (Mandel u. Mandel, Liebermann), ▬ kognitive Familientherapie (Russel) und ▬ individualpsychologische Familientherapie (Ackerknecht, Titze usw.). > Definition »Familientherapie kann als jede Form von Psychotherapie definiert werden, die zusätzlich zu einem Indexpatienten weitere Familienmitglieder mit einbezieht bzw. auf die Interaktionen zwischen Familienmitgliedern fokussiert ist.« (Pinsof u. Wynne 1995, S. 586)
Man hat heute eine Unterteilung in psychodynamische, kognitiv-behaviorale und psychoedukati-
ve Familientherapie gefunden in Abgrenzung zur systemischen Familientherapie, die am häufigsten eingesetzt wird. > Definition »Systemische Psychotherapie lässt sich als eine Form von Psychotherapie definieren, deren Fokus auf dem sozialen Kontext einer psychischen Störung liegt. Es geht um die Wechselbeziehungen (in Verhalten und Wahrnehmung) zwischen 2 und mehr Menschen, ihren Symptomen sowie ihrer weiteren Umwelt – sowohl darum, wie sich z. B. familiäre Interaktionen auf die Symptome eines Familienmitgliedes auswirken, als auch umgekehrt, um die Auswirkungen von Symptomen auf (andere) Familienmitglieder, deren Interaktionen und deren Sicht der Wirklichkeit.« (v. Sydow et al. 2006, S. 107-108)
Die Einbeziehung von Familienmitgliedern, aber auch von Freunden, Lehrern usw. erfolgt entweder direkt in der therapeutischen Sitzung oder diese Personen werden in der therapeutischen Sitzung imaginiert. Die therapeutische Grundhaltung orientiert sich am Anliegen (Auftrag) des Indexpatienten (Patient, der vorrangig der Behandlung bedarf), am Respekt für seine Ambivalenzen und Ängste vor möglicher Veränderung und an den Ressourcen der Familie. Dabei versucht der Therapeut allen Beteiligten, auch den abwesenden Familienmitgliedern, Verständnis entgegen zu bringen und eine therapeutische Neutralität zu wahren. Die Interventionen reichen von tiefenpsychologischen Deutungen über verhaltenstherapeutische Strategien bis hin zu paradoxen Interventionen. Festgefahrene innerfamiliäre Strukturen und Interaktionen werden ebenso hinterfragt und zu verändern versucht, wie allzu durchlässige. Wesentliche Elemente im praktischen Vorgehen sind systemisches Fragen, positives Umdeuten, die Arbeit mit Genogrammen und Familienskulpturen, Aufgaben und Verschreibungen, kreative und lösungsorientierte Techniken sowie spezielle Schlussinterventionen oder die Inszenierung von Ritualen. Von Sydow et al. (2006) legten eine Studie vor, die 90 Publikationen zur systemischen Familientherapie bei klinischen Störungen kindlicher
213 5.3 · Therapeutische Hilfen
und jugendlicher Indexpatienten identifiziert. Sehr gut belegt ist die Wirksamkeit von systemischer Familientherapie bei Essstörungen, Störungen des Sozialverhaltens und jugendlicher Delinquenz, Substanzstörungen und psychischen Faktoren bei somatischen Krankheiten. Aber auch bei Depressionen, Suizidalität und schweren psychiatrischen Krisen, Hyperaktivitätsstörungen sowie Misshandlung bzw. Vernachlässigung von Kindern durch ihre Eltern liegen erfolgreiche systemische Familientherapiestudien vor. Die erzielten Ergebnisse sind meist auch über Katamnesezeiträume von bis zu 5 Jahren zeitlich stabil. Bisher ist die systemische Familientherapie in Deutschland von den Krankenkassen nicht anerkannt, aber in den USA und vielen europäischen Ländern gehört sie zu den wissenschaftlich anerkannten Psychotherapieverfahren. Die wissenschaftliche Evidenz zur Wirksamkeit systemischer Familientherapie wurde von v. Sydow et al. 2006 in einer umfangreichen Metaanalyse von 47 randomisierten Primärstudien systematisch analysiert. 15 dieser analysierten Studien befassten sich mit systemischer Familientherapie bei Störungen des Sozialverhaltens und jugendlicher Delinquenz (F91 bis F92). Hier konnte belegt werden, dass systemische Familientherapie auch für die Gesellschaft eine günstige Kosten-Nutzen-Relation hat, da sich hierdurch die Zeit, welche die Patienten in Institutionen (Kliniken, Gefängnisse) verbringen, um etwa 30 Tage reduzieren lässt. Es stellte sich heraus, dass die systemische Familientherapie sogar das delinquente Verhalten der Geschwister der Indexpatienten noch 3 Jahre nach der Intervention reduzierte. Wichtig ist an dieser Stelle auch zu sagen, dass bislang keine Befunde über unerwünschte Wirkungen von systemischer Familientherapie vorliegen. Wie Huey et al. (2000) herausfanden, bewirkt die systemische Familientherapie Verbesserungen im Erziehungsverhalten und in den Familienbeziehungen (z. B. Abnahme verbaler Aggressionen, Zunahme von »Monitoring«, mehrfamiliäre Kohäsion). Über diesen Weg kommt es auch zu einer abnehmenden Bindung an delinquente Peer-Gruppen. Robbins, Alexander und Turner (2000) weisen darauf hin, dass besonders das
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therapeutische Reframing (s. u.) eine ganz wichtige Intervention zur effektiven Verbesserung der Interaktion zwischen Indexpatienten und Eltern ist. Ein weiterer wichtiger und hier hervorzuhebender Aspekt besteht u. E. darin, dass die Wirksamkeit von systemischer Familientherapie bei Störung des Sozialverhaltens nicht moderiert wird durch Variablen des Indexpatienten wie Ethnizität, Geschlecht, Alter, soziale Schicht, Einkommen der Familie, juristische Probleme vor Therapiebeginn oder Familienstruktur sowie Alter und Psychopathologie der Eltern (Borduin et al. 1995). Allerdings steht die durch Supervisoren eingeschätzte Kompetenz der Therapeuten in direktem Zusammenhang mit den Rückfallraten jugendlicher Indexpatienten bei der systemischen Familientherapie. In der systemischen Familientherapie geht es letztendlich darum, dass alle am therapeutischen System Beteiligten den Therapeuten als kompetenten Begleiter akzeptieren können. »Der Therapeut sitzt im selben Boot mit der Familie, aber er muss der Steuermann sein. Meistens wird die Familie den Therapeuten als Führer dieser Partnerschaft akzeptieren. Nichtsdestoweniger muss er sich dieses Recht verdienen. Wie jeder Führer muss er sich anpassen, überreden, unterwerfen, unterstützen, dirigieren, Vorschläge machen und folgen, um führen zu können.« (Minuchin u. Fishman 1983, S. 29, nach v. Schlippe 1988)
In der systemischen Familientherapie ist es üblich, mit Metaphern und Reframing, zirkulärem Fragen, mit Genogrammen, Skulpturen, Imaginationen, Puppen, Rollenspielen, Podesten, Seilen usw. zu arbeiten. > Definition Reframing heißt Umdeutung, d. h. man kann Ereignisse oder Tatsachen in einen neuen Rahmen, in ein neues Licht rücken, sie anders betrachten, ihnen einen neuen Rahmen geben. »Wir haben es nie mit der Wirklichkeit schlechthin zu tun, sondern immer nur mit Bildern der Wirklichkeit, also mit Deutungen. Die Zahl der jeweils möglichen Deutungen ist
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Kapitel 5 · Wie kann man den betroffenen Kindern und ihrer Umwelt helfen?
groß, subjektiv, aber durch das Weltbild der Betreffenden meist auf eine einzige scheinbar mögliche vernünftige und erlaubte begrenzt. Aufgrund dieser einen Deutung gibt es meist auch nur eine scheinbar mögliche vernünftige oder erlaubte Lösung (…). Hier setzt nun die Umdeutung an und ist dann erfolgreich, wenn es ihr gelingt, einem bestimmten Sachinhalt einen neuen ebenso zutreffenden oder sogar noch überzeugenderen Sinn zu verleihen, als der Patient ihm selbst bisher gab.« (Watzlawick 1977, S. 96)
Die von Satir (1975) beschriebenen 4 Haupthaltungen und die vielfältigen daraus möglichen entstehenden individuellen Haltungen in bestimmten Situationen und bei bestimmten Problemen helfen, die familiären Probleme und Konflikte plastisch darzustellen. Durch Familientherapie gelingen oft sowohl diagnostisch als auch therapeutisch Veränderungen, die bei ausschließlicher verbaler Intervention nicht oder nicht so gut oder nicht so schnell möglich wären. Die systemische Familientherapie vereinigt in sich Elemente der tiefenpsychologisch fundierten bzw. analytischen Therapie und der Verhaltenstherapie. Wichtig ist, dass der Familientherapeut sich selbst als Teil eines Systems (Helfersystem) begreift und als solches eigene Möglichkeiten der Psychohygiene und der Verhinderung von Burn out finden muss, z. B. Supervision.
