Claudia Keller
Kinder, Küchen und Karriere Neue Briefe einer verhinderten Emanze
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Claudia Keller
Kinder, Küchen und Karriere Neue Briefe einer verhinderten Emanze
scanned 01/2008 corrected 02/2008 Im Gegensatz zu ihrer Freundin Paula, die Mann und Sohn verlassen hat und ihr Leben nur noch sich selbst und ihrem beruflichen Aufstieg widmet, hat Lisbeth den Sprung in die Emanzipation endgültig verpaßt. In ihren »neuen Briefen einer verhinderten Emanze« berichtet sie Paula in bekannt selbstironischer Art von ihren tapferen, jedoch vergeblichen Versuchen, die drei »Ks«, Kinder, Küche und Karriere, gegen den Willen der Familie unter einen Hut zu bringen. ISBN: 3-596-10137-9
Verlag: Fischer Taschenbuch
Erscheinungsjahr: 1990
Umschlaggestaltung: Susanne Berner, Heidelberg
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Buch Im Gegensatz zu ihrer Freundin Paula, die Mann und Sohn verlassen hat, sich nur noch um sich selbst bemüht und mit Selbstverwirklichung und Beruf wild beschäftigt ist, träumt Lisbeth davon, die drei »Ks«, Kinder, Küche und Karriere, unter einen Hut zu bringen – und scheitert! Zwar ist Tochter Lil inzwischen ausgezogen und Sohn Benno II mit Schule und Freizeit meist aushäusig beschäftigt, aber die »vakant« gewordenen Stellen sind rasch wieder besetzt. Lisbeths schicke Mutter Mary und Schwiegermutter Änne suchen jetzt, »wo sie älter werden«, die Nähe der Familie, sprich, sie wünschen von Lisbeth umsorgt und unterhalten zu werden und zeigen für deren Selbstentfaltungswünsche ebensowenig Verständnis wie Benno I, ihr Ehemann. Ange feuert von Paula versucht Lisbeth dennoch in Paulas Laden auszuhelfen, sich zu Hause eine Schreibecke einzurichten oder doch wenigstens einem Halbtagsjob nachzugehen, aber der Widerstand der Familie ist stärker als ihre Durchsetzungskraft. Vielleicht, tröstet sie sich, läßt sich das Versäumte später ja nachholen, später, wenn … Die scharfzüngige Paula, der sie in bekannt selbstironischer Art von ihren »Ausbruchsversuchen« berichtet, prophezeit indes, in welcher Eigenschaft Lisbeth letztendlich doch zu Ruhm gelangen wird: Man wird sie ins Guinness Buch der Rekorde eintragen, als Weltmeisterin im Warten!
Autorin Claudia Keller, Jahrgang 1944, schrieb neben Kurzgeschichten die Romane »Das Ehespiel«, »Streitorchester« und »Du wirst lachen, mir geht’s gut«. Im Fischer Taschenbuch Verlag erschien ihr Buch »Windeln, Wut und wilde Träume. Briefe einer verhinderten Emanze« (Band 4721). Claudia Keller lebt in der Nähe von Frankfurt.
Claudia Keller
Kinder, Küche und Karriere Neue Briefe einer verhinderten Emanze
Fischer Taschenbuch Verlag
Die Frau in der Gesellschaft
Lektorat: Ingeborg Mues
71.—120. Tausend: Oktober 1990
Originalausgabe
Veröffentlicht im Fischer Taschenbuch Verlag GmbH,
Frankfurt am Main, Juli 1990
© 1990 Fischer Taschenbuch Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Umschlaggestaltung: Susanne Berner, Heidelberg
Gesamtherstellung: Clausen & Bosse, Leck
Printed in Germany
ISBN 3-596-10137-9
15. Februar Liebe Paula, vielen Dank für Deine Segenswünsche zum dreiundzwanzig sten Hochzeitstag. Ich bekam von dem Kleinen ein neues Deckchen für den Brotkorb (nach einer Änne-Geschenk-Idee), von Lil die Taschenbuchausgabe des Werks »Wenn Frauen zu sehr lieben« und von Benno fünf Baccararosen, deren beeind ruckende Stiellänge die seit einigen Jahren rückläufige Stückzahl wieder ausglich. Ich nahm die Dinger in Empfang, sagte rasch »Wie lieb von dir« und legte sie dann in der Badewanne ab, ohne erst groß nach einer Vase zu suchen (in welcher sie erfahrungsgemäß bereits die Köpfe hängen lassen, noch ehe sich die Dankesröte in meinem Gesicht ganz verflüchtigen konnte). Dann dachte ich, daß ich unter dem Problem, »zu sehr zu lieben«, eigentlich nicht allzusehr leide … Nachmittags kam Änne, raschelte mit Papier, tat furchtbar geheimnisvoll und überreichte mir sodann die längliche Kuchenplatte zu meinem Geschirr »blaue Blume«, die ich mir, wie sie mit Eifer versicherte, »doch schon so lange wünsche«! Die Kaffeetafel als solche wurde dann jedoch nicht ganz so festlich, wie es dem großen Anlaß angemessen gewesen wäre, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil Änne und ich als »Jubelpaar« allein daran saßen. Lil war leider mit Klausuren beschäftigt und daher unab kömmlich, und Benno II hatte einen wichtigen Einsatz bei den HF-Sowieso-Junioren, bei denen er linksaußen kickt. So blieb ich dann mit Änne und dem Zitronenkuchen und der neuen Zitronenkuchenplatte zurück, da sich Benno I nach einer hastig im Stehen getrunkenen Tasse Kaffee verabschiedete und sich seinerseits zum Bolzplatz begab, um seinem Filius beizustehen. »Wir Mütter« blickten ihm nach und unterhielten uns über den Segen vollsynthetischer Trainingsanzüge und fanden uns in dem ebenso unerwarteten wie glücklichen Umstand, daß das 7
ungewöhnlich milde Wetter es unseren Jungs ermöglichte, »sich einmal so richtig auszutoben!«. Als ich später die Rosen aus der Wanne fischte, weil »unsere Jungs« duschen wollten, wurde mir plötzlich erschreckend klar, daß Änne, die mich jahrzehntelang wie einen pubertieren den Teenie behandelt hatte, übergangslos damit begonnen hat, das »Alter« neu zu verteilen. Ich bin unmerklich auf ihr Niveau gerutscht, derweil sich Benno I in Kürze auf die jugendliche Ebene von Benno II gejoggt haben wird. Das Wörtchen »wir« beinhaltete jedenfalls an meinem dreiundzwanzigsten Hoch zeitstag keinesfalls Benno I und mich, sondern Benno I und Benno II – und Änne und mich. Liebste Paula, Du siehst an alledem, wie bitter nötig ich den Besuch in Deinem entzückend chaotischen Frauenbuchladen hatte und wie wohltuend sich die anschließenden Stunden in Deiner ebenso entzückenden Singlebude auf meine Nerven auswirkten. Wie gut, daß Du eine ganze Intercitystunde von mir entfernt wohnst, Dein Laden könnte die Suggestivkraft einer gefährlichen Droge auf mich ausüben, und wie Du weißt, sollte man Drogen nicht gerade im Badezimmerschränkchen aufbewahren. Habe ich Dir eigentlich erzählt, daß Benno auf meinen lässig hingeworfenen Hinweis, daß ich vorhätte, Dich über Nacht(!) zu besuchen, um endlich einmal Deinen Laden in Augenschein zu nehmen und einer Lesung von nicht weniger als drei Emanzen beizuwohnen (bei Ankündigungen dieser Art muß ihn dasselbe hilflose Grauen überfallen, welches Frauen schüttelt, wenn sie hören, daß »Karli« schon wieder nach Thailand aufbricht), merklich die Fassung verlor? Er wurde blaß, blickte auf der Stelle vernachlässigt drein und schaltete dann mit hängenden Schultern die Nachrichten ein, um sich mit weiteren Katastrophen zu versorgen. Nach exakt dreieinhalb Stunden hatte er meine Ankündigung dann insofern verdaut, daß er imstande war, nach Details zu forschen. »Und was geschieht mit dem Jungen?« fragte er. 8
»Benno«, sagte ich milde, »der Junge ist seit mehr als acht Jahren gewohnt, allein aufs Klo zu gehen. Erst in der letzten Woche hat er die ›Kickers‹ drei zu null geschlagen, und körperlichen Kontakt wünscht er weit häufiger mit seinem Computer, Jack the Ripper, als mit seiner Mutter. Geistig ist er mir dermaßen überlegen, daß ich mich ihm in meiner primiti ven Umgangssprache kaum noch mitteilen kann. Er wird also durchaus imstande sein, unter Assistenz seines technisch hochbegabten Vaters ein bereits vorgekochtes Gericht in die Mikrowelle zu schieben und sich eine Dose Cola zu öffnen, auch wenn ich nicht daneben stehe, um ihm den abgerissenen Verschlußnippel aus der Hand zu nehmen. Aber«, fügte ich hinterhältig hinzu, »wenn du natürlich glaubst, es sei unerläß lich, daß während des Trinkvorgangs ein weibliches Wesen an seiner Seite ist, das ›trink nicht so schnell‹ sagt, dann würde ich vorschlagen, daß wir Änne herbitten. Sie scheint für Dienste dieser Art eine natürliche Begabung zu haben!« »Laß Mutter aus dem Spiel«, blaffte Benno mich an, »schließlich ist sie nicht dein Dienstmädchen!« Ich ließ Änne aus dem Spiel, hatte aber doch ein schlechtes Gewissen, so daß ich vor Reiseantritt nicht, wie geplant, zum Friseur ging und anstelle des todschicken Trenchs, den ich bei »Janine« im Fenster gesehen hatte, einen Tennispull für Benno I und neue Sportschuhe für Benno II erstand und dann für meine beiden Männer vorkochte, als führe ich nicht für drei Tage weg, sondern für dreißig Jahre. Mein Unterbewußtsein, dieses tückische Luder, hatte mir deutlich zu verstehen gegeben, daß es einfach unmoralisch sei, die Familie im Stich zu lassen und dieses »Im-Stich-Lassen« auch noch zu genießen … Nun, angetan mit einem nagelneuen Mantel und mit »Fri seurhaaren« hätte ich mich ohnehin nur bis auf die Knochen blamiert und Anlaß zu unliebsamen Rückschlüssen gegeben. (Daran erkennt man uns Herdheimchen ja immer zuerst, daß 9
