H. G. Dietz P. Illing P. P. Schmittenbecher Th. Slongo D. W. Sommerfeldt (Hrsg.) Praxis der Kinder- und Jugendtraumatol...
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H. G. Dietz P. Illing P. P. Schmittenbecher Th. Slongo D. W. Sommerfeldt (Hrsg.) Praxis der Kinder- und Jugendtraumatologie
H. G. Dietz P. Illing P. P. Schmittenbecher Th. Slongo D. W. Sommerfeldt (Hrsg.)
Praxis der Kinderund Jugendtraumatologie Mit 1278 großteils farbigen Abbildungen und 88 Tabellen
123
Prof. Dr. med. Dr. h. c. Hans Georg Dietz Kinderchirurgische Klinik und Poliklinik im Dr. von Haunerschen Kinderspital Klinikum der Universität München Lindwurmstr. 4 D-80337 München Dr. med. Peter Illing Klinik für Kinderchirurgie und Schwerbrandverletzte Kinderkrankenhaus Park Schönfeld Klinikum Kassel Frankfurter Str. 167 D-34121 Kassel
Theddy Slongo, M.D. Leitender Arzt Kindertraumatologie/Kinderchirurgie Universitätsklinik für Kinderchirurgie, Inselspital Freiburgstr. 10 CH-3010 Bern PD Dr. med. Dirk W. Sommerfeldt Ltd. Arzt Abteilung für Kinderund Jugendtraumatologie Altonaer Kinderkrankenhaus Bleickenallee 38 D-22763 Hamburg
Prof. Dr. med. Peter P. Schmittenbecher Kinderchirurgische Klinik Klinikum Karlsruhe Moltkestr. 90 D-76133 Karlsruhe
ISBN 978-3-642-12934-6 Springer Medizin Verlag Heidelberg Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Ve rvielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Springer Medizin Springer-Verlag GmbH Ein Unternehmen von Springer Science+Business Media springer.de © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2011 Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutzgesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Produkthaftung: Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag keine Gewähr übernommen werden. Derartige Angaben müssen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall anhand anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden. Planung: Dr. Fritz Kraemer, Heidelberg Projektmanagement: Willi Bischoff, Heidelberg Copy-Editing: Ursula Illig, Gauting Cover-Design: deblik, Berlin Satz, Zeichnungen und Reproduktion der Abbildungen: Fotosatz-Service Köhler GmbH – Reinhold Schöberl, Würzburg SPIN 11010647 Gedruckt auf säurefreiem Papier
2111/WB – 5 4 3 2 1 0
V
Vorwort Trotz effektiver Prävention erleiden Kinder und Jugendliche unverändert häufig zu Hause, im Straßenverkehr und beim Spiel oder Sport Verletzungen. Nahezu ein Drittel der in diesem Lebensabschnitt ambulant oder stationär behandelten Erkrankungen ist durch ein Trauma verursacht. Dies erfordert in den entsprechenden klinischen Einrichtungen strukturelle wie personelle Voraussetzungen, um den Bedürfnissen der verletzten Kinder und Jugendlichen gerecht zu werden. Grundlagen für eine erfolgreiche Behandlung sind die Kenntnis der in der jeweiligen Altersgruppe spezifischen diagnostischen Erfordernisse und die Erfahrung mit allen konservativen und operativen Therapiemodalitäten. Das ganz Entscheidende aber ist die Beachtung des noch nicht abgeschlossenen Wachstums, um einerseits die Verletzungsfolgen für die weitere Skelettentwicklung gering zu halten und um andererseits keinen zusätzlichen Schaden durch die Behandlung selbst zu provozieren. Drei Fachgebiete haben sich besonders mit der Traumatologie und den Verletzungsfolgen des Kindesund Jugendalters auseinandergesetzt: traumatologisch spezialisierte Kinderchirurgen und Kinderorthopäden sowie am Kindertrauma interessierte Unfallchirurgen. Diese drei Disziplinen haben sich im deutschsprachigen Raum ein Forum geschaffen, in dem sie den wissenschaftlichen Austausch pflegen, Studien konzipieren und kindertraumatologische Netzwerke bilden. Die Herausgeber dieses Buches vertreten diese drei Spezialitäten und haben weitere Kollegen der Kinderchirurgie, Kinderorthopädie und Unfallchirurgie mit deren jeweiligen Spezialgebieten in die Erstellung dieses Buches mit eingebunden. Neben allgemeinen und grundlegenden Betrachtungen zum Trauma, seinen Folgen, der Erstversorgung und definitiven Therapie (Sektion I) werden die typischen sowie seltenen Verletzungen der Extremitäten (Sektion III und IV) besprochen. Weiter werden auch die Traumen des Körperstammes (Sektion II) und die übrigen Unfälle (thermische Verletzungen, Ingestionen u. a.) ausführlich erörtert. Das Buch soll - wie der Titel bereits sagt - die Möglichkeit geben, die theoretisch dargestellten Behandlungsmöglichkeiten in den praktischen Alltag zu übernehmen. Traumen im Kindesalter sind immer wieder eine komplexe Herausforderung. Wir wollen mit dem vorliegenden Buch helfen, diese bestehen zu können. Dabei erheben wir nicht den Anspruch, alles zu wissen und darstellen zu können. Ebenso sind wir uns bewusst, dass medizinisches Fachwissen eine immer kürzere Halbwertszeit besitzt und sich Diagnose- wie Behandlungsmodalitäten rasch ändern können. Wie weit uns künftig finanzielle Aspekte bei der Behandlung von Verletzungen im Kindes- und Jugendalter beeinflussen werden, kann heute noch nicht abgeschätzt werden. Wir sollten jedoch immer alles daran setzen, die Versorgungsqualität unserer Patienten maximal hoch zu halten.
H. G. Dietz P. Illing P. P. Schmittenbecher Th. Slongo D.W. Sommerfeldt
VII
Inhaltsverzeichnis I 1
Grundlagen Das Kind im Krankenhaus, das Kind als Patient . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3
H. G. Dietz
1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 1.6
2
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personelle Struktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bauliche Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erlebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10-Punkte-Programm »Das Kind im Krankenhaus«
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4 4 4 5 5 6
Notfallmaßnahmen am Kind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9
M. Lehner
2.1 2.2 2.3 2.4
3
Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ziele der pädiatrischen Notfallmedizin . . . . . . . . Notfallmedizinische Maßnahmen und Hilfsmittel . Prinzipien der Notfallmedizin im Kindesalter . . . .
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10 10 10 16
Grundlagen der Schmerzbehandlung des Kindes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
21
M. Heinrich
3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6
Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schmerzmessung und Schmerzerfassung . . . . . . Schmerztherapie in der präklinischen Versorgung Perioperative Schmerztherapie . . . . . . . . . . . . . Schmerztherapie bei retardierten Kindern . . . . . Schmerzhafte interventionelle Eingriffe . . . . . . .
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22 22 23 23 25 25
4
Wachstumsphänomene und Korrekturmechanismen des wachsenden Skeletts . . . . .
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P. P. Schmittenbecher
4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 4.6
5
Normales Wachstum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fehlwachstum und Wachstumsstörung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Heilung nach Knochenbrüchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Korrekturmechanismen nach Verletzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Störungen der Knochenbruchheilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Knochenbruchheilung, Heilungsstörungen und Korrekturvorgänge an verschiedenen Skelettabschnitten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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28 30 32 33 35
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Grundlagen der konservativen Frakturbehandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
55
H. G. Dietz
5.1 5.2 5.3 5.4 5.5
Knochenbruchheilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Methoden der konservativen Frakturbehandlung Indikation zur konservativen Frakturbehandlung Zeitliche Richtlinien zur Frakturruhigstellung . . . Retentionsmethoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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56 56 57 57 58
VIII
6
Inhaltsverzeichnis
Repositionstechniken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
67
Th. Slongo
6.1 6.2 6.3 6.4
Definitionen und Ziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geschlossene, indirekte Reposition ohne operative Stabilisierung Geschlossene, indirekte Reposition mit operativer Stabilisierung . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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68 68 93 98
7
Grundlagen der operativen Frakturbehandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Marzi
7.1 7.2 7.3 7.4 7.5 7.6 7.7 7.8
Spickdrahtosteosynthesen . . . . . . . . . . . Zuggurtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schraubenosteosynthese . . . . . . . . . . . Plattenosteosynthesen . . . . . . . . . . . . . Elastisch stabile intramedulläre Nagelung Marknagelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fixateur externe . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fixateur interne und Wirbelkörperersatz .
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101 103 104 105 108 112 112 114
Schädel-Hirn-Trauma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
117
II Höhlenverletzungen und Frakturen des Stammskeletts 8
S. Berger
8.1 8.2 8.3 8.4 8.5 8.6 8.7 8.8 8.9 8.10 8.11 8.12 8.13 8.14
Klassifikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anatomische und physiologische Besonderheiten im Kindesalter Pathophysiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ursachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erstversorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapieindikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapieziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konservative Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Operative Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kontrollen und Nachbehandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ergebnisse und Prognose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Intra- und postoperative Komplikationen . . . . . . . . . . . . . . . . Prophylaxe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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118 119 119 121 121 121 130 131 131 134 136 136 136 137
9
Thoraxtrauma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
139
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H. G. Dietz
9.1 9.2 9.3 9.4 9.5 9.6 9.7 9.8 9.9 9.10
Besonderheiten im Kindesalter . . . . . . . . . Ursachen und Diagnostik . . . . . . . . . . . . . Erstversorgung bei Kindern . . . . . . . . . . . Knöcherne Verletzungen . . . . . . . . . . . . . Verletzung des Lungenparenchyms . . . . . . Pneumothorax . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hämatothorax . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tracheobronchialbaum . . . . . . . . . . . . . . Traumatisches Emphysem . . . . . . . . . . . . Verletzung weiterer intrathorakaler Organe
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140 140 143 144 145 148 148 148 149 149
IX Inhaltsverzeichnis
10
Abdominaltrauma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
153
J. Lieber, J. Fuchs
10.1 10.2 10.3 10.4 10.5 10.6 10.7 10.8 10.9 10.10 10.11 10.12 10.13
Besonderheiten im Kindesalter . . . . . . . . . . . . . . Ursachen, Häufigkeit, Klassifikation und Mortalität Anamnese und Klinik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nierenverletzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Milz- und Leberverletzungen . . . . . . . . . . . . . . . Pankreas- und Gallengangsverletzungen . . . . . . . Hohlorganverletzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nebennierenverletzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . Harnblasenverletzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Urethraverletzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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155 155 158 159 160 161 164 169 172 175 176 177 178
11
Polytrauma und Mehrfachverletzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
181
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P. P. Schmittenbecher
11.1 11.2 11.3 11.4 11.5 11.6
12
Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verletzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anatomische und physiologische Besonderheiten . . . . . . Management des polytraumatisierten Kindes . . . . . . . . . Besonderheiten der definitiven Therapie beim Polytrauma Ergebnisse, Rehabilitation und Langzeitverlauf . . . . . . . .
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182 182 184 184 187 190
Wirbelsäulenverletzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
193
P. F. Heini
12.1 12.2 12.3 12.4
Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . Klinisch neurologische Beurteilung Halswirbelsäule . . . . . . . . . . . . . Brust- und Lendenwirbelsäule . . .
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194 194 195 213
13
Beckenverletzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
223
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K. Nowack, W. Schlickewei
13.1 13.2 13.3
Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entwicklung und anatomische Besonderheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Frakturen/Verletzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
224 224 225
III Frakturen und Luxationen der oberen Extremität 14
Schultergürtel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
241
N. M. Meenen
14.1 14.2 14.3 14.4 14.5
Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klavikulafrakturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schulterblattfrakturen (Skapulafrakturen) . . . . . . . . . . . Schultergelenkluxationen (glenohumerale Dislokationen) Rotatorenmanschettenruptur . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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242 242 244 245 249
X
Inhaltsverzeichnis
15
Oberarm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
251
S. David, K. Dragowsky
15.1 15.2
16
Proximale Humerusfrakturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Humerusschaftfrakturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
252 264
Ellenbogengelenk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
277
K. Parsch
16.1 16.2 16.3 16.4 16.5 16.6 16.7 16.8 16.9 16.10
Suprakondyläre Fraktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Traumatische distale Humerusepiphysenlösung . . Condylus-ulnaris-Fraktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . Epicondylus-ulnaris-Abriss und Ellenbogenluxation Condylus-radialis-Fraktur . . . . . . . . . . . . . . . . . Bikondyläre Y- oder T-Fraktur . . . . . . . . . . . . . . . Olekranonfraktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Processus-coronoideus-Abriss . . . . . . . . . . . . . . Radiushalsfraktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Monteggia-Fraktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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278 290 291 291 298 304 304 307 309 311
17
Unterarm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . M. Oberle, W. Schlickewei
319
17.1 17.2 17.3 17.4 17.5
Besonderheiten im Kindesalter . Diaphysärer Unterarm . . . . . . . Distaler Unterarm . . . . . . . . . . Monteggia-Läsion . . . . . . . . . Galeazzi-Läsion . . . . . . . . . . .
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320 320 325 329 329
18
Hand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
331
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D.W. Sommerfeldt
18.1 18.2 18.3 18.4 18.5
Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Frakturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Luxationen, Verletzungen des Kapsel-/Bandapparats . . Sehnen- und Nervenverletzungen im Bereich der Hand Besonderheiten bei Infektionen . . . . . . . . . . . . . . . .
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332 334 342 345 348
Hüftgelenk und Oberschenkel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
353
IV Frakturen und Luxationen der unteren Extremitäten 19
T. Gresing
19.1 19.2 19.3 19.4 19.5
20
Wachstumsphysiologie und Gefäßversorgung . Proximale Femurfrakturen . . . . . . . . . . . . . . Traumatische Hüftluxation . . . . . . . . . . . . . Apophysenlösungen am proximalen Femur . . Femurschaftfraktur . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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354 354 359 359 361
Kniegelenk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
377
St. Rose
20.1 20.2 20.3 20.4
Klassifikation, Häufigkeit und Ursachen Klinik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erstversorgung . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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378 378 378 378
XI Inhaltsverzeichnis
20.5 20.6 20.7
21
Verletzungen des Knochens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verletzungen der Weichteile des Kniegelenkes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kompartmentsyndrom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
381 400 407
Unterschenkel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
409
P. Illing
21.1 21.2 21.3 21.4 21.5 21.6 21.7 21.8 21.9 21.10
Häufigkeit, Klassifikation und Ursachen Anatomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klinik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erstversorgung . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapieziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fraktur der proximalen Tibiametaphyse Fraktur der Diaphyse . . . . . . . . . . . . Fraktur der distalen Tibiametaphyse . . Besonderheiten . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . .
410 410 411 411 411 411 413 415 434 434
22
Sprunggelenk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
437
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J. Suß
22.1 22.2
Frakturen des Sprunggelenks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprunggelenkdistorsion – Bandverletzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
438 451
23
Fuß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . P. Illing
455
23.1 23.2 23.3 23.4 23.5 23.6 23.7
Einleitung . . . . . . . . . Talusfraktur . . . . . . . . Kalkaneusfraktur . . . . Fußwurzel . . . . . . . . . Mittelfuß . . . . . . . . . Vorfuß . . . . . . . . . . . Komplexes Fußtrauma
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457 457 461 463 464 468 471
Ingestionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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V Spezielle Verletzungsformen 24
I. Pegiazoglou
24.1 24.2
25
Fremdkörperingestionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ingestion von ätzenden Substanzen (»caustic ingestion«) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
478 478
Thermische Verletzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
483
P.M. Klimek
25.1 25.2 25.3 25.4 25.5 25.6 25.7 25.8 25.9
Einführung . . . . . . . . . Epidemiologie . . . . . . . Notfalltherapie . . . . . . Beurteilung . . . . . . . . . Triage . . . . . . . . . . . . Ambulante Behandlung Stationäre Behandlung . Komplikationen . . . . . . Elektroverbrennung . . .
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484 484 484 485 487 488 488 494 494
XII
Inhaltsverzeichnis
25.10 Kindsmisshandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25.11 Nachbehandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
495 495
26
497
Weichteilverletzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Schnyder
26.1 26.2 26.3 26.4 26.5 26.6 26.7 26.8
Häufigkeit, Ursachen und Klassifikation . . . . Allgemeines zur Wundheilung im Kindesalter Klinik und Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . Therapieziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konservative Therapie . . . . . . . . . . . . . . . Operative Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . Art und Lokalisation von Verletzungen . . . . . Kontrollen und Nachbehandlung . . . . . . . .
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498 498 498 500 500 500 503 512
27
Battered-Child-Syndrom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
515
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V. Oesch, Th. Slongo
27.1 27.2 27.3 27.4 27.5 27.6
Definition, Häufigkeit und Risikofaktoren Klinik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erstversorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ergebnisse und Prognose . . . . . . . . . .
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516 516 518 518 519 520
28
Geburtstrauma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
521
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B. Liniger
28.1 28.2 28.3 28.4 28.5 28.6 28.7 28.8 28.9
29
Definition und Inzidenz . . . . . . . . . . . . Risikofaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weichteilverletzungen . . . . . . . . . . . . Extrakranielle Verletzungen am Schädel . Gesichtsverletzungen . . . . . . . . . . . . . Intrakranielle Blutungen . . . . . . . . . . . Frakturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verletzungen des Nervensystems . . . . . Intraabdominale Geburtsverletzungen .
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522 522 522 523 524 524 526 528 530
Pathologische Frakturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
531
A. Joeris, Th. Slongo
29.1 29.2 29.3 29.4
Definition . Diagnostik Ätiologie . Therapie . .
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532 532 537 541
Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
547
XIII
Autorenverzeichnis Berger, Steffen, PD Dr. med
Heini, Paul, Prof. Dr.
Lieber, Justus, Dr. med.
Universitätsklinik für Kinderchirurgie Inselspital Freiburgstrasse 10 3010 Bern, Schweiz
Universität Bern Institute for Surgical Technologies and Biomechanics Stauffacherstrasse 78 3014 Bern, Schweiz
Klinik für Kinder- und Jugendmedizin Abteilung für Kinderchirurgie Universitätsklinikum Tübingen Hoppe-Seyler-Straße 3 72076 Tübingen
David, Stephan, Dr. med.
Chefarzt der Klinik für Unfallund Wiederherstellungschirurgie Krankenhaus Paul Gerhardt Stift Akad. Lehrkrankenhaus der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Paul-Gerhardt-Straße 42–45 06886 Wittenberg Dietz, Hans Georg, Prof. Dr. Dr. h. c.
Kinderchirurgische Klinik und Poliklinik im Dr. von Haunerschen Kinderspital Klinikum der Universität München Lindwurmstraße 4 80337 München
Heinrich, Martina, Dr. med.
Kinderchirurgische Klinik und Poliklinik im Dr. von Haunerschen Kinderspital Klinikum der Universität München Lindwurmstraße 4 80337 München
Liniger, Benjamin, Dr. med.
Illing, Peter, Dr. med.
Marzi, Ingo, Prof. Dr.
Klinik für Kinderchirurgie und Schwerbrandverletzte Kinderkrankenhaus Park Schönfeld Klinikum Kassel Frankfurter Straße 167 34121 Kassel
Direktor der Klinik für Unfall-, Hand- und Wiederherstellungschirurgie Klinikum der Johann Wolfgang Goethe-Universität Haus 23a, Raum 1d 52 Theodor Stern Kai 7 60590 Frankfurt/Main
Joeris, A., Dr. med. Dragowsky, Kai, Dr. med.
Oberarzt Klinik für Unfallchirurgie und Orthopädie Unfallkrankenhaus Berlin Warener Straße 7 12683 Berlin Fuchs, Jörg, Prof. Dr.
Klinik für Kinder- und Jugendmedizin Abteilung für Kinderchirurgie Universitätsklinikum Tübingen Hoppe-Seyler-Straße 3 72076 Tübingen Gresing, Tilman, Dr. med.
Kinderchirurgische Abteilung Evangelisches Krankenhaus Lippstadt Wiedenbrücker Straße 33 59555 Lippstadt
Kindertraumatologie/Kinderchirurgie Universitätsklinik für Kinderchirurgie Inselspital Freiburgstrasse 10 3010 Bern, Schweiz Klimek, Peter, Dr. med.
Kindertraumatologie/Kinderchirurgie Universitätsklinik für Kinderchirurgie Inselspital Freiburgstrasse 10 3010 Bern, Schweiz Lehner, Markus, Dr. med.
Kinderchirurgische Klinik und Poliklinik im Dr. von Haunerschen Kinderspital Klinikum der Universität München Lindwurmstraße 4 80337 München
Kindertraumatologie/Kinderchirurgie Universitätsklinik für Kinderchirurgie Inselspital Freiburgstrasse 10 3010 Bern, Schweiz
Meenen, Norbert M., Prof. Dr.
Sektionsleiter Pädiatrische Sportmedizin Altonaer Kinderkrankenhaus Bleickenallee 38 22763 Hamburg Nowack, Klaus
Abteilung Unfall- und Wiederherstellungschirurgie Kindertraumatologie St. Josefskrankenhaus Freiburg Bruder-Klaus-Krankenhaus Waldkirch Sautier-Straße 1 79104 Freiburg
XIV
Autorenverzeichnis
Oberle, Mike, Dr. med.
Schnyder, Isabelle, Dr. med.
Unfall- und Wiederherstellungschirurgie Kindertraumatologie St. Josefskrankenhaus Freiburg Bruder-Klaus-Krankenhaus Waldkirch Sautier-Straße 1 79104 Freiburg
Kindertraumatologie/Kinderchirurgie Universitätsklinik für Kinderchirurgie Inselspital Freiburgstrasse 10 3010 Bern, Schweiz
Oesch-Hofmann, Valerie, Dr. med.
Kindertraumatologie/Kinderchirurgie Universitätsklinik für Kinderchirurgie Inselspital Freiburgstrasse 10 3010 Bern, Schweiz Parsch, Klaus, Prof. Dr.
Weinbergweg 68 70569 Stuttgart
Slongo, Theddy, M.D.
Leitender Arzt Kindertraumatologie/ Kinderchirurgie Universitätsklinik für Kinderchirurgie Inselspital Freiburgstrasse 10 3010 Bern, Schweiz Sommerfeldt, Dirk W., PD Dr. med
Ltd. Arzt Abteilung für Kinder- und Jugendtraumatologie Altonaer Kinderkrankenhaus Bleickenallee 38 22763 Hamburg
Pegiazoglou, Ioannis, Dr. med.
Kindertraumatologie/Kinderchirurgie Universitätsklinik für Kinderchirurgie Inselspital Freiburgstrasse 10 3010 Bern, Schweiz Rose, Stefan, Prof. Dr.
Groupe Chirurgical Ettelbruck Département Traumatologie Centre Hospitalier du Nord, Hopital St. Louis 151-153 Avenue Lucien Salentiny 9080 Ettelbruck, Luxemburg Schlickewei, Wolfgang, Prof. Dr.
Chefarzt der Abteilung Unfall- und Wiederherstellungschirurgie Kindertraumatologie St. Josefskrankenhaus Freiburg Bruder-Klaus-Krankenhaus Waldkirch Sautier-Straße 1 79104 Freiburg Schmittenbecher, Peter P., Prof. Dr.
Kinderchirurgische Klinik Klinikum Karlsruhe Moltkestraße 90 76133 Karlsruhe
Suß, Joachim, Dr. med.
Klinik für Kinderchirurgie und Schwerbrandverletzte Kinderkrankenhaus Park Schönfeld Klinikum Kassel Frankfurter Straße 167 34121 Kassel
I
Grundlagen Kapitel 1
Das Kind im Krankenhaus, das Kind als Patient
–3
Kapitel 2
Notfallmaßnahmen am Kind M. Lehner
Kapitel 3
Grundlagen der Schmerzbehandlung des Kindes M. Heinrich
Kapitel 4
Wachstumsphänomene und Korrekturmechanismen des wachsenden Skeletts – 27 P. Schmittenbecher
Kapitel 5
Grundlagen der konservativen Frakturbehandlung des Kindes – 55 H.G. Dietz
Kapitel 6
Repositionstechniken Th. Slongo
Kapitel 7
Grundlagen der operativen Frakturbehandlung I. Marzi
–9
– 21
– 67
– 99
1
Das Kind im Krankenhaus, das Kind als Patient 1.1
Einleitung
1.2
Personelle Struktur
1.3
Bauliche Maßnahmen
1.4
Kommunikation
1.5
Erlebnis
1.6
10-Punkte-Programm »Das Kind im Krankenhaus« Literatur
–4 –4 –4
–5
–5
–7
–6
1
4
Kapitel 1 · Das Kind im Krankenhaus, das Kind als Patient
1.1
Einleitung
Während erwachsene Patienten nach Unfällen die ungewohnte und zum Teil sogar bedrohliche Atmosphäre eines Krankenhauses intellektuell begreifen und verarbeiten können, ist dies für Kinder anfänglich nahezu unmöglich. Zu der physischen und psychischen Ausnahmesituation des Unfalls und der Verletzung und den Schmerzen kommt nun die völlig ungewohnte Umwelt eines Krankenhauses mit all seinen Strukturen auf das verletzte Kind zu. Um auch einen möglichst geringen Schaden für die Psyche des Kindes zu erhalten, ist ein perfekt strukturiertes Kinderkrankenhaus mit allen modernen Möglichkeiten der Versorgung, Betreuung und Unterhaltung von außerordentlicher Wichtigkeit. Eine unverzügliche und rasche vollständige Einbindung der Eltern und der nächsten Bezugspersonen ist auch in der ersten und traumatisierendsten Phase und der extrem belasteten perioperativen Phase von herausragender Bedeutung. Jedes Fernhalten der Eltern und Bezugspersonen in belastenden Situationen wie diagnostischen Maßnahmen, therapeutischen Manipulationen muss vermieden werden, denn diese produzieren Angst und führen zu bleibenden negativen Erinnerungen an den Krankenhausaufenthalt.
1.2
Personelle Struktur
Die Behandlung von unfallverletzten Kindern und Jugendlichen muss durch Spezialisten der Pädiatrischen Traumatologie erfolgen. Sowohl Kinderchirurgen wie auch Unfallchirurgen sind nach einem Ausbildungstraining in Kompetenzzentren der Pädiatrischen Traumatologie in der Lage, verletzte Kinder zu behandeln. Als weitere ärztliche Spezialisten sind Kinderneurochirurgen, Kinderorthopäden, Mund-Kiefer-Gesichtschirurgen, HNO-Ärzte, Augenärzte mit in das Behandlungsteam einzubeziehen. Eine herausragende Bedeutung kommt den Kinderanästhesisten zu. Da auch heute noch der Schwerpunkt für Kinderanästhesie fehlt, haben sich an den führenden Zentren der Kindertraumatologie Kollegen der Anästhesie spezialisiert und sind somit hervorragend geeignet, die pädiatrischen Patienten zu betreuen. Eine wesentliche Rolle spielen auch die Kollegen der diagnostischen Abteilungen, in Röntgen, CT, Kernspin und Nuklearmedizin, auch hier muss eine kindgerechte Ausrüstung hinsichtlich apparativer Bestückung unter dem wesentlichen Aspekt auch des Strahlenschutzes vorliegen. Diese Kollegen müssen die Möglichkeiten und Notwendigkeiten der modernen Diagnostik erarbeitet haben, um exakte Diagnosen unter Berücksichtigung der Besonderheiten des Kindesalters zu erzielen.
. Abb. 1.1 Klinik-Clowns am Krankenbett helfen, die Stresssituation zu überwinden
Unabdingbar in einem Zentrum für Kindertraumatologie ist auch die spezifische Intensivmedizin, die in unterschiedlichen Organisationsstrukturen von Kinderchirurgen, Pädiatern, Kinderanästhesisten auch interdispziplinär geführt und geleitet wird, wie auch die konsiliarisch tätigen Kollegen aus allen Bereichen der Pädiatrie. Ein weiterer Garant für die optimale Versorgung der Kinder ist die Pflege, und hier ist die Spezialisierung entsprechend vorgegeben. Hervorragend für die Pflege der Kinder sind die Gesundheits- und Kinderkrankenpfleger nach ihrer 3-jährigen Ausbildung geeignet. Nur dieser Personenkreis sollte auch Kinder während des stationären Aufenthaltes pflegen. Eine spezielle Physiotherapie ist ebenfalls unabdingbar, da hier spezielle Konzepte und Notwendigkeiten für das Kindesalter gefordert sind. Die vor Ort tätigen Sozialarbeiter sorgen für die Einleitung einer kindgerechten Rehabilitation. Abgerundet wird das Betreuungsteam durch Beschäftigungstherapeuten, Spieltherapeuten, Lehrer und KlinikClowns (. Abb. 1.1).
1.3
Bauliche Maßnahmen
Die Bedürfnisse einer »Kinderunfallklinik« müssen zum einen den medizinischen Notwendigkeiten, aber unbedingt auch den Bedürfnissen der zu behandelnden Patienten gerecht werden. Bereits die Notaufnahme ist so zu gestalten, dass neben den Möglichkeiten, alle Altersstufen entsprechend zu behandeln, auch für Eltern ausreichend Raum geschaffen ist, ihre Kinder bei allen diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen, die nicht in Vollnarkose stattfinden, zu begleiten. Selbstverständlich sind entsprechende Baumaßnahmen auch auf den einzelnen Statio-
H.G. Dietz et al. (Hrsg.), Praxis der Kinder-und Jugendtraumatologie, DOI 10.1007/978-3-642-12935-3_1, © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2011
5 1.5 · Erlebnis
. Abb. 1.2 Narkoseeinleitung eines Säuglings in Anwesenheit der Mutter
. Abb. 1.4 Wartezimmer einer Kinderklinik mit entsprechendem Mobiliar und Spielzeug
kose bereits neben ihren Kindern am Krankenbett verweilen können (. Abb. 1.2 und . Abb. 1.3). Notwendig sind Spielzimmer, Aufenthaltsräume für Eltern und Warteräume für Eltern, deren Kinder gerade operiert werden (. Abb. 1.4).
1.4
Kommunikation
Ein entscheidender Faktor in der Klinik ist die Kommunikation. Die Information der Kinder und deren Eltern entsprechend dem Alter und der Verständigungsmöglichkeit sind von herausragender Bedeutung für einen positiven Verlauf. Informationen über die immer dringlich gebotene initiale Schmerztherapie helfen, hier ein Grundvertrauen zu schaffen. Die Mitteilung über die weiteren Maßnahmen und die durchzuführenden operativen Eingriffe mit deren möglichen Risiken im Rahmen eines ausführlichen Aufklärungsgespräches, haben leider nicht immer den hohen Stellenwert, der diesen Maßnahmen zukäme. Immer ist so früh wie möglich über die Prognose der Verletzung mit den Kindern und den Eltern zu sprechen, um hier nicht falsche und nicht zu erfüllende Erwartungen entstehen zu lassen. . Abb. 1.3 Aufwachraum: in entspannter Atmosphäre mit Krankenschwester und Eltern die postoperative Phase erleben
1.5
nen zu planen, insbesondere sind verschiedene Altersgruppen zusammenzuführen, um entsprechend hier auch die mögliche Kommunikation zu fördern. Ein wichtiger Bereich ist im Operationssaal der Einleitungs- und Aufwachraum. Hier sind diese Räume so zu gestalten, dass Eltern bei Narkoseeinleitung ihre Kinder noch mit begleiten können und in der Phase des Aufwachens aus der Nar-
Erlebnis
Die Bewältigung des Krankenhausaufenthaltes für Kinder ist auch Gegenstand von sehr wichtigen Publikationen gewesen (Frank 1995; Siegl 1988; Frank 1997). Das Ausmaß der Bewältigung der Gesamtsituation, von Unfallereignis, stationärem Aufenthalt bis zur Entlassung hängt von Bewältigungsstrategien und der Genauigkeit der Information ab. Die Bewältigung des Unfallereignisses bzw. auch der
1
6
Kapitel 1 · Das Kind im Krankenhaus, das Kind als Patient
1
a
b
c
d
. Abb. 1.5 Kinder malen ihre Unfälle. a Fahrradsturz in Unterführung, 13 Jahre alt. b Fahrradsturz, 7 Jahre alt. c Schlittenunfall, 9 Jahre alt. d Sturz beim Skifahren, 13 Jahre alt
Krankenhaussituation kann sich dann bereits während des stationären Aufenthaltes durch Motivation von psychosozialem Team als sehr positiv erweisen. Abb. 5 zeigt die Darstellung des Unfallgeschehens bei Kindern im Alter von 6–12 Jahren.
1.6
10-Punkte-Programm »Das Kind im Krankenhaus«
Die 1. Europäische »Kind im Krankenhaus«-Konferenz hat 1988 ein 10-Punkte-Programm verabschiedet, das eine Kinderunfallklinik unbedingt erfüllen sollte: 1. Kinder sollen nur dann in ein Krankenhaus aufgenommen werden, wenn die medizinische Behandlung, die sie benötigen, nicht ebenso gut zu Hause oder in einer Tagesklinik erfolgen kann. 2. Kinder im Krankenhaus haben das Recht, ihre Eltern oder eine andere Bezugsperson jederzeit bei sich zu haben.
3. Bei der Aufnahme eines Kindes ins Krankenhaus soll allen Eltern die Mitaufnahme angeboten werden, und ihnen soll geholfen und sie sollen ermutigt werden zu bleiben. Eltern sollen durchaus keine zusätzlichen Kosten oder Einkommenseinbußen entstehen. Um an der Pflege ihres Kindes teilnehmen zu können, sollen Eltern über die Grundpflege und den Stationsalltag informiert werden. Ihre aktive Teilnahme daran soll unterstützt werden. 4. Kinder und Eltern haben das Recht, in angemessener Art ihrem Alter und ihrem Verständnis entsprechend informiert zu werden. Es sollen Maßnahmen ergriffen werden, um körperlichen und seelischen Stress zu mildern. 5. Kinder und Eltern haben das Recht, in alle Entscheidungen, die ihre Gesundheitsfürsorge betreffen, einbezogen zu werden. Jedes Kind soll vor unnötigen medizinischen Behandlungen und Untersuchungen geschützt werden. 6. Kinder sollen gemeinsam mit Kindern betreut werden, die von ihrer Entwicklung her ähnliche Bedürfnisse
7 1.6 · 10-Punkte-Programm »Das Kind im Krankenhaus«
haben. Kinder sollen nicht in Erwachsenenstationen aufgenommen werden. Es soll keine Altersbegrenzung für Besucher von Kindern im Krankenhaus geben. 7. Kinder haben das Recht auf eine Umgebung, die ihrem Alter und ihrem Zustand entspricht und die ihnen umfangreiche Möglichkeiten zum Spielen, zur Erholung und Schulbildung gibt. Die Umgebung soll für Kinder geplant, möbliert und mit Personal ausgestattet sein, das den Bedürfnissen von Kindern entspricht. 8. Kinder sollen von Personal betreut werden, das durch Ausbildung und Einfühlungsvermögen befähigt ist, auf die körperlichen, seelischen und entwicklungsbedingten Bedürfnisse von Kindern und ihren Familien einzugehen. 9. Die Kontinuität in der Pflege kranker Kinder soll durch ein Team sichergestellt sein. 10. Kinder sollen mit Takt und Verständnis behandelt werden, und ihre Intimsphäre soll jederzeit respektiert werden.
Literatur http://www.kindergesundheit-info.de Frank R (1995) Kinderärztliche, kinderpsychiatrische Untersuchungen an misshandelten und vernachlässigten Kindern und deren Familien. Eine prospektive Untersuchung an einer Kinderklinik. Unveröffentlichte Habilitationsschrift, München Frank R (1997) Soziale Aspekte – Das Kind im Krankenhaus. In: Dietz HG, Schmittenbecher P, Illing P (Hrsg.) Intramedulläre Osteosynthese im Wachstumsalter. Urban & Schwarzenberg, München Wien Baltimore Siegl LJ (1988) Measuring Childrens adjustment to hospitalisation and to medical procedures. In: Karoly P (ed) Handbook of Child health Assessment. Wiley Series on health psychology, pp 265– 302 Wiley, New York
1
2
Notfallmaßnahmen am Kind M. Lehner
2.1
Einführung
2.2
Ziele der pädiatrischen Notfallmedizin
2.3
Notfallmedizinische Maßnahmen und Hilfsmittel
2.3.1 2.3.2 2.3.3 2.3.4 2.3.5 2.3.6 2.3.7 2.3.8
Klinische Untersuchung – 10 Atemwegsmanagement – 11 Alternativen zur endotrachealen Intubation Kreislaufmanagement – 13 Analgosedierung – 15 Lagerung und Schienung – 16 Auswahl der Zielklinik – 16 Transport – 16
2.4
Prinzipien der Notfallmedizin im Kindesalter
2.4.1 2.4.2 2.4.3 2.4.4 2.4.5 2.4.6
Schädel-Hirn-Trauma – 16 Thoraxverletzungen – 18 Abdominalverletzungen – 18 Extremitätenverletzungen – 18 Polytraumaversorgung – 19 Thermische Verletzungen – 19 Literatur
– 20
– 10 – 10
– 12
– 16
– 10
2
10
Kapitel 2 · Notfallmaßnahmen am Kind
2.1
Einführung
Die Kindersterblichkeit ist in den Industrieländern im Verlauf der vergangenen Jahrzehnte deutlich zurückgegangen. Somit sind Unfälle die häufigste Ursache für Invalidität oder Tod im Kindesalter. Etwa 14,7% der in Deutschland lebenden Kinder unter 15 Jahren ziehen sich jährlich eine Unfallverletzung zu, die ärztlich versorgt werden muss (Robert-Koch-Institut 2007). Dies sind jährlich etwa 1,6 Mio. Kinder. Im Jahre 2008 verunglückten in Deutschland 31.648 Kinder im Straßenverkehr und 102 Kinder (0,3%) verstarben in Folge des Unfalls (Statistisches Bundesamt 2009). Bezogen auf das gesamte Einsatzaufkommen im Notarztdienst handelt es sich in 5–10% der Fälle um Notfälle bei Kindern (Nagele u. Kroesen 2000). Die traumatologischen Notfälle im Kindesalter betragen im Kindernotarztdienst München 12,6% der Einsätze (Bayerl 2007). Gerade diese relativ seltenen Notfälle stellen die behandelnden Notärzte immer wieder vor große Schwierigkeiten. Pädiatrische Patienten sind die anspruchsvollste Patientengruppe im Rettungsdienst. Die adäquate Notfallversorgung von Kindern erfordert nicht nur vom Rettungsdienstpersonal, sondern auch von den behandelnden Notärzten ein spezielles Fachwissen, besondere Fertigkeiten und einen routinierten Umgang mit den jungen Patienten und nicht zuletzt auch mit deren Eltern. Erschwerend kommt hinzu, dass ein stabiler Zustand plötzlich und ohne Vorwarnung dekompensieren kann. Die kleinen Patienten verfügen über wesentlich weniger kardiorespiratorische Reserven als Erwachsene. Durch das kompensationsfähige Gefäßsystem können bis zu einem Blutverlust von 25% noch tabellarische Normwerte von Herzfrequenz, Blutdruck und Sauerstoffsättigung gemessen werden, ehe »plötzlich das manifeste und schwer beherrschbare Vollbild des Volumenmangelschocks eintritt« (Kretz u. Beushausen 2002). Während die Versorgung eines atem- und kreislaufinsuffizienten Erwachsenen eine Routineaufgabe im Rettungsdienst darstellt, gilt die Reanimation eines Kleinkindes oder gar eines Neugeborenen für den einzelnen Notarzt als extreme Ausnahmesituation. Selbst ein in der Notfallversorgung erfahrener Notarzt kann daher nur selten auf einen eigenen, umfassenden Erfahrungsschatz in der pädiatrischen Notfallmedizin zurückgreifen.
2.2
verfügt, wenn er in der pädiatrischen Intensivmedizin und Anästhesie, Neonatologie oder Kinderchirurgie tätig ist. Gerade unter den mitunter schwierigen Bedingungen der präklinischen Notfallmedizin ist und bleibt die endotracheale Intubation auch bei großer Routine insbesondere im Kindesalter eine anspruchsvolle Maßnahme (Nagele u. Kroesen 2000). Aus Angst vor falscher Dosierung von Medikamenten und Fehlintubationen wird oftmals eine adäquate Therapie bis zur Übergabe in der Kinderklinik hinausgezögert. Trotz der sehr geringen Fallzahlen sollten verunfallte Kinder mit einem Höchstmaß an medizinischem Wissen und Fertigkeiten notfallmedizinisch versorgt und transportiert werden. Hierfür wurde von pädiatrischen Intensiv- und Notfallmedizinern und der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) ein Konzept entwickelt, den pädiatrischen Notfall zu lehren und zu trainieren. > Ziel muss sein, den pädiatrischen Notfallpatienten rasch in ein pädiatrisches Notfallzentrum zu verbringen unter Sicherstellung einer ausreichenden Oxygenierung und eines ausreichenden Organperfusionsdruckes. Die Hypoxie und die Hypotonie sind die beiden Faktoren, die entscheidend das Outcome insbesondere beim Schädel-HirnTrauma negativ beeinflussen (Chiaretti 2002).
2.3
Notfallmedizinische Maßnahmen und Hilfsmittel
Die Notfallversorgung von Kindern folgt bezogen auf die Sicherung des Atemweges und der Stabilisierung der HerzKreislauf-Funktion eigenen Algorithmen. Betrachten wir jedoch isoliert den pädiatrischen Traumapatienten, so sind die durchzuführenden Maßnahmen vergleichbar. Sie unterscheiden sich lediglich durch die Größenverhältnisse der Patienten. Jede einzelne der unten aufgeführten Notfallmaßnahmen setzt deren exakte Durchführung sowie Kenntnis über alternative Verfahren voraus. Beginnen muss jede notfallmedizinische Maßnahme mit der orientierenden klinischen Untersuchung; der weitere Ablauf der ärztlichen Versorgung orientiert sich an den Leitlinien des »European Pediatric (Trauma) Life Supports« [EP(T)LS] des »European Resuscitation Councils« (Eich et al. 2007).
Ziele der pädiatrischen Notfallmedizin
Das Legen eines peripher-venösen Zugangs, die Applikation von Medikamenten und nicht zuletzt die endotracheale Intubation bereiten einem Notarzt nicht selten erhebliche Probleme. Diese Maßnahmen erfordern sehr viel Übung, über die auch ein in der Pädiatrie tätiger Arzt nur
2.3.1
Klinische Untersuchung
Zu Beginn der Notfallversorgung steht neben der Erfassung einer kurzen Anamnese unter Berücksichtigung des Unfallmechanismus die klinische Untersuchung. Je jünger
H.G. Dietz et al. (Hrsg.), Praxis der Kinder-und Jugendtraumatologie, DOI 10.1007/978-3-642-12935-3_2, © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2011
11 2.3 · Notfallmedizinische Maßnahmen und Hilfsmittel
das Kind ist, desto schwieriger ist die direkte Kommunikation. Über die Beobachtung der Spontanmotorik ergeben sich Hinweise auf mögliche Verletzungen. Die klinische Untersuchung sollte mit der Erhebung der Vitalparameter – Herzfrequenz, Atemfrequenz und Ermittlung der Sauerstoffsättigung im Blut – beginnen. Die nicht-invasive Blutdruckmessung gestaltet sich insbesondere bei Kleinkindern und Säuglingen schwierig; hier ist die Beurteilung der Rekapillarisierungszeit ein guter Parameter, eine Aussage über die Kreislaufsituation zu erhalten. Die Rekapillarisierungszeit – gemessen z. B. durch Ausdrücken der Fingerbeere oder durch Druck prästernal – sollte unter 2 Sekunden betragen, andernfalls ist ein Volumenmangel wahrscheinlich. Im Anschluss daran muss eine standardisierte Untersuchung durchgeführt werden, die neben der Inspektion auch Auskultation und Palpation der Organsysteme beinhaltet. Für die spätere Einschätzung des Verletzungsausmaßes in der Klinik ist es entscheidend, den ersten klinischen Befund exakt auf dem Notarzteinsatzprotokoll zu dokumentieren.
. Abb. 2.1 Maskenbeatmung: Mittels C-Griff wird die Maske platziert und dicht gehalten
den über Mund und Nase dicht hält und eine zweite Person die Beatmung über den Beutel durchführt.
Endotracheale Intubation 2.3.2
Atemwegsmanagement
Die unterschiedlichen Maßnahmen zur Sicherung des Atemweges wie die Maskenbeatmung, Intubation sowie die Alternativen zur endotrachealen Intubation sind im Kindesalter aufgrund der hohen Lage des Kehlkopfes sowie der im Säuglingsalter noch großen und omegaförmigen Epiglottis schwierig. Der Goldstandard ist die orotracheale Intubation mit maximalem Aspirationsschutz. Je nach Notfallsituation muss entschieden werden, welche der nachfolgend diskutierten Atemhilfen zur Anwendung kommt.
Maskenbeatmung Zentraler Punkt im Atemwegsmanagement ist die Maskenbeatmung. Säuglinge reagieren aufgrund der großen Zunge und der großen Epiglottis sehr sensibel auf Inklination bzw. Reklination. Eine allzu großzügige Überstreckung der Halswirbelsäule muss unbedingt vermieden werden, da der Atemweg im Oropharynx durch den Zungengrund verlegt wird. Die günstigste Position zu problemloser Maskenbeatmung ist die Schnüffelstellung mit minimal rekliniertem Kopf. Die auf dem Markt befindlichen Atemmasken müssen in den unterschiedlichen Größen vorgehalten und im Notfall entsprechend der Größe des Kindes ausgewählt werden. Hierfür muss die Maske Nase und Mund umschließen, so dass unter Durchführung des C-Griffes eine suffiziente Maskenbeatmung ohne Leckage erfolgt (. Abb. 2.1). Beim Thoraxtrauma kann der intrathorakale Atemwegswiderstand sehr hoch sein. Hier kann es erforderlich werden, dass ein Helfer die Maske mit beiden Hän-
Um beim höhergradig verletzten Kind Sekundärschäden durch Aspiration und Hypoxämie zu vermeiden, ist bei einem Glasgow-Coma-Score <9 die orotracheale Intubation am Unfallort durchzuführen. Der Kopf darf bei Säuglingen nicht überstreckt, sondern lediglich in die »Schnüffelstellung« gebracht werden. Parallel wird eine Präoxygenierung mit 100% Sauerstoff durch Maskenvorlage durchgeführt. Die Tubusgröße wird altersabhängig gemäß (. Tab. 2.1) ausgewählt, wobei der nächst kleinere Tubus immer bereitgelegt werden muss.
. Tab. 2.1 Tubusgröße (Innendurchmesser) in Abhängigkeit vom Lebensalter Alter des Kindes
Größe des Tubus [ID]
Frühgeborenes
2,5
Neugeborenes
3,0
1–6 Monate
3,5
1 Jahr
4,0
2–3 Jahre
4,5
4–5 Jahre
5,0
6–7 Jahre
5,5
8–9 Jahre
6,0
10–11 Jahre
6,5
12–14 Jahre
7,0
Erwachsener
7,5–8,5
2
12
Kapitel 2 · Notfallmaßnahmen am Kind
2
. Abb. 2.2 Die Auswahl der Tubusgröße wird nach dem Durchmesser des kleinen Fingers des Patienten gewählt
> Als Faustregel für die Größe des Tubus ist der Vergleich mit dem kleinen Finger des Patienten am aussagekräftigsten (. Abb. 2.2).
Der ausgewählte Tubus wird mit einem zuvor mit Gleitmittel benetzten Mandrin vorbereitet. Darüber hinaus muss eine kontinuierliche EKG-Ableitung, eine Pulsoxymetrie, ein funktionstüchtiges Absauggerät samt großkalibrigem Absauger und Fixationsmaterial vorbereitet werden. Der tief bewusstlose Patient wird ohne weitere Medikamentengabe orotracheal intubiert. Die Einstellung des Larynx erfolgt bei Frühgeborenen, Neugeborenen und Säuglingen im ersten Lebensjahr mit dem geraden Spatel (Miller-Spatel: Größen 0–2). Hierfür wird der gerade Spatel durch Verdrängen der Zunge nach links in den Oropharynx eingeführt und die Epiglottis aufgeladen, sodass eine freie Sicht auf die Stimmritze entsteht. Nach dem ersten Lebensjahr werden die Patienten mit dem gebogenen Spatel nach Macintosh der Größen 2–4 eingestellt: Der Spatel wird in den Recessus piriformis oberhalb der Epiglottis vorgeschoben und durch Zug nach ventral gelingt die Sicht auf die Glottis. Der Druck auf den Kehlkopf von außen soll die Einstellung und Intubation erleichtern. Ist beim Gesichtstrauma oder Inhalationstrauma eine präklinische Intubation indiziert, so wird die Narkose mit Midazolam (0,1 mg/kg KG) und Ketanest S (1,5–2 mg/ kg KG) eingeleitet, ggf. in Kombination mit einem kurz wirksamen Muskelrelaxans (Succinylcholin 1–1,5 mg/ kg KG). Bei Neu- und Frühgeborenen hat sich der Einsatz eines Opiats in Kombination mit Midazolam bewährt (Nicolai 1999). Zur Narkoseeinleitung wird hier Midazolam 0,1 mg/kg KG kombiniert mit Fentanyl 5–10 (–50) μg/ kg KG intravenös appliziert. Der Erfolg der Intubation muss klinisch durch Auskultation und Thoraxexkursion überprüft sowie durch die Kapnometrie überwacht wer-
. Abb. 2.3 Fixierter Tubus: Der Tubus wird mit 3 Pflasterstreifen über einer Mullbinde als Beißschutz fixiert. Zur Entlastung des Magens erfolgt die Anlage einer nasogastrischen Sonde
den. Das Legen einer nasogastralen Sonde zur Dekompression des luftgefüllten und/oder mit Nahrungsresten gefüllten Magens schließt die Intubationsmaßnahmen ab (. Abb. 2.3).
2.3.3
Alternativen zur endotrachealen Intubation
Durch eine suffiziente Maskenbeatmung mit oder ohne Guedel-Tubus kann eine orotracheale Intubation präklinisch umgangen werden, jedoch beinhaltet diese keinen Aspirationsschutz. Es ist noch kein Kind durch einen fehlenden Tubus zu Schaden gekommen, jedoch durch fehlenden Sauerstoff bei Fehlintubation oder Nichtbeatmung. Larynxmaske Die Verwendung einer Larynxmaske stellt auch beim Kind eine Alternative zur Intubation dar. Diese Technik sollte jedoch im Routinebetrieb im Operationssaal trainiert werden, da die Platzierung Schwierigkeiten bereiten kann. Die Larynxmasken werden in 6 unterschiedlichen Größen produziert und entsprechend dem Körpergewicht des Patienten verwendet (. Tab. 2.2). Sie wird bei überstrecktem Kopf entlang des harten Gaumens in den Rachen vorgeschoben. Die Maske deckt schließlich den Kehlkopf ab und wird durch Blocken der Manschette gesichert. Als Nachteile dieser Technik stehen die Auslösung eines Laryngospasmus und Erbrechen im Vordergrund, gefolgt von einem nicht sicheren Aspirationsschutz. Darüber hinaus kann die Larynxmaske sehr leicht dislozieren.
13 2.3 · Notfallmedizinische Maßnahmen und Hilfsmittel
. Tab. 2.2 Verwendung der Larynxmaske in Abhängigkeit vom Körpergewicht Maskengröße
Körpergewicht
Größe 1
Neugeborene bis 6,5 kg
Größe 2
6,5–20 kg
Größe 2,5
20–30 kg
Größe 3
30–50 kg
Größe 4
Ab 50 kg
Größe 5
Ab 100 kg
Thyroidotomie Die Durchführung einer Punktionskoniotomie mit den auf dem Markt befindlichen Hilfsmitteln ist aufgrund der anatomischen Größe des Ligamentums conicum bei Kindern unter dem 10. Lebensjahr nicht möglich. Lässt sich ein Patient weder durch supraglottische Hilfen (Maskenbeatmung, Larynxmaske) beatmen noch endotracheal intubieren, stellt die Thyroidotomie die ultima ratio dar. Hierfür muss der Patient über einer Rolle deutlich in der Halswirbelsäule überstreckt gelagert werden. Nur so kann der Schildknorpel identifiziert werden. Mit der nicht dominanten Hand wird dieser fixiert und von der Inzisur des Schildknorpels nach kaudal in der Mittellinie die Haut und der darunter befindliche Schildknorpel gespalten. In das sich öffnende Lumen wird schließlich der Tubus platziert. Je jünger das Kind, desto ausgeprägter sind die prätrachealen Weichteile und desto schwieriger lässt sich der Atemweg chirurgisch sichern.
2.3.4
Kreislaufmanagement
Neben der Sicherung des Atemweges steht an zweiter Stelle die Kontrolle der Kreislauffunktion. Hierfür wird zu Beginn die Pulskontrolle an der Arteria brachialis oder der A. carotis durchgeführt. In der präklinischen Notfallmedizin hat sich im Säuglings- und Kindesalter die Überprüfung der peripheren Rekapillarisierungszeit als bester Parameter bewährt, um den Volumenstatus und die HerzKreislauf-Funktion abzuschätzen. Sie liegt bei kreislaufsuffizienten Patienten unter 2 Sekunden an den Akren. Klinische Schockzeichen wie Blutdruckabfall, Tachykardie und graues Hautkolorit treten erst nach Volumenverlusten von etwa 25% auf.
Reanimationsmaßnahmen Die häufigste Ursache für eine Reanimationssituation im Kindesalter ist ein respiratorisches Versagen. Dies spiegelt sich darin wieder, dass gemäß der aktuellen Leitlinien des European Resuscitation Councils (Atkins et al.
2009) bei der Kinderreanimation nicht die Defibrillation wie beim Erwachsenen, sondern die Beatmung im Vordergrund steht. > Nach der Feststellung eines Atem-/Kreislaufstillstandes muss unverzüglich mit 5 Atemzügen beatmet werden.
Anschließend erfolgt eine rasche Reevaluation hinsichtlich eines vorhandenen oder eben nicht nachweisbaren Spontankreislaufs. Findet sich innerhalb von 10 Sekunden durch Palpation der A. brachialis oder A. carotis kein Puls, so muss sofort mit der Herz-Lungen-Wiederbelebung begonnen werden. Die Leitlinien schreiben bei der professionellen Reanimation ein Verhältnis Herzdruckmassage : Beatmung von 15:2 vor, bis eine orotracheale Intubation erfolgt ist. Dann wird die Herzdruckmassage kontinuierlich durchgeführt. Der Druckpunkt liegt für jedes Lebensalter gleich im unteren Sternumdrittel, die obere Grenze bildet die Intermammillarlinie. Die weitere medikamentöse Therapie im Rahmen der kardiorespiratorischen Reanimation sollte über einen rasch zu legenden intraossären Zugang erfolgen (s. unten). Adrenalin wird in einer Dosierung von 10 μg/kg KG intravenös oder intraossär appliziert. Dies entspricht 0,1 ml/kg KG der 1:10.000 verdünnten Adrenalinlösung. Im Rahmen der Reanimationsmaßnahmen von Kindern wird ausschließlich die verdünnte Adrenalinlösung verwendet. Hierfür wird eine Ampulle Adrenalin, die 1 mg enthält, auf 10 ml physiologische Kochsalzlösung verdünnt. Somit entspricht ein Milliliter 100μg Adrenalin, eine Einzeldosis für ein Kind mit 10 kg KG. Das Zeitintervall zwischen den Adrenalindosen beträgt 3–5 Minuten. Eine Defibrillation ist im Kindesalter selten erforderlich. Bei nachgewiesenem Kammerflimmern oder pulsloser elektrischer Aktivität wird bei Kindern mono- oder biphasisch mit 4 J/kg Körpergewicht defibrilliert, bis zu einem Alter von 8 Jahren mit Kinderelektroden. Insgesamt ist das Outcome der Reanimation im Kindesalter schlecht, insbesondere nach Traumen, welche mit einem sehr großen Blutverlust verbunden sind. Die Limitation der Reanimation ist extrem schwierig präklinisch zu definieren und muss immer individuell und im Team erfolgen. Ein rascher Transport unter laufender Reanimation wird häufig angestrebt, da auch nach Reanimationszeiten von über einer Stunde Erfolge mit gutem neurologischen Outcome beschrieben sind, insbesondere bei Ertrinkungsunfällen mit deutlicher Hypothermie der Patienten (Chiaretti 2002).
Intravenöser Zugang Die Anlage eines intravenösen Zugangs stellt sowohl an die Ausrüstung als auch an die Fertigkeiten des Notarztes hohe
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14
Kapitel 2 · Notfallmaßnahmen am Kind
2
. Abb. 2.4 Venenverweilkanüle mit Zuleitung und 3-Wege-Hahn
. Abb. 2.5 Intraossäre Kanüle proximale Tibia mit Zuleitung und 3-Wege Hahn
Ansprüche (Sefrin et al. 2004). In der Regel sind bei Säuglingen und Kleinkindern – insbesondere im Rahmen eines Schockzustandes – lediglich Zugänge mit einer Größe von 24 G durchführbar. Diese können an Prädilektionsstellen (Handrücken, Fußrücken, Handgelenkinnenseite oder Kopfvenen) mit Hilfe von Pflasterverbänden fixiert werden. Kanülen mit Zuspritzeinrichtung haben den Nachteil, dass diese bei kleinen Kindern nicht gut fixiert werden können, da die Auflagefläche zu groß ist. Als Zuspritzmöglichkeit sollte ein 3-Wege-Hahn verwendet werden, der über eine kurze Verlängerung an die Venenverweilkanüle konnektiert wird (. Abb. 2.4). Die maximale Einlaufgeschwindigkeit der 24-G-Kanüle beträgt für wässrige Infusionslösungen 22 ml/min (1320 ml/h), die der 22-G-Kanüle 36 ml/min (2160 ml/h). Somit sind mit diesen Größen bei Kindern bis zu einem Körpergewicht von 40 kg ausreichende Volumenmengen problemlos zu applizieren (. Tab. 2.3).
sind unterschiedliche mechanische Systeme auf dem Markt, welche ein problemloses Platzieren der Kanüle in den Markraum des Unterschenkels, distal der Tuberositas tibiae, ermöglichen. Die Kanülenlänge muss bei Kindern bis zum 5. Lebensjahr mindestens 10 mm, bei älteren Kindern mindestens 15 mm betragen. Für Erwachsene sind Kanülen von 25 mm Länge auf dem Markt. Die sicherste Erfolgskontrolle ist der Nachweis, Knochenmark zu aspirieren. Dies gelingt jedoch in bis zu 50% der Fälle in der Notfallsituation nicht. Dennoch wird über den gut sitzenden Zugang die medikamentöse Notfallversorgung durchgeführt. Kommt es zu einem Paravasat, so muss die Kanüle an anderer Stelle neu platziert werden. Der intraossäre Zugang ist einem zentralvenösen Zugang gleichzustellen (Nicolai 2009). Die Dosierung der Medikamente im Rahmen der Notfallversorgung unterscheidet sich nicht von der intravenös zu applizierenden. Lediglich nach Medikamentengabe ist darauf zu achten, mit 5– 10 ml physiologischer Kochsalzlösung nachzuspülen, um ein sofortiges Auswaschen aus dem Knochenmark zu erzielen. Die Infusion erfolgt mittels Druckbeutel (. Abb. 2.5).
Intraossärer Zugang Der intraossäre Zugang stellt die Alternative für den intravenösen Zugang dar. An einigen Zentren – so auch im Rahmen des Kindernotarztdienstes München – wird bei der Versorgung akut lebensbedrohlicher Zustände der intraossäre Zugang an erster Stelle durchgeführt. Hierfür
Volumentherapie Der traumatisch bedingte hämorrhagische Schock führt nach einer schweren Verletzung zu einer Verminderung
. Tab. 2.3 Farbkodierung und Durchflussrate der Venenverweilkanülen in Abhängigkeit der Größe Größe [Gauge]
24 G
22 G
20 G
18 G
17 G
16 G
14 G
Farbe
Gelb
Blau
Rosa
Grün
Weiß
Grau
Orange
Außendurchmesser [mm]
0,7
0,9
1,1
1,3
1,5
1,7
2,2
Durchflussrate [ml/min]
22
36
61
96
128
196
343
15 2.3 · Notfallmedizinische Maßnahmen und Hilfsmittel
des zirkulierenden Blutvolumens und somit des arteriellen Blutdruckes. Schon in der Initialphase der Verletzung resultiert ein verminderter Blutfluss in der Mikrozirkulation mit Anhäufung von sauren Stoffwechselprodukten, mangelnder Sauerstoffversorgung der Organe und damit Beginn des Multiorganversagens. Die Zielgrößen der präklinischen Volumentherapie sind eine warme und offene Peripherie mit einer Rekapillarisierungszeit von weniger als 2 Sekunden, ein altersentsprechender, normaler Blutdruck sowie die Normalisierung der schockbedingten Tachykardie. Kristalloide Die zunächst durchzuführende Therapie zur
Aufrechterhaltung eines relevanten Perfusionsdruckes erfolgt durch die Verwendung von kristalloiden Lösungen wie z. B. physiologischer Kochsalzlösung. Der initiale Bolus beträgt 20–30 ml/kg KG intravenös oder intraossär. Zeigt sich keinerlei Wirkung, werden weitere Bolusgaben appliziert. Die Erhaltungstherapie errechnet sich aus folgender Formel: (4 ml/kg KG bis 10 kg) + (2 ml/kg KG für die zweiten 10 kg) + (1 ml/kg KG für jedes weitere kg) Ein 25 kg schweres Kind erhält somit eine Erhaltungstherapie von 50 ml kristalloider Lösung pro Stunde i.v./i.o. Kinderadaptierte eiweiß- und zuckerhaltige Infusionslösungen haben mittlerweile in der Notfallmedizin keinerlei Berechtigung mehr. Kolloidale Lösungen Der große Vorteil von kolloidalen Infusionslösungen ist ihr volumenexpansiver Effekt. Bei geringer Infusionsmenge erzielen sie durch ihre kolloidale Wirkung einen größeren Volumeneffekt als das infundierte Volumen. Die früher verwendeten Dextranpräparate haben ihren Stellenwert aufgrund der hohen Allergiepotenz verloren. Im Vordergrund stehen heute Präparate mit Hydroxyethylstärke, welche einen verbesserten Volumeneffekt und eine längere Verweildauer im Gefäßsystem von über 5 h Halbwertszeit aufweisen. Der klinische Effekt dieser Plasmaexpander lässt sich etwa 3–4 h nachweisen. Die Intitialdosis beträgt 10 ml/kg KG i.v. oder i.o., maximal dürfen 25 ml/kg KG pro Tag infundiert werden. Bei Neugeborenen dürfen diese Lösungen aufgrund der Unreife der Nieren nicht verwendet werden, eine Therapieeinschränkung besteht im ersten Lebensjahr. Hypertone, isoonkotische Lösungen, bei denen meist 7,5%ige Kochsalzlösung in einer Hydroxyethylstärkelösung gelöst ist, zeigen im Rahmen der »small volume resuscitation« einen sehr guten Effekt, um ein ausreichendes, zirkulierendes Blutvolumen wieder herzustellen. In einer Dosierung von 4 ml/kg KG wird die hypertone Lösung beim hämorrhagischen Schock infundiert.
2.3.5
Analgosedierung
Die analgetische Therapie ist ein entscheidender Bestandteil der Erstversorgung durch den Notarzt. Sie dient zum einen der Beruhigung, der Anxiolyse und Schmerztherapie, zum anderen hat die gewichtsadaptierte Analgosedierung einen positiven Effekt für die Schockbehandlung. Prophylaktisch muss bei Einleitung der Analgosedierung ein Kreislaufmonitoring angeschlossen sein, der Patient in 30°-Oberkörperhochlagerung gelagert sowie eine Sauerstoffzufuhr über eine Nasenbrille oder Gesichtsmaske durchgeführt werden. Auf die beiden wesentlichen Medikamente für eine Analgosedierung im Rahmen der pädiatrischen Notfallmedizin wird im Folgenden eingegangen.
Midazolam Midazolam wirkt im ZNS als Benzodiazepin über die Aktivierung prä- und postsynaptischer GABA-Rezeptoren. Die Wirkung umfasst – in Abhängigkeit von der Dosierung – die Anxiolyse, die Antikonvulsion, dann erst die Muskelrelaxierung und die Hypnose. Es weist eine große therapeutische Breite auf und wird bei Kindern im Rahmen der Notfallversorgung mit 0,05–0,1 mg/kg KG i.v. dosiert. Für die rektale Applikation sollten 0,5 mg/kg KG berechnet werden. Verglichen mit anderen Benzodiazepinen weist Midazolam eine kurze Halbwertszeit von etwa 2 h auf (Forth et al. 1993).
Ketanest S Es handelt sich hier um das Racemat des schon lange in der Notfallmedizin verwendeten Ketamins, einem Cyclohexanon. Der Wirkmechanismus erfolgt über die Bindung an den N-Methyl-D-Aspartat-(NMDA)-Rezeptor mit Blockade des Ionenkanals im Bereich der Synapsen (Forth et al. 1993). Seinen Stellenwert insbesondere in der Notfallmedizin verdankt Ketanest S insbesondere dem schnellen Wirkeintritt von unter einer Minute nach intravenöser Injektion. Es handelt sich hier um eine allgemeine Analgesie, die von einer etwa zehnminütigen Bewusstseinsstörung begleitet wird. Der Wirkeintritt wird durch den beginnenden Spontannystagmus angezeigt. In der zweiten Phase sind die Patienten dann für weitere 20 min gegenüber Schmerzreizen unempfindlich, teilnahmslos und dösen vor sich hin (Forth et al. 1993). Eine Nachinjektion kann problemlos zur Verlängerung der Wirkdauer und zur Vertiefung der Bewusstlosigkeit und Analgesie durchgeführt werden. In der Standarddosierung von 0,25–0,5 mg/kg KG i.v. wird keine Muskelrelaxierung erzielt, pharyngeale- und laryngeale Reflexe werden leicht gesteigert und keinesfalls herabgesetzt. Eine gelegentlich beobachtete Hypersalivation kann durch die Gabe von Atropin in der Dosierung von 0,001 mg/kg KG i.v. verhindert werden. Es kommt zu
2
16
2
Kapitel 2 · Notfallmaßnahmen am Kind
keiner Beeinträchtigung des Atemantriebes; Blutdruck und Pulsfrequenz steigen zu Beginn der Behandlung um 30% gegenüber dem Ausgangswert (Forth et al. 1993). Die halluzinatorischen Nebenwirkungen, die auf das schwächer wirkende (-) Enantiomer zurückzuführen sind, werden bei Verwendung des gereinigten S-Ketamins nicht beobachtet. Aufgrund seiner hämodynamisch stabilisierenden Eigenschaften ist es insbesondere bei kreislaufinstabilen Notfallpatienten vorteilhaft. Eine Kontraindikation beim SchädelHirn-Trauma unter Gewährleistung einer optimalen Oxygenierung besteht nicht, trotz des beschriebenen Anstieges des zerebralen Blutflusses. Für die rektale Applikation muss die Dosis auf 0,75–1 mg/kg KG erhöht werden. Es muss jedoch stets reflektiert werden, dass Traumapatienten in der Regel nicht nüchtern sind. Im Rahmen einer ausgedehnten Analgosedierung können jederzeit die Schutzreflexe geschwächt werden. Hierdurch kann es zu obstruktiven Apnoen durch das Zurückfallen der Zunge oder gar zur Aspiration von Mageninhalt kommen. Darüber hinaus muss der Patient unter ständiger ärztlicher Aufsicht sein, um im Falle des Erbrechens sofort handeln zu können.
2.3.6
Lagerung und Schienung
Die Bergung des Traumapatienten muss achsengerecht mittels Schaufeltrage erfolgen. Als erste Maßnahme wird eine Zervikalstütze angelegt. Sollte bei Kleinkindern ein passender Stiffneck nicht zur Verfügung stehen, so muss der Notarzt verantwortlich die Halswirbelsäule stabilisieren (. Abb. 2.6). Später wird durch Anmodellieren der Vakuummatratze insbesondere die Halswirbelsäule stabilisiert. Isolierte Extremitätenverletzungen können nach Applikation der Analgosedierung mittels (Vakuum-)Schienen stabilisiert werden.
2.3.7
Auswahl der Zielklinik
Jeder Patient mit einem höhergradigen Schädel-HirnTrauma mit einem Glasgow-Coma-Score <12 oder Polytrauma muss in eine Klinik der Maximalversorgung mit interdisziplinärer Versorgung in den Fächern Kinderchirurgie/Neurochirurgie, Kinderanästhesie, Kinderradiologie und kinderchirurgischen/pädiatrischen Intensivmedizin gebracht werden. Die Information der Zielklinik über den Zustand des Patienten sowie über die erwartete Transportzeit ist unverzichtbar und sollte direkt durch den versorgenden Notarzt durchgeführt werden.
2.3.8
Transport
Um einen sicheren Transport zu gewährleisten, muss eine minimale Monitorüberwachung mittels EKG, Pulsoxymetrie und nicht invasiver Blutdruckmessung erfolgen. Sollte der Patient intubiert sein, so ist die Messung des endexspiratorischen CO2 zu fordern. Vor der Abfahrt/Abfluges müssen ein Ausgangsbefund der körperlichen Untersuchung und der Vitalparameter erhoben und dokumentiert werden. Die Tiefe der Analgosedierung sollte nochmals überprüft und ausgedehnt werden, um unnötige artifizielle Dislokationen von Venenverweilkanülen, Schienen oder gar des Tubus zu vermeiden. Darüber hinaus sollten alle verfügbaren medizinischen Informationen und ein Elternteil mit auf den Transport genommen werden. Vor Abfahrt muss die Zielklinik über die erwartete Transportdauer und den kardiorespiratorischen Zustand des Patienten informiert werden.
2.4
Prinzipien der Notfallmedizin im Kindesalter
Der Organismus des Kindes befindet sich noch im Wachstum. Hieraus ergeben sich andere Verletzungsmuster als beim erwachsenen Patienten und somit auch etwas andere Vorgehensweisen bei Verletzungen. Sämtliche Notfallmedizinischen Maßnahmen sollen auf das Ziel hinarbeiten, einen stabilen Transport in das nächste Kindertraumazentrum zu gewährleisen.
2.4.1
. Abb. 2.6 Stabilisierung der Halswirbelsäule
Schädel-Hirn-Trauma
Neben den Extremitätenverletzungen spielt das SchädelHirn-Trauma bei Verletzungen im Kindesalter eine wesentliche Rolle. Hier ist nicht nur die Differenzierung zwischen den einzelnen Graduierungen am Unfallort schwierig. Kinder, die auf den Kopf gestürzt sind, können prinzipiell ein
17 2.4 · Prinzipien der Notfallmedizin im Kindesalter
. Tab. 2.4 Glasgow-Coma-Scale für Kinder Punkte
>5 Jahre
>1 Jahr
<1 Jahr
Augenöffnung 4
Spontan
3
Auf Anruf
2
Auf Schmerzreiz
1
Fehlend
Beste motorische Antwort 6
Befolgt Aufforderungen
Spontanbewegungen
5
Orientierte Reaktion
Orientierte Reaktion
4
Zurückziehen auf Schmerz
Zurückziehen auf Schmerz
3
Flexion auf Schmerz
Flexion auf Schmerz
2
Extension auf Schmerz
Extension auf Schmerz
1
Fehlend
Fehlend
Beste verbale Antwort 5
Orientiert
Verständliche Worte
Plappern
4
Verwirrt
Unverständliche Laute
Weinen, kann beruhigt werden
3
Wortsalat
Andauerndes Weinen
Kann nicht beruhigt werden
2
Unverständlich
Stöhnen
Stöhnen
1
Fehlend
Fehlend
Fehlend
höhergradiges Schädel-Hirn-Trauma erleiden. Ein wesentlicher Gesichtspunkt, um die Schwere der Verletzung abschätzen zu können, ist der Unfallmechanismus. Sind folgende Kriterien erfüllt, kann ein höhergradiges SchädelHirn-Trauma oder auch Polytrauma vermutet werden 4 Das Fahrzeug hat sich überschlagen. 4 Es wurde eine weitere Person aus dem Fahrzeug geschleudert. 4 Die Person wurde eingeklemmt. 4 Ein anderer Insasse eines Fahrzeuges ist zu Tode gekommen. 4 Ein Sturz ist aus einer Höhe von etwa dem Dreifachen der Körpergröße erfolgt. > Insbesondere bei Kindern unter 2 Jahren muss bei unklarem oder nicht nachvollziehbarem Unfallmechanismus die Möglichkeit einer Kindesmisshandlung mit in die Differenzialdiagnose einbezogen werden.
Als indirekte Schwerezeichen gelten Bewusstseinsverlust, Amnesie, rezidivierendes Erbrechen und Kopfschmerzen. Am Unfallort muss eine komplette neurologische Untersuchung erfolgen, die insbesondere den Pupillenstatus und den auf Kinder zugeschnittenen Glasgow-Coma-Score
beinhaltet (. Tab. 2.4). Darüber hinaus müssen Frakturzeichen wie Hämatom der Galea, Monokel- oder Brillenhämatom sowie Oto-Rhino-Liquorrhoe als Hinweis für eine Schädel-Basis-Fraktur gewertet werden. Liegt ein relevantes Schädel-Hirn-Trauma vor, so muss der Patient kardiorespiratorisch stabilisiert und in eine entsprechende Klinik der Maximalversorgung verbracht werden. Das Kriterium für eine präklinische Intubation ist in der inadäquaten Oxygenierung mit Sauerstoffsättigungen unter 90% sowie bei einem GCS von unter 9 mit fehlenden Schutzreflexen zu sehen. Darüber hinaus sollte bei ausgedehnten Mittelgesichtstraumen, Inhalationstraumen und im Rahmen der Polytraumaversorgung eine Intubation erfolgen. Wichtig ist eine exakte präklinische Dokumentation des neurologischen Status, nur dann darf mit der Analgosedierung zur Schockbehandlung bei mittelgradigen Schädel-Hirn-Trauma begonnen werden. Diese wird mit Midazolam und Ketanest S durchgeführt. Das Kind wird mit Sauerstoffvorlage und intravenösem Zugang sowie Flüssigkeitssubstitution in die Klinik verbracht. Hierbei ist auf eine achsengerechte Bergung und schonende Lagerung zu achten. Falls von der Kreislaufsituation zulässig, erfolgt der Transport in Kopfmittelstellung mit 30°-Oberkörperhochlagerung.
2
2
18
Kapitel 2 · Notfallmaßnahmen am Kind
2.4.2
Thoraxverletzungen
Thoraxverletzungen spielen bei etwa 20% der höhergradig verletzten Kinder eine Rolle. Der knöcherne Thorax im Kindesalter ist noch sehr elastisch, so dass Rippenserienfrakturen selten sind. Im Vordergrund stehen Kontusionen von Lunge und Herz. Liegt allerdings ein instabiler Thorax vor, so ist von einer erheblichen Gewalteinwirkung auszugehen mit Verletzungen wie Hämato-Pneumothorax und Herzbeuteltamponade. Klinische Zeichen hierfür sind eine angestrengte Atmung mit Nasenflügeln, Atemnot, Schmerzen über dem betreffenden Hemithorax, eine Halsvenenstauung sowie klinische Zeichen des Schockes. Die Notfalldiagnostik konzentriert sich auf die Auskultation, die Palpation und die Perkussion. Im Anschluss an die Basismaßnahmen wie Sauerstoffvorlage, intravenöser Zugang und Kreislaufstabilisierung muss die direkte Therapie eines Spannungspneumothorax durch Punktion im 2. ICR in der Medioklavikularlinie mit Hilfe einer 14-G-Venenverweilkanüle erfolgen. Die Luft wird dann über eine Spritze abgesaugt und anschließend ein Magenablaufbeutel ohne Ventil konnektiert. Die Entlastung eines Hämathothorax sollte präklinisch nur unter sonographischer Kontrolle im 4. ICR in der vorderen Axillarlinie mittels einer chirurgisch eingebrachten Thoraxdrainage erfolgen. Für beide Maßnahmen ist eine adäquate Analgosedierung erforderlich.
2.4.3
Abdominalverletzungen
Die parenchymatösen Oberbauchorgane sind im Kindesalter durch das tief stehende Zwerchfell und die Größe der Organe noch nicht durch den knöchernen Thorax geschützt. Insbesondere bei Stürzen vom Fahrrad aber auch durch Verkehrsunfälle kann es zu relevanten intraabdominellen Verletzungen kommen. An erster Stelle steht hier die Verletzung der Milz, gefolgt von Leber- und Nierenverletzungen. Es handelt sich hier um potenziell lebensbedrohliche Verletzungen, insbesondere aufgrund des Blutverlustes. Dieser kann schon in der Initialphase am Unfallort bis zu 40% des zirkulierenden Blutvolumens betragen. Da die präklinischen, diagnostischen Möglichkeiten des stumpfen Bauchtraumas auf die klinische Untersuchung beschränkt sind – sofern keine präklinische Sonographie zur Verfügung steht – ist die Eruierung des Unfallmechanismus von entscheidender Bedeutung, um auf mögliche intraabdominelle Verletzungen schließen zu können. Hier sind es die Gurtverletzungen bei PKW-Insassen oder Lenkerabdrücke bei Fahrradstürzen aber auch Skistöcke und Turngeräte. Durch Dezelerationstraumen kann es zu Nierenverletzungen und Gefäßeinrissen kommen. Führende klinische Symptome sind abdominelle Schmerzen gefolgt
von einer zunehmenden Distension des Abdomens mit begleitender Kreislaufinstabilität. > Hämodynamisch instabile Patienten mit relevanten Abdominalverletzungen müssen rasch durch intravenöse Volumensubstitution mit kristalloiden und kolloidalen Lösungen versorgt und im »Load-and-go«-Prinzip in die nächstmögliche Klinik gebracht werden.
2.4.4
Extremitätenverletzungen
Verletzungen der Extremitäten sollten auf die distal der vermuteten Fraktur vorliegende Durchblutung, Motorik und Sensibilität hin überprüft werden. Die betroffene Extremität wird nach adäquater Analgesie möglichst achsengerecht auf einer Schiene oder im Vakuumverband ruhig gestellt. Die Empfehlungen, präklinisch eine geschlossene Reposition durchzuführen, sollten für den einzelnen Notarztstandort besprochen werden. Insbesondere bei kurzen Transportzeiten in eine kinderchirurgische Notaufnahme ist eine Reposition am Unfallort nicht sinnvoll; es sei denn, es handelt sich um eine grobe Fehlstellung mit einer Achsabweichung z. B. des Unterarmschaftes um >45°. In diesem Fall sollte nach Durchführung einer Analgesie mit Midazolam und Ketanest S die anatomische Achse wieder hergestellt werden (. Abb. 2.7). Bei vermuteter Ellenbogenfraktur sollten Repositionsmanöver präklinisch vermieden werden. Diese Frakturen können durch Knochenfragmente zu einer Kompression der A. brachialis führen, die in einem Pulsdefizit distal der Fraktur resultiert. Repositionsmanöver ohne radiologische Kontrolle können zu weiteren vaskulären Verletzungen führen.
. Abb. 2.7 Fehlstellung: Solange die neurovaskuläre Versorgung (Durchblutung, Motorik und Sensibilität) distal der Fraktur intakt ist, besteht keine Indikation zur präklinischen Reposition
19 2.4 · Prinzipien der Notfallmedizin im Kindesalter
Liegt eine Sprunggelenksverletzung mit offensichtlicher, erheblicher Fehlstellung vor, so kann nach adäquater Analgesie ein Repositionsmanöver durchgeführt werden. Dieses ist obligat, wenn distal der Fraktur kein Puls zu tasten ist. Hierfür muss unter kräftigem Zug eine Reposition in die anatomische Achse mit anschließender Ruhigstellung erfolgen.
2.4.5
Polytraumaversorgung
Die präklinische Versorgung des polytraumatisierten Kindes ist eine Kombination aus dem oben Genannten. Im Vordergrund der Behandlung steht neben einer kompletten körperlichen Untersuchung die Stabilisierung der Vitalfunktionen und Vorbereitung eines raschen, aber sicheren Transportes in ein pädiatrisches Traumazentrum.
2.4.6
Thermische Verletzungen
Die häufigste Ursache für eine thermische Verletzung ist die Verbrühung. Das Prädilektionsalter beginnt mit dem Ende des ersten Lebensjahres, wenn Kinder sich mit heißen Flüssigkeiten am Esstisch verletzen, gefolgt von Übergießungen mit heißem Wasser aus z. B. Wasserkochern im Alter zwischen 1–3 Jahren. Verpuffungsverletzungen durch unsachgemäßen Gebrauch von Grillanzündern sind in den letzten Jahren deutlich zurückgegangen, ebenso kommen Starkstromunfälle und Erfrierungen glücklicherweise sehr selten vor. Einteilung der Verbrühungen nach Verletzungstiefe 4 Die oberflächlichen Verbrühungen ersten Grades betreffen lediglich die Epidermis, sie sind einem Sonnenbrand vergleichbar und heilen folgenlos ab. Die Schmerzsymptomatik endet nach etwa 72 h. 4 Die oberflächlichen Verbrühungen zweiten Grades betreffen die Epidermis und obere Anteile der Dermis, hier ist es initial zu Blasenbildung begleitet von heftigen Schmerzen durch offen liegende Nervenendigungen gekommen. Diese Verletzung heilt ohne Narbe innerhalb von 14 Tagen ab. Die tieferen zweitgradigen Verbrühungen betreffen neben der Epidermis die tiefen Schichten der Dermis. Die Schmerzsymptomatik ist geringer ausgeprägt, da die Nervenendigungen zerstört sind. Die Heilung dauert sehr lange, es entstehen 6
erhebliche metabolische Veränderungen vergleichbar mit denen bei drittgradigen Verbrühungen. 4 Bei Verbrühungen dritten Grades ist die gesamte Haut einschließlich Hautanhangsgebilden zerstört. Diese Wunden heilen nur über Narbenbildung mit Kontrakturen oder durch eine Hauttransplantation ab.
Die Verbrennungstiefe lässt sich initial am Unfallort nur mutmaßen, die thermische Ausbreitung im offensichtlich noch gesunden Gewebe ist erst mit deutlichem zeitlichen Abstand von wenigen Tagen sicher zu beurteilen. Als orientierende Hilfe zur Einschätzung der Flächenausdehnung wird der Handteller des Kindes mit einem Prozent der Körperoberfläche bemessen. Somit kann die Verbrühungsfläche in Prozent der Körperoberfläche geschätzt werden. Die initiale Therapie beläuft sich auf etwa 10 min Kühlung mit klarem Wasser. Dies wird meist durch die Eltern oder den Rettungsdienst suffizient durchgeführt. Anschließend sollen die betreffenden Körperflächen steril, trocken abgedeckt und verbunden werden. Die Applikation von kühlenden Wundauflagen in Gelform oder Salben ist unbedingt zu vermeiden, da diese Substanzen sich nur sehr schwer wieder vom Wundgrund entfernen lassen. Diese vorgefertigten Brandwundensets bieten nur bei ausgedehnten Verletzungen und langen Transportwegen Vorteile. Neben der Behandlung der Wunden ist eine adäquate Analgosedierung durchzuführen (7 Abschn. 2.3.5). Bei sehr agitierten Kindern kann eine zunächst rektal applizierte Analgosedierung mit Midazolam und Ketanest die Bedingungen zum erfolgreichen Platzieren eines intravenösen Zugangs verbessern. Es wird dann unverzüglich mit der Flüssigkeitstherapie begonnen, zusätzlich wird je nach verbrühter Körperoberfläche mit 2–4 ml/ kg KG zusätzlich zum Grundbedarf mit kristalloider Lösung substituiert. Um den hohen Flüssigkeitsbedarf frühzeitig auszugleichen, sollten 10 ml/kg KG Plasmaexpander verabreicht werden. Bei kleineren Verbrühungen sollte neben dem Verband zumindest eine analgetische Therapie durch die Gabe von Suppositorien erfolgen. Paracetamol kann in einer »loading dose« von 30 mg/kg KG gegeben werden mit einer Tageshöchstdosis von 60 mg/kg KG. Ibuprofen wird in einer Dosierung von 10–15 mg/kg KG dosiert. Es besteht eine Indikation für den Transport in eine pädiatrisches Brandverletztenzentrum ab einer Verbrühungs-/Verbrennungsfläche von über 10% der Körperoberfläche oder generell bei Kindern im Säuglingsalter. Darüber hinaus sollten brandverletzte Kinder in ein Zentrum eingewiesen
2
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2
Kapitel 2 · Notfallmaßnahmen am Kind
werden, wenn das Gesicht, die Hände/Füße oder die Genitalregion betroffen ist. Ebenso müssen Patienten nach Stromunfall, nach Inhalationstrauma oder relevanten Begleitverletzungen in ein kindertraumatologisches/Brandverletztenzentrum gebracht werden.
Literatur Atkins DL, Everson-Stewart S et al. (2009) Epidemiology and outcomes from out-hospital cardiac arrest in children: the Resuscitation Outcomes Consortium Investigators. Circulation 119: 1484– 1491 Bayerl R (2007) Das Münchner Kindernotarztsystem. Promotionsschrift, Ludwig-Maximilians-Universität, München Chiaretti A (2002) Prognostic factors and outcome of children with severe head injury: an 8-year experience.Childs Nervous System 18(3-4):129–36 Eich C, Weiss M, Hüpfl N (2007) Lebensrettende Maßnahmen bei Kindern nach den aktuellen Leitlinien. Pediatric life support – wie wird’s gemacht? Notfall Rettungsmed 10:117–123 Forth W, Henschler D, Rummel W, Starke K (1993) Pharmakologie und Toxikologie. BI Wissenschaftsverlag, Mannheim Kretz FJ, Beushausen Th (2002) Kindernotfall Intensiv. Urban & Fischer, München Nagele P, Kroesen G (2000) Kindernotfälle im Notarztdienst. Anaesthesist 49: 725–731 Nicolai T (1999) Airwaymanagement bei Kindern in Notfallsituationen. Notfall & Rettungsmedizin 2:212–215 Nicolai T, Hoffmann F (2009) Neue Techniken und Entwicklungen für die Notfallversorgung von Kindern. Notfall & Rettungsmedizin 3:521–525 Robert-Koch-Institut (2007) Kinder- und Jugendsurvey 2003–2006 Sefrin P, Brandt M, Kredel M (2004) Praeclinical care of children with traumatic brain injury. German medical science 2: Doc. 02 Statistisches Bundesamt (2007) Kinderunfälle im Straßenverkehr 2008. Wiesbaden
3
Grundlagen der Schmerzbehandlung des Kindes M. Heinrich
3.1
Einführung
3.2
Schmerzmessung und Schmerzerfassung
3.3
Schmerztherapie in der präklinischen Versorgung
3.4
Perioperative Schmerztherapie
3.5
Schmerztherapie bei retardierten Kindern
3.6
Schmerzhafte interventionelle Eingriffe Literatur
– 26
– 22 – 22
– 23 – 25
– 25
– 23
3
22
Kapitel 3 · Grundlagen der Schmerzbehandlung des Kindes
3.1
Einführung
Trotz vorhandener Standards zur Schmerztherapie bei Kindern erhalten diese insbesondere postoperativ aus mangelnder Einsicht in die Notwendigkeit, aus Angst vor Nebenwirkung oder aus mangelhafter physiologischer und pharmakologischer Kenntnis eine unzureichende Analgesie. Meist werden zu niedrige Analgetikaeinzeldosen in zu großen Zeitintervallen verabreicht und vor allem nachts zu wenige Analgetika gegeben. Oft fehlen hausinterne Therapiekonzepte oder diese werden unzureichende überprüft. Die negativen Auswirkungen auf den postoperativen Verlauf durch eine insuffiziente Schmerztherapie sind ausreichend bekannt. Eine eingeschränkte Atemfunktion, eine sympathische Kreislaufreaktion, eine eingeschränkte Magen-/Darmfunktion, ein erhöhter Metabolismus, eine vermehrte Gerinnungsaktivität, eine Immunsuppression sowie eine verzögerte Wundheilung sind die Folge. Zusätzlich hemmt Schmerz bei Kindern die Entwicklung und Neugier. Es besteht eine Assoziation mit heftiger Angst und führt zu einer passiven Hilflosigkeit. > Eine suffiziente Schmerztherapie beeinflusst den postoperativen Verlauf positiv durch eine verbesserte Durchblutung des Gewebes, eine Verminderung der Stressantwort, eine verbesserte Wundheilung und eine zeitgerechte Mobilisierung.
Die Kombination von Lokal- und einer eventuellen Regionalanästhesie mit systemischer Gabe von geeigneten Analgetika in einem standardisierten Schmerztherapiekonzept ermöglicht auch für Kinder eine sichere und kontrollierte perioperative Schmerztherapie. Der effektive Beginn der postoperativen Schmerztherapie beginnt vor der Operation mit Planung der Narkose und Festlegung der individuellen Analgetika. Die postoperative Überwachungsmöglichkeit mit Messung der Vitalparameter muss so ausreichend sein, dass nicht aufgrund mangelnder Überwachung auf Opioidgaben verzichtet werden muss. Die Applikation der Analgetika sollte angepasst an das Patientenalter und den operativen Eingriff ausgewählt werden. Intraoperativ sollten lokalanästhesiologische Möglichkeiten durch Infiltration der Wundränder, periphere Nervenblockaden oder Instillation des Operationsgebietes bzw. in Körperhöhlen (z. B. Ileoinguinalblock, Interkostalkatheter) vom Operateur durchgeführt werden, da dies in der ersten postoperativen Phase oft schon zu einer Schmerzfreiheit führt. > Jede Analgesie basiert auf einer fundierten Schmerzmessung, die auch beim Kind im Alltag routinemäßig durchführbar ist. Nur so lässt sich eine individuelle Schmerztherapie verwirklichen.
3.2
Schmerzmessung und Schmerzerfassung
Eine altersentsprechende Schmerzeinschätzung durch adäquate Schmerzskalen ist die Grundlage jeder Schmerztherapie bei Kindern. Validierte Schmerzskalen sind für jedes Alter und spezielle Schmerzsituationen vorhanden. Schmerz lässt sich nur indirekt quantifizieren durch eine Beurteilung des subjektiven Schmerzerlebens (Empfindungen, Emotionen, Schmerzäußerungen), dem Beobachten des Schmerzverhaltens (Ausdrucksmotorik, schmerzreduzierende Bewegungen, Vermeidungsverhalten) und dem Dokumentieren von physiologischen Parametern (Blutdruck, Herzfrequenz, Muskeltonus, Atemfrequenz). Durch die entwicklungsbedingten, altersabhängigen kognitiven Fähigkeiten ist die Beurteilung des Schmerzerlebens sowie des schmerzbedingten Körperverhaltens beim Kind deutlich schwieriger als beim Erwachsenen. Daher sollte eine Schmerzmessung immer unter Berücksichtigung des Alters des Kindes erfolgen. Die Ziele der Schmerzerfassung sind neben der Beschreibung des Schmerzgeschehens die Analyse der schmerzaufrechterhaltenden und -verstärkenden Bedingungen, der Entscheidungsfindung für das Schmerzmanagement und der Evaluation des therapeutischen Vorgehens. Für Kinder sind unterschiedliche Schmerz-Scores in der Literatur beschrieben. Hier muss beachtet werden, dass jeder Schmerz-Score für eine bestimmte Altersgruppe bzw. kognitiven Entwicklungsstand, aber auch nur für bestimmte Schmerzsituationen, validiert ist. Im traumatologischen und postoperativen Bereich haben sich einige Skalen im Alltag bewährt (. Tab. 3.1). Bei Kindern <4 Jahre wird die Fremdbeobachtung zur Schmerzeinschätzung eingesetzt, da eine Selbsteinschätzung nicht oder nur in Ansätzen möglich ist. Hier hat sich die kindliche Unbehagens- und Schmerzskala (KUSS) nach Büttner durchgesetzt. Diese Skala kann auch für nonverbale oder sedierte Patienten eingesetzt werden. Kinder >4 Jahre sind in der Lage, eine Selbsteinschätzung durchzuführen unter der Voraussetzung, dass der Untersucher kindgerecht das Instrument erklärt und anwendet. Hierfür werden meist Gesichter-Skalen verwendet, wie beispielsweise die Skala nach Hicks, die sich in besonderem Maße mit der Validierung der Skala bei Schmerzen beim Kind auseinandergesetzt hat. In der postoperativen Phase sollte die Schmerzeinschätzung ein fester Bestandteil der Überwachung sein. Anhand des jeweilig vorhandenen Überwachungsstandards erfolgt durch das Pflegepersonal bei jeder routinemäßig durchgeführten Überwachung (z. B. nach 30 min, 1 h, 1,5 h, 2 h, 3 h, 4 h und 6 h) somit auch eine Schmerzeinschätzung. Der Schmerz-Score wird in gleicher Weise wie die Vitalparameter dokumentiert. Ab einem festgelegten Score
H.G. Dietz et al. (Hrsg.), Praxis der Kinder-und Jugendtraumatologie, DOI 10.1007/978-3-642-12935-3_3, © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2011
23 3.4 · Perioperative Schmerztherapie
. Tab. 3.1 Altersabhängige Scores zur Schmerzmessung bei Kindern Score
Beschreibung
Anwendungssituation
Altersgruppe
Berner Schmerzscore
9 Kategorien (Verhalten und Vitalparameter)
Akute Schmerzen
Neugeborene
CRIES (crying, requires oxygen administration, increased vital signs, expression, sleeplessness)
5 Kategorien (Verhalten und Vitalparameter)
Postoperative Schmerzen
Frühgeborene bis Säuglingsalter
KUSS (kindliche Ungehagensund Schmerzskala)
5 Kategorien (Verhalten)
Postoperative Schmerzen
Neugeborene bis Ende 4. Lebensjahr
Gesichterskala nach Hicks
6 Gesichter (0–10)
Akute Schmerzen
Ab dem 4. Lebensjahr
Numerische Skala
Skalen von 0–10 (oder 0–100)
Akute und chronische Schmerzen
Ab dem Jugendlichenalter
(z. B. ≥4 bei KUSS, Gesichterskala oder numerischer Skala) besteht ein Schmerzmittelbedarf. Zur Effektivitätskontrolle sollte nach Gabe eines Bedarfsanalgetikums nach 30 min eine erneute Schmerzeinschätzung zur Erfolgsbeurteilung durchgeführt werden. Im postoperativen Verlauf gibt der Wert des Schmerz-Scores Auskunft über die Qualität der Schmerztherapie.
3.3
Schmerztherapie in der präklinischen Versorgung
7 Kap. 2.3.5
3.4
Perioperative Schmerztherapie
Schon präoperativ sollte individuell für jeden Patienten abhängig vom geplanten operativen Eingriff eine Schmerztherapie festgelegt werden. Abhängig vom Alter sollte auch die Möglichkeit einer Regionalanästhesie berücksichtigt und mit dem Patienten und Eltern besprochen werden.
Die postoperative Schmerztherapie des Patienten orientiert sich am Ausmaß des operativen Eingriffs. Es sollte immer eine Basismedikation angeordnet werden, die je nach zu erwartenden Schmerzen und Art des Eingriffs festgelegt wird. Diese feste Verabreichung eines Analgetikums soll auf jeden Fall für den Operationstag und den 1. postoperativen Tag angeordnet werden. Kommt es unter der Basismedikation zu Schmerzen, sollte für das Pflegepersonal eine Bedarfsmedikation mit entsprechender Dosierung und möglichem Zeitabstand zur Verfügung stehen. Diese Analgetika können vom Pflegepersonal dann ohne weitere Rücksprache rasch unter Schmerzeinschätzung selbstständig dem Patienten im vorgegebenen Rahmen verabreicht werden. Als mögliche Analgetika zur postoperativen Schmerztherapie bei kleinen bis mittleren traumatologischen Eingriffen stehen die in . Tab. 3.2 genannten Medikamente zur Verfügung. Als Bedarfsanalgetika sollen jeweils zwei weitere Medikamente angeordnet werden. Hier kann z. B. ein weiteres Nichtopioid bei schwächeren Schmerzen oder ein Opioid bei starken Schmerzen (z. B. Piritramid i.v. als
. Tab. 3.2 Basisanalgetika zur postoperativen Schmerztherapie Medikament
Alters-/Gewichtsgrenze
Einzeldosis initial [pro kg KG]
Einzeldosis Erhaltung [pro kg KG]
Dosisintervall
Tageshöchstdosis
Ibuprofen (p.o.)
Ab 3 Monate
10 mg
10 mg
6–8 h
40 mg/kg KG, maximal 2400 mg/d
Diclofenac (p.o., rektal)
Ab 1 Jahr *
2 mg
1 mg
8–12 h
3 mg/kg KG, maximal 150 mg/d
Paracetamol (i.v.)
< 10 kg
7,5 mg
7,5 mg
4–6 h
30 mg/kg KG
Paracetamol (i.v.)
> 10 kg
15 mg
15 mg
4–6 h
60 mg/kg KG, maximal 3 g/d
* <15 Jahre off label
3
24
Kapitel 3 · Grundlagen der Schmerzbehandlung des Kindes
. Tab. 3.3 Postoperative Schmerztherapie mit kontinuierlicher Gabe von Tramadol und Metamizol
3
Gewicht [kg]
Dosis [ml/h]
10
1
20
2
30
3
40
4
50
5
40 ml Spitzeninhalt mit 100 mg Tramadol und 1 g Metamizol
Kurzinfusion 0,05–0,1mg/kg KG, maximal alle 4 h) zum Einsatz kommen. Bei der Auswahl eines zweiten NichtOpioid sollte beachtet werden, dass kein weiteres nichtsteroidales Analgetikum verwendet wird. Bei einer Opioidgabe müssen eine kontinuierliche Pulsoxymetrie für ca. 2 h sowie wiederholte Blutdruckkontrollen erfolgen. Außerdem müssen eine Sauerstoffversorgung und ein Ambubeutel griffbereit zur Verfügung stehen. Bei mittelgroßen Eingriffen kann postoperativ auch ein Dauertropf mit Tramadol und Metamizol in Kombination eingesetzt werden. Hier haben sich standardisierte Dosierungsvorgaben bewährt. Der Dosierungsvorschlag liegt bei Tramadol 0,25 mg/kg KG/h und Metamizol 2,5 mg/kg KG/h. Beide Medikamente werden, wie nach Sittl beschrieben, in einer Spritzenpumpe mit 100 mg Tramadol und 1 g Metamizol, beide in 40 ml aufgezogen und je nach Gewicht mit einer Laufgeschwindigkeit wie in . Tab. 3.3 angegeben verabreicht. Bei größeren operativen Eingriffen kann ab dem Schulalter eine PCA-Pumpe mit einem Opioid verwendet werden (. Abb. 3.1). Unbedingt sollte diese Analgesie mit
. Abb. 3.1 PCA-Pumpe für die postoperative Schmerztherapie
einem fest angeordneten Nichtopioid (. Tab. 3.2) kombiniert werden. Die PCA-Pumpe kann z. B. mit Piritramid bestückt werden in folgender Dosierung: Bolus von 0,02 mg/kg KG (maximal 2 mg), Lock-out-Zeit von 10 min und ein 4-h-Maximum von 0,3 mg/kg KG (maximal 25 mg). Säuglinge und kleinere Kinder müssen zur Gewährleistung einer ausreichenden Analgesie bei großen operativen Eingriffen auf einer Intensivstation überwacht werden und können dann mit einer Opioid-Dauertropfinfusion (z. B. Piritramid 0,03–0,05mg/kg KG/h) versorgt werden. Auch hier ist eine Kombination mit einem Nichtopioid sinnvoll. Zusätzlich zu der oben genannten Analgesie sollte immer an eine Schmerzprophylaxe sowie an adjuvante Therapien gedacht werden. Hier sind vor allem analgetische Maßnahmen vor diagnostischen und therapeutischen Interventionen sinnvoll (7 Kap. 3.6). Eventuell muss hier auch bei Kindern unterstützend eine Sedierung durchgeführt werden. Entscheidend für die Planung und Durchführung der postoperativen Schmerztherapie, aber auch von schmerzhaften Interventionen, ist eine kompetente Aufklärung und Beratung von Eltern und Patient. Als adjuvante Therapien sollten Medikamente gegen Übelkeit, Juckreiz und Obstipation bedacht und vorausschauend angeordnet werden. Die drei Säulen der postoperativen Schmerztherapie 4 Basisanalgesie: feste Anordnung je nach Art des operativen Eingriffs 4 Bedarfsanalgesie: bei dennoch auftretenden Schmerzen (Schmerzscore ≥4) 4 Adjuvante Analgesie: zur Unterstützung und Behandlung von analgetikabedingten Nebenwirkungen
In der Regel kann ab dem 2. postoperativen Tag in Abhängigkeit vom Verlauf der Schmerz-Scores und des bisherigen Schmerzmittelbedarfs entschieden werden, ob eine weitere feste Anordnung als Basisanalgesie noch notwendig ist. Die postoperative Analgesie kann dann eventuell auf eine alleinige Bedarfsmedikation umgestellt werden. Wichtig für die praktische Umsetzung der postoperativen Schmerztherapie sind ein hausinterner Standard mit Festlegung der Auswahl der Analgetika und des Procedere sowie eine Kontrolle zur Sicherstellung der Durchsetzung. Mit diesen Möglichkeiten kann die Forderung nach einer individuellen, umfassenden Schmerztherapie unter dem Motto »Schmerzen behandeln, bevor sie entstehen« erfüllt werden. Treten postoperativ Schmerzen auf, sollte es für den Patienten zu keiner Zeitverzögerung bis zur Medikamentenverabreichung kommen. Dies kann durch
25 3.6 · Schmerzhafte interventionelle Eingriffe
eine rechtzeitige präoperative Anordnung der Analgetika erreicht werden. Informationsbroschüren für Kinder und Eltern, die schon bei Aufnahme in der Klinik über die Schmerzeinschätzung und -therapie aufklären, sind sinnvoll.
3.5
Schmerztherapie bei retardierten Kindern
Bei mehrfachbehinderten Kindern ist die Schmerzmessung und -therapie durch die eingeschränkte Kommunikationsfähigkeit deutlich erschwert. Diese Kinder erhalten nach großen operativen Eingriffen deutlich weniger Analgetika als Kinder ohne Behinderung. Die Schwierigkeit ergibt sich aus der sehr heterogenen Gruppe der Kinder mit mentaler und motorischer Retardierung. Oft bestehen mehrfache andere Begleiterkrankungen, die schon präoperativ potenziell schmerzhaft sind (z. B. gastrointestinale Erkrankungen, Muskel-/Gelenkschmerzen, Zahnschmerzen). Die Schmerzäußerungen sind individuell sehr unterschiedlich und bereiten oft in der Differenzialdiagnose Schwierigkeiten. Die Bezugspersonen dieser Patienten sind daher in der Schmerzerfassung von großer Bedeutung und sollten eng mit eingebunden werden. Für die Schmerzmessung bei retardierten Kindern stehen einige wenige Schmerzskalen zu Verfügung, die allerdings teilweise im Alltag nur schwer einsetzbar sind. Die KUSS-Skala nach Büttner erscheint im postoperativen Bereich am zeitlichen Aufwand gemessen am ehesten praktikabel einsetzbar. Allerdings fehlt hier die individuelle Anpassung für jeden Patient. Die Skala FLACC (face, legs, activity, cry, consolability scale) setzt sich aus 5 Kategorien zusammen und kann für nicht-verbale Patienten eingesetzt werden. Die Skala PPP (pediatric pain profile) geht intensiv auf die persönliche Individualität dieser Kinder ein und bestimmt zunächst eine eigene Basislinie anhand derer schmerzhafte Ereignisse in Relation gesetzt werden können. Dieser Score ist allerdings aufwändig und nur in Zusammenarbeit mit den Eltern einsetzbar. Ebenfalls finden im NCCPC-R (non-communication children’s pain checklist – postoperative Version) Langzeitkriterien Beachtung, allerdings erfordert auch dies wieder eine zeitaufwändige Einschätzung. Die postoperative Schmerztherapie unterscheidet sich in den Möglichkeiten der balancierten Analgesie mit regionalanästhesiologischen Verfahren, Nichtopioiden und Opioiden im Wesentlichen nicht von der anderer Kinder. Allerdings zeigt sich, dass bei retardierten Kindern postoperativ im Vergleich zu nicht-retardierten Kindern seltener Schmerzen gemessen und dokumentiert werden, aber auch niedrigere Analgetikadosen verabreicht werden, insbesondere im Bereich der Opioide. Retardierte Pa-
tienten werden meist bezüglich ihrer Schmerzäußerung unterschätzt oder ihr Verhalten wird nicht einem Schmerzereigniss zugeordnet. Insbesondere adjuvante Therapien sollten bei diesen Kindern eingesetzt werden. Hier kann z. B. eine gezielte Injektion von Botulinumtoxin A eine verstärkte postoperative Muskelspastik verhindern. Aber auch eine rechtzeitige Therapie der meist schon vorbestehenden Obstipation bringt eine Erleichterung im postoperativen Bereich.
3.6
Schmerzhafte interventionelle Eingriffe
Schmerzhafte Interventionen im perioperativen Verlauf sind häufig und teils auch täglich notwendig. Kindern fehlt oft die Einsicht für diese diagnostischen oder therapeutischen Maßnahmen. Daher erfordern viele Maßnahmen beim Kind in der perioperativen Betreuung aufgrund der fehlenden Kooperation und Unruhe eine Behandlung, die sowohl analgetisch als auch abschirmend wirkt. Hierfür können verschiedene Formen der Analgosedierung eingesetzt werden. Aber auch bei kleinen schmerzhaften Eingriffen, wie z. B. Blutentnahmen kann dem Kind der Schmerz durch Planung der Maßnahmen genommen werden. > Durch eine adäquate Angst- und Stressreduktion können negative Langzeiteffekte auf die Entwicklung des Kindes verhindert werden.
Die altersentsprechende und einfühlsame Aufklärung über eine notwendige Maßnahme und die erfolgreiche Reduktion der Schmerzhaftigkeit und unangenehmen Empfindungen sind Grundvoraussetzung für eine gute Schmerzbewältigung. Es sollten keine falschen Versprechungen gegenüber dem Kind erfolgen, da dies zu einem Verlust des Vertrauens führt und die Zusammenarbeit weiter erschwert. Bei umschriebenen, oberflächlichen Schmerzreizen kann eine alleinige Lokalanästhesie den Schmerz unterbinden. Hierfür stehen topische Lokalanästhetika (z. B. Lidocain) in Form von Sprays oder Gleitgels zur Sondenoder Kathetereinführung zur Verfügung. Zur Blutentnahme oder Legen eines i.v. Zugangs kann die Applikation von EMLA die schmerzhafte Hautperforation analgesieren. Beachtet werden muss eine ausreichend lange Einwirkzeit von mindestens 1 h im Okklusionsverband. Bei Neugeborenen sollte einen Dosierung von 5 cm2 bzw. 0,5 g nicht überschritten werden. Bei Säuglingen ≤3 Monate können bei venösen oder kapillären Blutentnahmen eine gute Analgesie durch folgende Maßnahmen erreicht werden: 30% Glukose 1 ml p.o. 2 min vor der Punktion kombiniert mit Schnullern und Komfortmaßnahmen (swaddling, fascilitatetd tucking).
3
26
3
Kapitel 3 · Grundlagen der Schmerzbehandlung des Kindes
Benötigt das Kind eine Analgosedierung, sollten die verschiedenen Formen der Analgosedierung unterschieden und entsprechend der Situation und Maßnahme ausgewählt werden. Bei der »conscious sedation« handelt es sich um eine »leichte« Sedierung in Kombination mit einer Analgesie unter erhaltenen Schutzreflexen, eine Atemkontrolle ohne Hilfsmittel mit Erweckbarkeit durch taktile und verbale Reize. Somit wird die optimale Analgosedierung für schmerzhafte Maßnahmen erzielt. Es besteht allerdings ein fließender Übergang in die tiefe Sedierung mit Teilverlust der Schutzreflexe und teilweise fehlender Atemkontrolle ohne unmittelbare Erweckbarkeit. Die tiefe Sedierung ist eine Variante der Narkose und soll somit nur von einem Anästhesisten durchgeführt werden. Somit muss auch eine »conscious sedation« unter anästhesiologischen Richtlinien erfolgen. Das bedeutet ein Einhalten der Nüchternzeiten und ein anästhesiologischer Arbeitsplatz mit Vorhandensein von Sauerstoff, Ambubeutel, Absaugung und Notfallkoffer sowie einem Basismonitoring der Vitalparameter. Als Medikation steht zum Beispiel die Kombination aus Midazolam und Ketanest S zur Verfügung. Die Dosierung liegt für die rektale Gabe bei Midazolam 0,4 mg/kg KG, Ketanest S 0,75–1 mg/kg KG und für die i.v. Gabe bei Midazolam 0,05 mg/kg KG und Ketanest S 0,25-0,5 mg/kg KG . Eine weitere Möglichkeit ist eine inhalative Analgesie mit Lachgas als 50% N2O/50% O2-Gemisch. Dies sollte allerdings nicht bei Säuglingen und Kleinkindern angewendet werden oder bei Kindern mit Atemwegsproblemen, Epilepsie, erhöhtem Hirndruck, Mittelohrproblematik, Ileus oder mangelnder Compliance. Die analgetische Wirkung ist eher gering einzuschätzen und daher für weniger schmerzhafte Interventionen geeignet.
Literatur Annequin et al (2000) Fixed 50% nitrous oxide oxygen mixture for painful procedure: a french survey. Pediatrics 10584):E47 Denecke H, Hünseler C (2000) Messen und Erfassen von Schmerz. Schmerz 14:302–308 Hicks CL, von Baeyer CL, Spafford PA, van Korlaar L, Goddenough B (2001) The Faces Pain Scale – Revised: Toward a commen metric in pediatric pain measurement. Pain 93:173–183 Rakow H et al (2007) Handlungsbedarf zur perioperativen Schmerztherapie bei Kindern. Anästh Intensivmed 48:S99–S103 Sittl R et al (2006) Postoperative Schmerztherapie bei Kindern. Monatsschr Kinderheilk 154:755–763 Zernikow B, Dietz B (2003) Schmerzerkennung und -messung bei Kindern mit kognitiver und körperlicher Behinderung. Neuropädiatrie in Klinik und Praxis 1:12–17 Zernikow B (2009) Schmerztherapie bei Kindern, 4. Auflage. Springer, Berlin Heidelberg New York, S 51–76, 157–167, 243–255
4
Wachstumsphänomene und Korrekturmechanismen des wachsenden Skeletts P. Schmittenbecher
4.1
Normales Wachstum
– 28
4.2
Fehlwachstum und Wachstumsstörung
4.3
Heilung nach Knochenbrüchen
4.4
Korrekturmechanismen nach Verletzungen
4.5
Störungen der Knochenbruchheilung
– 30
– 32 – 33
– 35
4.5.1 Heilungsverzögerung – 35 4.5.2 Heilungsstörung – 36
4.6
Knochenbruchheilung, Heilungsstörungen und Korrekturvorgänge an verschiedenen Skelettabschnitten – 39
4.6.1 4.6.2 4.6.3 4.6.4
Oberarm – 39 Unterarm – 42 Oberschenkel – 45 Unterschenkel – 49 Literatur
– 53
4
28
Kapitel 4 · Wachstumsphänomene und Korrekturmechanismen des wachsenden Skeletts
4.1
Normales Wachstum
Knochen ist ein stark vaskularisiertes, dynamisches, mineralisiertes »Bindegewebe«, das durch seine Härte, seine Strapazierfähigkeit und die Wachstumsmechanismen charakterisiert ist und sich von allen anderen Geweben durch seine Fähigkeit zum Remodelling und zur Selbstreparatur unterscheidet. Knochen besteht aus Zellen, die in Matrixkomponenten mit organischen (z. B. Kollagen) und anorganischen Elementen (z. B. Kalziumphosphat) eingebettet sind. Die Struktur und die Anteile der genannten Komponenten unterscheiden sich in Abhängigkeit vom Alter des Menschen und dem spezifischen Ort des Knochens. Knochen ist ein Mineral- und Blutzellreservoir und steht in einem ständigen Kreislauf von Resorption und Regeneration, und dies in Abhängigkeit von internen hormonellen und externen mechanischen Anforderungen. Knochen differenziert sich in die Matrix, die Knochenzellen, das Knochenmark und das Gefäßnetzwerk. Die extrazelluläre Matrix macht 95% des Trockengewichtes eines Knochens aus und enthält vornehmlich organische Kollagenfibrillen (v. a. Kollagen Typ I und V) sowie anorganische Minerale (v. a. Hydroxyapatit). Daneben finden sich die wichtigen »growth factors«. Diese Wachstumsfaktoren regulieren das lokale Knochenwachstum, induzieren die Angioneogenese oder unterstützen die Migration und Differenzierung von Vorläuferzellen. Die wichtigsten Wachstumsfaktoren sind der »vascular endothelial growth factor« (VEGF), der »fibroblast growth factor« (FGF), die insulin-like growth factors I und II (IGF-I/II), der »platelet-derived growth factor« (PDGF), die »transforming growth factors β« (TGF-β) und die »bone morphogenic proteins« (BMP). Die BMP spielen eine entscheidende Rolle in der Modulation der endochondralen Knochenneubildung und können mesenchymale Stammzellen zur Differenzierung in Chondroblasten und/oder Osteoblasten stimulieren. Unter den Knochenzellen sind die Osteoblasten, Osteozyten und Osteoklasten von besonderer Bedeutung. Während der Frakturheilung und dem Remodelling stimulieren biochemische Signalmoleküle diese Populationen. Dabei wird die Entwicklung hin zum Osteoblasten oder zum Chondroblasten auch von der Mikrovaskularität der Umgebung beeinflusst. Da Osteoblasten sehr viel Sauerstoff benötigen, entstehen sie vornehmlich in »gesunder« Umgebung, während der durch die lokale Zerstörung der Mikroarchitektur resultierende Sauerstoffmangel im Frakturbereich die bradytrophen Chondroblasten entstehen lässt. Schlüsselbein, Unterkiefer und Schädeldach basieren auf der desmalen Ossifikation. Aus pluripotenten Mesenchymzellen differenzieren sich Osteoblasten und bilden die Grundsubstanz Osteoid. Das Wachstum erfolgt appositionell. Alle anderen Knochen entstehen durch chondra-
le Ossifikation. Die chondrale Ossifikation beschreibt die Bildung von Ersatzknochen auf der Basis des knorpeligen Modells, das aus einer mesenchymalen Anlage entstand. Dabei erfolgt nicht eine Umwandlung von Knorpel in Knochen, sondern ein tatsächlicher Ersatz. Die chondrale Osteogenese beginnt mit Ausbildung einer Knochenmanschette im diaphysären Perichondrium, die sich in die Dicke und Länge ausdehnt. Als membranöse chondrale Ossifikation bezeichnet man die via Periost (als »Membran«) ablaufende Knochenneubildung, als endochondrale Ossifikation die via Knorpel (Fuge) ablaufende Form. Die knorpeligen Epiphysen werden durch Zellteilung und Vermehrung der Interzellularsubstanz größer, später tritt ein Verknöcherungspunkt (Kern) auf mit anschließender chondraler Verknöcherung. Der Knorpel um den knöchernen Kern herum teilt sich in Gelenk- und Epiphysenknorpel, diese beiden Knorpelformen sind auch funktionell differenziert und können sich nicht gegenseitig ersetzen. Dabei ist der Epiphysenknorpel für das weitere Längenwachstum verantwortlich und differenziert sich in eine Eröffnungszone, den Proliferationsknorpel und den Säulenknorpel. Das für die Proliferation entscheidende Stratum germinativum liegt auf der epiphysären Seite der Wachstumsfuge. Daneben findet ein Dickenwachstum der Diaphysen statt. Dieses sog. appositionelle Dickenwachstum erfolgt periostal und endostal durch Neubildung von Knochenlamellen und Anordnung in Osteonen und gilt für die Substantia compacta der Röhrenknochen. Dickenwachstum ist immer möglich als Regeneration oder als Anpassung an eine veränderte Belastung. Zur Epiphyse hin ist der Übergang in spongiösen Knochen zu beobachten. Dieser entstammt enchondraler Ossifikation. Das Periost hat im Kindesalter große Bedeutung durch seine hohe Stabilität und Reißfestigkeit. Es besteht aus einer zell- und blutgefäßreichen sog. Kambiumschicht, die sich in die äußere Grenzlamelle (Stratum cellulare) und das Stratum fibrosa differenzieren lässt (Breitfuss et al. 2006; Hing 2004; Lee et al. 2002; Peterson 2007; Xian et al. 2006). Bei Geburt ist das Skelett in einem unterschiedlichen Entwicklungs- und Differenzierungszustand. Während an einigen Knochen sowohl die diaphysären als auch die epiphysären Knochenkerne angelegt sind, erkennt man bei anderen nur die Diaphyse, weil die Epiphysen noch ausschließlich knorpelig sind. Die Diaphysen sind i. d. R. bei einem Embryo mit 18–20 mm SSL vorhanden. Ein reifes Neugeborenes hat zudem regelhaft einen knöchernen distalen epiphysären Femurkern sowie meist Kerne von Kalkaneus und Talus. Die Epiphysenkerne der langen Röhrenknochen erscheinen zu unterschiedlichen, aber charakteristischen Zeitpunkten (. Tab. 4.1). Bei Geburt besteht das Skelett außer dem Femur aus fibrillärem Knochen, der sukzessive in lamellären Knochen umgebaut wird.
H.G. Dietz et al. (Hrsg.), Praxis der Kinder-und Jugendtraumatologie, DOI 10.1007/978-3-642-12935-3_4, © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2011
29 4.1 · Normales Wachstum
. Tab. 4.1 Zeitpunkt des Erscheinens der wichtigsten epiphysären Knochenkerne (ohne Apophysen) Femur distal und Tibia proximal
Bei Geburt vorhanden
Humerus distal (Kapitulum) und Radius distal Femur proximal und Tibia distal
Erscheinen um den 6. Lebensmonat
Humerus proximal und Fibula distal
Erscheinen bis zum 12. Lebensmonat
Fibula proximal
Erscheint bis zum 4. Geburtstag
Radius proximal
Erscheint bis zum 5. Geburtstag
Ulna distal
Erscheint bis zum 7. Geburtstag
Humerus distal (Trochlea)
Erscheint bis zum 10. Geburtstag
. Abb. 4.1 Wachstum in cm/Jahr bei Knaben (Perzentilenkurve)
Für jeden Knochen gilt ein charakteristischer Ablauf des Längenwachstums vom Erscheinen der Epiphysenkerne über die zunehmende Verknöcherung der Epiphysen bis zum Fugenschluss. Dabei sind drei Stadien der Fugenaktivität zu beobachten. Zunächst stehen Proliferations- und Mineralisationsvorgänge im Vordergrund, dann folgt eine kurzfristige Ruhephase, bevor die Verschlussphase das Ende des lokalen Wachstums anzeigt. Der Fugenschluss ist genetisch determiniert für die einzelne Fuge, das Geschlecht und den individuellen Reifungsstatus (Laer et al. 2007; Peterson 2007; Rathjen u. Birch 2006). . Abb. 4.1 zeigt die Wachstumsgeschwindigkeit von Jungen und . Abb. 4.2 exemplarisch die Wachstumsgeschwindigkeit des Femur und der Tibia. In einem ebenso charakteristischen Zeitablauf wie das Erscheinen der epiphysären Knochenkerne erfolgt am Ende des Wachstums der Verschluss der Fugen (. Tab. 4.2). Dabei müssen die Standardwerte immer mit Vorsicht interpretiert werden, da es eine generelle, wenn auch in Zentraleuropa bereits deutlich abnehmende Akzeleration in der Bevölkerung, eine individuelle Komponente und eine landsmannschaftliche Differenzierung (früherer Wachstumsabschluss z. B. in südeuropäischen Ländern) gibt.
4
30
Kapitel 4 · Wachstumsphänomene und Korrekturmechanismen des wachsenden Skeletts
4
. Abb. 4.2 Wachstum der Tibia und des Femur in cm/Jahr. (Aus: Hefti Kinderorthopädie, 2006)
4.2
Fehlwachstum und Wachstumsstörung
Auf strukturelle Anlagefehler und Strahldefekte soll hier nicht eingegangen werden, ebenfalls nicht auf übergeordnete generalisierte Wachstumsstörungen mit proportioniertem oder dysproportioniertem Klein- oder Großwuchs oder schwere Allgemeinerkrankungen (z. B. Mukoviszidose) mit daraus folgendem generalisiertem Minderwachs-
. Tab. 4.2 Zeitpunkt des Fugenschlusses Humerus distal
Verschließt sich bis zum 16. Lebensjahr
Femur proximal, Tibia distal
Verschließen sich bis zum 17. Lebensjahr
Unterarm (alle), Femur distal, Tibia proximal, Fibula distal
Verschließen sich bis zum 18. Lebensjahr
Fibula proximal
Verschließen sich bis zum 19. Lebensjahr
Humerus proximal
Verschließen sich bis zum 20. Lebensjahr
tum. Vorübergehende Wachstumsverzögerungen im Rahmen akuter schwerer Krankheitszustände sind an sog. Wachstumslinien zu erkennen. Diese finden sich als sog. Park-Harris-Linien verstärkter Sklerosierung parallel zu den Wachstumsfugen (. Abb. 4.3) und sind in der Regel ohne funktionelle Bedeutung (Xian et al. 2006). Lokale Wachstumsstörungen können angeboren oder erworben sein, das Wachstum ist im Rahmen der Störung stimuliert oder gehemmt. Stimulative wie hemmende symmetrische Störungen einzelner Fugen, Knochen oder Extremitäten führen zur Längendifferenz, die vornehmlich an der unteren Extremität funktionelle Bedeutung hat. Davon zu unterscheiden sind lokal auftretende, asymmetrische Wachstumsstörungen, die – über die partielle Stimulation oder Hemmung einer Fuge – zum Achsenfehler führen, dabei aber auch einen relativen begleitenden Längenunterschied bedingen können (Rathjen u. Birch 2006). Eine angeborene Wachstumsstimulation wird beobachtet bei der Mehrdurchblutung einer Extremität z. B. im Rahmen vaskulärer Malformationen. Entsprechend kann Minderwachstum bei Mangeldurchblutung beobachtet werden. Eine erworbene Wachstumsstimulation beruht letztendlich auch immer auf einer passageren Mehrdurchblutung, die aus einer Verletzung (Mehrdurchblutung im
31 4.2 · Fehlwachstum und Wachstumsstörung
. Abb. 4.3 Typische Wachstumslinie (Park-Harris-Linie) parallel zur Fuge
. Abb. 4.4 Varus und Antekurvation des distalen Femur nach Säuglingsosteomyelitis
Rahmen der Heilung) oder einer Entzündung (Osteomyelitis) resultieren kann. Bei Jugendlichen kann diese Stimulation dann in einen vorzeitigen Fugenschluss münden, sodass eine symmetrische Verkürzung resultiert. Ein erworbener symmetrischer Fugenschaden wird darüber hinaus nach Bestrahlung im Rahmen kinderonkologischer Therapiekonzepte oder nach thermischen Schäden (Kälte, Hitze) beobachtet. Erworbene partielle Fugenschäden sind seltener stimulativ (Instabilität, lange knöcherne Heilungszeit), häufiger jedoch hemmend durch eine traumatische
Fugenzerstörung, einen iatrogenen Schaden im Rahmen osteosynthetischer Maßnahmen oder auch nach Osteomyelitis (. Abb. 4.4 und . Abb. 4.5). Lokale, ggf. multifokale Wachstumsstörungen werden bei einigen Skeletterkrankungen wie z. B. bei der Enchondromatose (Morbus Ollier) beobachtet. Auch ohne pathologische Fraktur kann es durch den lokalen Ossifikationsdefekt zu asymmetrischer Wachstumshemmung und konsekutivem Achsenfehler kommen (. Abb. 4.6 und . Abb. 4.7).
. Abb. 4.5 Knochenbrücke in der Kernspintomographie (gleicher Patient wie in . Abb. 4.4)
4
32
Kapitel 4 · Wachstumsphänomene und Korrekturmechanismen des wachsenden Skeletts
4.3
4
. Abb. 4.6 Deutliche Beinlängendifferenz bei M. Ollier
. Abb. 4.7 Enchondrom der proximalen Tibia mit konsekutiver Wachstumsstörung bei M. Ollier
Heilung nach Knochenbrüchen
Bei der Knochenbruchheilung sind Vorgänge zu beobachten wie sie aus der primären Knochenentwicklung bekannt sind. Die primitiven mesenchymalen Zellen werden entweder auf dem Weg der intramembranösen Ossifikation direkt in Osteoprogenitorzellen und dann direkt in Osteoblasten umgewandelt (periostale Heilung), oder sie gehen den Weg der endochondralen Ossifikation über den Zwischenschritt des Chondroblasten, die eine kollagene Schablone erstellen und diese dann ossifizieren (endochondrale Heilung). Dies verläuft in einem 3-Schritt-Prozess (Hing 2004; Peterson 2007; Wilkins 2005): 4 Inflammatorische Phase: Hämatom durch periostale Blutung und Zerstörung kleiner Umgebungsgefäße; lokale frakturnahe Osteozyten-Nekrose in Folge der Gefäßzerreißung; Makrophagen- und FibroblastenRekrutierung zum Abräumen des Zelldebris und zur Expression extrazellulärer Matrix, v. a. von »growth factors«, die ihrerseits wieder mesenchymale Stammzellen stimulieren, Genexpressionen in den Knorpelzellen der Wachstumsfugen triggern und Einfluss auf Zellgröße, Enzyme und Rezeptoren nehmen; zudem Ausbildung eines kollagenen Gerüstes. 4 Reparative Phase (2–3 Monate): Periostverdickung und Kallusbildung sowie Auffüllung des Frakturspaltes (quantitative Knochenneubildung); Angiogenese und Beginn des schrittweisen Ersatzes des Kallus durch Knochen. 4 Remodellierende Phase (Monate bis Jahre): Reabsorption des nicht-kalzifizierten Materials, Umbau im Sinne der Remodellage (qualitative Knochenneubildung) und Wiederauffüllung der Hohlräume mit Knochenmark. Die Bruchheilung verläuft im Kindesalter diaphysär und epiphysär sehr unterschiedlich. Bei diaphysären Frakturen steht die periostale Heilung ganz im Vordergrund. Sie ist der mechanisch wichtigste und einfachste Weg der Frakturstabilisation und wird durch Mikrobewegungen, wie sie bei der konservativen Knochenbruchbehandlung, bei der elastisch-stabilen intramedullären Nagelung, beim dynamisierten Fixateur externe und bei der biologisch implantierten Platte (Fixteur interne) möglich sind, stimuliert. An der Innenseite des Periostes, dem sog. Stratum cellulare kommt es zu einer metabolischen Stimulation der Chondro- und Osteoblasten und zu einer zellulären Proliferation. Der dadurch entstehende periostale Kallus hat die höchste Stabilität, die größte Überbrückungskapazität und die bedeutendste Bewegungstoleranz. Er führt vorübergehend zu einer erheblichen Querschnittsvergrößerung und verbessert so die Frakturabstützung (. Abb. 4.8). Erst nach so erreichter Stabilisierung und bereits wieder aufgenom-
33 4.4 · Korrekturmechanismen nach Verletzungen
. Abb. 4.8 Kallusbildung mit kugelförmiger Überbrückung der Frakturregion und deutlicher Vergrößerung des Durchmessers
mener Belastung kommt über endostale Kallusbildung und Durchbauung der Fraktur der Heilungsvorgang zum Ende und leitet über zu den Mechanismen der Remodellierung. Diese führen zum osteoklastischen Abbau der kugelförmigen Kallusfigur mit Wiederherstellung der Knochenkontur. Bei epiphysären Frakturen steht die Wiederherstellung der chondralen Gelenkfläche ganz im Vordergrund des Interesses. Unregelmäßigkeiten werden hier minderwertig bindegewebig oder durch Faserknorpel überbrückt. Daher wird eine möglichst exakte Rekonstruktion der chondralen Gelenkfläche angestrebt. Je höher die Stabilität der dabei gewählten Methode, umso schneller ist die Heilung abgeschlossen und umso geringer ist damit die Irritation und Stimulation der Wachstumsfuge und die daraus resultierende Gefahr der Achsdeviation (Peterson 2007). Auch bei der Heilung wird den »growth factors« zunehmende Bedeutung zugerechnet. So unterstützt IGF-1 z. B. die epiphysären Chondrozyten bei der qualitativ hochwertigen Frakturheilung, während BMP-2 die osteogene Aktivität stimuliert und so auch die transepiphysäre Knochenbrückenbildung fördert (Xian et al. 2006). Die Heilungszeit einzelner Brüche ist im Kindesalter deutlich kürzer als bei Erwachsenen. Ruhigstellung und/
oder Entlastung sind nur bis zur sicheren Kallusüberbrückung erforderlich. Hierzu fordert man bei Röntgenaufnahmen in zwei Ebenen die Abstützung an drei Kortikales. Der Frakturspalt ist zu diesem Zeitpunkt oft noch sehr gut zu sehen und muss für die Belastungsfreigabe auch nicht durchbaut sein.
4.4
Korrekturmechanismen nach Verletzungen
Bestehen in der Heilungsphase einer Fraktur meta-/diaphysäre Achsenfehler, so erfolgt periostal ein konkavseitiger Knochenanbau und konvexseitiger Knochenabbau und dadurch eine Achsenbegradigung (. Abb. 4.9). Dies erfolgt nach Roux‘s Überlegung im Sinne einer Anpassung an die Funktion durch Ausübung derselben (Minimum an Materialaufwand für Maximum an Belastbarkeit) und durch das Wolff-Transformationsgesetz (optimale Balance zwischen Form und Funktion). Es erfolgt ein appositioneller Knochenanbau auf der Druckseite (die Mikrodeformation ist größer als das Soll) und eine endostale Resorption auf der Zugseite (die Mikrodeformation ist kleiner als das Soll) mit einer Ausrichtung der Knochenbälkchen auf die axiale Be-
4
34
Kapitel 4 · Wachstumsphänomene und Korrekturmechanismen des wachsenden Skeletts
4
. Abb. 4.9 Prinzip des konkavseitigen Knochenanbaus (Druck) und konvexseitigen Knochenabbaus (Zug)
anspruchung (Breitfuss et al. 2006; Hing 2004; Wilkins 2005). Die Korrekturmechanismen sind in ihrem Ausmaß abhängig von der Nähe und der verbliebenen Wachstumspotenz der nächstgelegenen Wachstumsfuge. Darum erfolgen solche Korrekturen an den metaphysären Abschnitten in der Nähe von lange aktiven Fugen, z. B. an der distalen Unterarm- und der proximalen Oberarmmetaphyse, besonders gut, zumal hier auch eine erhöhte Vaskularität vorliegt und dadurch das osteogene Potenzial höher ist. Epiphysär erfolgt im Sinne von Pauwels-Theorie der funktionellen Anpassung eine druckbedingte exakte Ausrichtung der Epiphyse im rechten Winkel zur Belastungsachse durch asymmetrisches Wachstum. Die konkav stehende Epiphysenseite wird stimuliert und führt durch ein
. Abb. 4.10 Axiale Fugenausrichtung durch passageres einseitiges Mehrwachstum; der Achsenfehler am Schaft bleibt
vorübergehendes Mehrwachstum zur rechtwinkligen Ausrichtung der Epiphyse (. Abb. 4.10). Somit findet hier nur eine Scheinkorrektur statt, denn der eigentliche dia-metaphysäre Achsenfehler verbleibt. Werden die Epiphysenfugen durch umfangreiche Korrekturvorgänge nach einer Verletzung sehr lange relativ hyperperfundiert und damit auch stimuliert, resultiert hieraus ein meist symmetrisches Mehrwachstum mit einer Längendifferenz der Extremität. Die Summe der Stimulation ist dabei proportional zur Summe der Reparationsund Remodellierungsvorgänge. Dies betrifft in besonderem Maße den Femur und kann über mehrere Jahre anhalten. Dagegen kann es besonders an der distalen Tibia bei älteren Kindern im Rahmen der posttraumatischen Durchblutungsverstärkung zum vorzeitigen Fugenverschluss und zur relativen Beinverkürzung kommen. Grundsätzlich ist das Remodellierungspotenzial nahe der hochprozentigen und lange wachsenden Fugen (proximaler Humerus, distaler Unterarm, distaler Femur) sehr stark ausgeprägt, während es rund um den Ellenbogen und am proximalen Femur sowie der Tibia nur mäßiges resp. geringes Korrekturpotenzial gibt (. Abb. 4.11 und . Abb. 4.12). Achsenfehler in der Bewegungsebene werden besser korrigiert als in der Frontalebene und Varusfehler besser als Valgusabweichungen. Zudem zeigt die belastete (untere) Extremität ein besseres Korrekturverhalten als die unbelastete (obere) Extremität. Eine praktisch relevante Korrektur von Rotationsfehlern existiert nicht. Die an einigen Stellen ablaufenden physiologischen Derotations- oder Detorsionsvorgänge (proximaler Femur, proximale Tibia, Humerus) können nur ungezielt und »zufällig« hilfreich sein. Die Spontankorrektur soll prinzipiell nur als eine physiologische Unterstützung und eine individuelle Perfektionierung einer möglichst optimalen Frakturbehandlung akzeptiert werden.
35 4.5 · Störungen der Knochenbruchheilung
. Abb. 4.11 Wachstumsanteile der Fugen. Aus Peterson 2007
4.5
Störungen der Knochenbruchheilung
4.5.1
Heilungsverzögerung
> Von einer Heilungsverzögerung spricht man, wenn die Kallusüberbrückung und/oder die knöcherne Konsolidierung über die normale altersentsprechende Heilungszeit hinaus dauert.
. Abb. 4.12 Kompensation und Fehlwachstumspotenzial in Abhängigkeit von der Fugenpotenz am Unterarm
Ursächlich sind am häufigsten Interponate an der Fraktur (Periost, Muskel), die bei den überwiegend konservativen oder geschlossenen Behandlungsverfahren im Kindesalter nicht festgestellt und/oder nicht beseitigt werden können/ sollen (. Abb. 4.13). Nach offenen Frakturen oder nach offenen Repositionen kann die Heilung verzögert sein, wenn es zu einer relevanten Deperiostierung gekommen ist. Hier bedingt der Verlust der gut vaskularisierten Periosthülle die unzureichende periostale Knochenneubildung und den Zeitverzug (. Abb. 4.14 und . Abb. 4.15; Arsian et al. 2002; Schmittenbecher et al. 2004). Fragmentdistanz, Instabilität an der Fraktur oder aber zu starre Implantate können ebenfalls die Bruchheilung verzögern.
4
36
Kapitel 4 · Wachstumsphänomene und Korrekturmechanismen des wachsenden Skeletts
4.5.2
Heilungsstörung
Frakturen im Kindesalter heilen immer, es sei denn, sie werden iatrogen daran gehindert durch sperrende, zu rigide oder instabile Osteosynthesen (. Abb. 4.16) oder durch eine insuffiziente Immobilisation, oder es liegt eine grundsätzliche Ossifikationsstörung oder eine lokale Knochenpathologie vor, so dass die Heilungsmöglichkeiten überfordert werden. Eine Pseudarthrose wird man also im Kindesalter kaum sehen. An zwei typischen Lokalisationen, bei der Schenkelhalsfraktur und dem Abriss des Condylus radialis humeri, kann die Vermeidung der osteosynthetischen Stabilisierung und die daraus resultierende Fragmentmobilität die Entwicklung einer Pseudarthrose ermöglichen (. Abb. 4.17 und . Abb. 4.18). Selten ist im Kindesalter zu beobachten, dass im Rahmen von Verlängerungsmaßnahmen eine zu hohe Distraktionsgeschwindigkeit zur Pseudarthrosenbildung führt, vor allem, wenn ein dysplastischer Knochen mit einer eventuell eingeschränkten Knochenneubildungspotenz korrigiert wird (. Abb. 4.19).
4
. Abb. 4.13 Heilungsverzögerung durch Weichteilinterponat
a
b
. Abb. 4.14 Heilungsverzögerung. a Unterarmschaftfraktur. b Deutliche ulnare Heilungsverzögerung nach 4 Monaten (offene Reposition)
4
37 4.5 · Störungen der Knochenbruchheilung
a
b
. Abb. 4.15a,b Heilungsverzögerung. a Drohende Pseudarthrose nach 7 Monaten und Metallentfernung. b Heilung ohne weitere Therapie nach 13 Monaten
. Abb. 4.16 Pseudarthrose der Tibia nach intramedullärer Nagelung durch sperrende Fibula, Nagelbruch
38
Kapitel 4 · Wachstumsphänomene und Korrekturmechanismen des wachsenden Skeletts
4
. Abb. 4.17 Abrissfraktur des Kondylus radialis und konservative Therapie bei hoher Instabilität
. Abb. 4.18 Pseudarthrose des Condylus radialis
. Abb. 4.19 Pseudarthrose der Ulna nach zu schneller Verlängerung im Ilisarov-Ringfixateur bei konnataler Fehlbildung
39 4.6 · Knochenbruchheilung, Heilungsstörungen und Korrekturvorgänge an verschiedenen Skelettabschnitten
. Abb. 4.20 Geburtstraumatische Humerusfraktur mit deutlicher Fehlstellung
4.6
Knochenbruchheilung, Heilungsstörungen und Korrekturvorgänge an verschiedenen Skelettabschnitten
Durch das Wachstum kann es grundsätzlich in der Umgebung von stark und lange wachsenden Fugen zu einer ausgeprägten spontanen Kompensation von Fehlwachstum kommen, andererseits liegt bei Verletzungen der Fuge dann auch erhebliches Fehlwachstumspotenzial vor. Achsenfehler in der Nähe von wenig und kurz wachsenden Fugen werden entsprechend unzureichend kompensiert, aber es kommt nach Fugenverletzungen auch nur zu geringem Fehlwachstum. Ist eine Fuge symmetrisch stimuliert oder gehemmt, so wird sich das immer auf die Länge der Extremität auswirken, während eine asymmetrische Irritation zum Achsenfehler führt.
4.6.1
60° und danach nur noch Achsenfehler bis 20° spontan korrigiert werden. Zusätzliche Einschränkungen gibt es für den selteneren Varusfehler, der sich nur bis zu 10° ausgleicht. Totale Wachstumshemmungen durch einen posttraumatischen Fugenschaden stellen ebenso wie asymmetrische Stimulationen oder Störungen mit daraus folgenden erheblichen Achsen- und Längenproblemen eine Rarität dar und wurden bisher nur kasuistisch berichtet. Am Oberarmschaft bewirken Achsenfehler grundsätzlich keine funktionellen Probleme, sondern lediglich kosmetische Auffälligkeiten. Diese werden im oberen und
Oberarm
Die proximale Oberarmfuge ist nach den üblichen Angaben für 80% des Längenwachstums des Humerus verantwortlich, die distale Fuge nur für 20%. Somit liegt proximal ein erhebliches, distal nur ein geringes Korrekturpotenzial vor. Zudem erlaubt das Schultergelenk als Kugelgelenk eine gute funktionelle Kompensation, während das am Scharniergelenk des Ellenbogens nicht der Fall ist. Bei den proximalen Epiphysenlösungen und den metaphysären subkapitalen Humerusfrakturen können im Säuglingsalter (geburtstraumatische Fraktur) vollständige Dislokationen ad latum und Abkippungen bis 90o, im Kleinkindesalter und Schulalter bis zum 10. Lebensjahr Fehlstellungen um ½ Schaftbreite und Abkippungen bis
. Abb. 4.21 Kugelförmige Kallusformation
4
40
Kapitel 4 · Wachstumsphänomene und Korrekturmechanismen des wachsenden Skeletts
4
. Abb. 4.23 Kosmetisches Ergebnis einer Oberarmschaftfraktur
. Abb. 4.22 Oberarmschaftfraktur mit Verkürzung und Rekurvation
mittleren Schaftdrittel durch die Nähe zur hochpotenten proximalen Fuge im Säuglings- und Kleinkindesalter noch bis zu 20° korrigiert (. Abb. 4.20 und . Abb. 4.21), sollten danach aber grundsätzlich nicht mehr akzeptiert werden (. Abb. 4.22 und . Abb. 4.23) (Schmittenbecher et al. 2004). Am distalen Humerus erfordert das begrenzte Korrekturpotenzial die korrekte Reposition und Fixation. Nur etwa bis zum 6. Lebensjahr kann ein Antekurvations- oder Rekurvationsfehler bis zu 20° ausgeglichen werden. Zudem wächst er in dieser Zeit auch vom Gelenk weg und zum Schaft hin und ist dadurch von geringerer funktioneller Relevanz (. Abb. 4.24 und . Abb. 4.25). Varus- und Valgusabkippungen bleiben und stellen optische, im Laufe der Zeit durch nervale Irritationen und durch Fehlbelastungen im Ellenbogengelenk auch funktionelle Probleme dar (. Abb. 4.26). Seitverschiebungen werden zuverlässig korrigiert (Laer et al. 2007; Wilkins et al. 2005). Län-
. Abb. 4.24 Ausgeprägte Antekurvation des distalen Humerus mit deutlicher Beugehemmung
genveränderungen durch symmetrische Fugenstimulation oder -hemmung sind nicht von Bedeutung, jedoch kann die partielle radiale Stimulation im Rahmen der Heilung instabil fixierter Condylus-radialis-Abrisse zur Varisierung führen (. Abb. 4.27; Gogola 2006).
41 4.6 · Knochenbruchheilung, Heilungsstörungen und Korrekturvorgänge an verschiedenen Skelettabschnitten
. Abb. 4.25 Abbau der ventralen Kante und Verschiebung der Fehlstellung nach proximal
. Abb. 4.26 Varusfehler nach suprakondylärer Humerusfraktur
4
42
Kapitel 4 · Wachstumsphänomene und Korrekturmechanismen des wachsenden Skeletts
4
. Abb. 4.27 Konservativ behandelte Condylus-radialis-Fraktur; Heilung mit hypertrophem Kondylus durch lange Fugenstimulation
4.6.2
Unterarm
Am proximalen Radius kommen im Kindesalter ausschließlich Epiphysenlösungen mit und ohne metaphysären Keil sowie metaphysäre Frakturen vor, die zur Seite verschoben und/oder abgekippt sind. Da die proximale Radiusfuge nach den üblichen Literaturangaben nur zu 20% am Wachstum des Radius beteiligt ist, nach dem klinischen Eindruck wahrscheinlich jedoch noch weniger, sind Spontankorrekturen nur sehr begrenzt möglich. Lediglich die Aufrichtung und axiale Ausrichtung der Fuge stellt hier ein relevantes Korrekturphänomen dar und kann
bis zum 10. Lebensjahr Abkippungen bis 30o korrigieren (. Abb. 4.28 und . Abb. 4.29; Vocke u. Laer 1998). Die Dislokation ad latum wird nicht korrigiert. Kommt es zu einem vorzeitigen Fugenschluss, bleibt dieser funktionell folgenlos. An der proximalen Ulna gibt es keine Epiphysenfuge, sondern nur die Olekranon-Apophyse. Entsprechend sollte hier überhaupt keine Spontankorrektur einkalkuliert werden. Unterarmschaftfrakturen müssen wegen der Auswirkungen auf die Umwendbewegungen wie Gelenkfrakturen behandelt werden. Das Remodelling kann Seitverschiebungen auch bis zu ganzer Schaftbreite ausgleichen. Achsdeviationen führen jedoch bereits ab 15° zu Einschränkungen der Pronation und Supination (. Abb. 4.30 und . Abb. 4.31), so dass in jedem Alter 10–15° als Grenze der zu akzeptierenden Dislokation anzusehen sind (Weinberg et al. 2001). Dies gilt mit besonderer Strenge für das proximale Schaftdrittel, da hier der enge interossäre Raum die Kompensation zusätzlich begrenzt. Die vermeintlich harmlosen Biegungsfrakturen sind ebenfalls zu beachten. Ein »bowing« von mehr als 10° wird funktionelle Einschränkungen mit sich bringen. An der distalen Unterarmmetaphyse besteht durch die hochprozentigen Fugen ein sehr großes und auch lange anhaltendes Korrekturpotenzial. Wenn noch 5 Jahre Wachstum verbleiben, also etwa bis zum 13. Lebensjahr sind 30–35° in der sagittalen Ebene und 10° in der frontalen Ebene zu kompensieren (. Abb. 4.32 bis . Abb. 4.34; Ploegmakers et al. 2006). Hier steht oft die familiäre Akzeptanz mehr in Frage als die physiologische Potenz. Da-
43 4.6 · Knochenbruchheilung, Heilungsstörungen und Korrekturvorgänge an verschiedenen Skelettabschnitten
. Abb. 4.28 Radiushalsfraktur mit mäßiger Abkippung in beiden Ebenen
. Abb. 4.29 Spontanaufrichtung nach 2 Jahren; Röntgenaufnahme anlässlich eines anderen Traumas
4
44
Kapitel 4 · Wachstumsphänomene und Korrekturmechanismen des wachsenden Skeletts
4
. Abb. 4.32 Distale Radiusfraktur mit Fehlstellung im Rahmen der möglichen Spontankorrektur
. Abb. 4.30 Fehlverheilte Unterarmschaftfraktur, Remodelling abgeschlossen, keine weitere Korrektur
. Abb. 4.31 Deutlicher Pronationsverlust
4
45 4.6 · Knochenbruchheilung, Heilungsstörungen und Korrekturvorgänge an verschiedenen Skelettabschnitten
a
b
. Abb. 4.33a,b Distale Unterarmfraktur. a Fehlheilung.; b Vollständige Achsenkorrektur nach einem Jahr
gegen führen symmetrische oder asymmetrische Fugenschäden zu komplexen Funktionsstörungen durch Radiusoder Ulnavorschub mit Verkippung des Handgelenks, Veränderungen der Gelenkflächen in allen drei Ebenen, sekundären Blockaden der Umwendbewegungen und Limitationen der Handgelenksbeweglichkeit (. Abb. 4.35 und . Abb. 4.36).
4.6.3
Oberschenkel
Frakturen des proximalen Oberschenkels sind – mit einer gewissen Einschränkung bei den subtrochantären Frakturen – bei jeder Dislokation absolute Operationsindikationen, so dass die Frage nach der Korrekturpotenz keine klinische Bedeutung hat. Eine Stimulation der Schenkelhalsfuge führt wegen der schrägen Halsachse mehr zu einer Verlängerung des Schenkelhalses als zu einer Beinverlängerung. Der vorzeitige Fugenschluss bewirkt entsprechend eine Schenkelhalsverkürzung und kann dadurch ein Impingement auslösen. Am Schaft steht das Remodelling nur noch in der Altersgruppe bis zum 3. Lebensjahr zur Debatte, da danach
jede Fraktur eine Indikation zur Stabilisierung darstellt. Im Säuglings- (geburtstraumatische Fraktur, Kindesmisshandlung) und Kleinkindesalter können im Rahmen der konservativen Therapie sowohl sagittale Achsdeviationen als auch frontale Fehlstellungen bis 30° ausgeglichen werden (. Abb. 4.37 bis . Abb. 4.39). Rotationsfehler werden nur im Rahmen der physiologischen Detorsion des Schenkelhalses kompensiert und sollten vermieden werden. Auch Verkürzungen werden durch ein passageres Mehrwachstum der distalen Fuge kompensiert. Es muss jedoch nochmals darauf hingewiesen werden, dass die Summe der Remodellierungsvorgänge über die Dauer der Fugenstimulation entscheidet und gegebenenfalls zu einer Beinverlängerung führt (Dietz et al. 2001; Laer et al. 2007). An der distalen Femurmetaphyse besteht aufgrund des hohen Wachstumsanteils der nahen Fuge von 70% ein kräftiges Korrekturpotenzial. So gleichen sich Achsenfehler durch eingestauchte Frakturen in aller Regel aus. Die hohe Instabilität vollständiger Frakturen macht dagegen in der Regel die Osteosynthese erforderlich, so dass die Korrekturphänomene von geringerer Bedeutung sind. Bedeutsam ist dagegen das Risiko einer hemmenden Wachstumsstörung, die auch nach vermeintlich unkomplizierten
46
Kapitel 4 · Wachstumsphänomene und Korrekturmechanismen des wachsenden Skeletts
4
a
b . Abb. 4.34a,b Metaphyäre Unterarmfraktur. a Fehlheilung bei 13-jährigem Jungen mit noch offenen Fugen. b Spontankorrektur
47 4.6 · Knochenbruchheilung, Heilungsstörungen und Korrekturvorgänge an verschiedenen Skelettabschnitten
a
b
. Abb. 4.35 Distale Unterarmfraktur. a Epiphyseolyse des distalen Unterarms. b Korrekte Reposition
a
b . Abb. 4.36a,b Distale Unterarmfraktur. a Deutlicher Wachstumsrückstand des Radius. b Korrektur durch Verlängerung
4
48
Kapitel 4 · Wachstumsphänomene und Korrekturmechanismen des wachsenden Skeletts
4
a
b
. Abb. 4.37a,b Geburtstraumatische Femurfraktur. a Postpartaler Befund. b Vollständiger Achsenkorrektur nach einem Jahr
a
b
. Abb. 4.38a,b Geburtstraumatische Femurfraktur. a Postpartaler Befund. b Kräftige Kallusüberbrückung
. Abb. 4.39 Unvollständige Spontankorrektur durch periostalen An-/Abbau
49 4.6 · Knochenbruchheilung, Heilungsstörungen und Korrekturvorgänge an verschiedenen Skelettabschnitten
. Abb. 4.40 Epiphyseolysen des distalen Femur mit hohem Risiko einer Wachstumsstörung durch vorzeitigen Fugenverschluss
Brüchen auftreten kann (. Abb. 4.40 und . Abb. 4.41) und in 25% der Fälle zu Achsenabweichungen, in 33% der Fälle zu Längendifferenzen führt (Arkader et al. 2007; Beck et al. 2001; Eid u. Hafez 2002).
4.6.4
Unterschenkel
Die Tibiafugen haben proximal und distal einen ähnlichen Anteil am Längenwachstum. Proximal müssen besonders
die in die Epiphyse einstrahlenden Tuberositasverletzungen wegen der resultierenden Rekurvationsgefahr beachtet werden. Achsen- und Längenveränderungen sind auch die Risiken der Epiphysenverletzungen, oftmals primär nicht abzuschätzen und deshalb im Verlauf zu kontrollieren. Metaphysär stellen vornehmlich die Grünholzfrakturen der Tibia mit medial klaffendem Frakturspalt ein Risikopotenzial dar, da die verzögerte Heilung und dadurch bedingte lange mediale Fugenstimulation zu einem Genu valgum führt (. Abb. 4.42 und . Abb. 4.43; Wattenberger et al. 2002).
4
50
Kapitel 4 · Wachstumsphänomene und Korrekturmechanismen des wachsenden Skeletts
4
a
. Abb. 4.41a,b Distale Femurfraktur. a Salter-Harris-II-Fraktur des distalen Femur. b Wachstumsstörung des distalen Femur im Verlauf
a
b
b
c
d
. Abb. 4.42a–d Proximale metaphysäre Tibiafraktur. a, b Röntgenbefund. c,d Verzögerte mediale Heilung
Am Unterschenkelschaft können Achsenfehler von 10° bis zum 10. Lebensjahr korrigiert werden, die Antekurvation wird vollständiger ausgeglichen als die Rekurvation, der Varus (v. a. bei isolierter Tibiafraktur zu beobachten) besser als der Valgus. Drehfehler müssen jedoch streng vermieden werden (. Abb. 4.44 und . Abb. 4.45). Am distalen Unterschenkel korrigiert die Nähe zur Fuge etwas mehr als am Schaft, doch ist hier vor allem bei
den älteren Kindern zu beachten, dass die daraus resultierende indirekte Fugenstimulation zum vorzeitigen Fugenschluss und einer Beinverkürzung führen kann. Dieses Risiko besteht – als direkte traumatische, dann aber meist asymmetrische Folgeerscheinung – auch bei den distalen Epiphysenlösungen und den Epiphysenfrakturen (. Abb. 4.46 und . Abb. 4.47; Rohmiller et al. 2006; Wattenbarger et al. 2002).
51 4.6 · Knochenbruchheilung, Heilungsstörungen und Korrekturvorgänge an verschiedenen Skelettabschnitten
. Abb. 4.43 Deutlicher posttraumatischer Varus durch asymmetrischen Fugenschaden nach Verkehrsunfall
. Abb. 4.44 Tibiafraktur in geringem Varus
4
52
Kapitel 4 · Wachstumsphänomene und Korrekturmechanismen des wachsenden Skeletts
4
. Abb. 4.46 Knöcherne Fugenbrücke nach distaler Tibiafraktur
. Abb. 4.45 Heilung ohne weitere Dislokation im Rahmen der möglichen Spontankorrekturpotenz . Abb. 4.47 CT mit Darstellung der punktförmigen Verknöcherung
53 4.6 · Knochenbruchheilung, Heilungsstörungen und Korrekturvorgänge an verschiedenen Skelettabschnitten
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4
5
Grundlagen der konservativen Frakturbehandlung H.G. Dietz
5.1
Knochenbruchheilung
5.2
Methoden der konservativen Frakturbehandlung
5.2.1 5.2.2 5.2.3 5.2.4 5.2.5
Gips, Cast Verbände Extension Orthesen Anästhesie
5.3
Indikation zur konservativen Frakturbehandlung
5.4
Zeitliche Richtlinien zur Frakturruhigstellung
5.5
Retentionsmethoden Literatur
– 56 – 56
– 56 – 56 – 57 – 57 – 57
– 65
– 58
– 57
– 57
56
Kapitel 5 · Grundlagen der konservativen Frakturbehandlung
5.1
Knochenbruchheilung
Die biologischen Kräfte erlauben die Heilung eines Knochenbruchs auch ohne weitere medizinische Maßnahmen. Die Heilung eines Knochenbruchs verläuft in mehreren Phasen ab, wobei es für den weiteren Verlauf für den Patienten von besonderer Bedeutung ist, ob sich die Fraktur epiphysär, metaphysär oder diaphysär ereignet hat.
5
> Besonders bei epiphysären Frakturen können nach Knochenbruchheilung später gravierende Fehlheilungen und Wachstumsstörungen auftreten.
Die Knochenbruchheilung läuft in folgenden 3 Phasen ab: Inflammatorische Phase Beginnend mit dem Fraktur-
hämatom aus den verletzten Knochenstrukturen kommt es zur Ausschüttung von Wachstumsfaktoren, Zytokininen und Prostaglandinen. Zudem kommt es zur Einwanderung von Leukozyten, Monozyten und Makrophagen in die Frakturregion. Ein wichtiger Schritt zur Knochenbruchheilung ist die Neovaskularisation, die dadurch initiiert wird. Aufgrund der Durchblutungsstörungen in der Frakturregion kommt es zur lokalen Nekrose des Knochens. Das Frakturhämatom organisiert sich und ein fibrovaskuläres Gewebe ersetzt schlussendlich das Frakturhämatom. Reparative Phase In der Region des Frakturhämatoms können Osteoblasten am Periost proliferieren und einen externen Kallus bilden. Weiter kommt es zur zellulären Organisation und durch pluripotentes Mesenchymgewebe kann wieder Knochen entstehen. Schlussendlich kommt es zu einer stabilen und dann auch schmerzfreien Situation bei Belastung. Remodellierungsphase Die Remodellierungsphase stellt
die trabekuläre Architektur des verletzten und nun mit Kallus fixierten Knochens in ursprünglicher Weise wieder her. Diese Art von Heilung kann sowohl diaphysär wie auch metaphysär durch konservative Maßnahmen hervorragend genutzt werden. Problematisch ist die Heilung der Wachstumsfugenregion, da es hier durch einen Umbau der sensiblen Knorpelregionen zu Wachstumsstimulation oder Wachstumsstopp kommen kann.
5.2
Methoden der konservativen Frakturbehandlung
Unter den konservativen Therapiemaßnahmen für Frakturen im Kindesalter subsumieren wir alle fixierenden Verbände, Stützverbände und Extensionen, wobei diese ohne,
aber auch nach Reposition ggf. in Lokal-, Leitungs-, oder Allgemeinnarkose oder Sedation und Analgesie angelegt werden können.
5.2.1
Gips, Cast
Die konservative Frakturbehandlung greift im Wesentlichen auf die starren Ruhigstellungsmittel wie den konventionellen Weißgips zurück, dazu kommen eine Vielzahl von industriell vorgefertigten modellierbaren Schienen wie rigide und semirigide Stützverbände aus Kunststoffmaterialien, die den Anforderungen einer Ruhigstellung zur konservativen Behandlung gerecht werden, Hard-Cast, Soft-Cast oder Dyna-Cast. Den bekannten Nachteilen des hohen Gewichtes, der Feuchtigkeitsanfälligkeit und der Verschmutzung des Gipses stehen die guten Verarbeitungsmöglichkeiten der Kunststoffe gegenüber. Moderne Kunststoffverbände wie »Hard-Cast«oder »Dyna-Cast«-Verbände betragen das 3- bis 5-fache an Kosten, sind aber hinsichtlich Tragekomfort, auch der eleganten Anmodellage dem konventionellen Gips überlegen. Entscheidend für eine präzise Anlage eines Gipses oder Kunststoffverbandes oder einer Bandage ist die ausreichende Kenntnis und das wiederholte Trainieren von Anwendungen und Anwendungsmodalitäten dieser Stützverbände.
5.2.2
Verbände
Prinzipiell sind die gängigen Richtlinien bei dem Anlegen von Stützverbänden anzuwenden, so dass immer die benachbarten Regionen ruhig gestellt werden. Initial werden keine zirkulären Verbände sondern lediglich Schienen oder gespaltene Gipse angelegt. Neben den starren Verbänden kommen elastische Verbände, im Sinne von Gilchrist-, Desault- oder VelpeauVerbänden an der Schulter und Rucksackverbänden bei Klavikulafraktur, zum Einsatz. Auch feste Bandagen im Sinne von Tape-Verbänden werden bei Bandverletzungen an Ellenbogen, Handgelenk, Kniegelenk oder Sprunggelenk eingesetzt. Unkomplizierte Frakturen der Klavikula, der Skapula wie auch des Humerus lassen sich mittels individuell angepassten, aber auch handelsüblichen Verbänden problemlos behandeln, wobei hier die Techniken nach Gilchrist, Desault und Velpeau zum Tragen kommen. Die Blount-Schlinge, die von einigen Zentren noch für suprakondyläre Humerusfrakturen der Typen I bis II eingesetzt werden, muss allerdings hinsichtlich der Komplikationen extrem streng überwacht werden. Der Rucksack-
H.G. Dietz et al. (Hrsg.), Praxis der Kinder-und Jugendtraumatologie, DOI 10.1007/978-3-642-12935-3_5, © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2011
57 5.4 · Zeitliche Richtlinien zur Frakturruhigstellung
verband gilt als die Therapie der Wahl bei Schlüsselbeinfrakturen. Hier kann konventionell mit entsprechenden Schlauchbinden die Ruhigstellung erreicht werden. An der unteren Extremität, am Fußskelett, im Bereich der Zehen kommen derartige Bandagen als Pflasterzügel zur Anwendung.
5.2.3
wenn sie durch die ausgewählte Retentionstechnik für den Zeitraum der Knochenbruchheilung sicher nicht dislozieren können. Die heute zunehmend seltener ausgeführte Technik der »Gipskeilung« lässt sich allerdings am besten noch mit den Weißgipsen durchführen. Prinzipiell ist zwar eine »Keilung« möglich, sollte aber Ausnahmefällen vorbehalten bleiben.
Extension 5.4
Die einzige noch heute in der Kindertraumatologie gebräuchliche Extension ist die Overhead-Extension bei Femurfrakturen, die allerdings nur noch in Ausnahmefällen und bei Kontraindikationen eines Becken-Bein-Gipses in Frage kommt und zeitlich auf 8–10 Tage beschränkt werden sollte. Andere Extensionen wie die der oberen und unteren Extremität bei größeren Kindern kommen aufgrund der nicht akzeptablen Hospitalisierung nicht mehr in Frage.
5.2.4
Orthesen
Sehr bewährt haben sich bei Ellenbogen-, Kniegelenksund auch Sprungsgelenksverletzungen handelsübliche Orthesen, die auch ggf. mit einer limitierten Bewegung eingesetzt werden können.
5.2.5
Anästhesie
Nicht jede konservative Behandlung kann ohne anästhesiologische Unterstützung durchgeführt werden. Durchaus können auch in Narkose reponierte Frakturen und Luxationen, wenn sie als stabil klassifiziert und ohne weitere operative Fixation ruhiggestellt wurden, konservativ behandelt werden, wenn es sich dann um eine definitive Versorgung handelt. Wichtig ist auch die Schmerzfreiheit der Patienten bei Anlage des fixierenden Verbandes.
5.3
Indikation zur konservativen Frakturbehandlung
> Die Indikationen zur konservativen Knochenbruchbehandlung im Kindesalter sind nach heutigen Erkenntnissen stabile diaphysäre und metaphysäre Frakturen sowie Frakturen der Epiphyse (diese allerdings mit einer Dislokation unter 1–2 mm).
Instabile diaphysäre und metaphysäre Frakturen können nur dann mit konservativen Techniken behandelt werden,
Zeitliche Richtlinien zur Frakturruhigstellung (. Tab. 5.1)
. Tab. 5.1 Richtlinien für die Ruhigstellungszeiten bei konservativer Frakturbehaldung, die anlässlich des Alters der Patienten, des Frakturtyps modifiziert werden muss Frakturart
Ruhigstellungszeit
Klavikulafraktur
2–3 Wochen
Proximale Humerusfraktur
2–3 Wochen
Humerusschaftfraktur
2–4 Wochen
Suprakondyläre Humerusfraktur
2–4 Wochen
Condylus-radialis-Fraktur
3–4 Wochen
Epikondylenfraktur
2–3 Wochen
Olekranonfraktur
2–3 Wochen
Proximale Radiusfraktur
3 Wochen
Unterarmschaftfraktur
3–5 Wochen
Distale Unterarmfraktur
3–4 Wochen
Handwurzelfraktur (Skaphoid)
4–6 Wochen
Mittelhandfraktur
2–3 Wochen
Proximale Femurfraktur
3–5 Wochen
Femurschaftfraktur
3–5 Wochen
Suprakondyläre Femurfraktur
3–5 Wochen
Proximale Tibiafraktur inkl. Eminentiaausrisse
3–4 Wochen
Tibiaschaftfraktur
4–5 Wochen
Fraktur des oberen Sprunggelenkes
3–4 Wochen
Fußwurzelfraktur
4–5 Wochen
Mittelfußfraktur
3 Wochen
Phalangenfraktur
3–4 Wochen
5
58
Kapitel 5 · Grundlagen der konservativen Frakturbehandlung
5 a
b
. Abb. 5.1a,b Rucksackverband. a Frontalansicht. b Rückansicht
5.5
Retentionsmethoden
Rucksackverband Ein mit Polsterwatte gefüllter Schlauchverband wird nach Abmessung der benötigten Länge um beide Schultern gelegt und straff angezogen und verknotet. Mit den überstehenden ungepolsterten Enden können die horizontalen Schlauchpartien verbunden werden, dies gelingt auch mit Heftpflasterstreifen. Zudem existiert eine Klavikelbandage, die auch für Kinder entsprechend bereits vorgefertigt ist (. Abb. 5.1). Desault-/Velpeau-/Gilchrist-Verband Die die Schulter und den Humerus ruhigstellenden Verbände können mit einem Trikotschlauch angepasst werden, existieren aber auch insbesondere als Gilchrist-Verbände in den verschiedensten Größen bereits industriell vorgefertigt (. Abb. 5.2 bis Abb. 5.4). Cuff-and-Collar Mittels eines Schlauchverbandes und Polsterwatte kann der Arm spitzwinkelig gebeugt im Ellenbogen vor dem Thorax fixiert werden. Insbesondere sind die Durchblutung, Motorik und Sensibilität zu beachten (s. Kap. 6, . Abb. 6.5). Oberarmgips/-schiene/Brace Nach Anlegen des Schlauchverbandes und Anbringen der Polsterwatte sowie der Polsterschaumbinde wird eine dorsale Gipslongette angelegt. Die dorsale Longette wird mit Gipsbinden angewickelt und der Gips nach Erreichen der gewünschten Funktionsstellung der Hand sowie 90° im Ellenbogengelenk und Unterarm in Supination zur Aushärtung gebracht. Bei entsprechender Indikation wird der Gips bis auf die letzte Faser gespalten und entsprechend angewickelt (. Abb. 5.5 und Abb. 5.6).
. Abb. 5.2 Desault-Verband
Unterarmgips dorsal/-schiene Die dorsale Unterarm-
gipsschiene wird nach Überzug eines Schlauchverbandes, Anlegen der Polsterwatte und Anwickeln von Polsterschaumbinden als Longette mit 8–12 Einzellagen angelegt und mittels einer feuchten Mullbinde fixiert, der Gips nach Erreichen der Funktionsstellung der Hand anmodelliert und zum Aushärten gebracht. Nach Aushärten muss die definitiv fixierende elastische Binde angewickelt werden.
59 5.5 · Retentionsmethoden
. Abb. 5.3 Velpeau-Verband
. Abb. 5.4 Gilchrist-Verband
5
60
Kapitel 5 · Grundlagen der konservativen Frakturbehandlung
5 a
b
c
d
e
f
g
h
. Abb. 5.5a–o Anlage einer Oberarmgipsschiene. a Anpassen des Trikotschlauches. b–d Exaktes Polstern. e Abmessen der Länge der Gipsschiene. f Vorbereiten der Gipsschiene. g Anlage der Gipsschiene.
h Anwickeln der Gipsschiene mit feuchter Binde. i–k Aushärten des Gipses. l Korrektur des Gipses im Finger- und Oberarmbereich. m–o Abschließendes Anwickeln der fixierrenden Binde
61 5.5 · Retentionsmethoden
i
j
k
l
m
n
o . Abb. 5.5a–o (Fortsetzung)
5
62
Kapitel 5 · Grundlagen der konservativen Frakturbehandlung
5
a
b
. Abb. 5.6a,b Oberarm-Brace
a
b
. Abb. 5.7a,b Overhead-Extension bei Femurfraktur. a Bei Neugeborenem mit Myelomeningozele. b Bei Kleinkind
63 5.5 · Retentionsmethoden
. Abb. 5.8 Becken-Bein-Gips
. Abb. 5.9 Oberschenkelgips
Overhead-Extension Medial und lateral Ankleben der konventionellen Heftpflasterstreifen und Anwickeln mittels Binde unter strenger Beachtung der Schonung der Haut. > Polstern des Fibulaköpfchens (. Abb. 5.7)! Becken-Bein-Gipsverband (. Abb. 5.8) Ein Schlauchverband ist über das Abdomen und beide Beine zu ziehen, die ruhigzustellende Region inklusive Sprunggelenk, die Gegenextremität bis oberhalb des Kniegelenkes. Die Polste-
rung erfolgt mit den Polsterstoffen, wobei insbesondere auch auf ausreichend Platz am Abdomen geachtet werden muss. Nach Polsterung und Anlage der Polsterschaumbinden erfolgt das Anwickeln des Gipses (Castes) und die Anmodellage, ggf. Spalten des Verbandes im Oberschenkel- und Unterschenkelbereich. Wesentlich ist hier bei dem Verband auf Druckstellen zu achten bzw. auf entsprechende Funktionsstellungen von Hüftgelenk und Sprunggelenk, insbesondere ist hier auf ausreichendes Hilfspersonal zu achten.
5
64
Kapitel 5 · Grundlagen der konservativen Frakturbehandlung
5 a
c
b
d
. Abb. 5.10a–d Abnehmbarer Unterschenkel-Brace. a Angelegter, ventral verstärkter Kunststoffverband. b Anzeichnen der Schnittführung zum Ausschneiden. c Ventralansicht. d Dorsalansicht
Oberschenkelgipsverband, gespalten/-schiene Der Tri-
kotschlauch wird über das Bein bis zur Leistenregion hochgezogen, mittels Polstern und Polsterschaumbinde wird die Grundlage gelegt. Anschließend nach Anlegen einer dorsalen Longette erfolgt das Anwickeln des Verbandes und Aushärten. Abschließend Spalten des Verbandes und Fixation mit einer entsprechenden Binde (. Abb. 5.9). Beachte Flexion im Kniegelenk ca. 20°. Tutor Oberschenkel-Tutor im Wesentlichen dem Oberschenkelgips entsprechend unter Freilassen des Sprunggelenkes. Unterschenkelgipsverband/-schiene (. Abb. 5.10) An-
lage des Trikotschlauches über das Kniegelenk, Verwenden von Polster, Vlies sowie Polsterschaumbinde. Anlage der dorsalen Gipslongette und Fixation mit Gipsbinden. Bei Notwendigkeit Spalten und Anwickeln mit entspre-
chenden Binden. Beachte 90°-Stellung im unteren Sprunggelenk. Sarmiento-Gehverband Initial Anbringen des Schlauch-
verbandes von den Zehen bis über das Kniegelenk und Polstern. Das Kniegelenk ca. 45° flektiert, Sprunggelenk in Funktionsstellung. Oberhalb der Patella sind zusätzliche Polster anzubringen. Initial Anwickeln von Gips (Kunststoffbinden) von distal nach proximal und im Wesentlichen müssen die Abstützpunkte an den Femurkondylen am Ligamentum patellae und den Seitenflächen der Tuberositas tibia anmodelliert werden. Letztendlich Modellage derart, dass das Knie bis zwischen 70° und 90° flektiert werden kann bei voller Streckung (. Abb. 5.11). Auf den straffen Sitz ist zu achten. Dachziegelverband Schmale Heftpflasterstreifen werden
schichtweise übereinander geklebt.
65 5.5 · Retentionsmethoden
Literatur Sarmiento A, Latta LL (1981) Closed treatment of fractures. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokio Schleikis A (2000) Gips und synthetischer Stützverband, herkömmliche Funktion und funktionelle Stabilisation. Steinkopf, Darmstadt
. Abb. 5.11 Sarmiento-Cast
5
6
Repositionstechniken Th. Slongo
6.1
Definitionen und Ziele
6.2
Geschlossene, indirekte Reposition ohne operative Stabilisierung – 68
6.2.1 6.2.2 6.2.3 6.2.4 6.2.5 6.2.6
Vorbereitung des Patienten (Eltern) Humerus – 70 Unterarm – 72 Femur – 85 Unterschenkel – 88 Hand/Fuß – 93
6.3
Geschlossene, indirekte Reposition mit operativer Stabilisierung – 93
6.3.1 6.3.2 6.3.3 6.3.4 6.3.5 6.3.6
Vorbereitung des Patienten Humerus – 94 Unterarm – 95 Femur – 96 Unterschenkel – 96 Hand/Fuß – 97
6.4
Zusammenfassung Literatur
– 98
– 68
– 98
– 93
– 68
6
68
Kapitel 6 · Repositionstechniken
6.1
Definitionen und Ziele
Erfolg oder Misserfolg einer Frakturbehandlung im Kindesalter hängt sehr eng mit der Kenntnis und Ausführung einer korrekten Reposition zusammen. Die Reposition stellt nicht nur eine reine Technik dar, sondern muss im wahrsten Sinne des Wortes auch als »Kunst« angesehen werden. Deshalb kann man diese Kunst oft nicht unmittelbar vermitteln, da sie sehr stark an die eigenen Hände und Geschicklichkeit gebunden ist. Dennoch kann man gewisse Tricks und Handhabungen erlernen, die auch in schwierigeren Situationen zu einem guten Resultat führen. Nicht selten bestehen unterschiedliche Auffassungen, was man unter Reposition einer Fraktur zu verstehen hat; während die einen das alleinige Ruhigstellen einer Fraktur bereits als Reposition bezeichnen, verstehen andere wiederum nur die operative Einstellung einer Fraktur als Reposition. Um dieses Verständnisproblem zu klären, sollen in diesem Kapitel die verschiedenen Begriffe klar definiert werden. Es werden in diesem Kapitel nur die Repositionstechniken besprochen, über die Ruhigstellung der reponierten oder auch nicht reponierten Frakturen gibt 7 Kap. 5 Auskunft. > Prinzipiell muss jegliche Manipulation einer Fraktur als Repositionsereignis betrachtet werden, da diese zu einer Veränderung der Fragmentstellung führt oder führen kann.