Einbezug komplementärer Therapiemethoden Unter komplementären Therapiemethoden verstehen wir solche, die das therapeutische Angebot ergänzen, nicht aber ersetzen. Ergotherapie In der Ergotherapie kommen unterschiedlichste Materialien und Verfahren zum Einsatz. Durch die Arbeit mit handwerklichen Techniken und bildnerischen Materialien soll die emotionale, motorische sowie kognitive Entwicklung der Kinder und Jugendlichen gefördert werden. Weiterhin lernen die Patienten, Wünsche und Bedürfnisse wahrzunehmen und auszudrücken sowie sich mit Mit-
menschen auseinander zu setzen, sich einzulassen und abzugrenzen. Im Verlauf der ergotherapeutischen Behandlung werden z. B. Konzentration, Anstrengungsbereitschaft, Ausdauer, Umgang mit Kritik und Frustration, Selbstständigkeit, Selbstwertgefühl, Grob- und Feinmotorik der Patienten positiv beeinflusst. Die 3 Hauptmethoden der Therapie sind: ▬ kompetenzzentrierte Methode: – Einsatz von ausgewählten handwerklichen Techniken, – Erwerb von nicht vorhandenen oder verloren gegangenen Fähigkeiten und Kompetenzen, Trainieren von Fertigkeiten (Ausdauer, planvolles Arbeiten, Konzentration); ▬ ausdruckszentrierte Methode: – Einsatz von gestalterischen Mitteln (z. B. Ton, Seidenmalerei), die als Ausdrucks- und Kommunikationsmittel sowie als Mittel der Selbstdarstellung dienen, – Auseinandersetzung mit dem eigenen Gefühlsleben; ▬ interaktionszentrierte Methode: – u. a. Einsatz von handwerklichen Techniken (Ton, Speckstein, Holz etc.) und bildnerischen Verfahren, – gruppendynamischer Prozess steht im Mittelpunkt, z. B. eigene Wünsche und Ideen zu erkennen und zu äußern; Kritikfähigkeit und Toleranz zu erhöhen; das Üben, sich zu integrieren, sich durchzusetzen; das Einhalten von Regeln und Grenzen. Zielbeispiele sind: ▬ Verbesserung kognitiver und motorischer Fähigkeiten, ▬ Förderung von Kreativität und Phantasie, ▬ Förderung des Selbstvertrauens und der Selbstständigkeit, ▬ Erfolgserlebnisse schaffen, Umgang mit Misserfolg üben, ▬ Training von gezielter Handlungsplanung und -ausführung sowie ▬ Abbau von Frustration und Aggression. Die Therapie findet je nach Indikationsstellung in verschiedenen Formen statt: Einzeltherapie, Einzelarbeit in der Gruppe oder Gruppentherapie.
215 5.3 · Therapeutische Hilfen
Physiotherapie Die Physiotherapie vereint Methoden der Bewegungstherapie, der psychomotorischen Therapie und der Motopädagogik bzw. Mototherapie. Im Vordergrund stehen aktivierende Maßnahmen in Einzel- und Gruppensituationen. Die kombinierte Förderung von Motorik und Wahrnehmung kann in hohem Maße zur Entwicklungsförderung und Persönlichkeitsentfaltung beitragen (z. B. Steigerung des Selbstwertgefühls und der eigenen Körperakzeptanz). Ziel ist es, bestimmte motorische Fertigkeiten zu üben und einen Kommunikations- und Bewegungsprozess in Gang zu setzen. Den Ablauf der Stunde bestimmen die Kinder und Jugendlichen mit. Freude an Bewegung soll vermittelt werden. Unverzichtbarer Bestandteil ist die Motodiagnostik. In relativ kurzer Zeit können viele Informationen über das Bewegungsvermögen der Patienten gesammelt werden, die in die Therapie einfließen. Daneben kommen verschiedene Tests zum Einsatz, die z. B. auch die Überprüfung der visomotorischen Koordination zum Inhalt haben. Neben Einzeltherapien, in denen der Fokus auf der Patient-Therapeut-Beziehung liegt, werden Gruppentherapien unter vorwiegend kommunikativen Aspekten angeboten. Diese Form beabsichtigt, mit Hilfe bestimmter Bewegungsformen und Bewegungsspiele das Verhalten der Patienten in der Gruppe mit Blick auf kommunikative Fähigkeiten, Selbsteinschätzung, Selbstverwirklichung und Kreativität zu erkennen und positiv zu beeinflussen. Inhalte sind z. B. das Ausprobieren verschiedener Materialien, Fitnesstraining, Tischtennis- oder Squashspielen. Die Entspannungstherapie in Verbindung mit Körperwahrnehmungsübungen ist ein weiterer Teil des Therapieangebotes. Übungen aus der konzentrativen Entspannung, der progressiven Muskelrelaxation, aus Yoga und Atementspannung ergänzen die aktiven Formen der Physiotherapie. Ebenso können verschiedene Massagearten zum Einsatz kommen. Das hilft, den eigenen Körper positiv wahrzunehmen, Wohlbefinden zu erleben und Entspannung zu erlangen. Ein weiteres Angebot stellt das wöchentliche Schwimmen dar. Das Medium Wasser ist sehr gut dazu geeignet, die Ausdauer und Schwimmfähigkeit der Kinder und Jugendlichen in Partner- und
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Gruppenübungen zu trainieren, Ängste abzubauen, Selbstvertrauen zu fördern und Erfolgserlebnisse zu verschaffen. Musiktherapie Die Musiktherapie bedient sich der Musik als nonverbales und symbolisches Ausdrucks- und Kommunikationsmedium. Der zielgerichtete Einsatz von Musik und Klängen bietet sich besonders dann an, wenn aus unterschiedlichen Gründen der sprachliche Ausdruck an Grenzen stößt, wie z. B. bei der Aufarbeitung von Traumata oder bei der Kontaktaufnahme zu Kindern und Jugendlichen mit autistischen Persönlichkeitszügen. Durch die nahe Verbindung von Musik und Gefühlswelt kann ein besonderer Fokus der Therapie auf der Betrachtung und Entwicklung des emotionalen Aus- und Eindrucks liegen. Musiktherapeutische Arbeitsformen sind die Einzel- und Gruppenmusiktherapie. Während bei ersterer die individuelle Problematik im Vordergrund steht, kann in der Gruppe die Interaktion der Patienten als Behandlungsschwerpunkt betrachtet werden. Bei den verschiedenen Formen der aktiven Musiktherapie wird die Musik als Spiegel des persönlichen psychischen Erlebens und der individuellen Ausdrucks- und Kommunikationsformen verstanden. Daneben kommen rezeptive Elemente zum Einsatz, die als Projektionsangebot für innere Bilder, zur Entspannung und zur Schulung der akustischen Wahrnehmung dienen. Musik kann das kreative Potenzial mobilisieren und einen Beitrag zur Problemverarbeitung und Lösungsentwicklung leisten. Tiergestützte Therapie Bei Patienten mit Störungen des Sozialverhaltens stellt das therapeutische Reiten eine Bereicherung der therapeutischen Palette dar. Hier können die Kinder und Jugendlichen am vorurteilsfreien Gegenüber Kontaktaufnahme und Kontaktverhalten üben und durch Leistungen ihr Selbstwertgefühl steigern. Das Pferd lädt durch sein freundliches Wesen, sein weiches Fell und seine Körperwärme dazu ein, es zu berühren, zu streicheln und sich von ihm tragen zu lassen.
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Kapitel 5 · Wie kann man den betroffenen Kindern und ihrer Umwelt helfen?
Andererseits symbolisiert es Kraft und Stärke und hebt das Selbstwertgefühl des Reiters, wenn es sich von ihm führen lässt, auf ihn hört, auf sein Einwirken die Gangart verändert und er schwierige Voltigierübungen auf ihm ausführen kann. Vor allem selbstwert- und kontaktgestörte Kinder und Jugendliche sowie sozial isolierte oder entwicklungsgestörte Patienten profitieren stark von diesem speziellen Angebot. Auch bei Patienten mit Störung des Sozialverhaltens stellt das therapeutische Reiten eine Bereicherung der therapeutischen Palette dar, da die Kinder bzw. Jugendlichen hier am vorurteilsfreien Gegenüber Kontaktaufnahme und Kontaktverhalten üben und durch Leistungen ihr Selbstwertgefühl steigern können. Die tiergestützte Therapie mit Hunden stellt eine weitere Möglichkeit des diagnostisch-therapeutischen Vorgehens dar. Soziale Arbeit in der Kinder- und Jugendpsychiatrie Der Kliniksozialdienst versteht sich als Bindeglied zwischen Klinik, sozialem Umfeld der Patienten und externen Einrichtungen. Wichtige Aufgabe ist es, schon während des stationären Aufenthaltes durch Beratung der Eltern, Bezugspersonen und Patienten zur Behandlung und (Wieder-)Eingliederung beizutragen. Das umfasst das breite Spektrum von sozialrechtlichen Belangen bis zur Unterstützung und Begleitung bei der Beantragung von weiterführenden Hilfen. Wichtig ist die enge Zusammenarbeit mit Institutionen wie Jugendamt, allgemeinem Sozialdienst, Agentur für Arbeit, Beratungsstellen, Regionalschulamt und Krankenkassen sowie die Kooperation mit Kindergärten, Schulen, Ausbildungsstätten und geschützten Werkstätten sowie sämtlichen Einrichtungen der Jugendhilfe. Im Rahmen der psychosozialen Beratung und Begleitung werden mit den Patienten und ihren Bezugspersonen mögliche Zukunftsperspektiven für die Zeit nach dem Klinikaufenthalt entwickelt. Das beinhaltet u. a. die Suche nach der geeigneten Lern- und Ausbildungsform. Hausbesuche gehören dabei genauso zum Aufgabengebiet der Sozialarbeiter wie das Angebot sozialtherapeutischer Verfahren, z. B. Training sozialer Kompetenzen.