wir glauben, uns für eine Fahrt zum Nachbarort von Kopf bis Fuß neu ausstaffieren zu müssen.) Und leicht prekär wurde die Situation ohnehin, als Lila Luder, diese Autorin mit den Henna-Haaren (ihr Beitrag hieß »Weggedörn« oder so ähn lich), der ich mich als »Paulas Freundin« zu erkennen gegeben hatte, plötzlich und mit entlarvendem Röntgenblick fragte, was ich denn außer Paulas Freundin sonst noch sei. Mir wurde peinlich bewußt, daß ich in diesem Kreis außer »Paulas Freundin« nichts, absolut nichts bin, das ich unbefangen, und ohne Dich auf nicht wiedergutzumachende Art und Weise zu kompromittieren, hätte zugeben können. Oder hätte ich Lila Luder, die ihr Kind ganz allein und ohne männliche Hilfe großgezogen, das Begabtenabitur gemacht und zwei Bücher verfaßt hat, sagen sollen, daß ich außer »Paulas Freundin« bloß noch Bennos Frau bin??? Es gibt Dinge, die kann man einfach nicht zugeben, ohne ins Stottern zu geraten. Sie starrte mich schweigend an, und in ihren schwarzum schatteten Augen glomm ein Verdacht. »Wo kommst du denn überhaupt her?« fragte sie, und ich fühlte mich wie eine Langzeitinhaftierte auf Wochenendurlaub, die unvermutet in eine illustre Gesellschaft gerät und von der Gastgeberin nach ihrer Visitenkarte gefragt wird. Mir wurde klar, daß ich die Situation irgendwie retten mußte (die anderen Frauen wurden schon aufmerksam), und schließlich murmelte ich, daß ich selbstverständlich auch schriebe – Lyrik –, und fügte vorsichtshalber gleich hinzu, daß ich »mal hier, mal da« wohne. Sie blickte mich anerkennend an und sagte, daß sie selbst zwar einen festen Wohnsitz habe, den festen Wohnsitz jedoch als unerträglich einengend empfinde. »Für mich wär’s gar nicht vorstellbar«, sagte ich und rettete mich an die Kaffeebar, um weiteren Fragen zu entgehen. Undenkbar, daß Lila Luder aus ihrem verrosteten Landrover 10
steigt, derweil ich gerade dabei bin, unter Ännes Assistenz das Nummernschild an unserer Haustür zu polieren. Mich hinter Bennos Namenszug versteckend (wer will mir beweisen, daß ich auch hier wohne?), mit vor Scham geröteten Ohren, Deine Lisbeth PS: Dachte gerade daran, daß Benno im Grunde gar nicht so unrecht hat, wenn er es (Zitat) »einfach nicht gern sieht, daß ich Dich besuche und mich Deinem schädlichen Einfluß aussetze«. Drei Tage in Deiner Gesellschaft, und es will mir einfach nicht mehr gelingen, mich ausschließlich an der Citrus-Frische seiner Hemden und der neuartigen Kaffeeröstung zu ergötzen, mit deren Hilfe es mir endlich gelingen wird, Ännes schwie germütterliche Anerkennung zu finden. Beunruhigenderweise liegt mir plötzlich an Lila Luders Anerkennung so viel mehr …
13. März Liebe Paula, danke für Deine Grüße von Lila Luder mit ihrem wohltuenden Interesse an meiner unbedeutenden Person und dem nicht minder wohltuenden Interesse »an allem, was ich so geschrie ben habe!«. Ich werde bemüht sein, die Nachfrage so bald wie möglich zu befriedigen, nach dem Frühjahrsputz oder später … Auf jeden Fall bereitete es mir ein wohliges Gefühl in der Magengegend, daß Ihr von mir gesprochen habt. Ich meinerseits hatte ebenfalls Gelegenheit, von Dir zu spre chen, denn ich habe Benno I nach langer Zeit wieder einmal zu einer Veranstaltung der Tennisfreaks begleitet, eine kleine Artigkeit, die zu meinen ehelichen Pflichten gehört, die Stim mung hebt und vielleicht – ganz vielleicht – demnächst einen weiteren Ausflipper Richtung »Paulas Laden« ermöglicht. 11
Und nun rate, wer das Clubhaus betrat, als der Vereinsvorsit zende Männi Mehlmann gerade anhob, Punkt drei der Tagesordnung (Erneuerung des Sandkastensandes) zur Diskus sion zu stellen! Es öffnete sich die Tür, und er erschienen im Thekenlicht: Dein Exmann Werner mit seiner zweiten, Rauschgoldengel Sabine, und das neu fabrizierte Baby. Sie komponierten sich zu einem altmeisterlichen Bild an den Tresen: »Sabine mit dem Kind« und Werner, den Arm schützend um die Zerbrechlich keit seiner kleinen Familie gelegt. Sabinchen ganz weich und glücklich, die »neue Weiblichkeit« perfekt demonstrierend, und Werner (den ihm verbliebenen Haarschopf fesch in die Höhe gefönt) an ihrer Seite, entspannt lächelnd wie nach dem Genuß einer Havanna nach einem sehr schweren Essen. »Hallo Werner«, sagte ich und rechnete blitzschnell aus, daß er mindestens fünfzig ist, derweil ich seinem Sprößling Tobi allerhöchstens fünfzig Tage gebe. Aber der Genuß, an der Abiturfeier seiner Enkel teilnehmen zu können, ist wahrschein lich ein Dreck, gemessen an dem Genuß, der ersten den brüllenden Beweis dafür liefern zu können, daß mit der zweiten alles bestens klappt, ja, daß es für einen Mann überhaupt nie zu spät ist, Vater zu werden, eine der wirklich weisen Einrichtun gen der Natur. Ich gratulierte Werner und Sabine zu Glück und Nachwuchs und ließ so nebenbei fallen, daß ich Dich in Deinem Frauenla den besucht und einer Veranstaltung beigewohnt hätte. »Ich wußte, daß sie vorhatte, einen Laden aufzumachen«, sagte Werner und schenkte mir ein schmuddeliges Grinsen, »was ich natürlich nicht wußte, war, daß es so ein Shop ist.« »Oh, kein Sexshop«, sagte ich, »ein Frauenbuchladen. Frau enliteratur, Lesungen von Frauen für Frauen, Vernissagen…« »Ach, so ein Alternativdingsbums«, erwiderte Werner und sah aus, als ob er den Seetang und die Krötenhaut in Aspik, die Du in Deinem Alternativdingsbums anbietest, bereits auf der 12
Zunge spürte. Sabine erzählte dann von dem neuen Häuschen, das Werner ihr im Grünen bauen will. Ein Häuschen mit Gärtchen und einer roten Wippe auf der Wiese in dem Gärtchen und Sabine und Werner dann des Abends auf der Bank vor dem Häuschen, das Abendrot betrachtend. Paula, ich hatte verdammt den Verdacht, daß es Frauen unter den Anwesenden gab, die ihr Häuschen und Gärtchen und sogar die Wippe neideten!!! »Aber all das«, konnte ich mir nicht verkneifen, zu Werner gewandt zu sagen, »hast du doch schon mit Paula gehabt, einschließlich Söhnchen und Marienkäferchen auf Stachel beerblüten – ich erinnere mich, daß dir das damals zu spießig war und du, anstatt mit dem Söhnchen durch Wald und Feld zu streifen, deine Freizeit lieber in der Stadt verbrachtest, vor zugsweise mit Singles, deren Freiheit nicht durch Kleinkinder und defekte Regenrinnen eingeschränkt war.« Sabine lachte glockenhell und ließ durchblicken, daß Werner damals für soviel Verantwortung einfach noch zu jung gewesen sei. Und eine wirklich intelligente Frau hätte das auch erkannt und sich allein an ihrem kleinen Jungen nebst Marienkäfer chenspiel erfreut und ihrem großen Jungen die Freiheit gelassen. Denn merke, Männer sind immer »zu jung« oder »jung genug«, und Frauen sind immer »alt genug« oder »zu alt«. Du bist auf jeden Fall für einen Frauen-Lit-Laden ent schieden zu alt, und Werner ließ durchblicken, er hoffe, daß Du Dich mit Deinem diesbezüglichen Nachholbedarf nicht einfach nur lächerlich machst. Nun, wenn auch Sabine die Meinung vertrat, Du hättest Werner ganz einfach nicht richtig zu nehmen gewußt, so muß der Neid ihr lassen, daß sie ihm in kürzester Zeit doch eine Menge beigebracht hat. Er nahm ihr das greinende Bündel, welches hinten herum sichtlich angefeuchtet war, zärtlich ab und wanderte, Beruhigungsliedchen summend, im Clubhaus auf und ab, und ich dachte daran, daß er seinen Ältesten vor scanned by AnyBody 2008