Dies wird häufig unterschätzt und im ärztlichem Rapport falsch mitgeteilt. Es macht einen wesentlichen Unterschied, ob eine verbliebene oder sekundär aufgetretene Fehlstellung das Resultat einer durchgeführten Reposition ist oder die Fehlstellung als primär akzeptabel betrachtet wurde. Es kann heute nicht akzeptiert werden, dass eine Reposition unter Narkose dermaßen insuffizient erfolgt, dass das Kontrollbild wiederum demjenigen vor der Manipulation entspricht (. Abb. 6.1). Deshalb ist immer zu überlegen, ob eine Manipulation notwendig ist oder ob das verbleibende Wachstum eine Fehlstellung noch zu korrigieren vermag. Um dies zu beurteilen, ist die Kenntnis der Korrekturmechanismen in Abhängigkeit des Alters resp. der verbleibenden Wachstumszeit unbedingt nowendig und Voraussetzung für eine Behandlungsstrategie. Der Autor ist sich bewusst, dass es heute immer schwieriger wird, durchaus spontan sich korrigierende Fehlstellungen zu belassen. Einerseits ist es aufwändig, dies den Eltern zu erklären, andererseits werden auch nur kurzfristig sichtbare Achsabweichungen kosmetisch nicht toleriert. Daneben besteht immer die »Angst« vor dem Kollegen, der die gemachte Behandlung in Frage stellen könnte. Das Internet trägt das Übrige dazu bei.
Frakturstabilisierung ohne jegliche Manipulation über ausschließliche Ruhigstellung. 7 Kap. 5 Geschlossene, indirekte Reposition ohne operative Stabilisierung Unter geschlossener Reposition ohne opera-
tive Stabilisierung versteht man jegliche Manipulation einer Fraktur mit oder ohne Narkose mit anschließender äußerer Fixierung mittels Gipsverbänden (zirkulär/Schiene) oder vorgefertigter Schienen (nicht dazu gehört der Fixateur externe). Nach Ansicht des Autors gehört die Weichteilextension (z. B. Overhead-Extension) nicht zu den geschlossenen Repositionen, da prinzipiell jede verbleibende Fehlstellung akzeptiert wird und keine aktive Manipulation erfolgt. Geschlossene, indirekte Reposition mit operativer Stabilisierung. Unter geschlossener Reposition mit opera-
tiver Stabilisierung versteht man alle Frakturmanipulationen mit anschließender operativer, jedoch geschlossener interner Fixation. Dazu gehören alle K-Draht-Versorgungen, Stabilisierung mittels intramedullärer Nagelung sowie die Versorgung mittels Fixateur externe und die sog. MIPO-Technik (minimal-invasive Plattenosteosynthese), sofern die Frakturregion nicht eröffnet wird. Offene, direkte Reposition. Unter offener Reposition
versteht man die offene Darstellung der Frakturregion mit direkter, unter Sicht erfolgter Einstellung der Frakturfragmente unabhängig der danach folgenden Fixationsart. Merkmal dieser Reposition stellt die Exposition der Fraktur und somit auch die Entleerung des Frakturhämatoms dar. Dadurch ergeben sich deutlich veränderte Heilungsverhältnisse. Zudem wird eine geschlossene Fraktur in eine offene überführt. Im Folgenden werden die häufigsten Repositionsmanöver und Tricks nach Skelettsegmenten dargestellt.
6.2
Geschlossene, indirekte Reposition ohne operative Stabilisierung
6.2.1
Vorbereitung des Patienten (Eltern)
Die Information der Eltern resp. des Patienten über die gewählte Behandlungsmethode hat oberste Priorität; dies besonders bei einem konservativen Vorgehen ohne operative Stabilisierung. Oft fehlt den Eltern das nötige Wissen, dass man nicht alles immer operieren muss. Da sehr oft in Abhängigkeit vom Alter gewisse Fehlstellungen durchaus bewusst belassen werden, bedarf dies besonderer Erklärungen, will man nicht, dass später Regressansprüche erhoben werden.
H.G. Dietz et al. (Hrsg.), Praxis der Kinder-und Jugendtraumatologie, DOI 10.1007/978-3-642-12935-3_6, © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2011
69 6.2 · Geschlossene, indirekte Reposition ohne operative Stabilisierung
6
b
a
c
d . Abb. 6.1a–d Reposition mit sekundärer Redislokation. a Distale Unterarmfraktur (23–M/3.1) mit initial 40° dorsaler Abkippung. b Situation nach geschlossener Reposition und Ruhigstellung in dorsovolarer Oberarm-Gipsschiene; man beachte, dass Kortex nicht auf
Kortex steht. c Deswegen Redislokation auf 40° bei Gipsabnahme nach dorsal. d Spontane Korrektur nach 12 Monaten ohne Nachreposition
70
6
Kapitel 6 · Repositionstechniken
Folgendes Vorgehen sollte eingehalten werden: 4 Entscheidung, weshalb eine aktive Behandlung durchgeführt werden sollte (auf die Formulierung »muss« sollte verzichtet werden, da es immer Alternativen gibt) 4 Hinweis auf alternative Methoden mit Vor- und Nachteilen 4 Aufklärung über: 5 Anästhesieart – wenn möglich, sollte jedoch beim Kind immer eine Allgemeinanästhesie gewählt werden, um den Faktor »Angst« möglichst zu eliminieren 5 Zu erwartende Ruhigstellungszeit 5 Ambulant oder kurzstationär? 5 Ruhigstellungsart 5 Komplikationsmöglichkeiten 5 Pflege zu Hause 5 Schulbesuch 5 Nachkontrollen 5 Wiedererreichen der vollen Aktivität
6.2.2
Humerus
Am Humerus, besonders am proximalen Segment und im Schaftbereich, wird sehr viel an Achsabweichung toleriert resp. korrigiert, besonders vor dem 10.–12. Lebensjahr. Die Entscheidung für eine Reposition hängt von der eigenen Erfahrung und dem eigenen Wissen ab.
Proximaler Humerus Proximale Humerusfrakturen (. Abb. 6.2), die über die Altersnorm hinaus disloziert sind, jedoch einen stabilen Charakter haben (jede Schrägfraktur oder mehrfragmentäre Fraktur ist potenziell instabil, auch wenn sie initial wenig verschoben ist), sollten reponiert werden. Dabei gilt es zu überlegen, ob die Reposition auch suffizient gehalten werden kann, da sonst eine definitive Stabilisie-
rung angestrebt werden muss (Laer 2008; Beaty 1992; Jones 2003). 4 Patient in Rückenlage, röntgendurchlässiger Tisch oder Auflage. Es muss darauf geachtet werden, dass keine Metallteile die gute Durchleuchtung behindern. Wir empfehlen, den Patienten mit der gesunden Seite ganz an den Rand des Tisches zu legen, so dass der frakturierte Oberarm in der Mitte des Tisches zu liegen kommt (. Abb. 6.3). 4 Fixierung des Oberkörpers zur Gegenseite 4 Maximale Abduktion, damit das stark bewegte Kopffragment stabilisiert wird 4 Distales Fragment unter Zug auf Kopffragment reponieren 4 »En bloc« Humerus zum Körper führen und entsprechend 7 Kap. 5 fixieren
> Bei starker Valgusstellung des distalen Fragmentes kann eine Rolle als »Hypomochlion« in die Axilla gebracht werden. Bei der anschließenden Adduktion des Oberarms führt dies zu einer guten Reposition.
Humerusschaft Stabile Humerusschaftfrakturen bedürfen kaum einer Reposition, da sie in der Regel nicht verschoben und auch nur wenig anguliert sind. Prinzipiell sollten nur Humerusschaftfrakturen konservativ behandelt resp. reponiert werden, die auch ohne eine interne Stabilisierung stabil fixiert werden können. Dies sind in der Regel nur quere und kurze Schrägfrakturen (. Abb. 6.4). Handelt es sich um Spiralfrakturen oder mehrfragmentäre Frakturen, dürfen diese nicht verschoben sein. In diesem Falle werden diese primär ohne Manipulation und Nar-
. Abb. 6.2 Frakturtypen des proximalen Humerus gemäß AO-Kinderfrakturklassifikation, die für eine konservative Therapie geeignet sind
71 6.2 · Geschlossene, indirekte Reposition ohne operative Stabilisierung
. Abb. 6.4 Frakturtypen Humerusschaft gemäß AO-Kinderfrakturklassifikation, die für eine konservative Therapie geeignet sind
. Abb. 6.3 Lagerung proximaler Humerus: Patient auf der röntgendurchlässigen Liege, der Oberkörper wird der Fraktur gegenüberliegende Seite an den Tischrand gelagert, dadurch ist der Humerus frei in der Mitte des Operationstisches der Durchleuchtung zugänglich
kose ruhiggestellt und radiologisch nachkontrolliert. Bedürfen diese sog. instabilen Frakturen einer Reposition, dann sollten sie auch intern, d. h. operativ, stabilisiert, werden. 4 Aufklärung gemäß allgemeiner und spezifischer Vorgaben (7 Abschn. 6.2.1) 4 Patient in Rückenlage. Bei größeren Kindern empfiehlt es sich, direkt auf dem Kamerateil des Bildwandlers zu arbeiten. Kleinere Kinder auf die Gegenseite des Tisches legen (. Abb. 6.3). 4 In der Regel gelingt die Reposition unter Zug und leichter Abduktion. 4 Rotierende Bewegungen mit dem distalen Fragment lassen oft die Fragmente ineinander einhaken, dies trägt zur Stabilisierung bei. 4 Fixierung des Oberarms an den Körper (Kleinkinder) oder entsprechender Verband gemäß 7 Kap. 5).
Distaler Humerus Je nach Behandlungskultur werden Frakturen des distalen Humerus, d. h. die suprakondylären Humerusfrakturen, sehr unterschiedlich gehandhabt. Während im französischen Sprachraum komplett instabile Frakturen
Typ IV (Gartland III) vielfach auch konservativ behandelt werden, ist man aus verschiedenen Gründen in der US-amerikanischen Region dazu übergegangen, bereits Typ-II (Gartland-I)-Frakturen operativ zu stabilisieren (Gartland 1959, Cheng 1995). Die Repositionstechnik ist jedoch unabhängig von der Fixationsart bzw. vom Behandlungsmodus – konservativ oder operativ – gleich. Auch für eine Osteosynthese muss die Reposition perfekt sein. 4 Typ-I-Frakturen: keine Reposition nötig, nur Fixation 4 Typ-II-Frakturen: in der Regel indirekte Reposition ohne Narkose mittels Blount-Technik möglich 4 Aufklärung gemäß allgemeiner und spezifischer Vorgaben (7 Abschn. 6.2.1) 4 Unter entsprechender Schmerzmedikation wird der Ellbogen in Flexion gebracht, dabei ist zu beachten, wie groß die Schwellung ist. 4 Bei starker Schwellung sollte nicht über 90° gebeugt werden. Anlegen einer dorsalen Gipsschiene oder eines sog. »cuff and collar« (. Abb. 6.5) 4 Kontrolle am folgenden Tag 4 Ist die Beugung nur bis 90° möglich gewesen, kann am 3.–4. Tag in den Spitzwinkel gegangen werden. 4 Der Zug des dorsalen Periostes trägt zur Stabilisierung bei und sollte auf jeden Fall für die Reposition mitbenutzt werden (. Abb. 6.6).
6
72
Kapitel 6 · Repositionstechniken
(Schmittenbecher 1991, 2005). Oft wird die Stabilität der Fraktur initial und auch nach einer Reposition falsch eingeschätzt, was zu einer sekundären Fehlstellung mit »Malunion« und entsprechender Dysfunktion führt. Somit sind vor Behandlungsbeginn folgende Überlegungen unerlässlich: 4 Welches Segment ist betroffen; proximales, diaphysäres oder distales? 4 Sind beide Knochen gebrochen; ja/nein? 4 Sind die Brüche auf gleicher Höhe? 4 Wie ist die Morphologie der Brüche; quer, schräg oder spiroid? 4 Wie schwer ist die Angulation oder Dislokation? In welcher Ebene? 4 Wie steht es um die altersspezifische Korrekturpotenz?
6
> Komplette Dislokation ist immer gleich zu setzen mit kompletter Instabilität und sollte unabhängig der Reposition operativ und definitiv stabilisiert werden.
. Abb. 6.5 Spitzwinkelstellung im typischen Cuff-and-collar-Verband; es ist darauf zu achten, dass bei großer Schwellung initial nicht über 90° gebeugt wird. Nachziehen der Flexion nach 3–4 Tagen
Frakturen auf verschiedener Höhe und Schrägfrakturen – auch inkomplette – sind potenziell instabil. Es muss gut abgewogen werden, ob eine Reposition alleine mit Gipsstabilisierung ausreichend ist oder nicht. Dies erfordert eine sorgfältige Kontrolle nach der Reposition. Beim geringsten Zweifel an der Stabilität sollte operativ fixiert werden!
Proximaler Unterarm Undislozierte Frakturen der proximalen Ulna incl. der
. Abb. 6.6 Das dorsale Periost dient einerseits als Repositionshilfe, andererseits trägt es zur Stabilisierung bei. Die Abbildung zeigt auch die verschiedenen Zugkräfte und »Landmarken« (Bild: J. M. Clavert)
6.2.3
Unterarm
Unterarmfrakturen werden heute in zunehmendem Maße, unabhängig vom Alter, operativ versorgt, sicherlich unter dem Einfluss der sog. ESIN-Technik (elastisch-stabile intramedulläre Nagelung) sowie der doch schlechten funktionellen Ergebnisse der rein konservativen Therapie
stabilen Olekranonfrakturen benötigen lediglich eine Ruhigstellung ohne jegliche Manipulation (. Abb. 6.7); die Ruhigstellung dient mehr der Schmerztherapie als der Frakturstabilisierung. Dies gilt prinzipiell auch für stabile undislozierte Radiushalsfrakturen. Instabile, dislozierte Frakturen der proximalen Ulna müssen in der Regel offen und direkt reponiert und auch entsprechend fixiert werden. Deshalb ergibt sich praktisch keine Indikation zu geschlossenen, indirekten Manipulationen. Instabile und dislozierte Frakturen des Radiushalses, also SH-I- und SH-II-Frakturen sowie metaphysäre Frakturen, können durchaus geschlossen manipuliert bzw. reponiert und im Oberarmgips ruhiggestellt werden (. Abb. 6.8). Dabei ist zu beachten, dass der Gipsverband nicht die Fraktur in reponierter Stellung hält, sondern den Ellbogen indirekt ruhig stellt. Dennoch ist zu berücksichtigen, dass dank der eleganten ESIN-Technik heute all diese Frakturen mittels einer intramedullären Schiene reponiert und fixiert werden sollten. Eine Reposition in Narkose ohne eine solche Stabilisierung sollte nicht mehr erfolgen.
73 6.2 · Geschlossene, indirekte Reposition ohne operative Stabilisierung
. Abb. 6.7 Stabile Frakturen am proximalen Unterarm, die keinerlei Reposition, sondern nur Ruhigstellung benötigen
. Abb. 6.8 Instabile Frakturen am proximalen Unterarm; diese müssen reponiert und fixiert werden
Die indirekte Reposition des dislozierten Radiuskopfes erfolgt gemäß der schon sehr alten Technik nach Patterson (1934) oder nach Kaufmann (1989), der sog. »Israeli-Technik«. Die Israeli-Technik eignet sich auch bei der später beschriebenen ESIN-Technik nach Métaizeau. Technik nach Patterson 4 Primär wird durch Längszug am Unterarm in Supination und walkenden Bewegungen eine gewisse Lockerung und Raum im Ellbogengelenk geschaffen. Dieses Manöver muss zu zweit durchgeführt werden. 4 Dann erfolgt ein Varusstress, gefolgt von einem Druck auf den Radiuskopf. Dieser sollte dann in korrekter Stellung vor das Kapitulum zu stehen kommen. 4 Die Pro- und Supination muss danach frei sein (. Abb. 6.9).
Technik nach Kaufmann (Israeli-Technik) 4 Bei der Kaufmann-Technik ist der Ellbogen primär in Flexion, die Pro-Supination wird so eingestellt, dass die größte Dislokation sichtbar bzw. tastbar wird. 4 Dann erfolgt ein Druck mit dem Daumen auf den Radiuskopf unter gleichzeitiger Pronation. Dies führt zur Reposition des Kopfes (. Abb. 6.10).
Gelingt es nicht, mit den beiden oben beschriebenen Techniken die Reposition zu erzielen und »konservativ« zu bleiben, kann die sog. »Joystick«-Technik angewendet werden;
. Abb. 6.9 Technik nach Patterson: Reposition der Radiuskopffraktur durch Zug und Varusstress
d. h. man manipuliert von außen direkt mittels eines perkutan eingebrachten K-Drahtes das dislozierte Kopffragment (. Abb. 6.11; Yarar 2007). Der K-Draht darf auf keinen Fall in den Frakturspalt eingebracht werden, vielmehr sollte er, entsprechend dem Daumendruck, das Fragment nur stoßen. Ansonsten besteht die Gefahr, dass das verbliebene, noch intakte Periost bzw. die verbliebene Zirkulation zerrissen und somit zerstört werden.
6
74
6
Kapitel 6 · Repositionstechniken
a
b . Abb. 6.10 Technik nach Kaufmann (Israeli-Technik): Reposition der Radiuskopffraktur. a Schematisch. b Radiologisch
a
b
c
. Abb. 6.11a–c Joystick-Technik. a,b Durch den perkutan eingebrachten K-Draht wird das dislozierte Kopffragment Richtung Frakturspalt gedrückt. c Man beachte, dass die Platzierung des K-Drahtes
im Frakturspalt eine Zerstörung des Periostes und der Zirkulation bewirken kann
Wie bereits erwähnt muss das Repositionsergebnis durch Ruhigstellung des Ellbogens im Oberarmgips sichergestellt werden. Die Eltern müssen über eine mögliche Redislokation aufgeklärt sein!
Wesentlich ist, dass man sich über die Art der Fehlstellung Rechenschaft gibt. Es muss klar zwischen einer reinen Angulationsfehlstellung und einer Dislokation im Sinne einer Verkürzung unterschieden werden. Während eine reine Angulation prinzipiell eine stabile Situation darstellt, handelt es sich bei einer Verkürzung immer um eine völlig dislozierte, somit auch instabile Fraktur.
Unterarmschaft Heute sollten alle instabilen, dislozierten Frakturen des Unterarmschaftes einer definitiven und sicheren Stabilisierung zugeführt werden. Dies bedeutet auch für die Repositionstechnik, dass diese der jeweils gewählten operativen Versorgung angepasst sein sollte bzw. durch diese bestimmt wird. Diese Techniken werden in 7 Abschn. 6.3 besprochen. Für eine rein konservative Therapie eignen sich nur stabile Frakturen und solche, die auch stabil zu reponieren und stabil zu retinieren sind (. Abb. 6.12). Die Bedingungen dazu wurden ebenfalls eingangs aufgeführt. Die in . Tab. 6.1 aufgeführten Richtwerte bezüglich spontaner Korrekturpotenz müssen dabei berücksichtigt werden.
. Tab. 6.1 Akzeptable Achsabweichung für Radiusschaftfrakturen nach Price und Mitarbeiter; diese sind altersbezogen Alter
Angulation
Malrotation
Verschiebung
Verlust der radialen Biegung
<9 Jahre
15°
45°
Komplett
Ja
>9 Jahre
10°
30°
Komplett
Partiell
75 6.2 · Geschlossene, indirekte Reposition ohne operative Stabilisierung
. Abb. 6.12 Frakturtypen des Unterarmschaftes zur konservativen Therapie mit definitiven Stabilitätspotenzial
Prinzipiell können wir 3 Vorgehensweisen beschreiben: 4 Ausschließliche Stabilisierung einer nicht dislozierten, jedoch geringgradig angulierten Fraktur entsprechend der alters- und segmentabhängigen Toleranzgrenzen 4 Stabilisierung einer nicht dislozierten, jedoch über der altersspezifischen Toleranzgrenze angulierten Fraktur. Diese kann durchaus nach einigen Tagen unter leichter Analgesie mittels Gipskeilung in eine akzeptable Stellung gebracht werden. 4 Primäre Reposition einer stabilen Fraktur unter Plexusoder Allgemeinanästhesie sowie Stabilisierung mittels dorsovolarer Oberarmgipsschiene oder zirkulärem, primär gespaltenem Gips. ! Sekundär dislozierte Frakturen sollten nicht noch einmal konservativ reponiert und stabilisiert werden, sondern müssen definitiv stabil versorgt, d. h. operiert werden.
jStabilisierung mit sekundärer Reposition: Gipskeilung (. Abb. 6.13)
Entschließt man sich, eine stabile Fraktur mit einer über der Altersgrenze liegenden Angulation primär nur zu fixieren mit der Absicht, in einigen Tagen eine Gipskeilung vorzunehmen, gilt es Folgendes zu berücksichtigen: 4 Klare Information der Eltern über das eingeschlagene Therapiekonzept. 4 Information, dass man möglicherweise doch nach einigen Tagen operieren muss, falls die Gipskeilung nicht zum erhofften Ergebnis führt. 4 Günstig ist die Möglichkeit, eine Lachgas-Sedation durchzuführen. 4 Der initiale Gips muss so angelegt werden, dass er sich zum Keilen eignet; d. h. zirkulär.
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76
Kapitel 6 · Repositionstechniken
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a
b
c
d
. Abb. 6.13a–e Gipskeilung am Unterarm. a Frische Fraktur. b Bild nach geschlossener Reposition. c Abkippung bei der Kontrolle am 5. Tag. d Durchführung der Gipskeilung; man beachte, dass für diese
e distale Fraktur der Schnitt relativ proximal gemacht werden muss. Gute Stellung nach Korrektur. e Als Platzhalter dienen verschieden dicke Holzwürfel
77 6.2 · Geschlossene, indirekte Reposition ohne operative Stabilisierung
4 Anlegen eines Oberarmgipses mit oder ohne Schmerzmedikation 4 Gipskontrolle am folgenden Tag durch Klinik oder Hausarzt 4 Kind nüchtern für den 4.–5. Tag einbestellen 4 Vorbereitung des Gipsraumes, der mit einem Durchleuchtungsgerät ausgestattet sein muss 4 Kind mit einer Sedierung oder Schmerzmedikation ausreichend lange im Voraus vorbereiten 4 Keilungsschritte: – Festlegung der Schnitthöhe; normalerweise ca. 3–5 cm proximal der Fehlstellung; man beachte, dass das distale Fragment bewegt wird und der Gips leicht gepolstert ist. Damit ergibt sich ein leichter Spielraum und die Bewegung des Gipses wird nicht direkt auf den Arm übertragen. Bei einer Keilung auf Frakturhöhe oder distal davon besitzt das distale Fragment nicht genügend Bewegungsraum. – Einzeichnen der Schnittführung → 90° zur größten Angulationsrichtung auf geplanter Höhe – Setzen der Keilung unter Bildwandlerkontrolle – Korrektur der Stellung – Einsetzen eines »Platzhalters« – Zirkularisation des Gipses, heute am besten mittels eines Kunststoffgipses – Kontrolle der Achse mit einer Langplatten Aufnahme des Unterarms, allfällige Nachkorrektur – Überwachung des Kindes für kurze Zeit bezüglich Schmerzen (Cave: mögliche Druckstellen!)
> Sollte die erwünschte und benötigte Korrektur nicht erreicht werden, muss über eine korrekte Reposition in Narkose nachgedacht werden. Es ist fatal, nach dem Versagen der eigenen Therapie auf die spontane Korrektur zu hoffen.
jReposition einer stabilen Fraktur unter Plexus- oder Allgemeinanästhesie
Für die Reposition einer prinzipiell stabilen Fraktur (Querfraktur), auch wenn diese initial verschoben und verkürzt ist, aber von der Frakturmorphologie her nach der Reposition stabil zu halten ist, gibt es verschiedene Hilfen und Tricks (. Abb. 6.14). Man unterscheidet zwei Vorgehensweisen: Reposition über ein Hypomochlion. Ist nur die Korrek-
tur einer Angulationsfehlstellung nötig, eignet sich am besten die Technik unter Verwendung eines sog. Hypomochlion; d. h. die Fraktur wird mit der größten Fehlstellung auf eine erhöhte Unterlage, am besten eine Stoffrolle, gelegt und darüber die Fraktur begradigt (. Abb. 6.15). Der Vorteil dieser Repositionstechnik ist die gute Dosierbarkeit der Kraft, die man zur Reposition anwenden will. In der sog. Freihandtechnik ist dies deutlich schwieriger. Oft wird dabei die Fraktur zu stark manipuliert und man endet ungewollt in einer instabilen Situation. Besonders geeignet ist diese Methode zur Reposition von Grünholz-Frakturen. Ist die Fraktur achsengerecht reponiert, muss sie im Oberarmgips ruhiggestellt werden. Vor allem, wenn man alleine arbeitet, eignet sich für das Anlegen des Gipses das Aufhängen des Arms in den sog. »Finger-Traps« oder Mädchenfänger oder »chinese fingers« (. Abb. 6.16). Reposition über Längszug mit »Mädchenfänger«. Ver-
kürzte Querfrakturen bedürfen einer langsamen und behutsamen Reposition. Dies geschieht am besten und sichersten mittels kontinuierlichem Längszug. Man sollte das bekannte Manöver der »Hyperangulation oder Hyperflexion«, wie dieses anschließend am metaphysären Segment gezeigt wird, vermeiden. Bei diesem Manöver besteht bei Schaftfrakturen die Gefahr einer sekundären Schädigung durch Einklemmen der Nerven oder Gefäße im Frakturspalt.
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Kapitel 6 · Repositionstechniken
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a . Abb. 6.14a,b Prinzipiell stabile Fraktur, die jedoch reponiert werden muss. a Bei der Reposition kann eine instabile Situation entstehen. b Prinzipiell vollständig instabile Situation. Aufgrund der
b Frakturmorphologie wäre die Fraktur wohl stabil zu reponieren und retinieren, dennoch ist ein chirurgisches Vorgehen hier ratsamer
a
b
c
d
. Abb. 6.15a–d Indirekte Reposition einer Unterarm-GrünholzFraktur über ein Hypomochlion. a Unfallbild. b Schematische Darstellung der Unterlage. c Klinische Situation während der Reposi-
tion, sog. 3-Punkte-Technik. d Abschluss der Reposition mit guter, achsengerechter Stellung
79 6.2 · Geschlossene, indirekte Reposition ohne operative Stabilisierung
a
b
c
d
. Abb. 6.16a–d Vorbereitung des Patienten bei Unterarmfraktur. a Lagerung des Kindes am Rand der Liege, Fixierung der Hand mittels Mädchenfänger, Durchleuchtungsgerät horizontal. b Problem-
Allgemeine Vorbereitung 4 Aufklärung der Eltern gemäß kliniküblichem Vorgehen über Anästhesie und Therapieart 4 Hinweis darauf, dass bei fehlgeschlagener oder unmöglicher Reposition oder bei insuffizienter Stabilisierung in derselben Narkose auf ein operatives Verfahren gewechselt werden muss 4 Hinweis, dass auch bei initial perfekter Reposition eine sekundäre Fehlstellung im Gips auftreten kann mit der Notwendigkeit einer erneuten Intervention
Patientenvorbereitung 4 Korrekte Lagerung des Patienten. Ihr sollte besondere Beachtung geschenkt werden, da sie die Manipulation wie auch das Gipsen erleichtert. Erfahrungsgemäß haben die meisten »Misserfolge« ihren Anfang schon in diesem Stadium. 6
loses Arbeiten in dieser Stellung. c Anmodellieren und Halten der Reposition. d Bereitgestelltes Fixationsmaterial
4 Bevorzugt in Rückenlage, am Rand der Unterlage (Operationstisch oder Patientenliege) (. Abb. 6.16a; rote Pfeile). 4 Finger-Traps an Daumen, Zeigefinger (Mittelfinger fakultativ) und kleinem Finger (. Abb. 6.16a). 4 Gewicht an Oberarm so befestigen, dass es auch nach Anlegen des Gipses entfernt werden kann. Trick: Gewicht nicht an eine übliche Manschette hängen, sondern an eine breite Bindenschlaufe, die durchgeschnitten und unter dem Gips hervorgezogen werden kann. 4 Patient sollte vollständig entspannt sein. 4 Mindestens 10–15 Minuten hängen lassen.
Materialvorbereitung 4 Während der Zeit, in der der Patient am Gewicht bzw. am Mädchenfänger hängt, sollte das benötigte Fixierungsmaterial bereitgestellt werden (. Abb. 6.16d).
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Kapitel 6 · Repositionstechniken
4 Das Durchleuchungsgerät so positionieren, dass der Unterarm in beiden Ebenen, a.p. und seitlich, problemlos und qualitativ gut eingesehen werden kann (. Abb. 6.16a)
Reposition
6
4 Nach genügend langer Längsextension haben sich die Fragmente in der Länge und Achse soweit eingestellt, dass durch entsprechende direkte Manipulation von außen im »hängenden« Zustand die Seitverschiebung ebenfalls reponiert werden kann. Dabei ist darauf zu achten, dass das Durchleuchtungsgerät bzw. die Bildausrichtung so eingestellt ist, dass man sich im Klaren darüber ist, was dorsal und ventral, was radial und ulnar ist.
4 Hat sich die Fraktur reponieren lassen, sollte vorübergehend die Extension abgehängt werden, um die effektive Stabilität zu prüfen. Ansonsten muss ein anderes therapeutisches Vorgehen gewählt werden. 4 Für die Fixierung und das Anlegen des Gipsverbandes ist es ratsam, dies wiederum in hängender Position zu tun (. Abb. 6.16) 4 Zur zusätzlichen und sicheren Stabilisierung sollte mit den Daumenballen der Gipsverband zusammengedrückt werden, damit sich die Membranea interossea aufspannt. Auf den korrekten Gipsindex muss geachtet werden. Nur ein satt angelegter Gips kann eine sekundäre Dislokation verhindern (. Abb. 6.17).
b
a
> Eine konservativ behandelte, instabile Fraktur muss vor der definitiven Gipsfixation auf ihre Stabilität hin überprüft werden. Jeglicher Repositionsverlust sollte vermieden werden bzw. zu einem Verfahrenswechsel, also zu einer operativen Stabilisierung, Anlass geben.
Distaler Unterarm Bekanntermaßen handelt es sich bei diesen Frakturen um die häufigsten Verletzungen des Kindes, glücklicherweise
. Abb. 6.17 Der korrekt anmodellierte Gipsverband verhindert eine Redislokation. a Aufspannen der Membranea interossea. b Quotient des korrekten Gipsindexes
aber auch um eine der »gutmütigsten« bezüglich Heilung, verbleibender Fehlstellung oder Funktionseinbuße. Die allermeisten Probleme – Fehlstellungen, Verkürzungen, limitierte Umwendbewegungen u. a. – treten nach Fehlmanipulationen, zu oft wiederholten Nachrepositionen oder unnötigen K-Drahtversorgungen auf. Literaturangaben wie auch die eigene Erfahrung zeigen, dass die spontane Korrektur oft viel bessere Resultate ergibt als nachträgliche »heroische« Nachrepositionen. Das Hauptproblem stellt oft die fehlende Geduld des Arztes, noch öfters allerdings der Eltern dar.
81 6.2 · Geschlossene, indirekte Reposition ohne operative Stabilisierung
. Tab. 6.2 Remodellierungskapazität distaler Unterarm nach Wilkins Lokalisation
Kapazität
Alter
Metaphyse
Achsenkorrektur: 30–35° sagittal/10° koronal
Bis 5 Jahre vor Wachstumsabschluss
Seit-zu-Seit-Korrektur: Schaftbreite, wenn keine andere zusätzliche Fehlstellung vorhanden ist Epiphyse
Aitken und Wilkins postulieren, dass sich eine um 50% dislozierte Epiphysenläsion (SH I und II) voll remodellieren kann
Trotz der »Gutmütigkeit« dieses Segmentes gilt es dennoch, die Frakturdislokation, verbliebene oder bestehende Deformitäten und die Remodellingskapazität (. Tab. 6.2) klar zu erkennen. Die Repositionstechnik von metaphysären wie auch epiphysären Frakturen sind in vielen Schritten ähnlich, dennoch ergeben sich im Detail einige gravierende Unterschiede, die zu beachten sind. Deshalb sollen die beiden Frakturen getrennt besprochen werden. Zudem werden wir nur die Reposition des Radius besprechen, da im Kindesalter die Mitverletzung der distalen Ulna eher zweitrangig ist und selten speziell angegangen wird. Um die Frakturen auch korrekt einschätzen zu können, ist es vorteilhaft, sich nach der AO-Kinderfraktur-Klassifikation zu richten, speziell was die Lokalisation der Metaphyse betrifft. Diese ist definiert als das Quadrat über beiden distalen Fugen, Radius und Ulna. Frakturen, die an der proximalen Kante des Quadrates liegen, sind sehr schwierig in korrekter Stellung ausschließlich im Gipsverband zu halten. Die Stabilität der Fraktur ist auf Grund des kleineren Querschnittes bedeutend geringer (. Abb. 6.18).
Bis 2 Jahre vor Wachstumsabschluss
Stauchungsfrakturen. Sie sind normalerweise stabil und
wenig anguliert. Sie benötigen keine Reposition, sondern nur eine Stabilisierung im Unterarmgips. Der Grund liegt auch darin, dass diese Frakturen in der Alterskategorie mit größter Remodellierungspotenz entstehen. Eine radiologische Nachkontrolle ist in der Regel nicht nötig. »Metaphysäre Grünholz-Frakturen«. Prinzipiell ist die-
ser Begriff falsch, da der Begriff »Grünholz-Fraktur« für Schaftfrakturen reserviert ist. Dennoch ist es oft sinnvoll, von metaphysären Grünholz-Frakturen zu sprechen, da ihr Verhalten oft demjenigen der Schaftfrakturen entspricht (. Abb. 6.19a). 4 Akzeptable Angulation abhängig vom Alter des Kindes 4 Regeln des Remodellings; dorsale Fehlstellung 0,9° pro Monat, radiale Fehlstellung 0,8° pro Monat 4 Benötigt mindestens 5 Jahre verbleibendes Wachstum, i. d. R. bei Mädchen ab 8 Jahren, Knaben ab 10 Jahren; so kann man z. B. bei einem 8-jährigen Mädchen 30° Korrektur erwarten.
jFrakturen des distalen Unterarms: Metaphyse
Anatomische Faktoren: Fehlstellungen mit dorsalem Apex sind deutlicher sichtbar als bei volarem Apex; dies hat bei der Beratung der Eltern große Wichtigkeit, da sie diese Fehlstellung deutlicher wahrnehmen und deshalb dazu neigen, einen Fehler in der Behandlung zu sehen. Deshalb sollten dorsale Fehlstellungen »aggressiver« reponiert werden als volare. ! Bei metaphysären »Grünholz-Frakturen« mit volarem Apex ist auch bei geringer Dislokation die Gefahr größer, dass es zu einer sekundären Zunahme der Angulation kommt (. Abb. 6.19).
Des Weiteren ist für die Reposition und Stabilisierung auch die »Lokalisation« der Dislokation von großer Wichtigkeit. Prinzipiell unterscheiden wir: 4 Dislokation nach dorsal: »dorsale Bajonett-Stellung« mit intaktem dorsalem Periost 4 Volare Dislokation: »umgekehrte Bajonett-Stellung« mit intaktem volarem Periost volarseitig (. Abb. 6.19b)
. Abb. 6.18 Die Metaphyse am distalen Unterarm ist definiert als Quadrat über beiden Epiphysenfugen, Ulna und Radius
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82
Kapitel 6 · Repositionstechniken
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6
b . Abb. 6.19a,b Volare Angulation und Bajonett-Stellung. a Beispiel einer sekundären Angulationszunahme bei volarem Apex. b Dorsale
Ist auf Grund der Fehlstellung eine Reposition angezeigt, so eignet sich wiederum die Methode über ein Hypomochlion (. Abb. 6.15b). Diese Reposition muss gefühlvoll geschehen, ansonsten besteht die Gefahr, die Fraktur komplett durchzubrechen und so eine stabile in eine instabile Situation umzuwandeln. Wie im Schaftbereich wird das komplette Durchbrechen in der Literatur auch in der Metaphyse empfohlen. Wir raten allerdings eher davon ab. Wichtig ist die 3-Punkte-Abstützung im Gipsverband; dazu eignet sich ein gewisser Druck auf die dorsale Handfläche (. Abb. 6.20a). Eine Hyperflexion sollte vermieden werden, da dadurch einerseits die Gefahr einer Gefäßstauung oder Nervenschädigung besteht, andererseits die so genannte Ligamentotaxis in gestreckter Handgelenksstellung besser wirkt. Grund dafür sind die strafferen und kräftigeren volaren Bänder (. Abb. 6.20b). Komplette metaphysäre Unterarmfrakturen. Je nachdem, ob eine komplette metaphysäre Unterarmfraktur vollständig disloziert oder noch hängend ist, sollte eine Reposition in Narkose oder Plexusanästhesie vorgenommen werden. Da bei den »hängenden« Frakturen die Länge noch gegeben bzw. gehalten ist, benötigen diese nur eine Korrektur der Achse. Hingegen müssen vollständig dislozierte Frakturen primär auf korrekte Länge gebracht werden, bevor die Achse ebenfalls korrigiert werden kann. Dazu sind zwei Schritte notwendig (. Abb. 6.21). 4 Schritt 1: Wiederherstellung der Länge durch dorsale Hyperflexion des distalen Fragmentes (Wiederholen des Frakturvorganges). Mit dem Daumen wird dann das Fragment nach distal geschoben; es ist darauf zu achten, dass die entsprechenden Kortexkanten aufeinander zu stehen kommen (. Abb. 6.21a). Wird dies nicht erreicht, ist eine stabile Fixation später nicht möglich und eine Reangulation weitgehend vorpro-
Dislokation und volare, inverse Dislokation. Man beachte, dass das gegenüberliegende Periost gerissen ist
grammiert. Ein Grund für das Misslingen der Reposition kann auch eine ungenügende Relaxation des Kindes sein. Es ist außerdem wichtig, dass der proximale Unterarm gut und stabil gehalten wird. > Diese Fraktur eignet sich nicht, um an den »Mädchenfängern« aushängen zu lassen, da dadurch die Länge zur korrekten Reposition nicht erreicht werden kann. 4 Schritt 2: Wenn die Länge wieder erreicht ist, wird das
distale Fragment nach volar flektiert und in korrekte Position gebracht (. Abb. 6.21b). Das gute Alignment kann bereits mit dem Daumen auf der dorsalen Radiusfläche palpiert werden. Es sei nochmals darauf hingewiesen, dass nach einer gelungenen Reposition die dorsalen wie volaren, aber auch die ulnaren und radialen Kortexkanten präzise aufeinander stehen müssen. Nur dies garantiert eine stabile Fixation. Andernfalls sintern die Fragmente ineinander und können auch bei gut angelegtem Gipsverband abkippen. 4 Tipp zu Schritt 2: Falls es nicht gelingen sollte, die Kortexkanten aufeinander zu stellen, weil die korrekte Länge nicht erreicht wird (Gründe können sein: veraltete Fraktur, verkürztes Periost, kleines Interponat etc.), kann auch hier die »Joystick«-Technik angewendet werden (. Abb. 6.21c). Dabei ist darauf zu achten, dass der K-Draht nicht bis nach volar durchgeschoben wird, da sonst die Gefahr der Gefäß- oder Nervenverletzung besteht. Mit dieser Technik gelingt es praktisch immer, die Fragmente in exakt korrekte Stellung zu bringen. jFrakturen des distalen Unterarms: Epiphyse
Wie in . Abb. 6.23 dargestellt, sind Nerven und Gefäße bei metaphysären und epiphysären Frakturen unterschied-
83 6.2 · Geschlossene, indirekte Reposition ohne operative Stabilisierung
a
b . Abb. 6.20a,b 3-Punkte-Abstützung. a Darstellung der 3-PunkteAbstützung schematisch, klinisch und radiologisch; die sog. »Schwanenhalsform« ist dabei gut zu erkennen. b Schematische Darstellung der Ligamentotaxis, die volaren Bänder erzeugen eine bessere Repositionskraft als die dorsalen
lich betroffen. Während bei der metaphysären Fraktur die Gefäße weiterhin gerade verlaufen, sind diese bei den epiphysären Frakturen oft in die Fraktur eingeschlagen. Dies hat entscheidenden Einfluss auf die Repositionstechnik. Bei den SH-I- und -II-Frakturen sollten Manöver wie in . Abb. 6.21a gezeigt unbedingt vermieden werden. Durch den Druck entstehen Scherkräfte auf die Fuge, die zu einer Schädigung der Zellen und somit zu einem Fehlwachstum oder vorzeitigem Fugenschluss führen können. Wir bevorzugen deshalb die von Wilkins beschriebene und empfohlene Methode der sanften Reposition. Vorteil dieser Methode ist auch, dass man diese in guter Prämedikation durchführen kann. 4 Schritt 1: Aufhängen des Unterarms an den »Mädchenfänger« und die Fraktur aushängen lassen (. Abb. 6.22a). Es ist wichtig, sich hier genügend Zeit zu geben. In der Regel kommt es bereits zu einem spontanen Reponieren der Epiphyse, ohne dass von außen Kraft aufgewendet werden muss (. Abb. 6.22b) 4 Schritt 2: Zur Vervollständigung der Reposition wird mit dem Daumen ein Druck dorsal, direkt auf die Epiphyse appliziert; dabei gleitet das Fragment in die anatomische Stellung zurück. Oft ist von der Fraktur nichts mehr zu sehen, außer es handelt sich um eine SH-IIFraktur.
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Kapitel 6 · Repositionstechniken
a
6 c
. Abb. 6.21a–c Reposition der metaphysären Radiusfraktur. a Mit Hilfe des Daumens wird das distale Fragment in dorsaler Hyperflexion nach distal geschoben. b Ist die Länge erreicht und steht Kortex auf Kortex, wird das Fragment volar flektiert. c Mit der Joystick-Technik wird das nicht reponierbare, distale Fragment nach vorne »gehebelt«
b
a
b
. Abb. 6.22a–c Reposition der epiphysären Radiusfraktur. a Aushängen der Fraktur an den Finger-Traps. b Reposition der Epiphyse
c durch direkten Druck mit dem Daumen. c Applikation des Gipses in hängender Position
85 6.2 · Geschlossene, indirekte Reposition ohne operative Stabilisierung
. Abb. 6.24 Jede Remanipulation kann der distalen Radius-Epiphyse schaden
in Narkose direkt oder indirekt reponiert und dann mittels einer der bekannten, kindgerechten Methoden fixiert. Im Folgenden sollen deshalb einige Tricks zur Reposition der wenigen, konservativ zu behandelnden Femurfrakturen dargestellt werden.
Proximaler Femur . Abb. 6.23 Gefäß-Nerven-Verlauf distaler Radius. Die Abbildung macht deutlich, wie verschieden die Nerven und Gefäße bei metaphysärer bzw. epiphysärer Fraktur des distalen Radius verlaufen
! Die bei der Metaphyse beschriebene »Joystick«Technik sollte hier vermieden werden, da durch den eingebrachten K-Draht und die Manipulation Anteile der Fuge verletzt werden können.
Für die metaphysären wie auch epiphysären Frakturen gilt obligat die in . Abb. 6.20 gezeigte 3-Punkte-Abstützung.
6.2.4
Femur
In Europa hat sich bei Behandlung von Femurfrakturen ein gewisser Algorithmus eingespielt: 4 Neugeborenenalter: primär ohne Reposition Versorgung mittels Beckenbeingips oder Pavlik-Bandage 4 2.–4. Lebensjahr: meist sog. »Baumel-Beinchen«-Extension oder primärer Beckenbeingips. Meist keine aktive Reposition, besonders nicht bei der Extension. 4 Ab dem 4./5. Lebensjahr: in diesem Alter werden praktisch alle Frakturen heute operativ versorgt; d. h.
Frakturen des proximalen Femurs sind selten und haben je nach Literaturangaben auch eine hohe Komplikationsrate. Dabei wird meist die geschlossene Manipulation/Reposition beschrieben bzw. empfohlen. Unserer Ansicht nach ist dieses geschlossene Vorgehen einer der Hauptgründe der Komplikationen, vor allem der avaskulären Nekrosen (AVN). Der Autor überblickt mehr als 30 Jahre die Behandlung solcher Frakturen. Seit jeher haben wir immer ein offenes Vorgehen gewählt, auch bei praktisch undislozierten Frakturen, und unter Sicht die Fraktur stabilisiert. Die AVNRate liegt gerade einmal bei 3%, was deutlich geringer ist, als was in der Literatur sonst beschrieben wird. > Frakturen des proximalen Femurs sollten unabhängig vom Alter nicht geschlossen reponiert werden!
Femurschaft Frakturen des Femurschaftes werden ab dem 4.–5. Lebensjahr durchwegs chirurgisch versorgt. Deshalb entfällt eine Beschreibung einer konservativen Repositionstechnik. Hinweise für die operative Reposition werden 7 Abschn. 6.3 besprochen. Kinder unter dem 4.–5. Lebensjahr werden gelegentlich in Extensionen oder im Beckenbeingips behandelt.
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Kapitel 6 · Repositionstechniken
. Abb. 6.25a–d Overhead-Traktion. a Vorbereitete Extension, bestehend aus Unterlage und U-Bogen. b Klebe-Extensionsvorbereitung, Material. c Kind in Extension. d Transport nach Hause
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87 6.2 · Geschlossene, indirekte Reposition ohne operative Stabilisierung
Während für die Extensionen keine Reposition notwendig ist, kann es vorkommen, dass für die Retention im Beckenbeingips doch reponiert wird. Dabei geht es jedoch meist nur um die Herstellung der Längsachse und weniger der Länge. . Abb. 6.25 gibt die bevorzugte Behandlung einer Femurschaftfraktur beim 1- bis 4-Jährigen wieder. In Analgesie wird eine sog. Overhead-Extension angelegt, wobei das Kind mit dem Gesäß soweit von der Unterlage abgehoben wird, dass es mit dem Eigengewicht die Traktion durchführt. Haben wir uns zu dieser Art der Behandlung entschieden, führen wir auch keine radiologischen Verlaufskontrollen durch, da wir praktisch jede Stellung akzeptieren. Langzeitverläufe zeigen, dass es weder zu Beinlängendifferenzen noch zu Rotationsfehlern kommt. Vorteil dieser Behandlung ist, dass sie nach 1- bis 2tägigem Krankenhausaufenthalt zu Hause problemlos durchgeführt werden kann. Die Abnahme der Extension erfolgt nach spätestens 3–4 Wochen.
Distaler Femur Bei den Verletzungen des distalen Femurs handelt es sich entweder um rein metaphysäre Frakturen (33–M/2 und 3) oder um epimetaphysäre (33–E/1 und 2) Frakturen, die
sich für eine geschlossene Reposition und Gipsfixation und/oder Osteosynthese eignen. Intraartikuläre Frakturen des Knies sollten offen dargestellt und exakt unter Sicht reponiert werden. In diesem Segment hat die Repositionstechnik denselben Regeln zu folgen wie am distalen Unterarm; d. h. man muss zwischen dem Vorgehen bei metaphysären und epiphysären Frakturen unterscheiden. Für die Technik der metaphysären Fraktur wird auf die Vorgehensweise im Abschnitt distaler Unterarm (7 Abschn. 6.2.3) sowie . Abb. 6.21 verwiesen. Die Reposition einer SH-I- oder SH-II-Fraktur des distalen Femurs kann sich sehr schwierig gestalten. Üblicherweise versucht man, die Reposition in Rückenlage vorzunehmen. Sehr oft ist dies nur unvollständig möglich oder es müssen enorme Kräfte aufgewendet werden, die, wie im Abschnitt distaler Unterarm beschrieben, wiederum zu zusätzlicher Schädigung der Fuge führen können. Stellt man den Vergleich zu anderen Frakturen an, so kommt man zum Schluss, dass es sich um den gleichen Mechanismus wie bei einer suprakondylären Humerusfraktur handelt. Es stellt sich deshalb die Frage, weshalb man nicht auch in gleicher Weise reponiert, nämlich in Bauchlage!
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. Abb. 6.26a,b Reposition distale Femurfraktur 33–E/1.1 a Unfallbild mit völlig dislozierten Femurkondylen und Zustand nach konventioneller Reposition und verbliebener Fehlstellung. b Handgriff zur Reposition in Bauchlage (Bilder: K. Wilkins)
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Kapitel 6 · Repositionstechniken
jEinfache Reposition von Epiphysenlösungen Vorbereitung des Patienten 4 Aufklärung der Eltern über mögliche Wachstumsprobleme 4 Patient in Allgemeinnarkose unter Intubation 4 Lagerung auf dem Bauch 4 Bildwandlergerät so platzieren, dass es vertikal und horizontal eingesetzt werden kann.
Reposition (. Abb. 6.26)
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4 Unter Relaxation genügend langer Längszug unter leichten Varus-/Valgusbewegungen 4 Gute Fixierung des proximalen Oberschenkels durch zweite Person 4 Eine Hand fasst nun die Patella (entsprechend dem Griff ans Olekranon) 4 Unter Zug an der Patella bzw. am kondylären Fragment und unter gleichzeitiger Flexion Reposition des Fragmentes.
Es sollte obligat sein, bei einer so reponierten Fraktur unabhängig vom Alter eine chirurgische Fixation vorzunehmen. Diese Frakturen sind oft sehr instabil und neigen zur Redislokation.
6.2.5
Unterschenkel
Auch wenn heute im Kindesalter mehr und mehr Frakturen osteosynthetisch versorgt werden, stellen Frakturen des Unterschenkels nach wie vor die Domäne der konservativen Therapie und somit auch der guten Repositionstechniken dar. Daneben hängt der Erfolg der Behandlung auch von der entsprechenden Fixation ab (7 Kap. 7).
Proximale Tibia Frakturen der proximalen Tibia, sei es im Sinne einer Epiphysiolyse oder auch nur metaphysär, beruhen meist auf einer hohen Energieeinwirkung und sind somit stark ineinander »verkeilt« bzw. verhakt! Auf Grund dieses Umstandes und der Tatsache, dass man keinen Angriffspunkt am Fragment für die Reposition hat, kann sich diese sehr schwierig gestalten, insbesondere, wenn man keine zusätzliche Schädigung der Fuge in Kauf nehmen will. Vor allem SH-I- wie SH-II-Frakturen können dabei große Probleme bereiten.
Patientenvorbereitung 4 Aufklärung der Eltern über mögliche Wachstumsprobleme 4 Patient in Allgemeinnarkose unter Intubation 4 Lagerung auf dem Rücken 4 Rolle unter dem Knie vorbereiten 4 Bildwandlergerät so platzieren, dass es vertikal und horizontal eingesetzt werden kann
Reposition 4 Unter Relaxation genügend langer Längszug unter leichten Varus-/Valgusbewegungen 4 Gute Fixierung des proximalen Oberschenkels durch zweite Person 4 Eine Hand fasst nun hinten an die Tibia und zieht nach vorne und unten. 4 Die andere Hand drückt unter Zug, Knie flektiert, das proximale Fragment nach dorsal.
Gelingt nach zweimaligem Versuch die anatomische Reposition nicht, sollte auf eine direkte Reposition mittels Fixateur externe gewechselt werden. Des Weiteren empfehlen wir auch hier, die reponierte Fraktur osteosynthetisch zu fixieren, da die Redislokationsrate doch recht hoch ist. Wie oben beschrieben möchten wir hier eine alternative Repositionstechnik für die Tibiakopf-Frakturen, besonders auch beim kleineren Kind, vorstellen. Wir sind aus unserer Erfahrung überzeugt, dass durch indirekte »Dekompression« der Fuge eine Erholung eventuell geschädigter Zellen möglich ist und dadurch Wachstumsstörungen vermieden, zumindest verringert werden können. Die Überlegung basiert darauf, dass wie oben beschrieben das schwer zu fassende und zu manipulierende TibiakopfFragment direkt über die Pins eines Fixateur externe gefasst und manipuliert, in diesem Falle distrahiert werden kann. Wir bevorzugen aus Gründen der Stabilität und der Flexibilität einen Ringfixateur.
89 6.2 · Geschlossene, indirekte Reposition ohne operative Stabilisierung
Patientenvorbereitung 4 Aufklärung der Eltern über mögliche Wachstumsprobleme 4 Patient in Allgemeinnarkose unter Intubation 4 Lagerung auf dem Rücken 4 Knie leicht gebeugt auf einer Stoffrolle 4 Bildwandlergerät so platzieren, dass es vertikal und horizontal eingesetzt werden kann
Reposition (. Abb. 6.27) 4 Fixierung des Tibiakopfes, proximal der Fuge mit zwei gekreuzten, auf einen Ring gespannten Drähten 4 Alternativ: Fixierung mittels 3–4 mm dicken Schanz-Schrauben für monolateralen Fixateur externe 4 Platzierung eines distalen Ringes bzw. monolateralen Fixateur-Elementes 4 Nun wird unter direktem Zug bzw. Auseinanderziehen der beiden Systeme eine sog. »Dekompression« der Fraktur bzw. Fuge durchgeführt. 4 Falls man manuell nicht genügend Kraft applizieren kann, kann dies direkt über das FixExSystem durch Auseinanderschrauben der Gewindespindeln erfolgen 4 Danach ist es möglich, die beiden Fragmente in korrekte Stellung zu bringen 4 Wir erlauben dem Patienten eine volle Belastung
jReposition von metaphysären, proximalen Tibiafrakturen
Die größte Problematik dieser Fraktur ist nicht die vollständige, sondern die unvollständige Fraktur mit Valgusfehlstellung. Nicht reponiert zeigen diese Frakturen eine verzögerte bis ausbleibende Frakturheilung und zunehmende Valgusfehlstellung. Trotzdem kann diese Fraktur konservativ korrekt behandelt, d. h. reponiert, zu einer unproblematischen Heilung führen. Die vollständige metaphysäre Fraktur wird nach den üblichen Regeln der geschlossenen Behandlung reponiert und anschließend mittels Gipsverband ruhiggestellt. Die unvollständige, metaphysäre Valgusfraktur ist prinzipiell stabil und bedarf lediglich einer Achsenkorrektur. Es ist jedoch wichtig, dass der mediale Frakturspalt geschlossen resp. unter Kompression gesetzt wird. Dies kann auf drei Arten erfolgen: 4 Durch Fixierung der unteren Extremität im Oberschenkelgips und der bereits beschriebenen Gipskeilung nach 4–5 Tagen. Dies kann ohne Narkose erfolgen (Prämedikation).
4 Allgemeinanästhesie und Reposition der Achse in leichter Varus-Überkorrektur, um den Frakturspalt unter Druck zu setzen; anschließend Fixation im Oberschenkelgips. 4 Allgemeinanästhesie und Applikation eines kleinen, monolateralen Fixateurs; mit diesem wird der Frakturspalt geschlossen und die Fraktur unter Kompression gesetzt, ein Gipsverband ist nicht notwendig.
Tibiaschaft Wie schon zuvor erwähnt, sind Frakturen des Unterschenkelschaftes, sowohl der isolierten Tibia als auch beider Knochen, auch heute noch Domäne der konservativen Therapie. Deshalb sind Repositionstechniken wie auch Repositionsgeschick von großer Bedeutung. Im gleichen Atemzug ist jedoch wieder darauf hinzuweisen, dass die Analyse stabil/instabil, reponierbar/nicht reponierbar sowie retinierbar/nicht retinierbar von größter Wichtigkeit ist. Nur allzu oft wird die konservative Therapie deutlich überfordert (. Abb. 6.28). Bereits bei der Reposition ist die korrekte Rotation zu beachten; besonders wichtig wird diese Problematik bei der Gipsfixation. Generell sollten Unterschenkelfrakturen eher in Varusstellung fixiert werden, da die Fibula schneller heilt als die Tibia. Diese ist daher einem längeren Stimulus ausgesetzt, wächst mehr und korrigiert somit den Varus wiederum. > Ergibt die Reposition eine Valgusstellung, so nimmt die Deformität zu. > Prinzipiell sollten Unterschenkelfrakturen in Allgemeinnarkose reponiert werden.
Folgende Punkte sind in der Vorbereitung zu beachten: 4 Gute Information der Eltern 4 Hinweis, dass man das Verfahren ändern, d. h. operativ stabilisieren muss 4 Genügend großer Raum; in instabilen Situationen am besten Operationssaal, um zu operativer Versorgung wechseln zu können 4 Möglichkeit, in Narkose mit langer Platte zu röntgen; Achskontrolle 4 Genügend Personal 4 Ruhige Atmosphäre 4 Gute Vorbereitung des Material 4 Sorgfältige und sichere Kontrolle der Stabilität Da der Unterschenkel gut zu fassen und somit auch leicht zu manipulieren ist, eignet er sich sehr gut für Repositionen.
6
90
Kapitel 6 · Repositionstechniken
6 a
b
c
d . Abb. 6.27a–e Reposition proximale Tibiafraktur 41–E/1.1. a Unfallbild eines 6-jährigen Kind mit einer SH-II-Fraktur. b Zustand nach Ringfixateur-Applikation und Distraktion, der große Defekt ist gut
e sichtbar, ebenfalls die entlastete Fuge. c klinisches Bild mit Ringfixateur. d Heilungsverlauf mit vollständiger Wiederherstellung der Fuge. e Zustand nach Abnahme des Fixateurs
91 6.2 · Geschlossene, indirekte Reposition ohne operative Stabilisierung
a . Abb. 6.28a,b Überforderung der konservativen Therapie bei einer Tibiaschaftfraktur. a Völlig instabile Unterschenkelfraktur.
4 Zuerst Herstellung der Länge; diese zu halten gelingt nur bei sich »verzahnenden« Frakturen 4 Herstellung der Achse; es ist darauf zu achten, dass diese in beiden Ebenen anatomisch ist, besonders bei Kindern über 9–10 Jahren (. Tab. 6.3) 4 Nach erfolgter Fixation im Gips oder mittels Osteosynthese muss die Längs- und Achsstabilität überprüft werden.
> Auch am Unterschenkel sollten jegliche repetitive Repositionen vermieden werden, Ausnahme ist die nachträgliche Gipskeilung (. Abb. 6.29) ohne Narkose, was für das Kind keinen Nachteil bedeutet.
Reposition und Fixation von Frakturen des Unterschenkels 4 Isolierte Tibiafrakturen 4 Große Tendenz zur sekundären Varusdeformität 4 Sperrende Fibula verhindert die Reposition und Manipulation 4 Rotationsfehler schwieriger zu korrigieren bzw. reponieren!
b b Versuchte Reposition und Gipsfixation in nicht akzeptierbarer Fehlstellung
. Tab. 6.3 Altersbezogen akzeptable Achsabweichung für Unterschenkelschaftfrakturen <8 Jahre/Grade
>8 Jahre/Grade
Valgus
Bis 5°
5°
Varus
10°
5°
Anteriore Angulation
10°
5°
Posteriore Angulation
5°
0°
Verkürzung
10 mm
5 mm
Rotation
5o
5o
Vollständige Unterschenkelfrakturen 4 Varustendenz ist weniger ausgeprägt 4 Jedoch meist instabil und deshalb 4 Eher Tendenz zum Valgus, was eindeutig ungünstiger ist bezüglich Kosmetik und Auswirkung auf Sprunggelenk 4 Rotationsfehler leicht möglich
6
92
Kapitel 6 · Repositionstechniken
6
. Abb. 6.29 Gipskeilung bei einer Tibiaschaftfraktur. Initiale oder verbliebene Fehlstellungen können in leichter Sedation mittels Gipskeilung beseitigt werden
Distaler Unterschenkel/Sprunggelenk
jEpiphysäre distale Tibiafrakturen
Die Repositionsproblematik sowie Repositionstechnik in diesem Segment – 43–M-Frakturen und 43–E-Frakturen – ist vergleichbar der Problematik des proximalen Unterschenkels.
Praktisch nur in diesem Segment haben wir eine hohe Anzahl von extraartrikulären (SH I und SH II) und von intraartikulären (SH III und SH IV) Frakturen. Diese intraartikulären Frakturen kennen wir auch unter den Begriffen »Two-plane- oder sog. Tillaux-Fraktur und der Tri-planeFraktur. Weisen beide Frakturen ein gewisses Maß von Dislokation auf, sollten diese unbedingt reponiert werden. Bei den SH-I- und -II-Frakturen ist dies eine Achsabweichung über 5° in irgendeiner Ebene, bei den Two-plane- und Triplane-Frakturen ist es der »ominöse 2-mm-Gap«. Bezüglich der Repositionstechnik können lediglich die SH-I- und -II-Frakturen indirekt von außen reponiert und auch konservativ fixiert werden. Dennoch gilt auch bei diesen Frakturen, dass man die Narkose und Reposition für eine sichere und definitive Behandlung nutzen und Nachrepositionen oder Repositionsverluste vermeiden sollte. Dies heißt auch hier, dass man eher zu einer chirurgischen Fixation neigen sollte, insbesondere, da heute mit den kanülierten Schrauben beides, nämlich die Reposition und Fixation, vorgenommen werden kann (7 Abschn. 6.3).
jMetaphysäre Tibia-/Unterschenkelfrakturen
Die eher unproblematischen vollständigen metaphysären Frakturen müssen entsprechend der Technik am distalen Radius resp. an der proximalen Tibia reponiert werden. Auch hier ist darauf zu achten, dass Kortex auf Kortex steht, da es sonst im Gips wie auch mit K-Draht-Fixation zum Verkippen des distalen Fragmentes kommen kann (. Abb. 6.30). Gelingt die Reposition nicht, so sollte vor einem offenen Vorgehen die Joystick-Technik versucht werden (. Abb. 6.21c). Unsere Erfahrung zeigt, dass so fast alle offenen Repositionen vermieden werden können. Eine weitere Repositions- und Retentionshilfe ist die Spitzfußstellung. Im Kindes- und Jugendalter ist eine Spitzfußstellung über 4 Wochen durchaus zu tolerieren. Auf ein genaues Neuromonitoring ist zu achten. Bringt man den Fuß bei diesen metaphysären Frakturen in eine klassische plantigrade Stellung, so kommt es durch den Zug der Achillessehne zur starken Rekurvation der Fraktur. Oft kann man während der Reposition durch Veränderung des Fußes die Achsstellung der Fraktur bzw. der Fragmente günstig beeinflussen.
Reposition von SH-I- und -II-Frakturen. Der Entstehungsmechanismus und die Morphologie dieser Frakturen sind relativ einheitlich. Der metaphysäre Anteil disloziert nach
93 6.3 · Geschlossene, indirekte Reposition mit operativer Stabilisierung
ventral und oft lateroventral. Somit ist das distale Fragment mit dem Fuß nach dorsal weggeglitten. Da man sehr wenig Angriffsfläche bzw. einen sehr ungünstigen Hebelarm hat, ist es günstig, mit einem Hypomochlion zu arbeiten. 4 Information der Eltern darüber, dass eventuell ein K-Draht verwendet werden muss 4 Information, dass Wachstumsstörungen auftreten können, besonders auch nach der Reposition, die die Fuge nochmals schädigen kann (vergl. distales Femur/proximale Tibia) 4 Lagerung des steril abgedeckten distalen Unterschenkels direkt auf dem Bildwandler 4 Gerollte Stoffunterlage unter Ferse (. Abb. 6.30) 4 Unter Zug an der Ferse und Fuß, der Patient muss gut gehalten werden, massive Extension des Fußes 4 Falls Reposition nicht anatomisch, kann folgender Trick helfen: leichte bis mäßige Schläge mit dem Handballen gegen die distale Tibiakante, dadurch »rutscht« das distale Fragment nach ventral und »rastet ein«.
a
Two-plane- sowie Tri-plane-Frakturen (sog. Übergangsfrakturen) können nicht indirekt reponiert werden. Sie sind jedoch zwei der wenigen Frakturen, die heute dank den kanülierten Schrauben trotzdem geschlossen versorgt werden können (7 Abschn. 6.3).
6.2.6
Hand/Fuß
An der Hand wie auch am Fuß können nur Frakturen der Phalangen prinzipiell von extern reponiert werden. Frakturen der Metakarpalien und Metatarsalien hingegen brauchen oft eine Reposition, doch muss diese durch direkte Manipulation erfolgen, heute vorteilhaft mittels ESIN-Methode oder K-Drähten (7 Abschn. 6.3). Die Reposition von Frakturen der Phalangen folgt den zuvor beschriebenen Techniken, je nach Frakturart und Frakturlokalisation.
6.3
Geschlossene, indirekte Reposition mit operativer Stabilisierung
6.3.1
Vorbereitung des Patienten
Wie bereits im 7 Abschn. 6.2 beschrieben, müssen Patient wie Eltern über diese Behandlungsart vorbereitet und aufgeklärt werden.
b . Abb. 6.30a,b Reposition von SH-I- und -II-Frakturen der distalen Tibia. a Typische SH-II-Fraktur der distalen Tibia, man beachte, dass in der a.p. Ebene praktisch keine Dislokation vorliegt. b Vorteilhaft wird der Fuß bzw. die distale Tibia direkt auf der Kamera des Bildwandlers gelagert (bessere Bildqualität, weniger Strahlen), Unterlage unter die Ferse als Hypomochlion
6
94
Kapitel 6 · Repositionstechniken
4 Narkose oder Leitungsanästhesie 4 Infektgefahr, da ein Implantat verwendet wird 4 Eventuelle Implantatentfernung in einer zweiten Narkose 4 Vorteil: meist keine zusätzliche Ruhigstellung Im Folgenden sollen die wesentlichsten speziellen Repositionstechniken und -tricks für die operative Frakturbehandlung, wiederum nach anatomischen Gesichtspunkten, dargestellt werden.
6
6.3.2
Humerus
Instabile, völlig dislozierte Frakturen des proximalen Humerus sowie Humerusschaftes sollten sicher und definitiv stabilisiert werden. Heutzutage steht die Versorgung mit der ESIN-Technik an erster Stelle, gefolgt von K-DrahtFixation des proximalen Humerus. Die unkomplizierte Reposition folgt den zuvor beschriebenen Regeln. Am proximalen Humerus kann mittels zweier Tricks eine Reposition einer nicht reponierbaren Fraktur erreicht werden; diese können auch bei einer Osteosynthese angewendet werden. 4 Joystick-Technik (. Abb. 6.21) 4 Fixierung des Kopffragmentes. Da das Kopffragment meist sehr kurz ist und innerhalb der Kapsel liegt, weicht dieses beim Repositionsversuch immer wieder aus; das distale Fragment kann nicht eingestellt werden. Mittels eines 2,5 mm oder 3,0 mm K-Drahtes wird das Kopffragment gehalten. Der K-Draht wird nicht eingebohrt, sondern nur mit einem Hammer in den Kopf transkutan eingeschlagen. Nun kann der Humeruskopf korrekt eingestellt werden, ein Assistent hält das Fragment dann am K-Draht in der Position fest. Der Operateur reponiert nun unter Zug und entsprechenden Manövern das distale Fragment achsgerecht an das proximale. Ist eine Reposition erreicht, können die elastischen Nägel vorgeschoben oder die gekreuzten K-Drähte eingebohrt werden (. Abb. 6.31). Distaler Humerus. Die traditionelle Repositionstechnik für suprakondyläre Humerusfrakturen wurde bereits bei der konservativen Therapie beschrieben. Diese Technik gilt auch als Standardtechnik bei der Osteosynthese. In einem gewissen Prozentsatz der Fälle gelingt es jedoch auch mit dieser Methode nicht, die Fraktur zu reponieren. Traditionsgemäß wird dann auf eine offene Reposition gewechselt. Wir wissen allerdings, dass offene Repositionen keine besseren Repositions- wie Funktionsergebnisse erzielen. Wir propagieren deshalb die Reposition mittels radialem Fixateur externe (. Abb. 6.32; Slongo 2008).
. Abb. 6.31 Reposition einer dislozierten subkapitalen Humerusfraktur (11–M/3.1). Links: Ein K-Draht (weiß) hält das Kopffragment. Rechts: Zustand nach Fixierung mittels ESIN-Technik, der K-Draht (gestrichelt) wird dann entfernt
4 Übliche Aufklärung über Narkose und Risiken 4 Aufklärung über Fixateur-Pflege 4 Patient in Rückenlage, Ellbogen direkt auf dem Bildwandler gelagert 4 Primärer Pin (Schanz-Schraube) Ø 2,5 mm oder 3,0 mm, ca. 2 cm proximal der Fraktur am distalen Humerus, rechtwinklig zur Längsachse 4 Sekundärer Pin im Zentrum des distalen Fragmentes, absolut parallel zum Gelenk 4 Mittels der beiden Pins im Sinne der JoystickTechnik Reposition der Fragmente und Verbindung der Pins mit einer oder zwei Stangen 4 Da nur je ein Pin pro Fragment eingebrachte ist, ist ein sog. Antirotations-Pin, radial die Fraktur kreuzend, von distal oder proximal, notwendig.
95 6.3 · Geschlossene, indirekte Reposition mit operativer Stabilisierung
a
c
b
d
e
. Abb. 6.32a–e Indirekte Reposition einer suprakondylären Humerusfraktur mittels radialem Fixateur externe. a Unfallbild und Einbringen des proximalen Pins. b Einbringen des distalen Pins. c Reposition und Fixation. d Platzierung des sog. Antirotations-Pins. e Fertige Montage
6.3.3
Unterarm
Am Unterarm sind die gleichen Repositionskriterien anzuwenden wie bei der konservativen Therapie; d. h. auch für eine operative Stabilisierung ist eine gute Reposition unabdingbare Voraussetzung. Eine Ausnahme stellt die Fixation mittels Fixateur externe dar, da der Fixateur primär als Repositionshilfe und erst sekundär zur Frakturstabilisierung eingesetzt wird. Das sog. Tube-to-Tube-System ist dazu geeigneter als ein Monotube-System. Dieses Repositionsverfahren eignet sich sowohl für die Unterarmschaft- als auch für die distalen Unterarmfrakturen (. Abb. 6.33). Proximaler Unterarm. Zusätzlich zu den zuvor genann-
ten Techniken für die proximalen Unterarmfrakturen sei hier kurz auf die Versorgung der Radiushalsfraktur mittels ESIN-Technik hingewiesen (Metaizeau 1993).
. Abb. 6.33 Indirekte Reposition mittels Tube-to-Tube-Fixateur externe am Unterarm. Der kleine Tube-to-Tube-Fixateur eignet sich ausgezeichnet zur indirekten Reposition von Unterarmschaftfrakturen, aber auch von distalen Frakturen. Im Kindesalter kann der FixEx bis zur Heilung belassen werden
6
96
Kapitel 6 · Repositionstechniken
Unterarmschaft. Die operativen Repositionstechniken
am Unterarm unterscheiden sich kaum von denen der konservativen Technik. Dazu kommt auch hier die ESIN-Technik sowie der Fixateur externe als Repositionshilfe. Auch mit der ESIN-Technik muss in einem gewissen Prozentsatz der Fälle offen vorgegangen werden. Bevor eine geschlossene Fraktur in eine offene umwandelt wird, sollte die Joystick-Technik versucht werden (. Abb. 6.33). Distaler Unterarm. Die meist verwendete und suffizien-
6
teste operative Repositionstechnik dieses Segmentes ist wiederum der kleine Fixateur externe. Neben der direkten Manipulation der Fragmente kommt hier die sog. Ligamentotaxis zur vollen Wirkung. Für die Applikation sei auf die entsprechenden Operationstechniken verwiesen (. Abb. 6.33).
6.3.4
Femur
Wie schon bei den konservativen Repositionstechniken erwähnt, kommt ab dem 4.–5. Lebensjahr heute praktisch nur die operative Reposition und Stabilisierung dieser Frakturen zur Anwendung. Dabei ist die ESIN-Technik als
erste, der Fixateur externe als zweite Methode der Wahl zu erwähnen. Tricks wie auch Techniken unterscheiden sich nicht von den zuvor erwähnten. . Abb. 6.34 gibt als Beispiel die Reposition mittels Tube-to-Tube-Fixateur wieder. Ein solches System ist einem Mono-Tube-System besonders bei der Reposition überlegen, da es erst »Werkzeug« und dann Implantat ist. Auf die verschiedenen Segmente des Femurs soll nicht weiter eingegangen werden, da sich keine neuen Aspekte ergeben. Der Vollständigkeit halber sei jedoch auch vor allem für ältere Kinder die indirekte Reposition und Fixation mittels minimal-invasiver Plattenosteosynthese (MIPO) erwähnt. Die Technik richtet sich nach den Kriterien der Versorgung bei Erwachsenen.
6.3.5
Unterschenkel
Was für das Femur gilt, hat auch für den Unterschenkel seine Richtigkeit. Falls ein operatives Vorgehen gefordert bzw. indiziert ist, kommen dieselben Techniken der operativen Reposition zur Anwendung. Vor allem die MIPOTechnik ist bei älteren Kindern heute eine sehr verbreitete Methode, da diese an der Tibia sehr gut und einfach angewendet werden kann.
a
b . Abb. 6.34a–c Indirekte Reposition mittels Tube-to-Tube-Fixateur externe am Femur. Das Tube-to-Tube-System eignet sich ausgezeichnet zur indirekten Reposition einer Fraktur, im Kindesalter kann der
c FixEx bis zur Heilung belassen werden. a Schematische Darstellung. b Klinische Anwendung am Oberschenkel. c Radiologische Darstellung
97 6.3 · Geschlossene, indirekte Reposition mit operativer Stabilisierung
Distaler Unterschenkel/Sprunggelenk. Wie erwähnt,
werden Two- und Tri-plane-Frakturen zunehmend geschlossen, minimalinvasiv mittels kanülierter Schrauben reponiert und gleichzeitig fixiert (. Abb. 6.35). Diese Technik setzt ein gutes Verständnis dieser Fraktur sowie ein gutes dreidimensionales Denken voraus. 4 Information der Eltern über minimalinvasives Vorgehen; bei Misslingen offenes Vorgehen 4 Patient in Rückenlage 4 Fuß bis mittlerer Unterschenkel steril abgedeckt 4 Bildwandler-Kamera unten (. Abb. 6.30b) und steril abgedeckt 4 Steril abgedeckter Fuß direkt auf Bildwandler; ergibt genaueres und besseres Bild 4 Fuß auf Bildwandler so drehen, dass Frakturspalt im Gelenk die größte Dislokation zeigt 4 Rechtwinklig zum Strahlengang (also parallel zur Kamera des Bildwandlers) Führungsdraht auf Fragment setzen 4 Kleine Stichinzision 4 Führungsdraht ins Fragment bis zum Frakturspalt einbohren, jetzt kann mit Joystick-Technik das Fragment noch geschoben werden 4 Danach Draht bis zur Gegenkortikalis vorbohren (Cave: nicht ins Gelenk) 4 Entsprechende Schraubenlänge abmessen und über Führungsdraht schieben 4 Mit der Schraube Fragment reponieren und fixieren 4 Soft-Cast-Unterschenkelgips als Schutz mit Bodenkontakt
a
. Abb. 6.35 Indirekte Reposition einer Two-/Tri-plane-Fraktur mittels kanülierter Schraube. Darstellung des Repositions- und Fixationsablaufes (7 Kap. 22.18)
6.3.6
Hand/Fuß
Auch im Hand-/Fußbereich erlangt die ESIN-Technik bei der Versorgung von Frakturen der Metatarsalien resp. -karpalien sowie der Phalangen immer größere Beliebtheit und Akzeptanz. Dabei wird wiederum der intramedulläre Nagel zuerst als Repositionshilfe, danach als Fixation gebraucht. . Abb. 6.36 gibt ein entsprechendes Beispiel wieder.
b
. Abb. 6.36a,b Indirekte Reposition von Hand-/Fußfrakturen. a Ausgangsbefund. b Darstellung des Repositions- und Fixationsablaufes einer subkapitalen Metatarsaliafraktur mittels ESIN-Technik
6
6
98
Kapitel 6 · Repositionstechniken
6.4
Zusammenfassung
Die hier dargestellten Repositionstechniken können in den meisten Fällen als sicherer Weg für eine gute und sichere Reposition mit anschließender adäquater Stabilisation angesehen werden. Man muss sich bewusst sein, dass im Einzelfalle jedoch auch alternative, hier nicht gezeigte Verfahren zur Anwendung kommen. Dennoch sollten diese Techniken vor allem für den weniger geübten und erfahrenen Kollegen eine sinvolle Hilfe darstellen. Es sei weiter betont, dass man sehr Vieles darstellen und erklären kann. All diese Darstellungen können jedoch die eigene Erfahrung nicht ersetzen. Derjenige Kollege wird einfacher und erfolgreicher seine Ziele erreichen, der über eine Fülle von guten »Tricks« verfügt.
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7
Grundlagen der operativen Frakturbehandlung I. Marzi
7.1
Spickdrahtosteosynthesen
– 101
7.1.1 7.1.2 7.1.3 7.1.4 7.1.5
Prinzip – 101 Indikationen – 101 Durchführung – 101 Nachbehandlung – 103 Komplikationen – 103
7.2
Zuggurtung
7.2.1 7.2.2 7.2.3 7.2.4 7.2.5
Prinzip – 103 Indikationen – 104 Durchführung – 104 Nachbehandlung – 104 Komplikationen – 104
7.3
Schraubenosteosynthese
7.3.1 7.3.2 7.3.3 7.3.4 7.3.5
Prinzip – 104 Indikationen – 105 Durchführung – 105 Nachbehandlung – 105 Komplikationen – 105
7.4
Plattenosteosynthesen
7.4.1 7.4.2 7.4.3 7.4.4 7.4.5
Prinzip – 105 Indikationen – 107 Durchführung – 107 Nachbehandlung – 107 Komplikationen – 107
7.5
Elastisch stabile intramedulläre Nagelung
7.5.1 7.5.2 7.5.3 7.5.4 7.5.5
Prinzip – 108 Indikationen – 109 Durchführung – 109 Nachbehandlung – 109 Komplikationen – 110
– 103
– 104
– 105
– 108
7.6
Marknagelung
7.6.1 7.6.2 7.6.3 7.6.4 7.6.5
Prinzip – 112 Indikationen – 112 Durchführung – 112 Nachbehandlung – 112 Komplikationen – 112
7.7
Fixateur externe
7.7.1 7.7.2 7.7.3 7.7.4 7.7.5
Prinzip – 112 Indikationen – 112 Durchführung – 113 Nachbehandlung – 113 Komplikationen – 114
7.8
Fixateur interne und Wirbelkörperersatz Literatur
– 114
– 112
– 112
– 114
101 7.1 · Spickdrahtosteosynthesen
Operative Maßnahmen im Kindesalter müssen differenziert und verletzungsbezogen indiziert werden, wenn die konservativen Behandlungsmöglichkeiten inklusive einer geschlossenen Reposition oder Redression auch in Narkose in der Gesamtbetrachtung der Behandlung nicht sinnvoll sind. Alle operativen Maßnahmen sollten das Wachstum in den Fugen, die Durchblutung des Periostes und der Weichteile so wenig wie möglich beeinträchtigen und keinen sekundären Schaden hervorrufen. Grundsätzlich sollte jedoch im Fall einer Narkose und Osteosynthese eine möglichst optimale Reposition und stabile Retention erreicht und nicht zusätzlich auf sekundäre Korrekturmechanismen vertraut werden. Im Folgenden sind die Prinzipien der Osteosynthese dargestellt, die je nach Lokalisation unter Berücksichtigung der anatomischen Verhältnisse und hier insbesondere der Wachstumszonen angewandt werden.
7.1
Spickdrahtosteosynthesen
7.1.1
Prinzip
Die Stabilisierung mit Spickdrähten ist ein einfach zu verwendendes Verfahren, das nach einer geschlossenen oder offenen Reposition eine Retention des Repositionsergebnisses erlaubt. Spickdrähte sind als alleinige Ruhigstellung meist unzureichend, so dass meist eine zusätzliche Gipsruhigstellung erforderlich ist. Weiterhin können mit Spickdrähten Gelenke temporär transfixiert werden, um eine Weichteil- und insbesondere Sehnenheilung zu ermöglichen.
7.1.2
Indikationen
Metaphysäre Frakturen an den Extremitäten stellen die häufigste Indikation dar, da metaphysär eine rasche Ausheilung und eine gute Verankerung der Drähte erreicht werden kann. Soweit möglich werden die Drähte ohne Tangierung der Wachstumsfugen eingebracht, wie z. B. bei der Kapandji-Technik am distalen Radius (. Abb. 7.1). Meist muss jedoch die Fuge überkreuzt werden, um einen ausreichenden Halt zu erreichen, und es sind häufig 2 und in Einzelfällen auch 3–4 Drähte zur ausreichenden Stabilisierung notwendig. Sowohl das Durchbohren der Fuge als auch des Gelenkes hinterlässt in aller Regel keinen bleibenden Schaden, sofern dies nur einmalig, vorsichtig und ohne wesentliche Hitzeentwicklung erfolgt. Häufige Indikationen sind dislozierte distale Radiusfrakturen, proximale Humerusfrakturen, suprakondyläre Humerusfrakturen, Epiphyseolysen der großen Gelenke, Fingerfrakturen, Fußfrakturen, aber auch Luxationen, Sehnen- oder Amputationsverletzungen an den Fingern oder am Fuß.
7.1.3
Durchführung
Die Auswahl der verwendeten Spickdrähte hängt von der Lokalisation und Größe des Knochens ab. . Tab. 7.1 gibt die gängigen Durchmesser an, wobei Stahldrähte verwendet werden, sofern keine Metallallergie vorliegt.
4 Zum Einbringen der Drähte sollte eine Stichinzision erfolgen, um ein Einziehen der Haut oder Nekrosen zu vermeiden. 4 Je nach Lokalisation sind Führungshülsen zu verwenden, um ein Aufwickeln von Weichteilen und insbesondere von Nerven oder Sehnen zu verhindern. Gerade am distalen Radius und am Ellenbogen sind teilweise ausreichende Inzisionen und die Verwendung von Langenbeck-Haken erforderlich, um eine iatrogene Nervenschädigungen zu vermeiden. 4 Die Drähte werden mit einem Bohrer in der Regel unter Bildwandlerkontrolle eingebracht, wobei vor Durchbohren der Fuge oder des Gelenkes der korrekte Verlauf zu kontrollieren ist. Während ein einmaliges Durchbohren der Fuge mit einem Draht der genannten Durchmesser offensichtlich keinen vorzeitigen Verschluss der Fuge auslöst, ist dies hingegen bei mehrfachen Bohrversuchen als schwere Fugenschädigung bekannt. Die Drähte sollten auch nicht wesentlich über die Gegenkortikalis überstehen zur Vermeidung von Weichteilirritationen. Bei gekreuzten Drahtosteosynthesen sollte die Kreuzung nach der Fraktur liegen, auf keinen Fall in der Fraktur, um eine möglichst hohe Stabilität zu erreichen. 4 Prinzipiell können die Drähte umgebogen und unter die Haut versenkt werden, mit dem Nachteil einer späteren örtlichen Betäubung oder Narkose zur Metallentfernung. Meist werden jedoch die Drähte umgebogen, aber ausreichend über Hautniveau belassen, was bei kooperativen Kindern eine ambulante Metallentfernung ermöglicht.
. Tab. 7.1 Übliche Durchmesser von Spickdrähten Lokalisation
Durchmesser
Femur – proximal und distal
1,8–2,5 mm
Tibia proximal und distal
1,6–2,0 mm
Ellenbogen und Handgelenk
1,4–1,6 mm
Handwurzel und Phalangen
0,8–1,4 mm
H.G. Dietz et al. (Hrsg.), Praxis der Kinder-und Jugendtraumatologie, DOI 10.1007/978-3-642-12935-3_7, © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2011
7
102
Kapitel 7 · Grundlagen der operativen Frakturbehandlung
. Abb. 7.1a–d Prinzip der Kapandji-Technik am distalen Radius ohne Perforation der Wachstumsfuge. In diesem Fall zusätzlich Spickdrahtosteosynthese der distalen Ulna. a,b Unfallbilder. c, d Postoperative Kontrolle
7 a
b
c
d
103 7.2 · Zuggurtung
7.1.4
Nachbehandlung
Außer Transfixationen und Stabilisierungen kleiner Gelenke wie an den Phalangen ist meist eine additive Gipsruhigstellung bis zur gesicherten Heilung erforderlich. Nach 2- bis 4-tägigen Verbandswechseln ist im Verlauf eine 1bis 2-wöchentliche Wundkontrolle meist ausreichend, da auch die überstehenden Drähte meist reizlos durch die Haut hervorstehen. Metallentfernungen erfolgen je nach Lokalisation nach 3–6 Wochen, selten später. Bei überstehenden Drähten werden die Hautperforationen mit einer desinfizierenden Salbe verbunden, bei Hautinzision diese durch resorbierbare Fäden verschlossen. Versenkte Drähte müssen meist in Narkose entfernt werden; überstehende Drähte können bei älteren und kooperativen Kindern ambulant ohne Betäubung entfernt werden. Alternativ kann auch eine Analgosedierung unter entsprechender Überwachung angewandt werden.
7.1.5
Radiusfraktur treten häufig bei der Metallentfernung auf. Daher ist hierbei insbesondere auf die saubere Darstellung der Drahtenden vor Verwendung einer Zange zu achten, um dies zu vermeiden. 4 Eine iatrogen bedingte Gelenkschädigung durch Spickdrähte ist kaum bekannt. Hingegen sind Fugenschädigungen durch zahlreiche und frustrane Bohrversuche mit katastrophalen Folgen für das weitere Wachstum bekannt. Diese treten am häufigsten bei komplizierten suprakondylären Humerusfrakturen auf. 4 Weitere Komplikationen sind durch Drahtspitzen hervorgerufene Knorpelschädigungen, wie sie beispielsweise bei Fixationen der Epiphyseolysis capitis femoris am Azetabulum berichtet wurden. Die Transfixation des Radiusköpfchens durch den Humerus führt hingegen oft zu Drahtbrüchen und sollte auch aus biomechanischen Gründen nicht mehr durchgeführt werden.
7.2
Zuggurtung
7.2.1
Prinzip
Komplikationen
4 Lokale Reizungen können durch adäquate Verbands-
wechsel beherrscht werden, in Einzelfällen ist jedoch auch die vorzeitige Metallentfernung notwendig. Statistische Unterschiede in der Komplikationsrate überstehender oder versenkter Spickdrähte konnten nicht gefunden werden. Schwerwiegende Knochen- oder Gelenkinfekte sind ausgesprochen selten, aber können prinzipiell nicht ausgeschlossen werden. 4 Irritation von Nerven, und hier insbesondere des N. ulnaris bei der suprakondylären Humerusfraktur und des R. superficialis des N. radialis bei der distalen
> Unter Zuggurtung versteht man die Umwandlung von Zugkräften in Druckkräfte durch eine Konstruktion aus Drähten und Drahtschlingen.
Dabei halten die Drähte die anatomische Reposition der Gelenkfläche, während ein angespannter Draht einwirkende Zuggkäfte so auf eine interfragmentäre Kompression umlenken (. Abb. 7.2). Eine reine Drahtzerklage erfüllt diesen biomechanischen Zweck nicht und ist daher nur für wenige Ausnahmefälle indiziert.
. Abb. 7.2 Zuggurtungsprinzip am Beispiel der Patellafraktur (Aus: Marzi/Kindertraumatologie, 2010)
7
7
104
Kapitel 7 · Grundlagen der operativen Frakturbehandlung
7.2.2
Indikationen
Dislozierte Frakturen des Olekranons mit unterschiedlich weiten Fugen und Patellaquerfrakturen sind die häufigsten Indikationen für eine Zuggurtung. Darüberhinaus stellen Schultereckgelenkssprengungen Typ Tossy II und III sowie laterale Klavikulafrakturen weitere häufige Indikationen dar. Darüber hinaus sind Zuggurtungen aber auch für Sehnenansatzabrisse prinzipiell geeignet, wie Abrisse des Trochanter major, eines Epikondylus oder Tuberkulums. Zerklagen hingegen finden kaum Anwendung bis auf die dislozierten, teils knorpeligen Köpfchenfrakturen von Fingergliedern des Kindes oder additiv peripatellar als Ergänzung zu einer Zuggurtung bei Patellamehrfragmentfrakturen.
7.2.3
7.2.4
Nachbehandlung
Da die Zuggurtungsosteosynthese mit dem Konzept der Übungsstabilität angelegt wird, ist hier prinzipiell keine Gipsruhigstellung notwendig. Im Einzelfall bietet sich am Olekranon für wenige Tage eine Gipsschiene zur Schmerzbehandlung und Abschwellung an. Ansonsten sollte über die nächsten Wochen sukzessive die Beweglichkeit freigegeben werden, so bei der Patellafraktur alle 2 Wochen um 30°. Die Metallentfernung von Zuggurtungen kann meist schon nach 6 Wochen und radiologischer Konsolidierung erfolgen. In der Regel sollten die Zuggurtungen nach 3–4 Monaten entfernt sein, zumal die Drähte sich dann lockern oder brechen können und das Zerklageschloss oft unter der Haut stört.
Durchführung 7.2.5
4 Einbringen von 2 Spickdrähten gelenk- bzw. kortikalisnahe und möglichst parallel, wobei die Gegenkortikalis gerade eben durchbohrt wird (meist 1,6 mm). 4 Bei der Olekranonfraktur wird ca. 2–3 cm distal der Fraktur ein queres Loch durch die Ulna gebohrt (2 mm), durch die dann der Zerklagedraht (ca. 1,25 mm) hindurchgezogen und in einer 8erSchlinge um die beiden proximalen Drahtenden geschlungen wird. Dabei ist immer darauf zu achten, dass der darunterliegende Sehnenansatz nicht abgequetscht wird und der Draht direkt auf dem Knochen geführt wird, direkt oder über eine dicke Kanüle. 4 Die Drahtschlingen werden nun verzwirbelt, wobei man auch 2 Zwirbel zum gleichmäßigeren Zug anlegen kann. 4 Anschließend werden die Drähte um annähernd 180° umgebogen und mit dem Stößel gerade in die äußere Kortikalis eingeschlagen, um eine Dislokation zu vermeiden. 4 Bei der Patellazuggurtung wird der Zerklagedraht um die proximalen und distalen Drahtenden als O-Schlinge geführt, wobei hier auch die Sehnenansätze geschont werden müssen. 4 Die proximalen Drahtenden werden anschließend umgebogen und in die obere Patellakortikalis eingeschlagen, während die distalen gerade über den Zerklagedraht überstehend belassen werden. 4 Wenn man den Zwirbel kranial legt, kann man dann bei der Metallentfernung über einen partiellen oberen Hautschnitt alle Implantate entfernen.
Komplikationen
4 Lockerungen der Spickdrähte und Irritationen der Weichteile bis hin zur Perforation sind die häufigsten Komplikationen. In diesen Fällen ist eine vorübergehende Ruhigstellung oder auch eine vorzeitige Metallentfernung erforderlich, um eine Infektion zu vermeiden. 4 Überstehende Drähte können auch die Muskulatur irritieren und zu Bewegungsschmerzen führen. 4 Eine seltenere Komplikation ist das Durchschneiden der Drähte durch den Knochen.
7.3
Schraubenosteosynthese
7.3.1
Prinzip
Schraubenosteosynthesen werden in der Regel als Zugschrauben bei gelenkbeteiligenden Frakturen oder metaphysären Frakturen eingesetzt und zeigen gegenüber der Drahtosteosynthese eine erheblich höhere Stabilität. Zur Schonung des Knochen, der Fugen und des Gelenkknorpels sollten diese bei geschlossenem Vorgehen über einen Draht als kanülierte Schrauben eingebracht werden, da man über die radiologische Kontrolle des Drahtes die Platzierung ohne aufzubohren erreichen kann. Idealerweise werden heute kanülierte, selbstbohrende und selbstschneidende Schrauben eingebracht, so dass meist keine Bohrer mit Hitzeentwicklung verwendet werden müssen. Wegen der raschen Knochenheilung sollten die als Zugschrauben konzipierten Schrauben auch über ein rückschneidendes Gewinde verfügen, da ansonsten bei der Metallentfernung häufig die Schraube am Gewindebeginn abbricht.
105 7.4 · Plattenosteosynthesen
7.3.2
Indikationen
Offene und geschlossene metaphysäre Frakturen mit ausgebrochenen Keilen (Aitken I), epipyhsäre Frakturen mit Gelenkdehiszenzen (Aitken II und III), Übergangsfrakturen, Gelenkfrakturen aller Art, Skaphoidfrakturen (spezielle Doppelgewindeschraube). Zu den typischen Lokalisationen gehören die proximale und distale Tibia (. Abb. 7.3), der Kondylus radialis, der Epikondylus ulnaris, Schenkelhalsfrakturen sowie die Handwurzel, die Finger und der Fuß.
7.3.3
schwellung nicht zuletzt zur Schmerztherapie. Stabile Osteosynthesen, z. B. bei Übergangsfrakturen oder AitkenFrakturen an der distalen Tibia, können auch funktionell mit Abrollbelastung von 10 kg für 4 Wochen und anschließendem Belastungsaufbau bis zur 6. Woche nachbehandelt werden. Metallentfernung: Die Schraubenosteosynthesen sollten zwischen dem 3. und 6. Monat postoperativ entfernt werden. Späteres Entfernen erschwert die Entfernung wegen Überknöcherung und solidem Einwachsen teilweise erheblich, so dass es zu einer höheren Rate an Schraubenbrüchen kommen kann.
Durchführung 7.3.5
4 Vor der Schraubenosteosynthese muss die Fraktur anatomisch reponiert werden, was je nach Lokalisation geschlossen unter radiologischer Kontrolle erfolgen kann oder offen über eine Darstellung der Fraktur. 4 Anschließend wird je Schraube ein Spickdraht in der Größe des Innendurchmessers der Schraube (meist 1,4 mm) quer zur Frakturlinie eingebracht, der entweder gerade die Gegenkortikalis perforiert oder in der Spongiosa zur Schonung der Gelenkfläche vor der Kortikalis zu Liegen kommt. Anschließend Ausmessen des Überstandes der bekannten Drahtlänge und Einbringen der Schraube als Zugschraube. Je nach Kortikalisstärke kann auch eine Unterlagscheibe mitverwendet werden. Bei fehlender selbstbohrender Schraube muss zuvor ein Gleitkanal gebort werden, um dann eine durchgehende Gewindeschraube zu verwenden. Übliche Durchmesser der Schrauben sind in . Tab. 7.2 angegeben
7.3.4
Nachbehandlung
Die meisten Schraubenosteosynthesen erfordern zumindest eine Gipsruhigstellung bis zur Wundheilung und Ab-
Komplikationen
4 Zu tiefes Eindrehen der Schraube durch die Kortikalis, daher Bildwandlerkontrolle und ggf. Unterlegscheibe verwenden 4 Abbrechen der Schraube bei der Metallentfernung, so dass das Gewinde belassen werden muss 4 Überknöchern der Schraube bei zu später Metallentfernung mit erhöhter Schraubenbruchgefahr
7.4
Plattenosteosynthesen
Konventionelle Plattenosteosynthesen sind im Kindesalter praktisch vollkommen durch minimal-invasive Verfahren verdrängt worden. Erst ab dem Adoleszentenalter werden die neueren, biologischen Osteosynthesen mit winkelstabilen Implantaten bei ausgewählten Indikationen verwendet. Der Grund hierzu liegt in der in aller Regel größeren Freilegung der Frakturen für die Plattenosteosynthesen, die verbunden ist mit einer größeren Gefahr von Durchblutungsstörungen des wachsenden Knochens und einer bekannten höheren Infektrate. Zwischenzeitlich haben sich jedoch einige Indikationen herausgestellt, die beim Heranwachsenden für eine Plattenosteosynthese sprechen, wobei hier moderne Titanimplantate zur Infektreduktion, flache Profile zur Minimierung der Weichteilirritationen und die Möglichkeit zur Verwendung von winkelstabilen Schrauben zur Schonung des Periostes im Sinne eines Fixateur interne verwendet werden sollten.
. Tab. 7.2 Schraubendurchmesser Schenkelhals
5,0–7,5 mm
Femur distal, Tibia proximal
3,5–5,0 mm
Tibia distal, oberes Sprunggelenk, Ellenbogen, Radius, Fuß
2,5–5,0 mm
Finger
1,5–2,0 mm
7.4.1
Prinzip
Plattenosteosynthesen fixieren Frakturen der Kortikalis im Sinne extramedullärer Kraftträger. Die modernen Platten sind Low-contact-Platten, die möglichst wenig Druck auf das Periost ausüben und die Durchblutung weniger beein-
7
106
Kapitel 7 · Grundlagen der operativen Frakturbehandlung
7
a
b
c
d
. Abb. 7.3a–d Aitken-II-Fraktur der distalen Tibiaepiphyse mit Dislokation. a,b Unfallbilder. c,d Verschraubung innerhalb der Epiphyse mit kanülierter, selbstbohrender, selbstschneidender Schraube,
nachdem der Draht radiologisch auf korrekte Stellung überprüft wurde
107 7.4 · Plattenosteosynthesen
trächtigen sollen. Die Verwendung von Titan soll die Infektanfälligkeit und Bioverträglichkeit verbessern, wobei die modernen Platten-Schraubensysteme sich auch durch Winkelstabiltät über ein in der Platte verankerndes zweites Gewindesystem auszeichnen. Direkte Kompressionsplattenosteosynthesen am Schaft sind im Wesentlichen durch biologische überbrückende Plattenosteosynthesen ersetzt worden, die das Frakturhämatom als Basis für die Frakturheilung nicht ausräumen.
7.4.2
Indikationen
Eine zunehmende Indikation stellen die Frakturen am Übergang vom metaphysären zum diaphysären Radius bei über 10- bis 12-jährigen Kindern dar. Diese Lokalisation erlaubt meist keine stabile Spickdrahtosteosynthese nach Reposition einerseits und andererseits ist das Korrekturpotenzial nicht mehr ausreichend, um Abweichungen über 20° im weiteren Wachstum noch auszugleichen. Des Weiteren können in Einzelfällen anatomische Rekonstruktionen der Gelenkachsen bei gelenknahen Frakturen, z. B. des distalen Femur oder der Tibia beim Adoleszenten erforderlich sein. Bei zu engem Markraum oder anatomischen Besonderheiten oder in Sondersituationen ist auch eine überbückende biologische Plattenosteosynthese bei Schaftfrakturen vor allem des Femur indiziert, wenn eine ESIN aus anatomischen Gründen nicht mehr durchgeführt werden kann.
Ziel dieses Verfahrens ist es, die Frakturzone soweit als möglich »in Ruhe« zu lassen, um Frakturhämatom, noch durchblutete Fragmente und Weichteile nicht weiter zu denudieren. Hieraus erklärt sich auch, dass nicht alle Fragmente anatomisch eingepasst werden können, sondern Achse, Länge und Rotation korrekt eingestellt werden müssen. Vor allem am distalen Radius kann eine palmare Plattenosteosynthese bei über 10- bis 12-jährigen Kindern indiziert sein. In diesen Fällen kann eine winkelstabile Platte, z. B. 2,4 oder 3,5 mm distale Radiusplatte, noch vollständig metaphysär verankert werden, so dass die Wachstumsfuge nicht beteiligt wird (. Abb. 7.4).
7.4.4
Die Nachbehandlung an der unteren Extremität erfordert neben Drainagenzug und Wundkontrollen vor allem eine Teilbelastung bis zur radiologischen Frakturheilung nach ca. 6–12 Wochen. Am distalen Radius ist eine kurzfristige Ruhigstellung zur Abschwellung ausreichend und kann anschließend funktionell weiterbehandelt werden. Metallentfernungen nach Diaphysenfrakturen vor allem an der unteren Extremität sollten erst nach einem Jahr erfolgen, bei der meta-diaphysären Radiusfraktur kann dies bereits nach 3 Monaten geschehen.
7.4.5 7.4.3
Durchführung
4 Überbrückende biologische Plattenosteosynthesen werden überwiegend am Femur, aber auch in Einzelfällen an der Tibia durchgeführt. Dabei werden sowohl proximal als auch distal Haut und Faszie eingeschnitten und mit dem Raspartorium auf dem Periost das Plattenlager etwas freigemacht. 4 Zuvor muss jedoch durch Lagerung und indirekte Manöver die Fraktur korrekt in Achse, Länge und Rotation eingestellt und gehalten werden. 4 Die Low-contact-Titanplatte wird anschließend getunnelt über die Fraktur geschoben und proximal und distal mit Schrauben fixiert. Diese können, müssen aber keine winkelstabilen Schrauben sein. Einige der Schrauben können über zusätzliche Stichinzisionen perkutan eingebracht werden. 4 Plattenlage und Schraubenlängen werden radiologisch kontrolliert.
Nachbehandlung
Komplikationen
4 Frühkomplikationen sind Hämatome und Wundheilungsstörungen. 4 Als Spätkomplikationen sind vor allem verzögerte Frakturheilungen oder gar Pseudarthrosenbildungen zu erwähnen, die auch im Kindesalter vorkommen können. 4 Schrauben- oder Plattenbrüche sind Raritäten bei ausbleibender Heilung, Schwierigkeiten bei der Metallentfernung durch Kaltverschweißung winkelstabiler Schrauben oder Schraubenbrüche sind jedoch möglich, worüber mit aufgeklärt werden sollte.
7
108
Kapitel 7 · Grundlagen der operativen Frakturbehandlung
7
a
b
c
. Abb. 7.4a–d Plattenosteosynthese am distalen Radius proximal der Wachstumsfuge, um eine Verstärkung der Dorsaldislokation zu
7.5
Elastisch stabile intramedulläre Nagelung
7.5.1
Prinzip
> Unter elastisch-stabiler intramedullärer Nagelung (ESIN) versteht man primär eine Stabilisierung diaphysärer Schaftfrakturen nach einem intramedullären Verklemmungsprinzip.
Die verwendeten Nägel sind elastisch und können über einen minimalen Zugang eingebracht werden, wobei 2 gegenüberliegende Nägel über eine 3-Punkt-Abstützung eine teilweise übungsstabile Osteosynthese erlauben (. Abb. 7.5). Dabei müssen die Nägel vor dem Einbringen vorgebogen werden, um die elastischen Rückstellkräfte wirken zu lassen. Mit diesem Verfahren soll eine Reposition und Stabilisierung von Länge, Achse und Rotation
d verhindern. a,b Unfallbilder. c,d Plattenlage ohne Beteiligung der Wachstumsfuge
erreicht werden, wobei dies meist im Sinne einer biologischen Osteosynthese ohne direkte Darstellung der Fraktur erreicht werden kann. Das Verfahren ist im Kindesalter bis zu einem Körpergewicht von ca. 60 kg bei allen Röhrenknochen durchführbar, soweit es sich um Queroder kurze Schrägfrakturen handelt. Bei längeren Spiralfrakturen besteht die Gefahr eines Teleskopings, was durch die Verwendung von Endkappen vermieden werden kann. Die verfügbaren elastischen Nägel sind jedoch auch bei proximalen und distalen Frakturen, vor allem des Humerus und des Femur einsetzbar, wobei jedoch hier nicht mehr das Prinzip der elastischen Verklemmung zum Tragen kommt, sondern die Abstützfunktion der Nägel bei ausreichender Stabilität hinsichtlich einer Bewegungsoder Übungsstabilität. Die Nägel werden weiterhin zur Aufrichtung von Fragmenten oder zur Schienung von Frakturen verwendet, ohne das klassische 3-Punkt-Abstützungskonzept umzusetzen.
109 7.5 · Elastisch stabile intramedulläre Nagelung
schnittes entsprechen sollte. Die Nägel werden vor Einbringen auf mindestens den 3-fachen Durchmesser des Markraumes vorgebogen, wobei der Scheitelpunkt der Frakturhöhe entsprechen soll. 4 Die Nägel werden über eine Inzision der Haut und eine schräge Eröffnung des Markraumes mit einem Pfriem in den Markraum eingeführt. Dabei empfiehlt es sich, beide Nägel, die meist von einer gegenüberliegenden Inzision eingeführt werden, bis zur Fraktur vorzuschieben. 4 Nach deren Reposition werden die Nägel vorgeschoben und metaphysär verankert, wobei darauf zu achten ist, dass sie in Höhe der Fraktur sich auf der inneren Gegenkortikalis abstützen. 4 Die überstehenden Nägel werden auf 1–1,5 cm gekürzt und ggf. mit einer in die Kortikalis eingedrehten Endkappe abgestützt (bei fehlender Abstützung der Frakturenden).
a
b
. Abb. 7.5a,b Elastische Verklemmung als Konzept der ESIN. a Bei Zugang über gegenüberliegende Kortikalis (Regelfall). b Bei lateralem Eintritt, was eine Doppelkrümmung eines Nagels erfordert
7.5.2
Indikationen
Die Hauptindikationen zur 3-Punkt-Abstützung sind Frakturen des Humerusschaftes, des Femur und der Tibia (. Abb. 7.5 und . Abb. 7.6). Darüber hinaus gilt die Stabilisierung von Unterarmfrakturen mit je einem vorgebogenen Nagel in Radius und Ulna als elastisches Aufspannen über die Membrana interossea. Proximale und distale Schaftfrakturen des Humerus und des Femur können über antegrade oder retrograde ESIN abgestützt werden. Dislozierte Radiushalsfrakturen sind über einen retrograden ESIN gut zu reponieren und zu retinieren. Klavikulafrakturen wie auch Mittelhandfrakturen können mit kleineren Durchmessern ebenfalls aufgefädelt werden.
7.5.3
Durchführung
Als Implantate verwendet man elastische Nägel aus Titan oder alternativ aus Stahl. Die Spitzen können abgebogen und relativ scharf sein oder alternativ stumpf. Die üblichen Durchmesser reichen von 2–5 mm, wobei der augewählte Durchmesser etwa einem Drittel des Markraumquer-
Die Durchführung der ESIN einer Querfraktur wird in . Tab. 7.3 illustriert und kommentiert. Bei proximalen Frakturen an Humerus und Femur werden die Nägel ebenfalls verklemmt, jedoch in das Tub. maj. bzw. den Troch. maj. einerseits und den Humeruskopf bzw. den Schenkelhals andererseits vorgetrieben. Dabei sollten die Fugen nicht verletzt werden, bis auf die sehr proximalen Frakturen, die anders keinen Halt ergeben. Ein einmaliges Perforieren scheint nach bisheriger Erfahrung keinen bleibenden Schaden zu hinterlassen; gleichwohl sollten diese Fälle gering gehalten werden. Bei distalen Frakturen wird entsprechend umgekehrt vorgegangen, wobei hier die beiden Nägel von der lateralen Seite her über eine Inzision zwei separate Bohrlöcher eingebracht werden. Um dennoch einen komplementären Verlauf zu erreichen, muss einer der Nägel eine S-förmige Doppelbiegung erhalten (. Abb. 7.5). Zur Wahrung der physiologischen Kurvatur der Schaftknochen sollten beim Femur wie auch bei der Tibia die Nagelenden nach dorsal zeigen.
7.5.4
Nachbehandlung
Femurschaft, Tibia- und Humerusfrakturen werden ohne zusätzliche Ruhigstellung nachbehandelt, wobei prinzipiell am Unterschenkel bei gleichzeitiger Fibulafraktur für die ersten Tage eine Gipsschiene zur Schmerztherapie sinnvoll sein kann. Unterarmfrakturen können prinzipiell auch ohne additive Ruhigstellung behandelt werden. Zur initialen Schmerzbekämpfung und Verbesserung der Beweglichkeit empfiehlt sich jedoch für die erste Woche oft eine Oberarmgipsschiene in Supination des
7
110
Kapitel 7 · Grundlagen der operativen Frakturbehandlung
7
a
b
c
. Abb. 7.6a–c Femurspiralfraktur mit erheblicher Dislokation. a Unfallbild. b,c Retrograde ESIN mit Verklemmungsprinzip
Unterarms, nicht zuletzt zum Aufspannen der Membrana interossea. Nach initialer Teilbelastung kann die Belastung bei Querfrakturen frühzeitig erfolgen, während sie bei Schrägund Spiralfrakturen erst nach 4–6 Wochen und beginnender radiologischer Konsolidierung erfolgen sollte. Die Metallentfernung soll erst nach radiologischer vollständiger Überbauung der Fraktur vorgenommen werden, also nach 4–8 Monaten. Reine Abstützungen, wie beispielsweise bei der Radiuskopffraktur können auch nach 3–4 Monaten bereits entfernt werden.
7.5.5
Komplikationen
Die ESIN stellt ein hervorragendes, minimal-invasives, biologisch angelegtes Operationsverfahren im Kindesalter dar, sie erfordert jedoch eine präzise technische Durchfüh-
rung und kann andernfalls in den verschiedenen Versorgungsphasen zu mannigfachen Komplikationen führen. 4 Die allgemeinen Komplikationen wie Wundheilungsstörungen oder Knocheninfektionen sind selten, wenn auch nicht ausgeschlossen. Wundheilungsstörungen entstehen am ehesten durch zu stark umgebogene oder überstehende Nägel, die die Weichteile, den Tractus ileotibialis am Femur oder den R. superficialis nervi radialis irritieren. Ein Herausrutschen der Nägel resultiert am ehesten durch ein Teleskoping bei zu früher Belastung nicht abgestützter Frakturen und kann durch eine Endkappe oder ein alternatives oder additives Verfahren (Fixateur externe) vermieden werden. 4 Achsabweichungen können bei zu dünnen Nägeln entstehen, die eine Reposition nicht ausreichend sichern können. Aber auch die nicht parallele Höhe der Nageleintrittsstellen, das unzureichende Vorbiegen der Nägel
111 7.5 · Elastisch stabile intramedulläre Nagelung
. Tab. 7.3 Ablauf einer typischen elastisch stabilen intramedullären Marknagelung nach Lagerung und geschlossener Reposition einer Femurquerfraktur Stichinzision über der Eintrittsstelle. Diese befindet sich ca. 2 cm oberhalb der distalen Wachstumsfuge. Durchtrennen der Faszie. Darstellung der Kortikalis. Bildwandlerkontrolle. Schräge Eröffnung des Markraumes mit dem Pfriem, ohne die Gegenkortikalis zu verletzen.
Bestimmung des Nageldurchmessers (1/3 des Markraumquerschnittes) und Vorbiegen auf mindestens das 3-Fache des Markraumquerschnittes.
Einbringen des ersten Nagels in den Markraum und Vorschieben bis zur Fraktur. Falls diese sicher retiniert ist, kann er auch ganz vorgeschoben werden bis zur proximalen Metaphyse. Der Nagel kann dabei zum Finden des richtigen Weges gedreht oder rotiert werden, wobei dieser mit Hammerschlägen auf das Halteinstrumentarium vorgebracht wird.
Einbringen des 2. Nagels von der gegenüberliegenden Seite in gleicher Weise und Vorschieben ohne jedoch eine Verwicklung der beiden Drähte zu verursachen.
Verankerung der beiden Nägel in der proximalen Metaphyse, so dass die 3-Punktabstützung beider Nägel gewährleistet ist. Die Spitzen dürfen die Kortikalis dabei nicht perforieren. Nach klinischer und radiologischer Kontrolle von Achse, Länge und Rotation sowie der Implantatlage werden die Nägel leicht umgebogen und mit dem Schneideinstrumentarium gekürzt und auf ca. 1 cm Überstand nachgeschlagen. Anschließend Wundverschluss.
oder das zu weite Einschlagen mit Perforation der Kortikalis können zu unbefriedigenden Ergebnissen führen. 4 Technisch kann es zu einem Korkenzieher-Phänomen kommen, wenn sich die Nägel umeinanderwickeln und damit keine Abstützung mehr ermöglichen.
Zur Metallentfernung sind regelhaft größere Inzisionen als zum Einbringen erforderlich, da die Zange zum Fassen des Nagelendes kontrolliert eingebracht werden muss. Dies sollte bei der primären Operation schon berücksichtigt werden.
7
7
112
Kapitel 7 · Grundlagen der operativen Frakturbehandlung
7.6
Marknagelung
7.6.4
7.6.1
Prinzip
Marknagelungen sind in aller Regel nach wenigen Tagen belastungsstabil, so dass eine Aufbelastung innerhalb der ersten 4 Wochen möglich ist. Eine Thromboseprophylaxe ist beim Adoleszenten gewichtsadaptiert wie beim Erwachsenen notwendig.
Eine aufgebohrte oder unaufgebohrte Marknagelung im Kindesalter ist auf Grund der offenen Wachstumsfugen und Apophysen problematisch, da die Fugen hierdurch geschädigt werden können. Bei Adolszenten und Kleinkindern mit Adipositas oder entsprechender Körpergröße ist die Versorgung mit ESIN jedoch begrenzt, da sie keine ausreichende Stabiltät mehr gewährleistet. In diesen Fällen, möglichst jedoch ab Beginn des Fugenschlusses, ist die Marknagelung teilweise notwendig, was in Ländern mit höheren durchschnittlichen Körpergewichten bei Kindern auch regelmäßiger durchgeführt wird. Zwischenzeitlich gibt es jedoch bereits einen speziell für Jugendliche entwickelten Nagel für den Femur.
7.6.2
Komplikationen
4 Technische intraoperative Komplikationen bei suboptimaler Wahl des Eintritts- und Zielpunktes 4 Bei zu hohem Markraumdruck (kein forciertes Aufbohren oder Einschlagen) Gefahr der pulmonalen Einschwemmung bis hin zur Lungenembolie 4 Verzögerte Heilung bei statischer Verriegelung, daher noch 2–3 Monaten Röntgenkontrolle und ggf. Dynamisierung
Indikationen
Als Alternative zum Fixateur externe können Schaftfrakturen des Femur und der Tibia bei kräftigen, großen (ca. über 160 cm) oder adipösen Kindern (ca. über 60 kg) mit einem Marknagel stabilisiert werden. In Einzelfällen können auch Humerusfrakturen mit einem Marknagel versorgt werden.
7.6.3
7.6.5
Nachbehandlung
Durchführung
Die Durchführung entspricht der Marknagelung im Erwachsenenalter.
4 Korrekte Lagerung zur Durchleuchtung 4 Eröffnen des Markraumes 4 Einbringen des Führungsdrahtes (der zentriert proximal und distal liegen muss) 4 Vorsichtiges Aufbohren 4 Einbringen des Nagels 4 Poximale und distale Verriegelung – statisch oder dynamisch
Wegen des mit guter kräftiger Spongiosa ausgefüllten Markraumes sollte im Kindesalter eher vorsichtig aufgebohrt werden und bei Querfrakturen auf einen Überdruck im Markraum geachtet werden. Die Marknageldurchmesser sollten am Femur beim Kind klein (8–9 mm) gewählt werden und den Markraum nicht voll ausfüllen. Gleiches gilt für die Tibia und den Humerus.
7.7
Fixateur externe
7.7.1
Prinzip
Der Fixeur externe ist ein probates und häufig eingesetztes Verfahren bei Frakturen im Kindesalter. Er hat den Vorteil eines minimal-invasiven Verfahrens ohne Freilegung der Fraktur oder Denudierung von Fragmenten und einer geringen Narbenbildung. Kinder kommen meist erstaunlich gut mit einem Fixateur externe zurecht und die Pflege ist bei entsprechender Anleitung unproblematisch. Bei der Auswahl der Schanz-Schrauben und des Fixateurrahmens ist auf kindgerechte Dimensionen zu achten. Der Fixateur externe kann als monolateraler Fixateur bei einfachen Frakturen, als V-förmiger Fixateur zur Erhöhung der Stabilität oder als Ringfixateur bei komplexeren Rekonstruktionen verwendet werden.
7.7.2
Indikationen
Instabile, mehrfragmentäre oder Trümmerfrakturen von Oberschenkel- und Unterschenkel sind gute Indikationen für einen Fixateur externe wenn sie nicht mehr stabil mit der ESIN versorgt werden können. Am Humerus ist die Indikation sehr zurückhaltend zu stellen wegen der Gefahr einer Nervus-radialis-Schädigung. Gelenknahe Schaftfrakturen sind weitere gute Indikationen für einen Fixateur externe, meist als T-förmig angelegten Fixateur, da in diesem Bereich weder die ESIN noch eine Draht- oder Schraubenosteosynthese ausreichend sind. Isolierte Tibiafrakturen bei intakter Fibula sind Indikationen für eine
7
113 7.7 · Fixateur externe
temporäre Längenkorrektur der Tibia, um einen Varus des Unterschenkels zu vermeiden (. Abb. 7.7). Der Fixateur externe eignet sich darüber hinaus als schnelle Versorgungsmöglichkeit zahlreicher Frakturen beim Polytrauma und bei höhergradig offenen Frakturen mit Weichteilschaden. Einen weiteren Indikationsbereich stellen die sekundären Rekonstruktionen dar, wie die Ulnaverlängerung nach Monteggia-Verletzungen oder Achskorrekturen nach fehlverheilten Ellenbogenfrakturen sowie Resektion bei Pseudarthosen oder Tumoren.
7.7.3
4 Die reponierte Fraktur kann über eine Doppellängsstange stabilisiert werden, meist ist jedoch eine Verbindung über 3 Längsträger einfacher und zur Reposition notwendig. Zur Reposition und anschließenden Fixierung eignen sich insbesondere die modernen Verbindungsbacken, da hierbei die Fraktur unter Bildwandlersicht exakt eingestellt werden kann und die Verbindungsbacken rasch komplett fixiert werden können.
Zur Erhöhung der Stabilität des Rahmens sind teilweise eine V-förmige Anordnung oder ein Rahmenfixateur sinnvoll. Alternativ können auch Ringfixateure verwendet werden, die mit kleineren, gespannten Drähten arbeiten und eine deutlich höhere Stabilität aufweisen. Diese ist insbesondere bei Überbrückung von Defekten, größeren Verlängerungen oder Korrekturen notwendig.
Durchführung
4 In Anästhesie im Operationssaal nach Lagerung und Reposition der Fraktur werden über ausreichend weite Stichinzisionen und die Verwendung von Führungshülsen die Schanz-Schrauben bis gerade über die Gegenkortikalis eingedreht. Dies sollte per Hand erfolgen, um keine Hitze oder Knochenschädigung hervorzurufen. Des Weiteren ist beim Eindrehen darauf zu achten, dass keine Weichteile mit aufgewickelt werden. 4 Mindestens 2, teilweise 3 Pins sind proximal und distal einzubringen bei monolateraler Versorgung. 6
a
b
c
. Abb. 7.7a–g Distale Tibiaschrägfraktur bei intakter Fibula. a Unfallbild. b–e Reposition und Fixation mit Fixateur externe, Monotube
7.7.4
Nachbehandlung
Die Fixateur-Eintrittsstellen dürfen am Ende der Operation nicht zu eng sein oder die Haut spannen, da dies keinen Sekretabfluss erlaubt und Pintraktinfektionen fördert. Das Säubern der Pineintrittsstellen und Verbinden kann meist den Eltern übertragen werden, wobei wöchentliche Kontrollen sich dennoch empfehlen.
d
e
f
g
und Kohlefasergestänge. f, g Ausheilungsergebnis nach Metallentfernung
114
Kapitel 7 · Grundlagen der operativen Frakturbehandlung
Während der Verbandswechsel sollten die Verbindungsbacken nachgezogen und im Verlauf Röntgenkontrollen durchgeführt werden. Nach radiologischer Konsolidierung kann der Fixateur externe in Analgosedierung und bei großen Kindern auch mit reiner Schmerzmedikation entfernt werden. Die Pinstellen heilen anschließend rasch ab.
7.7.5
7
Komplikationen
4 Pintraktinfektionen treten am ehesten auf und sind mit entsprechender Pflege zu beherrschen. Nur selten sind Nachinzisionen oder ein Pinwechsel erforderlich. 4 Sekundäre Dislokationen können oftmals durch Korrektur des Fixateur externe behoben werden, oder durch Ergänzung besser stabilisiert werden. 4 Refrakturen treten vor allem bei zu früher Entfernung des Fixateur externe auf oder bei Infektionen, während Pseudarthrosen selten sind. > Bei komplexeren Rekonstruktionen ist von vorneherein auf erforderliche Korrekturen und Anpassungen im weiteren Verlauf hinzuweisen.
7.8
Fixateur interne und Wirbelkörperersatz
Die meisten Wirbelfrakturen im Kindesalter sind stabile Kompressionsfrakturen, die konservativ und funktionell behandelt werden. Instabile Verletzungen müssen jedoch analog wie beim Erwachsenen klassifiziert und behandelt werden. Bei einer operativen Wirbelsäulenstabilisierung kommen dementsprechend meist die dorsalen SchraubenStangensysteme ggf. mit etwas kleineren Durchmessern zum Einsatz. Die ventrale Ausräumung von Bandscheiben oder zerstörten Wirbelkörpern muss in wenigen, meist adoleszenten Fällen mit winkelstabilen Plattensystemen und tricorticalen Spänen oder im Einzelfall durch einen Wirbelkörperersatz aus Titan erfolgen. Bis auf die Größendimensionen werden die operativ zu versorgenden Frakturen der Wirbelsäule somit analog wie beim Erwachsenen versorgt.
Literatur Dietz HG, Schmittenbecher PP, Slongo Th, Wilkins KE (2006) Elastic stable intramedullary nailing (ESIN) in children. AO Publishing, Davos Kaiser MM, Kamphaus a, Massalme E, Wessel LM (2008) Gekreuzte Kirschner-Draht-Osteosynthese der suprakondylären Humerusfraktur bei Kindern. Oper Orthop Traumatol 20:297–309 Kiderlen S, Schlickewei W (2008) Operationsverfahren bei intraartikulären distalen Humerusfrakturen im Wachstumsalter. Oper Orthop Traumatol 20: 423–434 Laurer H, Sander A, Wutzler S, Walcher F, Marzi I (2009) Thrapieprinzipien distaler Unterarmfrakturen im Kindesalter. Chirurg 80:1042–1052 Maier M, Marzi I (2008) Die elastisch-stabile Marknagelung der Femurfraktur beim Kind. Oper Orthop Traumatol 20:364–72 Marzi I (2010) Kindertraumatologie, 2. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Schlickewei W, Bonetta M, Oberle M (2008) Operative Therapie der kniegelenknahen Epiphyseolyse. Oper Orthop Traumatol 20: 387–395 Schmittenbecher PP (2008) Osteosynthesen am proximalen Unterarm im Kindesalter. Oper Orthop Traumatol 20: 321–333 Schneidmueller D, Marzi I (2008) Die operative Behandlung von Übergangsfrakturen der distalen Tibia. Oper Orthop Traumatol 20:354–63 Slongo Th (2008) Antero- und retrograde elastisch-stabile Markraumschienung (ESIN) bei Humerusfrakturen im Kindesalter. Oper Orthop Traumatol 20:373–386 Von Laer l (2008) Frakturen und Luxationen im Wachstumsalter, 4. Aufl. Thieme, Stuttgart 2001 Weinberg A-M, Casteallani C, Amerstorfer FM (2008) Elastisch-stabile intramedulläre Marknagelung (ESIN) von Unterarmfrakturen. Oper Orthop Traumatol 20: 285–296
II
Höhlenverletzungen und Frakturen des Stammskeletts Kapitel 8
Schädel-Hirn-Trauma S. Berger
– 117
Kapitel 9
Thoraxtrauma H.G. Dietz
Kapitel 10
Abdominaltrauma J. Lieber, J. Fuchs
Kapitel 11
Polytrauma und Mehrfachverletzungen P. Schmittenbecher
Kapitel 12
Wirbelsäulenverletzungen P.F. Heini
Kapitel 13
Beckenverletzungen – 223 K. Nowack, W. Schlickewei
– 139
– 153
– 193
– 181
8
Schädel-Hirn-Trauma S. Berger
8.1
Klassifikation
– 118
8.2
Anatomische und physiologische Besonderheiten im Kindesalter – 119
8.3
Pathophysiologie
– 119
8.3.1 Häufigkeit – 120 8.3.2 Sozioökonomische Bedeutung
8.4
Ursachen
8.5
Erstversorgung
8.6
Diagnostik
8.7
Therapieindikationen
8.8
Therapieziel
8.9
Konservative Therapie
– 121
– 121 – 121
– 121 – 130
– 131 – 131
8.9.1 Leitlinie für die Behandlung des schweren SHT 8.9.2 Therapien der 1. Wahl – 132 8.9.3 Therapien der 2. Wahl – 134
8.10 Operative Therapie
– 134
8.11 Kontrollen und Nachbehandlung 8.12 Ergebnisse und Prognose
– 136
– 136
8.13 Intra- und postoperative Komplikationen 8.14 Prophylaxe Literatur
– 137
– 137
– 132
– 136
118
8
Kapitel 8 · Schädel-Hirn-Trauma
Das Schädel-Hirn-Trauma (SHT) ist im Kindesalter eine sehr häufige Verletzung. Leichte SHT überwiegen hierbei und führen insbesondere bei kleinen Kindern oft zu einer Hospitalisation. Schwere SHT sind in den letzten Dekaden dank verbesserter Präventionsmaßnahmen (Rückhaltesysteme im Auto, Helme) deutlich seltener geworden. Die Letalität des SHT insgesamt ist bei Kindern niedrig, die Letalität des schweren SHT jedoch weiterhin hoch bei ca. 30% (Pfenninger u. Santi 2002). Leichte SHT bedürfen einer Überwachung in einer altersangemessenen Dauer und Intensität. Bleibende Defekte sind beim leichten SHT selten, vereinzelt sind die Kinder aber für einige Wochen bis Monate nach dem Trauma beeinträchtigt. Mittelschwere und schwere SHT bedürfen in der Regel einer bildgebenden Diagnostik, intensivmedizinischer Überwachung, nicht selten auch neurochirurgischer Therapie (Frakturhebung, Hämatomausräumung) und oft einer langwierigen Nachbetreuung. Bleibende Defizite sind hier häufig (Martin u. Falcone 2008). > Schwere Schädel-Hirn-Verletzungen sind die häufigste traumabedingte Todesursache im Kindes- und jungen Erwachsenenalter.
8.1
Klassifikation
Die Beurteilung der Bewusstseinslage erfolgt mit Hilfe der Glasgow-Coma-Skala (. Tab. 8.1; GCS; Teasdale u. Jennett 1974). Es handelt sich hierbei vor allem um ein Instrument zur Einteilung des Schweregrades, aber auch zur Beurteilung des Verlaufes. Der prognostisch wichtigste Wert wird nach Abschluss der Maßnahmen zur initialen Stabilisierung erhoben (»post-resuscitation GCS«). Selbstverständlich sind therapeutische Maßnahmen, die zu einer Änderung des GCS führen (Intubation, Sedation, Relaxation), zusammen mit dem erhobenen GCS zu dokumentieren und bei der Interpretation zu berücksichtigen. Ältere Methoden zur Einteilung des Schweregrades eines SHT nach der Dauer der Bewusstlosigkeit und anderen Parametern sind verlassen worden. Bei Kleinkindern kommt ein spezieller pädiatrischer Score zur Anwendung, da sonst die verbalen und motorischen Äußerungen unterbewertet würden (. Tab. 8.2). Die Einteilung in die verschiedenen Schweregrade des SHT erfolgt nach dem Glasgow-Coma-Score (. Tab. 8.3).
. Tab. 8.1 Glasgow-Coma-Skala für ältere Kinder und Erwachsene Punkte
Augenöffnung
Verbale Antwort
Motorische Antwort
6
–
–
Befolgt Aufforderungen
5
–
Konversationsfähig, orientiert
Gezielte Schmerzabwehr
4
Spontan
Konversationsfähig, desorientiert
Ungezielte Schmerzabwehr
3
Auf Ansprache
Unzusammenhängende Worte
Beugeabwehr auf Schmerzreiz (Dekortikation)
2
Auf Schmerz
Unverständliche Laute
Strecksynergismen auf Schmerzreiz (Dezerebration)
1
Keine
Keine verbale Antwort
Keine Reaktion auf Schmerzreiz
. Tab. 8.2 Glasgow-Coma-Skala für Kleinkinder Punkte
Augenöffnung
Verbale Antwort
Motorische Antwort
6
–
–
Spontan, gezielt
5
–
Lächelt, reagiert auf Töne, verfolgt Objekte, interagiert
Wegziehen bei Berührung
4
Spontan
Weint, kann beruhigt werden, keine adäquate Interaktion
Wegziehen bei Schmerz
3
Auf Ansprache
Teilweise nicht zu beruhigen, jammernd
Flektion bei Schmerzreiz (Dekortikation)
2
Auf Schmerz
Nicht zu beruhigen, agitiert
Extension bei Schmerzreiz (Dezerebration)
1
Keine
Keine Antwort
Keine Bewegung
H.G. Dietz et al. (Hrsg.), Praxis der Kinder-und Jugendtraumatologie, DOI 10.1007/978-3-642-12935-3_8, © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2011
119 8.3 · Pathophysiologie
. Tab. 8.3 Glasgow-Coma-Score zur Einteilung des Schweregrades des SHT und Häufigkeitsverteilung der Schweregrade Schweregrad
GCS
Häufigkeit
Leichtes SHT
15–14
>90%
Mittelschweres SHT
13–9
Ca. 5%
Schweres SHT
8–3
<5%
Anatomische und physiologische Besonderheiten im Kindesalter
8.2
Der Kopf ist bei Säuglingen und Kleinkindern deutlich schwerer in Relation zum Körpergewicht, die Kopfhaltemuskulatur hingegen noch schwächer. Der Kopf ist deshalb bei Stürzen häufiger betroffen und es wirken relativ hohe Akzelerations- und Dezelerationskräfte auf das Gehirn ein. Die Elastizität des Schädelknochens ist in den ersten Lebensjahren höher. Während die Dura am Knochen stärker haftet, ist die Haftung der Galea auf dem Knochen geringer. Es treten deshalb weniger epidurale und mehr subgaleale Hämatome bei Kleinkindern auf als bei älteren Kindern und Erwachsenen. Offene Schädelnähte und Fontanellen dehnen sich in der Akutsituation eines schweren SHT nicht ausreichend schnell, um Raum für ein sich entwickelndes stärkeres Hirnödem zu geben. Bei einer langsamen Volumenzunahme im Schädel (Hydrozephalus) können hingegen die Nähte auseinanderweichen. Das Volumen, das akut aus den intrakraniellen Liquorräumen in den spinalen Liquorraum verschoben werden kann, ist bei kleinen Kindern deutlich geringer, da der Kopf im Verhältnis groß und der Rumpf kurz ist mit entsprechend geringem Volumen des Spinalkanals. Hinzu kommt, dass ein Hirnödem bei kleinen Kindern viel rascher auftreten kann (innerhalb weniger Stunden). Kleinkinder haben einen bis zu doppelt so hohen zerebralen Blutfluss (CBF, [ml/100 g Gewebe/min]) wie Er-
wachsene, was für einen hohen Sauerstoffbedarf des Gehirns im Wachstumsalter spricht. Kleinkinder können in intra- und extrakranielle (subgaleale) Hämatome ein beträchtliches Blutvolumen verlieren, so dass auch ohne Begleitverletzungen ein Volumenmangelschock mit Hypotension auftreten kann. Diese Zusammenhänge erklären, warum Kleinkinder eine schlechtere Prognose nach schwerem SHT haben als ältere Kinder und Erwachsene. Eine weitere Erklärung für die schlechte Prognose ist die in der Altersgruppe <2 Jahre hohe Rate an Kindesmisshandlungen als Ursache für ein schweres SHT.
8.3
Pathophysiologie
Parameter in der Pathophysiologie des Gehirns sind in . Tab. 8.4 aufgeführt. Das Gesamtvolumen der Schädelkapsel ist als feste Größe anzusehen (Monro-Kellie-Doktrin), wobei sich drei Kompartimente unterscheiden lassen: 4 Hirngewebe (85% des Volumens) 4 Zerebrales Blutvolumen (ca. 10% des Volumens) 4 Liquor (ca. 5% des Volumens) Das zerebrale Blutvolumen (CBV) ist abhängig von dem zerebralen Blutfluss (CBF) und dem zerebrovaskulären Widerstand (CVR). Bei intakter zerebraler Autoregulation wird die Perfusion des Hirngewebes über einen weiten Bereich (Erwachsene: 60–150 mmHg) des arteriellen Blutdruckes durch Vasoregulation konstant gehalten und entspricht somit dem Bedarf des Gewebes (. Abb. 8.1). Die Stoffwechselbilanz des Gewebes, ausgedrückt durch die zerebrale Sauerstoffmetabolisationsrate (CMRO2), ist damit ausgewogen. Ist die Autoregulation z. B. nach einem Trauma gestört, wird die Gewebsperfusion blutdruckabhängig. Hierdurch kann es bereits bei tief-normalen bis normalen Blutdrucken zu einer Unterversorgung des Gewebes kommen (Philip et
. Tab. 8.4 Pathophysiologische Parameter und ihre Einheiten Abkürzung
Parameter
Einheit
ICP
Intrakranieller Druck
mmHg
MAP
Mittlerer arterieller Blutdruck
mmHg
CPP
Zerebraler Perfusionsdruck
mmHg
CVR
Zerebrovaskulärer Widerstand
CBV
Zerebrales Blutvolumen
ml/100 g Gewebe
CBF
Zerebraler Blutfluss
ml/100 g Gewebe/min
Zusammenhang
CPP=MAP–ICP
CBF=CPP/CVR
8
120
Kapitel 8 · Schädel-Hirn-Trauma
. Abb. 8.1 Zerebrale Autoregulation des Blutflusses
8
al. 2009). Dieser Zusammenhang erklärt den starken Einfluss einer posttraumatischen Hypotension auf die Entstehung des Sekundärschadens und die damit verbundene Verschlechterung des Outcome, insbesondere in den ersten Stunden nach Trauma (Samant et al. 2008). Nimmt das Gehirn durch die Entwicklung eines Hirnödems mehr Raumanteil ein, geht dies zunächst zu Lasten des Liquorvolumens, das teilweise in den Spinalkanal verschoben werden kann. Wenn dieser Kompensationsraum aufgebraucht ist, geht in einem nächsten Schritt die Volumenexpansion des Gehirns zu Lasten des Blutvolumens – es kann zur Ischämie kommen. Klinischer Ausdruck dieses Zustandes kann das Auftreten von Plateauwellen in der intrazerebralen Druckmessung und eine sog. cushing response (Bradykardie, arterielle Hypertension) sein, d. h., es wird versucht, mit hohem Blutdruck das unter hohem Gewebsdruck stehende Gehirn mit Sauerstoff zu versorgen. Umgekehrt führt die Minderung des Perfu-
sionsdruckes in Arealen mit intakter Autoregulation zu einer Vasodilatation mit entsprechender Zunahme des zerebralen Blutvolumens und damit weiterer ICP-Erhöhung (. Abb. 8.2).
8.3.1
Häufigkeit
Leichte SHT sind vor allem bei Kleinkindern, die den aufrechten Gang erlernen, aber auch bei Kindern aller Altersgruppen aufgrund des großen Bewegungsdranges häufig. Schädel-Hirn-Traumen machen einen Großteil der Traumafälle auf einer pädiatrischen Notfallstation aus. Sie sind im Kindesalter ähnlich häufig wie alle Frakturen des Bewegungsapparates zusammen. Eine große Zahl von Kindern wird wegen eines SHT hospitalisiert. Die alterspezifische Fallzahl ist im Alter bis 15 Jahre etwa 2- bis 4-mal so hoch wie in den übrigen Altersgruppen (. Tab. 8.5 und Tab. 8.6). Dem gegenüber steht eine im Vergleich zum Erwachsenenalter niedrigere Rate an Todesfällen durch intrakranielle Verletzungen (5- bis 10-mal niedriger als im jungen Erwachsenenalter). Diesen Zahlen liegt zugrunde, dass
. Tab. 8.5 Altersspezifische Fallzahl (vollstationäre Behandlungen) von SHT (alle Schweregrade) je 100.000 Einwohner in Deutschland (Quelle: Statistisches Bundesamt)
. Abb. 8.2 Folgen eines Hirndruckanstieges: Verminderung des zerebralen Perfusionsdruckes (CPP), Verminderung des zerebrovaskulären Widerstandes (CVR), Zunahme des zerebralen Blutvolumens (CBV) und weitere Zunahme des intrakraniellen Druckes (ICP)
Altersgruppe
2005
2006
2007
Unter 15 Jahren
772
817
844
15 bis unter 45 Jahre
307
309
316
45 bis unter 65 Jahre
203
205
202
65 Jahre und älter
439
456
466
121 8.6 · Diagnostik
. Tab. 8.6 Todesfälle durch intrakranielle Verletzungen (ICD S06-) in Deutschland nach Altersgruppen, n-Zahlen für Altersgruppen Stand 31.12.2007 (Quelle: Statistisches Bundesamt) Altersgruppe
2005
2006
2007
Unter 5 Jahre (n=3.469.000)
45
40
43
5 bis unter 10 Jahre (n=3.802.300)
18
19
14
10 bis unter 15 Jahre (n=4.010.400)
30
32
26
15 bis unter 20 Jahre (n=4.613.000)
174
155
160
Alle Altersgruppen (n=82.217.800)
4.354
4.409
4.300
einerseits viele Kinder mit leichtem SHT in der Klinik vorgestellt werden (und viele Erwachsene eher nicht) und andererseits die aktive Teilnahme am motorisierten Straßenverkehr in dieser Altersgruppe noch fehlt.
8.3.2
Sozioökonomische Bedeutung
Die jährliche Gesamtinzidenz des SHT beträgt in Deutschland 332/100.000 Einwohner. Für Deutschland wurden Kosten infolge SHT von jährlich 2,8 Milliarden Euro hochgerechnet (Rickels et al. 2006).
8.4
Ursachen
In der Altersgruppe unter 2 Jahren überwiegen Stürze aus geringer Höhe und Anpralltraumen mit geringer Energie. Der genaue Unfallmechanismus ist zu erfragen und auf Plausibilität zu hinterfragen. Je kleiner das Kind (besonders wenn dieses <1 Jahr alt ist und wenn ein schweres SHT vorliegt), umso häufiger liegt eine Kindesmisshandlung (»battered child«) vor. Diese erfolgt bei Säuglingen (besonders gefährdet sind ehemals Frühgeborene, ebenso Kinder mit Fehlbildungen und Mehrlinge) meist durch ein Schütteln des ganzen Kindes, oft kombiniert mit einem Aufprall des Kopfes, weshalb man heute von einem shaken impact syndrome spricht. Nach oft mehrzeitiger Gewalteinwirkung entstehen subdurale Blutungen unterschiedlichen Alters (Abriss von Brückenvenen, später Hygrome) sowie Scherverletzungen der langen Nervenbahnen (diffuser Axonschaden, später eine diffuse Hirnatrophie). Morbidität und Mortalität sind bei dieser Form des SHT besonders hoch. Bei Kindern, die älter als 2 Jahre sind, sind Stürze aus größerer Höhe häufiger, sie verunglücken zunehmend
auch als Verkehrsteilnehmer (zu Fuß, per Fahrrad, als Autoinsasse).
8.5
Erstversorgung
Beim offenbar leichten SHT (Patient bei Ankunft wach, ansprechbar) ohne Begleitverletzungen ist die neurologische Beobachtung und ggf. das Monitoring des Patienten einzuleiten. Tritt rezidivierendes Erbrechen auf, kann die Infusion einer isotonen Kochsalzlösung die Symptomatik erleichtern. Beim schwereren SHT ist der Patient korrekt zu lagern (Oberkörper 30° hochgelagert, Kopf in Mittelstellung), mit einer Infusion und einem Monitoring (Pulsoxymeter, EKG, Blutdruck) zu versehen. Besteht ein GCS <9 oder eine respiratorische Insuffizienz, sind die Intubation und Sedation indiziert. Eine unkontrollierte Hyperventilation zur Erzeugung einer Hypokapnie ist zu vermeiden. Eine prophylaktische Gabe von Osmotika (Mannitol, hypertones NaCl) ist ebenfalls nicht sinnvoll. Die Osmotikagabe kommt im Rahmen der Erstversorgung allenfalls bei Einklemmungssymptomen in Frage. Die Gabe von hypoosmolaren Infusionslösungen (Ringer-Laktat) oder glukosehaltigen Infusionslösungen ist obsolet, isotone NaCl-Lösung sollte verwendet werden. > Kinder mit schwerem SHT sollen in ein Kinderzentrum mit pädiatrischer Intensivstation und Kinder- und/oder Neurochirurgie verlegt werden.
8.6
Diagnostik
Anamneseerhebung Der genaue Unfallhergang ist zu
erfragen. Es ist zu dokumentieren, ob und wie lange eine Bewusstlosigkeit vorgelegen hat. Oft besteht noch eine starke Müdigkeit und bei kleinen Kindern wird eine posttraumatische Schlafphase beschrieben. Wesensveränderungen, Übelkeit, Erbrechen, Amnesie, Schwindel, Sehstörungen (meist passager bestehend für wenige Stunden und mit guter Prognose) sind ebenfalls häufig. Ein epileptischer Anfall sofort nach dem Unfall ist bei Kindern nicht selten und hat eine gute Prognose. Er allein ist kein Grund für eine CT-Untersuchung oder die Durchführung eines EEG, auch nicht für die prophylaktische Gabe von Antiepileptika. Körperliche Untersuchung Die initiale Untersuchung
erfolgt nach dem Ablaufschema des ATLS. Die Stabilisierung von Atmung und Kreislauf steht vor einer bildgebenden oder neurologischen Diagnostik. Einen vorliegenden oder drohenden Volumenmangelschock zu erkennen und
8
122
8
Kapitel 8 · Schädel-Hirn-Trauma
zu behandeln, ist für die Prognose des Patienten mit schwerem SHT wichtiger als die schnellstmögliche Durchführung eines Schädel-CT. Die Beurteilung der peripheren Perfusion (Hautkolorit, Rekapillarisierungszeit) und der Herzfrequenz liefern einen guten Eindruck über die Kreislaufsituation, der beim Erwachsenen gebräuchliche Schockindex ist beim Kind nicht verwendbar. Bei der Beurteilung der Vigilanz sollte man sich nötigenfalls nicht scheuen, einen adäquaten Schmerzreiz zu setzen. Die postiktale Müdigkeit bedingt sonst u. U. einen niedrigen initialen GCS, damit erfolgt eine Überschätzung des Schweregrades des SHT und dies zieht nicht selten eine (unnötige) Schnittbilddiagnostik (CCT) nach sich. Die neurologische Untersuchung beinhaltet die Prüfung von Weite und Reaktion der Pupillen, Reflexstatus und Muskeltonus, die klinische Hirnnervendiagnostik, Beurteilung der Motorik und Sensibilität in der Körperperipherie sowie ggf. das Niveau der Fontanelle, sofern diese noch offen ist.
a
Labordiagnostik Beim Patienten mit schwerem SHT ist
eine komplette Labordiagnostik im Rahmen des Schockraumprotokolls erforderlich, d. h. Blutbild, Gerinnung, Elektrolyte, Glukose, Blutgruppenbestimmung sind mindestens zu fordern. Zur Diagnostik von Begleitverletzungen sind Leber-, Nieren- und Pankreaswerte sinnvoll. Prognostisch schlechte Faktoren sind das Vorliegen einer Gerinnungsstörung und einer Hyperglykämie. Ein Blutzucker >200 mg/dl ist mit einem schlechten Outcome assoziiert und bei einem initialen Blutzucker >300 mg/dl ist eine Letalität von 100% beschrieben (Cochran et al. 2003). Zur laborchemischen diagnostischen Unterscheidung eines leichten SHT von einer reinen Schädelprellung ohne intrakranielle Beteiligung wurde in den letzten Jahren das S-100-Protein evaluiert. Dessen Konzentration im Blut und Urin scheint auch bei Kindern gut mit dem Vorhandensein einer intrakraniellen Verletzung zu korrelieren. Das Protein wird bei einer Kontusion oder Zerstörung von Hirngewebe freigesetzt. Falls nur ein epidurales Hämatom vorliegt, kann der Wert falsch-negativ sein. Andere mögliche Neurotrauma-Indikatoren sind bisher in der Klinik nicht gebräuchlich. Schädelsonographie Bei noch offener großer Fontanelle ist die Diagnose eines größeren Hämatoms oder einer Mittellinienverlagerung sonographisch möglich, auch Schädelfrakturen können vom erfahrenen Untersucher gut sonographisch erfasst werden. Die transtemporale Schädelsonographie ist auch bei älteren Kindern oft möglich, diese ist jedoch weniger gut auflösend und erlaubt eine schlechtere Einsicht (hintere Schädelgrube kann nicht beurteilt werden) mit entsprechend höherem Fehlerpotenzial. . Abb. 8.3 zeigt Beispiele für sonographische Befunde bei intrakraniellen Hämatomen und Frakturen.
b . Abb. 8.3a,b Ultraschallbefunde bei Schädelfraktur. a Subarachnoidale Blutauflagerungen bei Schädelfraktur parietal. b Parietale Schädelfraktur
Schädelröntgenaufnahme Die Indikation zur Durchführung einer Schädelröntgenaufnahme wird kontrovers diskutiert und ist auf jeden Fall restriktiv zu stellen. Eine Schädelfraktur bringt ein erhöhtes Risiko für eine intrakranielle Verletzung mit sich und macht damit zumindest eine längere Überwachung notwendig (3–5 Tage). Die Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen einer Schädelfraktur ist hoch bei Vorliegen eines fluktuierenden Hämatoms, deutlicher Druckschmerzhaftigkeit einer Prellmarke oder einer tastbaren druckschmerzhaften Stufe. Wollen Behandler oder Eltern die risikoadaptierte Überwachung allein aufgrund der klinischen Symptome nicht intensivieren, ist eine Röntgenaufnahme im Einzelfall sinnvoll. Besteht der Verdacht auf eine Impressionsfraktur, ist immer eine Bildgebung indiziert, in der Regel durch ein kraniales CT. Ist eine Schädelröntgenaufnahme indiziert, so sollte diese als Schädelaufnahme in 2 Ebenen (⊥), nämlich anteroposterior und seitlich mit Anlegen der betroffenen Seite an
123 8.6 · Diagnostik
a
b
c . Abb. 8.4a–c Röntgenbefunde in Spezialaufnahmen des Schädels. a Towne-Aufnahme mit Okzipitalbeinfraktur rechts. b Nasenbein
seitlich mit dislozierter Nasenbeinfraktur. c Orbitazielaufnahme mit Orbitadachfraktur links
die Röntgenkassette, erfolgen. Zur Erfassung von Befunden am Os occipitale ist eine Aufnahme in seitlicher Projektion zusammen mit einer Hinterhauptsaufnahme nach Towne geeigneter. Befunde am Gesichtsschädel können oft mit einer gezielten Aufnahme besser erfasst werden: Orbitazielaufnahme, Nasennebenhöhlenaufnahme, Panoramaaufnahmen des Kiefers oder Korbhenkelaufnahmen des Jochbeins sind hier zu erwägen. Beispiele für solche Aufnahmen sind in . Abb. 8.4 und Abb. 8.5 dargestellt. Nicht sinnvoll ist es, erst eine konventionelle Röntgendiagnostik des Schädels zu veranlassen und anschließend
eine CT-Untersuchung durchzuführen. Oft kann eine Röntgendiagnostik, die der Fraktursuche dient, bis zum nächsten Morgen herausgezögert werden. Wenn der Patient ohnehin zur Überwachung im Krankenhaus bleibt, ändert die Diagnose einer Fraktur häufig nichts am Vorgehen in den ersten Stunden. Verschlechtert sich der Zustand, kann dann gleich ein CT erfolgen. Ist die Prellmarke am nächsten Morgen kleiner und kaum mehr schmerzhaft, kann die Röntgenuntersuchung entfallen. Die Interpretation von Schädelröntgenaufnahmen kann schwierig sein. Bewegungsartefakte, projektionsbe-
8
124
8
Kapitel 8 · Schädel-Hirn-Trauma
a
b
c . Abb. 8.5a–c Diagnostik von Kieferfrakturen. a ClementschitschAufnahme mit Kieferhalsfraktur links. b 3D-CT-Rekonstruktion des Unterkiefers: Kieferhalsfrakturen beidseits (links disloziert, rechts
nicht disloziert, Fraktur in Unterkiefermitte). c Orthopantomographie (OPT): Kieferköpfchenfraktur rechts
dingte Artefakte und Normvarianten können Frakturen vortäuschen oder verschleiern. Impressionsfrakturen können je nach Projektion der Röntgenbilder schwer zu erkennen sein (deshalb dann eher CT). . Abb. 8.6 zeigt Beispiele für solche Situationen. Ping-Pong-Ball-Frakturen können bei noch weicher Schädelkalotte und Einwirkung einer stumpfen Gewalt entstehen. Gerade bei Säuglingen, die auf den Hinterkopf stürzen, sind beidseitige parietale Kalottenfrakturen nicht selten, selten sind hingegen wachsende Frakturen, in die ein Duralappen eingeschlagen ist und die deshalb nicht abheilen, sondern ein Liquorkissen subgaleal entstehen lassen. Bei weit klaffenden Frakturen ist deshalb eine kli-
nische Kontrolle nach einigen Wochen sinnvoll und bei bestehendem Liquorkissen die weitere Bildgebung mit CT oder MRT zu veranlassen (. Abb. 8.7 und Abb. 8.8). CT des Schädels Ein GCS <14 bei der Ankunft oder eine
Verschlechterung des GCS im Verlauf unter 14 ist Indikation zur Durchführung eines Schädel-CT. Ebenfalls ist ein CT indiziert bei Vorliegen eines fokalen neurologischen Ausfalles sowie bei allen penetrierenden Wunden/offenen Schädelfrakturen und bei Verdacht auf Schädelbasisfraktur. Impressionsfrakturen und Mittelgesichtsverletzungen sollten ebenfalls primär per CT untersucht werden. In der Regel wird die primäre CT-Diagnostik des SHT als Nativ-
125 8.6 · Diagnostik
a
b
c
d
. Abb. 8.6a–d Probleme bei der Interpretation von Schädelröntgenaufnahmen. a Aufhellungslinie parietookzipital entsprechend einem Gefäßkanal. b Schaltknochen in der Sutura lambdoidea.
c Schädel a.p. mit Verdichtung links parietal, entsprechend einer Impressionsfraktur wie in der 3D-CT-Rekonstruktion (d) erkennbar
untersuchung durchgeführt, bei klinischem Verdacht auf das Vorliegen einer posttraumatischen Sinusvenenthrombose wäre eine Kontrast-CT-Untersuchung indiziert. Die Indikation zum CT ist bei Patienten mit GCS 14– 15 grundsätzlich eng zu stellen (Willis et al. 2008). Bei kleinen Kindern und Status nach frühem posttraumatischem Krampfanfall ist bei entsprechender engmaschiger Überwachung eine kurze Wartezeit vor Durchführung des CT vertretbar. Wenn der Patient in dieser Zeit rasch zu einem höheren GCS aufklart, kann die Untersuchung entfallen. Nicht wenige Kinder »erwachen« sonst unmittelbar nach dem CT. Die Strahlenbelastung durch ein Schädel-CT ist gerade für kleine Kinder beträchtlich und zieht eine rele-
vante Erhöhung des Malignomrisikos nach sich (Brenner u. Hall 2007). > Bei Hinweisen auf das Vorliegen eines mittelschweren oder schweren SHT (GCS, entsprechende Gewalteinwirkung, Begleitverletzungen) ist die CT-Untersuchung sofort indiziert.
Wird ein CCT beim bewusstlosen Patienten durchgeführt, sollte die Halswirbelsäule in gleicher Sitzung mit untersucht werden. Die CT-Untersuchung ist bei diesen Patienten dringlich, erfolgt aber erst nach Ausschluss eines Volumenmangels oder einer Hypoxie oder deren Ausgleich. Dies bedeutet, dass immer zuvor eine Abdomensonogra-
8
126
8
Kapitel 8 · Schädel-Hirn-Trauma
a
b
c
d
e . Abb. 8.7a–e Typische Röntgenbefunde von Schädelfrakturen bei Säuglingen. a, b 8 Monate alt, Ping-Pong-Ball-Fraktur. c, d 3 Monate alt, beidseitige parietale Kalottenfraktur. e, f CT-Befunde bei beid-
seitiger Kalottenfraktur bei einem Säugling. e Koronarschnitt. f 3D-Rekonstruktion
127 8.6 · Diagnostik
a
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phie bzw. eine Thoraxaufnahme durchgeführt wird. Falls hier eine signifikante Blutung oder eine Ventilationsstörung vorzuliegen scheinen, sollte zuerst das CT von Abdomen oder Thorax erfolgen, sofern nicht eine Spiral-CTUntersuchung simultan Kopf, Thorax und Abdomen erfassen kann. Im Verlauf der Behandlung eines schweren SHT werden nicht selten Verlaufsuntersuchungen benö-
b
. Abb. 8.8a–c Wachsende Fraktur bei 5 Monate altem Säugling. Aufnahmen 5 Tage nach Sturz von einem Tisch. a, b Röntgenaufnahme mit parietaler Kalottenfraktur links. Große fluktuierende Schwellung links parietal. c MRT, Hygrome frontal, großes Liquorpolster parietal links
tigt, wenn der GCS absinkt, neurologische Symptome auftreten oder eine Verbesserung ausbleibt. Dann ist ein MRT zu erwägen. Kontusionsherde, Blutungen und Hirnödemausmaß können im Verlauf deutlich zunehmen und dann ggf. eine Operationsindikation darstellen, auch wenn diese bei der initialen Untersuchung noch nicht gegeben war (. Abb. 8.9 und . Abb. 8.10).
8
128
Kapitel 8 · Schädel-Hirn-Trauma
8
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d
. Abb. 8.9a–d Typische CT-Befunde bei schwerem SHT. a Fokale Läsion. b Diffuses Hirnödem. c 8-jähriges Kind, epidurales Hämatom, Befund 2 Tage nach initial als leicht eingestuftem SHT. d 10-jähriges
Kind, subdurales Hygrom, Befund 6 Wochen nach SHT, anfangs als leicht beurteilt
129 8.6 · Diagnostik
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c
d
. Abb. 8.10a–d Typische CT-Befunde bei schwerem SHT. a 8-jähriges Kind, GCS 7, epidurales Hämatom in der hinteren Schädelgrube. b 2-jähriges Kind mit Fraktur des Os occipitale, Sprengung der
Lambda- und Koronarnaht, 3D-CT-Rekonstruktion. c CT-Befund bei Coup-Verletzung (parietookzipitale Fraktur). d CT-Befund bei Contre-coup-Verletzung (Kontusionsherd frontal)
8
130
Kapitel 8 · Schädel-Hirn-Trauma
MRT des Schädels Der Einsatz des MRT in der Initial-
diagnostik des SHT hat sich aufgrund der hohen Kosten, der langen Zeitdauer und der begrenzten Verfügbarkeit der Untersuchung nicht durchgesetzt. In der Verlaufsdiagnostik ist die MRT-Untersuchung jedoch ideal. Zur Feindiagnostik von Hirnläsionen (Hirnstammläsionen, »shearing injuries«) liefert sie deutlich mehr Aussagen als die CT-Untersuchung und ist zudem indiziert, wenn sich der Zustand eines Patienten verschlechtert oder die Klinik nicht dem CT-Befund entspricht.
8
EEG Die Elektroenzephalographie hat ebenfalls selten einen Platz in der Primärdiagnostik des SHT. Ist ein Sturzereignis unklar und besteht der Verdacht auf einen Krampfanfall als Sturzursache, kann ein EEG im Verlauf Klärung bringen. Beim schweren SHT kann eine frühzeitige Hirnstromuntersuchung helfen, fortgesetzte subklinische posttraumatische Krampfanfälle zu erkennen, die dann einer medikamentösen Behandlung bedürfen, während die einmalig kurz nach leichtem SHT auftretenden Krampfereignisse nicht antikonvulsiv therapiert werden. Eine (meist überflüssige) EEG-Diagnostik in den ersten 24 h nach leichtem SHT liefert häufig fragliche oder pathologische Befunde, die dann nachkontrolliert werden
. Abb. 8.11 Algorithmus zur Risikoabschätzung und Planung von Diagnostik und Therapie bei Kindern mit leichtem SHT (GCS 14–15) im Alter von unter und über 2 Jahren. Ergebnis einer internationalen
müssen. Ist das EEG jedoch nach 48 h bei klinisch unauffälligem Patienten auffällig, kann eine klinisch nicht erkennbare, aber durchaus relevante Blutung vorliegen. In der Hirntoddiagnostik nach schwerstem SHT wird das EEG ebenfalls benötigt.
8.7
Therapieindikationen
Leichtes SHT Die Indikation zur Therapie eines leichten SHT ergibt sich mit der Diagnose. Die Überwachung für 24–48 h ist ausreichend. Die stationäre Überwachung ist nur bei sehr kleinen Kindern oder beim Fehlen einer Möglichkeit zur zuverlässigen Überwachung durch die Eltern und zur kurzfristigen Wiedervorstellung (kein Auto, Wohnort weit entfernt) gegeben. ! Cave! Bei jedem Verdacht auf eine Kindesmisshandlung ist die Indikation zur stationären Aufnahme gegeben, schon um den Verdacht bestätigen oder entkräften zu können.
Zwischen Kindern unter und über 2 Jahren sollte unterschieden werden, da hier unterschiedliche Unfallmecha-
Konsensustagung (Berger et al. 2006). Die hellblau hinterlegten Felder markieren die Bereiche, über die kein Konsens erzielt werden konnte (Röntgenindikation, Dauer der Überwachung)
131 8.9 · Konservative Therapie
nismen, physiologische und anatomische Grundvoraussetzungen bestehen. Bei Kindern unter 2 Jahren wird weiterhin in mehrere Risikogruppen unterschieden, was den Ablauf von Diagnostik und Therapie definiert (. Abb. 8.11; Vernet et al. 2004). Mittelschweres und schweres SHT Die stationäre Behandlung ist in allen Fällen indiziert. Je nach Schwere wird sie auf der Normal- oder Intensivstation erfolgen. GCSVerlauf und Befunde der Schnittbilddiagnostik legen die definitive Indikation zu Therapie- und Monitoringmaßnahmen fest. Der Transport eines Kindes mit schwerem SHT in ein pädiatrisches Traumazentrum verbessert dessen Prognose gegenüber einem Kind, das in einem Zentrum für Erwachsene ohne pädiatrische Spezialisierung behandelt wird (Potoka et al. 2002).
8.8
Therapieziel
Ziel der Therapie ist es, eine zerebrale Perfusion und Oxygenierung zu gewährleisten, welche die Chance auf ein bestmögliches Outcome des Patienten bieten und die Entstehung sekundärer Hirnschäden verhindern. Das Auftreten einer arteriellen Hypotension (systolischer Blutdruck <5. Altersperzentile) besonders in den ersten 6 h nach Trauma (Samant et al. 2007) erhöht die Wahrscheinlichkeit für ein schlechteres Outcome auf das 1,5- bis 2-fache. Es bestehen zum Management der zerebralen Perfusion beim schweren SHT zwei führende Therapieansätze: 4 Das Rosner-Konzept, der klassische Zugang über die Steuerung des zerebralen Perfusionsdruckes. Hier wird der CPP mit allen Mitteln (wenn nötig auch Gabe von Vasopressoren) über einem Schwellenwert gehalten, um eine ischämische Schädigung des Gehirns zu vermeiden. Die hierfür erforderlichen CPP-Werte sind altersabhängig. Sie betragen bei Kindern von 5 0–2 Jahren: mindestens 40 mmHg 5 2–6 Jahren: mindestens 50 mmHg 5 7–10 Jahren: mindestens 60 mmHg 5 11–16 Jahren: mindestens 65 mmHg (Chambers et al., 2006; Downard et al., 2000) 4 Das Lund-Konzept sieht dagegen einen niedrigeren CPP (bei Erwachsenen >50 mmHg) vor, legt den Schwerpunkt aber auf die Hirnödemtherapie (wenn nötig auch mit aktiver Senkung des Blutdruckes, um das vasogene Hirnödem zu mindern; Grände 2006). Zur Steuerung der Hirnoxygenierung ist deren Messung entweder durch eine direkte Messung der Sauerstoffspannung im Hirngewebe z. B. mit Hilfe einer Licox-Sonde oder indirekt durch Oxymetrie des zerebralvenösen Blutes über einen Katheter im Bulbus venae jugularis wichtig.
Hierbei liefert die Gewebemessung einen regionalen Wert, die Bulbusoxymetrie hingegen einen globalen Wert, der erst pathologisch wird, wenn ein gewisses Volumen des Gehirns unterversorgt wird. Der Normalwert für die Bulbusoxymetrie liegt bei >60% (Vincent u. Berre 2005), eine normale Gewebs-pO2-Messung liefert Werte um 25– 30 mmHg (Haitsma u. Maas 2002). Normothermie, Euvolämie, Normogykämie, leichte Hypernatriämie und Normoventilation sind weitere Therapieziele.
8.9
Konservative Therapie
Leichtes SHT Die konservative Therapie des leichten SHT
besteht in einer Überwachung, die altersabhängig verschiedene Parameter erfasst. Beim Kleinkind sind Vigilanz, Pupillenreaktion und Puls zu überwachen, beim größeren Kind ist zusätzlich der Blutdruck zu kontrollieren. Körperliche Ruhe ist zu empfehlen, insbesondere solange Übelkeit und Erbrechen bestehen. Für Auge und Gehirn anstrengende Tätigkeiten wie Lesen, Fernsehen, Computerspiele sollten in den ersten Tagen eingeschränkt oder vermieden werden. Eine Schmerztherapie ist oft notwendig und hilfreich, morphinartige Medikamente sind wegen des sedierenden Effektes und der Veränderung der Pupillenweite zu vermeiden. Medikamente zur Linderung der Nausea (z. B. Zofran) sind mit Bedacht einzusetzen, um eine Hirndrucksymptomatik nicht zu verschleiern. Bei rezidivierendem Erbrechen ist eine Volumensubstitution mit 0,9% NaCl-Lösung indiziert. Die Behandlung kann kurzfristig auf der Aufnahmestation erfolgen oder, falls die Überwachung länger notwendig wird, auf der Normalstation. Mittelschweres und schweres SHT Die konservative
Therapie des mittelschweren und schweren SHT schließt die Oberkörperhochlagerung, Sedation, intravenöse Volumensubstitution, ggf. Beginn einer parenteralen oder enteralen Ernährung (über Magensonde) mit ein. Eine intensivmedizinische Überwachung ist beim mittelschweren SHT zumindest nicht grundsätzlich notwendig. Nicht selten benötigen Patienten mit einem mittelschweren SHT operative Eingriffe (Hämatomausräumung, Frakturhebung). Bei Schädelbasisfrakturen, offenen Schädelfrakturen und bei Nachweis von intrakranieller Luft erfolgt zumeist eine antibiotische Prophylaxe. Ob der Nachweis einer Felsenbeinfraktur alleine ein ausreichender Grund für eine Antibiotikagabe ist, ist umstritten.
8
132
Kapitel 8 · Schädel-Hirn-Trauma
8.9.1
Leitlinie für die Behandlung des schweren SHT
Zur Therapie des schweren SHT im Kindesalter liegen seit 2003 die evidenzbasierten Leitlinien der »Brain Trauma Foundation« (www.braintrauma.org) vor (Carney et al. 2003). In mehreren Studien hat sich gezeigt, dass die Befolgung dieser Leitlinien die Prognose von Kindern mit schwerem SHT verbessert. Die Eskalation der Therapie anhand dieser Leitlinien und in Abhängigkeit von der Reaktion des Hirndruckes und des zerebralen Perfusionsdruckes ist in . Abb. 8.12 dargestellt.
8.9.2
Therapien der 1. Wahl
Basismaßnahmen Beim schweren SHT ist immer eine
8
verwendet. Die Wirkung beruht bei beiden Substanzen auf folgenden Mechanismen: 4 Mobilisierung von extravaskulärem Wasser aus der Peripherie 4 Erniedrigung der Blutviskosität (Plasmaexpansion) und somit Senkung des zerebrovaskulären Widerstandes 4 Erhöhung des zerebralen Blutflusses 4 Damit reflektorische Vasokonstriktion in Arealen mit intakter Autoregulation und demzufolge Senkung des intrakraniellen Blutvolumens 4 Osmotische Entwässerung des zerebralen Extravaskulärraumes über einen Bluthirnschrankengradienten (Hirnödemreduktion)
Intensivtherapie erforderlich, da die Patienten bei einem GCS <9 in der Regel intubiert und beatmet sind. Neben Sedation und Schmerztherapie sowie Oberkörperhochlagerung (HOB) ist nicht selten eine Relaxation auch zur Hirndrucksenkung erforderlich (Druckspitzen beim Husten etc.). Hirndrucksonde Nicht jeder nach Trauma mit GCS <9 aufgefundene und intubiert in die Klinik transportierte Patient hat ein schweres SHT. Stellt sich im CT ein unauffälliger Befund dar (kein Hämatom, keine Kontusion, kein Hinweis auf Hirnödem), kann auf der Intensivstation ein Aufwachversuch erfolgen. Wacht der Patient hierbei nicht auf und sein GCS bleibt <9, so liegt ein schweres SHT vor und eine Hirndruckmessung ist obligat. Bei klinischen Zeichen eines erhöhten Hirndruckes (Einklemmungssymptome etc.) unterbleibt dieser Aufwachversuch und der Patient erhält primär eine Hirndrucksonde. Mit der ICP-Messung ist in der Regel auch eine invasive arterielle Blutdruckmessung indiziert, um den zerebralen Perfusionsdruck berechnen und steuern zu können. Ventrikeldrainage Sofern ein Ventrikelkatheter eingelegt wurde, was bei Hirndruck-bedingt schmalen Ventrikeln selten gelingt, kann über diesen neben der Hirndruckmessung eine kontinuierliche oder intermittierende Drainage von Liquor erfolgen. Osmotika Die Hirndrucksenkung mit Osmotika erfolgt immer unter Kontrolle von ICP und Blutdruck, niemals blind auf Verdacht. Die Indikation zur osmotischen Therapie ist erst gegeben, wenn andere konservative Maßnahmen den ICP nicht unter 20 mmHg senken konnten. Hypertone Mannitollösung (20% Mannitol) und hypertone NaCl-Lösungen (3–20% NaCl-Lösung) werden dabei
Die ersten vier Mechanismen sind schnell und halten nur ca. 75 min an, der letzte Mechanismus beginnt nach 15– 20 min und hält ca. 6 h an: Die übliche Dosierung für Mannitol beträgt 0,2–0,5 (–1) g/kg KG oder 1–2,5 (–5) ml/kg KG einer 20% Mannitollösung (entsprechend 1,1–2,75 mmol Mannitol/kg KG), die Gabe erfolgt als Bolusinfusion innerhalb 20–30 min. Eine hierzu gleich wirksame Menge NaCl wären 1–2,5 ml einer 6,4%-igen NaCl-Lösung (das an der Blut-Hirn-Schranke wirksame Osmolyt ist hier nur das Natrium, nicht das Chlorid). Hypertone NaCl-Lösungen werden je nach Konzentration der zu verabreichenden Lösung unterschiedlich dosiert, meist wird hier ebenfalls ein Bolus innerhalb 20–30 min infundiert. Für einen Bolus mit 1,1 (–2,75) mmol/kg KG Na+ sind die in . Tab. 8.7 angegebenen Volumina handelsüblicher hypertoner NaCl-Lösungen erforderlich. Es ist durch einen solchen Bolus ein Anstieg der Serumnatriumkonzentration um 2–5 mmol/l zu erwarten. Hypertone NaCl-Lösungen (meist 3% NaCl) können auch als Dauerinfusion in einer Dosierung von 0,1–1 ml/ kg KG/h gegeben werden, ein Vorteil der Dauerinfusion ist nicht belegt. In einer Studie mit hypertoner NaCl-Dauerinfusion wurden nach einigen Tagen relativ hohe Na+Konzentrationen im Blut gemessen (170 mmol/l; Khanna et al. 2000). Nach repetitiver Bolusgabe werden derartig
. Tab. 8.7 Bolusvolumina für verschieden stark konzentrierte NaCl-Lösungen Konzentration NaCl
Zu verabreichendes Volumen/kg KG
3%
2,1 (–5,3) ml
5,85%
1,1 (–2,7) ml
6%
1,1 (–2,7) ml
7,5%
0,85 (–2,1) ml
20%
0,3 (–0,8) ml
133 8.9 · Konservative Therapie
. Abb. 8.12 Therapiealgorithmus zur Behandlung des erhöhten Hirndruckes bei Kindern mit schwerem SHT gemäß der »pediatric head injury guidelines« (Brain Trauma Foundation 2003)
hohe Werte nicht erreicht. Es ist möglich, dass die kontinuierliche Gabe von hypertonem NaCl mit einem erhöhten Risiko für die Folgen einer Hyperosmolarität (Nierenversagen) verbunden ist. Die Halbwertszeit eines Mannitolbolus beträgt 3–4 h, die Bolusgabe wird daher alle 2–8 h notwendig sein. Ein NaCl-Bolus hat eine kürzere Halbwertszeit von 60–90 min, nicht selten werden mehrere Boli täglich gebraucht. Bei der Gabe von Osmotika ist auf eine ausreichende Volumensubstitution (mit 0,9% NaCl) zu achten, da die Osmotika einen diuretischen Effekt haben. Das Therapieziel ist eine
Euvolämie mit Hyperosmolarität, nicht Dehydratation. Um die Berechung des Ausmaßes der zu erwartenden Osmolaritätsveränderungen zu erleichtern, sind in . Tab. 8.8 die Osmolaritäten und Elektrolytgehalte der gebräuchlichen Mannitol- und NaCl-haltigen Lösungen angegeben. Moderate Hyperventilation Eine moderate Hyperventilation kann zur ICP-Reduktion beitragen, pCO2-Werte unter 30 mmHg werden hier nicht erreicht, andernfalls ist ein Monitoring der Gewebsoxygenierung entweder per Gewebe-pO2-Sonde oder durch Messung der jugulärve-
8
134
Kapitel 8 · Schädel-Hirn-Trauma
. Tab. 8.8 Osmolarität, Natrium und Chloridkonzentration handelsüblicher Mannitol- und NaCl-Lösungen
8
Substanz
Osmolalität
Natrium
Chlorid
20% Mannitol
1098 mmol/l
–
–
Ringer-Laktat
277 mmol/l
130 mmol/l
112 mmol/l
0,9% NaCl
309 mmol/l
154 mmol/l
154 mmol/l
3% NaCl
1030 mmol/l
515 mmol/l
515 mmol/l
5,85% NaCl
2000 mmol/l
1000 mmol/l
1000 mmol/l
6% NaCl
2059 mmol/l
1029 mmol/l
1029 mmol/l
7,5% NaCl
2745 mmol/l
1372 mmol/l
1372 mmol/l
20% NaCl
6800 mmol/l
3400 mmol/l
3400 mmol/l
nösen Sauerstoffsättigung per Bulbus-venae-jugularis-Katheter notwendig, um vasokonstriktionsbedingte Gewebsischämie zu verhindern.