Klinikschule Ein wichtiger Part des therapeutischen Arbeitens in einer Klinik ist auch die zumindest teilweise Beschulung der Patienten in Kleingruppen oder in der Einzelsituation, um somit den Realitätsbezug zu erhalten oder wieder herzustellen. Es werden wichtige Kernfächer, wie Deutsch und Mathematik der Grundschule, Mittelschule, des Gymnasiums und der Förderschule abgedeckt. Bei längerem Klinikaufenthalt können in der Sekundarstufe I und II auch weitere Fächer hinzutreten. Der Unterricht wird von ausgebildeten Fachlehrern – meist mit sonderpädagogischer Zusatzqualifikation – nach den Lehrplänen der betreffenden Schulart erteilt. Der Zeitpunkt der Unterrichtsaufnahme sowie der Umfang werden in Absprache mit den behandelnden Ärzten und Psychologen festgelegt. Ziel der Klinikschule ist es, nach dem stationären Aufenthalt eine Wiedereingliederung in die Heimatschule zu ermöglichen, Schulrückstände zu vermeiden oder zu mindern sowie Lerndefizite abzubauen. Zudem werden Schullaufbahnen überprüft und Empfehlungen gegeben. Besonderer Wert wird auf eine effektive Zusammenarbeit mit den jeweiligen Schulen gelegt. Darüber hinaus besteht die Möglichkeit, die jeweilige Heimatschule oder eine Gastschule von der Klinik aus zu besuchen. Bei Bedarf kann auf diese Weise neben der Therapie eine stundenweise Teilnahme am Unterricht ermöglicht werden.
Medikamentöse Therapie Schließlich gibt es auch Kinder, bei denen sowohl pädagogische als auch psychologisch-psychotherapeutische Maßnahmen nicht ausreichend sind oder versagen. ! Es ist daran denken, dass es schließlich auch noch eine Psychopharmakotherapie gibt, die diesen Kindern mitunter entweder initial oder über kürzere oder längere Strecken flankierend zu anderen Maßnahmen helfen kann.
Hierbei muss man wissen, dass die Verordnung von Psychopharmaka bei Kindern und Jugendlichen eine besonders sorgfältige Diagnostik und eine strenge Indikationsstellung voraussetzt.
217 5.3 · Therapeutische Hilfen
»Für die Behandlung von psychischen Störungen bei Kindern und Jugendlichen gilt als therapeutische Grundregel, dass psychogene Störungen möglichst psychotherapeutisch, vorwiegend hirnorganisch bedingte Defizite mit übenden Verfahren oder mit kombinierten psychotherapeutischen und medikamentösen Maßnahmen behandelt werden sollten.« (Nissen, Fritze u. Trott 2004, S. 8)
Die genannten Autoren verweisen auch darauf, dass bei der psychopharmakologischen Behandlung eines Kindes oder Jugendlichen dessen Lernund Schulfähigkeit ebenso berücksichtigt werden muss wie bei einem erwachsenen Patienten dessen Arbeitsfähigkeit. Während noch vor einigen Jahrzehnten eine integrierte Therapie (gleichzeitige Applikation von psychotherapeutischen Methoden und Psychopharmaka) von Ärzten generell abgelehnt worden wäre, besteht heute Einigkeit darüber, dass bei manchen Störungen aufgrund ihrer Art und ihrer Schwere über gewisse Strecken eine gleichzeitige Applikation von Psychotherapie und Medikamenten notwendig ist. Die o. g. Autoren weisen allerdings auch darauf hin, dass es in der kinder- und jugendpsychiatrischen Pharmakotherapie einige Besonderheiten gibt, die bei der Behandlung berücksichtigt werden müssen. »Sie liegen darin begründet, dass: ▬ die Arzt-Patienten-Beziehung bei Kleinkindern maßgeblich von den Eltern bestimmt und bei Schulkindern entscheidend mitbestimmt wird. Sie tritt bei Jugendlichen immer weiter zugunsten einer direkten Partnerschaft mit dem Arzt zurück, sie ist aber häufig durch pubertätsspezifische Konflikte und Probleme erschwert und beeinträchtigt, ▬ vielen Ärzten psychologische, psychopathologische und psychiatrische Daten und Fakten des Kindes- und Jugendalters weniger geläufig als die Erkennung und Behandlung somatischer Krankheiten sind, ▬ vielen Ärzten der praktische Umgang mit der chemischen Substanz, dem Medikament und seiner Verschreibung für Kinder und Jugendliche nicht ausreichend vertraut ist.« (Nissen, Fritze u. Trott 2004, S. 49)
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Anknüpfend an diese allgemeinen psychopharmakologischen Grundsätze sei nachfolgend auf einige Psychopharmakagruppen verwiesen, die sich bei Kindern und Jugendlichen mit Störungen des Sozialverhaltens bewährt haben (die psychopharmakologischen Möglichkeiten der ADHS haben wir im gleichnamigen Kapitel referiert). ▬ Hier sind zum einen die Neuroleptika zu nennen, deren Wirkung bei aggressiven Verhaltensstörungen als gut evaluiert gilt. So werden bei der Behandlung von aggressiven Impulsdurchbrüchen niederpotente Neuroleptika mit gutem Erfolg eingesetzt. ▬ Aber auch die modernen atypischen Neuroleptika, deren Einsatz bislang in Deutschland »off label« erfolgen muss (d. h. für diese Medikamente gibt es in Deutschland bislang für das Kindes- und Jugendalter keine Zulassung, der individuelle Heilversuch ist hiermit aber gestattet), haben auf Grund ihrer guten Verträglichkeit bereits ihren Platz in der Pharmakotherapie des gestörten Sozialverhaltens gefunden. Neue Berichte verweisen auch auf die Wirksamkeit von Stimulanzien bei dissozialen Störungen ohne ADHS. ▬ Bei den vielfältigen Komorbiditäten sozialer Verhaltensstörungen ist die Behandlung der komorbid auftretenden Symptomatik häufig vordergründig und auch ausreichend. So finden z. B. bei depressiver Komorbidität selbstverständlich die Antidepressiva eine sinnvolle Anwendung. ▬ Aber auch die Gruppe der Antikonvulsiva, hier insbesondere die Valproinsäure, sollten als Medikamente zur »Verhaltensglättung« und Verhaltensstabilisierung nicht unerwähnt bleiben. ▬ Als die wirksamsten antiaggressiven Medikamente haben sich in mehreren Studien die Lithiumsalze erwiesen, deren Gebrauch jedoch in die Hand des mit diesen Substanzen erfahrenen Kinder- und Jugendpsychiaters gehört. Wir machen uns bei all unserem pädagogischen, psychologischen und medizinischen oder psychotherapeutischen Herangehen häufig nicht genügend klar, dass es bei den uns anvertrauten Kindern und Jugendlichen nicht nur um solche geht,
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Kapitel 5 · Wie kann man den betroffenen Kindern und ihrer Umwelt helfen?
deren Entwicklung von Anfang an normal verlaufen ist und an irgendeiner Stelle eine Störung stattgefunden hat. Es handelt sich häufig um Kinder, die von Anfang an gestört waren, bereits in ihrer vorgeburtlichen Entwicklung, die darüber hinaus ungewollte, ungeliebte Kinder sind, die also nicht eine Resozialisierung, wie häufig so schön gesagt wird, brauchen, sondern häufig erst einmal eine Sozialisierung. Wir erleben in der Klinik immer wieder 13-, 14-, 15-jährige Jugendliche, die sich von ihren sozialen Verhaltensäußerungen her wie 2-, 3-Jährige benehmen, bei denen die Zeitfenster für die Entwicklung bestimmter sozialer Verhaltensmuster ganz einfach nicht genutzt wurden. Auch für diese Kinder und Jugendlichen sollten schon im gesellschaftlichen Alltag Hilfen bereitgestellt werden, die weit über finanzielle Unterstützung der Familie hinausgehen müssen. Es ist in jedem Staat so, dass Kinder, die in der Familie nicht ausreichend oder überhaupt nicht erzogen werden, von bzw. in staatlichen Einrichtungen erzogen werden müssen. Dieser Verantwortung muss die Gesellschaft dann aber auch gerecht werden, oder sie muss in verstärktem Maße die Familien zu Eigenkompetenz befähigen. Einen anderen Weg gibt es nicht. Finanzielle Stimulierung reicht dafür nicht aus, sie wird meist, und das ist allseitig bekannt, inzwischen für Dinge ausgegeben, die für die Entwicklung der Kinder wenig oder gar keinen Wert haben. An erster Stelle steht hier die Vermittlung von Werten. Das beginnt schon damit, dass Kinder wieder als Wert zu sehen sind und den Eltern diese Haltung vermittelt werden muss. Es zeigt sich zunehmend, dass es nicht das Problem des Einzelnen oder der einzelnen Familie ist, wenn das Kind Probleme hat. Es wird immer stärker zum gesamtgesellschaftlichen Problem und deshalb muss auch auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene dagegengesteuert werden. Ein weiter Punkt ist es, dass die Dinge, die als Gesetze bereits verankert sind, auch eingehalten und gesellschaftlich kontrolliert und sanktioniert werden sollten. Autonomie kann nicht darin bestehen, dass es jedem freisteht, sich durch gefährliche Maßnahmen wie Drogengebrauch oder »sensation seeking« selbst umzubringen, sondern Autonomie besteht nun mal in der Ein- und Unterordnung in ein Gesamtsystem, also in einer reiferen Heteronomie.
! Unbedingt notwendig erscheint uns der abschließende Hinweis, dass Störungen des Sozialverhaltens nur zum kleinen Teil ein medizinisch-psychiatrisches Problem darstellen, sondern dass es an der Zeit ist, im familiären, pädagogischen und im gesellschaftlichen Lebensalltag angemessen damit umzugehen.