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zwanzig Jahren nicht mal im Kinderwagen durch den Stadtpark schieben wollte. Sabine zog sich derweil die Lippen nach und erzählte, daß Werner ihr zum Geburtstag ein Opernabo geschenkt habe, damit sie auch mal rauskomme, was sie unheimlich süß von ihm findet, daß sie jedoch, kaum, daß der letzte Vorhang gefallen sei, aus dem Opernhaus hinaus und ins nächste Taxi strebe, nur um so schnell wie möglich nach Hause zu kommen, wo ihre beiden Männer dann so süß vor dem laufenden Fernseher eingepennt seien. Die Sache mit Sabine ging mir nach und verfolgte mich auf meiner täglichen Runde durch mein Häuschen und mein Gärtchen, bis ich endlich auf das Geheimnis von so viel Glück stieß: Sabine hat zugegriffen, nachdem Werner eine Durst strecke, gepflastert mit Spiegeleiern und »Ich bügle immer, wenn ich eins brauche«-Hemden hinter sich gebracht hat, und dann war die Möglichkeit, sich durch die Produktion eines einzigen Babys schlagartig um zwanzig Jahre zu verjüngen, natürlich beim erstenmal auch nicht gegeben. Zudem ist Werner jetzt gewissermaßen zum Glück verpflichtet, schon damit er Dir allein die Schuld am Scheitern Eurer Ehe in die Schuhe schieben kann. Sabine fand’s übrigens köstlich, daß Werner bei Nachrechnen des Alters Eures gemeinsamen Sohnes merklich ins Stottern geriet. »Er kann es sich einfach nicht merken!« sagte sie, will aber dafür sorgen, daß er in ihrem Häuschen stets eine Heimat haben wird. (Denn Dein Frauendingsbums kann ihm ja schwerlich das rechte Zuhause sein.) Außerdem, so betonte sie, verstünde sie sich mit »Werners Sohn« ganz ausgezeichnet. Kürzlich hat sie sogar jemand für Freund und Freundin gehalten, so gut verstehen sie sich! Die mehr als säuerliche Miene, die Werner bei diesen Worten zog, soll Dich über den ärgerlichen Aspekt ihrer Worte hinwegtrösten. Glaub mir, es traf ihn mehr, als es Dich jemals treffen könnte. Sie wird in 14
Zukunft immer häufiger zu Tagträumen Zuflucht nehmen müssen, wenn erst die Zehnjährigen an der Tür zum Häuschen läuten und sie nach »Tobis Mami« fragen und Tobi seinerseits verlegen kundtut, es sei nicht nötig, daß Werner ihn vor der Schule erwarte, und zum nächsten Klassenfest seien die Eltern nicht eingeladen. »Mein Gott, laß die armen Leute doch in Frieden leben«, blaffte Benno mich an, als ich ihn an der Freude, die mir meine diesbezüglichen Vorstellungen bereiteten, in ehelicher Verbun denheit teilhaben lassen wollte. Herrje, das tu’ ich ja!!! Mit eingezogenen Krallen und zu Schlitzen verengten Augen, Deine Lisbeth PS: Das Trostloseste an diesem Marathoneheleben ist, daß die Männer mit der Zeit jede, aber auch jede halbwegs nette Unterhaltung bereits nach dem ersten Satz brutal abblocken. Wie nahe hätten wir uns beim gemeinsamen Begiften von Werners und Sabines Glück kommen können. Wie nahe …
6. April Liebe Paula, da Du der einzige Mensch bist, der mich fördert (und an mich glaubt), sollst Du es auch als erste erfahren: Denk Dir, ich habe das erste Kapitel meines Romans verfaßt, den ich schon »so lange mit mir herumtrage« und den ich im Geiste schon hundertmal geschrieben habe. Der Aufenthalt im Kreise so schöpferischer Frauen wie Lila Luder und Co hat sich unge heuer befruchtend auf meine Geisteskräfte ausgewirkt. Ich habe zwanzig Seiten in einem Rutsch runtergetippt, auf Bennos alter Schreibmaschine, die er glücklicherweise nicht mehr braucht, seitdem wir Jack the Ripper haben. Er (nein, nicht Jack the Ripper, ich spreche jetzt von Benno I) ist für acht Tage weg (auf einer Tagung, glaube ich), und Benno II 15
befindet sich auf Klassenfahrt – und ich habe mich gemütlich eingeigelt und spiele ein wundervolles Spiel: Es heißt »allein stehend«!!! Morgens um neun stehe ich gewöhnlich auf, um im Nacht hemd zu frühstücken, und dazu lese ich nicht wie sonst den Lokalteil der »Morgenpost«, den mir Benno sonst blicklos über den Tisch reicht, derweil er selbst sich im Leitartikel festbeißt, sondern »Ein Zimmer für sich allein« von Virginia Woolf. In Ermanglung eines solchen Zimmers habe ich das Zweitbeste getan, nämlich einfach unseren Eßtisch vor das Fenster gerückt und zum Schreibtisch ernannt, und das ist fast genausogut. Meist ziehe ich mir einfach eine Strickjacke über mein Nacht hemd, setze mich an den Tisch, gucke in die gerade aufknospenden Bäume und versuche Stück für Stück das Bild zusammenzusetzen, dessen Splitter mir schon so lange im Kopf stecken. Mittags gehe ich dann gern in das kleine Chinalokal, das vor gut einem Jahr am Einkaufscenter eröffnet worden ist (und in dem ich vorher noch kein einziges Mal gewesen bin weil Einkaufscenter plus Chinalokal leider nicht in Bennos Interessenbereich liegen), esse ein Schweinefleisch süß-sauer und vertiefe mich, grünen chinesischen Tee trinkend, in das Tagebuch von Jayne Mansfield. (Empfehlung von Lila Luder!) Anschließend sitze ich dann wieder an meinem Schreibtisch, dem seine eigentliche Familienfunktion schon jetzt nicht mehr anzumerken ist, und korrigiere das am Morgen Geschriebene. Gegen fünf beende ich mein Tagewerk in einem Zustand, den man nur als »glücklich-erschöpft« bezeichnen kann, ziehe mir einen warmen Pulli von Lil über den Kopf, wandere, die Hände müßig auf dem Rücken verschränkt, den Heckenweg hinunter und fühle mich von den entgegenkommenden Nutztierchen, die in blindem Eifer ihre Plastiktüten nach Hause schleppen, sehr weit entfernt. Vor einigen Tagen habe ich endlich auch die Leihbücherei für mich entdeckt. Sie befindet sich, solange ich hier wohne, 16
im Haus der Erwachsenenbildung, aber das weiß ich eigentlich nur, weil der Drogeriemarkt unmittelbar daneben liegt. Ich habe mir gleich einen Stoß Bücher ausgeliehen und mir abends Notizen gemacht, die ich am nächsten Morgen gleich prima verwerten konnte. Gestern ging ich auf meinem Spaziergang wieder bei der Bücherei vorbei und gab eine Liste mit Titeln ab, die ich mir per Fernleihe kommen lassen werde. O Paula, welch göttliches Leben muß Lila Luder führen!!! Ich habe mir fest vorgenommen, wenn der Kleine (ich spre che jetzt von Benno II) ein bißchen größer ist, mir zunächst einmal einen Job zu suchen und mir ein bißchen was zu verdienen, und zwar außerhalb dieses verfluchten Hauses, in dem jeder gottverdammte Gegenstand mich anglotzt und den ewig gleichen Refrain »Spül mich, wisch mich, putze und polier mich!« anstimmt. Ich habe vor, mir ein Zimmerchen zu mieten, in dem ich schreiben und nur »ich selbst« und niemand sonst sein kann. Ich will weder Mutter noch Tochter, noch Schwiegertochter, noch irgend jemandes Ehefrau sein, sondern ausschließlich »Lisbeth in ihrem Wahn«! Warum, frage ich Dich, sollte mir das nicht gelingen, in einem Zeitalter, in dem man den Touris mus zum Mond plant? Und die passende »Aura« habe ich doch schon … Auf Lila Luder beispielsweise scheine ich durchaus überzeugend gewirkt zu haben. Liebe Paula, dies ist kein gewöhnlicher Brief, streng genom men müßte ich ihn durch eine Brieftaube schicken, denn er tut Kunde von Lisbeths Sturm-und-Drang-Zeit. Du hast Dir so oft geduldig all meine Jammertiraden angehört, nun sollst Du auch als erste von dem Aufschwung erfahren, »den meine Schaukel gerade nimmt«! Es ist jetzt neunzehn Uhr, Zeit für die Nachrichten. Ich habe seit Bennos Abreise keine mehr gehört, weil ich die Nachrich ten aus meinem Inneren um so viel interessanter fand. Laß mich zum Abschluß noch einen wundervollen Satz aus »Ein 17