8.9.3
Therapien der 2. Wahl
Ist mit den Therapien der ersten Wahl keine ausreichende Senkung des ICP und damit Normalisierung des CPP zu erreichen, können Therapien der 2. Wahl in Betracht gezogen werden. Bei deren Auswahl ist es sinnvoll, die aktuelle pathophysiologische Situation des einzelnen Patienten zu berücksichtigen. Forcierte Hyperventilation Hyperventilation erniedrigt
den perivaskulären pCO2, was den pH ansteigen lässt und zu einer zerebralen Vasokonstriktion führt. Die folgende Verminderung des zerebralen Blutvolumens lässt den ICP sinken. Eine unkontrollierte Hyperventilation birgt aber das Risiko, sich die ICP-Reduktion mit einer Ischämie des Gehirns zu erkaufen. Unter der Voraussetzung eines Monitorings der zerebralen Oxygenierung im Gewebe oder im Blut des Bulbus venae jugularis kann auch eine forcierte Hyperventilation als Therapie der zweiten Wahl erwogen werden. Die kontrollierte Hyperventilation mit Erreichung von pCO2-Werten <30 mmHg ist angezeigt bei Patienten mit Zeichen für eine Hyperämie ohne Anhalt für eine Ischämie des Hirngewebes. Lumbale Liquordrainage Bei offenen basalen Zisternen kann eine kontrollierte lumbale Liquordrainage erfolgen mit Hilfe eines speziellen Kathetersets. Hochdosierte Barbiturate Barbiturate vermögen die
Stoffwechselrate des Hirngewebes um bis zu 50% zu reduzieren. Eine intakte metabolische Autoregulation voraus-
gesetzt, kann dies helfen, das zerebrale Blutvolumen zu verkleinern und den ICP zu senken resp. den Sauerstoffbedarf zu reduzieren. Pentobarbital wird üblicherweise nach einem Bolus von 5 mg/kg KG in einer Dosierung von 3–5 mg/kg KG/h infundiert. Sobald im EEG eine »burst suppression« erreicht ist, können Barbiturate den Hirnstoffwechsel nicht weiter reduzieren. Nebenwirkung der Barbituratgabe ist eine Blutdrucksenkung, medikamentöse Kreislaufunterstützung kann daher notwendig werden. Hypothermie Die Vermeidung einer Hyperthermie ist
ein Therapieziel, da diese mit einem schlechteren Outcome verbunden ist. Der Vorteil einer kontrollierten moderaten Hypothermie konnte nach SHT bei Erwachsenen nicht bewiesen werden. Die Einstellung einer Hypothermie kann den Hirndruck bei Kindern senken. Eine große kontrollierte randomisierte Studie bei Kindern wies jedoch keinen Benefit einer Hypothermie auf das Outcome nach (Hutchinson et al. 2008). Hypothermie erhöhte hier das Auftreten arterieller Hypotension während der Aufwärmphase und war mit schlechteren Ergebnissen verbunden als Normothermie.
8.10
Operative Therapie
Hämatomevakuation Bei einem akuten subduralen oder
epiduralen Hämatom ist das Blut meist koaguliert, die Entfernung erfolgt daher nicht über Bohrlöcher, sondern über eine osteoplastische Kraniotomie. Hierdurch wird auch die lokale Blutstillung ermöglicht (z. B. A. meningea media). Bei chronischen subduralen Hämatomen erfolgt die Entleerung meist über 1 oder 2 Bohrlöcher und die Einlage von Drainagen, da hier der Inhalt überwiegend flüssig ist. Ausgedehnte, raumfordernde intrazerebrale Kontusionsherde und Blutungen werden ggf. ebenfalls entfernt per
135 8.10 · Operative Therapie
a
b
. Abb. 8.13a, b Lokalisationen für die Anlage probatorischer Bohrlöcher, wenn z. B. keine CT-Untersuchung möglich ist. a Seitliche An-
sicht des Schädels. b Aufsicht von oben auf den Schädel mit den Trepanationsstellen
Kraniotomie. Durahochnähte sind wichtig, um die erneute Entstehung eines Hämatoms zu verhindern.
katheter, sie können jedoch – außer der Spiegelbergsonde – nicht nachkalibriert werden und weisen einen gewissen Drift des Messwertes über die Zeit auf. Hirndrucksonden können entweder über einen Schraubbolzen oder nach Untertunnelung der Haut ein Stück entfernt von der Schädeleintrittsstelle ausgeleitet werden.
Bohrlochtrepanation Liegt klinisch ein Anhalt für eine
akute Raumforderung im Schädel vor, so kann bei Fehlen der Möglichkeit zur Schnittbilddiagnostik die Anlage von probatorischen Bohrlöchern erfolgen, um ein Hämatom zu entlasten (. Abb. 8.13). Die Lokalisation der Bohrlöcher ist hierbei entlang des Verlaufes der A. meningea media orientiert, da dort am häufigsten epidurale Hämatome auftreten. Diese Maßnahme ist jedoch keine Routineoperation, da normalerweise eine gezielte Hämatomausräumung und Blutstillung nach Schnittbilddiagnostik erfolgt. Einlage einer Hirndrucksonde Die bei Kindern und Er-
wachsenen gebräuchlichsten Hirndrucksonden sind die Camino-Sonde, die Codman-Sonde und die SpiegelbergSonde. Alle werden in das Hirnparenchym implantiert, bevorzugt in die nicht-dominante Hemisphäre bzw. auf der weniger stark traumatisierten Seite. Die Sonden sind fast gleich dünn (um 0,5 mm), die Camino-Sonde bietet die Möglichkeit zur simultanen Temperaturmessung im Hirngewebe und die Einführung einer zusätzlichen Sonde für die Gewebs-pO2-Messung im Gehirn (über einen speziellen 2-Wege-Bolzen). Ventrikelkatheter sind grundsätzlich ebenfalls zur Hirndruckmessung geeignet und bieten den Vorteil, eine therapeutische Liquordrainage zu erlauben. Ihre Einlage ist bei erhöhtem intrakraniellem Druck und engen Seitenventrikeln jedoch deutlich schwieriger als die Einlage einer Parenchymsonde. Parenchymsonden habe ein niedrigeres Risiko für eine Stichkanalblutung und ein niedrigeres Infektionsrisiko als Ventrikel-
Frakturhebung bei Impressionsfraktur Frakturen, die
um mehr als Kalottenbreite imprimiert sind, sollen gehoben werden. Meist genügen ein oder zwei Bohrlöcher, um die Fraktur durch Hebelwirkung mit einem Elevatorium zu heben. Bei Mitbeteiligung des darunterliegenden Hirngewebes (Kontusionsherd) oder der Dura sowie bei offenen Frakturen ist in vielen Fällen eine osteoplastische Trepanation erforderlich, um die Verletzungen vollständig versorgen zu können. Eine Sonderform sind die PingPong-Ball-Frakturen bei Säuglingen, hier kann eine geschlossene Hebung durch Anlage einer Saugglocke versucht werden. Dekomprimierende Kraniektomie Die dekomprimie-
rende Kraniektomie ist eine operative Therapie der 2. Wahl beim schweren SHT und sollte in Fällen mit medikamentös oder durch Hämatomausräumung nicht beherrschbaren sekundären Hirndruckanstiegen frühzeitig (sobald sich der Perfusionsdruck mit allen konservativen Maßnahmen nicht halten lässt und eine ausräumbare Blutung/Kontusion im CT ausgeschlossen ist) erwogen werden. Sie kann als einseitige oder beidseitige, meist frontotemporo-parietale Kraniektomie mit unterschiedlichem Ausmaß, aber in der Regel mit Duraplastik erfolgen. Der positive Effekt auf den Hirndruck tritt normalerweise so-
8
136
8
Kapitel 8 · Schädel-Hirn-Trauma
fort ein, weitere Hirnödemzunahme im Verlauf ist möglich und kann zu späteren Hirndruckanstiegen führen, die sich dann aber oft medikamentös auffangen lassen. Das Überleben verbessern kann diese Maßnahme aber wahrscheinlich nur, wenn sie als frühe Therapieoption eingesetzt wird. Nach mehreren Tagen, wenn sich ein ausgedehnter sekundärer Hirnschaden schon abzeichnet, ist der Einsatz als Ultima ratio nicht mehr sinnvoll. Bei Kindern sind hierzu erst wenige Studien mit relativ kleinen Fallzahlen berichtet worden (Jagannathan et al. 2007), bei Erwachsenen ist die Datenlage ebenfalls nicht so, dass die Kraniektomie als primäre Maßnahme empfohlen werden kann. Die Komplikationsrate ist nicht unbeträchtlich, insbesondere ein posttraumatischer Hydrozephalus und subdurale Hämatome sowie Infektionen und Schwierigkeiten bei der späteren Knochendeckung sind beschrieben. Diese Komplikationen müssen jedoch gegen die sonst drohenden Komplikationen eines unkontrollierbaren Hirndruckanstieges mit sekundärem Hirnschaden abgewogen werden. Der abgenommene Knochendeckel kann bis zur Reimplantation entweder eingefroren oder in einer Knochenbank gelagert werden.
8.11
Kontrollen und Nachbehandlung
Patienten mit leichtem SHT erholen sich meist in den ersten Wochen nach dem Unfall spontan, Müdigkeit, Leistungsschwäche und Kopfschmerzen können jedoch den Verlauf in den ersten Monaten bestimmen. Eine für mehr als 2–3 Wochen anhaltende Symptomatik sollte beim Hausarzt kontrolliert werden, in Einzelfällen ist eine weitere Abklärung z. B. zum Ausschluss eines chronischen Subdural-Hämatoms indiziert. Alle Patienten mit einem mittelschweren und schweren SHT sollten neurologisch/ neuropsychologisch nachkontrolliert werden, um ggf. erforderliche Früh-Rehabilitationsmaßnahmen einleiten zu können und verbleibende Defizite zu erfassen. Je nach Ausmaß der verbleibenden neurologischen Defizite und der Folgen von Begleitverletzungen können langfristige Rehabilitationsmaßnahmen oder institutionelle Betreuung notwendig werden (Martin u. Falcone 2008).
8.12
Ergebnisse und Prognose
Das Ergebnis nach mittelschwerem und schwerem SHT kann mit Hilfe des Glasgow-Outcome-Score (GOS) erfasst werden. Glasgow-Outcome-Score (GOS) 4 GOS 1: Tod 4 GOS 2: persistiernd vegetativer Status 4 GOS 3: bei Bewusstsein, aber schwere Behinderung, im täglichen Leben abhängig 4 GOS 4: mäßige Behinderung, im täglichen Leben unabhängig 4 GOS 5: gute Erholung
Das Outcome ist hierbei abhängig von folgenden Parametern: Alter bei Unfall, Art des Traumas (akzidentell vs. nicht-akzidentell), Vorliegen von Begleitverletzungen, Vorliegen einer Hypotension, Hypoxie, Gerinnungsstörung oder Hyperglykämie bei Aufnahme, GCS bei Aufnahme, Art der intrakraniellen Läsion (fokal vs. diffus), Art des versorgenden Krankenhauses (Kinderklinik vs. Nicht-Kinderklinik, Traumazentrum vs. Nicht-Traumazentrum). Insgesamt kann bei Vorliegen eines isolierten schweren SHT bei Kindern >2 Jahre mit einer Letalität von ca. 30% gerechnet werden. Tritt das SHT im Rahmen eines Polytraumas auf, verdoppelt sich die Letalitätsrate mindestens. Wesentlich weniger Beachtung haben dagegen bisher mögliche Langzeitfolgen nach leichtem SHT gefunden. Obwohl in den meisten Fällen eine Restitutio ad integrum in den ersten Wochen erfolgt, sind kognitive (Konzentration, Gedächtnis), somatische (z. B. Kopfschmerzen) und affektiv/emotionale Defizite auch für längere Zeiträume möglich. Deren Erfassung ist oft nur durch neuropsychologische Tests möglich.
8.13
Intra- und postoperative Komplikationen
Während einer Operation am traumatisierten Gehirn muss dem evtl. erhöhten intrakraniellen Druck Rechnung getragen werden. Ein starkes Hirnödem kann zum Prolaps von Gewebe aus der Kraniotomieöffnung führen. Nach allen intrakraniellen Eingriffen (Trepanation, Einlage einer Druckmess-Sonde) droht die Gefahr einer intrakraniellen Blutung oder Infektion (Meningitis, Enzephalitis). Auch nach Sanierung von Lazerationen mit Galeabeteiligung und operativer Frakturhebung besteht ein Risiko für eine Ostitis/Osteomyelitis am Schädelknochen, das Risiko hierfür ist im Kindesalter gering. Nach allen Kraniotomien
137 8.14 · Prophylaxe
muss selten mit der Entstehung eines Duralecks oder dem Verbleib eines Kalottendefektes gerechnet werden. Schwerwiegende Komplikationen sind raumfordernde Blutungen und Zunahme eines Hirnödems und damit Fortschreiten eines sekundären Hirnschadens.
8.14
Prophylaxe
Geeignete und altersangepasste Rückhaltesysteme in Autos, das Tragen von Helmen beim Radsport und Skisport, die Sicherung von Spielplätzen sind wichtige Beiträge zur drastischen Reduktion der Inzidenz schwerer SHT bei Kindern in den letzten 20 Jahren.
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8
9
Thoraxtrauma H.-G. Dietz
9.1
Besonderheiten im Kindesalter
– 140
9.2
Ursachen und Diagnostik
9.2.1 9.2.2 9.2.3 9.2.4
Häufigkeit und Ursachen – 140 Klinischer Befund – 141 Klinische Diagnostik – 141 Apparative und Labordiagnostik – 141
9.3
Erstversorgung bei Kindern
– 140
– 143
9.3.1 O2-Applikation – 143 9.3.2 Pleurapunktion und Thoraxdrainage 9.3.3 Endotracheale Intubation – 144
– 143
9.4
Knöcherne Verletzungen
– 144
9.4.1 9.4.2 9.4.3 9.4.4 9.4.5
Wirbelsäulenläsion – 144 Klavikulafraktur – 144 Rippenfrakturen – 144 Sternumfraktur – 145 Skapulafraktur – 145
9.5
Verletzung des Lungenparenchyms
9.5.1 Lungenkontusion – 145 9.5.2 Traumatische Pneumatozele 9.5.3 Lungenzerreißung – 148
– 145
– 146
9.6
Pneumothorax
– 148
9.7
Hämatothorax
– 148
9.8
Tracheobronchialbaum
9.9
Traumatisches Emphysem
– 148 – 149
9.9.1 Subkutanes Emphysem – 149 9.9.2 Mediastinalemphysem – 149 9.9.3 Zwerchfellverletzungen – 149
9.10 Verletzung weiterer intrathorakaler Organe 9.10.1 Große Gefäße 9.10.2 Herz – 150 Literatur
– 149
– 150
– 149
140
Kapitel 9 · Thoraxtrauma
Thoraxtraumen betreffen sowohl den Weichteilmantel (7 Kap. 25), das knöcherne Skelett als auch die intrathorakalen Organe. Verätzungen werden im 7 Kap. 24 behandelt. Beim eigentlichen Thoraxtrauma sind die inneren Organe betroffen. Es handelt sich um ein schweres Krankheitsbild, welches im Kindesalter dennoch in der Regel konservativ zu therapieren ist. Knöcherne Verletzungen sind selten, zu Frakturen der Wirbelsäule 7 Kap. 12. Die Überwachung der Kinder mit schweren Thoraxverletzungen hat auf einer kindertraumatologischen Intensivstation zu erfolgen. Die Versorgungsmöglichkeit lebensbedrohlicher Thoraxverletzungen muss sichergestellt sein (Dietz 2007).
9.1
9
Besonderheiten im Kindesalter
Das Kind atmet infolge der horizontal stehenden Rippen und der noch rudimentären interkostalen Muskulatur vorwiegend mit Hilfe der Zwerchfellbewegung. Dadurch erscheint die Atmung bereits im Normalzustand flacher. Von der Geburt bis zur Pubertät vollzieht sich der Reifungsprozess in den Lungen kontinuierlich weiter. Eine Organschädigung, welche während dieses Zeitraums eintritt, kann daher durch kompensatorisches Wachstum ausgeglichen werden. Anders als beim Erwachsenen trifft die schädigende Kraft beim Kind auf die geringe Masse des kleinen Körpers, so dass hier in weit höherem Maße die absorbierenden Kräfte beansprucht werden. Aber selbst eine starke Gewalteinwirkung führt bei den knorpeligen Rippen in der Regel nicht zur Fraktur. Durch deren größere Plastizität wird die Krafteinwirkung vielmehr auf die darunter liegenden Strukturen fortgeleitet. Hier wirken dann Kompressions- und Scherkräfte auf die Lunge und die übrigen intrathorakalen Organe. Diese Kräfte führen zu Gewebezerreißungen, wobei in erster Linie die alveolaren Strukturen betroffen sind. Die Folgen der Lungenkontusion sind Blutungen, Ödembildung, Pneumo- oder Hämatothorax (Rielly 1993). Die pulmonale Kompensationsfähigkeit des Kindes ist limitiert, da bei geringerer funktioneller Residualkapazität ein höherer Sauerstoffverbrauch besteht. Der Organismus des Kindes ist gegenüber einer Hypoxie vulnerabler. Während beim Kind eine größere Compliance der Thoraxwand vorliegt, ist die pulmonale Compliance geringer als beim Erwachsenen. Als Folge der Hypoxie kommt es daher rasch zu einer tachypnoischen Reaktion. Typisch für das Säuglings- und Kleinkindesalter ist das Phänomen der langen Kompensation des Herz-KreislaufSystems und der dann eintretende akute, zum Teil nicht mehr zu beherrschende Schockzustand (7 Kap. 2). Die Letalität des schweren Thoraxtraumas durch stumpfe oder perforierende Gewalteinwirkung ist im Kindesalter höher als bei Erwachsenen. Sie liegt beim isolierten Thoraxtrau-
ma bei 5% und steigt beim polytraumatisierten Patienten bis auf 48% (Ceran et al. 2002).
9.2
Ursachen und Diagnostik
9.2.1
Häufigkeit und Ursachen
Thoraxtraumen machen nur 1–6% aller Unfälle im Kindesalter aus, stehen aber nach den Schädel-Hirn-Verletzungen an zweiter Stelle der Todesursachenstatistik beim Kinderunfall (Black et al. 1996, Ceran et al. 2002, Peterson et al. 1994, Roux u. Fisher 1992, Sartorelli u. Vane 2004). Mit 54% überwiegen beim Thoraxtrauma thermische und Ingestionsverletzungen. Den übrigen Fällen liegt eine direkte Gewalteinwirkung zugrunde, wobei es sich in 95–99% insbesondere bei kleineren Kindern um ein stumpfes Trauma handelt. Dabei sind vor allem Unfälle als Fahrzeuginsassen ursächlich für eine stumpfe Gewalteinwirkung auf den Thorax (Cooper 1994; . Tab. 9.1). Perforierende Verletzungen des Brustkorbs sind im europäischen Raum selten (1–3%) und entstehen in erster Linie durch Pfählungsverletzungen. In der amerikanischen Literatur werden sie häufiger beschrieben. Pneumo- und Hämatothorax sowie knöcherne Läsionen finden sich beim stumpfen Trauma häufiger als vermutet, Lungenverletzungen bestehen in 53%. Andere Verletzungen sind selten (Cooper 1994; . Tab. 9.2 und . Tab. 9.3). Die isolierte Thoraxverletzung beim Kind ist selten, häufiger sehen wir simultane Verletzungen mehrerer Regionen (7 Kap. 11). Die Letalität der Kombinationsverletzungen steigt mit der Zahl der verletzten Regionen, bei Kombination mit einem Schädel-Hirn-Trauma ist die Letalität am höchsten (Sartorelli 2004; . Tab. 9.4). Rund 15% der Kinder mit Thoraxverletzungen sterben, unabhängig davon, ob es sich um stumpfe oder perforierende Verletzungen handelt (Peclet et al. 1990). Bei perforierenden Verletzungen mit Todesfolge ist die Thoraxverletzung für den letalen Ausgang meist alleine ursächlich.
. Tab. 9.1 Ursachen stumpfer Gewalteinwirkung beim Thoraxtrauma (Unfallmechanismen) Fahrzeuginsassen
41%
Fußgängerkollision
33%
Sturz aus großer Höhe
8%
Fahrrad
7%
Moped
3%
Andere
9%
H.G. Dietz et al. (Hrsg.), Praxis der Kinder-und Jugendtraumatologie, DOI 10.1007/978-3-642-12935-3_9, © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2011
141 9.2 · Ursachen und Diagnostik
. Tab. 9.2 Häufigkeit (in %) der Verletzung intrathorakaler Organe Stumpfes Trauma
Perforierendes Trauma
Gesamt
Pneumo-/ Hämatothorax
38
64
41
Lunge
53
29
48
Herz
5
13
6
Zwerchfell
2
15
4
Frakturen
38
8
32
Offene Wunden
<1
21
3
Gefäße
1
10
3
Bronchien
<1
0
<1
Ösophagus
<1
1
<1
Andere
2
2
2
9.2.2
Die Verdachtsdiagnose einer Thoraxverletzung ergibt sich aus der Anamnese, der Erstinspektion (Kontusionsmarken, offene Wunden) sowie der Auskultation (abgeschwächtes oder fehlendes Atemgeräusch). Im Initialstadium der respiratorischen Insuffizienz finden sich Nasenflügeln und seitliche thorakale Einziehungen. Im Gegensatz zum Erwachsenen fehlt die Lippenzyanose. Die Kinder wirken grau-blass. Der betroffene Thoraxteil sinkt bei Inspiration ein und wölbt sich bei Exspiration nach außen (Flatterthorax). Intensive Zwerchfellbewegungen steigern die Atemarbeit und es kommt zu dem typischen Bild der Schaukel- oder Pendelatmung (paradoxe Atmung). Schon bei geringer Einschränkung des Atemwegslumens kommt es zu frustranen Steigerungen der Atemfrequenz (Tachypnoe; Meier et al. 2005; Nakayama et al. 1989).
9.2.3 . Tab. 9.3 Letalität (%) der einzelnen Thoraxverletzungen
Klinischer Befund
Klinische Diagnostik
Die respiratorische Insuffizienz ist bereits am Unfallort am entkleideten Patienten klinisch durch Beobachten der Atmung, den fast fehlenden Luftstrom aus der Nase und durch taktile Untersuchung des Brustkorbs und des Abdomens festzustellen. Die paradoxe Atmung lässt sich leicht erkennen, die abnorme Beweglichkeit der Interkostalmuskulatur oder ein Hautemphysem lassen sich einfach palpieren. Der Auskultation und Perkussion sind am Unfallort allerdings Grenzen gesetzt, sie sind für den Ungeübten nur von bedingter Aussagekraft. Bei der Funktionsprüfung kommt der Pulsoximetrie entscheidende Bedeutung zu (Pape et al. 2000).
Stumpfes Trauma
Perforierendes Trauma
Gesamt
Pneumo-/ Hämatothorax
20
8
17
Lunge
17
27
18
Herz
37
48
19
Zwerchfell
27
6
16
Frakturen
11
11
11
Offene Wunden
0
21
19
Gefäße
53
45
49
Bronchien
20
0
20
Ösophagus
25
67
43
Röntgen. Die Röntgenuntersuchung des Thorax in der
Andere
25
0
20
anterior-posterioren Ebene zeigt neben den Skelettverletzungen, die sich gut darstellen lassen, vor allem Veränderungen der Lungenarchitektur sowie das Vorhandensein eines Pneumothorax, eines Mediastinalemphysems und von Flüssigkeitsansammlungen (. Abb. 9.1 und . Tab. 9.5).
. Tab. 9.4 Häufigkeit und Letalität der Thoraxverletzungen Häufigkeit
Letalität
1 intrathorakale Verletzung
50%
1-5%
≥2 intrathorakale Verletzungen
50%
10%
+ extrathorakale Verletzungen
60–80%
29%
– SHT
35–58%
40–70%
– Skelett
36–41%
– Abdomen
22–38%
9.2.4
Apparative und Labordiagnostik
! Speziell im Kindesalter kann die initiale Röntgenuntersuchung unauffällig sein und somit das tatsächliche Ausmaß verschleiern! Im Zweifel ist eine kurzfristige Kontrollaufnahme vorzunehmen.
Die Aussagekraft aller mobilen Röntgengeräte ist jedoch beschränkt. Zudem ist das konventionelle Röntgenbild begrenzt sensitiv, da Gewebeveränderungen aus den unter-
9
142
Kapitel 9 · Thoraxtrauma
. Tab. 9.5 Radiologisch sichtbare Läsionen Pneumothorax
. Abb. 9.1 3 Jahre alter Patient; Fenstersturz. Das initiale ThoraxRöntgenbild zeigt eine Lungenkontusion sowie ein Mediastinalemphysem
9
schiedlichen Schichten nur als Summationsbild des gesamten Strahlenganges dargestellt werden können (Hehir et al. 1990; Sivit 2002). Computertomographie. Bei jedem Patienten mit schwe-
rem Thoraxtrauma ist daher frühzeitig eine Computertomographie mit Lungenfenster durchzuführen, um rechtzeitig das gesamte Ausmaß der Lungenkontusion sowie des Hämato-, aber auch Pneumothorax erkennen zu können. Der Vorteil liegt darin, dass mediastinale Verletzungen, die im Röntgenbild maskiert sein können, hier gut dargestellt werden (. Abb. 9.2).
a
Freie Luft
Hämatopneumothorax
Freie Luft und Erguss
Lungenkontusion
Verschattung
Verletzung des Aortenbogens
Verbreiterung des Mediastinums
Ruptur der Trachea oder Bronchien
Freie Luft, Emphysem
Zwerchfellruptur
Darmschlingen im Thorax, Zwerchfellschatten aufgehoben
Rippenfraktur
Kontinuitätsunterbrechung, freie Luft, Hautemphysem
Wirbelkörperverletzung
Kantenabbruch in der seitlichen Aufnahme
Die initiale Computertomographie des Thorax kann präziser Kontusionsherde, Ergüsse und Luftansammlungen lokalisieren und diese einer frühzeitigen Therapie (Thoraxdrainage, kontrollierte Beatmung) zugänglich machen (Hörmann et al. 2003; Poole et al. 1993; Strohm et al. 2008; Wylie et al. 2009; Jakob et al. 2009). Sonographie. Die Sonographie des Thorax hat ihren
Stellenwert vor allem im weiteren Verlauf der Intensivtherapie in der Beobachtung von intrathorakalen Flüssigkeitsansammlungen.
b
. Abb. 9.2a,b 4 Jahre alter Polytraumapatient. Das initiale Röntgen-Thoraxbild (a) und das CT (b) zeigen die Lungenkontusion und den Hämatothorax rechts
143 9.3 · Erstversorgung bei Kindern
Labor. Neben der routinemäßigen Laboruntersuchung ist beim Thoraxtrauma die Blutgasanalyse zwingend erforderlich. Die Berechnung des Oxygenierungsindex (OI = PaO2/FiO2) ermöglicht eine erste Risikoeinschätzung. Er sollte über 350 mmHg liegen. Bei einem OI von < 300 mmHg handelt es sich um ein ALI (»acute lung injury«), bei einem OI < 200 mmHg um ein ARDS. Beim OI < 350 mmHg ist die Sauerstoffapplikation indiziert. Beim ALI und ARDS droht die Dekompensation, der Patient ist zu stabilisieren und zu intubieren. > Operative Maßnahmen jeglicher Art stellen in diesem Stadium ein hohes Risiko dar und sollten erst nach gebesserter Oxygenierung in Betracht gezogen werden. Überwachung des Herz-Kreislauf-Systems. Die Überwachung des Herz-Kreislauf-Systems erfolgt mittels EKG und Messung des zentralen Venendrucks (ZVD), möglichst auch durch arterielle Druckmessung. Bei Kindern besteht beim Volumenmangel das Phänomen der langen kardiopulmonalen Kompensation mit »normalen« Pulsund Blutdruckwerten, bis dann bei einem Blutverlust von 25% plötzlich das manifeste und schwer beherrschbare Vollbild des Volumenmangelschocks eintritt. Hinweisend darauf sind eine deutlich verzögerte oder fehlende Rekapillarisierung und eine ausbleibende Füllung der Vena jugularis externa bei Kopftieflage oder digitaler Stauung.
9.3
Erstversorgung bei Kindern
Leitsymptom der Thoraxverletzung ist die veränderte Atmung. Hier ist am Unfallort von besonderer Bedeutung die sorgfältige initiale Inspektion, um eventuell vorhandene Fremdkörper aus dem Nasenrachenraum zu entfernen. Bei fehlender Stabilisierung dient die Intubation der Sicherung der Atemwege. Allerdings muss selten notfallmäßig intubiert werden. Die meisten Intubationen lassen sich kontrolliert nach primärer Stabilisierung durchführen (Holmes et al 2002).
9.3.1
dings haben sie den Nachteil einer CO2-Anschoppung innerhalb der Maske. Mit einer O2-Zufuhr von 5 l/min wird eine FiO2 von etwa 0,4 erreicht. Unterstützt wird die Sauerstofftherapie durch entsprechende Lagerungsmaßnahmen: Bei paradoxer Beweglichkeit des Thorax werden die breiten Handflächen einer Hilfsperson unter Ausübung eines leichten Drucks auf die instabile Region aufgelegt, so dass der instabile Thorax unterstützt wird. Weiter erfolgt die Lagerung des Patienten auf die verletzte Seite. Auf diese Weise kann man auch in zunächst unübersichtlichen Situationen Zeit für ein geordnetes Vorgehen gewinnen.
9.3.2
Pleurapunktion und Thoraxdrainage
Wegen der dünnen Thoraxwand sind Pleurapunktion und Thoraxdrainage beim Kind technisch einfach durchzuführen. Am Unfallort gelingt eine Punktion einfacher und schneller, bei fehlender klinischer Besserung muss aber auch hier eine Drainage gelegt werden. Patienten ohne Bewusstseinsstörung müssen hierfür immer ausreichend analgesiert und sediert werden. Nur bei Vorliegen eines bedrohlichen Spannungspneumothorax muss sofort punktiert werden. Pleurapuktion 4 Punktionsort wählen und großflächig chirurgisch desinfizieren 4 Lokalanästhesie mit einer 24-G-Kanüle bis auf die Pleura injizieren 4 Bei reifen Säuglingen und Kleinkindern 24-G-Verweilkanüle, bei älteren Kindern 22- bis 20-G-Verweilkanüle zur Punktion verwenden 4 Mit aufgesetzter 5-ml-Spritze wird die Nadel am Oberrand der Rippe im 2. Interkostalraum unter Aspiration horizontal eingebracht 4 Bei Erreichen des Pleuraraums wird die Nadel fixiert und die Kunststoffkanüle vorgeschoben. Nachdem die Nadel entfernt ist, wird ein DreiWege-Hahn angeschlossen und die Spritze wieder aufgesetzt. Jetzt kann Flüssigkeit und Luft abgesaugt werden.
O2-Applikation
Die sofortige Sauerstoffgabe ist der wesentliche Bestandteil der initialen Therapie. Die Insufflation von Sauerstoff mit Hilfe einer Nasensonde oder einer transparenten Gesichtsmaske soll bei jedem schwerverletzten Kind mit dem Ziel einer SaO2>95% durchgeführt werden. Transparente Gesichtsmasken bieten den Vorteil, eine Regurgitation von Mageninhalt oder eine Ansammlung von Blut oder Schleim im Mund-Rachen-Raum rasch erkennen zu können, aller-
Wenn Luft (wegen fehlender Besserung) oder Flüssigkeit (wegen fortbestehender Blutung) weiter abgeleitet werden müssen, ist die dauerhafte Drainage indiziert. In der Klinik ist sie das Mittel der Wahl zur definitiven Behandlung.
9
144
Kapitel 9 · Thoraxtrauma
Thoraxdrainage 4 Punktionsort wählen und großflächig chirurgisch desinfizieren 4 Lokalanästhesie 4 Thoraxdrainageset: – Säugling: 12 F – Kleinkind: 16–20 F – Schulkind: 20–28 F – Jugendlicher: 28 F 4 Hautinzision ein Interkostalraum tiefer als vorgesehener Punktionsort. Stumpfe Präparation durch Faszie, Muskulatur und Pleura parietalis 4 Horizontale Punktion der Pleurahöhle mit dem Drainageset. Fixierung des Trokars und Einführen des Schlauches 4 Bei korrekter Lage entweicht Luft atemsynchron und es entleert sich Flüssigkeit, die Spiegel spielen atemabhängig.
. Tab. 9.6 Durchmesser des Tubus nach Alter des Kindes Alter
Durchmesser [mm]
Frühgeburt (<1500 g)
2,5
Neugeborenes
3,0
6 Monate
3,5
1 Jahr
4,0
2 Jahre
4,5
4 Jahre
5,0
6 Jahre
5,5
8 Jahre
6,0
10 Jahre
6,5
12 Jahre
7,0
. Tab. 9.7 Länge des Tubus nach Alter des Kindes
9 9.3.3
Endotracheale Intubation
Bei fehlender Besserung des Oxygenierungsindex ist zur Sicherung der Atemwege und zur Optimierung der Beatmung die endotracheale Intubation am Unfallort durchzuführen.
Intubationsweg
Länge des Tubus [cm]
Orotracheale Intubation
(Lebensalter/2) + 12
Nasotracheale Intubation
(Lebensalter/2) + 15
9.4.1 4 Wegen der großen Zunge und eines langen U-förmigen Kehldeckels Verwendung eines geraden Laryngoskopspatels – Frühgeborene: Nr. 0 – Reife Neugeborene bis 3 Jahre: Nr. 1 – Kinder >3 Jahre: Nr. 3 4 Kehldeckel aufladen und Stimmritzen einsehen. 4 Druck auf den Kehlkopf durch Assistenz 4 Wahl der richtigen Tubusgröße und -länge (. Tab. 9.6 und . Tab. 9.7).
9.4
Knöcherne Verletzungen
Knöcherne Verletzungen im Bereich des Thorax betreffen in erster Linie die Klavikula und die Wirbelsäule. Sie werden mit der normalen Röntgen-Thoraxaufnahme oder im Verdachtsfall mit der Wirbelsäulenaufnahme in 2 Ebenen diagnostiziert. Bei unauffälligem Röntgenbefund trotz positiver Klinik sind Spezialaufnahmen (Skapula, tangentiale Rippenaufnahmen) anzufertigen. Beim schwerverletzten Kind ist auf der Computertomographie des Thorax nach Verletzungen der knöchernen Strukturen zu suchen (Chaumoitre et al. 2008).
Wirbelsäulenläsion
7 Kap. 12
9.4.2
Klavikulafraktur
Klavikulafrakturen können problemlos in 2- bis 3-wöchiger Rucksackverbandbehandlung ausgeheilt werden. Nur bei nicht zu redressierender Dislokation und bei drohender oder erfolgter Durchspießung ist eine intramedulläre Nagelung indiziert (7 Kap. 14.1).
9.4.3
Rippenfrakturen
Rippenfrakturen sind infolge der hohen Elastizität des Thorax des Kindes selten. Eine Fraktur der ersten oder mehrerer Rippen ist ein Indikator für eine massive Gewalteinwirkung und eine gravierende Verletzung (Garcia et al. 1990). Auch beim Zufallsbefund ist beim Kleinkind immer an ein Battered-Child-Syndrom zu denken (7 Kap. 27). Es muss nach weiteren Traumafolgen gefahndet werden. Kinder, bei denen das Thoraxtrauma mit einer Rippenfraktur einhergeht, sind schwerer verletzt als Kinder mit
145 9.5 · Verletzung des Lungenparenchyms
Die Behandlung einer isolierten Sternumfraktur ist symptomatisch.
9.4.5
. Abb. 9.3 Rippenfraktur 4 bis 8 links. Lungenkontusion
einem stumpfen oder perforierenden Trauma ohne Rippenfraktur. So ist z. B. die Letalitätsrate der Kombination eines Thoraxtraumas mit Rippenfraktur und SchädelHirn-Trauma mit 70% außerordentlich hoch (Garcia et al. 1990). Beim schweren Thoraxtrauma steht die Behandlung der vital bedrohenden Verletzungen im Vordergrund, die Rippenfrakturen erfordern keine weiteren Maßnahmen (. Abb. 9.3). Die Behandlung der einfachen Rippenfraktur erfolgt symptomatisch durch Analgetika. Verbände sind nicht erforderlich. Eine Operationsindikation bei einer Rippenfraktur ist nicht gegeben. Als Folge eines ausgedehnten Hämatoms im Bereich der Halsganglien nach schwerem Thoraxtrauma mit Fraktur der ersten Rippe kann ein passageres Horner-Syndrom resultieren (Ozel u. Kazez 2005).
9.4.4
Skapulafraktur
Die verschiedenen Ossifikationszentren der Skapula können Frakturen vortäuschen. Da die Ossifikation der Skapula bis zu Beginn des dritten Lebensjahrzehnts dauert und auch verzögerte Fusionen der einzelnen Ossifikationskerne möglich sind, können Verwechslungen mit Frakturen erfolgen. Skapulafrakturen sind im Kindesalter sehr selten. Die Skapula ist durch die umgebende Muskulatur geschützt. Eine Fraktur erfolgt nur in Zusammenhang mit einem schweren Trauma. Die Behandlung der anderen Verletzungen ist vorrangig. Klinisch sind die Verletzung der Weichteile, die Schwellung und starke Schmerzhaftigkeit hinweisend. In der Röntgendiagnostik ist die a.p. Aufnahme in der Regel indiziert. Die seitliche axiale Aufnahme ist beim schwerverletzten Kind in der akuten Situation kaum durchzuführen. In jedem Fall kann die Fraktur in der Computertomographie diagnostiziert werden. Die Einteilung erfolgt nach der Lokalisation der Fraktur in der Klavikula: Körper, Hals, Glenoid, Akromion, Korakoid (7 Kap. 14.2).
9.5
Verletzung des Lungenparenchyms
Es kann zu Lungenkontusionen, traumatischen Pneumatozelen und Lungenzerreißungen kommen. ! Die Hälfte der Kinder mit Verletzungen des Lungenparenchyms weist keinerlei äußere Verletzungszeichen auf!
Sternumfraktur
Die Sternumfraktur beim Kind ist selten. In der Literatur wird über vereinzelte Fälle berichtet, eine Untersuchung von Ferguson zeigt jedoch, dass das Sternum beim Klein- und Schulkind bereits durch geringere direkte oder indirekte Gewalteinwirkung frakturieren kann (Ferguson et al. 2003). Beim akuten Brustschmerz ist daher eine Sternumfraktur durch Hyperflexion der Brustwirbelsäule (Schaukel, Hüpfburg) in Betracht zu ziehen (DeFriend u. Franklin 2001) und eine seitliche Sternumaufnahme durchzuführen. An eine Verletzung der Wirbelsäule ist zu denken. Prinzipiell erfordern Sternumfrakturen und -luxationen eine deutliche Gewalteinwirkung. Sie können mit Rippen- und Klavikulafrakturen oder Herzverletzungen einhergehen.
9.5.1
Lungenkontusion
Die initiale Thoraxaufnahme weist beim Thoraxtrauma in bis zu 50% der Fälle den pathologischen Befund einer Lungenkontusion auf (. Abb. 9.5). Allerdings schließt ein primärer Normalbefund das Vorliegen einer Lungenparenchymschädigung nicht aus (Allen et al. 1997; Allen u. Cox 1998). Radiologische Veränderungen (verminderte Transparenz, Parenchymverschattung) können auch erst nach 4–6 h manifest werden. Engmaschige Kontrolluntersuchungen sind daher notwendig (. Abb. 9.4). Die Veränderungen sind nicht immer zu unterscheiden von durch Aspiration hervorgerufenen Läsionen (. Abb. 9.5).
9
146
Kapitel 9 · Thoraxtrauma
9
. Abb. 9.4 Pathophysiologie der Lungenkontusion
Therapie. Ziel der Behandlung ist die ausreichende Oxygenierung (SaO2 >95%). Die Therapie besteht in unterstützenden Maßnahmen. So unterstützt heilen die meisten Kontusionen innerhalb von 7–10 Tagen. 20–37% der Kinder mit einem stumpfen Thoraxtrauma benötigen bei fehlender Besserung der Oxygenierung eine mechanische Beatmung.
Beatmungsmöglichkeiten beim stumpfen Thoraxtrauma 4 4 4 4
Konventionelle Beatmung Oszillierende Hochfrequenzbeatmung NO ECMO
Therapie der Lungenkontusion 4 4 4 4 4 4
Sauerstoffzufuhr oder Beatmung Ausreichende Analgesie Antibiotische Therapie Exakte Flüssigkeitsbilanzierung Bronchialtoilette Lagerung, ggf. Rotationsbett und intensive Physiotherapie, Klopfen
9.5.2
Traumatische Pneumatozele
Luft- oder flüssigkeitsgefüllte Zysten im Lungenparenchym imponieren auf dem Röntgenbild, wenn sich nach einer Verletzung des Lungenparenchyms Hohlräume gebildet haben. Sie nehmen über 10–14 Tage an Größe zu und lösen sich dann wieder auf. Bei Kindern verursachen sie selten Symptome. Eine Intervention ist in der Regel nicht erforderlich (. Abb. 9.6).
147 9.5 · Verletzung des Lungenparenchyms
. Abb. 9.5 Polytraumapatient. Lungenkontusion beidseits, Hämatothorax rechts, mediastinale Einblutung und Perikarderguss und Weichteilemphysem
a c
b
. Abb. 9.6a–c Pneumatozele. a Verschattung rechtes Mittelfeld. b Hämato-Pneumatozele im CT. c Keine Therapie, Verschwinden nach 6 Wochen
9
148
Kapitel 9 · Thoraxtrauma
Operationsindikation. Bei Infektion oder Abszessbildung (thorakoskopische Drainage) oder bei Kompression von normalem Lungengewebe.
9.5.3
Lungenzerreißung
Pulmonale Lazerationen sind bei Kindern selten, verlaufen dann aber in 40% der Fälle letal. Symptomatisch sind Atemnot, ein Hämato- oder Pneumothorax und eine persistierende Blutung. Kleine Zerreißungen heilen unter der Behandlung mit einer Thoraxdrainage spontan. Bei persistierendem Luftleck ist zum Ausschluss einer Verletzung des Tracheobronchialbaums eine Tracheobronchoskopie indiziert.
9
Operationsindikation. Größere Lazerationen können massiv bluten und müssen dann operativ behandelt werden. Im Zuge einer Thorakotomie erfolgt eine Umstechung, bei ausgedehnter Zerstörung eines Segments oder Lappens die Lungenresektion. Die Lobektomie oder Pneumonektomie beim akuten Trauma geht allerdings mit einer Letalität von 55–100% einher! Situationsbedingt kommen verschiedene Operationsverfahren zur Anwendung: 4 Anatomische segmentale Lungenresektion 4 Dekortikation 4 Atypische Lungenresektion
9.6
Pneumothorax
Durch die Mobilität des Mediastinums besteht beim Kind eine größere Gefahr als beim Erwachsenen, durch einen Pneumo- oder Hämatothorax eine lebensbedrohliche kardiovaskuläre Kompression zu erleiden. Ein kleiner Pneumothorax hingegen hat nur eine geringe klinische Relevanz. Mit einer Thoraxdrainage kann er in der Regel selbst bei positivem Beatmungsdruck ausheilen (. Abb. 9.7).
9.7
Hämatothorax
Ein Hämatothorax besteht bei 13–29% der stumpfen Thoraxverletzungen und verläuft in 17% der Fälle tödlich. Die häufigsten Ursachen sind Zerreißungen der interkostalen Gefäße, Einrisse des Lungenparenchyms oder Verletzungen der großen Gefäße. Operationsindikation. Durch eine Thoraxdrainage muss das Blut sofort aus dem Pleuraraum abgeleitet werden (Vorgehen Thoraxdrainage 7 Kap. 9.3.2). Bei einem Ver-
. Abb. 9.7 Pneumothorax links bei 13 Jahre altem Knaben
halt im Pleuraraum droht das Auftreten eines Pleuraempyems oder einer Pleuraschwarte. Intrathorakale Blutansammlungen, die durch die Thoraxdrainage nicht abgeleitet werden können oder über eine Woche persistieren, müssen durch eine Thorakoskopie oder -tomie beseitigt werden.
9.8
Tracheobronchialbaum
Verletzungen des Tracheobronchialbaums werden im Kindesalter nur bei 0,7–2,8% der Thoraxverletzungen gesehen. Sie gehen mit einer Letalität von 30% einher. Die Hälfte der Todesfälle tritt innerhalb der ersten Stunde nach dem Trauma ein. Wird eine Verletzung des Tracheobronchialbaums initial übersehen, resultiert eine akute respiratorische Störung, es entstehen irreversible entzündliche Veränderungen (Epelman et al. 2002). 80% der Läsionen finden sich um die Carina herum. Sie resultieren aus der starken Kompression der flexiblen Thoraxwand. Das Sternum drückt auf die Wirbelsäule, wodurch die Lungen nach lateral verdrängt werden. Dadurch rupturiert der Trachealbaum in Höhe der Carina. Die Symptome können zunächst gering sein. > Bei Vorliegen einer Rippenfraktur ist in 25% mit einer Verletzung des Tracheobronchialbaums zu rechnen.
149 9.10 · Verletzung weiterer intrathorakaler Organe
Operationsindikation. Bei fehlender Besserung nach Legen einer Thoraxdrainage, bei einer kontinuierlichen Leckage und bei persistierendem Pneumoperitoneum ist an eine Ruptur zu denken. Sie lässt sich bronchoskopisch diagnostizieren. Dabei kann der Tubus jenseits des Lecks platziert werden. Diese Untersuchung wird in Operationsbereitschaft durchgeführt. Verletzungen mit einem Ausmaß unter 1/3 der Trachea-Zirkumferenz können konservativ behandelt werden, wenn das Kind stabil bleibt. Bei größeren Rupturen ist eine Thorakotomie erforderlich. Die Dehiszenz wird mit Einzelknopfnähten verschlossen, die Knoten kommen außen zu liegen. Die Nahtreihe sollte mit vaskularisiertem Gewebe aus der Umgebung gedeckt werden. An Komplikationen können eine bronchopleurale Fistel mit anhaltendem Pneumothorax, eine Trachealstenose mit Stridor und insuffizienter Spontanatmung oder eine pulmonal bedingte Sepsis auftreten. Die bronchopleurale Fistel muss operativ verschlossen, die Trachealstenose chirurgisch korrigiert werden (z. B. Resektion oder Erweiterungsplastik). Die antibiotisch nicht zu beherrschende Sepsis muss ggf. durch eine Resektion des entzündeten Lungenanteils zur Ruhe gebracht werden.
9.9
Traumatisches Emphysem
9.9.1
Subkutanes Emphysem
. Abb. 9.8 Thoraxtrauma bei 10 Jahre altem Mädchen mit Überrolltrauma und massivem Hautemphysem
9.9.3
Durch Rippenfrakturen kann es nicht nur zur Verletzung der Pleura parietalis, sondern auch zu Verletzungen des Lungenparenchyms kommen. Dadurch kann sich austretende Luft in der Subkutis der Thoraxwand ausdehnen. Das subkutane Emphysem ist zunächst am Ort der Verletzung zu palpieren, kann aber groteske Ausmaße mit einer Schwellung bis zur Halsregion annehmen. Die dadurch bedingten Beschwerden sind jedoch gering. Hier kann abgewartet werden. Ein vorhandener Pneumothorax ist zu drainieren (. Abb. 9.8).
9.9.2
Mediastinalemphysem
Ein Mediastinalemphysem kann aus Verletzungen der Trachea, der Bronchien, der Speiseröhre oder aus Lungenrupturen stammen. Bei massivem Austritt kann eine Ausdehnung über den ganzen Stamm erfolgen. Es besteht ein Beklemmungsgefühl und ein retrosternales Druckgefühl. Beim massiven Mediastinalemphysem muss von einem suprajugulären queren Hautschnitt aus zur Trachea hin präpariert und das Mediastinum stumpf bis zur Bifurkation an der Tracheavorderwand eröffnet und drainiert werden (. Abb. 9.9).
Zwerchfellverletzungen
Die Zwerchfellruptur ist selten. Sie kann beim stumpfen Thoraxtrauma oder bei einer perforierenden Verletzung erfolgen. Das klinische Bild zeigt eine ausgeprägte Atemnot. Auf der Röntgenaufnahme des Thorax ist nach Unterbrechungen des Zwerchfellschattens zu suchen. In die Pleurahöhle hernierte Darmschlingen sind beweisend. Kleine Verletzungen können bei der Erstdiagnostik übersehen werden. Die Behandlung erfolgt durch eine Laparotomie und den zweischichtigen Zwerchfellverschluss mit nicht resorbierbarem Nahtmaterial. Intraoperativ sind die anderen Abdominal- und Thoraxorgane sorgfältig auf weitere Verletzungen zu untersuchen.
9.10
Verletzung weiterer intrathorakaler Organe
9.10.1
Große Gefäße
Lebensbedrohliche Gefäßverletzungen im Thoraxbereich sind selten. Am ehesten kann die Aorta rupturiert sein. Die Patienten überleben meist den Transport in die Klinik nicht.
9
150
Kapitel 9 · Thoraxtrauma
4 Diagnose: Echokardiographie 4 Perikardpunktion von links subxiphoidal 45° in Richtung linke Schulter 4 Initial 14-G-Venenkatheter einlegen, evtl. chirurgische Perikardfensterung
Literatur
a
9
b . Abb. 9.9 Überrolltrauma. Lungenkontusion und Pneumothorax rechts
Eine Aortenruptur wird im Computertomogramm des Thorax manifest und erfordert einen sofortigen herz- beziehungsweise gefäßchirurgischen Eingriff (Tiao et al. 2000).
9.10.2
Herz
Herzverletzungen sind bei Kindern selten. Durch ein stumpfes Trauma kann es zur Herzmuskelkontusion kommen. Die Diagnostik erfolgt mit der Computertomographie. Die immer vorhandenen gravierenden Begleitverletzungen limitieren die Prognose. Ein Herzchirurg muss hinzugezogen werden. Zur Kontrolle dienen die herzspezifischen Laborwerte. Bei einer perforierenden Verletzung muss an eine Herzbeuteltamponade gedacht werden. Hier ist eine echokardiographische Untersuchung indiziert. Eine Herzbeuteltamponade erfordert eine sofortige Punktion mit einer Venenkanüle mit mindestens 14 G Durchmesser.
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151 9.10 · Verletzung weiterer intrathorakaler Organe
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9
10
Abdominaltrauma J. Lieber, J. Fuchs
10.1
Besonderheiten im Kindesalter
– 155
10.2
Ursachen, Häufigkeit, Klassifikation und Letalität
10.2.1 10.2.2 10.2.3 10.2.4 10.2.5
Einleitung – 155 Ursachen – 155 Häufigkeit – 157 Klassifikation – 157 Letalität – 157
10.3
Anamnese und Klinik
10.3.1 10.3.2
Anamnese – 158 Klinik – 158
10.4
Diagnostik
10.4.1 10.4.2 10.4.3 10.4.4
Bildgebung – allgemeine Aspekte Sonographie – 159 Computertomographie – 159 Labordiagnostik – 160
10.5
Therapie
10.5.1 10.5.2 10.5.3
Einleitung – 160 Konservative Therapie – 160 Komplikationen der konservativen Therapie und operative Maßnahmen – 160
10.6
Nierenverletzungen
10.6.1 10.6.2 10.6.3 10.6.4
Klassifikation – 161 Diagnostik – 161 Therapie – 162 Komplikationen – 164
10.7
Milz- und Leberverletzungen
10.7.1 10.7.2 10.7.3 10.7.4 10.7.5 10.7.6
Klassifikation – 164 Besonderheiten beim Kind und klinische Zeichen Diagnostik – 165 Therapie – 166 Komplikationen – 168 Follow-up – 169
– 158
– 159 – 159
– 160
– 161
– 164 – 165
– 155
10.8
Pankreas- und Gallengangsverletzungen
10.8.1 10.8.2 10.8.3 10.8.4
Klassifikation – 169 Diagnostik – 169 Therapie – 170 Komplikationen – 171
10.9
Hohlorganverletzungen
10.9.1 10.9.2 10.9.3 10.9.4
Klassifikation – 172 Diagnostik – 172 Therapie – 174 Komplikationen – 175
10.10
Nebennierenverletzungen
10.10.1 10.10.2
Klassifikation – 175 Diagnostik und Therapie
10.11
Harnblasenverletzungen
10.11.1 10.11.2 10.11.3 10.11.4
Klassifikation – 176 Diagnostik – 176 Therapie – 176 Komplikationen – 177
10.12
Urethraverletzungen
10.12.1 10.12.2 10.12.3 10.12.4
Klassifikation – 177 Diagnostik – 177 Therapie – 177 Komplikationen – 178
10.13
Fazit
– 178
Literatur
– 178
– 172
– 175
– 175
– 176
– 177
– 169
155 10.2 · Ursachen, Häufigkeit, Klassifikation und Letalität
Abdominaltraumen betreffen sowohl den Weichteilmantel, das knöcherne Skelett als auch die intraabdominellen Organe. Mit Verletzungen des Weichteilmantels sind Bauchdeckenwunden – mit oder ohne Perforation –, Decollements oder Verbrühungen und Verbrennungen gemeint (7 Kap. 25). Knöcherne Verletzungen sind selten, zu Frakturen der Wirbelsäule siehe 7 Kap. 12. Beim eigentlichen Abdominaltrauma sind die inneren Organe betroffen. Hierbei erstreckt sich die klinische Variabilität von der Beobachtungspflichtigkeit eines nahezu beschwerdefreien Patienten bis hin zum lebensbedrohlichen Zustand. In der Regel sind Abdominalverletzungen im Kindesalter konservativ zu therapieren. Dennoch müssen alle Besonderheiten dieser Verletzungsart bekannt, eine Überwachung auf einer kindertraumatologischen Intensivstation gewährleistet und die konservative und auch operative Versorgung lebensbedrohlicher Abdominalverletzungen sichergestellt sein.
10.1
ger durch die Rippen geschützt. Zusätzlich wird beim Kind die auf das Abdomen auftretende Gewalt durch das fehlende Fettpolster in der Bauchwand sowie die noch schwach ausgebildete Muskulatur ungebremst auf die Bauchorgane übertragen. Die parenchymatösen Organe beim Kind sind flüssigkeitsreicher, deshalb weniger komprimierbar und es kommt nicht selten zu einer Berstung mit oberflächlichen oder tiefen Einrissen. Außerdem muss die relative Organgröße (insbesondere der Leber) bei jungen Patienten bedacht werden. Eine weitere Besonderheit beim stumpfen Bauchtrauma im Kindesalter ist das Vorliegen von Fehlbildungen (. Abb. 10.1), deren Häufigkeit im Bereich der Niere mit bis zu 5% angegeben wird. Das Gleiche trifft bei kongenitalen Milz- und Leberzysten sowie infektiösen (Echinokokkus, EBV-Infektion mit Splenomegalie (. Abb. 10.2) und malignen Erkrankungen (z. B. Morbus Hodgkin) zu.
10.2
Ursachen, Häufigkeit, Klassifikation und Letalität
10.2.1
Einleitung
Besonderheiten im Kindesalter
Neben den altersabhängigen physischen und psychischen Entwicklungsstufen gibt es zahlreiche anatomische Besonderheiten beim Heranwachsenden. Alle Organe sind weni-
> Abdominelle Verletzungen kommen im Kindesalter bei 2–5% aller Unfälle vor.
In Zentraleuropa handelt es sich dabei fast ausschließlich um stumpfe Traumen. Penetrierende Verletzungen stellen eine absolute Ausnahme dar, werden aber in der amerikanischen Literatur häufiger beschrieben. Beim stumpfen Bauchtrauma kommen Abdominalverletzungen nur in einem Drittel der Fälle als isolierte Verletzungen vor, in einem weiteren Drittel treten sie im Rahmen von Mehrfachverletzungen und Polytraumen (7 Kap. 11) auf und sind dann meist mit einem Schädel-HirnTrauma und einem Thoraxtrauma verbunden, im letzten Drittel mit Extremitätenfrakturen und Weichteilverletzungen.
10.2.2
. Abb. 10.1 Hufeisenniere. Nach stumpfem Bauchtrauma kam es zur Ruptur im Bereich der Parenchymbrücke, die bis an das Kelchsystem heranreicht
Ursachen
Die Unfallursachen bei Abdominalverletzungen sind altersabhängig und entstehen bei Kleinkindern durch Stürze im Haushalt oder von Spielgeräten. Bei Schulkindern rücken bei zunehmenden Freizeitaktivitäten Sportunfälle in den Vordergrund. In allen Altersgruppen zählen Verkehrsunfälle sowohl passiv als PKW-Insasse als auch als aktiver Verkehrsteilnehmer wie Fahrradfahrer oder Skateboardfahrer zu den typischen Ursachen. Bei Fahrradunfällen ohne die Beteiligung von weiteren Verkehrsteilnehmern kommen die typischen Lenkerverletzungen vor, die aller-
H.G. Dietz et al. (Hrsg.), Praxis der Kinder-und Jugendtraumatologie, DOI 10.1007/978-3-642-12935-3_10, © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2011
10
156
Kapitel 10 · Abdominaltrauma
a c
10
b
d
. Abb. 10.2a–d EBV-Infektion und Splenomegalie. Im Verlauf Bauchschmerzen ohne erinnerliches Trauma. a, b Darstellung des subkapsulären Milzhämatoms in der Computertomographie. c Sonographischer Befund des Milzhämatoms. d Bei Größenprogredienz
ohne Nachweis einer aktiven Blutung und Schmerzpersistenz erfolgte nach 3 Wochen die Pigtail-Einlage mit Entleerung von 1500 ml serohämatösen Sekrets. Sonographische Kontrolle
dings auf Grund von höheren Sicherheitsansprüchen an das Material seltener geworden sind. Verletzungen im Rahmen von Verkehrsunfällen mit hohen Geschwindigkeiten werden als Hochrasanztraumata bezeichnet und gehen in der Regel mit schweren und mehrfachen Verletzungen einher. Zu diesen sog. »Highvelocity«-Unfällen gehören auch Stürze aus großer Höhe (z. B. vom Balkon, aus dem Fenster eines höheren Stockwerkes) und manche Hochrisikosportarten (z. B. Reiten). Die Verletzungen der Bauchorgane entstehen bei diesen Unfällen durch direkte Gewalteinwirkung auf die Bauchdecke, durch Dezelerationen (Kollision, Sturz aus größerer Höhe) oder durch Schermechanismen (z. B. Überrolltrauma, Gurttrauma). Ursachen eines Bauchtraumas können auch Schläge und Tritte im Rahmen nicht akzidenteller Traumen wie der Kindesmisshandlung sein (Roaten et al. 2006).
> Bei Kindesmisshandlungen kommen abdominelle Verletzungen in ca. 8% der Fälle vor! Sie haben also die gleiche Inzidenz wie in der Gruppe der akzidentellen Verletzungen und stellen nach Schädel, Extremitäten und Thorax die vierthäufigste Lokalisation bei Misshandlungen dar (7 Kap. 27).
Zuletzt muss im Rahmen von Reanimationsmaßnahmen mit Verletzungen der intraabdominellen Organe gerechnet werden (. Abb. 10.3). Auch geburtstraumatisch kann es typischerweise zu Einblutungen in die Nebennieren kommen. Wie bei den absoluten Unfallzahlen sind auch bei den Abdominalverletzungen Jungen häufiger betroffen als Mädchen. Es werden zwei Inzidenzgipfel für Bauchverletzungen gefunden, wobei der erste zwischen dem 8. und 9. Lebensjahr liegt und der zweite zwischen dem 14. und 15. Lebensjahr.
157 10.2 · Ursachen, Häufigkeit, Klassifikation und Mortalität
. Tab. 10.1 Häufigkeitsangaben für verletzte intraabdominelle Organe nach stumpfem Bauchtrauma Organ
%
Literaturangabe
Niere
42
Wessel et al. 2000
Milz
33
Stylianos 2005
Leber
33
Stylianos 2005
Pankreas
2–10
Jacombs et al. 2005
Gastrointestinaltrakt
4,9
Galifer et al. 2001
Duodenum
0,6–3
Weigelt 1990
Dick-, Dünndarm
1
Jerby et al. 1997
Magen
<2
Durham et al. 1990
Harnblase
1,5
Iuchtman et al. 2000
Urethra
0,05
McAleer et al. 1993
Nebenniere
1–4,9
Soundappan et al. 2006, Schwarz et al. 2000
Gallenblase, -gänge
Kasuistisch
Galifer et al. 2001
tische Nebennierenverletzungen haben eine Inzidenz von etwa 1% und repräsentieren einen Indikator für andere intraabdominelle Organverletzungen, die dann nahezu immer vorliegen. . Abb. 10.3 Milzruptur nach Reanimation
10.2.3
Häufigkeit
Bezüglich der Häufigkeit der betroffenen Organe finden sich unterschiedliche Angaben in der Literatur (. Tab. 10.1). In einem kindertraumatologischen Zentrum, welches das gesamte Verletzungsspektrum behandelt, ist die Niere das am häufigsten verletzte Organ (Wessel et al. 2000). Milzverletzungen stehen an zweiter Stelle gefolgt von Leberverletzungen. Bei letzteren kann eine Gefäßbeteiligung – die retrohepatische Verletzung der Vena cava – vorliegen. An vierter Stelle stehen die Pankreasverletzungen – mit oder ohne Beteiligung des Ductus pancreaticus – und konsekutive traumatisch bedingte Pankreatitiden. Verletzungen des Gastrointestinaltraktes werden in 1,4–4,9% der Fälle beobachtet, wobei die Magenperforation eine Rarität darstellt. Verletzungen von Gallenblase und Gallengängen werden im Kindesalter kasuistisch beschrieben. Ebenso selten sind urogenitale Verletzungen mit Ausnahme der bereits erwähnten Nierenverletzung. Dennoch kommen Blasenrupturen und Harnröhrenverletzungen im Rahmen von Beckentraumen mit Beckenfrakturen und nach perinealen Verletzungen (sog. »straddle injury«) vor. Trauma-
> Verteilungsmuster intraabdomineller Verletzungen beim stumpfen Bauchtrauma nach Häufigkeit: Niere – Milz – Leber – Pankreas – Darm – Rest
10.2.4
Klassifikation
Klassifiziert werden intraabdominelle Verletzungen nach ihrem Auftreten (einzeitig oder zweizeitig, z. B. Milzruptur) und der Schwere der Verletzung (isolierte Verletzung, Verletzung mit weiteren intraabdominellen Organverletzungen, Verletzung im Rahmen eines Polytraumas), wobei letzteres eine gravierende Auswirkung auf die Therapieentscheidung haben kann (7 Kap. 11). Die Schweregradeinteilung der traumatischen Organverletzungen erfolgt nach der AAST (American Association for the Surgery of Trauma) unter therapeutischen und prognostischen Bedingungen und wird bei den einzelnen Organen aufgeführt.
10.2.5
Letalität
Die Letalität beim stumpfen Bauchtrauma ist entscheidend von der Schwere der Organverletzung, insbesondere der
10
158
Kapitel 10 · Abdominaltrauma
. Tab. 10.2 Letalitätsangaben für verletzte intraabdominelle Organe
10
Organ
%
Literaturangabe
Milz
13,5
Jim et al. 2008 (hochgradig, ISS ≥4)
Leber
8,6–21
Deluca 2007, Kumar Surg Int 2002 (Multisystem)
Niere
0
Henderson et al. 2007 (Nephrektomierate 3,2%)
Pankreas
4,6
Jacombs et al. 2004
Darm
12,5
Grosfeld et al. 1975
Magen
20
Brunsting et al. 1987
Gallengänge
5
Debeugny et al 1988
Duodenum
16,7%
Levison et al. 1975
Leber- und Milzverletzung abhängig (Rose u. Marzi 1996). Weitere Aspekte sind die Anzahl der verletzten Organe und – hinsichtlich des Intestinaltraktes – der Diagnosezeitpunkt. Die Letalität nach stumpfem Bauchtrauma wird in der Literatur sehr variabel mit 5–30% angegeben. Für die Frühletalität nach einem Unfall sind primär Schädel-Hirn- und Thoraxverletzungen (Herz- und Gefäßverletzungen) verantwortlich. An der Gesamtletalität beteiligen sich jedoch die intraabdominellen Organe, allen voran die parenchymatösen Organe Leber und Milz durch den Volumenverlust. Verletzungen des Pankreas und des Urogenitaltraktes können Läsionen mit beträchtlichen Dauerfolgen hinterlassen. Die Letalitätsangaben für die einzelnen Organe bei isolierter Verletzungsart sind . Tab. 10.2 zu entnehmen.
10.3
Anamnese und Klinik
Die Verdachtsdiagnose einer Abdominalverletzung ergibt sich aus der Anamnese, der Erstinspektion sowie der klinischen Untersuchung.
10.3.1
. Abb. 10.4 Gurtmarken nach PKW-Unfall bei einer Patientin, die körpergrößen- und körpergewichtsgerecht in einem 3-Punkt-System angeschnallt war. Es fanden sich keine intraabdominellen Verletzungen
Inzidenzen für intraabdominelle Verletzungen im Rahmen von Autounfällen auf, jedoch mit einem unterschiedlichen Spektrum von Organverletzungen (Sicherheitsgurt-Trias oder Seatbelt-Syndrom: von Garrett 1962 und Doersch 1968 beschrieben; . Abb. 10.4). Dafür haben inkorrekt angeschnallte Kinder signifikant häufiger Hohlorganverletzungen als korrekt angeschnallte. Die Benutzung eines Sicherheitskissens, um im Kindesalter eine suffiziente 3-Punkt-Rückhaltefunktion zu erreichen, senkt das Verletzungsrisiko um 75%. Das zur Fahrtrichtung rückwärts gerichtete Sitzen in einem kindgerechten Rückhaltesystem verteilt die Energie bei einem Frontalaufprall derart günstig, dass das Verletzungsrisiko um 90% und die Mortalität auf 1/5 sinkt. Gurtmarken im Bauchdeckenbereich geben Hinweise auf die Schwere des Unfalls und lassen intraabdominelle Hohlorganverletzungen und Verletzungen des Mesenteriums in bis zu 25% der Fälle erwarten. Hier muss auch eine Untersuchung der Wirbelsäule erfolgen, da Frakturen im Rahmen typischer Kombinationsverletzungen (7 Kap. 11) auftreten. Typische Prellmarken im Oberbauch nach Fahrradlenkerverletzungen lassen nicht nur Milz- und Leberverletzungen vermuten, sondern können auch Hinweis auf seltene Verletzungen der extrahepatischen Gallenwege und der Gallenblase sein (Galifer et al. 2001).
Anamnese
Die anamnestische Einschätzung der Schwere des Unfalls hat eine immense Bedeutung. Bei Kindern stehen im Straßenverkehr verschiedene alters- und gewichtsadaptierte Sicherheits- und Rückhaltesysteme zur Verfügung, die bei fehlender oder unsachgemäßer Anwendung ein spezielles Verletzungsmuster vermuten lassen, aus dem eine gezielte Diagnostik abgeleitet werden kann. Angeschnallte und nicht angeschnallte Personen weisen gleiche
10.3.2
Klinik
Führendes Leitsymptom beim Abdominaltrauma sind der Bauchschmerz und der Druckschmerz des Abdomens. Bei allen intraabdominellen Organverletzungen mit hämodynamisch relevanten Blutungen kommt es zum Blutdruckabfall und zur Tachykardie. Die organspezifischen Beschwerden werden in den jeweiligen Kapiteln abgehan-
159 10.4 · Diagnostik
delt, die Notfallmaßnahmen am Kind sind in 7 Kap. 2 beschrieben.
10.4
Diagnostik
10.4.1
Bildgebung – allgemeine Aspekte
Als primäre bildgebende Diagnostik nach einem Abdominaltrauma wird in zahlreichen Studien die Computertomographie angegeben. Die Untersuchung ist beim Polytrauma auf Schädel und Thorax erweiterbar. Die Sonographie kann jedoch bei einer vermuteten isolierten abdominellen Verletzung beim hämodynamisch stabilen Patienten als alleinige Diagnostik zur Anwendung kommen. Beide genannten Verfahren sind technisch stark verbessert worden und weisen im Vergleich Vor- und Nachteile auf. Konventionelle Röntgenuntersuchungen und Kontrastmittelstudien finden in der Ära des »Trauma-Scans« (hochauflösendes Spiral-CT) primär keine Anwendung mehr. Die Magnetresonanztomographie (MRT) wird auf Grund der Untersuchungsdauer nur beim hämodynamisch stabilen Patienten, sekundär und als Verlaufskontrolluntersuchung durchgeführt. Weitere diagnostische Möglichkeiten stellen die Endoskopie (z. B. endoskopische retrograde Cholangiopankreatikographie [ERCP]) und die Szintigraphie (sekundär nach Nierenverletzungen) dar. Die Durchführung einer diagnostischen Peritoneallavage ist invasiv, den heute zur Verfügung stehenden bildgebenden diagnostischen Möglichkeiten unterlegen und findet deshalb in Mitteleuropa keinerlei Anwendung mehr.
10.4.2
Sonographie
Die FAST (»focused abdominal sonography for trauma«) ist in jedem modernen Schockraum einsetzbar und erreicht auch beim Kind Sensitivitätswerte von >81% und Spezifitätswerte von 100%. Bei der Suche nach freier Flüssigkeit in der Bauchhöhle retrovesikal, parakolisch und subhepatisch sind die Verfügbarkeit, die geringe Untersuchungsdauer (durchschnittlich 3 min), und die fehlende Strahlenbelastung Argumente für die Durchführung einer sofortigen Sonographie. Allerdings schließt das Fehlen von freier intraperitonealer Flüssigkeit eine intraabdominelle Verletzung nicht aus. Beim hämodynamisch stabilen Patienten ist Zeit für eine vollständige sonographische Untersuchung, die dann Sensitivitätswerte von >90% erreicht. Hier kann neben dem Flüssigkeitsnachweis auch die Zusammensetzung der Flüssigkeit Hinweise für eine Verletzung geben. Echofreie Flüssigkeiten lassen Nieren- oder Blasenrupturen vermuten oder sind Hinweis auf eine Pankreasruptur. Dagegen spre-
chen echoreiche Flüssigkeiten intraabdominell eher für Milz- oder Leberverletzungen. Entscheidender als die Zusammensetzung der Flüssigkeit ist die Klärung der Frage, ob und wie schnell die freie Flüssigkeit zu- bzw. abnimmt. Für repetitive Kontrolluntersuchungen kann die Sonographie bettseitig, in kurzen Abständen und ohne Belastung für den Patienten eingesetzt werden. Erst an dritter Stelle folgt der direkte Nachweis der Parenchymverletzung. Die Benutzung von Kontrastmitteln bei der Sonographie (CEUS – »contrast enhanced ultrasound«) illustriert Parenchymverletzungen um ein Vielfaches besser. Schwierigkeiten können bei der Sonographie durch Luftüberlagerungen auftreten, insbesondere bei Pankreasverletzungen. Für die Diagnostik bei Hohlorganverletzungen ist die Sonographie nicht geeignet.
10.4.3
Computertomographie
Für die Computertomographie werden heute Sensitivitätsund Spezifitätswerte von jeweils >98% bei abdominellen Verletzungen angegeben. Die Kontrastmittelapplikation optimiert die Darstellung vaskulärer Strukturen sowie des Parenchyms mit entsprechenden inhomogenen Aussparungen und Extravasaten. ! Cave Der entscheidende Vorteil des CT liegt zum einen in der kurzen Untersuchungsdauer von nur wenigen Minuten, zum anderen in der exakten Bestimmung des Verletzungsgrades und den damit verbundenen therapeutischen Schlussfolgerungen.
Die hohe Sensitivität und Spezifität sowie die kurze Untersuchungsdauer machen die CT bei allen Mehrfachverletzungen und Polytraumata zum primären Diagnostikum. Bei isolierter Verletzung eines Bauchorgans und bei hämodynamisch stabilem Patienten ist die CT indiziert, wenn die Sonographie nicht zweifelsfrei die Diagnose stellt und die Verletzung nicht exakt graduieren kann. Für eine maximale Aussagekraft muss ein triphasisches CT angefertigt werden. Hierbei handelt es sich um eine Nativdarstellung, gefolgt von Kontrastmitteluntersuchungen in der frühen arteriellen Phase zur Darstellung von Gefäßläsionen und zuletzt in der späten arteriellen Phase zur Beurteilung des Parenchyms. Die gesamte Untersuchung dauert weniger als 2 min, ist jedoch mit einer hohen Strahlenbelastung verbunden. Zur Strahlenreduktion wird heutzutage ein monophasisches Kontrastmittel-Multislice-Spiral-CT gefahren. Technisch gesehen erfolgt dabei initial eine langsame Kontrastmittelinfusion zur Aufsättigung, gefolgt von einer zweiten schnellen Kontrastmittelgabe. Die verschiedenen Gewebearten sind damit gleichermaßen kontrastiert und können in einer einzigen Untersuchungssequenz abge-
10
160
Kapitel 10 · Abdominaltrauma
bildet werden. Trotz Dosismodulationsprogrammen ist die Strahlenbelastung ca. 100- bis 300-mal höher als bei einer konventionellen Röntgen-Abdomenuntersuchung.
10.4.4
Labordiagnostik
Wichtigster laborchemischer Blutparameter ist der Hämoglobinwert, dessen Abnahme im Verlauf die verlorene Blutmenge widerspiegelt. Hier ist nicht nur der absolute Wert wichtig, sondern insbesondere die Geschwindigkeit des Abfalls. Der Hämatokritwert lässt Rückschlüsse auf Verdünnungseffekte zu. Die Analyse sollte initial alle 6–8 h erfolgen. Organspezifische Enzymerhöhungen werden in den jeweiligen Kapiteln beschrieben.
10
10.5
Therapie
10.5.1
Einleitung
Bereits in den frühen 1950er-Jahren wurde am Hospital for Sick Children in Toronto die Behandlung einer Milzruptur ohne Splenektomie beschrieben. Nach der ersten Publikation im Jahre 1968 von Simpson über die nicht-operative Behandlung von Milzrupturen bei 12 selektionierten Kindern hat sich über 4 Jahrzehnte ein gravierender Therapiewandel vollzogen. Für isolierte Milz- und Leberverletzungen erschienen zahlreiche Publikationen, die immer höhere Prozentzahlen für konservative Behandlungen angaben, am deutlichsten in den designierten amerikanischen »KinderTraumazentren«. Evidenzbasierte Daten lieferten schlussendlich Stylianos et al. (2000), die zunächst in einer Multicenterstudie den Ist-Status der Behandlung evaluierten, aus der Analyse der Ergebnisse Behandlungsrichtlinien etablierten und im weiteren deren Wirksamkeit beweisen konnten (Stylianos et al. 2002). Die Operationsrate für Kinder nach einer isolierten Milz- und Leberverletzung Grad 1–4 wird mit 1,3% angegeben. Mit diesen Behandlungsrichtlinien konnte zudem die Dauer für intensivmedizinischen und stationären Aufenthalt signifikant gesenkt, die Anzahl der bildgebenden Kontrolluntersuchungen und Sportkarenzzeiten reduziert und damit die Therapie sowohl effektiver als auch effizienter gemacht werden. Das konservative Management hielt Einzug auch bei der Behandlung anderer Abdominalverletzungen mit entscheidenden Vorteilen für die Patienten.
10.5.2
Konservative Therapie
Grundlage der konservativen Therapie ist die hämodynamische Stabilität des Patienten, nachdem eine intraabdominelle parenchymatöse Organverletzung nachgewiesen
und exakt graduiert wurde. Hierbei müssen die Parameter Blutdruck und Herzfrequenz kontinuierlich abgeleitet und mit Hilfe einer Infusionstherapie und evtl. Katecholaminen konstant gehalten werden. Eine blutige Blutdruckmessung ist hierfür wünschenswert. In Abhängigkeit von den Hämoglobin- und Hämatokritwerten werden Erythrozytenkonzentrate mit maximal 25ml/kg Körpergewicht (KG) in den ersten 2 h und insgesamt 40 ml/kg KG in 24 h verabreicht. Weiter müssen repetitive sonographische Kontrollen die Dynamik der intraabdominellen Flüssigkeitszunahme illustrieren. Konservative Therapie bei intraabdomineller Organblutung 4 4 4 4
Kontinuierliche (invasive) Blutdruckmessung Kontinuierliche Messung der Herzfrequenz Infusionstherapie Erythrozytenkonzentratgabe – 25 ml/kg KG in den ersten 2 h als Maximum – 40 ml/kg KG in 24 h als Maximum 4 Bettruhe 4 Nahrungskarenz 4 Sonographische Kontrolluntersuchungen
Unter dieser Therapie sollte es bei geschlossener Bauchdecke und begrenztem intraabdominellem Raum zu einer »Selbstkompression« der Organläsion kommen, welche die Basis des konservativen Managements darstellt. Ausnahmen sind Gefäßstielabrisse und Organverletzungen, die mit einem fehlenden Perfusionsnachweis einhergehen und in der Regel nicht konservativ beherrscht werden können. Weitere Ausnahmen sind intraabdominelle Mehrfachverletzungen, die ein individuelles Vorgehen erforderlich machen können sowie Polytraumen mit Abdominalverletzungen (7 Kap. 11).
10.5.3
Komplikationen der konservativen Therapie und operative Maßnahmen
Hauptkomplikation der konservativen Therapie bei blutenden Verletzungen der intraabdominellen Organe ist die fehlende Kreislaufstabilität des Patienten mit der Folge der notwendigen operativen Intervention. In der englischsprachigen Literatur wird dies als »failure rate« beim »nonoperative management« (NOM) bezeichnet. Holmes et al. (2005) geben die Häufigkeit in einem Kollektiv von 1729 Patienten mit 5% an. Am häufigsten wird eine operative Intervention nach initial begonnener konservativer Therapie innerhalb der ersten 12 h notwendig. Weiter ist die Rate assoziiert mit der Verletzungsschwere des Organs und der Anzahl der verletzen intraabdominellen Organe und/oder verletzten Körpersysteme (Sjovall et al. 1997). Schließlich
161 10.6 · Nierenverletzungen
haben die einzelnen Bauchorgane unterschiedlich hohe Raten notwendiger operativer Explorationen, wobei hier zwischen rein parenchymatösen Verletzungen (Leber und Milz) und Verletzungen von Gang- bzw. Hohlraumstrukturen (Pankreas, ableitende Harnwege) unterschieden werden muss. Zu differenzieren sind früh-sekundäre Operationen bei übersehenen Organverletzungen, wie sie insbesondere bei Hohlorganperforationen vorkommen können, und spät-sekundäre Operationen, die als Folgekomplikationen in Abhängigkeit von der Organläsion auftreten (z. B. chirurgische Therapie der Pankreaspseudozyste, Nephrektomie bei Nierenatrophie).
10.6
Nierenverletzungen
10.6.1
Klassifikation (. Tab. 10.3 und . Tab. 10.4)
. Tab. 10.3 Klassifikation der Nierenverletzungen (OIS – Organ Injury Scale) nach der American Association for the Surgery of Trauma (AAST) Grad
Verletzungsmuster
I
Nierenkontusion mit deutlicher Hämaturie Subkapsuläres bzw. retroperitoneales Hämatom ohne Parenchymläsion Kein Verletzungsnachweis in den bildgebenden Verfahren
II
Subkapsuläres bzw. retroperitoneales begrenztes Hämatom Lazeration mit Parenchymriss <1 cm ohne Beteiligung des Kelchsystems; kein Urinaustritt
III
Lazeration mit Parenchymriss >1 cm ohne Beteiligung des Kelchsystems; kein Urinaustritt
IV
Lazeration mit ausgedehnter Parenchymverletzung und Beteiligung des Kelchsystems Vaskuläre Verletzung der Nierenstielgefäße
V
Lazeration mit Nierenzertrümmerung Vaskuläre Läsion mit Gefäßabriss und Devaskularisation
10.6.2
Diagnostik
Einfachster Indikator für ein signifikantes Nierentrauma ist der Nachweis einer Mikrohämaturie in der Harnanalyse. Ausmaß, Intensität und Dauer der Hämaturie korrelieren deutlich mit der Schwere der Verletzung (Wessel et al. 2000). Allerdings schließt das Fehlen einer Hämaturie eine Nierenverletzung nicht aus. Der Abriss des Ureters oder des Gefäßstiels müssen nicht mit einer Hämaturie einhergehen. Auch die Hypotension ist kein zuverlässiger Diagnoseparameter. Bildgebend dient die Sonographie als gute Screeningmethode sowie zur Verlaufskontrolle. Ihren Schwachpunkt hat die Sonographie bei der Darstellung des Nierenstiels und somit bei der klaren Identifikation der höhergradigen Verletzungen. Auch bei der Darstellung des Ureterabrisses ist die Sonographie defizitär. Hier ist auch die Ausscheidungsurographie in 20–50% der Fälle falsch-negativ und darf bei der Suche nach Verletzungen von Nierenbecken und ableitenden Harnwegen nicht überbewertet werden (Wessel et al. 2000).
. Tab. 10.4 Klassifikation der Harnleiterverletzungen (OIS – Organ Injury Scale) nach der American Association for the Surgery of Trauma (AAST) Grad
Verletzungsmuster
I
Nur Hämaturie
II
Lazeration <50% Umfang
III
Lazeration >50% Umfang
IV
Vollständiger Abriss, Auseinanderweichen mit <2 cm Devaskularisation
V
Vollständiger Abriss, Auseinanderweichen mit >2 cm Devaskularisation
. Abb. 10.5 CT-Rekonstruktion einer Nierenruptur Grad IV
10
162
Kapitel 10 · Abdominaltrauma
a
b
10
c
d
. Abb. 10.6a–d Stumpfes Bauchtrauma im Rahmen eines Autounfalls. a Angiographie nach fehlender Nierenkontrastierung im initialen CT. b, c Bei Intimaläsion gelingt die Ballondilatation mit nachfol-
gend jedoch insuffizientem Flussmuster in der Nierenarterie. d Trotz operativer Revision kommt es im Verlauf zur Nierenfunktionsminderung auf 4% und sekundärer Nephrektomie
Das CT mit Kontrastmittel ist in der Akutdiagnostik allen anderen Verfahren deutlich überlegen. Es erlaubt nicht nur die genaue Klassifikation der Verletzung, sondern stellt auch vaskuläre Läsionen mit Minderdurchblutung eindeutig dar (. Abb. 10.5). Bei Gefäßverletzungen, z. B. Intimaläsionen, kann die Angiographie indiziert sein (. Abb. 10.6). Zur posttraumatischen Nierenfunktionskontrolle erfolgt die Durchführung einer Nierenfunktionsszintigraphie (7 Abschn. 10.6.4).
matisch bedingten Blutungen. Die kräftige Gerota-Faszie der Niere dämmt die Blutung in der Regel lokal ein im Gegensatz zu intraperitonealen Organverletzungen, bei denen die gesamte Bauchhöhle den »Selbstkompressionsmechanismus« ausüben muss. Bei einer Beteiligung des Nierenbeckenkelchsystems mit Ausbildung eines Urinoms (Grad 4) sollte primär zystoskopisch eine Ureterschiene eingebracht werden. Ein transurethral ausgeleiteter Mono-J-Katheter in Kombination mit einem transurethralen Blasenkatheter leitet das gesamte Harnsystem ab und hat den Vorteil der Refluxprävention sowie der seitengetrennten Bilanzierungsmöglichkeit. Nach 7–10 Tagen kann retrograd über den Mono-J-Katheter die Dichtigkeit mit Kontrastmittel dargestellt werden und anschließend ein Doppel-J-Katheter bis zur definitiven Verheilung eingebracht werden (. Abb. 10.7).
10.6.3
Therapie
Parenchymatöse Nierenverletzungen können in der Regel konservativ behandelt werden, analog dem kreislaufüberwachenden und -stabilisierenden Vorgehen bei Milz- und Leberverletzungen oder anderen intraabdominellen trau-
163 10.6 · Nierenverletzungen
a
b
c
. Abb. 10.7a–c Konservative Behandlung einer Nierenruptur bei einem 12-jährigen Mädchen. a, b Nachweis einer Beteiligung des Kelchsystems. c Doppel-J-Katheter-Einlage
Bei diesem Vorgehen muss das iatrogene Verletzungsrisiko insbesondere an der bereits bestehenden Leckagestelle des Harnsystems und das erhöhte Infektionsrisiko nach Stenteinlagen erwähnt werden. Das interventionsfreie Observieren einer Nierenbeckenkelchsystemverletzung ist andererseits mit einer hohen Infektionsrate des Urinoms und Abszessbildung assoziiert und führt zu höheren Stenosierungsraten. Das gleiche gilt für die perkutane Urinomdrainage. Handelt es sich um eine Nierenzertrümmerung oder komplette Devaskularisation mit Gefäßabriss, bei denen eine ausreichende Nierenperfusion nicht mehr nachgewiesen werden kann, so ist die operative Therapie unumgänglich. In diesen Fällen kann die Nephrektomie die einzig mögliche Therapieoption darstellen. Bei tiefen Nierenparenchymeinrissen, die hämodynamisch nicht konservativ stabilisiert werden können, sollte eine organerhaltende operative Maßnahme angestrebt werden. Sind klebende, übernähende oder koagulierende Vorgehensweisen nicht erfolgreich, so bleibt die Option der Heminephrektomie. Die Rekonstruktion des Nierenbeckens erfolgt mit resorbierbaren Einzelknopfnähten, nachdem Koagel entfernt worden sind. Die intravenöse Gabe von Indigokarmin (auch Indigotin I genannt, ein wasserlöslicher blauer Indigo-Farbstoff, der als Lebensmittelzusatzstoff E 132 zugelassen ist) während der Operation kann bei der Identifizierung von Extravasaten helfen. Bevor allerdings die
Gerota-Faszie eröffnet wird, sollten die Nierengefäße zentral dargestellt und angeschlungen werden, was die Nephrektomierate deutlich senkt. Bei massiven Verletzungen des Nierenbeckens oder Abrissen des Ureters mit ausgeprägten Substanzdefekten kann auch eine primäre Rekonstruktion des harnableitenden Systems unmöglich sein. Eventuell muss temporär eine externe Harnableitung (Nephrostomie, Ureterostomie) geschaffen werden, bei ausgedehnter Gewebezerstörung sogar eine permanente (Dünndarmkonduit). Insgesamt ist bei Grad-I- bis -V-Verletzungen der Niere in 10–15% die operative Freilegung erforderlich, in 10– 12% kommt es zur Nephrektomie. Diese Zahlen erfordern ein standardisiertes Vorgehen bei der Überwachung und Therapie von Nierenverletzungen, die Angaben in der Literatur werfen allerdings mehr Fragen auf als sie Antworten geben. Die Überwachung eines kreislaufstabilen Patienten mit einer Nierenverletzung auf einer Intensivstation per se erscheint nicht logisch, allerdings ist unbekannt, ab welchem Grad die intensivmedizinische Überwachung nötig wird und wie lang sie andauern soll. Die Gabe einer prophylaktischen Antibiose wird empfohlen, da in 5% der Fälle positive Urinkulturen isoliert werden konnten (Broghammer et al. 2006). Andere Autoren empfehlen die Gabe von Antibiotika nur bei Einlage von Ureterstents (Rogers et al. 2004). In Anbetracht bekannter Resistenzentwicklungen unter antibiotischer
10
164
Kapitel 10 · Abdominaltrauma
Therapie und weil andere intraabdominelle parenchymatöse Organverletzungen ebenfalls keine antibiotische Prophylaxe erfordern, muss die Indikation zur antibiotischen Prophylaxe bei parenchymatösen Nierenverletzungen evaluiert werden. Das Gleiche gilt für Angaben zur Dauer der Bettruhe, wobei hier die Korrelation zur Hämaturie sicher kein signifikanter Parameter ist. Vermutlich sollten sowohl Mobilisation als auch Entlassung in Abhängigkeit von Schmerzen und allgemeiner Physis des Patienten erfolgen.
10.6.4
10
10.7
Milz- und Leberverletzungen
10.7.1
Klassifikation (. Tab. 10.5 und . Tab. 10.6)
. Tab. 10.5 Klassifikation der Milzverletzungen (OIS – Organ Injury Scale) nach der American Association for the Surgery of Trauma (AAST) Grad
Verletzungsmuster
I
Subkapsuläres Hämatom: nicht zunehmend, <10% der Oberfläche Lazeration: Kapseleinriss, nicht blutend, <1 cm tief
II
Subkapsuläres Hämatom: nicht zunehmend, 10–50% der Oberfläche, intraparenchymal, <2 cm Durchmesser Lazeration: Kapseleinriss, blutend, 1–3 cm tief ohne Verletzung von Trabekelgefäßen
III
Subkapsuläres Hämatom: zunehmendes, >50% der Oberfläche, aktiv blutend oder intraparenchymatöses Hämatom >2 cm Durchmesser Lazeration: >3 cm tief oder mit Verletzung von Trabekelgefäßen
IV
Hämatom: intraparenchymale Ruptur, aktiv blutend Lazeration: segmentale oder hiläre Gefäßdestruktion mit ausgedehnter Devaskularisation (>25% der Milz)
V
Lazeration: vollständige Destruktion der Milz Gefäße: Verletzung der Hilusgefäße mit Devaskularisation der Milz
Komplikationen
Die Hauptkomplikation bei Nierenverletzungen ist der Organverlust, wobei die Nephrektomierate in der Akutbehandlung mit 10–12% angegeben wird. Durch posttraumatische Strikturen oder Obstruktionen des ableitenden Harntraktes nach einem Stenting von Urinomen kann der Harnaufstau zur Nierenatrophie führen. Auch nach Gefäßläsionen kann es zum kompletten Funktionsverlust der Niere kommen. Zählt man spätere, sekundäre Nephrektomien wegen posttraumatischer Organatrophien dazu, erhöht sich die Quote der Organverluste auf 28% (Wessel et al. 2000). Die Diagnostik vor Nephrektomie erfolgt mittels Nierenfunktionsuntersuchungen. Die MAG-III-Szintigraphie stellt dabei sowohl die seitengetrennte Funktion als auch die Abflussverhältnisse dar und illustriert damit Obstruktionen durch Stenosen und deren Folgen. Das UroMRT hat den Vorteil, dass es nicht nur die Nierenfunktion bestimmt, sondern auch die Morphologie darstellt. Nierenmalformationen können diagnostiziert und Kelchhals- sowie Ureterstenosen differenziert werden. Ein gefürchteter Langzeit-Risikofaktor nach einer Nierenverletzung ist der renale Hypertonus. Die exakte Inzidenz ist nicht bekannt und wird mit 0–7,5% angegeben. Der Grund für die vagen Schätzungen ist zum einen das Übersehen von Nierenverletzungen bei fehlender Hämaturie. Zum anderen gibt es kein standardisiertes Nachuntersuchungsprotokoll, so dass sich einige Patienten der Langzeitdokumentation entziehen.
. Tab. 10.6 Klassifikation der Leberverletzungen (OIS – Organ Injury Scale) nach der American Association for the Surgery of Trauma (AAST) Grad
Verletzungsmuster
I
Subkapsuläres Hämatom: stationär, <10% der Oberfläche betroffen Lazeration: Kapseldefekt, stationär, nicht blutend, <1 cm Parenchymtiefe
II
Subkapsuläres Hämatom: stationär, intraparenchymatös, 10–50% der Oberfläche betroffen, <2cm Durchmesser Lazeration: Kapseldefekt, blutend, 1–3 cm Parenchymtiefe, 2–10 cm Länge
III
Subkapsuläres Hämatom: >50% der Oberfläche oder rupturiertes subkapsuläres Hämatom, aktiv blutend, intraparenchymatöses Hämatom >2 cm oder rasch zunehmend Lazeration: >3 cm Parenchymtiefe
IV
Hämatom: rupturiertes intraparenchymatöses, frisch blutendes Hämatom Lazeration: Parenchymriss 25–50% eines Leberlappen
V
Lazeration: Parenchymriss >50% eines Leberlappen Vaskulär: juxtahepatische Venenverletzung der retrohepatischen V. cava inferior oder großer Lebervenen
VI
Vaskulär: Leberzerreißung
165 10.7 · Milz- und Leberverletzungen
10.7.2
Besonderheiten beim Kind und klinische Zeichen
Die Milz ist besonders rupturgefährdet, da sie bei Kindern im Gegensatz zum Erwachsenen eine sehr weiche, zerfließliche Konsistenz besitzt und durch ihre topographischanatomische Lage zwischen der Wirbelsäule und den elastischen Rippen besonders für Verletzungen exponiert ist. Weiterhin hat die Milz nur relativ wenig Bewegungsspielraum, da sie unter dem Zwerchfell parallel zur zehnten Rippe lokalisiert ist und eine Reihe von peritonealen Fixationen und straffen Adhäsionen aufweist. Im Gegensatz zum Erwachsenen, bei denen schwerste Milzverletzungen auf Grund von Durchspießungen begleitender Rippenfrakturen auftreten, haben Kinder auf Grund des elastischen und verformbaren Thorax nur selten Rippenfrakturen. Es kommt vielmehr zu Quetschungen der Milz, die durch den gefüllten Magen und das Kolon verstärkt werden können.
. Abb. 10.8 Darstellung einer Milzruptur mit der konventionellen Sonographie und Farbdopplermodus
! Cave Das Risiko einer zweizeitigen Milzruptur liegt beim Kind auf Grund der erheblich stärker ausgebildeten Milzkapsel bei unter 2%.
Nach Milzruptur kann es zu den in 7 Abschn. 10.3.2 aufgeführten klinischen Zeichen kommen. Bei subkapsulären Milzhämatomen können folgende Fernzeichen auftreten (. Tab. 10.7).
10.7.3
. Abb. 10.9 Darstellung einer gleichen Milzruptur wie in . Abb. 10.8 mittels Kontrastmittelsonographie (CEUS). Das hypoperfundierte Milzareal kommt deutlich zur Darstellung
Diagnostik
Die Sonographie gilt bei Milz- und Leberverletzungen des hämodynamisch stabilen Patienten als ideales Screeningverfahren. Die diagnostische Spezifität ist jedoch geringer als beim CT. Bei Milzverletzungen können bereits kleine Parenchymläsionen massive Blutungen hervorrufen, wobei die eigentliche Organverletzung sonographisch nicht dargestellt werden kann, sondern nur die indirekten Zeichen wie freie abdominelle Flüssigkeit. Auch Leberverletzungen werden primär oft unterschätzt. Die Benutzung von Kontrastmittel bei der Sonographie (CEUS – »contrast enhanced ultrasound«) kann die Topographie einer Milz. Tab. 10.7 Klinische Fernzeichen bei intraabdominellen Organverletzungen Kehr-Zeichen
Fernschmerzpunkt in der linken Schulter
Dieulafoy-Zeichen
Reflektorischer Mamillenhochstand
Saegesser-Zeichen
Schmerzpunkt im Bereich des linken Musculus sternocleidomastoideus
oder Leberverletzung heutzutage um ein Vielfaches besser darstellen (. Abb. 10.8 und . Abb. 10.9), jedoch handelt es sich um ein Verfahren, das zur Zeit noch dem off-label-use unterliegt. Die höchsten Sensitivitätswerte bei Leber- und Milzverletzungen erreicht das CT mit 99% (. Abb. 10.10 und . Abb. 10.11). Zudem erlaubt diese Untersuchungsmethode ein exaktes Grading der Verletzung, was für das therapeutische Vorgehen von Bedeutung ist. Der im CT determinierte Verletzungsgrad korreliert bei Milzverletzungen zudem mit den klinischen Parametern Herzfrequenz, systolischer und diastolischer Blutdruck sowie invers mit dem Hämatokrit. Die Korrelation eines CT-Befundes zu einer prognostischen Aussage wird jedoch kontrovers diskutiert und hat bisher keine eindeutige Datenlage erbracht. Stylianos hat 2000 gezeigt, dass sowohl die Transfusionsrate als auch die Laparotomierate beim Vergleich drittgradiger mit viertgradigen Verletzungen von Milz und Leber signifikant ansteigen, und daraus Konsequenzen für ein intensivmedizinisches Überwachen ab Grad-IV-Ver-
10
166
Kapitel 10 · Abdominaltrauma
laborchemische Parameter hilfreich sein. Bei Erhöhung der sensiblen Leberenzyme Aspartat-Aminotransferase (AST) = Glutamat-Oxalacetat-Transaminase (GOT) >400 IU/l und ALT = Alanin-Aminotransferase (ALT) = GlutamatPyruvat-Transaminase (GPT) >250 IU/l ist eine Leberverletzung im CT mit einer 93%-igen Wahrscheinlichkeit nachweisbar. Die Magnetresonanztomographie hat den Nachteil der langen Untersuchungszeit und findet daher keine Anwendung in der Akutdiagnostik. Bei der Darstellung von zweizeitigen Milzrupturen und bei Komplikationen wie der Infektion und Abszessbildung eines Milz- oder Leberhämatoms ist die Darstellung im MRT detaillierter als in der CT (7 Abschn. 10.7.5, . Abb. 10.12). Die Weiterentwicklung diagnostischer Untersuchungen wird nicht inne halten und in Zukunft auch die Möglichkeit interventioneller Vorgehensweisen einschließen. Die Rolle einer angiographischen Embolisation bei Kindern mit Milz- und/oder Leberrupturen muss jedoch erst evaluiert werden.
10
10.7.4 . Abb. 10.10 Darstellung einer Milzruptur Grad III im CT
. Abb. 10.11 Darstellung einer Leberruptur Grad IV im CT
letzungen gezogen. Andere Autoren geben beim Nachweis eines sog. contrast-blush im CT nach Leberverletzungen eine Operationsrate von 20% an. Für Milzverletzungen soll die Rate bei 9,7% liegen. Diese Werte haben jedoch keine Signifikanzen erreicht. Deshalb wird der Nachweis eines »contrast-blush« nicht als Prognoseparameter, sondern als »ernstzunehmender Risikoparameter« angegeben. Für die Indikationsstellung zum CT nach einem Bauchtrauma mit Verdacht auf eine Leberverletzung können
Therapie
Das konservative Management von isolierten Milz- und Leberverletzungen Grad I bis IV ist heute etabliert, erfolgt nach den in 7 Abschn. 10.5 angegebenen Standards und ist in über 98% der Fälle erfolgreich (Stylianos et al. 2002). Dagegen gibt es keine »Evidenz-basierte« Therapieempfehlung für Milz- und Leberverletzungen im Rahmen von Mehrfachverletzungen. Die Behandlung ist individualisiert und abhängig von der hämodynamischen Stabilität und dem Spektrum der vorliegenden Begleitverletzungen. Die Operationsrate steigt im direkten Vergleich isolierter Verletzungen und Verletzungen im Rahmen von Polytraumen steil an und erreicht für die Leber Operationsraten von 39% (Kumar et al. 2002). Ist die operative Revision bei einer Milzverletzung unumgänglich, müssen 2 Gefäßversorgungstypen der Milz unterschieden werden: Der Bifurkationstyp kommt mit 84% am häufigsten vor, der Trifurkationstyp wird mit 16% angegeben. Es ist zu beachten, dass aus den zwei oder drei Aufzweigungen der Arteria lienalis insgesamt 6 Endarterien hervorgehen, die funktionell für die Versorgung eines jeweils zugehörigen Milzsegmentes verantwortlich sind und somit eine Teilresektion möglich machen. Im Falle zentraler Gefäßligaturen kann die Perfusion durch meist vorhandene Oberpolgefäße oder Gefäße aus dem kleinen Netz aufrecht erhalten werden. Bei oberflächlichen Einrissen – ob solitär oder multipel – ist nach Verfügbarkeit die Anwendung von Nd-YAGLaserkoagulation, Infrarotlaser, Hämostyptika, TissocolGewebekleber, die Durchführung von Kaspelnähten oder
167 10.7 · Milz- und Leberverletzungen
die Applikation eines komprimierenden Vicrylnetzes (»mesh wrapping«) denkbar. Bei multiplen tiefen Einrissen sollte über mehrere Segmentresektionen das Belassen einer Restmilz von mindestens 20–30% der ursprünglichen Organgröße angestrebt werden, um eine ausreichende Milzfunktion zu gewährleisten. Die Ultima ratio bei kompletter Organdestruktion ist die notfallmäßige Splenektomie mit dem Hauptrisiko eines OPSI (»overwhelming postsplenectomy syndrome«), das in 7 Abschn. 10.7.5 beschrieben wird. Eine Autotransplantation von Milzgewebe wird auf Grund einer zusätzlichen Gefahr von Nekrosen und Pseudoabszessen, wegen der mangelnden Funktionsleistung und der fraglichen immunologischen Effektivität von kinderchirurgischer Seite als Routineeingriff abgelehnt. Bei hochgradigen Leberverletzungen wird die frühe Morbidität und Letalität auf die Effekte des massiven Blutverlustes und die Gabe von großen Mengen kalter Blutprodukte intraoperativ zurückgeführt. Hypothermie, Koagulopathie und Azidose sind die Folgen prolongierter Operationen mit hochvoluminösen Blutproduktgaben, was die physiologischen Reserven des schwer kranken Patienten erschöpft. Da sich die Faktoren in einem Teufelskreis gegenseitig verstärken, haben sich neue Behandlungsstrategien entwickelt, die eben nicht eine primäre Rekonstruktion erzwingen wollen, sondern einen schrittweisen multidisziplinären Therapieplan beinhalten. Hierzu gehören die verkürzte explorative Laparotomie, das perihepatische »packing«, die angiographische Embolisation und endoskopische Verfahren, die initial zur Anwendung kommen. Insbesondere das »abdominal packing« ist vorzuheben als eine schnelle, einfache und effektive Methode zur Kontrolle einer massiven Parenchymblutung, die sich bei der Primärtherapie zum Mittel der Wahl entwickelt hat.
4 Das Einbringen von Bauchtüchern auf und unter die Leber erwirkt mit dem anschließenden Bauchverschluss eine Kompression, die in >80% zur Kreislaufstabilität führt. Dies muss der Operateur im Operationssaal am Patienten abwarten, bis eine Rückverlegung auf die Intensivstation erfolgt. 4 Dort werden in einer zweiten Behandlungsphase die Normothermie wiederhergestellt, die Gerinnungsfaktoren substituiert und die Sauerstoffsättigung so optimiert, dass in einer geplanten zweiten Operation eine definitive Behandlung der intraabdominellen Verletzung erfolgen kann. 4 In der dritten Phase erfolgt bei der Second-lookOperation die chirurgische Rekonstruktion von Gefäßverletzungen und/oder die Leberteilresektion verletzter Areale.
. Tab. 10.8 »Damage control strategy« beim ausblutenden Patienten Phase I
Verkürzte explorative Laparotomie Begrenzte Blutstillung, abdominelle Lavage Perihepatisches Einbringen von Bauchtüchern (»packing«), temporärer Bauchverschluss
Phase II
Aggressive intensivmedizinische Behandlung Wiederherstellen einer Körperkern-Normothermie Optimierung von intravasalem Volumen und Sauerstoffsättigung Behandlung der Koagulopathie
Phase III
Geplante Re-Laparotomie, Entfernung der Bauchtücher Definitive operative Behandlung der Verletzung Definitiver Bauchverschluss
Eine anatomische Leberresektion ist auf Grund der entsprechenden arteriellen und portalvenösen Blutversorgung sowie Galleableitung eine anspruchsvolle Alternative. Voraussetzung für jede Resektion, auch für die Hemihepatektomie, ist eine vollständige Mobilisation der Leber mit Durchtrennung des Ligamentum triangulare sinistrum und dextrum, Ligamentum teres hepatis und Ligamentum falciforme, um eine ausreichende Übersicht zu gewinnen. Zur Vermeidung eines intraoperativen Verblutens muss das Pringle-Manöver (Okklusion des Ligamentum hepatoduodenale; von Pringle 1908 beschriebenes Vorgehen) sowie die totale vaskuläre Isolation (Tourniquet der supra- und infrahepatischen Vena cava) beherrscht werden. Das in 3 Phasen aufgeteile Vorgehen soll jederzeit eine physiologische und metabolische Stabilität gewährleisten und wird als »damage control strategy« bezeichnet (. Tab. 10.8). Obwohl einerseits die Ergebnisse des »abdominal packing« bei blutenden Bauchorganverletzungen vielversprechend sind, bringt es andererseits Komorbiditäten wie Organversagen, Sepsis und erhöhten intraabdominellen Druck mit sich. Der Schlüssel zum Erfolg besteht darin, die Phase II so kurz wie möglich (24–48 h) zu halten, um nicht in den irreversiblen Schockzustand zu gelangen. Ein Abweichen von diesem Vorgehen ist nur bei Grad-V-Verletzungen mit retrohepatischen Kava-Einrissen angezeigt, die primär eine Gefäßrekonstruktion, gegebenenfalls unter Isolation der intraperikardialen (Zugang über ein transdiaphragmales Perikardfenster) und suprarenalen Vena cava notwendig machen (. Abb. 10.12). Die früher in der Literatur angegebenen Maßnahmen »omental packing«, Einbringen von übernähten PenroseDrainagen, Klebe- und Nahtversuche haben nicht nur zu niedrigen Erfolgsraten und einer hohen Letalität geführt, sondern sind auch mit hohen Komplikationsraten assoziiert wie der Ausbildung von Leberabszessen und Lebergewebsnekrosen. Ein Vorteil des »abdominal packing« ist
10
168
10
Kapitel 10 · Abdominaltrauma
. Abb. 10.12 Traumatischer retrohepatischer Vena-cava-Abriss nach Motorradunfall. Operative Revision bei hämodynamischer Instabilität. Darstellung des intraoperativen Situs. Trotz Rekonstruktion verstarb der Patient intraoperativ im Herz-Kreislauf-Versagen
neben der einfach zu etablierenden Stabilität des Patienten die Möglichkeit der anschließenden Verlegung in ein geeignetes Zentrum, das alle Möglichkeiten der chirurgischen Rekonstruktion vorhält.
10.7.5
Komplikationen
Hauptkomplikation bei der konservativen Therapie von Leber- und Milzrupturen ist die hämodynamische Instabilität mit sekundärer Operationsbedürftigkeit, die bei isolierten Verletzungen der Grade I–IV mit einem Vorkommen von nur 1,3% eine Rarität darstellt (Stylianos et al. 2002). Das konservative Management erfordert meist die Gabe von Erythrozytenkonzentraten, deren Risiken oft der Operation gegenübergestellt werden. Die Laparotomie vermeidet aber in keiner Weise Bluttransfusionen und ist mit einer höheren Organverlustrate assoziiert. ! Cave Um Organe möglichst zu erhalten, sind explorative Laparotomien oder Laparoskopien beim hämodynamisch stabilen Patienten absolut kontraindiziert.
Hierbei können durch den Wegfall der Kompression der geschlossenen Bauchdecke aus mindergradigen Verletzun-
gen höhergradige Blutungen entstehen, die so unübersichtlich werden, dass ein »abdominal packing« erforderlich wird oder die Splenektomie nicht mehr verhindert werden kann. Gerade die explorative Laparoskopie mit der Option, Hämostyptika zu applizieren, ist bei mindergradigen Blutungen vollkommen kontrovers zu den Wirkmechanismen der konservativen Therapie und bei hochgradigen Blutungen technisch gar nicht mit ausreichender Übersicht vorstellbar. Ein weiteres Problem bei Milz- und Leberverletzungen kann die zweizeitige Ruptur darstellen, die als bekanntes Phänomen gilt, in der Realität jedoch selten ist. In dem Kollektiv von Stylianos et al. (2002) wurden 6 Patienten (1,9%) erneut stationär aufgenommen, von denen keiner operiert werden musste. Abzugrenzen von der zweizeitigen Milzruptur ist die verzögerte Ruptur. Die verzögerte Milzruptur wird in der Literatur als eine Milzblutung >48 h nach Trauma definiert, wobei der Patient zuvor hämodynamisch stabil war und in der initialen CT-Diagnostik einen Normalbefund gezeigt hatte. Die Inzidenz dieser Komplikation wird ebenfalls mit 1–2% angegeben. Die Wichtigkeit der Organerhaltung bei Milzruptur ergibt sich aus dem Risiko eines OPSI-Syndroms (»overwhelming post-splenectomy infection«) nach Splenektomie. Hierbei handelt es sich um eine Sepsis-Erscheinung durch Haemophilus influenzae, Neisseria meningitides, Pneumokokken oder andere Erreger mit letalem Ausgang in 50–80%. Das Risiko, an einem OPSI zu erkranken, ist 50-fach größer nach posttraumatischer Splenektomie. Als zusätzlicher Risikofaktor ist ein junges Alter anzusehen (<4–6 Jahre), wobei in der Gruppe der unter 2 Jahre alten Patienten das Risiko nochmals ansteigt. 70% aller OPSI treten innerhalb der ersten 2–3 Jahre auf, jedoch ist das Vorkommen auch 40 Jahre nach Splenektomie möglich. Nach einer posttraumatischen Splenektomie ist deshalb unbedingt an eine Pneumokokken-, Meningokokken- und Haemophilusimpfung zu denken und 2–4 Wochen nach dem Eingriff durchzuführen. Ferner muss eine orale antibiotische Prophylaxe mit Penicillin V begonnen und bis 3 Jahre nach Splenektomie beibehalten werden (Eber et al. 2001). Eine Komplikation sowohl der konservativen Therapie als auch der operativen Therapie ist die Superinfektion von Hämatomen. In der Regel ist eine antibiotische Therapie ausreichend, in Einzelfällen ist die bildgebend unterstützte Abszessdrainage indiziert oder gar die operative Infektsanierung. Weiter ist die Ausbildung von Pseudoaneurysmen beschrieben, die in der Regel selbstlimitierende Verläufe zeigen. Biliome können eine Leberteilresektion erforderlich machen, eine Hemihepatektomie oder die Durchführung einer biliodigestiven Anastomose. Bei persistierender Hämobilie ist die selektive hepatische arterielle Embolisation eine Therapiealternative.
169 10.8 · Pankreas- und Gallengangsverletzungen
. Tab. 10.9 Empfohlene Richtlinien zur Ressourcenauslastung bei der Behandlung von Kindern mit isolierten Milz- und Leberverletzungen (Stylianos et al. 2002) Verletzungsgrad im CT
I
II
III
IV
Tage auf Intensivstation
Keiner
Keiner
Keiner
1
Krankenhausaufenthaltsdauer (Tage)
2
3
4
5
Bildgebung vor Entlassung
Keine
Keine
Keine
Keine
Bildgebung nach Entlassung
Keine
Keine
Keine
Keine
Sportkarenz in Wochen
3
4
5
6
10.7.6
Follow-up
Die Notwendigkeit diagnostischer Kontrolluntersuchungen nach Milz- und Leberverletzungen wird kontrovers diskutiert. Die zweizeitige oder verzögerte Milzruptur, Pseudozystenbildung und die posttraumatische Splenose sind Komplikationen, auf Grund derer eine Bildgebung nach Entlassung aus dem Krankenhaus in der Mehrzahl der Fälle veranlasst wird. Huebner u. Reed (2001) konnten in einer Literaturrecherche (1970–1999) bei 1083 Kindern mit Milzrupturen in 85% eine Routinenachuntersuchung (Ultraschall, CT oder Szintigraphie) identifizieren. Es kam zu keinem Todesfall im Verlauf und es wurde keine verzögerte Milzruptur diagnostiziert. Die Autoren konnten keine signifikante Korrelation zwischen initialem Verletzungsgrad und dem Auftreten von Komplikationen darstellen und halten Nachkontrollen für nicht indiziert. Dem hat sich Stylianos (2002) angeschlossen und empfiehlt das in . Tab. 10.9 illustrierte Vorgehen, wobei in Deutschland in der täglichen Praxis längere Aufenthaltsdauern zu beobachten sind. Bei Patienten, die posttraumatisch über eine Beschwerdesymptomatik klagen, ist – unabhängig vom Zeitpunkt – eine gezielte Diagnostik zu veranlassen.
10.8
Pankreas- und Gallengangsverletzungen
10.8.1
Klassifikation (. Tab. 10.10 und . Tab. 10.11)
10.8.2
Diagnostik
Bei der Suche nach Pankreasverletzungen wird die diagnostische Sensitivität des CT mit Werten zwischen 69% und 100% angegeben und variiert damit stark. Dennoch ist das frühe Spiral-CT Mittel der Wahl bei Patienten mit anamnestischem und klinischem Verdacht auf eine Pankreasverletzung. Die Indikation zum CT ist noch mehr gegeben, wenn bereits die laborchemische Blutuntersuchung erhöhte Werte für die Pankreasamylase und -lipase zeigt,
. Tab. 10.11 Klassifikation der Verletzungen der extrahepatischen Gallengänge (OIS – Organ Injury Scale) nach der American Association for the Surgery of Trauma (AAST) Grad
Verletzungsmuster
I
Gallenblasenkontusion oder -hämatom
II
Partielle Avulsion der Gallenblase aus ihrem Leberbett Lazeration oder Perforation der Gallenblase, Ductus cysticus ist intakt
III
Komplette Avulsion der Gallenblase aus ihrem Leberbett Lazeration des Ductus cysticus
IV
Partielle oder komplette Lazeration des rechten oder linken Gallengangs Partielle (<50%) Lazeration des Ductus hepaticus communis oder Ductus choledochus
V
Lazeration von >50% des Ductus hepaticus communis oder Ductus choledochus Kombinierte Verletzung des rechten und linken Gallengangs Intraduodenale oder intrapankreatische Gallengangverletzung
. Tab. 10.10 Klassifikation der Pankreasverletzungen (OIS – Organ Injury Scale) nach der American Association for the Surgery of Trauma (AAST) Grad
Verletzungsmuster
I
Minorkontusion oder Lazeration ohne Gangbeteiligung
II
Majorkontusion oder Lazeration ohne Gangbeteiligung
III
Distale Parenchymdurchtrennung oder Läsion mit Gangbeteiligung
IV
Proximale Parenchymdurchtrennung (rechtsseitig der Mesenterialvene)
V
Massive Zerreißung des Pankreaskopfes
10
170
Kapitel 10 · Abdominaltrauma
eines qualifizierten Untersuchers sowie das Vorhandensein von alters- bzw. körpergewichtsadaptierter Endoskope und Implantate, was nicht dem heutigen Routinestandard entspricht.
10.8.3
. Abb. 10.13 Sonographische Darstellung eines Pankreashämatoms
10
die allerdings gerade in den ersten 24 h nach dem Unfall nur in 70–90% der Fälle erhöht sind. Auch korrelieren die primär erhöhten Amylasewerte nicht mit der Schwere der Pankreasverletzung. Die Leukozytose, die für Pankreasrupturen typisch ist, kann anfangs ebenfalls fehlen. Auch bei Pankreasverletzungen ist eine exakte Gradeinteilung wichtig. Noch essenzieller für eine Therapieentscheidung ist jedoch die Antwort auf die Frage, ob eine Pankreasgangverletzung vorliegt oder nicht. Eine Parenchymkontusion oder ein Hämatom mit ödematöser Organverbreiterung wird sonographisch (. Abb. 10.13) oder per CT diagnostiziert. Um eine Pankreasgangverletzung darzustellen, bietet sich bei einem stabilen Patienten die Durchführung einer MRCP (magnetresonanztomographisch gestützte Cholangiopankreatikographie) an. Die Beurteilung kann sich schwierig gestalten, wenn das Gangsystem schmalkalibrig ist. Eine Akzentuierung des Pankreasganges lässt sich durch die intravenöse Sekretingabe im Rahmen der MRT erreichen. Im Falle einer Gallengangsverletzung ist die Durchführung eines Biliscopin-CT eine Option. Bei einer serologischen Bilirubinerhöhung (>2,5 mg/dl) erfolgt jedoch eine renale Ausscheidung des Kontrastmittels und somit keine Anfärbung des Gallengangsystems. Auch eine MRCP kann insbesondere in der Primärdiagnostik falsch-negative Befunde ergeben. Am sichersten können Gallengangsverletzungen mittels ERCP (endoskopische retrograde Cholangiopankreatikographie) dargestellt werden mit der zusätzlichen Option der interventionellen Therapie durch Stenteinlagen. Bei Kindern ist die ERCP zwar als Diagnostikum etabliert, therapeutische Prozeduren sind in der Literatur jedoch nur kasuistisch beschrieben. Das Hauptproblem liegt in der Tatsache, dass bei kompletten Gangrupturen der distale korrespondierende Ganganteil technisch nur schwierig aufzufädeln ist. Aber auch das Stenting bei inkompletten Gangverletzungen erfordert die Präsenz
Therapie
Traumatische Pankreaskontusionen erfordern primär grundsätzlich kein operatives Vorgehen. Sie werden konservativ entsprechend den Richtlinien der Gesellschaft für pädiatrische Gastroenterologie mit Nahrungskarenz, total parenteraler Ernährung (TPN) und Analgesie behandelt (Gesellschaft für pädiatrische Gastroenterologie und Ernährung e.V., www.gpge.de). Antibiotika und Anticholinergika sind nicht mehr indiziert, jedoch ist eine Stressulkusprophylaxe mit H2-Blockern oder Protonenpumpeninhibitoren notwendig. Nur bei einem hämorrhagisch-nekrotisierenden Verlauf der Pankreatitis ist eine prophylaktische Antibiose mit Impenem, Meronem oder der Kombination eines Gyrasehemmers mit Metronidazol indiziert. Eine Morphintherapie ist wegen ihrer Druckerhöhung am Sphinkter Oddi ungeeignet. Die Dauer der Nahrungskarenz und der Beginn des Nahrungsaufbaus orientieren sich am Beschwerdebild des Patienten und weniger am Pankreasenzymverlauf im Serum. Liegt eine Verletzung des Ductus pancreaticus vor, so teilt sich die Meinung zur Vorgehensweise in der Literatur. Eine konservative Therapie unter Beobachtung sich entwickelnder Pseudozysten, die sich innerhalb 3–12 Monaten zurückbilden können, ist möglich. Andere fordern die umgehende Operation mit Pankreasschwanzresektion oder interner Drainage über eine Pankreatikojejunostomie, wobei das Vorgehen rasch erfolgen muss, um nicht eine vorzeitige Organ- und Umgebungsdestruktion durch die enzymatischen Pankreassekrete zu riskieren. Diese erhöht bei verzögerter operativer Intervention das Risiko für eine zusätzliche Milzverletzung und konsekutive Splenektomie durch den fehlenden Überblick im Situs um ein Vielfaches. Eine Alternative als Primärtherapie ist die Anlage einer externen Drainage unter sonographische Lagekontrolle. Die endoskopischen Verfahren, die sich bei Erwachsenen zum Goldstandard entwickeln (Gupta et al. 2004), finden sich bei Kindern aus oben genannten Gründen nicht als Routineverfahren. Verletzungen der Gallenblase und der extrahepatischen Gallengänge bedürfen der notfallmäßigen indi-
viduellen Therapie, da sie quasi immer im Rahmen von Mehrfachverletzungen mit Leber-, Portalvenen- und/oder Duodenalverletzungen vorkommen. Gallenblasenperforationen werden mittels Cholezystektomie behandelt. Bei Läsionen der extrahepatischen Gallengänge besteht die Möglichkeit der primären Rekonstruktion, der temporä-
171 10.8 · Pankreas- und Gallengangsverletzungen
a
c
b
d
. Abb. 10.14a–d Leberruptur nach Fahrradlenkerverletzung bei einem 7-jährigen Jungen. a,b Primäres CT: die Verletzung reicht bis an die Pfortadergabel heran. Hämodynamisch und Hb-stabiler Patient, der sonographisch zunehmende echofreie Flüssigkeitsmengen und steigende Bilirubinwerte aufweist. c Die ERCP zeigt einen kompletten Abriss des Ductus hepaticus dexter (Gallengangsverletzung Grad IV) mit Kontrastmittelabfluss in die Bauchhöhle und ohne An-
färbung eines korrespondierenden Gallengangs. d Bei der operativen Revision war eine Rekontruktion der Gallenwege auf Grund der erfolgten Gewebetraumatisierung nicht mehr möglich und eine Hemihepatektomie rechts erforderlich. Der gelbe Zügel schlingt den Ductus hepaticus communis an. Absetzungsstelle am Ductus cysticus (weißer Pfeil)
ren externen Drainage oder der Anlage einer biliodigestiven Anastomose. Bei Verletzungen des Ductus hepaticus dexter oder sinister innerhalb des Leberparenchyms bzw. bei entsprechender Gewebszerstörung ist die Rechts- oder Links-Hemihepatektomie angezeigt (. Abb. 10.14). Ultima ratio ist die Hepatektomie mit Anlage eines portokavalen Shunts und sekundärer Lebertransplantation.
10.8.4
Komplikationen
Häufigste Komplikation einer Pankreasverletzung mit Gangruptur (Grad III und IV) ist die Ausbildung einer Pseudozyste, wobei die Inzidenz mit <3% bis >61% stark variiert (. Abb. 10.15). Man kann davon ausgehen, dass es nach jeder zweiten Pankreasverletzung zur Pseudozystenbildung kommt, von denen sich wiederum jede zweite spontan rückbildet. Die durchschnittliche Zystengröße, die
10
172
Kapitel 10 · Abdominaltrauma
10.9
Hohlorganverletzungen
10.9.1
Klassifikation (. Tab. 10.12)
. Tab. 10.12 Klassifikation der Dünn- und Dickdarmverletzungen (OIS – Organ Injury Scale) nach der American Association for the Surgery of Trauma (AAST)
. Abb. 10.15 Pseudozystenbildung bei Zustand nach Pankreastrauma
10
eine operative Intervention nötig macht, liegt bei 10 cm (Blaauw et al. 2008). Bei der operativen Therapie der posttraumatischen Pseudozyste werden die unterschiedlichen Techniken kontrovers diskutiert. Größere Zysten können mittels perkutaner Drainage entlastet werden, das Vorgehen beinhaltet jedoch ein großes Risiko der Reakkumulation und Ausbildung von Hautfisteln. Die transgastrische Zystogastrostomie ist ein etabliertes Verfahren auch bei Kindern, sie ist jedoch mit Komplikationen wie Abszessbildung, Peritonitis, Blutungen und Verletzungen der Bauchorgane assoziiert. Die interne Drainage hat verglichen mit der externen Drainage eine niedrigere Infektions- und Rezidivrate. Da die offene Zystenresektion einen ausgedehnten Eingriff darstellt, der mit einer hohen Morbidität assoziiert ist, stellt die Zystoenterostomie das Verfahren der Wahl dar, wobei eine ausreichende Wanddicke Voraussetzung für die Anastomose ist. In den letzten Jahren haben sich die Vorteile der laparoskopischen Operationen gezeigt und in diesem Zusammenhang wird die Möglichkeit der minimal-invasiven Pseudozystojejunostomie beschrieben. Von Vorteil ist die Enterostomie auch bei multiplen kommunizierenden Zysten. Die schwerwiegendste Komplikation nach einer Pankreasverletzung ist der Verlust der enzymatischen Funktion. Mit zwei Dritteln finden sich Verletzungen am häufigsten im Pankreaskorpus, die Langerhans-Inselzellen finden sich in einer hohen Konzentration distal davon im Pankreasschwanz. Die Enterostomie gewährleistet somit bei einer Gangverletzung die Enzymsekretion aus allen verbliebenen Pankreasanteilen. Es wird angegeben, dass die Entfernung bzw. der Verlust von >50% des Pankreas zu Glukoseregulationsstörungen führt und eine Enzymsubstitution nötig wird.
Grad
Verletzungsmuster
I
Hämatom oder Kontusion ohne Durchblutungsstörung Partielle Verletzung ohne Perforation
II
Ruptur von weniger als 50% der Zirkumferenz
III
Ruptur von mehr als 50% der Zirkumferenz
IV
Komplette Darmruptur
V
Komplette Darmruptur mit segmentalem Gewebeverlust Segmentale Devaskularisierung
Nach der American Association for the Surgery of Trauma (AAST) werden Hohlorganverletzungen differenziert nach Magen, Duodenum, Dünndarm, Dickdarm und Rektum klassifiziert. Auf Grund der Seltenheit im Kindesalter wird hier nur die Klassifikation für Dünn- und Dickdarmverletzungen aufgeführt.
10.9.2
Diagnostik
Im Falle einer Hohlorganverletzung mit Perforation sind die abdominelle Abwehrspannung und die Peritonitis die Leitsymptome. Auch wenn das Erkennen einer intestinalen Verletzung allein durch die klinische Erstuntersuchung eines erfahrenen Kindertraumatologen in über 90% beschrieben wird, so kann bei einer gedeckten Perforation das druckschmerzhafte Abdomen das einzige Symptom sein und eine weitere Diagnostik ist unumgänglich. Darmverletzungen entgehen auf Grund der Luftüberlagerungen der sonographischen Diagnostik. Ausnahme sind Duodenalwandhämatome, für welche die Sonographie eine ideale Verlaufskontrolle darstellt (. Abb. 10.16). Bei Duodenalwandhämatomen kann darüber hinaus eine obere Magen-Darm-Passage hilfreich sein und das Ausmaß der Lumeneinengung durch das Hämatom illustrieren. Intramurale Hämatome können in allen Darmabschnitten vorkommen. Der sonographische Nachweis ist jedoch fern des Duodenums schwierig. Ein sonographischer Hinweis für eine Darmperforation ist freie Flüssigkeit in der Bauchhöhle, die Differenzierung zu Blut oder Urin wiederum schwierig. Die konventionelle Übersichtsaufnahme des Abdomens sollte
173 10.9 · Hohlorganverletzungen
a
d
b
c
. Abb. 10.16a–d Duodenalwandhämatom nach stumpfem Oberbauchtrauma. a, b CT-Befund. c Sonographischer Befund. Wichtig ist die Differenzierung gegenüber einem tumorösen Geschehens.
d Die Magen-Darm-Passage mit Kontrastmittel zeigt die Lumeneinengung, jedoch keinen Kontrastmittelaustritt. Die konservative Therapie war erfolgreich
zum Nachweis freier Luft bereits beim geringsten Verdacht auf eine Darmperforation und bei entsprechender Unfallkonstellation (7 Abschn. 10.3.1) sogar routinemäßig angefertigt werden. Bei einer gedeckten Darmperforation kann der Nachweis freier Luft aber initial fehlen; bei persistierenden Beschwerden müssen sich Kontrolluntersuchungen anschließen. Die laborchemischen Entzündungsparameter Leukozyten und CRP sind anfangs nicht erhöht, sondern entwickeln sich mit der Peritonitis. Die Letalität nach Darmperforation korreliert mit dem Zeitpunkt der operativen Intervention, so dass die Diagnose frühzeitig gestellt werden muss. Hierbei ist die CT-Untersuchung allen anderen Verfahren überlegen. Spezifische Zeichen sind:
4 4 4 4 4 4 4 4
Darmdiskontinuität Extraluminales oral gegebenes Kontrastmittel Kontrastmittelextravasation nach intravenöser Gabe Extraluminale und/oder intramurale Luft Darmwandverdickungen und -dilatationen Erhöhtes Darmwand-Enhancement Mesenterialinfiltration (sog. »stranding«) Unerklärte intraperitoneale oder retroperitoneale Flüssigkeitsansammlungen
Liegt eines oder eine Kombination der ersten fünf genannten Zeichen vor, so gibt Jamieson (1996) einen positiven Vorhersagewert für eine Darmperforation von 100% an. Bei Kindern ist das erhöhte Darmwand-Enhancement
10
174
Kapitel 10 · Abdominaltrauma
ohne Perforation jedoch auch im Rahmen des Hypoperfusionskomplexes (Schockdarm) beschrieben. Die Auftreibung nur des Mesenteriums im CT gilt als Hinweiszeichen für eine Mesenterialverletzung. Zeigt sich jedoch eine Darmwandverdickung in Verbindung mit einer Auftreibung des Mesenteriums, muss von einer signifikanten Darmverletzung ausgegangen werden. Weiter wird in der Literatur häufig auf das Aspirationsrisiko bei enteraler Kontrastmittelgabe hingewiesen. Schwer traumatisierte Patienten sind jedoch in der Regel intubiert und anderenfalls sollte der Patient eine Vigilanz aufweisen, die eine orale Kontrastmittelgabe erlaubt. Diagnostische Laparoskopien bei kreislaufstabilen Patienten sind deshalb nicht indiziert, da ihnen retroperitoneale Duodenal- und Kolonverletzungen entgehen. Zusammenfassend halten nahezu alle Autoren das CT in Verbindung mit engmaschigen klinischen Untersuchungen für den Goldstandard in der Diagnostik der Hohlorganverletzungen.
10.9.3
Therapie
10 Ein konservatives Vorgehen bei Darmverletzungen ist nur im Falle von sich selbst limitierenden Mesenterialblutungen oder Darmwandhämatomen möglich. Letzteres kann das Duodenum betreffen, wobei die Therapie aus einer konsequenten Magenableitung über eine Magensonde besteht, durch eine adäquate Analgesie ergänzt wird und so lange weitergeführt wird, bis wieder eine ausreichende Magenentleerung eintritt. In nur 15% der Fälle kommt es zur Vollwandperforation am Duodenum. Liegt eine isolierte Duodenalruptur vor, ist das alleinige Übernähen indiziert und bei rechtzeitiger Diagnose mit einem sehr guten Outcome assoziiert (. Abb. 10.17). Eine weitere Option ist die »Exklusion des Pylorus«, bei welcher der Pylorus mit resorbierbaren Nähten verschlossen wird und die Magenableitung durch eine Gastrojejunostomie erfolgt. Das rekonstruierte Duodenum heilt unter Nahrungsumleitung aus und wird durch die sich auflösenden Nähte am Pylorus später wieder in die Passage einbezogen. Weiter kommt es zum Spontanverschluss der Gastrojejunostomie. Ist das proximale Duodenum nicht mehr zu rekonstruieren, so wird es mit dem Magenausgang entfernt und eine Gastrojejunostomie angelegt. Der verbleibende Duodenalstumpf wird über eine externe Drainage abgeleitet, Galleund Pankreassekrete ebenso. Bei Begleitverletzungen an Pankreas, Leber und extrahepatischen Gallengängen, die auf Grund der benachbarten anatomischen Lage zustande kommen, ist das Vorgehen individuell und abhängig vom Spektrum der Verletzungen. Eine Pankreatikoduodenektomie sollte möglichst vermieden werden und nur im Falle
. Abb. 10.17 Intraoperativer Situs einer Duodenalruptur nach Sturz vom Roller mit typischer Lenkerverletzung. Der Einriss von 3 cm wird primär quer vernäht
. Abb. 10.18 Zustand nach Anpralltrauma an einem Verkehrspoller. Intraoperativer Befund einer isolierten antimesenterialen, 1,5 cm durchmessenden Jejunumperforation 30 cm hinter dem Treitz-Band, die übernäht wurde
einer kompletten Zerstörung der gemeinsamen Blutversorgung beider Organe ohne Rekonstruktionsmöglichkeit zur Anwendung kommen. Auch bei einer Dünndarm- oder Dickdarmperforation besteht eine absolute Operationsindikation mit der
175 10.10 · Nebennierenverletzungen
Notwendigkeit einer Übernähung, evtl. Segmentresektion und/oder Anlage einer proximalen Enterostomie. Ein häufiger Perforationsort am Dünndarm ist das Jejunum, ca. 40 cm hinter dem Treitz-Band (. Abb. 10.18). In der Literatur wird beim hämodynamisch stabilen Patienten zunehmend die explorative Laparoskopie als diagnostische, aber auch therapeutische Maßnahme angegeben (Streck et al. 2006). Bei der genauen Betrachtung der Ergebnisse ist nur in einem Fünftel der Fälle eine rein laparoskopische Therapie möglich, wobei es sich hier um Zwerchfellläsionen und Darmperforationen bis Grad 2 handelt. Wir halten die verfügbare Schnittbildgebung für den diagnostischen Goldstandard und der Laparoskopie überlegen. Für den geübten Laparoskopiker ist die minimal-invasive Darmanastomose kein technisches Problem. In der Unfallsituation ist aber der Zeitfaktor von Bedeutung, so dass die offene Revision bei Darmverletzungen favorisiert wird.
10.9.4
Komplikationen
> Die Hauptkomplikation bei traumatischen Perforationen von Hohlorganen ist das Übersehen der Verletzung mit einer ansteigenden Morbidität durch die sich entwickelnde Peritonitis.
Bei den Hohlorganverletzungen finden sich mit 50% die höchsten Raten von verspäteten operativen Interventionen nach konservativem Therapiebeginn (Sjovall et al. 1997). Grund hierfür ist nicht die eintretende hämodynamische Instabilität des Patienten, sondern vielmehr die schwierige Akutdiagnostik, der sich Hohlorganverletzungen anfangs entziehen können. Zur Vermeidung der Komplikation des Übersehens ist die Analyse des Unfallhergangs mit allen Risikofaktoren für Hohlorganverletzungen und das Beobachten von klinischen Zeichen von immenser Bedeutung. Zu den Risikofaktoren gehören Sicherheitsgurtverletzungen, typische abdominelle Hauterosionen und zusätzliche Verletzungen von Wirbelsäule sowie Pankreas, die bereits im 7 Abschn. 10.3.1 und 7 Abschn. 10.3.2 erläutert wurden. Zuletzt steigt das Risiko für eine Darmverletzung mit der Anzahl der verletzten Organe. Bei drei verletzten soliden intraabdominellen Organen besteht ein Risiko von 13,5%, dass zusätzlich eine Darmperforation vorliegt. Das frühzeitige Erkennen von intestinalen Perforationen verringert nicht nur die Gesamtmorbidität, sondern auch das Komplikationspotenzial (Wundheilungsstörungen, Anastomoseninsuffizienzen, Rate von Anus-praeter-Anlagen mit notwendigen Folgeeingriffen), das insgesamt mit 35% angegeben wird.
10.10
Nebennierenverletzungen
10.10.1
Klassifikation (. Tab. 10.13)
. Tab. 10.13 Klassifikation der Nebennierenverletzungen (OIS – Organ Injury Scale) nach der American Association for the Surgery of Trauma (AAST) Grad
Verletzungsmuster
I
Kontusion
II
Lazeration, nur den Kortex betreffend (<2 cm)
III
Lazeration, das Mark einschließend (>2 cm)
IV
Parenchymale Destruktion >50%
V
Komplette parenchymale Destruktion oder vollständige Avulsion von der Blutversorgung
10.10.2
Diagnostik und Therapie
Die niedrige Inzidenz von 1% Nebennierenverletzungen nach stumpfem Bauchtrauma ist vermutlich eine Unterschätzung. Schwarz et al. (2000) gibt bereits eine Inzidenz von 5% an und begründet die Zahl mit der technischen Verbesserung heutiger hochauflösender CT-Scanner, die Hochgeschwindigkeits-Spiral-Sequenzen fahren. Das Vorkommen ist somit häufiger als beim Erwachsenen, für welche eine Rate von 2% angegeben wird. Fast immer ist die rechte Nebenniere betroffen, wobei dafür mehrere hypothetische Mechanismen in Frage kommen. Einige Autoren vermuten einen hydrodynamischen Grund mit einem durch den Unfall erhöhten Druck in der rechten Nebennierenvene, die direkt in die Vena cava inferior drainiert. Andere halten die spongiforme Struktur des venösen Gitternetzes des Nebennierenmarkes für sehr vulnerabel. Der wahrscheinlichste Grund ist die anatomische Lage der rechten Nebenniere, durch welche sie bei einem Bauchtrauma von der Leber – dem schwersten parenchymatösen Bauchorgan – gegen die Wirbelsäule gedrückt wird. > Bei dokumentierten Nebennierenverletzungen sind in bis zu 95% der Fälle andere ipsilaterale Bauchorgane betroffen, so dass die Nebennierenverletzung als »Indikatorverletzung« gilt.
In 50% der Fälle liegt ein ipsilaterales Thoraxtrauma vor. Klinisch hat die isolierte Verletzung der Nebenniere keine wesentliche Bedeutung, da selbst der einseitige Organverlust zu keiner adrenokortikalen Insuffizienz führt. Ein Übersehen dieser Verletzung liegt damit nahe, zumal auch die sonographische Diagnostik eine Herausforderung darstellt – die Organgröße beim Kleinkind misst etwa 2×1,5 cm.
10
176
Kapitel 10 · Abdominaltrauma
! Cave Differenzialdiagnostisch muss bei Nebennierenblutungen im Kindesalter unbedingt ein Neuroblastom ausgeschlossen werden.
Gelingt dies bildgebend nicht sicher, so müssen onkologische Diagnoseverfahren wie der Katecholaminnachweis im Urin ergänzend durchgeführt werden.
10
10.11
Harnblasenverletzungen
10.11.1
Klassifikation (. Tab. 10.14)
Im Grunde unterscheidet man zwei Mechanismen der Blasenruptur. In 25% rupturiert die Blase bei einem stumpfen Unterbauchtrauma meist in gefülltem Zustand. Der Riss entsteht am Blasenscheitel und eröffnet damit die Peritonealhöhle. In 70% erfolgt die Verletzung extraperitoneal, meist im Rahmen von Beckenfrakturen (7 Kap. 13). In den restlichen 5% kommt es zu einer Kombination der beiden genannten Verletzungsarten. Klinisch kann ein peritonealer Reizzustand bei intraperitonealer Blasenruptur bestehen und/oder eine »blutige Anurie« mit schmerzhaftem frustranem Harndrang.
10.11.2
Diagnostik
In der bildgebenden Diagnostik hat die retrograde Zystographie eine Genauigkeit von 85–100%. Sie bildet aber die umliegenden Strukturen nicht ab, ist bei Mehrfachverletzungen zu aufwändig und bei zusätzlichen Harnröhrenverletzungen erschwert oder sogar unmöglich. In all diesen Punkten ist die CT überlegen (. Abb. 10.19), allerdings ist eine optimale Harnblasendistension Voraussetzung, dass keine Verletzung übersehen wird. Goldstandard ist heute die CT-Zystographie, für die eine Sensitivität von 95% und eine Spezifität von 100%
. Tab. 10.14 Klassifikation der Harnblasenverletzungen (OIS – Organ Injury Scale) nach der American Association for the Surgery of Trauma (AAST) Grad
Verletzungsmuster
I
Blasenkontusion
II
Intraperitoneale Ruptur
III
Interstitielle Blasenverletzung
IV
Extraperitoneale Ruptur
V
Harnblasenverletzung im Rahmen eines Polytraumas
. Abb. 10.19 Komplexes Beckentrauma durch eine herabfallende Eisenbahnschwelle. Im CT zeigt sich ein kompletter Abriss der Harnblase und Vagina, die ins mittlere Abdomen disloziert sind. Ferner ist das Kontrastmittelextravasat sichtbar
angegeben wird. Nachteil ist die bei drei notwendigen CT-Phasen hohe anfallende Strahlenbelastung. Deshalb werden bei Kindern die Okklusion des Blasenkatheters vor der intravenösen Kontrastmittelapplikation und eine Verzögerung der Untersuchung der Beckenregion um einige Minuten empfohlen. Ferner hilft die Lokalisation des Kontrastmittelextravasats bei der Differenzierung einer intraperitonealen von einer extraperitonealen Ruptur, was sowohl von therapeutischer als auch prognostischer Bedeutung ist.
10.11.3
Therapie
Extraperitoneale Harnblasenrupturen ohne Blasenhalsverletzung heilen konservativ unter Blasendauerableitung in >90% der Fälle innerhalb von 3 Wochen aus. Auch für intraperitoneale Blasenrupturen ist ein nicht-operatives Vorgehen beschrieben, wenn es sich um isolierte Verletzungen handelt, die Blasenableitung ungehindert und vollständig ist, die peritoneale Drainage nicht prolongiert wird und der Patient sich klinisch nicht verschlechtert. Um das zu gewährleisten, sind die Zystoskopie mit Anlage von beidseitigen Uretersplints und die Einlage eines transurethralen oder suprapubischen Blasenkatheters indiziert. Eventuell muss ergänzend die Einlage einer abdominellen Drainage erfolgen, um die Heilung der Harnblase zu errei-
177 10.12 · Urethraverletzungen
chen. Bei Blasenrupturen im Rahmen von schweren Mehrfachverletzungen mit Beteiligung von Vagina und Urethra ist die offene chirurgische Rekonstruktion angezeigt.
10.11.4
Komplikationen
Nach Harnblasenrupturen kann es zu persistierenden Urinomen und zu deren Superinfektion kommen. Viel gravierender sind jedoch Langzeitprobleme wie die neurogene Blasenentleerungsstörung, die durch die unfallbedingte Denervierung und/oder die Operation zustande kommen kann. Blasenaugmentationen und die Anlage eines Mitrofanoff-Stomas, um einen intermittierenden Katheterismus zu gewährleisten, sind mögliche sekundäre Maßnahmen, die als Folge der Blasenfunktionsstörung durchzuführen sind.
durch Scher- und Zugkräfte durch die am Beckenknochen fixierte Prostata ein- oder abgerissen. Mädchen sind auf Grund der kürzeren Harnröhre, einer höheren Elastizität der Harnröhre und weniger Verbindungen zum Beckenknochen seltener betroffen. Eine komplette Avulsion der proximalen Urethra tritt bei 84% aller weiblichen Harnröhrenverletzungen auf. > Obwohl immer als typische Kombinationsverletzung beschrieben, zeigt sich bei Beckenfrakturen nur in 0–6% eine Verletzung der Harnröhre. Verletzungen der bulbären Harnröhre sind meist Folge eines direkten Traumas, die durch Rittlingsstürze auf Fahrradstangen oder Leitersprossen entstehen und als »StraddleVerletzung« bezeichnet werden. Es handelt sich um infradiaphragmale extrapelvine Verletzungen, die meist isoliert vorkommen mit einem klaren Unfallmechanismus.
10.12
Urethraverletzungen
10.12.2
10.12.1
Klassifikation (. Tab. 10.15)
Das klinisch führende Zeichen ist die frische Hämaturie aus der Harnröhre, die jeden Erstversorger von unüberlegten Katheterisierungsversuchen abhalten sollte.
> Harnröhrenverletzungen sind selten. Nur 1 von 2000 Kindern mit Verletzungen nach stumpfem Bauch- und Beckentrauma weist eine Harnröhrenverletzung auf.
Die Inzidenz wird mit ca. 3% aller urogenitalen Verletzungen angegeben. Man unterscheidet 2 Grundformen. Verletzungen der membranösen Harnröhre über oder im Bereich des Diaphragma urogenitale entstehen häufig im Rahmen von Becken- und/oder Symphysenfrakturen, also indirekten Traumen, wobei hier am häufigsten Verkehrsunfälle verantwortlich sind. Die Harnröhre wird dabei
. Tab. 10.15 Klassifikation der Harnröhrenverletzungen (OIS – Organ Injury Scale) nach der American Association for the Surgery of Trauma (AAST) Grad
Verletzungsmuster
I
Kontusion mit Blut am Meatus, aber unauffälligem Urethrogramm
II
Dehnungsverletzung. Elongation der Urethra ohne Extravasat in der Urethrographie
III
Teilruptur mit Kontrastmittelextravasat und Kontrastmittel, das in die Harnblase gelangt
IV
Komplette Ruptur mit Kontrastmittelextravasat und ohne Kontrastmittel in der Harnblase. Urethrale Separation <2 cm
V
Komplette Harnröhrenruptur mit >2 cm Separation
Diagnostik
! Cave Folge unvorsichtiger transurethraler Katheterisierungsversuche nach Harnröhrenverletzungen kann die Rupturvergrößerung sein oder die Umwandlung einer inkompletten in eine komplette Ruptur.
Das CT stellt die Primärdiagnostik beim Beckentrauma dar. Um eine Harnröhrenverletzung zu illustrieren, ist jedoch die retrograde Kontrastmitteldarstellung zu empfehlen, die ein Extravasat des Kontrastmittels sowie die Höhe der Läsion zeigt (. Abb. 10.20). Noch besser ist die Zystoskopie mit der Möglichkeit der direkten Visualisierung und der therapeutischen Option der kontrollierten Kathetereinlage wie im folgenden Kapitel beschrieben.
10.12.3
Therapie
Das Auffädeln der Urethraenden mit einem Blasenkatheter unter radiologischer oder zystoskopischer Kontrolle führt zu guten Langzeitergebnissen (Holland et al. 2001). Allerdings handelt es sich in diesen Fällen überwiegend um inkomplette Harnröhrenläsionen. Gelingt es nicht, den proximalen Harnröhrenanteil zu sondieren – z. B. bei einer kompletten Harnröhrenruptur –, so ist eine suprapubische Zystoskopie über einen Trokarzugang denkbar mit antegrader Schienung der Harnröhre und urethroskopischer Entgegennahme des Katheters. Ist auch das nicht möglich,
10
178
Kapitel 10 · Abdominaltrauma
angegeben und beinhaltet postoperative Harnröhrenstrikturen (29%), Urininkontinenz (25%) und erektile Dysfunktionen (29%). Eine hohe Zahl an Zweiteingriffen verbunden mit einer Hospitalisation ist die Folge. Es versteht sich von selbst, dass diese Art von Komplikationen mit einem häufigen Auftreten von psychosozialen Problemen assoziiert ist.
10.13
10 . Abb. 10.20 Kontrastmittelextravasat bei einer Urethraverletzung
wird in der Literatur ein primär rekonstruktives offenes Verfahren empfohlen, da die Inzidenzen für Harnröhrenstrikturen niedriger sind. Das gilt insbesondere beim Vorliegen von Blasenhalslazerationen, starken Dislokationen der prostatisch-membranösen Harnröhre und bei zusätzlichen vaskulären Becken- sowie Vagina- und Rektumverletzungen. Für ein zunächst konservatives Vorgehen sprechen die dann niedrigeren Inzidenzen für Impotenz und Inkontinenz. Unklar ist, ob diese durch den Unfall selbst entstanden sind und sich damit nicht mit der chirurgischen Behandlung assoziieren lassen. Ist die chirurgische Harnröhrenrekonstruktion indiziert, stehen ein perinealer und ein transpubischer Zugang bzw. deren Kombination zur Verfügung. Favorisiert wird in der Literatur der posteriore perineale Zugang, wobei zu bedenken ist, dass das Perineum beim Kind kürzer ist als beim Erwachsenen.
10.12.4
Komplikationen
Die Häufigkeit früher Komplikationen nach posterioren Harnröhrenverletzungen wird mit 14% angegeben. Hierzu zählen Fistelbildungen nach perineal, rektal und skrotal, die periprostatische Abszessausbildung sowie die Urosepsis. Die Rate von Langzeitkomplikationen wird mit 58%
Fazit
Die Behandlung von verletzten Kindern erfordert stets ein an die Bedürfnisse und an die anatomischen und altersspezifischen Besonderheiten adaptiertes Vorgehen. Die jüngsten Fortschritte in der intensivmedizinischen Therapie verunfallter Kinder und umfangreiche diagnostische Möglichkeiten haben zu deutlich verbesserten Ergebnissen nach schweren Verletzungen geführt. Zudem stoßen minimal-invasive Methoden, die Endoskopie und interventionelle radiologische Technik in das interdisziplinäre Behandlungskonzept vor. Auch wenn das nicht-operative Vorgehen in den letzten zwei Jahrzehnten an Bedeutung gewonnen hat, so muss der Kinderchirurg dennoch die Verletzungen identifizieren, die einer chirurgischen Intervention bedürfen. > Im Dialog mit dem multidisziplinären Team ist die Entscheidung, nicht zu operieren, immer eine chirurgische Entscheidung.
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179 10.13 · Fazit
Holland AJA, Cohen RC, McKertich KMF et al. (2001) Urethral trauma in children. Pediatr Surg Int 17: 58–61 Holmes JH, Wiebe DJ, Tataria M et al. (2005) The failure of nonoperative management in pediatric solid organ injury: a multi-institutional experience. J Trauma 59 (6): 1309–13 Huebner S, Reed MH (2001) Analysis of the value of imaging as part of the follow-up of splenic injury in children. Pediatr Radiol 31:852–5 Iuchtman M, Alfici R, Sternberg E et al. (2000) Multimodality management in severe pediatric spleen trauma. Isr Med Assoc J 2: 523–5 Jacombs AS, Wines M, Holland AJ (2004) Pancreatic trauma in children. J Pediatr Surg 39 (1): 96–9 Jerby BL, Attorri RJ, Morton D (1997) Blunt intestinal injury in children: the role of the physical examination. J Pediatr Surg 32(4): 580–4 Jim J, Leonardi MJ, Cryer HG et al. (2008) Management of high-grade splenic injury in children. Am Surg 74: 988–92 Kumar R, Holland AJ, Shi E et al. (2002) Isolated and multisystem hepatic trauma in children: the true role of non-operative management. Pediatr Surg Int 18 (2–3): 98–103 McAleer IM, Kaplan GW, Scherz HC et al. (1993) Genitourinary trauma in the pediatric patient. Urology 42: 563–7 Roaten JB, Partrick DA, Nydam TL et al. (2006) Nonaccidental trauma is a major cause of morbidity and mortality among patients at a regional level 1 pediatric trauma center. J Pediatr Surg 41 (12): 2013–5 Rose ST, Marzi I (1996) Das Polytrauma. Pathophysiologie des Polytraumas. Zentralbl Chir 121: 896–913 Schmittenbecher PP, Rapp P, Dietz HG (1996) Traumatic and nontraumatic pancreatitis in pediatric surgery. Eur J Pediatr Surg 6 (2): 86–91 Schwarz M, Horev G, Freud E et al. (2000) Traumatic adrenal injury in children. Isr Med Assoc J 2 (2): 132–4 Sjovall A, Hirsch K (1997) Blunt abdominal trauma in children: risks of nonoperative treatment. J Pediatr Surg 32 (8): 1169–74 Soundappan SV, Lam AH, Cass DT (2006) Traumatic adrenal haemorrhage in children. ANZ J Surg 76: 729–31 Streck CJ, Lobe TE, Pietsch JB (2006) Laparoscopic repair of traumatic bowel injury in children. J Pediatr Surg 4 (11): 1864–9 Stylianos S, the APSA Trauma Committee (2000) Evidence-based guidelines for resource utilization in children with isolated spleen or liver injury. J Pediatr Surg 35 (2): 164–7 Stylianos S, the APSA Trauma Committee (2002) Compliance wih evidence-based guidelines in children with isolated spleen or liver injury: a prospective study. J Pediatr Surg 37 (3): 453–6 Stylianos S (2005) Outcomes from pediatric solid organ injuries: role of standardized care guidelines. Curr Opin Pediatr 17: 402–406 Weigelt JA (1990) Duodenal injuries. Surg Clin North Am 70: 529–39 Wessel LM, Jester I, Scholz S (2000) Diagnostische und therapeutische Konsequenzen nach Nierenverletzungen bei kindlichem stumpfem Bauchtrauma. Urologe 39: 425–431
10
11
Polytrauma und Mehrfachverletzungen P. Schmittenbecher
11.1
Einführung
– 182
11.1.1 Definition – 182 11.1.2 Epidemiologie – 182
11.2
Verletzungen
– 182
11.2.1 Inzidenz und Schwere der Verletzungen – 182 11.2.2 Typische Verletzungskombinationen – 183
11.3
Anatomische und physiologische Besonderheiten
– 184
11.3.1 Atmung und Kreislauf – 184 11.3.2 Muskuloskelettales System – 184
11.4
Management des polytraumatisierten Kindes
– 184
11.4.1 Erstmaßnahmen – 184 11.4.2 Sekundäre Maßnahmen – 185 11.4.3 Definitive Versorgung – 187
11.5
Besonderheiten der definitiven Therapie beim Polytrauma – 187
11.6
Ergebnisse, Rehabilitation und Langzeitverlauf Literatur
– 190
– 190
182
Kapitel 11 · Polytrauma und Mehrfachverletzungen
11.1
Einführung
Traumen sind im Kindesalter unverändert und auch in Ländern mit gut entwickelten Gesundheitssystemen die häufigste Todesursache. Polytraumatisierte oder mehrfach verletzte Kinder tragen hierzu in besonderer Weise bei. Schwere Schädel-Hirn-Traumen bedingen alleine oder in Verbindung mit anderen Verletzungen einen relevanten Teil der Morbidität und der Letalität. Ein fatales Outcome ist oft die Folge einer Kombinationsverletzung (Kay u. Skaggs 2006).
11.1.1
11
Definition
Das Polytrauma ist definiert als ein Verletzungsmuster von zwei oder mehr Organsystemen oder Körperregionen, die zur gleichen Zeit aufgetreten sind und als Folge einer der Verletzungen oder der Verletzungskombination eine akute Lebensgefahr bedingen. Fehlt die konkrete Lebensgefahr, liegt eine Mehrfachverletzung vor, die grundsätzlich auch schwerwiegender als die Summe der Einzelverletzungen gewertet und als »systemisches Krankheitsbild« angesehen werden muss. Natürlich kann Lebensgefahr auch nach einer entsprechend schwerwiegenden Einzelverletzung (Schädel-Hirn-Trauma, Leberruptur o. ä.) bestehen, ist dann aber trotzdem nicht als Polytrauma zu bezeichnen. Im Weiteren sind die Ausführungen zum Polytrauma immer auch mit Abstrichen auf das mehrfach verletzte Kind anzuwenden.
11.1.2
Epidemiologie
6,1% der Polytraumen waren bei der Auswertung des Traumaregisters der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie unter 16 Jahren alt. Etwa 2000 polytraumatisierte Kinder und Jugendliche sind somit pro Jahr in der Bundesrepublik zu erwarten. Die Hälfte entfällt auf die 11- bis 15-jährigen, 23% auf die 6- bis 10-jährigen und 27% auf die 0- bis 5-jährigen Kinder. Jungen sind zu 2/3 betroffen (Meier et al. 2005). In den USA sterben jährlich 15.000 Kinder <14 Jahren an Unfallfolgen, 19 Millionen benötigen medizinische Hilfe und 100.000 haben bleibende Behinderungen. Altersspitzen liegen im ersten Lebensjahr und im Adoleszentenalter (Wilber et al. 2003).
11.2
Verletzungen
11.2.1
Inzidenz und Schwere der Verletzungen
Die Inzidenz polytraumatisierter Kinder wird mit 360/100.000 angegeben. Im ersten Lebensjahr handelt es sich überwiegend um Kindesmisshandlungen. Kleinkinder stürzen zuhause oder auf dem Spielplatz aus größerer Höhe (>3 m). Mit der Einschulung und der Integration in den Straßenverkehr treten Verkehrsunfälle als Fußgänger, Radfahrer oder Kfz-Beifahrer in den Vordergrund. Die Letalität liegt zwischen 12 und 23%, ist bei den Kleinkindern und den Adoleszenten relativ höher und wird v. a. durch die Kombination von Schädel-HirnTrauma, Thorax- und Bauchtrauma bedingt. Auch Kinder mit HWS-Verletzungen haben ein hohes Letalitätsrisiko (Meier et al. 2005). Die numerische Erfassung der Verletzungsschwere kann durch eines der vielfältigen Score-Systeme erfolgen. Ihr Wert liegt vor allem in der retrospektiven, wissenschaftlich vergleichbaren Analyse der Verletzungsmuster. Scores haben in der Regel keinen Einfluss auf die Versorgung des Patienten, obwohl die frühe Klassifikation der Verletzungsschwere und eine daraus abzuleitende Triage vor allem beim Anfall mehrerer Verletzten diskutiert werden. Scores zur Klassifikation von Traumen im Kindes- und/oder Erwachsenenalter orientieren sich teils an physiologischen, teils an anatomischen Parametern oder beziehen eine Kombination physiologischer und anatomischer Aspekte ein. Spezielle Kinder-Scores sind dabei den allgemeinen Trauma-Scores nicht überlegen (Ott et al. 2000). Die am meisten verbreiteten und akzeptierten Systeme für Kinder sind der »Modified Injury Severity Score« (MISS) und der »Paediatric Trauma Score« (PTS) (Yian et al. 2000). 4 Im MISS werden fünf anatomische Verletzungsareale (Schädel, Gesicht/Hals, Thorax, Abdomen, Skelett) und fünf Schweregrade (gering, moderat, schwer, lebensbedrohlich, kritisch) beurteilt und der Score aus der Summe der Quadrate der drei am schwersten betroffenen Areale gebildet. Ein Score >16 ist definierter unterer Grenzwert eines Polytraumas, ein Score >25 Punkte beinhaltet ein erhöhtes Risiko bleibender Schäden und >40 Punkte prognostizieren einen letalen Ausgang (Mayer et al. 1980). 4 Der PTS beinhaltet sechs anatomische oder physiologische Komponenten (Gewicht, Atmung, Bewusstsein, Blutdruck, Wunden, Skelett) und bewertet von –1 (schwer) über +1 (gering) bis +2 (minimal oder nicht betroffen). Mit >8 Punkte ist kein letaler Ausgang zu befürchten, mit <0 Punkte ist die Mortalität 100%.
H.G. Dietz et al. (Hrsg.), Praxis der Kinder-und Jugendtraumatologie, DOI 10.1007/978-3-642-12935-3_11, © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2011
183 11.2 · Verletzungen
b a
. Abb. 11.1a–c Typische Polytraumakonstellation. a Schädel-Hirn-Trauma. b Lungenkontusion. c Epiphyseolyse des Femurkopfes
c
Zwischen MISS und PTS ist eine lineare Beziehung festgestellt worden. Der PTS soll am Unfallort leichter anzuwenden und deshalb für eine Triage vorteilhaft sein (Tepas et al. 1988).
11.2.2
Typische Verletzungskombinationen
Ein Schädel-Hirn-Trauma (SHT) wird je nach Altersgruppe in 70–87% der Fälle gefunden Der Anteil mittelschwerer und schwerer SHT ist höher als bei Erwachsenen. Thoraxverletzungen werden in 30–44%, vereinzelt aber auch bis in 62% der Fälle gefunden. Bauchtraumen werden in 19– 33% der Fälle registriert. Bauchtraumen sind oft schwerer als bei Erwachsenen, die Thoraxtraumen dagegen weniger schwer ausgeprägt. Extremitätenfrakturen kommen in 23–63% der Fälle vor (Meier et al. 2005). Bei jüngeren Kindern sind Schädel-Hirn-Traumen und Verletzungen der unteren Extremität deutlich häufiger als Thorax-, Bauch- oder Beckenverletzungen (. Abb. 11.1). Die obere Extremität ist seltener betroffen. Bei relevanten Gesichtsverletzungen ist immer an eine Beteiligung der HWS zu denken. Frakturen der ersten Rippe oder Rippenserienfrakturen sind im Kindesalter ein Indiz für die Schwe-
re des Unfalls und müssen eine gezielte Suche nach weiteren Verletzungsfolgen v. a. am Thorax auslösen. BWS- oder LWS-Frakturen weisen auf abdominelle Organverletzungen hin, Beckenfrakturen auf retroperitoneale Organbeteiligung. Bei Stürzen aus großer Höhe steht die Kombination von SHT und peripheren Frakturen im Vordergrund. Ein typisches Verletzungsmuster bei einem Unfall Fußgänger/Auto ist die Kombination aus Schädel-Hirn-Trauma, Lungenkontusion und Femurschaftfraktur. Die unzureichende Sicherung von Kindern als Kfz-Insassen mit Zwei-Punkt-Gurten führt zu Flexions-Distraktions-Verletzungen der LWS (»chance fractures«) in Verbindung mit (Dünn-) Darmrupturen und/oder traumatischer Pankreatitis. > Eine deutliche Gurtmarke ist in 25% der Fälle mit intestinalen oder mesenterialen Verletzungen verbunden.
Roller- und Fahrradstürze gehen mit Verletzungen von Pankreas, Duodenum und Leber einher, Überrolltraumen sind oft von Darmverletzungen und Blasenrupturen gefolgt, Tritte im Rahmen einer Misshandlung von Duodenal- und Pankreasrupturen.
11
184
Kapitel 11 · Polytrauma und Mehrfachverletzungen
11.3
Anatomische und physiologische Besonderheiten
11.3.1
Atmung und Kreislauf
Über die üblichen Richtlinien der Notfallversorgung verletzter Kinder (7 Kap. 2) hinaus sind bei den polytraumatisierten Kindern in besonderem Maße die mit dem Alter sich ändernden unterschiedlichen Körperproportionen mit dem relativ großen Kopf zu bedenken. Der höher und weiter vorne stehende Larynx, die größere Zunge, die komprimierbareren Knorpel und Weichteile und die enge subglottische Region führen zu dem höheren Risiko einer oberen Atemwegsobstruktion. Eine posttraumatische Schwellung oder ein Fremdkörper können hinzukommen. Der Hals des Kleinkindes ist kurz und muss den relativ schweren Kopf halten. Die Halsvenen können versteckt, die Position der Trachea schwer zu identifizieren sein. Durch die Flexibilität der HWS und ihrer Weichteilverankerungen sind Rückenmarksverletzungen ohne radiologische Abnormalitäten möglich. > Die Hypoventilation ist die Hauptursache eines Herzstillstandes im Kindesalter.
11
Die Thoraxwand ist elastischer und erleichtert die Übertragung der traumatischen Energie auf die intrathorakalen Organe. Schwere Lungenkontusionen mit fatalen Folgen für die Ventilation, mit folgender Erschöpfung der Atemarbeit und mit hämodynamischen Konsequenzen sind zu bedenken, ohne dass Rippenfrakturen vorliegen müssen. Blutverlust und Hypovolämie führen zum Kreislaufversagen, wenn andere Ursachen wie eine Obstruktion des venösen Rückflusses (Spannungspneumothorax, Perikarderguss) oder ein fehlender Sympatikotonus (spinale Verletzung) ausgeschlossen sind. Bei geringem Blutvolumen und fixiertem Herzschlagvolumen wird der kardiale Output durch die Frequenz bestimmt. Dies führt in der Regel zur reflektorischen Tachykardie, wenn Schmerz und Ängste als andere Tachykardie-Auslöser ausreichend behandelt sind. Die normale Frequenz ist altersabhängig und beträgt z. B. beim Kleinkind 100–130 Schläge/min. Bradykardie ist neben verzögerter kapillarer Füllzeit, niedriger Pulsamplitude und Bewusstseinsstörung ein Warnzeichen kardialer Dekompensation. Relevanter Blutverlust entsteht z. B. durch abdominelle Organverletzungen. Die Organprotektion durch Bauchwand und Rippenbogen ist noch unzureichend. Die Hypovolämie kann durch Vasokonstriktion lange kompensiert werden. Der Blutdruckabfall ist ein spätes Zeichen, kommt plötzlich (»they talk and die«) und bedarf dann konsequenter Reanimation. Der Blutdruck kann nach der Formel RRsyst = 2× Alter + 80 kalkuliert werden.
Das Problem der neurologischen Evaluation besteht in der eingeschränkten Kommunikationsfähigkeit der kleineren Kinder. Die modifizierte pädiatrische GlasgowComa-Scale ist anzuwenden. Zu bedenken ist, dass besonders bei Kleinkindern Bewusstseinsstörungen durch Glukosemangel ausgelöst sein können, umgekehrt sympathische und adrenale Mechanismen sowie eine relative Insulinresistenz zur Hyperglykämie führen. ! Cave Das Kind wird durch seine große Oberfläche schnell hypotherm und ist vor einer Auskühlung zu schützen.
Das Polytrauma führt als systemische Erkrankung zu einer systemischen Antwort. Neuroendokrine Reaktionen, Endotheliopathie und gestörte Blutgerinnung sowie Temperaturregulationsstörung führen zur Mediatorenausschüttung. Durch die begrenzte Immunkompetenz und die limitierte reaktive Zytokinsynthese kommen aber SIRS und MOF (»multiorgan failure«) selten vor (Husain et al. 2006; Meier et al. 2005, Wetzel u. Burns 2002).
11.3.2
Muskuloskelettales System
Die Frakturmuster unterscheiden sich in den verschiedenen Altersgruppen. Gering oder nicht dislozierte Frakturen wie die Grünholzfrakturen kommen bei den Mehrfachverletzten seltener vor. Die höhere Verletzungsenergie führt überwiegend zu vollständigen Brüchen. Dabei ist die Komplexität der Weichteilverletzung wie bei den offenen Brüchen kein Hinweis auf die Komplexität des Knochenbruches. Offene Brüche werden beim Polytrauma häufiger beobachtet, aber auch schwere Weichteilverletzungen und großflächige Decollements (Morel-Lavalle-Verletzung) werden beobachtet. Die Bedeutung der Frakturen beim Polytrauma begründet sich auf Blutverlust bei Becken- und Femurfrakturen, auf den Schmerz durch die Instabilität und auf Folgeschäden durch neurovaskuläre Verletzungen oder Kompartmentsyndrome.
11.4
Management des polytraumatisierten Kindes
11.4.1
Erstmaßnahmen
Am Unfallort erfolgt nach einem strukturierten Ablaufplan die Erstversorgung ggf. mit Reanimation. Hypoxie, starke Blutung und schwere ZNS-Verletzung sind Hauptursachen des primären plötzlichen Todes, deshalb stehen ausreichende Oxygenierung und Volumensubstitution im Vordergrund. Die individuelle Situation entscheidet
185 11.4 · Management des polytraumatisierten Kindes
zwischen »stay and play« oder »load and go« (Biarent et al. 2005). 4 A – Airway: Die Sicherung der Oxygenierung umfasst primär Sauerstoffvorlage (12 l/min), Prüfung des Pharynx auf Verlegung und HWS-Stabilisierung. Fehlende Schutzreflexe, fehlender Atemantrieb, unzureichende Atmung durch Thoraxtrauma, unzureichendes Bewusstsein und die Notwendigkeit kontrollierter Beatmung beim schweren SHT erfordern die sofortige Intubation unter HWS-Sicherung (»in line«). 4 B – Breathing: Asymmetrische Atembewegungen, Schaukelatmung, Einziehungen, Krepitationen, Hautemphysem und hypersonorer Klopfschall weisen auf einen Spannungspneumothorax oder einen Hämatothorax hin und erfordern die umgehende Anlage einer Thoraxdrainage. Ein Perikarderguss wird kaum außerhalb der Klinik zu diagnostizieren sein (gedämpfte Herztöne, gestaute Halsvenen, kein Rückfluss). Die offene Thoraxverletzung muss drainiert und mit einem Verband abgedichtet werden. 4 C – Circulation: Die Zirkulation hängt ab von der Pumpfunktion des Herzens, der Integrität des Gefäßsystems und ausreichendem zirkulierendem Volumen. Indikatoren unzureichender Perfusion sind Tachypnoe, Tachykardie, niedriger Blutdruck, verlängerte Rekapillarisierungszeit, Oligurie, Blässe, marmorierte Haut, Angst und Unruhe. Die Hypotension tritt erst nach 25–30% Volumenverlust auf. Sichtbare externe Blutverluste werden durch Kompression reduziert, okkulte Blutverluste in Thorax und Abdomen, Becken und Skelettweichteile sind zu bedenken. Zwei großlumige Zugänge sind unumgänglich, der intraossäre Weg ist frühzeitig zu wählen. 20 ml/kg KG kristalloider Lösung werden 1- bis 2-mal appliziert, dann soll 0-negatives Blut oder HAES transfundiert werden. Bei schwerem SHT ist das Flüssigkeitsmanagement wegen der Gefahr des Hirnödems trotzdem vorsichtig vorzunehmen. Wegen der Gefahr eines Kompartmentsyndroms bei Dislokation soll eine intraossäre Nadel während Umlagerung oder unruhigem Transport nicht genutzt werden. 4 D – Disability: Am Ende der Primärversorgung erfolgt ein neurologischer Check mit pädiatrischer GCS-Erhebung und Pupillenprüfung. 4 E – Exposure: Nach Entfernung ggf. nasser Kleider ist Wärmeverlust zu verhindern. Hypothermie, Azidose und Koagulopathie werden die »letale Trias« genannt (Wetzel et al. 2002). Fraktur- oder Luxationsrepositionen am Unfallort sind beim Polytrauma selten indiziert. Über die Notwendigkeit entscheiden die Transportdauer, das Dislokationsausmaß und die Weichteilsituation.
Das Kind soll primär an ein qualifiziertes Kindertraumazentrum transportiert werden, das über eine Kinderintensivstation verfügt, oder es muss nach initialer Stabilisierung dorthin verlegt werden, da im Kinder-Traumazentrum die Mortalität nach Polytraumen niedriger ist (Hall et al. 1996; Kay u. Skaggs 2006). Analgesie und Sedierung sind für den Transport sehr wichtig. Das Schockraumteam mit Kinderchirurg oder kindertraumatologisch erfahrenem Unfallchirurg, Kinderanästhesist, pädiatrischem Intensivmediziner und Kinderradiologen wird alarmiert. Nach Erreichen der Notfalleinheit wird ein kardiorespiratorisches Monitoring installiert, dann erfolgt die erste Bildgebung als CT-Polytraumaspirale (. Abb. 11.2; Kloppel et al. 1997) oder konventionell mit HWS seitlich, Thorax und Becken sowie eine orientierende Ultraschalluntersuchung. Laboranalysen umfassen Glukose (!), Hämoglobin, Blutgase und Kreuzprobe. Magensonde und Blasenkatheter (cave bei Beckenfraktur mit Urethraabriss!) werden gelegt.
11.4.2
Sekundäre Maßnahmen
Nach der Erstversorgung erfolgt eine vollständige Untersuchung »von Kopf bis Fuß«. Bei jeder Verschlechterung des Allgemeinzustandes muss ggf. das ABCDE der Primärmaßnahmen wiederholt werden. Zu diesem Zeitpunkt ist die Erhebung anamnestischer Daten wichtig. Neben der Evaluation von Allergien, Medikationen und Impfstatus sind jüngste medizinische Untersuchungsbefunde, zurückliegende Unfälle und auch die letzten Mahlzeiten von Bedeutung. Die Untersuchung des Kopfes umfasst die Inspektion der Mundhöhle (lockere Zähne, Blutung), der Nase (Blutung, Liquorrhö) und der Ohren (Hämatotympanon, Otoliquorrhö), der Augen (Kontusion, Hinweise auf SchädelBasis-Fraktur), des Gesichtes (offene Verletzungen, Mittelgesichts-Frakturen) und der Schädelkalotte (subkutane Hämatome, Impression). HWS und Halsweichteile werden, sofern keine Immobilisation angelegt wurde, auf schmerzhafte Bewegungsblockaden, muskuläre Verspannungen, Schwellungen oder Zeichen eines Emphysems hin untersucht, zudem ist ein Stridor auszuschließen. > Die wiederholte Exploration des Thorax ist wegen der Gefahr einer plötzlichen Verschlechterung wichtig. Hierzu gehört die Palpation der Thoraxwand ebenso wie die Überprüfung symmetrischer Atembewegungen.