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Zusammenfassung und Ausblick 6.1
Zusammenfassung
6.2
Ausblick
– 225
– 220
6
220
Kapitel 6 · Zusammenfassung und Ausblick
6.1
Zusammenfassung
In der Zusammenfassung greifen wir die uns am wichtigsten erscheinenden Inhalte noch einmal in knapper Form auf, um sie als handlungsleitende Gedanken für den Leser verfügbar zu halten. Wir haben herausgearbeitet, wie Verhalten entsteht und welche grundlegenden Parameter dafür verantwortlich sind. Damit begründen wir die Notwendigkeit der interdisziplinären Zusammenarbeit zwischen Pädagogik, Psychologie und Medizin. Ebenso werden dem Leser Vorkommenshäufigkeiten von Verhaltensstörungen aus verschiedenen Studien nahe gebracht. Außerdem wird auf die eigene prospektive interdisziplinäre Längsschnittstudie der Autoren verwiesen. Ergebnisse aus dieser Studie werden referiert. Es war unser Anliegen, an einem konkreten Fallbeispiel die Entwicklung und Herausbildung des auffälligen und schließlich des gestörten Verhaltens aus einem zunächst vorgefundenen Normalverhalten zu zeigen und diesen von uns ausgewählten Jungen (Robin) nicht nur in den verschiedenen Stadien seiner Verhaltensauffälligkeiten, sondern auch auf dem Weg zurück in die Normalität zu begleiten. Wir beginnen deshalb mit Robins frühkindlicher Entwicklung und seiner Entwicklung in den ersten Schuljahren, in denen er ein normales Sozialverhalten zeigte. Weiterhin wird auf die Entwicklung seines sozialen und emotionalen Verhaltens eingegangen sowie auf die Entwicklung seines motorischen und kognitiven Verhaltens. Die letzteren Bereiche gelten als Grundlagen für die Herausbildung von Sozialverhalten. Es ist ein hoher Anspruch, die verschiedenen Parameter für letztendlich normales Verhalten, das schließlich einer außerordentlich hohen individuellen Spielbreite unterliegt, innerhalb weniger Seiten darzustellen. Deshalb sind sicherlich die ergänzenden kurzen Fallbeispiele zur Untermauerung des Gesagten hilfreich. Immer ist es uns ein Anliegen, neben den »krankmachenden« Parametern auch »gesund erhaltende« Faktoren oder gar Faktoren der Gesundung darzustellen. Es ist uns wichtig, genau nach protektiven Faktoren und Resilienzfaktoren zu schauen. Und es ist uns außerdem wichtig, darauf zu verweisen, welch große Bedeutung frühe Bezie-
hungs- und Bindungsmuster haben. Insgesamt hoffen wir, dass durch unsere Darstellung dem Leser (auch dem Laien) etwas verdeutlicht wird, was auf die in der Praxis sehr häufig gestellten Fragen Antwort geben kann: »Woher kommt das nur?« »Warum ist mein Kind so?« »Woran kann das liegen?« Nur derjenige, der auf diese Fragen die Antworten kennt oder ahnt, kann schon im Stadium des Entstehens von Auffälligkeiten oder Störungen korrigierend eingreifen und der Entstehung solcher Störungen entgegenwirken. Es ist uns auch ein Bedürfnis, sehr deutlich zu machen, dass sich Störung des Sozialverhaltens nicht daran festmacht, wer wen an welcher Stelle stört, sondern herauszuarbeiten, wie das Kind sich durch sein eigenes normunangepasstes Sozialverhalten in der Entwicklung seiner alterstypischen Bezüge behindert und dadurch seine eigene Entwicklung stört. Wir glauben, dass wir durch die aus der Vielzahl gewonnenen Ergebnisse in unserer Längsschnittstudie auswählend dargestellten Beispiele die Bedeutung des theoretisch Aufgeführten untermauern können. Mitunter waren wir selbst überrascht, wie deutlich die Aussagen in manchen Bereichen ausfallen. Besonders wichtig erschien uns, die Bedeutung von Persönlichkeitsmerkmalen für die Ausbildung kindlichen Sozialverhaltens herauszuarbeiten. Dabei ist uns bewusst, dass wir es in diesem Alter mit einer sich erst entwickelnden Persönlichkeit zu tun haben und wir demzufolge immer wieder die Aufeinanderbezogenheit von Persönlichkeitsmerkmalen und Merkmalen des Sozialverhaltens beachten müssen. Wenn wir über die Bedeutung des sozialen Umfeldes für die Herausbildung von Störungen des Sozialverhaltens sprechen, ist es uns ein besonderes Anliegen, die am frühesten auf das Kind einwirkende Umwelt, nämlich den familiären Rahmen, zu analysieren, um an dieser Stelle ganz frühe Grundlagen für fehlerhaftes oder unangepasstes Sozialverhalten zu entdecken, um sowohl Fachleuten als auch Laien die Bedeutung früher familiärer Interaktionsmuster für die Herausbildung von ungestörtem oder andererseits auch gestörtem Sozialverhalten nahe zu bringen. Wir erleben in der Praxis leider zu häufig, dass das Kind dort sehr ungenügend auf sein späteres Leben, sprich seine sozialen Interaktionen, vorbereitet wird: Häufig ist
221 6.1 · Zusammenfassung
die Elterngeneration selbst nicht in der Lage, ein solches flexibles, ungestörtes, Erfolg versprechendes Sozialverhalten zu zeigen und an ihre Kinder weiterzugeben. Hierbei fällt auf, dass bei verhaltensgestörten Kindern und Jugendlichen in wenigen Fällen soziale Verhaltensstörungen bis in die Großelterngeneration zurückzuverfolgen sind. In mehr als 50% der Fälle zeigt aber die Elterngeneration selbst Verhaltensauffälligkeiten bis hin zu massiven Verhaltens- und Persönlichkeitsstörungen. Das heißt, mit dieser Elterngeneration ist als Elternmodell gesellschaftlich auch weniger zu rechnen. Es soll dabei nicht außer Acht gelassen werden, dass es auch die andere Seite gibt, dass man sich also unter den heutigen Bedingungen durchaus auch hervorragend in seinem Sozialverhalten bewähren und dabei gesund bleiben kann. Die Bedeutung der familiären Interaktionen und der Interaktionen der Familie nach außen, sprich Kindergarten, Schule, Berufsausbildung, ist aber letztlich die wichtigste Grundlage, auf die ein Kind bezüglich seines Sozialverhaltens zurückgreifen kann und sie ist auch diejenige Ebene, die die erweiterte Familienebene in einer Weise beeinflusst, dass sie für die Entwicklung des Kindes förderlich oder nicht förderlich ist. Bezüglich des schulisch-institutionellen und des gesellschaftlichen Umfeldes haben wir ganz bewusst versucht, auf Missstände und Stolpersteine für die Entwicklung unserer Kinder hinzuweisen, wohl wissend, dass die meisten dort angesprochenen Probleme nicht generalisierend betrachtet werden dürfen. Jedoch können wir aus eigener jahrzehntelanger Erfahrung nur immer wieder betonen, dass man sich häufig nicht ausreichend bewusst macht, welche ungeheure verhaltenssteuernde und persönlichkeitsbildende Potenz Faktoren wie z. B. Medien, Vorbildern, Spielen o. Ä. innewohnt. Wir dürfen nie vergessen, dass Kinder immer lernen, es liegt in unserer Verantwortung, was sie lernen. Da die ADHS als eines der am besten untersuchten kinder- und jugendpsychiatrischen Störungsbilder gilt und häufig zu allererst durch gestörtes Sozialverhalten auffällt, haben wir ihr einen eigenen Abschnitt gewidmet. Die Aufmerksamkeitsdefizitstörung (ADS), also die Störung ohne die Komponente der motorischen Unruhe, wird oft lange Zeit übersehen. Aber wenn das Kind unruhig ist und impulsiv, haben alle sozialen Bezugssys-
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teme Schwierigkeiten im Umgang mit ihm. Viele Kinder werden mit der Fragestellung »Störung des Sozialverhaltens« vorgestellt, bei denen sich dann eine ADHS diagnostisch herauskristallisiert. Andererseits gibt es auch eine Menge Kinder, die mit der Überweisungsdiagnose ADHS kommen und bei denen am Ende eine Störung mit oppositionellem Trotzverhalten oder eine Störung des Sozialverhaltens diagnostiziert werden muss. Es ist uns wichtig, die heute gängigen Lehrmeinungen in Bezug auf Ursachen, Diagnostik und Therapie darzustellen, wohl wissend, dass es neben diesem gängigen Pfad der Lehrmeinungen durchaus eine ganze Reihe weiterer Erwägungen und Erkenntnisse (sowie eine Vielzahl noch spekulativer Befunde) gibt. In dem Absatz »Was bedeutet ADHS in verschiedenen Entwicklungsstadien?« kam es uns darauf an, auch hier die Verquickung von medizinischen, psychologischen und pädagogischen Faktoren zu betonen, da diese für jedes Lebens- und Entwicklungsalter unterschiedlich sind und die Therapie sich möglichst gut daran anpassen muss. Diagnostik und Therapie der ADHS haben wir an dieser Stelle absichtlich sehr kurz gehalten, haben auf verschiedene diagnostische und therapeutische Methoden lediglich hingewiesen, um Dopplungen zu vermeiden, da diese diagnostischen und therapeutischen Methoden in den allgemeinen Abschnitten über Diagnostik und Therapie ausführlicher vorgestellt werden. Wir haben an der entsprechenden Stelle jeweils einen Verweis angefügt. Dieses Vorgehen erschien uns sinnvoll, um das Ganze nicht zu zersplittern. Über das Fallbeispiel Robin kommen wir zum diagnostischen Vorgehen bei Störungen des Sozialverhaltens und dies sowohl im pädagogischen als auch im psychologischen und medizinischen Bereich. Auch hier haben wir wieder Ergebnisse unserer Längsschnittstudie dargestellt, die mit den vorgestellten diagnostischen Verfahren gewonnen wurden, soweit sie uns für die Illustration des theoretisch Gesagten wertvoll erschienen. In diesem Kapitel sind auch Auszüge aus dem Interview zu den Thomaeschen Kategorien eingearbeitet, weil das Interview nach den Thomaeschen Kategorien an sich etwas schwerer verständlich sein könnte, so dass diese Auszüge aus 2 Interviews das Ganze illustrieren können.