Zimmer für sich allein« zitieren, einen Satz, den ich mir rot angestrichen habe und der von so viel gnadenloser Wahrheit ist: … denn alle Dinners sind gekocht, die Teller und Tassen gespült, die Kinder in die Schule geschickt und in die Welt entlassen, von alledem bleibt nichts. Alles ist vergangen, keine Biographie oder Geschichte weiß darüber ein Wort zu sagen, und die Romane lügen unvermeidlicherweise. Als ich das las, dachte ich, daß ich in den letzten Tagen zum erstenmal etwas produziert habe, das man nicht sofort wieder einsauen, auffressen oder verschwitzen kann und von dem etwas mehr als ein paar saucenverschmierte Teller und ein Korb voller Dreckwäsche zurückbleiben wird. Im Einklang mit sich und der Welt, Tau auf der Seele, Deine Lisbeth Zwei Tage später Bin gestern den ganzen Tag nicht aus dem Haus gekommen, weil ich plötzlich wirklich gute Gedanken zu meinem Roman hatte und ich den Schaffensrausch nicht einmal unterbrechen wollte, um mich zu waschen und anzuziehen. Ich habe das erste Kapitel komplett überarbeitet, und so, wie es jetzt ist, scheint es mir sehr gut geworden zu sein. O Paula, ich habe heute nacht geträumt, daß ich an der Seite von Lila Luder an einer Lesung in Deinem Laden teilnehmen durfte, und denk Dir, die mit den Schlabberröcken und den Henna-Haaren war ich! Es war ein wunderbarer Traum, aus dem ich sehr ungern aufgewacht bin, aber dann fiel mir ein, daß ja im Wohnzimmer mein Schreibtisch mit dem Anfang meines Romans auf mich wartete, und so rettete ich einen Hauch des Traums hinüber in die Realität. Wenn ich die ersten drei Kapitel fertig habe (sollte es mir gelingen, in diesem Tempo weiterzuarbeiten, dürfte es nicht allzu lange dauern), werde ich sie Dir einmal schicken, damit Du Dein kritisches 18
xxx Die drei x bedeuten eine längere Unterbrechung, weil Änne anrief, um mir mitzuteilen, daß ich mich ohne meine beiden Männer langweile und sie aus diesem Grunde gleich vorbei kommen wird, um mir die Dahlienzwiebel zu bringen, die sie seit dem letzten Herbst für uns aufgehoben hat. Ich habe Dahlien nie gemocht, sie signalisieren das Ende des Sommers. Es klingelt … Mit zusammengefalteten Flügeln, Lisbeth
3. Mai Liebe Paula, habe gestern kühlen Herzens meinen Roman vernichtet, es war alles Mist. Aber das macht nichts, ich werde noch mal von vorn anfangen, sobald ich ein bißchen zur Ruhe gekommen bin, und dann wird es mir besser gelingen. Ich war viel zu überschwenglich und zu sehr in die eigentliche Situation verliebt, als daß etwas Gescheites dabei hätte herauskommen können. Vielleicht war das Anfangsdatum des 1. April auch nicht glücklich gewählt. Wie Du weißt, bin ich recht abergläu bisch, und man sollte sein Schicksal nicht herausfordern. Hier ist im Moment die Hölle los! Der Teufel näherte sich mit dem Lächeln des Verführers und wollte unseren Frieden kaufen – für dreihundertzwanzigtausend Mark. Ich begegnete ihm mit Mißtrauen, aber Benno ging ihm voll ins Netz. Für dreihundertzwanzigtausend Mark würde er sogar seine Groß mutter verkaufen, oder in Ermanglung einer solchen Änne verhökern (wogegen ich strenggenommen gar nichts hätte), aber dummerweise lautete das Angebot gerade andersherum: dreihundertzwanzigtausend für den Inhalt von Bennos Leben, einschließlich Lisbeth, Platzdeckchen und Rosenstock, zum ersten, zum zweiten … Hier die Einzelheiten dieses, ich muß schon sagen, schmutzi 19
gen Geschäfts: Also Änne hat ihr Haus verkauft und sich keine zehn Minu ten von uns entfernt eine Zweizimmerwohnung gemietet, die so unkomfortabel ist, daß es ihr niemand verwehren kann, sich den größten Teil ihrer Zeit bei uns einzunisten, zumal sie den Reinerlös des Hauses auf Bennos Namen überschreiben ließ. Sie möchte nur, bescheiden wie sie nun einmal erzogen ist, die Zinsen ausgezahlt bekommen, und nun frage ich Dich in Deiner Eigenschaft als versierte Geschäftsfrau, findest Du, daß das ein guter Handel war? Benno ist sehr wohl dieser Meinung, er scheint zu befürchten, daß sie sich, listig, wie sie ist, woanders einkauft, ich dagegen sah, während Benno unter schrieb, hinter seinem Rücken des Teufels Visage schadenfroh grinsen. Nach vollzogenem Akt lächelte Änne den Notar gewinnend an und teilte ihm mit, daß sie halt zu jenen Leuten gehöre, die gern »mit warmer Hand gäben«, wobei mir schlagartig bewußt wurde, was ich vorher nur dunkel ahnte: Diejenige, die diese warme Hand von nun an täglich und mit nicht nachlassender Dankbarkeit zu schütteln hat, werde einzig und allein ich sein, derweil Benno die Pflicht auf sich nehmen wird, den Zaster so gut wie möglich anzulegen und dessen Wachstumsrate peinlich genau im Auge zu behalten. Auf dem Rückweg, den wir unterbrachen, um im Café König unsere gemeinsame Zukunft zu feiern, begann Änne, diese auszumalen. Sie wird morgens, so gegen neun, wenn beide Bennos das Haus verlassen haben, »angeklingelt« kommen und mir dann ein bißchen im Haushalt helfen (sprich, wertvolle Ratschläge zur Führung desselben geben), dann werden wir »urgemütlich« zusammen mit dem kleinen Benno zu Mittag essen, und während ich anschließend die Küche mache, legt sie sich ein Stündchen aufs Ohr, bis der Kaffee fertig ist. Und nachmittags kann ich ja ein bißchen bügeln oder so, und sie sitzt dabei, und wir unterhalten uns, oder sie liest die neue 20
»Frau im Blick« und unterrichtet mich über das Liebesleben von Caroline und die neuen Reisetrends für Senioren. Und gegen sechs, ehe der große Benno kommt, will sie dann verschwunden sein. »Wieso denn gerade, ehe der große Benno kommt?« fragte ich hinterhältig und warf dem großen Benno über den Tisch hinweg einen blitzenden Blick zu, den er gelassen erwiderte. »Ach«, meinte sie, »so ein Mann, der den ganzen Tag gear beitet hat, der will doch abends seine Ruhe haben und keine alten Tratschen mehr sehen. Schließlich will ich euch ja nicht zur Last fallen.« Beachte bitte das exakt gewählte Wörtchen euch! Im Moment ist mein Leben noch so »ungemütlich« und einsam, wie es immer war. Ich arbeite mich durch Haus und Garten und bringe beides auf meine hilflos dilettantische Art in Schuß, aber es dauert ja nicht mehr lange, und la vie en rose wird mich empfangen. Zur Zeit ist Änne, um das Abschiedsweh wegen des verkauf ten Hauses (das ja schließlich ihre Heimat war, die sie einzig uns zuliebe aufgegeben hat) ein wenig zu mildern, zu einer mehrwöchigen Kreuzfahrt aufgebrochen. Die fette Rente, die sie sich durch ihr jahrzehntelanges Verheiratetsein tapfer erdient hat, und die Zinsen »unseres« Vermögens ermöglichen Späße dieser Art glücklicherweise. Glücklicherweise!!! Ich habe mir einen frischen Kaffee aufgebrüht und auf die Terrasse getragen. Es ist himmlisches Wetter, der Himmel ist aquamarinblau, und die zarten Äste der Birke wiegen sich sachte im Wind. Ich habe heute zum erstenmal den Rasen gemäht, und alles duftet nach Frühling und frischem Gras. Obwohl es an sich noch ein bißchen zu früh ist, konnte ich mich nicht beherrschen und habe schon mal die Blumenkästen aus dem Keller geholt, hellblau angestrichen und frisch bepflanzt. In diesem Jahr mit blauem Männertreu und weißen 21
Fleißigen Lieschen, und es sieht entzückend aus. An Tagen wie diesem möchte ich weder in Bennos Büro noch im Regie rungsgebäude, ja nicht einmal in Paulas Laden, sondern nirgendwoanders als hier sein. Ich möchte auch nicht hinter der herabgelassenen Jalousie an irgendeinem Schreibtisch sitzen und schöpferisch sein (müssen). (Höre Benno vielsagend »ja ja« murmeln und sehe Dich unzufrieden die Stirn runzeln.) Am allerliebsten wäre ich die dicke Hummel, die sich gerade mit behaglichem Gebrumm auf dem Männertreu niederläßt, um ein bißchen daran zu nippen und dann, gesättigt, ein kleines Nickerchen zu halten. Sie darf kommen und wieder abdüsen, wie es ihr gefällt, und fett und rund sein, ohne daß es ihr jemand übelnähme – und niemand zwingt sie, den soeben gesammelten Nektar zu Frikassee zu verarbeiten. Ich will das Suppenhuhn entbeinen! Glücklich-emsig, Deine Lisbeth PS: Glaubst Du, daß es die Nachbarn sehr verschrecken würde, wenn ich auf der Straße ein bißchen Springseilhüpfen würde oder wenigstens auf Lils alten Rollschuhen ein paar Runden drehte? Ich hätte heut gerade die rechte Stimmung dazu … PS 2: Sehe gerade, daß hinterm Nachbarhaus dicke Regenwol ken aufziehen, ich werde wahrscheinlich erst morgen Rollschuh laufen.