Einblutungen der Bauchwand sind Hinweis auf eine intraabdominelle Verletzung. Auch hier sind wiederholte Untersuchungen notwendig, um die Entwicklung einer Abwehr-
11
186
Kapitel 11 · Polytrauma und Mehrfachverletzungen
c
a
d
11
b
f
e
. Abb. 11.2a–f Polytraumaspirale. a Schädel-Hirn-Trauma. b Lungenkontusion. c Milzruptur. d Beckenfraktur. e Sprunggelenksfraktur. f Subkapitale Humerusfraktur
187 11.5 · Besonderheiten der definitiven Therapie beim Polytrauma
spannung frühzeitig zu erfassen. Das Becken wird extern palpiert (Kompressionsschmerz?). Perineale Wunden oder transurethrale Blutungen gelten als Hinweise auf schwere Beckentraumen. Die Extremitäten werden durchbewegt und auf Deformitäten, Blutungen oder neurovaskuläre Ausfälle überprüft. Ggf. sind passagere Ruhigstellungen auf Schienen erforderlich. Ausgedehnte Weichteilkontusionen oder -lazerationen dürfen nicht unterschätzt werden. Der Patient wird einmal zur Seite gerollt, um die Wirbelsäule und die paravertebrale Muskulatur auf Verletzungszeichen (Einblutungen, Stufen, Schmerz) zu untersuchen. Die neurologische Untersuchung überprüft periphere Nerven- und Hirnnervenfunktionen, die Orientierung des Patienten und seinen Bewusstseinsstatus. Die Befunde der ersten und zweiten Untersuchung bestimmen den Ablauf der weiteren Untersuchungsverfahren. Weitere Bluttests, ergänzende konventionelle Röntgenaufnahmen oder wiederholte Ultraschalluntersuchungen sind möglich. Die Peritoneallavage hat im Kindesalter keine Bedeutung. Das Monitoring muss ständig überprüft werden, Tachykardie und Tachypnoe als Zeichen der Dekompensation sind frühzeitig zu registrieren. Die Urinproduktion (1 ml/kg KG/h als Ziel) ist zu dokumentieren. Eine adäquate Schmerzmedikation und eine ausreichende Sedierung sind unerlässlich (O’Donnell et al. 2002). Kinderchirurg, pädiatrischer Notfall- und/oder Intensivmediziner und Kinderanästhesist müssen sich über den weiteren Ablauf verständigen.
11.4.3
Definitive Versorgung
Bei der Planung der definitiven Versorgung steht die Sicherung der Vitalfunktionen deutlich vor der Verhinderung der Funktionseinschränkungen. Die sog. »damage control surgery« (Wetzel u. Burns 2002) umfasst zunächst die Stillung relevanter Blutungen durch Kompression, Ligatur oder Abstopfung, die Verhinderung von Kontamination, die Wundversorgung durch Débridement und Verschluss sowie ggf. die grobe Reposition und Immobilisation von Extremitäten und soll in 3 h abgeschlossen sein. Notfalloperationen in dieser Phase erhöhen relevant die Mortalität. Das Kind wird dann auf der pädiatrischen Intensivstation v. a. bezüglich Körpertemperatur, Gerinnung und Blutgasen stabilisiert. Innerhalb von 72 h soll die Phase der definitiven operativen Versorgung mit der Versorgung von Becken, Wirbelsäule und Femur sowie schweren Weichteilverletzungen beginnen. Die sekundäre und tertiäre Operationsphase schließt sich dann vor resp. nach dem 10. Tag mit der Versorgung weiterer Frakturen oder Weichteildefekte an und leitet direkt in die Frührehabilitation über.
11.5
Besonderheiten der definitiven Therapie beim Polytrauma
Die Schwere der Schädel-Hirn-Verletzung bestimmt hauptsächlich die Letalität und die Langzeitbehinderungen nach Polytraumen, obwohl im Kindesalter auch nach schwersten Verletzungen überraschende funktionelle Wiederherstellungen beobachtet werden. Bei der Korrektur der Hypovolämie, die zur Vermeidung sekundärer Hirnschäden ebenso evident ist wie zum Ausgleich abdomineller Blutverluste, ist dem Risiko des Hirnödems in besonderer Weise Rechnung zu tragen. Die Indikation zur invasiven Hirndruckmessung ist großzügig zu stellen, im Einzelfall steht vor allem bei sekundärem Hirndruckanstieg nach 48 h die bitemporale Kraniektomie zur Diskussion. Die MRT kann in der Initialphase keine therapierelevanten Aspekte beitragen. Die provisorische Stabilisierung großer Röhrenknochen ist wichtig zur Schmerzreduktion und damit indirekt auch zur Hirndrucksenkung resp. zur Vermeidung weiteren Druckanstiegs (Morris et al. 2006). Spinale Verletzungen vor allem an der HWS (Schleudertrauma) und der LWS (Gurtverletzung) sind aktiv auszuschließen. Bei Zeichen des spinalen Schocks werden Steroide eingesetzt. Im Kindesalter sind Funktionsstörungen ohne radiologisch feststellbare Auffälligkeiten (SCIWORA) in besonderem Maße zu bedenken, können durchaus erst nach einigen Tagen auffällig werden und indizieren dann ggf. früher als das SHT selbst eine MRT (Kay u. Skaggs 2006). Thoraxtraumen kommen beim Polytrauma oft vor und tragen relevant zur Letalität bei. In Kombination mit dem SHT kann die (pulmonale) Hypoxie die (neurologische) Morbidität beeinflussen. Frakturen der ersten Rippe oder Rippenserienfrakturen sind schlechte prognostische Zeichen, jedoch sind schwere Lungenkontusionen ohne Fraktur der sehr elastischen knöchernen Strukturen möglich und konsequent zu diagnostizieren (CT, falls keine Polytraumaspirale) und zu therapieren. Darüber hinaus erleidet die Lunge häufig Sekundärschäden durch Endothelschäden, pulmonale Vasokonstriktion, erhöhte alveoläre Kapillarpermeabilität, Surfactant-Inaktivierung und interstitielles Ödem, die Eröffnung sekundärer intrapulmonaler Shunts und erhöhte Totraumventilation. Das Beatmungsregime muss dieser Tatsache Rechnung tragen. Die sekundäre Verschlechterung der Lungenfunktion ist dabei eher die Regel als die Ausnahme (. Abb. 11.3; Balci et al. 2004). Komplikationen wie Pneumonie oder andere Infektionen werden etwa in 1/3 beobachtet. Direkte Luftwegsverletzungen und Aortenrupturen sind selten, Zwerchfellrupturen dagegen durchaus geläufig (. Abb. 11.4). Die Bauchwandeinblutung weist auf abdominelle Organverletzungen hin, die durch Ultraschall und CT klassifiziert werden müssen. Die häufige konservative Behand-
11
188
a
Kapitel 11 · Polytrauma und Mehrfachverletzungen
b
. Abb. 11.3a,b Lungenkontusion. a Konventionelles Röntgenbild. b CT
> Urogenitale Verletzungen sind bei Jungen häufiger als bei Mädchen festzustellen.
11
. Abb. 11.4 Konventionelles Röntgenbild mit Zwerchfellruptur
lung isolierter Organverletzungen ist beim Polytrauma ggf. nicht durchzuhalten, wenn die Kreislaufstabilisierung mittels Volumen und Katecholaminen durch die Verletzungskombination nicht ausreicht und eine Laparotomie ggf. mit sog. »packing« erfordert (Delarue et al. 2002; Jost et al. 1999; Stylianos 2002). Eine Perforation von Hohlorganen ist bei Verkehrsunfällen durch die Sicherheitsgurte zu befürchten, die Zeichen der Peritonitis sind jedoch im Gesamtkontext des mehrfachverletzten Kindes schwer zu erfassen. Das Pneumoperitoneum in der konventionellen Röntgenaufnahme oder im CT führt zur Exploration (Nance et al. 2000).
Skelettverletzungen sind bei fast jedem Polytrauma zu diagnostizieren, erfordern aber mit Ausnahme von offenen Frakturen, neurovaskulären Verletzungen oder Kompartmentsyndromen sowie instabilen Becken- oder Wirbelsäulenfrakturen keine Notfallinterventionen. Doppler-Untersuchungen zum Ausschluss von Durchblutungsstörungen sind wichtig. Meist erfolgt nach temporärer Ruhigstellung die definitive Stabilisierung in der sekundären oder tertiären Versorgungsphase (Magin et al. 1999). Dabei soll der primär definitiven Frakturversorgung – wenn immer möglich – der Vorzug vor Zwischenlösungen gegeben werden. Da Immobilisationen zu intensivmedizinischen Komplikationen führen (Loder et al. 2001), sind Osteosynthesen (am Schaft intramedulläre Nagelung; . Abb. 11.5; Dietz et al. 2005; Fixateur externe; . Abb. 11.6; epi-, metaphysär Schrauben, K-Drähte) vorzuziehen. > Frühe stabile Versorgungen reduzieren die Beatmungs-, Intensiv- und Gesamt-Krankenhausliegedauer, vereinfachen die Intensivpflege, erlauben eine bessere Wundkontrolle und eine frühere Mobilisation.
Auch Kinder mit Krämpfen nach SHT oder mit posttraumatischer Spastik bedürfen der stabilen Versorgung. Am Becken kann konservativ oder mit externer Fixation vorgegangen werden (. Abb. 11.7; Vitale et al. 2006). An der Wirbelsäule sind vor allem die selteneren instabilen Distraktionsverletzungen operationsbedürftig (Hasler u. Jeanneret 2002). Offene Frakturen bedürfen keiner anderen
189 11.5 · Besonderheiten der definitiven Therapie beim Polytrauma
a
b
. Abb. 11.5 Oberschenkelschaftfraktur mit Drehkeil. a Zustand nach Unfall. b Intramedulläre Versorgung incl. Verriegelungs-Endkappen
a
b
. Abb. 11.6 Oberschenkelschaft-Mehrfragmentfraktur. a Zustand nach Unfall. b Versorgung mit Fixateur externe
11
190
Kapitel 11 · Polytrauma und Mehrfachverletzungen
Skeletts vorzunehmen und gezielte Röntgenaufnahmen zu veranlassen.
11.6
a
11
b
Ergebnisse, Rehabilitation und Langzeitverlauf
Polytraumen stellen einen signifikanten Stressfaktor für Kind und Familie dar. Der emotionale Schock wird von Verdrängung und Depression abgelöst. Psychiatrische Manifestationen können durch die gesamte Rekonvaleszenz persistieren. Die Prognose ist abhängig vom Ausmaß der Hirnverletzung (Rupprecht et al. 2002). Die Mehrzahl der Todesfälle passiert in der ersten Stunde nach dem Unfall und eine zweite Spitze ist nach 48 h zu beobachten. Bei Überleben der Erstversorgung und des Transportes liegt die Letalität bei 17%. Langzeitbeschwerden werden in 19–28% der Fälle beobachtet und sinken über die ersten 10 Jahre nach dem Unfall auf 12%. Es sind also langzeitige Funktionsverbesserungen möglich. Die Hälfte der Funktionsstörungen ist auf das SHT zurückzuführen, 1/3 dieser Patienten hat auch nach 5 Jahren noch fokale neurologische Ausfälle. Kinder haben jedoch ein hohe Anpassungsfähigkeit an Defizite. 24% neuropsychologische und psychosoziale Auffälligkeiten und 42% kognitive Einschränkungen werden beobachtet (Nau et al. 2003). Nur 1/3 der Langzeitbeschwerden sind auf die muskuloskelettalen Verletzungen zurückzuführen. Mögliche Wachstumsstörungen an frakturierten Extremitäten sind zu erfassen (Schalamon et al. 2003). Literatur
c . Abb. 11.7a–c Ileosakralfugensprengung beidseits. a Zustand nach Unfall. b Versorgung mit Zugschrauben und Fixateur externe. c Beckenfraktur und Urethraabriss, versorgt mit Fixateur externe nach primärer Harnröhrenanastomose
Frakturversorgung, aber adäquater Weichteilversorgung mit Irrigation, Débridement, antibiotischer Prophylaxe, Drainage und temporärem oder definitivem Wundverschluss. Lappenplastiken sind im Kindesalter selten erforderlich. Der Einfluss der Frakturversorgung auf die pulmonale Situation ist allerdings nicht so eindeutig wie bei erwachsenen Unfallopfern. Da »kleinere« Skelettverletzungen in der ersten Phase oft übersehen werden, ist es wichtig, am 2.–3. Tag eine systematische Re-Evaluation des
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11
12
Wirbelsäulenverletzungen P. F. Heini
12.1
Einführung
– 194
12.2
Klinisch neurologische Beurteilung
12.3
Halswirbelsäule
– 194
– 195
12.3.1 Beurteilung und Abklärung, Freigabe der Halswirbelsäule – 195 12.3.2 Spinal cord injury without radiographic abnormality (SCIWORA) – 199 12.3.3 Praktisches Vorgehen bei Verdacht auf eine Halswirbelsäulenverletzung – 200 12.3.4 Klassifizierung – 201 12.3.5 Behandlung – 202 12.3.6 Patienten mit einem neurologischen Defizit – 213
12.4
Brust- und Lendenwirbelsäule
12.4.1 12.4.2 12.4.3 12.4.4 12.4.5
Abklärung und Klassifizierung – 213 Behandlung – 213 Randleistenverletzungen der Lendenwirbelsäule – 213 Lumbosakraler Übergang – 220 Spätfolgen nach Wirbelsäulenverletzungen – 221 Literatur
– 221
– 213
194
Kapitel 12 · Wirbelsäulenverletzungen
12.1
Einführung
Wirbelsäulenverletzungen bei Kindern sind selten. 60–80% dieser Verletzungen sind im Bereich der Halswirbelsäule lokalisiert; Halswirbelsäulenverletzungen sind bei Kindern doppelt so häufig wie bei Erwachsenen (Akbarnia 1999). Dies ist bedingt durch die anatomischen Verhältnisses wie den überproportional großen Kopf, die größere Laxität von Bändern und Gelenkkapsel und damit verbunden die größere Beweglichkeit, flache Facettengelenke und die schwächere Nackenmuskulatur und die unvollständige Verknöcherung der Wirbelelemente (. Abb. 12.1; Roche et al. 2001): Kinder mit Wirbelsäulenverletzungen haben im Vergleich zu Erwachsenen eine höhere Morbidität und Letalität, meist infolge der assoziierten Verletzungen (Dowd et al. 2002; Nitecki et al. 1994).
a
Anatomische Besonderheiten der kindlichen Halswirbelsäule 4 4 4 4
Überproportional großer Kopf Flache Facettengelenke Erhöhte Laxizität von Kapseln/Bändern Unvollständige Verknöcherung der Wirbelelemente 4 Schwache Nackenmuskulatur
12
Epidemiologische Zahlen aus den USA zeigten in den Jahren 1991–2002 bei 4% (406/12.000) der Kinder bis 14 Jahren, die als »verletzt« in der Notfallstation beurteilt wurden, eine traumatische Rücken- oder Nackenverletzung, wobei bei 2/3 eine »Muskelzerrung« und bei 145 (≈1% aller Eingewiesenen) eine eigentliche Verletzung der Wirbelsäule bestand (Cirak et al. 2004, Hu et al. 1996). Halswirbelsäulenverletzungen wurden dabei am häufigsten registriert (in 61%). Über die Gesamtpopulation betrachtet zeigten 37% der Patienten (152/406) ein Schädel-HirnTrauma als assoziierte Verletzung. 4% der Kinder in dieser Gruppe sind an den Unfallfolgen verstorben, 1/3 infolge der Wirbelverletzung, 2/3 wegen der assoziierten Hirnverletzung. Diese Zahlen werden auch in neueren Studien bestätigt, Garton et al. fanden bei 2% aller Kinder eine Halswirbelsäulenverletzung (Garton et al. 2008).
12.2
Klinisch neurologische Beurteilung
b
c . Abb. 12.1a–c Anatomische Besonderheiten der kindlichen Halswirbelsäule
Alle Patienten mit einer möglichen Wirbelsäulenverletzung müssen neurologisch beurteilt werden. Dies ist in der Notfallsituation besonders bei Kindern schwierig. Dennoch ist eine möglichst differenzierte Befunderhebung wichtig. Für den neurologischen Zustand hat sich die Einteilung nach Frankel bewährt (. Tab. 12.1). H.G. Dietz et al. (Hrsg.), Praxis der Kinder-und Jugendtraumatologie, DOI 10.1007/978-3-642-12935-3_12, © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2011
195 12.3 · Halswirbelsäule
. Tab. 12.1 Graduierung der neurologischen Funktion nach Frankel Grad
A
B
C
D
E
Motorik
M0
M0
M1–2
M3–4
M5
Sensorik
–
+/–
+
+
+
Sakral
–
+
+
+
+
12.3
Halswirbelsäule
12.3.1
Beurteilung und Abklärung, Freigabe der Halswirbelsäule
In der Beurteilung von Wirbelsäulenverletzungen bei Kindern ist das Alter von großer Wichtigkeit. Kleinkinder verletzen am häufigsten die obere Halswirbelsäule, Schulkinder und Adoleszente zeigen vermehrt Verletzungen unterhalb von C4. Man kann auch eine Altersabhängigkeit der verletzten anatomischen Struktur beobachten, mit zunehmendem
Alter kommt es zum Wechsel von vorwiegend ligamentären Verletzungen zu knöchernen Läsionen (. Abb. 12.2). Bei der Unfallursache sind bei Kleinkindern meist Verkehrsunfälle relevant, mit zunehmendem Alter sind Stürze aus einer größeren Höhe und bei Adoleszenten Sportunfälle rapportiert (Bilston et al. 2007; Cirak et al. 2004; Garton et al. 2008; Kokoska et al. 2001; Platzer et al. 2007). Da diese Verletzungen schwerste Konsequenzen für den Patienten nach sich ziehen, wenn eine neurologische Schädigung besteht, ist die Diagnostik und Abklärung von Halswirbelsäulenverletzungen ein zentraler Aspekt, um insbesondere sekundäre Schädigungen zu vermeiden. Wer ist gefährdet? Wer muss abgeklärt werden? Wie kann man bei Patienten diese an sich seltenen Verletzungen mit genügender Sicherheit erfassen? Es bedarf Kriterien, die helfen, die potenziell verletzten Kinder zu erkennen. Die Kosten überflüssiger Abklärungen einerseits und die Strahlenbelastung insbesondere bei der Computertomographie sind Argumente für eine gezielte Indikationsstellung. Die sog. Canadian C-Spine Rules (CCR) und die National Emergency X-Radiography Utilization Study (NEXUS) haben sich in der Praxis bewährt, obwohl sie
c a
. Abb. 12.2a–c Verletzungsmuster und Verletzungshöhe in Abhängigkeit vom Alter der Patienten. a Zunahme der Frakturen mit dem Alter. b,c Verschiebung der Verletzungshäufigkeit von der oberen zur unteren Halswirbelsäule. (Nach Garton et al. 2008, Kokoska et al. 2001)
b
12
196
Kapitel 12 · Wirbelsäulenverletzungen
. Tab. 12.2 Gegenüberstellung der NEXUS- und CCR-Kriterien NEXUS-Kriterien (Hoffmann et al. 2000)
Canadian C-Spine Rules (CCR) (Stiell et al. 2001)
Lokale Schmerzhaftigkeit am Nacken?
Gefährlicher Unfallmechanismus (Verkehrsunfall, Sturz aus größerer Höhe)
Fokales neurologisches Defizit?
Lokale Schmerzhaftigkeit am Nacken
Wach/ansprechbar?
Kopfrotation bis 45°
Intoxikationszeichen? Ablenkende anderweitige Verletzung
nicht spezifisch für Kinder entwickelt wurden (Ehrlich et al. 2009; Hoffman et al. 2000; Hoffman et al. 1998; Stiell et al. 2001). Sie sind ergänzend zu betrachten, können aber helfen, die Fehlerquote zu verringern und die Zuverlässigkeit zu verbessern (. Tab. 12.2).
12
. Abb. 12.3 Algorithmus zur Klärung der Halswirbelsäule
Die klinische Beurteilung bleibt dabei zentral. Bei einem schmerzfreien Patienten, der wach ist, kooperativ und ohne Hinweise für eine Intoxikation und ohne andere ablenkende Verletzung und ohne neurologische Ausfälle, kann die Halswirbelsäule freigegeben werden. Andernfalls ist eine Bildgebung indiziert. Die NEXUS- respektive die CCR-Kriterien zeigen für eine pädiatrische Patientengruppe eine Spezifität von 96% resp. 94% und eine Sensitivität von 43%, 86% bzw. 94%. (Ehrlich et al. 2009; Garton et al. 2008; Viccellio et al. 2001) Diese Kriterien bieten keine 100%-ige Sicherheit namentlich bei Kindern jünger als 8 Jahre, aber doch soviel Information, um zum Screening der Patienten hilfreich zu sein, wobei bei kleinen Kindern besondere Aufmerksamkeit angebracht ist (Ehrlich et al. 2009; Garton et al. 2008). Ein möglicher Algorithmus zur Beurteilung der Halswirbelsäule wird in . Abb. 12.3 dargestellt (Anderson et al. 2006). Die Diagnostik der Wahl bei einem Patienten mit entsprechenden Hinweisen ist ein konventionelles Röntgenbild a.p. und seitlich, bei Adoleszenten zusätzlich eine transorale Densaufnahme. Je nach Fragestellung (Weichteile
197 12.3 · Halswirbelsäule
a
b
c . Abb. 12.4 a Röntgenanatomie der Halswirbelsäule am Beispiel eines 18 Monate alten Kindes. b Die MR-Untersuchung ist optimal für die Beurteilung der Weichteile und des Myelons, aber im Ver-
a
gleich zur CT-Untersuchung (c) wenig hilfreich, um die ossären Strukturen zu beurteilen
b
. Abb. 12.5a,b Die relevanten Beurteilungskriterien der HWS im seitlichen Röntgenbild. a 12 Monate altes Kind mit einem Normalbefund, liegende Untersuchung, wegen des großen Kopfes leichte Ky-
phose, im Bereich C2–C3 typischer Befund der sog. Pseudosubluxation. b 12-jähriger Knabe mit Distraktionsverletzung C3–C4, erkennbar an der Kyphosierung und vermehrten interspinösen Distanz
12
198
Kapitel 12 · Wirbelsäulenverletzungen
. Abb. 12.6a–c Röntgendiagnostik mit Bildverstärker. a Stabilitätskriterien der HWS (White et al. 1975) und Prinzip der funktionellen Untersuchung mit dem Bildverstärker. Verdächtig für eine diskoligamentäre Instabilität ist eine Translation von mehr als 3,5 mm, eine Abdeckung der Facettengelenke von mehr als 50% und eine segmentale Kyphose von mehr als 11° über einem Anschlusssegment. b Funktionsprüfung mit dem Bildverstärker: Distraktion, gefolgt von einer maximalen Reklination und Inklination. c Pseudosubluxation C2–C3 bei Kleinkind, die Wirbelkörperhinterkanten zeigen einen Versatz, die spinolaminäre Linie ist nicht gestört, Normalbefund
a
12
b
oder Knochen) muss eine MR- oder CT-Abklärung ergänzend erfolgen (. Abb. 12.4). Die Kriterien der Beurteilung sind in . Abb. 12.5 zusammengestellt. Die Besonderheit der kindlichen Wirbelsäule in der Beurteilung besteht darin, dass die anatomischen Strukturen noch nicht vollständig verknöchert sind, und dass das physiologische Bewegungsausmaß viel größer ist als beim Adulten, somit die Abgrenzung zum pathologischen nicht so eindeutig. Die gängigen Stabilitätskriterien, wie sie nach White und Panjabi akzeptiert sind, muss man kennen, aber es gilt auch die »Überbeweglichkeit« (Pseudosubluxation) im Bereich C2–C4 zu beachten. Bei Kindern unter 8 Jahren findet sich diese bei ca. 40% auf Höhe C2–C3 und bei ca. 14% auf Höhe C3–C4. Das Ausmaß kann bis zu 4 mm betragen bzw. maximal 40% der Wirbeltiefe ausmachen (. Abb. 12.6a; (Cattell et al. 1965; Swischuk 1977; White et al. 1975). Eine effiziente und rasche Methode, um eine Halswirbelsäule weiter zu beurteilen, ist die funktionelle Unter-
c
suchung mit dem Bildverstärker (Weisskopf et al. 1999). Dabei wird im seitlichen Strahlengang nach Abnahme des Stiff-neck primär eine Traktion versucht, schließlich geht man in die Extension und Flexion, soweit es die Schmerzen zulassen, und untersucht das Ausmaß der Beweglichkeit der einzelnen Segmente (. Abb. 12.6b, c). Dieses Vorgehen ist speziell bei intubierten Patienten hilfreich, um eine erste Abschätzung der Stabilität der Halswirbelsäule zu bekommen. > Immer, wenn eine Traktion am Kopf angelegt wird, muss eine gleichzeitige oder umgehende bildgebende Kontrolle der HWS erfolgen.
Wenn bei Patienten mit einem Schädel-Hirn-Trauma eine CT-Abklärung nötig ist, sollte wegen der hohen Inzidenz von assoziierten Halswirbelsäulenverletzungen ein Multislice-CT derselben gemacht werden. Dabei sollten sagittale Rekonstruktionen mit Darstellung der Facettengelenke errechnet werden (. Abb. 12.7a).
199 12.3 · Halswirbelsäule
a
b . Abb. 12.7a,b Bildgebung bei Schädel-Hirn-Trauma. a Die CT-Untersuchung kann vor allem die ossären Strukturen darstellen und besitzt im Vergleich zur MR eine höhere Auflösung. b Die MR Unter-
suchung ist in der Beurteilung von Weichteilläsionen hilfreich. + Bandscheibenverletzungen, * ligamentäre Schädigung, < Rückenmarkläsion
Besteht eine zusätzliche neurologische Symptomatik, muss eine notfallmäßige MR-Untersuchung gemacht werden, um das Myelon und die Weichteilsituation zu verifizieren. Die MR Untersuchung kann auch helfen, Aussagen über die Prognose der Läsion zu machen (. Abb. 12.7b).
Im Zeitalter der Magnetresonanztomographie erhält der Begriff SCIWORA eine andere Bedeutung (Pang 2004; Yucesoy et al. 2008). In den meisten Fällen mit dem Etikett SCIWORA kann in der MR-Untersuchung eine strukturelle Läsion im Rückenmark (Blutung, Ödem, extraneurale Läsionen wie Diskushernie, epidurales Hämatom) nachgewiesen werden. Die Begriffe SCIWORET (»spinal cord injury without radiologic evidence of trauma«) und SCIWONA als »spinal cord injury without neuroimaging abnormality« deuten darauf hin, dass ein Konsens in der Beurteilung fehlt. Es ist wohl möglich, dass mit verfeinerten MR-Methoden bei allen Patienten eine strukturelle Läsion nachgewiesen werden kann und aufgrund dieser auch eine differenziertere Prognose möglich ist (Bosch et al. 2002).
12.3.2
Spinal cord injury without radiographic abnormality (SCIWORA)
Bedingt durch die große Elastizität der kindlichen Bewegungssegmente kann eine Rückenmarkschädigung auftreten, ohne dass Auffälligkeiten im Röntgenbild oder in der Computertomographie vorliegen (Pang et al. 1982). Die Autoren beschrieben in ihrer Erstpublikation 1982 bei 2/3 (24/36) der untersuchten Patienten fehlende radiologische Veränderungen. Die Inzidenz wird in anderen Fallserien bei ca. 20–30% der wirbelsäulenverletzten Kinder angegeben (Dickman et al. 1991). Häufig zeigen Patienten mit einer SCIWORA eine partielle Lähmung und haben ein gutes Erholungspotenzial (Bosch et al. 2002).
> Momentan kann man festhalten, dass bei Kindern mit einer neurologischen Symptomatik ohne strukturell nachweisbare Läsion im MR eine praktisch 100%-ige Chance für eine vollständige Erholung besteht (Bosch et al. 2002; Dare et al. 2002).
12
200
Kapitel 12 · Wirbelsäulenverletzungen
12.3.3
Praktisches Vorgehen bei Verdacht auf eine Halswirbelsäulenverletzung
Ein brauchbarer Algorithmus zur Klärung der Halswirbelsäule von Kindern zeigt . Abb. 12.3. Während die klinische Beurteilung durch die »Primärversorger« vor Ort erfolgt, sollte die Bildgebung durch einen entsprechend qualifizierten Spezialisten gemacht werden (Anderson et al. 2006).
12
. Abb. 12.8a–d Klassifikation von häufigen Verletzungen der Halswirbelsäule. Im Bereich der oberen Halswirbelsäule (C2 und darüber) sind eigene Klassifikationstypen gebräuchlich und spiegeln die
komplexe Anatomie wieder. a Atlasfraktur. b Densfrakturen. c Luxationsfrakturen C2/3
201 12.3 · Halswirbelsäule
. Abb. 12.8d Die untere HWS folgt dem ABC-Schema
12.3.4
Klassifizierung
Eine Zusammenstellung der häufigeren Verletzungen zeigt . Abb. 12.8. Die einschlägigen Klassifikationsbeschrei-
Die Klassifizierung der Halswirbelsäulenverletzungen lehnt sich an die der Erwachsenen an. Eine Sonderstellung sind die praktisch nur im Kindesalter diagnostizierten Verletzungen okzipito-zervikal und die rotatorischen Verletzungen C1–C2. Auch die Densfrakturen des Kleinkindes werden speziell eingeteilt (Hosalkar et al. 2009).
bungen sind in den folgenden Referenzen aufgelistet (Anderson et al. 1974; Anderson et al. 1988; Argenson et al. 1997; Effendi et al. 1981; Fielding et al. 1977; Gehweiler et al. 1979; Hosalkar et al. 2009; Levine et al. 1985; Traynelis et al. 1986).
12
202
Kapitel 12 · Wirbelsäulenverletzungen
12.3.5
Behandlung
Bis die Halswirbelsäule abgeklärt ist, muss bei Verdacht auf eine Verletzung der harte Halskragen beibehalten werden. Bei bestätigter Verletzung muss aufgrund der individuellen Situation (Zusatzverletzungen, Verfügbarkeit der Spezialisten) die Behandlung geplant werden. Prinzipiell gilt, dass eine Instabilität stabilisiert werden muss und bei einer Kompression eine zusätzliche Dekompression erfolgen soll, wobei oft gilt, dass die Reposition die beste Dekompression darstellt. ! Cave Der Stiff-neck sollte nicht länger als 12 h belassen werden, Druckstellen mit Blasenbildung und Hautnekrosen können auftreten!
Die Mehrzahl der Halswirbelsäulenverletzungen kann konservativ und funktionell behandelt werden. Wo keine strukturelle Verletzung nachgewiesen wurde, sollte auch keine äußere Ruhigstellung mittels weicher Halskrause erfolgen.
Äußere Ruhigstellung
12
Bei schwereren Verletzungen, insbesondere bei Subluxationen oder Luxationen ist die Traktionsbehandlung hilfreich, sofern eine Akutversorgung nicht möglich ist. Für die Fixation am Kopf kann bei Adoleszenten eine GardnerWells-Klammer verwendet werden, bei kleineren Kindern ist der Halo-Ring sicherer (s. unten). Die applizierten Gewichte sind dem Alter anzupassen (McCall et al. 2006): 4 <4 Jahren: 0,5 kg/Bewegungssegment 4 >4 Jahren: 1 kg/Bewegungssegment (z. B. C4/C5-Subluxation = 4×1 kg) ! Cave Nach Anlage einer Extension und nach jeder Steigerung der Belastung muss immer eine Röntgenkontrolle durchgeführt werden, um eine allfällige Distraktionsverletzung nicht zu verpassen (. Abb. 12.9)!
Eine geschlossene Reposition von Luxationen kann erfolgen, sofern mittels MR eine traumatische Diskushernie ausgeschlossen wurde (Eismont et al. 1991). Andernfalls sollte primär von ventral die Bandscheibe reseziert werden und dann die offene Reposition erfolgen, was in den meisten Fällen auch von ventral möglich ist. Halo-Weste Die Halo-Weste ist eine häufig benutzte Methode, um die Halswirbelsäule ruhig zu stellen und zu schützen. Im angelsächsischen Raum ist sie als Standardbehandlung v. a. bei Erwachsenen etabliert. Auch bei Kindern wird der »Halo« oft eingesetzt, dessen Benutzung ist aber umstrittener (Baum et al. 1989; Limpaphayom et al. 2009). Es gibt Halo-Westen für alle Altersgruppen, auch
für Kleinkinder. Die Besonderheit bei der Halo-Behandlung liegt in der Fixation des Kopfringes. Bei Kleinkindern ist der Schädelknochen dünn und weich. Dies muss bei der Fixation beachtet werden. Anstelle der üblichen 4 Fixationspins sollte bei kleinen Kindern (<5 Jahren) mit 8–10 Pins gearbeitet werden, je kleiner das Kind, um so mehr Pins (Mubarak et al. 1989)! Für das Drehmoment der Schraubenfixation kann als Faustregel gelten: Alter = Drehmoment in Pfund Bei Kindern <1 Jahr müssen die Pins manuell angezogen werden. Komplikationen sind allerdings häufig, namentlich bei kleinen Kindern; bei mehr als 50% sind Pin-Lockerungen und Pintrakt-Infektionen, aber auch Pin-Penetrationen beschrieben (Baum et al. 1989; Limpaphayom et al. 2009; McCall et al. 2006). Dies mag ein Grund dafür sein, dass im deutschsprachigen Raum die Benutzung des Halo weniger verbreitet ist. Bei kleinen Kindern ist es allerdings oft unumgänglich, eine äußere Fixation zu benutzen, da die Verankerung der Implantate ungenügend ist und als alleinige Stabilisation nicht reicht (. Abb. 12.10 und . Abb. 12.16). Philadelphia-Kragen/Minerva-Orthesen Alternativen zum Halo sind speziell für Kinder angepasste Halskragen und Orthesen, am gebräuchlichsten ist der PhiladelphiaKragen (. Abb. 12.10c). Damit kann man eine gute Immobilisierung der Halswirbelsäule erreichen, Voraussetzung ist allerdings, dass der Kragen korrekt sitzt und eine gute Compliance besteht.
Operative Stabilisierung Bei der operativen Behandlung ist wie schon bei der Primärbeurteilung das Alter ein wichtiger Faktor. Während bei Adoleszenten die Prinzipien des Erwachsenen problemlos übernommen und die gängigen Implantate eingesetzt werden können, ist die Situation bei kleinen Kindern speziell. Neben der geringen Dimension der benutzbaren Implantate ist auch der Knochen noch weich und die Verankerung der Implantate schwierig. Umgekehrt ist insbesondere an der Halswirbelsäule die Belastung wegen des relativ überdimensionierten Kopfes sehr hoch. Bei den operativen Behandlungsmöglichkeiten gibt es die ventrale oder dorsale Stabilisierungsoption, evtl. auch die Kombination beider Verfahren (Dogan et al. 2006). Hier gilt es zu beachten, dass die gängigen Implantate oft zu groß dimensioniert sind, um bei kleineren Kindern angewendet zu werden. Behandlungsprinzipien verschiedener Halswirbelsäulenläsionen sind in einigen Kasuistiken beigefügt (. Abb. 12.11 bis . Abb. 12.20). Bei persistierender Rotation kann eine Traktionsbehandlung mittels einer Glisson-Schlinge durchgeführt wer-
203 12.3 · Halswirbelsäule
. Abb. 12.9a–e Prinzipien der Primärmaßnahmen bei HWS-Verletzungen. a Stiff-neck. b Gardner-Wells-Klemme. c Halo-Fixateur. d Risiko der Distraktion bei unkontrolliertem Zug mit Gefahr des Bandscheibenhernierung und Rückenmarkskompression (e) (Aus: Boos Spinal Disorders, 2008)
a
b
c
d
e
12
204
Kapitel 12 · Wirbelsäulenverletzungen
. Abb. 12.10a–c Äußere Ruhigstellung der Halswirbelsäule. a Halo Behandlung: Halo zur Stabilisierung der Halswirbelsäule. b Alternativ zur Halo-Fixation kann ein Minerva-Brace benutzt werden (cave Dekubitus an den Kontaktstellen am Hinterhaupt und am Kinn!). c Für die meisten Halswirbelsäulenprobleme kann die Ruhigstellung mittels eines PhiladelphiaKragens erfolgen
a
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b
den. Diese Subluxationen werden auch nicht-traumatisch im Rahmen von Infekten beschrieben (Grisel-Syndrom). Zur Stabilisierung des Kopfes bei Distraktionsverletzungen ist eine Extension kontraindiziert, auch der Stiffneck distrahiert die Wirbelsäule. Eine Halo-Ruhigstellung ist in der Regel für diese Probleme wenig geeignet, da man die Wirbelsäule damit nicht unter Druck setzen kann. Für die initiale Ruhigstellung des Kopfes sollen kleine Sandsäcke seitlich und rostral so angelegt werden, dass der Kopf stabil bleibt.
c
! Cave Die am schwierigsten zu behandelnde Verletzung ist die an sich seltene, ggf. aber vor allem bei Kindern beobachtete Distraktionsverletzung. Diese Instabilitäten sind mit einer äußeren Fixation allein nicht zu kontrollieren (. Abb. 12.16; Smith et al. 2009)! Diese Verletzung muss immer ausgeschlossen werden, bevor eine Extensionsbehandlung angelegt wird.
205 12.3 · Halswirbelsäule
a
b
c . Abb. 12.11a–c Rotatorische Subluxation C1–C2 bei einem 4-jährigen Knaben nach einem Fehlschlag beim Fußballspielen. a Konventionelle Röntgenaufnahme: Schrägstellung des Kopfs (a.p.)
und vergrößerte atlanto-dentale Distanz (seitlich). b Das CT zeigt das Ausmaß der Fehlstellung (Fielding Typ I). Ruhigstellung mit weicher Halskrause. c Spontane Reposition nach 24 h
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Kapitel 12 · Wirbelsäulenverletzungen
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b
c
d . Abb. 12.12a–d 11-jähriges Mädchen nach Kopfsprung ins Wasser mit starken Nackenschmerzen, keine neurologische Symptomatik. a Das Röntgenbild zeigt eine Translation zwischen C1 und C2. b In der transoralen Densaufnahme »fehlt« die Densspitze. c In der MR ausgeprägte Signalalteration im Myelon (Myelopathie). In der Anam-
nese Sturz von einem Klettergerüst mit 3 Jahren, Tortikollis, keine bildgebende Abklärung. d Transartikuläre Verschraubung und C1/C2-Fusion. Anstelle der Standard 3,5-mm-Schrauben wurden 2,7-mm-Titanschrauben verwendet
207 12.3 · Halswirbelsäule
a
b
c
. Abb. 12.13a–c 14-jähriger Junge nach Fahrradsturz. a Initiale Beurteilung einer Hangman-Fraktur Typ I. Konservative Behandlung mit Philadelphia-Kragen. Nach 4 Wochen sekundäre Dislokation (Typ IIa). b Operative Behandlung mit interkorporeller Spondylodese
C2–C3 und Plattenstabilisierung. Postoperativ zeigt sich eine Kyphosierung im kaudalen Anschlusssegment C3–C4. c Im Verlauf spontane, zumindest partielle Stellungskorrektur. Der Patient ist asymptomatisch
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208
Kapitel 12 · Wirbelsäulenverletzungen
a
b
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c . Abb. 12.14a–e 12-jähriger Junge, beim Schwingen verletzt, kein neurologisches Defizit. a Im Röntgenbild Kyphosierung im Bereich C3–C4. Der Abstand zwischen den Dornfortsätzen ist vergrößert. Der Wirbelkörper C4 zeigt eine leichte Kompression. Bandscheibe
im MR intakt. b In der funktionellen Untersuchung hochgradige Entdachung der Facetten in Inklination, in Reklination vollständige Reposition. Es besteht eine diskoligamentäre Verletzung. c Konservative Behandlung mittels Philadelphia-Kragen schlägt fehl
209 12.3 · Halswirbelsäule
d
e . Abb. 12.14 d PDS-Naht um die Dornfortsätze von C2–C4, auch damit Redislokation. e Stabilisierung mittels Zuggurtung und formale Fusion mit Knochenersatz, Minifragment-Platte vom 2-mmHandsystem. 4 Jahre nach Versorgung stabile Situation bei einem
beschwerdefreien Patienten, Bandscheibenhöhe hat abgenommen, Wirbelkörper hat sich remodelliert. Entfernung der Implantate nicht vorgesehen. Bei Kindern heilen diskoligamentäre Verletzungen ohne adäquate Stabilisierung nicht!
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Kapitel 12 · Wirbelsäulenverletzungen
b
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c
. Abb. 12.15a–d 14-jähriges Mädchen nach Snowboard-Unfall, subtotale Querschnittsymptomatik im Sinne eines Brown-SéquardSyndroms. a MR: Myelonveränderung und Stenose; keine Röntgenabklärung, umgehende Operation. b Extension zur Wirbelaufrichtung.
d c Versorgung mittels Distraktion. d Versorgung mit einer ventralen Rekonstruktion mittels Beckenkammspan und überbrückender Plattenstabilisierung. Ein Jahr postoperativ zeigt sich eine konsolidierte Spondylodese, die Neurologie hat sich in 6 Monaten normalisiert
211 12.3 · Halswirbelsäule
a
b . Abb. 12.16a–f 18 Monate altes Kind, schwerer Verkehrsunfall, der Kindersitz auf dem Beifahrersitz wird aus der Verankerung gerissen und das Kind gegen die Windschutzscheibe geschleudert. Das komatöse Kind wird auf dem Unfallplatz intubiert. Die CT-Abklärung des Schädels ist blande. a Die HWS wird aufgrund der CT-Untersu-
chung geklärt. Beim Aufwachversuch zeigt das Kind eine komplette Querschnittssymptomatik mit paradoxer Atmung. b Erst die MRUntersuchung zeigt jetzt eine Dislokation C6–C7 mit einer schweren Myelonschädigung, typische Läsion durch die Endplatte. Retrospektiv in der CT-Untersuchung Erweiterung des Facettengelenkes rechts
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c
Kapitel 12 · Wirbelsäulenverletzungen
d
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e . Abb. 12.16 c Inadäquate Initialbehandlung mit Anlage einer Extension ohne Röntgenkontrolle! d Die operative Versorgung primär von ventral mittels Plattenstabilisierung. Es wurde eine L-Platte vom 2,0-mm-Mini-Set verwendet. Verankerung in C6 nicht möglich, des-
f halb bis C5 fixiert. Schraubenlänge 10 mm. Zudem von dorsal Fadenzerklage um die Dornfortsätze C5–T1. e Halo-Weste. f Die Platte ventral wurde nach 4 Monaten entfernt, um eine Störung des Wachstums zu vermeiden
213 12.4 · Brust- und Lendenwirbelsäule
12.3.6
Patienten mit einem neurologischen Defizit
Die Prognose bei einer traumatischen Rückenmarksschädigung ist abhängig von deren Ausmaß. Inkomplette Ausfallsmuster haben bei Kindern eine recht günstige Prognose. Wang beschreibt bei 8 von 10 Patienten eine Verbesserung, von 20 Kindern mit einer kompletten Lähmung zeigten 6 eine Verbesserung, 5 konnten wieder laufen (Wang et al. 2004). Das Timing der Behandlung ist wichtig. Wenn ein Patient in einem stabilen Zustand ist, soll eine Frühversorgung angestrebt werden. Deshalb sollten diese Patienten in ein entsprechend ausgerüstetes Zentrum überwiesen werden. Zwar sind keine spezifischen Daten für Kinder erhältlich, es herrscht aber ein Konsens bei Erwachsenen, dass eine Versorgung innerhalb von 24 h die Dauer der Intensivbehandlung reduziert und die allgemeine Komplikationsrate verringert (Fehlings et al. 2006). Es entspricht auch dem »common sense«, dass bei einer persistierenden Kompression eine möglichst rasche Entlastung angestrebt werden soll.
12.4
Brust- und Lendenwirbelsäule
12.4.1
Abklärung und Klassifizierung
Wie eingangs erwähnt sind Verletzungen der Brust- und Lendenwirbelsäule seltener und meist in ihrer Schwere weniger dramatisch (Karlsson et al. 2003). In der Erstbeurteilung bietet das monotraumatisierte Kind wenig Probleme, lokale Schmerzen und Klopfdolenz sind hoch-sensitiv und einigermaßen spezifisch und eine gezielte Röntgenuntersuchung ergibt die Diagnose (Santiago et al. 2006). Allerdings finden sich Verletzungen der Brust- und Lendenwirbelsäule häufig assoziiert mit einem Polytrauma. Bei diesen Patienten muss eine entsprechende Verletzung bis zum Beweis des Gegenteils angenommen werden. Gefährdet sind insbesondere Kinder, die eine sog. Seatbelt-Verletzung mit diskoligamentärer Zerreißung oder ChanceFraktur erlitten haben (Sivit et al. 1991) (. Abb. 12.18). In den meisten Kliniken gehört bei dieser Patientengruppe eine Multislice-CT-Untersuchung zum Standard. Damit lässt sich auch eine zuverlässige Beurteilung der Wirbelsäule erreichen. Nur wenn sich aufgrund dieser Abklärung bei Patienten mit einer neurologischen Symptomatik die Situation nicht beurteilen lässt, sollte eine notfallmäßige MR-Untersuchung erfolgen (7 Abschn. 12.3.2). Für die Klassifizierung der Verletzungen hat sich die Magerl-Klassifikation bewährt (. Abb. 12.17; Magerl et al. 1994). Für die Wirbelverletzungen im Kindesalter sind Kompressionsfrakturen über mehrere Etagen und Distraktionsverletzungen (ossär und ligamentär) typisch.
12.4.2
Behandlung
Die Behandlung der Wirbelfrakturen richtet sich nach der Schwere der Verletzung. Die meisten Kompressionsverletzungen werden konservativ behandelt. Verschiedene Autoren berichten über ein beachtliches Remodelling-Potenzial dieser Verletzungen bei Kindern unter 10 Jahren (Hasler et al. 2002, Karlsson et al. 2003). Konservative Behandlung bedeutet meist eine funktionelle Behandlung, bei relevanten Wirbeldeformitäten kann eine geschlossene Aufrichtung und Gipskorsett- oder Schalenkorsettbehandlung erwogen werden. Die Langzeitprognose dieser Verletzungen scheint günstig (. Abb. 12.21; Karlsson et al. 2003). Die operative Behandlung folgt den Prinzipien wie sie beim Adulten angewandt werden. Grundsätzlich wird dabei die Primärversorgung von dorsal durchgeführt und bei Bedarf eine Rekonstruktion der vorderen Säule sekundär gemacht. Ziel der Behandlung ist die Reposition der Fehlstellung und deren Stabilisierung. Dabei wird versucht, die Instrumentierung so kurz wie möglich zu wählen, in der Regel bedeutet dies für die Brustwirbelsäule eine 2+2-Konstruktion und an der Lendenwirbelsäule eine 1+1-Fixation (. Abb. 12.19 und . Abb. 12.20). Eine Fallserie mit verschiedenen Verletzungsmustern ist angefügt (. Abb. 12.19 bis . Abb. 12.23).
12.4.3
Randleistenverletzungen der Lendenwirbelsäule
Eine Besonderheit von Wirbelsäulenverletzungen beim Adoleszenten sind Ausbrüche der posterioren Ringapophyse meist im Lendenwirbelsäulenbereich. Die Apophyse verknöchert im Alter von 6–8 Jahren und fusioniert mit dem Wirbel mit ca. 17 Jahren. An der Apophyse hängen die Anulusfasern, und bei einer Traumatisierung (akut oder repetitiv) kann ein Ausbruch auftreten, einhergehend mit einer Bandscheibenprotrusion/-hernierung. Therapie Solange keine neurologische Kompromittierung
besteht, können diese Verletzungen konservativ/funktionell behandelt werden. Andernfalls ist eine Dekompression nötig. Für das Bewegungssegment bedeutet dies in der Regel eine frühe Bandscheibendegeneration (. Abb. 12.22).
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Kapitel 12 · Wirbelsäulenverletzungen
a A
B
C
b Endplattenimpaktion
Keilwirbel
Fischwirbel
c
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Berstung Berstungsspaltbruch
d komplette Berstung . Abb. 12.17 a Magerl-Klassifikation, häufige Frakturtypen: A Kompression; B Dislokation; C Rotation. b Die Behandlung von A1-Frakturen ist in der Regel konservativ. Wenn eine schwere Kyphosierung vorliegt, sollte eine operative Korrektur erwogen werden.
c A3.1-Frakturen können oft konservativ behandelt werden, sofern die Wirbeldeformität und Spinalkanaleinengung unter 25% beträgt. A3.2- und A3.3-Frakturen werden operativ behandelt
215 12.4 · Brust- und Lendenwirbelsäule
a
b
c
d . Abb. 12.18a–e 9-jähriges Mädchen, Autounfall, stumpfes Bauchtrauma, Dickdarmverletzung. a Die Wirbelsäulenverletzung wird primär nicht diagnostiziert, Entlassung nach Hause. b Das Kind wird wegen Schmerzen nochmals geröntgt. Im stehenden Bild zeigt sich
e eine Zerreißung zwischen L1 und L2. c CT-Rekonstruktion. Es besteht kein neurologisches Defizit. d Offene Reposition und dorsale Stabilisierung mittels 3,5 mm-Drittelrohrplatten. e 7 Jahre nach Versorgung leichtgradige posttraumatische Lumbalskoliose
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216
Kapitel 12 · Wirbelsäulenverletzungen
b
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c a . Abb. 12.19a–c 6-jähriger Knabe, in sitzender Position von einem Balken am Rücken getroffen und zusammengedrückt. Monotrauma, neurologisch intakt. a CT: reine diskoligamentäre Distraktionsverletzung Th9/10. b Versorgung mittels offener Reposition und Stabilisie-
rung mit dem USS-Pediadrics, zusätzlich monosegmentale Spondylodese T9–T10. Implantatentfernung nach 6 Monaten. c Verlaufskontrolle 1,5 Jahre postoperativ: stabile Situation mit leicht akzentuierter Kyphose, keine Beschwerden, uneingeschränkt aktiv
217 12.4 · Brust- und Lendenwirbelsäule
c
a
d
b . Abb. 12.20a–e 15-jährige Patientin, »kontrollierter« Klippensprung aus 10 m ins Wasser, kein neurologisches Defizit. a Klassischer Berstungs-Spaltbruch von LWK 1 (A3.2). Verletzungsmuster wie beim Erwachsenen. b CT-Rekonstruktion. c Notfallmäßige Primärbehandlung mit posteriorer Stabilisierung und Fusion. d Sekun-
e däre Rekonstruktion der vorderen Säule mittels Titankäfig und Anlagerung von lokalem Knochen. e Nach Konsolidation der Spondylodese wurden die posterioren Implantate entfernt, Verlaufskontrolle nach 1,5 Jahren
12
218
Kapitel 12 · Wirbelsäulenverletzungen
a
Unfall
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b
c
d
. Abb. 12.21a–e 10-jähriger Knabe nach Sturz von einem Dach (5 m). Monotraumatisiert. a Multiple Wirbelkörperkompressionen in der liegenden Untersuchung zu erkennen (*). Funktionelle Nachbehandlung ohne äußere Stütze. b Im Verlauf stabile Situation ohne
e relevante Fehlstellung. c–e Das Spektrum der konservativen Behandlung erstreckt sich von der rein funktionellen Behandlung über das Dreipunktekorsett (c), das Schalenkorsett (d) bis zum Repositions-Gipskorsett (e)
219 12.4 · Brust- und Lendenwirbelsäule
a
b
c . Abb. 12.22a–c 13-jähriger Junge mit akuten lumbalen Rückenschmerzen und bilateralen Ischialgien ohne motorisches Defizit nach einem Sturz beim Fußballspielen. a MR: Bandscheibenprotrusion mit dem abgehobenen Anulus. b, c CT: Randleistenausbruch
von S1. Konservative Behandlung mit Bettruhe für 2 Tage, oralem Steroidstoß und Analgesie. Rasche Regredienz der Beinschmerzen in 5 Tagen, langsame Besserung der Rückenschmerzen innerhalb von 2 Monaten. Sportkarenz für 4 Monate
12
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Kapitel 12 · Wirbelsäulenverletzungen
a
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b . Abb. 12.23a,b 15-jähriger Freizeitsportler, massive tieflumbale Rückenschmerzen, Ausstrahlung in die dorsalen Oberschenkel. a MRT: Signalveränderungen an der Bogenwurzel L5 links und im Facettengelenk L5 rechts. b CT: exakte Läsion dargestellt, Fraktur der
12.4.4
Lumbosakraler Übergang
Verletzungen im Bereich des lumbosakralen Überganges stellen eine Besonderheit namentlich bei Adoleszenten dar. Eine banale Traumatisierung kann eine vorgängig »stumme« Spondylolyse symptomatisch machen mit lokalen Schmerzen, meist einhergehend mit einer massiven Verspannung der ischiokruralen Muskulatur. Ermüdungsfrakturen im Bereich der Pars interarticularis oder der Bogenwurzeln von L5 sind eine weitere Entität des wachsenden Skelettes. Dies betrifft oft sportlich ambitionierte Jugendliche. Klinisch sind meist Belastungsschmerzen ein Problem, in der Akutphase einhergehend mit Schmerzen im Bereich der dorsalen Oberschenkel und
Pars rechts und des Pedikels links. Konservative Behandlung mit Sportkarenz und isometrischem Muskeltraining des Rumpfes. In 3 Wochen war die ischiokrurale Muskulatur wieder frei. Nach 3 Monaten Wiederaufnahme sportlicher Aktivitäten ohne Hyperextension
auch dem typischen Befund der »verkürzten« ischiokruralen Muskulatur. Therapie Die Behandlung ist primär symptomatisch, eine Sportkarenz ist aber notwendig, insbesondere sollen hyperlordosierende Sportarten vermieden werden. Eine vorübergehende Ruhigstellung mit einem Brace kann notwendig sein. Die Beratung des Patienten und der Eltern ist sehr wichtig, denn diese Problematik kristallisiert sich häufig als individuelle Schwachstelle heraus und ist der limitierende Faktor für eine spitzensportliche Karriere (. Abb. 12.23).
221 12.4 · Brust- und Lendenwirbelsäule
12.4.5
Spätfolgen nach Wirbelsäulenverletzungen
Bei einfachen Wirbelfrakturen mit einer alleinigen ossären Verletzung ohne Beeinträchtigung der Bandscheiben und Gelenke sind keine Folgeprobleme bekannt. Wenn eine Verletzung des Bewegungssegmentes erfolgt mit konsekutiver Funktionsstörung oder (Spontan-)Fusion, sind Spätfolgen häufig, wobei sich diese erst nach Jahrzehnten manifestieren können. Im Bereich der Halswirbelsäule sind Verschleißerscheinungen zu beobachten, und im Bereich der Lendenwirbelsäule können Wachstumsstörungen in Form von Skoliosen auftreten (Moller et al. 2007; Parisini et al. 2002). Literatur Akbarnia BA (1999) Pediatric spine fractures. Orthop Clin North Am 30:521–536 Anderson LD, D’Alonzo RT (1974) Fractures of the odontoid process of the axis. J Bone Joint Surg Am 56:1663–1674 Anderson PA, Montesano PX (1988) Morphology and treatment of occipital condyle fractures. Spine (Phila Pa 1976) 13:731–736 Anderson RC, Scaife ER, Fenton SJ, Kan P, Hansen KW, Brockmeyer DL (2006) Cervical spine clearance after trauma in children. J Neurosurg 105:361–364 Argenson C, de Peretti F, Ghabris A, Eude P, Lovet J (1997) Classification of lower cervical spine injuries. Eur J Orthop Surg Traumatol 7:215–229 Baum JA, Hanley EN, Jr., Pullekines J (1989) Comparison of halo complications in adults and children. Spine (Phila Pa 1976) 14:251–252 Bilston LE, Brown J (2007) Pediatric spinal injury type and severity are age and mechanism dependent. Spine 32:2339–2347 Bosch PP, Vogt MT, Ward WT (2002) Pediatric spinal cord injury without radiographic abnormality (SCIWORA): the absence of occult instability and lack of indication for bracing. Spine 27:2788–2800 Cattell HS, Filtzer DL (1965) Pseudosubluxation and other normal variations in the cervical spine in children. A study of one hundred and sixty children. J Bone Joint Surg Am 47:1295–1309 Cirak B, Ziegfeld S, Knight VM, Chang D, Avellino AM, Paidas CN (2004) Spinal injuries in children. J Pediatr Surg 39:607–612 Dare AO, Dias MS, Li V (2002) Magnetic resonance imaging correlation in pediatric spinal cord injury without radiographic abnormality. J Neurosurg 97:33–39 Dickman CA, Zabramski JM, Hadley MN, Rekate HL, Sonntag VK (1991) Pediatric spinal cord injury without radiographic abnormalities: report of 26 cases and review of the literature. J Spinal Disord 4:296–305 Dogan S, Safavi-Abbasi S, Theodore N, Horn E, Rekate HL, Sonntag VK (2006) Pediatric subaxial cervical spine injuries: origins, management, and outcome in 51 patients. Neurosurg Focus 20:E1 Dowd MD, Keenan HT, Bratton SL (2002) Epidemiology and prevention of childhood injuries. Crit Care Med 30:S385–392 Effendi B, Roy D, Cornish B, Dussault RG, Laurin CA (1981) Fractures of the ring of the axis. A classification based on the analysis of 131 cases. J Bone Joint Surg Br 63–B:319–327 Ehrlich PF, Wee C, Drongowski R, Rana AR (2009) Canadian C-spine rule and the national emergency X-radiography utilization lowrisk criteria for C-spine radiography in young trauma patients. J Pediatr Surg 44:987–991
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12
222
12
Kapitel 12 · Wirbelsäulenverletzungen
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13
Beckenverletzungen K. Nowack, W. Schlickewei
13.1
Einführung
– 224
13.2
Entwicklung und anatomische Besonderheiten
13.3
Frakturen/Verletzungen
– 225
13.3.1 Beckenringverletzungen – 225 13.3.2 Azetabulumfrakturen – 237 13.3.3 Morel-Lavallé-Verletzung – 237 Literatur
– 238
– 224
224
Kapitel 13 · Beckenverletzungen
13.1
Einführung
Verletzungen der Beckenregion im Kindesalter sind seltene Verletzungen. Die Inzidenz wird mit 2,4–7,5% aller Frakturen im Kindesalter angegeben (Schlickewei u. Keck 2005; Ismail et al. 21996; Demetriades et al. 2003). Hauptursache sind Hochenergietraumen (Schlickewei u. Keck 2005), die häufig zu erheblichen Begleitverletzungen anderer Organsysteme (neurovaskuläre und muskuloskelettale Strukturen, Abdominalorgane, zentrales Nervensystem, Urogenitaltrakt) führen (Widmann 2006). Im Gegensatz zu den Beckenverletzungen beim Erwachsenen besteht bei Kindern jedoch aufgrund der unterschiedlichen anatomischen Gegebenheiten eine geringere Letalität, da bei Kindern eine größere »Verformbarkeit« des Beckens, eine dickere Knorpelschicht und eine größere Elastizität der Symphyse und der Iliosakralgelenke besteht (Holden et al. 2007). Dadurch treten Beckenverletzungen im Kindesalter nur bei hoher Krafteinwirkung auf und sind damit überdurchschnittlich häufig bei polytraumatisierten Kindern zu beobachten (Schmal 2002).
13.2
13
. Abb. 13.1 Knöcherne Anteile des Beckens mit Y-Fuge (Aus: Marzi I/ Kindertraumatologie, 2010)
Entwicklung und anatomische Besonderheiten
Das Becken wird aus drei knöchernen Strukturen gebildet (. Abb. 13.1): 4 Os ilium (Darmbein) 4 Os ischium (Sitzbein) 4 Os pubis (Schambein) Diese Strukturen sind in der Kindheit und Jugend als einzelne knöcherne Strukturen angelegt und stehen im Azetabulumbereich über die Y-Fuge, eine Epiphysenfuge, knorpelig miteinander in Verbindung (. Abb. 13.2). Der Epiphysenschluss findet zwischen dem 14. und dem 16. Lebensjahr statt. Am Ende des 2. Dezenniums sind alle Anteile zum Os coxae vereint (Pohlemann et al. 2006). Das Wachstum des Beckens wird durch die Epiphysen und Apophysen realisiert. Die Crista iliaca ist in der Jugend eine Epiphyse, das Erscheinen von Knochenkernen ist zwischen dem 13. und 15. Lebensjahr zu beobachten. Die Spina iliaca anterior inferior und das Tuber ischiadicum sind Apophysen, entsprechende Knochenkerne erscheinen Anfang bis Mitte des zweiten Lebensjahrzehnts und schließen sich in der Regel zwischen dem 16. und dem 20. Lebensjahr (Pohlemann et al. 2006). Die Epiphysenfugen und Apophysenkerne stellen anatomische Schwachpunkte dar, in deren Bereich Abrissfrakturen entstehen können. Dabei ist neben einer traumatischen Genese bei kräftig ausgeprägter Muskulatur auch ein Überschreiten der Haltekraft der Wachstumsfuge durch maximale Anspannung
. Abb. 13.2 Wachstumszonen und Verknöcherungszeiträume im Bereich des wachsenden Beckens
der Muskulatur möglicher Auslöser (Pohlemann et al. 2006). Die Kenntnis der anatomischen Besonderheiten und der Ausrichtung und »knöchernen Strukturverteilung« des Beckens ist wesentlich für das Verständnis der »trauma-
H.G. Dietz et al. (Hrsg.), Praxis der Kinder-und Jugendtraumatologie, DOI 10.1007/978-3-642-12935-3_13, © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2011
225 13.3 · Frakturen/Verletzungen
tologischen Anatomie« (Pohlemann et al. 2006), denn daraus resultieren vom Patientenalter abhängige Unterschiede hinsichtlich der Frakturlokalisation und Behandlungsstrategie (Schlickewei u. Keck 2005).
13.3
Frakturen/Verletzungen
13.3.1
Beckenringverletzungen
A
Einteilung und Klassifikation Zur Einteilung von Beckenfrakturen existieren verschiedene Klassifikationssysteme. Bei der Einteilung der Frakturen im Kindesalter hat sich bislang kein einheitliches System durchsetzen können. In der klinischen Praxis hat sich jedoch die Fraktureinteilung anhand der AO-Klassifikation bewährt. Auf Grundlage dieses Klassifikationssystems soll im Rahmen dieses Kapitels auch ein Behandlungsalgorithmus vorgeschlagen und dargestellt werden. AO-Klassifikation In Zusammenarbeit der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie (DGU) und der Arbeitsgemeinschaft Osteosynthese (AO) wurde eine Klassifikation entwickelt, die auf dem Vorschlag von Pennal und Tile aufbaut und mit der bekannten und weit verbreiteten AO-Klassifikation der Frakturen bei Erwachsenen vergleichbar ist. Dabei werden drei Hauptgruppen (A–C) unterschieden (. Abb. 13.3 und . Abb. 13.4; Schlickewei u. Keck 2005; Thannheimer et al. 2006): 4 Typ A: stabile Frakturen 4 Typ B: rotatorisch instabile, vertikal stabile Frakturen 4 Typ C: rotatorisch und vertikal instabile Frakturen
B
C . Abb. 13.3 Klassifikation der Beckenfrakturen im Kindesalter analog der AO-Klassifikation für Erwachsene (Aus: Marzi I/Kindertraumatologie, 2010)
Die Frakturen werden dann, ausgehend von dieser Einteilung, weiter unterteilt. Die folgenden alternativen Klassifikationsmöglichkeiten haben sich im praktischen Alltag noch nicht durchgesetzt, enthalten aber zum Teil durchaus praktisch relevante Differenzierungen.
4 I: Frakturen ohne Unterbrechung des Beckenringes 4 II: Frakturen mit einfacher Unterbrechung des Beckenringes 4 III: Frakturen mit doppelter Unterbrechung des Beckenringes 4 IV: Azetabulumfrakturen
Klassifikation nach Silber In Abhängigkeit vom Schluss der »Y-Fuge« werden Verletzungen des »unreifen« und des »reifen« Beckens unterschieden (Silber u. Flynn 2002), man beobachtet beim »unreifen Becken« häufiger Frakturen des Schambeins und der Beckenschaufel, die durch elastischere Bandstrukturen und die schwächere Knochensubstanz erklärt werden (Holden et al. 2007; Schlickewei u. Keck 2005).
Klassifikation nach Torode und Zieg Torode u. Zieg (1985) unterteilen die Frakturen in vier Gruppen: 4 I: Avulsionsfrakturen 4 II: Beckenschaufelfrakturen 4 III: einfache Beckenringfrakturen 4 IV: Berstungsfrakturen
Klassifikation nach Key und Cornwell Hier werden fol-
gende Frakturformen unterschieden (Schlickewei u. Keck 2005; Thannheimer u. Bühren 2006):
13
226
Kapitel 13 · Beckenverletzungen
Klassifikation nach von Laer Von Laer beschreibt eine
prognoseorientierte Einteilung (Thannheimer u. Bühren 2006; von Laer et al. 2007): 4 Läsionen ohne zu erwartende gravierende Spätfolgen (Apophysenausrisse, Beckenschaufelfrakturen, isolierte Frakturen der Ossa ilii, isolierte Schambeinastfrakturen, isolierte Iliosakralfugenlockerungen) 4 Läsionen mit möglichen gravierenden Spätfolgen (Symphysenrupturen, Azetabulumfrakturen, Malgaigne-Frakturen)
a
Als Grundlage für die klinische Praxis hat zudem die Unterscheidung in stabile und instabile Beckenfrakturen besondere Bedeutung. Stabile Läsionen
b
13
4 Apophysenausrisse – Ausriss des Ansatzes des M. rectus femoris im Bereich der Spina iliaca anterior inferior – Ausriss der Adduktorenansätze im Bereich des Os pubis – Ausriss der Flexorenansätze (M. biceps femoris, M. semitendinosus und M. semimembranosus) im Bereich des Os ischii (Tuber ischiadicum) – Ausriss des M. sartorius im Bereich der Spina iliaca anterior superior 4 Frakturen Os Ilium 4 Beckenschaufelfrakturen 4 Schambeinastfrakturen 4 Iliosakralgelenklockerungen
Instabile Läsionen 4 Symphysensprengungen 4 Azetabulumfrakturen 4 Malgaigne-Frakturen: doppelte Vertikalfraktur des Beckenringes am Schambein und am Iliosakralgelenk
Ätiologie, Epidemiologie und Häufigkeit c . Abb. 13.4 Radiologische Darstellung der Beckenfrakturen Typ A bis Typ C im Kindesalter analog der AO-Klassifikation. a Stabile Verletzung mit Schambeinastfrakturen. b Rotationsinstabiitäten: Es ist zu einer Innenrotationsbewegung der rechten Beckenhälfte gekommen. c Instabile Verletzung mit Translation der rechten Beckenhälfte nach kranial und dorsal bei transsymphysärer und transsakroiliakaler Instabilität (Aus: Weinberg A, Tscherne H (Hrsg.) Unfallchirurgie im Kindesalter, 2010)
Beckenfrakturen sind meistens die Folge von Hochenergietraumen wie Verkehrsunfällen und Stürzen aus großer Höhe (. Abb. 13.5; Hauschild et al. 2008; Thannheimer u. Bühren 2006; Pohlemann et al. 1996). Ein Großteil der Patienten ist polytraumatisiert, 25% der Patienten erleiden ein Schädel-Hirn-Trauma (Thannheimer u. Bühren 2006). Die Inzidenz beträgt 2–7,5%, in der Beckenstudie der DGU mit 134 von 4291 Patienten 3,1% (. Abb. 13.6; Schlickewei u. Keck 2005; Thannheimer u. Bühren 2006). Bezüglich der Schwere der Verletzung konnte – basierend auf der Klassifikation von Pennal und Tile (s. oben) – im Vergleich zum Erwachsenenkollektiv kein signi-
13
227 13.3 · Frakturen/Verletzungen
. Tab. 13.1 Verteilung der Frakturen nach Silber et al. (2002) Unreifes Becken [%]
Reifes Becken [%]
Beckenring
53
31
Beckenschaufel
29
6
Azetabulum
6
44
Os pubis/Iliosakralgelenk
5
19
. Abb. 13.5 Häufigkeitsverteilung der Unfallursachen kindlicher Beckenverletzungen (Beckenstudie I der DGU/AO) . Tab. 13.2 Verteilung der Frakturen nach Mayr (Schlickewei u. Keck 2005) A
B
C
Azetabulum
Unreifes Becken (%)
61,8
27,1
21
12%
Reifes Becken (%)
52,6
31,5
18,4
Klinik Grundlage der Diagnostik ist die klinische Untersuchung. Diese zeigt in Studien eine hohe Spezifität, weist jedoch eine geringe Sensitivität auf. Das gilt insbesondere für die Untersuchung bewusstloser Patienten (Schlickewei u. Keck 1997; Seekamp et al. 2004; Junkins et al. 2001). Wichtigster Bestandteil der klinischen Untersuchung ist die Stabilitätsprüfung des Beckenringes, um möglichst früh in der Behandlung zwischen einer stabilen und einer instabilen Fraktursituation unterscheiden zu können. Berücksichtigt man den hohen Anteil an schweren Begleitverletzungen, stellt die Sicherung der Vitalparameter neben der Suche nach begleitenden Organ- und Weichteilverletzungen den ersten Behandlungsschritt dar. Erst an zweiter Stelle steht die eigentliche Frakturversorgung (Thannheimer u. Bühren 2006). Von großer Bedeutung sind die gründliche Inspektion der Beckenregion (Suche nach offenen Wunden, Hämatomen, subkutanen Decollementverletzungen) und die Stabilitätsprüfung. Obligatorisch ist zudem die Durchführung
. Abb. 13.6 Verletzungsmuster bei Beckenfrakturen im Kindesalter (Beckenstudie I der DGU/AO)
fikanter Unterschied festgestellt werden. Notfallmaßnahmen wurden bei Kindern in 17,9% der Fälle notwendig (Thannheimer u. Bühren 2006). Die überwiegende Mehrzahl der Beckenfrakturen bei Kindern (80,6%) konnte konservativ behandelt werden. Die Letalität bei Kindern entsprach der bei Erwachsenen (8,2% vs. 6,1%), wobei die Beckenverletzung zumeist nicht ursächlich für den letalen Ausgang war (Thannheimer u. Bühren 2006). . Tab. 13.1 bis . Tab. 13.3 zeigen die Verteilung der Frakturen.
. Tab. 13.3 Verteilung der Frakturen nach Hautschild et al. (2008) A A1 8
B
C
Azetabulum
Azetabulum
A2
A3
B1
B2
B3
C1
C2
C3
Isoliert
+ A/B
40,2
3,6
8
14,3
1,8
10,7
3,6
0
8
1,8
57,4
26,7
15,8
(Angaben in %)
228
Kapitel 13 · Beckenverletzungen
einer digitalen rektalen Untersuchung (beim narkotisierten Patienten) zum Nachweis einer evtl. bestehenden Rektumverletzung (Seekamp et al. 2004) und die Untersuchung der Urogenitalorgane. Weitere klinische Zeichen einer Beckenfraktur sind große, oberflächliche Hämatome inguinal und im Bereich des Skrotums (Destot-Zeichen), eine Verringerung des Abstandes zwischen Trochanter major und Schambeinhöcker im Vergleich zur Gegenseite bei lateralen Kompressionsfrakturen (Roux-Zeichen) und palpable Frakturenden oder Hämatome bei der rektalen Untersuchung (Earle-Zeichen) (Thannheimer u. Bühren 2006). Die Hämatomverteilung und die Anordnung der Prellmarken können Aufschluss über die Frakturlokalisation und -art geben (Widmann 2006).
Diagnostik
13
Basis der Diagnostik ist neben der klinischen Untersuchung eine Röntgenübersichtsaufnahme des Beckens. Wichtig ist eine Beurteilung des hinteren Beckenringes. Wegen der zum Teil noch nicht verknöcherten Skelettstrukturen ist die sichere Interpretation der konventionellen Aufnahmen an Symphyse, Azetabulum, Iliosakralgelenk und Sakrum nicht einfach (Schmal et al. 2002). Die begrenzte Zuverlässigkeit bzw. »diagnostische Unsicherheit« einer nativen Röntgenuntersuchung des Beckens in a.p. Projektion zeigt sich in Studien bei Kindern durch eine Sensitivität von nur 54% (Schlickewei u. Keck 2005; Guillamondegui et al. 2003). Bei Erwachsenen werden deutlich höhere Werte erreicht (Seekamp et al. 2004). Trotzdem wird die Untersuchung als Standardverfahren im Rahmen der Primärversorgung bei polytraumatisierten Patienten im Schockraum empfohlen (Holden et al. 2007). Bei hämodynamisch stabilen Patienten kann im weiteren Verlauf selektiv eine ergänzende Bildgebung (Computertomographie, Inlet-/Outlet-Aufnahmen bzw. Oblique-/ Schrägaufnahmen nach Judet) durchgeführt werden. Die nativen radiologischen Zusatzaufnahmen erweisen sich jedoch heute im klinischen Alltag durch die flächendeckend zur Verfügung stehenden Schnittbildverfahren meist als überholt. Heute gilt die Computertomographie als die Methode der Wahl, um eine umfassende Verletzungsbilanzierung zu ermöglichen. Besonders vorteilhaft ist dabei die Möglichkeit der parallelen Gefäßdarstellung durch Kontrastmittel (Seekamp et al. 2004). Durch 2D-, 3D- und multiplanare Rekonstruktionen lässt sich ein deutlicher Informationsgewinn erzielen und eine genauere Vorstellung über das vorliegende Verletzungsausmaß erreichen (Seekamp et al. 2004). Zur Frage, ob bei Verdacht auf Vorliegen einer Beckenverletzung ein »natives Röntgen« oder eine »Computertomographie« durchgeführt werden soll, ist – nach Sichtung
der Literatur – Folgendes anzumerken: In der Mehrzahl der Fälle wird – trotz der ohne Zweifel exakteren Informationen durch die Computertomographie – keine andere Klassifikation der vorliegenden Verletzung vorgenommen und kein anderes Therapieverfahren abgeleitet. Daher gilt es – auch unter Berücksichtigung der vermehrten Kosten, dem erhöhten Zeitaufwand und der erhöhten Strahlenexposition, eine strenge Indikationsstellung zur Durchführung einer CT-Diagnostik zu beachten (Holden et al. 2007; Schlickewei u. Keck 2005; Silber et al. 2001). Eine Korrektur und Anpassung der Frakturklassifikation erfolgte nur in 15% der Fälle, eine alternative Behandlungsstrategie wäre bei Vorliegen der Computertomographie nur in 3% der Fälle gewählt worden (Silber et al. 2001). > Bei dringendem Frakturverdacht, in unklaren Fällen und bei vermuteten Begleitverletzungen und Läsionen des hinteren Beckenringes sollte jedoch mittels Computertomographie eine sichere Verletzungsbilanzierung und Diagnose angestrebt werden (Pohlemann et al. 2006; Schmal et al. 2002). Unbestrittenen Stellenwert hat die Computertomographie in der Diagnostik und Behandlung polytraumatisierter Patienten (»Polytraumaspirale«).
Die Kernspintomographie spielt – zumindest bei instabilen Patienten – in der Akutversorgung nur eine geringe Rolle. Das Untersuchungsverfahren kann jedoch bei der Diagnostik und Analyse von Weichteil- und Knorpelverletzungen im Verlauf hilfreich und nützlich sein (Holden et al. 2007). Bei (primär) stabiler Ausgangslage kann die Indikation zum MRT, das auch eine Beurteilung der Wachstumsfugen und deren Schädigung erlaubt, großzügiger gestellt werden (Schmal et al. 2002). Die Sonographie stellt eine ergänzende diagnostische Methode dar, die in der Hand des erfahrenen Untersuchers Begleitverletzungen nachweisen und auch Verletzungen im Beckenbereich abbilden kann (Schlickewei u. Keck 2005). Im Rahmen der Notfallbehandlung und Primärversorgung sollte eine möglichst standardisiert ablaufende Untersuchung erfolgen. Elemente der Notfallbehandlung sind (Pohlemann et al. 2006; Schmal et al. 2002): 4 Klinische Stabilitätsprüfung 4 Prüfung und Beurteilung der Körperöffnungen (digital-rektale Untersuchung (DRU) 4 Inspektion der Genitalorgane 4 Radiologische Kontrastmitteluntersuchung von Harnblase und Urethra 4 Sonographie des Abdomens und der Beckenregion 4 Suffiziente Bildgebung (Beckenübersicht, sekundär Computertomographie)
229 13.3 · Frakturen/Verletzungen
gleitverletzungen. Bei isolierten Schambeinfrakturen ließen sich Verletzungen der Abdominalorgane oder des Urogenitaltraktes nur in 6% der Fälle nachweisen (Bond et al. 1991). Als komplexe Beckenfrakturen werden knöcherne Verletzungen bezeichnet, die mit einer gleichzeitig vorliegenden Verletzung von holoviszeralen Organen des Beckens oder Verletzungen von Nerven und Gefäßen oder des harnableitenden Systems einhergehen (Kothe et al. 2006). Notfalltherapie Wenn aufgrund des Verletzungsmusters
. Abb. 13.7 Beckenfrakturen im Kindesalter: Häufigkeitsverteilung und Behandlungsweg (gesamt vs. operativ; Beckenstudie II der DGU/AO)
Therapie Therapieziel Ziel der Behandlung ist eine Versorgungs-
strategie, die eine Frühmobilisierung des Patienten und eine frühfunktionelle Behandlung der Verletzung ermöglicht und schließlich zu einer möglichst folgenlosen Ausheilung (Restitutio ad integrum) führt. Therapieplanung Die Behandlung hängt vom Patientenalter bzw. dem Reifezustand des Skeletts, dem Frakturtyp, dem Vorliegen von stabilen oder instabilen Verhältnissen und dem hämodynamischen Zustand des Patienten ab (Holden et al. 2007). Die Mehrzahl der Beckenfrakturen beim Kind heilt ohne wesentliche Komplikationen folgenlos aus, meist ist keine operative Therapie notwendig (Holden et al. 2007). 80% der Kinder mit Becken- und Azetabulumverletzungen können konservativ behandelt werden (. Abb. 13.7; Hauschild et al. 2008). Von wesentlicher Bedeutung für die Therapieplanung und -entscheidung ist deshalb eine gründliche Bilanzierung der Gesamtverletzungen des Kindes, da die Gesamtprognose in erster Linie durch die vorliegenden Begleitverletzungen bestimmt wird. Aufgrund der höheren Elastizität des Beckenringes bei Kindern resultiert eine geringere Schutzwirkung für die inneren Organsysteme, daher muss häufig mit intraabdominellen Verletzungen und Läsionen der Beckenorgane gerechnet werden (Pohlemann et al. 2006; Bond et al. 1991). In der Untersuchung von Bond et al. wiesen 80% der Kinder, bei denen multiple Frakturen des Beckens vorlagen, Verletzungen der Abdominalorgane oder des Urogenitaltraktes auf. Bei Frakturen des Os ilium oder des Beckenrandes zeigten 33% der Kinder entsprechende Be-
eine Notfalltherapie erforderlich ist, unterscheidet sich das Behandlungskonzept nicht grundsätzlich vom Vorgehen bei Erwachsenen (Schmal et al. 2002). Bezüglich des Schockraummanagements gelten die allgemeinen Richtlinien und Protokolle (z. B. Advanced Trauma Live Support – ATLS) als Grundlage der primären Versorgung. Der Ablauf orientiert sich an der Kreislaufsituation und dem Grad des Stabilitätsverlustes des Beckens (. Abb. 13.8; Pohlemann et al. 2006). Die Beurteilung der Kreislaufsituation ist beim Kind erschwert, da sich eine drohende Kreislaufinstabilität aufgrund der lange vorhandenen Kompensationsmechanismen nicht abzeichnet, dann aber sehr schnell einstellen kann (»they talk and die«) (Kothe et al. 2006). Die Eckpfeiler der Notfallbehandlung stellen die Kontrolle der Blutung und die mechanische Stabilisierung des Beckenringes dar (Pohlemann et al. 2006). Besonders wenn die Instabilität des Beckens die Kompensation der Blutung und/oder die Versorgung der abdominellen Organverletzungen verhindert, rückt eine Notfallstabilisierung des Beckens in den Vordergrund. Während bei erwachsenen Patienten zur mechanischen Stabilisierung in Notfallsituationen häufig die Beckenzwinge Verwendung findet, stellt bei Kindern die Anlage eines Fixateur externe das Therapieverfahren der Wahl dar (Pohlemann et al. 2006). Die Stabilisierung des Beckenringes erreicht Blutstillung durch Verschluss spongiöser Frakturzonen und Schaffung eines Widerlagers für Tamponaden, zudem Schmerzreduktion und Lagerungsstabilität zur Sicherstellung einer adäquaten intensivmedizinischen Weiterbehandlung. Ein stabiler Beckenring ist oft Voraussetzung für eine effektive Behandlung der begleitenden Weichteil- und Organverletzungen (Schmal et al. 2002). Die Montage des Becken-Fixateur externe erfolgt von ventral. Die Fixierung der Schrauben kann wegen der besseren Stabilität supraazetabulär, aber auch von beiden Spinae iliacae anterior et inferior ausgehen oder im Bereich der Beckenschaufel erfolgen. . Abb. 13.9 und . Abb. 13.10 zeigen das Prinzip der Schraubenplatzierung und die Montageformen des Fixateur externe (Pohlemann et al. 2006).
13
230
Kapitel 13 · Beckenverletzungen
. Abb. 13.8 Der »Notfallalgorithmus Becken« ist ein Modul der Polytraumabehandlung. Zur schnellen zielsicheren Orientierung wurde
13
er auf 3 Entscheidungen innerhalb der ersten 30 min nach Einlieferung reduziert (Tscherne, Unfallchirurgie im Kindesalter, 2006)
Im Falle einer anhaltenden Kreislaufinstabilität nach mechanischer Stabilisierung des Beckenringes wird auch bei verunfallten Kindern die Durchführung einer Beckentamponade empfohlen. Im Falle einer traumatischen Hemipelvektomie können – je nach Begleitverletzungen – invasive chirurgische Maßnahmen zur Stabilisierung der Situation notwendig werden (Pohlemann et al. 2006). Konservative vs. operative Therapie Die genaue Klassifikation der vorliegenden Beckenfraktur ist die Grundlage für die definitive Therapie (Kothe et al. 2006). 4 Stabile Frakturen werden zumeist konservativ behandelt. Ein operatives Vorgehen wird bei prinzipiell stabiler Fraktursituation nur bei stärkerer Dislokation einzelner Fragmente oder bei Repositionsproblemen erwogen (Pohlemann et al. 2006). 4 Ein operatives Vorgehen wird bei instabiler Fraktursituation oder bei starker Dislokation der Fraktur durchgeführt (Pohlemann et al. 2006).
. Abb. 13.9 Fixateur-externe-Montage am Beckenring. Einfache supraazetabuläre Konstruktion mit jeweils einer Schanz-Schraube und Verbindung durch die gebogene Karbonstange (Aus: Weinberg A, Tscherne H (Hrsg.) Unfallchirurgie im Kindesalter, 2006)
231 13.3 · Frakturen/Verletzungen
b
a
c
d
. Abb. 13.10a–d
Indikationen zur konservativen Behandlung 4 Beckenrandfrakturen und (wenig dislozierte) Apophysenausrisse 4 Beckenringverletzungen mit Unterbrechung der transpubischen Region bei gesichert fehlender dorsaler Ringunterbrechung
4 Stabiler Beckenring, aber stark dislozierte Fragmente, die eine Perforationsgefahr bedeuten (Blasenperforation bei verdrehtem Schambeinastfragment, sog. »Schambeinstachel«, Hautperforation bei dislozierten Frakturen des Os ilium) 4 In seltenen Ausnahmefällen nach Abrissfrakturen
Indikationen zur operativen Behandlung 4 Klinisch instabiler Beckenring mit radiologisch nachgewiesener anteriorer und posteriorer Unterbrechung 4 Ausgeprägte Rotationsinstabilität 6
. Abb. 13.11 stellt einen Algorithmus auf Grundlage der AO-Klassifikation zur Therapie der Beckenfrakturen im Kindesalter dar (Schlickewei u. Keck 2005).
Prinzipen der konservativen Therapie Bettruhe ist das
Hauptprinzip der konservativen Therapie. Die Anlage
13
232
Kapitel 13 · Beckenverletzungen
5 Teilbelastung an Unterarm-Gehstützen für 4 Wochen mit anschließendem Belastungsaufbau über ca. 2 Wochen zur Vollbelastung 4 Kinder >13 Jahre 5 Teilbelastung für 6 Wochen, dann Vollbelastung Bei Compliance-Problemen oder sehr jungen Patienten, die die gegebenen Belastungsmaßgaben noch nicht sicher erfüllen können, ist ggf. die Einhaltung von Bettruhe oder eine strikte Limitierung der Mobilisation, z. B. Begrenzung auf Bett-Stuhl-Transfer notwendig (Holden et al. 2007).
. Abb. 13.11 Algorithmus auf Grundlage der AO-Klassifikation zur Therapie der Beckenfrakturen im Kindesalter
13
einer »Beckenschlinge« und die Versorgung mit einem Becken-Spreiz-Gips sind heutzutage ebenso nicht mehr indiziert wie eine Extensions- und Traktionsbehandlung, die höchstens temporär vor der Operation einer in Längsrichtung dislozierten Fraktur angelegt werden kann. Die hier notwendig werdenden langen Ruhigstellungs- und Immobilisationsphasen widersprechen den Prinzipien der modernen Frakturbehandlung, die nach Möglichkeit eine frühfunktionelle Behandlung ermöglichen sollen (Schlikkewei u. Keck 2005). Typ-A-Frakturen werden in der Regel konservativ behandelt. Dabei ist eine schmerzadaptierte Mobilisation möglich (Schlickewei u. Keck 2005). Die Entlastungsphase variiert dabei je nach Subtyp der Verletzung und Patientenalter. Röntgenverlaufskontrollen werden 14 Tage nach Trauma, nach 6 Wochen und – zum Nachweis evtl. Spätfolgen – nach 12 Monaten empfohlen (Pohlemann et al. 2006). Für die Behandlung der Azetabulumfrakturen wurden folgende Vorschläge gemacht, die als Grundlage der konservativen Behandlung von Becken(-ring-)frakturen im Kindesalter übernommen werden können (Pohlemann et al. 2006): 4 Kinder <6 Jahre: 5 Initial Bettruhe bis zur Schmerzfreiheit der betroffenen Seite 5 Ab der 2. bis 3. Woche entlastete Mobilisation nach Maßgabe der Beschwerden 5 Belastung – im Rahmen der Mobilisation – nach Maßgabe der Beschwerden 4 Kinder zwischen 7. und 12. Lebensjahr: 5 Immobilisation/Entlastung bis zum Abklingen der Schmerzen
. Abb. 13.12 Avulsionsfraktur der Spina Iliaca anterior inferior ohne Notwendigkeit einer operativen Refixation
. Abb. 13.13 Symphysennahe vordere obere Schambeinastfraktur links
233 13.3 · Frakturen/Verletzungen
Die . Abb. 13.12 bis . Abb. 13.14 zeigen Fallbeispiele der konservativen Versorgung von Beckenverletzungen Prinzipien der operativen Therapie Instabile Typ-CFrakturen werden in der Regel operativ behandelt und stabilisiert. Daneben werden aber auch Typ-B-Frakturen
bei bestehender Rotationsinstabilität und Frakturen mit großer Fragmentdislokation operativ behandelt (Schlickewei u. Keck 2005). Die operative Technik muss dabei individuell angepasst werden. Die Wahl des Operationszuganges orientiert sich am Frakturtyp. Abhängig vom Patientenalter und vom Verletzungstyp kommen auch für die elektive und definitive Frakturbehandlung die Anlage eines Fixateur externe und Osteosyntheseverfahren mit offener Frakturreposition und »interner Stabilisierung« (ORIF) zur Anwendung (Schlickewei u. Keck 2005).
Häufig ist primär die Anlage eines Fixateur externe erfolgt. Bei ausreichender Reposition und Fixierung durch den angelegten Fixateur externe kann dieses Verfahren auch bis zur Ausheilung der Verletzung angewendet werden. Je nach Patientenalter werden dabei »Ruhigstellungszeiten« von ca. 4 Wochen empfohlen, ehe die Entfernung des Fixateurs vorgenommen werden kann (Thannheimer u. Bühren 2006). Bei älteren Kindern (jenseits des 13.–14. Lebensjahrs) werden die gleichen Stabilisierungsverfahren wie bei Erwachsenen eingesetzt. Bei jüngeren Patienten muss die Behandlung rund um das Azetabulum und an der Crista iliaca unter Schonung der Wachstumsfugen erfolgen, daher kommen hier v. a. Schrauben- und Spickdrahtosteosynthesen zur Anwendung (Pohlemann et al. 2006). Die Nachbehandlung orientiert sich am Instabilitätsgrad der Hüfte, der Stabilität der durchgeführten Versorgung und dem Alter des Kindes. > Als Faustregel können auch nach operativer Versorgung die gleichen Schonungs- und Entlastungszeiten wie bei der Durchführung der konservativen Therapie veranschlagt werden (s. oben; Pohlemann et al. 2006).
a
b . Abb. 13.14a,b Fraktur des hinteren Beckenringes. a Nativradiologisch oft schwer zu beurteilende Situation am hinteren Beckenring. b Das Computertomogramm zeigt eine Fraktur des hinteren Beckenringes (Os ilium) ohne Dislokation im Iliosakralgelenk
4 Infolge der geringen Inzidenzen ist die Osteosynthesetechnik der Beckenringverletzungen noch nicht standardisiert. 4 Zur Anwendung kommen dabei Kirschner-Drahtfixierungen, Schrauben- und Plattenosteosynthesen (Drittelrohr-, Kleinfragment-DC-Platten etc.; Pohlemann et al. 2006). 4 Die definitive Versorgung einer Symphysensprengung und (oder) die Versorgung einer Schambeinfraktur erfolgt in der Regel über einen Unterbauchquerschnitt nach Pfannenstiel. 4 Iliosakralgelenkssprengungen können über einen ventrolateralen oder einen dorsalen Zugang reponiert und stabilisiert werden. Dabei kommen Schrauben-, K-Draht- und Plattenosteosynthesen zur Anwendung. 4 Zudem gibt es die Möglichkeit minimal-invasiver Osteosynthesetechniken (z. B. perkutane Schraubenosteosynthese), die bei Frakturen des hinteren Beckenringes zur Anwendung kommen. Durch navigationsgestützte Verfahren kann hierbei – zusätzlich zur Verwendung des Bildverstärkers – eine Kontrolle der Schraubenlage erfolgen und eine erhöhte Präzision erreicht werden.
13
234
Kapitel 13 · Beckenverletzungen
a
13 b
Hinsichtlich der detaillierten Beschreibung und Illustration der operativen Zugangswege und der Operations- und Osteosynthesetechniken verweisen wir auf die verbreiteten Operationslehren und -atlanten. Die Indikation zu einer sekundären operativen Versorgung wird im weiteren Verlauf in Abhängigkeit vom Ausmaß der Dislokation gestellt. Frakturen mit einem Dislokationsgrad >2 cm müssen stets offen reponiert und stabilisiert werden (Holden et al. 2007). . Abb. 13.15 bis . Abb. 13.20 zeigen Beispiele der operativen Versorgung von Beckenringverletzungen.
Komplikationen und Prognose Die Mehrzahl der Beckenfrakturen heilt folgenlos aus. Verzögerte Frakturheilung, die Ausbildung einer Pseudarthrose und eine bleibende ligamentäre Instabilität kommen nur sehr selten vor (Holden et al. 2007).
. Abb. 13.15 Dislokation im Iliosakralgelenk links. a CT-Befund. b Externe Reposition und Stabilisierung
Bei komplexen Beckentraumen liegt die Komplikationsrate höher. In dieser Gruppe zeigten 31% der Kinder schlechte Ergebnisse: Chronische Rückenschmerzen, bleibende Beinlängendifferenz, Miktionsstörungen und Analsphinkterstörungen sind hier mögliche Folgen (MeyerJunghänel et al. 1997). Ernstzunehmende und schwerwiegende Komplikationen treten vor allen Dingen bei Verletzungen der Iliosakralgelenke auf. Femurkopfnekrosen nach zentraler Hüftluxation können dabei beispielsweise zur einer posttraumatischen Koxarthrose führen (Holden et al. 2007). Weitere Probleme können die Entwicklung einer Myositis ossificans und anhaltende neurologische Defizite und Funktionsausfälle darstellen (Holden et al. 2007). Die Gesamtletalität bei Beckenfrakturen wird bei Kindern mit ca. 5% (5,7%) im Vergleich zu 11% (17,5%) in der Erwachsenenpopulation angegeben (Schlickewei u. Keck 2005; Ismail et al. 1996).
235 13.3 · Frakturen/Verletzungen
a a
b
b . Abb. 13.17a,b Symphysensprengung (»Open-book-Verletzung«). a Röntgenbefund. b Retrograde Kontrastmitteluntersuchung der Harnröhre zur Detektion einer möglichen Begleitverletzung der Urethra und der Blase
c . Abb. 13.16a–c Fraktur des vordern und hinteren Beckenringes. a Präoperativer Befund. b Kombinierte operative Versorgung mittels interner Osteosynthese am hinteren Beckenring und Fixateur-externe-Anlage. c Röntgenverlaufskontrolle nach Entfernung des Fixateur externe
13
236
Kapitel 13 · Beckenverletzungen
a
a
b b
. Abb. 13.19 »Open-book-Verletzung«. a Symphysensprengung und symphysennahe Schambeinfraktur. b Röntgenkontrolle nach offener Reposition und Rekonstruktionsplattenosteosynthese
13
c . Abb. 13.18a–c »Open-book-Verletzung«. a Altersabhängigkeit der Symphysenweite. b Unfallbild eines 11-jährigen Mächens mit vorderer und hintere Beckenringverletzung (Iliosakralfugensprengung links und Symphysensprengung). c Postoperative Röntgenkontrolle nach plattenosteosynthetischer Versorgung des hinteren Beckenrings und der Symphysensprengung. (b und c aus Schmal et al. 2002)
. Abb. 13.20 Ausrissfraktur der Apophyse der Spina iliaca anterior superior mit Schraubenrefixation
237 13.3 · Frakturen/Verletzungen
13.3.2
Azetabulumfrakturen
Häufigkeit Azetabulumfrakturen weisen bei Kindern eine geringe Inzidenz auf (Schlickewei u. Keck 2005). Ihr Anteil liegt bei 0,8–15% aller Beckenfrakturen (Thannheimer u. Bühren 2006). Ursachen Ursächlich liegt der Verletzung meist ein direk-
ter Anprall oder ein Stauchungsmechanismus zu Grunde, eine häufige Folge ist die zentrale Luxation des Hüftgelenkes (. Abb. 13.21; Thannheimer u. Bühren 2006). Diagnostik Klinisch zeigt sich in vielen Fällen ein Häma-
tom über dem Trochanter major. Gering dislozierte Verletzungen oder Läsionen der Wachstumsfugen entziehen sich häufig der nativen Röntgendiagnostik. Bei entsprechendem Verdacht müssen daher entsprechende Zusatzuntersuchungen veranlasst werden (Schrägaufnahmen, CT, MRT; Pohlemann et al. 2006; Schlickewei u. Keck 2005; Thannheimer u. Bühren 2006).
. Abb. 13.21 Häufigkeitsverteilung der Unfallursachen kindlicher Azetabulumfrakturen (Beckenstudie der DGU/AO)
Klassifikation Es bestehen unterschiedliche Klassifikationssysteme: 4 Einteilung nach Letournel und Judet 4 Einteilung nach Salter und Harris (vor Schluss der Wachstumsfuge) 4 Klassifikation nach Buchholz
ratives Vorgehen empfohlen und durchgeführt (Pohlemann et al. 2006; Schlickewei u. Keck 2005). Dabei finden zumeist der vordere Zugang (ilioinguinaler Zugang nach Letournel zur Darstellung des ventralen Azetabulumpfeilers) und (oder) der hintere Zugang (Kocher-Langenbeck-Zugang zur Darstellung des dorsalen Azetabulumpfeilers) Anwendung (Pohlemann et al. 2006).
Therapie Infolge der geringen Inzidenz und der verschie-
Komplikationen Neben den bereits o. g. Komplikations-
denen Facetten der Verletzungsform ist zur Behandlung die Berücksichtigung der individuellen Gegebenheiten obligat. Hinsichtlich der Diagnostik und Therapie gelten folgende Grundsätze (Schlickewei u. Keck 2005): 4 Eine anatomische Reposition vor allem der artikulären Anteile der Fraktur ist obligat, um ein gutes Langzeitergebnis der Behandlung erreichen zu können. 4 Die MRT ist ein gutes Verfahren, um das Stadium des Fugenschlusses zu beurteilen (Y-Fuge). 4 Aufklärung von Patient und Angehörigen über Folgeund Langzeitschäden (Wachstumsstörungen etc.) sollte erfolgen.
möglichkeiten können als Folge von Azetabulumverletzungen Wachstumsstörungen auftreten. Ursache ist die Verletzung der Y-Fuge. Da das Wachstumspotenzial der Fuge mit zunehmendem Alter abnimmt, sind hiervon v. a. jüngere Kinder betroffen. Es kommt zu einem vorzeitigen Fugenschluss mit den Risiken einer Azetabulum-/Pfannendysplasie, einer (Sub-)Luxationstendenz des Hüftgelenkes und einer Gelenkinkongruenz (Holden et al. 2007).
Zur differenzierten Therapieentscheidung kann die Beurteilung der Stabilität des Hüftgelenkes und der Dislokationsgrad der Fragmente herangezogen werden (Pohlemann et al. 2006). Als Grenzwert wird dabei ein Dislokationsgrad >2 mm angesehen. 4 Bei unverschobenen oder nur minimal dislozierten Fragmenten erfolgt eine konservative Therapie (Pohlemann et al. 2006). Dabei gelten die o. g. Ruhigstellungsund Entlastungszeiten. 4 Bei instabilen Frakturen und im Falle von dislozierten oder interponierten Frakturfragmenten wird ein ope-
13.3.3
Morel-Lavallé-Verletzung
Bei Überrollverletzungen sowie bei Quetschungen zwischen starren Gegenständen kommt es nicht selten zu ausgedehnten Décollement-Verletzungen (Morel-Lavallé-Verletzung), die durch kombinierte Druck- und Scherbewegungen entstehen. Durch diesen Verletzungsmechanismus entsteht eine Ablösung der Haut und des Unterhautfettgewebes von der Faszie. Durch Läsionen der die Faszie perforierenden Gefäße entwickeln sich große hämatomgefüllte Hohlräume, die durch Druckerhöhung zu einer weiteren Perfusionsminderung und damit zur Bildung von Epidermiolysen und Nekrosen führen (Pohlemann et al. 2006; Kothe et al. 2006).
13
238
Kapitel 13 · Beckenverletzungen
Therapie Die Therapie besteht in einer zentralen Inzision
mit nachfolgender Hämatomentlastung, lokalem Débridement, Lavage und Einlage großlumiger Drainagen (Kothe et al. 2006).
Literatur
13
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III
Frakturen und Luxationen der oberen Extremität Kapitel 14
Schultergürtel N.M. Meenen
– 241
Kapitel 15
Oberarm – 251 S. David, K. Dragowsky
Kapitel 16
Ellenbogengelenk K. Parsch
Kapitel 17
Unterarm – 319 M. Oberle, W. Schlickewei
Kapitel 18
Hand – 331 D.W. Sommerfeldt
– 277
14
Schultergürtel N.M. Meenen
14.1
Einführung
– 242
14.2
Klavikulafrakturen
14.2.1 14.2.2 14.2.3 14.2.4 14.2.5
Häufigkeit, Ursachen und Klassifikation – 242 Diagnostik – 242 Laterale Klavikulaverletzungen – 242 Klavikulaschaftfrakturen – 242 Mediale Klavikula- und sternoklavikuläre Verletzungen
14.3
Schulterblattfrakturen (Skapulafrakturen)
14.3.1 14.3.2 14.3.3 14.3.4
Häufigkeit und Pathogenese Klassifikation – 244 Diagnostik – 244 Therapie – 245
14.4
Schultergelenkluxationen (glenohumerale Dislokationen)
– 242
– 244
– 245
14.4.1 14.4.2 14.4.3 14.4.4 14.4.5 14.4.6
Pathogenese, Ursachen und Häufigkeit Verletzungsmechanismus – 246 Luxationsformen – 246 Diagnostik – 247 Komplikationen – 247 Therapie – 247
14.5
Rotatorenmanschettenruptur
14.5.1 Diagnostik – 249 14.5.2 Therapie – 249 Literatur
– 249
– 245
– 249
– 244
– 243
242
Kapitel 14 · Schultergürtel
14.1
Einführung
Schulterverletzungen bei Kindern und Jugendlichen sind eher selten. Es gibt neben meist konservativ zu behandelnden Läsionen aber einige, die ein operatives Vorgehen notwendig machen. Aufgrund des guten Remodellings der Knochen des Jugendlichen und des großen Bewegungsumfangs des Schultergürtels sind Funktionseinschränkungen nach Frakturen selten. Der Schultergürtel trägt wesentlich zur universellen und kreativen Funktionsfähigkeit der Hände des Menschen bei. Die Konstruktion des Schultergürtels stellt besondere Anforderungen an die Stabilität der einzigen knöchern/gelenkigen Verbindung zum übrigen thorakalen Skelett über die Klavikula und ihre sterno- und akromioklavikularen Gelenke. Hier kommen am häufigsten Verletzungen vor.
14.2
Klavikulafrakturen
14.2.1
Häufigkeit, Ursachen und Klassifikation
> Die Klavikula ist der am häufigsten verletzte Knochen des Schultergürtels, bis zum Alter von 5 Jahren überhaupt der am häufigsten frakturierte Knochen.
14
Im ersten Lebensjahrzehnt geschehen mehr als 85% aller Klavikulafrakturen. Die Klavikula ist ein desmal ossifizierender Knochen, der ohne knorpelige Voranlage, früh in der Entwicklung ossifiziert. Wachstumsfugen finden sich an beiden Enden des Schlüsselbeins. Als doppelt gebogener Knochen ist die Klavikula bei Sturz auf die Hand oder die Schulter z. B. beim Rad- oder Skifahren großen indirekten Stauchungs- und Biegungskräften ausgesetzt, die sie für eine Fraktur disponieren. Schon die Grundspannung der thorakohumeralen Muskeln und des Musculus deltoideus sowie des M. trapezius beansprucht die Klavikula. Zudem liegt die Klavikula sehr oberflächlich subkutan und ist damit auch bei direktem Schlag verletzungsgefährdet. Diese oberflächliche Lage ermöglicht auch die Läsion der Haut durch den frakturierten Knochen. Allerdings sind offene Frakturen bei Kindern wegen der hohen Elastizität jugendlichen Gewebes eher selten. Durch die Haut lassen sich aber alle Veränderungen an der Klavikula sehr gut tasten wie Frakturen, Frakturkallus, Entzündungen oder Luxationen. Bei direktem Schlag auf das Schlüsselbein sind sekundär auch Läsionen des brachialen Plexus und der Subclavia-Gefäße möglich. Die Frakturen werden eingeteilt in Frakturen des Schaftes und der beiden Enden der Klavikula (Standard-AO-Klassifikation).
14.2.2
Diagnostik
Die Diagnostik erfordert bei allen Verletzungen der Klavikula zunächst einfache ap Röntgenaufnahmen. Besonders im medialen gelenknahen Bereich ist bei entsprechender Klinik weitere Bildgebung zur Abschätzung der Diagnose und Dislokation sowie zur Klärung von Komplikationen angezeigt, so z. B. zusätzliche Röntgenaufnahmen, Sonographie, CT oder MR (in dieser Reihenfolge).
14.2.3
Laterale Klavikulaverletzungen
Pathomechanismus Der hochelastische Periostschlauch der Klavikula und ihre Wachstumsfuge führen bei Kindern und Jugendlichen bei entsprechendem Trauma nicht zu Gelenksprengungen des Akromioklavikulargelenkes (ACG), sondern zu lateralen Epiphyseolysen unter Erhalt der Gelenkkontinuität. Die laterale Klavikula rutscht aus dem Periostschlauch, die Epiphyse bleibt am Ort und die korakoklavikulären und akromioklavikulären Bänder bleiben erhalten. Klassifikation Bei den Verletzungen an den Enden der
Klavikula handelt es sich vor dem Wachstumsende typischerweise nicht um Luxationen wie im Erwachsenenalter, sondern um Epiphysenlösungen, die nach Salter-Harris eingeteilt werden. Die Dislokationen werden nach Rockwood unter dem Kriterium zunehmender Verschiebung gegenüber Korakoid und Akromion eingeteilt. Therapie Die konservative Behandlung besteht aus 3-wö-
chiger Ruhigstellung im Gilchristverband. Schwer dislozierte epimetaphysäre Frakturen des lateralen Klavikulaendes (Rockwood IV bis VI) erfordern unter Umständen eine operative Maßnahme. Wir sehen trotz guter Remodelling-Möglichkeiten die Indikation zur – wenn möglich – geschlossenen Reposition und Bohrdrahtfixierung (. Abb. 14.1). Ist die offene Reposition nötig, kann alternativ eine resorbierbare Cerclage mit PDS durchgeführt werden.
14.2.4
Klavikulaschaftfrakturen
Schaftfrakturen der Klavikula sind bei Kindern unter 10 Jahren häufig Grünholz-Brüche. Schaftfrakturen machen mehr als 90% aller Klavikulafrakturen aus. Diagnostik Die Diagnostik erfolgt mit einem Nativ-Rönt-
genbild des gesamten Schlüsselbeins. Selten sind weitergehende bildgebende Verfahren angezeigt.
H.G. Dietz et al. (Hrsg.), Praxis der Kinder-und Jugendtraumatologie, DOI 10.1007/978-3-642-12935-3_14, © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2011
243 14.2 · Klavikulafrakturen
a
a
b . Abb. 14.2a,b Wenig dislozierte Grünholz-Fraktur im mittleren Schaftdrittel. a Unfallbild. b Ruhigstellung mit einem Rucksackverband für Kinder mit Klettverschluss zum einfachen Nachspannen
b . Abb. 14.1a,b Laterale dislozierte Klavikulafraktur bei 13-jährigem Kind. a Präoperativer Befund. b Postoperative Kontrolle nach geschlossener Reposition und Bohrdrahtfixierung
zung unter konservativen Maßnahmen, können durch Reposition und ESIN-Osteosynthese der Fragmente von medial her nachgewiesen bessere Ergebnisse bezüglich früher Schmerzfreiheit und Schulterfunktion erreicht werden (. Abb. 14.3). Nicht selten muss hierbei allerdings über einen Hilfsschnitt im Verlauf der Hautspaltlinien auf Frakturhöhe offen reponiert werden. Dafür kann dann auf die mediale Inzision verzichtet werden (s. hierzu auch AOManual). Pseudarthrosen sind absolute Raritäten.
Therapie Bei vielen Brüchen im Kindesalter kann eine
minimale Therapie, ggf. auch keinerlei therapeutische Maßnahmen (»supervised neglect«) angezeigt sein. Die Behandlung besteht dann aus einer Ruhigstellung des Armes im Gilchrist oder aus der Anlage eines Rucksackverbandes für etwa 3 Wochen (. Abb. 14.2). Die Repositionswirkung des Rucksackverbandes darf aber selbst bei regelmäßigem Nachspannen nicht überschätzt werden. Eine Reposition ist selbst bei ausgeprägtem Achsenfehler wegen des erheblichen Korrekturpotenzials in Achse und Länge überflüssig. Anders stellt sich die Situation bei älteren Jugendlichen vor allem gegen Ende des Wachstums dar. Hier handelt es sich oft um deutlich dislozierte Brüche, die unter Verkürzung und in Achsfehlern ausheilen können. Die Indikation für ein operatives Vorgehen am Schlüsselbein sind offene Fraktur, neurovaskuläre Begleitschäden oder eine drohende Perforation bei ausgeprägter Dislokation. Besteht bei jungen Athleten eine erhebliche Verkür-
14.2.5
Mediale Klavikulaund sternoklavikuläre Verletzungen
Pathomechanismus und Häufigkeit Das Sternoklaviku-
largelenk bewegt sich bei jeder Armbewegung mit dem Schultergürtel, der Gelenkkopf ist größer als die Pfanne, die Bänder des Gelenks sind sehr stabil. Es kommt daher vergleichbar mit den lateralen Verletzungen des Schlüsselbeins auch medial eher zu Epiphyseolysen. Diese Fuge ist die allerletzte des Körpers, die sich erst im Alter von 25 Jahren schließt. Die Dislokation kann nach kranialventral oder nach zentral erfolgen. Bei Rasanztraumen sind durch direkten Anprall zentrale Dislokationen potenziell gefährlich, da mediastinale Organe akut oder durch Dauerdruck verletzt werden können. Mediale ossäre Klavikulaverletzungen sind selten (<3% aller Klavikulaver-
14
244
Kapitel 14 · Schultergürtel
Klarheit bringt. Als Differenzialdiagnose kommen bei unsicherer Traumaanamnese (Kausalitätsbedürfnis) eine Osteomyelitis oder zystische Knochentumoren in Frage. Therapie Die vordere SC-Luxation wird in der Regel
konservativ frühfunktionell durch symptomatische Ruhigstellung behandelt, wenn auch nicht immer mit gutem kosmetischen Ergebnissen. Bei chronischen Schmerzzuständen muss auch hier über eine mediale Clavivulateilresektion und Kapsel/Bandplastik nachgedacht werden (Literatur: BAe, DS, JPO, Vol. 30, No. 2, March 2010). Die noch selteneren posterioren Verletzungen werden offen reponiert und eine Rekonstruktion des Bandapparats, z. B. mit Fadenankersystemen, oder auch mit freien Sehnentransplantaten durchgeführt. Arthrodesierende Verfahren sollten nach Möglichkeit vermieden werden.
14.3
Schulterblattfrakturen (Skapulafrakturen)
14.3.1
Häufigkeit und Pathogenese
a
Die Skapula wird bei Kindern und Jugendlichen sehr selten verletzt, da sie gut von schützender Muskulatur bedeckt ist und nachgiebig und verschieblich auf der Thoraxwand aufliegt. Auch ist die Skapula im Kindesalter lange knorpelig und damit kaum frakturgefährdet. Im Rahmen von Rasanztraumen bei größeren Kindern kann die Skapula bei Thoraxverletzungen beteiligt sein. Solche Läsionen werden häufig erst verspätet festgestellt, da die Klinik und Behandlungsnotwendigkeit der schweren Kopf-, Höhlenund Extremitätenverletzungen im Vordergrund stehen.
14 b . Abb. 14.3a,b Klavikulafraktur bei einem 14-jährigen EishockeySpieler. a Verkürzung und drohende Hautverletzung ergeben die Operationsindikation. b Postoperative Röntgenkontrolle nach ESINVersorgung von medial
letzungen), echte posteriore Luxationsverletzungen sehr selten.
14.3.2
Klassifikation
Die Klassifikation der AO (Region 14) beschreibt Frakturen extraartikulär, mit teilweiser Gelenkbeteiligung und mit kompletter Gelenkbeteiligung. Die extraartikulären Frakturen betreffen das Korakoid, das Akromion und den Schulterblattkörper.
Diagnostik
Diagnostik Aufgrund der möglichen Organschäden ist der
14.3.3
Nachweis und die Differenzierung dieser Verletzung von großer Bedeutung, ggf. unter Verwendung weiterer Bildgebung. Hier muss dann sogar bei fehlenden radiologischen Zeichen der Fraktur, aber klassischer Symptomatik mit ausgeprägter Schwellung und lokaler Schmerzhaftigkeit und Bewegungsschmerz eine Sonographie, ein MR oder CT erfolgen, da die Nativröntgenuntersuchung bei vielfacher Überlagerung durch Thoraxstrukturen keine diagnostische
Wegweisend kann bereits ein einfaches a.p. Röntgenbild sein. Wegen der individuellen Verteilung der Ossifikationskerne an der Skapula z. B. im Bereich des Akromion, des Processus coracoideus (. Abb. 14.4) wie auch des Glenoids ist die Diagnostik von Frakturen erschwert und bedarf oft der zusätzlichen bildgebenden Verfahren wie MR oder auch CT.
245 14.4 · Schultergelenkluxationen (glenohumerale Dislokationen)
. Abb. 14.4 Abrissfraktur des Korakoids ohne wesentliche Dislokation bei einem 12-jährigen Patienten. Häufig führen Ossifikationskerne bei jüngeren Patienten zu Fehldiagnosen
. Abb. 14.6 Skapulafraktur mit Glenoidbeteiligung ohne wesentliche Dislokation bei 15-jährigem Patienten. Die Frakturlinie verläuft parallel zur Spina scapulae, das kraniale Fragment beinhaltet auch den Processus coracoideus, was zur Dislokation durch Sehnenzug der Bizeps- und Pektoralissehne führen kann
14.3.4
Therapie
Die Therapie der Skapulablattfrakturen (. Abb. 14.5) ist konservativ. Selten wird der glenoidtragende Gelenkteil der Skapula bei direktem Trauma beim Sport oder Stürzen (auch bei Kindesmisshandlung) und noch seltener als Abrissfraktur verletzt (. Abb. 14.6). Hier sind bei deutlicher Dislokation großer kranialer oder kaudaler Fragmente operative Maßnahmen zur Wiederherstellung der Gelenkkongruenz angezeigt.
. Abb. 14.5 Skapulablattfraktur im Rahmen einer Rasanzverletzung bei einem 8-jährigen Patienten
14.4
Schultergelenkluxationen (glenohumerale Dislokationen)
14.4.1
Pathogenese, Ursachen und Häufigkeit
Das Schultergelenk besteht aus Kugel und Pfanne, wobei die relativ kleine Pfanne durch das fibrokartilaginäre Labrum überhöht und vergrößert wird. Das Schultergelenk wird durch Verstärkungen der Kapsel und die glenohumerale Bänder statisch durch Muskeln und Sehnen der Rotatorenmanschette und die lange Bizepssehne dynamisch stabilisiert. Die ausgeprägte Beweglichkeit des Schultergelenks geht auf Kosten der Stabilität, so dass das Schultergelenk das am häufigsten luxierte große Gelenk darstellt. Endgradige Außenrotations-Abduktionstraumen bei Sturz und Sport führen zu Luxationen. Bei Kindern mit offenen Fugen ist allerdings die Epiphysenregion des Oberarms sehr verletzungsgefährdet. Auf Zug und Scherung sind Fugen weniger widerstandsfähig als die elastischeren
14
246
Kapitel 14 · Schultergürtel
Gelenkbänder, so dass es bei entsprechenden Bewegungen eher zu Fugenlösungen kommt (7 Kap. 15). Glenohumerale Luxationen sind im ersten Lebensjahrzehnt Raritäten (<2%), hier stehen bei Schulterverletzungen die proximalen Humerusfrakturen an der Wachstumsfuge im Vordergrund. Danach nimmt die Häufigkeit bis zum Ende des 2. Jahrzehnts deutlich zu, um hier die höchste Inzidenz während des aktiven Lebens zu erreichen. Die schlechte Prognose der konservativ behandelten Schulterluxation im späteren Kindes- und Adoleszentenalter ist zuletzt Anlass für eingehende Studien und daraus folgend für ein zunehmend invasiveres Vorgehen zur Vermeidung von rezidivbedingten Funktionsstörungen gewesen. Kinder unter 10 Jahre haben eher atraumatische, multidirektionale oder willkürliche Instabilitäten.
14.4.2
14
. Abb. 14.7 Dislozierte Labrumabscherung bei Schulterluxation bei einem 16-jährigen Leistungssportler. Arthroskopisches Bild unter Luftinsufflation des Gelenkes
Verletzungsmechanismus
Bei der Verrenkung werden die Gelenkflächen von Humeruskopf und Glenoid vollständig voneinander getrennt. Bei entsprechendem Unfallereignis im Rahmen eines akuten sportlichen oder Sturz-Geschehens auf die ausgestreckte Hand wird die Verrenkung als traumatische Luxation bezeichnet. Es kommt bei einer typischen vorderen unteren Luxation nach Separation der Gelenkflächen zu einem Verkeilen des Oberarmkopfes unter dem vorderen unteren Glenoidrand und zu einem Abscheren des Labrums (. Abb. 14.7) in diesem Bereich mit gleichzeitiger Läsion der glenohumeralen Bänder und damit der Gelenkkapsel (Bankart-Läsion). An der Impaktierung des Oberarmkopfes mit dem Pfannenrand entsteht eine knöcherne Impression, die Hill-Sachs-Delle dorsokranial (. Abb. 14.8). Eine solche traumatische Luxation reponiert nur in seltensten Fällen spontan. Daher beweist die Notwendigkeit manipulativer Reposition und die dorsale Impression die traumatische Genese der Verrenkung und ist von großer differenzialdiagnostischer Bedeutung gegenüber anderen Formen der Schulterinstabilitäten. Hintere Luxationen können unter anderem durch Grand-mal-Anfälle verursacht sein.
14.4.3
Luxationsformen
Neben der antero-inferioren Luxation gibt es als zweite traumatische (sehr seltene) Hauptentität die bedeutend schwieriger und daher oft erst spät diagnostizierte hintere Luxation (. Abb. 14.9). Als Differenzialdiagnose müssen habituelle und die bei jüngeren Kindern nicht so seltene willkürliche Luxation ausgeschlossen werden, da sie sowohl bezüglich Diagnostik als auch Therapie anderen
. Abb. 14.8 Anterior-inferiore Schulterluxation bei einem 14-jährigen Patienten. Deutlich sichtbar die Hill-Sachs-Impression des Oberarmkopfes durch den unteren Pfannenrand
Regeln gehorchen. Als Ursachen werden diskutiert: anatomische Variationen des Intervalls zwischen Subscapularisund Supraspinatus-Sehnen, neuromuskuläre Störungen und Anlagestörungen der bindegewebigen Stabilisatoren (Laxität) und bei willkürlichen Luxationen auch psychische Alterationen.
247 14.4 · Schultergelenkluxationen (glenohumerale Dislokationen)
14.4.4
Diagnostik
Klinik Die Patienten werden mit einer typischen Anam-
nese eines akuten traumatischen Ereignisses vorgestellt, nach dem die Funktionsfähigkeit des betroffenen Armes schmerzhaft und massiv eingeschränkt ist. Die klinische Präsentation zeigt typischerweise eine Fehlhaltung in der Schulter mit leichter Abduktion und Außenrotation. Diese Position ist federnd fixiert durch Inkarzeration des Oberarmkopfes unter dem vorderen Pfannenrand. Der Kopf lässt sich bei schlanken Patienten unterhalb des Korakoids als Vorwölbung tasten. Zudem findet sich eine tastbare Lücke unterhalb des Akromions. Hintere Luxationen sind vor allem an der aufgehobenen Rotation und leichter Adduktion zu erkennen. Hier ist der Oberarmkopf nicht palpabel, die Schulterkontur ventral aber flach mit prominentem Korakoid (. Abb. 14.9). Röntgendiagnostik Eine Nativ-Röntgenaufnahme a.p. zeigt die vordere-untere Luxation bereits zuverlässig.
Es sollten aber bei geringster Unsicherheit Röntgenaufnahmen in mindestens 2 Ebenen durchgeführt werden: »Wahre (true)« a.p. Aufnahme der Schulter und axiale Aufnahme oder Y-Aufnahme (Skapula-Tangentialaufnahme). Bei sehr jungen Kindern mit noch rein knorpelig angelegtem Oberarmkopf ist die Differenzierung zwischen Epiphyseolyse und Schulterverrenkung nicht möglich. Hier müssen Sonographie oder MR zur Diagnosefindung beitragen. Bei der sehr viel selteneren hinteren Luxation führt das vordergründig unauffällige a.p. Röntgen häufig zur Verkennung der Verletzung, weil der Oberarmkopf sich in gleicher Höhe wie das Glenoid projeziert. Nur der selbst auf präzise eingestellten Projektionen nie frei zu projezierende Gelenkspalt lässt den Verdacht auf Vorliegen einer hinteren Luxation aufkommen. Hier kann nur mit Hilfe der axialen Aufnahme die zutreffende Diagnose gestellt werden. Ergänzend können hier MR oder CT notwendig sein. > Nach der Reposition ist sofort eine Röntgenkontrolle in 2 Ebenen durchzuführen.
Zur Identifizierung einer Labrumpathologie (einer Bankart-Läsion) bei definitiver Luxation ist zur Planung therapeutischer Maßnahmen nach der notfallmäßigen Reposition eine MR-Untersuchung angezeigt.
. Abb. 14.9 Posteriore (willkürliche) Luxation bei einem 11-jährigen Patienten. Deutlich die Einziehung um den prominenten Processus coracoideus und der dorsal vorragende Kopf durch den dünnen M. deltoideus. Das Lochmuster auf der Haut resultiert durch einen ruhigstellenden Verband
tive Gelenkveränderungen vor allem bei sportlichen Kindern und Jugendlichen zur Folge hat. Jüngere Studien bestätigen nun auch die bereits bei jungen Erwachsenen gemachten Erfahrungen (Bishop et al. 2005; Lawton et al. 2002; Robinson et al. 2009): Es muss bei Adoleszenten von Rezidivraten zwischen 70% und 100% nach traumatischer Erstluxation ausgegangen werden. Für die geringere Rezidivhäufigkeit bei jüngeren Kindern (unter 12–14 Jahren) gibt es zwei Erklärungen: Postacchini (findet bei Kindern unter 13 Jahren 33% Rezidive [vs. 92% bei älteren Jugendlichen]) vermutet eine höhere Elastizität der Kapsel bei jüngeren Patienten (Postacchini et al. 2000), Rockwood und Matsen beschreiben eine lateralere Insertion der Kapsel am Glenoid und damit einen kleineren Kapselrezessus (Rockwood u. Matsen 1990).
14.4.6 14.4.5
Komplikationen
Die wichtigste Komplikation der traumatischen Schulterluxation ist ihr Rezidiv, das wesentliche funktionelle Einschränkungen, Schmerzen und möglicherweise degenera-
Therapie
Akutbehandlung Notfallmäßig hat bei der traumatischen vorderen Schulterluxation eine Reposition zu erfolgen. In einigen Fällen hat ein erfolgreicher Repositionsversuch bereits am Spielfeldrand durch einen medizinisch versierten Trainer oder
14
248
Kapitel 14 · Schultergürtel
Sanitäter stattgefunden. Je mehr Zeit nach dem Trauma verstreicht, desto schwieriger wird die Reposition aufgrund der zunehmenden Muskelspannung. In der Klinik sollte dann die Reposition mindestens in Analgosedierung oder auch in Vollnarkose erfolgen. Repositionstechniken 4 Nach Arlt im Sitzen: den leicht abduzierten Arm über ein gepolstertes Hypomochlion lagern, langsam und kontinuierlich am gebeugten Unterarm ziehen, kurze Außenrotationsbewegung 4 Nach Hippokrates in Rückenlage mit der Ferse des Operateur in der Achselhöhle des Patienten als Hypomochlion 4 Nach Milch mit Manipulation am Arm in Rückenlage
> Es sind die schonendsten Methoden zu verwenden, die den geringsten Sekundärschaden an Gelenkknorpel, Labrum und Kapsel setzen, was brüske Manipulationen ausschließt. Gröbere Kraftanwendung muss vermieden werden, um sekundäre Lyseverletzungen der proximalen Humerusfuge zu vermeiden.
14
Seltene irreponible Luxationen z. B. durch Interposition der Bizepssehne müssen notfallmäßig offen über einen deltoideopektoralen Zugang reponiert werden. Hintere Luxationen erfordern vor allem eine Narkose und Relaxierung und seitlichen Zug über ein Hypomochlion an der Thoraxwand. Der Oberarmkopf ist immer in Form einer inversen Hill-Sachs-Delle impaktiert.
nelle Einschränkungen der Schulter sind. Ein Großteil der Patienten mit Rezidiven erleiden trotz Reduktion der körperlichen Aktivitäten mehrfache Rezidive. Aber selbst Patienten, die weder ein Rezidiv erleiden noch operativ wegen eines Rezidivs stabilisiert werden müssen, erreichen die volle Funktionalität nicht wieder. Das höchste Risiko haben männliche Adoleszente. Die Literatur zeigt, dass die Rezidivrate bis zu 100% beträgt, und dass es auch nach operativer Stabilisierung in unterschiedlicher Technik zu z. T. deutlichen Funktionseinschränkungen kommen kann. Es wird auf die hohe Rezidivrate bei konservativem Vorgehen bei Adoleszenten mit geschlossenen Fugen und auf die Möglichkeit operativer Stabilisierung mit arthroskopischen Verfahren hingewiesen, die derzeit die besten Erfolgsquoten bezüglich der Rezidivverhinderung und des Funktionserhaltes haben. Dies gilt allerdings nur bei klassischen traumatischen Luxationen mit radiologischem Nachweis der primären Luxation und einer assoziierten Hill-SachsDelle. Bei jungen Athleten sollte zur Vermeidung unnötiger monatelanger Einschränkungen sportlicher Aktivitäten und bei dem zu erwartenden Fehlschlag der konservativen Maßnahmen die aufgeschoben primäre Stabilisierung erfolgen. Hierzu wird nach kurzer Ruhigstellung die volle Funktionsfähigkeit der Schulter erreicht und dann wenige Wochen nach dem Primärtrauma operiert. Eine abwartende Haltung ist heute nicht mehr zu vertreten.
Operative Therapie Als operatives Konzept hat sich die arthroskopische Refixation des anterior-inferioren Labrums mit Kranialisierung der Kapsel mit den Ligamenta glenohumeralia durch resorbierbare Nahtanker bewährt (. Abb. 14.10).
Weiterbehandlung Nach der schonenden Reposition erfolgt bei allen Patienten zur konservativen Therapie eine 3-wöchige Ruhigstellung in Außenrotatationsposition. Hierbei finden die Kapsel und das Labrum nach aktuellen Studien eine wesentlich stabilere Annäherung an den knöchernen Pfannenrand (Itoi 2007). Als Hilfsmittel der Ruhigstellung dienen dabei spezielle Schienen. Ob dadurch diese nichtoperative Therapie eine höhere Rezidivfreiheit erreicht, bleibt durch weitere Studien zu klären. Begleitende Physiotherapie ist notwendig.
Therapeutisches Generalkonzept bei Adoleszenten Es wird mit Patienten am Ende des Wachstumsalters und deren Angehörigen ein Gespräch über die insgesamt eingeschränkte Prognose der Verletzung geführt. Es wird dabei aufgezeigt, dass die wichtigsten Komplikationen der Luxation einerseits ihr Rezidiv und andererseits funktio-
. Abb. 14.10 Arthroskopische Nahtankerversorung einer BankartLäsion. Kaudal ist der Knoten schon in situ, kranial wird eben der resorbierbare Anker eingeschlagen
249 14.5 · Rotatorenmanschettenruptur
die funktionelle Rehabilitation nehmen, die nach 2–3 Wochen Ruhigstellung im Gilchrist-Verband beginnt. Literatur
. Abb. 14.11 MR: Rupturbereich der Subscapularis-Sehne durch maximale Außenrotation-Abduktion. 12-jähriger Judoka bei einem Wettbewerb
14.5
Rotatorenmanschettenruptur
Als Differenzialdiagnose bei forciertem Schultergelenkstrauma während sportlicher Betätigung in AußenrotationAdduktion ohne nachweisbare Verrenkung muss die sehr seltene inkomplette oder komplette Ruptur der Subscapularis-Sehne ausgeschlossen werden, über die Einzelfallbeschreibungen und eigene Erfahrungen vorliegen. Die Verletzung ereignet sich bei Inlineskatern, Snowboardfahren und z. B. beim Judo. Verletzungen der ventralen Anteile der Supraspinatus-Sehne sind noch wesentlich seltener, werden aber nach den gleichen Prinzipien diagnostiziert und ggf. operativ therapiert.
14.5.1
Diagnostik
Klinisch ist neben einer erheblichen lokalen Schmerzhaftigkeit über dem Tuberculum minus der Lift-off-Test positiv, d. h. der Patient kann in maximaler Innenrotation des Armes vom Rücken abgehobene Hand (»lift off«) nicht halten, sie fällt auf den Rücken zurück. Auch ist die Innenrotationskraft massiv eingeschränkt, passiv die Außenrotation vermehrt. Zur Diagnostik kann die Sonographie schon Wesentliches beitragen, es ist aber auf jeden Fall eine Kernspinuntersuchung angezeigt (. Abb. 14.11).
14.5.2
Therapie
Die Behandlung erfordert bei kompletter Ruptur eine frühzeitige operative Revision und Nahtankerrefixierung der Sehne. Inkomplette Verletzungen können konservativ und frühfunktionell behandelt werden. Engmaschige sonographische Kontrollen der Sehnenheilung können Einfluss auf
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14
250
Kapitel 14 · Schultergürtel
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14
15
Oberarm S. David, K. Dragowsky
15.1
Proximale Humerusfrakturen
15.1.1 15.1.2 15.1.3 15.1.4 15.1.5 15.1.6 15.1.7 15.1.8 15.1.9 15.1.10 15.1.11 15.1.12
Entwicklung und Wachstum – 252 Klassifikation – 252 Häufigkeit und Ursachen – 252 Klinik und Erstversorgung – 252 Diagnostik – 253 Therapieziel – 253 Therapieindikation – 253 Durchführung der konservativen Therapie – 254 Durchführung der operativen Therapie – 260 Kontrollen und Nachbehandlung – 263 Ergebnisse und Prognose – 263 Intra-und postoperative Komplikationen – 263
15.2
Humerusschaftfrakturen
15.2.1 15.2.2 15.2.3 15.2.4 15.2.5 15.2.6 15.2.7 15.2.8 15.2.9 15.2.10
Klassifikation, Häufigkeit und Ursachen – 264 Klinik und Erstversorgung – 264 Diagnostik – 264 Therapieziel – 264 Therapieindikation – 264 Durchführung der konservativen Therapie – 265 Durchführung der operativen Therapie – 265 Kontrollen und Nachbehandlung – 265 Ergebnisse und Prognose – 275 Intra- und postoperative Komplikationen – 275 Literatur
– 275
– 252
– 264
252
Kapitel 15 · Oberarm
15.1
Proximale Humerusfrakturen
15.1.1
Entwicklung und Wachstum
Zum Zeitpunkt der Geburt sind sowohl diaphysäre als auch metaphysäre Bereiche des Humerus ossifiziert, die sekundären Ossifikationszentren von proximalem und distalem Oberarm entwickeln sich erst nach der Geburt. Typischerweise erscheinen und vereinigen sich die proximalen Humerusknochenkerne wie folgt: 4 Entstehen des Humeruskopfzentrums: Geburt bis 1. Lebensjahr 4 Erscheinen des Tuberculum majus: 7. Monat bis 3. Lebensjahr 4 Erscheinen desTuberculum minus: bis zum 5. Lebensjahr 4 Verschmelzung der drei Knochenkerne: 5.–7. Lebensjahr 4 Verschluss der proximalen Wachstumsfuge Mädchen: 14.–17./Junge: 16.–18. Lebensjahr Die proximale Wachstumsfuge ist zu 80% am Längenwachstum des Oberarms beteiligt. Da die Kortikalis im Bereich der Metaphyse relativ dünn ist, sind vor allem hier Frakturen zu erwarten.
15.1.2
15
Klassifikation
Man beobachtet in 1/3 der Fälle Epiphysenlösungen, meist mit metaphysärem Keil (Typ Salter-Harris II bzw. Aitken I). Betroffen sind vor allem Adoleszente. In 2/3 der Fälle findet man rein metaphysäre Frakturen. Gelenkfrakturen (also rein epiphysäre Frakturen) oder auch epimetaphysäre Frakturen sind extrem selten, ebenso Ausrisse der Tuberkula (Knorr et al. 2005). Diese finden sich bei Adoleszenten. Im Rahmen der Geburt können in seltenen Fällen Epiphysenlösungen auftreten (Michael u. Gossmann 2008).
. Tab. 15.1 Einteilung der proximalen epiphysären Humerusfrakturen nach Neer und Horwitz (1965) Grad der Dislokation
Ausmaß der Dislokation
I
Unter 5 mm
II
Bis 1/3 Schaftbreite
III
Bis 2/3 Schaftbreite
IV
Über 2/3 Schaftbreite bis vollständige Dislokation
Zur Klassifikation der Wachstumsfugenverletzungen wird die bekannte Einteilung nach Salter-Harris oder Aitken genutzt. Ihr Nachteil besteht jedoch darin, dass keine Aussage über das Dislokationsausmaß getroffen wird. Dies ist für die weitere Behandlung jedoch wichtig. Eine Einteilung, die das Ausmaß der Dislokation berücksichtigt, jedoch im deutschsprachigen Raum wenig genutzt wird, existiert von Neer und Horwitz (1965) (. Tab. 15.1). Einen 5- bzw. 6-stelligen Frakturkode hat die AO Paediatric Expert Group (PAEG) entwickelt (Slongo u. Audige 2006). Sie differenziert die Epiphyseolysen (11-E) von den metaphysären Frakturen (11-M2).
15.1.3
Häufigkeit und Ursachen
Proximale Humerusfrakturen sind selten. Sie machen etwa 4–5% aller Frakturen aus (Kraus et al. 2005), ca. 40% aller Frakturen des Oberarms betreffen den proximalen Abschnitt. Frakturen des proximalen Humerus entstehen durch direkte Traumata z. B. im Rahmen von Verkehrsunfällen. Unfallursache kann auch ein indirekter Mechanismus mit Abstützen des Arms nach hinten sein (z. B. Stürze aus größerer Höhe vom Klettergerüst, Baum, Pferd). Es besteht mit einem ersten Altersgipfel um das 3. Lebensjahr, ein zweiter Altersgipfel ab dem 12. Lebensjahr. Gedacht werden sollte als Verletzungsursache auch an Geburtstraumata (s. oben) und besonders an Kindesmisshandlungen. Offene Frakturen oder Gefäß- und Nervenverletzungen sind sehr selten.
15.1.4
Klinik und Erstversorgung
Das klinische Bild der Verletzung differiert je nach Alter. Besonders bei Neugeborenen, Säuglingen und Kleinkindern ist es oft schwierig, die Diagnose zu stellen. Zu erwarten ist eine Schonhaltung bis hin zur Pseudoparalyse, eine geburtstraumatische Armplexuslähmung ist auszuschließen. Bei älteren Kindern findet man eine Schwellung, ggf. Deformierung der Schulter und eine schmerzhafte Bewegungseinschränkung. > Zur Erstversorgung sollte das Kind angehalten werden, den Oberarm am Körper zu halten. Günstig ist die Ruhigstellung des Arms in einem Tragetuch, in das der angewinkelte Unterarm gelegt wird.
H.G. Dietz et al. (Hrsg.), Praxis der Kinder-und Jugendtraumatologie, DOI 10.1007/978-3-642-12935-3_15, © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2011
253 15.1 · Proximale Humerusfrakturen
15.1.5
Diagnostik
Neben dem Erheben der Anamnese und der Inspektion (Schwellung, Unterblutung der Weichteile/Hämatom) besteht diese in der Überprüfung der intakten peripheren Durchblutung, Sensibilität und Motorik. Schwierig ist die klinische Diagnostik einer bei vollständig dislozierter Fraktur im Bruchspalt eingeklemmten langen Bizepssehne (Lucas et al. 2006). Zur Standardröntgendiagnostik gehört neben einer Schultergelenksaufnahme in der a.p. eine axiale Ebene (ggf. durch den Arzt gehalten). Alternativ ist als 2. Ebene eine exakte Y-Aufnahme zu fordern (Schmittenbecher et al. 2004). Transthorakale Aufnahmen (Klohs et al. 2000) sind wegen der sehr eingeschränkten Beurteilbarkeit und der Strahlenbelastung obsolet. Eine weiterführende Diagnostik mit Sonografie, CT oder MRT ist entbehrlich. Die proximale Humerusepiphyse stellt sich im Röntgenbild in der a.p. Ebene zeltförmig und in der seitlichen Ebene proximal-konvex dar. Aufgrund der anfänglich bestehenden 2–3 Knochenkerne besteht die Gefahr der Fehlinterpretation als unverschobene Fraktur. Auch die besondere Form der Epiphysenfuge kann in der Differenzialdiagnostik zur Fraktur Schwierigkeiten bereiten. Bei inadäquatem Trauma ist an eine pathologische Fraktur (z. B. bei juveniler, aber auch aneurysmatischer Knochenzyste) zu denken.
15.1.6
Therapieziel
4 Kinder über 10 Jahre: bis zu folgenden Grenzen: – Dislokation bis halbe Schaftbreite – Achsfehler bis 20° Varus/Ante-Rekurvation – Valgus bis 10°
Absolute Indikationen zur operativen Therapie unabhängig von Alter 4 4 4 4
Offene Fraktur Gefäß- oder Nervenverletzung Einklemmung der langen Bizepssehne in der Fraktur Pathologische Fraktur: zweizeitiges Vorgehen mit Probeexzision zum Ausschluss eines malignen Tumors bei unklarem radiologischen Befund
Relative Indikationen zur operativen Therapie 4 Polytrauma aus Lagerungs-/Pflegegründen 4 Mehrfachverletzung mit Beteiligung der Beine zur besseren Mobilisierung
Gelegentlich ist mit den Eltern aus Komfortgründen (Ruhigstellung im Verband im Sommer, hohes Körpergewicht), aber auch wegen des Vorteils einer sofortigen frühfunktionellen Behandlung und schnelleren Schmerzfreiheit eine operative Therapie abweichend von oben angegebenen Vorschlägen zu diskutieren.
Ziel der Behandlung ist eine zügige Schmerzfreiheit und die vollständige Wiederherstellung der freien Schulterfunktion sowie ein symmetrischer Schultergürtel.
15.1.7
Therapieindikation
Das Korrekturpotenzial ist enorm! Deshalb kann in sehr vielen Fällen trotzt erheblicher Dislokation der Fraktur ohne spätere funktionelle Einschränkungen konservativ behandelt werden. Die Entscheidung zur Operation ist abhängig vom Alter des Kindes (verbleibendes Korrekturpotenzial) und den Begleitverletzungen/-umständen. Indikationen zur konservativen Therapie 4 Kinder bis 10 Jahre: bis zu folgenden Grenzen: – Vollständige Dislokation – Verkürzung – Achsfehler bis 45° Varus/Ante- und Rekurvation ab dem Schulalter nach Reposition in der Narkose – Achsfehler bis 10° Valgus 6 . Abb. 15.1 3-jähriger Junge mit angelegtem Gilchrist-Verband
15
254
Kapitel 15 · Oberarm
15.1.8
Durchführung der konservativen Therapie
Der betroffene Arm wird in einem Desault-, besser einem Gilchrist-Verband ruhiggestellt (. Abb. 15.1). Regelmäßig erfolgen Kontrollen der Durchblutung, Sensibilität und Motorik. Die Ruhigstellungsdauer orientiert sich an den
15
Schmerzen des Kindes und überschreitet selten 14 Tage. Das Kind wird ermuntert, den Arm – soweit es die Schmerzen zulassen – zu benutzen. Eine Krankengymnastik ist unnötig. Die Fehlstellungen werden der spontanen Korrektur überlassen. Mit einer Frakturkonsolidierung ist durchschnittlich nach 4–6 Wochen zu rechnen (. Abb. 15.2 bis . Abb. 15.4; David et al. 2006, Fernandez et al. 2008).
a
c
b
d
. Abb. 15.2a–i 14-jähriger Patient, Verkehrsunfall. Operative Stabilisierung indiziert, jedoch aufgrund des Gesamtzustandes (SHT III°) nicht möglich. Im Verlauf knöcherne Konsolidierung in Fehlstellung. a,b Vollständig dislozierte metaphysäre Fraktur links, konservative
Therapie. c,d Röntgenkontrolle nach 8 Wochen, deutliche Konsolidierungszeichen, typische Abduktionsstellung des proximalen Fragmentes
255 15.1 · Proximale Humerusfrakturen
e
f
g
h
i
. Abb. 15.2e–i Röntgenkontrolle und klinischer Befund nach 19 Monaten, Fraktur in mäßiger Varus- und Antekurvationsstellung verheilt, schon deutliche Resorption und »Glättung« des Schaftfrag-
mentes, bis auf dezentes, subjektiv nicht störendes Abduktionsdefizit keine funktionellen Einschränkungen im Schultergelenk
15
256
Kapitel 15 · Oberarm
15 a
c
b
d
. Abb. 15.3a–g 13-jährige Patientin, Verkehrsunfall. a,b Mäßig dislozierte Aitken-I-Fraktur des proximalen Humerus links, konservative Therapie. e–g Röntgen- und klinische Kontrolle nach 6 Wochen,
Fraktur achsgerecht konsolidiert, völlig freie und schmerzlose Funktion im linken Schultergelenk
257 15.1 · Proximale Humerusfrakturen
f
e
g
. Abb. 15.3e–g Röntgen- und klinische Kontrolle nach 6 Wochen, Fraktur achsgerecht konsolidiert, völlig freie und schmerzlose Funktion im linken Schultergelenk
15
258
Kapitel 15 · Oberarm
a
c
b
d
15
. Abb. 15.4a–d 15-jähriger Patient, Verkehrsunfall. a,b Mäßig dislozierte Aitken-I-Fraktur proximaler Humerus rechts, konservative Be-
handlung. c–d Röntgenkontrolle nach 3 Wochen, gute spontane Reposition der Fraktur, deutliche Kallusbildung
259 15.1 · Proximale Humerusfrakturen
e
g
f
. Abb. 15.4e–g Klinische Kontrolle nach 3 Wochen, bereits fast freie Funktion im rechten Schultergelenk
15
260
Kapitel 15 · Oberarm
15.1.9
Durchführung der operativen Therapie
4 Empfohlen wird eine Lagerung in Beach-chairPosition mit Ablegen des Unterarms auf einer Armstütze oder auf dem vollständig durchleuchtbaren Karbontisch. 4 Die Stabilisierung erfolgt mit 2 retrograden Nägeln. Dazu 2 unabhängige Perforationen von radial über einen Hautschnitt angelegt (Cave: Verletzung N. radialis und ulnaris!). Die Nägel werden bis zur Fraktur vorgeschlagen, die Fraktur reponiert (s. oben) und die Nagelenden im Idealfall aufspreizend in der Epiphyse verankert, eine Kopfkortikalisperforation muss vermieden werden. Wachstumsstörungen durch die Fugenperforation wurden bisher nicht berichtet. 4 Die Nagelenden werden ausreichen kurz und ohne die Weichteile zu irritieren abgekniffen. 4 Offene Repositionen sind die Ausnahme. Sie sind notwendig, wenn die Fraktur wegen einer eingeschlagenen langen Bizepssehne nicht reponierbar ist (Schwendenwein et al. 2004), diese Fälle sind selten und nur bei vollständiger Dislokation des Schaftfragmentes nach ventral zu erwarten (. Abb. 15.5; Lucas et al. 2004).
Ziel ist eine achsgerechte Stabilisierung der Fraktur mit schnellem Erreichen der Übungsstabilität. Einer Reposition in Narkose sollte sich zur Frakturretention immer auch eine operative Therapie anschließen (Schmittenbecher et al. 2004). Hierzu eignet sich als Methode der Wahl die elastische stabile intramedulläre Nagelung (ESIN) mit 2 Nägeln (Sessa et al. 1990). Die Vorteile bestehen im einfachen, komplikationsarmen und weichteilschonenden sowie kosmetisch günstigen Verfahren, allerdings ist der Nachteil der späteren Metallentfernung in Narkose zu berücksichtigen. Eine seltene Notfallindikation zur Operation besteht bei offenen Frakturen oder primärem Gefäß-oder Nervenschaden.
4 Die typische Dislokation des proximalen Hauptfragmentes in Abduktion/Außenrotation kann eine geschlossene Reposition erschweren. Das Einrichten der Fraktur wird demzufolge unter Längszug in Abduktion/leichter Außenrotation/ leichter Flexion im Gelenk vorgenommen. 6
15
b
a
. Abb. 15.5a–e 11-jähriger Patient, Verkehrsunfall. a,b Um Schaftbreite dislozierte und verkürzte metaphysäre Fraktur links, klinisch Hinweis auf Einklemmung der langen Bizepssehne in der Fraktur
261 15.1 · Proximale Humerusfrakturen
d
c
e
. Abb. 15.5c–e c,d Postoperative Röntgenbilder, nach geschlossenem Repositionsversuch offene Reposition, der klinische Verdacht be-
stätigte sich, Stabilisierung mit doppelter retrograder ESIN. e Nach 16 Monaten Metallentfernung, klinisch freie Gelenkfunktion
15
262
Kapitel 15 · Oberarm
Zu den Verfahren der 2. Wahl gehört die Kirschner-Drahtspickung. Ihre Nachteile bestehen u. a. in der geringeren Stabilität, der notwendigen Ruhigstellung – insbesondere bei der obsoleten transakromialen Technik (Jaschke et al. 1981)
a
–, der Perforationsgefahr der Drähte in das Gelenk und häufigen Weichteilirritationen. Auch die Plattenosteosynthese mit dem Nachteil des erheblicheren operativen Weichteiltraumas gehört zu den Reserveverfahren (. Abb. 15.6).
c
15
d
b . Abb. 15.6a–e 16-jähriger Patient, Sturz von einem Baum. a,b Vollständig dislozierte metaphysäre Fraktur rechts. c,d Entschei-
dung zur offenen Reposition und extraepiphysären winkelstabilen Plattenosteosynthese
263 15.1 · Proximale Humerusfrakturen
15.1.10
Kontrollen und Nachbehandlung
Eine Ruhigstellung des Arms nach der Operation ist allenfalls kurz notwendig. Das Kind kann und soll den Arm zügig und uneingeschränkt einsetzen, eine Physiotherapie erübrigt sich, Sport ist ab der vollendeten 4. Woche ohne Einschränkungen möglich. Neben der postoperativen Röntgendokumentation auf dem Operationstisch oder am Tag nach der Operation sind weitere Kontrollen erst nach 4–6 Wochen und vor der Metallentfernung nach 6 Monaten ausreichend.
15.1.11
Ergebnisse und Prognose
Die Ergebnisse der konservativen Therapie sind sehr gut, Komplikationen sind selten (z. B. Cavaglia et al. 2005; Müller 2005; Shrader 2007). Aufgrund des hohen Korrekturpotenzials sind relevante Fehlstellungen kaum zu erwarten oder sie werden durch die 3 Funktionsebenen des Schultergelenks ausgeglichen und sehr gut toleriert. Armlängenunterschiede aufgrund eines vorzeitigen Fugenverschlusses sind die Ausnahme (Neer u. Horwitz 1965), meist funktionell unbedeutend (Shrader 2007) und fast nie so ausgeprägt, dass ein kosmetisches Problem resultiert (Beaty 1992).
15.1.12
e . Abb. 15.6e Röntgenkontrolle nach Metallentfernung 9 Monate später, achsgerechte Konsolidierung der Fraktur, klinisch freie Funktion im Schultergelenk
Bei pathologischen Frakturen aufgrund einer juvenilen Knochenzyste empfehlen wir die Stabilisierung mittels retrograder ESIN. Bei unklarem radiologischen Befund sollte zum Ausschluss eines malignen Tumors (z. B. teleangiektatisches Osteosarkom, »aneurysmal bone cystlike osteosarkoma«) immer eine Biopsie aus dem betroffenen Bezirk und ein zweizeitiges Vorgehen erfolgen (Linhart et al. 2002). Das Metall verbleibt in diesen Fällen länger als üblich in situ bis zur sicheren Zystenheilung (. Abb. 15.13).
Intra-und postoperative Komplikationen
Beim operativen Eingriff mittels ESIN sind neben Infektionen und Nervenschäden an der Einschlagstelle der Nägel (N. radialis!) Probleme durch Nagelperforationen in das Schultergelenk, ein Zurückgleiten der Nägel oder eine unzureichende Fixierung der Fragmente zu erwarten. Knorr et al. (2005) berichten bei 29 mittels ESIN operierten proximalen Oberarmfrakturen von 4 Reoperationen aufgrund einer sekundären Dislokation. Weichteilirritationen durch die Nagelnden geben sich nach der Metallentfernung vollständig (. Abb. 15.13). Bei Plattenosteosynthesen sind die diesem Verfahren eigenen Komplikationen zu beachten (Weichteiltrauma, zugangsbedingte Begleitverletzungen, Wundinfektion, Narbenbildung, ggf. Bewegungseinschränkungen). Wesentlicher Nachteil einer Kirschner-Drahtosteosynthese ist die notwendige Ruhigstellung (s. oben).
15
264
Kapitel 15 · Oberarm
15.2
Humerusschaftfrakturen
15.2.1
Klassifikation, Häufigkeit und Ursachen
Zur Röntgendiagnostik des Oberarms gehören Aufnahmen mit beiden angrenzenden Gelenkes in 2 Ebenen.
15.2.4
15
Humerusschaftfrakturen machen etwa 2% aller Frakturen im Kindesalter und nur 10% aller Oberarmfrakturen aus (Schmittenbecher et al. 2006; Linhart u. Schneider 2006). Die Frakturhäufigkeit steigt mit dem Alter, der Altersgipfel liegt bei den 11- bis 14-Jährigen (Machan u. Vinz 1993), andere Studien (Kraus et al. 2005) sehen eher eine Abnahme der Frakturhäufigkeit mit dem Alter und keinen bevorzugten Altersgipfel. Die Hälfte aller Frakturen ereignet sich im häuslichen Bereich und beim Spiel, ein Viertel sind durch Verkehrsunfälle verursacht (Machan u. Vinz 1993). Im Neugeborenenalter überwiegt deutlich der Querbruch, beim Kleinkind sieht man vor allem Spiralfrakturen durch indirekte Unfallmechanismen, die beim Säugling gehäuft im Rahmen eines Battered-child-Syndroms vorkommen. Später sind aufgrund der direkten Gewalteinwirkung vorwiegend Schräg- und Querfrakturen zu finden. Trümmerbrüche sind sehr selten, offene Frakturen die Ausnahme. Eine Frakturklassifikation nach der AO Paediatric Expert Group (PAEG) (Slongo u. Audige 2006), unterscheidet zwischen Zwei- und Mehrfragmentfrakturen sowie nach dem Grad der Dislokation. Häufig kommen Humerusfrakturen im Rahmen von Mehrfachverletzungen vor, longitudinale Krafteinwirkungen erzeugen dabei Schrägbrüche, direkte Gewalteinwirkungen führen bei Verkehrsunfällen zu Querfrakturen, Torsionskräfte erzeugen Spiralfrakturen. Pathologische Frakturen entstehen meist ohne adäquates Trauma auf der Grundlage von Zysten oder Tumoren (Gottschalk 2002).
15.2.2
Klinik und Erstversorgung
Es finden sich umschriebene Schwellungen mit Schmerzen, deren Intensität und Ausmaß häufig von der Dislokation und der Instabilität abhängen. Die Erstversorgung besteht in einer Ruhigstellung des Arms in einem Gilchrist- oder Desault-Verband (. Abb. 15.1).
15.2.3
Diagnostik
Neben dem Erheben der Anamnese zählt dazu die Inspektion (Schwellung, Unterblutung/Verletzung der Weichteile/Hämatome) und die Prüfung der peripheren Sensibilität und Motorik (Beteiligung des N. radialis!) sowie der Durchblutung.
Therapieziel
Ziel der Behandlung ist eine schnelle Schmerzfreiheit und eine funktionell uneingeschränkt einsetzbare Extremität.
15.2.5
Therapieindikation
Die Korrekturgrenzen am Oberarmschaft sind geringer als bei proximalen Frakturen! Verkürzungen und Seitzu-Seitverschiebungen werden sehr gut korrigiert, führen jedoch zu einem hohen Maß an Instabilität, Varusfehlstellungen gleichen sich besser als Valgusfehlstellungen aus. Die gute Muskelummantelung des Oberarms überdeckt Fehlstellungen bis zu gewissen Grenzen (s. unten). Aufgrund des hohen Kompensationspotenzials des Schultergelenkes sind nur selten funktionelle Störungen zu erwarten. > Die konservative Therapie ist die Therapie der ersten Wahl unabhängig von Frakturtyp und Dislokationsausmaß. Indikationen zur konservativen Therapie 4 Undislozierte Frakturen 4 Achsfehler unter 10°
Absolute Indikationen zur operativen Therapie 4 Achsfehler über 10° 4 Offene Frakturen 4 Lange Spiralbrüche am distalen Oberarmschaft mit Einbeziehung des Kondylenmassivs 4 Pathologische Frakturen (z. B. juvenile Knochenzyste) 4 Ausschluss eines malignen Tumors (Probeexzision) mit nachfolgender Stabilisierung
Relative Indikationen zur operativen Therapie 4 Polytrauma aus Lagerungs-/Pflegegründen 4 Mehrfachverletzung mit Beteiligung der unteren Extremität zur problemloseren Mobilisierung 4 Um Schaftbreite verschobene/verkürzte Frakturen
Ein primärer Schaden des N. radialis ist kein Grund für einen operativen Eingriff oder Freilegung des Nerven! Diskutiert werden kann dies, wenn aufgrund der Frakturform (z. B. langer Schräg-/Spiralbruch) und einer eindeutigen
265 15.2 · Humerusschaftfrakturen
15.2.7
Durchführung der operativen Therapie
Methode der Wahl ist die elastische stabile intramedulläre Nagelung (ESIN). Sie ist bei guter Nagelaufspannung auch bei langen Schrägbrüchen bewährt und ist ein übungsstabiles Verfahren. 4 Während Frakturen des proximalen und mittleren Drittels mit 2 Nägeln aufsteigend versorgt werden, sind diejenigen des distalen Drittels absteigend zu nageln. 4 Retrograde Nagelungen erfolgen über 2 radiale suprakondyläre Kortikalislöcher oder alternativ über je eine radiale und ulnare Perforation. Ulnar ist auf den Verlauf des N. ulnaris zu achten (. Abb. 15.10)! 4 Die deszendierende Versorgung wird über 2 separate Kortikalislöcher am Ansatz des M. deltoideus vorgenommen. . Abb. 15.7 3-jähriger Junge mit Oberarm-Brace nach Sarmiento mit Schulterkappe
klinischen Symptomatik von einer Einklemmung des Nerven in der Fraktur ausgegangen werden kann. Die Erholungsrate des Nerven ist exzellent und tritt gewöhnlich innerhalb eines Vierteljahres ein (Beaty 1992). Zunehmend spielen kosmetische Aspekte und der Vorteil der Übungsstabilität für die Kinder (und Eltern!) eine Rolle in der Entscheidung zur Operation (sog. Komfortindikation).
15.2.6
Durchführung der konservativen Therapie
Auf eine Reposition der Fraktur wird verzichtet, der Arm wird im Gilchrist-Verband über 4–6 Wochen ruhiggestellt. Konservative Verfahren wie Thoraxabduktionsgipse, »hanging casts« oder Extensionen werden nicht empfohlen. Nach 7–10 Tagen kann auf die funktionelle Knochenbruchbehandlung nach Sarmiento mittels Brace gewechselt werden (. Abb. 15.7 bis . Abb. 15.9; David 1988; Sarmiento u. Latta 2007). Bei langen Schrägbrüchen ist aufgrund der größeren Kontaktfläche der Fragmente mit einer kürzeren Konsolidierungszeit zu rechnen als bei Querbrüchen. Geburtstraumatische Frakturen werden in einem Desault-Äquivalent (z. B. vor dem Bauch festgesteckter Jäckchenarm) über 2 Wochen ruhiggestellt.
Bei langen Spiral- oder Schrägfrakturen im Adoleszentenalter des distalen Humerus mit Einbeziehung des Kondylenmassivs ist die offene Reposition mit Darstellung des N. radialis und dorsale Plattenosteosynthese eine gute Alternative. Der Verlauf des Nerven sollte im Operationsbericht festgehalten sein (gekreuztes Plattenloch). Im Kindesalter sind Plattenosteosynthesen am Humerus aufgrund der besseren Alternativverfahren nahezu obsolet (. Abb. 15.11). Bei Trümmerfrakturen, langen Spiralfrakturen oder höhergradig offenen Frakturen ist der Fixateur externe eine gute Behandlungsalternative. Eine Komplikationsrate bis zu 6,5% (z. B. Weichteilirritationen, Pininfekte) und der geringere Komfort sind jedoch in die Therapieentscheidung einzubeziehen (. Abb. 15.12; Bennek et al. 2004). Bei Adoleszenten kann alternativ die retrograde Verriegelungsmarknagelung eingesetzt werden. Bezüglich der Behandlung von Frakturen z. B. bei juveniler Knochenzyste 7 Kap. 15.1 (. Abb. 15.13).
15.2.8
Kontrollen und Nachbehandlung
Röntgenkontrollen werden nach 7 Tagen (sekundäre Dislokation?) und zur Konsolidierungskontrolle nach 4–6 Wochen empfohlen. Die Behandlung nach operativer Therapie erfolgt verbandfrei und funktionell. Röntgenkontrollen sind direkt postoperativ, nach 4 Wochen sowie vor der geplanten Metallentfernung nach ½ Jahr zu empfehlen. Eine Hebe- oder Tragebelastung ist unabhängig von der Therapieform nach 4–6 Wochen möglich.
15
266
Kapitel 15 · Oberarm
a
c
15
d b . Abb. 15.8a–g Sekundäres Korrekturpotenzial: 7-jähriger Patient, Sturz vom Klettergerüst. a,b Um Schaftbreite dislozierte und verkürzte proximale Oberarmschaftfraktur rechts, konservative Thera-
pie. c–d Röntgenkontrolle nach 7 Monaten, Fraktur vollständig konsolidiert
267 15.2 · Humerusschaftfrakturen
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. Abb. 15.8e–g Klinische Kontrolle nach 7 Monaten, geringe, kosmetisch und funktionell nicht auffällige Valgusfehlstellung, völlig freie Funktion in den angrenzenden Gelenken, keine Armlängendifferenz
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Kapitel 15 · Oberarm
b
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c . Abb. 15.9a–e 10-jähriger Patient, Polytrauma. a,b um Schaftbreite ad latus dislozierte proximale Oberarmschaftfraktur rechts mit Verkürzung, operative Therapie aus Lagerungsgründen geplant, jedoch wegen schwerem SHT nicht möglich. c Radiologische Verlaufskontrolle nach 7 Monaten, deutliche Kallusbildung und weitere
e Verkürzung der Fraktur, allerdings regelrechte Achsstellung. d,e Röntgenkontrolle nach 14 Monaten, der Knochen hat sich nahezu vollständig remodelliert, klinisch ist die Funktion des Arms uneingeschränkt, eine Längendifferenz besteht nicht
269 15.2 · Humerusschaftfrakturen
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. Abb. 15.10a–i 14-jähriger Patient, Sturz. a,b Grob dislozierte Oberarmschaftfraktur links, c,d Frakturversorgung mit doppelter retrograder ESIN
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270
Kapitel 15 · Oberarm
. Abb. 15.10e–i Frakturversorgung mit doppelter retrograder ESIN. e–i Nach 6 Wochen radiologische und klinische Kontrolle, Fraktur achsgerecht knöchern konsolidiert, freie Funktion
e
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271 15.2 · Humerusschaftfrakturen
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. Abb. 15.11a–e Falsche Indikation: 8-jährige Patientin, Klettersturz. a Mäßig dislozierte distale Humerusschrägfraktur bis knapp proximal des Kondylenmassivs reichend, kein Nervenschaden, instabile Fraktursituation, in Absprache mit Patientin und Eltern nach Abwägen der Möglichkeiten zum konservativen Vorgehen Entscheidung zur Osteosynthese. b,c Dorsale Zugschrauben- und Plattenosteosynthese. d,e Auf dringenden Wunsch der Mutter nach 1 Jahr Metallentfernung, die Fraktur ist achsgerecht konsolidiert, kein funktionelles Defizit
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Kapitel 15 · Oberarm
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. Abb. 15.12a–g Komplikation nach falscher Indikationsstellung: 2-jährige Patientin, Sturz vom Wickeltisch. a Gering dislozierte Schaftfraktur des Oberarms, gute Indikation zur konservativen Therapie, die Entscheidung fiel jedoch zur Anlage eines Fixateur externe! b,c Postoperative Situation, achsgerechte Stellung, regelrechte Fixateurlage. d 3 Wochen postoperativ Entwicklung eines schweren Pininfektes mit beginnender Pinlockerung. e 5 Wochen nach Operation, Fortschreiten der Infektion, mehrfache Débridements notwendig. f,g Nach 7 Wochen Entfernung des Fixateurs, teilweise knöcherne Resorption im Frakturbereich, klinisch ausreichend stabil, Infekt noch nicht beherrscht, nach weiteren Débridements Ausheilung der Knochen- und Weichteilinfektion
273 15.2 · Humerusschaftfrakturen
a . Abb. 15.13a–e
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274
Kapitel 15 · Oberarm
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. Abb. 15.13a–h 8-jährige Patientin, Sturz. a,b Pathologische Fraktur in Oberarmschaftmitte, sog. »fallen fragment« (Pfeil) beweist die juvenile Knochenzyste. c,d Stabilisierung der Fraktur durch doppelte retrograde ESIN, postoperativ Bestätigung der radiologischen Diagnose. e Nach 2 Monaten ist die Fraktur konsolidiert, die Zyste ist
noch deutlich sichtbar. f Röntgen nach Metallentfernung nach 7 Monaten. g,h Klinische Kontrolle vor Metallentfernung, die Funktion im Ellenbogengelenk ist wegen störender distaler Nagelenden noch eingeschränkt
275 15.2 · Humerusschaftfrakturen
15.2.9
Ergebnisse und Prognose
Die Ergebnisse sowohl der konservativen als auch operativen Therapie sind sehr gut (z. B. Sessa et al. 1990; Caviglia et al. 2005; Garg et al. 2009).
15.2.10
Intra- und postoperative Komplikationen
Nervenverletzungen im Bereich der Einschlagstellen treten nur gelegentlich auf. Bei einem Verdacht auf Irritation durch Nagelenden muss revidiert werden. Traumatisch bedingte Nervus-radialis-Läsionen erholen sich gewöhnlich vollständig innerhalb von 3–6 Monaten (Shrader 2007; Müller 2005). Die seltenen Pseudarthrosen sind eine Indikation zur Plattenosteosynthese (Schmittenbecher et al. 2004). Nagelmigrationen durch die Kopfkalotte oder nach distal müssen operativ revidiert werden. Auf die Probleme der Fixateur-Behandlung wurde bereits eingegangen (. Abb. 15.12). Literatur Arzinger-Jonasch H (1982) Proximale Humerusverletzungen im Kindes- und Jugendalter. H Unfallheilkd 160: 195–207 Beaty JH (1992) Fractures of the Proximal Humerus and Shaft in Children. In: Eibert RE (ed) AAOS instructional course lectures, Vol. 41, American Academy of Orthopaedic Surgeons, Chicago, pp 369–372 Bahrs, C, Zipplies S, Ochs BG, Rether J, Oehm J, Eingartner C, Rolaufs B, Weise K (2009) Proximal Humeral Fractures in Children and Adolescents. J Pediatr Orthop 29: 238–242 Benedetti GB, Argnani F (1991) Fractures of the Humerus. In: Maiocchi AB, Aronson J (eds) Operative Principles of Ilisarov, Medi Surgical Video, Milan, pp 146–159 Bennek J, Bühligen U, Rothe K, Müller W, Rolle U, Bennel C (2004) Kindertraumatologie – Versorgung von Frakturen mit dem Fixateur externe. CHAZ 5: 67–72 Caviglia H, Garrido CP, Palazzi FF, Meana NV (2005) Pediatric Fractures of the Humerus. Clin Orthop Rel Res 432: 49–56 David J (1988) Die funktionelle Knochenbruchbehandlung nach SARMIENTO. Orthopädie-technische Informationen 19: 67–69 David S, Kuhn C, Ekkernkamp A (2006) Proximale Humerusfrakturen des Kindes und Adoleszenten. Chirurg 77: 827–834 Fernandez FF, Eberhardt O, Langendörfer, M, Wirth T (2008) Treatment of severely displaced proximal humeral fractures in children with retrograde elastic stable intramdedullary nailing. Injury, Int J Care Injured 39:1453–1459 Garg S, Dobbs MB, Schoenecker PL, Luhmann SJ, Gordon JE (2009) Surgical treatment of traumatic pediatric humeral diaphyseal fractures with titanium elastic nails. J Child Orthop 3: 121– 127 Gottschalk E (2002) Die Versorgung diaphysärer Humerusfrakturen bei Kindern mit der Nancy-Schiene (ESIN). Akt Traumatol 32: 34–38 Jaschke W, Hopf G, Gerstner C, Hierner W (1981) Proximale Humerusfrakturen mit Dislokation im Kindesalter – Transacromiale percutane Kirschnerdraht-Osteosynthese. Zbl Chirurgie 106: 618– 621
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15
16
Ellenbogengelenk K. Parsch
16.1
Suprakondyläre Fraktur
16.1.1 16.1.2 16.1.3 16.1.4 16.1.5 16.1.6 16.1.7 16.1.8 16.1.9
Klassifikation, Häufigkeit und Ursachen – 278 Klinik und Erstversorgung – 279 Therapieziel – 279 Therapie der Typ-I-Fraktur – 279 Therapie der Typ-II-Fraktur – 281 Therapie der Typ-III- und -IV-Fraktur – 281 Therapie der suprakondylären Humerusflexionsfraktur Komplikationen – 286 Ergebnisse und Prognose – 290
– 278
16.2
Traumatische distale Humerusepiphysenlösung
16.3
Condylus-ulnaris-Fraktur
16.4
Epicondylus-ulnaris-Abriss und Ellenbogenluxation
16.4.1 16.4.2 16.4.3 16.4.4 16.4.5
Diagnostik – 291 Therapie – 294 Nachbehandlung – 294 Begleitverletzungen – 294 Prognose – 294
16.5
Condylus-radialis-Fraktur
16.5.1 16.5.2 16.5.3
Therapie der Condylus-radialis-Fraktur Typ I – 298 Therapie der Condylus-radialis-Fraktur Typ II und Typ III Ergebnisse und Prognose – 304
16.6
Bikondyläre Y- oder T-Fraktur
16.7
Olekranonfraktur
16.8
Processus-coronoideus-Abriss
– 291
– 298
– 304
– 304 – 307
Radiushalsfraktur
16.9.1 16.9.2
Klassifikation – 309 Therapie – 309
16.10
Monteggia-Fraktur
16.10.1 16.10.2 16.10.3 16.10.4
Klassifikation – 311 Therapie der Typ-I-Verletzung – 311 Therapie der Typ-II-Verletzung – 313 Therapie der Typ-III-Verletzung – 315 – 316
– 290
– 291
16.9
Literatur
– 286
– 309
– 311
– 298
278
Kapitel 16 · Ellenbogengelenk
16.1
Suprakondyläre Fraktur
16.1.1
Klassifikation, Häufigkeit und Ursachen
Die Arbeitsgemeinschaft für Osteosynthesefragen (AO) hat auf der Basis des Vorschlags von von Laer in der Klassifikation der Frakturen im Kindesalter eine Differenzierung in 4 Klassen eingeführt; die Fraktur wird dabei als 13-M/3.1 geführt. 4 Typ I ohne Dislokation der Fragmente 4 Typ II: Die Fraktur ist nur in der sagittalen Ebene verschoben, in der Regel (95%) Antekurvation (Extensionsfraktur), ganz selten (ca. 5%) in Rekurvation (Flexionsfraktur). Keine Rotationskomponente 4 Typ III: Dislokation in 2 Ebenen mit oder ohne Rotation mit Kontakt der Fragmente (instabil)
4 Typ IV: Dislokation in 3 Ebenen ohne Kontakt der Fragmente (instabil) Die suprakondyläre Fraktur ist die zweithäufigste Verletzung an der oberen Gliedmaße des Kindes, allerdings in großem Abstand nach der distalen Unterarmfraktur, aber vor der Unterarmschaftverletzung. Das Durchschnittsalter liegt bei 6,7 Jahren, das Verhältnis Jungen zu Mädchen liegt bei 3:2. Der linke bzw. der nicht-dominante Arm ist bevorzugt betroffen. Fast alle suprakondylären Frakturen gehen auf Unfälle zurück. Dabei ist der Fall von einer größeren Höhe auf den zum Schutz ausgestreckten Arm an erster Stelle zu nennen. Bei kleineren Kindern ist es der Sturz von einer Sitzgelegenheit oder aus dem Stockbett, bei größeren Kindern sind es vor allem Stürze bei Spiel und Sport.
. Abb. 16.1 Einteilung nach Gartland (1959) und der pädiatrischen AO-Klassifikation (Slongo u. Audigé 2007)
16
H.G. Dietz et al. (Hrsg.), Praxis der Kinder-und Jugendtraumatologie, DOI 10.1007/978-3-642-12935-3_16, © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2011
279 16.1 · Suprakondyläre Fraktur
16.1.2
Klinik und Erstversorgung
16.1.3
Als klinische Zeichen findet sich ein geschwollener schmerzhafter Ellenbogen. Die weit überwiegenden Extensionsverletzungen zeigen eine ventrale Prominenz und bei vollständiger Dislokation der Fragmente eine S-förmige Verbiegung. Initial ist die Überprüfung der Armpulse und der Arm- und Handnerven Pflicht, um für Notfallmaßnahmen bei einer gleichzeitigen Gefäß- und Nervenverletzung gerüstet zu sein. Etwa 1% der dislozierten Frakturen werden von einer Gefäßläsion begleitet. Eine vorübergehende Nervenläsion kommt in 8–10% der Fälle vor. Die Röntgenuntersuchung soll auf den distalen Humerus fokussieren. Eine zusätzliche Aufnahme des Unterarms in 2 Ebenen ist notwendig, wenn für Begleitverletzungen am distalen Unterarm Hinweise gegeben sind. Bei extremen Schmerzen aufgrund der dislozierten Fraktur kann man sich bei der ersten Röntgenuntersuchung auf eine Ebene beschränken, um die zweite Ebene erst am anästhesierten Kind zu röntgen. Ein zusätzliches CT oder MRT ist nicht indiziert > Die Rogers-Hilfslinie ist ein gutes Mittel zur Beurteilung von Extensions- und Flexionsfehlstellungen (. Abb. 16.2).
a
b
c
. Abb. 16.2a–c Rogers-Hilfslinie (grün): Linie entlang der vorderen Humeruslängsachse zur Einschätzung des korrekten humero-kondylären Winkels (roter Winkel). a Normalbefund: Der Winkel zwischen Humeruslängsachse und Kondylen misst ca. 30°. b Bei der Extensionsfraktur ist der humerokondyläre Winkel aufgehoben (<30°). Die Rogers-Hilfslinie führt vorne an den Kondylen vorbei. c Bei der Flexionsfraktur trennt die Hilfslinie ventral die nach vorne verlagerten Kondylen ab
Therapieziel
Therapieziel ist die Wiederherstellung anatomischer Verhältnisse am Ellenbogen. Dabei dürfen weder Rotationsfehler mit dem Risiko des nachfolgenden Cubitus varus noch ein Verlust des humerokondylären Winkels mit der Folge einer Extensionsfehlstellung und Beugedefizit verbleiben. Das Verfahren sollte möglichst geschlossen erfolgen.