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Kapitel 6 · Zusammenfassung und Ausblick
Die erwähnten diagnostischen Verfahren stellen eine Auswahl ohne Anspruch auf Vollständigkeit dar. Es handelt sich hierbei allerdings um Verfahren, die in der pädagogischen bzw. klinischen Praxis eine weite Verbreitung gefunden haben und die sicher von vielen Fachleuten auch selbst ange-
wendet werden oder künftig angewendet werden können. Es war nicht unser Anliegen, den Testkatalog bezüglich der Möglichkeiten der Diagnostik von Verhaltensstörungen abzuarbeiten, sondern einen Überblick über solche Verfahren zu geben, die sich
⊡ Tab. 6.1. Übersicht über diagnostische Verfahren für den Nachweis von Störungen des Sozialverhaltens: Symptomatik, Verhalten, Intelligenz und Leistung Indikationsbereich bzw. diagnostisches Verfahren
Altersbereich (Jahre)
Erfassung der Symptomatik
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Marburger Verhaltensliste (MVL)
6-12
Diagnostisches Interview bei psychischen Störungen im Kindes- und Jugendalter (Kinder-DIPS)
5-18
Diagnostiksystem für psychische Störungen im Kindes- und Jugendalter nach ICD-10 und DSM-IV (DISYPS-KJ)
11-18
Erfassung des aktuellen Verhaltens Elternfragebogen über das Verhalten von Kindern und Jugendlichen
4-18
Teacher’s Report Form (TRF)
6-18
Vineland Social Maturity Scale für Vorschulkinder (VSMS)
2-7
Conners-Skalen
4-18
Fragebogen zum Hyperkinetischen Syndrom
5-10
Beurteilungsskala zur Erfassung der Diagnose ADHS
4-14
Exploration von Eltern, Lehrern und anderen Bezugs- bzw. Kontaktpersonen (EPSKI)
4-18
Intelligenzdiagnostik Hannover-Wechsler-Intelligenztest für das Vorschulalter (HAWIVA-III)
2;6–7;3
Hamburg-Wechsler-Intelligenztest für Kinder III (HAWIK-III)
6;0–16;11
Hamburg-Wechsler-Intelligenztest für Erwachsene (HAWIE-R)
16–89
Kramer-Test
3-15
Adaptives Intelligenzdiagnostikum (AID 2)
6;0–15;11
Kaufman Assessment Battery for Children von Kaufman und Kaufman (K-ABC)
2;5–12;5
Zahlenverbindungstest (ZVT)
8–95
Coloured Progressive Matrices (CPM)
5-11
Standard Progressive Matrices (SPM)
8 und älter
Columbia Mental Maturity Scale (CMM)
3-12
Leistungsdiagnostik Diagnostikum für Zerebralschädigung (DCS)
6-79
Konzentrations-Handlungs-Verfahren für Vorschulkinder (KHV-VK)
3;0–6;11
Konzentrations-Handlungs-Verfahren (KHV)
6-11
Konzentrationsverlaufstest (KVT)
8-60
Continuous Performance Test (CPT)
7-19;11
Aufmerksamkeits-Belastungs-Test (d2)
9-60
Differentieller Leistungstest – KE (DL-KE)
5-7
Differentieller Leistungstest – KG (DL-KG)
7-10
Matching-Familiar-Figures-Test (MFF)
6-18
223 6.1 · Zusammenfassung
in der Praxis als gut geeignet für die Diagnostik der uns interessierenden Störungen erwiesen haben. Nachfolgend findet der Leser zu seiner raschen Orientierung einen tabellarischen Überblick über die dargestellten diagnostischen Verfahren (⊡ Tab. 6.1, ⊡ Tab. 6.2).
6
Nach einer Übersicht zur Leistungsdiagnostik (⊡ Tab. 6.1) werden in der folgenden Tabelle (⊡ Tab. 6.2) nochmals persönlichkeitsdiagnostische Verfahren im Überblick dargestellt. Bezüglich des therapeutischen Vorgehens beginnen wir mit vorbeugenden Programmen und
⊡ Tab. 6.2. Übersicht über diagnostische Verfahren für den Nachweis von Störungen des Sozialverhalten: Persönlichkeit Indikationsbereich bzw. diagnostisches Verfahren
Altersbereich (Jahre)
Persönlichkeitsdiagnostik Spezifische Persönlichkeitsmerkmale Erfassungsbogen für aggressives Verhalten in konkreten Situationen (EAS)
9-12
Fragebogen zur Erfassung von Aggressivitätsfaktoren (FAF)
15 und älter
Inventar zur Erfassung von Impulsivität, Risikoverhalten und Empathie bei 9- bis 14-jährigen Kindern (IVE)
9-14
Allgemeine Persönlichkeitsmerkmale Frankfurter Kinder-Selbstkonzept-Inventar (FKSI)
3-13;11
Persönlichkeitsfragebogen für Kinder zwischen 9 und 14 Jahren (PFK)
9-14
Youth Self-Report (YSR)
11-18
Diagnostik Depressivität und Angst Depressionsinventar für Kinder und Jugendliche (DIKJ)
8-16
Depressionstest für Kinder (DTK)
9-14
Kinderangsttest (KAT-II)
9-15
Angstfragebogen für Schüler (AFS)
9-17
Schulangsttest (SAT)
7-13
Projektive Verfahren zur Ergänzung der Persönlichkeitsdiagnostik Formdeuteversuch (Rorschach)
10 und älter
Thematischer Apperzeptionstest (TAT)
4 und älter
Sceno-Test
3 und älter
Schwarzfuß-Test (SFT)
3 und älter
Foto-Hand-Test (FHT)
8 und älter
Wartegg-Zeichentest (WZT)
5 und älter
Familie in Tieren
4 und älter
Diagnostik von Interaktionsformen und -beziehungen Familien- und Kindergarten-Interaktions-Test (FIT-KIT)
4-8
Landauer Skalen zum Sozialklima für 4. bis 13. Klassen (LASSO) Familiensystemtest (FAST)
6 und älter
Familien-Beziehungs-Test (F-B-T)
5 und älter
Elternfragebogen über Problemsituationen in der Familie (HSQ-D)
Eltern
Erziehungsstilinventar (ESI)
8-16
224
Kapitel 6 · Zusammenfassung und Ausblick
⊡ Tab. 6.3. Präventive und pädagogische bzw. pädagogisch-psychologische Verfahren der Intervention bei Störungen des Sozialverhaltens Zielstellung der Intervention
Zielgruppe
Verbesserung der Kommunikationsfähigkeit Sprechen und Zuhören
Alle
Präventionsprogramme
6
Triple-P-Ansatz
Eltern mit Kindern von 2-16 Jahren
Das positive Erziehungsprogramm
Eltern mit Kindern von 2 bis 16 Jahren
Elternkurs »Starke Eltern – starke Kinder«
Eltern mit Kindern von 2 bis 16 Jahren
Elternleitfaden
Eltern mit Kindern von 2 bis 16 Jahren
Pädagogische und pädagogisch-psychologische Interventionsprogramme
Erzieher, Beratungslehrer, Schulpsychologen
FAUSTLOS (KG)
Kindergartenkinder von 3-7 Jahren
FAUSTLOS (1-3)
Grundschüler der Klassen 1-3
Training mit aggressiven Kindern
Schüler im Alter von 7-13 Jahren
Sozialtraining in der Schule
Schüler der 3.-6. Klasse
Training mit Jugendlichen
Jugendliche im Alter von 13-20 Jahren
Streitschlichterprogramme an Schulen
Schüler aller Klassenstufen
Komplexe Vorgehensweisen Schulversuch zur Bekämpfung von Gewalt
Schüler, Eltern, Lehrer, Schulbehörde
Förderpädagogische Maßnahmen Schule für Erziehungshilfe
stellen hier besonders das Triple-P-Programm etwas ausführlicher dar, genauso ist es bei den Hilfen im Kindergarten und in der Schule. Auch hier »unterfüttern« wir die einzelnen Verfahren und deren Vorstellung immer wieder mit Ergebnissen, die wir durch unsere prospektive interdisziplinäre Längsschnittstudie an den Schülern der Schule für Erziehungshilfe im Vergleich zu Regelschülern gefunden haben. Wir wissen, dass es bezüglich der vorgestellten Methoden Überschneidungen gibt, dass manche Methoden durchaus in der pädagogischen und psychologischen Praxis angewendet werden, das ist durchaus legitim. Zur Illustration des Gesagten fanden wir außerdem das Interview eines Journalisten mit 2 Schülern der Schule für
Schüler mit SSV aller Altersgruppen
Erziehungshilfe sowie mit 2 ihrer Lehrerinnen und einer Untersucherin aus der Längsschnittstudie passend. Schließlich kommen wir dann unter »Therapeutische Hilfen« zu vorwiegend in der klinischen Praxis eingesetzten Verfahren bis hin zu umschriebenen standardisierten Interventionsprogrammen. Auch hier wollen wir einen tabellarischen Überblick über therapeutische Möglichkeiten geben und zwar zunächst im Elternhaus und in der Institution (⊡ Tab. 6.3). Nach der tabellarischen Auflistung von Verfahren im Elternhaus und der Schule folgt die Übersicht über Interventionsverfahren aus der medizinischen und psychologischen Praxis (⊡ Tab. 6.4).