Ende Mai Liebe Paula, ein paar Tage vor Pfingsten sah ich im Regionalfernsehen eine Sendung, in der ein Reporter Leute in der Fußgängerzone anhielt, um sie nach dem Sinn des Festes zu fragen. Eine ältere Dame vermutete, es habe irgendwie was mit Christus und Ostern zu tun, eine andere meinte, mit dem Almauftrieb, daher der Name Pfingstochse, zwei Schülerinnen kicherten ausgiebig 22
und äußerten sich dann dahingehend, daß das Fest bei nur drei freien Tagen überhaupt keinen erkennbaren Sinn habe, ein Althippie, sein Spätgeborenes im lila Baumwolltuch vor der Brust, blickte ernst in die Kamera und formulierte dann die Botschaft: »Mein Auto fährt auch ohne Wald«, ein Herr mit schmalem Gelehrtengesicht und langen, weißen Nackenhaaren sagte schließlich: »Pfingsten, griechisch pentekoste, 50 Tage nach Ostern, das Fest der Ausgießung des Heiligen Geistes!« Voilà, der Kandidat bekam 99 Punkte. Änne, die strickend neben mir saß und die gar nicht gefragt war, sagte: »Pfingsten – ich dachte, wir machen ein richtiges Spargelgelage, ein Pfund für jeden mit neuen Kartöffelchen und drei Sorten Schinken!« Und was fällt Dir zum Thema ein, liebe Paula? Oder anders gefragt: Hättest Du’s gewußt? Wir waren zum Fest nach langer Zeit wieder einmal alle am runden Tisch vereint. Lil erschien aus dem Dunstkreis ihres Universitätsgeschehens, in dem sie seit Jahr und Tag ver schwunden und für uns Zurückgebliebene nur noch schemenhaft erkennbar ist, war abgemagert bis auf die Kno chen (Benno) und hatte dieselben höchst unvorteilhaft bekleidet (Änne). Mir erschien sie wie immer überarbeitet und auffallend blaß. Lil ihrerseits verbat sich, daß wir sie bei jedem ihrer Besuche forschend wie ein neuentdecktes Virus anstarren. Ihre etwas nachlässige Bekleidung erklärte sie damit, daß sie schließlich jedes einzelne Stück auf dem Fahrrad zum Wasch salon transportieren und dort in stumpfsinniger Ergebenheit auf seine Säuberung warten müsse. Und nach einer Stunde wären die Klamotten dann zwar sauber und trocken, dummerweise jedoch noch immer zerknittert. Und eine weiße Bluse, die man auf diese Weise hin- und hertransportiert, gewaschen, getrock net und auf dem Schreibtisch gebügelt habe, die würde man dann in den Schrank hängen und für den ganz, ganz großen Anlaß aufheben, und dies sei nicht unbedingt ein Spargelessen im Kreise der Familie. 23
Änne schlug vor, die ganze Wäsche doch einfach zu sammeln und mitzubringen, damit »Mutti« sie dann flink waschen könne, aber Lil belehrte uns darüber, daß die Intelligenz nicht mit einem Koffer voller Dreckwäsche durch die Gegend fahre. Zudem, ihr Problem wär’s doch gar nicht … Zu dem sonstigen Universitätsgeschehen wüßte sie, außer der Sache mit der Wäsche, nur zu berichten, daß es einen geistig nicht eben fördere. Hier bemerkte Benno, daß er es an und für sich ja aufgegeben habe, sich näher auf Lils neuestes Studium einzulassen, er möchte lediglich daran erinnern, daß bereits das Englischstudium (total überholt) und das der Soziologie (echt ätzend) nach kurzem Hineinschnuppern aufgegeben worden seien und ihn all diese Hineinschnuppereien verdammt teuer zu stehen kämen. Im Moment interessiere ihn lediglich, wofür sein fetter Monatswechsel eigentlich draufgehe, für gesunde Ernährung doch wohl keinesfalls. Lil entgegnete schnippisch, sie würde sich täglich Aldi-Nudeln und an hohen Festtagen vielleicht mal ’ne Pizza gönnen und den Überschuß des fetten Wechsels zinsbegünstigt in der Schweiz anlegen, er bräuchte sich diesbezüglich keine Sorgen zu machen. Der Kleine hörte sich die Debatte mit runden Augen an und teilte uns dann tröstlich mit, daß er beschlossen habe, über haupt nie zu studieren, sondern mit Jack the Ripper nach Amerika zu gehen, vielleicht würde er aber auch »ganz für immer« bei uns bleiben. O Paula, halte dies bitte nicht für Kindermund. Ich las kürz lich in einem Artikel, daß die jungen Leute heutzutage immer weniger dazu neigen, das elterliche Gasthaus zu verlassen, sondern in ihren Kinderzimmern hocken bleiben, bis sie promoviert sind oder länger. Sie haben nämlich die Entdek kung gemacht, daß sie sich in ihrem Szeneschuppen die »Fine Young Cannibals« auch reinpfeifen können, ohne die Unbe quemlichkeit einer möblierten Existenz und die Unbequemlichkeit eines außer Haus gelegenen Waschsalons 24
auf sich nehmen zu müssen. Das haben wir Liberos nun davon!!! Ein paar Mütter mehr von Ännes Sorte, und die Kinderzimmer leerten sich zur rechten Zeit und wie es sich gehört. Das Fest als solches verlief friedlich. Es regnete in Strömen, und das hielt die Familie zusammen. Beide Bennos blieben zu Hause. Es gab Spargel mit neuen Kartöffelchen und drei Sorten Schinken, dazu zerlassene Butter, an der sich Ännes und mein Geist schieden wie die Geister der Großmächte an der Abrü stungsfrage. Denn ich liebe das klassische Spargelessen nur mit Butter, und in diesem Hause ist nie anders serviert worden, wogegen Änne die irrige Ansicht vertrat, daß es nur mit einer schönen Bechamelsauce so richtig lecker, ja überhaupt erst richtig klassisch sei. Sie rührte die Sauce höchstpersönlich an und zeigte mir bei dieser Gelegenheit auch gleich, »wie man das macht«, und dann standen beide Schüsselchen Seite an Seite da: das mit der Butter und das mit der Bechamelsauce. Am maiglöckchengeschmückten Tisch spielten wir nun folgendes spannende Testspiel: zu welchem Schüsselchen wird Benno I greifen? Ich schob ihm die Butter knallhart an den Tellerrand, wobei ich ihm aufmunternd-gewinnend zulächelte und »Bedien dich« sagte, derweil Änne ihm die Bechamelsauce von der anderen Seite einfach über den Spargel löffelte. Da hatte ich es mal wieder! Mit vornehmer Zurückhaltung und »Dräng dich nicht vor«-Erziehung bist du im Leben immer die Dumme. Benno schien nichts bemerkt zu haben. Er lächelte Änne liebenswürdig zu und verstieg sich sogar zu einem »Ha, was haben wir denn da Feines?«, wobei er peinlicherweise verriet, daß er so etwas Feines nicht einmal kannte! Ich griff trotzig zu der Butterschale, und Benno II goß sich erst reichlich Bechamelsauce und dann noch einen kräftigen Schuß Butter über den Spargel, was Änne zu traurigem 25
Kopfschütteln veranlaßte. (Schlimm, wenn die gewöhnlichen Sitten der »anderen Seite« mit zunehmendem Alter immer deutlicher zutage treten.) Lil aß mit spitzen Lippen zwei Spargelspitzen »ohne alles« und tat kund, daß man »Wurzel gemüse« ganz allgemein eigentlich nicht mehr essen sollte. »Lieber’n leckren Hormonbraten mit’n bißchen gut durch strahltem Salat dazu, was?« kalauerte Benno I und nahm, unter zustimmendem Kopfnicken seiner Mutti, noch ein bißchen Spargel mit einem Löffelchen von der vortrefflichen Sauce, und Lil sagte, Witze über dieses Thema fände sie geschmack los. Schließlich müsse sie mit diesem verseuchten Erdball ja noch ein paar Runden mehr drehen als wir Alten, die es ja bald geschafft hätten und den allerletzten grünen Grashalm dann kichernd mit ins Grab nähmen. Wir Alten senkten schuldbewußt die Augen, denn wenn es etwas gibt, das die mittlere und die ältere Generation vereint, dann ist es unsere gnadenlose Dummheit. Die vom Stamme Änne ließen sich auf das fadenscheinige Versprechen hin, daß nach der Vernichtung alle Überlebenden VW fahren dürften, ihre Städte und Kultureinrichtungen zertrümmern, und wir, die Mittleren, lassen uns sogar den ganzen Erdball vergiften, nur weil wir dafür zur Belohnung alle zwei Autos fahren dürfen und zusätzlich unter den Achseln immer frisch duften. »Na, dann tu doch was«, sagte Benno mit einem kleinen, wohligen Rülpser der Sättigung. »Ich kann überhaupt nichts tun«, klärte Lil uns auf. »Die einzigen, die wirklich was verändern könnten, sind die Hausf rauen.« (Und die sind ja nun ausgerechnet die allerdümmsten, in ihrem idiotischen, durch keine noch so gesunde Umwelt ersetzbaren Weiße-Wäsche-Wahn, verkniff sie sich hinzuzu setzen.) Sollte ich nicht, anstatt davon zu träumen, mich selbst zu verwirklichen, lieber aus meiner kleinen Küche heraus den Niedergang der Welt stoppen? 26
Ab morgen werde ich damit beginnen, die Stanniolpapier chen aus meinen Zigarettenschachteln zu sammeln. Endlich eine wirkliche Aufgabe. Deine Lisbeth PS: Du hast weder meinen letzten noch meinen vorletzten Brief beantwortet. Rede Dich bitte nicht mit zuviel Streß heraus, wenn Du verhindern willst, daß ich Dich ab morgen anstelle von Paula »Paul« nenne. Zuviel um die Ohren hat in diesem Lande nämlich ausschließlich »der Mann«, genauer: Benno I. Er trägt die Lasten von uns allen, also auch die Deinen. Nun schließe für heute Deine Ladenkasse, setz Dich gemütlich unter die Lampe mit dem gelben Schirm und schreib mir ein paar Zeilen. Wenn Dir nichts (mehr) einfällt, dann beantworte wenigstens die in diesem Brief zur Debatte gestellten Fragen: 1. Was weißt Du über Pfingsten? 2. Was versteht man unter »Spargel klassisch«? a. Spargel mit zerlassener Butter b. Spargel mit Bechamelsauce 3. Was machst Du mit den Stanniolpapierchen aus Deinen leeren Zigarettenschachteln?