16.1.4
Therapie der Typ-I-Fraktur
Nach entsprechendem Trauma mit Sturz auf den ausgestreckten Arm kann die Fraktur im Röntgenbild schwer oder gar nicht zu sehen sein. Ein Gelenkerguss kann das subkutane Fettgewebe abheben und im Röntgenbild als »Fettkörperzeichen« (»fat pad sign«) imponieren (. Abb. 16.2b). Die suprakondyläre Infraktion ist stabil, die Rogers-Hilfslinie (humerokondylärer Winkel) trifft auf das Capitulum humeri. Gelegentlich erkennt man die Fraktur erst, wenn bei einer (an und für sich nicht notwendigen) röntgenologischen Verlaufskontrolle eine Kallusbildung durch periostale Reaktion auffällt. Es können drei verschiedene Methoden zur Ruhigstellung angewendet werden, die gleichwertig sind: 4 Die Ruhigstellung erfolgt im Oberarmgips in Beugung von 100° und Pronation des Unterarms, da dies nach differenzierten Kadaveruntersuchungen die stabilste Position für eine suprakondyläre Fraktur darstellt (Khare et al. 1991). Zusätzliche Sicherheit vor Abrutschen der Fraktur im Gips bietet das Anmodellieren des Olekranons (. Abb. 16.2c) 4 Alternativ wird eine Oberarmgipsschale ebenfalls in 100° Beugung für ca. 2–3 Wochen angewendet. 4 Eine weitere Alternative stellt die Ruhigstellung in der Blount-Schlinge dar, wobei der Ellenbogen spitzwinklig angebeugt mit einer Schlinge zwischen Handgelenk und Hals geschützt wird (»cuff-and-collar«). Eine Abschlussröntgenkontrolle nach ca. 2–3 Wochen ist meist nicht erforderlich. Spätfolgen nach der Typ-I-Verletzung des suprakondylären Humerus sind nicht zu erwarten.
16
280
Kapitel 16 · Ellenbogengelenk
c
a
16
b . Abb. 16.3a–d Suprakondyläre Fraktur Typ I bei 5-jährigem Mädchen. a Ellenbogen a.p., suprakondyläre Infraktion ist erkennbar. b Ellenbogen seitlich: nicht dislozierte Querfraktur. Der humerokondyläre Winkel ist mit ca. 30° regelhaft (dünne Linien). Das Fett-
d körperchenzeichen (weiße Pfeile) ergibt einen Hinweis auf die Verschiebung der epiperiostalen Fettschicht durch die subperiostale Flüssigkeitsansammlung. c Ellenbogen seitlich mit Anpressen am Olekranon (Pfeil). d Oberarmgips in 100° Flexion und Pronation
281 16.1 · Suprakondyläre Fraktur
16.1.5
Therapie der Typ-II-Fraktur
Die Verletzung besteht meist nur aus der Extensionsstellung mit zu weit nach vorne verschobener Rogers-Hilfslinie (s. oben).
4 Bei geringer Extensionsstellung lediglich Anlage eines Cuff-and-collar-Verbandes mit Nachziehen nach 2–3 Tagen. 4 Bei stärkerer Fehlstellung (>20°?) wird in Allgemeinnarkose und Rückenlage in Streckung gezogen, während der Assistent am proximalen Humerus dagegen hält. 4 Danach wird der Ellenbogen bis 130° gebeugt. 4 Vom Olekranon aus wird Druck von dorsal ausgeübt, um die Reposition des distalen Fragmentes zu erleichtern. 4 Durch die anschließende Pronation des Unterarms wird die Stellung des distalen Fragmentes gesichert. 4 Die erfolgreiche Korrektur der Extensionsstellung muss auf dem korrekt angefertigten seitlichen Bildwandlerdokument zu erkennen sein, in dem die Rogers-Hilfslinie nicht mehr ventral am Capitulum humeri vorbeiläuft (Rogers et al. 1979). 4 Die Sicherung einer reponierten Typ-II-Extensionsverletzung benötigt einen spitzwinkligen Ellenbogen von ca. 130° Beugung. Diese starke Beugung birgt Risiken bezüglich der Durchblutung oder gar eines Kompartmentsyndroms in sich. Aus diesem Grund ist eine perkutane KirschnerDrahtosteosynthese zu empfehlen, die eine Ruhigstellung in 90° Beugung ohne Risiko eines Korrekturverlustes ermöglicht (. Abb. 16.4; Wilkins 1997; von Laer et al. 2002; Skaggs et al. 2008). 4 Nach Reposition und K-Drahtfixierung ist die anschließende Sicherung in der Oberarmschiene in 90° Beugung und Pronation obligat. 4 Eine Ruhigstellung von 3–4 Wochen ist notwendig. 4 Wenn die perkutan eingebrachten Drähte die Haut überragen, können diese vor der beginnenden Mobilisierung (nach 4 Wochen) in der Ambulanz gezogen werden. 4 Wenn die Drähte unter das Hautniveau versenkt worden sind, kann die Mobilisierung mit noch liegenden Drähten beginnen. Diese werden nach 4–6 Wochen in einer Kurznarkose als tageschirurgischem Eingriff entfernt.
16.1.6
Therapie der Typ-III- und -IV-Fraktur
Bei den Typ-III-Verletzungen besteht in der Regel eine dringliche Operationsindikation (innerhalb 6–12 h). Die Zunahme der Schwellung kann bei aufgeschobener Behandlung die geschlossene Reposition erschweren, das Risiko für eine sekundäre Gefäß- und Nervenläsion erhöhen. Bei einer pulslosen und blassen Extremität besteht eine notfallmäßige (sofortige) Operationsindikation. In den meisten Fällen (>90%) ist hier nach Reposition ein Puls fühlbar oder dopplersonographisch nachweisbar. Ist dies nicht der Fall, muss in gleicher Sitzung eine Revision der A. brachialis in der Ellenbeuge erfolgen und das eingeklemmte Gefäß befreit oder eine Intimaläsion gefäßchirurgisch durch Venenpatch oder -interponat versorgt werden.
Geschlossene Reposition und K-Drahtversorgung jReposition 4 Vollnarkose und Rückenlage. 4 Ellenbogen in voller Streckung und Supination in die Länge ziehen. 4 Assistent fixiert Oberarm. 4 Die beiden Fragmente annähern. 4 Ellenbogen überstrecken. 4 Ad-latum-Versatz und Valgus-Varusfehlstellung sowie Fehlrotation des distalen Fragmentes durch Pronation, selten Supination korrigieren. 4 Beugen des Ellenbogens unter Erhalt des Gegenzuges. 4 Druck auf das Olekranon unterstützt Reposition in Beugung. 4 Pronation des Unterarms vervollständigt Kontakt von distalem und proximalem Fragment. 4 Röntgenkontrolle unter Bildwandler belegt erfolgreiche Reposition. 4 Manipulieren des Bildwandlers in die zweite Ebene. 4 Immer Osteosynthese! 4 Ruhigstellung im Oberarmgips mit 90° Beugung und Pronation.
! Cave Beachten der Gefäß- und Nervensituation nach erfolgreicher Reposition!
16
282
Kapitel 16 · Ellenbogengelenk
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d
16
. Abb. 16.4a–d Suprakondyläre Fraktur Typ II bei 8-jährigem Mädchen. a Ellenbogen a.p.: erkennbarer Infraktion. b Ellenbogen seitlich mit Extensionsverletzung (Verlust des humerokondylären Winkels, die Rogers-Hilfslinie verläuft ventral des Kapitulums). c Ellen-
bogen a.p. nach Reposition und gekreuzter K-Drahtosteosynthese. d Ellenbogen seitlich nach Reposition mit Wiederherstellung des humerokondylären Winkels (die Rogers-Hilfslinie schneidet das Capitulum humeri)
16
283 16.1 · Suprakondyläre Fraktur
jOsteosynthese (gekreuzte K-Drahtversorgung) 4 Üblicherweise werden die K-Drähte von radial und ulnar von distal nach proximal eingebracht. Dabei besteht in etwa 10% der Fälle das Risiko einer Ulnarnervenläsion durch den von ulnar eingebrachten K-Draht. Dies kann durch eine Freilegung des Epicondylus ulnaris mit sicherer Platzierung des Drahtes unter Sicht vermieden werden. 4 Wir umgehen die Risiken einer iatrogenen Nervenschädigung durch die Einbringung beider sich kreuzender Drähte von radial, der erste vom Epicondylus radialis aus nach proximal, der zweiten von lateral-proximal nach distal-medial in den Epicondylus ulnaris (Eberhardt et al. 2007). 4 Eine weitere Alternative mit Vermeidung der Ulnarisirritation besteht in der Einbringung zweier oder dreier divergierender Drähte von radial distal, um so die reponierte Fraktur zu sichern. 4 Ab dem Schulalter verbleiben die umgebogenen Drahtenden über Hautniveau zur späteren Metallentfernung ohne Narkose in der Ambulanz. 4 Bei Kleinkindern Versenken der Drahtenden unter die Haut mit Metallentfernung als ambulantem Eingriff.
Alternativen zur perkutanen Kirschner-Drahtversorgung der geschlossenen und nur im Ausnahmefall offen reponierten suprakondylären Humerusfraktur können ebenfalls erfolgreich eingesetzt werden: 4 Die deszendierende ESIN-Versorgung nach der NancySchule (Prévot et al. 1990). 4 Versorgung mit einem Minifixateur externe (Slongo 1994; von Laer et al. 2007). Bei Flektionsbrüchen und geschlossen nicht reponiblen Frakturen kann der Fixateur aufgrund der direkteren Manipulation der Fragmente (Joystick) helfen, eine offene Reposition zu vermeiden. Bei offenen Verletzungen erlaubt der Minifixateur eine optimale Lokalbehandlung. 4 Die bis in die 1980er-Jahre des letzten Jahrhunderts verbreitete konservative Behandlung in der BaumannExtension (Rang 1972) ist mittlerweile als obsolet zu bezeichnen. jNachbehandlung
4 Ruhigstellung im Oberarmgips für 3 Wochen 4 Entfernen der K-Drähte bei nach außen überstehenden Drähten ambulant nach 3–4 Wochen 4 Entfernung versenkter Drähte nach Abschluss der Mobilisierung in Narkose nach 4–6 Wochen 4 Wiederaufnahme von Sport bei freier Beweglichkeit nach ca. 10 Wochen . Abb. 16.5 und . Abb. 16.6 zeigen die Versorgung einer suprakondylären Typ-III-Fraktur.
b
a
. Abb. 16.5a, b Suprakondyläre Fraktur Typ III bei 6,6-jährigem Knaben. a Linker Ellenbogen a.p. lässt dislozierte suprakondyläre Fraktur erkennen. b Linker Ellenbogen seitlich: komplett dislozierte Extensionsfraktur
284
Kapitel 16 · Ellenbogengelenk
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16
e . Abb. 16.5c–g c Linker Ellenbogen a.p. nach geschlossener Reposition, K-Drahtosteosynthese, beide Drähte kommen von lateral, von distal aszendierend, von proximal deszendierend. d Linker Ellenbogen seitlich nach geschlossener Reposition, K-Drahtosteosynthese.
g e Linker Ellenbogen a.p. 4 Wochen postoperativ, Fraktur fest vor Metallentfernung. f Linker Ellenbogen seitlich 4 Wochen nach dem Trauma vor Metallentfernung. g Hautverhältnisse vor Metallentfernung (in Narkose, da versenkte Drähte)
285 16.1 · Suprakondyläre Fraktur
a
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. Abb. 16.6a–c Suprakondyläre Fraktur Typ III bei 5-jährigem Knaben. a Linker Ellenbogen a.p. nach auswärtiger offener Reposition und gekreuzter K-Drahtosteosynthese. b Linker Ellenbogen seitlich nach offener Reposition. Der humerokondyläre Winkel ist aufgehoben, die Rogers-Hilfslinie verläuft ventral des Kapitulums. Als Folge ist eine eingeschränkte Beugefähigkeit zu erwarten. Die K-Drähte stehen über, die Entfernung ist ohne Anästhesie möglich. c Hautverhältnisse bei Gipsabnahme, vor Drahtentfernung. Die Wunde nach offener Reposition bei herausragendem Kirschner-Draht zeigt oberflächliche Infektionszeichen. Die Entscheidung für eine offene Versorgung mit radialem Zugang ist ohne Ansicht der Unfallbilder retrospektiv nicht nachzuvollziehen
16
286
Kapitel 16 · Ellenbogengelenk
Offene Reposition
jOsteosynthese
4 Bei Anlieferung pulsloser rosiger Arm mit genügend peripherer Durchblutung, geschlossene (eventuell offene) Reposition der Fraktur, Überprüfen des Pulses, Doppler-Sonographie, peripherer Pulsoximeter. 5 Wenn Puls wieder vorhanden: Fortfahren wie im Regelfall. 5 Wenn Puls noch abwesend, Arm rosig, Doppler schwach: Weiter zuwarten und kontrollieren 5 Wenn Puls nach erfolgreicher Reposition weiter fehlt, Doppler negativ, Hautfarbe im Verlauf blass bzw. weiß: Einschalten eines gefäßchirurgisch kompetenten Operateurs zur notfallmäßigen Darstellung und Behebung der Gefäßkomplikation (Einklemmung des Gefäßes, Intimalazeration, Spasmus) 4 Bei Anlieferung pulsloser blasser Arm: Alarmierung eines gefäßchirurgisch versierten Fachmannes (Kelsch et al. 1999) 5 Schnellstmögliche geschlossene Reposition mit der Chance einer Behebung des Gefäßverschlusses 5 Falls nach erfolgreicher Reposition und K-Drahtfixation der Arm weiter pulslos und blass bleibt: Einschalten des schon vorher alarmierten Gefäßchirurgen zur Behebung des Problems 5 Über anteromedialen Zugang Exploration der Arteria brachialis (Adventitia, Intima, Spasmus)
s. oben
4 Kompartmentsyndrom:
jReposition
Bei 5–10% der Kinder lässt sich auch vom Erfahrenen die geschlossene Reposition nicht durchführen, entweder weil die Fragmente wegen Verhakung nicht gelöst und reponiert werden können, oder weil ein Bindegewebs- bzw. Muskelinterponat die geschlossene Reposition verhindert. Bei der sehr seltenen Flexionsfraktur ist fast immer eine offene Reposition notwendig. 4 Zugang bei offener Reposition (. Abb. 16.7) posterolateral nach Boyd mit Spaltung des Triceps brachii 4 Anterior quer bei pulslosem und blassem Arm zur gleichzeitigen Revision der Gefäßsituation 4 Lateraler und medialer Zugang werden nicht empfohlen. Dies zieht zwei Wunden statt einer nach sich. 4 Auslösen eines Weichteilinterponats oder einer Knochenverhakung 4 Beachten der Nerven und Gefäße, insbesondere des Nervus ulnaris 4 Reposition der Fragmente unter Sicht
jNachbehandlung
4 Gespaltener Oberarmgips oder Oberarmgipsschale in 90° Beugung und Pronation 4 Nach 3 Wochen Ruhigstellung Beginn der Mobilisierung mit Schutzschiene für Spiel und Sport 4 Entfernung der K-Drähte in Vollnarkose in Tagesklinik
16
16.1.7
Therapie der suprakondylären Humerusflexionsfraktur
Bei der (seltenen) dislozierten Flexionsfraktur ist die geschlossene Reposition schwierig. Aus diesem Grund ist meist die offene Reposition angezeigt, um eine anatomische Position zu erreichen (. Abb. 16.8).
16.1.8
Komplikationen
Gefäßschäden Gefäßkomplikationen treten bei 1–2% der suprakondylären Frakturen auf, insbesondere beim Typ III und IV, da durch die Dislokation der Fragmente das Gefäß einklemmt, eine Intimaläsion besteht oder ein Gefäßspasmus provoziert wurde.
5 Bei der heutigen Technik der geschlossenen Reposition ist das Kompartmentsyndrom extrem selten. 5 Schwellungen innerhalb der geschlossenen Unterarmfaszien erschweren Durchblutung. 5 Gleichzeitige Unterarmfraktur mit Quetschung der Muskulatur ist mitverantwortlich. 5 Verminderte Sauerstoffzufuhr lässt Muskeln und Bindegewebe absterben. 5 Notfallmäßige volare Faszienspaltung kann Durchblutung wieder herstellen. 5 Dauerhafte Volkmann-Ischämie muss vermieden werden!
Nervenschäden Nervenschäden, meist passager, treten bei genauer Beobachtung bei 10–20% der Patienten mit suprakondylärer Fraktur auf. 4 Nervus medianus, hier auch Nervus interosseus anterior: aufgehobene Beugung des Daumen- und Zeigefingerendglieds. 4 Nervus radialis: Bei posterolateralen Frakturen werden die Nerven über proximales Frakturfragment gespannt. 4 Nervus ulnaris: Ist durch den von ulnar eingebrachten Kirschner-Draht, aber auch primär durch das Trauma mit deutlicher Dislocatio ad latum in Gefahr.
287 16.1 · Suprakondyläre Fraktur
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. Abb. 16.7a–g Suprakondyläre Fraktur Typ IV mit Arteria-brachialis-Verschluss bei 5,1-jährigem Mädchen. a Linker Ellenbogen a.p.: posteromedial komplett verschobenes distales Fragment. b Linker Ellenbogen seitlich das ventrale Fraktursegment hat die Arteria bra-
chialis aufgespießt. c Linker Ellenbogen a.p. nach offener Reposition, K-Drahosteosynthese und Auslösen des Gefäßes (nach zusätzlichem ventralen Zugang durch Gefäßchirurgen). d Linker Ellenbogen seitlich nach offener Reposition und K-Drahtosteosynthese
16
288
Kapitel 16 · Ellenbogengelenk
g . Abb. 16.7 e Linker Ellenbogen a.p., 1 Jahr postoperativ. f Linker Ellenbogen seitlich, 1 Jahr postoperativ zeigt anatomische Verhältnisse mit wieder hergestelltem humerokondylärem Winkel mit freier Beugung/Streckung. g Farbdoppler-Sonographie zeigt normale Verhältnisse
e
16
Eine spontane Erholung ist innerhalb von 3–4 Monaten zu erwarten. In jedem Fall sollte bei Feststellung eines Nervenschadens eine EMG- und NLG-Ableitung primär und nach 3 und 6 Monaten zum Nachweis der Erholung (Reinnervationspotenziale) erfolgen. Bei der iatrogenen Schädigung des Nervus ulnaris durch den von ulnar her eingebrachten Kirschner-Draht verschwindet die Lähmung meist, aber nicht immer nach der K-Drahtentfernung. Bei postoperativ anhaltenden Schmerzen im Ausbreitungsgebiet des N. ulnaris und postoperativ aufgetretenen, also sicher iatrogenen sensorischen und/oder motorischen Ausfällen sollte eine Revision des ulnaren K-Drahtes und ggf. Neuplatzierung erfolgen (Campbell et al. 1995; Rasool 1998; Lyons et al. 1998).
Volkmann-Ischämie
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Eine nicht richtig erkannte bzw. fehleingeschätzte Gefäßläsion kann über ein Kompartmentsyndrom zur sog. Volkmann-Ischämie und daran anschließend zur VolkmannKontraktur des gesamten Unterarms und der Hand führen. Die Volkmann-Ischämie ist in der heutigen Zeit glücklicherweise extrem selten geworden. In einer großen Serie des Hospital for Sick Children in Toronto waren in einem Zeitraum von 20 Jahren 9 Kinder mit Volkmann-Ischämie nach suprakondylären Frakturen beobachtet worden. Die überwiegende Zahl hatte trotz Fasziotomie ein ungünstiges Resultat (Mubarak u. Carroll 1979).
289 16.1 · Suprakondyläre Fraktur
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b . Abb. 16.8a–d Suprakondyläre Flexionsfraktur bei 11-jährigem Mädchen. a a.p. Aufnahme linker Ellenbogen am Unfalltag. b Seitaufnahme linker Ellenbogen am Unfalltag. c a.p. Aufnahme linker Ellenbogen nach offener Reposition und K-Drahtfixation, der laterale
d Pfeiler ist geringfügig eingesunken, dies bedingt einen Cubitus valgus. d Seitaufnahme linker Ellenbogen nach offener Reposition und K-Drahtfixation
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290
Kapitel 16 · Ellenbogengelenk
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16.1.9
16
Ergebnisse und Prognose
Bei Typ-I-Verletzungen sind die Behandlungsergebnisse durchweg sehr gut. Auch bei Typ-II- bis IV-Verletzungen ist ein hoher Prozentsatz sehr guter und guter Ergebnisse zu erwarten, wenn die geschlossene Reposition gekonnt durchgeführt worden ist. Weniger gut sind die Ergebnisse nach offener Reposition, schon deswegen, weil dort die Patienten erfasst sind, die bei der versuchten geschlossenen Reposition nicht erfolgreich behandelt werden konnten. Bei anatomischer Reposition, bevorzugt geschlossen, ausnahmsweise offen ist die volle Wiederherstellung von Funktion und Achse erreichbar (Mazda et al. 2001; von Laer et al. 2002; Weinberg et al. 2002; Eberhardt et al 2007). 4 Fehlende Korrektur der Extensionsfehlstellung führt zur eingeschränkten Beugefähigkeit bei gleichzeitiger Überstreckung (Cubitus hyperextensus). 4 Fehlender Ausgleich der Rotationsfehlstellung mit konsekutivem Kollaps des ulnaren Pfeilers führt zum Cubitus varus (. Abb. 16.9), meist verbunden mit Überstreckbarkeit. 4 Der kosmetisch weniger störende Cubitus valgus wird von einer Absenkung des lateralen Pfeilers des Humerus verursacht.
. Abb. 16.8 e a.p. Aufnahme bei Kontrolle 1½ Jahre später, leichte Valgusposition. f Seitaufnahme linker Ellenbogen 1½ Jahre später, guter humerokondylärer Winkel
16.2
Traumatische distale Humerusepiphysenlösung
Dies ist eine extrem seltene Verletzung, die vor allem als Geburtstrauma bei schwieriger Entbindung auftreten kann (. Abb. 16.10). Klinik Klinische Zeichen sind Schwellung und Schmerzhaftigkeit, initial gelegentlich Pseudoparalyse. Bildgebung Das Nativröntgenbild ist schwer interpretierbar. Das Ultraschallbild demonstriert die Epiphysenlösung (Dias et al. 1988; Jacobsen et al. 2009). Das MRT zeigt die Epiphysenlösung (Costa et al. 2001). Therapie Bei ganz frischer Situation, z. B. am Tag der Geburt, ist ein Versuch der geschlossenen Reposition angezeigt. Wenn die Diagnose erst nach einigen Tagen gestellt wird, sollten Repositionsversuche unterbleiben. Der Arm wird lediglich zum Schutz am Körper angewickelt. Zur Kontrolle zum Nachweis der Reposition eignet sich der Ultraschall, da das Röntgenbild die rein knorpelig angelegte kondyläre Region ja nicht darstellen kann. Prognose Es ist eine gute spontane Remodellierung zu erwarten.
291 16.4 · Epicondylus-ulnaris-Abriss und Ellenbogenluxation
16.3
Condylus-ulnaris-Fraktur
Diese sehr seltene Verletzung (Bensahel et al. 1986; Leet et al. 2002) wird am ehesten bei jungen Erwachsenen kurz vor Wachstumsabschluss beobachtet. Mediale Kondylenabrisse können nach heftigem Trauma mit daraus entstehender Luxation des Ellenbogens resultieren.
a
Therapie Nicht dislozierte Condylus-ulnaris-Abrisse heilen konservativ behandelt aus. Bei Dislokation ist das offene Vorgehen unter Sicht und Schutz des Nervus ulnaris angezeigt. Eine anatomische Reposition und Schraubenosteosynthese durch den metaphysären Fragmentanteil oder die K-Drahtfixation unter Verankerung in der Gegenkortikalis (. Abb. 16.11) werden empfohlen. Nachbehandlung Eine postoperative Ruhigstellung für 3 Wochen ist nach K-Draht notwendig. Nach Schraubenosteosynthese kann nach sicherer Wundheilung frühfunktionell ohne Ruhigstellung behandelt werden. Zur Wiederherstellung der Beweglichkeit kann im Einzelfall Physiotherapie angezeigt sein, eventuell auch die Verwendung einer für Ellenbogen geeigneten kontinuierlichen Bewegungsschiene. Die seltenen Condylus-ulnaris-Abrisse gehen immer mit einer erheblichen Weichteilläsion einher. Durch die Verwendung der CPM-Schiene lässt sich die die Bewegung störende Narbenbildung an Periost und Gelenkkapsel weitgehend vermeiden.
16.4
Epicondylus-ulnaris-Abriss und Ellenbogenluxation
Es handelt sich wiederum um eine seltene Verletzung bei direktem Trauma. Eine Ellenbogenluxation ist praktisch immer mit einer medialen Ausrissverletzung der Beugemuskulatur am Epikondylus gekoppelt, so dass nach jeder Luxation aktiv nach dem knöchernen Korrelat gesucht werden muss. Daneben kann es auch zu einer Olekranonfraktur oder einem Abriss des Processus coronoideus kommen. Auch bei Abrissen des radialen Kondylus kann es zu einer Ellenbogenluxation kommen (Rasool 2004).
16.4.1
Diagnostik
b . Abb. 16.9a,b Cubitus varus links bei 4,7-jährigem Mädchen, 2 Jahre nach unzureichend reponierter suprakondylärer Humerusfraktur links. a Klinischer Befund. b Das Röntgenbild zeigt die physiologische Valgusstellung rechts, links erkennt man den Cubitus varus von 35°
Bei kleinen Kindern jünger als 5 Jahre ist der Epicondylus medialis noch nicht verknöchert, die Diagnose muss klinisch auf Grund der Instabilität erfolgen (Harrison et al. 1984). Per Ultraschall lässt sich die Verletzung gleichfalls nachweisen (May et al. 2000).
16
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Kapitel 16 · Ellenbogengelenk
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16 b
d . Abb. 16.10a–d Geburtstraumatische distale Humerusepiphysenlösung. a,b Röntgenbild des des linken Ellenbogens in 2 Ebenen am 5. Lebenstag; Verdacht auf Ellenbogenluxation, da die distale Humerusepiphyse noch keinen Knochenkern erkennen lässt. Eine Reposi-
tion wird nicht versucht, ein dünner Oberarmgips wird für 2 Wochen getragen. c,d Linker Ellenbogen in 2 Ebenen im Alter von 4 Wochen zeigt wolkige Kallusbildung als Hinweis auf die durchgemachte Epiphyseolyse. Eine folgenlose Ausheilung ist zu erwarten
293 16.4 · Epicondylus-ulnaris-Abriss und Ellenbogenluxation
a
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d . Abb. 16.11a–d Condylus-ulnaris-Fraktur bei 11-jährigem Jungen. a Ellenbogen a.p. zeigt Abriss des medialen (ulnaren) Kondylus. b Ellenbogen seitlich lässt Ventralverschiebung des medialen Kondylus
erkennen. c Ellenbogen a.p. nach offener Reposition und Fixierung mit zwei divergierenden K-Drähten. d Ellenbogen seitlich nach offener Reposition und K-Drahtfixierung
16
294
Kapitel 16 · Ellenbogengelenk
Auch bei Kindern, die älter als 5 Jahre sind, lässt sich die Absprengung im konventionellen Röntgenbild nicht immer sofort erkennen, da Überlagerungen des Condylus ulnaris mit dem Epikondylus möglich sind. Eine klare Operationsindikation besteht, wenn der Epicondylus ulnaris ins Gelenk eingeschlagen ist. Bei Verdacht auf intraartikuläre Position des abgerissenen Epicondylus ulnaris kann eine MRT-Untersuchung im Einzelfall hilfreich sein. Röntgenaufnahmen der gesunden Gegenseite sind obsolet.
16.4.2
16.4.3
Bei K-Draht ist die anschließende Ruhigstellung im Oberarmgips in neutraler Rotation und 90° Beugung für 3 Wochen angezeigt. Anschließende Mobilisation, gefolgt von der Metallentfernung je nach Alter nach 6–8 Wochen. Da die Epicondylus-ulnaris-Absprengung praktisch immer mit einer Zerreißung der medialen Gelenkkapsel einhergeht, sind gymnastische Übungen, gelegentlich auch die CPM-Maschine indiziert, um das volle Bewegungsausmaß des Ellenbogens wieder zu erlangen.
Therapie 16.4.4
Die konservative Therapie mit Ruhigstellung im Gipsverband birgt die Gefahr einer Pseudarthrose, da es sich um eine Abrissverletzung unter Zug der Handgelenksbeuger handelt. Bei einer Langzeitstudie waren trotz der in 80% der Fälle eingetretenen Pseudarthrose die klinischen Resultate mit wenigen Ausnahmen erstaunlich gut (Josefsson u. Danielsson 1984; Farsetti et al. 2001). Wir befürworten das aktive Vorgehen gegen die ulnare Instabilität bei Abriss des Epicondylus ulnaris (. Abb. 16.12 und . Abb. 16.13; Haxhija et al. 2006).
16
Nachbehandlung
4 Frühestmögliche Reposition des luxierten Ellenbogens, falls möglich, sollte sie schon in Analgesie am Unfallort erfolgen. 4 Als dringlicher Eingriff wird der Ellenbogen in Narkose in der Klinik mit intraoperativer Prüfung der medialen Aufklappbarkeit des humeroulnaren Gelenkes reponiert. 4 Nach Reposition der Ellenbogenluxation ist immer eine Röntgenaufnahme zum Ausschluss einer instabilen Epicondylus-ulnaris-Läsion notwendig! 4 Operative Fixation bei jüngeren Kindern mit zwei divergierenden K-Drähten, die in der Gegenkortikalis Halt haben müssen. Die Drähte werden umgebogen und unter der Haut versenkt. 4 Bei größeren Kindern und Adoleszenten mit großem Knochenfragment empfiehlt sich die offene Reposition und Schraubenfixation des abgesprengten Epikondylus, vorzugsweise mit Anbohrung des Epikondylus von innen nach außen, um einen zentrischen Schraubensitz zu erreichen. 4 Postoperativ empfehlen wir bei Schraubenfixation des Epikondylus eine Ruhigstellung, um die Anheilung des Sehnenansatzes zu ermöglichen.
Begleitverletzungen
Bei Ellenbogenluxation eines Kindes sind neben der Epicondylus-ulnaris-Absprengung weitere Begleitverletzungen auszuschließen. Eine seltene Radiushals- oder Processus-coronoideus-Verletzung muss gesucht und ausgeschlossen werden (Therapie s. unten). Im seltenen Fall kann es bei einer Ellenbogenluxation zu einer »unhappy triad« mit Läsionen des Epikondylus, des Processus coronoideus und des Radiushalses kommen.
16.4.5
Prognose
Ellenbogenluxationen mit Abriss des Epicondylus ulnaris gehen immer mit einem erheblichen Kapsel- und Weichteilschaden einher. Dies verursacht eine verzögerte Wiederherstellung der Beweglichkeit des Ellenbogens. Bei schwersten Verletzungen und Mitbeteiligung der Epiphysenfuge des Condylus ulnaris sind auch Wachstumsstörungen möglich. Bei einem Vergleich zwischen Epicondylus-ulnarisund Condylus-radialis-Fraktur dauert die Wiederherstellung der vollen Beweglichkeit bei der Verletzung des medialen Epikondylus immer länger. Bei verspäteter Diagnose einer Epicondylus-ulnaris-Absprengung sind die Ergebnisse auch nach operativer Therapie beschränkt.
295 16.4 · Epicondylus-ulnaris-Abriss und Ellenbogenluxation
a . Abb. 16.12a–f Ellenbogenluxation mit Epicondylus-ulnaris-Abriss bei 7-jährigem Knaben. Nach Klassifikation der pädiatrischen Expertengruppe: Code 13-E/7.3IV (Slongo et al. 2006). a a.p. Aufnahme
b des rechten Ellenbogens mit Unterarm zeigt Luxation. b Seitaufnahme des rechten Ellenbogens mit Unterarm mit ventraler Luxation
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Kapitel 16 · Ellenbogengelenk
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. Abb. 16.12 c a.p. Aufnahme: nach geschlossener Reposition verbleibt Instabilität durch Abriss des Epicondylus ulnaris (weißer Pfeil). d Seitaufnahme des Ellenbogens nach geschlossener Reposition. Der Epikondylus-Abriss ist nicht zu erkennen. e a.p. Aufnahme des Ellen-
bogens nach offener Reposition und K-Drahtfixation (1,6 mm Dicke). Das Knochenknorpelfragment mit Beugesehnenansatz war 1×1,5 cm groß. Die Drähte fassen an der Gegenkortikalis. f Seitaufnahme des rechten Ellenbogens nach Refixation des Epikondylus
297 16.4 · Epicondylus-ulnaris-Abriss und Ellenbogenluxation
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. Abb. 16.13a–d Epikondylus-Abriss bei 13-jährigem Mädchen ohne Ellenbogenluxation. a Ellenbogen a.p. zeigt Abriss des Epicondylus ulnaris. b Ulnarer Stress in Narkose zeigt die Instabilität.
c Offene Reposition und Verschrauben in anatomischer Position. d Seitaufnahme nach Einbringung der Schraube mit Unterlegscheibe
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Kapitel 16 · Ellenbogengelenk
16.5
Condylus-radialis-Fraktur
Nach der suprakondylären Fraktur ist die Condylus-radialis-Fraktur die zweihäufigste Verletzung am Ellenbogen. 4 Entstehungsmechanismus: Sturz auf gestreckten Arm in Varusstress. Dabei können die Extensoren den Kondylus zum Teil oder vollständig abreißen. 4 Klinik: geschwollener Ellenbogen, Schmerzen über dem lateralen Anteil 4 Röntgendiagnostik: Nativaufnahme in 2 Ebenen 4 Klassifikation: Die Einteilung von Jakob et al. (1975) ist für die Therapie ausschlaggebend. 5 Ist das Knorpelscharnier erhalten (Typ I), sog. »hängende Fraktur« nach v. Laer (1998), so kann die Fraktur konservativ durch Ruhigstellung ausgeheilt werden. 5 Ist das Knorpelscharnier im Gelenk zerrissen (Typ II und III), muss die Fraktur reponiert und operativ fixiert werden. Im widrigen Fall kommt es zur Fehlverheilung (Malunion) oder Pseudarthrose (Nonunion).
16.5.1
16
Therapie der Condylus-radialisFraktur Typ I
4 Nativaufnahme zeigt stabile Situation: 5 Ruhigstellung im Oberarmgips für 2–3 Wochen 5 Eine Röntgenkontrolle, zur besseren Beurteilung ohne Gips nach 4–6 Tagen und nochmals nach 10 Tagen sind zu fordern, um eine sekundäre Dislokation nicht zu übersehen. 5 Falls sich dann die Instabilität mit sekundärer Dislokation herausstellt, ist die operative Versorgung sekundär indiziert (Finnbogason et al. 1995). Bei unversorgten oder nicht anatomisch rekonstruierten Frakturen kann ein vergrößerter Condylus radialis, eine sog. Fischschwanzdeformität mit klinisch erkennbarem (Pseudo-)Cubitus varus resultieren (. Abb. 16.14). Der Pseudo-Cubitus varus hat im Gegensatz zum Cubitus varus nach fehlverheilter suprakondylärer Fraktur einen geringen Krankheitswert und bedarf keiner operativen Therapie. 4 Falls das Nativröntgen die Stabilität nicht sicher erkennen lässt, empfiehlt sich eine Ultraschalluntersuchung (Vocke u. Schmid 2001).
16.5.2
Therapie der Condylus-radialisFraktur Typ II und Typ III
jOffene Reposition und K-Drahtfixierung (. Abb. 16.15) 4 Standard lateraler Zugang nach Kocher 4 Äußerst schonende Präparation der Strecksehneninsertion 4 Offene schonende Reposition des dislozierten Kondylus mit anatomischer Wiederherstellung der Gelenkfläche 4 Fixation mit 2–3 Kirschner-Drähte der Dicke 1,4–1,6 mm 4 In jedem Fall ist die Gegenkortikalis von den Drähten mit zu erfassen (Launey et al. 2004; Kiderlen u. Schlickewei 2008) 4 K-Drähte werden am Ende umgebogen und im Periost des Strecksehnenansatzes impaktiert 4 Ruhigstellung im Oberarmgips in neutraler Rotation, 90° Beugung, initial gespalten, am 3. Tag geschlossen 4 Ruhigstellung für 3 Wochen 4 Durch Eigenaktivität Wiederherstellung der freien Beweglichkeit innert 2–3 Wochen 4 Metallentfernung im Opertionssaal als ambulanter Eingriff nach 6–8 Wochen
jOffene Reposition mit Schraubenosteosyntese
Die Schraubenosteosynthese des offen reponierten dislozierten Condylus radialis ist die Methode der Wahl, wenn ein genügend großes metaphysäres Fragment vorliegt, durch das die Schraube ohne Risiko für die Wachstumsfuge eingebracht werden kann. Die Schraube mit Unterlegscheibe erreicht primär die gewünschte Stabilität, die bei unsachgemäßer Verwendung der K-Drähte (keine Verankerung in der Gegenkortikalis, kein Versenken und Impaktieren der umgebogenen Drähte) fehlen kann (von Laer 1998; Hasler u. von Laer 1998; Kiderlen u. Schlickewei 2008). Diese Methode ist besonders für größere Kinder und Adoleszente geeignet. Im Bedarfsfall kann ein zusätzlicher Kirschner-Draht zur Sicherung des reponierten epimetaphysären Fragments eingebracht werden (. Abb. 16.16). Auch nach der Schraubenosteosynthese wird der operierte Ellenbogen für ca. 14 Tage ruhiggestellt, um den mitverletzten Weichteilen eine gewisse Ruhe zu gönnen. Entfernung der Schraube und eventuell verwendeter Drähte ca. 8 Wochen nach dem Trauma.
299 16.5 · Condylus-radialis-Fraktur
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. Abb. 16.14a–h Condylus-radialis-Fraktur, gering disloziert bei 2,2-jährigem Knaben. a a.p. Aufnahme linker Ellenbogen: Fraktur am lateralen Kondylus, fraglich stabil, zusätzlich erkennbare Olekranonfraktur. Zunächst konservative Behandlung mit Oberarmgips. b Seitaufnahme linker Ellenbogen: Fraktur am lateralen Kondylus, fraglich
stabil. Behandlung initial mit Ruhigstellung im Oberarmgips. c a.p. Aufnahme linker Ellenbogen 11 Tage nach Trauma Lateralisierung der Fraktur. Die Aufnahme wurde ohne Gips angefertigt, um die Verhältnisse exakt beurteilen zu können. d Seitaufnahme linker Ellenbogen 11 Tage nach Trauma: zunehmende Instabilität
16
300
Kapitel 16 · Ellenbogengelenk
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. Abb. 16.14 e a.p. Aufnahme linker Ellenbogen nach offener Reposition und K-Drahtversorgung. f Seitaufnahme linker Ellenbogen nach offener Reposition und K-Drahtversorgung. g a.p. Aufnahme des linken Ellenbogens18 Monate später im Alter von 3,4 Jahren:
h Ausziehung des Kondylus radialis mit sog. Fischschwanzdeformität (klinisch Pseudo-Cubitus varus). h Seitaufnahme des linken Ellenbogens mit 3,4 Jahren zeigt die verheilte Condylus-radialis- und Olekranonfraktur
301 16.5 · Condylus-radialis-Fraktur
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. Abb. 16.15a–f Condylus-radialis-Fraktur mit Luxation bei 10-jährigem Knaben. a Luxationsfraktur mit komplett disloziertem Condylus-radialis-Abriss. b Seitliche Aufnahme mit Luxation. c a.p. Auf-
nahme nach offener Reposition und K-Drahtfixation. d Seitliche Aufnahme nach offener Reposition und K-Drahtfixation
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302
Kapitel 16 · Ellenbogengelenk
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. Abb. 16.15 e a.p. Aufnahme 2 Monate nach Trauma, nach erfolgter Metallentfernung. f Seitaufnahme nach Metallentfernung, freie Beweglichkeit des Ellenbogens
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a . Abb. 16.16a–f Condylus-radialis-Abriss bei 12-jährigem Knaben nach Taekwando-Unfall. a a.p. Aufnahme linker Ellenbogen zeigt
b Abriss des kompletten radialen Kondylus. b Seitaufnahme der Abrissverletzung
303 16.5 · Condylus-radialis-Fraktur
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. Abb. 16.16 c a.p. Aufnahme nach offener Reposition und Fixation mit Schraube und 2 Drähten. d Seitaufnahme nach Reposition und Osteosynthese. e a.p. Aufnahme 2 Monate postoperativ vor geplanter Metallentfernung. f Seitaufnahme vor geplanter Metallentfernung bei freier Beweglichkeit
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304
Kapitel 16 · Ellenbogengelenk
16.5.3
Ergebnisse und Prognose
4 Undislozierte oder »hängende« Fraktur: Bei eindeu-
tig intakter Gelenkfläche ist eine sekundäre Dislokation nicht zu erwarten. Eine folgenlose Ausheilung ist nach 3- bis 4-wöchiger Ruhigstellung zu erwarten. 4 Primär oder sekundär dislozierte Fraktur: nach korrekter Osteosynthese entweder mit Drähten oder mit Schraube ist die vollständige Wiederkehr der Ellenbogenform und -funktion zu erwarten (Sharma et al. 2009). Bei ungenügender Osteosynthese mit K-Drähten oder Schraube oder zu früher Entfernung des Osteosynthesematerials kann es zu einer sekundären Dislokation des lateralen Kondylus kommen. Zwei Möglichkeiten: 4 Malunion, das heißt Verheilen in einer Fehlstellung, vor allem zu weit lateral und distal mit Ausbildung eines (Pseudo-)Cubitus varus. 4 Nonunion oder Pseudarthrose (. Abb. 16.17). Eine solche Pseudarthrose geht anfangs mit erstaunlich wenig funktionellen Nachteilen einher. Auf lange Sicht resultiert eine Cubitus valgus mit früher Arthrose des inkongruenten Gelenkes und einer sekundären Nervus-ulnaris-Überstreckung mit folgender Nervus-ulnaris-Parese.
16.6
16
Bikondyläre Y- oder T-Fraktur
Diese auch als T-Fraktur bezeichnete Verletzung des distalen Humerus ist außerordentlich selten, am ehesten ist sie bei Adoleszenten anzutreffen (. Abb. 16.18). Der Traumamechanismus ist so zu erklären, dass beim direkten Aufprall das Olekranon in die Trochlea hineingestoßen wird und so die Kondylen spaltet (Beaty u. Kasser 2001). Die beiden Säulen des distalen Humerus werden getrennt. Therapie Die Therapie richtet sich nach der Größe des Frakturspaltes: 4 Bei Haarrissen ist die konservative Behandlung mit Ruhigstellung indiziert. 4 Bei Frakturspalten >2 mm ist die operative Reposition angezeigt (Kasser et al. 1990; Re et al. 1999): 5 Dorsaler Zugang mit Spaltung oder Ablösung des M. triceps; evtl. Olekranonosteotomie wie beim Erwachsenen mit anschließender Zuggurtung 5 Verschraubung von medial und lateral 5 Plattenosteosynthese von medial und lateral 5 Nachbehandlung mit CPM-Maschine
4 Alternative (Remia et al. 2004): 5 Trizepsschonende Darstellung des distalen Humerus 5 Option einer passageren Olekranonosteotomie 5 Schrauben bzw. Platten- und Schraubenosteosynthese Nachbehandlung Die Nachbehandlung nach T-kondylärer Fraktur verlangt wie beim Erwachsenen eine vermehrte Aufmerksamkeit. Der Einsatz der kontinuierlichen Bewegungsschiene (CPM) wird von der Bostoner Schule (Kasser et al. 1990; Re et al. 1999) empfohlen. Sie hilft, die gelenknahen Verklebungen zu verhindern, und soll die Wiederherstellung der aktiven Streckung des Ellenbogens ermöglichen. Prognose Bei wenig dislozierten Verletzungen (. Abb. 16.18) ist die Prognose gut. Bei Mehrfragmentfrakturen ist wie beim Erwachsenen die volle Wiederherstellung der Ellenbogenfunktion unwahrscheinlich.
16.7
Olekranonfraktur
Die Verknöcherung der Olekranonapophyse erfolgt relativ spät, jenseits des 8. Lebensjahres. Aus diesem Grund werden Olekranonabrissverletzungen, wenn sie bei jüngeren Kindern im apophysären Bereich nach einer traumatischen Ellenbogenluxation auftreten, erst an der reaktiven Kallusbildung erkannt. Unfallmechanismus Ein direkter Sturz auf den Ellenhaken führt zur isolierten Fraktur oder meist zur gleichzeitigen Luxation des gesamten Gelenkes mit Abriss des Epicondylus ulnaris oder des Condylus radialis. Die Olekranonfraktur ist häufig mit einer Radiushalsfraktur kombiniert. Klassifikation Die Klassifikation erfolgt nach der pädiatrischen Expertengruppe der AO-Stiftung in intraartikuläre und extraartikuläre Verletzungen ohne oder mit Dislokation. Die Begleitverletzungen sind mitgenannt (Slongo u. Audigé 2007). Sie gleicht der Einteilung von Evans und Graham (1999). Therapie Je nach der Schwere der Verletzung empfiehlt sich folgendes Vorgehen: 4 Gering dislozierten Olekranonfrakturen: Ruhigstellung im Gipsverband, Ausheilung innerhalb von 2–3 Wochen
305 16.7 · Olekranonfraktur
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c . Abb. 16.17a–c Condylus-radialis-Pseudarthrose. a Bei dem 6,1jährigen Mädchen wird die instabile Condylus-radialis-Fraktur mit 2 K-Drähten unzureichend fixiert, die Gegenkortikalis war nicht erfasst worden. Die Drähte waren schon nach 14 Tagen entfernt worden ohne abschließende Röntgenkontrolle. b Die Patientin kommt mit 8,6 Jahren wegen Beschwerden und Instabilitätsgefühl im linken
Ellenbogen. Klinisch findet sich ein deutlicher Cubitus valgus. Taubheitsgefühl im Bereich des Nervus-ulnaris-Ausbreitungsgebietes. c Nach suprakondylärer varisierender Osteotomie und Osteosynthese der angefrischten Pseudarthrose kommt es zur Ausheilung mit Wiederherstellung der freien Ellenbogenfunktion (12,2 Jahre). Die Funktion des Nervus ulnaris war wieder einwandfrei
16
306
Kapitel 16 · Ellenbogengelenk
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16 . Abb. 16.18a–d Transkondyläre T-Fraktur bei 11,5-jährigem Ringer. a Rechter Ellenbogen a.p. zeigt transkondyläre T-Fraktur. b Seitaufnahme des rechten Ellenbogens lässt die Fraktur nicht erkennen.
c a.p. Aufnahme rechter Ellenbogen nach Schraubenosteosynthese. d a.p. Seitaufnahme des rechten Ellenbogens mit einliegenden Schrauben
307 16.8 · Processus-coronoideus-Abriss
4 Grob dislozierten Olekranonfrakturen (extra oder
intraartikulär mit mehr als 2 mm Frakturspalt): 5 Operative Versorgung mit Zuggurtungsosteosynthese (Achterschlinge und Kirschner-Drähte) (. Abb. 16.19) 5 Alternative: Osteosynthese der Olekranonfraktur mit K-Drähten; gleichzeitige periostale Sicherung der reponierten Fraktur; Entfernung der K-Drähte nach Anlegen des Gipsverbandes. Durch diese Kombination lässt sich die aufwändigere Metallentfernung der Zuggurtungsschleife umgehen (Gortzak et al. 2006). 5 Alternative: Zugschraubenosteosynthese 4 Längsfrakturen können konservativ ausheilen, es sei denn, der Frakturspalt ist intraartikulär breiter als 2 mm 4 Versorgung der Mitverletzung (Radiushals, Epicondylus ulnaris, Condylus radialis)
a
Ergebnisse und Prognose 4 Konservative Therapie: Nicht oder wenig dislozierte
Polausrisse des Olekranon heilen problemlos bei Ruhigstellung im Oberarmgips aus. Schwierigkeiten werden eher von Begleitverletzungen wie einem Epicondylus-ulnaris-Abriss, einer Radiushalsfraktur oder Monteggia-Verletzungen verursacht. 4 Operative Therapie: Bei der alleinigen K-Drahtosteosynthese drohen Ausrisse, diese Gefahr wird durch die Verwendung der Zuggurtung vermieden. Die Metallentfernung ist bei Zuggurtungsosteosynthese aufwändiger als bei der einfachen Drahtimplantation, sie erfolgt nach Konsolidierung der Fraktur.
b
Prognose Bei den gering dislozierten konservativ behandelten Olekranonfrakturen ist eine folgenlose Ausheilung die Regel (Karlson et al. 2002). Bei den dislozierten und damit instabilen Frakturen ist bei ordnungsgemäßer Aufeinanderstellung der Fragmente eine regelrechte Ausheilung zu erwarten. Ein geringes Streckdefizit in der ersten postoperativen Zeit verschwindet in der Regel nach wenigen Wochen.
16.8
Processus-coronoideus-Abriss
Im seltenen Fall kann es anlässlich eines Stauchungstraumas des Olekranon mit nachfolgender Luxation des Ellenbogens zum Abriss des Processus coronoideus kommen. Da dieser Ulnateil erst im 6. Lebensjahr verknöchert, wird der knorpelige Ausriss schwer oder gar nicht erkannt. Zur Verletzung des Processus coronoideus kommt es eigentlich nur anlässlich einer Luxation bzw. der anschließenden Reposition des Ellenbogens (Bracq 1987).
c . Abb. 16.19a–c Olekranonfraktur bei 13-jährigem Knaben nach Sturz auf Ellenbogen beim Ringen. a Salter/Harris-II-Fraktur mit metaphysärem Fragment, disloziert. b,c Nach offener anatomischer Reposition Zuggurtungsosteosynthese
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Kapitel 16 · Ellenbogengelenk
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Klassifikation Die Klassifikation von Regan u. Morrey (1992) wurde für diese Verletzung beim Erwachsenen entwickelt. Sie kann mit Vorbehalt für Kinder, vor allem Adoleszente, übernommen werden. 4 Typ I: Abscheren des äußersten Endes des schnabelförmigen Ulnavorsprungs 4 Typ II: Ein Fragment oder mehrere Brösel mit weniger als 50% des Schnabelfortsatzes 4 Typ III: Ein oder mehrere Fragmente mit mehr als 50% des Processus coronoideus
. Abb. 16.20a–d Processus-coronoideus-Abriss bei Ellenbogenluxation eines 8-jährigen Mädchens. a a.p. Aufnahme linker Ellenbogen nach erfolgter Reposition einer traumatischen Ellenbogenluxation. Im medialen Gelenk unklare Strukturen als Traumafolge. b Seitaufnahme des linken Ellenbogens zeigt den Abriss des Processus coronoideus. c Seitaufnahme des linken Ellenbogens in anatomischer Position refixierter Processus coronoideus. d Bildwandleraufnahme des linkes Ellenbogens seitlich anlässlich der Metallentfernung
Alternativ kann die Klassifikation der pädiatrischen Expertengruppe der AO angewandt werden (Slongo u. Audigé 2007). Therapie 4 Bei Typ I und II frühe aktive Bewegungsübungen mit meist gutem Resultat 4 Bei Typ III operative Reposition wegen der sonst resultierenden Instabilität mit Reluxationsgefahr (. Abb. 16.20) durch einen dorso-ulnaren Zugang mit Verschraubung transulnar oder einen aufwändigeren ventralen Zugang mit direkter Verschraubung bei ausreichender Fragmentgröße
16
309 16.9 · Radiushalsfraktur
. Abb. 16.21 Einteilung der Radiushalsfraktur nach Judet in der Modifikation von Metaizeau (Lascombe 2006)
16.9
Radiushalsfraktur
Frakturen des Radiushalses stellen 1% der Frakturen im Kindesalter dar. Nur im seltensten Fall ist tatsächlich der Radiuskopf, das heißt die Epiphyse betroffen, in der Regel sind es metaphysäre und epimetaphysäre Salter/Harris-IIVerletzungen. Man sieht sie in der Altergruppe zwischen 4 und 15 Jahren, der Gipfel liegt bei ca. 9 Jahren. Die Unfallursache ist fast immer der Sturz auf den ausgestreckten Unterarm, im Grunde derselbe Mechanismus, der auch die suprakondyläre Fraktur erzeugt.
16.9.1
sehr wahrscheinlich, wenn ein ausreichendes Restwachstum gewährleistet ist. Judet-III- und -IV-Verletzungen und die Epiphyseolyse werden minimal-invasiv geschlossen mittels retrograder Metaizeau-Technik mit ESIN oder Kirschnerdraht reponiert. Insbesondere bei starkem Abrutschen des Radiushalses empfiehlt es sich, durch Druck von außen mit einem Steinmann-Nagel oder dicken K-Draht (Steele u. Graham 1992) die Reposition zu erleichtern. Das Prinzip a
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Klassifikation
Die Klassifikation erfolgt nach Judet (Judet 1962) in der Modifikation von Métaizeau (Lascombe 2006; . Abb. 16.21): 4 Typ I: kaum verschoben 4 Typ II: <30° Abkippung 4 Typ III: 30–60° Abkippung 4 Typ IV: >60° Abkippung 4 Typ V: Epiphyseolyse Therapieorientierter ist die Klassifikation der pädiatrischen Expertengruppe der AO (Slongo u. Audigé 2007).
16.9.2
Therapie
Judet-I- und -II-Verletzungen (AO Typ I) werden konservativ behandelt. Die Ruhigstellung sollte so kurz wie möglich stattfinden (maximal 2 Wochen), um durch Bewegung die optimale Rezentrierung des Radiuskopfes in Bezug auf das Kapitulum zu ermöglichen. Die Remodellierung ist
. Abb. 16.22a–c Metaizeau-Technik. a Einführen des stumpfen C-förmig vorgebogenen elastischen Nagels in den Radius von distal nach proximal (Diameter 1,6–2,0 mm je nach Alter). Durch eine Drehbewegung des Nagelsmit dem Jakobsschlüssel wird dieser retrograd nach oben geschoben. b Proximal dringt der Nagel in den dislozierten Radiuskopf ein. c Durch Drehung des Nagels wird der Radiuskopf mit -hals geschlossen reponiert. Der Nagel wird belassen und am distalen Ende knapp über dem Periost gekürzt (Aus Benson et al. 2002)
310
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Kapitel 16 · Ellenbogengelenk
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. Abb. 16.23a–d Radiushalsfraktur Judet-Metaizeau IV bei 11-jährigem Mädchen, nach der Metaizeau-Technik versorgt. a,b Die Unfallaufnahmen des linken Ellenbogens zeigen eine Radiushalsfraktur Judet-Metaizeau IV. c Röntgenbefund nach geschlossener Reposition mit Hilfe eines intramedullär nach proximal geschobenen
1,8-mm-K-Drahtes. d Röntgenkontrolle ein Jahr nach dem Unfall. Der Draht war 8 Wochen nach der Reposition in der Tagesklinik ambulant entfernt worden. Der etwas verplumpte Radiuskopf verursacht keine funktionellen Nachteile.
311 16.10 · Monteggia-Fraktur
der Metaizeau-Technik besteht darin, den intramedullären Nagel oder Draht durch fortlaufende Vor-und Rückwärtsdrehung von distalen Radius aus bis in den Radiuskopf vorzutreiben. Durch eine drehende Bewegung wird der »aufgegabelte« Radiuskopf reponiert (Metaizeau et al. 1993; (. Abb. 16.22 und . Abb. 16.23). Alternative: Anstatt des Titannagels kann ein C-förmig vorgebogener Kirschner-Draht der Größe 1,8–2,0 mm zur Reposition und Retention verwendet werden (Stiefel et al. 2009) Die Kombination beider Verfahren, des von Steele und Graham sowie des Verfahrens von Metaizeau, hat sich bewährt. Durch den von außen angelegten Steinmann-Nagel lässt sich der Radiuskopf samt Hals zum Teil reponieren, bevor dann der Marknagel oder Markdraht vollends mit einem letzten Dreh die Reposition erreicht.
16.10
Monteggia-Fraktur
Giovanni Monteggia hat die Kombination einer Luxation des Radiuskopfes und einer Ulnafraktur schon 1814 beschrieben. Der Unfallmechanismus ist unterschiedlich. Zur typischen vorderen Dislokation des Radiuskopfes kommt es bei einem Überstrecktrauma beim Vorwärtssturz auf den ausgestreckten Arm. Sobald der Radiuskopf aus dem Ringband gesprungen ist, bricht die Last die Ulna entweder in Schaftmitte oder etwas proximal. Weiterhin ist im Sinne einer Parierverletzung eine Fraktur der Ulna mit sekundärer Dislokation des Radiuskopfs denkbar.
16.10.1
Klassifikation
Klassifikation von Bado (. Abb. 16.25; Bado 1967):
Offene Reposition Wenn die Radiushalsfraktur komplett disloziert oder sogar eingeklemmt ist, empfiehlt sich die offene Reposition (. Abb. 16.23 und . Abb. 16.24). Zur Retention des reponierten Radiuskopfes wird ebenfalls der retrograd eingebrachte Nagel oder Draht verwandt. Ergebnisse und Prognose Bei den Typ-I- und -II-Frakturen ist die Prognose gut. Eine Remodellierung bzw. Repositionierung des Radiuskopfes findet bei konsequenter frühfunktioneller Therapie in der Regel statt. Dennoch kommen immer wieder auch bei diesem Verletzungstyp unbefriedigende Ergebnisse, meist durch unzulässig lange Ruhigstellungszeiten verursacht, vor. Bei älteren Kindern und Jugendlichen ist die Tendenz zu periartikulären Verkalkungen bis hin zur posttraumatischen radioulnaren Synostose beschrieben und nicht immer vermeidbar. Bei den Typ-III- und -IV-Frakturen findet man bei der Manipulation von außen mit dem Steinmann-Nagel bedingt befriedigende Ergebnisse). Wegen der schlechten Prognose nach offener Reposition mit Radiuskopfnekrose und Verkalkung hat man von jeglichem Eingriff Abstand genommen und auf die Remodellierung gehofft (Vocke u. von Laer 1998). Mit der Metaizeau-Technik und der geschlossenen Reposition mit dem Titannagel oder stumpfen KirschnerDraht, im Markraum des Radius nach proximal geführt, ist eine neue Ära angebrochen. 95% der Judet-III- und JudetIV-Verletzungen können geschlossen reponiert werden. Die Ergebnisse sind fast immer gut, wenngleich vereinzelte Durchblutungsstörungen beobachtet werden (GonzalezHerranz et al. 1997; Stiefel et al. 2001; Schmittenbecher et al. 2005; Journeaux u. Moh-Ello 2006). Wichtig erscheint uns die Empfehlung, nach offener Reposition zur Retention nicht lokal Schräubchen oder K-Drähte, sondern ebenfalls die Metaizeau-Drähte oder -nägel zu verwenden.
4 Typ I (73% der Fälle): vordere Luxation des Radiuskopfes mit Ulnamittefraktur 4 Typ II (6%): hintere Luxation des Radiuskopfes bei Olekranonschrägfraktur 4 Typ III (20%): laterale Luxation des Radiuskopfes mit Olekranonfraktur in Varus 4 Typ IV (1%): vordere Luxation des Radiuskopfes mit Fraktur von Radius und Ulna
Daneben gibt es sog. Monteggia-Äquivalente (Letts et al. 1988): 4 Radiuskopfluxation ohne Ulnafrakur bei Bindewebsschwäche 4 Radiuskopfluxation mit »bowing ulna« (inkompletter Bruch) 4 Radiuskopfluxation mit gleichzeitiger Radiushals- und Ulnafraktur 4 Radiuskopfluxation mit gleichzeitiger Halsfraktur ohne Ulnafraktur 4 Radiuskopfluxation mit Olekranon- plus Ulnaschaftfraktur
16.10.2
Therapie der Typ-I-Verletzung
Bei der überwiegenden Zahl der Monteggia-Verletzungen handelt es sich um den Typ I mit Ulnafrakur in Kombination mit einer Radiuskopfluxation nach ventral. Die Reposition läuft in drei Stufen ab (. Abb. 16.26; Wilkins 2002):
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312
Kapitel 16 · Ellenbogengelenk
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. Abb. 16.24a–d Dislozierte Radiushalsfraktur, Judet-Metaizeau V (Epiphyseolyse) bei 11,8-jährigem Mädchen nach Sturz vom Pferd. a In der Seitaufnahme erkennbare Abkippung des Radiushalses um 90° mit Einklemmung unter dem Capitulum humeri. b Zielaufnahme nach offener Reposition und retrograder Auffädelung von Kopf und Hals über den von distal eingebrachten Metaizeau-Draht. c,d a.p. und Seitaufnahme 3 Monate später. Die Fraktur ist anatomisch verheilt. Eine Kopfnekrose ist nicht eingetreten. Der Draht wird in einem Kurzeingriff entfernt. Die klinische Verlaufskontrolle 1½ Jahre nach dem Trauma zeigt die freie Beugung/Streckung und die uneingeschränkte Pro- und Supination
313 16.10 · Monteggia-Fraktur
. Abb. 16.25 Klassifikation von Bado
16.10.3 4 Reposition der Ulnadiaphysenfraktur bzw. Korrektur der plastischen Ulnaverbiegung (»bowing ulna«). 4 Mit Ausgleich der Ulnalänge rutscht der Radiuskopf zurück unter das Ringband. 4 Durch Beugung wird der Zug des Bizeps auf den proximalen Radius entspannt, dies erleichtert die Reposition des Kopfes. 4 Ein Drücken des proximalen Radius nach dorsal unterstützt die Reposition. 4 Überprüfen der erfolgreichen Reposition von Ulnafraktur und Radiuskopfluxation mit dem Bildverstärker. 4 Intramedulläre Stabilisierung oder andere Osteosynthese der reponierten Ulnafraktur, um eine sekundäre Redislokation des Radiuskopfes zu verhindern (Rodgers et al. 1996). 4 Ruhigstellung im gespaltenen Oberarmgips in 100° Beugung.
Therapie der Typ-II-Verletzung
Seltene Verletzung (ca. 6%) mit dorsaler Luxation des Radiuskopfes bei Schrägfraktur der proximalen Ulna. 4 Geschlossene Reposition der proximalen Ulnafraktur durch Längszug 4 Nach vorne gerichteter Druck auf den Radiuskopf zur Reposition nach ventral 4 Bildwandlerüberprüfung der Reposition in beiden Ebenen 4 Retrograde Markdrahtung der Ulna von distal zur Retention der reponierten Ulnafraktur 4 Oberarmgips in 90° Beugung bei Verwendung des Drahtes 4 Oberarmgips in Streckstellung bei Versorgung ohne Draht
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Kapitel 16 · Ellenbogengelenk
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. Abb. 16.26a–f Monteggia-Fraktur Typ I bei 6-jährigem Knaben. a Die a.p. Aufnahme zeigt die Ulnaquerfraktur. b Die Seitaufnahme zeigt die Bado-I-Radiuskopfluxation. c, d a.p. und Seitaufnahme nach geschlossener Radiuskopfreposition und Stabilisierung der reponierten Ulna mit intramedullärem Draht (Durchmesser 1,8 mm). e, f a.p. und Seitaufnahme des gesamten Unterarms mit Ellenbogen und Handgelenk zeigt die konsolidierte, im ehemaligen Frakturbereich noch etwas verdickte Ulna mit einliegendem Draht und die anatomische Position des Caput radii unter dem Capitulum humeri
315 16.10 · Monteggia-Fraktur
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. Abb. 16.27a–d Monteggia-Fraktur Typ III bei 5,8-jährigem Knaben. a Radiale Luxation des Radiuskopfes und Varusdeformität der proximalen Ulna. b Seitaufnahme des gesamten Unterarms zeigt Fraktur an proximaler Ulna und geringe Ventraldislokation des Radiuskopfes. c a.p. Aufnahme des Ellenbogens nach geschlossener Reposition der proximalen Ulnafraktur durch Valgusstress mit intramedullärer Drahtung, von der distalen Ulna aus eingeführter stumpfer Draht (1,8 mm Durchmesser). d Seitaufnahme nach Ulna- und Radiuskopfreposition. Zusätzliche Ruhigstellung für 14 Tage ist empfohlen
16.10.4
Therapie der Typ-III-Verletzung
Zweithäufigster Typ mit Varusdeformität des Ellenbogens durch Luxation des Radiuskopfes nach lateral. 4 Zur geschlossenen Reposition in Streckstellung Anwendung eines Valgusstresses, um die proximale Ulnafraktur und den Radiuskopf zu reponieren 4 Zusätzlicher Druck von lateral auf den Radiuskopf erleichtert die Reposition 4 Bildwandlerkontrolle der erfolgreichen Reposition 4 Ruhigstellung im Oberarmgips in Beugestellung für 3–4 Wochen
c
Eine offene Reposition ist dann nötig, wenn Periost an der proximalen Ulna interponiert ist. Bei offener Reposition
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Kapitel 16 · Ellenbogengelenk
kann als Alternative der Markdrahtung eine Zuggurtung für die reponierte proximale Ulna eingesetzt werden. Verspätet erkannte Radiuskopfluxation nach durchgemachter Monteggia-Verletzung Typ I 4 Ursache – Unsachgemäße Röntgenuntersuchung bei erwarteter Ulnafraktur ohne Darstellung des Ellenbogengelenkes in 2 Ebenen – Nichterkennen einer nach vorne verbogenen Ulna, »bowing ulna«, mit daraus resultierender sekundärer Luxation des Radiuskopfes. – Unsachgemäße und unvollständige Reposition des Radiuskopfes. Die Hilfslinie entlang der Längsachse muss durch das Kapitulum humeri führen. – Radiuskopfluxation ohne gleichzeitige Ulnafraktur bei bindegewebsschwachen Kindern mit sog. Monteggia-Äquivalent. 4 Therapie – Offene Ulnaflexions und -verlängerungsosteotomie mit geschlossener Radiuskopfreposition (Lädermann et al. 2007) – Offene Reposition und Ulnaflexions- und -verlängerungsosteotomie in Kombination mit Ringbandplastik aus Faszie (Nakamura et al. 2009), wenn der Knorpelbelag des Radiuskopfes noch konkav und in seiner Festigkeit erhalten ist – Geschlossene Reposition über Fixateur externe nach offener Ulnaosteotomie (Exner 2001; Korner et al. 2003; Hasler et al. 2005)
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317 16.10 · Monteggia-Fraktur
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16
17
Unterarm M. Oberle, W. Schlickewei
17.1
Besonderheiten im Kindesalter
17.2
Diaphysärer Unterarm
17.2.1 17.2.2 17.2.3 17.2.4 17.2.5 17.2.6 17.2.7 17.2.8 17.2.9 17.2.10 17.2.11
Klassifikation, Häufigkeit und Ursachen – 320 Korrekturgrenzen und Wachstumsstörungen – 320 Klinik und Erstversorgung – 321 Diagnostik – 321 Therapieziel – 321 Therapieindikationen – 321 Konservative Therapie – 321 Operative Therapie – 321 Kontrollen und Nachbehandlung – 324 Ergebnisse und Prognose – 325 Komplikationen – 325
17.3
Distaler Unterarm
17.3.1 17.3.2 17.3.3 17.3.4 17.3.5 17.3.6 17.3.7 17.3.8 17.3.9 17.3.10 17.3.11
Klassifikation, Häufigkeit und Ursachen – 325 Korrekturgrenzen und Wachstumsstörungen – 326 Klinik und Erstversorgung – 326 Diagnostik – 326 Therapieziel – 326 Indikationen – 326 Konservative Therapie – 327 Operative Therapie – 327 Kontrollen und Nachbehandlung – 328 Ergebnisse und Prognose – 328 Komplikationen – 328
17.4
Monteggia-Läsion
17.5
Galeazzi-Läsion
17.5.1 17.5.2
Klassifikation, Häufigkeit und Ursachen – 329 Korrekturgrenzen und Wachstumsstörungen – 329 Literatur
– 329
– 320
– 320
– 325
– 329
– 329
320
Kapitel 17 · Unterarm
17.1
Besonderheiten im Kindesalter
Unterarmfrakturen gehören zu den häufigsten Frakturen im Kindesalter. Auch bei den Unterarmfrakturen unterscheidet sich aber die Behandlung des Kindes in der Regel von der Behandlung beim erwachsenen Patienten. Aufgrund des ausgeprägten sog. Remodelling können speziell im Bereich des Unterarms altersentsprechende Korrekturgrenzen toleriert werden. Diese Grenzen sind abhängig von 4 Alter des Patienten 4 Lokalisation der Fraktur 4 Bewegungsebene des angrenzenden Gelenks 4 Wachstumspotenz der Fuge Analog zu den Fehlstellungen können Korrekturen von Seit-zu-Seit-Fehlstellungen, Achsfehlstellungen, Rotationsfehlstellungen und Verkürzungen unterschieden werden (. Tab. 17.1).
17
17.2
Diaphysärer Unterarm
17.2.1
Klassifikation, Häufigkeit und Ursachen
Die Unterarmschaftfraktur im Wachstumsalter macht ungefähr 1% aller Notfälle und ungefähr 6% aller Frakturen in chirurgischen Ambulanzen aus. Die häufigsten Ursachen sind Unfälle im Freizeitsport, gefolgt von häuslichen Unfällen. Verkehrsunfälle sind nur in ca. 5% der Fälle Ursache dieser Verletzungen. Meist treten sie im distalen Drittel auf (v. Laer 2001). Ursache können sowohl direkte als auch indirekte Gewalteinwirkungen sein. Unter bestimmten Umständen (Kleinkinder, inadäquates Trauma, multiple Hämatome etc.) muss auch die Möglichkeit einer Kindesmisshandlung in Betracht gezogen werden. Hierbei kommt es zu einer typischen, reflexartigen Abwehrbewegung der Schläge durch Hochreißen des Unterarms zum
Schutz des Kopfes. In der Literatur wird die Häufigkeit von Kindesmisshandlungen als Ursache von Frakturen mit 11–55% angegeben. Frakturmorphologisch unterscheidet man vollständige Frakturen von Ulna und Radius von Biegungsfrakturen. Die vollständigen Frakturen sind in der Regel instabile Frakturen. Sie können als Schräg-, Quer-, Torsions- und Trümmerfrakturen auftreten. Biegungsfrakturen und Frakturen mit Beteiligung eines Knochens oder komplette nicht dislozierte Querfrakturen sind stabile Frakturen. Neben der klassischen Grünholz-Fraktur gehören die »bowing fracture« und die Stauchungsfrakturen zu diesen stabilen Frakturen. Zur Klassifizierung der diaphysären Frakturen hat sich die AO-Klassifikation für Frakturen im Kindesalter etabliert.
17.2.2
Korrekturgrenzen und Wachstumsstörungen
Unter deskriptiv-anatomischen Gesichtspunkten ist die Unterarmfraktur im Schaftbereich als diaphysäre Fraktur anzusehen. Betrachtet man die Unterarmschaftfraktur jedoch funktionell-anatomisch, ist sie aufgrund der Supinations-Pronationsbewegung wie eine Gelenkfraktur anzusehen. Selbst geringe Achsfehlstellungen können daher zu funktionellen Einschränkungen führen. Mit einem ausgeprägten Remodelling ist diaphysär nicht zu rechnen. Aus diesen Gründen sollten lediglich bei Kindern bis zum 5. Lebensjahr Achsfehlstellungen bis 20° toleriert werden. ! Cave Auch geringste Achsfehlstellungen, die zu einer Einengung des interossären Raumes führen, dürfen nicht belassen werden.
Wachstumsstörungen nach diaphysären Unterarmfrakturen sind selten und zeigen sich dann meist in Form einer passageren stimulativen Wachstumsstörung.
. Tab. 17.1 Korrekturgrenzen bei Unterarmfrakturen im Wachstumsalter Diaphysärer Unterarm
Distaler Unteram
Seit-zu-Seit Fehlstellung
Maximal Schaftbreite (keine Einengung des interossären Raums)
Ein Viertel Schaftbreite
Achsfehlstellung
Bis 5. Lebensjahr: 20° proximales Drittel, 10° mittleres Drittel 5.–10. Lebensjahr: 10°, volar maximal 5° Proximaler Schaft: 10°
Bis 10. Lebensjahr: 30° sagittal, 10° frontal Ab 10. Lebensjahr: 20° sagittal, 10° frontal <2 Jahre: Restwachstum: maximal 10° in jeder Ebene
Rotationsfehlstellung
Keine wesentliche Korrektur
Keine wesentliche Korrektur
Verkürzung
1 cm
1 cm
H.G. Dietz et al. (Hrsg.), Praxis der Kinder-und Jugendtraumatologie, DOI 10.1007/978-3-642-12935-3_17, © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2011
321 17.2 · Diaphysärer Unterarm
17.2.3
Klinik und Erstversorgung
Oft ist die Beweglichkeit im gesamten Arm schmerzhaft eingeschränkt. Druckschmerz über dem Unterarmschaft, eine sichtbare Fehlstellung mit Achsabweichung und evtl. Paresen können klinisch imponieren. Für den Transport wird der betroffene Arm in der Erstversorgungsschiene schonend gelagert. Eine adäquate Analgesie ist notwendig.
17.2.4
Diagnostik
Röntgenaufnahmen des Unterarmes in zwei Ebenen mit den benachbarten Gelenken bilden die Basis der Diagnostik. Nur so lassen sich bei isolierten Frakturen des Radius oder der Ulna eine Monteggia- oder Galeazzi-Läsion nachweisen. Exakterweise sollten die beiden Ebenen orthogonal zu einander stehen. Auf diese Weise lassen sich Achsfehlstellung oder ad latus Verschiebung exakt beurteilen. Rotationsfehlstellung lassen sich teilweise nur indirekt mit der konventionellen Röntgendiagnostik verifizieren. Zur Beurteilung des Weichteilschadens insbesondere zum Ausschluss einer hochgradigen Läsion der Membrana interossea oder zur Beurteilung der Durchblutung kann die Sonographie (Doppler-Sonographie) nützich sein.
17.2.5
Therapieziel
Das Therapieziel ist die Wiederherstellung der Funktion des Unterarmes, wobei bei Schaftfrakturen insbesondere auf die Wiederherstellung der Supination und Pronation zu achten ist. Für dieses Ziel müssen Frakturen mit Achsabweichungen außerhalb der oben genannten Korrekturgrenzen reponiert werden.
17.2.6
Therapieindikationen
Stabile Frakturen und Frakturen mit Achsabweichungen innerhalb der altersabhängigen Korrekturgrenzen werden konservativ versorgt. Stabile Frakturen (s. oben) mit stärkerer Achsabweichung werden geschlossen reponiert und im Gips ruhig gestellt (Ostermann et al. 1999). Instabile Frakturen werden operativ stabilisiert. Das Risiko einer sekundären Dislokation nach primär geschlossener Reposition und Gipsanlage ist hoch, so dass diese Frakturen primär reponiert und operativ stabilisiert werden. Sekundär dislozierte Frakturen nach zunächst konservativer Therapie und primär stabile Frakturen, die nach Reposition instabil sind, werden ebenfalls operativ stabilisiert. Sekundäre Nachrepositionen sind zu vermeiden. Des Weiteren sollte eine operative Stabilisierung bei offenen
Frakturen, Refrakturen und beim polytraumatisierten Kind erfolgen. Absolute Notfallindikationen sind offenen Frakturen, neurovaskuläre Begleitverletzungen und desolate Weichteilverhältnisse.
17.2.7
Konservative Therapie
Falls notwenig Reposition der Fraktur in Kurznarkose und Anlage eines zirkulären, gespaltenen Oberarmgips. Nach Abschwellen der Weichteile wird der Gips geschlossen. Insgesamt ist eine altersabhängige Ruhigstellung für 3–6 Wochen indiziert.
17.2.8
Operative Therapie
Das Mittel der Wahl zur Stabilisierung diaphysärer Unterarmfrakturen im Wachstumsalter ist die elastische stabile intramedulläre Nagelung (ESIN; Schlickewei u. Salm 2001). Mit ihr kann eine übungsstabile Versorgung der Fraktur erzielt werden. Bei offene Frakturen und Frakturen mit erheblicher Weichteilschädigung ist der Fixateur externe indiziert. Die Plattenosteosynthese ist bei Unterarmschaftfrakturen im Wachstumsalter eine Ausnahmeindikation. Sie kann in der Adoleszenz bei bereits geschlossenen Fugen zur stabilen Versorgung indiziert sein. Ferner kann bei weit distal gelegenen Schaftfrakturen als ultima ratio eine Plattenosteosynthese durchgeführt werden.
Intramedulläre Nagelung 4 Der Eingriff wird in Rückenlage mit Auslagerung des betroffenen Armes in Abduktion auf dem Armtisch durchgeführt. Nach sterilem Abwaschen des gesamten Armes wird dieser beweglich abgedeckt. 4 Zunächst wird der schwieriger zu reponierende Knochen, in der Regel der Radius, versorgt. Der Radius wird gewöhnlich aszendierend, d. h. von distal genagelt. 4 Für den Zugang zur aszendierenden Nagelung des Radius wird unter Bildwandlerkontrolle ein Punkt 2 cm proximal der distalen Epiphysenfuge markiert (. Abb. 17.1a). 4 Von diesem Punkt aus wird radialseitig eine 2–3 cm große Inzision nach distal durchgeführt. Die Inzision muss lang genug sein, um eventuelle Hautkontusionen beim späteren Nageln zu vermeiden. Die Darstellung des Ramus superficialis n. radialis muss bei diesem Zugang gefordert werden. 6
17
322
Kapitel 17 · Unterarm
4 Nach Darstellung dieses Nervenastes kann dieser vom Assistenten mit einem kleinen Lidhäkchen zur Seite gehalten werden. 4 Anschließend kann unter subtiler Blutstillung mittels Diathermie die Darstellung der Eintrittsstelle am Radius erfolgen. 4 Die Markraumeröffnung erfolgt am Radius ggf. unter radiologischer Sicht mittels Pfriem. Zunächst wird das Os mit dem Pfriem senkrecht zur Knochenachse angekörnt. Anschließend wird der Pfriem unter leichten rotierenden Bewegungen in Schaftrichtung abgesenkt und die Kortikalis weiter aufsteigend perforiert. Es ist wichtig, dass die Kortikalisöffnung groß genug für den gewählten titanelastischen Nagel (TEN) ist, da bei zu klein gewählter Perforation das Einbringen des Nagels zur Schaftsprengung führen kann. 4 An dieser Stelle kann eine erneute Kontrolle der Lage und Eindringtiefe mit dem Bildwandler erfolgen. 4 Bei sehr harter Kortikalis kann alternativ zum Pfriem die Kortikalis zunächst mit einem Spiralbohrer aufgebohrt werden.
! Cave Bei der Markraumeröffnung darf auf keinem Fall die Gegenkortikalis perforiert werden, da sonst der Nagel später in diese »via falsa« gerät.
17
4 Alternativ kann bei weit distal gelegen Frakturen eine dorsale Eintrittstelle gewählt werden. Dabei wird nach einer kleinen queren Inzision über der dorsalen Radiusmetaphyse der Markraum mit dem Pfriem direkt über dem Tuberculum Listeri eröffnet. Dabei ist darauf zu achten, dass mit dem Pfriem nicht die Gegenkortikalis perforiert wird. 4 Wird dieser Zugang gewählt, müssen die Strecksehnen obligat geschont werden. Das Nagelende darf nach Kürzen des Nagels nicht im Strecksehnenfach zu liegen kommen, da dies zu einer Irritation der Strecksehne mit nachfolgender sekundärer Sehnenruptur führen kann. Dies kann vermieden werden, indem der Draht nicht zu sehr gekürzt wird. Vorteil dieses Zuganges ist, dass insbesondere bei weit distal gelegen Radiusfrakturen durch das Nageleinführen die Fraktur nicht so sehr axial disloziert wird. Auch die Gefahr der Lä6
4 4
4 4
4
sion des Ramus superficialis des Nervus radialis besteht bei diesem Zugang nicht. Ein Abflachen der Nagelspitze mit einer Zange erleichtert das Einbringen des Nagels. Das Implantat wird ggf. mit Hilfe eines Einschlaginstruments so eingebracht, dass die abgeflachte Nagelspitze in Schaftrichtung zeigt und somit eine Perforation der Gegenkortikalis vermieden werden kann und bis zur Fraktur vorgeschoben. Hierbei sind Schläge mit dem Hammer auf das Nagelende zu vermeiden, da dadurch Kortikalislamellen herausgeschlagen werden können. Die Reposition der Fraktur gelingt in der Regel geschlossen. Muskelinterponate können eine geschlossene Reposition verhindern, so dass eine offene Reposition notwendig ist. Dazu ist eine Inzisionen über der Fraktur auf der gedachten Linie zwischen Epicondylus radialis humeri und der dorsalen Mitte des Radiusendes erforderlich. Die Fraktur kann dann mit Repositionszangen passager fixiert werden. Ist die Fraktur reponiert, wird der TEN über den Frakturspalt hinweg in das proximale Fragment vorgeschoben und bis in die Höhe der Tuberositas radii vorgetrieben.
! Cave Die antegrade Nagelung des Radius ist aufgrund des hohen Risikos, den Ramus profundus des Nervus radialis zu verletzen, nicht erlaubt.
4 Die Ulna wurde aufgrund der anatomischen Begebenheiten traditionell genagelt. 4 Zunehmend und in besonderen Fällen regelmäßig kann die Ulna auch aszendierend geschient werden. Dies kann bei sehr weit proximal gelegenen Ulnafrakturen oder bei entsprechenden Komplikationswunden am Ellenbogen notwendig sein. In diesen Fällen wird eine Inzision über der distalen Ulnametaphyse ulnarseitig durchgeführt. Nach Eröffnung des Markraumes mit dem Pfriem wird der Nagel aszendierend (retrograd) eingebracht. Dies ist auch bei grob dislozierten Frakturen im mittleren und proximalen Drittel empfehlenswert, da sich die distalen Fragmente von Radius und Ulna dann gleichsinnig manipulieren lassen. 6
323 17.2 · Diaphysärer Unterarm
4 Die Eintrittstelle bei der üblichen deszendierenden Nagelung sollte erneut unter radiologischer Kontrolle ca. 2 cm distal der Apophysenfuge festgelegt werden (. Abb. 17.1b). 4 Von hier aus wird eine 2–3 cm große dorsoradiale Inzision durchgeführt. Bei diesem Zugang muss insbesondere die Olekranonapophyse geschont werden. 4 Die Markhöhle wird analog zum Radius mit dem Pfriem eröffnet. In gleicher Weise wird anschließend der TEN in die Ulna eingebracht und über die reponierte Fraktur hinweg nach distal vorgeschoben (. Abb. 17.2 und . Abb. 17.3).
Bei der Versorgung kompletter Unterarmfrakturen müssen stets Ulna und Radius geschient werden. Es müssen dabei Nägel gleichen Durchmessers verwendet werden. So kommt es zu einer gleichen Spannkraftentfaltung ulnar und radial. > Die Nagelstärke richtet sich dann nach dem ulnaren Markraum, wobei folgendes gilt: Nageldicke entspricht zwei Drittel des Markraumes.
Die Nagelspitzen müssen aufeinander zugedreht werden, um eine physiologische Krümmung von Radius und Ulna
und das ovaläre Aufspannen der Membrana interossea zu gewährleisten (Oberle 2005; Schlickewei u. Oberle 2005). Postoperativ wird der Arm elastisch gewickelt. Vor Beendigung der Narkose sollte der Unterarm einmal komplett durchbewegt werden. Grenzen der intramedullären Markraumschienung sind sehr weit distal gelegene Radiusfrakturen (Übergang diaphysärer und metaphysärer Bereich). Die Fraktur sollte mindestens 3–4 cm proximal des potenziellen Eintrittspunktes im Bereich des Radius sein. Für diese Fälle sollte dann der oben beschriebene dorsale Eintrittspunkt über das Tuberculum Listeri gewählt werden.
Plattenosteosynthese 4 Die Plattenosteosynthese ist bei Unterarmschaftfrakturen im Wachstumsalter eine Ausnahmeindikation. Zur Versorgung des Radius wird der Arm leicht proniert und gebeugt gehalten. 4 Die Hautinzision liegt dann auf der gedachten Linie zwischen Epicondylus radialis humeri und der dorsalen Mitte des Radiusendes. 4 Nach Spalten der Faszie am radialen Rand des M. extensor digitorum communis wird im Septum 6
. Abb. 17.1a–c Eintrittsstellen der titanelastischen Nägeln an Radius und Ulna. a Eintrittsstellen für die aszendierende Schienung des Radius. b Eintrittsstelle für die deszendierende Schienung der Ulna. c Regelrechte Lage der titanelastischen Nägel in Ulna und Radius
b
a
c
17
324
Kapitel 17 · Unterarm
. Abb. 17.2 Einbringen der elastischen Nägel in Radius und Ulna
17.2.9
17
intermusculare zwischen M. extensor digitorum communis und M. extensor carpi radialis brevis bis zum Os präpariert. 4 Am proximalen Teil des Zugangs liegt der M. supinator, durch welchen der R. profundus des N. radialis läuft. Cave: Bei ca. 25% der Patienten liegt der R. profundus direkt dem Periost auf. Wir raten daher dringend von eingeschobenen Platten ab und empfehlen die Darstellung des Nervens. 4 Nach Reposition wird die Fraktur mit einer Kleinfragmentplatte (ggf. auch Rekonstruktionsplatte) stabilisiert. 4 Zur Stabilisierung der Ulna wird eine Hautinzision auf der gedachten Linie zwischen Olekranon und Prozessus gemacht. Zwischen M. extensor und flexor carpi ulnaris gelangt man direkt auf den Knochen.
Kontrollen und Nachbehandlung
Konservative Therapie Bei konservativer Therapie erfolgt nach eventueller Reposition die Anlage eines zirkulären, gespaltenen Oberarmgipses. Nach Abschwellen der Weichteile wird der Gips geschlossen (ca. 4.–7. Tag). Insgesamt ist eine altersabhängige Ruhigstellung für 3–6 Wochen indiziert. Bei älteren Kindern sollte die Ruhigstellung bis zu 6 Wochen erfolgen, wobei in den letzten beiden Wochen der Gips auf Unterarmniveau gekürzt werden kann. Wir empfehlen bei reponierten Frakturen eine Röntgenkontrolle nach Gipsschluss am 5. Tag, um eine sekundäre Dislokation auszuschließen. Bei noch mobiler Fraktur muss selten am 10. Tag nochmals eine Stellungskontrolle in der dislozierenden Ebene erfolgen. Zu Kontrolle der knöchernen Durchbauung kann eine weitere Röntgenkontrolle (Konsolidierungskontrolle nach 3 Wochen) oder nach Gipsabnahme sinnvoll sein. Bei nicht dislozierten Frakturen kann in Absprache mit den Eltern auf unnötige Röntgenkontrollen verzichtet werden. Anschließend kann in der Regel ein schneller Bewegungs- und Belastungsaufbau erfolgen. Klinische Kontrollen werden bis zum Erreichen der vollen Beweglichkeit durchgeführt.
325 17.3 · Distaler Unterarm
1991). Wachstumsstörungen nach diaphysären Unterarmfrakturen sind selten.
17.2.11
Komplikationen
Konservative Therapie Nach konservativer Therapie kann es zu einer sekundären Dislokation der Fraktur kommen. Wir empfehlen dann eine osteosynthetische Versorgung nach Reposition, um eine erneute Dislokation zu vermeiden.
a
b
. Abb. 17.3a,b Versorgung einer Unterarmschaftfraktur mit elastischen Nägeln. a a.p. Röntgenaufnahme. b Röntgenseitaufnahme
Operative Therapie Unabhängig von der Methode liegt nach der operativen Therapie in der Regel eine übungsstabile Situation vor und es ist eine früh-funktionelle Nachbehandlung möglich. Zur Schmerztherapie kann eine abwickelbare Unterarmschiene im Einzelfall für einige Tage sinnvoll sein. Röntgenkontrollen werden intraoperativ und nach 4–6 Wochen zur Kontrolle der knöchernen Durchbauung durchgeführt. Anschließend kann in der Regel ein schneller Bewegungs- und Belastungsaufbau erfolgen. Abschließend wird vor der geplanten Metallentfernung eine Kontrolle durchgeführt. Dies sollte am Unterarm nach vollständigem Remodelling des Knochens, also nach ca. 6–Monaten erfolgen.
17.2.10
Ergebnisse und Prognose
Nach korrekter anatomischer Reposition der Fraktur hat die diaphysäre Unterarmfraktur eine gute Prognose. 85– 97% der operativ versorgten Frakturen haben gute und sehr gute Ergebnisse (Weinberg et al. 2008; Buch et al.
Operative Therapie Nach intramedullärer Nagelung sind Komplikationen selten (Hertlein et al. 2000: Schmittenbecher 2001; Till et al. 2000; Neeraj et al. 2008). Intraoperativ kann es zur Perforation der Kortikalis, Ausschlagen eines dritten Fragmentes und zur Notwendigkeit der offenen Reposition kommen. Läsionen der Sehne des M. extensor pollicis longus am radialen Zugang sind ebenfalls beschrieben (Tomar et al. 2007). Durch subtile, stumpfe Präparation unter Sicht lässt sich dies und auch eine Läsion des R. superficialis des N. radialis vermeiden. Diese intraoperativen Probleme treten bei bis zu 6,4% der Fälle auf (Schmittenbecher 2001). Relevante postoperative Komplikationen sind Wundinfektionen, sekundäre Dislokation (bei zu kleinem Nagel, normal 2/3 des Markraums), Pseudarthrosebildung (vor allem nach offener Reposition) und Refrakturen nach Metallentfernung (cave: zu frühe Metallentfernung). Läsionen des N. ulnaris nach geschlossener Reposition sind äußerst selten (Neiman et al. 1998). Insgesamt kommen Komplikationen in bis zu 8,4% der Fälle vor und sind jedoch meist Folge einer falschen Indikationsstellung oder unzureichender Reposition und Stabilität (Schmittenbecher 2001).
17.3
Distaler Unterarm
17.3.1
Klassifikation, Häufigkeit und Ursachen
Distale Unterarmfrakturen gehören zu den häufigsten Frakturen im Wachstumsalter. 75% aller Unterarmfrakturen im Wachstumsalter sind am distalen Unterarm lokalisiert. Meist handelt es sich um isolierte Radiusfrakturen. Der Unfallmechanismus ist meist ein Sturz auf die dorsal flektierte Hand im Rahmen von Freizeit- und Sportunfällen (Skateboard-Fahren, Snowboard-Fahren). Distale Unterarmfrakturen können in intraartikuläre und extraartikuläre Frakturen unterteilt werden. Als intraartikuläre Frakturen bezeichnet man die Epiphysenfrakturen Typ Harris-Salter III und Harris-Sal-
17
326
Kapitel 17 · Unterarm
ter IV. Extraartikuläre, d. h. metaphysäre Frakturen treten als klassische Grünholz-Fraktur, Stauchungsfraktur (Wulstfraktur), vollständige Fraktur und Epiphysiolysen Typ Salter-Harris I und Salter-Harris II auf. Sämtliche Frakturen können als komplette Unterarmfraktur mit Beteiligung von Radius und Ulna oder als isolierte Fraktur von Radius, selten als isolierte Ulnafraktur vorliegen. Die Klassifikation der epiphysären Frakturen erfolgt nach Harris und Salter. Eine weitere klinisch relevante Einteilung ist die Differenzierung zwischen stabiler und instabiler Fraktur. Stabile Frakturen sind Frakturen einer Kortikalis (Grünholz-Fraktur), Wulstfrakturen und Frakturen eines Knochens. Darüber hinaus hat sich auch zur Klassifizierung der distalen Frakturen die AO-Klassifikation für Frakturen im Kindesalter etabliert. Einteilung der distalen Unterarmfrakturen 4 Stabile Frakturen – Fraktur einer Kortikalis (Grünholz-Fraktur) – Stauchungsfrakturen – Biegungsfraktur – Fraktur eines Knochens 4 Instabile Frakturen – Fraktur beider Kortikales – Fraktur beider Knochen – Epiphysiolysen
17.3.2
störungen können grundsätzlich bei allen Unterarmfrakturen auftreten und korrigieren sich meist bis zum Abschluss des Längenwachstums selbst. Häufige Repositionsmanöver und Refrakturen erhöhen das Risiko einer stimulativen Wachstumsstörung.
17.3.3
Oft ist die Beweglichkeit im gesamten Arm schmerzhaft eingeschränkt. Druckschmerz über dem distalen Unterarm, eine sichtbare Fehlstellung mit Achsabweichung und evtl. Paresen können klinisch imponieren. Für den Transport wird der betroffene Arm im SAM-Splint schonend gelagert. Eine adäquate Analgesie ist notwendig.
17.3.4
Diagnostik
Mit Röntgenaufnahmen des Unterarmes mit Handgelenk in zwei Ebenen lassen sich die meisten distalen Unterarmfrakturen diagnostizieren. Nichtdislozierte Frakturen können übersehen werden. Exakterweise sollten die beiden Ebenen orthogonal zu einander stehen. Auf diese Weise lassen sich Achsfehlstellung oder Ad-latum-Verschiebung exakt beurteilen. Rotationsfehlstellung lassen sich teilweise nur indirekt mit der konventionellen Röntgendiagnostik verifizieren. Zur Beurteilung der Durchblutung kann die Sonographie sinnvoll sein.
Korrekturgrenzen und Wachstumsstörungen 17.3.5
17
Klinik und Erstversorgung
Aufgrund der Nähe zur distalen Wachstumsfuge, welche sich erst zwischen dem 12. und 15. Lebensjahr schließt, haben distale Unterarmfrakturen im Wachstumsalter ein ausgeprägtes Korrekturpotenzial. So werden sowohl in der Frontal- als auch in der Sagittalebene Achsabweichungen bis 40° bis zu einem Alter von 10 Jahren korrigiert. Nach dem 10. Lebensjahr beträgt die Korrekturgrenze 20–30°. Seit-zu-Seit-Fehlstellungen können bis zu Fehlstellung von ein Viertel der Schaftbreite belassen werden. Ausgeprägtere Seit-zu-Seit-Fehlstellungen sollten reponiert werden, da sie zu einer länger dauernden Einschränkung der Supination und Pronation führen können. Rotationsfehlstellungen werden nicht wesentlich korrigiert und müssen reponiert werden. Es werden sowohl hemmende als auch stimulative Wachstumsstörungen nach distaler Unterarmfraktur beschrieben. Hemmende Wachstumsstörungen können nach Epiphysenfrakturen, Epiphysiolysen und nach epiphysennahen Frakturen auftreten. Sie werden am Radius in der Literatur mit 1–7% angegeben (Davis u. Green 1976). Häufiger treten sie an der Ulna auf. Stimulative Wachstums-
Therapieziel
Die extrem seltenen transartikulären distalen Unterarmfrakturen, die nahezu ausschließlich im Adoleszentenalter nach Achstumsfugenschluss auftreten können, müssen anatomisch korrekt reponiert werden um das Risiko einer posttraumatischen Arthrose zu reduzieren. Da metaphysäre, fugennahe, extraartikuläre Frakturen ein ausgeprägtes Korrekturpotenzial besitzen, entscheidet hier die axiale Fehlstellung im sagittalen und a.p. Strahlengang über die Wahl des Therapieverfahrens. Hier sollten die entsprechenden, altersabhängigen Korrekturgrenzen respektiert werden. Therapieziel muss neben einem guten funktionellen Ergebnis auch ein kosmetisch zufrieden stellendes Ergebnis sein.
17.3.6
Indikationen
4 Stabile Frakturen und Frakturen mit Dislokationen
innerhalb der altersabhängigen Korrekturgrenzen werden konservativ im Unterarmgips behandelt.
327 17.3 · Distaler Unterarm
4 Instabile undislozierte Frakturen werden ebenfalls
konservativ versorgt, jedoch im Oberarmgips retiniert. Dislozierte stabile Frakturen werden gschlossen reponiert und im Gips retiniert. Liegt nach Reposition eine instabile Situation vor, wird operativ stabilisiert. 4 Instabile dislozierte Frakturen werden operativ stabilisiert. Das Risiko einer sekundären Dislokation nach primär geschlossener Reposition und Gipsanlage ist hoch, so dass diese Frakturen primär reponiert und operativ stabilisiert werden. Sekundär dislozierte Frakturen nach zunächst konservativer Therapie und primär stabile Frakturen, die nach Reposition instabil sind werden ebenfalls operativ stabilisiert.
17.3.7
Konservative Therapie
Abhängig von Alter und Ausmaß der Dislokation kann die geschlossene Reposition in Analgosedierung oder Vollnarkose durchgeführt werden. Die Reposition erfolgt im Aushang unter manuellem Zug nach distal. Nach dorsaler Hyperextension wird anschließend flektiert und so die Fraktur reponiert. Unter Röntgendurchleuchtung werden die Reposition und die Stabilität überprüft. Anschließend erfolgt die Anlage eines zirkulär gespalten Gipses. Metaphysäre Frakturen beider Knochen werden dabei im Oberarmgips retiniert.
17.3.8
Operative Therapie
Die osteosynthetische Versorgung erfolgt in Vollnarkose in Rückenlagerung. Das Mittel der Wahl zur Stabilisierung distaler Unterarmfrakturen im Wachstumsalter ist die Kirschner-Drahtosteosynthese. Bei offene Frakturen und Frakturen mit erheblicher Weichteilschädigung kann ein Gelenk-überbrückender Fixateur externe indiziert sein. Die Plattenosteosynthese ist bei distalen Unterarmschaftfrakturen im Wachstumsalter eine Ausnahmeindikation. Sie kann in der Adoleszenz bei intraartikulären Frakturen analog zur Erwachsenenversorgung indiziert sein. Ferner kann bei Frakturen im metadiaphysären Übergang eine Plattenosteosynthese auch Wachstumsalter notwendig sein. Diese Frakturen können häufig mit einer KirschnerDrahtosteosynthese nicht ausreichend stabilisiert werden, da die Drähte nicht so steil eingebracht werden können, um die Fraktur zu fixieren und gleichzeitig die Gegenkortikalis zu perforieren.
Kirschner-Drahtosteosynthese 4 Zur Sicherung der Rotationsstabilität sollten nach Möglichkeit zwei K-Drähte eingebracht werden. Bei kleinen Kindern und Instabilität lediglich in einer Ebene (meist sagittal) ist auch ein K-Draht ausreichend. 4 Es erfolgt zunächst die geschlossene Reposition (s. oben). 4 Unter radiologischer Kontrolle oder Palpation wird der distale Eintrittspunkt am Processus styloideus radii aufgesucht. Wir empfehlen eine kleine Stichinzision, um unter Sicht und Schonung der Weichteile bis zum Os zu präparieren. Alternativ können die Kirschner-Drähte auch perkutan eingebracht werden. 4 Mit einem Gewebeschutz wird dann der erste Draht (1,6- bis 1,8er-Kirschner-Draht) möglichst steil über die Wachstumsfuge und über die Fraktur hinweg bis zur Perforation der Gegenkortikalis eingebracht. 4 Nach radiologischer Kontrolle wird der zweite Draht parallel zum ersten eingebracht (. Abb. 17.4).
> Es ist darauf zu achten, dass sich die Drähte nicht auf Höhe der Fraktur kreuzen, da sonst eine geringere Rotationsstabilität resultiert. Die Drähte müssen die Wachstumsfuge möglichst zentral kreuzen, da bei Läsionen im Randbereich der Wachstumsfugen die Durchblutung gefährdet ist.
4 Nach radiologischer Kontrolle der Drahtlage in beiden Ebenen werden die Drähte umgebogen, gekürzt und etwas weiter versenkt. 4 Alternativ können die Drähte auch herausstehen, was die spätere Metallentfernung vereinfacht. 4 Nach der Hautnaht wird unmittelbar eine Unterarmgipsschiene angelegt.
Plattenosteosynthese Die Plattenosteosynthese ist bei distalen Unterarmschaftfrakturen im Wachstumsalter eine Ausnahmeindikation. Sie kann in der Adoleszenz bei intraartikulären Frakturen analog zur Erwachsenenversorgung indiziert sein. Ferner kann bei Frakturen im metadiaphysären Übergang eine Plattenosteosynthese auch Wachstumsalter notwendig sein. Meist kommt eine winkelstabile volare Platte zum Einsatz. Selten wird eine dorsale Platte angelegt.
17
328
Kapitel 17 · Unterarm
lären, gespaltenen Gipses. Stabile Frakturen werden dabei im Unterarmgips retiniert, während bei per definitionem instabilen Frakturen ein Oberarmgips indiziert ist. Nach Abschwellen der Weichteile wird der Gips geschlossen (ca. 4.–7. Tag). Insgesamt ist eine altersabhängige Ruhigstellung für 3–4 Wochen indiziert. Wir empfehlen bei reponierten Frakturen eine Röntgenkontrolle nach Gipsschluss, um eine sekundäre Dislokation auszuschließen. Zur Kontrolle der knöchernen Durchbauung kann eine weitere Röntgenkontrolle nach Gipsabnahme sinnvoll sein. Bei nicht dislozierten, stabilen Frakturen kann in Absprache mit den Eltern auf unnötige Röntgenkontrollen verzichtet werden. Anschließend kann in der Regel ein schneller Bewegungs- und Belastungsaufbau erfolgen. Klinische Kontrollen werden bis zum Erreichen der vollen Beweglichkeit durchgeführt.
a
b
. Abb. 17.4a,b Operativ versorgte distale metaphysäre Unterarmfraktur beim Kind mit Kirschner-Drahtosteosynthese. Die distale Ulnafraktur wurde nicht stabilisiert. a a.p. Röntgenaufnahme. b Röntgenseitaufnahme
17
4 Die Operation erfolgt in Blutsperre. 4 Der volare ca. 6–8 cm lange Hautschnitt erfolgt ulnar der A. radialis. 4 Die weitere Präparation erfolgt radialseitig neben dem M. flexor carpi radialis bis auf den M. pronator quadratus. 4 Dieser wird scharf am radialseitig inzidiert und vom Knochen abgelöst. 4 Nach Darstellen und Säubern der Fraktur wird diese reponiert und mit einer in der Regel winkelstabilen Platte stabilisiert. Eine Eröffnung des Gelenkes und damit verbunden eine Durchtrennung der radiokarpalen Bänder ist wegen der drohenden Instabilität zu vermeiden. 4 Nach radiologischer Kontrolle der Plattenlage und der Reposition erfolgt der Wundverschluss, ggf. unter Einlage einer Redon-Drainage.
17.3.9
Kontrollen und Nachbehandlung
Konservative Therapie Bei konservativer Therapie erfolgt nach eventueller Reposition die Anlage eines zirku-
Operative Therapie Unabhängig von der Methode erfolgt postoperativ eine Ruhigstellung im Unterarmgips für 3–4 Wochen. Röntgenkontrollen werden intraoperativ und nach Gipsabnahme zur Kontrolle der knöchernen Durchbauung durchgeführt. Anschließend kann in der Regel ein schneller Bewegungs- und Belastungsaufbau erfolgen. Abschließend wird vor der geplanten Metallentfernung eine Kontrolle durchgeführt. Nach KirschnerDrahtosteosynthese kann die Metallentfernung nach 4– 6 Wochen erfolgen. Nach Plattenosteosynthese erfolgt die Metallentfernung nach 4–9 Monaten. Bei offenen Fugen wird die Platte möglichst früh (3–4 Monate) wieder entfernt.
17.3.10
Ergebnisse und Prognose
Aufgrund des hohen Korrekturpotenzials in der Nähe der distalen Wachstumsfuge am Unterarm haben distale Unterarmfrakturen meist eine gute Prognose. Die funktionellen Ergebnisse sind ebenfalls in über 90% der Fälle sehr gut und gut (Zimmermann et al. 2004). Frakturen mit Gelenkbeteiligung haben eine schlechtere Prognose.
17.3.11
Komplikationen
Neben den allgemeinen Operationskomplikationen werden funktionelle Einschränkungen bei persistierenden Fehlstellung, Refrakturen, Wachstumstörungen und persistierende Schmerzen im Handgelenk (Läsion des ulnokarpalen Diskus) beschrieben. Eine nicht allzu seltene Komplikation stellt der vorzeitige Fugenschluss der distalen Radiusepiphysenfuge, aber auch der Ulnafuge dar. Je nach Restwachstum und Art der Fugenverletzung können hier nicht nur kosmetisch, sondern auch funktionell
329 17.5 · Galeazzi-Läsion
problematische Fehlstellungen entstehen, die im besonders schweren Fall zu Dauerschmerzen bei Belastung, aber auch zu Einschränkungen der Freiheitsgrade im Handgelenk und sogar zu dauerhaften Instabilitäten im Radiokarpalgelenk führen können. Hier muss rechtzeitig eine Korrektur, entweder durch Wiedereröffnung der verschlossenen Fuge, durch Kallusdistraktion, oft mehrdimensional, oder durch einzeitige Korrekturosteotomien darauf hingearbeitet werden, die Anatomie, und somit auch die Funktion, wieder herzustellen. Selbstverständlich ist bei einem Wachstumsfugenverschluss durch ein abwartendes Verhalten des Behandlers (»das verwächst sich, der gewöhnt sich da schon dran«) nichts zu erreichen.
17.4
Monteggia-Läsion
7 Kap. 16.
17.5
Galeazzi-Läsion
17.5.1
Klassifikation, Häufigkeit und Ursachen
Als Galeazzi-Läsion bezeichnet man eine Fraktur des Radius kombiniert mit einer Luxation des distalen Radioulnargelenks. Eine Radiusfraktur kombiniert mit einer Epiphysiolyse der distalen Ulna bezeichnet man als Galeazzi-Äquivalent-Läsion. Galeazzi-Läsionen sind sehr seltene Verletzungen. Die Ursache ist meist ein indirekter Mechanismus (Sturz auf den ausgestreckten Arm in Pronationsstellung).
17.5.2
Korrekturgrenzen und Wachstumsstörungen
Klassische Galeazzi-Läsionen machen in der Regel keine Wachstumsstörungen. Anders verhält es sich bei GaleazziÄquivalent-Läsionen, bei denen ulnare Wachstumsstörungen im Bereich der distalen Wachstumsfuge auftreten können. Klinik und Erstversorgung Die klinischen Beschwerden imponieren wie bei distalen Unterarmfrakturen. Zur Erstversorgung erfolgen die Anlage einer Notfall-Lagerungsschiene und eine adäquate Schmerztherapie. Diagnostik Die Diagnose wird nativ radiologisch mit einem Röntgenbild des Unterarms in zwei Ebenen mit Handgelenk gestellt. Vor allem ein streng seitliches Röntgenbild wird gefordert.
Therapieziel Ziel ist die Reposition der Radiusfraktur und die Reposition des distalen radioulnaren Gelenkes. Indikationen In den meisten Fällen ist eine konservative Therapie möglich. Nur bei instabilen Radiusfrakturen oder bei frustranem Repositionsversuch ist eine operative Therapie indiziert. Konservative Therapie Stabile Radiusfrakturen werden in Analgosedierung oder Vollnarkose geschlossen reponiert. Danach stellt sich die Ulna distal automatisch. Anschließend erfolgt die Anlage eines zirkulären, gespaltenen Oberarmgipses. Operative Therapie Instabile Radiusfrakturen werden geschlossen reponiert und mit einer intramedullären Schienung stabilisiert. In Ausnahmefällen ist eine offen Reposition und eine Plattenosteosynthese indiziert (Technik 7 Abschn. 17.2.8). Kontrollen und Nachbehandlung Unabhängig von der Methode erfolgt eine Ruhigstellung im Oberarmgips für 4 Wochen. Der Gips wird nach Konsolidierung der Weichteile geschlossen. Röntgenkontrollen erfolgen nach Gipsschluss und nach Gipsabnahme. Bei konservativ versorgten stabilen Radiusfrakturen kann auf Röntgenkontrollen verzichtet werden. Ergebnisse und Prognose Klassische Galeazzi-Frakturen haben gute Prognosen. Galeazzi-Äquivalent-Läsionen können zu Wachstumsstörungen im Bereich der distalen Ulna führen und müssen engmaschig kontrolliert werden. Komplikationen Komplikationen sind selten bei adäquater Therapie und rechtzeitigem Erkennen einer Galeazzi-Läsion. Literatur Buch J, Leixnering M, Hintringer W, Poigenfürst J (1991) Intramedullary nailing of unstable forearm shaft fractures in children. Unfallchirurg 17(5): 253–8 Davis DR, Green DP (1976) Forearm fractures in children: pitfalls and complications. Clin Orthop Relat Res (120): 172–83 Garg NK, Ballal MS, Malek IA, Webster RA, Bruce CE (2008) Use of elastic stable intramedullary nailing for treating unstable forearm fractures in children. J Trauma 65(1):109–15 Hertlein H, Aidelsburger P, Huber A, Hartl WH, Andress HJ (2000) Unstable pediatric femoral and forearm shaft fractures. Comparison between conservative treatment and stable intramedullary nailing. Zentralbl Chir 125(9): 756–62 Kravel T, Sher-Lurie N, Ganel A (2007) Extensor Pollicis Longus Rupture After Fixation of Radius and Ulna Fracture With Titanium Elastic Nail (TEN) in a Child: A Case Report. J Trauma 63:1169–1170
17
330
Kapitel 17 · Unterarm
Laer L v (2001) Frakturen und Luxationen im Wachstumsalter, 3. Aufl. Thieme, Stuttgart New York Neiman R, Maiocco B, Deeney VF (1998) Ulnar nerve injury after closed forearm fractures in children. J Pediatr Orthop 18(5): 683–5 Oberle M, Schlickewei W (2005) Elastic-stable-intramedullary nailing for forearm fractures in children using TENS. Unfallchirurg 108(3): 235–7 Ostermann PA, Richter D, Mecklenburg K, Ekkernkamp A, Muhr G, Hahn MP (1999) Pediatric forearm fractures: indications, technique, and limits of conservative management] Unfallchirurg 102(10): 784–90 Schlickewei W, Salm R (2001) Indications for intramedullary stabilization of shaft fractures in childhood. What is reliable, what is assumption? Kongressbd Dtsch Ges Chir Kongr 118:431–4 Schlickewei W, Oberle M (2005) Forearm fractures in children. Unfallchirurg 108(3): 223–32 Schmittenbecher PP (2001) Complications and errors in use of intramedullary nailing in shaft fractures in childhood. Kongressbd Dtsch Ges Chir Kongr 118:435–7 Till H, Hüttl B, Knorr P, Dietz HG (2000) Elastic stable intramedullary nailing (ESIN) provides good long-term results in pediatric longbone fractures. Eur J Pediatr Surg 10(5): 319–22 Vocke AK, Laer L v (1998) Die Prognose proximaler Radiusfrakturen im Wachstumsalter. Unfallchirurg 101: 287–295 Weinberg AM, Castellani C, Amerstorfer F (2008) Elastic Stable Intramedullary Nailing (ESIN) of forearm fractures. Oper Orthop Traumatol 20(4–5): 285–96 Zimmermann R, Gschwentner M, Kralinger F, Arora R, Gabl M, Pechlaner S (2004) Long-term results following pediatric distal forearm fractures. Arch Orthop Trauma Surg 124(3):179–86
17
18
Hand D.W. Sommerfeldt
18.1
Einführung
– 332
18.1.1 Wachstum und Entwicklung – 332 18.1.2 Besonderheiten bei der Behandlung von Handverletzungen im Kindesalter – 332 18.1.3 Logistische und apparative Voraussetzungen – 332 18.1.4 Verletzungsarten – 333
18.2
Frakturen
– 334
18.2.1 18.2.2 18.2.3 18.2.4 18.2.5 18.2.6
Häufigkeit und Ursachen – 334 Nagelkranzfrakturen – 334 Endgliedfrakturen mit Beteiligung der Wachstumsfuge – 335 Mittel- und Grundgliedfrakturen – 336 Mittelhandfrakturen – 338 Frakturen und Luxationen der Handwurzelknochen – 341
18.3
Luxationen, Verletzungen des Kapsel-/Bandapparats
– 342
18.3.1 Metakarpophalangeale Luxationen – 342 18.3.2 Ruptur oder knöcherner Abriss des ulnaren Kollateralbandes (»Skidaumen«) – 344 18.3.3 Interphalangeale Luxationen – 344
18.4
Sehnen- und Nervenverletzungen im Bereich der Hand
18.4.1 18.4.2 18.4.3 18.4.4 18.4.5
Klinik – 345 Diagnostik – 346 Therapie – 346 Sehnenverletzungen – 346 Nervenverletzungen – 348
18.5
Besonderheiten bei Infektionen Literatur
– 349
– 348
– 345
332
Kapitel 18 · Hand
18.1
Einführung
18.1.1
Wachstum und Entwicklung
Die Hand des Kindes wird nach der Säuglingsphase zum wichtigsten haptischen Sinnesvermittler, zur dominanten Afferenz. Alles wird »begriffen«, erst dann verstanden. Auch im psychomotorisch efferenten Schenkel teilt sich das Kind mit wachsendem Alter zunehmend mehr über die Gestik mit. Parallel zu dieser Entwicklung steigt konsequenterweise die Inzidenz von Verletzungen der Hand (. Abb. 18.1). Die Kinderhand wird weiterhin als Maß für die Einschätzung des Restwachstums verwendet. Die Tafeln nach Greulich-Pyle stellen vielerorts immer noch den Standard zur Restwachstumsbestimmung im Kindes- und Jugendalter dar. Je nach Alter des Kindes ändern sich Lokalisationsmuster und Art der Handverletzung (. Abb. 18.2). Je jünger das Kind, umso distaler ist die Handverletzung lokalisiert, je älter das Kind, umso komplexer ist die Verletzung in der Regel. Grund hierfür ist der Unfallmechanismus, der im Kleinkindesalter oft ein Einklemmtrauma in der Tür oder der Autoscheibe ist. Bei den älteren Kindern und Jugendlichen überwiegen dann Sportverletzungen oder Frakturen nach körperlicher Auseinandersetzung.
18.1.2
Besonderheiten bei der Behandlung von Handverletzungen im Kindesalter
Prä-, intra- und postoperativ gibt es Unterschiede zur Behandlung des Erwachsenen.
4 Kinder nehmen Schmerz auch im Bereich der Hand anders war, er wird – je nach Alter – anders geäußert und auch anders verarbeitet als beim Erwachsenen. Dies macht prä- und postoperativ eine angepasste Anamnese- und Untersuchungstechnik erforderlich. Wie beim Erwachsenen ist es auch hier jedoch immens wichtig, bereits präoperativ einen genauen Status bezüglich Durchblutung, Sensibilität und Motorik der verletzten Hand zu erhalten. 4 Auch die schlechtere Compliance im Kindes- und Jugendalter muss bei der Indikationsstellung und der Nachsorge berücksichtigt werden. 4 Systemische Reflexdystrophien treten im Kindesalter extrem selten auf, die Heilung für Sehnen, Nerven und Knochen verläuft in der Regel schneller und unproblematischer. 4 Auch beim Handskelett spielen der Zustand der Wachstumsfugen und die Mitbeteiligung beim Trauma eine wichtige Rolle. 4 Spezifische, im Kindesalter häufigere Infektionen der Hand (Röteln, hämatogene Osteomyelitis) sollten dem kinderhandchirurgisch tätigen Arzt nicht fremd sein.
18.1.3
Logistische und apparative Voraussetzungen
Wichtig ist die vertrauensvolle Zusammenarbeit mit dem Zuweiser und dem Nachbehandler. Hilfreich ist die Möglichkeit zur Weiterbehandlung in der eigenen Sprechstunde. Eine intensive Zusammenarbeit mit dem Orthopädiemechaniker zur Herstellung von Orthesen, dynamischen Fingerschienen, etc. ist für die frühfunktionelle Behandlung nach Handverletzungen unabdingbar.
18
. Abb. 18.1 Inzidenz von Handverletzungen im Kindes- und Jugendalter in Abhängigkeit vom Alter
H.G. Dietz et al. (Hrsg.), Praxis der Kinder-und Jugendtraumatologie, DOI 10.1007/978-3-642-12935-3_18, © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2011
333 18.1 · Einführung
a
b
c
d
. Abb. 18.2a–d Lokalisation und Inzidenz von Handverletzungen in Abhängigkeit vom Alter. a Kleinkinder (0–2 Jahre). b Vorschulalter
(2–5 Jahre). c Jüngere Schulkinder (6–10 Jahre). d Ältere Schulkinder (10–16 Jahre). (Nach Vadivelu et al. 2006)
Weiterhin erfordert die Kinderhandtraumatologie besondere technische Voraussetzungen: 4 Armtisch 4 Blutleere 4 Operationsmikroskop 4 Lupenbrille 4 Mikrochirurgische Instrumente (. Abb. 18.3) 4 Nahtmaterial 4 Implantate
18.1.4
Verletzungsarten
Bei der Behandlung von Kinderhandverletzungen handelt es sich in der Regel um Notfälle. Kinderhandverletzungen 4 Frakturen (intra- und extraartikulär, mit und ohne Wachstumsfugenbeteiligung) 4 Luxationen, Verletzungen des Kapsel-/Bandapparats 4 Sehnenverletzungen 4 Nervenverletzungen 4 Mutilierende Verletzungen, meistens Kombinationsverletzungen nach Schnitt, Stich, Quetschung, Avulsion, thermischer Schädigung (Verbrennung, Verbrühung, Erfrierung), Explosion
18
334
Kapitel 18 · Hand
. Abb. 18.3 Mikroinstrumentarium (Compactsystem)
18.2
Frakturen
18.2.1
Häufigkeit und Ursachen
Frakturen machen im Gesamtkollektiv 30–50% aller Handverletzungen aus. Je jünger der Patient umso seltener liegt eine Fraktur vor, je jünger umso distaler ist die Fraktur – wenn vorhanden – lokalisiert und je älter umso komplexer sind die Frakturen geartet.
18.2.2
18
Nagelkranzfrakturen
Sie gehören zu den häufigsten Handverletzungen. Es handelt sich hier um eine offene Fraktur mit in der Regel signifikantem Weichteilschaden und dementsprechend herabgesetzter Durchblutung. Häufig ist der Fingernagel luxiert oder verloren und das Nagelbett mit der Nagelmatrix mitverletzt. Nicht selten handelt es sich auch um subtotale oder totale Amputationsverletzungen mit knöcherner Beteiligung und daher problematischer Weichteildeckung Diagnostik Wichtig ist die sorgfältige Anamnese (scharf,
stumpf, Quetschung, sauber, schmutzig, Tetanusschutz) bezüglich des Unfallhergangs. Bereits klinisch lässt sich das Ausmaß der Verletzung in der Regel gut beurteilen. Immer auch nach Begleitverletzungen fragen und suchen.
Ein Röntgenbild der Hand oder des verletzten Strahls in zwei Ebenen ist ausreichend. Therapieziel Möglichst rasche definitive Versorgung aller betroffenen Strukturen (Weichteile, Knochen, Nagelbett und -matrix, Sehnen, Nerven, wenn betroffen). Konservative Therapie Bei intaktem Nagelbett und kleiner, sauberer Wundfläche kann rein konservativ durch Desinfektion, Verband und Ruhigstellung mittels einer individuell angeformten 2-/3-Fingerschiene ruhiggestellt werden. Bei Kleinkindern und Säuglingen muss in der Regel die gesamte Extremität ruhiggestellt werden, allerdings nur für wenige Tage bis zur sicheren Wundheilung. Operative ambulante Therapie Nicht selten kann, bei sauberen Wundverhältnissen und guter Compliance, eine Wundversorgung in der Ambulanz, evtl. in Oberst-Leitungsanästhesie durchgeführt werden. Dies gilt vor allem für größere Kinder ohne Verletzung des Nagelbetts. Hier kann nach Desinfektion und Wundsäuberung der Nagel, wenn vorhanden, reponiert und mit Haltefäden fixiert werden. Er dient als Leitschiene für den nachwachsenden Nagel bei intakter Matrix. Bezüglich der Weichteilsituation hat man in den vergangenen Jahren so gute Erfahrungen mit den Okklusivverbänden gemacht, dass eine primäre plastische Deckung durch lokale Lappenplastiken kaum noch erforderlich ist. Je jünger der Patient, umso höher ist
335 18.2 · Frakturen
a
das Endglied knöchern gespalten oder massiv gequetscht sollte unter bestmöglicher Schonung der angegriffenen Weichteile eine Reposition und Retention der Fragmente durchgeführt werden. Faden- oder Nadelosteosynthesen können hier zum Einsatz kommen. Der Nagel sollte, wo vorhanden, nach Desinfektion und Konturierung reponiert und fixiert werden. Nach Amputationen und kosmetisch unbefriedigendem Nagelwachstum sind Nagelbettplastiken oder der Eponychiumlappen gute Möglichkeiten für eine Verbesserung der Kosmetik. Eine Singleshot-Antibiotikaprophylaxe sollte immer erfolgen, bei stark verschmutzten Wunden auch eine i.v. Therapie über mehrere Tage mit einem Breitbandantibiotikum.
18.2.3
b
Endgliedfrakturen mit Beteiligung der Wachstumsfuge
Bei leicht gebeugtem Finger und Kompression des Endglieds, häufig beim Sport durch einen Ball, kann es zu einer Epiphyseolyse, meistens mit kleinem metaphysärem Keil kommen. Diese Fraktur (»Mallet-Finger«) ist das Äquivalent zum knöchernen Strecksehnenausriss des Erwachsenen, der aber auch beim Kind und vor allem beim Jugendlichen vorkommt (. Abb. 18.5). Oft ist auch hier die Fraktur offen, der Nagel luxiert und das Nagelbett verletzt. Die Behandlung umfasst neben den oben geschilderten Maßnahmen die Reposition der Fraktur und eventuell die Retention mittels eines dünnen K-Drahts oder einer sterilen Kanüle. Ist die Weichteilsituation beherrschbar, kann auch gut in der Stack-Schiene (Röntgenkontrolle nach Anlage!) konservativ behandelt werden (. Abb. 18.5c). Die Infektionsgefahr ist bei diesen Verletzungen recht hoch. Nachbehandlung Die Ruhigstellung erfolgt bis zur siche-
ren Wundheilung, danach kann spontan bewegt werden. Der reponierte Nagel wird durch den nachwachsenden Nagel verdrängt c . Abb. 18.4a–c Fingerkuppenverlust. a Unfallbild. b,c Ergebnis nach 2 Wochen und Okklusivverband
das Regenerationspotenzial der Fingerkuppe und führt bei Infektfreiheit in der Regel zu einem sehr guten funktionellen und kosmetischen Ergebnis binnen 1–2 Monaten. Operative stationäre Therapie Bei komplexen oder unübersichtlichen Situationen sollte eine genaue Inspektion unter optimalen Operationsbedingungen (Blutleere, Lupenbrille) vorgenommen werden. Auch hier gilt, dass auch bei freiliegendem knöchernem Endglied ein Okklusivverband in der Regel zum Erfolg führt (. Abb. 18.4). Ist
Komplikationen Störungen des Längenwachstums des
Endglieds bei Epiphysenfugenverletzung, gestörtes Nagelwachstum mit kosmetischer oder funktioneller Einschränkung (evtl. Nagelbettrekonstruktion, Matrixtransplantation, lokale Lappenplastiken als Lösung). Osteitis, chronischer Infekt. Übersehene Sehnenbeteiligung (Strecksehne!).
18
336
Kapitel 18 · Hand
a
a
b
b . Abb. 18.6a,b Drehfehler bei Grundgliedschaftfraktur. a Schematische Darstellung. b Klinische Situation
c . Abb. 18.5a–c Knöcherner Strecksehnenausriss. a Schematische Darstellung. b Klinischer Befund. c Versorgung mit Stack-Schiene
18
18.2.4
4 Die meist metaphysäre, also extraartikuläre basisnahe Frakturen, deren Behandlung, wenn die Wachstumsfuge nicht betroffen ist, oft konservativ sein kann.
Mittel- und Grundgliedfrakturen Diagnostik Die
Hier ist es zunächst wichtig, bei der klinischen Untersuchung in der Notfallambulanz neben Durchblutung, Sensibilität und Motorik auch eine Achsfehlstellung oder eine Drehfehler auszuschließen (. Abb. 18.6). Unterschieden werden müssen: 4 Die proximalen, häufig primär oder sekundär dislozierenden Frakturen, die auch intraartikuläre Komponenten aufweisen können. 4 Die stabileren Schaftfrakturen, bei denen allerdings ein Drehfehler auftreten kann.
Röntgenaufnahme des betroffenen Strahls in zwei Ebenen ist zusammen mit dem klinischen Befund ausreichend für die Indikationsstellung zur konservativen oder operativen Therapie.
Therapieziel Ziel ist die rasche Versorgung vor Zunahme der Schwellung, die oft eine geschlossene Reposition erschweren kann. Anatomische Wiederherstellung der Achsfehlstellung oder der Wachstumsfuge, Weichteilmanagement, Ausschluss von Begleitverletzungen, sichere Retention sind weitere Behandlungsziele.
337 18.2 · Frakturen
Konservative Therapie Bei geringer Dislokation (Cave: Drehfehler sowie Radial- oder Ulnardeviation, die sich nur gering sekundär korrigiert) kann konservativ behandelt werden. Hierbei sollte nicht die ganze Hand ruhiggestellt werden, sondern der betroffene Strahl, eventuell die benachbarten Strahlen. Geschlossene Repositionsmanöver lassen sich gut in Oberst-Leitungsanästhesie in
a
b
c
d
der Ambulanz durchführen, sofern es die Compliance des Kindes zulässt (. Abb. 18.7). Die Ruhigstellung erfolgt in Funktionsstellung, je nach Befund mittels Pflasterzügelverband und dorsaler oder palmarer Kunststoffschiene, die die Röntgenkontrolle nach Reposition erleichtert und den höheren Tragekomfort gegenüber dem Weißgips besitzt.
. Abb. 18.7a–d Grundgliedbasisfraktur D5. a Röntgenbefund vor Reposition. b Reposition in Lokalanästhesie. c Röntgenbefund nach Reposition. d Pflasterzügelverband. (Aus: Tscherne Unfallchirurgie im Kindesalter, 2006)
18
338
Kapitel 18 · Hand
. Abb. 18.8 Sehnenanatomie mit dislozierendem Moment nach dorsal durch Mittelzügel. FDS Flexor-digitorum-superficialis-Sehne (Aus: Papadonikolakis A et al. 2006)
Operative Therapie Je proximaler die Fraktur, also vor
Diagnostik Sorgfältige klinische Untersuchung mit Do-
allem bei intraartikulären Frakturen, aber auch bei metaphysären Kondylenabbrüchen besteht ein hohes Dislokationspotenzial aufgrund der Sehnenanatomie und dem damit verbundenen dorsalen Dislokationsmoment (. Abb. 18.8). Hier sollte in aller Regel nicht nur geschlossen reponiert werden, sondern eine K-Drahtosteosynthese erfolgen (. Abb. 18.9a,b). Bei intraartikulären Frakturen kann nicht immer auf eine offene Reposition und Schraubenosteosynthese verzichtet werden (. Abb. 18.9c,d). Die Ruhigstellungszeit sollte 2 Wochen nicht überschreiten, eine Implantatentfernung kann in der Regel in der Ambulanz erfolgen (K-Draht).
kumentation der motorischen Funktion, der Durchblutung und der Sensibilität zum Ausschluss von Begleitverletzungen. Im Bereich der Mittelhand ist neben der a.p. Aufnahme die streng seitliche Aufnahme wegen Überlagerung weniger aussagekräftig als eine Schrägaufnahme in 45° Supination der Hand.
Nachbehandlung Je nach Alter erfolgt die Ruhigstellung bei konservativer bis zur beginnenden knöchernen Konsolidierung, die radiologisch nachgewiesen wird. Nach 2–3 Wochen wird die Hand freigegeben und bewegt. Physiotherapie ist in den seltensten Fällen indiziert. Nach operativer Therapie mittels K-Draht kann die Metallentfernung ab dem Schulalter in der Ambulanz in Lokalanästhesie ebenfalls nach 2–3 Wochen erfolgen und die Hand freigegeben werden.
Konservative Therapie Das Jahss-Manöver (. Abb. 18.10)
reponiert die subkapitale Metakarpalefraktur zuverlässig. Eine palmare Drei-Finger-Schiene in Intrinsic-plus-Stellung stellt die Fraktur ruhig und kann bei stabiler Situation (Röntgenkontrolle nach Reposition) als alleinige Therapie ausreichen. Je älter die Patienten sind, umso eher besteht eine Instabilität und somit eine Indikation zur intramedullären Schienung. Auch Schaftfrakturen der Metakarpalia können konservativ behandelt werden, wenn sicher kein Drehfehler und keine Achsabweichung/Verkürzung besteht. Geringe Fehlstellungen in der sagittalen Hauptbewegungsebene werden bei Restwachstum >2 Jahre zuverlässig durch das Längenwachstum korrigiert. Operative Therapie Bei Palmarabkippung des Metakar-
Komplikationen Heilung in Fehlstellung mit Funktions-
18
einschränkung im PIP- oder DIP-Gelenk. Avaskuläre Nekrose der Kondylen. Übersehene Begleitverletzungen im Bereich der Ligamente mit Fehlstellung (Schwanenhals-, Knopflochdeformität) oder Instabilität (Kollateralbänder).
18.2.5
Mittelhandfrakturen
Unfallmechanismus ist oft ein Schlag mit der Faust gegen eine Wand oder Tür. Hierbei entstehen in der Regel metaphysäre Frakturen distal unterhalb der Wachstumsfugen mit Palmarabkippung. Durch Rotationstraumen können auch Schaftfrakturen der Metakarpalia entstehen, die dann nahezu immer einen erheblichen Drehfehler aufweisen.
paleköpfchens von >30° besteht bei Patienten über 10 Jahren eine Indikation zur Reposition. Bei unsicherer Retention sollte dann großzügig die Indikation zur intramedullären Schienung mit einer retrograd eingebrachten 1,5-mm-ESIN gestellt werden. Durch die Verklemmung des Federnagels resultiert eine ausreichende Rotationsstabilität, so dass ein zweiter Draht meist nicht erforderlich ist (. Abb. 18.11). Auch Schaftquerfrakturen können auf diese Art versorgt werden, allerdings sind hier in der Regel zwei ESIN zur achsengerechten Reposition erforderlich. Hierbei muss intraoperativ ein Drehfehler vollständig beseitigt werden. Alternativ und bei Längsinstabilität kommen Platten vom Kompaktsystem und gerne auch freie Zugschrauben zum Einsatz.
339 18.2 · Frakturen
a
b
c . Abb. 18.9a–d Operative Versorgung von Mittel- und Grundgliedfrakturen. a Dislozierte, proximale Mittelphalanxfraktur, präoperativer Röntgenbefund. b Intraoperative Durchleuchtung nach K-Drah-
d tosteosynthese. c Dislozierte proximale Grundgliedfraktur D5, präoperativer Röntgenbefund. d Postoperativer Röntgenbefund nach Schraubenosteosynthese (2.0 Compactsystem)
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340
Kapitel 18 · Hand
a
b
. Abb. 18.10 Jahss-Manöver
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d
. Abb. 18.11a–d ESIN bei MHK-V-Köpfchenfraktur. a,b Präoperativer Röntgenbefund. c,d Postoperativer Röntgenbefund nach antegrader ESIN-Versorgung
18 Nachbehandlung Je nach Alter erfolgt die Ruhigstellung bei konservativer bis zur beginnenden knöchernen Konsolidierung, die radiologisch nachgewiesen wird. Nach 2–3 Wochen wird die Hand freigegeben und bewegt. Physiotherapie ist in den seltensten Fällen indiziert. Nach operativer Therapie mittels ESIN kann die Metallentfernung ab dem Schulalter in der Ambulanz in Lokalanästhesie nach knöcherner Konsolidierung erfolgen.
Komplikationen Sekundäre Dislokationen mit Heilung
in Fehlstellung, insbesondere außerhalb des Spontankorrekturpotenzials. Ulnar-und Radialdeviationen, Rotationsfehler. Übersehene Begleitverletzungen z. B. im Bereich der Streckhaube mit konsekutiver Funktionseinschränkung.
341 18.2 · Frakturen
b
a
. Abb. 18.12a,b Gilulabögen. a Schematische Darstellung. b Röntgendarstellung proximal und distal)
18.2.6
Frakturen und Luxationen der Handwurzelknochen
Frakturen der Handwurzelknochen sind eine Rarität. Da die Prognose entscheidend von der Diagnosestellung abhängt, muss bei adäquatem Trauma und entsprechender Klinik das Vorliegen einer solchen Fraktur sicher ausgeschlossen werden. Unfallmechanismus ist in der Regel eine Kompression der Handwurzel bei maximaler Dorsalextension oder durch ein direktes Trauma (Schlag mit einem harten Gegenstand auf die Hand).
Die vielfach noch beschriebenen Schrägaufnahmen (Kahnbeinquartett) werden zunehmend durch eine zum Ausschluss einer Stufenbildung oder Rotation ohnehin im Anschluss meist nötige CT-Untersuchung abgelöst. Auch eine MRT-Untersuchung mit STIR-Sequenz kann hier helfen, die Diagnose frühzeitig zu stellen. Alternativ wird empfohlen, bei entsprechender Klinik auch bei nicht sichtbarer Frakturlinie eine Ruhigstellung mit Kontrolluntersuchung und Röntgen nach 1–2 Wochen durchzuführen, da sich die Fraktur im initialen Röntgenbild nicht immer darstellt und in einer retrospektiven Studie in bis zu einem Drittel aller Fälle initial übersehen wurden.
Klinik und Erstversorgung Durch das Hämarthros im
Handgelenk besteht häufig ein starker Schmerz, insbesondere bei einer Luxation eines Handwurzelknochens. Die Luxation kann dann häufig bereits getastet werden. Eine Kahnbeinfraktur kann aber auch mit geringer Klinik einhergehen, hier ist der vielfach beschriebene Druckschmerz in der Tabatière, aber auch die schmerzhafte Radialduktion und/oder Unmöglichkeit des kraftvollen Faustschlusses ein klinisches Zeichen. Diagnostik Eine Röntgenaufnahme des Handgelenks in
2 Ebenen reicht nahezu immer zur Diagnosestellung aus. Zu achten ist hier auf harmonische proximale und distale Gilula-Bögen (. Abb. 18.12). Vor allem im Adoleszentenalter kommen neben den Frakturen auch Rupturen der straffen Bänder im Handwurzelbereich vor. Das sog. »Terry-Thomas-Zeichen« mit einem breiten Spalt zwischen Os scaphoideum und Os lunatum kann auf eine Ruptur des SL-Bandes hinweisen. Beim kleinen Kind sind die Abstände zwischen den Knochenkernen der Handwurzel radiologisch nicht beurteilbar.
. Abb. 18.13 Versorgung einer Kahnbeinfraktur mit perilunärer Luxation durch Herbert-Schraube und transfixierende K-Drahtosteosynthese bei einem 17-Jährigen
18
342
Kapitel 18 · Hand
Konservative Therapie Bei unverschobener Fraktur im distalen Drittel kann immer konservativ behandelt werden. Die Ruhigstellung erfolgt unter Daumeneinschluss im Unterarm-Cast. Eine Ruhigstellung über 6 Wochen hinaus, wie in der älteren Literatur beschrieben, führt nicht zu einer besseren Konsolidierungsquote. Bei dislozierten Frakturen oder Frakturen im mittleren bis proximalen Drittel ist bei Jugendlichen die Osteosynthese mittels kanülierter Kompressionsschraube indiziert. Bei Kindern bis zu 10 Jahren können auch proximale Frakturen ohne Dislokation konservativ in einem hohen Prozentsatz zur Ausheilung gebracht werden. Operative Therapie Bei entsprechender Dislokation und bei Jugendlichen zur Abkürzung der Ruhigstellung auch bei nicht dislozierten Frakturen kommt die minimal-invasive perkutane Schraubenosteosynthese zum Einsatz (. Abb. 18.13). Hierdurch kann nach kurzer Ruhigstellung für 1–2 Wochen früh-funktionell nachbehandelt werden und eine Rückkehr zu sportlichen Aktivitäten beschleunigt werden. Eine Metallentfernung ist nur in Ausnahmefällen erforderlich. In manchen Fällen kann erst die erneute Schnittbilddiagnostik die Konsolidierung der Fraktur beweisen. Erst danach sollte wieder mit sportlicher Aktivität begonnen werden. Wegweisendes Symptom auch für die Nachsorge und den Belastungsaufbau ist der Schmerz.
Luxationen, Verletzungen des Kapsel-/Bandapparats
18.3
Isolierte Luxationen der Fingergelenke kommen generell im Kindesalter aufgrund des im Vergleich zum Erwachsenen straffen und nicht degenerativen Bandapparats selten vor. Traumen, die beim Erwachsenen zu einer Gelenkluxation führen, resultieren im Kindesalter oft in einer epiphysären oder metaphysären Fraktur, deshalb ist die Anfertigung und genaue Analyse von Röntgenbildern so wichtig. Ausnahmen von dieser Regel bilden Kinder und Jugendliche mit hyperlaxem Bandapparat und abnormer Beweglichkeit in den Fingergelenken und Handgelenk. Kollagenosen, wie z. B. Ehlers-Danlos-Syndrom oder andere Grunderkrankungen (Trisomie 21) können prädispositionierend wirken.
18.3.1
Sie gehören zu den häufigsten Luxationen im Bereich der Hand und das Daumengrundgelenk ist häufig betroffen. Der sog. »Skidaumen« oder »gamekeeper’s thumb« ist in der Regel nicht mit einer MP-Luxation assoziiert und stellt ein eigenständiges Krankheitsbild dar. Oft können Avulsionsfrakturen der Grundgliedbasis oder assoziierte ligamentäre Verletzungen (palmare Platte, Beugesehne, Lig.
18
a . Abb. 18.14a,b Röntgenbefund einer MP-Luxation
Metakarpophalangeale Luxationen
b
343 18.3 · Luxationen, Verletzungen des Kapsel-/Bandapparats
metacarpeum transversum, Lig. natatorium) die Reposition erschweren oder sogar unmöglich machen.
a
Klinik Klinisch fällt oft eine leichte Ulnardeviation und
Supination des Fingers auf. Am häufigsten betroffen ist der Zeigefinger. Die Interphalangealgelenke sind leicht gebeugt. Weiterhin auffällig ist der palmar tastbare Kopf des Metakarpalknochens und die Einziehung über der Streckhaube des MP-Gelenks.
b
Diagnostik Bei älteren Kindern über 10 Jahren ist die
Röntgenaufnahme in 2 Ebenen beweisend (. Abb. 18.14). Bei kleinen Kindern kann die Diagnostik erschwert sein, das klinische Bild ist dann führend. Übersehene MP-Luxationen stellen den Spezialisten oft vor große Probleme. Oft ist dann ein dorsovolarer Zugang mit temporärer Arthrodese unumgänglich.
c
Erstversogung Aufgrund der anatomischen Besonderheiten kann das Metakarpaleköpfchen durch die Beugesehne und den Lumbrikalmuskel einerseits und das Lig. metacarpale transversum und Ligg. natatoria andererseits eingeklemmt werden und so die Reposition erschweren. Dies gilt auch für die palmare Platte, die als weiteres Repositionshindernis dienen kann. Dennoch ist ein Versuch der Reposition in Leitungsanästhesie sinnvoll. Auf Längszug sollte hier verzichtet werden, da es zu einem stärkeren Entrapment des MK-Köpfchens kommen kann. Vielmehr wird durch Hyperextension versucht, die palmare Platte mit der dorsalen Basis des Grundglieds aus dem Gelenk »herauszukehren«. Konservative Therapie Ist das Gelenk sicher reponiert (Kontrolle durch erneutes gipsfreies Röntgen in 2 Ebenen) kann in Intrinsic-plus-Stellung für 10 Tage ruhiggestellt werden. Danach sollte freigegeben und spontan bewegt werden. Krankengymnastik ist nur bei älteren Kindern und Jugendlichen im Einzelfall erforderlich. Operative Therapie Oft gelingt dies nicht und eine offene Reposition, evtl. mit ligamentärer Rekonstruktion wird erforderlich. Hierzu kann ein palmarer oder dorsaler Zugang gewählt werden. Nach Darstellung des Gelenks, Reposition der palmaren Platte und/oder Befreiung des MK-Köpfchens kann das Gelenk reponiert werden und ist in der Regel dann auch stabil (. Abb. 18.15). Ligamentäre Rekonstruktionen sind im Kindesalter meist nicht erforderlich. Die Ruhigstellung sollte in Intrinsic-plus-Stellung 10 Tage nicht überschreiten. Daumen Viele der oben genannten Standards gelten auch
für das Metakarpophalangealgelenk des Daumens. Auch hier kann es zu übersehenen Luxationen kommen, ebenso
d . Abb. 18.15a–d Metakarpophalangeale Luxation. a MP-Luxation mit Abriss der palmaren Platte. b Luxation der palmaren Platte nach dorsal. c Einklemmung des Metakarpaleköpchens zwischen Beugesehne und M. lumbricalis. d Intraoperativer Situs mit Fingernerv I und abgerissener palmarer Platte. (d mit freundlicher Genehmigung von Prof. Prommersberger, Bad Neustadt/Saale)
zu geschlossen irreponiblen Luxationen, meist durch Interposition der palmaren Platte. Bei der offenen Versorgung ist – wie auch bei den Langfingern – beim palmaren Zugang peinlichst auf die Fingernerven zu achten, die durch die Luxation mittig über das Gelenk und den Kopf des Metakarpale I ziehen können. Hier werden nach Reposition in der Literatur etwas längere Ruhigstellungszeiten (bis zu 3 Wochen) empfohlen.
18
344
Kapitel 18 · Hand
18.3.2
Ruptur oder knöcherner Abriss des ulnaren Kollateralbandes (»Skidaumen«)
der Regel konservativ durch Ruhigstellung in der Daumenabduktionsschiene für 3 Wochen behandelt werden. Operative Therapie Bei stärkerer Dislokation des Frag-
Diese Verletzung ist assoziiert mit Sport- und Freizeitaktivitäten wie Radfahren, Inline-Skaten, Skateboard, Skisport, Geräteturnen oder Parcour. Sie ist in der Regel nicht assoziiert mit einer stattgehabten Luxation des Gelenks, sondern eher Folge eines massiven ulnaren Stresses oder eines direkten Traumas. Klinik Oft stellt sich der Patient mit 1- bis 5-tägiger Verspätung in der Ambulanz vor. Meist liegt dann eine diffuse Schwellung des gesamten Gelenks vor, die eine genaue Untersuchung und Diagnostik erschwert. Druck über der ulnaren Grundgliedbasis, eine entsprechende Anamnese und eine vermehrte Aufklappbarkeit des Gelenks im Seitenvergleich sind Hinweise auf eine solche Verletzung. Diagnostik Oft handelt es sich um einen im Röntgenbild
gut sichtbaren knöchernen Ausriss mit oder ohne Dislokation. Bei rein intraligamentären Rupturen, die vorwiegen im Adoleszentenalter nach Fugenschluss auftreten, kann im Einzelfall die Untersuchung in Leitungsanästhesie, auch als gehaltene Aufnahme, hilfreich sein. Konservative Therapie Bei Kindern unter 10 Jahren und
geringer Dislokation des epiphysären Fragments kann in
ments durch die Adductor-pollicis-Aponeurose, evtl. mit Gelenkstufe und bei adoleszenten Sportlern, sowie älteren, nicht konsequent ruhiggestellten Verletzungen sollte ein operatives Vorgehen mit Darstellung des Kollateralbandes und intraligamentärer Naht wo möglich oder mit knöcherner Refixation über Kompaktschraube bei ausreichender Größe des knöchernen Fragments erwogen werden. Bei Avulsionsverletzungen ohne knöchernes Fragment haben sich die Fadenankersysteme in kleinen Größen bewährt. Die Ruhigstellungszeiten entsprechen denen nach konservativer Therapie.
18.3.3
Interphalangeale Luxationen
Diese Verletzungen sind im Kindesalter eher selten, kommen jedoch beim Adoleszenten in ähnlicher Häufigkeit wie beim Erwachsenen vor. Häufiger ist das proximale Interphalangealgelenk (PIP) betroffen. Dorsale Dislokationen sind am häufigsten und können mit ligamentären und/oder knöchernen Verletzungen assoziiert sein. Leider erfolgt auch hier die Diagnosestellung oft verspätet, da das Gelenk oft an der Unfallstelle reponiert wird, die Begleitverletzungen dann aber nicht erkannt werden können und der Patient sich oft Wochen oder Monate nach dem
a
18
b
c
. Abb. 18.16a–c Verletzung des Lig. collaterale ulnare. a,b Vermehrte Aufklappbarkeit. c Intraoperativer Situs mit knöcherner Avulsion des Lig. collaterale
345 18.4 · Sehnen- und Nervenverletzungen im Bereich der Hand
Selten kommt es bei Adoleszenten zu palmaren Dislokationen des PIP-Gelenks. Hier muss nach Reposition besonders auf den Ausschluss einer Begleitverletzung im Bereich des Streckapparats geachtet werden. Eine Knopflochdeformität oder inkongruente Gelenkflächen im Seitbild nach Reposition können hier Hinweise sein. Laterale Dislokationen sind ebenfalls beschrieben. Hier sind die Kollateralbänder in Gefahr und bei einer axialen Fehlstellung im a.p. Strahlengang von >20° nahezu sicher mitverletzt. In beiden seltenen Fällen muss das Gelenk von dorsal oder lateral dargestellt werden und die verletzte Struktur rekonstruiert werden.
18.4
a
b
. Abb. 18.17a,b Röntgenbefund vor Reposition einer distalen Interphalangealgelenkluxation D5
Trauma mit persistierender Schwellung, Schmerzen bei Belastung oder Fehlstellung vorstellt. Klinik Die frische IP-Luxation ist in der Regel einfach zu
diagnostizieren und zu therapieren. Die Fehlstellung ist äußerlich gut sichtbar. Prüfung von Durchblutung, Sensibilität und Motorik sowie der Ausschluss von weiteren Verletzungen sind selbstverständlich. Diagnostik Die Röntgenaufnahme des betroffenen Ge-
lenks in 2 Ebenen informiert über Art der Luxation und das Vorliegen von knöchernen Begleitverletzungen, wie z. B. Bandausrissen der Seitenbänder oder der palmaren Platte (. Abb. 18.17) Therapie In einem deutlich höheren Prozentsatz als bei
den MP-Luxationen kann das Gelenk durch Längszug gepaart mit leichter Hyperextension in Oberst-Leitungsanästhesie reponiert werden. Auch hier kann jedoch die palmare Platte in das Gelenk einschlagen, die Reposition gelingt dann nur unvollständig, oder das Gelenk bleibt nach Reposition instabil. In diesen Fällen ist dann ebenfalls ein offenes Vorgehen indiziert und die verletzten Strukturen müssen rekonstruiert bzw. refixiert werden. Die Ruhigstellung nach operativer Therapie erfolgt in der Cast-Schiene in Intrinsic-plus-Stellung bis zur sicheren Wundheilung. Nach konservativer Therapie kann das betroffene Gelenk gut auch primär mittels einer Stack-Schiene oder einem »buddy taping« für längstens 10–14 Tage erfolgen.
Sehnen- und Nervenverletzungen im Bereich der Hand
Isolierte Verletzungen der Sehnen, Nerven und Gefäße sind in der Regel Folge von Schnitt- oder Stichverletzungen im Bereich der Hand. Bei ausgedehnten Weichteilverletzungen, z. B. Explosionsverletzungen durch Feuerwerk oder Quetschverletzungen bestimmen sie häufig über die spätere Funktion der rekonstruierten Hand. > Eine nicht zweifelsfrei untersuchbare und somit diagnostizierbare Handverletzung sollte immer in Narkose revidiert werden, um Begleitverletzungen der Nerven und Sehnen sicher auszuschließen.
Diese Revision muss nicht notwendigerweise am Unfalltag erfolgen, sondern kann nach entsprechender Wundversorgung, evtl. Impfung und Antibiotikagabe, sowie Ruhigstellung auch am nächsten Tag durch den handchirurgisch Erfahrenen durchgeführt werden.
18.4.1
Klinik
Jede Untersuchung beginnt mit einer Anamnese, auch des kleinen Kindes, ergänzt durch Angaben der Eltern bzw. der beim Unfall anwesenden Person(en). Unfallmechanismus, Zeitpunkt des Unfalls, Grunderkrankungen, ältere Verletzungen, Impfstatus sind zu erfragen. Bei der körperlichen Untersuchung ist es wichtig, bereits bei der Anamnese die Funktion der Hand zu beobachten. Zunächst sollte ohne Abnahme des Erstverbandes untersucht werden. Anschließend wird der Wundverband abgenommen, die Wunde genau inspiziert und der Befund (photo-)dokumentiert. Die Stellung der Finger in Ruhe kann oft schon Aufschluss über das Vorliegen einer Sehnenverletzung geben. Es folgt die aktive Beugung und Streckung der Fingergelenke mit selektiver Prüfung der einzelnen oberflächlichen und tiefen Beugesehnen. Bei kleinen oder unkooperativen
18
346
Kapitel 18 · Hand
c a
b . Abb. 18.18a–d Isolierte Prüfung der oberflächlichen und tiefen Beugesehnenfunktion. a Beugung des MP- und PIP-Gelenks (FDSSehne). b Aufgehobener Beugesehnentonus nach Schnittverletzung
D2. c Beugung Endglied D3 bei fixiertem Grund- und Mittelglied (FDP-Sehne). d Aufgehobener Beugertonus Dig. V nach traumatischer Durchtrennung der FDS- und FDP-Sehne
Patienten können Rückschlüsse auf intakte Strecksehnen durch Beugung des Handgelenks ebenso gezogen werden wie durch Dorsalextension des Handgelenks zur Prüfung der intakten Beugesehnen (. Abb. 18.18). Kompression des ulnaren Unterarms führt durch Tenodese bei intakter Beugesehne ebenfalls zur Fingerbeugung der Langfinger.
Adaptation der sauberen Wundränder mit Steristrips mit entsprechender Ruhigstellung, die bei Kleinkindern bis zum Oberarm reichen kann, aus. Auch eine Hautnaht in Einzelknopftechnik kann in Oberst-Leitungsanästhesie durchgeführt werden, vorausgesetzt, dass alle relevanten Strukturen (Sehnen, Nerven, Gefäße) sicher intakt sind. Bei kontaminierten Wunden ist eine Antibiotikaprophylaxe zu erwägen. Der Impfschutz muss überprüft und eventuell aufgefrischt werden. In der Regel muss eine tiefere Schnittwunde an der Hand je nach Kooperation des Patienten in Leitungsanästhesie oder in Vollnarkose exploriert werden. Hierzu benötigt man entsprechendes Instrumentarium und Ausstattung (Lupenbrille, Bleihand, Armtisch, Blutleere, Mikroinstrumentarium). Im Rahmen dieser Exploration müssen die potenziell verletzten Strukturen zweifelsfrei intakt dargestellt werden. Hierzu gehören die Gefäß-Nerven-Bündel sowie die Beuge- und Strecksehnen aber auch der Kapsel-Bandapparat.
18.4.2
18
d
Diagnostik
Weiterführende Diagnostik umfasst lediglich die Röntgenaufnahme zum Ausschluss knöcherner Verletzungen und Darstellung verbliebener, röntgendichter Fremdkörper. Hierbei sollte die Hand seitlich in einer Schrägaufnahme zur besseren Beurteilung der knöchernen Strukturen geröntgt werden. Bei isolierter Verletzung eines Strahls sollte auch nur dieser radiologisch dargestellt werden.
18.4.3
Therapie 18.4.4
Eine rein konservative Therapie einer Schnittverletzung im Bereich der Hand gibt es nur bei oberflächlichen Verletzungen mit sicher ausgeschlossenen Begleitverletzungen. In diesem Fall reicht nach sorgfältiger Desinfektion im Handbad ein steriler Verband, evtl. nach lockerer
Sehnenverletzungen
Strecksehnenverletzungen ohne Defekt werden je nach Höhe und Sehnenquerschnitt mit U-Nähten oder nach Kirchmayr-Zechner versorgt. In Defektsituationen müssen Umkippplastiken oder andere rekonstruktive Maßnahmen
347 18.4 · Sehnen- und Nervenverletzungen im Bereich der Hand
a
b
c
d
. Abb. 18.19a–d Kirchmayr-Zechner-Naht einer Beugesehne a Schematische Darstellung einer versenkten Kernnaht nach Kirchmayer-Zechner. b Operationssitus vor Naht der FDP-Sehne. c Opera-
tionssitus nach Kernnaht. d Operationssitus nach fortlaufender überwändlicher Naht. (b–d mit freundlicher Genehmigung von Prof. Prommersberger, Bad Neustadt/Saale)
je nach Einzelfall erwogen werden. Generell gilt, dass solche Rekonstruktionen nur im sauberen Operationsgebiet eine Aussicht auf Erfolg haben. Bei kontaminierten Wunden kann eine primäre Rekonstruktion nur erfolgen, wenn regelmäßige »Second-look-Operationen« die Heilung sicherstellen. Bei Beugesehnen gilt, dass eine Versorgung in jeder der Zonen nach Verdan bzw. Bunnell heutzutage technisch möglich und auch primär sinnvoll mit guten Ergebnissen vom handchirurgisch Erfahrenen durchgeführt werden kann. Es ist darauf zu achten, möglichst die Ringbandstrukturen zu erhalten. In der Regel kommt in der Technik nach Kirchmayr-Zechner eine Kernnaht (monofil, nicht resorbierbar) und eine oberflächliche Naht (monofil, resorbierbar) zum Einsatz (. Abb. 18.19). Auch hier gilt die Forderung nach möglichst sauberen Wundverhältnissen. Die früher diskutierte 6-h-Regel, nach der Wunden nach Ablauf dieser Frist nicht mehr primär verschlossen werden dürfen, hat sich durch den Einsatz der perioperativen Antibiotikaprophylaxe deutlich verlängert.
> Die Rekonstruktion von Sehnen der Hand sollte durch den geübten Operateur erfolgen, der auch das wichtige Nachbetreuungskonzept vermitteln und überwachen kann.
. Abb. 18.20 Kleinert-Schiene. (Mit freundlicher Genehmigung von Prof. Prommersberger, Bad Neustadt/Saale)
18
348
Kapitel 18 · Hand
a
Nachbehandlung Ab dem Vorschulalter kann früh-funktionell nach dem Kleinert- (. Abb. 18.20) bzw. Washington-Schema mittels konfektionierter oder selbst angefertigter dynamischer Schienen zunächst passiv, später aktiv geübt werden. Diese Patienten erreichen ihre volle Beweglichkeit schneller als Patienten ohne frühfunktionelle Therapie. Im Langzeitverlauf unterscheiden sich die beiden Rehabilitationsmaßnahmen jedoch nicht voneinander. Bei kleinen Kindern und Säuglingen erfolgt die Ruhigstellung im Gips mit Einschluss der betroffenen Langfinger für ca. 3 Wochen. Danach spontane Bewegung der Finger, evtl. unter Anleitung im spielerischen oder künstlerischen (Malen, Zeichnen, Musizieren) Kontext.
18.4.5
b
Auch Nervenverletzungen entstehen häufig bei Schnittverletzungen der Hand und haben bei primärer Therapie und Koaptation eine ausgezeichnete Prognose im Kindes- und Jugendalter, selbst wenn Nerven mit großem Querschnitt vollständig durchtrennt wurden. Nach Schnitterweiterung nach den handchirurgischen Zugangsprinzipien erfolgt die Darstellung der Nervenenden und die Koaptation unter Zuhilfenahme der Lupenbrille oder des Operationsmikroskops durch Koaptation mit monofilen, resorbierbaren Einzelknopfnähten 10×0–12×0 (. Abb. 18.21).
18.5 c
18 d . Abb. 18.21a–d Epineurale Koaptation des N. medianus nach partieller Durchtrennung durch Glasschnittverletzung am Handgelenk. a Intraoperativ vor Koaptation der radialen Medianusfaszikel. b Nach Koaptation. c Schema der epineuralen Koaptation. d Postoperativer Befund. (Klinische Bilder mit freundlicher Genehmigung von Prof. Prommersberger, Bad Neustadt/Saale)
Nervenverletzungen
Besonderheiten bei Infektionen
Bisswunden, aber auch Schnittwunden mit vermeintlich sauberem Gerät führen gerade im Kleinkindesalter nicht selten zu ausgedehnten, fortgeleiteten Infektionen trotz perioperativer, aggressiver und breit angelegter Antibiose und Ruhigstellung. Hier muss nach den Prinzipien der septischen Chirurgie vorgegangen werden. Zu nennen sind die temporäre Einlage von antibiotikahaltigen Medikamententrägern, regelmäßige Reoperationen mit Säuberung des kontaminierten Gebiets, notfalls Schnitterweiterungen bis weit nach proximal und offener Wundbehandlung, sowie sekundärer plastisch-chirurgischer Deckung. Die Jet-Lavage hat sich bei infizierten Handverletzungen nicht durchgesetzt, da sie in der Regel zu einer weiteren Keimausbreitung entlang der Beugesehnen und des subkutanen Fettgewebes führt. Nachbehandlung Gerade die Verläufe nach Infektionen
der Hand im Kindes- und Jugendalter sind nicht selten langwierig. Die Patienten sind schwierig zu motivieren und oft sind Sekundäreingriffe, wie z. B. Tenolysen erforderlich. Hier ist eine Anbindung an einen handchirurgisch erfahrenen Arzt auch für den ambulanten Bereich wichtig
349 18.5 · Besonderheiten bei Infektionen
und sinnvoll. Wenngleich die Physiotherapie bei der Behandlung von Verletzungen des Skelett- und Bewegungsapparats im Kindes- und Jugendalter in der Regel einen anderen, niedrigeren Stellenwert als beim Erwachsenen besitzt, gilt für die Kinderhand doch Folgendes: Auch in Deutschland gibt es mittlerweile Handtherapeuten, also auf die Hand spezialisierte Physiotherapeuten, und sogar den einen oder anderen Kinderhandtherapeuten, der physio- und ergotherapeutisch nach primär erfolgreicher chirurgischer Therapie den Langzeiterfolg sichern kann.
Literatur Cornwall R, Waters PM (2004) Remodelling of phalangeal neck fracture malunions in children: Case report. J Hand Surg 29A:458–461 Freeland AE, Lindley SG (2006) Malunions of the finger metacarpals and phalanges. Hand Clin 22:341–355 Friedrich H, Bäumel D(2003) Die Behandlung von Beugesehnenverletzungen im Kindesalter. Handchir Mikrochir Plast Chir 35:347– 352 Gaule R, Spies M, Krettek C (2007) Frakturen des Handgelenks und der Hand. Prinzipien der konservativen Behandlung. Der Unfallchirurg 110(10):833–844 Gaulke R (2000) Fingerkuppendefektverletzungen. Orthopäde 29: 587–595 Hahn P, Jacobs C, Müller-Zimmermann A (2003) Rehabilitation nach Beugesehnenverletzungen. Orthopäde 32:365–369 Haußmann P. Die operative Behandlung der Rupturen des ulnaren Seitenbandes am Daumengrundgelenk. Operat Orthop Traumatol (1991) 4:279–292 Kocher MS, Waters P, Micheli LJ (2000) Upper extremity injuries in the paediatric athlete. Sports Medicine 30 (2):117–135 Kozin SH (2006) Fractures and dislocations along the pediatric thumb ray. Hand Clin 22(1):19–29 Lester B, Mallik A (1996) Impending malunions of the hand. Treatment of subacute, malaligned fractures. Clin Orthop Rel Res (1996) 327: 55–62 Maheshwari R, Sharma H, Duncan RDD (2007) Metacarpophalangeal joint dislocation of the thumb in children. J Bone Joint Surg Br 89B:227–229 Menke H, Wittemann M, Jeste A, Germann G (2001) Kindliche Handverletzungen. Bericht Unfallmedizinische Tagung 104:55–68 Papadonikolakis A, Li Z, Smith BP, Koman A (2006) Fractures of the phalanges and interphalangeal joints in children. Hand Clin 22:11–18 Patel MR, Bassini L (2000) Irreducible palmar metacarpophalangeal joint dislocation due to juncture tendinum interposition: A case report and review of the literature. J Hand Surg 25A:166–172 Vadivelu R, Dias, JJ, Burke FD, Stanton J (2006) Hand injuries in children. A prospective study. J Pediatr Orthop 26(1):29–35 Waters PM (2007) Operative carpal and hand injuries in children. J Bone Joint Surg Am 89:2064–2074 Winkler FJ, Heers G, Hartung W, Grifka J (2007) Diagnostik des schmerzhaften Handgelenks. Der Orthopäde 38(2):213–228
18
IV
Frakturen und Luxationen der unteren Extremität Kapitel 19
Hüftgelenk und Oberschenkel T. Gresing
Kapitel 20
Kniegelenk St. Rose
Kapitel 21
Unterschenkel P. Illing
– 409
Kapitel 22
Sprunggelenk J. Suß
– 437
Kapitel 23
Fuß – 455 P. Illing
– 377
– 353
19
Hüftgelenk und Oberschenkel T. Gresing
19.1
Wachstumsphysiologie und Gefäßversorgung
19.2
Proximale Femurfrakturen
19.2.1 19.2.2 19.2.3 19.2.4 19.2.5 19.2.6 19.2.7 19.2.8 19.2.9 19.2.10
Klassifikation, Häufigkeit und Ursachen – 354 Klinik und Erstversorgung – 354 Diagnostik – 355 Therapieziel – 355 Therapieindikationen – 355 Konservative Therapie – 357 Operative Therapie – 357 Kontrollen und Nachbehandlung – 358 Ergebnisse und Prognose – 358 Komplikationen – 358
19.3
Traumatische Hüftluxation
19.3.1 19.3.2 19.3.3 19.3.4 19.3.5 19.3.6 19.3.7 19.3.8
Häufigkeit, Altersverteilung und Unfallmechanismen Klinik und Diagnostik – 359 Therapieziel – 359 Therapieindikationen – 359 Konservative Therapie – 359 Operative Therapie – 359 Komplikationen und Prognose – 359 Kontrollen – 359
19.4
Apophysenlösungen am proximalen Femur
19.4.1 19.4.2 19.4.3 19.4.4 19.4.5 19.4.6
Häufigkeit und Ursachen – 359 Klinik und Diagnostik – 360 Therapie – 360 Kontrollen und Nachbehandlung – 360 Ergebnisse und Prognose – 360 Komplikationen – 360
19.5
Femurschaftfraktur
19.5.1 19.5.2 19.5.3 19.5.4 19.5.5 19.5.6 19.5.7 19.5.8 19.5.9 19.5.10
Häufigkeit, Klassifikation und Ursachen – 361 Klinik und Erstversorgung – 361 Diagnostik – 362 Therapieziel – 362 Therapieindikationen – 362 Konservative Therapie – 363 Operative Therapie – 363 Kontrollen und Nachbehandlung – 374 Ergebnisse und Prognose – 374 Komplikationen – 374 Literatur
– 375
– 354
– 354
– 359
– 361
– 359
– 359
354
Kapitel 19 · Hüftgelenk und Oberschenkel
19.1
Wachstumsphysiologie und Gefäßversorgung
Die Längsachse des Femurschaftes steht beim Neugeborenen in einer Abwinkelung von ca. 150° zur Achse des proximalen Femur (Caput-Collum-Diaphysen-Winkel). Bis zur Adoleszenz tritt hier eine Varisierung bis ca. 120° ein (Hefti 2000). Die physiologische Detorsion des Schenkelhalses gegenüber der queren Kondylenebene des distalen Femurendes (Antetorsionswinkel) verläuft von 40° bei Geburt bis ca. 15° beim jungen Erwachsenen. Sie erfolgt in 2 Schüben, einmal zwischen dem 5. und 8. Lebensjahr und dann kurz vor Wachstumsabschluss. Die Blutversorgung des proximalen Femur ändert sich während des Wachstums. Zum Zeitpunkt der Geburt erfolgt die Durchblutung des Femurkopfes aus metaphysären Ästen der beiden Aa. circumflexae, die in dem Schenkelhals anliegenden Teil der Synovialis und des Periosts verlaufen und sowohl die fugennahe Metaphyse als auch die Fuge umgehend den Epiphysenkern versorgen. Besonders empfindlich auf eine intraartikuläre Drucksteigerung reagiert der singuläre Endast der A. circumflexa medialis. Bei Auftreten der Wachstumsfuge, welche eine Durchblutungsbarriere bildet, verliert dieser Weg seine Bedeutung. Jetzt übernehmen vor allem die posterior-inferioren und posterior-superioren Äste der A. circumflexa femoris medialis als eigene »epiphysäre« Gefäße die Blutversorgung des Femurkopfes (Chung 1976, Gautier et al. 2000; . Abb. 19.1). Die A. ligamentum teres trägt bis zum 8./9. Lebensjahr wenig zur Kopfdurchblutung bei (Hughes u. Beaty 1994). Dies erklärt die hohe Gefahr von Hüftkopfnekrosen nach proximalen Femurfrakturen oder Hüftgelenksluxationen im Kindesalter.
19.2
Proximale Femurfrakturen
19.2.1
Klassifikation, Häufigkeit und Ursachen
Die proximalen Femurfrakturen (syn. Schenkelhalsfrakturen) werden in der AO-PAEG-Klassifikation als 31-E/1 (Epiphyseolyse) oder 31-M/3 (vollständige metaphysäre Fraktur) bezeichnet. Die herkömmliche Unterteilung nach Delbet und Colonna in die Typen I–IV wird wegen ihrer klinischen Relevanz als Subtypisierung aufgeführt (. Abb. 19.2 und . Tab. 19.1): Aufgrund der Härte der Spongiosa machen proximale Femurfrakturen im Kindesalter nur 0,05% aller Knochenbrüche aus (Jonasch u. Bertel 1981) und setzen ein massives Trauma z. B. durch Verkehrsunfall oder einen Sturz aus großer Höhe voraus. Am Schenkelhals werden bis zu 1/3 pathologische Frakturen (z. B. bei juvenilen Knochenzysten) beobachtet. Fast 1/5 der proximalen Femurfrakturen ereignet sich im Rahmen einer Osteoporose aufgrund anderer Grundkrankheiten (Zerebralparese, Chemotherapie; Azouz et al. 1993).
19.2.2
Klinik und Erstversorgung
Die Beweglichkeit in der Hüfte ist schmerzhaft stark eingeschränkt, es bestehen Becken- und Trochanter-Kompressionsschmerz. Das Bein ist bei Dislokation verkürzt und außenrotiert. Die Erstversorgung umfasst die schonende Lagerung und den Transport möglichst auf der Vakuummatratze, ggf. unter leichtem Zug in axialer Richtung.
19
. Abb. 19.1. Dargestellt ist die Blutversorgung des linken Hüftkopfes in der Ansicht von dorsal beim Kind (links) und Erwachsenen (rechts). Der von den beiden Arterien gebildete Gefäßring umgeht die Wachstumsfuge. Die in die Epiphyse gelangenden Gefäße sind Endarterien, weshalb es bei einer Gefäßläsion oder einem Häm-
arthros zu den unterschiedlichen Formen der Hüftkopfnekrose kommen kann. Nach der Pubertät erfolgt die Blutversorgung wieder über Anastomosen zwischen metaphysären und epiphysären Gefäßen und die Arterie des Lig. capitalis femoris
H.G. Dietz et al. (Hrsg.), Praxis der Kinder-und Jugendtraumatologie, DOI 10.1007/978-3-642-12935-3_19, © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2011
355 19.2 · Proximale Femurfrakturen
. Abb. 19.2 Die AO-PAEG-Klassifikation korreliert mit der von Delbet und Colonna publizierten (. Tab. 19.1)
. Tab. 19.1 Prozentualer Anteil und Altersverteilung der Schenkelhalsfrakturen im Kindesalter AO-PAEG-Klassifikation (Typ I–IV nach Delbet u. Colonna)
Lokalisation
Häufigkeit
Altersgruppe
31-E/1 (Typ I)
Transepiphysär
5–12%
Neugeborene, Kleinkinder
31-M/3.1 (Typ I)
Transzervikal
50%
Klein-, Schulkinder
31-M/3.1 (Typ II)
Zervikobasal
30%
Klein-, Schulkinder
31-M/3.1 (Typ III)
Intertrochantär
8–15%
Klein-, Schulkinder
19.2.3
Diagnostik
Standard ist die konventionelle Röntgenaufnahme (Beckenübersicht und Cross-table-Aufnahme). Das Hüftgelenk wird sonographiert, ein Erguss punktiert. Ist die axiale Ebene schmerzbedingt nicht exakt einstellbar, kann sie – bei klarer Operationsindikation – in Narkose nachgeholt werden. Alternativ ist eine Computertomographie durchzuführen (. Abb. 19.3).
19.2.4
Therapieziel
Das Ziel der Therapie ist die Wiederherstellung der anatomischen Situation am Schenkelhals unter größtmöglicher
a
Schonung der Kopfdurchblutung und die sichere Retention des Repositionsergebnisses. Die Seltenheit der Fraktur und die daraus resultierenden kleinen Kollektive lassen auch heute nur eine begrenzte Therapieempfehlung zu (Kurz u. Grumbt 1988).
19.2.5
Therapieindikationen
Die Indikationen orientieren sich am Frakturtyp sowie am Alter des Patienten. In der Regel ist heute ein offenes Vorgehen zu empfehlen. Die Reposition und Fixation erfolgen innerhalb von 12–24 h. 31-E/1 (Typ-I)-Frakturen sind extrem selten und werden bei Geburtstraumen, bei spastisch gelähmten Kindern
b
. Abb. 19.3a,b 31-M/2 (Typ-II)-Fraktur bei einem 12 Jahre alten Mädchen. Das CT zeigt die Dislokation der Schenkelhalsfraktur
19
356
Kapitel 19 · Hüftgelenk und Oberschenkel
a
b
. Abb. 19.4a,b 31-M/3.1 (Typ I)-Fraktur bei dem 12 Jahre alten Mädchen (. Abb. 19.3); Versorgung mit 1 Spongiosaschraube
19
und im Rahmen von Misshandlungen gesehen (Azouz et al. 1993). Bei älteren Kindern sind Verkehrsunfälle ursächlich. Fast immer sind eine offene Reposition und eine Fixation notwendig, die mit Kirschner-Drähten oder Zugschrauben bzw. heute vorteilhafter mit einer LC-KinderHüftplatte vorgenommen wird. Das Repositionsergebnis bedarf bei Säuglingen und Kleinkindern einer zusätzlichen Ruhigstellung im Becken-Bein-Gips für 3–4 Wochen, bei älteren Kindern kann bei sicherer Implantatlage und zuverlässiger Entlastung darauf verzichtet werden. Eine vermeintlich traumatische Epiphysenlösung des älteren Kindes muss immer an die Epiphyseolysis capitis femoris denken lassen, oft bestanden schon zuvor Hüftbeschwerden und es kommt zu einer Epiphyseolysis »acute on chronic«. 31-M/3.1 (Typ I)-Frakturen betreffen Klein- und Schulkinder. Dislozierte Typ-II-Frakturen werden nach offener Reposition bei Kleinkindern ebenfalls durch KirschnerDrähte fixiert. Bei größeren Kindern können kanülierte Schrauben benutzt werden, wenn der metaphysäre Anteil des proximalen Fragmentes eine Fixation unter Schonung der Fuge zulässt (. Abb. 19.4). Wenn mindestens zwei Schrauben eingebracht sind, die das proximale Fragment gut fassen, ist keine weitere Ruhigstellung nötig. Nach der Kirschner-Drahtosteosynthese muss eine zu-
sätzliche Ruhigstellung im Becken-Bein-Gips für 4–6 Wochen erfolgen. Auch nicht dislozierte Frakturen sollten fixiert werden, um eine sekundäre Dislokation zu verhindern. 31-M/3.1 (Typ II)-Frakturen werden nur im Ausnahmefall, wenn es sich um stabile, eingestauchte Frakturen handelt, konservativ im Becken-Bein-Gips versorgt. Es besteht die Gefahr einer sekundären Dislokation, die nur durch engmaschige Kontrollen vermieden werden kann. Daher ist auch hier eine »präventive« Fixation vorzuziehen. Die Retention erfolgt mit kanülierten Schrauben oder einer LC-Kinder-Hüftplatte. Alternativ kann bei Kleinkindern auch bei diesen Frakturen eine Kirschner-Drahtosteosynthese erfolgen, nach der eine Ruhigstellung für 4 Wochen nötig ist. 31-M/3.1 (Typ III)-Frakturen sind inter-, per- und subtrochantäre Frakturen und haben daher eine deutlich bessere Prognose, da die Durchblutung des Kopf-/Halsfragments nicht mehr kritisch ist. Bei anatomischer Stellung können die Brüche konservativ im Beckengips für 4–6 Wochen behandelt werden. In den meisten Fällen ist jedoch aufgrund der Dislokation oder wegen der besseren Mobilisierungsmöglichkeit eine Operation und Fixation durch intramedulläre Nagelung, einen Fixateur externe bzw. eine LC-Kinder-Hüftplatte angebracht (. Abb. 19.5).