225 6.2 · Ausblick
6
⊡ Tab. 6.4. Kinder- und jugendpsychiatrische und klinisch-psychologische bzw. psychotherapeutische Verfahren zur Intervention bei Störungen des Sozialverhaltens Zielstellung der Intervention
Zielgruppe
Verhaltenstherapie mit ihren unterschiedlichen Elementen Verstärkung, Stimuluskontrolle und Token-Economy, Kontingenzverträgen, Time out, Modelllernen, kognitive Ansätze, innere Monologe, Selbstinstruktion
Kinder und Jugendliche aller Altersgruppen
Elternberatung
Eltern mit Kindern von 0-18 Jahren
Elterntraining
Eltern mit Kindern von 2-10 (16) Jahren
Problemlösetraining
Kinder und Jugendliche nach dem 10. Lebensjahr
Spezielle Trainingsprogramme Konzentrationstrainingsprogramm für Vorschulkinder
Kinder im Alter von 4-6 Jahren
Konzentrationstrainingsprogramm für Kinder: 1. und 2. Klasse
Schüler der 1. und 2. Klasse
Konzentrationstrainingsprogramm für Kinder: 3. und 4. Klasse
Schüler der 3. und 4. Klasse
Training mit aufmerksamkeitsgestörten Kindern
Schüler im Grundschulalter
Therapieprogramm für oppositionelles Problemverhalten (THOP)
Kinder im Alter von 3-12 Jahren
Marburger Konzentrationstraining für Vorschulkinder
Kinder im Alter von 4-6 Jahren
Marburger Konzentrationstraining für Schulkinder
Schüler im Grundschulalter
Typenspezifischer Umgang mit aggressiven Kindern
Kinder und Jugendliche
Weitere therapeutische Möglichkeiten Familientherapeutisches Vorgehen
Familien mit Kindern und Jugendlichen aller Altersgruppen
Komplementäre Therapieformen
6.2
Ergotherapie
Kinder und Jugendliche
Physiotherapie
Kinder und Jugendliche
Musiktherapie
Kinder und Jugendliche
Tiergestützte Therapie
Kinder und Jugendliche
Pharmakotherapie
Kinder und Jugendliche mit SSV
Ausblick
In diesem Band haben wir verhaltensauffällige und -gestörte Kinder und Jugendliche beschrieben und vorgestellt und zur Vertiefung von Ergebnissen einer eigenen prospektiven interdisziplinären Längsschnittstudie an Schülern einer Schule für Erziehungshilfe berichtet.
Wir sollten uns immer bewusst sein, dass die Umwelt einen hohen Anteil an der Herausbildung, Aufrechterhaltung und Verschlimmerung dieser Verhaltensauffälligkeiten und –störungen hat. So betrachtet, sind diese Schüler in gewissem Sinne als Seismographen der Gesellschaft zu verstehen und wir wären gut beraten, wenn wir uns nicht nur um die Korrektur ihres Verhaltens bemühen würden,
226
6
Kapitel 6 · Zusammenfassung und Ausblick
sondern auch unsere gesellschaftlichen Bedingungen ehrlicher auf den Prüfstand stellten. Denn was die besonders Störbaren (Vulnerablen) heute schon krank macht, ist schließlich auch für die bislang noch Gesunden nicht unschädlich. Verhaltensgestörte Schüler in Schulen für Erziehungshilfe sind lediglich die »Spitze des Eisberges«. Verhaltensauffällige Schüler gibt es jedoch auch an Regelschulen. Hier ist es besonders wichtig, die Sensibilität der Lehrer bereits für beginnende Auffälligkeiten zu erhöhen, um durch integrative Bemühungen diese Kinder in der Heimatschule zu halten und die Auffälligkeiten nicht erst störungswertig werden zu lassen. Außerdem gilt es, den Blick der Lehrer an Regelschulen für psychisch kranke Kinder und Jugendliche zu schärfen, um durch gezieltes pädagogisches Eingehen auf die Besonderheiten (sowohl die individuellen als auch die störungsspezifischen) jedes Schülers ihm die seinen Bedürfnissen und Möglichkeiten angemessenen besten Bildungschancen zu geben. Hierzu bedarf es eines interdisziplinären Vorgehens. Die Einsicht in die Notwendigkeit von Interdisziplinarität ist jedoch nur der erste Schritt – was wir wollen und was unsere Kinder brauchen, ist gelebte Interdisziplinarität. Die Autoren meinen, dass die sich gegenwärtig in ihrer Region und auch in anderen Regionen der Bundesrepublik vollziehenden Vernetzungen von Helfersystemen hierfür einen optimistischen Ausblick darstellen. Allerdings geben sie zu bedenken, dass Vernetzung ausschließlich aus Kostengründen dem inhaltlichen Anspruch nicht gerecht werden kann. Die Netze dürfen nicht geknüpft werden, um die Hauptlast an den jeweils anderen Partner zu delegieren, nicht Bemühung der einzelnen Helfersysteme nacheinander, sondern miteinander ist unabdingbar. Dies ist für die Gesellschaft am Ende preiswerter und für den Einzelfall effizienter. Dem muss auch künftige Forschung Rechnung tragen. Es nützt wenig, auf Spezialgebieten immer tiefer in Fakten und Zusammenhänge einzudringen, wenn wir nicht in der Lage sind, die für die Praxis ableitbaren Erkenntnisse fachübergreifend bekannt und damit für tägliches Tun nutzbar zu machen. Nachdem sich in einer kürzlich abgeschlossenen Studie (Ertle u. Kimmig 2006) insgesamt
12-15% von in Regel- und Förderschulen beschulten Kindern und Jugendlichen durch die Lehrer als chronisch krank identifizieren ließen, lag der Anteil der mit psychischen Störungen erkannten Schüler sehr niedrig, nämlich bei 0,47%. Geht man von Literaturangaben zur Häufigkeit dieser Störungen aus (ca. 15%), so wird deutlich, dass die Dunkelziffer in der Wahrnehmung der Lehrer sehr hoch ist (vgl. auch Kap. 1.2). Deshalb soll eine gegenwärtig in Sachsen in Vorbereitung befindliche Studie die Sensibilität der Lehrer an Regelschulen für solche Störungen verbessern helfen, aber auch Schüler und Eltern einbeziehen und gezielte Präventionsprogramme für Lehrer und Eltern vorlegen und erproben. Um dies zu erreichen, sind für die Lehrkräfte gezielte Fortbildungsmaßnahmen notwendig. Den Eltern hingegen muss elterliche Verantwortung zurückgegeben werden, gleichzeitig muss man sie aber auch stärken, dieser Verantwortung gerecht werden zu können. Es liegt in der Verantwortung der Gesellschaft, Menschen mit psychischen ebenso wie mit Verhaltensstörungen nicht länger zu stigmatisieren und zu Außenseitern der Gesellschaft zu machen. Es liegt in der Verantwortung der Gesellschaft, sich klar und eindeutig gegen Formen der Gewalt im menschlichen Zusammenleben auszusprechen und Gewalt in jeder Form zu ächten. Diese Grundhaltung muss von Politikern, Künstlern und allen Personen des öffentlichen Lebens getragen und realisiert werden. Hierzu gehört auch das längst überfällige Handeln nach der Einsicht in die wiederholt vorgelegten Ergebnisse über die Schädlichkeit des Konsums von Gewaltdarstellungen in den Medien. Es liegt auch in der Verantwortung der Gesellschaft, die klassische Familie nicht als veraltete Lebensform abzuwerten, sondern ihr die Bedeutung zuzumessen, die ihr nachgewiesenermaßen zukommt, nicht nur als kleinste gesellschaftliche Keimzelle, sondern als lebens- und in Krisenzeiten überlebensnotwendige Organisationsform menschlichen Zusammenlebens. Und es liegt in der Verantwortung jedes Einzelnen von uns, mit der Veränderung von als veränderungsbedürftig erkannten Dingen im persönlichen, beruflichen und öffentlichen Leben schon heute zu beginnen.
Literaturverzeichnis
228
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Über die Autoren
Prof. Dr. phil. habil. Klaus Udo Ettrich
Prof. Dr. med. habil. Christine Ettrich
Klaus Udo Ettrich ist Pädagoge und Diplom-Psychologe und war langjähriger Leiter einer psychologischen Beratungsstelle. Als Professor für Entwicklungspsychologie bekleidete er bis zu seiner Emeritierung den gleichnamigen Lehrstuhl an der Universität Leipzig. Er forschte über Veränderungen in der Lebensspanne vom Kleinkindalter über das Jugendalter bis zum höheren Lebensalter. Er ist auch jetzt noch aktiv forschend, lehrend, ausbildend und betreuend tätig. Zahlreiche eigene Publikationen sowie unter seiner Leitung entstandene Qualifikationsarbeiten beschäftigen sich mit Problemen des gestörten Sozialverhaltens aus diagnostischer und therapeutischer Sicht, wobei es ihm immer auch um die lebensnahe Analyse und Hilfe sowohl für betroffene Kinder und Jugendliche als auch für deren Eltern und Erzieher ging. Der Autor ist Herausgeber mehrerer psychodiagnostischer Verfahren.
Christine Ettrich ist Fachärztin für Pädiatrie und Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie und Professorin für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik an der Universität Leipzig. Die Autorin leitet eine seit über einem Jahrzehnt laufende prospektive Längsschnittstudie zur Persönlichkeitsentwicklung verhaltensgestörter Kinder und Jugendlicher. Aus diesen Forschungen sind zahlreiche Publikationen zu dieser Thematik hervorgegangen. Durch die Verknüpfung von Forschungsarbeit und klinischer Betreuung verhaltensgestörter Kinder und Jugendlicher steht ihr ein umfassendes Erfahrungswissen über die Diagnostik und therapeutische Hilfe für diese Patienten zur Verfügung. Professor Christine Ettrich ist Mitglied des Kuratoriums des Bundesverbandes Arbeitskreis Überaktives Kind e. V. Sie veröffentlichte u. a. mehrere verhaltenstherapeutische Programme für Kinder sowie Ratgeber und Handreichungen für Eltern zur Arbeit mit ADHS-Kindern.