3. Juni Lieber Päule, hurra, ein Lebenszeichen von Dir, und noch dazu in Form einer solchen Maschinengewehrattacke!!! Es tut mir sehr leid, lesen zu müssen, daß Du die letzte Hummel vor sieben Jahren gesehen hast, als sie sich im Apfelsaftglas Deines Söhnchens ertränkte, daß Du Dir über Spargelrezepte gleich welcher Art keine Gedanken (mehr) machst, daß ich Deiner Meinung nach viel zu viel fernsehe, daß Du befürchtest, Änne könnte in Kürze den Platz von Virginia Woolf einnehmen, daß Du mich aufforderst, die Versprechun gen bezüglich meines geplanten Romanwerkes unverzüglich 27
einzustellen und Dich mit Details aus meinem Leben als Blumentante und Hühnerentbeinerin zu verschonen, daß ich Dir den Anfang meines Romans, anstatt ihn heimlich zu vernichten und die Trümmer unter dem häuslichen Abfall zu verstecken, lieber hätte zuschicken sollen, um Dir die Mög lichkeit zu geben, das »Fragment« zu rahmen und in Deinem Laden aufzuhängen, Motto: Seht Schwestern, diese Frau hatte kein Zimmer für sich allein, Untertitel: Hätte sie es denn verdient? Ich habe Deinen Brief mehrmals gelesen, ihn mir jedoch nicht, wie Du vorschlägst, hinter den Spiegel gesteckt. Allerdings bebt angstvoll mein Schürzenlätzchen bei der furchtbaren Drohung, daß du mich demnächst Lila Luder »vorführen« willst, um zu demonstrieren, »wie diese Lisbeth wirklich lebt«! Oh, wie wird es sie schaudern!!! Ich werde Euch würdig, den Besen in der Hand, im großge blümten Kittel empfangen und den Rumpelstilzchentanz aufführen, die Zähne blecken und mit blecherner Stimme kundtun: »Ha, wie gut, daß niemand weiß, daß ich Lisbeth Schmuddel heiß! Bennos Pullis wasch ich rauh, alle Böden putz ich grau, alle Fenster wisch ich blind, oh, ich bin ein böses Kind!« Und Ihr dürft mir dann Lilas neuestes Werk über den Garten zaun hinweg zuwerfen wie den Affen im Zoo die Bananen. Mit schaurigem Gelächter, L. Rumpelstilz PS: Ich las gestern, daß sich die Feinde der Stehohreule in den letzten zwanzig Jahren drastisch vermehrt haben sollen und es aus diesem Grunde bald kaum noch Stehohreulen geben wird. Halbwegs als solche erkennbare Frauen auch nicht! Zu ihrem natürlichen Feind, dem Mann, ist in letzter Zeit ein 28
weiterer Feind hinzugekommen. Er stammt aus der Familie der Chamäleons, man nennt ihn Emanze …
4. Juni Liebstes Paulinchen, bitte entschuldige meinen Ausrutscher von gestern! Ich wollte den Brief eigentlich gar nicht abschicken, aber dann nahm Änne ihn unbemerkt mit zur Post, als sie aufbrach, um sich die neue »Frau im Blick« zu besorgen, nach der sie ebenso süchtig ist wie Benno nach der »Morgenpost« und ich nach meinen Kreislaufpillen – ja und dann war es halt gesche hen. Dein Brief vom 30. traf natürlich voll ins Schwarze, und ich gebe Dir in allen Punkten recht, aber ich war gerade so in das Mahlwerk unterschiedlichster Weltanschauungen geraten (die Walzen hießen Benno – Änne – Lil), daß ich einfach nicht imstande war, weitere Attacken auf mein Selbstwertgefühl zu ertragen. Ich brauchte erst eine Weile, um die Trümmer desselben wieder zu einem Ganzen zusammenzufügen, und dann, liebe Paula, dürfen Lila und Du zum Rundumschlag ausholen. Ich werde Dir rechtzeitig Mitteilung geben, wenn es soweit ist. Hier ein paar Worte zu meiner jüngsten Vergangenheit: Lil war eine ganze Woche hier und hätte ihren Besuch sehr genießen können, wäre Änne nicht ihrerseits von dem Gedan ken besessen gewesen, die seltene Gelegenheit nutzen und Lil über die heutige Situation der Studenten aufklären zu müssen. Während für Ännes Kränzchenschwestern das Universitätsge schehen irgendwo bei Nesthäkchen stehengeblieben ist (Studenten lieben den Studentenulk, fahren ihre Liebste auf dem Neckar spazieren und »stürmen« später die Studenten kneipe, in der eine vollbusige Wirtin ein herzlichenergisches Zepter führt: »Jetzt wird aber erst mal was gegessen!«), ist für Änne das Studentenleben nach wie vor in den Achtundsechzi 29
gern angesiedelt: Studenten haben langes, verfilztes Haar und wälzen sich in den Gossen deutscher Universitätsstädte. Während der Vorlesung bewerfen sie seriöse Professoren (aus Ännes Generation) mit Flugblättern und zertrümmern das Mobiliar. Kein Wunder, daß es nicht genügend Studienplätze gibt, wenn die Herren Studenten alles kaputtschlagen. Daß sich die Studenten von heute recht angepaßt verhalten und Werte hochhalten, die von Ännes Wertvorstellungen gar nicht so weit entfernt sind, »läßt sie sich nicht einreden«! Einen Yuppie hält sie für einen vermehrungsfreudigen Zier fisch, basta! So bekam Lil täglich von Änne zu hören, daß diese sich Bennos Studium Groschen für Groschen vom Munde abgespart habe, was in krassem Widerspruch zu Bennos Aussage stand, derzufolge er sich sein Studium seinerzeit unter qualvollen Mühen selbst verdienen mußte. Zweistimmig: Das war nämlich damals nicht so wie heute, wo die Studenten glauben, sich einfach alles erlauben zu können, anstatt erst einmal etwas zu leisten! Mit vereinter Kraft: »Auf welche Weise das Studium auch immer finanziert wurde, Tatsache ist, daß Benno bestrebt war, es so schnell wie möglich abzuschließen!« Durch Ännes pausenlose Selbstbeweihräucherung auf das äußerste gereizt (Änne gehört zu den 0,0005 Prozent begnade ter Menschen, denen in 65 Jahren nicht der geringste Fehler unterlaufen ist), ließ Lil ihrerseits Unmutsspritzer in meine Richtung ab. Thema: Wie erziehe ich meine Mutter zum umweltbewußten Haushalten? Es begann damit, daß sie mich dabei erwischte, wie ich die leere Batterie meiner Küchenuhr einfach in den Mülleimer warf, ohne sie vorher zu entsorgen, ja daß ich diesen Frevel nicht nur beging, sondern darüber hinaus in aller Unschuld zugab, leere Batterien immer in den Hausmüll zu werfen, und zwar so, wie sie sind! (Zum Teufel, Paula, wie und wo entsorgt 30
man sie???) Lil betete mir zum soundsovielten Male vor, daß man auch leere Flaschen nicht einfach wegschmeißt, sondern sammelt und dann zum Altglascontainer bringt. Ich bat sie in den Keller, wo Altglas jeglicher Form und Größe seit dem letzten Winter den freien Zugang zu den Wäscheleinen blockiert, weil Lil mir versprochen hatte, daß sie das Zeug wegtransportieren werde, wenn ich es nur sammle. Nach einem Tobsuchtsanfall meiner seits luden Benno I und sie den ganzen Krempel dann schließlich in den Kofferraum, kurvten ein bißchen in der Gegend herum und brachten alles dann glücklich wieder mit nach Hause, weil sie an der Stelle, an der vor einigen Wochen noch der Container gewesen war, eine Baustelle vorgefunden hatten, und zwar eine Baustelle, versehen mit dem Hinweis: Müll abladen verboten, Zuwiderhandelnde werden strafrech tlich verfolgt. Lil zog sich beleidigt mit einem Schmöker in die Gartenecke zurück, derweil Benno fluchend den durch ausgelaufene Essigjauche verpesteten Kofferraum ausspritzte, wobei er mir seinerseits Vorträge bezüglich Umwelt hielt, an deren Scho nung er äußerst interessiert ist, solange er Geld spart. Sein Vortrag behandelte vorwiegend die Themenkreise: »Kochen mit Restwärme« und »Optimales Lüften während der Heizpe riode«. Dann entdeckte Lil hier ganz in der Nähe ein reizendes »grünes Lädchen«, in welchem man beinahe alles kriegen kann, immer vorausgesetzt, daß das grüne Lädchen gerade mal geöffnet ist und man nicht per »Bin im Garten, Frank« auf unbestimmte Zeit vertröstet wird. Beim zweiten Anlauf war Frank dann persönlich anwesend. Er schlurfte aus den hinteren Gefilden seines Ladens herbei, blickte uns trübe an, wog dann sehr bedächtig drei kleine, recht schrumplige Äpfel auf einer zugegebenermaßen entzückend altmodischen Waage ab und langte ein umweltfreundliches Seifenpulver aus dem Regal. Ich 31
fragte schüchtern, ob man selbiges auch in der Waschmaschine nutzen könne, woraufhin mir Frank einen so geistesabwesen den Blick zuwarf, daß ich die Hoffnung auf jegliche »Beratung« sofort aufgab und mir der Verdacht kam, daß der Verzehr giftfreien Obstes die Schaffenskraft nicht gerade anturnt. Zu Hause wusch ich Bennos Hemden dann mit dem neuen Mittel, mit dem Erfolg, daß Änne nachdenklich schnüffelnd an der Wäscheleine entlangstrich, Entscheidendes vermißte und Benno I später im umweltfreundlich gewaschenen Hemd kritisch unter die Brille nahm. Bestandsaufnahme: Lappiger Kragen und Grauschleier. Muffiger Geruch. In keiner Weise aprilfrisch! Grund: Zum Himmel stinkende Faulheit der Hausfrau. Fazit: Gefährdung der Karriere. Inzwischen hatte Lil in einer grandiosen Säuberungsaktion sämtliche Sprühdosen aus dem Haushalt entfernt, und Änne trabte los, um sie durch den Hintereingang wieder einzuführen. Sie hielt mir einen Vortrag über die Frauen früherer Zeiten, die sich ihre Stärke noch selbst herstellen mußten (und sie taten’s gern), derweil es den Weibern heutzutage sogar zu viel ist, ein simples Knöpfchen zu drücken. Zum Beispiel das Knöpfchen von Hillmanns Glanzstärkedose, von denen Änne, in der Erwartung, »daß ich sie auch benutze!«, gleich drei gekauft hatte. Ja, Paulinchen, ich war in der vergangenen Woche wirklich in einem solchen Maße zwischen die Fronten und in den damit verbundenen Generationskonflikt geraten, daß ich gewöhnlich erst gegen Mitternacht dazu kam, mich zu fragen, welche Meinung ich selbst eigentlich vertrete beziehungsweise welcher Partei ich mich anschließen soll. Änne ist fest davon überzeugt, daß die Angst vor der totalen Umweltvergiftung einschließlich Ozonloch einfach lächerlich ist. Sie findet, daß der Wald aussieht wie immer, und aus Angst vor Sittlichkeits 32