357 19.2 · Proximale Femurfrakturen
a
b
c
. Abb. 19.5a–c 31-M/3.1 (Typ III)-Fraktur bei einem 5 Jahre alten Knaben. a Unfallbild. b,c Versorgung ESIN retrograd
19.2.6
Konservative Therapie Zugänge zur offenen Reposition
Der Becken-Bein-Gips wird beim Säugling in Sedierung, beim größeren Kind in Narkose im Operationssaal angelegt, um bei unzureichender Retention die Reposition und Fixation in gleicher Sitzung durchführen zu können. Der Gips wird in 30°-Beugestellung, 30°-Abduktion im Hüftgelenk und 30°-Beugung im Kniegelenk anmodelliert. Der Vorteil liegt in der ambulanten Behandlungsmöglichkeit. Nachteile sind die Pflegeproblematik, Druckstellen im Gips und eine unzureichende Retention. Bei einer sekundär festgestellten Dislokation erfolgt die operative Retention.
19.2.7
Operative Therapie
Das verletzte Bein muss schonend gelagert werden, um eine zusätzliche intraartikuläre Druckerhöhung, Scherkräfte auf die Wachstumsfuge und eine weitere Beeinträchtigung der Blutversorgung zu vermeiden. Deshalb ist der Extensionstisch nicht geeignet. Die Reposition erfolgt unter direkter Sicht und Palpation unter sorgfältiger Manipulation und axialem Längszug. Das intrakapsuläre Hämatom wird entlastet.
4 Anteriorer Zugang bei anteriorer Dislokation 4 Antero-lateraler Zugang nach Watson-Jones (in der Regel) 4 Posteriorer Zugang bei posteriorer Dislokation 4 Transglutaealer Zugang in Seitenlage
Osteosyntheseverfahren 4 2 kanülierte rückschneidende Titan-Gleitschrauben: 4,5–7,0 mm (je nach Alter) 4 (Stahlschrauben sind wegen der Interferenzen im MRT ungünstig. Normale Titanschrauben lassen sich kaum mehr entfernen und müssen in situ verbleiben.) 4 3–4 K-Drähte: 1,6–2 mm, mit/ohne Gewinde 4 LC-Kinder-Hüftplatte
! Cave Perforation der Wachstumsfuge, Transfixation des Hüftgelenks!
19
358
Kapitel 19 · Hüftgelenk und Oberschenkel
19.2.8
Kontrollen und Nachbehandlung
Bei allen Patienten mit Becken-Bein-Gips erfolgen klinische und radiologische Kontrollen nach einer und nach vier Wochen. Der Becken-Bein-Gips kommt heute fast ausschließlich bei Säuglingen und Kleinkindern zur Anwendung. In diesem Alter kann nach 4 Wochen von einer Konsolidation ausgegangen werden, so dass diese Röntgenaufnahme gipsfrei durchgeführt werden kann. Wurden Kirschner-Drähte eingebracht, kann die Metallentfernung ambulant geplant werden. Danach erfolgt die Mobilisation des Patienten ohne Limitierung der Belastung. Operierte Frakturen der Typen I–III mit übungsstabiler Versorgung (Platten-/Schraubenosteosynthese) können postoperativ auf einer Bewegungsschiene gelagert werden. Bei Schmerzfreiheit erfolgt die Mobilisierung an Gehstützen (mit Sohlenkontakt). Zeigt die radiologische Kontrolle nach 4–6 Wochen eine ausreichende Konsolidation, kann die Belastung begonnen werden. Die Metallentfernung erfolgt nach 3–6 Monaten. Ein MRT zur Beurteilung der Vitalität des Femurkopfes und zur Abschätzung der Prognose erfolgt postoperativ sowie nach 12 Monaten. Bei einwandfreier Darstellung erfolgen klinische Kontrolluntersuchungen bis 5 Jahre nach dem Trauma. Stellen sich in der MRT relevante Folgeschäden (Kopfnekrose, Coxa vara; s. unten) heraus, muss gemeinsam mit dem Kinderorthopäden ein Behandlungskonzept entwickelt werden. Nach Typ-IV-Querfrakturen (LC-Kinder-Hüftplatten-, ESIN- oder Fixateur-externe-Osteosynthese) kann bei Schmerzfreiheit sofort, sonst nach 7–10 Tagen belastet werden. Nach 4–6 Wochen zeigt die Röntgenkontrolle die ausreichende Kallusüberbrückung. Der Fixateur kann jetzt abgenommen werden. Die ESIN verbleiben bis zum vollständigen Remodeling (4–6 Monate) und werden erst dann entfernt. Zunehmende sportliche Betätigung wird den Patienten nach dem Nachweis der Kallusbildung bei Beschwerdefreiheit gestattet.
19.2.9
19
Ergebnisse und Prognose
Sehr große prognostische Bedeutung haben das Dislokationsausmaß und die primäre Dekompression, große Bedeutung der Bruchtyp und das Patientenalter. In der Summe hängt die Prognose vom intakten Gefäßsystem der Schenkelhalsregion ab. Während bei Typ-I-Frakturen auch nach neuerer Literatur aufgrund der unvermeidlichen Durchblutungsstörung mit nahezu 100% schlechtem Ergebnis durch die Kopfnekrose zu rechnen ist (Jonasch u. Bertel 1981; Ng u. Cole 1996; Pape et al. 1999; Ratliff 1974), ist für die Typ-IV-Frakturen wegen des Fehlens der Durch-
. Abb. 19.6 Schema der avaskulären Femurkopfnekrose nach Ratliff: Typ I Femurkopf; Typ II Teil des Femurkopfes; Typ III Schenkelhals
blutungsproblematik die Komplikationsrate annähernd null (Niethard 1982). Die Komplikationsrate für Typ-II/ III-Frakturen liegt bei 20–50% (Azouz et al. 1993). Gill et al. (1998) empfehlen, bei operativer Therapie zur Abschätzung der Prognose den Femurkopf anzubohren und aus der beobachteten Blutung beziehungsweise einer fehlenden vaskulären Antwort auf die Prognose zu schließen. Daten zur Relevanz dieses Verfahrens fehlen, eine therapeutische Konsequenz ergibt sich nicht.
19.2.10
Komplikationen
Nach zeitgerechter operativer Stabilisierung kann zwar die Rate von Wachstumsstörungen durch vorzeitigen Fugenschluss mit Ausbildung einer Coxa vara (20–30%) oder einer Pseudarthrose (6–10%) gesenkt werden. Viele Studien zeigen den positiven Effekt einer Operation innerhalb der ersten 12 h nach dem Unfall vor allem bei Typ-II- und -III-Frakturen (Cheng u. Tang 1999; Fornaro et al. 1982; Maeda et al. 2003; Ng u. Cole 1996; Wiedmann u. Parsch 1990). Dennoch bleibt die Ausbildung einer avaskulären Femurkopfnekrose mit konsekutiver Koxarthrose schicksalshaft (Shah et al. 2002; Mayr et al. 1998). Kopf- und Halsnekrosen werden anhand des MRT nach Ratliff (1974) in 3 Typen unterteilt (. Abb. 19.6) und sind durch das unterschiedliche Ausmaß der Gefäßzerstörung am Schenkelhals bedingt (. Abb. 19.1). Die Typ-INekrosen nach Ratliff der Kopf- und Halsregion nehmen den schwersten, die Typen II und III einen blanderen Verlauf. Eine kurative Therapie ist bis heute nicht bekannt. Der Wert einer länger dauernden Entlastung wird ebenso diskutiert wie eine Umstellungsosteotomie, die den Nekrosebezirk aus der Belastungszone verlagern soll.
359 19.4 · Apophysenlösungen am proximalen Femur
19.3
Traumatische Hüftluxation
19.3.6
19.3.1
Häufigkeit, Altersverteilung und Unfallmechanismen
17% der Patienten weisen Begleitverletzungen am Azetabulum auf. Bei Interponaten oder einer zentralen Luxation muss die offene Reposition und operative Versorgung des Azetabulums beziehungsweise die Refixation des Labrums erfolgen. Postoperativ ist die Entlastung durch Bettruhe für eine Woche und die Mobilisation an Gehstützen für 4 Wochen notwendig (. Abb. 19.7).
Die traumatische Hüftluxation ist eine sehr seltene Unfallfolge. Exakte Zahlen zur Inzidenz liegen nicht vor. Ursächlich sind sowohl Rasanztraumen meist bei Verkehrsunfällen als auch geringere Unfallintensitäten. Es kommt überwiegend zu einer hinteren oberen (95%), seltener zu einer vorderen (5%) Luxation. Die zentrale Luxation kommt im Kindesalter kaum vor. Es gibt keine Alterspräferenz, jedoch treten Luxationen im Rahmen von Alltagstätigkeiten eher bei jüngeren Kindern, solche nach Hochenergietraumen eher bei älteren Kindern (>10 Jahre) auf.
19.3.2
Klinik und Diagnostik
Die Verkürzung und Bewegungseinschränkung in der Hüfte führt zur klinischen Diagnose, bei der hinteren Luxation wird das Bein in Adduktion, Flexion und Innenrotation gehalten, bei der vorderen in Abduktion, Extension und Außenrotation. Die Erstversorgung erfolgt wie bei der Schenkelhalsfraktur (7 Abschn. 19.2). Die Diagnostik erfolgt mittels Beckenübersicht und, falls möglich, axialer Aufnahme des proximalen Femur oder eines CT.
19.3.3
Therapieziel
19.3.7
Operative Therapie
Komplikationen und Prognose
Die Komplikationen bestimmen die Prognose. Als gravierendste Folge tritt in ca. 30% der Fälle die Femurkopfnekrose ein (Vialle et al. 2005). Das Risiko ist nicht eindeutig zuzuordnen. Durch vorzeitigen Fugenschluss kann es zu einer Verkürzung des Schenkelhalses mit daraus resultierender Coxa vara kommen. Abhängig vom Alter beim Unfall wird eine relevante Längenungleichheit resultieren, die einen konservativen (Sohlenerhöhung) oder operativen Längenausgleich (Verlängerungsosteotomie, temporäre Klammerung der kontralateralen distalen Femurfuge) erfordert.
19.3.8
Kontrollen
Nach 12 Wochen erfolgt ein Kontroll-MRT. Bei pathologischem Befund müssen weitere MRT-Kontrollen bei klinischen Beschwerden veranlasst werden (Zur Femurkopfnekrose 7 Kap. 19.2).
Vermeidung einer Hüftkopfnekrose.
19.3.4
Eine Luxation wird sofort reponiert. Bei unmöglicher Reposition wird offen vorgegangen.
19.3.5
19.4
Apophysenlösungen am proximalen Femur
19.4.1
Häufigkeit und Ursachen
Therapieindikationen
Konservative Therapie
Nach der umgehenden Reposition in Vollnarkose unter Relaxierung des Patienten erfolgt eine ultraschallkontrollierte perkutane Punktion des Ergusses. Über die liegende Kanüle kann intraoperativ eine Arthrographie eine Begleitverletzung (»flake fracture« aus dem Azetabulum oder ein Abriss des Labrum) bzw. Inkongruenz des Gelenkes nachweisen, die sofort operativ versorgt wird.
Apophysenlösungen am proximalen Femur sind selten, können aber beim jungen Sportler jenseits des 12. Lebensjahres auftreten. Infolge vermehrter Ausschüttung somatotroper Hormone kommt es zur Auflockerung der Apophyse und zur Abnahme der Zugfestigkeit. Die vermehrt ausgeschütteten Androgene bewirken eine erhebliche Zunahme der Muskelkraft. Eine plötzliche ruckartige Muskelanspannung (Fußballspiel) oder ein chronische Überlastung infolge Mikrotraumen (Sportakrobatik) führen zum Apophysenabriss oder -lösung. Der Trochanter minor wird durch Zug des M. iliopsoas beim Sprinten abgerissen. Bei einer extremen Verrenkung kann es durch Zug der Abduktoren zur Lösung des Trochanter maior kommen.
19
360
Kapitel 19 · Hüftgelenk und Oberschenkel
a
b
d
c
19.4.2
Klinik und Diagnostik
Das klinische Bild zeichnet sich durch Schmerzen und Bewegungseinschränkung aus. Die Diagnostik erfolgt anhand der Röntgenuntersuchung der Hüfte in 2 Ebenen. Da die Apophyse von Periost überzogen ist, erfolgt meist keine vollständige Dislokation.
. Abb. 19.7a–d Irreponible Hüftgelenksluxation rechts. a Röntgenbefund. b Das CT zeigt die Interposition des Labrums. c,d Nach Reposition und Refixation wieder kongruente Gelenkverhältnisse
19.4.4
Die Konsolidationsdiagnostik erfolgt nach 5–6 Wochen, daran schließt sich die Metallentfernung nach 8 (Kirschner-Drähte) oder 12 Wochen (Schrauben) an.
19.4.5 19.4.3
19
Therapie
4 Undislozierte Frakturen: konservativ, Entlastung an Gehstützen bis zur Schmerzfreiheit (für 3–4 Wochen) 4 Bei einer Dislokation >2 cm: Da bei einer Abheilung des Trochanter maior in deutlicher Dislokation ein Trendelenburg-Hinken resultieren könnte, ist in derartigen Fällen die offene Refixation (mit Kirschner-Drähten oder Zugschrauben) vorzunehmen (. Abb. 19.8). Der Patient entlastet an Unterarmgehstützen bis zur Schmerzfreiheit.
Kontrollen und Nachbehandlung
Ergebnisse und Prognose
Die Prognose ist gut, es ergeben sich keine Wachstumsstörungen.
19.4.6
Komplikationen
Es gibt Einzelberichte über Femurkopfnekrosen.
19
361 19.5 · Femurschaftfraktur
a
b . Abb. 19.8a–d Abriss des Trochanter maior. a,b Unfallbild. c,d Offene Refixation mit 2 Zugschrauben (mit freundlicher Genehmigung von H.-O. Rieger, Vilshofen)
c
d
19.5
Femurschaftfraktur
19.5.1
Häufigkeit, Klassifikation und Ursachen
> Oberschenkelschaftfrakturen sind nach den Frakturen des Unterschenkels die häufigste Verletzung der unteren Extremität.
Insgesamt machen sie einschließlich der subtrochantären und suprakondylären Frakturen etwa 1,6% der Frakturen im Kindesalter aus (Landin 1983). Bezogen auf die Frakturen der langen Röhrenknochen haben sie einen Anteil von 5,2% (Kraus et al. 2005). Es finden sich in der Altersverteilung zwei Häufigkeitsgipfel, der erste zwischen dem 2. und 5. Lebensjahr, der zweite zwischen dem 14. und 17. Lebensjahr. Jungen sind mit 71% deutlich häufiger be-
troffen als Mädchen. Bei Kindern vor dem 2. Geburtstag muss an eine Kindesmisshandlung als Ursache gedacht werden (in bis zu 15% der Fälle, Loder et al. 2006). Bei Frakturen ohne adäquates Trauma und nach Ausschluss einer Kindesmisshandlung muss eine Osteogenesis imperfecta erwogen werden. Die Inzidenz der Oberschenkelschaftfraktur liegt bei 20–26 auf 100.000 Kinder pro Jahr (Poolmann et al. 2006). Bei den Schaftfrakturen sind die proximalen Frakturen (22%), die diaphysären Frakturen (70%) und die metaphysären, fugennahen Verletzungen (8%) zu unterscheiden. Die Klassifikation erfolgt nach AO-PAEG (. Tab. 19.2; Slongo et al. 2006). Sie unterscheidet in die meta- (31-M und 33-M) und diaphysären Frakturen (32-D). Die Morphologie der Fraktur wird durch eine typenspezifische Kinderkodierung dargestellt, der Schweregrad wird nur in »einfach« und »mehrfragmentär« unterschieden.
19.5.2
Klinik und Erstversorgung
Die Leitsymptome sind Schwellung, Deformierung und Schmerzhaftigkeit, die Patienten sind meist gehunfähig. . Tab. 19.2 AO-PAEG Klassifikation der Femurschaftfrakturen Knochen
Segment
Typ
Kindercode
Schweregrad
3
123
MD
1–9
.1.2
362
Kapitel 19 · Hüftgelenk und Oberschenkel
a
b
. Abb. 19.9a,b Geburtstraumatische proximale Femurschaftfraktur bei einem Knaben
Im »Krabbelalter« besteht häufig nur eine Schonhaltung des betroffenen Beines. Bei schwerbehinderten Kindern, Mehrfachverletzungen oder Schädel-Hirn-Trauma-Patienten kann die Diagnosestellung mitunter schwierig sein. Die Erstversorgung umfasst neben einer Kreislaufstabilisierung eine adäquate Analgesie, die schonende Lagerung möglichst in der Vakuumschiene sowie eine Dokumentation der peripheren Durchblutung, Sensibilität und Motorik. Frakturen des Oberschenkels gehen in einem hohen Prozentsatz mit intraabdominellen Verletzungen einher, bei entsprechender Anamnese sind diese sonographisch auszuschließen.
19.5.3
19
Diagnostik
Die Standarddiagnostik erfolgt mittels Röntgenuntersuchung in 2 Ebenen (. Abb. 19.9) mit Hüft- und Kniegelenk. Die Einstellung der Gelenke in der 2. Ebene kann trotz Analgesie äußerst schmerzhaft sein, so dass sie dann in Behelfstechnik mit angestellter Kassette erfolgen muss. Auf den richtig platzierten Gonadenschutz ist zu achten.
19.5.4
Therapieziel
Therapieziel ist die primäre, definitive Versorgung, die eine zügige Mobilisation und Belastung gestattet.
19.5.5
Therapieindikationen
Die Spontankorrekturen sind altersabhängig. Bis zum 10. Lebensjahr ist eine relative Korrektur in allen Ebenen möglich, danach sollte möglichst keine Fehlstellung mehr belassen werden. In der Nähe der hochprozentigen distalen Femurfuge finden Korrekturen in der Frontal- und Sagittalebene eher statt. Valgusfehlstellungen korrigieren sich schlechter als Varusfehlstellungen. Die Antekurvationsstellung in der Sagittalebene erfährt eine Korrektur um etwa 15°, so dass hier eine Fehlstellung von mehr als 20° zu vermeiden ist (. Tab. 19.3). Seit-zu-Seit-Fehlstellungen bei konservativer Therapie sollten nicht mehr als die halbe Schaftbreite betragen. Rotationsfehler können sich im Rahmen der physiologischen Detorsionsvorgänge korrigieren. Sie sind jedoch im Falle des akuten Traumas beim konventionellen Röntgen nicht zu beurteilen. Die richtige Drehung des Beines muss intraoperativ bewertet und gegebenenfalls korrigiert werden. Das sterile Abdecken beider Beine vereinfacht die Beurteilung. CT, MRT und sonographische Messungen sind aufwändig und dann einzusetzen, wenn eine therapeutische Konsequenz zu erwarten ist. > Spontankorrekturen sind allenfalls bei der konservativen Behandlung des Kleinkinds in den zu tolerierenden Grenzen akzeptabel. Bei den operativen Verfahren soll immer ein anatomisch einwandfreies Resultat erzielt werden.
363 19.5 · Femurschaftfraktur
. Tab. 19.3 Akzeptable Fehlstellungen am Oberschenkelschaft Bis 1. Geburtstag
Bis 3. Geburtstag
Bis 10. Geburtstag
Älter als 10 Jahre
Varus/Valgus
30°/20°
25°/15°
10°/10°
5°/5°
Ante-/Rekurvation
20°/15°
20°/10°
15°/10°
5°/5°
Verkürzung
2 cm
2 cm
1 cm
1 cm
Rotation
<10°
<10°
0
0
19.5.6
Konservative Therapie
Oberschenkelschaftfrakturen bis zum 3. (bis 5.) Lebensjahr werden überwiegend konservativ versorgt. Zu berücksichtigen sind dabei die Größe und das Gewicht des Kindes. Therapie der Wahl ist hier der Becken-Bein-Gips (7 Abschn. 19.2.6) oder die Overhead-Pflasterextension (. Abb. 19.10), die bis zu einem Körpergewicht von 15 kg angewandt werden können. Die Anlage erfolgt in ausreichender Analgesie und Sedierung. Beide Beine werden mit Pflasterzügeln fixiert und mit einem Gewicht, das ein Sechstel des Körpergewichts beträgt, extendiert. Die Ruhigstellung dauert bis zur Schmerzfreiheit 2–3 Wochen. Eine Kombination der Overhead-Pflasterextension für 8 Tage mit einem Becken-Bein-Gips für weitere 10 Tage ermöglicht auch bei dislozierten Frakturen eine Therapie ohne Narkose. Für die Anlage eines Becken-Bein-Gipses bei einer dislozierten Fraktur (. Abb. 19.11) und die anzustrebende Reposition sind eine Narkose und ein kurzer stationärer Aufenthalt erforderlich (Wright et al. 2005). Die pflegerische Problematik und das Risiko einer Redislokation sind bei der Indikationsstellung zu berücksichtigen. Je nach Körpergröße, Gewicht und Fraktursituation kann aber auch in Einzelfällen eine operative Therapie (ESIN) bei Kindern <3 Jahre durchgeführt werden.
19.5.7
Operative Therapie
> Jenseits des 3.–5. Lebensjahres hat sich die operative Therapie der Oberschenkelfrakturen als Standardtherapie durchgesetzt. Proximale Frakturen werden retrograd mittels ESIN ver-
sorgt (Craig u. Maffulli 2005). Hier wird der mediale Nagel in den Schenkelhals bis vor die Epiphysenfuge positioniert, der laterale Nagel wird in den Trochanter maior vorgeschoben (. Abb. 19.12 und . Abb. 19.13). Bei Kindern >11 Jahre kann mit dieser Methode auf Grund der nicht optimalen Abstützung meist keine belastungsstabile Situation erreicht werden, häufig verbleibt eine leichte Achsabweichung.
Dann kann das Einbringen eines 3. Nagels hilfreich sein. Für diese Altersgruppe besteht mit einer winkelstabilen Platte eine weitere Therapieoption (Kanlic u. Cruz 2007). Diaphysäre Oberschenkelfrakturen werden im mittleren und proximalen Schaftdrittel retrograd mittels intramedullärer Nägel versorgt (. Abb. 19.14). Im distalen Schaftdrittel erfolgt die Nagelung antegrad (Dietz et al. 2006). Bei langen Schrägfrakturen, Spiralfrakturen und solchen mit Biegungs- oder Drehkeil können Verriegelungsverschlusskappen eine achsengerechte Fixation ermöglichen und eine sekundäre Fehlstellung vermeiden (Nectoux et al. 2007; . Abb. 19.15). Bei Kindern >12 Jahre oder mit einem Körpergewicht >50 kg kann eine antegrade Markraumosteosynthese (»adolescent lateral femoral nail«) mit Zugang über den Trochanter maior mittels pädiatrischem Verriegelungsnagel erfolgen (Keeler et al. 2009) oder auch eine antegrade intramedulläre Nagelung mit Schraubkappen mit Zugang über den lateralen Anteil des Trochanter maior (Kuremsky u. Frick 2007). Bei diesem Zugangsweg ist nicht mit Durchblutungs- oder Wachstumsstörungen im Bereich des Hüftkopfes zu rechnen. Metaphysäre distale Oberschenkelschaftfrakturen
werden antegrad mit ESIN stabilisiert. Die Biomechanik beruht in diesem Fall nicht mehr auf der Aufspannung mit der 3-Punkt-Abstützung, sondern auf einer guten Verspreizung der Nägel im distalen Fragment (. Abb. 19.16). Der Fixateur externe hat sich am Oberschenkel als Standardtherapie nicht durchsetzen können. Bei den Querfrakturen ist die Heilungszeit zu lange und das Refrakturrisiko zu hoch. Seine Indikation für instabile Frakturen ist durch den ESIN mit Verriegelungsschraubkappen relativiert. Der Fixateur ist aber weiterhin eine alternative Therapieoption bei Trümmerfrakturen, mehrfachverletzten Kindern sowie einer erheblichen Weichteilproblematik des frakturierten Beines (. Abb. 19.17). Die Plattenosteosynthese ist wegen des großen Zugangs, der oft hypertrophen Narbe und vor allem wegen der überdurchschnittlichen Beinverlängerung bei Kindern unter dem 10. Lebensjahr heute keine Alternative. Sie bleibt Sonderindikationen (pathologische Frakturen mit ausgedehnten Knochendefekten) vorbehalten, wobei dann
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364
Kapitel 19 · Hüftgelenk und Oberschenkel
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f
. Abb. 19.10a–f Oberschenkelspiralfraktur bei einem 2,5 Jahre alten Jungen. a, b Unfallbilder. c, d Behandlung in Overheadextension. e, f Nach 14 Tagen ausreichende Kallusbildung
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365 19.5 · Femurschaftfraktur
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. Abb. 19.11a–f Oberschenkelschaftfraktur bei einem 10 Monate alten Mädchen. a,b Unfallbilder. c,d Behandlung im Becken-Bein-
Gips. e,f Die im Gips zu beobachtende Varusstellung korrigiert sich in diesem Alter spontan
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366
19
Kapitel 19 · Hüftgelenk und Oberschenkel
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f
. Abb. 19.12a–f Proximale Femurschaft-Schrägfraktur. a,b Unfallbilder. c,d ESIN der Stärke 2,5 mm, die Perforation des Nagels im Schenkelhalsbereich soll vermieden werden. e,f Nach Metallentfernung nach 6 Monaten
367 19.5 · Femurschaftfraktur
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d
. Abb. 19.13a–d Patient aus . Abb. 19.9. a,b In Overheadextension lässt sich keine achsengerechte Stellung erzielen. c,d Deshalb Retention mit einem ESIN der Stärke 1,5 mm
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368
Kapitel 19 · Hüftgelenk und Oberschenkel
a
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. Abb. 19.14a–e Oberschenkelfraktur mit Biegungskeil bei einem 10-jährigen Patienten. a Unfallbild. b,c ESIN der Stärke 3. d,e Achsengerechte Konsolidation
369 19.5 · Femurschaftfraktur
a
b
c
. Abb. 19.15a–c Femurschaft-Spiralfraktur. a Unfallbild. b,c Retrograde Frakturversorgung mit ESIN und Verschlusskappen
a
b
. Abb. 19.16a,b Femur-Schrägfraktur im distalen Drittel. a,b Verspreizung der Nägel im kurzen distalen Fragment, zur Erzielung einer höheren Stabilität Einbringen eines dritten Nagels
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370
Kapitel 19 · Hüftgelenk und Oberschenkel
eine winkelstabile Plattenosteosynthese über eine minimalinvasive Implantationstechnik eingesetzt werden sollte.
Operatives Vorgehen bei ESIN Die geschlossene Reposition gelingt umso eher, je schneller sie nach dem Trauma vorgenommen wird. Sie wird durch ausreichende Relaxierung durch den Anästhesisten erleichtert.
19
4 Vor dem Abdecken ist die Durchleuchtbarkeit der betroffenen Region sicherzustellen. 4 Ältere und schwere Kinder werden, vor allem bei verkürzten Querfrakturen, auf dem Extensionstisch gelagert. 4 Die Nageldicke beträgt jeweils 1/3 des schmalsten Markraumdurchmessers. Die Hautinzision für die retrograde Nagelung (. Abb. 19.18) erfolgt jeweils lateral und medial am distalen Femur auf einer Strecke von 3–4 cm. Sie beginnt in Höhe der geplanten Knocheneintrittsstelle und führt nach distal. 4 Die Faszie wird in gleicher Länge gespalten. 4 Die Knocheneintrittspunkte sollen auf einer Höhe liegen und sind 1–2 cm oberhalb der Patellaoberkante zu wählen. Hierdurch wird die Epiphysenfuge sicher geschont. 4 Die Kortikaliseröffnung gelingt in der Regel mit dem Pfriem (beim Adoleszenten auch mit dem Bohrer) in einem Winkel von 45°. Wenn beide Nägel bis zur Frakturebene geschoben werden, erleichtert dies die indirekte Manipulation. 4 Es wird dann derjenige Nagel zuerst in das Gegenfragment positioniert, auf dessen Seite der bessere Fragmentkontakt besteht. Durch Drehung des Nagels kann noch eine Grobreposition erzielt werden, bevor der zweite Nagel ebenfalls über die Fraktur geschoben wird. 4 Jetzt erst werden beide Nägel weiter nach proximal vorgeschoben. Durch leichtes Drehen der Nägel wird die Fraktur anatomisch reponiert und die Nägel werden optimal aufgespannt. 4 Für die meisten Frakturen ist die Position der Nagelspitzen in Höhe des Trochanter minor ausreichend.
! Cave Der mediale Nagel kann wegen Anteversion des Schenkelhalses leicht perforieren! In LauensteinPosition prüfen! Vor der definitiven Verankerung ist die Rotation am anderen, ebenfalls abgewaschenen Bein zu prüfen!
4 Die antegrade Nagelung (. Abb. 19.19) erfolgt über einen lateralen Zugangsweg unterhalb des Trochanter maior. 4 Die 4 cm lange Hautinzision erfolgt in Längsrichtung, ebenso das Spalten der Faszie. 4 Der Abstand der beiden separaten und etwas versetzt liegenden Kortikalisperforationen beträgt 2 cm. Der Eintrittswinkel in den Knochen beträgt ebenfalls 45°. 4 Der laterale Nagel wird als erster über das distale Bohrloch eingebracht, der mediale über das proximale Bohrloch. 4 Dieser wird dann um 180° gedreht, die Spitze wird in Höhe der Schaftmitte nach medial ausgerichtet.
Bei distal-metaphysären Femurfrakturen können die Nägel auch über die Epiphysenfuge vorgeschoben und epiphysär verankert werden, um eine Übungsstabilität zu erreichen.
Operatives Vorgehen bei Fixateur externe Es ist auf die Wahl eines für das Alter adäquaten Modells zu achten. Haut und Faszie müssen ausreichend inzidiert werden, um eine Weichteilirritation zu vermeiden. Auf die Möglichkeit der Dynamisierung muss unbedingt geachtet werden, um einer verzögerten Knochenbruchheilung aufgrund der Rigidität des Systems vorzubeugen.
Operatives Vorgehen bei »adolescent lateral femoral nail« und LISS-Osteosynthese Für Heranwachsende, bei denen die ESIN zu klein, die Femurnägel für Erwachsene aber noch zu groß sind, stehen heute »Adoleszenten-Nägel« zur Verfügung. Diese werden über einen lateralen Zugang durch den Trochanter maior implantiert und mit Verriegelungsschrauben verankert, so dass auch für diese Altersgruppe eine stabile anatomische Reposition über eine minimal-invasive Technik möglich ist. Hierbei kann der Patient mit der von ihm tolerierten Belastung unmittelbar nach der Versorgung mobilisiert werden. Als Alternative kann bei der distalen Femurfraktur eine minimal-invasiv eingebrachte winkelstabile LISS-Osteosynthese (»less invasive stabilisation system«) mit einem Implantat durchgeführt werden, das dem Femurkondylus anatomisch nachgeformt ist (. Abb. 19.20).
371 19.5 · Femurschaftfraktur
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. Abb. 19.17a–f Fixateur externe bei Femurfraktur mit Weichteilschaden. a,b Unfallbilder. c,d Anlage des Fixateur. e,f Konsolidation nach 7 Wochen
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Kapitel 19 · Hüftgelenk und Oberschenkel
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d . Abb. 19.18a–e Technik der retrograden Nagelung am Femur (s. Text Dietz e. a. 2006)
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373 19.5 · Femurschaftfraktur
a
b
d
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. Abb. 19.19a–e Technik der antegraden Nagelung am Femur (s. Text Dietz e. a. 2006)
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374
Kapitel 19 · Hüftgelenk und Oberschenkel
4 ESIN: Es handelt sich um eine bewegungsstabile Osteo-
. Abb. 19.20 Femurverlängerung im distalen Drittel. LISS-Osteosynthese mit einer minimal-invasiv eingebrachten winkelstabilen Platte
synthese, so dass bei entsprechender Mitarbeit bereits ab dem ersten postoperativen Tag mit isometrischen Übungen oder einer kontinuierlichen passiven Bewegung (CPM) begonnen werden kann. Die Mobilisierung erfolgt, sobald es das Kind erlaubt, an Unterarmgehstützen bzw. im Kinderrollstuhl mit entsprechender Beinauflage. Bei Querfrakturen ist eine Belastung ab dem 2.–5. postoperativen Tag möglich, bei Schräg- und Spiralfrakturen wird die Belastung erst nach ausreichender Kallusüberbrückung nach 4 Wochen freigegeben (Dietz et al. 2006). Dies ist bei Benutzung von Verriegelungskappen großzügiger zu handhaben. Die Metallentfernung erfolgt ab dem 4. postoperativen Monat nach radiologisch vollständig remodellierter Knochenstruktur. 4 Fixateur externe: Es handelt sich um eine belastungsstabile Osteosynthese, so dass ab dem ersten postoperativen Tag eine Mobilisierung an Unterarmgehstützen mit erlaubter Vollbelastung möglich ist. Die Dynamisierung des Fixateur erfolgt optional ab dem achten postoperativen Tag. Ohne Dynamisierung ist mit einer verzögerten Heilung zu rechnen. Die Metallentfernung erfolgt am Ende des zweiten postoperativen Monats bei ausreichender Kallusüberbrückung. 4 »Adolescent lateral femoral nail«, LISS-Osteosynthese: aktive Mobilisation an Unterarmgehstützen mit
rascher Belastungssteigerung bei Schmerzfreiheit. 19.5.8
Kontrollen und Nachbehandlung
Röntgenkontrollen 4 Beckengips, Pflasterextension: Tag 4 – optional weitere, wenn sich aus einer Stellungsänderung therapeutische Konsequenzen ergeben- bei Behandlungsende 4 ESIN: Tag 1–28 (bei guter Kallusbildung wird dann Sport gestattet) – vor Metallentfernung (6 Monate) 4 Fixateur externe: Tag 0 – 1 – 28 (Frage: Kallusformation?) – 42 (vor Metallentfernung) 4 »Adolescent lateral femoral nail«, LISS-Osteosynthese: Tag 1 – 28 – 12 Monate (vor Metallentfernung) Weitere Röntgenkontrollen erfolgen bei Komplikationen oder Wachstumsstörungen.
19
19.5.9
Ergebnisse und Prognose
Femurfrakturen haben eine sehr gute Heilungstendenz. Die heute als Standardverfahren eingesetzte intramedulläre Osteosynthese ist wenig invasiv, führt bei korrekter Indikation zu einer raschen Mobilisierung und damit zu einem kurzen stationären Aufenthalt. Intra- und unmittelbar postoperative Komplikationen sind selten. Sie sind meist technisch bedingt und damit vermeidbar. Klinische Nachkontrollen sind bei allen Oberschenkelfrakturen in halbjährlichen Abständen bis 2 Jahre nach dem Trauma anzuraten. Bei fortbestehenden Beinlängendifferenzen sind sie in jährlichen Abständen bis zum Abschluss des Wachstums fortzuführen.
Nachbehandlung 4 Becken-Bein-Gips, Pflasterextension: Die Konsolida-
tion ist nach 2–3 Wochen eingetreten, was durch die Schmerzfreiheit des Kindes signalisiert wird. Anschließend erfolgt die selbstständige Mobilisation. Während der Extension sind tägliche DMS-Kontrollen wegen der Gefahr der Peronaeusläsion notwendig; die Fersen sind ebenfalls regelmäßig auf Druckstellen zu überprüfen.
19.5.10
Komplikationen
Perioperative Komplikationen Eine offene Reposition ist in seltenen Fällen erforderlich und nur notwendig, wenn ein Interponat (vor allem bei verspäteter Frakturversorgung; Vierhout et al. 2006) nicht beseitigt werden kann. In diesem Fall wird eine sparsame
375 19.5 · Femurschaftfraktur
Längsinzision über der Fraktur mit anschließender Reposition vorgenommen. Die Nägel können manuell in das Gegenfragment geführt werden. Eine unzureichende Kürzung der ESIN führt zu Irritationen der Weichteile mit Serom- oder Hämatombildung bis zur Hautperforation. Hierfür werden Häufigkeiten zwischen 7 und 40% angegeben (Narayanan et al. 2004). Dies kann durch ausreichende Kürzung sowie das Aufsetzen von Schutzkappen verhindert werden. Wundinfektionen sind insgesamt sehr selten und meist durch eine Hämatombildung hervorgerufen. Eine zu sparsame Faszienspaltung insbesondere lateralseitig am distalen Femur (Fascia lata) kann zu einer postoperativen Beugeeinschränkung im Knie führen. Asymmetrische Eintrittsstellen begünstigen eine Varusoder Valgusdeformität. Die proximale Nagelperforation ist nur in exakter intraoperativer Durchleuchtung in Lauensteinposition auszuschließen. Sie begünstigt ebenfalls eine Valgusdeformität. Korkenzieherartige Verwindungen der Nägel und Frakturdehiszenzen müssen intraoperativ sofort korrigiert werden.
Posttraumatische Komplikationen Eine Diskrepanz der Beinlänge >2 cm wird als signifikant angesehen, in 8 von 10 Fällen erweist sich das frakturierte Bein länger. Ursächlich hierfür ist die vermehrte Durchblutung in der Frakturregion (Wessel 1996). Die Häufigkeit wird in der Literatur zwischen 0 und 47% angegeben, im Mittel beträgt sie 6,5%. Die Messung der Beinlängendifferenz erfolgt funktionell durch die Unterlage von Ausgleichsbrettchen, bis zu 2 cm Differenz können durch Sohlenausgleich korrigiert werden. Beinlängendifferenzen, die nach dem zweiten Jahr nach dem Trauma persistieren, sind bis zum Wachstumsabschluss zu kontrollieren. Bei Differenzen >2 cm ist die temporäre Epiphyseodese bis zum Ausgleich anzuraten. Dies kann mit Blount-Klammern oder der »eight plate« durchgeführt werden. Rotationsfehler mit einer Antetorsionswinkeldifferenz >15° werden mit 18% häufig beobachtet. Außenrotationsfehler überwiegen mit 70%. Physiologische Detorsionsschübe erfolgen an den Schenkelhälsen und im Schaftbereich. Deren klinische Relevanz ist immer noch Gegenstand von Diskussionen. Persistierende hartnäckige Beschwerden können darauf zurück geführt werden. Einer mit den Orthopäden zu planenden Korrekturosteotomie nach Wachstumsabschluss sollte eine AT-Winkelbestimmung mit Hilfe der Ganzkörpercomputertomographie vorausgehen (Wissing 1986).
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376
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Kapitel 19 · Hüftgelenk und Oberschenkel
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20
Kniegelenk St. Rose
20.1
Klassifikation, Häufigkeit und Ursachen
20.2
Klinik
20.3
Erstversorgung
20.4
Diagnostik
20.5
Verletzungen des Knochens
20.5.1 20.5.2 20.5.3 20.5.4
Distales Femur und proximale Tibia – 381 Eminentia-Frakturen (41-E/7) – 393 Patellafraktur – 396 Traumatische osteochondrale Läsionen (33-E/8)
20.6
Verletzungen der Weichteile des Kniegelenkes
20.6.1 20.6.2 20.6.3 20.6.4 20.6.5 20.6.6
Intraligamentäre vordere Kreuzbandruptur – 400 Hintere Kreuzbandruptur – 402 Mediale und laterale Kollateralbandverletzungen – 402 Meniskusverletzungen – 403 Traumatische Patellaluxation – 404 Kniegelenksluxation – 406
20.7
Kompartmentsyndrom Literatur
– 378
– 378 – 378
– 378
– 407
– 381
– 407
– 398
– 400
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Kapitel 20 · Kniegelenk
20.1
Klassifikation, Häufigkeit und Ursachen
Knieverletzungen des Kindes entstehen nach Distorsionen und Stürzen bei Sport und Spiel. Komplexe Verletzungen durch große Krafteinwirkungen sind im Vergleich zu anderen Körperregionen selten. Bei den Frakturen ist die proximale Tibia (1,2%) etwas mehr als das distale Femur (0,8%) betroffen. Aufgrund der offenen Wachstumsfugen und der noch laxen ligamentären Strukturen finden sich menisko-ligamentäre Verletzungen im jungen Alter selten, da die Kraftübertragung vorwiegend in den Knochen stattfindet. Es ist daher wichtig, neben den knöchernen auch die vorhandenen Weichteilverletzungen korrekt zu diagnostizieren, um dann ein Therapiekonzept erstellen zu können. Aufgrund der komplexen Anatomie und Biomechanik des Kniegelenkes werden die ossären und menisko-ligamentären Verletzungen im Folgenden getrennt betrachtet. Klassifikationen und Häufigkeiten werden in den speziellen Abschnitten dargestellt.
20.2
Klinik
Der Knieschmerz des Kindes hat eine Vielzahl von Ursachen und bietet deswegen öfter diagnostische Schwierigkeiten. Zu den Differenzialdiagnosen gehören das weite Spektrum der Frakturen, osteochondrale und Fugenverletzungen, die Osteochondrosis dissecans, Kapsel-BandVerletzungen und Meniskusläsionen, patello-femorale Fehlbildungen mit Sub-/Luxationsphänomen, das Plicasyndrom, die Bursitis praepatellaris und praetibialis, die Osteomyelitis und juvenile rheumatoide Arthritis, seltene Tumoren, die Hämophilie und sekundäre Schmerzprojektionen (Wirbelsäule, Hüfte, Fuß). Kinder können abhängig von ihrer Entwicklung bis zum 8. Lebensjahr nur eingeschränkt die Schmerzlokalisation angeben. Beim Fehlen äußerer Verletzungszeichen wird die Einordnung der Schmerzangabe schwierig und die Fremdanamnese (Eltern, Zeugen), die genaue Evaluation äußerer Verletzungszeichen (Schürfungen, Hämatome, Schwellung, Gelenkerguss) und eine behutsame Untersuchung umso wichtiger.
20.3
20
Erstversorgung
Schmerztherapie, Kühlung, Ruhigstellung insbesondere beim Kniegelenkerguss und die korrekte Primärversorgung offener Wunden sind selbstverständlich. Beim Verdacht auf eine offene Verletzung des Gelenkes oder auch des Schleimbeutels muss auf eine kontaminierende lokale Revision verzichtet und frühzeitig die operative Revision in Allgemeinanästhesie erwogen werden. Offene Verletzun-
gen werden mit antiseptischen Verbänden abgedeckt und intravenös antibiotisch behandelt. Die Revision offener Frakturen ist primär für den Operationssaal zu planen. Kann ein Kind nach einem Knietrauma nicht mehr belasten, wird das Knie in einer angenehmen Stellung (meist leichte Beugung) mit einer Orthese oder einer stabilisierenden Lagerung ruhiggestellt.
20.4
Diagnostik
Wegen der z. T. schwierigen Eigenanamnese konzentrieren sich die Fragen auf den Beginn und die Dauer der Beschwerden (akut oder chronisch), die Erfassung eines adäquaten Traumas oder früherer Ereignisse, die Mitbeteiligung anderer Gelenke, Belastungsabhängigkeit, Instabilitätsgefühl (»giving way«), familiäre Belastungen, systemische Beschwerden und auf das allgemeine Aktivitätsniveau des Kindes vor dem Unfall. Der klinische Befund erfasst Gangbild, Körpergröße und die physische Reife. Die Überprüfung und Beurteilung der Bandlaxizität (vor allem Hyperextension) ist bei den noch weit offenen Fugen jüngerer Kinder wenig aussagekräftig und sollte allenfalls während einer notwendigen Narkose vorgenommen werden. Zur standardisierten Bildgebung gehören Röntgenbilder in 2 Ebenen sowie die Patella- Tangentialaufnahme. Tunnelaufnahmen sind für die Interkondylarregion (Eminentia-Ausrisse) hilfreich. Abhängig vom Lebensalter ist die Entwicklung der Beinachse zu beachten, welche bis zum 8. Lebensjahr bei Mädchen (±7°) und bei Jungen (±10°) die definitive Valgussstellung erreicht. Zusätzlich reduziert sich die Rekurvation des Tibiaplateaus des Säuglings von 27° bis zur Volljährigkeit auf 4°, so dass Verletzungen dieser Region altersabhängig zu beurteilen sind. Das epiphysäre Ossifikationszentrum des distalen Femur ist normalerweise bereits bei der Geburt sichtbar und verbindet sich mit der Metaphyse bei Mädchen zwischen dem 14. und 16. und bei Jungen zwischen dem 16. und 18. Lebensjahr. Der komplette Verschluss der distalen Femurepiphyse kann allerdings bis weit über das 20. Lebensjahr dauern. Bis zum 5. Lebensjahr können hinter dem Femurkondylus liegende dorsale Ossifikationszentren und Verschmelzungsstörungen der Patella (Patella bipartita, . Abb. 20.1a) differenzialdiagnostische Schwierigkeiten bieten. Die Tuberositas tibiae entwickelt zwischen dem 7. und 9. Lebensjahr ein zweites distales Ossifikationszentrum, das sich zusammen mit der übrigen Fuge bei Mädchen zwischen dem 13. und 15. und bei Jungen zwischen dem 15. und 18. Lebensjahr komplett schließt (Differenzialdiagnose M. Osgood-Schlatter). In der Phase des zunehmenden Fugenverschlusses sind alle Formen der Über-
H.G. Dietz et al. (Hrsg.), Praxis der Kinder-und Jugendtraumatologie, DOI 10.1007/978-3-642-12935-3_20, © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2011
379 20.4 · Diagnostik
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b . Abb. 20.1a,b a Neunjähriger Junge mit adäquatem Knietrauma und heftigem Lokalschmerz sowie Hämatom. Die Differenzialdiagno-
se Patellafraktur zur Patella bipartita erscheint schwierig. b SindingLarsen-Syndrom als Zufallsbefund nach Sturz auf das Kniegelenk
gangsfrakturen möglich, die allerdings kaum Wachstumsstörungen erwarten lassen. Vergleichsaufnahmen sind nur mit strenger Indikation durchzuführen. Dazu gehört vor allem die Interpretation einer Fraktur bei Morbus Osgood-Schlatter (aseptische Nekrose der Tuberositas tibiae) und die Unterscheidung einer Patellafraktur vom Sinding-Larsen-Syndrom (. Abb. 20.1b). Als wichtigste Leitdiagnose und Zeichen der ernsthaften Knieverletzung gilt der Hämarthros. Die klinische Untersuchung ist oft schmerzbedingt eingeschränkt. Zu achten ist auf begleitende Hautverletzungen (Kontusion, Hämatom, Schürfung), Schwellungen (prall-elastisches Gelenk) sowie die periphere Durchblutung und Neurologie. Ursache eines Hämarthros bei weit offenen Fugen kann ein oberflächlicher
Gelenkkapseleinriss oder ein randständiger Retinakulumausriss (. Abb. 20.2) sein. Auch radiologisch finden sich oft zarte Zeichen von knöchernen Bandausrissen. Der Wert einer rein diagnostischen Kniepunktion ist kontrovers. Da Kniepunktionen sehr schmerzhaft sind, sollten sie nur vom Erfahrenen unter absolut sterilen Kautelen in Narkose oder Sedierung mit Lokalanästhesie durchgeführt werden. Die Punktion erfolgt von medial oder lateral in den oberen Rezessus. Bei einer Fraktur ist ein schnelles Rezidiv des Ergusses zu erwarten. Der Nachweis von »Fettaugen« als Zeichen der knöchern-knorpeligen Verletzung beim negativen konventionellen Röntgenbefund gibt ebenso wie eine unsichere konventionelle Diagnostik Anlass zur Kernspinuntersuchung oder auch zur Arthroskopie (s. unten).
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Kapitel 20 · Kniegelenk
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. Abb. 20.2 Medialer Retinakulumeinriss mit Hämarthros nach adäquatem Trauma ohne Patellaluxation
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Beim Knietrauma bis zum 16. Lebensjahr (n=1273) wurde in 18% der Fälle arthroskopisch ein Hämarthos gefunden. Unter 10 Jahren (n=528) fanden sich in 5,7% der Fälle metaphysäre Frakturen und Patellaluxationen, zwischen 11 und 12 Jahren (n=207) in 17,9% Patellaluxationen und Frakturen, bei den Jugendlichen zwischen 13 und 16 Jahren (n=538) in 30,3% intraartikuläre Frakturen, Patellaluxationen, ligamentäre (n=16) und Meniskusverletzungen (n=2) (Wessel et al. 2001). Andere arthroskopische Studien beim Hämarthros zeigten relativ konstant bei jeweils einem Drittel vordere Kreuzband- und Meniskusverletzungen, in leicht geringerer Zahl osteochondrale Verletzungen und patello-femorale Dislokationen sowie in unter 5% Innenbandläsionen, »flake fractures« der Patella, Retinakulum-Verletzungen, hintere Kreuzband-Verletzungen sowie Frakturen der Eminentia tibiae. Zusammengefasst werden mit der Kniegelenksarthroskopie bis zum 12. Lebensjahr vorwiegend Kapsel- und osteochondrale Läsionen gefolgt von Kreuzband- und Meniskusverletzungen, bei den Adoleszenten Rupturen des vorderen Kreuzbandes und Meniskusrupturen diagnostiziert. Die MRT hat die primäre Arthroskopie als alleinige Untersuchungsmethode abgelöst. Aufgrund der deutlich verbesserten Knorpelsequenzen, der Darstellbarkeit der ligamentären Strukturen im Verlauf und der knöchernen Verletzungen/Kontusionen ist sie der Goldstandard der nicht-invasiven Kniegelenksdiagnostik beim Kind (. Abb. 20.3). Einschränkend ist zu bedenken, dass sie auch nicht therapiebedürftige Diagnosen (z. B. sog. »bone bruise«) liefert, was zu schwieriger Überzeugungsarbeit bei den Eltern führen kann.
b . Abb. 20.3a,b Hochauflösende MRT-Diagnostik des kindlichen Kniegelenkes. a Deutliche Differenzierung von Erythrozyten, Plasma und Fett. b Heftiger »bone bruise« mit dem Nachweis sog. Fettaugen als Zeichen der osteochondralen Verletzung. (Mit freundlicher Genehmigung von T. Mack, Unikliniken Frankfurt/Main)
> Die klinische Untersuchung, das Röntgenbild und die MRT sind für eine sichere Diagnostik der Kniegelenksverletzung bis zum 13. Lebensjahr ausreichend. Die diagnostische Arthroskopie wird ab dem 12.–13. Lebensjahr empfohlen, sofern therapeutische Konsequenzen zu erwarten sind.
Schließt die Diagnostik eine Fraktur bzw. Instabilität aus und ist eine ambulante Behandlung vorgesehen, wird dem Kind die Möglichkeit zur schmerzabhängigen Teilbelastung an Gehstützen mit oder ohne Ruhigstellung gegeben. Jugendliche mit beginnenden Pubertätszeichen (ab Tanner
381 20.5 · Verletzungen des Knochens
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b . Abb. 20.4a,b Knochenverletzungen. a Distale Femurepiphysenfraktu. b Proximale Tibiaepiphysenfraktur
II) mit operativer Versorgung und/oder fixierenden Verbänden an der unteren Extremität erhalten eine Thromboembolieprophylaxe. Diese erfolgt mit niedermolekularem Heparin. Nach Ausschluss schwerwiegender Verletzungen folgt so schnell wie möglich eine adaptierte Bewegungstherapie, um Muskelschwächen vorzubeugen. Bei unsicherer Primärdiagnostik und fortbestehenden Beschwerden erfolgt eine Nachuntersuchung nach 4–7 Tagen.
20.5
Verletzungen des Knochens
20.5.1
Distales Femur und proximale Tibia
Klassifikation und Häufigkeit Verletzungen der distalen Femurepiphyse (. Abb. 20.4a) sind selten (0,3%), zu 2/3 Epiphysenlösungen (33-E/1; 33-E/2) und zu 1/3 Epiphysenfrakturen (33-E/3; 33-E/4). Neben einem direkten Trauma und Stürzen aus größerer Höhe kommen als Ursachen auch Geburtstraumen und
Kindesmisshandlung in Frage. Die meisten Kinder sind älter als 10 Jahre. Adoleszente sind häufiger im Sinne eines Hyperextensionstraumas betroffen. Die meisten Verletzungen der proximalen Tibiaepiphyse (. Abb. 20.4b) weisen einen mehr oder minder großen metaphysären Keil (41-E/2) auf, dann folgen die reinen Lösungen (41-E/1), die aufgrund der oft nur leichten Dislokation diagnostische Schwierigkeiten bereiten können. Die fugenkreuzenden Frakturen der proximalen Tibia (41-E/3; 41-E/4) sind sehr selten (ca. 0,2%) und betreffen weniger als 1% aller Epiphysenverletzungen des Kindes. Eine Gegenüberstellung der Klassifikationen findet sich in . Tab. 20.1. Verletzungen der Tuberositas tibiae (41-E/7) werden vor allem um das 14. Lebensjahr beobachtet. Ogden (1980) beschreibt beim Typ 1 die Verletzung des distalen Anteils der Tuberositas, Typ 2 betrifft die kartilaginäre Grenze zwischen den beiden sekundären Ossifikationszentren, und beim Typ 3 erstreckt sich die Lösung bis ins Gelenk. Alle Typen können durch eine mehr oder minder ausge-
. Tab. 20.1 Gegenüberstellung der Klassifikationen nach AO-PAEG, Salter-Harris, Aitken AO distales Femur
AO proximale Tibia
Salter-Harris
Aitken
33-E/1
41-E/1
I
33-E/2
41-E/2
II
1
Epiphyseolyse mit metaphysärem Keil
33-E/3
41-E/3
III
2
Partielle Epiphyseolyse mit epiphysärer Fraktur
33-E/4
41-E/4
IV
3
Epi-/metaphysäre Fraktur
Epiphyseolyse
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Kapitel 20 · Kniegelenk
. Abb. 20.5 Klassifikation der Frakturen der Tuberositas tibiae (AO 41-E/7 mit der Unterteilung nach Ogden Typ I–III)
prägte Weichteillösung mit Instabilität und Proximalisierung der Patellarsehne begleitet werden (. Abb. 20.5). Gesondert betrachtet werden die nicht fugenkreuzenden Eminentia-Verletzungen, die osteochondralen Frakturen (»flake fractures«) und die Patellafrakturen.
Klinik, Erstversorgung und Diagnostik Frakturen des Kniegelenkes führen zu erheblichen akuten Belastungs- und Bewegungsschmerzen und zu einer schnellen Schwellung (Hämarthros) des Kniegelenkes. Schwer zu diagnostizieren sind spontan reponierte Epiphysenlösungen. Bei entsprechenden Beschwerden können sie im MRT nachgewiesen werden. Diese Verletzungen sind wie ein Luxationsäquivalent anzusehen. Es muss beachtet werden, dass aufgrund der arteriellen Kollateralversorgung des Kniegelenkes ein Kapillarpuls auch bei insuffizienter nutritiver Gesamtdurchblutung des Unterschenkels vorliegen kann. ! Cave Bei distalen Femur- und vor allem Tibiaepiphysenverletzungen ist immer eine begleitende Nervenund vor allem arterielle Verletzung (Trifurkation) auszuschließen (neurologische und Puls-Doppler-Untersuchung).
Therapieziel Für alle kniegelenknahen und insbesondere für die intraartikulären Frakturen mit Beteiligung der Gelenkflächen gelten die Gesetze der anatomischen Reposition und stabilen Fixation zur Vermeidung von Spätarthrosen und Fehlstellungen.
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Therapieindikationen Die Indikation zur konservativen oder operativen Therapie ergibt sich aus der Diagnostik. Beim Verdacht auf begleitende menisko-ligamentäre Verletzungen sollte eine Arthroskopie geplant werden. Die genaue Erfassung des Dislokationsgrades bestimmt sowohl am distalen Femur als auch an der proximalen Tibia die konservative oder operative Therapie.
Konservative Therapie Nicht dislozierte Frakturen der distalen Femur- und der proximalen Tibiaepiphyse werden abhängig vom Alter 4–6 Wochen im Oberschenkelliegegips oder -Tutor in 20°-Kniebeugung ruhiggestellt. Ziel ist die anatomische Reposition, wobei die physiologische Rekurvation der Tibiaepiphyse zu beachten ist. Eine schmerzabhängige Teilbelastung wird den Kindern freigestellt. Die Röntgenkontrolle zum Ausschluss einer sekundären Dislokation erfolgt nach Gipsanlage und nach 10 Tagen. Auf eine mediale Aufweitung der distalen Femurepiphyse mit periostalem Abstützungskallus ist nach undislozierter Epiphysenlösung besonders zu achten, da auch diese Verletzung im weiteren Verlauf zu einer Wachstumsstörung führen kann. Nicht dislozierte Verletzungen der Tuberositas tibiae werden konservativ behandelt und haben eine gute Prognose. Nach 4 Wochen erfolgt eine gipsfreie Röntgenkontrolle. Sportfähigkeit besteht ca. 4–6 Wochen nach Konsolidation der Fraktur bei freier Gelenkbeweglichkeit und kompensiertem Quadrizepsmuskel.
Operative Therapie Distale Femurepiphyse Als disloziert und damit opera-
tiv zu behandeln gelten Epiphysenlösungen (33-E/1) mit mehr als 20% Seitverschiebung, alle Achsenknicke und Epiphysenfrakturen (33-E/2) mit einer Dehiszenz von mehr als 2 mm. Dislozierte Lösungen werden notfallmäßig geschlossen oder offen (bei Periostinterposition) reponiert und mit perkutan eingebrachten gekreuzten Kirschner-Drähten stabilisiert. Die Drähte müssen möglichst von distal, steil und senkrecht durch die Fuge eingebracht werden, so dass für eine Rotationsstabilität ihre Kreuzung proximal der Fuge liegt (. Abb. 20.6 und . Abb. 20.7). Die offene Reposition und übungsstabile Schraubenosteosynthese (Spongiosa mit kurzem Gewinde) der Epiphysenfrakturen (33-E/3; 33-E/4) reduziert das Risiko des partiellen Fugenschlusses (. Abb. 20.8). Der Schraubendurchmesser richtet sich nach der Größe der Fragmente und dem Knochenalter.
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. Abb. 20.6a–c Technik der gekreuzten Drahtosteosynthese einer distalen Femurepiphysenfraktur. a,b Korrekte Drahtlage. c Falsche, da instabile Drahtposition
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. Abb. 20.7a–f Gekreuzte Drahtosteosynthese einer distalen Femurepiphysenlösung eines 13-jährigen Mädchens. a,b Unfallbild
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20 . Abb. 20.7c–f c,d Drahtosteosynthese. e,f Metallentfernung. (Mit freundlicher Genehmigung von I. Marzi, Unikliniken Frankfurt/Main)
385 20.5 · Verletzungen des Knochens
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. Abb. 20.8a,b Schraubenosteosynthese einer distalen Femurepiphysenfraktur (33-E/3) bei einem 13-jährigen Jungen. a a.p. -Strah-
a . Abb. 20.9a,b Beispiele für die korrekte Osteosynthese epiphysärer Frakturen der proximalen Tibia. a Gekreuzte Drahtosteosynthese
lengang. b Seitlicher Strahlengang. (Mit freundlicher Genehmigung von I. Marzi, Unikliniken Frankfurt/Main
b einer Epiphyseolyse. b Schraubenosteosynthese. (Aus: Marzi: Kindertraumatologie)
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Kapitel 20 · Kniegelenk
Proximale Tibiaepiphyse Eine dislozierte Verletzung
liegt bei mehr als 2 mm Dehiszenz in der Epiphyse (41-E/ 1; 41-E/2) und einer mehr als 5 mm abgehobenen Tuberositas/Apophyse (41-/7) vor. Bei dislozierten intraartikulären Frakturen (41-E/3; 41-E/4) erfolgt die notfallmäßige, offene oder geschlossene (arthroskopisch gestützte), anatomische Reposition mit einer übungsstabilen Schraubenosteosynthese unter Kompression. Die Einbeziehung der Metaphyse richtet sich nach dem Frakturverlauf und damit der Instabilität. Bei dislozierten Frakturen mit einem großen metaphysären Keil erfolgt ebenfalls nach offener Reposition die Schraubenosteosynthese. Reine Lösungen können mit gekreuzten Bohrdrähten stabil versorgt werden. Abhängig vom Alter des Patienten kann bei Lösungen aber auch die Kombination mit Schrauben sinnvoll sein (. Abb. 20.9 bis . Abb. 20.11). Apophysenausrisse (Frakturen der Tuberositas) entsprechen einer Epiphysenfraktur und entstehen meist nur beim Jugendlichen (Sport). Sie werden bei Dislokationen über 5 mm operativ behandelt, wobei nach offener oder geschlossener Reposition sowohl Schraubenosteosynthesen (. Abb. 20.12) als auch Zuggurtungszerklagen (. Abb. 20.13) zur Anwendung kommen
Kontrollen und Nachbehandlung Sowohl am distalen Femur als auch an der proximalen Tibia erfolgt nach Kirschner-Drahtosteosynthese (bzw. Zerklage) die Ruhigstellung für 4–5 Wochen auf einer dorsalen Oberschenkelgipsschiene oder mit einer Knieorthe-
se, nach Schraubenosteosynthese die Entlastung an Unterarmgehstützen bei freier Beweglichkeit im Kniegelenk mit Sohlenkontakt für 4–5 Wochen. Röntgenkontrollen postoperativ und nach 5 Wochen. Metallentfernung: Kirschner-Drähte nach 5 Wochen, anschließend Freigabe bis zur Vollbelastung. Schrauben bzw. Zerklage können ab dem 3 Monat entfernt werden. Regelmäßige klinische Nachuntersuchungen bis zu 2 Jahre nach dem Trauma sind zum Ausschluss von Beinlängendifferenzen und Achsfehlstellungen erforderlich. Bei auffälligem Befund werden Röntgenaufnahmen des Knies (Ausschluss meta-/epiphysärer »Banding-Brücken«) durchgeführt und der Patient bis zum Wachstumsabschluss in jährlichen Abständen einbestellt. Die Eltern müssen bei diesen Verletzungen auf schicksalhafte Wachstumsstörungen vorbereitet werden, die trotz korrekter konservativer und operativer Therapie auftreten können.
Ergebnisse und Prognose Distale Femurepiphysenfraktur Die distale Femurepi-
physe trägt 70% zum Wachstum des Femur und 40% zum Wachstum des ganzen Beines bei. Relevante posttraumatische (hemmende) Wachstumsstörungen bereits nach ca. einem Jahr sind daher häufig. Je jünger das Kind, desto schwerwiegender sind die Auswirkungen auf das Wachstum. Da jedoch die Verletzungen meist Adoleszente betreffen, sind schwere Folgen durch Wachstumsstörungen und Muskelatrophien selten. Bei Verletzungen der Femurepiphyse wurden ca. 4 Jahre nach Fraktur in je einem Drit-
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. Abb. 20.10a–f Verletzung der proximalen Tibia bei einem 13-jährigen Mädchens. a,b Epiphyseolyse mit dorsalem metaphysärem Keil der proximalen Tibia
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. Abb. 20.10c–f c,d Offene Reposition mit Schraubenosteosynthese. e,f 8 Monate nach Metallentfernung
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20 d . Abb. 20.11a–e Crash-Trauma mit Tibiaepiphysenmehrfragmentfraktur (41-E/4) eines adipösen 11-jährigen Mädchens. a–c Unfallbilder. Wegen massiver Weichteilschwellung erfolgte die primäre Ru-
e higstellung in der Gipsschiene und Antikoagulation. d,e Sekundäre geschlossene Schraubenosteosynthese nach Weichteilkonsolidation am 12. Tag
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. Abb. 20.12a–c Apophysenfraktur (Tuberositas tibiae) Grad 3 (41-E/7) bei einem 13-jährigen Jungen a Unfallbild. b,c Offene Reposition und Schraubenosteosynthese. (Mit freundlicher Genehmigung von I. Marzi, Unikliniken Frankfurt/Main)
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Kapitel 20 · Kniegelenk
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b . Abb. 20.13a–c Abriss der Tibiaapophyse Grad 3 (41-E/7) eines 14-jährigen Jungen beim Trampolinspringen. a Unfallbild. b Offene Reposition und Drahtzerklage. c Nach 8 Wochen Metallentfernung bei freier Funktion
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tel ein Beinlängenunterschied von mehr als 2 cm, Varusoder Valgus-Deformitäten (Seitenunterschiede ≥5°) und eine eingeschränkte Kniebeweglichkeit mit Bandschwäche gefunden (Lombardo et al. 1977). Ca. 75% der 33-E/1 und 33-E/2-Verletzungen zeigen gute und exzellente Ergebnisse, wenn auch mit Beinverkürzungen um ca. 1 cm. Schlechte Ergebnisse dieser Gruppe schienen die Folge einer inadäquaten Reposition (iatrogene Komplikation) oder auch von relevanten Begleitverletzungen zu sein und wurden auch nach offener Reposition beobachtet. Unerwartet schlechte Ergebnisse bei jüngeren Kindern mit 33-E/2 Frakturen entstehen nach einigen Autoren auch durch die komplizierende Rolle von symptomatischen Bandschwächen, die ein Fehlwachstum bei vorzeitigem Epiphysenschluss begünstigen können. Hemmende Wachstumsstörungen durch einen partiellen Fugenschluss sind bei 33-E/3 und 33-E/4-Frakturen der distalen Femurepiphyse nicht vermeidbar und treten auch nach korrekter Therapie einfacher Epiphyseolysen (33E/1; 33-E/2) in einem hohem Prozentsatz (25–70%) auf. Die Entstehung der Wachstumsstörung scheint abhängig von der Lokalisation, dem Grad der primären Dislokation, der Exaktheit der Reposition und auch dem Frakturtyp. Epiphysenlösungen induzieren am häufigsten einen partiellen dorsalen Verschluss (Ausheilungs- oder Nekrosebrücken) mit einer konsekutiven Antekurvationsstellung (selten Varus- oder Valgus- Fehlwachstum), die sich nur beim jungen Kind spontan korrigieren kann. 33-E/5-Verletzungen, offene Verletzungen und starke Dislokationen haben die schlechteste Prognose und führen zu Varus/ Valgus-Angulationen, eingeschränkter Beweglichkeit und Verkürzungen durch vorzeitigen Fugenschluss. > Verletzungen der distalen Femurepiphyse führen in einem hohen Prozentsatz zu hemmenden Wachstumsstörungen. Proximale Tibiaepiphysenfraktur Bei proximalen Tibiaepiphysenfrakturen (41-E/1; 41-E/2) finden sich bis zum 12. Lebensjahr in einem Drittel Wachstumsstörungen in allen Richtungen. Die proximale Tibiaepiphyse trägt 55% zum Wachstum der Tibia und 30% zum Wachstum des gesamten Beins bei. Störungen im Varus-Valgus scheinen häufiger. Auch hier gilt: je jünger das Kind, umso ausgeprägter die mögliche Wachstumsstörung. Ein partieller vorzeitiger Fugenschluss, eine passagere Fugenstimulation mit Beinlängenalteration und die zögerliche Korrektur von frontalen Fehlstellungen sind insbesondere bei 41-E/3; 41-E/4-Verletzungen zu erwarten. Letztere induzieren bei älteren Kindern auch Rupturen des vorderen Kreuzbandes (Avulsionsfrakturen) und/oder des Innenbandes mit Meniskusläsionen (20–25%). Nach Wachstumsabschluss wird in ca. der Hälfte der Kinder über
antero-mediale Bandschwächen und in einem Drittel über Wachstumsstörungen mit Verkürzung und Achsfehlern berichtet. Schlechte Spätergebnisse in 10–25% der Fälle begründen sich auf relevante persistierende Knieinstabilitäten oder eine schmerzhafte posttraumatische Arthrose. > Typische Folgen nach Verletzungen der Tibiaepiphysenfugen sind Wachstumsstörungen mit Verkürzung und Achsfehler und relevante persistierende antero-mediale Knieinstabilitäten mit schmerzhaften Spätarthrosen.
Korrekturosteotomien sind selten erforderlich und sollten dann vorzugsweise am ausgewachsenen Skelett und nur bei einer funktionellen Störung vorgenommen werden. Wenn auch in der Literatur von der Notwendigkeit zur Osteotomie und Epiphyseodese in 20–36% gesprochen wird, berichteten Beck et al. (2001) für alle Patienten mit operativ versorgten Epiphysenverletzungen über subjektive Beschwerdefreiheit nach Wachstumsabschluss, obwohl in 62% eine ein- oder mehrdimensionale Deformität sowie Femurverkürzungen (5/13) oder -verlängerungen (2/13) vorlagen. Je früher die Korrektur, desto größer die Gefahr einer erneuten Wachstumsstörung. Die knienahen Wachstumsstörungen sind durch sog. »Banding-Brücken« zwischen Epi- und Metaphyse gekennzeichnet. Bei wenigen Millimetern Größe (MRT) kann bis zum 10. Lebensjahr die spontane Sprengung auch bei bereits eingetretenem Fehlwachstum abgewartet werden. Jenseits von 10 Jahren ist die iatrogene Brückensprengung z. B. mit dem Ilizarov-Apparat möglich, birgt allerdings die Gefahr des Fugenverschlusses. Die Resektion der Brücken hat bei jüngeren Kindern keine desolate Prognose, allerdings besteht die Gefahr eines Rezidivs. Bei großen nicht resezierbaren Brücken und deutlicher Beinverkürzung bleibt nur die aufwändige Korrekturosteotomie vorzugsweise mit einem Ringfixateur. Apophysenverletzung Apophysenverletzungen führen
nach einer adäquaten Reposition und Retention meist zu keiner Wachstumsstörung. Selten ist die avaskuläre Nekrose. Bei Übergangsfrakturen der Femur- und proximalen Tibiaepiphyse (. Abb. 20.14) sind wegen des fortgeschrittenen Fugenverschlusses keine relevanten Wachstumsstörungen zu befürchten.
Intra- und postoperative Komplikationen Die schwierige Reposition von Epiphysenlösungen und Frakturen mit einem kleinen metaphysären Fragment, das Übersehen undislozierter Epiphysenlösungen (cave: isolierte proximale Fibulafraktur) und der Einsatz zu dicker Kirschner-Drähte bei der fugenkreuzenden Osteosynthese zählen zu den intraoperativen Komplikationen. Weiterhin entstehen sekundäre Gelenkkomplikationen bei belassener
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. Abb. 20.14a–c Fraktur der distalen Femurepiphyse mit metaphysärem Keil bei einem 16-jährigen Patienten. a Unfallbild. b Laterale
Plattenosteosynthese am Unfalltag. c Keine Wachstumsstörung nach Metallentfernung
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. Abb. 20.15 Schematische Darstellung der Eminentia-Frakturen nach Meyers und McKeever
Dislokation und verbliebenen Knorpelstufen, einer instabilen Osteosynthese der Fuge und durch die Nichtberücksichtigung und Unterschätzung ligamentärer Begleitschäden. Eine bei adäquater Ruhigstellung seltene postoperative Komplikation ist die Dislokation der Drahtimplantate. Die wichtigsten postoperativen Komplikationen sind jedoch hemmende und stimulierende Wachstumsstörungen (s. oben).
20.5.2
Eminentia-Frakturen (41-E/7)
Klassifikation, Häufigkeit und Ursachen Meist entstehen diese Verletzungen durch Fahrrad- und Sportunfälle (Skifahren, Trampolin, Fußball etc.). Unter dem 12. Lebensjahr präsentieren sich Verletzungen des vorderen Kreuzbandes in bis zu 80% der Fälle als chondroossäre tibiale Ausrisse, da die Kreuzbänder beim Kind primär in den kartilaginären Strukturen befestigt sind. Letztere werden mit zunehmendem Alter in härtere knöcherne Elemente umgewandelt, was dann ligamentäre Rupturen begünstigt. Zur Verletzung führt vermutlich eine Knierotation in Kombination mit einer Hyperextension. Diese juvenilen knöchernen Läsionen werden nach Meyers und McKeever (1959) in 3 Gruppen eingeteilt. Beim Typ I handelt es sich um eine minimal verschobene Fraktur, beim Typ II hebt sich das Fragment mit Restkontakt und beim Typ III liegt eine komplett dislozierte (Mehrfragment-) Fraktur vor (. Abb. 20.15).
Klinik, Erstversorgung und Diagnostik Häufig liegt ein erheblicher Kniegelenkserguss vor. Das Knie muss zur Schmerzbehandlung mit einer Schiene ruhiggestellt werden sollte. Die röntgenologische Diagnose ist meist einfach (u. U. Tunnelaufnahme nach Frick). Eine Kniepunktion ist bei einem prallen schmerzhaften Hämarthros indiziert.
Therapieziel Ausheilung ohne Knieinstabilität
Therapieindikationen Gemäß der Einteilung nach Meyers und McKeever werden weit dislozierte Verletzungen mit Instabilität (Typ II/III) refixiert.
Konservative Therapie Typ I und Typ II, falls geschlossen reponierbar, werden 4–6 Wochen im Oberschenkelgips (bei leichter Extension) ruhiggestellt und in Abhängigkeit vom Dislokationsgrad unter Teilbelastung mobilisiert (. Abb. 20.16). Die Mobilisierung sollte von der Patientencompliance abhängig gemacht werden, da eine zu frühe Belastung und vor allem Knierotation die Prognose verschlechtert (daher Einschluss des Fußes in den Gips!). Auch wenn bei der undislozierten Fraktur relevante Begleitverletzungen selten sind, ist die MRT-Kontrolle indiziert. Bei möglicher Meniskusverletzung mit Interferenz von Fragment und medialem Meniskusvorderhorn sollte eine Arthroskopie überlegt werden.
Operative Therapie Ein operatives Vorgehen ist beim instabilen Typ II und vor allem beim Typ III zu erwägen. Konservativ behandelte Typ-III-Verletzungen können über eine chronische Instabilität zu Spätproblemen (Gelenkblockaden, chronischer Erguss, Schmerz, Bewegungseinschränkung) führen. Trotzdem wird die operative Therapie dislozierter Typ-II/ III-Verletzungen bei jungen Kindern nach wie vor kontrovers diskutiert (Wilfinger et al. 2005). Operativer Standard ist die arthroskopische Refixation im Intervall (nach 4–7 Tagen). Die Wahl der Methode richtet sich dabei nach dem Alter des Kindes und der Größe des ausgerissenen Fragments. Zur Anwendung kommen die intraepiphysäre Naht (. Abb. 20.17), die antegrade oder retrograde Verschraubung (. Abb. 20.18) und selten auch perkutane Kirschner-Drähte. Bei kleinen Fragmenten oder Mehrfragmentfrakturen ist die Naht vorzuziehen. Wichtig ist die Mitbehandlung der Begleitverletzungen (Meniskus!). Eine persistierende Knieinstabilität bei Fragmentdislokation ist intraoperativ auszuschließen. Vor allem bei älteren Kindern und Jugendlichen ist die anatomische und stabile Refixation dislozierter knöcherner Ausrisse anzustreben.
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394
Kapitel 20 · Kniegelenk
a
b
. Abb. 20.16a,b Eminentia-Fraktur Typ I. a a.p. Strahlengang. b Seitlicher Strahlengang. Konservative Behandlung
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b
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. Abb. 20.17a–c Eminentia-tibiae-Fraktur (Typ III) bei einem 13-jährigen Patienten. a Röntgenbefund. b CT-Befund. c Arthroskopischer Befund
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395 20.5 · Verletzungen des Knochens
Kontrollen und Nachbehandlung Postoperativ wird abhängig von der Methode 4–6 Wochen im Tutor oder in der Orthese ruhiggestellt. Stabile Schraubenosteosynthesen können frühfunktionell behandelt werden. Bei stabilem Knie und durchbauter Fraktur gegebenenfalls Metallentfernung (Kirschner-Draht nach 6 Wochen, Schrauben nach 3 Monaten). Weitere Kontrollen sind nicht erforderlich. Sportfähigkeit besteht nach konsolidierter Verletzung, d. h. bei einem stabilen und schmerzfreien Knie, freier Beweglichkeit und uneingeschränkter muskulärer Stabilisierung.
Ergebnisse und Prognose
a
Wachstumsstörungen werden iatrogen bei inadäquaten fugenkreuzenden Osteosynthesen und den obsoleten ventralen Zugängen mit Abmeißeln der Tuberositas tibiae induziert. Schicksalhafte Wachstumsstörungen sind nicht zu erwarten. Pseudarthrosen der Eminentia sind meist asymptomatisch. Spätinstabilitäten bei Eminentia-Verletzungen sind möglich und führen zu Meniskusschäden, die adäquat behandelt werden müssen. Auch sollten spät erkannte dislozierte und instabile Frakturen sekundär stabilisiert werden. Hierbei muss allerdings eine genaue MRTund arthroskopische Diagnostik vorausgehen, da manche, röntgenologisch als nicht geheilt eingestufte Frakturen durchaus mit einem sehr stabilen Narbengewebe verbunden sein können. Relative Instabilitäten nach Ausheilung ohne klinische Beschwerdesymptomatik sind möglich.
Intra- und postoperative Komplikationen Das ausgedehnte Hämarthros erschwert das Vorgehen. Hauptprobleme sind Einblutung in das Band und Knochenblutungen bei der Präparation. Daher muss in Blutsperre operiert werden. Auch die anatomische Reposition der kleinen Fragmente ist manchmal sogar unmöglich. Entscheidend ist eine gute intraoperative Sicht und Vorbereitung des Situs (. Abb. 20.17). Bei transepiphysärer Naht ist auf steile Bohrkanäle zu achten. Komplikationen treten auf bei der konservativen Behandlung von dislozierten Fragmenten (Meyers und McKeever II/III) und der Nichtberücksichtigung von Begleitverletzungen. Meniskusläsionen zeigten sich immerhin in 26% der Typ-II- und in 65% der Typ-III-Verletzungen (Kocher et al. 2003). Bei Fehlheilung oder Pseudarthrose mit Funktionsstörungen, Instabilität und neu aufgetretenen Beschwerden erfolgt die Korrektur und stabile Fixation der Eminentia-Fehlstellungen.
b . Abb. 20.18a,b Große instabile Eminentia-tibiae-Fraktur (Typ III) bei einer 11-jährigen Patientin. a Kernspinbefund. b Retrograde kanülierte Schraubenosteosynthese. (Mit freundlicher Genehmigung von I. Marzi, Unikliniken Frankfurt/Main)
> Wichtig ist das Anfrischen des Frakturbetts, die korrekte Reposition und stabile Refixation mit Schraube oder fugenschonender Naht.
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Kapitel 20 · Kniegelenk
a
b . Abb. 20.19a–c Sleeve-Fraktur der Patella bei einem 11-jährigen Jungen. a Röntgenbefund. b MRT-Befund. c Schema
c
20.5.3
Patellafraktur
Klassifikation, Häufigkeit und Ursachen
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Häufigste Ursache ist der direkte Sturz auf das Knie, aber auch die Patellaluxation kann eine Fraktur verursachen. Ca. 1% aller Patellafrakturen werden bei Kindern unter dem 15. Lebensjahr gefunden. Am häufigsten sind Ausrisse knorpeliger Randstrukturen (sog. »sleeve fracture«)
Klinik, Erstversorgung und Diagnostik Oft besteht ein ausgeprägtes Hämarthos mit deutlicher Schwellung und heftigem Druckschmerz über der Knievorderseite. Die aktive Hebung des Unterschenkels ist
schmerzbedingt oder mechanisch nicht möglich. Die Diagnostik der häufigen Sleeve-Frakturen ist erschwert, da ein großer, nicht-ossifizierter knorpeliger Anteil mit einer kleinen ossären Komponente von dem restlichen Patellakörper abreißt (. Abb. 20.19). Der meist untere Abriss muss von der Sinding-Larsen-Johansson-Läsion differenziert werden. Der obere Abriss ist am seltensten. Der mediale Abriss ist bei der Patellaluxation am wahrscheinlichsten und der laterale Abriss muss von einer Patella bipartita (. Abb. 20.3) differenziert werden. Bei Unsicherheiten oder Frakturverdacht führt die MRT zur Diagnose. > Der Knochenkern der Patella ist erst mit 5–6 Jahren (kleinere Ossifikationen schon mit 2–3 Jahren) zu sehen. Die vollständige Form der Patella erscheint erst mit der Adoleszenz. Die Diagnostik der häufigen, nur teilweise ossifizierten Knorpelfrakturen ist schwierig (daran denken!).
Ein separater Knochenkern des unteren Pols existiert nicht, so dass in diesem Falle eine Sinding-Larsen-Johansson-Läsion wahrscheinlich ist. Eine falsche Frakturdiagnose infolge einer Fehlinterpretation der multiplen Ossifikationszentren muss vermieden werden. Zur korrekten Höhenstellung der Patella sei bemerkt, dass der Abstand des unteren Pols zur Tuberositas der Gesamtlänge der Patella entsprechen sollte. Allerdings besteht diesbezüglich eine hohe Variationsbreite am wachsenden Skelett. Die Ruhig-
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a
b
. Abb. 20.20a,b Dislozierte distale Patellafraktur bei einem 11-jährigen Jungen. a Fraktursituation. b Operative Stabilisierung mit Draht-
zerklage. (Mit freundlicher Genehmigung von I. Marzi, Unikliniken Frankurt, Main)
stellung in der Oberschenkelschiene während der Diagnostik vermeidet unnötige Schmerzen.
den Sleeve-Frakturen um z. T. relativ große Abrisse des intraartikulären Knorpels mit einer nur kleinen knöchernen Komponente handelt, sollten diese anatomisch reponiert und auch retiniert werden, da sich sonst eine Deformität der Patella mit einer funktionell nicht erwünschten Verlängerung des Kniestreckapparates ausbilden kann. Bei großen Fragmenten bieten sich Zugschraubenosteosynthesen an. Die operative Therapie ermöglicht eine schnellere Rehabilitation.
Therapieziel Knöcherne Ausheilung ohne intraartikuläre Fehlstellung und freie Streck- und Beugefunktion im Kniegelenk.
Therapieindikationen Jede Form der Dislokation oder Instabilität sollte operativ therapiert werden, um Spätarthrosen zu vermeiden.
Kontrollen und Nachbehandlung Konservative Therapie 4–6 Wochen Ruhigstellung im Gipstutor oder in der Orthese in Extension bei nicht oder nur unwesentlich verschobenen Frakturen. Sollte sich unter der konservativen Therapie ein Auseinandergleiten der Fragmente einstellen, folgt die operative Therapie.
Operative Therapie Typisch sind Drahtzerklagen entweder als klassische Zuggurtungszerklage bei Querfrakturen oder als Ringzerklage (. Abb. 20.20). Letztere muss vor allem durch das Weichteilgewebe geführt werden, um eine Störung der Wachstumszonen zu verhindern. In Ausnahmefällen (Ausrisse des distalen Pols) ist die direkte transossäre Naht und die Sicherung mit der McLaughlin–Naht (Patella–Tibiakopf) zur Verringerung der Zugbelastung erlaubt. Da es sich bei
Nach 4- bis 6-wöchiger Ruhigstellung bei konservativer Behandlung und korrektem radiologischem Ergebnis folgt die funktionelle Behandlung mit dem Belastungsaufbau. Bei der operativen Behandlung kann der stufenweise Belastungs- und Bewegungsaufbau bereits nach 6 Wochen abgeschlossen sein. Die Metallentfernung erfolgt nach der radiologischen Konsolidation. Sportfähigkeit besteht bei freier Beweglichkeit und kompensierten Muskeln nach 3 Monaten.
Ergebnisse und Prognose Gute Prognose. Keine Wachstumsstörung beim Einsatz von Zerklagen zu erwarten, außer bei Crashverletzungen. Beim konservativen Vorgehen bei verschobenen Frakturen besteht die Gefahr von Pseudarthrosen und funktionellen Beeinträchtigungen.
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398
Kapitel 20 · Kniegelenk
Intra- und postoperative Komplikationen Seltene Komplikationsmöglichkeiten sind das Übersehen periostaler distaler Ausrisse, die manchmal nicht einfache Differenzialdiagnose zur Patella bipartita oder auch die Fehlinterpretation eines Morbus Sinding-Larsen-Johansson (aseptische Patellaspitzennekrose).
20.5.4
Traumatische osteochondrale Läsionen (33-E/8)
Klassifikation, Häufigkeit und Ursachen Traumatische osteochondrale Läsionen finden sich in allen Altersstufen mit einer Bevorzugung jüngerer Kinder. Ursache ist meist das direkte schwere Knietrauma mit einer Knorpelkontusion.
Klinik, Erstversorgung und Diagnostik Führend sind das akute Hämarthros und der Belastungsschmerz. Die Diagnostik ist schwierig und bedarf oft der MRT (. Abb. 20.21). Wird das Fragment bereits in der konventionellen Röntgenaufnahme sichtbar, handelt es sich um eine große Läsion, deren exakte Ausdehnung besser mit der CT darstellt werden kann. Entscheidend ist die korrekte Definition des Schadensausmaßes und vor allem auch der Vitalität des Fragmentes (MRT, CT, Arthroskopie). Bei entsprechendem Verdacht ist eine Punktion des Hämarthros vorzunehmen. Das Vorhandensein von Fettaugen erhärtet die Verdachtsdiagnose.
a
Therapieziel Anatomische Ausheilung und Vermeidung einer Spätarthrose.
Therapieindikationen Kleinere Fragmente und Knorpelkontusionen, sofern nicht disloziert und von der Blutversorgung ganz abgelöst, werden abhängig vom Alter des Kindes konservativ meist ausheilen und können mit der MRT kontrolliert werden.
Konservative Therapie
20
Die Entscheidung zur konservativen Therapie gründet auf einer eindeutigen Diagnostik mit MRT und evtl. auch CT. Bestehen Unklarheiten, ist die Arthroskopie indiziert. Oft werden die tatsächliche Größe und vor allem die für das therapeutische Vorgehen wichtige Instabilität der Läsion durch die Bildgebung falsch eingeschätzt.
Operative Therapie Die Refixation sollte minimal-invasiv arthroskopisch oder über eine Miniarthrotomie durchgeführt werden. Wichtig ist die komprimierende Osteosynthese des Fragmentes in einem angefrischten durchbluteten Knochen. Als mini-
b . Abb. 20.21a,b Große osteochondrale Läsion der medialen Femurkondyle nach entsprechendem Trauma bei einem 10-jährigen Jungen. a Frontalebene. b Sagittalebene
mal-invasive Osteosynthesetechniken kommen subchondrale Kompressionsschrauben (. Abb. 20.22), resorbierbare Implantate, Pridie-Bohrungen und bei größeren Defekten und Adoleszenten die osteochondrale Transplantation (Mosaikplastik) in Frage. Bei der Wahl des Implantates sollte berücksichtigt werden, dass eine Entfernung des Implantates eher nicht erfolgen wird und somit die Möglichkeit zu einer späteren MRT-Kontrolle (Titan, resorbierbares Material) erhalten bleiben sollte.
399 20.5 · Verletzungen des Knochens
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. Abb. 20.22a–c Arthroskopisch-gestützte Schraubenosteosynthese (2,0 mm Titan) einer traumatischen osteochondralen Fraktur der lateralen Femurkondyle nach schwerer Kniekontusion durch Moped-Unfall bei einem 13-jährigen Jungen. a Unfallbild mit deutlichem Hämarthros. b CT-Befund. c Postoperative Kontrolle
b
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Kapitel 20 · Kniegelenk
Ergebnisse und Prognose Eine Wachstumsstörung ist nicht zu erwarten. Bei ausbleibender Einheilung oder Nekrose (. Abb. 20.23) der Knorpelscheibe sind Spätarthrosen möglich.
Intra- und postoperative Komplikationen Häufigste Komplikationsmöglichkeit (iatrogen) ist das Belassen oder Übersehen von Knorpelstufen und -verletzungen. Das chirurgische Management von osteochondralen Defekten birgt viele technische Schwierigkeiten. Schicksalhaft sind dagegen Folgen sehr großer Knorpeldefekte mit Entwicklung von Spätarthrosen. Sobald größere Defekte oder Rezidive erkannt sind, müssen eine gezielte Diagnostik (Arthroskopie) und Therapie (inklusive osteochondraler Transplantation) in die Überlegungen einbezogen werden.
a
20.6
Verletzungen der Weichteile des Kniegelenkes
20.6.1
Intraligamentäre vordere Kreuzbandruptur
Klassifikation, Häufigkeit und Ursachen Nach dem 12. Lebensjahr finden sich bei 90% der Verletzungen intraligamentäre Rupturen des vorderen Kreuzbandes (VKB) infolge extremer Distorsionen (Skifahren, Kampfsportarten etc.). Eine spezielle Klassifikation der Kreuzbandrupturen des Kindes gibt es nicht. Rupturen unter 10 Jahren sind extrem selten und müssen sicher von der Kreuzbandaplasie abgegrenzt werden.
Klinik, Erstversorgung und Diagnostik
b . Abb. 20.23a,b a Großer posttraumatischer osteochondraler Flake mit Defekt bei einem 16-jährigen Jungen. b Trotz offener stabiler Refixation mit Multifire-Chondrodarts (Fa. Arthrex) und Spongiosaplastik erneute Lösung nach 2 Jahren bei Nekrose des Fragmentes
20 Kontrollen und Nachbehandlung 4–6 Wochen Teilbelastung nach operativem und konservativem Vorgehen abhängig von der Fixationsmethode und Größe des Befundes. Regelmäßige Kontrollen bis zur definitiven Ausheilung. Sportfähigkeit bei nachgewiesener fester Heilung und reizlosem schmerzfreiem Knie.
Einige dieser Verletzungen laufen relativ blande ab. Meist liegt jedoch ein Hämarthros vor. Gerade bei jungen Kindern bereitet die Bandlaxizität bei weit offenen Fugen erhebliche Schwierigkeiten in der klinischen Beurteilung der vorderen oder hinteren Instabilität. Die Anamnese und Klinik indizieren die MRT und führen damit in der Regel zur Diagnose (. Abb. 20.24).
Therapieziel Bei allen ligamentären Knieverletzungen muss eine Knieinstabilität behandelt werden, da sie im weiteren Wachstum über die sekundäre Zerstörung der Menisken zu einer posttraumatischen Arthrose führen würde. Dies ist durch mehrere Studien belegt, so dass therapeutischer Nihilismus nicht angebracht ist. Aichroth (2002) fand prospektiv bei 23 von 60 konservativ behandelten Kindern und Adoleszenten mit einer vorderen Kreuzbandruptur sekundäre, schwere Instabilitäten mit schlechter Kniefunktion, Menis-
401 20.6 · Verletzungen der Weichteile des Kniegelenkes
. Abb. 20.24 Vordere Kreuzbandruptur beim 12-jährigen Jungen. (Mit freundlicher Genehmigung von T. Mack, Unikliniken Frankfurt/ Main)
im weiteren Verlauf durch die rupturbedingte chronische Instabilität sekundäre Meniskusschäden auftreten. Als Transplantate kommen in Frage die Semitendinosus-/Gracilis-Sehnen, die Quadricepssehne oder bei ausgereiften Adoleszenten das »Bone-to-bone«-Patellasehnentransplantat nach (oder in Ausnahmen kurz vor) Wachstumsabschluss. Laut Studien ist der Ersatz des vorderen Kreuzbandes mit fugenschonenden Techniken auch vor Schluss der Wachstumsfugen mit guten Ergebnissen möglich (Kocher et al. 2006). Bei diesen seltenen und technisch herausfordernden Eingriffen ist vor allem die Bestimmung der Wachstumsprognose des Kniegelenks wichtig. Weiterhin essentiell sind die Berücksichtigung der spezifischen Anatomie, die Wahl kleinstmöglicher Bohrkanaldurchmesser, die Überbrückung der Wachstumsfugen mit Sehnenmaterial und die Vermeidung einer fugenüberbrückenden Transplantatfixation mit Implantaten oder Knochenblöcken sowie die Vermeidung einer zu hohen Transplantatspannung. Die intraligamentäre Naht (»over the top«) ist ebenso wenig erfolgversprechend wie die extraanatomische oder extraartikuläre Rekonstruktion.
Kontrollen und Nachbehandlung kusschäden (15/23), Arthrosen (10/23) und osteochondralen Frakturen (3/23). Weiteres Ziel ist die Erfassung von Verletzungen des Meniskus, die ohne MRT nur aufgrund der Klinik übersehen werden können. > Vor allem das Leitsymptom Hämarthros sollte immer abgeklärt werden. Wenn dies bildgebend nicht möglich ist, muss eine Arthroskopie folgen.
Therapieindikationen Jede diagnostizierte vordere Kreuzbandruptur des Kindes sollte einer konservativen oder operativen Therapie zugeführt werden. Bei Unsicherheiten empfiehlt es sich, einen Kniespezialisten zur Zweitmeinung zu befragen.
Konservative Therapie Bei isolierter (Teil-)Ruptur ohne klinisch fassbare Instabilität und bei sicherem Ausschluss eines Meniskusschadens kann vor Fugenschluss konservativ mit Orthese und einem konsequenten Muskelstabilisierungsprogramm bis zum Fugenschluss vorgegangen werden. Entwickelt sich darunter eine Instabilität, besteht die Notwendigkeit der operativen Therapie zum Zeitpunkt des Fugenschlusses.
Die postoperative Nachbehandlung richtet sich nach der gewählten Technik. Abhängig vom Alter des Kindes muss nach einem Kompromiss zwischen Schutz des Transplantates und einer funktionellen Behandlung gesucht werden.
Ergebnisse und Prognose Vordere Kreuzbandrupturen des Kindes zeigen im Vergleich zum Erwachsenen eine schlechtere Prognose. Problematisch ist die klinische Diagnostik, da bei offenen Fugen eine Banddiagnostik schwieriger ist als bei geschlossenen Fugen mit straffen Bändern. Komplexe Verletzungen (Kniegelenksluxation, Kombinationen mit Frakturen der femoralen und tibialen Epiphysen = »floating knee«) führen trotz adäquater Therapie oft zu komplikationsträchtigen Verläufen. Nach VKB-Rekonstruktion mit einem vierbündeligen Semitendinosus-Transplantat in 47 kindlichen Kniegelenken zeigte sich im Follow-up von ca. 49 Monaten kein Fugenschaden oder Beinlängendifferenz, zufriedenstellende Ergebnisse in 77% der Fälle und nur geringe Unterschiede für die Rekonstruktion vor oder nach dem Fugenverschluss (Aichroth 2002).
Intra- und postoperative Komplikationen Operative Therapie Ein operatives Vorgehen (Kreuzbandersatz) wird bei symptomatischer Instabilität unter konservativer Behandlung empfohlen. Nach heutigem Wissenstand besteht auch beim Heranwachsenden eine Operationsindikation, wenn
Als intra- und postoperative Komplikationen gelten falsches Timing der Rekonstruktion und invasive Techniken mit fugenüberbrückenden Transplantatfixationen durch Knochenblöcke (Patellasehne) oder Metallimplantaten, zu große transepiphyseale Bohrkanäle, Verletzungen
20
402
Kapitel 20 · Kniegelenk
der Tuberositasapophyse (sekundäres Genu recurvatum) und der Femurepiphyse.
20.6.2
Hintere Kreuzbandruptur
Sehr selten ist die hintere Kreuzbandruptur. Es handelt sich fast ausschließlich um Abrissfrakturen der tibialen und femoralen Ansätze durch Hyperextensionstraumen. An Begleitverletzungen finden sich laterale, mediale und vordere Instabilitäten sowie Rupturen der MeniskusHinterhörner. Therapie Undislozierte knöcherne Abrisse werden kon-
servativ behandelt. Dislozierte Fragmente werden offen oder arthroskopisch refixiert. Durch die plastisch-ligamentäre Deformierung verbleibt oft auch nach korrekter Refixation eine vermehrte posteriore Bandschwäche mit möglichen Spätschäden.
in Innen-, Neutral- und Außenrotation getestet oder durch den Lachmann-Test ersetzt. Die knöchernen Bandausrisse werden vor allem bei Adoleszenten beobachtet. Sie imponieren medial als Ausriss der Femurepiphyse (Pellegrini-Stieda-Läsion) und lateral als knöcherner Ausriss der Tibiaepiphyse (SegondLäsion), letzterer kann selten auch medial auftreten. Bei der lateralen Variante muss nach weiteren höhergradigen intraartikulären Läsionen (z. B. vorderes Kreuzband) gesucht werden (MRT).
Therapieziel Ziel ist die Ausheilung ohne Knieinstabilität und die Reduktion möglicher Wachstumsstörungen bei dislozierten knöchernen Bandausrissen. Obwohl beim Kind Komplikationen nach medialen und lateralen Kollateralbandverletzungen extrem selten sind, müssen Spätkomplikationen durch übersehene Bandstabilitäten vermieden werden.
Therapieindikationen 20.6.3
Mediale und laterale Kollateralbandverletzungen
Klassifikation, Häufigkeit und Ursachen Ligamentäre Knieverletzungen unterhalb des 14. Lebensjahres sind aufgrund weiter Fugen, laxer Bandstrukturen und den im Vergleich zum Knorpel relativ stärkeren Bändern selten. Die medialen und lateralen Kollateralbänder setzen in der distalen Femurepiphyse und proximalen Tibiametaphyse an, womit die Femurepiphyse einer größeren Verletzungsgefahr ausgesetzt ist. Es existieren aber auch tiefe Bandausläufer in die knorpeligen Anteile der tibialen Epiphyse. Mediale Verletzungen überwiegen in ihrer Häufigkeit. Ihre Klassifikation in 3 Schweregrade und die weitere Unterdifferenzierung des Instabilitätsgrades III kommen erst beim Adoleszenten mit zunehmend stabilen Fugen und Bandstrukturen zum Tragen (. Abb. 20.25).
Der Nachweis eines instabilen Kollateralbandes bedarf auch beim Kind einer adäquaten, allerdings meist konservativen Therapie. Undislozierte Eminentia- sowie femorale metaphysär-ossäre Seitenbandausrisse induzieren selten Begleitverletzungen. Bei allen übrigen dislozierten epiphysären und metaphysären Ausrissfrakturen müssen Begleitverletzungen ausgeschlossen werden, wobei insbesondere beim Hämarthros die Arthroskopie sinnvoll ist.
Klinik, Erstversorgung und Diagnostik
20
Bei starken Schmerzen insbesondere in Verbindung mit fraglichen Frakturen sollte das Knie in einer angenehmen Gelenkstellung immobilisiert werden (adäquate Schmerztherapie!). Kollateralbandrupturen müssen immer auch in Verbindung mit Frakturen durch eine Röntgenaufnahme des Kniegelenks in 2 Ebenen ausgeschlossen werden. Bei Verletzungsverdacht, insbesondere aber auch bei einem Hämarthos, ist die MRT großzügig einzusetzen. Nach Frakturausschluss darf die Untersuchung der medialen und lateralen Strukturen in Extension und 25–30° Beugung nur bei Schmerzfreiheit (Narkose) durchgeführt werden. Die vordere Schublade wird bei 90° Kniebeugung
. Abb. 20.25 Schematische Darstellung der häufigsten knöchernen Kollateralbandausrisse des kindlichen Kniegelenkes (nach v. Laer)
403 20.6 · Verletzungen der Weichteile des Kniegelenkes
Die MRT hat den Vorteil der gleichzeitigen Erfassung sowohl extra- als auch intraartikulärer (vorderes Kreuzband, Meniskus) Verletzungen.
Konservative Therapie Bei stabilen Verletzungen (Distorsionen) kurze Ruhigstellung (abhängig von Schmerz und Stabilität), 20° gebeugte Orthese und funktionelle Behandlung. Bei höhergradigen intraligamentären Bandrupturen und nicht-dislozierten knöchernen Bandverletzungen Ruhigstellung im Kniegelenkstutor mit schmerzabhängiger Teilbelastung für 4 Wochen, dann funktionelle Therapie.
Intra- und postoperative Komplikationen Schicksalhaft sind Crashverletzungen mit schwerem Weichteilschaden. Relevante Wachstumsstörungen werden mit dem MRT quantifiziert. Eine Resektion der Brücken ist möglich, bietet aber die Gefahr des Rezidivs und der Induktion weiterer Wachstumsstörungen. Eine überkorrigierende Osteotomie ist in Betracht zu ziehen, wenn die Korrektur sehr früh durchgeführt werden muss.
20.6.4
Meniskusverletzungen
Operative Therapie
Klassifikation, Häufigkeit und Ursachen
Sie ist selten bei instabilen Rupturen des lateralen Kollateralbandes (postero-laterale Instabilität) und relevanten Begleitverletzungen der Kreuzbänder, Menisken und des Knorpels (s. dort) erforderlich. Es wird die Naht des Außenbandes in situ oder die Schraubenrefixation eines knöchernen Ausrisses durchgeführt. Eine operative Indikation wird bei dislozierten größeren knöchernen femoralen Ausrissen gesehen. Bei kleineren Segond-Frakturen und Pellegrini-Stieda-Läsionen besteht zwar die Gefahr der Pseudarthrose, die aber i. d. R. nach adäquater konservativer Therapie ausheilt.
Bereits pränatal ist der Meniskus in einer Form angelegt, welche sich mit zunehmendem Wachstum unter axialer Belastung und gleichzeitig abnehmender Vaskularität den knöchernen benachbarten Strukturen anpassen kann. Der kindliche Meniskus ist eine gut durchblutete zellreiche Struktur, aber bereits ab dem 11. Lebensjahr kollagenfaserreich und nur peripher durchblutet wie beim Erwachsenen. Die gute Vaskularität des kindlichen Meniskus birgt glücklicherweise eine hohe Selbstheilungspotenz. Meniskusverletzungen unter 10 Jahren, insbesondere der isolierte traumatische Riss, sind sehr selten und nehmen erst mit dem Alter zu. Die Inzidenz ist unbekannt. Es handelt sich um longitudinale Risse, die dem prädominanten Faserverlauf des kindlichen Meniskus entsprechen, und um periphere Risse des Hinterhornes. Sie entstehen meist durch Rotation und Knieflexion des belasteten Beines.
Kontrollen und Nachbehandlung Protektive Ruhigstellung im Tutor oder Schiene für ca. 4– 5 Wochen. Bei Refixationen und Osteosynthese Röntgenkontrollen postoperativ und zur Kontrolle der Konsolidation nach 4–6 Wochen. Sportfähigkeit besteht nach 4– 6 Wochen, sollte aber immer von der funktionellen Untersuchung, Schmerzfreiheit, Stabilität und einer ausreichenden muskulären Konsolidation abhängig gemacht werden. Radiologische und klinische Kontrollen großer metaphysärer Ausrisse zum Ausschluss von Wachstumsstörungen halbjährlich bis zu 2 Jahren.
Ergebnisse und Prognose Selten kann es bei großen metaphysären ossären Ausrissen der langen Kollateralbänder (femoral) zu Ausheilungsbrücken und bei gleichzeitiger Verletzung der Fugendurchblutung zu Nekrosebrücken mit frontalen hemmenden Wachstumsstörungen kommen (Häufigkeit unbekannt). Auch können Vaskularisationsstörungen der Fuge nach operativer Refixation größerer metaphysärer Fragmente entstehen. Zur genauen Diagnose dient die Kontrolle mit MRT.
Klinik, Erstversorgung und Diagnostik Klinik und Pathologie kindlicher Meniskusverletzungen sind nicht mit denen von Erwachsenen zu vergleichen. Hämarthros, Schmerz und Blockaden sind unspezifische klinische Zeichen. Eine korrekte Anamnese, die klinische Untersuchung, längere Beobachtung und selbst die Arthrotomie können in der Ursachenbeschreibung unsicher sein. Die MRT ist in vielen Fällen richtungsweisend, die Arthroskopie führt immer zur definitiven Diagnose. Erstversorgung 7 Abschn. 20.3.
Therapieziel Stabile Ausheilung. Erhalt und sinnvolle Refixation von so viel Meniskusgewebe wie möglich. Vermeidung von Spätarthrosen.
Therapieindikationen ! Cave Große metaphysäre femorale ossäre Ausrisse der langen Kollateralbänder können im Gegensatz zu epiphysären knöchernen Ausrissen zu frontalen hemmenden Wachstumsstörungen führen.
Entscheidend für die Therapie kindlicher Meniskusverletzungen ist eine korrekte Diagnostik mit einer exakten MRT als wichtigem Grundpfeiler. Allerdings können unklare Befunde und kleine Rupturen nur durch die Arthroskopie sicher beschrieben werden.
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404
Kapitel 20 · Kniegelenk
Konservative Therapie Bei freier Beweglichkeit und geringen Schmerzen oder Schmerzfreiheit kann konservativ vorgegangen werden. Dabei wird in der Schiene/Tutor/Orthese und unter Teilbelastung kurzfristig ruhiggestellt. Eine eingehende MRTDiagnostik ist Grundvoraussetzung für dieses Vorgehen.
Operative Therapie Persistierende Schmerzen, Gelenkerguss, Einklemmungsphänomene und Bewegungseinschränkung sind beim Verdacht einer Meniskusruptur Indikationen zum arthroskopischen Vorgehen. Dabei gelten folgende therapeutischen Empfehlungen: keine Naht bei arthroskopisch stabilen peripheren Rissen unter 10 mm Länge und Radiärrissen unter 3 mm. Instabile große periphere Rupturen und Korbhenkelrisse werden wenn möglich durch eine stabile Naht refixiert. 80% der Risse sind peripher und longitudinal. In den meisten Fällen ist eine sparsame Resektion angebracht. Es gilt die Maxime der Meniskuserhaltung. Die Prognose der Meniskusnaht ist beim Kind hervorragend. Bei 29 arthroskopischen Meniskusnähten in 26 Patienten unter 17 Jahren zeigte sich nach ca. 5 Jahren eine komplette Heilungsrate bei voller Beweglichkeit ohne Erguss (Mintzer et al. 1998). Der »Scheibenmeniskus« gewinnt nur dadurch traumatologische Bedeutung, als er aufgrund seiner Größe und z. Teil atypischen Fixation eher zu reißen scheint als ein »normaler« lateraler Meniskus. Ein gerissener Scheibenmeniskus sollte genauso sparsam reseziert werden wie sonstige Rupturen. Der symptomatische Scheibenmeniskus sollte nur bei persistierenden Blockaden und Schmerzen teilreseziert werden, wobei Aichroth aus der operativen Behandlung von 62 Scheibenmeniski bei 52 Kindern schloss, dass die dorsal instabilen Scheibenmenisken komplett entfernt werden sollten und dass bei dorsal stabilen Scheibenmenisken die partielle Resektion erlaubt ist (Aichroth et al. 1991).
Kontrollen und Nachbehandlung
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Bei Teilresektionen sollte 2 Wochen teilbelastet werden, dann erfolgt ein schrittweiser Belastungsaufbau. Nach operativer Refixation sollte abhängig von der Rupturlokalisation 6 Wochen im Tutor/Orthese ruhiggestellt und teilbelastet werden. Abhängig von der Größe des Kindes können verstellbare Schienen eingesetzt werden. Auf jeden Fall sollte innerhalb 6 Wochen eine Flexion über 90° verhindert werden. Physiotherapie ist meistens nicht erforderlich.
Ergebnisse und Prognose Kindliche Meniskusverletzungen heilen deutlich besser als beim Erwachsenen, d. h. sie haben bei adäquater Therapie eine gute Prognose. Die komplette Meniskektomie (n=24) bei Kindern (ca. 12,5 Jahre) zeigte zwar nach 16 Jahren in
62,5% exzellente klinische Ergebnisse, dafür aber bereits in 87% eine radiologische Degeneration des Kniegelenkes (Dai et al. 1997). Sie ist daher zu vermeiden. Beim jungen Patienten mit Komplettverlust eines Meniskus ist die Möglichkeit der Meniskustransplantation (Pilotstudien) zu erwägen, oder zumindest die Einholung einer Zweitmeinung in spezialisierten Zentren. Noch fehlende Langzeitergebnisse für die Transplantationen konkurrieren dabei mit der deutlichen Arthroserate beim Komplettverlust.
Intra- und postoperative Komplikationen Wichtigste Komplikation ist das »Nicht-daran-Denken« oder Übersehen. Komplikationen betreffen vor allem die Kniegelenksdegeneration bei großvolumigem Meniskusverlust.
20.6.5
Traumatische Patellaluxation
Klassifikation, Häufigkeit und Ursachen Die komplette Patellaluxation nach lateral ist beim gesunden Knie selten und tritt entweder bei direkter Krafteinwirkung von medial oder nach einer forcierten Innenrotation mit angespanntem Quadrizepsmuskel bei gleichzeitigem Valgusstress auf. Begünstigend wirken patello-femorale Dysplasien. Mediale oder gar intraartikuläre Luxationen sind extrem selten. Bei der intraartikulären Form führt der direkte Schlag beim gebeugten Knie zu einem Abriss kartilaginärer und ligamentärer Strukturen mit Einschlagen der Patella in die Kerbe.
Klinik, Erstversorgung und Diagnostik In der Anamnese wird oft die spontane Reposition oder unwillkürliche Eigenreposition vor allem nach Kniestreckung berichtet. Das Knie befindet sich bei noch bestehender Luxation in schmerzhafter Beugestellung (. Abb. 20.26). Die Dislokation nach lateral kann durch Kniestreckung, gleichzeitige Hüftbeugung und sanften lateralen Druck ohne Anästhesie reponiert werden. Bei der traumatischen Erstluxation findet sich durch die Zerreißung des medialen Retinakulums und der Kapsel sowie einer osteochondralen Fraktur des medialen Kondylenrandes und der Patella (40%) oft ein Hämarthros. Ein fehlender Gelenkerguss deutet auf eine habituelle Patellaluxation hin. In den meisten Fällen zeigt die korrekte Röntgendiagnostik (Kniegelenk in 2 Ebenen, tangentiale PatellaDéfilé-Aufnahmen in 30, 60, 90°) Zeichen der begleitenden patello-femoralen Dysplasie (Wiberg-Klassifikation der Patellaform: Typ I/II: symmetrisch, asymmetrisch; Typ III: pathologische sog. Jägerhutpatella). Prädisponierende Erkrankungen wie Down-Syndrom, Muskeldystrophie, Arthrogrypose und andere neuromuskuläre Erkrankungen
405 20.6 · Verletzungen der Weichteile des Kniegelenkes
Operative Therapie
. Abb. 20.26 Posttraumatische laterale Patellaluxation bei einem 13-jährigen Mädchen
müssen ausgeschlossen werden. Der konventionellen Röntgendiagnostik folgt bei Verdacht auf Knorpelschäden die MRT oder auch die computertomographische Achsendiagnostik zur Beurteilung anatomischer prädisponierender Faktoren (Genu valgum, recurvatum; vermehrte Femurantetorsion- oder Innenrotation, Hypoplasie lateraler Kondylus, Dysplasie des femoro-patellaren Gleitlagers).
Therapieziel Primär gilt es, prädisponierende Faktoren zu diagnostizieren und zu behandeln, ein Rezidiv zu verhindern und höhergradige Kniebinnenschäden (Knorpelfrakturen, persistierende Subluxationsstellung etc.) zu vermeiden.
Bei einem Hämarthros mit deutlichen Fettaugen, einem rezidivierenden Hämarthros und bei ausgeschlossenen femoro-patellaren Dysplasien wird eine Arthroskopie empfohlen. Gelingt die arthroskopische Refixation osteochondraler Fragmente nicht, wird offen (Miniarthrotomie) refixiert oder débridiert. Zur Refixation knorpeliger Verletzungen können Minischrauben (Titan oder resorbierbar) benutzt werden. Entscheidend ist die stabile Fixation. Dieser Eingriff wird im Allgemeinen mit einem (arthroskopischen oder offenen) lateralen Retinakulumrelease sowie einer medialen Retinakulumraffung (-rekonstruktion) kombiniert. Abhängig von der intraoperativen Zentrierung der Patella und insbesondere beim Vorliegen begleitender Fehlstellungen der Patella (Patella-Défillé der Gegenseite) kann auch sofort ein Vastus medialis-Muskeltransfer angeschlossen werden. Die postoperative Mobilisation erfolgt in der Bewegungsorthese (30/60/90° für jeweils 2 Wochen) über 6 Wochen und Teilbelastung. Findet sich eine chronische Lateralisierung der Patella, kann nach entsprechender Diagnostik einschließlich CT ein Vastus-medialis-Transfer mit lateralem Release durchgeführt werden. > Alle intraartikulären Verletzungsformen der Patellaluxation sollten operativ behandelt werden.
Zur Behandlung der chronischen und/ oder habituellen Luxation aufgrund prädisponierender Faktoren (gestörter Extensormechanismus, Formanomalien der Kondylen und der Patella) oder auch bei kindlichen Verhaltensstörungen wird auf die einschlägige orthopädische Literatur verwiesen.
Therapieindikationen Bei der traumatischen Erstluxation ohne prädisponierende Faktoren oder relevante intraartikuläre Verletzungen ist die Gefahr einer Reluxation eher gering. Die Entscheidung zur operativen Therapie richtet sich somit vor allem nach den intraartikulären Begleitverletzungen und nach begünstigenden Begleitpathologien.
Konservative Therapie Nach der obligaten sofortigen Reposition wird bei einem deutlichen Kniegelenkerguss eine Kniegelenkpunktion (Fettaugen?) durchgeführt. Die Kniepunktion kann von medio- oder laterokranial unter sterilen Kautelen und in Lokalanästhesie durchgeführt werden. Bei Hinweisen auf osteochondrale Begleitverletzungen wird eine Arthroskopie geplant. Schließt die MRT eine knöcherne Verletzung aus, kann bei der Erstluxation konservativ vorgegangen werden, d. h. Ruhigstellung im Gipstutor oder in der Orthese für 3–4 Wochen. Der Ruhigstellung folgt ein intensives Quadrizepstraining, Sportfähigkeit besteht nach ca. 6–8 Wochen.
Behandlung von Komplikationen Beim posttraumatischen Luxationsrezidiv muss im Vorfeld einer weiteren Therapie die gesamte Palette prädisponierender Faktoren abgeklärt werden. Handelt es sich um ein Rezidiv bei einem gesund entwickelten Kind, werden Arthroskopie, laterales Release (subkutan oder arthroskopisch) in Kombination mit medialer Retinakulumdoppelung und Vastus-medialis-Transfer in einem hohen Prozentsatz zu befriedigenden Ergebnissen führen. Bei noch offenen Fugen sollte auf knöcherne Versetzungsoperationen der Tuberositas insbesondere bei der traumatischen Luxation verzichtet werden, da diese zu einem vorzeitigen Verschluss des vorderen Anteiles der tibialen Wachstumsfuge führen können.
Kontrollen und Nachbehandlung Allen rekonstruktiven Weichteileingriffen und osteochondralen Refixationen folgt nach der Ruhigstellungsphase ein intensives Aufbautraining des Quadrizepsmuskels. Nach 12 Wochen kann die Behandlung abgeschlossen
20
406
Kapitel 20 · Kniegelenk
werden und es besteht Sportfähigkeit beim reizlosen Knie und gutem Muskel.
Ergebnisse und Prognose Reluxationen nach traumatischer Erstluxation sind bei adäquater Therapie und fehlenden prädisponierenden Faktoren kaum zu erwarten. Allerdings ist die Gefahr einer rezidivierenden Patellaluxation bei einer Primärluxation unter 20 Jahren am größten. Häufigste iatrogene Komplikation ist das Übersehen osteochondraler Fragmente (»flake fractures«) mit verbleibenden freien Gelenkkörpern. Unbehandelte, wiederholte Luxationen führen zu einer Verstärkung der Problematik durch Schwächung des medialen Kapselbandapparates und Vernarbung des lateralen Retinakulums sowie zur Störung der femoro-patellaren Knorpelbildung bis hin zur Wachstumsstörung des lateralen Kondylus. Abhängig von der Größe des abgeschlagenen Fragmentes können sich femoro-patellare Präarthrosen mit protrahierten Schmerzen entwickeln.
Intra- und postoperative Komplikationen Die rein arthroskopische Therapie größerer flake fractures ist mitunter schwierig, so dass über eine Miniarthrotomie operiert werden muss. Auch sind die Fragmente manchmal zu klein, so dass sie entfernt werden müssen.
20.6.6
Kniegelenksluxation
Klassifikation, Häufigkeit und Ursachen Die Kniegelenksluxation ist eine sehr seltene Verletzung des Adoleszenten durch schwere Gewalteinwirkung (Komplextrauma). Sie beinhaltet alle Kombinationen knorpeliger und ligamentärer, häufig aber auch neurovaskulärer Verletzungen einschließlich (inkompletter) Intimaverletzungen der A. poplitea mit Unterschenkelischämie.
salen Form) durch Zug und Anheben der dorsalen Tibia, wenn möglich ohne Kompression des dorsalen GefäßNerven-Bündels. > Durchblutungs- und Neurostatus müssen vor und nach der Reposition erhoben werden. Bei unklarer Durchblutungssituation und Dopplersonographie ist eine Arteriographie erforderlich, insbesondere auch zur Differenzierung von Gefäßspasmen und Intimaläsionen.
Therapieziel Notfallmäßig schnellstmögliches Wiedereinrenken.
Therapieindikationen Eine Ischämie muss immer sofort behandelt werden. Die Weichteilrekonstruktion ist bei Vorliegen vaskulärer Komplikationen sekundär.
Durchführung der konservativen Therapie In Ausnahmefällen; mit 10–12 Wochen Immobilisation (Nachteil: deutliche Einschränkung der Mobilität, Stabilität, instabilitätsbedingte Spätarthrosen) bei zufriedenstellenden Ergebnissen in der Literatur.
Durchführung der operativen Therapie Methode der Wahl. Nach der notfallmäßigen Gefäßrekonstruktion (Veneninterposition oder Patch) sollte auf eine aufwendige primäre Weichteilrekonstruktion wegen des zusätzlichen Gewebetraumas verzichtet werden. Aufgrund der ausgedehnten Kapselzerreißung ist eine Arthroskopie zu diesem Zeitpunkt obsolet. Zu empfehlen ist die einfach durchzuführende, sichere und stabile Ruhigstellung im kniegelenksübergreifenden ventralen Fixateur externe. Sekundär werden dann die Bandrekonstruktion (VKB, laterales Kollateralband, evtl. HKB) und die Sanierung der Meniskusverletzungen geplant.
Kontrollen und Nachbehandlung Klinik, Erstversorgung und Diagnostik
20
Gefährlicher Fallstrick ist die Spontanreposition, die zum Übersehen der Verletzung bereits am Unfallort führen kann. Ist die Luxation bereits reponiert, kann der Hämarthros aufgrund der diffusen Kapselverletzung fehlen. Diagnostische Zeichen sind dann der generalisierte Knieschmerz und Hauteinblutungen in der Kniekehle. Eine noch vorhandene Luxation muss sofort unter Narkose reponiert werden. Besteht keine Ischämie, sollten zeitnah (im Schockraum) Röntgenaufnahmen zur Differenzierung einer Fraktur von einer rein ligamentären Luxation durchgeführt werden. Im Zweifel erfolgen Stressaufnahmen in Narkose zur Differenzierung von Epiphysenlösungen. Die Reposition erfolgt (bei der häufigsten dor-
Abhängig von der Verletzungskombination
Ergebnisse und Prognose Werden die vaskulären Komplikationen nicht innerhalb von 6–8 h behandelt, steigt die Amputationsrate auf 80– 90%. Die Langzeitprognose ist vor allem von der Kombination der intraartikulären Verletzungen abhängig.
Intra- und postoperative Komplikationen Die Komplikationsvermeidung besteht in der schnellen Erkennung und Sofortreposition sowie der diagnostischen Objektivierung der vaskulären (cave: Intimaschaden A. poplitea!) und der neurologischen Begleitschäden. Abhängig von der Ischämiezeit besteht die Gefahr des Kom-
407 20.7 · Kompartmentsyndrom
partmentsyndroms des Unterschenkels durch Ischämie/ Reperfusionsschaden.
20.7
Kompartmentsyndrom
Eine seltene, aber klinisch bedeutsame Komplikation bei Verletzung der Femurepiphyse (n: 2/151 = 1,3%) mit starker dorsaler Fragmentdislokation und poplitealer Gefäßkompression. Nach Verletzungen der proximalen Tibiaepiphyse wird das Kompartmentsyndrom ebenfalls beobachtet (<1%). Die rechtzeitige Erkennung und adäquate Behandlung der Crash-Verletzungen vermeidet das Auftreten eines schwerwiegenden Kompartmentsyndroms.
Literatur Aichroth PM, Patel DV, Zorrilla P (2002) The natural history and treatment of rupture of the anterior cruciate ligament in children and adolescents. A prospective review. J Bone Joint Surg Br 84: 38–41 Aichroth PM, Patel DV, Marx CL (1991) Congenital discoid lateral meniscus in children: a follow-up study and evolution of management. J Bone Joint Surg Br 73: 932–936 Beck A, Kinzl L, Ruter A, Strecker W (2001) Fractures involving the distal femoral epiphysis. Long-term outcome after completion of growth in primary surgical management. Unfallchirurg 104: 611–616 Dai L, Zhang W, Xu Y (1997) Meniscal injury in children: long-term results after meniscectomy. Knee Surg Sports Traumatol Arthrosc 5: 77–79 Kocher MS, Micheli LJ, Gerbino P, Hresko MT (2003) Tibial eminence fracture in children: prevalence of meniscal entrapment. Am J Sports Med 31: 404–407 Kocher MS, Garg S, Micheli LJ (2006) Physeal sparing reconstruction of the anterior cruciate ligament in skeletally immature prepubescent children and adolescents. Surgical technique. J Bone Joint Surg Am 88: 283–293 Lombardo SJ, Harvey JP (1977) Fractures of the distal femoral epiphyses. Factors influencing prognosis: a review of thirty-four cases. J Bone Joint Surg Am 59: 742–751 Meyers MH, McKeever FM (1959) Fracture of the intercondylar eminence of the tibia. J Bone Joint Surg Am 41: 209–222 Mintzer CM, Richmond JC, Taylor J (1998) Meniscal repair in the young athlete. Am J Sports Med 26: 630–633 Ogden JA, Tross RB, Murphy MJ (1980) Fractures of the tibial tuberosity in adolescents. J Bone Joint Surg Am 62: 205–215 Wessel LM, Scholz S, Rusch M (2001) Characteristic pattern and management of intra-articular lesions in different pediatric age groups. J Pediatr Orthop 21: 14–19 Wilfinger C, Raith J, Pilhatsch A, Höllwarth ME, Weinberg AM (2005) Tibial eminence fractures of children and adolescents – a retrospective study with MRI of the affected knee. Akt Traumatol 35: 218–225
Für die kritische Durchsicht des Manuskriptes danke ich herzlich Herrn Dr. Paul Solvi, Ettelbruck.
20
21
Unterschenkel P. Illing
21.1
Häufigkeit, Klassifikation und Ursachen
– 410
21.1.1 Häufigkeit – 410 21.1.2 Klassifikation – 410 21.1.3 Ursachen – 410
21.2
Anatomie
– 410
21.3
Klinik
21.4
Erstversorgung
21.5
Diagnostik
21.6
Therapieziel
21.7
Fraktur der proximalen Tibiametaphyse (41-M)
21.7.1 21.7.2 21.7.3 21.7.4
Konservative Therapie – 413 Operative Therapie – 413 Kontrollen und Nachbehandlung – 415 Ergebnisse und Prognose – 415
21.8
Fraktur der Diaphyse (42-D)
– 411 – 411
– 411 – 411 – 413
– 415
21.8.1 Konservative Therapie der stabilen diaphysären Unterschenkelfraktur – 417 21.8.2 Konservative Therapie bei der dislozierten diaphysären Unterschenkelfraktur – 417 21.8.3 Kontrollen und Nachbehandlung – 420 21.8.4 Ergebnisse und Prognose – 422 21.8.5 Operative Therapie – 422 21.8.6 Elastisch stabile intramedulläre Nagelung – 423 21.8.7 Offene Frakturen – 427 21.8.8 Kompartmentsyndrom – 427 21.8.9 Unilateraler Fixateur externe – 430
21.9
Fraktur der distalen Tibiametaphyse (43-M)
21.10 Besonderheiten Literatur
– 436
– 434
– 434
410
Kapitel 21 · Unterschenkel
21.1
Häufigkeit, Klassifikation und Ursachen
21.1.1
Häufigkeit
Mit einem Anteil von 15% gehören Unterschenkelfrakturen zu den häufigsten Brüchen der langen Röhrenknochen. Das Durchschnittsalter liegt bei 8 Jahren. In 70% der Fälle handelt es sich um Tibiafrakturen. 50–70% sind im distalen Drittel lokalisiert, 19–38% im mittleren und proximalen Drittel. Proximale Tibiafrakturen sind selten, weisen aber wegen der potentiellen Entwicklung einer Valgusdeformität eine besondere Problematik auf. In 30% der Fälle sind Tibia und Fibula gebrochen. Reine Fibulaschaftfrakturen sind Ausnahmen. Bei der Mehrzahl der Frakturen handelt es sich um nicht dislozierte Frakturen, die sich ambulant im Gips behandeln lassen.
21.1.2
Klassifikation
Die Einteilung der Unterschenkelschaftfrakturen erfolgt nach der AO-PAEG-Klassifikation (. Tab. 21.1) Ist nur ein Knochen betroffen, erfolgt der entsprechende Zusatz (t=Tibia, f=Fibula). Bei Frakturen beider Knochen mit unterschiedlichem Verletzungsmuster (z. B. komplette Tibiafraktur mit Biegungsfraktur der Fibula) wird jeder Knochen separat mit dem entsprechenden Buchstabenzusatz klassifiziert. Kleinkinder erleiden in der Regel eine Wulst- oder Grünholz-Fraktur, im Vorschulalter handelt es sich meist
um eine Spiralfraktur im distalen Tibiadrittel, die Tibia ist oft isoliert frakturiert. Bei größeren Kindern und Jugendlichen ist häufiger die distale Metaphyse oder das Sprunggelenk (7 Kap. 22) betroffen, es bestehen häufiger Frakturen beider Knochen.
21.1.3
Ursachen
Bei jüngeren Kindern ist überwiegend eine indirekte Gewalteinwirkung ursächlich. Torsionskräfte infolge forcierter Abduktion und Hyperextension des Unterschenkels gegenüber dem fixierten Knie führen zu Spiraloder Schrägfrakturen der Tibia. Bei größeren Kindern und Jugendlichen kommt es durch direkte Gewalteinwirkung bei Sport- und Verkehrsunfällen zu Queroder Biegungsbrüchen mit Verletzung eines oder beider Knochen. Offene Frakturen sind bei Kindern selten, bei direkter Gewalteinwirkung darf aber eine immer vorhandene Weichteilschädigung auf keinen Fall unterschätzt werden. Auch im Kindesalter ist gerade bei größeren Kindern bei entsprechender Anamnese und Röntgenbefund an ein Kompartmentsyndrom zu denken.
21.2
Anatomie
Der Torsionswinkel der Tibia (Winkel der proximalen Tibiakondylen gegenüber der Intermalleolarachse) beträgt bei der Geburt 0° und nimmt im Verlauf des Wachstums auf ca. 20° zu. Erst schwere Torsionsfehler werden an der
. Tab. 21.1 Klassifikation der Unterschenkelschaftfraktur (AO-PAEG-Klassifikation) Lokalisation Proximale Metaphyse
Diaphyse
21
Distale Metaphyse
Morphologie 41-M/
42-D/
43-M/
Schwere
Stauchung/Wulst
2
Grünholz
2
Komplett
3
(Muskulo-ligamentärer) Abriss
7
Biegung
1
Grünholz
2
Komplett quer (<30°)
4
Komplett quer/spiral (>30°)
5
Stauchung/Wulst
2
Grünholz
2
komplett
3
Einfach
.1
1 Biegungskeil oder mehrfragmentär (≥3)
.2
H.G. Dietz et al. (Hrsg.), Praxis der Kinder-und Jugendtraumatologie, DOI 10.1007/978-3-642-12935-3_21, © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2011
411 21.6 · Therapieziel
Tibia klinisch evident. Sie werden aber funktionell vielfach kompensiert (Lampert et al. 2000). Knapp unterhalb der proximalen Epiphysenfuge der Tibia teilt sich die A. poplitea in die A. tibialis posterior und in die A. tibialis anterior auf. Diese verläuft direkt neben der Tibia. Neben der A. poplitea verläuft der N. tibialis posterior, um das Fibulaköpfchen herum der N. peronaeus communis. ! Cave Die enge Nachbarschaft der Arterien und Nerven mit den Knochen in diesem Bereich birgt bei einer dislozierten 41-E/2- oder einer 41-M/3-Fraktur der proximalen Tibia die Gefahr einer Arterienverletzung.
21.3
Klinik
Die Schmerzhaftigkeit ist abhängig von der Schwere der Verletzung. Bei einer Wulst- oder pathologischen Fraktur werden die Patienten häufig lediglich wegen Hinken oder Schmerzen bei Belastung vorgestellt. Kleinere Kinder verweigern das Auftreten. Ansonsten geben die Kinder auch in Ruhe Schmerzen an. Es besteht eine mehr oder weniger ausgeprägte Schwellung. Die Region ist berührungsempfindlich, weshalb weitere Manipulationen unterlassen werden müssen. Bei einer Tibiafraktur kann wegen der Lage des Knochens unmittelbar unter der Haut eine Konturabweichung sichtbar sein. Die Weichteilschädigung ist abhängig von der einwirkenden Kraft. Offene Frakturen zweiten und dritten Grades sind selten. Beim Patienten mit Mehrfachverletzung oder Schädel-Hirn-Trauma sowie beim schwerbehinderten Kind ist bei entsprechender Anamnese immer an eine Verletzung des Unterschenkels zu denken.
21.4
Erstversorgung
Bei dem klinischen Verdacht auf eine Unterschenkelfraktur muss das Bein bis zur definitiven Versorgung am besten in einer Vakuumschiene (. Abb. 21.1) ruhiggestellt werden. Eine grobe Dislokation mit Gefahr der Weichteil-, Gefäß- und Nervenverletzung muss primär unter Schmerzmedikation reponiert und vorläufig geschient werden.
21.5
Diagnostik
Die Röntgendiagnostik des Unterschenkels erfolgt in 2 Ebenen, wobei sowohl das Sprung- als auch das Kniegelenk mit erfasst werden. Dabei ist auf eine ausreichende Anal-
. Abb. 21.1 Lagerung einer Unterschenkelschaftfraktur auf der Vakuumschiene
gesie zu achten. Bei kleinen Kindern mit entsprechender Symptomatik kann die primäre Röntgenaufnahme unauffällig sein. Eine zweite Aufnahme nach 10–14 Tagen zeigt die periostale Reaktion und bestätigt als indirektes Frakturzeichen den primären Verdacht. MRT oder CT sind nicht erforderlich.
21.6
Therapieziel
Mit der geringsten möglichen Belastung des Kindes durch stationären Aufenthalt, Narkose oder Röntgenstrahlen soll eine achsengerechte Ausheilung bei gleicher Beinlänge erzielt werden. Eine primäre Seit-zu-Seit-Verschiebung kann beim kleinen Kind bis zu voller Schaftbreite, beim größeren Kind bis zur halben Schaftbreite akzeptiert werden. Eine Verkürzung >1 cm ist nicht zu tolerieren, da die Längenzunahme am Unterschenkel infolge des Traumas nur minimal ist. Die Grenzwerte zu akzeptierender Fehlstellungen sind: Varus 10°, Valgus 8°, Antekurvation 12°, Rekurvation 6° (. Tab. 21.2; Dwyer et al. 2007). Rotationsfehlstellungen dürfen nach dem 5. Lebensjahr nicht mehr belassen wer-
. Tab. 21.2 Grenzwerte für Fehlstellungen am Unterschenkelschaft <5 Jahre
>5 Jahre
Valgus
8°
5°
Varus
10°
5°
Antekurvation
12°
5°
Rekurvation
6°
0°
Verkürzung
10 mm
5 mm
Rotation
5°
0°
21
412
21
Kapitel 21 · Unterschenkel
a
b
c
d
. Abb. 21.2a–d Nicht dislozierte proximale Tibiafraktur. a,b Unfallbilder. c,d Ruhigstellung im Oberschenkelgips. Diese Fraktur birgt
eine große Gefahr einer Rekurvations-Fehlstellung, da die Apophyse (hier noch nicht sichtbar) geschädigt sein kann
413 21.7 · Fraktur der proximalen Tibiametaphyse (41-M)
a
b
. Abb. 21.3a,b Dislozierte proximale Tibiafraktur a.p. (a) und seitlich (b)
den. Die Rotation wird im Vergleich zur Gegenseite an Hand der Linie Patellamitte/zweite Zehe (bei einer physiologischen Außenrotation von 10–15°) überprüft. Die Mehrzahl der Frakturen kann konservativ behandelt werden. Bei instabilen Frakturen oder Redislokationen wird die operative Stabilisierung erforderlich.
ein Valgus nicht auffällt. Das Bein muss daher fast vollständig gestreckt eingegipst werden. Eine Rekurvation oder Valgusabweichung dürfen nicht belassen werden. Der Gips wird in Varusstellung anmodelliert (. Abb. 21.2).
21.7.2 21.7
Fraktur der proximalen Tibiametaphyse (41-M)
Der Altersgipfel liegt zwischen 3 und 10 Jahren. Ursächlich ist eine seitliche Gewalteinwirkung auf das gestreckte Knie. Durch Zugkräfte kommt es im Bereich der medialen Kortikalis bei intakter lateraler Kortikalis zur Grünholz-Fraktur. Das Röntgenbild zeigt häufig primär eine nicht oder kaum dislozierte Fraktur, die Fibula erscheint intakt.
21.7.1
Konservative Therapie
Nicht dislozierte Frakturen werden im gespaltenen Oberschenkelgips ruhiggestellt, dorsale Oberschenkelgipsschienen sind meist zu schmal und umfassen weniger als 50% der Zirkumferenz. Dabei ist zu berücksichtigen, dass schmerzbedingt das Knie gebeugt gehalten wird, so dass
Operative Therapie
Die dislozierte Fraktur oder eine Valgusabweichung erfordern die geschlossene Reposition in Narkose unter Bildwandlerkontrolle (. Abb. 21.3). Am entspannten Kind wird in gestreckter Stellung des Kniegelenks eine Valgusabweichung bereits klinisch evident. Ziel ist die anatomische Wiederherstellung der Achse oder eine leichte Varusstellung. Lässt sich die Fraktur geschlossen nicht reponieren, kann zunächst versucht werden, die Grünholz-Fraktur durch weitere Valgisierung in eine komplette Fraktur und dann in den Varus zu überführen, was durch die intakte Fibula erschwert ist. Gelingt dies nicht, muss offen reponiert und in den Frakturspalt interponiertes Gewebe entfernt werden. Bei Instabilität muss eine Osteosynthese (Kirschner-Draht, Schraube, in Ausnahmefällen bei älteren Kindern mit einer Rekurvation oder primären Valgusdeformität ≥10° ein medialer Fixateur externe oder eine mediale Platte) durchgeführt werden (. Abb. 21.4).
21
414
Kapitel 21 · Unterschenkel
a
21
c
b
. Abb. 21.4a–c Dislozierte proximale Tibiafraktur. a Unfallbild. b,c Reposition und Stabilisierung mit Schraubenosteosynthese von medial (absteigend) und ventral
415 21.8 · Fraktur der Diaphyse (42-D)
21.7.3
Kontrollen und Nachbehandlung
Röntgenkontrollen erfolgen nach dem Eingipsen, nach einer Woche und nach Gipsabnahme. Die Ruhigstellung dauert 4–6 Wochen. Anschließend wird die spontane Wiederherstellung der Beweglichkeit des Kniegelenks abgewartet.
21.7.4
Ergebnisse und Prognose
Die Crash-Verletzung der Apophyse beim Kleinkind kann schicksalshaft zu einem Genu recurvatum führen. Hierüber müssen die Eltern von Beginn an aufgeklärt werden. Nicht dislozierte Frakturen heilen unproblematisch aus. Bei Grünholz- oder kompletten Frakturen kann im Verlauf eine Valgisierung eintreten (. Abb. 21.5). > Die Eltern sind bereits bei Diagnosestellung darüber zu informieren, dass trotz suffizienter Therapiemaßnahmen frakturimmanent mittelfristig eine Valgusdeformität resultieren kann. Es ist darauf hinzuweisen, dass auch bei zunächst achsengerechter Stellung auf der Röntgenkontrolle nach Gipsabnahme im weiteren Verlauf Kontrolluntersuchungen erforderlich sind.
Die Ursache der Valgisierung ist unklar. Es wird vermutet, dass es durch eine vermehrte Perfusion der proximalen medialen Epiphyse zur Tibia valga kommt, während lateral durch das intakte Periost und die intakte Fibula gleichsam eine Zuggurtung besteht. Infolge der Valgusdeformität kann eine Beinlängendifferenz resultieren, so dass ein kontralateraler Sohlenausgleich notwendig werden kann. Da es auch nach einer zu früh durchgeführten Korrekturosteotomie zu einem Rezidiv kommen kann, sollte diese nicht vor dem Wachstumsabschluss vorgenommen werden. Dagegen kann eine mediale Hemi-Epiphyseodese bei offener Fuge im Alter zwischen 10 und 14 Jahren die Valgusentwicklung stoppen.
21.8
Fraktur der Diaphyse (42-D)
Die Kortikalis kann teilweise frakturiert (Grünholz-Fraktur, . Abb. 21.6) oder vollständig unterbrochen sein. Die meisten Frakturen bei Kindern unter 11 Jahren entstehen durch indirekte Gewalteinwirkung, wenn sich der Körper bei fixiertem Fuß dreht. Es kommt zur Spiral- oder Schrägfraktur im distalen Tibiadrittel. Die Frakturlinie verläuft von distal, medial und ventral nach kranial, lateral und dorsal. Die Fibula bleibt in der Regel intakt, so dass keine Verkürzung eintritt (. Abb. 21.7).
. Abb. 21.5 Bei Patient aus . Abb. 21.2 besteht nach Konsolidation der Fraktur radiologisch eine leichte Valgisierung, die klinisch nicht auffällt. Hier sind regelmäßige Kontrolluntersuchungen bis zum Wachstumsabschluss vorzunehmen
> Durch Zug der langen Kniebeugemuskulatur, die an der proximalen Tibia ansetzt, kann es innerhalb der ersten 14 Tage nach Abschwellen des Frakturhämatoms zur Varusdeviation der Fragmente kommen.
Eine direkte Gewalteinwirkung ist die Ursache für eine Querfraktur. In der überwiegenden Mehrzahl ist die Fibula intakt, so dass die Tibiafraktur stabil und wegen des beim Kind intakten Periostschlauchs nur gering disloziert ist. Bei einer Tibiafraktur mit einem medialen Biegungskeil kann es wie bei einer Schrägfraktur zur Varusdeviation kommen. > Wichtig sind Informationen über das Ausmaß der Gewalteinwirkung, da bei einem hochenergetischen Trauma trotz des »einfachen« Röntgenbefundes an eine größere Weichteilproblematik gedacht und die Fraktur aus diesem Grunde stabilisiert werden muss.
Bei 30% der Frakturen sind bei Kindern beide Knochen betroffen. Infolge des Zugs der Unterschenkelextensoren kann dann eine Valgusdeviation eintreten.
21
416
21
Kapitel 21 · Unterschenkel
a
b
c
d
. Abb. 21.6a–d Distale Unterschenkel-Grünholz-Fraktur. a,b Unfallbilder. c,d Achsengerechte Ausheilung
417 21.8 · Fraktur der Diaphyse (42-D)
a . Abb. 21.7 Tibiaspiralfraktur im distalen Drittel
. Abb. 21.8a,b Isolierte Fibulafraktur durch Stoß beim Fußballspielen a.p. (a) und seitlich (b)
Die isolierte Fibulafraktur (42f-D) ist beim Kind selten. Sie wird durch direkte Gewalteinwirkung von lateral verursacht. Die Behandlung erfolgt symptomatisch bis zur Schmerzfreiheit (. Abb. 21.8).
21.8.1
b
Konservative Therapie der stabilen diaphysären Unterschenkelfraktur
Die unkomplizierte Fraktur wird ambulant im aufgeschnittenen Oberschenkelgips- oder Kunststoffverband oder einer ausreichend breiten Oberschenkellongette (. Abb. 21.9) behandelt. Diese müssen im Bereich der Fraktur, des Sprunggelenks und des Fußgewölbes gut anmodelliert werden, um eine sekundäre Dislokation oder ein Abstreifen des Gipses zu vermeiden. jKontrollen und Nachbehandlung
Eine Röntgenkontrolle in 2 Ebenen erfolgt unmittelbar nach Gipsanlage oder am Folgetag zusammen mit der Überprüfung der Durchblutung, Motorik und Sensibilität. Jugendliche mit beginnenden Pubertätszeichen (ab Tanner II) mit operativer Versorgung und/oder fixierenden Verbänden an der unteren Extremität erhalten eine medikamentöse venöse Thromboembolieprophylaxe. Diese erfolgt mit niedermolekularem Heparin. Kleinere Kinder können
im Kinderwagen mobilisiert, größere kooperative Kinder mit Unterarmgehstützen nach Hause geschickt werden. Krankengymnastische Unterweisung ist sinnvoll. Das Bein soll die ersten Tage hochgelagert werden. Die Eltern sind über die Notwendigkeit der sofortigen Wiedervorstellung beim Auftreten von Beschwerden zu unterrichten. Nach einer Woche wird der Gips- oder Kunststoffverband zirkuliert (. Abb. 21.10). Die Frakturstellung wird radiologisch überprüft. Bei einer stabilen Querfraktur kann die Gewichtsbelastung bei Schmerzfreiheit gestattet werden. Das Kniegelenk wird daher in 15°-Beugung, das Sprunggelenk in Neutralstellung eingegipst. Bei einer Schrägfraktur und bei sehr aktivem Kind empfiehlt es sich, das Bein zur Vermeidung des Auftretens in 80°-Beugestellung des Kniegelenks einzugipsen und nach 2 Wochen umzugipsen. Die weitere Behandlung erfolgt wie in 7 Abschn. 21.8.3.
21.8.2
Konservative Therapie bei der dislozierten diaphysären Unterschenkelfraktur
Dislozierte Frakturen, aber auch Brüche bei sehr schmerzempfindlichen und ängstlichen Kindern, werden unter Sedierung oder besser unter Vollnarkose vorteilhaft vor
21
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Kapitel 21 · Unterschenkel
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. Abb. 21.9a–d Stabile Unterschenkelschaftfraktur. a,b Unfallbilder. c,d Ruhigstellung auf einer dorsalen Kunststoffschiene
419 21.8 · Fraktur der Diaphyse (42-D)
a
b
. Abb. 21.10a,b Nach einer Woche erfolgt das Zirkulieren der Kunststoffschiene aus . Abb. 21.9
a
b
. Abb. 21.11a,b Dislozierte Tibiafraktur im distalen Drittel a.p. (a) und seitlich (b)
21
420
Kapitel 21 · Unterschenkel
Einsetzen der Ödemphase im Operationssaal reponiert, um bei mangelnder Retention in gleicher Sitzung die definitive Stabilisierung vornehmen zu können. Das Einrichten der Fragmente innerhalb der zu tolerierenden Grenzwerte (. Tab. 21.2) ist ausreichend. Bei einem erstgradigen Weichteilschaden kann ein konservativer Behandlungsversuch (7 Abschn. 21.8.1) unternommen werden, wobei besonders auf die Gefahr eines sich entwickelnden Kompartmentsyndroms geachtet werden muss (. Abb. 21.11). Immer ist der Gips- oder Kunststoffverband bis auf die letzte Faser aufzuschneiden. > Zur besseren Retention vor allem bei der distalen Unterschenkelfraktur kann die temporäre Fixierung des Sprunggelenks in 20° Plantarflexion innerhalb der ersten 3 Wochen genutzt werden, die beim Kind zu keiner bleibenden Spitzfußstellung führt (. Abb. 21.12).
Lässt sich die Fraktur trotz adäquater Gipstechnik nicht ausreichend retinieren, ist sie in derselben Narkose sofort operativ zu stabilisieren (7 Abschn. 21.8.4).
21.8.3
Kontrollen und Nachbehandlung
Das Zirkulieren des aufgeschnittenen Verbandes erfolgt nach einer Woche. Anschließend wird eine radiologische
Stellungskontrolle durchgeführt. Stellt sich bei der Röntgenkontrolle eine nicht zu tolerierende Fehlstellung heraus, wird eine Gipskeilung vorgenommen (. Abb. 21.13; 7 Kap. 6). Alternativ kann die ESIN diskutiert werden (7 Kap. 21.15). ! Cave Bei Auftreten von Schmerzen muss der Gips umgehend überprüft und eventuell gewechselt werden.
Beim kleinen Kind mit einer stabilen Fraktur kann nach 2 Wochen mit einer Belastung im Gipsverband begonnen werden. Die Dauer bis zur Konsolidation beträgt 4–5 Wochen. Ein Gipswechsel oder ein Gehgips sind daher nicht notwendig! Beim Adoleszenten mit einer instabilen Fraktur kann die Konsolidationszeit bis zu 12 Wochen betragen. Hier kann nach der ersten Kallusbildung nach 4–5 Wochen der Oberschenkelgips durch einen Unterschenkel-SarmientoGips oder durch eine Laufschuhorthese ersetzt werden. Die Eltern sind darauf hinzuweisen, dass insbesondere das kleine Kind nach Gipsabnahme einige Wochen in Außenrotation humpeln wird. Dies ist normal. Sie sollen das Kind zu Zehenstandsübungen motivieren. Nach spontaner Kräftigung der Muskulatur wird sich das Gangbild normalisieren. Bei größeren Kindern und Jugendlichen kann es sinnvoll sein, nach Umwandlung des Oberschenkelgipses in einen Unterschenkel-Sarmiento-Gips die Gewichtsbelastung unter krankengymnastischer Anleitung
21 a
b
. Abb. 21.12a,b Nach Reposition der Fraktur aus . Abb. 21.11 in Narkose Anlage eines Oberschenkelgipses (a), der zur Vermeidung einer Rekurvation in leichter Plantarflexion anmodelliert wird (b)
421 21.8 · Fraktur der Diaphyse (42-D)
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. Abb. 21.13a–h Tibiaspiralfraktur. a,b Unfallbilder. c,d Rekurvation im Gips. e,f Nach Gipskeilung achsengerechte Stellung
21
422
Kapitel 21 · Unterschenkel
g
h
. Abb. 21.13g, h Nach Kallusbildung Wechsel auf einen Unterschenkel-Sarmiento-Kunststoffverband
durchführen zu lassen. Die Sportfreigabe erfolgt, wenn die Kraft des unverletzten Beines wieder erreicht ist.
21.8.4
Ergebnisse und Prognose
Die Behandlung der einfachen Unterschenkelfraktur ist unproblematisch, wenn die vorgesehenen Kontrolluntersuchungen durchgeführt und Achsenabweichungen gegebenenfalls korrigiert werden. Die Kinder können bereits kurze Zeit nach der Freigabe wieder ihre gewohnten Aktivitäten aufnehmen. Mit Achsenabweichungen oder Beinlängendifferenzen muss bei einer konservativ zu behandelnden Unterschenkelfraktur nicht gerechnet werden.
21.8.5
21
Operative Therapie
Die Indikation zur Operation ist gegeben, wenn die zu akzeptierenden Achsenabweichungen (. Tab. 21.2) nicht eingehalten werden können, eine instabile Fraktur (insbesondere bei Vorhandensein mehrerer Fragmente) vorliegt, beim Kompartmentsyndrom, der offenen Fraktur, Polytrauma, »floating knee«. Ursache einer derart schweren Verletzung ist in der Regel ein hochenergetisches Trauma bei einem Verkehrsunfall.
Die Plattenosteosynthese ist speziellen Indikationen (Pseudarthrose) vorbehalten, Bei Kindern mit fast geschlossenen Fugen oder bei Jugendlichen kann wie beim Erwachsenen ein Tibia-Marknagel eingesetzt werden. Ziel ist die definitive Stabilisierung. Bei bereits eingetretenem Ödem kann die Reposition erschwert sein. Bei einer offenen Fraktur ist zur temporären Stabilisierung
. Tab. 21.3 Optionen für die operative Therapie ESIN
Fixateur externe
Kombination ESIN/Fixateur
Überschreiten tolerabler Achsenabweichung (42-D/4.1 oder 2)
X
Instabil (42-D/5.1 oder 2)
(X)
(X)
X
II, III° offen
(X)
X
(X)
II, III° Weichteilschaden
X
X
(X)
Polytrauma
X
X
Floating knee
X
X erste Präferenz, (X) alternativ
423 21.8 · Fraktur der Diaphyse (42-D)
und zur besseren Pflege der Weichteile ein Fixateur externe anzubringen.
21.8.6
Elastisch stabile intramedulläre Nagelung
Therapieindikationen Die Indikation zur elastisch stabilen intramedullären Nagelung (ESIN) besteht bei der instabilen Fraktur, die nicht zu reponieren oder zu retinieren ist (. Abb. 21.14a–c). Bei der ausgeprägten primären oder der sekundären Varusdeviation der Tibiafraktur ist sie eine Alternative zur Gipskeilung. Die ESIN kann bei der erst- oder zweitgradig offenen instabilen Fraktur ebenso angewandt werden wie bei einer Fraktur, bei der wegen eines Kompartmentsyndroms eine Stabilisierung erforderlich ist. Bei einer Schrägfraktur oder einer Fraktur mit einem Biegungskeil kann durch die konventionelle ESIN alleine keine Stabilität erreicht werden. In diesem Falle gewährleistet das Aufbringen von sogenannten End Caps oder ein zusätzlich angebrachter temporärer Fixateur externe die Stabilität (. Abb. 21.15a–c). Er kann nach der ersten Kallusformation wieder abgebaut werden (. Abb. 21.15 d,e). Bei der drittgradig offenen Unterschenkelfraktur oder einer Trümmerfraktur ist die Behandlung mit ESIN alleine nicht möglich.
Durchführung 4 Die Stärke der zu implantierenden Nägel beträgt ein Drittel der auf der Röntgenaufnahme gemessenen Markraumbreite der Tibia (2,0–4,0 mm). Die Implantation erfolgt am Unterschenkel antegrad. 4 Die Hautinzisionen werden proximal an der gut zu tastenden medialen und lateralen Kante exakt symmetrisch in Höhe der Tuberositas tibiae gelegt. Es ist darauf zu achten, dass später genügend Weichteilbedeckung für das Nagelende zur Verfügung steht. Die Epiphysenfuge darf dabei nicht tangiert werden. 4 Die Perforation der Kortikalis mit dem Pfriem erfolgt distal der Tuberositas tibiae in einem Winkel zunächst von 90°, wobei der Priem dann auf 60° geschwenkt wird. Der trapezförmig aufgebaute Markraum der proximalen Tibiametaphyse ist geräumig, so dass die Nägel, die vor der Frakturebene die Gegenkortikalis erreichen müssen, keine Spannung erzielen, wenn sie zu steil eingebracht werden. 6
4 Nach Platzierung beider Nägel vor den Frakturspalt erfolgt die möglichst achsengerechte Reposition. Mit dem gebogenen Nagelende wird unter kurzzeitiger Durchleuchtungskontrolle der Markraum des Gegenfragments ertastet, so dass eine restliche Verschiebung korrigiert werden kann. 4 Beide Nägel werden ohne gegenseitige Verwindung in das distale Fragment bis knapp oberhalb der Wachstumsfuge vorgeschoben. 4 Bevor die Schienen unter das Hautniveau gekürzt werden, muss die Beinlänge im Seitenvergleich überprüft und die Fraktur gegebenenfalls »gestaucht« werden. 4 Kappen auf den Enden schützen bei der schrägen Fraktur die Haut vor Irritation.
> Die Spitzen zeigen nach dorsal, wodurch die physiologische Antekurvation der Tibia wiederhergestellt wird. Die Schienen müssen symmetrisch aufgespannt sein und jeweils eine Drei-PunktAbstützung aufweisen.
Eine zusätzliche Ruhigstellung ist nicht erforderlich. Bei der Lagerung soll die Schmerzfreiheit im Vordergrund stehen.
Kontrollen und Nachbehandlung Postoperativ kann der Patient aktiv und passiv unter krankengymnastischer Anleitung bewegen. Bei Schmerzfreiheit erfolgt die erste postoperative Röntgenkontrolle. Der Patient kann an Unterarmgehstützen mobilisiert und entsprechend seines Allgemeinzustandes ambulant weiter behandelt werden (. Abb. 21.17). Die Belastung wird bei der Querfraktur dem Kind anheim gestellt. Sie wird bei schmerzfreiem Auftreten sukzessive gesteigert und erfolgt individuell unterschiedlich. Bei der Schrägfraktur wird zunächst nur Sohlenkontakt gestattet. Zeigt die Röntgenaufnahme nach 3–4 Wochen eine ausreichende Kallusüberbrückung, wird auch hier die Belastung dem Patienten überlassen. Gerade beim größeren und schweren Kind kann eine Gehschulung sinnvoll sein. Die Erlaubnis zum Sport wird bei Erreichen der seitengleichen Kraft gestattet. Nach 6 Monaten wird die nächste Röntgenkontrolle vorgenommen. Beim Nachweis der Durchbauung wird die Metallentfernung ambulant in Narkose geplant. Eine klinische Spätkontrolle erfolgt bis 2 Jahre nach dem Trauma.
Ergebnisse und Prognose Die ESIN ist bei der 42-D/4- und 42-D/5.1-Fraktur ein hervorragendes Behandlungsverfahren mit einer äußerst
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424
Kapitel 21 · Unterschenkel
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. Abb. 21.14a–f ESIN einer Unterschenkelschaftfraktur im distalen Drittel mit Weichteilschaden. a,b Die Fraktur konnte im Gips nicht
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retiniert werden. c,d Stabilisierung mit ESIN. e,f Ausheilung nach 6 Monaten
425 21.8 · Fraktur der Diaphyse (42-D)
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. Abb. 21.15a–g Unterschenkelfraktur mit Biegungskeil. a Unfallbild. b,c Wegen eines schweren Weichteiltraumas und der Instabilität der Fraktur kombinierte Anlage von Fixateur externe und ESIN. Aus diesem Grunde wurde ausnahmsweise zusätzlich die Fibula mit
c
f
g
einem ESIN stabilisiert. d,e Nach beginnender Kallusformation wurde der Fixateur abgebaut und der ESIN aus der Fibula entfernt. f,g Ausheilung nach Metallentfernung nach 1 Jahr
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426
Kapitel 21 · Unterschenkel
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c
. Abb. 21.16a–c Technik der elastisch stabilen intramedullären Nagelung (ESIN). a Symmetrische Schnittführung und Kortikalisperforation distal der Tuberositas tibiae. b Unter Bildwandlerkontrolle Platzierung beider Nägel im distalen Fragment. c Kürzen der Schienen unter dem Hautniveau
a
21
. Abb. 21.17a,b Nachbehandlung bei ESIN. a Bei Schmerzfreiheit Beginn mit geführten passiven Bewegungen. b Anschließend Üben des entlastenden Ganges an Unterarmgehstützen
b
427 21.8 · Fraktur der Diaphyse (42-D)
geringen Komplikationsrate und einer raschen Belastbarkeit. Aber auch bei der 42-D/5.2-Fraktur führt sie bei Einhaltung der Anweisungen für die Nachbehandlung zu guten Resultaten. Die durchschnittliche Zeit bis zur vollständigen Konsolidation beträgt 20 Wochen. Achsenabweichungen über 5° oder behandlungsbedürftige Beinlängendifferenzen sind nicht zu erwarten. Mit einer Einschränkung der Beweglichkeit im Knie- und Sprunggelenk ist nicht zu rechnen.
Intra- und postoperative Komplikationen Zur Vermeidung einer Läsion der Epiphysenfuge wird diese unter kurzer Durchleuchtung markiert. Die Inzisionsstellen müssen entsprechend gewählt werden und symmetrisch liegen. Bei zu kaudaler Inzision wird die intramedulläre Strecke der Nägel zu kurz und damit eine ausreichende Führung des Fragments nicht gewährleistet. > Für die Stabilität der Osteosynthese ist die exakte gegenseitige Aufspannung beider Nägel mit der Drei-Punkt-Abstützung entscheidend.
Eine korkenzieherartige Verwindung der Nägel darf auf keinen Fall belassen werden. Anderenfalls muss die Lage der Implantate korrigiert oder diese müssen gewechselt werden. Insbesondere bei intakter Fibula droht sonst eine Varusfehlstellung. Bei asymmetrischer Aufspannung oder unterschiedlichen Nagelstärken wird eine Achsabweichung resultieren. Wird die Frakturform (Schräg-, Spiral- oder Fragmentfraktur) nicht berücksichtigt, kann die Osteosynthese instabil sein. Bei zu früher Vollbelastung kann es zur Verkürzung des Unterschenkels, Irritationen oder Perforationen an der Haut kommen (. Abb. 21.18). Eine sekundäre Achsenabweichung kann auftreten. Dies kann durch ESIN mit Verriegelung durch End Caps vermieden werden (. Abb. 21.19).
. Abb. 21.18 Hautirritation durch zu langen Überstand eines ESIN
dass Verletzungen der Weichteile und Knochen gerade beim jüngeren Kind besser heilen als bei Erwachsenen. So kann auch ein größeres, nicht verschmutztes Fragment belassen bleiben, wenn es mit dem vorhandenen Weichteilmantel gedeckt werden kann. Es wird wieder in den Frakturkallus eingebaut. Das Periost, das in der Regel erhalten ist, muss sorgfältig geschont werden, da es entscheidend zur Heilung eines Knochendefekts beiträgt. Die Haut muss mit einem Transplantat gedeckt werden (. Abb. 21.22).
21.8.8 21.8.7
Offene Frakturen
Neben dem Alter des Patienten, der Morphologie und Schwere der Fraktur ist für die Therapieentscheidung das Ausmaß des Weichteilschadens zu berücksichtigen. Die häufigere erstgradig offene Fraktur mit einer relativ kleinen Hautperforationsstelle kann wie eine geschlossene Fraktur behandelt werden (. Abb. 21.20). Bei höhergradig offenen Frakturen und beim Weichteilschaden muss ein Debridement des avitalen Gewebes durchgeführt werden (. Abb. 21.21). Eine antibiotische Behandlung ist einzuleiten. Die Fraktur ist mit Hilfe eines ventromedial platzierten Fixateurs, alternativ bei offener Fraktur Grad II mit ESIN oder einer Kombination zu stabilisieren. Im Behandlungskonzept ist zu berücksichtigen,
Kompartmentsyndrom
Beim Kind ist das Kompartmentsyndrom die gravierendste Komplikation, die zu einer neuromuskulären Funktionsstörung führt. Wird bereits ein brennender oder pochender Schmerz angegeben, der durch das Trauma nicht zu erklären ist, muss auch bei palpablen peripheren Pulsen ein Kompartmentsyndrom angenommen werden. > Bei jedem Verdacht bei einem Patienten nach Hochrasanztrauma muss eine Druckmessung vorgenommen werden. Diese erfolgt direkt in den betroffenen Muskellogen in Höhe der Fraktur (Jäger et al. 2008).
Für die lokale Perfusion des Gewebes ist der Perfusionsdruck von entscheidender Bedeutung. Bei niedrigem mittlerem arteriellem Blutdruck ist daher der kritische Kompart-
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428
Kapitel 21 · Unterschenkel
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. Abb. 21.19a–h Offene Unterschenkelfraktur Grad II mit Defekt an der Tibia. a,b Unfallbilder. c,d Primär Stabilisierung mit einem Fixateur externe. e,f Nach Abheilung der Weichteile Umsteigen auf ESIN
21
mit Verriegelung durch End Caps. g,h Ausheilung nach Metallentfernung nach 14 Monaten
429 21.8 · Fraktur der Diaphyse (42-D)
a . Abb. 21.20 Offene Tibiafraktur Grad I im distalen Drittel mit Weichteilschaden durch Überrolltrauma (Patientin aus . Abb. 21.17, mit ESIN stabilisiert)
b
a
c . Abb. 21.22a–c Offene Unterschenkelfraktur (derselbe Patient wie in . Abb. 21.21. a Behandlung der Fraktur mit Fixateur externe. b Der ventral ausgesprengte Biegungskeil wird belassen, der Weichteildefekt vakuumversiegelt. c Anschließend Deckung mit einem ungemeshten Spalthauttransplantat
b . Abb. 21.21a,b Offene Unterschenkelfraktur mit Decollement durch Überrolltrauma. a Unfallbild. b Instabilität durch den ventral ausgesprengten Biegungskeil
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430
Kapitel 21 · Unterschenkel
. Abb. 21.23 Beim Kompartmentsyndrom des Unterschenkels müssen alle vier Kompartimente gespalten werden
mentdruck früher erreicht. Gerade beim Kind im Volumenmangelschock kann daher kein absoluter Wert für die Indikation zur Kompartmentspaltung angegeben werden. Die Mikrozirkulation in der Muskulatur sistiert, wenn der Gewebedruck in der Loge den diastolischen Blutdruck erreicht. Daher muss die Fasziotomie erfolgen, wenn der Differenzdruck zwischen Kompartmentdruck und diastolischem Druck <30 mmHg fällt (Sterk et al. 2001; Seifert et al. 2002). ! Cave Ein Kompartmentsyndrom ist bei jeder Unterschenkelfraktur möglich und kann eines oder mehrere Kompartimente betreffen. Eine irreversible Muskel- und Nervenschädigung setzt nach 5-stündiger Ischämie ein!
21
Es sind notfallmäßig alle 4 Kompartimente zu spalten. Hierzu kann eine Erweiterung der Wunde notwendig werden. Die 4 Kompartimente können von einem lateralen Zugang aus oder über eine vordere laterale und eine mediale Inzision gespalten werden (. Abb. 21.23). Jede der die 4 Kompartimente umgebenden Faszien muss inzidiert werden. In keinem Fall dürfen die Faszien und Wundränder primär verschlossen werden. Vielmehr erfolgt eine temporäre Weichteildeckung mit künstlichem Hautersatzmaterial (. Abb. 21.24). Bei größeren Hautdefekten oder Dezelerationsverletzungen kann eine vakuumassistierte Wundbehandlung angebracht sein. Wunden und Knochen sind bis zur Herstellung sauberer Verhältnisse regelmäßig im Operationssaal unter sterilen Kautelen zu versorgen.
Nach Stabilisierung der Knochen wird die Weichteiltherapie durchgeführt. Bei Verlust von Subkutangewebe kann ein Epidermisersatz mit Spalthauttransplantation unter vakuumassistierter Behandlung auch bei liegendem Fixateur externe aufgebracht werden. Bei tiefen und großen Defekten können auch beim Kind myokutane Lappen zur Deckung angewandt werden. Bereits früh müssen Eltern und Patienten über die mögliche Zeitdauer bis zur Wiederherstellung informiert werden, die beim Jugendlichen durchaus 6 Monate betragen kann.
21.8.9
Unilateraler Fixateur externe
Therapieindikationen Die dislozierte Unterschenkelfraktur mit Weichteilverletzung wird meist im Rahmen einer Mehrfachverletzung gesehen, bei der primär eine rasche Stabilisierung im Vordergrund steht. Hierfür bieten sich sowohl der unilaterale einfache oder als auch der modulare, medial platzierte Fixateur externe an. Der Fixateur externe ist auch bei geschlossenen Frakturen eine Alternative, bei denen infolge eines Schrägbruches oder eines ausgebrochenen Keiles durch die ESIN mit/ohne End Caps keine Stabilität erzielt werden kann. In diesem Fall kann auch eine Kombination aus ESIN und Fixateur genutzt werden, wobei der Fixateur nach der ersten ausreichenden Kallusformation nach 3 Wochen wieder abgebaut und durch ESIN ersetzt werden kann (. Abb. 21.25).
431 21.8 · Fraktur der Diaphyse (42-D)
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. Abb. 21.24a–c Patient mit Frakturen und Weichteiltrauma von Ober- und Unterschenkel (»floating knee«). a,b Die Femurfraktur wurde mit ESIN behandelt, die Unterschenkelfraktur mit einer Kombination ESIN und Fixateur externe. Wegen eines Kompartmentsyndroms wurde sowohl am Ober- als auch am Unterschenkel eine Fasziotomie und temporäre Deckung mit Hautersatz durchgeführt. c Spätergebnis nach einem Jahr
a
b
. Abb. 21.25a–d Offene Unterschenkelfraktur Grad II mit Weichteilschaden und Verlust des Biegungskeils. a,b Stabilisierung mit einem
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medial platzierten modularen Fixateur externe. c,d Der Fixateur externe wurde nach 3 Wochen durch ESIN ersetzt
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432
Kapitel 21 · Unterschenkel
Montage Am besten sind Tube-to-Tube-Systeme geeignet, die eine gute Manipulation der Fragmente zulassen. Zur Vermeidung von Hitzeschäden werden die Schanz-Schrauben von Hand eingebracht. 4 Bei der Montage des Fixateur externe werden die Schanz-Schrauben so eingebracht, dass ihr Abstand zur Epiphysenfuge mindestens 1 cm beträgt. Der Abstand der beiden Schrauben, die zentral im Röhrenquerschnitt verankert werden und beide Kortikales fassen müssen, soll im jeweiligen Hauptfragment so groß wie möglich sein. 4 Die Trägerstange soll parallel zur Achse der Tibia möglichst nahe an der Haut verlaufen. 4 Eine Vorspannung der beiden Schanz-Schrauben im Hauptfragment erhöht die Stabilität der Montage durch Reduzierung der Schwingung. Da die Stabilität umso besser ist, je länger die Schrauben im Knochen verlaufen, können sie in einem kurzen Hauptfragment auch schräg mit konvergierender Spitze eingebracht werden.
Die modulare unilaterale Montage, gegebenenfalls als »free pin placement«, ermöglicht auch im Notfall und bei Weichteilkompromittierung eine schnelle vorläufige Stabilisierung. Die definitive Stellungskorrektur kann nach Stabilisierung des Allgemeinzustandes erfolgen. Aber auch hier sollte bereits vor der Erstmontage des Fixateurs eine weitgehend achsen- und rotationsgerechte Einstellung der Fragmente unter Längszug erzielt werden, um später eine auftretende Bewegung der Schrauben gegen die Haut und die umgebenden Weichteile zu vermeiden. Durch eine derartige Irritation würde eine Wundsekretion unterhalten und eine PinInfektion gebahnt werden. Die Hautinzision für die SchanzSchrauben muss ausreichend lang sein. Beim Einbringen ist ein Gewebeschutz zur Weichteilschonung zu verwenden. Eine Weichteilspannung um die Schrauben am Ende der Operation ist durch Inzision zu entlasten.
Nachbehandlung
21
Schrauben und Backen sind regelmäßig zu inspizieren und gegebenenfalls nachzuziehen. Im Bereich des Sprunggelenks ist auf eine Spitzfußvermeidung durch Benutzung eines hohen Schuhschaftes oder einer Sohlenplatte, die den Fuß über einen Zügel zum Fixateur hin dorsalflektiert, zu achten. Zur besseren Pflege der Weichteile kann der Fixateur an einer Extensionsvorrichtung aufgehängt werden. Mit passiven Bewegungsübungen kann sofort begonnen werden. Je nach Allgemeinzustand wird der Patient im Gehwagen oder an Unterarmgehstützen mobilisiert. Der Fixateur ist prinzipiell primär belastungsstabil. Die Be-
lastung wird jedoch nach Frakturform und dem Schmerzempfinden des Kindes oft erst nach 2–3 Wochen begonnen und dann rasch bis zur Vollbelastung gesteigert. Eine Pinpflege, in welche die Eltern und größere Kinder eingewiesen werden, hat täglich zu erfolgen. Hierbei ist penibel darauf zu achten, dass Krusten entfernt werden, so dass sich kein Sekretverhalt bilden kann. Eventuell muss die Hautinzision noch einmal verlängert werden. Nach erster Kallusbildung wird der Fixateur in der Regel nach 3 Wochen dynamisiert, um eine verzögerte Frakturheilung zu verhindern. Bei Kindern kann die Fraktur bis zur radiologisch nachgewiesenen Konsolidation mit dem Fixateur externe ausbehandelt werden. Der Abbau erfolgt ambulant in Sedierung oder Kurznarkose. Anschließend wird Krankengymnastik und Gehschulung verordnet. Nicht selten ist die Akzeptanz eines Fixateursystems bei Eltern und Kindern gering ausgeprägt. In diesen Fällen kann nach der ersten Kallusbildung ein Verfahrenswechsel auf die ESIN erfolgen.
Komplikationen Da der Weg der Schanz-Schrauben am Unterschenkel nicht durch Weichteilgewebe verläuft, ist hier eine Pin-Trakt-Infektion in der Regel auf mangelnde Pflege zurück zu führen. Werden die Schrauben nicht regelmäßig gereinigt, kann sich die seröse Sekretion in eine putride Sektion oder über der Schraube in eine ossäre Infektion entwickeln. Dadurch würde es zu einer Lockerung der Schraube kommen. Dies ist vor allem bei der höhergradig offenen Fraktur mit ausgeprägtem Weichteilschaden zu berücksichtigen. Bei beginnender Infektion kann eine intravenöse Antibiotikatherapie eine mögliche Osteomyelitis vermeiden. Bei einer Pin-Trakt-Infektion muss die Schraube entfernt, der Schraubenkanal exkochleiert und ein Sequester entfernt werden. Die Haut wird nicht verschlossen. Die SchanzSchraube wird zur Aufrechterhaltung der Osteosynthese im gesunden Gebiet neu platziert. Aufgrund der Rigidität des Fixateur externe besteht vor allem bei intakter Fibula das Risiko einer verzögerten Knochenheilung, wenn der Patient aufgrund der Begleiterkrankungen nicht frühzeitig zu mobilisieren ist, oder wenn der Fixateur nicht dynamisiert wird. Dies kann bis zur Pseudarthrose führen, die eine Plattenosteosynthese erfordert (. Abb. 21.26). Mit dem Taylor Spatial Frame steht als Weiterentwicklung des klassischen Ilizarov-Fixateurs ein Ringfixateur zur Verfügung, der durch die Hexapodanordnung auch bei größeren kortikalen Defekten einen Längenausgleich und eine Fehlstellungskorrektur erzielen lässt (Geßmann et al. 2010). Die frakturbedingte Mehrdurchblutung und die Umbauvorgänge können zu einer Wachstumsstimulation der Fugen des betroffenen Knochens führen. Das Mehrwachs-
433 21.8 · Fraktur der Diaphyse (42-D)
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. Abb. 21.26a–e Patient aus . Abb. 21.25: Nach Sanierung der Weichteilverhältnisse erfolgte wegen verzögerter Frakturheilung im Fixateur externe ein Verfahrenswechsel auf ESIN. a,b Aufgrund der
c
verheilten Fibula weiterhin verzögerte Heilung. c,d Daher wurde nach 4 Monaten eine dynamische Kompressionsplatte eingesetzt. e Hiermit Ausheilung der Fraktur
21
434
Kapitel 21 · Unterschenkel
tum am Unterschenkel ist allerdings geringer als am Oberschenkel und beträgt meist nicht mehr als 5 mm. Dies betrifft Kinder unter 10 Jahren, während ältere Kinder eher ein leichtes Minderwachstum durch vorzeitigen Fugenschluss zeigen.
werden. Nach der ersten Kallusbildung kann der Gips nach 3–4 Wochen in die Neutralstellung gewechselt werden. Bei fehlender Retention kann eine gekreuzte K-Draht-Osteosynthese das Repositionsergebnis fixieren. Dabei ist darauf zu achten, dass die Drähte die Gegenkortikalis perforieren, da sie sich anderenfalls im Markraum verlieren können.