Stichwortverzeichnis
242
Stichwortverzeichnis
A Adaptation 5, 163 Adaptives Intelligenzdiagnostikum (AID) 118, 222 ADHS 10, 43f, 50f, 57, 82, 85, 114, 134, 137, 208, 221 – Diagnostik 88 – Schwerpunkte therapeutischer Möglichkeiten 89 Adoption 55 Adoptivkinder 45, 61f, 77 Aggressionsbewältigungsprogramm 208 Aggressivität/Aggression 9f, 42, 52, 57, 60, 67, 68, 70, 77, 80f, 101, 104, 121, 129f, 144, 149, 186, 214 Akkommodation 31 Akzeptanz 187 Anamnese 114f, 201 Angst 51, 56f, 65, 72f, 98, 101, 104, 119 Angstfragebogen für Schüler (AFS) 124, 223 Angsthierarchie 194 Angststörungen 9, 87, 114 Anlagen 4, 41, 142 Anlage-Umwelt-Kontroverse 2, 4 Anorexia nervosa 39 Anstrengungsbereitschaft 105 Antisoziale Persönlichkeitsstörung 10, 44, 49, 59f, 82 Arbeitsmodell, internes 30 Assimilation 30f Aufgabenhaltung 71, 156 Aufmerksamkeit 83, 91 Aufmerksamkeits-BelastungsTest (d2) 120, 222 Aufmerksamkeitsstörung 63, 65f, 83f, 100, 111, 114, 134, 160, 205f Autogenes Training 194 Autonomie 78, 102, 110, 143, 159, 180, 218
B Befragung 99 Beobachtung 98 Beratung 140, 186, 216 Beurteilungsskala zur Erfassung der Diagnose ADHS 222 Beziehung 45 Bezugsperson/en 17f, 26ff, 30, 45, 54, 66, 90, 109, 140, 143,186, 216 Bindung 17f, 26ff, 54, 70, 77f, 144 – desorganisierte 28, 30, 54 – sichere 26, 29, 54 – unsicher-ambivalente 27, 30, 54 – unsicher-vermeidende 27, 29, 54 Bindungsentwicklung 16, 19, 25 Bindungserfahrungen 25, 30 Bindungsmuster 25f, 29, 54 Bindungssystem 25, 27 Binet-Test 115 Black-out-Typ, Erregungstyp 209 Bulimia nervosa 39
C Charaktereigenschaften 75 Child Behavior Checklist (CBCL) 111, 159 Coloured Progressive Matrizen (CPM) 116, 222 Columbia Mental Maturity Scale (CMM) 117, 222 Conners-Skalen 132, 206, 222 Continuous Performance Test (CPT) 120, 222
D Delinquenz 9, 42, 44, 51, 101, 148, 184, 186 Depressionsinventar für Kinder und Jugendliche (DIKJ) 123, 223
Depressionstest für Kinder (DTK) 123, 223 Depressivität/Depression 9f, 51, 56f, 65, 82, 87, 98, 104, 213 Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-IV) 48, 84, 114 Diagnostik – pädagogische 98ff – psychologische 111ff Diagnostiksystem für psychische Störungen nach ICD-10 und DSM-IV (DISYPS-KJ) 114, 222 Diagnostikum für Zerebralschädigung (DCS) 119, 222 Diagnostisches Interview bei psychischen Störungen im Kindes- und Jugendalter (DIPS) 113, 222 Differentieller Leistungstest (DL-KE/DL-KG) 121, 222 Dissoziale Persönlichkeitsstörung (s. antisoziale Persönlichkeitsstörung)
E Early-Starter-Modell 43f, 62 Eingangsdiagnostik 112 Einkommenssituation 55 Einnässen 7, 87 Elterliches Entfremdungssyndrom 69 Eltern 66f, 69, 71, 82, 90ff, 110, 112ff, 140, 142ff, 150ff, 158 Elternberatung 90, 186, 225 Elternfragebogen – über das Verhalten von Kindern und Jugendlichen 222 – über Problemsituationen in der Familie (HSQ-D) 131f, 223 Elternkurs 148, 224 Elternleitfaden 224 Elterntraining 90, 145ff, 155, 157, 185ff, 190f, 208, 225 Emotionaler Typ 209 ff
243 Stichwortverzeichnis
Empathie 16, 20, 126, 157, 163, 187 Entspannungstherapie 215 Entwicklung 8f, 11, 13, 16, 18, 20, 34, 36, 42, 44ff, 54ff, 59, 70f, 74, 90, 109f, 114, 140, 142ff, 148 Entwicklungsaufgaben 18, 20, 22, 72 Entwicklungsdiagnostik 98 Entwicklungsgeschichte 114 Entwicklungspfade 58, 75 Entwicklungsstörungen 140 Erfassungsbogen für aggressives Verhalten in konkreten Situationen (EAS) 121, 223 Ergotherapie 214, 225 Erziehung 11f, 23, 41, 43, 46f, 74, 78, 89f, 140f, 143, 149, 158 Erziehungshilfe 143, 148, 156, 158 Erziehungskompetenz 145f, 148, 158, 188 Erziehungsprobleme 147, 206 Erziehungsstilinventar (ESI) 132, 223 Evaluation 13, 178 Exosystem 12 Exploration von Eltern, Lehrern und anderen Bezugs- und Kontaktpersonen von Kindern und Jugendlichen (EPSKI) 133, 222 Explorationssystem 25, 27
F Fähigkeiten – kognitive 30, 71 – motorische 36 Faktoren – biologische 18, 58 – protektive 2, 45 – psychische 19 – psychosoziale 42, 115 – soziale 19, 58 Familie 11f, 42f, 46, 66, 70f, 75ff, 87, 96, 102, 104, 140, 142, 144, 147ff, 180, 184 – in Tieren 131, 223
Familien- und Kindergarteninteraktionstest (Fit-Kit) 131, 223 Familienbeziehungstest (F-B-T) 131, 223 Familienskulptur 212 Familiensystemtest (FST) 131, 223 Familientherapie 211ff, 225 – systemische 211ff Family adversity index (FAI) 42 FAUSTLOS 157, 163, 224 Fehlentwicklung 25, 105, 145, 169 Fehlverhalten 17, 142, 166, 186, 189ff Feinfühligkeit 19, 26, 66 Feinmotorik 37, 87, 214 Feinneurologische Zeichen 137 Förderpädagogik 165 Förderschule für Erziehungshilfe/ Schule für Erziehungshilfe 166f, 169f, 178, 224ff Form-Deute-Versuch nach Rorschach 128f, 223 Fortbewegung 36 Foto-Hand-Test (FHT) 129, 223 Fragebogen – zum Hyperkinetischen Syndrom (HKS) 133, 222 – zur Erfassung von Aggressivitätsfaktoren (FAF) 122, 223 Frankfurter Kinder-SelbstkonzeptInventar (FKSI) 123, 223 Fremde-Situation-Test (FST) 26 Fremdurteil 56, 123, 175 Frostigs Entwicklungstest der visuellen Wahrnehmung 121 Frustration 72, 86, 209, 214 Funktionelle Systeme 4, 10
G Generation 70 Genogramm 212f Gestaltwandel, erster 37f Gewalt 77, 132, 160, 162, 169, 185, 189, 226 Gewaltbereitschaft 9, 76
A–I
Grausamkeit gegenüber Tieren 44 Greifen 36 Grobmotorik 37, 114
H Hamburg-Wechsler-Intelltigenztest – für Erwachsene (HAWIE) 115, 222 – für Kinder (HAWIK) 115, 117, 222 Hannover-Wechsler-Intelligenztest für das Vorschulalter(HAWIVA) 115, 222 Hirnfunktionsstörung 41, 80, 96, 119, 134
I ICD-10 50, 83, 114 Identifikation 53, 67, 77, 121, 156, 202 Identität 23f, 148 – diffuse 24f – erarbeitete 25 – Ideal-Selbst 24 – Moratorium 24 – persönliche 24 – soziale 24 – übernommene 24 Identitätsentwicklung 77 Identitätsfindung 23f, 75 Impulsivität 41, 59, 63, 83, 86f, 90f, 114, 125f, 206 Individualismus 76, 162 Informationsverarbeitung 141f, 190 Integration 19, 104, 149, 169 – sensorische 92 Intelligenz 34f, 45, 87, 115, 118, 158 Intelligenzkoeffizient/-quotient 35, 115
244
Stichwortverzeichnis
Intelligenzmessung 35 f Interaktion 30, 54, 59, 152, 171, 185, 189, 212, 220f Interdisziplinarität/interdisziplinär 2, 97, 140, 176, 226 Intervention 140, 147f, 212, 214 Interventionsprogramme 58, 160, 224 Interview 101f, 106, 140, 169, 170f, 173, 176, 178, 221 Inventar zur Erfassung von Impulsivität, Risikoverhalten und Empathie (IVE) 125, 223
J Jugendhilfe 179, 180, 184, 216
K Kaufmann Assessment Battery for Children (K-ABC) 118, 222 Kinderangsttest (KAT) 124, 223 Kognitive Umstrukturierung 195 Kognitives Paradigma 192 Kommunikation 144, 152, 164, 189, 211 Komorbidität 43 Kompetenz 164, 166, 213 Konditionieren – klassisches 192f – operantes 146, 192ff Konflikt 164f, 185, 189, 214 Kongruenz 187 Konsequenzen 153f, 156, 185, 193 Kontingenzmanagement 155ff, 193 Konzentrations-Handlungsverfahren 222 – für Vorschulkinder (KHV-VK) 120, 203, 222 Konzentrationsprobleme 86 Konzentrationsstörung 83, 86