verbrechern geht sie sowieso nicht rein. Eine schöne, belebte Einkaufspassage, möglichst unterirdisch, mit jeder Menge Läden und Cafes, durchflutet von Neonlicht und Musikgerie sel, findet sie tausendmal attraktiver als dustere Wege durch den Tann, in dem allenfalls mal eine Amsel piepst. Für Änne bin ich das Naivchen, das sich einfach alles einre den läßt, für Lil bin ich ebenfalls ein Naivchen, dem man überhaupt nichts klarmachen kann, weil es einfach die Augen verschließt und nicht weiter gucken kann (schlimmer: will) als bis zu seinem Gartentor, und für Benno bin ich eine jener gehirnlosen Haushennen, die mit den Rohstoffen ebenso herumaasen wie mit dem Wirtschaftsgeld. Ja, und dann kommt zu allem Überfluß noch ein Brief von Freundin Paula, in welchem es weitere Vorwürfe hagelt, unter besonderer Berück sichtigung der Meinung, die Lila Luder von mir hat. Ich glaube, da würden sanftere Naturen als ich ausrasten. Lil ist vorgestern abgefahren, und Benno I weilt auf einer Tagung in Bern. Im Moment muß ich nur noch Änne gefallen und kann mich von dem Streß der letzten Tage erholen. In letzter Zeit habe ich mich übrigens eng an Benno II ange schlossen. Er hat nichts an mir auszusetzen, solange meine Küche nur Bratwürstchen und Pommes in ausreichender Menge liefert. Auch beäugt er sein Würstchen nicht im Hinblick auf ausgetretene Krebserzeuger oder nervt mich mit der peinlichen Frage, was ich denn mit der leeren Ketchupfla sche zu tun gedenke. Ich muß sagen, mit ihm ist’s richtig nett!!! Gestern waren wir zwei beim Italiener und haben uns eine Riesenpizza reingepfiffen. Es war der gemütlichste Abend seit langem. Ich finde, daß der Mann mit elf eigentlich in seinem schönsten Alter ist, und ich habe beschlossen, jede Minute auszukosten. Die Jungs werden so verdammt schnell dreizehn, und sie bleiben es so lange … Mit nochmaliger Bitte um Vergebung (ich hatte wirklich eine 33
ekelhafte Woche hinter mir), das Gefieder schüttelnd, Deine Lisbeth PS: Bitte, schwinge nicht gleich wieder den Hammer über meinem Haupt, wenn ich es wage, mich noch einmal mit einer Frage aus dem Hauswirtschaftsbereich zu nähern, aber es ist sozusagen eine Frage auf höchster Ebene: Wie hält man es in Deinen Kreisen mit Altglas, leeren Batterien und Bio in jeglicher Form? Ich bin diesbezüglich auf der Suche nach einer Geistesrichtung, der ich mich anschließen kann. Hier im Hause befindet sich leider keine Partei, der ich Stimme und Vertrauen schenken möchte. Montag beobachtete ich Benno I, wie er nachdenklich einen der lieben kleinen Bioäpfel betrachtete und selbigen dann vorsichtig in die Schale zurücklegte. Ich glaube, das Vertrauen in völlig giftfreie Nahrung müßte erst langsam und geduldig wieder aufgebaut werden. Ich habe die Äpfel schließlich weggeworfen, als sie bedenklich schnell zu faulen begannen. Immerhin ergeben sie einen Abfall, der seinerseits nicht entsorgt werden muß. Mit reinem Gewissen, L.
Samstag Liebe Paula Benno I und Benno II sind gerade zum Waldlauf aufgebrochen, und Änne nimmt an einer Werbefahrt ins Blaue teil (sie war äußerst pikiert, als sie hörte, daß ich nicht gewillt sei, sie zu begleiten), und so setze ich mich an den Terrassentisch, um Dir für Deinen letzten Brief zu danken. Ich war unendlich erleichtert zu erfahren, daß Du mir meinen Giftbrief vom 4. Juli nicht übelgenommen hast und Dein Psychofreak darüber hinaus Geist und Witz zwischen den Zeilen zu entdecken glaubte, verbunden mit einer (Zitat) »gehörigen Portion kreativer Aggressivität«, die, in die 34
richtigen Bahnen gelenkt, »einen entscheidenden Einfluß auf den internationalen Kunstmarkt haben könnte«. ??? Was empfiehlt er mir denn so für den Anfang? Soll ich die Fliesen hinter dem Spülstein mit Abziehbildchen verzieren oder mich an dem Wettbewerb: »Der schönste Ziergarten« beteiligen? Was den letzten Punkt angeht, so bin ich jedenfalls seit zwanzig Jahren pausenlos kreativ, ohne daß »die da oben« oder wenigstens meine Aggressionen es bemerkt hätten. Weiterhin teilst Du mir mit, es stimme Dich sehr nachdenk lich, daß ich inzwischen soweit sei, einen Pizzeriabesuch mit meinem elfjährigen Sohn zu einem solchen Ereignis hochzusti lisieren, daß ich das Bedürfnis hätte, es glücklich-aufgeregt und schriftlich zu erwähnen … Liebste Paula, wenn Du zehn Stunden gezwungen wärst, Ännes Unterhaltung zu lauschen, welche sich vorwiegend um das beliebte Thema: »Wie wir früher geschuftet haben« dreht (und zwar in den mageren Zeiten vor, während und nach dem Kriege, Zeiten, die ich verwöhnter Grünschnabel mir ja gar nicht vorstellen kann), mit einem kleinen Abstecher zu dem ebenso beliebten Thema, wie glücklich ich sein könne, seit Jahrzehnten den Komfort von »Bennos Haus« zu genießen, eines Hauses, zu dessen Entstehen ich nicht so viel (knallendes Fingerschnippen) beitragen mußte, dann hättest Du mehr Verständnis dafür, daß ich ein Abendessen mit einem Partner zu schätzen weiß, der mir erzählt, wie wir es den »Blödmän nern von Rot-Weiß« gegeben haben. Wenn Du nachmittags eine längere Debatte darüber zu über stehen hattest, ob Bennos Anzughosen nun besser auf ganz normalen Bügeln aufgehoben sind oder eher in Klemmbügel gequetscht (Änne ist selbstverständlich für Klemmer), dann hörst Du Dir anschließend geradezu dankbar die Beschreibung technischer Wunderwerke an, wie zum Beispiel die eines 35
Stereo Power Pack mit Rack oder eines CD Players mit 16 Bit Digital Analogwandler mit zweifach Oversampling, Drei Strahl-Laseroptik, Subchassis und CORC-Fehlerkorrektur, ein Ding, auf dem man Platten abspielen kann (glaube ich) und das Bennos Freund Stenni zum zwölften Wiegenfest geschenkt bekam. Vielleicht würde ich Pizzaessengehen mit Elfjährigen auch nicht als gesellschaftliches Großereignis feiern, wenn ich Paula oder Lila Luder oder wenigstens Tina Turner wäre, aber ich bin bloß Lisbeth und kenne meinen Platz und richte mich beschei den darauf ein. (Sehe Deinen Psychofreak traurig den Kopf schütteln!) Nein, Pauline, ich will Dir ein Geständnis machen, und zwar das Geständnis, daß mir das Zusammensein mit Benno II im Augenblick richtigen Spaß macht. Unsere Beziehungskiste krankt nur ein wenig an der Tatsache, daß ich für ihn nicht halb so attraktiv bin wie er für mich, ja, daß mich, wenn Benno und Stenni im glücklichen Verein mit Jack the Ripper in Bennos Zimmer gerade etwas Wichtiges zu tun haben, derselbe mühsam beherrschte, um Rückzug flehende Blick trifft, den ich (war’s nicht erst gestern?) Klein Benno zuwarf, wenn er, Kontakt und Nähe suchend, meinen gemütlichen Tratsch mit Paula störte. Damals dachte ich, daß wir ja schließlich noch viel Zeit füreinander haben werden, morgen, übermorgen, in zehn Jahren, lebenslänglich, ohne zu bedenken, daß die Zeiten, in denen man für seine Nachkommen so attraktiv wie kein anderer ist, erschreckend schnell vorbei sind. Ja, vielleicht war man ja überhaupt niemals attraktiv für sie, und sie krallen sich im Kleinkindalter aus dem alleinigen Grunde an Deinen Rockzipfel, weil sie keinen anderen zu fassen kriegen! Auf jeden Fall bist Du als Mutter verdammt schnell out, und man sollte dies bedenken, wenn man dem »Sommernachts traum« zuliebe auf das »Huch-da-kommt-der-Bu-Bär-Spiel« 36