Ergebnisse und Prognose Die Vorteile des Fixateur externe liegen bei der 42-D/4.2 und 42-D/5.2-Fraktur, Frakturen mit Weichteilverletzungen und beim Patienten mit Polytrauma. Die durchschnittliche Zeit bis zur Konsolidation beträgt bei der offenen Grad-I-Fraktur 7,5 Wochen, bei der Grad-II-Fraktur 11 Wochen. Bei offenen Grad-III-Frakturen, denen eine schwerere Frakturform zugrunde liegt, beträgt sie 15 Wochen. In dieser Gruppe sind nicht zuletzt aufgrund des Weichteiltraumas Komplikationen wie Infektion, verzögerte Heilung und die seltene Pseudarthrose zu beobachten. Infektionen der Schanz-Schrauben sind bei sachgerechter Pflege zu vernachlässigen. Eine Achsenabweichung >5° oder eine ausgleichsbedürftige Beinlängendifferenz sind nicht zu erwarten.
21.9
Fraktur der distalen Tibiametaphyse (43-M)
Wulst- und Stauchungsfrakturen im Bereich der distalen Tibia sind häufig. Sie werden im Unterschenkelgips für 3–4 Wochen ruhig gestellt. Da kleinere Kinder eine Unterschenkelgipsschiene schnell verlieren, ist ein Oberschenkelgips vorzuziehen. Die Nähe der mit 40% am Wachstum beteiligten distalen Fugen gewährleistet bei Kindern unter 10 Jahren die spontane Korrektur einer Fehlstellung bis zu 20°, so dass eine vollständige Reposition nicht unbedingt erforderlich ist.
21.10
Besonderheiten
Fahrradspeichenverletzung Fahrradspeichenverletzungen sind infolge der Benutzung entsprechender Kindersitze seltener geworden. Sie gehen regelmäßig mit einem Weichteiltrauma einher. Eine knöcherne Verletzung ist radiologisch auszuschließen und kann auch am proximalen Unterschenkel auftreten. Das Ausmaß der Weichteilverletzung wird in den ersten 24 h unterschätzt. Kurzfristige Kontrollen sind daher notwendig (7 Kap. 26). Zur besseren Heilung wird der Unterschenkel auf einer Schiene ruhiggestellt. Eine Hauttransplantation wird jedoch selten erforderlich. »Floating knee« Sind beim »flottierenden Knie« sowohl Femur als auch Unterschenkel frakturiert, müssen beide Frakturen stabilisiert werden. Das Vorgehen richtet sich nach den Weichteilverhältnissen, so dass eine Kombination verschiedener Verfahren (ESIN und Fixateur externe) erforderlich werden kann. »Battered child« In Fällen von Kindsmisshandlung wird
bei einem Viertel der betroffenen Kinder auch eine Tibiafraktur diagnostiziert. Bei widersprüchlichen oder inadäquaten Angaben über den Unfallhergang ist daher immer an ein nicht akzidentelles Trauma zu denken. In diesem Falle sind die Patienten stationär aufzunehmen (7 Kap. 27).
Dislozierte distale Unterschenkelschaftfrakturen
21
werden in Narkose reponiert. Ist eine Retention im Gips nicht möglich, kann auch hier die ESIN erfolgen (. Abb. 21.14). Die Nägel werden bis knapp an die Epiphysenfuge platziert, deren Spitzen sollen nach dorsal zeigen. Nur bei einer sicheren Drei-Punkt-Abstützung oder einer weiten Verspreizung der Nägel im distalen Fragment ist die Osteosynthese übungsstabil. Ansonsten muss für 2–3 Wochen eine zusätzliche Gipsruhigstellung erfolgen. Bei einer offenen Fraktur wird im distalen Fragment eine Fixateur-externe-Osteosynthese vorgenommen, wobei darauf zu achten ist, dass die Fuge nicht tangiert wird (. Abb. 21.27). Besonderer Beachtung bedarf die distale Tibiafraktur infolge eines Traumas mit Dorsalflexion des Fußes: Die Tibiavorderkante wird imprimiert, die Hinterkante ist dehiszent. Hier besteht die Gefahr der Rekurvation, wenn das Sprunggelenk in Neutralstellung eingegipst wird. Dies kann durch Ruhigstellung in 20°-Plantarflexion verhindert
Stressfraktur Wird die Tibia wiederholten einseitigen
Belastungen ausgesetzt, kann es auch ohne äußere Gewalteinwirkung zu Infraktionen kommen, welche dem Patienten zunächst Schmerzen ohne radiologisches Äquivalent bereiten. Bei Jugendlichen ist meist das proximale Tibiadrittel betroffen, bei kleineren Kindern das distale Fibuladrittel. Bei negativem Röntgenbild können frühe Veränderungen im MRT zu erkennen sein. Die Behandlung kann symptomatisch mit Entlastung oder Orthese bis zur Schmerzfreiheit nach 4 Wochen erfolgen. Neurologische Beeinträchtigung Patienten mit neuro-
logischen Beeinträchtigungen der unteren Extremität (Spina bifida, Tetraspastik) werden mit auffälligen Veränderungen wie lokaler Schwellung, Überwärmung, Rötung oder Unruhezuständen von den Eltern oder Betreuern vorgestellt, ohne dass über ein Trauma Angaben gemacht
435 21.10 · Besonderheiten
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. Abb. 21.27a–e Distale Unterschenkelfraktur. a,b Unfallbilder. c,d Wegen des Weichteilschadens Stabilisierung mit dem modularen Fixateur externe. Wegen des kurzen distalen Fragments wird eine
c
Schanz-Schraube in der Metaphyse, die zweite in der Epiphyse platziert, ohne die Fuge zu tangieren. e Spätergebnis nach 1 Jahr
21
436
Kapitel 21 · Unterschenkel
werden können. Der klinische Befund kann mit einer Osteomyelitis zu verwechseln sein. Nicht selten fallen derartige Störungen bei oder nach krankengymnastischer Behandlung auf. Das Röntgenbild zeigt eine Osteopenie. In der Regel kommt es zu einer Infraktion, die konservativ behandelt werden kann. Da diese Patienten in der Regel die Extremität nicht aktiv belasten, ist eine Ruhigstellung auf einer Schiene oder besser mit einem abnehmbaren Knietutor bis zur ersten Kallusformation über 3 Wochen ausreichend, um das Ausmaß der Osteopenie nicht zu vergrößern. Oft reicht auch die vorhandene Orthese als Ruhigstellung aus. Die angrenzenden Gelenke können weiter krankengymnastisch beübt werden.
Literatur
21
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22
Sprunggelenk J. Suß
– 438
22.1
Frakturen des Sprunggelenks
22.1.1 22.1.2 22.1.3 22.1.4 22.1.5 22.1.6 22.1.7 22.1.8 22.1.9 22.1.10 22.1.11
Klassifikation, Häufigkeit und Ursachen – 438 Klinik – 439 Erstversorgung – 440 Diagnostik – 440 Therapieziel – 441 Therapieindikationen – 441 Konservative Therapie – 441 Operative Therapie – 443 Kontrollen und Nachbehandlung – 447 Ergebnisse und Prognosen – 449 Intra- und postoperative Komplikationen – 449
22.2
Sprunggelenkdistorsion – Bandverletzungen
22.2.1 22.2.2 22.2.3 22.2.4 22.2.5 22.2.6
Klassifikation, Häufigkeit und Ursachen Diagnostik – 451 Therapieziel – 451 Therapieindikationen – 451 Konservative Therapie – 451 Operative Therapie – 453 Literatur
– 453
– 451
– 451
438
Kapitel 22 · Sprunggelenk
. Tab. 22.1 Klassifikation der Sprunggelenksfrakturen
Besonderheiten von Sprunggelenksverletzungen bei Kindern 4 Der Kapsel-Band-Apparat ist kräftig. Daher sind Bandverletzungen im Kindesalter eine Seltenheit, es kommt eher zum knöchernen Bandausriss. 4 Eine Verletzung der Epiphysenfuge an der distalen Tibia kann in 1/3 der Fälle eine Wachstumsstörung zur Folge haben. 4 Frakturen verlaufen – außer bei den Übergangsfrakturen der Adoleszenten – selten in das obere Sprunggelenk, so dass kaum eine Gefahr für eine bleibende Beeinträchtigung durch eine inkongruente Gelenkfläche besteht. 4 In der Zeit des asymmetrisch fortschreitenden Fugenschlusses, der beim Mädchen um das 14. Lebensjahr, beim Jungen um das 15. Lebensjahr stattfindet, kommt es zu »Übergangsfrakturen«.
22.1
Frakturen des Sprunggelenks
22.1.1
Klassifikation, Häufigkeit und Ursachen
Klassifikation Die Frakturen des Sprunggelenks werden nach der AO-PAEG-Klassifikation eingeteilt. Diese ist in . Tab. 22.1 den bekannten Einteilungen von Salter und Harris sowie Aitken gegenübergestellt. 43-E/1- und -2-Frakturen werden durch Außenrotation, Abduktion und Plantarflexion verursacht und betreffen sowohl die Tibia als auch die Fibula. Bei allen Frakturen müssen Wachstumsstörungen in Betracht gezogen werden.
22
a
b
AO-PAEG
SalterHarris
Aitken
Andere
43-E/1
I
43-E/2
II
1
43-E/3
III
2
Malleoloarfraktur
43-E/4
IV
3
Malleolarfraktur
43-E/5
Tillaux-Fraktur, Two-plane-Fraktur
43-E/6
Tri-plane-Fraktur
43-E/7
Bandausrisse
43-E/8
Flake-Fraktur
43-E/9
V
Andere
Eine Besonderheit stellen die Übergangsfrakturen dar (43-E/5 und /6). Der Verschluss der Wachstumsfuge beginnt im Zentrum der medialen Tibia (. Abb. 22.1). Er dauert 18 Monate. Bei einem Außenrotations-Trauma kommt es im noch offenen Fugenanteil durch Zug der Syndesmose zu einer Lösung des ventralen lateralen Epiphysenquadranten, der sich als letztes schließt. Die Frakturenergie wird in das Gelenk »abgeleitet«, der Quadrant bricht von dem bereits geschlossenen Fugenbereich ab (43-E/5, Two-plane- oder Tillaux-Fraktur). Die Fraktur entspricht einem knöchernen Syndesmosenausriss, das Fragment dreht nach lateral heraus (. Abb. 22.2). Kommt es zu einer Lösung der Fuge im lateralen Anteil mit zusätzlichem Ausbruch eines dorsalen Keils aus der Metaphyse, handelt es sich um eine Tri-plane-Fraktur (43-
c
d
. Abb. 22.1a–d Zeitlicher Ablauf des Fugenschlusses an der distalen Tibia: Er beginnt zentral (a), schreitet nach medial (b) fort, dann nach lateral (c) bis zum vollständigen Verschluss (d)
H.G. Dietz et al. (Hrsg.), Praxis der Kinder-und Jugendtraumatologie, DOI 10.1007/978-3-642-12935-3_22, © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2011
439 22.1 · Frakturen des Sprunggelenks
. Abb. 22.2 Anatomie der Two-plane-Fraktur im ventralen lateralen Quadranten bei bereits geschlossener medialer und noch offener lateraler Fuge
Jedoch betreffen 1/3 aller Epiphysenverletzungen den Bereich des Sprunggelenks. Der Altersgipfel liegt zwischen dem 8. und 15. Lebensjahr.
Ursachen
a
b
. Abb. 22.3a,b Tri-plane-I-Fraktur mit 2 (a) und Tri-plane-II-Fraktur mit 3 Fragmenten (b) (Lynn 1972)
E/6). Die Tri-plane-I-Fraktur besteht aus einem Fragment, sie zieht in der sagittalen Ebene (Volkmann) bis zur Fuge, auf der Höhe der Fuge verläuft sie nach ventral und bricht dann ins Gelenk, wobei der laterale ventrale Quadrant wie bei der Tillaux-Fraktur beteiligt ist. Es resultiert eine senkrechte Frakturfläche epiphysär, eine waagrechte auf Fugenhöhe und erneut eine senkrechte metaphysär (. Abb. 22.3a). Bei der Tri-plane-II-Fraktur ist das Volkmann-Dreieck vollständig bis in das Gelenk ausgebrochen, es erreichen zwei Frakturen die Gelenkfläche (. Abb. 22.3b). Die Pilontibial-Fraktur des Heranwachsenden zieht durch die geschlossene Fuge ins Gelenk. Sie ist selten. Am Malleolus lateralis kommen beim Kind durch den festen Bandapparat eher kartilaginäre Avulsionsverletzungen oder knöcherne Bandausrisse, selten Epiphysenlösungen oder Außenknöchelfrakturen vor. Isolierte distale metaphysäre Fibulafrakturen sind selten. Zusätzliche Ossifikationszentren dürfen nicht mit einer Fraktur verwechselt werden. Isolierte Frakturen des Malleolus medialis sind seltener, es handelt sich dann um typische SalterHarris-3- oder -4-Frakturen.
Häufigkeit Der Anteil der Frakturen des distalen Unterschenkels inklusive des Sprunggelenks liegt bei 4,9 - 8% aller Frakturen.
Distorsionstraumen und Stürze aus Höhen über 1,5 m stellen bei den Kindern die Hauptursache für Frakturen und knöcherne Bandausrisse dar. Rund 60% der Sprunggelenksverletzungen sind Sportverletzungen. Bei 80% aller Bandverletzungen vor dem 12. Lebensjahr kommt es aufgrund des kräftigen Bandapparates zu periostalen, chondralen oder ossären Ausrissen. Verkehrsunfälle spielen eine untergeordnete Rolle. Ursachen bei Sprunggelenksverletzungen 4 Supinations-, Eversions-, Pronations-, Abduktions-, Adduktions-Trauma im oberen Sprunggelenk 4 Sport- oder Freizeitverletzung beim Laufen auf unebenem Grund 4 Gelenkluxation 4 Selten direktes Trauma
22.1.2
Klinik
Wichtig sind Angaben über den Unfallhergang (Art des Traumas, äußere Einflüsse, Sportart). Schmerzen und Schwellung führen zur frühzeitigen Vorstellung in der Ambulanz. Eine Belastung des Fußes ist unmöglich. Handelt es sich um eine distale Tibiafraktur, besteht eine deutliche, druckdolente Schwellung über dem distalen Unterschenkel. Bei einer Verletzung des Außen- oder Innenknöchels imponiert im betroffenen Bereich eine ausgeprägte lokale Schwellung. Diese kann Folge eines Weichteilhämatoms oder eines Gelenkergusses sein. Die Klinik lässt im Kindesalter keine sichere Differenzierung zu. Besteht eine gute Compliance des Kindes und der Eltern, kann nach den »Ottawa Ankle Rules« vorgegangen werden:
22
440
Kapitel 22 · Sprunggelenk
4 Ist das Kind in der Lage, innerhalb der 1. Stunde nach der Verletzung und bei der Untersuchung in der Ambulanz 4 Schritte zu gehen, 4 ist kein Druckschmerz entlang des distalen hinteren Randes und/oder der Spitze des Außenknöchels und 4 ist kein Druckschmerz entlang des distalen hinteren Randes der Tibia und/oder der Spitze des Innenknöchels auslösbar, kann mit einer Sensitivität von 93–100% eine Fraktur ausgeschlossen werden und es ist eine Sprunggelenkdistorsion anzunehmen (Chandra u. Schafmayer 2001) (7 s. unten). Bei einer Fraktur ist die Klinik (. Tab. 22.2) in der Regel so eindeutig, dass sich eine schmerzhafte Untersuchung auf Vorliegen einer Bandinstabilität oder Aufklappbarkeit des Gelenks verbietet (. Abb. 22.4).
Bei einer offensichtlichen Luxation oder stark dislozierten Fraktur kann notfallmäßig auch eine Reposition durch axialen Zug am Fersenbein zur Schonung des Gewebes (Haut, Nerven, Gefäße) mit anschließender Lagerung in einer Vakuumschiene notwendig werden. Eine offene Fraktur wird steril abgedeckt. Bei einer Operationsindikation wird der Zeitpunkt in Abhängigkeit von den Begleitverletzungen und dem Weichteilschaden festgelegt. Kann eine primäre Versorgung aufgrund einer massiven Weichteilschwellung nicht durchgeführt werden, wird die Extremität auf einer Schiene hochgelagert. Beim Weichteilschaden kann zur besseren Pflege ein Fixateur externe angelegt werden. Die Primärstabilisierung ist anzustreben und in aller Regel möglich.
22.1.4 22.1.3
Erstversorgung
Die Erstversorgung besteht in der Hochlagerung der betroffenen Extremität, einer adäquaten Ruhigstellung mit Hilfe einer fixierten Lagerung und der Applikation von Schmerzmitteln sowie lokaler Kühlung.
. Tab. 22.2 Klinische Untersuchung Schmerz
Sprunggelenk, Fuß, Unterschenkel
Schwellung
Sprunggelenk, Fuß, Unterschenkel (Kompartmentsyndrom)
Haut
Hämatom, Spannungsblase, Schürfwunde, Hautkontusion, offene Verletzung
Funktion
Belastbarkeit, Bewegungsstörung, periphere Durchblutung und Sensibilität
Fehlstellung
Dislokation, Luxation, Instabilität
Diagnostik
Die Diagnostik (. Tab. 22.3) erfolgt nach Gabe von Analgetika bei weitgehender Schmerzfreiheit. Die Standardbildgebung des Sprunggelenks besteht in Röntgenaufnahmen des oberen Sprunggelenks seitlich und a.p. mit 15° Innenrotation. Bei Unklarheiten werden zusätzlich Schrägaufnahmen durchgeführt. Indikationen für die Röntgenaufnahme sind: 4 Unmöglichkeit des Auftretens 4 Schmerzangabe über den Malleolen 4 Belastungsschmerz 4 schmerzhafte Schwellung Die Einsicht ins Gelenk erlaubt bei den Übergangsfrakturen eine bessere Beurteilung der seitlichen Fugenanteile. Ein sekundäres Ossifikationszentrum kann leicht mit einer Fraktur verwechselt werden. Hier ist der klinische Befund zu beachten. Ebenso können gespaltene Fugen eine Fraktur vortäuschen. Bei Übergangsfrakturen ist eine weitergehende Diagnostik durch ein CT nützlich. Dabei sollte vom Radiologen eine sagittale und koronare 2D-Rekonstruktion erbeten werden, um den inneren Frakturverlauf und die Gelenkflächen besser beurteilen zu können. Ein MRT hat in der
. Tab. 22.3 Bildgebende Diagnostik des Sprunggelenks Röntgen oberes Sprunggelenk seitlich und a.p. mit 15° Innenrotation, ggf. Schrägaufnahmen
22
. Abb. 22.4 Klinisches Bild einer Sprunggelenksfraktur bei einem 8-jährigen Mädchen durch Sturz beim Eislaufen
CT (evtl. mit 2D-Rekonstruktion)
Bei E/5- oder E/6-Frakturen
MRT
Beurteilung von Ligamentoder Knorpelläsionen
Sonographie
Weichteile, Ligamente
441 22.1 · Frakturen des Sprunggelenks
43-E/1- und -2-Frakturen können überwiegend konservativ behandelt werden. Nicht dislozierte Frakturen werden ruhiggestellt, dislozierte müssen reponiert werden. Bei 43-E/3- und -4-Frakturen ist das Ausmaß der Dislokation entscheidend, ob konservativ oder operativ vorgegangen werden kann. Beträgt die Dislokation <2 mm, so kann zunächst konservativ behandelt werden. Nach 1 Woche erfolgt eine radiologische Stellungskontrolle ohne Gips. Liegt eine Dislokation >2 mm vor, wird die Fraktur reponiert und fixiert. Operationsindikation 43-E/2-, -3- und -4-Fraktur 4 4 4 4
Offene Fraktur Nicht retinierbare Fraktur Weichteilschaden 2 und 3° Dislokation >2 mm
Übergangsfrakturen können lediglich dann konservativ versorgt werden, wenn die Dislokation <2 mm beträgt. Eine Dislokation >2 mm muss zur Wiederherstellung einer regelrechten Gelenkanatomie operativ versorgt werden.
. Abb. 22.5 Das MRT 6 Monate nach Crash-Fraktur (43-E/9) zeigt den prämaturen Verschluss des medialen Fugenanteils
> Die richtig wiederhergestellte Achse und Rotation des Sprunggelenks sind für den Erfolg der Therapie entscheidend.
Akutdiagnostik keine Bedeutung, ist jedoch für die Beurteilung der Schädigung der Wachstumsfuge 6 Monate nach dem Trauma hilfreich (. Abb. 22.5).
Eine dringliche Operationsindikation besteht bei schweren Verletzungen wie offenen Frakturen, Gefäß- und Nervenschäden sowie bei Frakturen mit schweren Weichteilschäden. Die Entwicklung eines Kompartmentsyndroms stellt eine Notfallindikation dar.
22.1.5
Therapieziel
Das Therapieziel besteht darin, durch exakte Reposition und Rekonstruktion der Gelenkfläche die volle Funktionsfähigkeit des Sprunggelenks wiederherzustellen und Spätkomplikationen wie posttraumatische Fehlstellung, Funktionseinschränkung, verbleibende Instabilität oder eine Arthrose zu vermeiden. Wachstumsstörungen sind zum Teil schicksalshaft. Zum anderen können sie aber auch iatrogen durch brüske Repositionsmanöver und/oder mehrfache/schlechte Implantatplatzierung bedingt sein.
22.1.6
Therapieindikationen
Die Möglichkeiten der konservativen und operativen Behandlung, die jeweiligen Alternativen, die Operationsrisiken und die Prognose werden mit den Eltern und dem verständigen Jugendlichen besprochen. Auch die Notwendigkeit der Nachbehandlung muss erklärt werden.
22.1.7
Konservative Therapie
Alle nicht dislozierten 43-E/1- und -2-Frakturen können konservativ behandelt werden. Dies schließt minimal dislozierte Übergangs- und Innenknöchelfrakturen <2 mm Dehiszenz ein. Die Ruhigstellung erfolgt im Unterschenkelgips (Gipsschiene, Spaltgips) unter Vermeidung einer Rotationsfehlstellung (. Abb. 22.6). Nach Abschwellung wird der Gips nach 5–7 Tagen zirkuliert. Eine sekundäre Dislokation wird mit einer Röntgenaufnahme des Sprunggelenks in 2 Ebenen ausgeschlossen. Dislozierte Epiphysenlösungen mit oder ohne metaphysärem Keil werden unter Bildwandlerkontrolle in Narkose im Operationssaal reponiert. Die in der Regel nach vorne versetzte Metaphyse muss nach dorsal gedrückt werden. Dies erfolgt unter Relaxierung und bei Zug und Gegenzug, um die Fraktur zu distrahieren. Auf diese Weise wird die Fuge nicht zusätzlich traumatisiert und auch keinem weiteren Risiko einer Wachstumsstörung ausgesetzt.
22
442
Kapitel 22 · Sprunggelenk
a
b
c
d
. Abb. 22.6a–d 43t-E/1 und 43f-M/2-Fraktur. a,b Ausgangsbefund. c,d Ruhigstellung im Unterschenkel-Kunststoffverband
22
443 22.1 · Frakturen des Sprunggelenks
. Tab. 22.4 Ruhigstellung der Sprunggelenksfraktur im Unterschenkelgips
43-E/1
Kirschner-Drähte
43-E/2
Schraubenosteosynthese, Kirschner-Drähte
43-E/3
Schraubenosteosynthese
43-E/4
Schraubenosteosynthese, Kirschner-Drähte
43-E/5
Schraubenosteosynthese
4–6 Wochen
43-E/6
Schraubenosteosynthese
4–6 Wochen
43-E/7
Schraubenosteosynthese
Fraktur
Dauer der Ruhigstellung
43-E/1
4 Wochen
43-E/2
4 Wochen
43-E/3
4 Wochen
43-E/4
4 Wochen
43-E/5 43-E/6
Die Retention erfolgt durch die Anlage eines gespaltenen Gips- oder Kunststoffverbandes. Nach Rückgang der Weichteilschwellung wird der Gips zirkuliert. Zur Überprüfung der achsengerechten Reposition und zum Ausschluss einer sekundären Dislokation erfolgt noch in Narkose eine Röntgenkontrolle in 2 Ebenen. Bei ungenügender Stabilität muss operativ vorgegangen werden. Die Dauer der Ruhigstellung beträgt 4–6 Wochen (. Tab. 22.4). > Lässt sich das Repositionsergebnis absehbar nicht im Gips halten, wird die Fraktur in der gleichen Sitzung stabilisiert.
22.1.8
. Tab. 22.5 Osteosynthese bei der Sprunggelenksfraktur
ren Kind wird mit einer parallel zu der Fuge eingebrachten epiphysären Kleinfragment-Zugschraube fixiert. Diese darf die Wachstumsfuge nicht kreuzen. Ein größerer metaphysärer Keil wird ggf. mit einer zweiten Schraube fixiert (. Abb. 22.8). Eine durch Außenrotation verursachte dislozierte Schrägfraktur der distalen Fibula in Höhe der Syndesmose wird lediglich bei adoleszenten Patienten mit einer Drittelrohr-Platte stabilisiert. Bei einer Syndesmosenruptur wird eine Stellschraube eingebracht. Im Allgemeinen benötigen jedoch Fibulafrakturen bei Kindern keine Versorgung, da sie nach Reposition und/oder Fixation der Tibia korrekt stehen. Hier wird tendenziell zu viel Aufwand betrieben.
Operative Therapie Übergangsfrakturen (43-E/5-6)
Epiphysenlösungen (43-E/1-2) Die operative Versorgung erfolgt in Allgemeinanästhesie und Rückenlage. Durch die Beugung im Kniegelenk kann das Repositionsmanöver erleichtert werden. Die Retention wird bei gut reponierten Frakturen durch das perkutane Einbringen von Kirschner-Drähten erzielt. Dies gilt vor allem für die 43-E/1-Frakturen, die mit zwei gekreuzten oder vom Innenknöchel eingebrachten divergierenden K-Drähten versorgt werden (. Abb. 22.7). Bei 43-E/2Frakturen mit einem größeren metaphysären Keil kann eine von ventral eingebrachte durchbohrte KleinfragmentZugschraube das dorsale metaphysäre Dreieck heranziehen (. Tab. 22.5, . Abb. 22.8).
Epiphysenfrakturen (43-E/3-4) Bei Salter-Harris 3- und -4-Frakturen des Innenknöchels gelingt oft die perkutane Reposition nicht, da Interponate vorliegen. Die Gelenkfläche und die Fuge müssen exakt reponiert werden. Der Zugang am Innenknöchel erfolgt antero- oder posteromedial. Abhängig von der Skelettreife genügt beim kleinen Kind eine Fixation mit 2 parallel, gekreuzt oder divergierend eingebrachten Kirschner-Drähten. Diese müssen die Gegenkortikalis fassen. Beim größe-
Bei einer 43E-5-Fraktur (Two-plane-/Tillaux-Fraktur) kann bei geringer Dislokation versucht werden, mit 1–2 kräftigeren Kirschner-Drähten das Fragment geschlossen zu reponieren und die Drähte über den Frakturspalt einzubringen (. Abb. 22.10a,b). Der Gewindedraht für die Lochschrauben ist zu dünn und hierfür nicht geeignet. Bei einer persistierenden Stufenbildung erfolgt über einen antero-lateralen Zugang die Schraubenosteosynthese (. Abb. 22.10c). Der Versuch einer indirekten Verschraubung vom Innenknöchel aus gelingt selten, da das Fragment herausgedreht ist. Der direkte Zugang von ventral lateral erlaubt die Platzierung des Führungsdrahtes exakt im rechten Winkel zur Frakturfläche (. Abb. 22.11). Die komplexe 43-E/6-Fraktur (tri-plane) verläuft in den drei Ebenen: sagittal, transversal und koronar. Bei einer Dislokation des Fragmentes >2 mm wird durch einen ventrolateralen Zugang ein Interponat beseitigt und das metaphysäre Fragment herangezogen (Tri-plane-Fraktur I, . Abb. 22.12a). Dann wird das epiphysäre Fragment reponiert und mit einer durchbohrten Kleinfragment-Zugschraube fixiert (. Abb. 22.12b). Manchmal kann es auch sinnvoll sein, zunächst über einen Zugang wie bei der
22
444
Kapitel 22 · Sprunggelenk
a
b
c
d
. Abb. 22.7a–d 43t-E/2 mit 42f-D/4 und 43f-M/2-Fraktur. a,b Ausgangsbefund. c,d Geschlossene Reposition und Osteosynthese mit 2 Kirschner-Drähten. Diese sollen divergierend von einer Seite oder
22
gekreuzt von beiden Seiten eingebracht werden. Ruhigstellung im Unterschenkel-Kunststoffverband
445 22.1 · Frakturen des Sprunggelenks
a
b
c
d
. Abb. 22.8a–d 43t-E/2- und 43f-M/3- Fraktur. a,b Unfallbild. c,d Nach geschlossener Reposition und von ventral percutan eingebrachter Kleinfragment-Zugschraube. Die Fibula steht korrekt
22
446
Kapitel 22 · Sprunggelenk
a
b
c
d
. Abb. 22.9a–d 43t-E/4-Fraktur. a,b Ausgangsbefund. c,d Reposition der Fraktur. 2 parallel eingebrachte Schrauben meiden die Epiphysenfuge
22
447 22.1 · Frakturen des Sprunggelenks
a b
c
. Abb. 22.10a–c Technik der Reposition der Two-plane-Fraktur. a,b Perkutane Reposition mit Hilfe von 2 Kirschner-Drähten (a), die über den Frakturspalt platziert werden (b). c Gelingt keine geschlos-
a
sene Reposition, wird offen reponiert und das Fragment mit einer Schraube über den Führungsdraht fixiert
b
c
. Abb. 22.11a–c Two-plane-Fraktur. a Bestätigung der Dislokation im CT. b,c Offene Reposition mit Zugschraubenosteosynthese a.p. (b) und seitlich (c)
Two-plane-Fraktur zunächst epiphysär zu fixieren, und anschließend über eine Stichinzision eine metaphysäre Schraube einzubringen. Bei der Tri-plane-II-Fraktur wird das dorsale Fragment möglichst über den initialen Zugang mit einem Häkchen reponiert und mit einer oder zwei interfragmentären Zugschrauben befestigt (. Abb. 22.13). Die Schraube darf bei dieser Fraktur die Fuge kreuzen und nach dorsomedial und kranial laufen.
a
b
. Abb. 22.12a,b Technik der Reposition der Tri-plane-II-Fraktur. Es ist oft leichter, das metaphysäre Fragment mit 1–2 von ventral eingebrachten Schrauben zu fixieren (a) und dann das epiphysäre Fragment exakt zu reponieren (b)
22.1.9
Kontrollen und Nachbehandlung
Die Ruhigstellung im Unterschenkelgips bei konservativer Behandlung dauert je nach Alter und Fraktur 3–6 Wochen, in den ersten 3–4 Wochen in Entlastung an Unterarmgeh-
22
448
Kapitel 22 · Sprunggelenk
a
b
c
d
. Abb. 22.13a–d Dislozierte Tri-plane-II-Fraktur. a,b Das CT zeigt die in 3 Ebenen dislozierte Fraktur. c,d Offene Reposition und Zugschraubenosteosynthese a.p. (c) und seitlich (d)
22
449 22.1 · Frakturen des Sprunggelenks
stützen. Vor der Freigabe der Belastung (Beginn mit 20 kg Teilbelastung) erfolgt die gipsfreie radiologische Konsolidationskontrolle. Danach beginnt das Kind selbsttätig mit der Spontanmobilisation. Weitere Kontrollen zum Ausschluss einer Wachstumsstörung erfolgen 1 und 2 Jahre nach dem Trauma. Durch die operative Therapie wird mit Ausnahme der Kirschner-Drahtosteosynthese eine Bewegungsstabilität erreicht, so dass in allen anderen Fällen auf eine Ruhigstellung verzichtet werden kann, sobald das Kind schmerzfrei ist. Bei zu früher Belastung besteht jedoch die Gefahr des Materialausbruchs und damit die Notwendigkeit der erneuten Operation. Ein minimal belastender Gang an Unterarmgehstützen mit einem normalen Gangrhythmus und Abrollen des Fußes (»Sohlenkontakt«) sowie Bewegung im Knie- und Hüftgelenk werden eingeübt. Eine entsprechende Schulung wird zusammen mit den Physiotherapeuten durchgeführt, so dass sich die Patienten selbstständig bewegen können. Sind die Kinder noch zu klein für Unterarmgehstützen oder liegen weitere Verletzungen vor (zusätzliche Armfraktur), kann ein Rollstuhl verordnet werden. Radiologische Kontrollen erfolgen nach 4 (Kleinkinder) oder 6 (große Kinder) Wochen. Die Ruhigstellung bei Kirschner-Drahtosteosynthese kann nach der radiologischen Konsolidation beendet werden. Kleine Kinder mobilisieren sich im Anschluss spontan. Bei großen Kindern kann manchmal die Schulung des vollbelastenden Ganges notwendig sein. Die Metallentfernung wird nach 4 (K-Draht) oder 12 (Schraube) Wochen ambulant durchgeführt. Klinische Kontrollen der Epiphysenverletzungen erfolgen bis zu 2 Jahre nach dem Trauma, bei Achsenfehler oder Beinlängendifferenz bis zum Wachstumsabschluss. Eine Röntgenkontrolle ist bei auffälligen Befunden durchzuführen (. Tab. 22.6).
. Tab. 22.6 Nachkontrollen nach Sprunggelenksfraktur Fraktur
Zeitraum
43-E/1
½-jährlich – 2 Jahre
43-E/2
½-jährlich – 2 Jahre
43-E/3
½-jährlich – 2 Jahre
43-E/4
½-jährlich – 2 Jahre
43-E/5
¼-jährlich bis freie Funktion
43-E/6
¼-jährlich bis freie Funktion
Bei Achsenfehlern erfolgt die Kontrolle bis zum Wachstumsabschluss
22.1.10
Ergebnisse und Prognosen
Trotz anatomisch korrekter Reposition, einer guten Retention und einer physiotherapeutisch unterstützten Mobilisation bei großen Kindern kann es in einem Drittel der Fälle zu Wachstumsstörungen kommen. Daher sind ambulante Nachkontrollen bis zu zwei Jahre nach dem Frakturereignis vorzunehmen, bei pathologischen Befunden bis zum Abschluss des Wachstums. Mögliche Wachstumsstörungen können einen hemmenden oder stimulativen Charakter haben. Bei jungen Kindern erfolgt eher eine Stimulation der Fuge mit Mehrwachstum, bei älteren Kindern ein vorzeitiger Fugenschluss mit Beinlängenverkürzung. Therapeutisch können diese Veränderungen nicht beeinflusst werden. Wichtig ist die exakte Gelenkachse. Eine Seitendifferenz bis 2 cm kann durch eine Einlegesohle ausgeglichen werden. Eine zwischenzeitlich auftretende Valgusstellung kann durch das untere Sprunggelenk kompensiert und im weiteren Wachstum spontan korrigiert werden. Wachstumsstörungen im Sinne eines vorzeitigen Verschlusses der Fuge können bei der 43-E/4- und Crash-Fraktur auftreten. Sie werden jedoch auch nach Epiphysenlösungen beobachtet. Sie kommen insgesamt in bis zu 30% der OSG-Frakturen vor, die Häufigkeit ist abhängig von der residuellen Dislokation. Iatrogene Ursachen (brüske Reposition, mehrfache Bohrungen, fugenkreuzende Schrauben) sind ebenfalls relevant. Bei den Übergangsfrakturen besteht bei abgeschlossenem Wachstum das Risiko einer Arthrose durch belassene Gelenkstufen.
22.1.11
Intra- und postoperative Komplikationen
Die offene Reposition und operative Stabilisierung erfolgen im Idealfall, bevor eine ausgeprägte Schwellung auftritt, ansonsten müssen zuvor abschwellende Maßnahmen durchgeführt werden. Die Wundränder sind sorgfältig und spannungsfrei zu verschließen. Ein Wundhämatom muss drainiert werden. Das Risiko der Übergangsfraktur besteht in der Entwicklung einer Sprunggelenksarthrose, wenn keine genaue Wiederherstellung der Gelenkflächen erfolgt. Eine Thrombose oder Embolie ist im Kindesalter extrem selten. Jugendliche ab Beginn der Pubertät, bei denen eine Operation oder Ruhigstellung erforderlich ist, erhalten eine entsprechende Prophylaxe. Eine schwerwiegende Komplikation ist die Ausbildung eines Kompartmentsyndroms. Es kann als direkte Folge des Traumas auftreten oder aber auch durch einen zu eng angelegten Gipsverband verursacht werden. Vor allem bei
22
450
Kapitel 22 · Sprunggelenk
a
c b
e
22
. Abb. 22.14a–e Crash-Fraktur (43-E/9) der distalen Tibia. a,b Ausgangsbefund. Das MRT e nach 6 Monaten zeigt eine beginnende Knochenbrücke medial. c,d 2 Jahre nach dem Trauma: Beschwerden
d wegen zunehmender Varisierung aufgrund eines Wachstumsstillstands im Bereich der medialen Fuge bei unvermindertem lateralem Wachstum
451 22.2 · Sprunggelenkdistorsion – Bandverletzungen
Erstanlage des Gipses sind die Verbände vollständig aufzuschneiden. Beim Verdacht auf ein Kompartmentsyndrom ist wie bei der Schaftfraktur vorzugehen. Ein prämaturer Fugenschluss kann zu asymmetrischem Wachstumsstillstand und zu Achsenfehlstellungen führen. Es fusioniert meist der mediale Fugenanteil, so dass es durch das Wachstum im lateralen Anteil der Tibiafuge und der Fibulafuge zur zunehmenden Varusbildung kommt (. Abb. 22.14). Diese Deformität ist beim jungen Patienten ausgeprägter als beim älteren. Wenn weniger als 40% der Fuge fusioniert sind, kann versucht werden, die knöcherne Brücke zu beseitigen und durch eine Fettplombe, welche eine neue Knochenbrücke verhindern soll, zu ersetzen (. Abb. 22.15). Nach dem Fugenschluss bietet sich alternativ die aufklappende mediale Osteotomie an.
22.2
Sprunggelenkdistorsion – Bandverletzungen
22.2.1
Klassifikation, Häufigkeit und Ursachen
Eine Bandverletzung ist verantwortlich für ca. ein Drittel der Vorstellungen in einer kinderchirurgischen Ambulanz bei Verletzungen der unteren Extremität. In 85% ist eine Supinations-Adduktionsverletzung ursächlich. Überwiegend ist das Ligamentum fibulotalare anterius, deutlich weniger das Ligamentum fibulocalcaneare betroffen. Eine Verletzung der anderen Bänder ist die Ausnahme. Das klinische Bild reicht vom humpelnden Gang über Druckschmerzhaftigkeit im Bereich des Malleolus lateralis bis hin zur massiven Schwellung und Belastungsunfähigkeit. Differenzialdiagnostisch müssen sämtliche Frakturen dieser Region (s. oben) in Betracht gezogen und von Bandverletzungen abgegrenzt werden. Da die bisher in derartigen Fällen routinemäßig angeordnete Röntgenaufnahme nur in 9–17% eine Fraktur nachweist, ist zur Vermeidung unnötiger Röntgenstrahlen und langer Wartezeiten bei Kindern mit einer guten Compliance ein Vorgehen entsprechend der »Ottawa Ankle Rules« (7 Abschn. 22.1.2) sinnvoll, wenn sie in der Kontrolle des Behandlers verbleiben. 4 Besteht eine Schmerzhaftigkeit in der Malleolengegend, 4 sind die Kinder in der Lage, 4 Schritte zu laufen, und 4 besteht keine Druckschmerzhaftigkeit über den distalen Knochenabschnitten, spricht dies gegen eine Fraktur und für eine Bandläsion. Die Eltern müssen jedoch darauf hingewiesen werden, dass bei Beschwerdepersistenz oder -verschlechterung
innerhalb der ersten Woche eine Wiedervorstellung erfolgen muss. Dabei werden sich weitere diagnostische (Röntgen, MRT s. unten) und therapeutische Konsequenzen ergeben.
22.2.2
Diagnostik
Lassen die »Ottawa Ankle Rules« eher eine Fraktur vermuten, wird eine Röntgenaufnahme des Sprunggelenks in 2 Ebenen veranlasst, um einen knöchernen Bandausriss auszuschließen. Gehaltene Aufnahmen sind wegen der enormen Schmerzbelastung und der fehlenden therapeutischen Konsequenz obsolet. Als schnell zu handhabende und jederzeit verfügbare Untersuchungsmethode kann die Sonographie eingesetzt werden. Ihr Vorteil liegt in der guten Darstellbarkeit der Innen- und Außenbänder. Sie setzt jedoch einen erfahrenen Untersucher voraus. Aufgrund der bestehenden Schmerzen ist die Compliance der Kinder oft eingeschränkt. Nicht alle knöchernen Läsionen und Verletzungen der Fugen lassen sich durch sie ausschließen. Die MRT als nichtinvasive bildgebende Untersuchungsmethode ist ein wichtiger Bestandteil in der Diagnostik von Pathologien des Muskuloskelettalsystems. Der gute Weichteilkontrast ermöglicht die Diagnose auch kleinster Knorpel- und Bandläsionen. Die hohe Sensitivität für Knochenmarködeme erlaubt die Diagnostik von Läsionen, die bei den konventionellen Untersuchungsmethoden nicht erkannt werden können (Nierhoff u. Ludwig 2006). Sie ist jedoch nicht jederzeit einsetzbar, zeitintensiv und teuer. Daher bleibt sie dem gezielten Einsatz vorbehalten (s. unten).
22.2.3
Therapieziel
Das Ziel besteht darin, eine Fraktur nicht zu übersehen, den Akutschmerz zu behandeln, und eine Instabilität des Gelenkes zu verhindern.
22.2.4
Therapieindikationen
Eine Bandverletzung wird konservativ behandelt.
22.2.5
Konservative Therapie
Nach klinisch fehlendem (»Ottawa Ankle Rules«) Frakturverdacht oder radiologischem Frakturausschluss wird, wenn das Kind den Fuß belasten kann, ein elastischer Verband mit einer antiphlogistischen Salbe angelegt. Kann es
22
452
Kapitel 22 · Sprunggelenk
. Abb. 22.15a–e Operation nach Langenskjöld: a Unter Durchleuchtungskontrolle Markierung der Epiphysenfuge. Resektion der Verknöcherung mit dem Meißel und der Knochenfräse. b,c Postoperatives Ergebnis. d,e Nach 1 Jahr achsengerechtes Wachstum im Bereich des distalen Unterschenkels
a
22
b
c
d
e
453 22.2 · Sprunggelenkdistorsion – Bandverletzungen
dagegen schmerzbedingt nicht belasten, wird eine Sprunggelenkorthese zur frühfunktionellen Behandlung verordnet oder der Unterschenkel auf einer dorsalen Gipslonguette für 7–10 Tage ruhiggestellt. Bei Jugendlichen nach Beginn der Pubertät erfolgt eine Thromboseprophylaxe. Kühlung und Analgetikagabe unterstützen den Heilungsprozess. Ist das Kind nach Beendigung der Ruhigstellung beschwerdefrei, kann es aus der Behandlung entlassen werden. Bei Besserung, aber noch vorhandenem Schmerz wird die Sprunggelenkorthese weitere 14 Tage getragen. Der Patient darf damit belasten. Ist jedoch nach 7–10 Tagen weiterhin keine Belastung möglich, muss zum Ausschluss knöcherner Läsionen (Mittelfußfraktur, Übergangsfraktur, distale Unterschenkelfraktur) die bildgebende Diagnostik komplettiert und gegebenenfalls ein MRT durchgeführt werden (s. entsprechende Kapitel).
22.2.6
Operative Therapie
Bei wiederholten Distorsionen trotz krankengymnastischer Behandlung kann ein MRT zur Beurteilung des Bandapparates veranlasst werden. Eine Bandplastik wird jedoch erst jenseits des Jugendalters vorgenommen.
Literatur Boutis K, Komar L, Jaramillo D, Babyn P, Alman B, Snyder B, Mandl KD, Schuh S (2001) Sensitivity of a clinical examination to predict need for radiography in children with ankle injuries: a prospective study. Lancet 358(9299):2118–21 Boutis K, Willan AR, Babyn P, Narayanan UG, Alman B, Schuh S (2007) A randomized, controlled trial of a removable brace versus casting in children with low-risk ankle fractures. Pediatrics 119: e1256–1263 Chande VT (1995) Decision rules for roentgenography of children with acute ankle injuries. Arch Pediatr Adolesc Med 149:255–8 Chandra A, Schafmayer A (2001) Die diagnostische Wertigkeit eines klinischen Tests zum Ausschluss von Frakturen nach akuten Sprunggelenkdistorsionen. Unfallchirurg 104: 617–621 Cottalorda J, Béranger V, Louahem D, Camilleri JP, Launay F, Diméglio A, Bourelle S, Jouve JL, Bollini G (2008) Salter-Harris Type III and IV medial malleolar fractures: growth arrest: is it a fate? A retrospective study of 48 cases with open reduction. J Pediatr Orthop 28:652–655 Cummings RJ (2008) Triplane ankle fracture with deltoid ligament tear and syndesmotic disruption. J Child Orthop 2:11–14 Dowling S, Spooner CH, Liang Y, Dryden DM, Friesen C, Klassen TP, Wright RB (2009) Accuracy of Ottawa Ankle Rules to exclude fractures of the ankle and midfoot in children: a meta-analysis. Acad Emerg Med 16:277–287
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22
23
Fuß P. Illing
23.1
Einleitung
– 457
23.2
Talusfraktur
23.2.1 23.2.2 23.2.3 23.2.4 23.2.5 23.2.6 23.2.7 23.2.8 23.2.9 23.2.10
Klassifikation, Häufigkeit und Ursachen – 457 Klinik und Erstversorgung – 457 Diagnostik – 458 Therapieziel – 458 Therapieindikationen – 458 Konservative Therapie – 458 Operative Therapie – 458 Kontrollen und Nachbehandlung – 459 Ergebnisse und Prognose – 459 Komplikationen – 459
23.3
Kalkaneusfraktur
23.3.1 23.3.2 23.3.3 23.3.4 23.3.5 23.3.6 23.3.7 23.3.8 23.3.9 23.3.10
Klassifikation, Häufigkeit und Ursachen – 461 Klinik und Erstversorgung – 461 Diagnostik – 461 Therapieziel – 461 Therapieindikationen – 461 Konservative Therapie – 462 Operative Therapie – 462 Kontrollen und Nachbehandlung – 462 Ergebnisse und Prognose – 463 Komplikationen – 463
23.4
Fußwurzel
23.4.1 23.4.2 23.4.3 23.4.4 23.4.5 23.4.6 23.4.7 23.4.8 23.4.9 23.4.10
Klassifikation, Häufigkeit und Ursachen – 463 Klinik und Erstversorgung – 463 Diagnostik – 463 Therapieziel – 463 Therapieindikationen – 463 Konservative Therapie – 463 Operative Therapie – 464 Kontrollen und Nachbehandlung – 464 Ergebnisse und Prognose – 464 Komplikationen – 464
– 457
– 461
– 463
23.5
Mittelfuß
23.5.1 23.5.2 23.5.3 23.5.4 23.5.5 23.5.6 23.5.7 23.5.8 23.5.9 23.5.10
Klassifikation, Häufigkeit und Ursachen – 464 Klinik und Erstversorgung – 464 Diagnostik – 465 Therapieziel – 465 Therapieindikationen – 465 Konservative Therapie – 465 Operative Therapie – 467 Kontrollen und Nachbehandlung – 467 Ergebnisse und Prognose – 467 Komplikationen – 468
23.6
Vorfuß
23.6.1 23.6.2 23.6.3 23.6.4 23.6.5 23.6.6 23.6.7 23.6.8 23.6.9 23.6.10
Klassifikation, Häufigkeit und Ursachen – 468 Klinik und Erstversorgung – 468 Diagnostik – 468 Therapieziel – 468 Therapieindikationen – 468 Konservative Therapie – 469 Operative Therapie – 469 Kontrollen und Nachbehandlung – 470 Ergebnisse und Prognose – 470 Komplikationen – 471
23.7
Komplexes Fußtrauma
23.7.1 23.7.2 23.7.3 23.7.4
Ischämie – 471 Kompartmentsyndrom – 471 Decollementverletzung – 472 Offener Weichteilschaden – 472 Literatur
– 464
– 468
– 472
– 471
457 23.2 · Talusfraktur
23.1
Einleitung
Das gewölbte Skelett aus Fußwurzel, Mittelfuß und Phalangen bildet zusammen mit der Plantaraponeurose und der Beugemuskulatur der Zehen eine Konstruktion, über die das Körpergewicht getragen und der Kontakt mit dem Untergrund vermittelt wird. Es leistet die Funktion der Lastaufnahme (Standphase) und der Lastverteilung (Gangphase). Die verschiedenen Aufgaben erfolgen im Zusammenspiel der passiven (Ligamente, Kapseln, Faszien) und aktiven (Muskulatur) Elemente. Die von der Plantaraponeurose ausgehenden Septen ziehen zum 1. und 5. Mittelfußknochen, wodurch 4 Kompartimente gebildet werden. Besondere Bedeutung für die Statik besitzen der 1. und 5. Strahl. Bei rund 8% aller Verletzungen im Kindesalter handelt es sich um Distorsionen und Kontusionen im Bereich der Fuß- und Sprunggelenke. 13% der Frakturen dieser Altersgruppe betreffen den Fuß, davon 70–90% die Phalangen und Metatarsalia, die in der Regel keine Probleme in der Behandlung aufweisen. Knöcherne Verletzungen beim Säugling und Kleinkind sind, da der kindliche Fuß sehr biegsam ist, äußerst selten und setzen eine übermäßige Gewalteinwirkung voraus. Wenn die Ossifikation mit dem Lebensalter fortschreitet, kommen Frakturen häufiger vor. Mitunter bereiten Sesambeine und die Varianten des wachsenden Skeletts Schwierigkeiten in der Diagnostik. Dislozierte Frakturen des Talus und Kalkaneus, die nicht anatomisch reponiert werden, sowie fehlverheilte Luxationen im Chopart- und Lisfranc-Gelenk können zu Belastungs- und Bewegungsschmerzen mit radiologischen Arthrosezeichen führen (Thermann et al. 1998). Folgende Besonderheiten müssen bei der Behandlung berücksichtigt werden: 4 Die Ossifikationszentren sind zwar bereits bei Geburt vorhanden oder bilden sich im 1. Lebensjahr aus, sie sind aber häufig erst jenseits des 1. Lebensjahres radiologisch nachweisbar. 4 Aufgrund der großen Flexibilität und Elastizität wird beim Kind eine direkte Gewalteinwirkung auf den Sprunggelenk- oder Unterschenkelbereich weiter geleitet. 4 Das Längenwachstum des Fußes findet im Vergleich zum übrigen Skelett schneller statt. Bei 12-Jährigen weist der Fuß bereits 96% (Mädchen) bzw. 88% (Jungen) seiner Gesamtlänge auf. Bei Schulkindern sind daher Fehlstellungen anatomisch zu reponieren. 4 Die normale Fußwölbung ist bei kleinen Kindern aufgrund des subkutanen Fettpolsters an den Fußsohlen noch nicht zu erkennen (Knick-Plattfußstellung des Kleinkindes). Auch bei größeren Kindern kann es unter Belastung zu scheinbaren Fehlstellungen kommen. Der Fuß ist daher im unbelasteten Zustand zu untersuchen.
Bei inadäquater Behandlung kann es zum posttraumatischen Plattfuß kommen. Fußschmerzen können im Kindesalter völlig unterschiedliche Ursachen haben. Differenzialdiagnostisch können sie außer durch Traumata durch Deformitäten, aseptische Knochennekrosen, Entzündungen, Tumore, Bewegungseinschränkungen oder neurogen bedingt sein. Letztere fallen in das Gebiet der Kinderorthopädie und werden im Folgenden nicht abgehandelt.
23.2
Talusfraktur
23.2.1
Klassifikation, Häufigkeit und Ursachen
Es wird zwischen Talushals- und Korpusfrakturen (. Tab. 23.1) sowie osteochondralen Frakturen unterschieden. Periphere Talusfrakturen (Processus lateralis und posterior) sind extrem selten. Am häufigsten sind die Halsfrakturen, die nach Hawkins klassifiziert werden (. Abb. 23.1). Aber auch sie sind bei Kindern eine Rarität und ergeben deshalb ein diagnostisches Problem. Typ-I- und Typ-II-Frakturen können jedoch auch nach banalen Traumen (Sturz mit Tretroller) vorkommen (Schwarz et al. 1983). Mit Zunahme der Risikosportarten steigt das Risiko für Talusfrakturen. Halsfrakturen werden durch forcierte Hyperdorsalflexion mit einer zusätzlichen Rotationskomponente bei höhergradigen Verletzungen verursacht (. Abb. 23.2), Korpusfrakturen resultieren aus massiver Gewalt auf den neutralgestellten oder in leichter Plantarflexion stehenden Fuß.
23.2.2
Klinik und Erstversorgung
In der Akutphase steht die Beurteilung des Weichteilschadens und des Dislokationsgrades im Vordergrund. Typischerweise wirkt der Fuß bei einer Luxationsfraktur verlängert. Beim neurovaskulären Status werden insbesondere die A. dorsalis pedis und die Zweipunktdiskriminie-
. Tab. 23.1 Klassifikation der Taluskörperfrakturen SneppenGrad
Frakturtyp
1
Transchondral/osteochondral
2
Koronare, sagittale oder horizontale Abscherung
3
Hinterer Talusfortsatz
4
Lateraler Talusfortsatz
5
Crash-Fraktur
H.G. Dietz et al. (Hrsg.), Praxis der Kinder-und Jugendtraumatologie, DOI 10.1007/978-3-642-12935-3_23, © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2011
23
458
Kapitel 23 · Fuß
23
. Abb. 23.2 Mechanismus der Talushalsfraktur
23.2.4
. Abb. 23.1 Hawkins-Klassifikation der Talushalsfraktur. Typ I: nichtdisloziert; Typ II: disloziert mit Subluxation oder Dislokation des Subtalargelenks; Typ III: disloziert mit Dislokation des Taluskörpers vom Subtalar- und Tibiotalargelenk; Typ IV: disloziert mit Dislokation des Taluskörpers vom Subtalar- und Tibiotalargelenk und Dislokation von Hals und Kopf vom Talonavikulargelenk
rung der Fußsohle im Seitenvergleich überprüft. Auf ein Kompartmentsyndrom des Fußes muss geachtet werden (7 Abschn. 23.6.10). Der Fuß wird auf einer Unterschenkelschiene gelagert, gegebenenfalls werden Schmerzmedikamente verabreicht. Nach regionalen Zusatzverletzungen (Sprunggelenk) sowie Kettenverletzungen (Polytrauma) muss gesucht werden.
23.2.3
Diagnostik
Die Diagnose wird anhand der Röntgenuntersuchung des oberen Sprunggelenks (OSG) in 2 Ebenen sowie Fuß dorsoplantar (d.p.) und d.p.-schräg (zur Beurteilung des Talonavikulargelenks) gestellt. Obligat wird bei jeder Talusfraktur ein transversales Multi-Slice-Spiral-CT mit einer Darstellung in koronarer und sagittaler Schichtung durchgeführt. Eine osteochondrale Läsion des Talus ist nur schwer von einer Osteochondrosis dissecans tali (ODT) abzugrenzen. Das Trauma wird als wichtigster pathogenetischer Mechanismus in der Ätiologie der ODT diskutiert (Steinhagen et al. 2001). Ein MRT ist in der Erstdiagnostik zu aufwändig, kann aber bei länger bestehenden unklaren Beschwerden eine ODT (Wirth et al. 2003), Weichteilverletzungen, Infraktionen und Ermüdungsfrakturen aufzeigen.
Therapieziel
Ziel ist das Erreichen der ungestörten OSG- und Fußfunktion mit normaler Talusanatomie, der ligamentären Stabilität und des frei beweglichen Fußes. Daher sind die anatomische Rekonstruktion frakturierter Facetten, die Wiederherstellung der Talusform mit möglichst übungsstabiler Osteosynthese und die anatomische Einstellung des Talus im OSG, USG und TNG vorzunehmen.
23.2.5
Therapieindikationen
Nicht dislozierte Frakturen werden konservativ behandelt. Dislozierte Frakturen müssen operiert werden.
23.2.6
Konservative Therapie
Bei der Talushalsfraktur vom Typ Hawkins I ohne Dislokation (Fissur im Taluskorpus oder Kopfbereich) erfolgt sie durch Immobilisierung im Unterschenkelgips mit Sohlenkontakt für 4 Wochen.
23.2.7
Operative Therapie
Alle dislozierten Talusfrakturen erfordern eine operative Reposition und Osteosynthese.
Talushalsfrakturen Beim Typ Hawkins I mit gering dislozierter Fraktur: geschlossene anatomische Reposition (Plantarflexion über ein Hypomochlion, evtl. Reposition mit kleinem Löffel über Stichinzision). Eine Gelenkstufe im Subtalargelenk darf bei Kindern über 12 Jahren wegen des weitgehend abgeschlossenen Wachstums nicht belassen werden.
459 23.2 · Talusfraktur
Taluskörperfrakturen Sie sind Folge einer großen Gewalteinwirkung und müssen offen reponiert und mit durchbohrten Schrauben fixiert werden. Wenn keine tibiotalare Transfixation erfolgt, sollen postoperativ sofort Bewegungsübungen (Dorsal- und Plantarflexion) durchgeführt werden. Eine Teilbelastung im Unterschenkelgips erfolgt für 4–6 Wochen (. Abb. 23.4).
23.2.8
. Abb. 23.3 Posterolateraler Zugang zum Talus
Beim Typ Hawkins II mit Dislokation des Korpus nach posterior ohne Luxation aus der Malleolengabel besteht häufig medialseitig eine Trümmerzone, wodurch eine Verkürzung der medialen Fußsäule und eine Varusfehlstellung der Talusachse mit Inkongruenz im Subtalargelenk entstehen kann. Über einen bilateralen Zugang erfolgt die anatomische Wiederherstellung des USG und die Kompression der Frakturfläche durch 2 Zugschrauben von medial und anterolateral. Die biomechanisch günstigere a.p.-Verschraubung erfolgt über eine posterolaterale Stichinzision (. Abb. 23.3). Es schließt sich die frühfunktionelle Nachbehandlung mit sagittalen Bewegungsübungen des OSG für 7–10 Tage an, dann die Vollbelastung im Unterschenkelgehgips für 4 Wochen. Beim Typ Hawkins III ist wegen der Dislokation und Innenrotation des Korpus eine sofortige offene Reposition und Kompressionsosteosynthese über einen anteromedialen Zugang erforderlich. Dabei ist eine weitere Kompromittierung der medial einstrahlenden Gefäßversorgung über das Lig. deltoideum zu vermeiden. Die Nachbehandlung erfolgt im immobilisierenden Unterschenkelgips für 4–6 Wochen, bei ausgedehnten Weichteilverletzungen kann ein gelenkübergreifender Fixateur externe angebracht werden. Beim Typ Hawkins IV ist zusätzlich der Talushals aus dem Talonavikulargelenk (TNG) luxiert. Das operative Vorgehen entspricht dem bei den Hawkins-III-Verletzungen. Zur Protektion der ligamentären und vaskulären Konsolidierung sollte hier eine temporäre KirschnerdrahtArthrodese von unterem Sprunggelenk (USG) und TNG erfolgen.
Kontrollen und Nachbehandlung
Eine Röntgenkontrolle erfolgt nach Gipsabnahme. Prognostisch günstig ist das »Hawkins-Zeichen«: Hypodensität im subchondralen Talusdom. Eine Ruhigstellung im Softcast-Stiefel mit aktiven Bewegungsübungen aus dem Cast heraus sowie Lymphdrainage und Kältebehandlung wird noch für 4–6 Wochen verordnet. Eine längerfristige Entlastung hat keinen Einfluss auf die Perfusion. Transfixierende Kirschner-Drähte werden nach 3– 4 Wochen, Schrauben nach Konsolidierung der Fraktur nach 3 Monaten entfernt.
23.2.9
Ergebnisse und Prognose
Die Prognose hängt neben der Verletzungsschwere (Weichteilschaden, Dislokation, osteochondrale Destruktion) von einer gewebeschonenden chirurgischen Technik ab. Bei Hawkins-I-Frakturen werden in 80–90%, bei Hawkins-IIFrakturen nur mehr in 50% gute funktionelle Ergebnisse gefunden (Boack et al. 2004). Bei Typ Hawkins-IV-Frakturen scheint die avaskuläre Nekrose schicksalshaft bedingt zu sein. Bei konservativ behandelten, nicht exakt reponierten Talusfrakturen resultieren klinisch Belastungs- und Bewegungsschmerzen sowie radiologisch Arthrosezeichen.
23.2.10
Komplikationen
In der Akutphase treten weichteilassoziierte Probleme bei nicht erkanntem Kompartmentsyndrom oder übersehenen neurovaskulären Läsionen sowie Hämatome oder Infektionen bei unzureichendem Débridement bei offenen Verletzungen auf. Hier ist die frühzeitige Revision erforderlich. An Spätkomplikationen können Varus-adductusFehlstellung, Osteonekrosen und Arthrosen beobachtet werden. Beschwerden nach Talusfrakturen erfordern eine subtile Diagnostik (MRT) und eine Korrektur (Osteotomie, vaskularisierter autologer Span, Arthrodese) beim ausgewachsenen Skelett.
23
460
Kapitel 23 · Fuß
23
a
b . Abb. 23.4a–c Crashfraktur von Taluskörper und distaler Tibiaepiphyse. a MRT-Befund. b,c Temporäre Arthrodese mit einem gelenk-
c übergreifenden Fixateur externe und Rekonstruktion mit Kleinfragmentzugschrauben über einen medialen Zugang
461 23.3 · Kalkaneusfraktur
23.3
Kalkaneusfraktur
23.3.1
Klassifikation, Häufigkeit und Ursachen
Die Inzidenz der Kalkaneusfraktur bei Kindern beträgt zwischen 0,005 und 0,15% (Schneidmueller et al. 2007). Die hohe Elastizität und der große knorpelige Anteil schützen den noch in der Entwicklung befindlichen Kalkaneus. In der Mehrzahl sind Kinder zwischen 8 und 12 Jahren, selten einmal Kleinkinder betroffen. Auch bei Kindern gehören Stürze und Sprünge mit Torsionstraumen sowie Verkehrsunfälle zu den Hauptursachen. Nach der Klassifikation für Kinder von Schmidt und Weiner werden die extraartikulären und intraartikulären Frakturen unterschieden (. Abb. 23.5).
23.3.2
Klinik und Erstversorgung
Bei kleinen Kindern mit einer Fissur im Tuber calcanei kann die Klinik lediglich in der Schonung des Beines bestehen. Die Schmerzen werden nicht exakt angegeben. Die Diagnose kann daher schwierig sein. Nach Hochrasanztraumen stehen bei Jugendlichen zusätzliche Weichteilsowie Gefäß- und Nervenverletzungen im Vordergrund. Nach weiteren Verletzungen innerhalb der Stauchungskette (thorakolumbale Wirbelsäule, Schenkelhals, Tibiakopf) ist zu suchen. Das Bein wird auf einer Schiene gelagert.
23.3.3
Diagnostik
Röntgen in 3 Ebenen (Kalkaneus axial, lateral, Fuß d.p.). Beim Kleinkind mit entsprechender Klinik bei unauffälligem Röntgenbild kann es sich um eine auf der Primäraufnahme nicht zu erkennende Toddlers-Fraktur handeln. Die Bestimmung des Tubergelenkwinkels (Böhler-Winkel, physiologisch zwischen 25° und 40°) lässt nur beim Jugendlichen auf ein späteres Ergebnis schließen: je höher der Winkel präoperativ, desto besser das Ergebnis. Beim Kind ist aufgrund der noch unvollständigen Ossifikation des Knochens und der somit fehlenden Konturen im Röntgenbild der Winkel nicht korrekt zu bestimmen. Daher existieren keine Normwerte für das wachsende Skelett. > Nur bei sicher diagnostizierbaren extraartikulären Frakturen kann auf ein CT verzichtet werden. Besteht der Verdacht auf eine intraartikuläre Fraktur, stellt obligat ein CT mit 2D-Rekonstruktion den Frakturverlauf exakt dar und erleichtert die präoperative Planung.
. Abb. 23.5 Klassifikation der Kalkaneusfrakturen des Kindes nach Schmidt und Weiner
23.3.4
Therapieziel
Ein schmerzfrei belastbares Bein mit physiologischen Achsen- und Längenverhältnissen bei freier Funktion der Gelenke.
23.3.5
Therapieindikationen
Die extraartikulären Frakturen, die vor allem bei kleineren Kindern vorkommen, sind selten disloziert und werden konservativ behandelt. Bei dislozierten Frakturen ist die Wiederherstellung der Anatomie anzustreben.
23
462
Kapitel 23 · Fuß
23
a
. Abb. 23.7 Perkutane Reposition der Typ-5A-Fraktur: Einbringen eines Kirschner-Drahtes, Plantarflexion des Vorfußes, Hebeln des Fragments, Vorbringen des Kirschner-Drahtes
23.3.7
b . Abb. 23.6a,b Lineare Fraktur ohne Gelenkbeteiligung nach Fall eines Fernsehers auf die Ferse bei einem 3-Jährigen
23.3.6
Konservative Therapie
Extraartikuläre Frakturen Nicht dislozierte extraartikuläre Frakturen werden zunächst auf einer Unterschenkelgipsschiene, nach Abschwellen nach 1 Woche über 4–5 Wochen im Unterschenkelgips behandelt. Abhängig von den vorhandenen Beschwerden wird die Vollbelastung gestattet (. Abb. 23.6).
Apophysenverletzungen Apophysenverletzungen bei offenen Frakturen oder beim Adoleszenten im Sinne einer Epiphyseolyse können durch Schädigung der Wachstumszone zu einer Hemmung des posterioren Längenwachstums führen. Die Therapie besteht in der geschlossenen Reposition mit nachfolgender Ruhigstellung.
Operative Therapie
Zwar wird auch bei dislozierten intraartikulären Frakturen vor allem <10. Lebensjahr die konservative Behandlung empfohlen. Die Langzeitergebnisse zeigen jedoch radiologische Veränderungen im Sprunggelenk und Funktionseinschränkungen. Deshalb ist bei den Adoleszenten die anatomische Reposition anzustreben. Diese erfolgt im Intervall nach Rückgang der Weichteilschwellung. Bei intraartikulären Frakturen mit Dislokation des Gelenks erfolgt perkutan (. Abb. 23.7) oder offen die Reposition und Fixation mit Kirschner-Draht, Schrauben oder mit einer kleinen LC-Platte. Im Anschluss erfolgt nach Abschwellen die Teilbelastung mit einem Viertel des Körpergewichts über 4–6 Wochen.
23.3.8
Kontrollen und Nachbehandlung
Nach Gipsabnahme erfolgt die Röntgenkontrolle in 2 Ebenen. Kirschner-Drähte werden dann entfernt. Anschließend erfolgt die schmerzadaptierte Belastungssteigerung. Bei Adoleszenten kann individuell die krankengymnastische Anleitung mit Lymphdrainage über einen Zeitraum von 10–12 Wochen verordnet werden. Schrauben oder Platten werden nach Konsolidierung nach 3 Monaten ent-
463 23.4 · Fußwurzel
fernt. Röntgenkontrollen werden nach 1 und 2 Jahren vorgenommen. Bei Auffälligkeiten wird bis zum Wachstumsabschluss jährlich kontrolliert.
23.3.9
Ergebnisse und Prognose
Langzeitergebnisse zeigen bei primär nicht anatomischer Reposition eine Abflachung des Böhler-Winkels sowie schmerzhafte Einschränkungen der subtalaren Beweglichkeit. Allerdings fehlen zum Zeitpunkt der Nachuntersuchung (bis 10 Jahre) die radiologischen Zeichen einer Arthrose (Thermann et al. 1998). In einer neueren Mitteilung wird über radiologische Veränderungen bei konservativ und operativ behandelten Patienten berichtet, wobei meist Beschwerdefreiheit bestand (Schneidmueller et al. 2007). Hier bleiben Langzeitkontrollen erforderlich.
23.3.10
Komplikationen
Frühkomplikationen wie Wundheilungsstörungen oder Hämatome sind selten. Auf die Möglichkeit einer späteren Arthrose muss hingewiesen werden.
. Abb. 23.8 Weichteilverletzung durch Überrolltrauma bei einem 11-jährigen Mädchen
23.4.3 23.4
Fußwurzel
23.4.1
Klassifikation, Häufigkeit und Ursachen
Knöcherne Verletzungen der Fußwurzel sind aufgrund der sehr elastischen Strukturen beim Kind extrem selten (Strohm et al. 2006). Ursache ist eine große Krafteinwirkung durch ein Überrolltrauma oder ein schweres Gewicht, das auf den Mittelfuß fällt (Fernseher, Schrank). Die Einteilung der Lisfranc-Luxationen erfolgt nach der Klassifikation nach Quenu und Küss in die homolaterale (60–70%), divergierende und isolierte Luxation. Die Einteilung der Chopart-Luxationen erfolgt nach Zwipp: transligamentär, transkalkanear, transkuboidal, transnavikulär, transtalar und Kombinationsverletzungen. Die Mittelfußknochen sind auch beim Kind nur mäßig durchblutet und besitzen deshalb nur ein geringes Wachstumspotenzial, so dass bei einer Dislokation die offene anatomische Rekonstruktion erforderlich ist.
23.4.2
Klinik und Erstversorgung
Es bestehen starke Schmerzen und häufig ausgeprägte geschlossene oder offene Weichteilverletzungen (. Abb. 23.8). Die Ruhigstellung erfolgt auf einer Schiene.
Diagnostik
Aufnahme des ganzen Fußes d.p. mit 20° (Lisfranc-Luxation) bzw. 30° (Chopart-Luxation) kaudokranial gekippter Röhre. 45°-Schrägaufnahme des ganzen Fußes. Häufig sind die Resultate jedoch nicht aussagekräftig genug, so dass beim Frakturverdacht großzügig ein CT mit 2D-Rekonstruktion anzufordern ist.
23.4.4
Therapieziel
Rekonstruktion der Gelenkflächen in ihrer Kongruenz und Wiederherstellung der vollen Länge der medialen und lateralen Fußsäule und des Fußgewölbes.
23.4.5
Therapieindikationen
Nur minimale Dislokationen werden konservativ behandelt. Wenn keine exakte anatomische Reposition möglich ist oder eine Redislokation droht, muss operiert werden.
23.4.6
Konservative Therapie
Lisfranc-Gelenk Eine konservative Therapie beim Lisfranc-Gelenk ist sinnvoll, wenn sich eine exakt anatomische Reposition ge-
23
464
23
Kapitel 23 · Fuß
schlossen erzielen lässt. Ruhigstellung im Unterschenkelgips für 4 (<10 Jahre) bzw. 5–6 Wochen (>10 Jahre).
Chopart-Gelenk Bei der häufigsten Verletzung, der Subluxation der lateralen Fußsohle, gelingt eine Reposition über einem Hypomochlion unproblematisch durch Längszug am Vorfuß. Nach einer Woche Ruhigstellung auf der Unterschenkelgipsschiene kann funktionell mit einem Tapeverband weiter behandelt werden. Wenn sich komplette Luxationen oder unverschobene Luxationsfrakturen reponieren und im Gips retinieren lassen, erfolgt eine Ruhigstellung für 4–5 Wochen.
23.4.7
23.4.9
Ergebnisse und Prognose
Bei richtiger Behandlung sind meistens gute Ergebnisse zu erwarten (Strohm et al. 2006). Dennoch muss auf Wachstumsstörungen geachtet werden. Übersehene oder verspätet behandelte Verletzungen können zur Luxationstendenz führen. Erfolgt keine anatomische Reposition, muss im weiteren Verlauf mit schweren Fehlstellungen und Arthrosen gerechnet werden, die langfristig eine Arthrodese erforderlich machen. Unbehobene Verkürzungen der lateralen Fußsäule führen mittelfristig zur Ausbildung eines Pes plano valgus. Die kinematische Ganganalyse hilft, die Auswirkungen auf den Gangablauf einzuschätzen. Davon abhängig werden Einlagen verordnet.
Operative Therapie 23.4.10
Komplikationen
Lisfranc-Gelenk Aus anatomischen und funktionellen Gründen kommt der Stellung des 2. Strahles eine Schlüsselrolle zu. Bei einem Weichteilinterponat gelingt die geschlossene Reposition nicht. Hier muss über 2 Längsinzisionen (MT1/MT2 und MT4) offen reponiert werden. Beim Kind ist die Kirschner-Draht-, beim Adoleszenten die Schraubenosteosynthese vorzuziehen. Zur Stabilisierung der periartikulären Weichteilverletzungen erfolgt eine temporäre talonavikulare Transfixation mit einem 1,8-mm-Kirschner-Draht für 2–3 Wochen.
Chopart-Gelenk Bei dislozierten Luxationsfrakturen und nicht zu retinierendem (M.-tibialis anterior-Sehne als Hindernis) Repositionsergebnis erfolgt die perkutane bzw. offene temporäre Kirschnerdraht-Transfixation, bei größerem Weichteilschaden wird zusätzlich ein Fixateur externe angebracht. Bei Frakturen des Os naviculare ist besonders auf die Rekonstruktion des plantaren Fußbereichs zu achten. Teilweise besteht eine zusätzliche Kompression des Os cuboideum, so dass bei der Reposition auf die Wiederherstellung der Länge der medialen und lateralen Fußsäule zu achten ist.
23.4.8
Häufig steht die Problematik einer ausgedehnten Weichteilverletzung im Vordergrund. Auf ein drohendes Kompartmentsyndrom ist immer zu achten (7 Kap. 23.7.2).
23.5
Mittelfuß
23.5.1
Klassifikation, Häufigkeit und Ursachen
An den Metatarsalia existiert jeweils nur eine Wachstumsfuge, die beim MT1 an der Basis, bei den MT2–5 subkapital lokalisiert ist. Die Ossifikation der Fugen am Fuß beginnt an den distalen Phalangen und schreitet nach proximal fort. Die Fraktur eines Mittelfußknochens erfolgt durch direkte Krafteinwirkung. Oft sind infolge einer Fahrradspeichenverletzung oder eines Überrolltraumas mehrere Knochen betroffen. Kinder unter 5 Jahren fallen hauptsächlich zu Hause und erleiden eine Metatarsale-I-Fraktur (. Abb. 23.9), Kinder über 5 Jahre stürzen beim Sport und ziehen sich eine Metatarsale-V-Fraktur zu. Die Einteilung der Fraktur wird nach der Lokalisation in Basis-, Schaft- und Köpfchenfraktur vorgenommen. Epiphysenfrakturen werden nach Salter-Harris klassifiziert.
Kontrollen und Nachbehandlung 23.5.2
Röntgenkontrollen erfolgen zum Zeitpunkt der Metallentfernung (welche vor der Belastung durchgeführt wird) bzw. nach Erreichen der Vollbelastung. Klinische Kontrollen werden in regelmäßigen Abständen bis 2 Jahre nach dem Trauma, bei auffälligem Befund darüber hinaus eingeplant.
Klinik und Erstversorgung
Bei einer Serienfraktur imponiert in der Regel die Weichteilverletzung. Bei singulären Frakturen kann lediglich die Schmerzhaftigkeit zur Vorstellung veranlassen. Primär erfolgen zur Schmerzreduktion die provisorische Anlage eines mit Watte gepolsterten Verbandes oder eine Schiene und gegebenenfalls die medikamentöse Analgesie.
465 23.5 · Mittelfuß
a
b
. Abb. 23.9a,b Dislozierte Fraktur Metatarsale I bei 5-jährigem Jungen. a Unfallbild. b Zur Wiederherstellung der Fußachse Reposition und Kirschner-Drahtosteosynthese
23.5.3
Diagnostik
Röntgen Mittelfuß d.p. und 45° schräg. Bei einer exakt seitlichen Aufnahme sind die einzelnen Knochen infolge der Überlagerung nicht zu differenzieren. Vorteilhaft wird die klinisch relevante Region fokussiert. Die Apophyse an der Basis des MT5 wird häufig mit einer Fraktur verwechselt.
23.5.4
Therapieziel
Aufrechterhaltung der Länge des Knochens und Erhalt des Längs- und Quergewölbes des Fußes.
23.5.5
Therapieindikationen
Die Behandlung nicht oder gering dislozierter (durch Zug der Ligamente und der Mm. interossei) Schaftfrakturen und nicht dislozierter Epihysenfrakturen erfolgt konservativ. Dislozierte (meist Serien-) Frakturen werden reponiert.
23.5.6
Konservative Therapie
Die nicht dislozierte Metatarsale-Fraktur (. Abb. 23.10) wird auf einer Unterschenkelgipsschiene für 1 Woche,
. Abb. 23.10 Schrägfraktur Metatarsale V
23
466
Kapitel 23 · Fuß
23
a
b
c
d
. Abb. 23.11a,b Fehlinterpretation sekundärer Ossifikationszentren. a Eine an der Basis des Os metatarsale V lateral längs verlaufende Linie zeigt die Apophyse und wird häufig als Fraktur fehlinterpretiert. b Ver-
läuft die Linie quer, handelt es sich um eine Fraktur. c Dislokation >3 mm. d Reposition und Zuggurtungsosteosynthese
467 23.5 · Mittelfuß
a
b
. Abb. 23.12a,b Dislozierte subkapitale Schaftfraktur Metatarsale V. a Unfallbild. b ESIN (1,5 mm), Entlastung bis zur Schmerzfreiheit
dann für weitere 3 Wochen im Unterschenkelgips ruhig gestellt. Dieser kann nach 1 Woche belastet werden. Metatarsale V An der Basis des Os metatarsale V setzt lateral an der Apophyse die Sehne des M. peronaeus brevis an. Sekundäre Ossifikationszentren werden oft als Fraktur fehlinterpretiert (. Abb. 23.11a). Ein Inversionstrauma ist Ursache für die nicht seltene Avulsionsverletzung der Apophyse (. Abb. 23.11b). Es besteht dort eine Schwellung und Druckschmerzhaftigkeit. Das Röntgenbild zeigt eine Erweiterung des Apophysenabstands. Ein abschwellender Verband und die Mobilisation an Unterarmgehstützen können bei Dislokationen <3 mm ausreichend sein. Bei starken Beschwerden erfolgt die Ruhigstellung auf einer Unterschenkelgipsschiene für 2–3 Wochen. Bei einer Dislokation >3 mm erfolgt die K-Draht- oder eine Zuggurtungsosteosynthese (. Abb. 23.11c,d)
23.5.7
Operative Therapie
Bei dislozierter Fraktur erfolgt die geschlossene Reposition. Die Schaftfraktur wird bei Kortikalisversatz um Schaftbreite, Achsenabweichung in der Sagittalebene >5° und bei Gefahr der Redislokation oder bei unmöglicher Reposition heute vorteilhaft über eine kurze Inzision mit einem 1,5-mm-ESIN je nach Lokalisation retrograd (Schaft, Basis) oder antegrad (subkapital) reponiert und retiniert
(. Abb. 23.12). In der Regel reicht eine ESIN pro Metatarsale aus. Auch eine perkutane Kirschnerdraht-Osteosynthese ist möglich. Eine Apophysenlösung des MT5 (knöcherner Abriss der Sehne des M. peronaeus brevis mit Lösung der Apophyse MT5) wird bei einer Dislokation >3 mm offen reponiert und je nach Größe des Fragments mit einem Kirschner-Draht, einer Zuggurtungsosteosynthese oder einer durchbohrten Miniatur-Kleinfragmentschraube fixiert.
23.5.8
Kontrollen und Nachbehandlung
Röntgenkontrollen erfolgen nach Reposition und nach 4 Wochen (Zeitpunkt der Metallentfernung). Nach stabiler Osteosynthese (ESIN) ist eine Ruhigstellung nur einige Tage bis zur Schmerzfreiheit erforderlich. Nach übungsstabiler Osteosynthese erfolgt die Mobilisation mit Unterarmgehstützen bis zum Erreichen der Schmerzfreiheit.
23.5.9
Ergebnisse und Prognose
Nur bei nicht adäquater Behandlung kann es zu Veränderungen der Vorfußstatik kommen. Übersehene Apophysenlösungen am MT5 können zur Pseudarthrose führen, die eine Fixation erforderlich macht.
23
468
23
Kapitel 23 · Fuß
23.5.10
Komplikationen
Beim Weichteiltrauma darf ein Kompartmentsyndrom nicht übersehen werden. Wachstumsstörungen nach Mittelfußfrakturen sind äußerst selten.
23.6
Vorfuß
23.6.1
Klassifikation, Häufigkeit und Ursachen
matom kann äußerst schmerzhaft sein. Meist wurden die Kinder bereits von den Eltern oder vom Allgemeinarzt behandelt. Nicht selten werden sie wegen Schonhaltung ohne erinnerliches Trauma vorgestellt. Die Erstbehandlung besteht in der Ruhigstellung auf einer Schiene, gegebenenfalls mit medikamentöser Analgesie.
23.6.3
Die Einteilung erfolgt nach der Lokalisation in Basis-, Schaft- und Köpfchenfraktur. Die Phalangen besitzen nur eine Wachstumsfuge, die an der Basis lokalisiert ist. Hier erfolgt die Klassifikation nach Salter-Harris I–IV. Phalangenfrakturen stellen mit über 50% den Hauptanteil der Fußfrakturen dar. Davon betreffen 25% die Großzehe. Bei sportlichen Jugendlichen kann es an der Basis der Grundphalanx der Großzehe zur Stressfraktur kommen. Die meisten Zehenfrakturen werden durch indirekt einwirkende axiale (Anstoß des 5. Zeh am Bettpfosten) oder direkte (Fall eines Gegenstandes) Krafteinwirkung verursacht. Die seltenere Hyperextension im Grundgelenk kann zu Spiral- oder Ausrissfrakturen eines kleinen Fragments an der Basis führen.
23.6.2
Diagnostik
Röntgen erfolgt gezielt über der Schmerzregion: d.p. und 45°schräg. Eine geteilte Epiphyse an der Basis der Großzehengrundphalanx kann als Frakturlinie fehlinterpretiert werden (. Abb. 23.14). An der Endphalanx wird häufig eine Nagelkranzfraktur gefunden.
23.6.4
Therapieziel
Ziel ist vor allem am 1. und 5. Strahl der Erhalt der Länge und die Wiederherstellung einer achsengerechten Stellung.
23.6.5
Therapieindikationen
Die meisten Zehenfrakturen, vor allem der Strahlen 2–4, sind nicht oder nur minimal disloziert. Vor allem an der Endphalanx kann es zu einer Nagelkranzfraktur und zur
Klinik und Erstversorgung
Die klinischen Zeichen sind Prellung, Schwellung und pochender Schmerz, die sich positionsabhängig verschlimmern. Dislozierte Frakturen sind an der Deformierung zu erkennen. Die Weichteile können gequetscht sein oder offen liegen (. Abb. 23.13). Sehnenverletzungen sind im Gegensatz zur Hand selten, müssen aber bei der Inspektion der Wunde ausgeschlossen werden. Ein subunguales Hä-
. Abb. 23.13 Rissquetschverletzung mit Fraktur an der Kleinzeh
. Abb. 23.14 Geteilte Epiphyse an der Basis der Grundphalanx des Großzehen
469 23.6 · Vorfuß
nicht oder nur minimal dislozierten Trümmerfraktur kommen. Bei achsengerechter Stellung erfolgt auch dann die konservative Behandlung. Dislozierte Spiralfrakturen weisen eine Verkürzung oder Rotation auf, bei dislozierten Querfrakturen kommt es zur Achsenabweichung. Derartige Frakturen vor allem des 1. und 5. Zehen müssen reponiert und gegebenenfalls retiniert werden ebenso wie dislozierte Basis- oder subkapitale Frakturen.
23.6.6
Das bei derartigen Läsionen fast immer vorhandene subunguale Hämatom muss innerhalb der ersten 24 h trepaniert werden. Dadurch wird die sofortige Schmerzfreiheit erreicht. Dislozierte Zehennägel werden nicht entfernt, sondern reponiert, da sie bei der Fraktur der Endphalanx als Schienung dienen. Quetschverletzungen mit Knochenbeteiligung werden gereinigt, mit einem desinfizierenden Gazeverband verschlossen und auf einer Gipsschiene ruhig gestellt. Sie müssen regelmäßig kontrolliert werden.
Konservative Therapie 23.6.7
Stabile nicht dislozierte Frakturen können mit einem Pflasterzügelverband und einem Schuh mit einer festen Sohle behandelt werden, so dass Gelenkbewegungen ausgeschlossen sind. Stabile dislozierte Frakturen werden in Oberst-Leitungsanästhesie reponiert. So kann bei der frischen Fraktur durch Zug an der Endphalanx problemlos die Länge wiedergestellt und eine Achsenabweichung ausgeglichen werden. Ein Stift als Hypomochlion kann dabei hilfreich sein. Die Ruhigstellung erfolgt ebenfalls mit einem Pflasterzügelverband. Sind die Kinder zu aktiv oder mit dem Pflasterzügel nicht schmerzfrei, wird wie bei Patienten mit achsengerecht stehenden, aber instabilen Frakturen ein Gehgips mit Zehenplatte angelegt. Der Pflasterzügel stellt den benachbarten Zeh bis zur Schmerzfreiheit mit ruhig. Zur Vermeidung einer Hautmazeration wird eine Kompresse zwischen die Zehen gelegt.
a
Operative Therapie
1. Zeh Wegen der Bedeutung des 1. Zeh für die Gewichtsbelastung und die Fortbewegung ist der Erhalt anatomischer Verhältnisse entscheidend. In der Regel ist eine Osteosynthese nicht notwendig. Dislozierte Epiphysenfrakturen werden zunächst geschlossen reponiert, was auch meist gelingt. Bei Dislokation des Fragments >2 mm, Instabilität oder Redislokationsgefahr wird das Fragment über einen medialen Zugang mit einem Kirschner-Draht (SalterHarris II, Stärke 1,0–1,4 mm, je nach Alter) oder einer Miniaturschraube (Salter-Harris III/IV, 2,0 mm) fixiert.
Schaftfraktur Die dislozierte und nicht zu retinierende Schaftfraktur wird bei Kortikalisversatz um Schaftbreite, Achsenabwei-
b
. Abb. 23.15a,b Dislozierte Salter-Harris-I-Fraktur der Grundphalanx am Großzeh. a Unfallbild. b Geschlossene Reposition und KirschnerDrahtosteosynthese
23
470
23
Kapitel 23 · Fuß
chung in der Sagittalebene >5° und bei Gefahr der Redislokation oder bei unmöglicher Reposition heute vorteilhaft über eine kurze mediale Inzision (am 5. Zeh auch lateral) unter Schonung der Sehne mit einem ESIN (1,5 mm) je nach Lokalisation retrograd (Schaft, Basis) oder antegrad (subkapital) reponiert und stabilisiert. In der Regel reicht ein ESIN pro Phalanx aus. Die Fuge kann dabei überschritten werden. Auch eine perkutane Kirschner-Drahtosteosynthese (0,8–1,0 mm) ist möglich. Sie kann entweder als Minimalosteosynthese transfixierend und intramedullär verlaufend von distal in Richtung Metatarsale eingebracht werden (. Abb. 23.15), oder gekreuzt im Schaftbereich, wobei bei sicherer Platzierung in der Gegenkortikalis auf den zweiten gekreuzten Draht verzichtet werden kann.
die Entlastung an Unterarmgehstützen dauert 2 Wochen bzw. bis zur Schmerzfreiheit, dann wird rasch belastet. Röntgenkontrollen sind bei konservativer Behandlung nicht erforderlich. Die Konsolidierung ist am Fußskelett radiologisch verzögert sichtbar. Nach stabiler Osteosynthese (ESIN) ist eine Ruhigstellung nur einige Tage bis zur Schmerzfreiheit notwendig. Nach Kirschnerdraht-Osteosynthese erfolgen die Ruhigstellung auf einer Unterschenkelschiene und die Mobilisation mit Unterarmgehstützen bis zum Erreichen der Schmerzfreiheit. Kirschnerdrähte werden vor Belastungsbeginn entfernt, Schrauben und ESIN nach 6 Wochen (Röntgen zur Kontrolle der Implantatlage). Im Anschluss wird die Vollbelastung gestattet.
23.6.9 23.6.8
Ergebnisse und Prognose
Kontrollen und Nachbehandlung
Die Behandlung sowohl mit dem Pflasterzügelverband als auch mit Gips oder im Geisha-Schuh (. Abb. 23.16) und
Bei Konsolidierung in nicht achsengerechter Stellung drohen Wachstumsstörungen und besonders im 1. und 5. Strahl metatarsophalangeale Arthrosen.
a
c
b
. Abb. 23.16a–c Fraktur Grundphalanx 5. Zeh mit Luxation im proximalen Interphalangealgelenk. a Ausgangsbefund. b Nach Reposition. c Kunststoffschuh zur Schmerzbehandlung
471 23.7 · Komplexes Fußtrauma
. Abb. 23.17 Röntgenaufnahme bei Schnittwunde an der Fußsohle mit Einschluss eines Fremdkörpers (Glassplitterverletzung)
23.6.10
Komplikationen
Bei verspätet vorgestellten Frakturen und nicht adäquater Behandlung eines subungualen Hämatoms kann es infolge der Schwellung zur Entzündung bis zum Panaritium ossale kommen. Bei diesen Fällen sind die Entzündungsparameter zu bestimmen. Unzureichend verankerte Implantate können wandern und zur Weichteilirritation führen. Nach Bagatellverletzungen kann es beim Kind zu verbliebenen Fremdkörpern (. Abb. 23.17) und zu Entzündungen bis hin zur Osteomyelitis kommen. Bei Turnschuhträgern muss ein zum Teil verändertes Keimspektrum (Pseudomonas) bedacht werden.
23.7
Komplexes Fußtrauma
Beim komplexen Fußtrauma handelt es sich um eine Kombinationsverletzung in mehreren anatomischen Etagen mit Weichteilschaden und Zusatzverletzungen, welche ein standardisiertes operatives Vorgehen erschwert und ein individuelles Behandlungskonzept erfordert (LindemannSperfeld et al. 2003). Dies kann auch beim Kind infolge von Überrolltraumen oder Rasenmäherverletzungen vorkommen. > Eine primäre Amputation ist beim Kind zu vermeiden und nur zu überlegen, wenn bei einer Mehrfachverletzung eine vitale Gefährdung besteht.
Ansonsten muss bereits bei der Erstversorgung die Voraussetzung für eine plantigrade achsengerechte Stellung
geschaffen werden. Dazu gehören nach Thermann (1998): 4 Konsequente Spülung verschmutzter Wunden, vorzugsweise mit der Jetlavage 4 Intravenöse Antibiotikagabe 4 Radikales Wunddébridement mit Entfernung sämtlicher nicht durchbluteter Strukturen ohne Rücksicht auf Funktion und Knochendeckung
4 Asservierung größerer Hautamputate oder spongiöser Knochen für eine spätere Autotransplantation 4 Tägliche Verbandwechsel in Narkose, um die Gewebevitalität, die am Unfalltag nicht einzuschätzen ist, zu beurteilen und ein Nachdébridement vorzunehmen 4 Temporärer Hautersatz mit Kunsthaut 4 Spaltung der Kompartimente auch bei offenen Brüchen 4 Wiederherstellung der Achse mit Hilfe von Minimalosteosynthesen (1,4-mm-Kirschner-Draht). 4 Vermeidung weiterer Weichteilschäden 4 Nach 2–4 Tagen Entscheidung zum freien Gewebetransfer (zusammen mit dem plastischen Chirurgen) > Das Regenerationspotenzial ist beim Kind nicht einzuschätzen, so dass keine frühzeitigen Arthrodesen vorgenommen werden dürfen. Muskelimbalancen (Peroneusläsion) sollte durch einen Muskeltransfer frühzeitig entgegengewirkt werden, da es sonst durch Kapsel- und Bänderschrumpfung zur Fixierung der Fehlstellung kommen kann.
23.7.1
Ischämie
Bei einer komplexen Fußverletzung müssen die Durchblutung (Bestimmung des Sauerstoffpartialdruckes mit dem Pulsoximeter, Gefäßdoppler zur Prüfung der A. dorsalis pedis und der A. tibialis posterior, Angiographie) und die Sensibilität überprüft werden.
23.7.2
Kompartmentsyndrom
Nach einem schweren Weichteiltrauma oder infolge der Flüssigkeitsverschiebung nach Reperfusion kann es zu einer extremen Drucksteigerung in den einzelnen Muskellogen bis zum Kompartmentsyndrom mit irreversiblen Schäden an Muskulatur und Nerven kommen. Leitsymptom am Fuß ist die massive Weichteilschwellung. Das Erkennen eines drohenden Kompartmentsyndroms ist primär immer eine klinische Aufgabe. Dazu hat die Messung des Drucks in allen 4 Kompartimenten gerade am Fuß große Bedeutung. Werte von 25 mmHg gelten bereits als grenzwertig und überwachungsbedürftig. Es sollten immer alle 4 Kompartimente gemessen werden. Besonders beim mehrfach verletzten Kind, bei dem zunächst vitale Bedrohungen im Vordergrund stehen, ist ein Kompartmentsyndrom nicht selten und wird leicht übersehen, was fatale Folgen nach sich zieht, wenn die anderen Verletzungen überlebt werden.
23
472
Kapitel 23 · Fuß
23
a
b
. Abb. 23.18a,b Kompartmentspaltung am Fuß. a Dorsaler Zugang: Das laterale Gefäß-Nerven-Bündel verläuft lateral des M. quadratus plantae. Die Inzision verläuft medial des 2. Os metatarsale und lateral des 4. Os metatarsale, um eine ausreichende Hautbrücke zu gewähr-
leisten. b Medialer Zugang: Die Inzision beginnt distal des Malleolus medialis und zieht bis zum 1. Os metatarsale. Das Gefäß-NervenBündel wird beiseite gehalten und die Faszie gespalten. Das mediale intermuskuläre Septum wird längs eröffnet
Es werden alle 4 Kompartimente gespalten (. Abb. 23.18). Die Deckung des Haut- und Weichteildefektes er-
23.7.4
folgt durch temporären Hautersatz oder Vakuumversiegelung. Nach Abschwellen gelingt in der Regel die schrittweise Wundadaptation mit einer Zügelnaht.
Ein offener Weichteilschaden wird nach den Prinzipien der Behandlung offener Frakturen neben dem radikalen Weichteildébridement mit einer tibiotarsalen Transfixation mit dem Fixateur externe (auch in Form des Ringfixateurs) behandelt. Dadurch werden die Frakturen stabilisiert, die Weichteile geschont und die Lagerung sowie der tägliche Verbandwechsel erleichtert.
Kompartimente am Fuß 4 Interossäres Kompartment: die 4 Muskeln zwischen dem 1. und 5. Os metatarsale 4 Mediales Kompartment: M. abductor hallucis, M. flexor hallucis brevis 4 Zentrales Kompartment: M. flexor digitorum brevis, M. quadratus plantae, M. adductor hallucis 4 Laterales Kompartment: M. flexor digiti minimi brevis, M. abductor digiti minimi
23.7.3
Decollementverletzung
Hierbei ist die exakte Beurteilung des geschlossenen Weichteilschadens schwierig, da sich nekrotische Areale erst sekundär demarkieren. Abgescherte Areale müssen eröffnet und radikal débridiert werden. Ein primärer Wundverschluss darf auf keinen Fall erzwungen werden. Revisionseingriffe sind von vornherein einzuplanen.
Offener Weichteilschaden
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23
V
Spezielle Verletzungsformen Kapitel 24
Ingestionen – 477 I. Pegiazoglou
Kapitel 25
Thermische Verletzungen P.M. Klimek
Kapitel 26
Weichteilverletzungen I. Schnyder
Kapitel 27
Battered-Child-Syndrom V. Oesch, Th. Slongo
Kapitel 28
Geburtstrauma B. Liniger
Kapitel 29
Pathologische Frakturen A. Joeris, Th. Slongo
– 483
– 497
– 515
– 521
– 531
24
Ingestionen I. Pegiazoglou
24.1
Fremdkörperingestionen
24.1.1 24.1.2 24.1.3 24.1.4 24.1.5
Definition – 478 Häufigkeit – 478 Klinik – 478 Diagnostik – 478 Therapieindikation und Therapie
24.2
Ingestion von ätzenden Substanzen (»caustic ingestion«)
24.2.1 24.2.2 24.2.3 24.2.4 24.2.5
Häufigkeit und Risikofaktoren Klinik – 480 Diagnostik – 480 Therapie – 481 Komplikationen – 481 Literatur
– 482
– 478
– 478
– 478
– 478
24
478
Kapitel 24 · Ingestionen
24.1
Fremdkörperingestionen
24.1.1
Definition
Unter einer Fremdkörperingestion versteht man das unbeabsichtigte oder beabsichtigte Verschlucken eines Fremdkörpers.
24.1.2
Häufigkeit
80% aller Fremdkörperingestionen kommen bei Kindern vor. Hierbei liegt der Häufigkeitgipfel zwischen dem Alter von 6 Monaten und 3 Jahren. Geldstücke sind mit 30% die häufigsten Fremdkörper, gefolgt von Nadeln, Spielzeugteilen, Schmuck, Nahrungsstücken, Knochen und Fischgräten.
24.1.3
Klinik
Wichtig ist zu beachten, dass bis zu 50% der Kinder asymptomatisch sein können. Häufig wird durch die Ingestion initial eine Hustenattacke ausgelöst, weitere Symptome sind Hals- oder retrosternale Schmerzen, Speichelfluss, Übelkeit und Erbrechen, sowie Dysphagie bis hin zur Nahrungsverweigerung. Bei Lokalisation im Ösophagus und konsekutiver Kompression der Trachea oder des Larynx können Dyspnoe oder Stridor auftreten. 50% der Kinder sind jedoch asymptomatisch.
24.1.4
Diagnostik
Bei Verdacht auf Fremdkörperingestion ist die seitliche Röntgen-Thoraxaufnahme (incl. des Larynx!) die Standarddiagnostik zur Bestimmung der Art, Anzahl sowie Lokalisation des Fremdkörpers (. Abb. 24.1). Bei Verdacht auf nicht-röntgendichte Fremdkörper sollte eine Kontrastmitteluntersuchung durchgeführt werden.
kann. Nach 12–24 h sollte ein Kontrollröntgen durchgeführt und die Situation reevaluiert werden. Befindet sich der Fremdkörper im Magen, so kann die Ausscheidung im Stuhl abgewartet werden. Eine Ausnahme stellen Knopfbatterien dar, die rasch geborgen werden sollten. Hier besteht die Gefahr des Auflösens der Gummidichtung und damit dem Auslaufen der toxischen Inhaltsstoffe. Praktisch alle Fremdkörper, die sich im Magen befinden, passieren spontan innerhalb von 4–6 Tagen den Gastrointestinaltrakt und werden mit dem Stuhl ausgeschieden. Während dieser Zeit sollten die Eltern angehalten werden, den Stuhl regelmäßig zu kontrollieren, sowie auf gastrointestinale Symptome wie Abdominalschmerzen, ernstes oder persistierendes Erbrechen, Hämatemesis und Meläna zu achten. Selten wird ein Verbleiben von Fremdkörpern im unteren Gastrointestinaltrakt (. Abb. 24.2) beobachtet. Dies oft im Rahmen von kongenitalen Malformationen (z. B. Meckel-Divertikel). Eine endoskopische Entfernung aus dem Magen ist bei größeren Fremdkörpern indiziert. Bei Kindern <5 Jahren ab einer Größe von 3×2 cm und bei Kindern >5 Jahren bei Fremdkörpern größer als 5×2 cm. Auch sollten scharfe, spitze Gegenstände entfernt werden, da hier eine Perforationsgefahr besteht.
24.2
Ein Risiko stellen eine Vielzahl von Haushaltsprodukten dar, in welchen Laugen, Säuren, oder andere ätzende Substanzen enthalten sind. Die Ingestion dieser Substanzen führt zu einer teilweise irreversiblen Gewebeschädigung des Ösophagus und damit im Verlauf zu späteren Ösophagusstenosen. Laugen sind geschmacksneutral, ein Kind kann deshalb größere Mengen hiervon schlucken. Im Gegensatz dazu haben Säuren einen bitteren Geschmack, daher ist das Totalvolumen der aufgenommenen Substanz in der Regel kleiner.
24.2.1 24.1.5
Ingestion von ätzenden Substanzen (»caustic ingestion«)
Häufigkeit und Risikofaktoren
Therapieindikation und Therapie
Bei der Wahl der einzuleitenden Therapie spielen die Symptome und andererseits die Art, Lokalisation und Größe des Fremdkörpers eine entscheidende Rolle. Fremdkörper im Oropharynx/Ösophagus sollten bei Zeichen einer Obstruktion schnell entfernt werden. Bei asymptomatischen Fremdkörpern ist die Lokalisation entscheidend. Im proximalen Ösophagus ist die schnelle endoskopische Entfernung die Therapie der Wahl, während im distalen Ösophagus initial abgewartet werden
Der Häufigkeitsgipfel einer akzidentellen Ingestion von ätzenden Substanzen liegt im Alter von 5 Jahren. Korrosive Substanzen, die nicht in Originalverpackungen, sondern in harmlos aussehenden Behältern aufbewahrt werden, sowie Substanzen an offenen, für Kinder zugänglichen Orten stellen ein Risiko für eine akzidentelle Ingestion dar (. Abb. 24.3). Laugeningestionen verursachen eine sog. Kolliquationsnekrose. Dabei wird das Gewebe bis in tiefe Schichten zerstört, was zu schweren narbigen Veränderungen führt.
H.G. Dietz et al. (Hrsg.), Praxis der Kinder-und Jugendtraumatologie, DOI 10.1007/978-3-642-12935-3_24, © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2011
479 24.2 · Ingestion von ätzenden Substanzen (»caustic ingestion«)
. Abb. 24.1a–c Radiologische Darstellung von Fremdkörpern. a Geldstück im oberen Ösophagus. b Metallischer Fremdkörper im Magen. c Plastikknopf im oberen Ösophagus mit Verdrängung der Trachea, nur im seitlichen Bild zu sehen (rechts)
a
b
c
24
480
Kapitel 24 · Ingestionen
24
. Abb. 24.2 Fremdkörper im Darmtrakt. Zwei Beispiele von metallischen Fremdkörpern, die den Magen bereits passiert haben und im unteren Darmtrakt liegen
Daher werden Laugenverletzungen deutlich folgenschwerer als Säureverätzungen betrachtet, die hauptsächlich die oberflächlicheren Schichten angreifen. Gemäß der Dokumentation des Schweizerischen Toxikologischen Zentrums, das über 25 Jahre alle von Privatpersonen, Arztpraxen sowie Kliniken gemeldeten Fälle registriert, sind glücklicherweise Todesfälle eine absolute Ausnahme resp. wurden nie beobachtet.
24.2.2
Klinik
Analog zur Fremdkörperingestion umfassen klinische Symptome (umfasst die klinische Manifestation) Hypersalivation, Stridor, Heiserkeit, Dysphagie und somit Trinkund Nahrungsverweigerung, Übelkeit, epigastrische oder retrosternale Schmerzen. Bedingt durch den Kontakt mit der ätzenden Substanz können Haut- und Schleimhautläsionen (Hände, Gesicht, Lippen, Oropharynx) ebenfalls vorliegen, das Fehlen dieser Verletzungen schließt aber eine Ingestion nicht aus.
24.2.3 . Abb. 24.3 Korrekte Lagerung und Verschluss von gefährlichen Substanzen im Haushalt (bfu: Gifte und Chemikalien, 2007)
Diagnostik
Eine genaue Anamnese ist zur Erfassung des Produktes, des Zeitpunktes der Ingestion, sowie der geschätzten Ingestionsmenge unentbehrlich. Eine notfallmäßige endoskopische Untersuchung innerhalb der ersten Stunden ist wenig ratsam, da zu diesem Zeitpunkt oft das vollständige
481 24.2 · Ingestion von ätzenden Substanzen (»caustic ingestion«)
. Tab. 24.1 Klassifikation der Ösophagusverletzung nach Ingestion von ätzenden Substanzen (nach Zachariou et al. 2009) Grad I
Erythem und Ödeme
Grad IIa
Erosionen, oberflächliche Ulzeration, hämorrhagische Exsudation
Grad IIb
Zirkuläre Läsionen
Grad III
Multiple Ulzera und oberflächliche Nekrose, Fibrinbeläge
Grad IV
Tiefe Nekrose mit Perforation
Ausmaß der Schädigung nicht beurteilt werden kann. Es ist zu empfehlen, eine Ösophagogastroduodenoskopie jedoch innerhalb der ersten 48 h nach Ingestion vorzunehmen, um das Ausmaß und den Schweregrad der Verätzung abzuschätzen (. Tab. 24.1).
24.2.4
Therapie
tonenpumpenhemmern erfolgen. Bei Verdacht auf eine schwere Verätzung kann eine Antibiotika-Prophylaxe indiziert sein (z. B. Ampicillin). Die Gabe von Steroiden ist umstritten, eine große randomisierte Studie konnte deren Nutzen bezüglich Reduktion des Schweregrades der Strikturformation nicht nachweisen. Unabhängig vom Befund bei der ersten Ösophagogastroduodenoskopie sollte im Verlauf von 3–4 Tagen eine Kontrollendoskopie durchgeführt werden. Bei Grad I und IIa (. Tab. 24.1) ist meistens eine symtomatische Therapie ausreichend. Ab Grad III ist die Entwicklung einer Ösophagusstenose praktisch immer zu beobachten, progrediente Bougierungen alle 7– 10 Tage für 2–6 Monate sind dann erforderlich. Bei Grad III und IV sind eine parenterale Ernährung und oft eine Gastrostomie erforderlich (. Tab. 24.2). Falls trotz regelmäßigen Ösophagusdilatationen die Striktur innerhalb eines Jahres nicht behoben werden kann, ist die Ösophagektomie, Magenhochzug oder die Interposition von Kolon via eines retrosternalen oder transhiatalen Zuganges die Methode der Wahl.
24.2.5
Die Erstversorgung umfasst die Spülung des Mund- und Rachenraumes mit H2O, außerdem sollte H2O p.o. appliziert werden, um die ätzende Substanz zu verdünnen. Die Provokation von Erbrechen, Applikation von neutralisierenden Substanzen um eine Verdünnung der ätzenden Substanz zu erreichen, sowie Magenspülungen sind kontraindiziert. Kinder mit Verdacht auf Ingestion von ätzenden Substanzen sollen hospitalisiert werden und Nahrungskarenz einhalten. Eine gute analgetische Therapie ist essentiell, außerdem muss eine Säuresuppression mit Pro-
Komplikationen
Narbenbildung und Entwicklung von Strikturen des Ösophagus (bis zu 30%) sind die häufigsten Komplikationen bei Ingestion von ätzenden Substanzen. Frühe Komplikationen (innerhalb 72 h nach Verletzung) können eine Aspirationspneumonie und Sepsis sein. Eine Perforation des Ösophagus oder des Magens kann in seltenen Fällen auftreten, es kommt zur Mediastinitis bzw. Peritonitis, die eine operative Therapie benötigen, jedoch primär durch Legen einer Sonde konservativ behandelt werden sollte.
. Tab. 24.2 Therapieschema je nach Grad der Ösophagusverletzung nach Ingestion von ätzenden Substanzen (nach Zachariou et al. 2009) Grad
Kontrollendoskopie
Befunde
Therapie
I
3–4 Tage
Restitution
Symptomatisch
II a
3–4 Tage
Wenn keine Hinweise auf Stenose
Symptomatisch
II b
3–4 Tage 3 Wochen
Wenn ösophageale Stenose
Bougieren alle 7–10 Tage für 2–6 Monate
III
3–4 Tage 3 Wochen
Ösophageale Stenose
Parenterale Ernährung, Gastrostomie, retrograde Dilatation
IV
3–4 Tage 3 Wochen
Sekundärer gastroösophagealer Reflux bei fibrotisch bedingter Verkürzung des Ösophagus
Parenterale Ernährung, Gastrostomie, retrograde Dilatation, Antirefluxoperation, Ösophagektomie
24
482
Kapitel 24 · Ingestionen
Literatur
24
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25
Thermische Verletzungen P.M. Klimek
25.1
Einführung
– 484
25.2
Epidemiologie
25.3
Notfalltherapie
– 484 – 484
25.3.1 Analgesie – 484 25.3.2 Infusionstherapie – 484
25.4
Beurteilung
– 485
25.4.1 Flächenausdehnung – 485 25.4.2 Tiefe der thermischen Schädigung
25.5
Triage
25.6
Ambulante Behandlung
– 485
– 487 – 488
25.6.1 Débridement und Wundverband
– 488
25.7
Stationäre Behandlung
25.7.1 25.7.2 25.7.3 25.7.4 25.7.5
Schocktherapie – 488 Sicherung der Atemwege und Intubation Monitoring – 489 Ernährung – 489 Operative Therapie – 490
25.8
Komplikationen
– 494
25.8.1 Toxisches Schocksyndrom
25.9
– 488
– 494
Elektroverbrennung
– 494
25.10 Kindsmisshandlung
– 495
25.11 Nachbehandlung Literatur
– 496
– 495
– 488
25
484
Kapitel 25 · Thermische Verletzungen
25.1
Einführung
Die thermischen Verletzungen der Haut zählen zu den schwersten Verletzungen im Kindesalter. Einerseits hinterlassen solche Verletzungen entstellende Narben auf der Körperoberfläche, andererseits verursachen sie aber auch »Narben« in der Psyche eines Kindes und seiner Familie. Thermische Hautschäden können durch heiße Flüssigkeiten (bis 100°C), Öl (bis 200°C), glühendes Eisen (800°C), Flammen (1200°C), Explosion (2000°C) und elektrischen Strom (bis 50.000°C) entstehen. Hautschäden durch Flüssigkeiten und Dämpfe werden als Verbrühung und alle weiteren oben genannten Formen als Verbrennung bezeichnet. Eine Ausnahme bildet das Öl, das Verbrennungen verursacht. Thermische Hautverletzungen entstehen in den meisten Fällen durch einen Unfall.
25.2
Epidemiologie
Zwischen 2000 und 2007 verbrannten oder verbrühten sich in Deutschland jährlich ca. 50 Kinder bis 15 Jahre pro 100.000 Einwohner so schwer, dass sie stationär behandelt werden mussten (Gesundheitsberichterstattung des Bundes 2009). Risikofaktoren sind hierbei Armut, niedriger Bildungsstand, alleinerziehende Eltern, Arbeitslosigkeit, niedriges Alter der Mutter bei der Geburt, kinderreiche Familien und Drogenkonsum (UNICEF 2001). In Deutschland ist die Verbrühung, gefolgt von Kontaktverbrennungen und Hautverletzung durch Feuer, mit etwa 70% der Fälle führend. Ein Häufigkeitsgipfel besteht mit 66% bei den einjährigen Kindern, gefolgt von den 3- bis 5- und den 6- bis 10-jährigen Kindern (Langer et al. 2006). Die Inzidenz ist jedoch vor allem durch Aufklärung und prophylaktische Maßnahmen rückläufig (Elsässer 2002, 2006). Insgesamt konnte in den vergangenen Jahren die Letalität schwer brandverletzter Kinder durch die Optimierung der Therapie stark reduziert werden. Eine gute Information der Bevölkerung und insbesondere der jungen Eltern, wie z. B. in der Schweiz durch die Abgabe einer in allen 4 Landessprachen verfassten Informationsbroschüre (bfu Kinderpost), die halbjährlich an alle Familien mit Kindern bis zum 6. Lebensjahr automatisch abgegeben wird, kann die initiale Schwere einer thermischen Verletzung dramatisch senken.
25.3
Notfalltherapie
Die wichtigste initiale Notfalltherapie besteht in der Kühlung der betroffenen Körperareale. Sie vermindert nicht
nur die weitere Gewebszerstörung, sondern lindert auch die Schmerzen des Patienten. Die Kühlung sollte mit etwa 15°C warmem Wasser über eine Dauer von etwa 15– 20 min erfolgen. ! Cave Kaltes Wasser oder Eis kann zur Unterkühlung und Zellschädigung durch Erfrierung führen und sollte deshalb nicht verwendet werden. Vorsicht ist vor allem bei Säuglingen und Kleinkindern geboten, da hier die Unterkühlungsgefahr besonders hoch ist.
Eine Alternative zum Wasser bieten mit Hydrogel getränkte Schaumstoffverbände mit guten kühlenden Eigenschaften. Kühlung mit Wasser ist jedoch weiterhin die primäre Therapie der Wahl. Bereits während der Einleitung der primären Therapie ist die Erhebung einer kurzen Anamnese wichtig. Insbesondere die Unterscheidung zwischen Verbrennung und Verbrühung ist für die weitere Therapie von Bedeutung. Liegt ein Inhalationstrauma vor? Einer besonderen Aufmerksamkeit bedarf die Frage nach ausreichendem Tetanusimpfschutz. Liegt ein Unfall vor oder gibt es Hinweise für eine Misshandlung? 25.3.1
Analgesie
Eine weitere wichtige initiale Therapie stellt eine gute Analgesie dar. Bereits vor dem Eintreffen in der Klinik sollte der Patient ausreichend mit Analgetika versorgt werden. In Betracht kommen hierbei Analgetika wie z. B.: 4 Paracetamol: 20 mg/kg peroral oder rektal 4 Codein: 1 mg/kg peroral; maximal 50 mg pro Dosis 4 Die initiale Verabreichung der Schmerzmittel kann durch das Sanitätspersonal oder die Eltern erfolgen. Die Zeit mit Schmerzen und Stress kann so deutlich reduziert werden. 4 Bei ausgedehnter Verletzung Opiate, z. B. MorphinHCL: 0,05–0,1 mg/kg KG intravenös oder subkutan Der Standard einer Klinik muss so aufgebaut werden, dass bei thermischen Hautverletzungen eine Schmerztherapie sofort eingeleitet werden kann. 25.3.2
Infusionstherapie
Bereits am Unfallort sollte bei großer Flächenausdehnung (>10% Körperoberfläche [KOF]) eine Schocktherapie eingeleitet werden. Die ideale Infusionslösung ist die isotone Kochsalzlösung (NaCl 0,9%) oder Ringerlaktat (keine Kolloide). Sofort nach stattgehabtem Trauma verlieren die Patienten eine große Menge an Flüssigkeit.
H.G. Dietz et al. (Hrsg.), Praxis der Kinder-und Jugendtraumatologie, DOI 10.1007/978-3-642-12935-3_25, © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2011
485 25.4 · Beurteilung
! Cave Es dürfen keine Kolloide oder prophylaktische Antibiotika verabreicht werden!
hierbei, dass die Kopfoberfläche eines einjährigen Kindes einer Fläche von fast 20% der Körperoberfläche entspricht.
Die Menge der Flüssigkeitszufuhr richtet sich nach der Ausdehnung der verletzten Körperoberfläche (siehe Kapitel 25.6). Bei Ausdehnung über 50% KOF (II°/III°) oder bei Vorliegen eines Inhalationstraumas ist vor Ort eine Intubation notwendig.
25.4.2
25.4
Beurteilung
Eine thermische Hautverletzung kann und sollte in zwei Ebenen beurteilt werden: zum einen ist die Ausdehnung, zum anderen die Tiefe der Schädigung für die Therapie von größter Bedeutung.
25.4.1
Flächenausdehnung
Im Gegensatz zum Erwachsenen lässt sich die Flächenausdehnung bei Kindern nicht nach der »Neuner-Regel« nach Wallace berechnen, da Kinder andere anatomische Körperproportionen aufweisen. Eine zuverlässige Methode stellt die Zuhilfenahme der Hände des Patienten dar. Hierbei entspricht die Handinnenfläche einschließlich der Finger etwa 1% der Körperoberfläche (. Abb. 25.1). Zu bedenken ist
. Abb. 25.1 Berechnung der geschädigten Hautoberfläche
Tiefe der thermischen Schädigung
Die Bestimmung der Tiefe einer thermischen Schädigung ist im Vergleich zur Bestimmung der Ausdehnung deutlich schwieriger (. Abb. 25.2). Bis heute gibt es keine zuverlässigen Methoden, um die Tiefe einer thermischen Hautschädigung frühzeitig zu bestimmen. Anatomisch gliedert sich die Haut in 3 Hauptschichten: Epidermis, Korium und Subkutis. Die therapiebestimmende Tiefenausdehnung richtet sich nach den vom thermischen Schaden betroffenen Hautschichten und wird in 4 Schweregrade eingeteilt, die ineinander übergehen können. Bei großflächigen thermischen Verletzungen werden immer Areale mit verschiedener Tiefenausdehnung beobachtet. Weitere Beurteilungskriterien sind die Beschaffenheit der Hautoberfläche, die Farbe der Haut, die Feuchtigkeit und die Schmerzempfindlichkeit (. Tab. 25.1). Die Tiefe der Läsion ist hierbei von der einwirkenden Noxe, Dauer der Einwirkung, Lokalisation und dem Alter des Patienten (Hautdicke) abhängig. Die Erstbeurteilung ist schwierig und sollte, um einer Kontamination vorzubeugen, unter sterilen Bedingungen erfolgen (Mundschutz, sterile Handschuhe).
25
486
Kapitel 25 · Thermische Verletzungen
25
. Abb. 25.2 Einteilung der Tiefe einer Verbrennung und Verbrühung
Einteilung der thermischen Verletzungen nach der Tiefe der Schädigung 4 Grad I: Betroffen sind oberflächliche Epidermisschichten. Sie zeichnet sich durch eine schmerzhafte Rötung aus und heilt folgenlos aus. Ein Beispiel ist der Sonnenbrand. 4 Grad IIa: Betroffen ist die gesamte Epidermis. Auf der stark geröteten Haut bilden sich subepidermale Blasen. Diese Hautschädigung ist sehr schmerzhaft, heilt jedoch ebenfalls narbenfrei aus. 4 Grad IIb: Betroffen sind Epidermis und Kutis sowie gelegentlich die Hautanhangsgebilde. Auf stark geröteter Haut entstehen ebenfalls Blasen, jedoch
zum Teil mit weißlichem Blasengrund. Diese Schädigung ist ebenfalls schmerzhaft und heilt nur mit Narbenbildung aus. 4 Grad III: Zerstörung der Haut bis in die Subkutis. Die Haut ist grau-weißlich, meist trocken und teilweise mit schmierigen Belägen bedeckt. Durch die Zerstörung der Nervenendigungen sind die Verletzungen oft kaum schmerzhaft. Diese Verletzung geht mit Defektheilung, Narben- und oft Keloidbildung einher. Eine Nekrosenabtragung und Hauttransplantation sind immer notwendig. 4 Grad IV: Verkohlung.
. Abb. 25.3 Verbrühung vor chirurgischem Débridement (links), nach chirurgischem Débridement (Mitte) und 6 Tage später (rechts)
487 25.5 · Triage
. Tab. 25.1 Charakteristische Merkmale der Hautveränderungen nach thermischer Verletzung Grad
I
IIa
IIb
III
Hautbeschaffenheit
Rötung
Blasenbildung
Blasenbildung
Blasenbildung, Brandschorf
Wundgrundfarbe
Keine Wunde
Rötlich
Rötlich/Weißlich
Weißlich
Wundfeuchtigkeit
Keine Wunde
Feucht
Feucht
Trocken
Berührungsschmerz
Deutlich
Sehr deutlich
Herabgesetzt
Fehlt
Spontane Heilung
Die Unterscheidung zwischen Grad IIa und Grad IIb ist sehr schwierig, jedoch für die Prognose und weitere Therapie ausschlaggebend. Ein Unterscheidungsmerkmal ist eine verspätete Nadelstichblutung bei Grad IIb, die auf die Zerstörung von Kapillaren am Wundgrund zurückzuführen ist. Oft liegt eine ineinander gehende Mischform zwischen Grad IIa und IIb vor (. Abb. 25.3). Bei Verbrennungen ist die Tiefe der Verletzung meistens gut bestimmbar, bei Verbrühungen ist jedoch die definitive Einteilung häufig erst im Verlauf (4.–5. Tag) möglich. > Die Flächenausdehnung wird meist überschätzt und die Tiefenausdehnung unterschätzt.
Chirurgische Intervention notwendig
25.5
Triage
Nach der initialen Versorgung muss entschieden werden, ob ein Patient ambulant oder stationär behandelt werden muss. Hierzu wurden entsprechende Kriterien aufgestellt (. Tab. 25.2). Es ist jedoch zu bedenken, dass insbesondere bei kleinen Kindern jeder einzelne Patient individuell beurteilt werden muss. Bei Hautschädigungen, die über 20% KOF hinausgehen, ist eine Verlegung in ein Zentrum für Brandverletzte indiziert. 4 In Deutschland erfolgt die Anmeldung direkt bei den Kliniken oder über eine Zentrale in Hamburg: Tel: 0049/40 42851 3998 oder 0049/41 2882 3998 4 Österreich: AKH Wien: 00431/404 000 4 Schweiz: USZ Zürich: 0041/44 255 11 11 oder CHUV Lausanne: 0041/21 314 22 11
. Tab. 25.2 Kriterien für den Behandlungsmodus Beurteilungskriterium
Behandlungsmodus Ambulant
Stationär
Flächenausdehnung
Bis 5% KOF bei Säuglingen Bis 10% KOF bei Kindern >1 Jahr
Über 5% KOF bei Säuglingen Über 10% KOF bei Kindern >1Jahr
Tiefe der geschädigten Haut
Grad I und Grad IIa
Grad IIb und Grad III
Spezielle Lokalisation oder Begleitverletzungen
Gesicht (Ödeme, Schmerzen, Konjunktivitis, Korneaerosionen, Trommelfelle und Innenohrverletzungen bei Explosionen) Atemwege (Inhalation Rauch/Dämpfe, frühzeitige Intubation und großzügige Indikation zur Bronchoskopie) Thorax (behinderte Atmung) Genital- und Analbereich (Blasenkatheter notwendig) Zirkuläre Verbrennungen an Extremitäten (Kompartmentsyndrom) Gelenke (Gelenkkontrakturen) Schädel-Hirn-Trauma, Frakturen Nebenerkrankungen (Immunschwäche, Zerebralparese)
Spezielle Verletzungsart
Elektrotrauma (Cave: Herzrhythmusstörungen, EKG) Hautschädigung durch Chemikalien
Andere Beurteilungskriterien
Verdacht auf Kindsmisshandlung Soziale Indikation Herkunft, Ernährungsgewohnheiten
25
25
488
Kapitel 25 · Thermische Verletzungen
25.6
Ambulante Behandlung
25.6.1
Débridement und Wundverband
An erster Stelle der initialen Therapie steht bei jeder thermischen Hautschädigung die Kühlung, Analgesie und Beurteilung der Tiefe und Ausdehnung. Werden die Kriterien für eine ambulante Behandlung erfüllt und ist der Tetanusschutz intakt, so kann die Therapie der Wunde eingeleitet werden. Bei Verbrühung oder Verbrennung <3% KOF kann in Sedierung und entsprechender Schmerztherapie (per os, rektal, intravenös) mit Midazolam (Dormicum, Midazolam-ratiopharm) oder Lachgas/Sauerstoff-Gemisch (Medimix 50) in der Notfallstation oder im Operationssaal ein Wunddébridement durchgeführt werden. Geschlossene Blasen stellen zwar einen physiologischen Schutz dar, eröffnete Blasen sind jedoch ein idealer Nährboden für Bakterien und führen zu verzögerter Wundheilung. Alle Blasen werden deshalb unter sterilen Bedingungen (Mundschutz, sterile Handschuhe, sterile Unterlage) abgetragen. Ein Débridement im Gesicht, an Handflächen und Fußsohlen ist jedoch nur in speziellen Fällen indiziert und sollte im Operationssaal unter Anästhesie durchgeführt werden. 4 Grad I: Mit NaCl 0,9% oder Polyhexanid-Lösung (Prontosan, Lavasept) werden die betroffenen Stellen gereinigt und z. B. ein Bepanthen-Salbenverband angelegt (Müller 2007). 4 Grad II: Mit NaCl 0,9% oder (Polyhexanidlösung) werden die Blasen vorsichtig befeuchtet und sorgfältig abgetragen. Der Wundgrund wird desinfiziert und ein steriler Wundverband angelegt (siehe Kapitel 25.7). Verbandswechsel erfolgen abhängig von der Art der Wundauflage alle 1–2 Tage in Sedation oder Narkose bis zur definitiven Entscheidung, ob eine Nekrosektomie notwendig ist (4.–5. Tag).
25.7
Stationäre Behandlung
25.7.1
Schocktherapie
Das interstitielle Ödem erreicht nach 24 h das Maximum, dann stabilisiert sich das kapilläre Leck. Vor allem bei Schädigung von mehr als 20% KOF führt die zunehmende Kapillarpermeabilität zu großen intravasalen Flüssigkeitsdefiziten (Verbrennungskrankheit). Eine optimale Flüssigkeitsversorgung mit damit verbundener verbesserter Organperfusion ist hierbei ausschlaggebend für die Mortalität und Morbidität des Patienten (Pham et al. 2008). Der Ersatz der Flüssigkeiten und die Schocktherapie sollten mit Elektrolytlösungen erfolgen. Die Menge der infundierten Flüssigkeit ist besonders wichtig und richtet sich nach der bereits 1960 durch Baxter im Parkland Hospital publizierten Formel und den aktuellen Richtlinien der American Burn Association 2008 (Pham et al. 2008; Benicke et al. 2009). > Die Infusionsmenge bei thermischer Hautschädigung >20% KOF setzt sich immer aus Erhaltungsbedarf (1500 ml/m2 KOF/24 h) und Ersatzmenge (4 ml x kg KG × % verbrannter KOF/24 h) zusammen (. Tab. 25.3). Hierbei sollten 50% der Infusionsmenge in den ersten 8 h infundiert werden.
Die Körperoberfläche (KOF) berechnet sich nach folgender Formel:
Durch den Flüssigkeitsersatz ist eine Diurese von mindestens 1,0–1,5 ml/kg/h, bei Säuglingen mindestens 2 ml/kg/h, anzustreben. Zur Bilanzierung ist meist die Einlage eines Blasenkatheters notwendig. Eine noch höhere Infusionsmenge kann bei thermischen Verletzungen III. Grades, Inhalationstrauma oder spätem Therapiebeginn benötigt werden. Die orale Flüssigkeitsaufnahme sollte so bald wie möglich begonnen werden (Cancio et al. 2006).
25.7.2
Werden die Kriterien für eine Hospitalisation erfüllt, so ist meistens das Legen eines intravenösen Zugangs notwendig. Hierdurch können ab sofort suffiziente Analgetika verabreicht werden und es kann mit der Schocktherapie begonnen werden. Die Schocktherapie sollte sofort eingeleitet werden, da der Körper über die Verbrennungswunden bis zu 5 l/m2/Tag Flüssigkeit verlieren kann. Der Verlust der Flüssigkeit erfolgt zum einen durch die gesteigerte Wasserdampfdurchlässigkeit, durch Verdunstung sowie Exsudation. Zum anderen kommt es durch Ödembildung zur Wasserverschiebung ins Interstitium.
Sicherung der Atemwege und Intubation
Bei jedem Patienten mit Verdacht auf ein Inhalationstrauma sollte eine Sauerstoffgabe in hoher Konzentration über die Maske erfolgen, da durch Sauerstoff die Halbwertszeit des Carboxyhämoglobins im Blut von 4 h auf 1 h reduziert werden kann. Um das Ausmaß der das Inhalationstrauma häufig begleitenden Rauchgasvergiftung zu objektivieren, ist eine Blutgasanalyse mit Bestimmung des Carboxyhämoglobins notwendig. Eine sorgfältige Beurteilung der Atemwege, vor allem bei Obstruktion und Heiserkeit, ist lebensnotwendig. Die Indikation zur Intubation richtet sich nach der Schwere der Verletzung.
489 25.7 · Stationäre Behandlung
. Tab. 25.3 Berechung der Infusionsmenge bei thermischer Hautschädigung Infusionsmenge (Erhaltungsbedarf + Ersatzmenge) Erhaltungsbedarf
Ersatzmenge
1. Tag
1500 ml/m2 KOF/24 h
4–6 ml × kg × % verbrannter KOF (Parkland-Formel)
2. Tag
1500 ml/m2 KOF/24 h
3 ml × kg × % verbrannter KOF
3. Tag
1500 ml/m2 KOF/24 h
1 ml × kg × % verbrannter KOF
Bei allen bewusstlosen Patienten und Patienten mit thermischer Verletzung im Halsbereich, die die Atmung behindert, schwerem Inhalationstrauma und schwerer Vergiftung mit Kohlenmonoxid oder chemisch-toxischen Produkten besteht eine Indikation zur Intubation. Vor allem bei bewusstlosen Patienten muss eine Kohlenmonoxidvergiftung vorausgesetzt werden. Je nach Beteiligung der Atemwege kann die Intubation z. T. sehr schwierig sein und sollte restriktiv von erfahrenen Kollegen ggf. mit fiberoptischer Unterstützung durchgeführt werden (Mlcak et al. 2007).
25.7.3
Monitoring
Bei jedem Patienten muss ein regelmäßiges Monitoring stattfinden. Dabei sind folgende Parameter zu überwachen: 4 Puls, Blutdruck und Atemfrequenz 4 Körpertemperatur 4 Rekapillarisierungszeit und Sauerstoffsättigung im Gewebe (SpO2) 4 Sensibilität, Durchblutung und Motorik 4 Schmerzintensität 4 Ausscheidung
25.7.4
Infusionslösung
Verteilung
Ringerlaktat: Na: 130 mmol/l Cl:100 mmol/l Laktat: 27 mmol/l K: 5 mmol/l Ca: 1,8 mmol/l
Infusionsmenge in den ersten 24 Stunden Davon 50% in den ersten 8 Stunden Davon 25% in der 9.–16. Stunde Davon 25% der 17.–24. Stunde
> Kinder mit Verbrennungen haben einen erhöhten Bedarf an Kalorien, Proteinen, Vitaminen und Elektrolyten, der bis zum 2,5-fachen des normalen Grundumsatzes betragen kann.
Kleinere Kinder haben Mühe, die geforderte Nahrungsmenge zu sich zu nehmen. In diesem Fall sollte eine Magen- oder Jejunalsonde während der ersten Narkose eingelegt werden. Hauptziel ist es, baldmöglichst mit oraler Ernährung zu beginnen, damit die Mukosabarriere und die Darmzottenfunktion erhalten bleiben. 4 Eine parenterale Ernährung ist ab 40–50% verbrannter KOF oder/und bei nicht beherrschbaren Durchfällen oder drohendem Ileus indiziert. 4 Eine enterale Ernährung ist jedoch immer der parenteralen vorzuziehen und muss dem erhöhten Bedarf angepasst werden (. Tab. 25.4). 4 Neben der Gesamtenergie sind der hohe Protein- und Glukosebedarf zu berücksichtigen. 4 Ziel ist es, die Gesamtenergie in Form von 20–25% Proteinen, 35–30% Fetten und 50–55% Kohlenhydraten einzunehmen. 4 Weiterhin sollten Vitamine (A, D, E, K, B, C) und Spurenelemente (vor allem Zink und Selen) der Nahrung zugefügt werden.
Ernährung
Die Ernährung in der unmittelbaren Postverbrennungsperiode ist von essenzieller Bedeutung.
Nach Verschluss der Wunden und Stabilisierung des Stoffwechsels erfolgt schrittweise die Rückkehr zur normalen Ernährung (leichte Vollkost) unter Berücksichtigung
. Tab. 25.4 Energiebedarf bei thermischer Hautschädigung (nach Curreri 1990)
Energie
Säuglinge
Kinder bis 12 Jahre
Kinder ab 12 Jahren
2300 kcal/m2 + 500 kcal/m2 × verbrannte KOF/24 h
60 kcal/kg KG+ 35 kcal × % verbrannter KOF/24 h
20–25 kcal/kg KG + 40–70 kcal × % verbrannte KOF/24 h
25
490
Kapitel 25 · Thermische Verletzungen
von begleitenden Störungen (Untergewicht, gastrointestinale Störungen etc.).
25.7.5
Operative Therapie
25.7.5.1
Débridement und Wundverbände
25 Nach Stabilisierung der kardiopulmonalen Situation und Einleitung der Schocktherapie ist ein Debridement im Operationssaal unter sterilen Bedingungen in Vollnarkose indiziert. Behaarte Körperbereiche müssen hierbei sorgfältig und ausreichend rasiert werden, um die Verletzung besser einschätzen zu können und die Infektionsgefahr zu reduzieren (. Abb. 25.4) Mit NaCl 0,9% getränkten Longuetten werden anschließend die Blasen vollständig abgetragen. Der Wundgrund wird desinfiziert und ein steriler Wundverband angelegt. Ein optimaler Verband schützt vor einer Wundinfektion, lindert Schmerzen und fördert die Wundheilung. Weiterhin sollte dieser mehrere Tage auf der Wunde verbleiben können und die Wundbeurteilung nicht erschweren. Die Therapie von Verbrühungen unterscheidet sich in manchen Kliniken von derjenigen einer Verbrennung. Eine der Alternativen zum Salbenverband stellt ein Verband mit feuchten Wundauflagen dar.
. Abb. 25.4 Verbrühung am Kopf, nach Rasur
4 Schicht 2: Mehrschichtige Baumwollgazekompressen/ Longuetten 4 Schicht 3: Kerlix-Gaze-Bandage 4 Schicht 4: Eventuell zusätzlich Verbandfixation wie ein Netzverband ! Cave Besondere Vorsicht ist bei zirkulären Verletzungen geboten, da sich hier die Gefahr eines Kompartmentsyndroms deutlich erhöht (. Abb. 25.5). Eine frühe Escharotomie kann hier notwendig werden.
Primärer Verband bei Verbrühungen 4 Auf verbrühte Körperbereiche Silikon-bedampfte, nicht anhaftende Wundgazen wie z. B. Mepitel auflegen 4 Auf diese Gazen anschließend feuchte (in Prontosan oder Lavasept getränkte) und trockene Kompressen auflegen
Primärer Verband bei Verbrennungen
25.7.5.2
Wundverbände bei spezieller Lokalisation
Gesicht Bei Verbrühungen und Verbrennungen erfolgt
die initiale Therapie mit in NaCl 0,9%-getränkten Kompressen und anschließend Salbenverbänden oder offen belassen der Wunden und periodisches betupfen mit Kamille.
4 Wie oben, oder: 4 Auf verbrannte Bereiche Silbersulfadiazin-enthaltende Salben (Ialugen plus, Flammazin) auftragen 4 Betroffene Körperstellen mit Kompressen verbinden
> Silbersulfadiazin hat eine gute bakteriostatische und bakterizide Wirkung und hat sich seit Jahren in der Behandlung thermischer Hautverletzungen bewährt (Wasiak et al. 2008).
Beispiel für einen Wundverband: 4 Schicht 1: Silikonwundgaze, Lavasept oder Silbersulfadiazin-haltige Salben
. Abb. 25.5 Zirkuläre Verbrühung am Unterarm
491 25.7 · Stationäre Behandlung
Das Auflegen von Gazen (Mepitel) empfiehlt sich nicht, da Abdrücke des Gazemusters entstehen können. Primärer Verband bei Verbrühungen und Verbrennungen im Gesicht 4 2–3× täglich vorgewärmte, in NaCl 0,9%-getränkte Kompressen auflegen 4 Die Beläge vorsichtig wegputzen und anschließend sparsam bei – Grad I: fettende Wundsalbe (z. B. Bepanthen) auftragen – Grad II und III: Lavasept oder Silbersulfadiazinhaltige Salbe auftragen
Genitalbereich Bei thermischer Schädigung im Genitalbereich ist in jedem Fall ein Blasenkatheter einzulegen, eventuell auch ein Darmrohr. Ist beim Knaben die Vorhaut betroffen, muss ggf. eine Zirkumzision durchgeführt werden. Primärer Verband bei Verbrühungen im Genitalbereich 4 2× täglich Behandlung mit feuchten Kompressen und lockerem Salbenverband mit fettender Wundsalbe (z. B. Bepanthen)
Primärer Verband bei Verbrennungen im Genitalbereich 4 2× täglich Behandlung mit Lavasept oder Silbersulfadiazin-haltiger Salbe
Füße/Hände Aufgrund des hohen Risikos von Kontrak-
turen ist es empfehlenswert, die Hände in vollständiger Spreizung und Streckung der Finger auf Schienen zu lagern. Weiterhin ist eine frühzeitige Physio- und Ergotherapie sinnvoll. Primärer Verband bei Verbrühungen und Verbrennungen an Händen oder Füßen 4 Alle 1–2 Tage Behandlung mit nicht haftenden Gazen und feuchten Kompressen und Lavasept oder alternativ Silbersulfadiazin-haltigen Salben täglich
25.7.5.3
Escharotomie
Bei tiefer Hautschädigung kommt es in Folge der hohen Temperatur zu Hautnekrosen mit nachfolgender Schrumpfung der Haut. Vor allem bei zirkulären Verletzungen führt dies zur Verkleinerung des Umfanges mit nachfolgender
. Abb. 25.6 Escharotomie am Unterschenkel links, temporäre Deckung der Hautdefekte mit Epigard
Kompression der darunter liegenden Strukturen wie Gefäßen, Nerven, Muskeln. Vor allem die Muskeln nehmen durch das zunehmende Ödem an Volumen zu und verstärken den Druck in den Muskellogen mit konsekutiver Durchblutungsstörung. Es kommt zu einem Kompartmentsyndrom. > Bei einem drohenden Kompartmentsyndrom ist deshalb eine Escharo- und ggf. Fasziotomie indiziert.
Bei der Escharotomie werden die durch die thermische Hautschädigung verschorften Hautbereiche bis auf die Faszien inzidiert. Vor allem an den Extremitäten, aber auch am Thorax und Hals ist eine Escharotomie oft notwendig (. Abb. 25.6). Im Thoraxbereich kann durch die Escharotomie die Atmung bei zirkulären Verbrennungen oft verbessert werden.
25.7.5.4
Wunddeckung
Bereits 4–5 Tagen nach dem Unfall ist es meist möglich, zu entscheiden, ob die konservative Therapie fortgeführt werden kann oder ob eine Nekrosektomie notwendig ist. Eine Nekrosenabtragung kann mittels Dermabrasio (Abschleifen der Haut, . Abb. 25.7a) oder mittels eines Dermatoms erfolgen. Finger und kleine Hautstellen können mit einem kleinen Goulian-Dermatom (. Abb. 25.7b) nekrosektomiert werden. Größere Flächen werden mittels eines pneumatisch betriebenen Dermatoms (. Abb. 25.7c) abge-
25
492
25
Kapitel 25 · Thermische Verletzungen
a
b
d
c
e
. Abb. 25.7a–e Nekrosektomie. a Schleifkopf für Dermabrasio. b Handdermatom. c Pneumatisch betriebenes Dermatom. d Tiefeneinstellung bei einem pneumatisch betriebenen Dermatom. e Pro-
file für die Breite des Hautstreifens für ein pneumatisch betriebenes Dermatom
tragen. Hierbei können Hautschichten unterschiedlicher Dicke und Breite abgetragen werden (. Abb. 25.7d, e). Die richtige Tiefe ist nicht leicht zu bestimmen. Wird zu viel exzidiert, kommt es zur starken Narbenbildung, wird zu wenig exzidiert, so entstehen Probleme bei Einheilung der transplantierten Spalthaut. In erster Sitzung sollten nicht mehr als 10–15% exzidiert werden, da es sonst zu einem zu hohen Blutverlust kommen kann. Sind größere Wundflächen in mehreren Sitzungen zu nekrosektomieren, kann eine temporäre Deckung der nekrosektomierten Areale mit Glycol-konservierter Leichenhaut (Eurotransplant) für maximal 10 Tage erfolgen, bis die Spalthauttransplantationen beginnen können.
Spalthaut Direkt nach der Nekrosektomie oder bis 2 Tage danach kann die Deckung der Wunde erfolgen, meist mit Spalthaut. Gute Entnahmestellen sind die Kopfhaut oder die Oberschenkelinnenseiten. Die entnommene Spalthaut (<0,25 mm, . Abb. 25.8) kann entweder intakt gelassen
. Abb. 25.8 Schematische Darstellung der Tiefe der Spalthaut und Vollhaut
493 25.7 · Stationäre Behandlung
a
a
b
b
. Abb. 25.9a,b Verbrennung Grad III. a Präoperativer Zustand nach Trauma. b Zustand nach Spalthautransplantation
oder mit einem Skalpell manuell oder mit speziellen Schneideinstrumenten »gemesht« werden. Hierbei wird in die Spalthaut ein Netzmuster eingeschnitten, womit die Oberfläche der Spalthaut im Verhältnis 1:1,5 bis 1:3 vergrößert werden kann. Auch nicht gemeshte Transplantate sollten an einigen Stellen eingeschnitten werden, um einen Sekretstau unter dem Transplantat zu verhindern. Mit einer kompletten Hautentnahme der Kopfhaut können bis zur 10% der Körperoberfläche »ungemesht« und bis zur 20% mit »gemeshter« Spalthaut gedeckt werden. In einer Sitzung sollten jedoch aufgrund des Blutverlustes nicht mehr als 15–20% KOF gedeckt werden (. Abb. 25.9).
c . Abb. 25.10a–c Vollhauttransplantation. a Präoperativer Zustand. b Intraoperativer Zustand. c Zustand 10 Tage nach Operation
Vollhaut Eine weitere Methode der Wunddeckung ist die Transplantation eines Vollhauttransplantates. Vollhaut kann am besten aus der Leiste, der Ellenbeuge, dem Handgelenk aber auch an der Oberschenkelinnenseite, Oberarminnenseite und am Unterbauch entnommen werden. Vollhautdeckung ist insbesondere für Bereiche, in denen das nekrotische Gewebe bis zur Subkutis reicht, geeignet (. Abb. 25.10). Es können insgesamt nur kleine Flächen gedeckt
werden (z. B. Finger). Vor allem mechanisch stark belastete Körperpartien sollten, wenn möglich, mit Vollhaut gedeckt werden.
Lappenplastiken Die Lappenplastik ist vor allem für kleine und funktionell wichtige Bereiche indiziert. Lappenplastiken werden meist in der späteren Nachbehandlung benutzt und können als
25
494
Kapitel 25 · Thermische Verletzungen
gestielte oder freie Lappen verwendet werden (z. B. Finger/ Fuß).
Weitere Methoden der Wunddeckung
25
Weitere Wundabdeckungsmethoden sind praktisch nur den Verbrennungszentren vorbehalten. Bei Hautschädigung von >60% KOF können großflächige Hautbereiche mit autologen kultivierten Keratinozyten gedeckt werden. Die Zeit der Kultivierung ist jedoch mit knapp 3 Wochen sehr lang. Außerdem ist diese Therapieform sehr teuer. Eine weitere Methode zum Kutisersatz ist eine Matrix aus bovinen Kollagenfasern (Integra) oder allogener Dermis (AlloDerm). Dieser Kutisersatz simuliert eine intakte Haut bis zur definitiven Spalthautdeckung. Diese wird anschließend auf die eingewachsene Matrix transplantiert. Die Matrix dient als Zwischenschicht zwischen der Subkutis und der Epidermis. Zur temporären Wundabdeckung können weiterhin Hautpräparate von Organspendern (glyzerolkonservierte Leichenhaut), tierische Präparate oder synthetische Präparate wie Biobrane oder Epigard verwendet werden.
25.8
Komplikationen
25.8.1
Toxisches Schocksyndrom
Eine der schwerwiegendsten Komplikationen bei thermischer Hautschädigung ist die Infektion der Haut mit darauf folgendem toxischem Schocksyndrom (TSS). Das TSS ist eine schwerwiegende Erkrankung, die mit Kreislauf- und Organversagen einhergeht und durch Bakterien, meist durch die Toxine von Staphylococcus aureus oder von Streptokokken, verursacht wird. Symptome sind ein rasches Auftreten von Fieber, Schüttelfrost, Erbrechen, Durchfall, Muskelschmerzen und Hautausschlag sowie im weiteren Verlauf Multiorganversagen. Die Erkrankung tritt meist etwa 2 Tage nach dem initialen Trauma auf, der Verlauf ist oft fulminant. ! Cave Das toxische Schocksyndrom kann auch bei Kindern mit sauberen oder nur kleinen betroffenen Hautarealen auftreten!
Die Kriterien für das TSS wurden durch das Center for Disease Control and Prevention definiert (Davis et al. 1980; Young et al. 2007). Für Kinder wurden spezielle Kriterien herausgearbeitet (Cole et al. 1990).
Kriterien für das toxische Schocksyndrom nach Young 4 Hauptkriterien sind (3 notwendig) – Temperatur >38,9°C – Niedriger Blutdruck mit schlechter peripherer Perfusion – Großflächiger Hautausschlag – Hautschuppung an Handflächen und Fußsohlen (meist 1–2 Wochen später) 4 Nebenkriterien (Beteiligung von 3 oder mehreren Systemen) – Gastrointestinaltrakt: Durchfall, Erbrechen – Muskeln: starke Muskelschmerzen – Schleimhäute: Rötung der Konjunktiven, Mundoder Vaginalschleimhaut – Nieren: Erhöhung des Harnstoffs oder Kreatinins (>2× des Normwerts) – Leber: Erhöhung von Bilirubin, ASAT, ALAT – Hämatologisches System: Hämatome, Thrombozyten <100×109/l – ZNS: Desorientierung oder Verwirrtheitszustände
Kriterien für das toxische Schocksyndrom bei Kindern nach Cole 4 4 4 4 4
Fieber >39°C Hautausschlag Durchfall ± Erbrechen Irritabilität Lymphopenie
Die Therapie muss schnell und intensiv durchgeführt werden. Es ist ein Aufenthalt auf einer Intensivstation notwendig. Nach Abnahme von Blutkulturen sollte sofort mit antibiotischer Therapie und Stabilisierung des Kreislaufs begonnen werden. Anschließend sollten die Wunden erneut gereinigt werden. Ausgedehnte Nekrosen sollten baldmöglichst exzidiert werden. Trotz der Schwere der Erkrankung wurde bisher kein Konsens bezüglich prophylaktischer Antibiotikagabe gefunden. Es fehlen weiterhin gute Studien, um diese Frage definitiv zu beantworten (Cole et al. 1990).
25.9
Elektroverbrennung
Diese spezielle thermische Hautverletzung entsteht durch eine direkte Stromverletzung oder einen Blitzschlag. Ausschlaggebend für das Ausmaß der Schädigung ist auch hier die Dauer des Stromflusses, die Stromstärke, die Stromart (Haushaltsstrom, technischer Strom, Blitz) und die Größe der Kontaktfläche.
495 25.11 · Nachbehandlung
Hauptprobleme neben der lokalen, oft nur schwer auffindbaren Brandwunde sind die Schädigung des Nervensystems (vor allem beim Blitzschlag) und Herzrhythmusstörungen. Herzrhythmusstörungen sind hierbei für die hohe Letalität verantwortlich. Wegen der möglichen muskulären Schädigung ist initial sowie im Verlaufe der ersten Tage eine Kreatinkinase-Messung durchzuführen (Muskelnekrose).
25.10
Kindsmisshandlung
Verbrühungen und Verbrennungen sind nicht selten Folge einer Misshandlung. Es sollte daher bei unklaren Unfallanamnesen und Diskrepanz zwischen Anamnese und Verletzungsmuster an eine mögliche Kindsmisshandlung gedacht und ggf. eine Kinderschutzgruppe involviert werden. . Abbildung 25.11 zeigt Beispiele von Verbrühungen, bei denen sich die Frage stellt: Wie kann eine solche Verbrühung erklärt werden? Wie kann sich ein Kind eine Verletzung dieser Art zuziehen? > Insgesamt sollten vor allem strumpfförmige Hautverletzungen (entstanden durch heiße Flüssigkeiten), Verbrühungen beider Handflächen, kleinflächige tiefe Verbrennungen (Zigarette), Verbrennungen am Gesäß (auf Herdplatte gesetzt) an eine Misshandlung denken lassen.
25.11
a
b . Abb. 25.11a,b Dringender Verdacht auf Kindsmisshandlung. a Verbrühung der Beine mit Aussparung der linken Großzehe (nach Débridement). b Verbrühung eines Säuglings (vor Débridement)
Nachbehandlung
In der Regel ist bei thermischen Hautschädigungen die interdisziplinäre Zusammenarbeit verschiedener Berufsgruppen (ärztlicher Dienst, Pflegedienst, Ernährungsberatung, Ergotherapie, Lehrerin/Kindergärtnerin, Physiotherapie, Psychologe, Seelsorge, Sozialdienst) notwendig. Physio- und Ergotherapie sind besonders bei Hautschädigung des Grades IIb und III, ab KOF >5% und über Gelenken und Händen wichtig. Oft sind eine Schienenbehandlung, die Narbenbehandlung und das Anpassen von Kompressionsanzügen für 1–2 Jahre notwendig. Eine erste Narbentherapie stellt intensives Einfetten der betroffenen Hautareale sowie die Silikonbehandlung dar. Eine intakte (nicht mehr nässende) Haut ist hierfür die Voraussetzung. Weiterhin sollte intensive Sonneneinstrahlung vermieden werden, bis die Hautnarben vollständig abgeblasst sind. Die Kompressionsanzüge müssen regelmäßig maßgefertigt werden. Diese müssen gut sitzen und kontinuierlich getragen werden. Häufig ist eine Schienenbehandlung zum Vorbeugen oder Mobilisieren von Kontrakturen notwendig.
Sekundäre plastische Korrekturen erfolgen erst nach Abschluss der Narbenausreifung. Nicht selten sind vor allem an Gelenken mehrere Eingriffe notwendig. Diese sollten durch erfahrene Chirurgen und in spezialisierten Zentren durchgeführt werden Damit die Nachbehandlung mit Erfolg durchgeführt werden kann, ist eine sehr gute Compliance der Familie notwendig. Die Zusammenarbeit mit den Eltern wird häufig durch deren Schuldgefühle erschwert, was sich gegenüber dem medizinischen Personal z. B. mit Aggressionen und Vorwürfen äußern kann. Die Erkrankung eines Familienmitglieds führt zudem zur starken Belastung für die gesamte Familie. Durch gute Informationsvermittlung kann diesen Problemen entgegengewirkt werden. Die Eltern sollten auf einen langwierigen Spitalaufenthalt, nicht selten mehrere Eingriffe sowie auf eine lange Nachbehandlung zu Hause vorbereitet werden. Insbesondere bei kosmetischen Veränderungen in sichtbaren Hautbereichen muss im Hinblick auf die Entlassung daran gedacht werden, das soziale Umfeld, z. B. auch Lehrer und Mitschüler auf den Umgang mit dem Patienten vorzubereiten.
25
496
Kapitel 25 · Thermische Verletzungen
Literatur
25
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26
Weichteilverletzungen I. Schnyder
26.1
Häufigkeit, Ursachen und Klassifikation
26.2
Allgemeines zur Wundheilung im Kindesalter
26.3
Klinik und Diagnostik
26.3.1 26.3.2 26.3.3 26.3.4
Erstversorgung – 498 Untersuchungstechnik – 499 Tetanus – 499 Diagnostik – 500
26.4
Therapieziel
26.5
Konservative Therapie
26.6
Operative Therapie
26.6.1 26.6.2 26.6.3 26.6.4 26.6.5
Analgesie und Sedation – 500 Lokalanästhesie – 501 Wundverschluss – 502 Verbände – 503 Antibiose – 503
26.7
Art und Lokalisation von Verletzungen
26.7.1 26.7.2 26.7.3 26.7.4 26.7.5 26.7.6 26.7.7 26.7.8 26.7.9 26.7.10 26.7.11
Oberflächliche Hautwunden – 503 Schnittwunden – 504 Riss-Quetschverletzungen, Platzwunden – 504 Stichverletzungen – 505 Schussverletzungen – 505 Kontusionen und Hämatome – 505 Bissverletzungen – 505 Kopf- und Gesichtsverletzungen – 507 Verletzungen am Stamm – 508 Décollementverletzungen der Extremitäten – 509 Verletzungen an Händen, Fingern und Füßen – 510
26.8
Kontrollen und Nachbehandlung
26.8.1
Intra- und postoperative Komplikationen Literatur
– 514
– 498
– 498
– 500 – 500
– 500
– 503
– 512 – 513
– 498
26
498
Kapitel 26 · Weichteilverletzungen
26.1
Häufigkeit, Ursachen und Klassifikation
Kinder erkunden mit zunehmendem Alter ihre Umgebung und können deren vielfältige Gefahren noch nicht adäquat einschätzen. Weichteilverletzungen jeglicher Art kommen in häuslicher Umgebung alltäglich vor und sind in einer Notfallstation an der Tagesordnung. Eine echte Häufigkeit ist nicht zu eruieren, da viele kleine Verletzungen zu Hause durch die Familie und Betreuende behandelt werden. Die größeren Verletzungen werden im Allgemeinen von einem Arzt diagnostiziert und behandelt oder an die entsprechenden Kliniken weitergeleitet. Die häufigsten Ursachen sind Stürze auf den Kopf und auf die Extremitäten, die zu Hautverletzungen und Kontusionen führen. Einklemmungen von Finger und Zehen sowie Schnittverletzungen treten bei Kindern viel häufiger auf, da alles berührt werden muss. Infolge von Überrolltraumen kommt es auch zu einer Kombination von Frakturen mit ausgedehnten Weichteilverletzungen, die oft unterschätzt werden. Die Einteilung der Weichteilverletzungen folgt den gleichen Regeln wie bei den Erwachsenen. Hauptsächlich wird zwischen geschlossenen und offenen Weichteilverletzungen unterschieden (. Tab. 26.1) sowie zwischen stumpfen und scharfen Verletzungen. Gewisse Körperstellen werden dabei häufiger und bevorzugt verletzt, andere weniger. Es sei hier schon erwähnt, dass Verletzungen an sehr wenig exponierten Körperstellen wie z. B. hinter den Ohren oder an der Extremitätenhinterseite an eine Misshandlung denken lassen sollen.
26.2
Allgemeines zur Wundheilung im Kindesalter
Die Wundversorgung bei Kindern wird nach den allgemeinen Prinzipien der Wundbehandlung durchgeführt. Es gibt jedoch ein paar physiologische und psychologische Betrachtungen, die einen Einfluss auf die Behandlung der Kinder haben.
. Tab. 26.1 Einteilung der Weichteilverletzungen Geschlossene Verletzungen
Offene Verletzungen
Hämatom Kontusion – Prellung Décollement
Schürfung – Abrasio Riss-Quetschverletzung Schnittverletzung Stichverletzung Bissverletzung Schussverletzung
Die Kinder haben generell »weniger« subkutanes Fettgewebe und daraus resultiert ein geringerer »Totraum«, der für die Entstehung von Infekten eine Rolle spielen kann. Zusätzlich ist der systemische Gefäßzustand bei Kindern weniger beeinträchtigt als bei den Erwachsenen, bei denen Diabetes und Arteriosklerose eine negative Rolle spielen. Viele Wunden heilen beim Kind ohne größere Probleme per primam aus, da Durchblutung, Gewebsresistenz und Heilungsmechanismen im Kindesalter deutlich besser sind. Ebenfalls für die Heilung von Bedeutung ist die Lokalisation der Verletzung. So besteht ein Unterschied in der Heilung der Kopf- und Handhaut gegenüber der Haut an der unteren Extremität; vermutlich spielt auch hier die Durchblutungsintensität eine Rolle.
26.3
Klinik und Diagnostik
26.3.1
Erstversorgung
Die Erstversorgung einer Weichteilverletzung erfolgt praktisch immer in einer Umgebung, die sowohl für den Patienten als auch für seine Helfer fremd ist. Verbandsmaterial ist meistens nur in Form von Tüchern oder Schnellverbänden vorhanden. Ein »Trostpflaster« hilft in vielen Bagatellfällen. Die offene Wunde sollte, wenn sich die Möglichkeit bietet, unter laufendem Wasser gereinigt und in saubere Tücher eingepackt werden. Die weiteren medizinischen Maßnahmen erfolgen nach dem Transport in die Klinik. Die Kontaktaufnahme zum verletzten Kind ist von entscheidender Bedeutung, denn sowohl von Seiten des kleinen Patienten als auch von seinen Eltern oder Begleitpersonen bestehen viele Ängste und Befürchtungen. Bereits gering blutende Wunden werden oft als sehr dramatisch empfunden. In den ersten Minuten müssen das Vertrauen des Kindes gewonnen und die Eltern beruhigt werden, damit sich das Kind entspannen und kooperativ mithelfen kann. Eine ruhige Art und Weise beim Vorgehen beeinflusst auch den weiteren Therapieablauf. Es soll ein kind- und altersgerechter Zugang gewählt werden, damit die Ängste und Befürchtungen auf ein minimales Maß reduziert werden können (Young et al. 2005). Nach Ankunft des Kindes im Notfallzentrum erfolgt eine kurze Anamnese und Inspektion der Situation. Latexallergien sind nach Möglichkeit aus der Anamnese zu eruieren. Das verletzte Kind erhält als erstes eine schnell wirkende Analgesie mittels Schmerztropfen. Es sollten Standards existieren, sodass die Pflegekräfte dies selbstständig und ohne Verordnung des Arztes durchführen können. Bei jeglicher Weichteilverletzung sollte der Unfallmechanismus erfragt, und es muss überprüft werden, ob er
H.G. Dietz et al. (Hrsg.), Praxis der Kinder-und Jugendtraumatologie, DOI 10.1007/978-3-642-12935-3_26, © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2011
499 26.3 · Klinik und Diagnostik
mit dem Verletzungsmuster übereinstimmen kann. Zusatzverletzungen müssen in Betracht gezogen werden. Beispiel: Lippenverletzungen mit Zahnverletzungen oder Verletzungen an den Händen und Füßen mit nicht sichtbaren Frakturen kommen häufig vor und können schnell übersehen werden (z. B. Finger in Autotüre eingeklemmt mit Nagelkranzfraktur). Das Wundmanagement erfordert abschließend die Klärung folgender Fragen: 4 Benötigt das Kind eine Analgesie und Sedation? 4 Wie soll die Wunde anästhesiert werden? 4 Wie soll die Wunde geschlossen werden? 4 Ist eine zusätzliche Ruhigstellung nötig (z. B. Gipsschiene)? 4 Ist der Tetanusschutz vorhanden? 4 Ist ein Antibiotikum indiziert?
26.3.2
Untersuchungstechnik
Das verletzte Kind hat Angst und Schmerzen und kann unter Umständen die Gesamtsituation nicht verstehen. Dem Kind soll nach Möglichkeit alles erklärt werden, was nun folgen wird. Die Aufklärung über mögliche Schmerzen soll ehrlich sein. > Absolute Aufrichtigkeit dem kleinen Patienten gegenüber ist unabdingbar, damit Vertrauen und Kooperationsfähigkeit erreicht werden können.
Für das Kind hat vieles eine bedrohliche Erscheinung – Desinfektion – Spritze – Halten der Nadel vor dem Gesicht etc. In einem ruhigen Ton übermittelt versteht auch schon ein zweijähriges Kind einfache Erklärungen und kann somit besser kooperieren (O‘Sullivan et al. 2006). Der Untersucher sollte sich auf das Kind einstellen, sich auf seine Augenhöhe begeben und mit ihm sprechen. Hilfreich ist auch, wenn das verletzte Kleinkind auf dem Schoß der Eltern sitzen bleiben und so die Untersuchung erfolgen kann. Die Untersuchungstechnik ist immer zielgerichtet und kreativ, insbesondere, wenn es sich um Sehnen und Nervenverletzungen an den Händen und Fingern handelt. Von Anfang an sollte zusätzlicher Schmerz nach Möglichkeit vermieden werden, indem langsam und gefühlvoll inspiziert wird bezüglich Lokalisation, Form und Größe, Verschmutzungsgrad der Wunde oder Vorhandensein von Fremdmaterial. Während diesen Untersuchungen wird auch die Entscheidung gefällt, ob das verletzte Kind für das anstehende Procedere kooperativ genug ist, und welche Art von Analgesie und Sedation notwendig sein wird. Bei zu großer Angst, ungünstiger Lokalisation und ungenügendem Verständnis sollte relativ großzügig auf die Möglichkeit der Allgemeinnarkose hingewiesen werden.
. Abb. 26.1 Mittels Puppen und andern spielerischen Mitteln wird das Kind von schmerzhaften Verrichtungen abgelenkt
Die Untersuchung der Wunde ist eine anspruchsvolle Aufgabe und darf nicht unterschätzt werden. Ein ruhiges Kind und beruhigte Eltern helfen entscheidend weiter. Psychologisches Einfühlen in die Situation kann mithelfen, dass das Kind Vertrauen findet und die Untersuchung zulässt. Ein spezielles Augenmerk geben wir der Information und Ablenkung bei schmerzhaften Verrichtungen. Es existieren validierte Materialien wie z. B. der Zauberstab, dreidimensionale Bücher etc., die zur Umlenkung der Aufmerksamkeit beim Kind sehr gut geeignet sind. Ein Trostbüchlein, in das die Kinder nach der durchstandenen, unangenehmen oder schmerzhaften Verrichtung einen Trostkleber einkleben können, hilft das Schmerzhafte zu vergessen (. Abb. 26.1). Kinder unter 2 Jahren müssen meistens festgehalten werden. Bei Wunduntersuchungen/-versorgungen am Kopf kann ein Tuch behilflich sein, in das der kleine Patient ganz eingepackt wird und so weniger Möglichkeiten hat, die Extremitäten zu bewegen. Eltern sehen ihm ins Gesicht und können ihn beruhigen, eine dritte Person kann den Kopf festhalten.
26.3.3
Tetanus
Die Klärung des Impfstatus bezüglich Tetanus wird erfragt und allfällige Hinweise für Allergien oder vorbestehende Erkrankungen geklärt. Gegebenenfalls muss der TetanusImpfstatus nach den allgemeinen Richtlinien erneuert werden.
26
26
500
Kapitel 26 · Weichteilverletzungen
26.3.4
Diagnostik
Bildgebung mittels konventioneller Röntgentechnik und Ultraschall sind indiziert wenn es sich um Begleitverletzungen mit Frakturen oder Glasverletzungen resp. Fremdkörpersuche handelt. Hier sind zusätzliche Weichteilaufnahmen von Vorteil, der Ultraschall kann auch Fremdkörper darstellen, z. B. Fußsohle mit Einstichstelle sowie Nachweis von Glas. Die Wunden werden steril abgedeckt, damit es zu keiner weiteren Verschmutzung kommen kann.
26.4
Therapieziel
Ziel der Behandlung ist die Reduktion des Diskomforts, Verhinderung von Infektionen, Erleichterung der Wundheilung und Minimierung der Narbenbildung. Auch bei kleineren Patienten gilt das Prinzip, dass man ein bestmögliches funktionelles und ästhetisches Resultat erzielen sollte.
26.5
Konservative Therapie
Die konservative Therapie der Weichteilverletzungen ist indiziert, wenn es sich um geschlossene Verletzungen handelt. Bei Prellungen oder Hämatomen eignen sich ein Cold Pack und orale Analgetika, verbunden mit einer topischen antiphlogistischen Medikationsform. Diese sind in den ersten Stunden gut wirksam. Spezielle Behandlungen sind selten notwendig. Die Frühmobilisation unterstützt eine schnelle Heilung.
26.6
Operative Therapie
Ein stufenweises Vorgehen ist auch bei Kindern möglich. Jegliche Therapieintervention beim Kind sollte im Voraus geplant werden, denn ein zielgerichtetes Vorgehen erleichtert die Therapie, und der kleine Patient und seine Angehörigen sind zufrieden.
26.6.1
Analgesie und Sedation
Bestimmte diagnostische und therapeutische Handlungen sind zum Teil schmerzhaft. Aus diesen Gründen ist es von Vorteil, wenn schon bei Eintritt eine Analgesie durch die Pflege eingeleitet wird. Zusätzlich wird eine Sedation verschrieben, die nach bestimmten Richtlinien erfolgt, z. B. mit Midazolam rektal oder per os. Als Hilfe können hauseigene Konzepte dienen wie z. B. das Schmerzbehand-
lungskonzept der Universitätskinderkliniken Bern (Marzi 2006). Es handelt sich hier um ein Konzept für die medikamentöse Schmerztherapie bei Früh- und Neugeborenen, Säuglingen, Kindern und Jugendlichen, welches gut validiert und einfach zu handhaben ist. > Die Indikation zur Analgesie ist großzügig zu stellen und die Einwirkungszeit ist zu berücksichtigen, da eine schlechte Schmerzkontrolle beim Kind schnell zu einem Versagen der Therapie führen kann.
Bei jeder Schmerztherapie sind die Indikation, die Kontraindikationen und die Nebenwirkungen der Medikamente zu beachten. Ebenso sind der Wirkungseintritt und die Wirkdauer von entscheidender Bedeutung. Von Vorteil sind maximale Dosierungen. Die Kinder benötigen jedoch im Anschluss an gewisse Sedationsmedikamente eine Überwachung der Sedationstiefe, der Respiration und des Kreislaufes bis 2 h nach der Intervention (. Tab. 26.2). In einfachen Fällen kann EMLA (eutektische Mischung aus 2,5% Lidocain und 2,5% Prilocain) oder auch ein Lidocain-2%-Tupfer direkt auf die Wunde gelegt werden, sofern die verletzte Stelle nicht zu groß ist. Der Lidocaintupfer ist auch wirksam bei kleinen enoralen Verletzungen (Ferguson et al. 2005) Es gibt verschiedene Möglichkeiten der Sedation und der Analgesie. Sie wird individuell für das verletzte Kind ausgewählt und die behandelnden Personen sollten mit dem Umgang vertraut sein. Eine Möglichkeit zur Sedation ist die Anwendung von Kalinox bei Kinder >3 Jahren, bei der eine anxiolytische Wirkung mit teilweiser Amnesie erreicht werden kann.
. Tab. 26.2 Dosierungsschema Schmerzmedikamente (aus Marzi 2006) Medikament
Dosierung
Maximale Tagesdosis (MTD) bzw. maximale Einzeldosis (TOP)
Paracetamol
20 mg/kg KG p.o.
MTD 4 g
Codein
1,0–1,5 mg/kg KG p.o.
MTD 200 mg
Midazolam
0,5 mg–0,7 mg/kg KG p.o.
TOP 15 mg
Morphin-HCl
0,05–0,1 mg/kg KG i.v.
TOP 5 mg
Kalinox
Lachgas-SauerstoffGemisch zum Inhalieren
Kalinox: äquimolare Mischung aus Lachgas und Sauerstoff (50% N2O und 50% O2); wirkt anxiolytisch mit teilweiser Amnesie. Nur leichte Analgesie. Kombination mit Analgetikum und topischer Anästhesie ideal.
501 26.6 · Operative Therapie
Eine Kombination mit einem Analgetikum und topischer Anästhesie ist von Vorteil. Komplexe Verletzungen und ausgedehnte Verletzungen wie etwa Verletzungen im Gesicht, der Mundhöhle oder der Hand benötigen in vielen Fällen eine Allgemeinnarkose, da die Patienten weniger gut kooperieren können, und die Untersuchung und Wundversorgung minutiös und möglichst optimal durchgeführt werden soll.
26.6.2
Lokalanästhesie
Die Wundversorgung erfolgt meist in Lokalanästhesie im Sinne eines digitalen Blockes nach Oberst oder im rautenförmigen Unterspritzen des Wundgebietes wie z. B. bei Riss-Quetschwunden. Bei Kindern ist das Wissen um die maximale Dosis des einzelnen Medikamentes wichtig (. Tab. 26.3). Der Sensibilitätsverlust erfolgt nach gut 5 min; die Wirkungsdauer von Lidocain, Xylocain und Scandicain beträgt 60–120 min. Stark wirksam ist Bupivacain, z. B. Carbostesin mit einer Wirkungsdauer von mehr als 400 min. ! Cave Vasokonstriktoren sind streng kontraindiziert an Fingern, Zehen oder Penis.
Zur Verlängerung der Wirkungsdauer und zur Verminderung der Blutungsneigung können in ausgewählten Fällen wie Ohrmuschelverletzungen oder ausgedehnte Skalpverletzungen Vasokonstriktoren den Lokalanästhetika beigemengt werden. Auch bei einer einfachen Wundversorgung sind die Regeln der Asepsis zu beachten. Der Operateur sollte einen
. Tab. 26.3 Dosierung von lokalen Anästhetika Anästhetikum
! Cave Man sollte sich immer bewusst sein, dass auch bei den kleinen Patienten lokalanästhetische Zwischenfälle vorkommen können. Es sind allergische und toxische Reaktionen möglich.
Maximaldosis
Topische Anästhesie EMLA-Patch oder -Salbe Infiltrationsanästhesie 1% Lidocain (1 ml=10mg)
Maximale Dosis 5 mg/kg KG (0,5 ml/kg KG)
1% Lidocain plus Adrenalin
Maximale Dosis 7 mg/kg KG (0,7 ml/kg KG)
2% Lidocain (1 ml=20 mg)
Maximale Dosis 0,25 mg/kg KG (0,25 ml/kg KG)
Regionale Nervenblockaden 0,5% Bupivacain
sterilen Kittel, eine Operationshaube, sterile Handschuhe und einen Mundschutz tragen. Hautwunden an Kopf, Stamm und Extremitäten werden in Infiltrationsanästhesie versorgt. Dazu umspritzt man die Wundränder rautenförmig. Es ist auch möglich, direkt in den Wundrand hineinzuspritzen, da dies weniger schmerzhaft ist. Für kleinere Wunden reichen 3–5 ml einer 1%-igen Scandicainlösung. Bei Bedarf kann die Dosis bis zur erwähnten Maximaldosis gesteigert werden. Nachdem die Lokalanästhesie erfolgt ist, wird ihre Wirksamkeit nach entsprechender Einwirkungszeit mit der Pinzette überprüft. Erst dann erfolgt die eigentliche Desinfektion der Wunde mit einem hausüblichen Desinfektionsmittel. Es ist von Vorteil, wenn eine genügend große Fläche desinfiziert wird, denn die Kinder bewegen sich unter Umständen und das Desinfektionsausmaß wird ungenügend. Ein weiterer Vorteil besteht darin, dass das verletzte Wundgebiet nach der Anästhesie keine Schmerzen mehr bereitet. Zur besseren Beurteilung und Versorgung der Wunde ist an Fingern und Zehen eine Blutsperre behilflich. Dazu legen wir einen kräftigen Gummischlauch um das Glied proximal der Wunde, ziehen den Schlauch an und fixieren ihn mit einer Klemme. Alternativ kann auch ein steriler Handschuhfinger abgeschnitten werden und als »Gummiring« benutzt werden. Die Wunde wird mit steriler Kochsalzlösung sehr gut gereinigt; eventuell muss mittels Wasserdruck aus einer Spritze (Plastikknopfsonde oder PVK) die Wundtiefe gespült werden. So können Detritus und kleine Steine oder andere Fremdkörper entfernt werden.