Konzentrationstrainingsprogramm (KTP) 146, 157, 196, 200, 203ff, 225 Konzentrationsverlaufstest (KVT) 120, 222 Koordination 38 Kortikale Landkarten 3, 5, 144 Kramer-Test 116, 222
L Landauer Skalen zum Sozialklima für 4. bis 13. Klassen (Lasso) 126 Längsschnittstudie/n 3, 6, 30, 44, 55, 62, 67, 75, 110, 140, 159, 220f, 224f Late Starter 43 Laufen, selbstständiges 37 Lebensbewältigung 75, 103 Lebensereignisse 55 Lernen am Erfolg (s. Konditionieren, operantes) Liste zur Erfassung von Verstärkern für Kinder (LEV-K) 157 Loyalitätskonflikt 69
M Makrosystem 12 Marburger Konzentrationstraining 208, 225 Marburger Verhaltensliste (MLV) 112, 222 Matching-Familiar-Figures-Test (MFF) 121, 203f, 222 Medikamentöse Therapie 216 – Antidepressiva 216 – Antikonvulsiva 216 – Atomoxitin 91 – Atypika 216 – Lithium 216 – Methylphenidat 91 – Neuroleptika 216 Mesosystem 12
Mikrosystem 12 Missbrauch, Misshandlung 56, 59, 115, 213 – psychischer 42 Modell 143, 145, 149, 165, 187, 189, 200 Modelllernen 67, 146, 185, 189, 194 Moral 16, 20ff, 143 Moralentwicklung 21ff Motivation 73, 158, 173, 176, 192, 202 Motorische Unruhe 83, 86, 91 Multiaxiales Klassifikationsschema 111 Multimodal treatment study of children with ADHS (MTA-Studie) 208 Musiktherapie 215, 225
N Nachahmungsverhalten 32 Neuromodulation 3 Neuroplastizität 3 Neurotransmitter 3, 5
O Objektpermanenz 32 Oppositionelles (Trotz-)Verhalten 9, 51, 58, 82, 113
P Paraklinische Verfahren (Labordiagnostik, CT, MRT, EEG) 112 Peer-Group 42, 54, 59, 75, 103, 186 Persönlichkeit 11, 47, 53, 220 Persönlichkeitsdiagnostik 121 Persönlichkeitsentwicklung 4f, 24, 41, 46f, 71, 73f, 169, 178
245 Stichwortverzeichnis
Persönlichkeitsfragebogen für Kinder von 9 bis 14 Jahren (PFK) 62, 64, 123, 223 Persönlichkeitsmerkmale/-eigenschaften 62fr, 65, 100, 111f, 120, 166, 220 Persönlichkeitsstörung – antisoziale 10, 44, 49, 59f, 82 – dissoziale (s. antisoziale Persönlichkeitsstörung) Pharmakotherapie 90, 92ff, 205, 216f, 225 Physiotherapie 81, 92, 181, 183, 215, 225 Positives Erziehungsprogramm 224 Präoperationales Stadium 31, 34, 38 Prä-Post-Vergleich 203 Prävalenz 82 Prävention 8, 68, 76, 109 Präventionsprogramme 140, 145, 148 Problemlösetraining 186f, 190, 192, 225 Problemlöseverhalten 76, 195 Progressive Muskelrelaxation (PMR) 189, 194, 215 Projektive Verfahren 127 ff Provokationstyp 209 – instrumenteller Typ 209 ff Pubertät 20, 38f Punktepläne 157
R Rational Emotive Therapie (RET) 195 Reaktion, evasive 104ff Reaktionsformen 102 Reframing 181, 213 Regulationsstörungen 86 Repräsentanzen, kognitive 102, 103 Resilienz/-faktoren 2, 29, 45f, 55, 210
Response cost 193, 207 Risikofaktoren 2, 8, 29, 41f, 44f, 55, 62, 87 – biologische 41 Rollenspiel 147, 163, 189, 191, 194
S Scenotest 127f, 223 Scheidung 29, 56 Schichtzugehörigkeit 43, 45, 55 Schulangst-Test (SAT) 125, 223 Schule für Erziehungshilfe 224 Schulphobie, Schulangst, Schulschwänzen 86 Schulversuch zur Bekämpfung von Gewalt 224 Schulverweigerung 72, 86 – Schulangst 72 – Schulphobie 72 – Schulschwänzen 72 Schulwechsel 56 Schwarzfuß-Test (SFT) 129f, 223 Selbsthilfeprogramme 149, 151, 154f Selbstinstruktion/Selbstverbalisation 163, 194, 200f, 202, 207f, 225 Selbstregulation 46 Selbstständigkeit 110 Selbststeuerung 166 Selbsturteil 56, 123 Selbstwahrnehmung 141, 164 Selbstwertgefühl 68, 103, 167, 214ff Shaping 201 Sitzen 36 Soziale Arbeit 216 Sozialisation 18f, 22, 53f, 66, 71f, 156, 218 Sozialtraining in der Schule 163, 224 Sozialverhalten 17, 30, 43, 45, 58, 60ff, 91, 105, 110, 123, 200, 221 Sprechen und Zuhören 224 Stadium
I–T
– formal operationales 31 – konkret operationales 31, 34 – präoperationales 31, 34, 38 – sensumotorisches 31 Standard Progressive Matrices (SPM) 116, 222 Stimuluskontrolle 193 Störung(en) – des Sozialverhaltens 8f, 20, 44f, 47ff, 55, 57, 59f, 80, 83, 87, 91, 112ff, 132, 137,140, 146, 148, 167, 184, 185f, 188ff, 208, 211, 213, 215, 217f, 220f – – mit oppositionell aufsässigem Verhalten (SOT) 50, 59, 221 – emotionale 43, 51f, 57, 87, 134, 146 – externalisierende 47, 50, 58, 62, 179, 208 – hyperkinetische 84 – internalisierende 9, 47, 63, 179 Streitschlichterprogramm 164, 224 Stressimpfung 194 Substanzmissbrauch 9, 51, 82 Surrogate 10 Symbolhandlung 32 Systematische Desensibilisierung 194
T Teacher’s Report Form (TRF) 56, 90, 100, 111, 123, 159, 178, 222 Teilleistungsstörung 59, 83, 87f Temperament 41, 45, 53, 59 Temperamentsfaktoren 42f Thematischer Apperzeptionstest (TAT) 129, 223 Therapie 12, 46, 105, 132, 141, 184f, 187, 190f, 195, 208, 214, 216 – tiergestützte 215, 225 Therapieprogramm 140 – für oppositionelles Problemverhalten (THOP) 225
246
Stichwortverzeichnis
Tic 10, 87, 91 Time out 193 Token-economy 154, 193 – Token 157, 186, 191, 208 Tourette-Syndrom 87 Training – mit aggressiven Kindern 163, 224 – mit aufmerksamkeitsgestörten Kindern 205, 225 – mit Jugendlichen 148, 224 Trainingsprogramm 195 Trainingsprogramm für Kinder mit hyperkinetischem und oppositionellem Problemverhalten (THOP) 206 Trennung 29, 45, 56, 115 Triple-P-Ansatz 145, 148, 224 Typenspezifischer Umgang mit aggressiven Kindern 225
U Überaktivität 83, 87, 114, 206 Umfeld 71, 74f, 88, 111, 216 – soziales 66, 68 Umwelt 4, 27, 29, 43, 46, 57, 77, 96f, 115, 142, 225f Umweltsysteme 12 Unaufmerksamkeit 83 Untersuchung, entwicklungsneurologische 134
– prosoziales 19ff, 68, 70, 185, 186, 191 – reflexives 203 Verhaltensalternativen 189, 191 Verhaltensauffälligkeit 2, 16, 42, 44, 68, 73, 98f, 121, 137, 167, 179 189, 207, 220, 215 Verhaltensbeobachtung 30, 89f, 98, 127, 147, 150, 191 Verhaltensdefizit 42, 68, 145, 185 Verhaltensexzess 42, 145, 185, 189, 191 Verhaltensnormen 47 Verhaltensstörung 2, 16, 23, 25, 30, 41, 47, 48, 57, 71, 76f, 98, 105, 141f, 148, 158, 179, 192, 225 Verhaltenstherapie 90ff, 140, 188, 192, 205, 208, 211, 225 – integrative 211 – kognitive 141 Verlaufsdiagnostik 172 Verstärker/Verstärkung 157, 166, 193, 201 – materielle 193 – positive 202 – primäre 193 – soziale 193 Vineland Social Maturity Scale (VSMS) 110, 150, 199, 222 Vorbilder 143 Vulnerabilität 2, 8, 10, 41, 54, 60
W V Verhalten 16ff, 20, 22, 28, 98, 101, 112, 131f, 143, 145f, 148, 150, 163, 173, 185ff, 189ff, 195, 220 – aggressiv-dissoziales 82 – aggressives 52f, 56f, 59ff, 66, 70f, 121, 142, 190 – antisoziales 43 – delinquentes 66 – oppositionelles 9, 51, 58, 82, 113
Wahrnehmung 140ff, 166, 179, 195, 214f Wahrnehmungsstörung 41 Wartegg-Zeichen Test 129, 223
Y Youth-Self-Report 56, 62f, 100, 111, 123, 178, 223
Z Zahlen-Verbindungs-Test (ZVT) 119, 222 Zeitfenster 3, 5 Zuwendung 17f, 68, 70, 77, 109, 146, 148, 193 Zwangsstörung 85, 87