Maximale Dosis 2 mg/kg KG (0,4 ml/kg KG)
Allergische Zwischenfälle Eine allergische Reaktion kann zu Urtikaria oder gar ödematöser Schleimhautschwellung von Nase, Pharynx oder Larynx mit anaphylaktischem Schock führen. Um diese Zwischenfälle zu vermeiden, sucht man anamnestisch nach früheren Nebenreaktionen auf ein Lokalanästhetikum, z. B. bei zahnärztlichen Behandlungen. Bei gesicherter Allergie muss man abklären, ob diese gegen Ester oder Amide gerichtet ist. Lokalanästhetika vom Amidtyp (Lidocain, Bupivacain, Ropivacain) verursachen viel seltener allergische Reaktionen als Lokalanästhetika vom Estertyp (Procain). Im Zweifelsfall muss auf eine Allgemeinanästhesie zurückgegriffen werden. Die Therapie bei einem schweren allergischen Zwischenfall entspricht der Therapie eines anaphylaktischen Schocks.
26
502
26
Kapitel 26 · Weichteilverletzungen
Toxische Zwischenfälle Verantwortlich für toxische Zwischenfälle sind Überdosierung, versehentliche intravasale Injektion oder zu rasche Resorption im entzündeten Gebiet. Diese Zwischenfälle können vermieden werden, indem die Maximaldosen eingehalten werden und indem vor der Injektion aspiriert wird, wobei kein Blut in der Spritze erscheinen darf. Durch mehrmaliges Vor- und Zurückschieben bei gleichzeitiger Richtungsänderung der Nadel während der Injektion verhindert man, dass große Mengen intravasal appliziert werden. Die Versorgung einer entzündeten Wunde erfordert eine Allgemeinanästhesie. Toxische Reaktionen sind zunächst vom Zentralnervensystem und erst später vom Herz-Kreislauf-System zu erwarten. Symptome toxischer Reaktionen von Seiten des ZNS 4 4 4 4 4
Motorische Unruhe Schweißausbruch Bewusstseinsverlust Toxisch-klonische Krämpfe Atemstillstand
Beim Verschluss von kleineren Schnittverletzungen kommen topische Hautkleber oder adhäsive Strips zum Einsatz. Sie eignen sich für Wunden, die weniger als 3 cm lang sind, gerade Kanten haben und nicht unter Spannung stehen. Sie benötigen keine lokale Anästhesie und sind schnell und einfach anzuwenden. Bei der Anwendung von topischem Hautkleber muss die Grenze der Indikation und die Gebrauchsanweisung strikte beachtet werden. Zur Verstärkung werden häufig noch adhäsive Strips aufgebracht, die möglichst lange belassen werden sollten. Sie brauchen später keine Entfernung, denn sie fallen nach 1–2 Wochen von selber ab. Sie haften jedoch nicht im stark behaarten Hautbereich. Sie sollen so lang als möglich sein und nicht zu nahe beieinander liegen, damit das Wundsekret abfließen kann und die Wunden möglichst trocken gehalten werden (Farion et al. 2003).
Nahtversorgung In der Regel werden Einzelknopfnähte durchgeführt, da diese Nahttechnik schnell und einfach ist. Auch hier ist eine adäquate Analgesie und Anästhesie die Voraussetzung für eine gute Wundnaht. Sie ist bei kleinen Kindern oft zeitraubender als der eigentliche Nähvorgang und muss gut vorbereitet sein. Nahttechnik Das Endresultat soll kosmetisch so schön
26.6.3
Wundverschluss
Das initiale Management der chirurgischen Wundversorgung umfasst 4 Stufen: 4 Hämostase 4 Ausgiebige Wundreinigung 4 Débridement von avitalem Gewebe 4 Verschluss der Wunde und gegebenenfalls entsprechende Ruhigstellung Diese Schritte werden einzeln durchgeführt und folgen den allgemeinen chirurgischen Prinzipien. Für den eigentlichen Wundverschluss gibt es verschiedene kommerziell erhältliche Möglichkeiten, die ihre speziellen Indikationen sowie ihre Vor- und Nachteile haben. 4 Pflaster 4 Topische Hautkleber 4 Adhäsive Strips 4 Naht 4 Stapler
Versorgung kleinerer Wunden Viele kleine Wunden haben gerade, saubere Kanten oder sind Riss- und Platzwunden und benötigen keine tiefen Nähte. Sie brauchen nach der Desinfektion oft nur einen sterilen Schnellverband.
als möglich aussehen. Eine sub- bzw. intrakutane Nahttechnik ist kosmetisch besser, kann jedoch nicht immer in allen Fällen gut durchgeführt werden. Einzelknopfnähte können durchaus reichen, sollten aber »invertiert« angelegt sein. Dadurch kann die unschöne »Strickleiterspur« vermieden werden. Darüber erfolgt ein entsprechender Verband mit einem nichthaftenden Produkt (evtl. aus Silikon) und/oder eine gute Ruhigstellung. Bei kleinen Kindern ist es unter Umständen von Vorteil, wenn mehrere Finger oder die gesamte Hand eingebunden werden, da sie ihre Hand sehr schnell wieder gebrauchen und den Verband »vergessen«. Fadenmaterial Die Auswahl des Fadenmaterials ist von
entscheidender Wichtigkeit. Die Fadenentfernung beim kleinen Kinde kann manchmal traumatisierender sein als die eigentliche Wundversorgung. Aus diesem Grunde sind selbstresorbierende Fäden für die Haut empfehlenswert. Eine Fadenentfernung entfällt, und das Kind wird nicht nochmals traumatisiert. Sie können ohne Probleme an den Händen, in den Haaren oder entsprechenden Lokalisationen benutzt werden. Im Gesicht empfiehlt sich jedoch ein nichtresorbierbarer Faden, damit ein kosmetisch optimales Resultat erreicht werden kann. In speziellen Fällen ist es ratsam, die Fadenentfernung in Sedation oder in Narkose zu planen.
503 26.7 · Art und Lokalisation von Verletzungen
. Tab. 26.4 Entfernung der Hautnähte Hals und Gesicht
Nach 4–6 Tagen
Behaarter Kopf
Nach 6–8 Tagen
Handverletzungen, Rumpf und Oberschenkel
Nach 10–12 Tagen
Unterschenkel und Fuß
Nach 14 Tage
> Für Hautnähte im Gesicht verwendet man Fadenstärke 5-0 oder 6-0, am Stamm und an den Extremitäten Fadenstärke 3-0 oder 4-0. Es gilt dabei, zwischen Nahtstabilität und ästhetischen Gesichtspunkten abzuwägen. Fadenentfernung Über den üblichen Zeitpunkt der Fadenentfernung gibt . Tab. 26.4 Auskunft. Kontraindikationen Unter den in der Übersicht genann-
ten Umständen sollte eine Wunde nicht genäht werden. Wenn dies unumgänglich ist, muss eine Exploration der Wunde in Narkose in Betracht gezogen werden. Kontraindikationen einer Nahtversorgung 4 Starke Kontamination oder Infekt 4 Schlechte Durchblutung der Wundränder 4 Verschluss der Wundränder nur unter großer Spannung möglich 4 Reduzierte Infektresistenz 4 Keine Gewährleistung von Asepsis und Antisepsis (z. B. im Krieg oder bei Katastrophen)
26.6.4
Verbände
Verbände müssen bei Kindern gut fixiert sein, da die Kinder in den meisten Fällen wieder herumtollen und ihre Verletzungen oft sehr schnell vergessen. Farbige Verbände helfen, das Trauma zu vergessen und können mit Aufklebern verziert werden. Es lohnt sich, härtende Verbände anzulegen, wenn es sich um Verletzungen handelt, die gelenkübergreifend sind, damit die Wunde in aller Ruhe verheilen kann. Kleine oberflächliche Wunden werden mit Pflaster, adhäsiven Strips, Naht oder einer Kombination von allem versorgt.
26.6.5
Antibiose
Die meisten Weichteilverletzungen beim Kinde benötigen keine antibiotische Prophylaxe. Entscheidend sind Desinfektion und Wundreinigung und die allgemeinen sterilen Verhaltensmaßnahmen, die bei jeder Wundversorgung angewandt werden. Die Kontamination einer Wunde mit Keimen beginnt mit dem Zeitpunkt der Verletzung. Der Unfallmechanismus ist von entscheidender Bedeutung und impliziert die Indikation für eine Antibiose. Stichverletzungen und tiefe Wunden haben ein größeres Risiko für eine Wundinfektion, da sie in der Tiefe oft devitalisiertes Gewebe, fremdes Material (Steine etc.) oder ein Hämatom aufweisen. Der tiefere Partialdruck des Sauerstoffes in der Tiefe der Wunde begünstigt das Wachstum von anaeroben Bakterien. Falls ein Antibiotikum benötigt wird, sollte es direkt von Anfang an gegeben werden, da die Fibrinkoagel, die die Bakterien umgeben, die therapeutische Wirkung des Antibiotikums vermindern (Endlich 1989). > Eine antibiotische Therapie wird eingeleitet, wenn es sich um stark verschmutzte und kontaminierte Wunden oder um menschliche und tierische Bisse handelt.
Im Allgemeinen werden in erster Linie Amoxicillin/Clavulansäure empfohlen (Stefanopoulos u. Tarantzopoulou 2005; Dendle u. Looke 2007). Je nach Bakteriogramm muss später umgewechselt werden.
26.7
Art und Lokalisation von Verletzungen
26.7.1
Oberflächliche Hautwunden
Oberflächliche Hautwunden (Abschürfungen, Abrasionen, Exkoriationen, Bruising) treten vor allem an Knien, Ellbogen und im Gesicht auf (. Abb. 26.2). Das Kennzeichen ist die diffuse, anfänglich punktförmige, oberflächliche Sickerblutung. Sie entsteht durch die Verletzung des subpapillären Gefäßplexus. Die Epidermis ist unterbrochen und schmutzig. Schmutzpartikel liegen in der Wunde. Sie benötigen in erster Linie eine gute lokale Reinigung mit einem gängigen Desinfektionsmittel. Von Vorteil sind nicht brennende und nicht schmerzende Produkte. Es sollte eine nicht-alkoholische Lösung verwendet werden. Die Wunden können mit einem leichten, nicht-adhäsiven Verband bedeckt oder nur an der Luft getrocknet werden. Bei größeren Wunden können auch Sprühpflaster oder bei nässenden Wunden Pflaster mit Hydrokolloiden eingesetzt werden. Antibiotikahaltige Verbände haben eine geringe Evidenz.
26
504
Kapitel 26 · Weichteilverletzungen
26
. Abb. 26.2 Eine Hautschürfung am Knie stellt die häufigste oberflächliche Hautverletzung bei Kindern dar
. Abb. 26.3 Typische kleine Schnittwunde in der Hohlhand, durch Glasscherben verursacht
Tiefere Verletzungen, in denen häufig Fremdmaterial eingelagert ist, erfordern ein anderes Vorgehen. Häufig sind Schmutzpartikel jeglicher Art oder Kieselsteine in den Wunden zu finden, speziell in der Dermis oder in den subkutanen Schichten. Diese müssen unbedingt entfernt werden, da es sonst zu Tattoo-artigen Hautveränderungen oder zu Infekten kommen kann. Sie können mittels einer mechanischen Reinigung unter Druck (Plastikkanüle, PVK und vorgewärmte Spüllösung) herausgespült werden. Gelegentlich ist hierfür eine Allgemeinnarkose erforderlich.
Traumatisierung eines Körperteils mit mehr oder weniger stumpfen Gegenständen werden Haut und Subkutis kurzfristig überdehnt und zerrissen. Die oftmals unregelmäßig gezackten Wundränder können durch die Quetschung mehr oder weniger geschädigt sein. Je nach Ausprägung dieser Schädigung muss der Wundrand vor dessen Verschluss angefrischt werden (Débridement genannt). Zudem bluten sie oft sehr stark (z. B. Skalpverletzungen). Die erste Behandlung umfasst das Stoppen der Blutung durch Hochlagern des betroffenen Körperteils oder durch Druck auf den verletzten Bereich. Eventuell muss ein leichter Druckverband ange-
26.7.2
Schnittwunden
Schnittwunden haben glatte Schnittränder (. Abb. 26.3). Die klinische Inspektion ist entscheidend, um eine Verletzung der tieferen Strukturen zu erfassen (z. B. Sehnenverletzung). Eventuell muss man sich zur genauen Exploration in Narkose entschließen. Kleine oberflächliche Schnittwunden werden mit Schnellverband versorgt, tiefere, die länger als 2 cm und tiefer als 0,5 cm sind, werden mit Einzelknopfnähten genäht. Selten sind subkutane Nähte nötig. An den Fingern wird generell keine subkutane Naht durchgeführt. Bei Kleinkindern ist es von Vorteil, wenn resorbierbares Fadenmaterial benutzt wird.
26.7.3
Riss-Quetschverletzungen, Platzwunden
Riss-Quetschverletzungen und Platzwunden (Lazerationen) entstehen durch Stürze, Stöße oder Schläge und betreffen oft mehrere Hautschichten (. Abb. 26.4). RissQuetschwunden sind die häufigsten Verletzungen. Durch
. Abb. 26.4 Einriss an einem Nasenflügel mit der entsprechenden Riss-Quetschverletzung
505 26.7 · Art und Lokalisation von Verletzungen
. Abb. 26.5 Typische Stichverletzung: volare Verletzung der Hohlhand mit Fremdkörper in situ
. Abb. 26.6 Kleine Beulen und Hämatome
legt werden. Diese Wunden müssen ärztlich mittels Naht, Klammern oder Gewebekleber versorgt werden. Sie heilen meistens schnell und ohne Komplikationen ab. Nach ca. 10–12 Tagen können Fäden oder Klammern entfernt werden. Die frischen Wunden sollten anfangs keinen größeren mechanischen Belastungen ausgesetzt werden (v. a. Gelenke). Je nach Lokalisation empfiehlt es sich, nach vollständiger Wundheilung einen guten Sonnenschutz aufzutragen, da es im späteren Verlauf zu Pigmentstörungen kommen kann.
je nach Energie überdehnt und zerrissen werden kann. Also gilt: Je schneller das Geschoss, desto verheerender seine Wirkung im Körper. Verständlicherweise stehen bei Schusswunden meist tiefere Verletzungen im Vordergrund.
26.7.4
Stichverletzungen
Stichwunden zeichnen sich dadurch aus, dass der Wundgrund nicht einsehbar ist, und sie werden in der Regel unterschätzt (. Abb. 26.5). In der Tiefe der Wunde bildet sich gerne eine Ansammlung von Blut oder Wundflüssigkeit, die zur Infektion neigt. Zudem muss immer mit einer Verletzung darunterliegender anatomischer Strukturen gerechnet werden. Dies tritt meistens bei Verletzungen mit scharfen Gegenständen wie Messer oder Glas auf. Verletzungen an den Händen müssen bei Kindern oft in Narkose inspiziert werden, da die Testung der Funktion unter Umständen sehr schwierig sein kann. Eine ausgiebige Wundspülung ist wichtig; allenfalls muss eine temporäre Drainage eingelegt werden. Oft erfolgt eine zusätzliche Ruhigstellung im Gips.
26.7.6
Kleine Beulen und »blaue Flecken« zeigt praktisch jedes gesunde, aktive Kind (. Abb. 26.6). Sind sie größer oder ausgedehnter, liegen in der Regel Stürze oder Fahrradunfälle vor. Wichtig sind hier die Begleitverletzungen wie Frakturen oder größere intramuskuläre Hämatome (. Abb. 26.7). ! Cave Bei unüblichen Lokalisationen sollte an Kindsmisshandlung gedacht werden.
Kontusionen werden häufig unterschätzt, da die Haut anfänglich nur oberflächlich beschädigt scheint. Im weiteren Verlauf sieht man das volle Ausmaß der Hautschädigung, das bis zu einer Nekrose führen kann. Diese muss später meist mit einem Hauttransplantat versorgt werden. Es ist von Vorteil, wenn die Eltern der Kinder im voraus über mögliche Wundheilungsstörungen informiert werden, da dies die Kooperationsbereitschaft erhöht.
26.7.7 26.7.5
Schussverletzungen
Schussverletzungen sind glücklicherweise in unseren Ländern selten. Beim Eindringen in den Körper wird die Energie auf das Gewebe übertragen, wodurch das Gewebe
Kontusionen und Hämatome
Bissverletzungen
Bei Kindern kommen die meisten Bissverletzungen an der Hand oder im Gesicht vor. Es handelt sich hauptsächlich um Hundebisse, Katzenbisse und Nagetierbisse; Menschenbisse sind selten. Bissverletzungen führen nur in einem kleinen Prozentsatz zu einer Hospitalisation und
26
506
Kapitel 26 · Weichteilverletzungen
26
a . Abb. 26.7a,b Ausgedehnte Kontusion des Vorfußes. a Kontusion nach Quetschtrauma durch einen Überrollmechanismus. Es kam zu metatarsalen Frakturen. b Im Verlauf zeigte sich das volle Ausmaß
a
b der Hautschädigung, die später mit einem gemeshten Spalthauttransplantat versorgt wurde
b
. Abb. 26.8a,b Hundebissverletzung im Gesicht (a) und am Arm (b)
betreffen dann hauptsächlich Verletzungen im Gesicht wie sie nach Hundebissen vorkommen (. Abb. 26.8; Benson et al. 2006). Bissverletzungen resultieren in Schürf-, Stich- oder Riss-Quetschwunden. Sie zeichnen sich aus durch die starke Schädigung des Gewebes, kombiniert mit der ausgeprägten Besiedlung hoch-pathogener Keime aus (1011 Bakterien aus der Gingiva und Zahnplaques). Verletzungen an den Händen und Fingern benötigen nur zu einem kleinen Anteil eine chirurgische Behandlung. In jedem Fall ist eine ausgiebige Reinigung und Spülung von entscheidender Bedeutung. Je nach Ausmaß ist die Indikation für ein chirurgisches Débridement großzügig zu stellen, da darunter liegende Verletzungen oft übersehen werden können (Sehnenscheiden, Sehnen, Fremdkörper wie Zähne etc.). In den meisten Fällen wird die Wunde locker adaptiert und drainiert. Im Gesicht erfolgt die
Wundadaptation in lockerer Nahttechnik, da es sonst unter Umständen zu ästhetisch störenden Narben kommen kann. Zusätzlich erfolgt für 2–3 Tage eine Ruhigstellung in einem entsprechenden Gips. Eine prophylaktische Antibiotikatherapie wird empfohlen. Die Infektionsrate ist bei Hundebissen niedrig, steigt jedoch bei Katzenbissen auf das Doppelte. Hundezähne bilden längliche Risswunden, Katzenzähne führen zu kleinen punktförmigen Wunden, die in die Tiefe gehen. Die Gefahr einer septischen Arthritis oder einer Osteomyelitis liegt hier viel höher. Bissverletzungen, bei denen nur das Korium verletzt ist, werden konservativ behandelt und engmaschig nachkontrolliert. Sie benötigen meistens kein Antibiotikum. > In allen Fällen ist nach der Tetanusimmunisierung zu fragen.
507 26.7 · Art und Lokalisation von Verletzungen
a
b
. Abb. 26.9a,b Skalpverletzung. a Riss-Quetschwunde am Kopf im behaarten Bereich. Haare sind lokal entfernt. Blick auf die intakte
26.7.8
Kopf- und Gesichtsverletzungen
Schädel Wunden im Haarbereich werden tief einschichtig mit einem resorbierbaren Faden vernäht (hämostatische Wirkung) (. Abb. 26.9). Die Haare werden nur ganz lokal mit der Schere entfernt. Die Anwendung eines antiseptischen Wundsprays ersetzt den sterilen Verband. Dieser Plastikfilm ist luftdurchlässig, wasserunlöslich und haftet bis zu 6 Tagen. Die Haare können nach zwei Tagen wieder normal gewaschen werden.
Gesicht Verletzungen am Augenlid, die den Lidrand oder den Targus betreffen, werden am besten direkt dem Ophthalmologen überwiesen, da es sehr spezifische Versorgungsprinzipien gibt. Einfache Läsionen werden mit feinem Fadenmaterial versorgt (meistens in Narkose). Sehr häufig sind Riss-Quetschverletzungen im Bereich der Augenbrauen und an der Stirn. Es genügt ein minimales Débridement; die Augenbrauen sollten nicht rasiert werden. Die Naht kann auch hier mit einem resorbierbaren Fadenmaterial oder mit Gewebekleber durchgeführt werden. Bei Riss-Quetschverletzungen am Kinn sollte die Kieferköpfchenfraktur nicht übersehen werden. Unter Umständen ist eine Röntgenaufnahme des Unterkiefers notwendig. Die Verletzungen am Kinn sind oft tiefer und müssen unter Umständen in zwei Schichten genäht werden, da die Narbenbildung ausgeprägter ist. > Nicht vergessen werden darf die Überprüfung der Gesichtsnerven, der Parotis, der Tränenkanäle und des Kieferschlusses.
Galea. b Wundversorgung mit tiefgreifenden resorbierbaren Nähten. Wundsprayverband
Mund-, Lippen- und enorale Verletzungen Weist der Patient eine Verletzung im Bereich der Lippe oder im Gesicht auf, muss häufig eine Allgemeinnarkose durchgeführt werden. Dadurch können auch tiefere Verletzungen inspiziert und adäquat versorgt werden. Ein unruhiges Kind erschwert die optimale Versorgung. Das kosmetisch-ästhetische Aussehen ist wichtig, denn der Übergang vom Lippenrot zum Lippenweiß muss perfekt readaptiert werden (. Abb. 26.10). Geht die Verletzung durch die gesamte Lippe, ist ein Verschluss in Schichten empfehlenswert, damit die Muskulatur der Lippe wieder ihre volle Dicke erhält. RissQuetschwunden im Bereich der Innenseite der Lippe brauchen selten eine Intervention, sofern sie nicht sehr klaffend aussehen. Die Naht erfolgt mit invertierenden resorbierbaren Nähten, damit kein Fadenende herausragt. Unter Umständen ist auch eine enorale Lokalanästhesie (wie beim Zahnarzt mit sehr feiner Kanüle in die Gingiva) möglich, um kleinere Verletzungen zu versorgen. Die Kooperationsbereitschaft des Kindes und die Erfahrung des Arztes spielen eine große Rolle. Verletzungen im Mundwinkelbereich müssen kritisch beachtet werden, denn der Patient kann daran herumnesteln. Dies führt zu kosmetisch unbefriedigenden Resultaten, die oftmals später in Narkose korrigiert werden müssen. Enorale Wunden können nach enoraler Analgesie durch Lidocainspray inspiziert werden. Die Wundheilung erfolgt enoral sehr schnell; nach 48–72 h ist die Wunde praktisch verheilt. Der Speichel hilft durch seine desinfizierende Wirkung nach. Zungen- oder Gaumenverletzungen heilen in der Regel ebenfalls sehr gut ab. Ausnahmen bilden Wunden am Zungenrand und breite Wunden, die genäht werden sollten (. Abb. 26.11). Indikationen zur Versorgung in Narkose
26
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Kapitel 26 · Weichteilverletzungen
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a
b
. Abb. 26.10a,b Durchgreifende Lippenverletzung. a Die Verletzung umfasst sowohl Lippenrot als auch Lippenweiß. b Kosmetisch
perfekter Wundverschluss mit tiefen Nähten invertierend genäht und Einzelknopfnaht. Komplette Heilung nach Fadenentfernung
sind eine persistierende Blutung oder schlecht einsehbare Verhältnisse. Verletzungen des Gaumens müssen selten chirurgisch versorgt werden. Ausnahmen sind klaffende Wunden im weichen Gaumen. Wenn dies der Fall ist, ist darauf zu achten, dass die Muskulatur gut adaptiert wird. Auch hier ist eine invertierende Knotentechnik mit resorbierbarem Faden von Vorteil. Begleitverletzungen der Zähne werden in der Regel von den Kieferchirurgen oder den Zahnärzten während derselben Operation versorgt (. Abb. 26.12). Da Kinder erst ab ca. 5 Jahren den Mund spülen können, empfiehlt es sich, einfach nach dem Essen klare Flüssigkeit trinken zu lassen.
Infolge der allgemeinen Mobilität der Kinder kommt es zu Verletzungen am Stamm durch Fahrradstürze oder
Herunterfallen vom Pferd oder bei Spiel und Sport etc. Bauchwandkontusionen werden oft unterschätzt, da häufig keine Hautveränderung sichtbar ist. Bei sichtbaren Hautveränderungen muss auf jeden Fall eine ausgedehnte Diagnostik durchgeführt werden. Hämatome am Stamm stellen spezielle Anforderungen hinsichtlich der Diagnostik. Infolge der Muskelkontraktion durch den Unfallmechanismus ist es unter Umständen schwierig, ein Hämatom von einer Peritonitis zu unterscheiden, die im Rahmen einer Ruptur der parenchymatösen Organe auftreten kann. Hier ist die erneute und minutiöse Untersuchung von entscheidender Bedeutung. Mittels Ultraschall oder Computertomographie sind Parenchymverletzungen auszuschließen. Es besteht nicht immer eine Korrelation zwischen dem Schweregrad der Verletzung und demjenigen des Unfallmechanismus. Pankreasverletzungen oder Darmrupturen werden initial oft übersehen. . Abb. 26.13 zeigt abdominelle Haut-
. Abb. 26.11 Gezackte Zungenrandverletzung, die mittels Naht versorgt werden muss
. Abb. 26.12 Begleitverletzung der Zähne: vollständige Zahnluxation von Zahn 61
26.7.9
Verletzungen am Stamm
509 26.7 · Art und Lokalisation von Verletzungen
. Abb. 26.13 Kontusionsmarken nach Fahrradsturz mit geringen Hautschürfungen
. Abb. 26.14 Akutes Abdomen und intraoperative Dünndarmperforation
schürfungen und Kontusionsmarken. Die klinische Untersuchung ergab das Bild eines peritonitischen Abdomens. Intraoperativ fand sich eine Perforation des Darmes (. Abb. 26.14).
26.7.10
Décollementverletzungen der Extremitäten
Das Décollement oder die Ablederungsverletzung ist eine Sonderform der Riss-Quetschwunde, die durch tangential einwirkende Kräfte entsteht. Die Haut mitsamt der Subkutis reißt von der darunterliegenden Muskelfaszie ab. Es handelt sich um kombinierte Druck- und Scherkräfte wie sie z. B. bei einem Überrolltrauma an den Grenzfläche von Subkutis, Faszie bzw. Knochen auftreten. Dies kann zu einem Abscheren der Haut und Subkutis von der Faszie führen. Das hat zur Folge, dass die Blutversorgung der Haut aus der Tiefe unterbrochen wird und es einblutet. Daraus entwickelt sich ein subkutanes, epifasziales Hämatom und später ein Serom (. Abb. 26.15). Solche Verletzungen hinterlassen große, blutgefüllte Hohlräume oder sind mit nekrotischem Fett gefüllt (sog. Morel-Lavallé-Verletzung). Bevorzugte Körperregionen sind anatomische Regionen mit einer erhöhten Hautverschieblichkeit wie die Lumbosakralgegend, Glutealgegend, vorderer Oberschenkel und im Bereiche des Malleolus lateralis (. Abb. 26.15; Hierner et al. 2009; Tseng u. Tornetta 2006). In der Regel kommen Décollementverletzungen hauptsächlich bei Erwachsenen vor, können jedoch auch bei Kindern vorliegen und müssen erkannt werden. Gefährdet sind Kinder, die ein Überrolltrauma durch Autos erleiden oder auch in eine Kollision mit dem Bus geraten. Sie haben oft nur geringe Hautverletzungen oder aber große offene
. Abb. 26.15 Degloving. Erkennbar ist die Ausdehnung des Seroms sakral und an der Außenseite des Oberschenkels
Wunden. Der Grad der Schädigung der tiefer liegenden Strukturen wie Gefäß- und/oder Nervenverletzung oder Frakturen ist unterschiedlich. Eventuell können nur Kontusionsmarken oder Hämatome gesehen werden. Die Diagnose ist aufgrund einer weichen fluktuierenden Region an den Hüften oder am Rücken zu vermuten. Es kann auch nur eine ausgedehnte Ekchymose sichtbar sein. Die Therapie besteht in der perkutanen Drainage und/ oder im Débridement nach ein paar Tagen. Die Gefahr eines infizierten Hämatoms, das zu Folgeoperationen führen kann, besteht. Daher sollte die Therapie möglichst frühzeitig eingeleitet werden (. Abb. 26.16).
26
510
Kapitel 26 · Weichteilverletzungen
26
a . Abb. 26.17 Kleiner Fingerkuppendefekt, der sich spontan reepithelialisieren wird
26.7.11
Verletzungen an Händen, Fingern und Füßen
Schnittverletzungen an Fingern und der Hand werden
b
c . Abb. 26.16a–c Internes Décollement am Oberschenkel. a Der präoperative Befund zeigte eine ausgedehnte Hautverletzung. b Die Hautverletzung führte nach ein paar Tagen zu einer demarkierten Nekrose mit Fluktuation der Haut. c Die Nekrose wurde entfernt und mit einem VAC-Verband behandelt. Im weiteren Verlauf konnte die Haut primär adaptiert werden
nach den allgemeinen Prinzipien der Handchirurgie sorgfältig untersucht. Hier ist die spielerische Zuwendung zum Kind wichtig, indem man ihm ein Lieblingsspielzeug in die Hand gibt und so die Funktion überprüft. Sehnenverletzungen und Avulsionen werden wie beim Erwachsenen versorgt. Subungale Hämatome sind äußerst schmerzhaft und sollten so rasch als möglich entlastet werden. Die Kinder müssen gut abgelenkt werden, denn der Anblick einer glühenden Nadel kann sie zusätzlich erschrecken. Wir nehmen eine dicke Kanüle, die stark erhitzt werden sollte, setzen sie sofort auf den Nagel und perforieren die Nagelplatte, ohne dass die Nagelmatrix verletzt wird. Fingerkuppenverletzungen sind häufig bei Kindern, da sie sehr neugierig sind und die Finger überall hineinstecken. Kleine Verletzungen werden konservativ behandelt. Ein einfaches Pflaster oder eine Wundnaht genügen in den meisten Fällen. Kleine Hautdefekte bis zu 1 cm2 epithelialisieren spontan, die normale Sensibilität bleibt erhalten (. Abb. 26.17). Sie werden gut gepolstert verbunden. Größere Substanzdefekte brauchen unter Umständen ein Hauttransplantat, das aus der Handgelenksfalte oder aus der Ellenbeuge entnommen werden kann. Falls subtotale Amputationen vorliegen, erfolgt primär eine Wundadaptation mit ossärer Spickung und erst bei ausgedehnten Verletzungen unter Umständen eine VY-Plastik. Fingerquetschtraumen sind im kinderchirurgischen Alltag sehr häufig anzutreffen. Es kann einerseits zu einfachen Verletzungen wie der Nagelluxation kommen, andererseits zu größeren Weichteilverletzungen, weil die Fläche und Dicke der Finger bei Kindern kleiner ist (. Abb. 26.18).
511 26.7 · Art und Lokalisation von Verletzungen
a . Abb. 26.18a,b Fingerkuppenverletzung. a Der präoperative Befund zeigt das Ausmaß der Riss-Quetschverletzung, die bis auf den
a
b Knochen reicht. b In diesem Fall wird die operative Versorgung immer in Narkose durchgeführt, da Begleitverletzungen vorliegen
b
. Abb. 26.19a,b Ausriss der Nagelenden durch Einklemmen in einer Türspalte. a Die Nägel sind proximal aus der Nagelmatrix herauslu-
xiert. b Der Nagel wird etwas begradigt und wieder eingesetzt. Fixation mittels Naht
Bei Nagelverletzungen kann der Nagel mitttels länglich angelegten Steristrips für 2–3 Wochen festgeklebt werden. Alternativ wird er entweder aufgenäht oder es wird ein Kunstnagel angebracht, bis die definitive Heilung erfolgt (. Abb. 26.19). Ein Röntgenbild schließt eine Fraktur der Phalanx aus. Falls eine Naht erfolgt, sollten die Fäden nach ca. 12 Tagen entfernt und ein Tapingverband angelegt werden, damit es nicht zu einer weiteren sekundären Verletzung des Nagels kommen kann (ca. 2 Wochen) Es kann nicht genug betont werden, dass die Verbände an Händen und Füßen bei Kindern dicht und festsitzend sein sollen, da der Bewegungsdrang der Patienten sehr groß ist und sie auch die Hand wieder schnell einsetzen (Verschmutzungsgefahr). Eine komplette Ruhigstellung der Extremität mit Gips- oder Kunststoff-Verbänden unterstützt den Heilungsprozess.
Fußverletzungen sind häufig und oft kombiniert mit Riss-Quetschverletzungen. Auch hier können Kombinationsverletzungen vorkommen. Die Versorgung ist chirurgisch und eventuell kombiniert mit einer Spickdrahtosteosynthese. Zur besseren Pflege hat es sich bewährt, dass in speziellen Fällen ein Fixateur externe angebracht wird (. Abb. 26.7b). Eine der gefürchtetsten Weichteilverletzungen an den Füssen ist die Radspeichenverletzung. Hier kommt es primär zu einer oberflächlichen Kontusion der Haut, die nach ein paar Tagen in eine ausgedehnte Nekrose übergehen kann. Die Primärbeurteilung muss nach ein paar Tagen kontrolliert werden, um das Verletzungsausmaß neu zu beurteilen. Häufig liegen gleichzeitig Frakturen der Malleolen und der proximalen Fibula vor und die Gefahr der Osteomyelitis besteht. . Abb. 26.20 zeigt eine Radspei-
26
512
Kapitel 26 · Weichteilverletzungen
26
a
b
. Abb. 26.20a,b Radspeichenverletzung. a Ablederung der Ferse. b Ausbreitung der Nekrosen durch tiefe Verbrennung
a
b
. Abb. 26.21a,b Vaginalverletzung. a 4-jähriges Mädchen mit Sturz über eine Schranke im Schwimmbad. b Die Wundnaht erfolgte mittels Einzelknopfnaht mit resorbierbarem Fadenmaterial
chenverletzung, bei der es zu ausgedehnten ischämischen Nekrosen kam, die gedeckt werden mussten.
Genitalverletzungen Kinder können Pfählungsverletzungen beim Sport oder Radfahren erleiden. Es kommen Prellungen, Hämatome oder offene Hautwunden vor. Sie können isoliert das Perineum betreffen oder in Kombination mit Urethraverletzungen und analen Verletzungen vorkommen. Häufig sind auch vaginale Verletzungen beim Sturz im Schwimmbad und Sturz über eine Stange (. Abb. 26.21). Taktvolles Fragen und vorsichtige Manipulationen sind beim wachen Kinde eminent wichtig. Falls eine Hymenalverletzung vorliegt, müssen die Eltern darüber informiert werden. Oft ist eine Untersuchung in Narkose aus psychologischen Gründen notwendig. Das Ausmaß der Verletzung kann unterschätzt werden und die Untersuchung sollte ge-
gebenenfalls durch eine Zystourethroskopie und/oder Kolposkopie und Rektoskopie ergänzt werden (. Abb. 26.22). Ein Augenmerk ist auf die Miktion zu legen, da sie oft schmerzhaft sein kann. Falls primär eine Miktion nicht möglich ist, kann ein warmes Bad diese erleichtern, ohne dass ein Blasenkatheter eingelegt werden muss.
26.8
Kontrollen und Nachbehandlung
Die Kontrollen der Weichteilverletzungen erfolgen nach Schweregrad und Infektionsrisiko entweder im Krankenhaus oder beim behandelnden Hausarzt. Eine ausreichende Analgesie ist angebracht um die Kinder nicht noch mehr zu traumatisieren. Genügend Zeitaufwand von Seiten der Ärzte und Pflege hilft für ein gutes Gelingen. Verletzungen an den Händen resp. Fingern sowie an gelenksübergreifenden Regionen werden vorteilhaft mit
513 26.8 · Kontrollen und Nachbehandlung
a
b
. Abb. 26.22 Perineale Genitalverletzung durch Aufprall auf einen Ständer eines Sonnenschirmes. a Von außen sieht man nur eine Weichteilkontusion. b Die rektale Untersuchung in Narkose inklusive
Rektoskopie ergeben die Zusatzdiagnosen. Allenfalls muss eine temporäre Kolostomie angelegt angelegt werden. Hier lag eine tiefe Rektumperforation vor
härtenden Verbänden ruhiggestellt. Verletzungen im Gesicht sollen möglichst offen gelassen werden. Bei der Nachsorge geht es darum, Wundkomplikationen rechtzeitig zu erkennen wie z. B. Hämatome, Wundrandnekrosen oder Infekte. In den ersten Tagen erfolgen regelmäßige Wundvisiten, bis die versorgte Wunde eine eindeutige Heilungstendenz aufweist.
ßen Verletzungen ist eine perioperative Antibiotikaprophylaxe indiziert. Bei einer offenen Fraktur ist diese obligat.
! Cave Bei jeglicher ungeklärter Weichteilverletzung ist auch an die Möglichkeit einer Kindsmisshandlung zu denken, die differenzialdiagnostisch in Betracht gezogen werden muss.
Die Dunkelziffer bei dieser Art von Verletzung ist höher als angenommen wird. Oftmals wird sie nur im Verlaufe der weiteren Kontrollen ersichtlich.
26.8.1
Intra- und postoperative Komplikationen
Bei allen offenen Weichteilverletzungen ist das initiale Management von entscheidender Bedeutung. Es beeinflusst sowohl die Kooperation des Patienten als auch das funktionelle und ästhetische Resultat (. Abb. 26.23). Bei der Primärversorgung ist der Wundreinigung und dem Débridement die größte Aufmerksamkeit zu schenken. Bei gro-
Häufige Ursachen von Komplikationen 4 4 4 4
Ungenügendes Débridement Fremdkörper in der Wunde Ungenügende Asepsis bei der Versorgung Ungenügende oder fehlende Drainage der Wundtaschen 4 Fehlindizierte Primärnaht 4 Fehlende Ruhigstellung 4 Ungenügende Ruhigstellung
Bei Auftreten einer Infektion muss die Wunde eröffnet, gespreizt und anschließend offen behandelt werden. Nach Abklingen der Infektion kann die Wunde sekundär verschlossen werden, um eine Per-secundam-Heilung zu umgehen. Als Folge einer zu frühen Nahtentfernung kann es auch zu einer Per-secundam-Heilung kommen, die ein kosmetisch unbefriedigendes Endresultat aufweisen wird.
26
514
Kapitel 26 · Weichteilverletzungen
26
a . Abb. 26.23a,b Kubitale Schnittverletzung. a Wundnaht in der Ellbeuge mit kubitalem Hautanteil, der eine kritische Durchblutung aufweist. Die Haut ist sehr dünn und als primäre Option eingenäht.
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b b Im Verlauf kam es zu einer demarkierten Nekrose, die ohne Infektzeichen abgetragen wurde. Die Wunde heilte per secundam aus
27
Battered-Child-Syndrom V. Oesch, Th. Slongo
27.1
Definition, Häufigkeit und Risikofaktoren
27.2
Klinik
– 516
27.2.1 Anamnese – 516 27.2.2 Status – 517
27.3
Erstversorgung
27.4
Diagnostik
27.5
Therapie
27.6
Ergebnisse und Prognose Literatur
– 518
– 518 – 519
– 520
– 520
– 516
27
516
Kapitel 27 · Battered-Child-Syndrom
27.1
Definition, Häufigkeit und Risikofaktoren
Bereits 1860 beschrieb Ambroise Tardieu das BatteredChild-Syndrom als Folge von Quälerei und Misshandlung, die auf Kinder durch Eltern, Lehrer oder andere Personen mit Macht ausgeübt werden. Aktuell definiert sich das Battered-Child-Syndrom als nicht unfallbedingte, sondern gewaltsame, körperliche oder seelische Schädigung eines Kindes durch aktives verletzendes Verhalten oder durch unterlassenen Schutz durch ein Familienmitglied oder eine erwachsene Betreuungsperson. Die fünf Formen von Kindesmisshandlungen 4 4 4 4 4
Körperliche Misshandlung Psychische oder emotionale Misshandlung Sexueller Missbrauch Vernachlässigung Münchhausen-by-Proxy-Syndrom
gung von Patienten auf der Notfallstation führt zu einer Verbesserung der Erkennungsquote des Battered-ChildSyndroms.
27.2
Klinik
27.2.1
Anamnese
Bei der sorgfältigen Anamnese soll gezielt nach den oben genannten Risikofaktoren gefragt werden. Zusätzlich sollen Probleme alltäglicher Aktivitäten wie Ernährung, Schlafverhalten, Sauberkeitsverhalten direkt angesprochen werden. Besondere belastende Faktoren wie z. B. ein Wohnortwechsel oder ein Todesfall innerhalb der Familie sind wahrzunehmen. Der Grund für die Konsultation und die Umstände des Ereignisses sollten genau abgefragt und besondere Auffälligkeiten wahrgenommen werden. Anamnestische Hinweise für ein Battered-ChildSyndrom
Die Häufigkeit des Battered-Child-Syndroms variiert in der Literatur sehr stark (zwischen 2,3/1000 und 14–26/100) und genaue Zahlen sind aufgrund von fehlenden verwertbaren Datenquellen und wegen einer sehr hohen Dunkelziffer kaum zu eruieren. Die Diagnosestellung einer Kindesmisshandlung hängt ab von den Kenntnissen des medizinischen Teams, seiner Sensibilisierung zur Thematik und seiner Bereitschaft, das Problem anzusprechen. Die systematische Verwendung von Erfassungsbögen mit Risikofaktoren (. Tab. 27.1) zum Zeitpunkt der Primärversor-
4 Zeitverzug zwischen Ereignis und Zeitpunkt der Konsultation 4 Fehlende oder nur vage, wechselhafte Beschreibung des Unfallereignisses 4 Widersprüchliche Angaben von den Angehörigen 4 Inadäquate Verhaltensweise für das Alter oder für den Entwicklungsstand 6
. Tab. 27.1 Risikofaktoren für das Vorkommen eines Battered-Child-Syndroms Elterliche Risikofaktoren
Kindliche Risikofaktoren
Junges Alter
Junges Kind (Säugling, Kleinkind)
Alleinerziehender Elternteil
Erstgeborenes Kind
Schwierige Kindheit: Erfahrung mit Gewalt oder Vernachlässigung, zerrüttete Familienverhältnisse
Frühgeborenes Kind
Häusliche Gewalt
Untergewichtiges Kind
Psychische oder psychiatrische Störungen, inkl. Sucht
So genanntes Schreibaby
Sozialer Stress – finanzielle Sorgen, Arbeitslosigkeit
Pflege- oder Stiefkind
Soziale Randgruppen, religiöse Sekten, Asylbewerber
Chronische Erkrankung
Unerwünschte, problematische oder kurz aufeinander folgende Schwangerschaften
Angeborene Fehlbildung oder psychomotorischer Entwicklungsrückstand
Unfähigkeit, das normale Verhalten des Kindes zu deuten
Verhaltensauffälligkeiten – Hyperaktivität, Einnässen
Übertriebene , unrealistisch hohe Erwartungen bezüglich des Kindes
Kind mit dem »falschen« Geschlecht
H.G. Dietz et al. (Hrsg.), Praxis der Kinder-und Jugendtraumatologie, DOI 10.1007/978-3-642-12935-3_27, © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2011
517 27.2 · Klinik
4 Unpassendes Verletzungsmuster und -schweregrad im Vergleich zum beschriebenen Unfall 4 Verletzung durch das Kind selbst oder durch ein Geschwister zugefügt 4 Direktes Hinweis des Kindes selbst auf eine Kindesmisshandlung 4 Wiederholte Konsultationen
27.2.2
Status
Die Ganzkörperuntersuchung ist sorgfältig und für das bereits traumatisierte Kind besonders taktvoll durchzuführen. Die genaue Inspektion der gesamten Hautoberfläche und der sichtbaren Schleimhäute – Mund, HalsNasen-Ohren-Bereich, anogenitale Gegend – ist besonders wichtig, da in über 90% der Fälle sichtbare Spuren gefunden werden, die exakt, am besten photographisch mit Anwendung eines Maßstabes, dokumentiert werden müssen (. Abb. 27.1 und . Abb. 27.2). Schmerzen bei der Palpation und eine verminderte Beweglichkeit eines Gelenkes sind weitere häufige Befunde. Da Kinder häufig auch unfallbedingte Verletzungen aufweisen, ist es besonders wichtig, die Merkmale von Läsionen, die durch eine körperliche Misshandlung zugefügt worden sind, zu kennen. Die Lokalisation und das Muster der Prellungen (. Tab. 27.2), der Frakturen (. Tab. 27.3) oder der thermischen Schäden (. Tab. 27.4) spielen eine wichtige Rolle bei der Differenzialdiagnose. Auch multiple Hämatome unterschiedlichen Alters sind verdächtig für eine Misshandlung.
a
b
. Tab. 27.2 Häufige Lokalisation von Prellmarken und Hämatomen Infolge eines Unfalles
Infolge einer Misshandlung
Stirn, Schläfe
Kieferwinkel, Mastoid, Wangen
Nase
Ohren, Oberlippe, Frenulum
Kinn
Hals, Nacken, Rücken
Becken
Thorax, Sternum
Hüfte
Gesäß, Genitale
Knie, Schienbeine
Oberschenkel dorsal
Ellenbogen
Schulter, Oberarme
Unterarme dorsal
Unterarme ventral
Hände palmar
Handrücken
c . Abb. 27.1a–c Photographische Dokumentation von Gesichtshämatomen. a Übersicht. b Detail Wange, man beachte die Dokumentation mittels Maßstab. c Typisches Ohrhämatom, sog. TinearZeichen. (Mit freundlicher Genehmigung des Institutes für Rechtsmedizin, Universität Bern)
27
518
Kapitel 27 · Battered-Child-Syndrom
27.3
Erstversorgung
Die medizinische Therapie richtet sich nach der Verletzung und kann in schweren Fällen bis zur Reanimation und Intensivpflege reichen. Bei leichteren Verletzungen, die aus medizinischer Sicht ambulant behandelt werden könnten, ist eine Hospitalisation als Schutz des Kindes vor weiteren Traumata häufig indiziert.
27
27.4
. Abb. 27.2 Handrückenhämatom durch wiederholte Schläge auf die Hand. (Mit freundlicher Genehmigung des Institutes für Rechtsmedizin, Universität Bern)
Diagnostik
Wurde aufgrund der Anamnese oder des Status der Verdacht auf Battered-Child-Syndrom geäußert, sind weitere Untersuchungen unerlässlich (. Tab. 27.5). Sie erlauben nicht nur eine präzise Diagnostik von körperlichen Verletzungen, sondern auch die Suche nach wichtigen Differenzialdiagnosen wie Gerinnungsstörungen oder Osteogenesis imperfecta oder nach begleitenden, für Kindesmisshandlung beweisenden Begleitverletzungen.
. Tab. 27.3 Merkmale einer Fraktur Mit niedrigem Verdacht auf Misshandlung
Mit hohem Verdacht auf eine Misshandlung
Einzelne Fraktur
Multiple Frakturen, verschiedene Heilungsstadien
Diaphysäre Fraktur
Meta- und epiphysäre Fraktur
Lineare Schädelfraktur
Komplexe Schädelfraktur
Beim älteren Kind (Schulkinder)
Beim jungen Kind (Säugling, Kleinkind)
Typische Lokalisation
Atypische Lokalisation (z. B. Rippen-, Sternum-, Wirbelkörper, Hand- oder Fußfrakturen)
. Tab. 27.4 Merkmale von Verbrennungen und Verbrühungen Bei Unfällen
Bei Kindemisshandlung
Verbrennungen Begrenzung unscharf, unregelmäßig, meistens unspezifisch, z. B. linear
Begrenzung scharf, eventuell symmetrisch oder geometrisch
Tiefe inhomogen
Tiefe homogen, meist drittgradige Verbrennung
Meistens einzelne Läsion
Oft multiple, gruppierte Läsionen,
Exponierte Körperteile (Handfläche)
Typische Lokalisationen (Hände, Unterarme, Füße, Genitalbereich)
Verbrühungen Entstehen durch Spritzen oder Abtropfen von heißen Flüssigkeiten
Entstehen durch Untertauchen in heiße Flüssigkeiten
Begrenzung und Tiefe unregelmäßig
Scharfe, eventuell symmetrische Begrenzung und homogene Tiefe
Exponierte Körperstellen (Gesicht, Schulter, Arme, obere Thoraxapertur und Bauch)
Hände (Handschuhmuster) Füße (Strumpfmuster), Gesäß
519 27.5 · Therapie
. Tab. 27.5 Diagnostik bei Verdacht auf Battered-Child-Syndrom Zusatzuntersuchungen
Bei allen Kindern
Bei besonderer Fragestellung
Labor
Blut: Rotes und weißes Blutbild, Thrombozyten, Gerinnungsstatus Blutsenkungsgeschwindigkeit ASAT, ALAT, γGT, Lipase, Amylase Urinstatus
Blut: Acylcarnitin, Protein S-100B, Coeruloplasmin, Kupfer bei Verdacht auf Schütteltrauma Kalzium, Phosphor bei Säuglingen mit Frakturen Vitamin-A-Spiegel bei Hyperostosen der Diaphysen Urin: Kupfer, organische Säure bei Verdacht auf Schütteltrauma Kupfer, Kalzium, Phosphor bei Säuglingen mit Frakturen Vaginale, anale, pharyngeale Abstriche: mikrobiologische Untersuchungen bei Verdacht auf sexuellem Missbrauch
Bildgebung
Röntgen: gezieltes Röntgen in 2 Ebenen von verletzten Körperteilen Abdomensonographie als Screeninguntersuchung
Röntgen: radiologisches Skelettscreening bei Säuglingen und Kleinkindern (Cave: Babygramm obsolet) Skelettszintigraphie in ausgewählten Fällen (Suche nach Rippenfrakturen) CT (Schädel, Wirbelsäule, Thorax oder Abdomen) sobald Hinweise auf eine Verletzung bestehen (. Abb. 27.3a) MRI (Schädel, Wirbelsäule; . Abb. 27.3b)
Ophthalmologische Untersuchung
Alter ≤3 Jahren
Forensische Untersuchung
Dokumentation
a
b
. Abb. 27.3a,b Schütteltrauma. a Frisches subdurales Hämatom sowie bereits sichtbare subdurale Hygrome beidseits als Ausdruck
27.5
DNA bei Kindern mit Bissverletzungen, bei sexuellem Missbrauch
Therapie
Sobald der Verdacht auf Battered-Child-Syndrom geäußert wird, ist ein interdisziplinäres Team für Kinderschutz zu involvieren, das von Personen aus den Bereichen Pädiatrie, Kinderchirurgie, Kinder- und Jugendpsychiatrie/-psychotherapie, Sozialarbeit und Kinderpsychologie gebildet wird.
einer Chronizität. b Die MRT-Untersuchung nach 2 Wochen zeigt das wahre Ausmaß der Läsion
Wird der Verdacht direkt oder nach Ausschluss von Differenzialdiagnosen erhärtet, müssen je nach Beurteilung der Gesamtsituation strafrechtliche, zivilrechtliche oder einvernehmliche Maßnahmen getroffen werden. Eine Vernetzung nach außen stellt eine wichtige Schutzmaßnahme zur Vorbeugung eines Rezidivs dar. Die körperliche und psychologische Betreuung sowie der zukünftigen Schutz des Patienten stehen im Vordergrund.
27
520
Kapitel 27 · Battered-Child-Syndrom
> Auch die Geschwister müssen geschützt werden. Eine psychologische Unterstützung sollte nicht nur dem betroffenen Kind, sondern auch seiner Familie und dem Täter angeboten werden.
27.6
27
Ergebnisse und Prognose
Die Spätfolgen des Battered-Child-Syndroms sind vom Typ und Schweregrad der Kindesmisshandlung und der Verletzungen abhängig. Neurologische, mentale und psychische Störungen, chronische Gedeihstörungen und Verhaltensstörungen gehören zu den häufigsten Spätfolgen. Ist die Diagnose Battered-Child-Syndrom nicht gestellt worden oder war das Fallmanagement inadäquat, beträgt das Rezidivrisiko für eine Kindesmisshandlung mit gegebenenfalls schwereren Folgen 50%.
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28
Geburtstrauma B. Liniger
28.1 Definition und Inzidenz 28.2 Risikofaktoren
– 522
– 522
28.3 Weichteilverletzungen
– 522
28.4 Extrakranielle Verletzungen am Schädel 28.5 Gesichtsverletzungen
– 524
28.6 Intrakranielle Blutungen 28.7 Frakturen
– 524
– 526
28.8 Verletzungen des Nervensystems
– 528
28.9 Intraabdominale Geburtsverletzungen Literatur
– 523
– 530
– 530
28
522
Kapitel 28 · Geburtstrauma
28.1
Definition und Inzidenz
Das Geburtstrauma ist definiert als eine Verletzung des Neugeborenen während der vaginalen Entbindung oder der Sectio caesarea. Die Inzidenz von Geburtstraumata hat dank der Fortschritte in der Geburtshilfe und pränatalen Diagnostik in den letzten Jahrzehnten abgenommen. Sie beträgt heute immer noch ca. 2% bei vaginalen Geburten aus Schädellage und 1,1% bei Geburten per Kaiserschnitt (Alexander et al. 2006; Demissie et al. 2004). Bezüglich des Schweregrades eines Geburtstraumas gibt es ein weites Spektrum von minimalen, selbstlimitierenden Verletzungen wie Kontusionen und oberflächlichen Wunden bis hin zu schweren Verletzungen wie Läsionen des zentralen Nervensystems, die mit einer signifikanten neonatalen Morbidität und Mortalität einhergehen.
28.2
Risikofaktoren
Verschiedene Größen beeinflussen das Risiko von Geburtsverletzungen. Es handelt sich dabei um kindliche und mütterliche Faktoren sowie um Geburtshilfetechniken, was insbesondere den Einsatz von Geburtshilfeinstrumenten betrifft. Makrosomie Ab einem Geburtsgewicht von 4500 g neh-
men die Inzidenz von Geburtsverletzungen sowie die perinatale Sterblichkeit deutlich zu. Bei einem Geburtsgewicht von über 5000 g ist das Risiko für ein Geburtstrauma um ca. das Vierfache erhöht (Zhang et al. 2008). Stark assoziiert mit der Makrosomie ist die Schulterdystokie und damit auch die Klavikula- und Humerusfraktur sowie die Plexus-brachialis-Parese. Mütterliche Adipositas Ein mütterlicher BMI von über
40 kg/m2 ist mit einem erhöhten Risiko für Geburtstraumata vergesellschaftet. Dies hängt einerseits mit dem häufigeren Gebrauch von Geburtshilfeinstrumenten während der Geburt, andererseits mit dem erhöhten Risiko für Makrosomie und Schulterdystokie zusammen (Cedergren et al. 2004). Abnorme Kindslage Jede Kindslage, die nicht der Schädellage entspricht, vor allem die Steißlage geht mit einem erhöhten Risiko für eine Verletzung bei einer vaginalen Geburt einher. Ein Kaiserschnitt reduziert die Morbidität von Kindern mit Beckenendlage erheblich. Vaginale Entbindung mit Hilfe von Instrumenten Zangen- und Vakuumgeburten sind im Vergleich zu anderen vaginalen Geburten mit vermehrten Geburtsverletzungen
assoziiert. Werden die beiden Instrumente nach einander angewandt, so erhöht sich das Risiko noch stärker als beim Gebrauch von einem Instrument (Towner et al. 1999; Demissie et al. 2004). Andere mütterliche Faktoren Kleine mütterliche Statur
und mütterliche Beckenanomalien sind mit einem erhöhten Risiko für Geburtsverletzungen vergesellschaftet.
28.3
Weichteilverletzungen
Die häufigste Form von Geburtstraumata sind Weichteilverletzungen, im Speziellen Quetschungen, Petechien, Nekrosen des subkutanen Fettgewebes und Hautwunden. Quetschungen der Genitale sind häufig bei Kindern, die aus Beckenendlage geboren werden. Petechien am Kopf und im Gesicht werden oft bei Kindern gefunden, die aus Schädellage und besonders aus Gesichtslage geboren werden. Meistens sind diese kleinen Hauteinblutungen bereits bei Geburt sichtbar, nehmen im Verlauf nicht weiter zu und sind nicht mit anderen Blutungen assoziiert. Andernfalls müssen die Thrombozyten kontrolliert werden. Ausgeprägte Quetschungen mit Blutergüssen stellen einen Risikofaktor für schwere Hyperbilirubinämien dar (Pediatrics et al. 2004). Subkutane Fettgewebsnekrosen sind selten und treten in der Regel während der ersten Wochen nach der Geburt auf als Resultat einer Ischämie des Fettgewebes während einer traumatischen Entbindung. Sie präsentieren sich als feste, indurierte Knoten und Plaques an Rücken, Gesäß, Oberschenkel, Vorderarmen und Wangen. Die Läsionen sind rötlich bis bläulich verfärbt und in der Regel selbst limitierend, allerdings lösen sie sich erst in der 6.–8. Lebenswoche auf. Bis 6 Monate nach der Erstmanifestation kann bei diesen Kindern eine Hyperkalzämie auftreten, was entsprechende Langzeitkontrollen notwendig macht. Hautwunden sind die häufigsten Geburtsverletzungen bei Kaiserschnittgeburten (Alexander et al. 2006). Eine Studie mit 3108 Eingriffen ergab eine Hautverletzungsrate beim Kind von 3% (Dessole et al. 2004). Am häufigsten wurden Kopfhaut und Gesicht verletzt. 78% der Verletzungen entstanden bei Notfallkaiserschnitten. Die meisten Wunden waren leicht und konnten mit Steristrips versorgt werden. Immerhin 3% der Verletzungen bedurften einer chirurgischen Versorgung. Der muskuläre Schiefhals tritt sowohl nach vaginaler Geburt wie nach Kaiserschnitt auf, am häufigsten bei Kindern, die aus Steißlage geboren werden. Als Ursache werden sowohl eine intrauterine Fehllage des Kopfes als auch eine intrapartale Traumatisierung des Musculus sternocleidomastoideus angeschuldigt (Uhing 2004). Durch
H.G. Dietz et al. (Hrsg.), Praxis der Kinder-und Jugendtraumatologie, DOI 10.1007/978-3-642-12935-3_28, © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2011
523 28.4 · Extrakranielle Verletzungen am Schädel
hartnäckigen oder übersehenen Fällen kann eine chirurgische Intervention mit Muskelverlängerung oder kompletter Durchtrennung mit Exzision der Narbe notwendig werden. Ohne oder bei zu später Behandlung kommt es zu bleibenden Schädel- und Gesichtsasymmetrien.
28.4
a
Extrakranielle Verletzungen am Schädel
Extrakranielle Verletzungen am Kopf umfassen Ödeme oder Blutungen in verschiedenen Kompartimenten des Schädels. Caput succedaneum Das Caput succedaneum ist eine
ödematöse, nur gelegentlich hämorrhagische Schwellung der Kopfhaut über dem Periost. Es wird nach langem Aufenthalt des Schädels im Geburtskanal und Vakuumextraktionen beobachtet. Im Gegensatz zum Kephalhämatom erstreckt es sich über die Suturlinien hinaus, ohne diese zu berücksichtigen. Ein Caput succedaneum verschwindet in der Regel innerhalb weniger Tage von selbst und benötigt keine Behandlung. Ganz seltene Komplikationen sind nekrotische Läsionen, die zu Vernarbung und Alopezie oder Superinfektionen führen können. Diese Probleme wurden bei Frühgeborenen nach Vakuumgeburt beobachtet. Kephalhämatom Das Kephalhämatom ist eine sub-
b . Abb. 28.1a,b Muskulärer Schiefhals. a Einblutung im M. sternocleidomastoideus mit sichtbarer »Olive«. b Unbehandelt mit Schiefhaltung des Kopfes
Überstreckung oder Quetschung kommt es zu einem intramuskulären Hämatom, das sich fibrotisch umwandelt. Dies führt zu einer Verkürzung des Muskels und einer entsprechenden Kopfschiefhaltung mit Neigung zur Läsion hin und Rotation von ihr weg (. Abb. 28.1). Der Schiefhals wird typischerweise im Alter von 2–4 Wochen sichtbar. In der klinischen Untersuchung zeigt sich neben der eingeschränkten Kopfbeweglichkeit oft eine palpierbare Masse im unteren Drittel des Musculus sternocleidomastoideus. Mit frühzeitigen physiotherapeutischen Maßnahmen kann meistens ein gutes Resultat erzielt werden. In besonders
periostale Blutkollektion, verursacht durch die Ruptur eines Gefäßes unterhalb des Periostes, in der Regel über dem Os parietale oder occipitale. Die entsprechende Schwellung überschreitet die Suturlinien nicht, eine Verfärbung der Haut muss nicht zwingend sichtbar sein. Eine Zunahme nach der Geburt sowie ein signifikanter Blutverlust sind selten. Ein Kephalhämatom tritt bei 1–2% der Geburten auf und ist besonders häufig, wenn Zange oder Vakuum zum Einsatz kommen. Die meisten Kephalhämatome lösen sich spontan innerhalb weniger Wochen auf. Allerdings können sie auch verkalken und so als harte Schwellung über Monate persistieren (. Abb. 28.2). Bei Verkalkung oder Verknöcherung des Hämatoms kann eine bleibende Deformation entstehen welche ggf. operativ zu entfernen ist (Wong et al. 2006). Eine andere Komplikation ist die Superinfektion, in erster Linie mit Escherichia coli, wodurch eine Sepsis oder Osteomyelitis folgen kann. In diesen Fällen ist eine chirurgische Ausräumung und parenterale Langzeitantibiose angezeigt. Subgaleales Hämatom Beim subgalealen Hämatom sam-
melt sich Blut in der lockeren Gewebeschicht zwischen Periost und Galea. Dies entsteht durch Zug an der Kopfhaut bei der Geburt infolge einer Verletzung oder vollständigen Durchtrennung von Venen, die die duralen Sinus mit den
28
524
Kapitel 28 · Geburtstrauma
der Nase mit asymmetrischen Nares und einseitiger Abflachung eines Nasenflügels. Die Reposition sollte innerhalb von 3 Tagen erfolgen. Ohne Behandlung, oder wenn diese zu spät erfolgt droht eine bleibende Nasenseptumdeviation. Augenverletzungen Leichte Augentraumata wie retinale
28 . Abb. 28.2 Typisches klinisches Bild eines Kephalhämatoms bei einem 5-monatigen Säugling
Skalpvenen verbinden (Venae emissariae). Die Inzidenz beträgt ca. 4 auf 10.000 bei spontanen vaginalen Geburten und 59 auf 10.000 bei vakuumassistierten Geburten. Das Ausmaß für einen massiven Blutverlust in den subgalealen Raum (50–100 ml, was 20–40% des gesamten Blutvolumens eines Neugeborenen ausmacht) spiegelt sich in der hohen Letalität dieser Verletzung wider (12–14%; Kilani et al. 2006). Der subgaleale Raum erstreckt sich von den Orbitaoberkanten bis in den Nacken und seitlich bis zu den Ohransätzen. Das subgaleale Hämatom präsentiert sich als diffuse, fluktuierende Schwellung des Kopfes, die sich bei Bewegung verlagern kann. Sie kann einige Stunden bis Tage nach der Geburt durch kontinuierliche Blutung noch zunehmen. Der Blutverlust kann massiv sein, bevor die Kinder Zeichen der Hypovolämie entwickeln. Die frühe Erkennung der Läsion ist entscheidend für das Überleben. So sollten Neugeborene nach einer schwierigen, zangen- oder vakuumunterstützten Geburt und insbesondere beim klinischen Verdacht auf ein subgaleales Hämatom streng überwacht werden (Vitalparameter, Hämatokrit, Kopfumfang). Die Behandlung beinhaltet in erster Linie den Volumenersatz. Nur in Ausnahmefällen war bisher auf Grund einer Hirnkompression eine chirurgische Evakuation des Hämatoms notwendig.
28.5
Gesichtsverletzungen
Nasenseptumluxation Bei
0,6–0,9% der Geburten kommt es während der Wehen durch Kompression der Nase im Bereich der Symphyse bzw. des Promontoriums der Mutter zu einer Nasenseptumluxation. Bei relevanter Atemwegsobstruktion können die Kinder ein Atemnotsyndrom entwickeln. Klinisch zeigt sich eine Deviation
und subkonjunktivale Blutungen oder Schwellungen der Lider sind häufig und verschwinden spontan, ohne die Kinder zu beeinträchtigen. Retinale Blutungen lösen sich innerhalb 1–5 Tagen, subkonjunktivale Blutungen innerhalb 1–2 Wochen auf. Schwere Augenverletzungen beinhalten Hyphäma, Glaskörperblutungen, Orbitafrakturen, Tränenwegs- oder Tränendrüsenverletzungen oder Zerreißen der Descemet-Membran der Kornea. Letzteres kann zu Astigmatismus und Amblyopie führen. Schwere Augentraumata kommen bei ca. 0,2% der Geburten vor, gehäuft bei zangenassistierten Entbindungen. Eine unmittelbare Konsultation durch den Augenarzt ist in Verdachtsfällen angezeigt.
28.6
Intrakranielle Blutungen
Das Risiko für intrakranielle Blutungen steigt mit der Anwendung von technischen Hilfsmitteln bei der Entbindung. Die Inzidenz beträgt für Spontangeburten 3,7%, bei vakuumassistierten Geburten 16,2% und bei Zangengeburten 17%. Wenn Zange und Vakuum bei derselben Geburt zum Einsatz kommen, ist die Gefahr noch höher (26,5%; Demissie et al. 2004). Diese Gesetzmäßigkeit trifft für alle Arten intrakranieller Blutungen sowie für Verletzungen des N. facialis und des Plexus brachialis zu (. Tab. 28.1; Towner et al. 1999). Dass die Frequenz intrakranieller Blutungen bei Neugeborenen wohl unterschätzt wird, zeigte eine prospektive Studie zur neonatalen Hirnentwicklung, bei der asymptomatische Neugeborene mittels MRT untersucht wurden. Sie ergab eine Inzidenz von 26% für intrakranielle Blutungen nach vaginaler Spontangeburt (Looney et al. 2007). Subduralhämatom Obwohl insgesamt selten, ist das Subduralhämatom die häufigste intrakranielle Blutung beim Neugeborenen mit einer Inzidenz von 2,9 auf 10.000 spontane vaginale Geburten (Towner et al. 1999). Die Blutung ist meistens tentorial und/oder interhemisphärisch lokalisiert und kann asymptomatisch sein (Looney et al. 2007; Whitby et al. 2004). Symptome treten in der Regel in den ersten 24–48 Lebensstunden auf und beinhalten Atemdepression, Apnoe und/oder Krampfanfälle (Pollina et al. 2001). Weitere Zeichen sind Irritabilität und Veränderungen im Muskeltonus und Bewusstsein. Nur selten kommt es bei subduralen Blutungen zu erhöhtem Hirndruck mit zunehmendem Kopfumfang, gespannter Fonta-
525 28.6 · Intrakranielle Blutungen
. Tab. 28.1 Inzidenz der Verletzungen des zentralen und peripheren Nervensystems in Abhängigkeit vom Geburtsmodus (Anzahl Fälle pro 10.000 Kinder; Towner et al. 1999) Geburtsmodus
Spontan
Vakuum
Zange
Vakuum und Zange
Kaiserschnitt
Subdurale oder zerebrale Blutung
2,9
8,0
9,8
21,3
6,7
Intraventrikuläre Blutung
1,1
1,5
2,6
3,7
2,1
Subarachnoidale Blutung
1,3
2,2
3,3
10,7
0,9
Verletzung des N. facialis
3,3 2,4*
4,6 5,2*
45,4 37,0*
28,5 52,9*
3,5
Verletzung des Plexus brachialis
7,7
17,6
25,0
46,4
3,0
*Demissie et al. 2004
nelle, Apnoe, Bradykardie und Koma. Nur in diesen Fällen ist eine chirurgische Intervention notwendig. Bei Blutungen in der hinteren Schädelgrube, wo es wenig Möglichkeiten gibt, erhöhten Druck zu kompensieren, kann es zu einer Hirnstammkompression kommen und einen Notfalleingriff notwendig machen. Ohne Hirndruckzeichen bleibt es bei der neurologischen Überwachung mit Kontrollen der Vitalparameter und des Hämatokrits. Bei ausgeprägten Blutungen ohne offenkundiges Geburtstrauma empfiehlt sich eine Gerinnungsabklärung. Subarachnoidalblutung Die Subarachnoidalblutung ist die zweithäufigste intrakranielle Blutung bei Neugeborenen. Sie wird verursacht durch das Reißen von Brückenvenen im Subarachnoidalraum oder von kleinen leptomeningealen Gefäßen. Die Inzidenz beträgt bei normalen Spontangeburten 1,3 auf 10.000 (Looney et al. 2007; Towner et al. 1999; Pollina et al. 2001). Die klinische Symptomatik ist gleich wie beim Subduralhämatom. Die Behandlung ist in der Regel konservativ. Eine große subarachnoidale Blutung kann selten zu einem posthämorrhagischen Hydrozephalus führen. Epiduralhämatom Ein Epiduralhämatom (. Abb. 28.3) ist bei Neugeborenen sehr selten. Im Allgemeinen werden epidurale Blutungen durch eine Verletzung der A. meningea media verursacht. Im Neugeborenenschädel ist die Rinne dieses Gefäßes noch nicht ausgebildet, weshalb es deutlich seltener verletzt wird. Ein Epiduralhämatom begleitet oft eine lineare Schädelfraktur und ist üblicherweise parietotemporal lokalisiert. Wie bei den anderen intrakraniellen Blutungen ist auch diese assoziiert mit der Anwendung geburtstechnischer Hilfsmittel sowie gehäuft bei Erstgebärenden. Epiduralhämatom und Kephalhämatom können gleichzeitig auftreten und durch einen allfälligen Frakturspalt miteinander kommunizieren. Beim Epiduralhämatom zeigen sich unspezifische neurologische Symptome wie Krampf-
anfälle und muskuläre Hypotonie. Es können Hirndruckzeichen wie Vorwölben der Fontanelle, Veränderungen der Vitalparameter und des Bewusstseins auftreten. ! Cave Neugeborene mit epiduraler Blutung müssen sehr streng überwacht werden, da sich ihr Zustand ganz plötzlich und rapide verschlechtern kann. Bei Anzeichen für erhöhten Hirndruck und/ oder großer Ausdehnung muss das Hämatom chirurgisch ausgeräumt werden. Intraventrikuläre Blutung Intraventrikuläre Blutungen
(. Abb. 28.4) sind in der Regel mit Frühgeburtlichkeit vergesellschaftet. Sie können aber auch als Folge eines Geburtstraumas beim reifen Neugeborenen vorkommen. Die Inzidenz beträgt 1,1% bei Spontangeburten. Ohne zugrunde liegende Gerinnungsstörung oder schwere Asphyxie bleiben die meisten reifen Neugeborenen ohne bleibende Schäden. Bei deutlich traumatischer Geburt muss eine enge Überwachung gewährleistet sein, da ein
. Abb. 28.3 Postnatales Epiduralhämatom, das sich im Sonogramm gut darstellen lässt
28
526
Kapitel 28 · Geburtstrauma
Röntgenaufnahme bei der Abgrenzung zu anderen Geburtstraumata wie Verletzungen des Plexus brachialis, proximalen Epiphysiolysen des Humerus, Humerusschaftfrakturen oder Schulterluxationen. Beim Vorliegen einer Klavikulafraktur sollte eine begleitende Plexus-brachialisLäsion ausgeschlossen werden. Bei Neugeborenen heilen alle Klavikulafrakturen spontan und ohne Langzeitfolgen. Bei Bedarf können Analgetika und eine Schlinge, die den Arm am Körper fixiert, Schmerzen lindern und den Komfort erhöhen. Die Verlaufskontrolle kann in den allermeisten Fällen klinisch erfolgen. Humerusfraktur Frakturen des Humerus (. Abb. 28.5b)
28
. Abb. 28.4 Intraventrikuläre Blutungen aufgrund einer Hypoxämie im Sonogramm
Risiko für eine Zunahme der Blutung und für die Entwicklung eines posthämorrhagischen Hydrozephalus besteht.
28.7
Frakturen
Klavikulafraktur Mit einer Inzidenz von 0,5–1,6% ist die Klavikulafraktur (. Abb. 28.5a) die häufigste Fraktur bei Neugeborenen (Hsu et al. 2002). Üblicherweise ist sie Folge einer schwierigen vaginalen Entbindung, sie kann aber auch bei normalen Spontangeburten und Kaiserschnitten vorkommen. Folgende Risikofaktoren wurden beschrieben: Entbindung mit Zange oder Vakuum und Schulterdystokie, erhöhtes mütterliches Alter und Geburtsgewicht über 4000 g sowie ein tiefes Verhältnis zwischen Kopf- und Abdomenumfang (Hsu et al. 2002). Nicht-dislozierte Frakturen werden oft verzögert nach Tagen oder Wochen entdeckt, nämlich dann, wenn ein Kallus sicht- oder palpierbar wird. Diese Kinder sind in der Regel asymptomatisch. Dislozierte Frakturen werden in der Regel früher diagnostiziert, da Zeichen wie Krepitatio, Schwellung, asymmetrische Kontur, verminderte Bewegungsaktivität der betroffenen Extremität und Weinen bei passiver Bewegung auftreten. Im Zweifelsfall hilft eine
sind selten, die Inzidenz beträgt 0,2 Fälle pro 1000 Geburten (Bhat et al. 1994). Allerdings ist kein anderer langer Röhrenknochen häufiger betroffen. Die meisten Frakturen sind komplett, transversal und im proximalen Drittel lokalisiert. Risikofaktoren sind Schulterdystokie, Makrosomie, Kaiserschnitt, Steißlage und niedriges Geburtsgewicht. Klinisch präsentiert sich die neonatale Humerusfraktur mit reduzierter Bewegungsaktivität des betroffenen Armes, auffälligem Moro-Reflex, lokaler Schwellung und Krepitatio sowie Schmerzreaktion bei Palpation und Bewegung. Eine begleitende Plexus-brachialis-Verletzung muss ausgeschlossen werden. Die Diagnose wird in der Regel konventionell radiologisch gestellt. Bei epiphysennahen Frakturen muss in seltenen Fällen auf Grund der noch fehlenden Ossifikation der Epiphysen eine Sonographie oder ein MRT weiter helfen. Die Behandlung besteht in der Ruhigstellung des betroffenen Armes in 90°-Flexion des Ellbogens und Fixierung gegen den Oberkörper unter Vermeidung einer Rotationsfehlstellung. Sobald der Säugling seinen Arm spontan wieder bewegt, kann die Fraktur als geheilt betrachtet werden. Radiologisch bestätigt sich dies 2–4 Wochen nach Trauma. Folgeschäden sind äußerst selten. Praktisch jede Fehlstellung remodelliert sich. Femurfraktur Femurfrakturen (. Abb. 28.5c) als Geburtstrauma sind selten, die Inzidenz ist 0,13 pro 1000 Lebendgeburten (Morris et al. 2002). Die Frakturen sind typischerweise spiralförmig und in der proximalen Hälfte des Femurs lokalisiert. Als Risikofaktoren zu erwähnen sind Zwillingsschwangerschaft, Steißlage, Frühgeburtlichkeit und diffuse Osteoporose (Morris et al. 2002). Die Kinder können initial spontan symptomfrei sein, sie reagieren aber mit Schmerzen bei Manipulation am betroffenen Bein. Manchmal ist eine Schwellung sichtbar. Eine Röntgenaufnahme sichert die Diagnose. Bis auf Analgesie und Vorsichtsmaßnahmen bei der Pflege ist oft keine spezielle Behandlung notwendig. Falls das Handling damit bedeutend erleichtert wird, kann ein Beckenbeingips, bei sehr starker Dislokation allenfalls eine Extension zum Einsatz kommen. Nachbehandlung und End-
527 28.7 · Frakturen
a
b
c
d
. Abb. 28.5a–d Typische geburtstraumatische Frakturen. a Klavikulafraktur. b Humerusfraktur. c Femurfraktur. d Schädelimpressionsfraktur
28
528
Kapitel 28 · Geburtstrauma
ergebnis sind gleich wie bei der Humerusfraktur und unproblematisch. Schädelfraktur Auch Schädelfrakturen (. Abb. 28.5d)
28
sind seltene Geburtsverletzungen. Man unterscheidet zwischen linearen und Impressionsfrakturen. Impressionsfrakturen sind vor allem mit zangenassistierten Geburten assoziiert und haben eine Gesamtinzidenz von ca. 3,7 auf 100.000 Entbindungen (Dupuis et al. 2005). Wenn nicht durch eine Zange, werden Schädelfrakturen am ehesten durch Kompression des Schädels an harten mütterlichen Strukturen (Wirbelkörper, Promontorium, Symphyse) während der Wehen verursacht. Schädelfrakturen nach vaginalen Spontangeburten sind selten mit neurologischen Folgen vergesellschaftet. Bei Impressionsfrakturen nach Zangengeburten besteht hingegen ein erhöhtes Risiko für ein Kephalhämatom und/oder für intrakranielle Blutungen, so dass eine Abklärung mittels CT und/oder MRI erwogen werden muss. Bei einer Impression von mehr als Kalottenbreite ist oft eine chirurgische Intervention notwendig. Ansonsten bleibt die Therapie konservativ.
28.8
Verletzungen des Nervensystems
Plexus-brachialis-Läsion Die Verletzung des Plexus bra-
chialis (. Abb. 28.6) bei der Geburt hat eine Inzidenz von 0,04–0,2% (van Dijk et al. 2001). Risikofaktoren sind hohe mütterliche Gewichtszunahme, mütterlicher Diabetes, Multipariät, Makrosomie bzw. hohes Geburtsgewicht und Beckenendlage (van Dijk et al. 2001). Die Läsion kommt am ehesten durch lateralen Zug am Kopf zustande, insbesondere dann, wenn eine Schulterdystokie den Geburtsablauf behindert. Allerdings ist eine Plexus-brachialis-Parese nur in ca. der Hälfte der Fälle mit einer Schulterdystokie vergesellschaftet und sie tritt auch nach Kaiserschnitt auf. Es wird deshalb davon ausgegangen, dass allein
. Abb. 28.6 Geburtstraumatische Plexus-brachialis-Läsion; man beachte wie sich das Kind abstützt
die Geburtswehen, die Lage des Kindes und das mütterliche Pressen Ursache sein können (Jennett et al. 2002). Die Läsion ist meist einseitig. Es werden 5 verschiedene Formen unterschieden (. Tab. 28.2; van Dijk et al. 2001). In den meisten Fällen (Dehnungsverletzungen) kommt es zu einer spontanen Erholung innerhalb von 1–3 Monaten. Dieser Prozess sollte ergotherapeutisch unterstützt werden. Persistierende funktionelle Einbußen werden bei 10–25% der Patienten beobachtet. Bei schweren Verletzungen (Ab- und Ausrissverletzungen) wird eine direkte Wiederherstellungsoperation durchgeführt. Diese sollte innerhalb der ersten 3–9 Lebensmonate stattfinden. Später können durch Nerven- und/oder Sehnentransfers Verbesserungen erzielt werden. Nervus-facialis-Läsion Eine Läsion des Nervus facialis
tritt bei 0,1–0,7% der Geburten auf und wird üblicherweise durch die Kompression des Nervs durch eine Zange oder ein prominentes mütterliches Promontorium verursacht. Risikofaktoren sind Geburtsgewicht über 3500 g, zangen-
. Tab. 28.2 Auswirkungen einer Plexus-brachialis-Verletzung eingeteilt nach Niveau Betroffene Nervenwurzel
Häufigkeit
Klinik
C5 und C6
50%
Erb-Lähmung: Schwächung des M. deltoideus und M. infraspinatus (v. a. C5) und M. biceps (v. a. C 6); Oberarm adduziert und innenrotiert, Vorderarm gestreckt, Hand und Handgelenk werden normal bewegt
C5 bis C7
35%
Erb-Plus-Lähmung: Arm adduziert und innenrotiert, Vorderarm gestreckt und proniert, Flexion in Handgelenk und Finger
C5 bis T1 leicht
Lähmung des Armes, einige Finger ausgespart
C5 bis T1 schwer C8 bis T1
Flail-arm- und Horner-Syndrom Am seltensten
Klumpke-Lähmung: isolierte Lähmung der Hand und Horner Syndrom.
529 28.8 · Verletzungen des Nervensystems
assistierte Geburt und Frühgeburtlichkeit. Typischerweise ist nur der mandibuläre Ast betroffen. Klinisch erkennt man auf der betroffenen Seite oft ein Fehlen der Nasolabialfalte, einen unvollständigen Augenschluss und eine Lähmung der unteren Gesichtmuskulatur, was sich insbesondere durch einen herabhängenden Mund manifestiert. Beim Weinen wird der Mund zur nicht betroffenen Seite hin verzogen. Eine geburtstraumatische Fazialisparese muss von Lähmungen anderer Ursache (Entwicklungsstörung, im Rahmen eines Syndroms, z. B. Goldenhar-Syndrom) abgegrenzt werden. Sie hat eine sehr gute Prognose und ist in der Regel innerhalb der ersten zwei Lebenswochen spontan regredient. Kongenitale Lähmungen ohne traumatische Ursache haben eine sehr schlechte Prognose. In diesen Fällen werden mit mehr oder weniger Erfolg Muskel- und/oder Nerventransfers durchgeführt. Um Kornealäsionen zu verhindern, kommen künstliche Tränen und Augensalben zum Einsatz. Zwerchfellparese Starker lateraler Zug während der Ge-
burt, je nach Kindslage am Kopf oder an der Schulter, kann den N. phrenicus und/oder Plexus brachialis verletzen, indem die entsprechenden Nervenwurzeln überdehnt werden. Eine Verletzung von C3–C5, v. a. von C4, führt zu einer Zwerchfelllähmung, die zu 80–90% mit einer Plexus-brachialis-Parese assoziiert ist (gewöhnlich proximaler Typ, Erb-Lähmung). Umgekehrt tritt bei einer Plexus-brachialis-Parese nur ungefähr in 5% der Fälle zusätzlich auch eine Zwerchfelllähmung auf. Die Risikofaktoren sind gleich wie bei der Plexus-brachialis-Verletzung, besonders gefährdet sind makrosome Kinder über 4500 g bei einer vaginalen Geburt. Eine Schulterdystokie kann mitbeteiligt sein, so auch eine Beckenendlage oder eine schlecht platzierte Zange. Eine postpartale Zwerchfellparese tritt zu ca. 80% isoliert auf der rechten Seite auf. Das Neugeborene wird üblicherweise am ersten Lebenstag symptomatisch, verzögert werden die Symptome durch assistierte Beatmung. Es zeigen sich ein mehr oder weniger ausgeprägtes Atemnotsyndrom mit Tachypnoe, Zyanose, Apnoe und ein schwacher Schrei. Teilweise treten auch gastrointestinale Symptome auf, bei linksseitigen Lähmungen vermehrter Reflux. In der Untersuchung finden sich Thoraxbewegung und Atemeintritt auf der betroffenen Seite vermindert, und im Gegenzug Thoraxbewegung auf der nicht-betroffenen Seite vermehrt. Paradoxe Zwerchfellbewegungen führen zu einer Schaukelbewegung des Abdomens. Im ThoraxRöntgen ist das betroffene Zwerchfell typischerweise hoch stehend, es können Atelektasen auftreten sowie eine Verschiebung des Mediastinums zur Gegenseite. Die verminderte oder paradoxe Zwerchfellbeweglichkeit kann mittels Durchleuchtung oder Sonographie (Echokardiographie) nachgewiesen werden, allerdings nicht bei Kindern, die
beatmet werden oder deren Atmung mit CPAP unterstützt wird. Zum Nachweis der Nervenwurzelschädigung ist ein MRT erforderlich. Die Behandlung der Zwerchfellparese ist primär supportiv (Gabe von Sauerstoff, bei Bedarf Ernährung per Magensonde, in schweren Fällen Atemunterstützung mit CPAP oder Beatmung). Die meisten Patienten erholen sich innerhalb der ersten 6–12 Monate. Bei persistierenden schweren Atemproblemen ist die Therapie der Wahl eine chirurgische Zwerchfellraffung, die die Situation oft unmittelbar deutlich verbessert. Allerdings sind die Daten bezüglich Langzeitresultaten sehr spärlich. Nervus-laryngeus-Läsion Durch Überdehnung des Hal-
ses während der Geburt, v. a. aus Steißlage, kann es zu einer Verletzung des Nervus laryngeus kommen. Die Folge ist eine Stimmbandparese, die zu Stridor, Atemnot, Heiserkeit, schwachem oder fehlendem Schrei, Dysphagie und Aspirationen führen kann. Kinder mit bilateraler Stimmbandparese können während der ersten 6 Lebensmonate asymptomatisch sein, da in diesem Fall die Stimmbänder oft eine Mittellinienposition einnehmen. Bei zunehmender Bewegungsaktivität und demzufolge zunehmendem Sauerstoffbedarf kommen Symptome wie Dyspnoe und Heiserkeit zum Vorschein. Infektionen und Schwellungen anderer Ursache verstärken die Beschwerden. Die Diagnose wird durch eine flexible Nasolaryngoskopie beim wachen Kind oder durch eine direkte Laryngoskopie in Narkose gesichert. Die Stimmbandparese ist in der Regel im Verlauf spontan rückläufig (Daya et al. 2000). Ob eine Therapie notwendig ist oder nicht, hängt vom Schweregrad der Symptome ab. Es können Stimm-, Sprach- und Schlucktherapie indiziert sein. Bei schweren Beschwerden kann eine chirurgische Intervention zur Medialisierung des gelähmten Stimmbandes notwendig werden. Kinder mit bilateraler Parese benötigen eine Operation zur Lateralisierung bzw. Öffnung der Stimmbänder, sowie in 50–60% eine Tracheotomie (Daya et al. 2000). Rückenmarkverletzung Rückenmarkverletzungen sind
sehr selten, mit einer Inzidenz von 0,14 pro 10.000 Lebendgeburten (Menticoglou et al. 1995). Sie entstehen am häufigsten im Bereich der oberen Halswirbelsäule, da hier während der Geburt am meisten Zug- und Rotationskräfte einwirken. Die Läsionen beinhalten spinale Epiduralhämatome, Verletzungen der Arteria vertebralis, traumatische Hämatomyelie, Spinalarterienverschluss und Durchtrennung des Rückenmarks. Risikofaktoren sind der Einsatz einer Zange bei der Geburt und eine vaginale Entbindung bei Beckenendlage (Menticoglou et al. 1995). Die Klinik ist abhängig von der Schwere und vom spinalen Niveau der Verletzung. Schwere hochzervikale oder Hirn-
28
530
Kapitel 28 · Geburtstrauma
stammläsionen haben eine schlechte Prognose und gehen mit einer hohen Mortalität einher. Tiefere Läsionen können eine hohe Morbidität mit bleibenden neurologischen Schäden zur Folge haben. Die Diagnose kann häufig sonographisch gestellt werden, ein MRT ergibt jedoch wesentlich mehr Informationen.
28.9
28
Intraabdominale Geburtsverletzungen
Intraabdominale Geburtsverletzungen sind ungewöhnlich und beinhalten Rupturen oder subkapsuläre Hämatome im Bereich der Leber, Milz und Nebenniere (Uhing 2004). Die klinischen Zeichen sind vom Ausmaß des Blutverlustes abhängig. Die Sonographie ist die beste Untersuchungsmethode. Die Therapie beinhaltet in erster Linie die Korrektur der Volämie und einer allenfalls durch das Trauma entstandenen Koagulopathie. Bei instabilen Patienten kann eine Laparotomie notwendig werden (Uhing 2004).
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29
Pathologische Frakturen A. Joeris, Th. Slongo
29.1
Definition
29.2
Diagnostik
29.2.1 29.2.2 29.2.3 29.2.4
Anamnese und klinische Untersuchung Labordiagnostik – 534 Bildgebende Diagnostik – 534 Biopsie – 536
29.3
Ätiologie
29.3.1 29.3.2 29.3.3 29.3.4 29.3.5 29.3.6 29.3.7 29.3.8
Ermüdungsbrüche und spontanes Hinken – 537 Juvenile Knochenzyste (solitäre, einkammrige Knochenzyste) Aneurysmatische Knochenzyste – 538 Nicht-ossifizierendes Knochenfibrom – 538 Fibröse Dysplasie – 539 Osteogenesis imperfecta – 539 Osteosarkom – 539 Ewing-Sarkom – 540
29.4
Therapie
29.4.1 29.4.2 29.4.3 29.4.4 29.4.5 29.4.6 29.4.7 29.4.8 29.4.9
Konservative Therapie – 541 Kürettage und Spongiosaauffüllung – 542 Lochschrauben – 542 En-bloc-Resektion – 542 Steroidinjektion – 543 Demineralised Bone Matrix (DBM) – 543 chronOS Inject – 543 Elastisch stabile intramedulläre Nagelung – 543 Nachkontrolle – 545 Literatur
– 532 – 532 – 534
– 537
– 541
– 546
– 537
29
532
Kapitel 29 · Pathologische Frakturen
29.1
Definition
Pathologische Frakturen können in praktisch jeder Altersklasse auftreten, ihre größte Inzidenz liegt im Alter zwischen 10 und 16 Jahren. Per definitionem handelt es sich bei einer pathologischen Fraktur um eine durch ein inadäquates Trauma hervorgerufene Fraktur in einem krankhaft veränderten Knochen, der in seinen normalen biomechanischen und elastischen Eigenschaften geschwächt ist. Die Veränderungen des Knochens können durch intrinsische und extrinsische Prozesse hervorgerufen werden. Beispiele für intrinsische Prozesse sind Knochenstoffwechselstörungen wie bei der Osteogenesis imperfecta sowie benigne oder maligne Knochentumoren. Beispiele für extrinsische Prozesse, durch die die Stabilität des Knochens herabgesetzt wird, sind externe Bestrahlungen, chirurgische Eingriffe, durch die Knochendefekte entstehen, beispielsweise durch Biopsien, En-bloc-Resektionen und Fixateur externe. Ebenfalls können medikamentöse Langzeittherapien (z. B. Chemotherapeutika, Steroide, Antikonvulsiva), die in einer Osteoporose resultieren, extrinsische Ursachen einer pathologischen Fraktur darstellen. In sehr seltenen Fällen kann eine pathologische Fraktur auch in einem völlig normalen Knochen durch eine anatomische Gegebenheit (z. B. nutritives Blutgefäß) hervorgerufen sein (Beaty u. Kasser 2001; Marzi et al. 2006).
29.2
dieser speziellen Pathologie annimmt. Zumindest sollte man ein Referenzzentrum in seiner Nähe haben, um eine derartige Pathologie besprechen zu können, bevor man »blind« in eine falsche Therapie einsteigt! Oberste Priorität vor der Therapie der Läsion hat das Herausfinden der zugrunde liegenden Ursache der pathologischen Fraktur (. Abb. 29.1; Dietz et al. 2006). Bereits die genaue Anamnese, die klinischen Befunde in der körperlichen Untersuchung zusammen mit den radiologischen und, wenn der Verdacht auf eine metabolische Störung besteht, die laborchemischen Befunde können in den meisten Fällen eine Verdachtsdiagnose erhärten. Im Weiteren gilt es, die entsprechenden Differenzialdiagnosen allfälliger benigner resp. maligner Knochenprozesse zu kennen. Erst diese Kenntnis erlaubt dem behandelnden Arzt und dem kontaktierten Team eine Beurteilung bezüglich des weiteren Procedere. . Tab. 29.1 gibt eine Übersicht der wichtigsten und häufigsten benignen/malignen Knochenprozesse.
Diagnostik
Es ist dringend zu empfehlen, beim Verdacht auf eine pathologische Fraktur das erkrankte Kind in ein Zentrum zu überweisen, in dem sich ein spezialisiertes Team, das sich aus einem Kinderchirurgen, -orthopäden/-traumatologen, -onkologen und -radiologen zusammensetzen sollte,
Wichtige Fragen zur Evaluation eines Tumors/ einer tumorösen muskuloskelettalen Läsion 4 4 4 4 4 4 4 4 4
Alter des Patienten? Lokalisation des Tumors im Knochen? Epiphysär, metaphysär, diaphysär? Zentral oder exzentrisch? Wie verhält sich die Läsion im Knochen? Geographisch, mottenfraßartig, Mischform? Wie verhält sich der Knochen zur Läsion? Periostale Reaktion, keine Reaktion? Gibt es ein charakteristisches Aussehen der Läsion, der Matrix? 4 Lytisch, verknöchernd, verkalkt?
. Tab. 29.1 Differenzialdiagnose der wichtigsten Knochentumoren Tumorart
Benigne Tumoren
Maligne Tumoren
Knochenbildende Tumoren
Osteom, Osteoidosteom
Osteosarkom
Knorpelbildende Tumoren
Osteochondrom (kartilaginäre Exostose) chondromyxoides Fibrom
Chondrosarkom
Knochenmarktumoren
Ewing-Sarkom, Retikulosarkom
Vaskuläre Tumoren
Intraossäres Hämangiom, intraossäres Lymphangiom
Hämangioendotheliom, Angiosarkom
Andere Weichteiltumoren
Lipom
Fibrosarkom
Andere Tumoren
Adamantinom der langen Knochen, Neurofibrom
Tumorlike Tumoren
Solitäre Knochenzyste, aneurysmatische Knochenzyste, fibröser Kortikalisdefekt, eosinophiles Granulom, fibröse Dysplasie, Myositis ossificans, »brauner Tumor«
H.G. Dietz et al. (Hrsg.), Praxis der Kinder-und Jugendtraumatologie, DOI 10.1007/978-3-642-12935-3_29, © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2011
533
. Abb. 29.1 Algorithmus zur Abklärung pathologischer Frakturen
29.2 · Diagnostik
29
534
Kapitel 29 · Pathologische Frakturen
. Tab. 29.2 Die häufigsten Tumoren und tumorähnliche Läsionen im Kindesalter abhängig vom Alter Alter (Jahre)
Gutartige Tumoren
Bösartige Tumoren
0–5
Osteomyelitis Eosinophiles Granulom (Langerhans-Histiozytose, Histiozytose X, Hand-Schüller-Christian-Krankheit, poly- und monoostotische Form)
Leukämie Ewing-Sarkom Knochenmetastasen (Neuroblastom, Nephroblastom)
5–10
Juvenile Knochenzyste Aneurysmatische Knochenzyste Osteoidosteom Fibröse Dysplasie Nicht-ossifizierendes Fibrom Osteomyelitis Eosinophiles Granulom
Osteosarkom Ewing-Sarkom Rhabdomyosarkom
10–20
Fibröse Dysplasie Osteoidosteom Nicht-ossifizierendes Fibrom Aneurysmatische Knochenzyste Chondroblastom Osteoblastom Riesenzelltumor Osteochondrom (Exostose) Enchondrom Chondromyxoides Fibrom
Osteosarkom Ewing-Sarkom Rhabdomyosarkom Synovialzellsarkom Fibrosarkom Chondrosarkom
29
29.2.1
Anamnese und klinische Untersuchung
29.2.3
Bildgebende Diagnostik
Konventionelles Röntgenbild In der bildgebenden Di-
In der Anamnese gilt es, Vorerkrankungen wie z. B. MagenDarm-Erkrankungen, Nierenerkrankungen, oder Stoffwechselerkrankungen abzuklären, bereits erlittene Frakturen oder Infektionen zu erfragen und eine familiäre Belastung zu erfassen. Wichtige Hinweise auf die Ätiologie der Knochenläsion können sowohl das Alter des Kindes geben, da Knochentumoren eine ausgeprägte Altersaffinität haben, als auch die Lokalisation der Läsion im Knochen selber und im Skelett (. Tab. 29.2 und . Tab. 29.3). Umfang der körperlichen Untersuchung 4 4 4 4 4
29.2.2
Betroffene Körperregion inklusive der Haut Angrenzende Gelenke Sensomotorischer und vaskulärer Status Erfassung möglicher Bewegungseinschränkungen Extremitätendeformitäten und Extremitätenverkürzungen
Labordiagnostik
Laborchemische Untersuchungen sind indiziert, wenn der Verdacht auf eine Osteomyelitis oder eine zugrunde liegende metabolische Störung besteht.
agnostik kann in der Regel das konventionelle Röntgenbild in 2 Ebenen schon entscheidende Hinweise auf die Ätiologie der Knochenläsion geben und ist in vielen Fällen auch schon ausreichend für die genaue Diagnosestellung. Es lässt Aussagen über die Wachstumsgeschwindigkeit und Dignität des Tumors zu. Während eine Sklerosierung des den Tumor umgebenden Knochens, ein intaktes Periost und eine intakte Kortikalis eher für einen gutartigen Knochentumor sprechen, sind ein zwiebelschalenartiges Muster der Kortikalis, Spikulae, Osteolysen oder ein Mottenfraßaussehen verdächtig auf einen malignen Prozess (Hefti et al. 2006). Computertomographie Die Computertomographie (CT) mit koronaren, sagittalen und transversalen Rekonstruktionen bietet heutzutage exzellente Auflösungen und eine sehr genaue räumliche Darstellung der knöchernen Läsion (. Abb. 29.2). Rein intraossäre Prozesse vor allem im spongiösen Knochen, lassen sich durch das CT besser darstellen als durch eine Magnetresonanztomographie (MRT). Gerade bei gelenknahen Prozessen mit der Frage nach der geographischen Beziehung zum Gelenk oder einem Einbruch ins Gelenk kann der Operateur sehr genaue Aussagen erhalten. Es gilt aber festzuhalten, dass bei weitem nicht jeder knöcherne Tumor einer CT-Abklärung
535 29.2 · Diagnostik
. Tab. 29.3 Überwiegende Lokalisationen der Knochentumoren/tumorähnlichen Läsionen im Knochen Lokalisation
Knochentumor/tumorähnliche Läsion
Metaphyse
Praktisch jede Läsion
Epiphyse
Chondroblastom Brodie-Abszess Riesenzelltumor Fibröse Dysplasie
Diaphyse
Fibröse Dysplasie Osteofibröse Dysplasie Eosinophiles Granulom Ewing-Sarkom Leukämie/Lymphom Subakute Osteomyelitis Osteoidosteom Juvenile Knochenzyste (nach Wachstumsabschluss)
Multiple Herde
Histiozytose Fibröse Dysplasie (Albright-Syndrom) Leukämie, Metastasen Enchondrom (Morbus Ollier) Multiple, hereditäre Exostosen Knochenhämangiom
Vordere Wirbelsäulenanteile
Eosinophiles Granulom Leukämie Hämangiom Metastasen Infektion Riesenzelltumor Chondrom
Hintere Wirbelsäulenanteile
Aneurysmatische Knochenzyste Osteoblastoma Osteoidosteom Metastasen (meist Adulte)
Becken
Ewing-Sarkom Osteosarkom Osteochondrom Metastasen Fibröse Dysplasie Chondrosarkom
Rippen
Fibröse Dysplasie Eosinophiles Granulom Ewing-Sarkom Metastasen Chondrosarkom
Gutartige, aber lokal aggressive Tumoren
Chondroblastom Aneurysmatische Knochenzyste Chondromyxoides Fibrom Riesenzelltumor Osteoblastom, Chordom, Adamantamon
a
b . Abb. 29.2a,b 16-jähriger Junge mit einer aneurysmatischen Knochenzyste im Talus. Das nach Kürettage angefertigte CT zeigt den Einbruch der Zyste in das untere Sprunggelenk. a Sagittale, b Koronare Rekonstruktion
bedarf und immer der Nutzen der Untersuchung mit dem Strahlenrisiko abzuwägen ist. Magnetresonanztomographie Bei Fragen nach der Aus-
dehnung des Tumors im Weichteilgewebe und im Knochenmark ist die Magnetresonanztomographie (MRT) heutzutage das diagnostische Mittel der ersten Wahl. Durch unterschiedliche Gewichtungen der Aufnahmen während MRT-Untersuchungen können ebenfalls genaue Aussagen über die Gewebseigenschaften des Tumors gemacht werden. Pathognomonisch für eine aneurysmatische Knochenzyste sind z. B. die typischen Luft-Flüssigkeits-Spiegel in den multiplen Kammern einer aneurysmatischen Knochenzyste (. Abb. 29.3). Die Patienten
29
536
Kapitel 29 · Pathologische Frakturen
a
Szintigraphie Die Szintigraphie eignet sich gut, wenn der Verdacht auf multiple Knochenherde besteht. Sie ist aber eine unspezifische Untersuchungsmethode, die indirekt Hinweise auf die Aktivität, d. h. den Umbau eines Knochenprozesses liefert. In sog. »heißen«, d. h. aktiven Prozessen reichert sich durch die erhöhte Durchblutung Technetium-99 an, während sog. »kalte« Herde inaktiv sind und stumm bleiben. Für die genaue Diagnostik der Tumorausdehnung ist das Szintigramm bei zu geringer lokaler Auflösung nicht geeignet. Positronenemissionstomographie Die Positronenemissi-
onstomographie (PET) ist in speziellen Situationen zur Metastasensuche indiziert.
29
LODOX Auf Grund der besseren Kenntnis der verschiedenen Pathologien von Seiten der Eltern (Internet) wächst auch die Sorge vor zusätzlichen »pathologischen« Herden. Die Angst vor weiteren Herden und der Möglichkeit weiterer pathologischer Frakturen (vor allem auch bei sportlich sehr aktiven Kindern) lässt den Wunsch bis hin zum Druck der Eltern sehr groß werden, nach weiteren pathologischen Herden im Skelett zu suchen. Heute verfügen bereits einige Kliniken über ein sog. LODOX-Gerät. Dieses auf der konventionellen Radiologietechnik basierende System erlaubt hochauflösende Ganzkörperübersichten mit einer vergleichsweise äußerst geringen Strahlendosis (bei einem Ganzkörper-Scan ein Fünftel einer normalen Thoraxübersichtsaufnahme; . Abb. 29.4). b . Abb. 29.3a,b Derselbe Patient wie in . Abb. 29.2. MRT des Fußes mit typischen Luft-Flüssigkeits-Spiegeln, die fast beweisend für die Diagnose einer aneurysmatischen Knochenzyste sind. a Sagittalschnitt. b Koronarschnitt
werden zudem, im Gegensatz zur CT-Untersuchung, keiner Strahlung ausgesetzt. Nachteilig bleibt, dass bei jüngeren Patienten häufig zumindest eine Sedierung nötig ist, in speziellen Fällen sogar eine Vollnarkose. Sonographie Die Ultraschalluntersuchung hat bei rein
ossären Tumoren noch keinen großen diagnostischen Stellenwert. Gilt es, eine primäre Weichteilbeteiligung zu verifizieren oder auszuschließen, kann die Sonographie durchaus als kostengünstige und harmlose ScreeningMethode vor einer deutlich teureren MRT-Untersuchung durchgeführt werden. Zur primären Metastasensuche intraabdominell bei malignen Tumoren ist die Sonographie ebenfalls gut geeignet.
29.2.4
Biopsie
Besteht nach der Anamnese, der klinischen Untersuchung und der bildgebenden Diagnostik der Verdacht auf einen malignen Prozess und konnte auch im interdisziplinären Team, bestehend aus Kinderchirurgen/-orthopäden, Kinderradiologen und Kinderonkologen, keine eindeutige Diagnose herbeigeführt werden, so ist die Biopsie unumgänglich. Dabei gibt es die Möglichkeit der Feinnadelbiopsie, der perkutanen Biopsie mit Hohlbohrern oder, wie in den meisten Fällen, der offenen Biopsie. > Die Biopsie sollte immer durch denjenigen Chirurgen, der später auch den Tumor definitiv operieren wird, bzw. zumindest an derselben Klinik erfolgen. Die Schnittführung der Biopsie ist dabei so zu wählen, dass die Narbe ggf. bei der folgenden Tumoroperation mit reseziert werden kann.
Auf eine Wunddrainage sollte, wenn immer möglich, verzichtet und wenn unbedingt nötig, in enger Beziehung zum Hautschnitt der Biopsie eingelegt werden. Für den
537 29.3 · Ätiologie
pathologischen Fraktur zugrunde liegenden Ursachen hier nur kurz erwähnt werden.
29.3.1
Ermüdungsbrüche und spontanes Hinken
Hauptsächlich in der proximalen Tibia und in den Metatarsalia auftretend, sind die Ermüdungsbrüche in der Regel nur beim adoleszenten Kind zu beobachten und treten nach schweren körperlichen Anstrengungen auf. Da der Knochen nicht pathologisch verändert ist, werden diese Frakturen wie eine normale Fraktur therapiert und heilen in aller Regel problemlos aus. Davon zu unterscheiden ist das »spontane« Hinken bei den Kindern im Kleinkindalter (»toddlers«, v. a. 2.–4. Lebensjahr). Ursache dieses spontanen Hinkens ist meist eine Infraktion im Bereich der Tibia, seltener auch der Fibula oder des Kalkaneus. Hervorgerufen ist diese Infraktion des Knochens nicht durch eine Pathologie, sondern durch die Lebhaftigkeit der Kinder bei noch fehlender motorischer Sicherheit in diesem Alter, so dass sie sich häufiger anschlagen, stolpern oder stürzen. Radiologisch sind die Frakturen häufig nicht zu erkennen, sondern nur sekundär durch die Kallusbildung. Eine Ruhigstellung für 2–3 Wochen ist meist ausreichend. Differenzialdiagnostisch müssen andere Ursachen für ein spontanes Hinken wie Osteomyelitis, Tumoren oder Coxitis fugax ausgeschlossen werden.
29.3.2 . Abb. 29.4 LODOX-Aufnahme eines ganzen Körpers aus orthopädischer Indikation
Hautverschluss empfiehlt sich eine fortlaufende, intrakutane Hautnaht. Das Biopsiematerial wird nativ, d. h. nicht in Formalin fixiert, möglichst sofort an den Pathologen weitergeleitet. Es ist unbedingt darauf zu achten, dass genügend Material entnommen wird, damit das Kind am Ende nicht eine unnötige Narkose bekommen hat, weil aufgrund von zu wenig Biopsat keine eindeutige Aussage getroffen werden kann. Zudem ist es empfehlenswert, den Pathologen vorab über die anstehende Biopsie zu informieren.
29.3
Ätiologie
Da in diesem Kapitel hauptsächlich auf die pathologische Fraktur selbst, die Diagnostik und ihre Behandlungsmöglichkeiten eingegangen wird, sollen die wichtigsten einer
Juvenile Knochenzyste (solitäre, einkammrige Knochenzyste)
Zusammen mit dem nicht ossifizierenden Knochenfibrom und dem Osteochondrom ist die juvenile Knochenzyste einer der häufigsten primären Knochentumoren. Die Läsion ist gutartig, maligne Entartungen sind nicht bekannt. Die juvenile Knochenzyste ist meist in der Metaphyse der langen Röhrenknochen lokalisiert und wandert mit zunehmendem Wachstum Richtung Diaphyse. Annähernd 70% sind in der proximalen Metaphyse des Humerus und des Femurs zu finden. Deutlich seltener ist sie in der distalen Tibia, dem distalen Femur, im Kalkaneus, distalen Humerus, Radius, Fibula, Ileum, Ulna und den Rippen zu finden. Die Altershäufigkeit liegt zwischen dem 5. und 15. Lebensjahr, Knaben sind zweimal häufiger betroffen. In bis zu 75% der Fälle wird die Knochenzyste durch eine pathologische Fraktur zum ersten Mal entdeckt (. Abb. 29.5). Aber nur bis zu 10% der Knochenzysten heilen durch die erste pathologische Fraktur spontan aus. In der Regel heilt die Läsion mit dem Wachstumsabschluss aus (Beaty u. Kammer 2001).
29
538
Kapitel 29 · Pathologische Frakturen
29
. Abb. 29.6 Aneurysmatische Knochenzyste: 9-jähriges Mädchen mit aneurysmatischer Knochenzyste proximaler rechter Humerus mit pathologischer Fraktur
. Abb. 29.5 Juvenile Knochenzyste: 15-jähriger Junge, der sich nach einem Bagatelltrauma mit Schmerzen im Oberarm rechts vorstellte. Radiologisch Nachweis einer pathologischen Fraktur bei großer juveniler Knochenzyste im Humerusschaft
Wachstum kann es zu einem Durchbruch der Epiphysenfuge mit epiphysärem Wachstum kommen. Die Ätiologie der aneurysmatischen Knochenzysten ist noch nicht vollständig geklärt. Sie können sowohl als Primärtumor als auch auf dem Boden anderer gutartiger, aber auch bösartiger Knochentumoren auftreten (z. B. nicht-ossifizierendes Fibrom, fibröse Dysplasie, Osteosarkom). Ist die genaue Diagnose aufgrund der Klinik und der radiologischen Diagnostik unklar, ist deshalb eine genaue histologische Untersuchung anzuraten.
29.3.4 29.3.3
Nicht-ossifizierendes Knochenfibrom
Aneurysmatische Knochenzyste
Die aneurysmatische Knochenzyste (. Abb. 29.6) ist relativ selten, ihr Anteil ist laut Literatur nur 1,5% an allen primären Knochentumoren. Die Geschlechtsverteilung ist ungefähr gleich mit leichtem Übergewicht bei den Mädchen. Am häufigsten tritt die aneurysmatische Knochenzyste zwischen dem 10. und 20. Lebensjahr auf. Das Wachstum ist exzentrisch, seltener zentral und expansiv, bevorzugt in den Metaphysen der langen Röhrenknochen und in der Wirbelsäure. Durch das expansive und osteolytische
Das nicht-ossifizierende Knochenfibrom ist der häufigste primäre Knochentumor überhaupt. Die genaue Inzidenz ist schwer zu erfassen, da die meisten Läsionen klinisch stumm bleiben, bei bis zu 25% aller Kinder können nicht-ossifizierende Knochenfibrome als Zufallsbefund bei Röntgenuntersuchungen gefunden werden (. Abb. 29.7). Lokalisiert meist in der distalen Femurmetaphyse, der proximalen Tibiametaphyse und der Fibula, wachsen diese Tumoren exzentrisch, umgeben von einem dünnen Kortex, die sich zum Markraum hin oft sklerosiert darstellt. Im Laufe des
539 29.3 · Ätiologie
schwierig sein und kann unter Umständen eine Biopsie zur Diagnosesicherung bedingen.
29.3.6
Osteogenesis imperfecta
Autosomal-dominant oder autosomal-rezessiv vererbte Gruppe von Erkrankungen, die mit einer deutlich vermehrten Brüchigkeit der Knochen, allgemeiner Laxizität der Bänder, Hypermobilität der Gelenke, vermehrter Verletzlichkeit der Haut, blauen Skleren und Schwerhörigkeit einhergehen. Je nach Erkrankungstyp sind die Symptome verschieden stark ausgeprägt. Zugrundeliegende Pathologie ist die gestörte Bildung von normalem Kollagen, namentlich die gestörte Reifung von Kollagenfasern Typ I. Am häufigsten ist der Typ I mit einer Inzidenz von 1:30.000 zu finden, der Typ II ist in der Regel letal verlaufend, meist direkt nach der Geburt oder im Kleinkindalter. Eine Heilung der Grunderkrankung ist bis heute nicht bekannt. ! Cave Differenzialdiagnostisch muss bei Neugeborenen und Säuglingen vor allem eine Kindesmisshandlung ausgeschlossen werden. . Abb. 29.7 13-jähriges Mädchen mit nicht-ossifizierendem Fibrom am distalen Radius des linken Unterarms
. Tab. 29.4 gibt einen Überblick über die möglichen Ur-
Wachstums wandern sie Richtung Diaphyse. Nach Wachstumsabschluss verschwinden die Knochenfibrome spontan oder bleiben als sklerosierte Zonen sichtbar. Die Geschlechtsverteilung ist ausgeglichen, pathologische Frakturen werden vermehrt bei Jungen beobachtet. Der Altersgipfel liegt zwischen dem 6. und 14. Lebensjahr.
29.3.7
29.3.5
Fibröse Dysplasie
Da auch diese Pathologie in den meisten Fällen klinisch unbemerkt bleibt, ist die Inzidenz nicht genau verifizierbar. Symptomatisch wird die fibröse Dysplasie häufig durch eine pathologische Fraktur. Bevorzugte Lokalisation ist der proximale Femur, wo sich radiologisch die sog. Hirtenstab-Deformität ausbilden kann, und der Kiefer. Seltener sind die Tibia, die Rippen, der Humerus, der Radius oder das Becken betroffen. Mädchen erkranken an einer fibrösen Dysplasie etwas häufiger als Jungen, gehäuftes Vorkommen im Adoleszentenalter. Unterschieden wird eine monostotische und polyostotische Form sowie das McCune-Albright-Syndrom. Die differenzialdiagnostische Abgrenzung zu einer aneurysmatischen Knochenzyste, einer Osteomyelitis, einem Riesenzelltumor, einem soliden Fibrom sowie einem Enchondrom kann mitunter
sachen für eine pathologische Fraktur im Kindesalter.
Osteosarkom
Das Osteosarkom ist der häufigste solide, maligne Knochentumor mit einer Inzidenz von ca. 4–5/1.000.000 jährlich, wobei davon 60% der Patienten jünger als 25 Jahre sind (Häufigkeitsgipfel zwischen dem 10. und 25. Lebensjahr). Bevorzugte Lokalisation sind die Metaphysen der langen Röhrenknochen, hier vor allem die der Knieregion (distale Femur- und proximale Tibiametaphyse). Differenzialdiagnostisch müssen andere maligne (Chondrosarkom, malignes fibröses Histiozytom, Ewing-Sarkom) und benigne (Osteomyelitis, aneurysmatische Knochenzyste) Knochenläsionen ausgeschlossen werden. Diagnostik: Die Klinik ist zu Beginn häufig unspezifisch mit diffusen Schmerzen, die belastungsabhängig sein können und sich eventuell im Verlauf in der Nacht verschlimmern. Je nach Tumorlokalisation tritt früher oder später eine Schwellung auf, die schmerzhaft sein kann. Bis auf eine eventuell erhöhte alkalische Phosphatase ist das Labor häufig unauffällig. Im konventionellen Röntgenbild zeigen sich schon häufig die radiologischen Zeichen eines malignen Tumors mit Destruktion der Kortikalis und den typischen periostalen Reaktionen mit Spikulae, Zwiebelschalen und Codmann-Dreieck. Die MRT-Untersuchung gibt vor allem Informationen über das Ausmaß
29
540
Kapitel 29 · Pathologische Frakturen
. Tab. 29.4 Mögliche Ätiologien einer pathologischen Fraktur im Kindesalter
29
Knochenzysten
Juvenile Knochenzyste Aneurysmatische Knochenzyste
Gutartige Knochentumoren
Nicht-ossifizierendes Fibrom Enchondrom Osteochondrom Eosinophiles Granulom (LangerhansZell-Histiozytose) Osteoidosteom Osteoblastom Hämangiom Intraossäres Lipom Intraossäres Ganglion
Bösartige Knochentumoren
Osteosarkom Ewing-Sarkom Chondrosarkom Ossäres Fibrosarkom Plasmozytom Hämangiosarkom Ossäres Liposarkom Metastasen (Wilms-Tumor, Neuroblastom)
Erkrankungen des Knochen und Bindegewebe
Fibröse Dysplasie (monostotisch, polyostotisch, McCune-AlbrightSyndrom) Osteofibröse Dysplasie Neurofibromatose
Knochenmarkerkrankungen
Morbus Gaucher Sichelzellanämie Leukämie Hämophilie Osteomyelitis
Pathologische Frakturen nach chirurgischen Eingriffen
Extremitätenverlängerungen En-bloc-Resektionen Fixateure externe u. a.
Erkrankungen, die den Knochen schwächen
Osteogenesis imperfecta Osteopetrosis Pyknodysostosis Rachitis Juvenile Osteoporose Iatrogene Osteoporose (Chemotherapie, Steroide) Hyperparathyreoidismus Hyperthyreose/Hypothyreose
Neuromuskuläre Erkrankungen
Zerebralparese Myelomeningozele Muskuläre Dystrophie Arthrogryposis Poliomyelitis Rückenmarksverletzungen
der Weichteilbeteiligung und ob evtl. »skip lesions« vorhanden sind, die typischerweise proximal des Primärtumors liegen. Eine Szintigraphie gibt Auskunft über knöcherne Fernmetastasen, ein CT-Abdomen sowie Röntgen-Thorax/CT-Thorax über thorakale und abdominelle Metastasen. Die definitive Diagnose bedingt eine offene Biopsie (7 Abschn. 29.2.4). Die Therapie folgt international anerkannten Protokollen mit neoadjuvanter Chemotherapie, weiter Tumorresektion und postoperativer Chemotherapie, auf die hier aber nicht näher eingegangen werden soll. Osteosarkome sind wenig strahlensensibel. Die 5-Jahres-Überlebensraten liegen bei Anwendung der etablierten Protokolle bei ca. 70%.
29.3.8
Ewing-Sarkom
Das Ewing-Sarkom betrifft häufiger Jungen als Mädchen. Er ist hochmaligne, entsteht im Markraum und ist der zweithäufigste maligne Knochentumor bei Kindern. Betroffen sind vor allem die Diaphysen der langen Röhrenknochen, aber auch die Metaphysen, das Becken, die obere Extremität, die Rippen und die Wirbelsäule. Der Altersgipfel liegt zwischen dem 10. und 25. Lebensjahr. Ätiologisch spielen genetische Faktoren eine große Rolle bei der Entstehung eines Ewing-Sarkoms, in 90% der Fälle lässt sich die Translokation t(11;22)(q24;q12) nachweisen. Diagnostik. Die ersten Symptome sind häufig unspezifisch, so dass es durchschnittlich 4 Monate von den ersten Symptomen bis zur Diagnosestellung dauert. Im Gegensatz zum Osteosarkom findet man immer wieder eine Anämie im Blutbild, die Blutsenkung und die Laktatdehydrogenase können erhöht sein und das Kind kann unter Fieberschüben unklarer Ursache leiden. Radiologisch können die Befunde im konventionellen Röntgen sehr variieren, von minimalen periostalen Reaktionen bis hin zu großen Osteolysen. Das MRT ist für die genaue Ausdehnung, die Szintigraphie für ossäre Metastasen, das Abdomen-CT und das Röntgen Thorax/CT-Thorax für das Staging notwendig. Die offene Biopsie erbringt die definitive Diagnose (7 Abschn. 29.2.4). Differenzialdiagnostisch muss unter anderem an eine Osteomyelitis, eine Langerhans-Histiozytose, ein Osteosarkom, leukämische Infiltrate, Non-Hodgkin-Lymphome, primitive neuroektodermale Tumoren (PNET) oder an Metastasen anderer Tumoren gedacht werden. Die Therapie erfolgt wie beim Osteosarkom nach anerkannten internationalen Protokollen. Sie besteht in der Regel aus neoadjuvanter Chemotherapie, weiter/radikaler Tumorresektion und postoperativer Chemotherapie. Im Gegensatz zum Osteosarkom ist das Ewing-Sarkom strahlensensibel, so dass bei nicht sicherer Resektion im Gesunden diese zur Anwendung kommt.
541 29.4 · Therapie
a . Abb. 29.8a,b Konservative Therapie bei aneurysmatischer Knochenzyste. a Pathologische Fraktur am unteren Rand einer aneurysmatischen Knochenzyste in der rechten proximalen Metaphyse des
29.4
Therapie
Pathologische Frakturen sind am häufigsten durch gutartige Knochentumoren hervorgerufen. Da sie praktisch in jedem Knochen, am häufigsten in den langen Röhrenknochen und in den Wirbelkörpern, auftreten, ist je nach Lokalisation der Knochenläsion für die Therapie nicht nur die Ausheilung der Läsion, sondern auch die Stabilität des betroffenen Knochens in Betracht zu ziehen. Viele Therapiekonzepte wurden in den letzten Jahrzehnten vorgestellt mit mehr oder minder hohen Rezidivraten der Knochenläsionen. Abhängig von der Behandlungsmethode sind in der Literatur Rezidivraten bis zu 35% beschrieben. Liegt der pathologischen Fraktur ein maligner Prozess zugrunde, ist ein multidisziplinärer Therapieansatz zwingend und die Therapie richtet sich ganz nach der Art des Malignoms. Auf die Therapie maligner Knochenprozesse soll in diesem Kapitel nicht eingegangen werden (. Abb. 29.1).
29.4.1
Konservative Therapie
Das Phänomen der spontanen Ausheilung von gutartigen Knochenläsionen ist bestens bekannt. Nach stattgehabter pathologischer Fraktur werden Ausheilungsraten der Lä-
b Humerus bei einem 14-jährigen Jungen. b Konservative Therapie mit Gilchrist-Verband. Eine radiologische Kontrolle nach 6 Monaten zeigt eine Konsolidation der Fraktur bei persistierender Knochenzyste
sionen zwischen 10 und 30 % beschrieben (Kaelin et al. 1989). Allerdings bedarf es oftmals mehrerer pathologischer Frakturen, bevor es zu einer Ausheilung kommt. Die spontane Ausheilung ohne vorangegangene pathologische Fraktur findet, wenn überhaupt, erst nach Wachstumsabschluss statt, wenn die Läsion inaktiv geworden ist. Es gibt in der Literatur keine Angaben darüber, mit welcher Wahrscheinlichkeit eine Knochenzyste abheilt, die Abheilung kann Jahre bis Jahrzehnte dauern. Somit ist die Entscheidung, ob eine gutartige Knochenläsion konservativ behandelt (. Abb. 29.8) oder operativ versorgt werden muss, nicht nur abhängig von der Ätiologie der Läsion, sondern auch von ihrer Lokalisation und Größe sowie dem Alter des Patienten. So muss z. B. das nicht-ossifizierende Fibrom in der Regel nicht operativ behandelt werden, handelt es sich aber um eine große Läsion (größer als halbe Schaftbreite), ist unter Umständen eine chirurgische Intervention indiziert. Generell werden aktive Knochenzysten in gewichttragenden Knochen an der unteren Extremität eher aggressiver behandelt als an der oberen Extremität, da sie einer höheren Gefahr ausgesetzt sind, eine pathologische Fraktur zu erleiden. Ermüdungsbrüche, die wie bereits erwähnt in normalem, nicht pathologisch verändertem Knochen auftreten, bedürfen in der Regel keiner speziellen Therapie, heilen folgenlos aus und zeigen keine Rezidive.
29
29
542
Kapitel 29 · Pathologische Frakturen
29.4.2
Kürettage und Spongiosaauffüllung
Historisch gesehen ist die Kürettage und Spongiosaauffüllung (. Abb. 29.9) wahrscheinlich die älteste Therapieoption gutartiger Knochenläsionen. Nach Kürettage der Läsion wird diese mit autologem oder allogenem Knochenmaterial aufgefüllt. Rezidivraten bis zu 40% sind in der Literatur beschrieben, so dass man eher zurückhaltend mit dieser Methode geworden ist. Manche Autoren empfehlen, mit der Kürettage und Spongiosaauffüllung bis zur Inaktivierung der Zyste zu warten, wobei kein eindeutiger Benefit davon gezeigt werden konnte. Außerdem ist zu bedenken, dass die Menge an zur Verfügung stehender autologer Spongiosa limitiert ist und vor allem bei kleineren Kindern nicht ausreichend sein kann. Zudem muss bei mehrkammrigen Zysten darauf geachtet werden, dass alle Zystenwände niedergebrochen werden, damit die gesamte Zyste mit Spongiosa gefüllt werden kann. Bleiben vereinzelte Zystenanteile ungefüllt, erhöht sich das Risiko eines Rezidivs. An unserer Klinik wird die Kürettage und Auffüllung mit autologer Spongiosa nicht mehr angewandt.
29.4.3
Der Versorgung mit Lochschrauben liegt die Annahme zugrunde, dass Knochenzysten durch eine Entlastung schneller in einen inaktiven Zustand übergehen und dadurch schneller abheilen. Durch das Einbringen von kanülierten Schrauben soll eine Druckentlastung stattfinden. Eine Stabilisierung kann durch die Schrauben nicht erreicht werden, so dass sie allenfalls an der oberen Extremität angewendet werden können, sicher aber nicht in gewichttragenden Knochen, die gefährdet oder bereits durch eine pathologische Fraktur geschwächt worden sind. Mehrkammerige Zysten sind für die Therapie mit Lochschrauben nicht geeignet.
29.4.4
En-bloc-Resektion
Die En-bloc-Resektion wurde früher als Therapieoption auch bei gutartigen Knochenläsionen propagiert. Aufgrund der vorhandenen Therapieoptionen mit deutlich geringerer Morbidität und Invasivität sollte die En-
b
a . Abb. 29.9a–c Derselbe Patient wie in . Abb. 29.2 und . Abb. 29.3 nach Auffüllung der aneurysmatischen Knochenzyste im Talus mit autologer Beckenkammspongiosa. a, b Konventionelle Röntgenbilder. c Sagittale CT-Rekonstruktion
Lochschrauben
c
543 29.4 · Therapie
bloc-Resektion heutzutage bei gutartigen Knochentumoren nicht mehr angewendet werden, sondern der Therapie von bösartigen Knochenläsionen vorbehalten bleiben.
29.4.5
Steroidinjektion
Erstmals 1974 durch Scaglietti et al. durchgeführt, wurden einige Jahre später Heilungsraten von über 90% in einer Gruppe von 72 Kindern mit juveniler Knochenzyste berichtet (Scaglietti et al. 1979). 55% der Knochenzysten heilten nach der ersten Injektion mit Methylprednisolon ab, wogegen die übrigen 45% bis zu 5 weitere Injektionen in einem Abstand von 2–3 Monaten benötigten. Die Wirkungsweise der Steroidinjektion ist nicht genau geklärt. Scaglietti et al. erklärten die Wirkung der Methylprednisolon-Injektionen durch die antiinflammatorischen Eigenschaften der Steroide. Unterstützt wurde dies durch die Beobachtungen von Shindell et al., der erhöhte Prostaglandinkonzentrationen in Knochenzysten beobachtete, die durch wiederholte Steroidinjektionen reduziert wurden. Gleichzeitig wurde dadurch die osteoklastische Aktivität, die von Prostaglandinen gefördert wird, in den Zysten reduziert. Andere Autoren vermuten, dass es zu wiederholten Entlastungen der Zysten durch die Steroidinjektionen kommt und dadurch die Ausheilung angeregt wird. Die Popularität, die die Steroidinjektionen nach den Publikationen von Scaglietti et al. durch die hohen Erfolgsraten und die geringe Morbidität erlangten, ist in den letzten Jahren wieder deutlich abgeschwächt, da sich zeigte, dass häufig Rezidive auftreten, vor allem bei polyzystischen, epiphysennahen Läsionen, die mehrmalige Injektionen nach sich ziehen und jede dieser Injektionen in Allgemeinnarkose durchgeführt werden muss.
29.4.6
Demineralised Bone Matrix (DBM)
Demineralisierte Knochenmatrix wird aus trockengefrorenen und entkalkten Allografts hergestellt. Es konnte nachgewiesen werden, dass knocheninduzierende Proteine, wie sie in demineralisierter Knochenmatrix vorhanden sind, die Proliferation und Differenzierung mesenchymaler Stammzellen in osteogene Zellen fördern. DBM kann als Gel vermischt mit Spongiosa oder alleine in die Knochenläsionen eingebracht werden. Die Erfahrungen mit DBM als Therapie von gutartigen Knochentumoren bei Kindern sind bisher limitiert. Zu erwähnen sind bei einer Therapie mit DBM die nicht unerheblichen Kosten und die wenn auch sehr geringe Gefahr einer Übertragung von viralen Infektionen.
29.4.7
chronOS Inject
ChronOS Inject ist ein synthetisch hergestelltes Knochenersatzmaterial, das aus Kalziumphosphat hergestellt wird und in einer minimal-invasiven Technik appliziert werden kann. Im Gegensatz zu Knochenzement härtet es aus ohne eine exothermische Reaktion. In vivo konnten osteokonduktive Eigenschaften nachgewiesen werden. Zudem kann es resorbiert werden und regt die Remodellierung des betroffenen Knochens an. Es wird bisher bei gutartigen Knochenzysten, die aufgrund des Alters des Kindes voraussichtlich nicht mehr abheilen, aufgrund ihrer Größe und Lokalisation gefährdet sind, eine pathologische Fraktur zu erleiden oder die bereits mehrfach erfolglosen Therapien unterzogen worden sind, angewendet. Da chronOS Inject nur eine limitierte mechanische Festigkeit besitzt, wird empfohlen, in Gewicht-tragenden Knochen, die eine pathologische Fraktur erlitten haben, zusätzlich zum chronOS Inject eine intramedulläre Nagelung vorzunehmen. Bisher wurde chronOS Inject nur an kleinen Fallzahlen angewendet (. Abb. 29.10).
29.4.8
Elastisch stabile intramedulläre Nagelung
Seit der Einführung der elastisch stabilen intramedullären Nagelung (ESIN) mit Titanmarknägeln oder Stahlnägeln hat sich diese Methode gegenüber den meisten Therapieoptionen für gutartige Knochenläsionen durchgesetzt und wird in allen langen Röhrenknochen zur Stabilisierung von pathologischen Frakturen oder zur Stabilisierung von großen Knochenzysten, die frakturgefährdet sind, eingesetzt (. Abb. 29.11). Auch durch die Therapie von Knochenzysten mit ESIN kann keine hundertprozentige Ausheilung von Knochenzysten erreicht werden, die Erfolgsraten sind gegenüber denen nach einer Therapie mit z. B. Kürettage und Spongiosaauffüllung oder Steroidinjektion deutlich überlegen.
Vorteile von ESIN gegenüber anderen Therapiemethoden 4 Einfache und sichere Stabilisierung von pathologischen Frakturen 4 Aufgrund der suffizienten Stabilisierung keine Immobilisation der betroffenen Extremität nötig, deshalb sofortige Mobilisation möglich 4 Prophylaktische Stabilisierung bei großer Knochenzyste mit Frakturgefahr 4 Anregung der Zystenausheilung
29
544
Kapitel 29 · Pathologische Frakturen
. Abb. 29.10a,b chronOS Inject bei juveniler Knochenzyste. a Pathologische Fraktur der proximalen Humerusmetaphyse links. Stabilisierung mit retrograder elastisch stabiler intramedullärer Nagelung (ESIN) und Auffüllen der Knochenzyste mit chronOS Inject. b 6 Monate nach Stabilisierung und chronOS-Inject-Injektion radiologische Ausheilung der juvenilen Knochenzyste und fast vollständige Resorption des chronOS Inject und Remodelling der proximalen Humerusmetaphyse
29 a
b
Die mögliche Ausheilung der Knochenzysten durch die intramedulläre Nagelung wird auf zwei Prinzipien zurückgeführt. Zum einen wird durch die intramedulläre Perforation der Knochenzyste die Migration von Osteoblasten in die Knochenläsion angeregt und ermöglicht. Zum anderen wird durch die Markraumstabilisierung eine kontinuierliche Dekompression und Bewegung in der Zyste erreicht, was sich wahrscheinlich positiv auf den Heilungsprozess auswirkt. Aus diesem Grunde wird auch empfohlen, während der Passage der Nagelspitze durch die Knochenzyste diese mehrmals im Zystenlumen zu drehen, um so ein Niederreißen der Zystensep-
ten und eine mehrfache Perforation der Zyste durch den Nagel zu erreichen. Zudem können während des voranschreitenden Längenwachstums bei Nicht-Ausheilung der Zyste die Nägel entfernt und auf längere Nägel gewechselt werden. Es ist hierbei allerdings durchaus möglich, dass nach zu langem Warten die Entfernung der Nägel nicht mehr möglich ist oder nur mit einem zu großen »Flurschaden«, so dass die Nägel belassen werden. Am häufigsten zur Anwendung kommt die intramedulläre Nagelung bei Knochenläsionen des Humerus sowie im Femur. Handelt es sich um eine Knochenzyste im pro-
545 29.4 · Therapie
. Abb. 29.11 Therapeutische/prophylaktische intramedulläre Nagelung einer pathologischen Fraktur bei juveniler Knochenzyste
ximalen Humerus, so können bei metaphysärer Lage der Läsion die Marknägel durch die Epiphysenfuge bis in den Humeruskopf vorgeschlagen werden, ohne dass es zu einer Störung im Wachstum kommt. Bei großen zystischen Pathologien im Schenkelhals könnten entgegen der sonst bekannten Implantationstechniken der Marknägel sogar 3 Marknägel indiziert sein und von distal (2 lateral, 1 medial) eingebracht werden. Wie bereits erwähnt, kann eine Kombination der ESIN-Therapie mit chronOS Injekt in ausgewählten Fällen durchaus indiziert sein. Eine spezielle Anwendung finden die elastisch stabilen Marknägel bei pathologischen Frakturen am Femur bei Kindern mit Osteogenesis imperfecta (. Abb. 29.12). Hier wird jeweils ein Nagel von proximal und distal eingebracht, so dass die Nägel eine Teleskopeigenschaft bekommen und bei fortschreitendem Längenwachstum und ausbleibender Heilung der Fraktur/Zyste eine Stabilisierung über einen längeren Zeitraum garantieren. Zudem wird so der Deformierung des Knochens besser entgegengewirkt. Ansonsten sind bei der Implantation der Marknägel dieselben Prinzipien sorgfältig zu beachten wie bei jeder normalen Fraktur eines langen Röhrenknochens, die mit ESIN versorgt wird.
29.4.9
Nachkontrolle
Mit wenigen Ausnahmen heilen pathologische Frakturen in einem für das Alter des Kindes normalen Zeitrahmen aus. Eine Konsolidationsröntgenaufnahme wird nach Ablauf der entsprechenden Zeit empfohlen. Im Anschluss daran erfolgen radiologische Nachkontrollen je nach Läsion im Abstand von 3–6 Monaten. Nach Beschwerdefreiheit des Kindes können die Kontrollen auf jährliche Abstände reduziert werden. Ein Jahr nach radiologischer Ausheilung der Zyste sollte nochmals ein Kontrollröntgen durchgeführt werden, um ein Rezidiv auszuschließen. Wichtig ist, sowohl vor als auch nach der Operation die Beweglichkeit der angrenzenden Gelenke und an der unteren Extremität auch das Längenwachstum der Extremität zu kontrollieren, um allfällige Bewegungseinschränkungen der Gelenke und Längendifferenzen >1 cm zu dokumentieren. So kann z. B. durch eine große Knochenzyste im Talus die Beweglichkeit im unteren Sprunggelenk deutlich eingeschränkt sein (. Abb. 29.8). Je nach Lokalisation der Knochenläsion und der angewendeten Therapiemethode ist postoperativ eine Immobilisation des betroffenen Knochens oder zumindest eine Teilentlastung anzuraten. Wurde eine intramedulläre Na-
29
546
Kapitel 29 · Pathologische Frakturen
29
. Abb. 29.12 Knochenpathologie bei Osteogenesis imperfecta mit pathologischer Fraktur und nach intramedullärer Nagelung
gelung durchgeführt, ist unter Umständen bei ausbleibender Heilung der Knochenpathologie ein Austausch der Nägel im Verlauf nötig. Die Entfernung der Marknägel ist von Abhängigkeit der Pathologie, der Lokalisation und dem Alter des Kindes individuell zu diskutieren. Generell empfehlen wir aber eine Osteosynthesematerialentfernung bei Kindern aufgrund des jungen Alters.
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Stichwortverzeichnis
548
Stichwortverzeichnis
A abdominal packing 167 Abdominaltrauma 7 Bauchtrauma Abdominalverletzungen 18, 155 Abrasion 503 Abschürfung 503 Achsenfehler, Korrekturmechanismen 33 Achsenfehlstellung, Sprunggelenksverletzungen 451 adolescent lateral femoral nail 363, 370, 373 Adrenalin, Reanimation 13 Akromioklavikulargelenk, Sprengung 242 Akromionfraktur 146 Alanin-Aminotransferase 166 Analgosedierung 15, 17, 26 – Verbrennung 19 Anästhesie, topische 501 AO-PAEG-Klassifikation 354, 410, 438 Aortenbogen, Verletzung 142 Aortenruptur 187 Apophysenabriss 359 Apophysenlösung 359 Apophysenverletzung 359, 391 Aspartat-Aminotransferase 166 Atemwege, Sicherung 11 Augenverletzungen, geburtstraumatische 524 Ausscheidungsurographie 161 Azetabulumfraktur – Diagnostik 237 – dislozierte 237 – Häufigkeit 237 – Klassifikation 237 – Komplikationen 237 – Therapie 232 – Ursachen 237 Azetabulumverletzungen 229
B Banding-Brücke 391 Bankart-Läsion 246 Battered-Child-Syndrom 515 – Anamnese 516 – Diagnostik 518 – Erstversorgung 518 – Häufigkeit 516 – Humerusfraktur 264 – Klinik 516 – Risikofaktoren 516 – Schädel-Hirn-Trauma 121 – Spätfolgen 520 – Therapie 519 – Verletzungsmuster 517 Bauchtrauma 18, 153 – Anamnese 158 – Bildgebung 159 – Diagnostik 159 – Inzidenz 157 – Klassifikation 157 – Labordiagnostik 160
– Mortalität 157 – Reanimation 156 – stumpfes 155 – Therapie 160 – Ursachen 155 Bauchverletzungen, Klassifikation 157 Bauchwandeinblutung 187 Bauchwandkontusion 508 Baumel-Beinchen-Extension 85 Becken – Anatomie 224 – Wachstum 224 Becken-Bein-Gips 63, 356, 357, 363, 372 Becken-Spreiz-Gips 232 Beckenfrakturen – AO-Klassifikation 225 – Ätiologie 226 – Diagnostik 228 – Einteilung 225 – Fixateur externe 229, 233 – instabile 226, 230 – interne Stabilisierung 233 – Klinik 227 – komplexe 229 – Komplikationen 234 – konservative Therapie 231 – Notfallmaßnahmen 228 – offene Reposition 233 – operative Therapie 231 – stabile 226, 230 – Therapie 229 Beckenringverletzungen 225, 234 Beckentamponade 230 Beckenzwinge 229 Beinlängendifferenz 373 Berner Schmerzscore 23 Biliscopin-CT 170 Bissverletzungen 505 Blasenentleerungsstörung, neurogene 177 Blasenkatheter – suprapubischer 176 – transurethraler 176 Blasenruptur 176, 183 – extraperitoneale 176 – intraperitoneale 176 Blasenverletzungen 176 Blount-Klammer 374 Blount-Schlinge 56 Blutfluss, zerebraler 119 Blutsperre 501 Blutung – intrakranielle 524 – intraventrikuläre 525 Blutverlust 184 Blutvolumen – zerebrales 119 Böhler-Winkel 461 Bohrlochtrepanation 135 bone bruise 380 bowing fracture 320 Brustwirbelsäulenverletzungen – Behandlung 216 – Klassifikation 214
buddy taping 345 Bulbusoxymetrie 131
C C-Griff 11 Caput-Collum-Diaphysen-Winkel 354 Caput succedaneum 523 Cast 56 chance fracture 183 Cholangiopankreatikographie – endoskopische retrograde 170 – magnetresonanztomographisch gestützte 170 Chopart-Luxation 463 chronOS Inject 543 Codmann-Dreieck 539 Computertomographie, kraniale 124 Condylus-radialis-Fraktur 57, 298 Condylus-ulnaris-Fraktur 291 conscious sedation 26 contrast-blush 166 Coxa vara 358 CRIES 23 CT-Zystographie 176 Cubitus – hyperextensus 290 – valgus 290 – varus 290, 304 cuff and collar 58, 71 cushing response 120
D Dachziegelverband 63 damage control strategy 167 damage control surgery 187 Darmperforation 172 Darmruptur 183, 508 Darmverletzungen 183 Débridement, Hautverletzungen 504 Decollementverletzung 509 – Fuß 472 Defibrillation 13 Demineralised Bone Matrix 543 Desault-Verband 56, 58, 264 Destot-Zeichen 228 Dickdarmperforation 174 Dickdarmverletzungen 172 Dickenwachstum – appositionelles 28 Dieulafoy-Zeichen 165 Drei-Punkte-Abstützung 82, 109 Druck, intrakranieller 119 Ductus pancreaticus, Verletzung 170 Dünndarmkonduit 163 Dünndarmperforation 174 Dünndarmverletzungen 172 Duodenalruptur 174 Duodenalwandhämatom 172 Duraplastik 135
H.G. Dietz et al. (Hrsg.), Praxis der Kinder-und Jugendtraumatologie, DOI 10.1007/978-3-642-12935-3, © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2011
549 Stichwortverzeichnis
Dyna-Cast 56 Dysplasie, fibröse 539
E Earle-Zeichen 228 Einzelknopfnaht 502 elastisch-stabile intramedulläre Nagelung 7 ESIN Elektroenzephalographie, Schädel-HirnTrauma 130 Elektrotrauma 487 Elektroverbrennung 494 Ellbogenfraktur – Dislokation 278 – Erstversorgung 279 – Klassifikation 278 – Komplikationen 286 – Osteosynthese 283 – Reposition 281, 286 – Therapie 279 Ellenbogenfraktur 18 – suprakondyläre 278 Ellenbogenluxation 291 Eminentia-Fraktur 393 Eminentia-Ausriss 57 EMLA 500 Emphysem, traumatisches 149 Enchondromatose 31 Enterostomie, proximale 175 Epicondylus-ulnaris-Abriss 291 Epiduralhämatom, geburtstraumatisches 525 Epikondylenfraktur 57 Epiphysenlösung, Reposition 88 Epiphyseodese 374 Epiphyseolyse 309, 354 Epiphyseolysis – acute on chronic 356 – capitis femoris 356 Erb-Lähmung 528 ERCP 170 Ermüdungsbruch 537 Erythrozytenkonzentrat 160 Escharotomie 491 ESIN 108, 543 – Durchführung 109 – Femurfraktur 96, 363 – Humerusfraktur 260 – Humerusschaftfraktur 265 – Indikationen 109 – Komplikationen 110, 263, 427 – Metallentfernung 110 – Mittelhandfraktur 338 – Nachbehandlung 109 – pathologische Frakturen 543 – Prinzip 108 – Unterarmfrakturen 321 – Unterschenkelfrakturen 423 – Vorgehen 370 – Vorteile 543 Ewing-Sarkom 540
Exkoriation 503 Extension 57 Extremitätenverletzungen 18, 509
F Fadenmaterial 502 Fahrradspeichenverletzung 434, 464 FAST 159 Fehlwachstum 30 Femur – Apophysenlösung 359 – Blutversorgung 354 Femurfraktur – AO-PAEG-Klassifikation 354 – Diagnostik 355 – diaphysäre 363 – distale 87, 381, 382 – Erstversorgung 354 – Fixateur externe 363 – Klassifikation 354 – Komplikationen 373 – konservative Therapie 357 – LISS-Osteosynthese 370 – metaphysäre 87, 363 – Nachbehandlung 372 – operative Therapie 357 – Overhead-Extension 57 – proximale 45, 57, 85, 354 – Pseudarthrose 358 – Reposition 85, 96 – suprakondyläre 57 – Therapie 355 Femurkopfnekrose 359 – avaskuläre 358 Femurschaftfraktur 57, 85, 361 – Diagnostik 362 – Erstversorgung 361 – ESIN 363 – Klassifikation 361 – konservative Therapie 363 – operative Therapie 363 – proximale 363 – Therapie 362 Fettkörperzeichen 279 Fibulafrakturen – isolierte 417 – metaphysäre 439 Finger-Trap 77 Fingergelenkluxation 342 – interphalangeale 344 – metakarpophalangeale 342 Fingerkuppenverletzungen 510 Fingerquetschtrauma 510 Fingerschiene 334 Fingerverletzungen 510 Fischschwanzdeformität 298 Fixateur externe 112 – Beckenfrakturen 229, 233 – Durchführung 113 – Femurfrakturen 363 – Humerusschaftfraktur 265
– Indikationen 112 – Komplikationen 114, 432 – Nachbehandlung 113 – Pinpflege 432 – unilatleraler 430 – Unterarmfrakturen 321 – Unterschenkelfrakturen 430 Fixateur interne 114 FLACC 25 Flail-arm-Syndrom 528 Flake-Fraktur 359, 438 Flatterthorax 141 floating knee 401, 422, 434 Flüssigkeitstherapie, Verbrennung 19 Fraktur – Battered-Child-Syndrom 518 – diaphysäre 32 – epiphysäre 33, 56 – geburtstraumatische 39, 526 – hängende 298 – Korrekturmechanismen 33 – offene 188 – pathologische 263, 264, 531, 537, 541 – Reposition 7 Reposition – Ruhigstellungszeit 57 Frakturbehandlung – konservative 56 – operative 99 Frakturhämatom 56 Frakturheilung 32 – Oberarm 39 – Oberschenkel 45 – Störungen 35 – Unterarm 42 – Unterschenkel 49 Freihandtechnik 77 Fremdkörperingestion 478 Fugenverschluss 29 Fuß – Decollementverletzung 472 – Kompartmentsyndrom 471 – Verletzungen 510 Fußfraktur, Reposition 93, 97 Fußverletzungen 455 – komplexe 471 Fußwurzelfraktur 57 Fußwurzelverletzungen 57, 463
G Galeazzi-Äquivalent-Läsion 329 Galeazzi-Läsion 329 Gallenblasenverletzung 170 Gallengangsverletzung 169 Gardner-Wells-Klammer 203 Gaumenverletzungen 507 Geburtstrauma 156, 521 – Augenverletzungen 524 – Definition 522 – Fettgewebenekrose 522 – Gesichtsverletzungen 524 – intraabdominales 530
A–G
550
Stichwortverzeichnis
Geburtstrauma – intrakranielle Blutungen 524 – muskuläre Schiefhals 522 – Nervenverletzungen 528 – Risikofaktoren 522 – Rückenmarksverletzung 529 – Schädelverletzungen 523 – Weichteilverletzungen 520 Gehirn, Pathophysiologie 119 Genitalbereich, Verbrennung 491 Genitalverletzungen 512 Genu recurvatum 415 Gesichterskala nach Hicks 23 Gesichtsverletzungen 507 – geburtstraumatische 524 Gilchrist-Verband 56, 58, 146, 254, 264 Gilula-Bögen 341 Gips 56 Gipskeilung 75, 420 Gipslonguette 453 Glasgow-Coma-Score 17, 118 Glasgow-Outcome-Score 136 Glisson-Schlinge 203 Goulian-Dermatom 491 Grisel-Syndrom 204 Grünholz-Fraktur 326, 410, 413, 415 – metaphysäre 81 Guedel-Tubus 12 Gurtmarken 158
H Halo-Ring 203 Halo-Weste 203 Halskragen 203 Halswirbelsäule – Besonderheiten bei Kindern 194 – Freigabe 195 – Stabilisierung 16 – Untersuchung 195 Halswirbelsäulenverletzungen 201 – Behandlung 203 – Klassifizierung 201 – neurologisches Defizit 214 – operative Stabilisierung 203 – Röntgendiagnostik 196 – Ruhigstellung 203 Hämarthros, Kniegelenk 380, 382 Hämathothorax 18 Hämatom 505 – Kindesmisshandlung 517 – subgaleales 523 – subunguales 468, 510 Hämatomyelie, traumatische 529 Hämatopneumothorax 142 Hämatothorax 140, 148 Hand – Beugesehnenverletzungen 347 – Infektionen 348 – Nervenverletzungen 345, 348 – Sehnenverletzungen 345, 346 – Strecksehnenverletzungen 346
– Verletzungen 510 – Wachstum 332 Handfraktur – Endglied 335 – Grundglied 335 – Häufigkeit 334 – Mittelglied 335 – Mittelhand 338 – Reposition 93, 97 Handverletzungen 331 – Arten 333 – Lokalisation 332 Handwurzelfraktur 57 Handwurzelknochen, Verletzungen 340 Hard-Cast 56 Harnableitung 176 – externe 163 Harnblase 7 Blase Harnleiterverletzungen 161 Harnröhre 7 Urethra Harnröhrenrekonstruktion 178 Harnröhrenstriktur 178 Hautemphysem 149 Hautkleber, topische 502 Hautverletzungen, oberflächliche 503 Hawkins-Klassifikation 457 Hawkins-Zeichen 459 Heminephrektomie 163 Hepatektomie, Leberverletzung 171 Herz-Kreislauf-System, Überwachung 143 Herz-Lungen-Wiederbelebung 13 Herzbeuteltamponade 150 Herzdruckmassage 13 Herzmuskelkontusion 150 Herzstillstand 184 Herzverletzungen 150 Hill-Sachs-Delle 246 Hinken, spontanes 535 Hirndrucksonde 132, 135 Hirnläsionen, Diagnostik 130 Hirnödem 120, 136 Hochrasanztrauma 156, 224, 226, 427 Horner-Syndrom 145, 528 Hüftluxation, traumatische 359 Humerusepiphysenlösung, traumatische distale 290 Humerusflexionsfraktur, suprakondyläre 286 Humerusfraktur – Diagnostik 253 – Dislokation 252 – distale 40, 71, 94 – Erstversorgung 252 – ESIN 260 – geburtstraumatische 526 – Häufigkeit 252 – Klassifikation 252 – konservative Therapie 253 – Nachbehandlung 263 – operative Therapie 253, 260 – Plattenosteosynthese 263 – proximale 70, 252 – Reposition 70, 94, 260
– Ruhigstellung 57 – subkapitale 39 – Therapie 253 – Ursachen 252 Humerusschaftfraktur – Diagnostik 264 – Erstversorgung 264 – ESIN 265 – Fixateur externe 265 – Häufigkeit 264 – Klassifikation 264 – konservative Therapie 265 – Nachbehandlung 265 – operative Therapie 265 – Plattenosteosynthese 265 – Reposition 70 – Ruhigstellung 57 – Therapie 264 Hydroxyethylstärke 15 Hydrozephalus – posthämorrhagischer 526 – posttraumatischer 136 Hypertension, renale 164 Hyperventilation – forcierte 134 – Schädel-Hirn-Trauma 133 Hypomochlion 77 Hypotension, posttraumatische 120 Hypothermie, Schädel-Hirn-Trauma 134 Hypovolämie 184 Hypoxie 140
I Iliosakralgelenkssprengun 233 Ilizarov-Apparat 391 Impressionsfraktur 135, 528 Infiltrationsanästhesie 501 Infusionslösungen – hypertone isooonkotische 15 – hypoosmolare 121 – kolloidale 15 – kristalloide 15 Ingestion 477 – ätzende Substanzen 478 – Fremdkörper 478 Inhalationstrauma 12, 488 Interphalangealluxation 344 Intrinsic-plus-Stellung 343 Intubation – endotracheale 11, 144 – präklinische 17 Ischämie, zerebrale 120 Israeli-Technik 73
J Jahss-Manöver 338 Joystick-Technik 73, 85, 94
551 Stichwortverzeichnis
K Kahnbeinfraktur 340 Kalkaneusfraktur 461 Kallusbildung 33 Kapandji-Technik 101 Kehr-Zeichen 165 Kephalhämatom 523, 528 Keratinozyten, autogene 494 Kerlix-Gaze-Bandage 490 Ketanest S 15, 26 Kinderkrankenhaus 4 Kindersterblichkeit 10 Kindesmisshandlung – Formen 516 – Schädel-Hirn-Trauma 121 – Verbrennung 495 – Verbrühung 495 Kindslage, abnorme 522 Klavikulafraktur 144, 242 – geburtstraumatische 526 – Ruhigstellung 57 Klavikulaschaftfraktur 242 Klavikulaverletzungen – laterale 242 – mediale 243 Kleinert-Schiene 348 Klumpke-Lähmung 528 Kniegelenksluxation 406 Kniepunktion 379 Knieverletzungen 378 – Diagnostik 378 – osteochondrale 398 Knochenbruchheilung 56 Knochenfibrom, nicht-ossifizierendes 538 Knochenmarkerkrankungen 540 Knochentumoren – bösartige 540 – Differenzialdiagnose 532 – En-bloc-Resektion 542 – gutartige 540 – Lokalisation 535 Knochenzellen 28 Knochenzyste – aneurysmatische 538 – juvenile 537 Kocher-Langenbeck-Zugang 237 Kollagenfaser, bovine 494 Kollateralbandverletzung – laterale 402 – mediale 402 Kolliquationsnekrose 478 Kommunikation 5 Kompartmentdruck, kritischer 430 Kompartmentsyndrom – Ellbogenfraktur 286 – Fuß 471 – Knieverletzung 407 – Sprunggelenksverletzung 449 – Unterschenkelfraktur 427 – Verbrennung 491 Kontusion 505
Kopfverletzungen 507 Korkenzieher-Phänomen 111 Kraniektomie, dekomprimierende 135 Krankheitsbewältigung 5 Kreislaufmanagement 13 Kreuzbandruptur, vordere 400 Kristalloide 15 KUSS 23, 25
L Labrumabscherung 246 Lagerung, Traumapatient 16 Längenwachstums 29 Laparoskopie, explorative 175 Lappenplastik 493 Larynxmaske 12 Leberresektion, Leberverletzung 167 Leberverletzungen 164 Lendenwirbelsäule – Randleistenverletzungen 216 – Verletzungen des lumbosakralen Übergangs 216 Lendenwirbelsäulenverletzungen – Behandlung 216 – Klassifikation 214 Licox-Sonde 131 Lidocain 25, 500 Lift-off-Test 249 Lippenverletzungen 507 Liquordrainage, lumbale 134 Lisfranc-Luxation 463 LISS-Osteosynthese 370, 373 Lochschraube 542 LODOX 536 Lokalanästhesie 25, 501 – Zwischenfälle 501 Lokalanästhetika 501 Low-contact-Titanplatte 107 Lund-Konzept 131 Lungenemphysem 7 Emphysem Lungenkontusion 140, 142, 146, 184 – Therapie 147 Lungenparenchymverletzungen 146 Lungenverletzungen 7 Thoraxverletzungen Lungenzerreißung 147 Luxation – habituelle 246 – traumatische 246 – willkürliche 246
M Macintosh-Spatel 12 Mädchenfänger 77, 83 Magerl-Klassifikation 214 Makrosomie 522 Malleoloarfraktur 438 Malleolus – lateralis, Verletzungen 439 – medialis, Fraktur 439
G–N
Mallet-Finger 335 Mannitol 132 Marknagelung 112 – Durchführung 112 – Indikationen 112 – Komplikationen 112 – Nachbehandlung 112 Markraumeröffnung 322 Markraumosteosynthese, antegrade 363 Maskenbeatmung 11 Mediastinalemphysem 141, 149 Meniskusverletzungen 403 Metaizeau-Technik 309 Metakarpalien, Fraktur 93, 97, 338 Metakarpophalangealluxation 342 Metatarsalien, Fraktur 93, 97, 464 Midazolam 15, 26 Mikrohämaturie 161 Miller-Spatel 12 Milzruptur 165 – verzögerte 168 – zweizeitige 168 Milzverletzungen 164 Minerva-Orthese 203 MIPO 68, 96 MISS 182 Missbrauch, sexueller 516 Mittelfußfraktur 57 Mittelfußverletzungen 464 Mittelhandfraktur 57, 338 Modified Injury Severity Score 182 Monro-Kellie-Doktrin 119 Monteggia-Äquivalent 311 Monteggia-Fraktur 311 Morbus Ollier 31 Morel-Lavallé-Verletzung 237, 509 Mottenfraßaussehen 534 MRCP 170 Münchhausen-bei-Proxy-Syndrom 516 Mundverletzungen 507
N NaCl-Lösung, hypertone 132 Nagelkranzfraktur 334, 468 Nagelung – antegrade 370 – retrograde 370 Nahttechnik 502 Nahtversorgung 502 Narkoseeinleitung 12 Nasenseptumluxation, geburtstraumatische 524 NCCPC-R 25 Nebennierenverletzungen 175 Nephrektomie, Nierenverletzung 163 Nephrostomie 163 Nervenblockade, regionale 501 Nervenverletzungen, geburtstraumatische 528 Nervus-facialis-Läsion, geburtstraumatische 528
552
Stichwortverzeichnis
Oberarmfraktur 39, 251 Oberarmgips 58 Oberarmschaftfraktur 39 Oberarmschiene 58 Oberchenkelschiene 63 Oberkörperhochlagerung 121 Oberschenkel – Frakturheilung 45 – Wachstumsphysiologie 354 Oberschenkel-Tutor 63 Oberschenkelgips 63 Oberschenkellongette 417 Olekranonfraktur 57, 304 – Dislokation 304 – stabile 72 Open-book-Verletzung 235 OPSI-Syndrom 168 ORIF 233 Orthese 57 Osmotika 121, 132 Ösophagusverletzung, ätzende Substanzen 481 Ossifikation – chondrale 28 – desmale 28 Osteochondrosis dissecans tali 458 Osteogenesis imperfecta 361, 539, 545 Osteosarkom 539 Ottawa Ankle Rules 439 Overhead-Extension 57, 63, 87 Overhead-Pflasterextension 363 overwhelming post-splenectomy infection 7 OPSI-Syndrom Oxygenierungsindex 143 Oxymetrie 131
Pankreasruptur 170, 183 Pankreasverletzungen 169 Pankreatitis, traumatische 183 Park-Harris-Linien 30 Parkland-Formel 489 Patellafraktur 396 Patellaluxation, traumatische 404 Patientenaufklärung 5 PCA-Pumpe 24 Pellegrini-Stieda-Läsion 402 Penrose-Drainage 167 Perfusionsdruck, zerebraler 119 Peritonitis 175 Peroneusläsion 471 Pflasterextension 372 Pflasterzügelverband 470 Phalangenfraktur 57, 93, 468 Philadelphia-Kragen 203 Pilon-tibial-Fraktur 439 Pin-Trakt-In 432 Ping-Pong-Ball-Fraktur 124, 135 Plantaraponeurose 457 Plattenosteosynthese 105 – Indikationen 107 – Komplikationen 107, 263 – minimal-invasive 68, 96 – Metallentfernung 107 – Nachbehandlung 107 Plattfuß, posttraumatischer 457 Platzwunde 502, 504 Pleurapunktion 143 Plexus-brachialis-Läsion, geburtstraumatische 528 Plexus-brachialis-Parese 528 Pneumatozele, traumatische 147 Pneumothorax 140, 142, 148 Polytrauma 17, 19 – Definition 182 – Epidemiologie 182 – Erstmaßnahmen 184 – Frakturmuster 184 – psychiatrische Manifestationen 190 – Reanimation 184 – Schmerztherapie 187 – Untersuchung 185 – Verletzungen 182 Polytraumaspirale 185 PPP 25 Pringle-Manöver 167 Processus-coronoideus-Abriss 307 Pseudarthrose 36 Pseudozystojejunostomie 172 PTS 182
P
Q
Paediatric Trauma Score 182 Pankreas, Pseudozyste 171 Pankreasamylase 169 Pankreashämatom 170 Pankreaskontusion 170 Pankreaslipase 169
Quetschwunde 504
Nervus-laryngeus-Läsion, geburtstraumatische 529 Neuner-Regel 485 Nierenfunktionsszintigraphie 162 Nierenkontusion 161 Nierenverletzungen 161 – Diagnostik 161 – Klassifikation 161 – Komplikationen 164 – parenchymatöse 162 – Therapie 162 Nierenzertrümmerung 161, 163 Notfallmaßnahmen 9 Notfallmedizin, pädiatrische 10
O
R Radiusfraktur – distale 323 – proximale 42, 57 Radiushalsfraktur 309 – Klassifikation 309 – Reposition 311 – Therapie 309 Radiuskopffraktur, Reposition 73 Radiuskopfluxation 316 Radiusschaftfraktur, Achsabweichung 74 Radspeichenverletzung 511 Rasenmäherverletzung 471 Reanimation 13 – kardiorespiratorische 13 – Polytrauma 184 Rekapillarisierungszeit 11 Remodellierungspotenzial 34 Remodellingskapazität 81 Reposition – Definition 68 – geschlossene indirekte 68, 93 – mit operativer Schienung 93 – offene direkte 68 – ohne operative Schienung 68 Retention, Methoden 58 Retinakulumdoppelung 405 Rippenfraktur 144 – Röntgendiagnostik 142 Risswunde 502, 504 Rogers-Hilfslinie 279 Rosner-Konzept 131 Rotationsfehler 34, 374 Rotatorenmanschettenruptur 249 Roux-Zeichen 228 Rückenmarksverletzung, geburtstraumatische 529 Rucksackverband 58, 243
S Saegesser-Zeichen 165 Sarmiento-Gehverband 63 Sarmiento-Gips 420 Sauerstoffgabe, Thoraxverletzungen 143 Sauerstoffmetabolisationsrate, zerebrale 119 Schädel-Hirn-Trauma 16, 117 – Ätiologie 121 – Bildgebung 122 – Diagnostik 121 – EEG 130 – Erstversorgung 121 – Hämatomevakuation 134 – Hypothermie 134 – Inzidenz 120 – Klassifikation 118 – Komplikationen 136 – Labordiagnostik 122 – leichtes 121, 130 – mittelschweres 131
553 Stichwortverzeichnis
– Nachbehandlung 136 – operative Therapie 134 – bei Polytrauma 183 – Prophylaxe 137 – schweres 121, 131 – Therapie 130 – Zielklinik 16 Schädelfraktur – Bildgebung 122 – geburtstraumatische 528 Schädelverletzungen 507 – geburtstraumatische 523 Schaufeltrage 16 Scheibenmeniskus 404 Schiefhals, muskulärer 522 Schienung, Traumapatient 16 Schleudertrauma 187 Schmerz-Score 22 Schmerzerfassung 22 Schmerzmessung 22 Schmerztherapie 21 – Basisanalgetika 23 – perioperative 23 – Polytrauma 187 – postoperative 23 – retardierte Kinder 25 – Verbrennung 484 Schnittverletzungen 502, 504 Schnüffelstellung 11 Schock, hämorrhagischer 14 Schocksyndrom, toxisches 494 Schraubenosteosynthese 104 – Durchführung 105 – Indikationen 105 – Komplikationen 105 – Metallentfernung 105 – Nachbehandlung 105 Schulterdystokie 528 Schulterluxation 245 – arthroskopische Refixation 248 – Diagnostik 247 – Formen 246 – Reposition 247 – Therapie 247 – Verletzungsmechanismus 246 Schulterverletzungen 242 Schussverletzungen 505 Schütteltrauma 519 SCIWORA 199 Seatbelt-Verletzung 158, 214 Segond-Läsion 402 shaken impact syndrome 121 Shunt, portokavaler 171 Silikonwundgaze 490 Sinding-Larsen-Johansson-Läsion 396 Skapulafraktur 145, 244 Skidaumen 342, 344 sleeve fracture 396 Soft-Cast 56 Spalthauttransplantat 492 Spannungspneumothorax 18 Spastik, posttraumatische 188 Spickdrahtosteosynthese 101
– Durchführung 101 – Indikationen 101 – Komplikationen 103 – Metallentfernung 103 – Nachbehandlung 103 Spiralfraktur 264, 265, 410 Spitzfußstellung 92 Splenektomie, Milzverletzung 167 Spongiosaauffüllung 542 Sprunggelenk, Bandverletzungen 451 Sprunggelenkdistorsion 451 Sprunggelenkfraktur 57, 97 Sprunggelenksfraktur 438 – epiphysäre 443 – Osteosynthese 447 Sprunggelenksverletzung 19, 437 – Achsenfehlstellung 451 – Diagnostik 440 – Epiphysenlösung 443 – Erstversorgung 440 – Klinik 439 – Kompartmentsyndrom 449 – Komplikationen 449 – konservative Therapie 441 – operative Therapie 443 – Therapie 441 – Ursachen 439 Stack-Schiene 335, 345 Stauchungsfraktur 434 – Stabilisierung 81 Steinmann-Nagel 311 Sternoklavikulargelenk – Sprengung 242 – Verletzungen 243 Sternumfraktur 145 Steroidinjektion 543 Stichverletzungen 505 Stressfraktur, Unterschenkel 434 Stützverband 56 Subarachnoidalblutung, geburtstraumatische 525 Subduralhämatom, geburtstraumatisches 524 Symphysensprengung, Therapie 233 Syndesmosenruptur 443
– Häufigkeit 140 – Ursachen 140 Thyroidotomie 13 Tibia – Anatomie 410 – Stressfraktur 434 Tibiafraktur 49 – diaphysäre 415 – dislozierte 413, 417 – distale 92, 415, 434 – epiphysäre 92 – ESIN 423 – Häufigkeit 410 – Klinik 411 – konservative Therapie 413, 417 – metaphysäre 89, 92, 413, 434 – offene 427 – proximale 57, 88, 89, 381, 386, 413 – Reposition 89 Tibiakopf-Fraktur 88 Tibiaschaftfraktur 57 – Reposition 89 Tillaux-Fraktur 92, 438, 443 Toddlers-Fraktur 461 toxisches Schocksyndrom 494 Trachearuptur 142 Tracheobronchialbaum, Verletzungen 149 Trauma – Lagerung 16 – Schienung 16 – Transport 16 Trauma-Scan 159 Tri-plane-Fraktur 92, 438 Trümmerfraktur 265 Tube-to-Tube-Fixateur 96 Tube-to-Tube-System 432 Tuber calcanei, Fissur 461 Tuberositas tibiae, Verletzungen 381 Tubusdurchmesser, altersgerechter 144 Tubuslänge, altersgerechte 144 Tumoren – bösartige 534 – gutartige 534 Tutor 63 Two-plane-Fraktur 92, 438, 443
T
U
T-Fraktur 304 Talusfraktur 457 – Diagnostik 458 – Therapie 458 Talushalsfraktur 457, 458 Taluskörperfraktur 457, 459 Tape-Verband 56 Terry-Thomas-Zeichen 341 Tetanus 499 Thoraxdrainage 143 Thoraxtrauma 187 Thoraxverletzungen 18, 139 – Diagnostik 141 – Erstversorgung 143
Übergangsfraktur 93 Ulnafraktur, proximale 42, 72 Unfallbewältigung 5 Unterarmfraktur 319, 321 – Achsfehlstellungen 320 – Diagnostik 321, 326 – diaphysäre 320 – dislozierte 72, 327 – distale 57, 80, 82, 96, 325 – Drahtosteosynthese 327 – Einteilung 326 – Erstversorgung 321, 326 – ESIN 321 – Fixateur externe 321
N–U
554
Stichwortverzeichnis
Unterarmfraktur – Frakturheilung 42 – instabile 321, 326 – intraartikuläre 325 – Komplikationen 325 – konservative Therapie 321, 324, 327, 328 – metaphysure 82, 326 – Nachbehandlung 324, 328 – operative Therapie 321, 325, 327, 328 – Plattenosteosynthese 323, 327 – proximale 72, 95 – Reposition 72, 95 – stabile 321, 326 – Therapie 321, 326 – undislozierte 72 – Wachstumsstörungen 326 Unterarmgips 58 Unterarmschaftfraktur 42, 57, 96, 320 – Häufigkeit 320 – Plattenosteosynthese 321 – Reposition 74 Unterarmschiene 58 Unterschenkelfraktur – Diagnostik 411 – diaphysäre 417 – dislozierte 417, 430 – distale 97 – Erstversorgung 411 – ESIN 423 – Fixateur externe 430 – Frakturheilung 49 – Häufigkeit 410 – Klinik 411 – Kompartmentsyndrom 427 – konservative Therapie 417 – metaphysäre 92 – offene 427 – operative Therapie 422 – Reposition 88, 96 – Ursachen 410 Unterschenkelgips 63, 443 Unterschenkelschaft, Fehlstellungen 411 Unterschenkelschaftfraktur – dislozierte 434 – Klassifikation 410 Unterschenkelschiene 63 Ureterabriss 161 Ureterostomie 163 Urethraverletzungen 177 Urinom 162
V Vakuumgeburt 522 Vakuummatratze 16 Vakuumschiene 16 Valgisierung 415 Valgusabweichung 34, 413 Valgusdeformität 373, 413 Valgusfraktur, metaphysäre 89 Varusdeformität 373 Velpeau-Verband 56, 58
Venenverweilkanüle 14 Ventrikeldrainage 132 Verband 56 Verbrennung – Analgesie 484 – Analgosedierung 19 – Débridement 488, 490 – Epidemiologie 484 – Ernährung 489 – Escharotomie 491 – Flüssigkeitstherapie 19 – Fuß 491 – Gesicht 490 – Hand 491 – Hautveränderungen 487 – Infusionstherapie 484, 488 – Kindesmisshandlung 518 – Kompartmentsyndrom 491 – Komplikationen 494 – Nachbehandlung 495 – Nekroseabtragung 491 – Notfalltherapie 484 – operative Therapie 490 – Risikofaktoren 484 – Schädigungstiefe 485 – Schocktherapie 488 – Wunddeckung 491 – Wundverband 490 Verbrennungskrankheit 488 Verbrühung 19 – Epidemiologie 484 – Kindesmisshandlung 518 – Therapie 490 – Wundverband 490 Vernachlässigung 516 Verriegelungsmarknagelung, retrograde 265 Volkmann-Ischämie 288 Vollhauttransplantat 493 Volumentherapie 14 Vorfußverletzungen 468
W Wachstum, normales 28 Wachstumsfaktoren 28 – Frakturheilung 33 Wachstumsgeschwindigkeit 29 Wachstumslinien 30 Wachstumsstimulation, angeborene 30 Wachstumsstörungen 30 Weichteilinterponat 35 Weichteilverletzungen 497 – Antibiose 503 – Einteilung 498 – Erstversorgung 498 – geburtstraumatische 522 – geschlossene 498 – Häufigkeit 498 – Klinik 498 – Komplikationen 513 – konservative Therapie 500
– Nachbehandlung 512 – offene 498, 513 – operative Therapie 500 – Schmerztherapie 500 – Therapie 500 – Untersuchung 499 – Ursachen 498 – Wundverband 503 Wiberg-Klassifikation 404 Widerstand, zerebraler 119 Wirbelfraktur, Therapie 114 Wirbelkörperersatz 114 Wirbelkörperverletzung 142 Wirbelsäulenstabilisierung, operative 114 Wirbelsäulenverletzungen 188, 193 – neurologische Beurteilung 194 – Spätfolgen 216 Wulstfraktur 434 Wundheilung 498 Wundverband 503 Wundversorgung, chirurgische 502
Y Y-Fraktur, bikondyläre 304 Y-Fuge 224
Z Zangengeburt 522 Zehenfrakturen 468 Zugang – intraossärer 14 – intravenöser 13 Zuggurtung 103 – Durchführung 104 – Indikationen 104 – Komplikationen 104 – Metallentfernung 104 – Nachbehandlung 104 Zungenverletzungen 507 Zwerchfellparese, geburtstraumatische 529 Zwerchfellruptur 142 Zwerchfellverletzungen 149 Zystographie, retrograde 176 Zystoskopie, suprapubische 177