verzichtet. Vielleicht würde ich nicht gerade drei Meter hoch springen, wenn Benno II heute vorschlüge, trotz des windigen Wetters auf dem Teich im Stadtpark Tretboot zu fahren, aber ich würde doch eifrig nach meinem Schal suchen. Leider mußte ich in letzter Zeit immer häufiger (und immer schmerzlicher) zur Kenntnis nehmen, daß Tretbootfahren mit der Mami nicht mehr zu jenen Dingen gehört, denen Benno II mit glänzenden Augen entgegenfiebert, ja, daß er Freizeitspiele dieser Art eher als Geschenk für mich betrachtet (eine nette Geste seinerseits zum Muttertag beispielsweise) und es heute nach dem Motto abläuft: »Wenn ich jetzt mit dir spazierenge he, erlaubst du dann auch, daß Stenni und ich im Garten zelten, und bringst du uns dann Pfannkuchen raus?« Neidvoll muß ich mit ansehen, daß Benno II den Freizeitan geboten von Benno I sehr viel freudiger folgt (und keine Rede davon ist, daß Benno I dieselben mit Werbegeschenken untermauern muß!). Ich habe da für Benno I in mühevoller Kleinarbeit einen prima Kumpel herangezogen, einen Kumpel, den man weder im Wagen herumschieben noch von übelriechenden Windeln befreien muß. Benno I hat auf seine unauffällige Art geduldig abgewartet, bis es soweit war, und dann seine väterliche Hand ausgestreckt. Kürzlich hörte ich, wie er, an der Clubhaustheke lehnend, zu seinem Doppelpartner Gustav Venghaus sagte: »Mit Kleinkindern konnte ich ja irgendwie noch nie was anfangen, aber wenn sie größer sind, machen sie richtig Spaß!« Entschuldige meine lange Epistel betreffs meiner Eifersucht auf Benno I in bezug auf Benno II, aber es ist eine Phase, die mit Sicherheit schon bald vorüber sein wird. Der Zustand der gräßlichen Unsicherheit, der mich in der zitternden Hoffnung verharren läßt, daß Benno II vielleicht, ganz vielleicht ja doch noch mal mit mir Tretboot fährt, zerrt mir ein wenig an den Nerven. Wenn ein für allemal feststeht, daß er es nie mehr tun wird, werde ich mich besser fühlen. Meine beiden Männer 37
joggen gerade ins Bad, um selbiges unter Wasser zu setzen, und brüllen mir im Vorbeijagen ihre Essenswünsche zu. Es ist so angenehm, wenn alles nahtlos klappt: joggen, duschen, essen, ruhen. Ich höre durch das geöffnete Badezimmerfenster einem von Wassermassen und wieherndem Gelächter begleiteten Ring kampf zu. Es grüßt als Mutter von zwei Halbstarken, Deine Lisbeth Montag früh Muß rasch noch einen kleinen Nachsatz anfügen, ehe ich den Brief zur Post gebe. O Paula, wie sehr danke ich Dir für Deinen aufregenden Anruf von Samstag abend und Dein noch viel aufregenderes Angebot, als Aushilfe in Deinem Laden tätig zu werden. Natürlich werde ich mich in der übernächsten Woche hier loseisen können, um, unterstützt von Lila, die Lesung und die Ausstellung zu organisieren. Du kannst ganz beruhigt zu dieser Frauenbuchmesse nach Amsterdam fahren, wir werden alles auf das beste managen. Zu der Fotoausstellung unter dem Motto der neuen drei Ks: »Kinder, Küche und Karriere«, die ich eröffnen soll, könnte ich übrigens selbst eine nette Collage beisteuern: Lisbeth mit Ohropax im Ohr dichtend am Eßtisch, derweil in der Küche die Suppe überkocht, der Wäschetrockner Signale abläßt, sich beide Bennos eilig mit Taschen eingeschwitzter Sportklamot ten nähern und Änne indigniert die Verrottung der Sitten und sämtlicher Einrichtungsgegenstände des Hauses konstatiert … (sehe ich Dich grinsen?) … aber Deinem Laden vorzustehen, wird mir dasselbe königliche Gefühl vermitteln wie die Vollendung von mindestens drei Romanen. Dein Angebot kam so plötzlich und hat einen solchen An sturm von Gefühlen in mir entfacht (ich lag die ganze Nacht in 38
einer Art glücklicher Aufgeregtheit schlaflos herum), daß es mir gelang, Benno mit einer Stimme, die mir selbst ganz fremd im Ohr klang und die gewöhnlich eine versierte Führungskraft ihren Mitarbeitern gegenüber anzuschlagen pflegt, mitzuteilen, daß ich in der Zeit vom 2. bis einschließlich 5. nicht zu Hause sei. Vorkochen würde ich diesmal nicht, da ich Änne diesbe züglich nicht vorgreifen wolle, sicher werde sie ihrerseits die Gelegenheit nutzen, ihre beiden Bennos mal so richtig zu verwöhnen. Er war von meiner Selbstsicherheit so überrumpelt, daß er, ohne auch nur ein Wort der Widerrede zu finden, lediglich fragte, was ich denn in der Zeit vom 2. bis zum 5. zu tun gedächte. »Ich werde in Paulas Geschäft gebraucht«, sagte ich knapp. »Paula muß zu einer Messe nach Amsterdam!« »Na schön«, sagte Benno, »besprich das mit Mutter, sicher wird sie bereit sein, mal wieder einzuspringen.« Es gelang mir, das »mal wieder« lässig hinunterzuschlucken, weil es mir, erstaunlich genug, angesichts der wirklichen Probleme in meinem Leben nichtig erschien (die Dinge erhielten plötzlich eine andere Bedeutung, für Haarspaltereien habe ich keine Zeit mehr), und erhob mich, die Debatte anläßlich meiner Geschäftsreise mit einem knappen Kopfnik ken beendend. Benno warf mir über den Rand seiner Zeitung hinweg einen leicht verunsicherten Blick zu, wahrscheinlich, weil irgend etwas Neues in meiner Haltung den festen Willen verriet, mir den Weg zu der Aushilfstätigkeit in Deinem Laden notfalls mit Hilfe von Giftgas freizukämpfen. Ach, Paulinchen, daß Du an mich gedacht hast!!! Und daß Du mir diese Aufgabe zutraust: Ich werde Deine Erwartungen ganz sicher nicht enttäuschen, denn ich weiß, daß ich das kann. Ich weiß es einfach! Und ganz vielleicht fährst Du ja, wenn Du siehst, wie gut alles gelaufen ist, in Zukunft öfter mal auf eine Messe (Buchhändler sollten das unbedingt tun!), und ich 39
könnte dann jedesmal für Dich einspringen. Und natürlich brauchst Du mir nichts dafür zu zahlen, das wäre ja noch schöner! Also, ich komme am Donnerstag mit dem Zehnuhrzug an. Du brauchst mich nicht abzuholen, ich nehme mir ein Taxi. Angeregt, wie nach zwei Flaschen Champagner, voller Schwung und Elan (den Du Dir als gute Geschäftsfrau ruhig öfter zunutze machen solltest), immer Deine Lisbeth PS: Habe den ersten Teil des Briefes noch einmal mit ver ständnislosem Kopfschütteln gelesen! Ehrlich gesagt, möchte ich gar nicht Tretbootfahren, weder mit Benno I noch mit Benno II. Nimm die diesbezügliche Phantasterei als Ausdruck jener Kreativität, die einfach nicht wußte, wohin … (Betonung auf wußte!) Erstaunt über die Absurdität meiner einstigen Wünsche, L.
8. Juli Liebste Pauline, wie schade, daß ich Deine Rückkehr aus Amsterdam nicht mehr abwarten konnte, aber Ännes Erschöpfung war bei ihrem letzten und sicher dreißigsten Anruf in Sachen »Wo finde ich denn?« so merklich spürbar, daß ich es einfach nicht fertigb rachte, ihr zu sagen, daß ich nun doch nicht, wie vereinbart, mit dem Frühzug, sondern erst mit dem um zehn Uhr abends kommen würde. Sie hat sich wie erwartet tapfer geschlagen und in der Bemühung, es beiden Bennos an nichts fehlen zu lassen, nicht nur sich selbst, sondern auch die ihr anvertrauten Pflegefälle bis an die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit er schöpft. Will sagen, sie hat die beiden fast kaputt versorgt. Als ich unser Heim betrat, bot es den Anblick einer Groß kampfstätte, und zwar einer, an der an sämtlichen Fronten 40
gleichzeitig das Feuer eröffnet – und wieder eingestellt worden war. Änne hatte in dem Bestreben, ihrem Sohn jetzt endlich einmal zu zeigen, wie man einen Haushalt richtig führt, zunächst damit begonnen, sämtliche Schränke einer ausgiebi gen Säuberungs- und Ausmistungsaktion zu unterziehen, war dann jedoch von den leidigen Essenszeiten überrascht und in ihrem Tun unterbrochen worden, so daß sich in allen Zimmern die ausgeräumten Gegenstände türmten, zwischen denen sie hochroten Kopfes hektisch-aufgeregt herumhantierte. Benno I dagegen hatte zum erstenmal in dreiundzwanzig Jahren den Samstagmorgen der Gartenpflege gewidmet und Benno II ebenfalls dazu abkommandiert, und beide lagen mit verdreckt beleidigten Gesichtern hinter den Rosensträuchern und zupften Unkraut aus der Erde. Eine Wolke von Verdrießlichkeit umgab sowohl Änne, die in den oberen Gemächern tätig war (Zeit, daß hier irgendwer mal etwas tut!), als auch Benno I und Benno II (nicht zu fassen, wie hier alles verkommt), und ich stand unschlüssig herum und fand weder für meine aufgekratzte Stimmung noch für das Bedürfnis, das Erlebte zu erzählen, einen einzigen Abnehmer. So zog ich mich dann schließlich um und begann die Küche aufzuräumen und fühlte mich wie jemand, der aus einem Rosengarten direkt in die Kühlhäuser des städtischen Schlachthofes gerät. Liebe Paula, ich denke, Lila wird Dir inzwischen von dem großen Erfolg und der regen Beteiligung an der Diskussion, die ich am Ende der Lesung eingeleitet habe, erzählt haben. Gerda Voss, die als letzte las, erzählte mir, daß sie es gar nicht gewohnt sei, daß so angeregt debattiert würde, meist würden die Leute auf ihre Frage, ob jemand etwas zu dem soeben Gehörten zu sagen hätte, verlegen hüsteln und sich dann rasch und so unauffällig wie möglich verkrümeln. Ich lachte und sagte, daß ich im Auslösen von Debatten jeglicher Art seit Jahren geübt sei, ja, daß dies sozusagen die einzige Fertigkeit ist, die ich wirklich beherr sche! Hinterher blieben die meisten noch da, und erst jetzt kam 41
eigentlich auch die Fotoausstellung ins Gespräch, und es gab weitere Diskussionen, bis weit nach Mitternacht. Als schließlich alle gegangen waren und ich die Ladentür abgeschlossen hatte, ging ich glücklich noch ein wenig zwischen den Bücherregalen herum und betrachtete noch einmal die Bilder und nahm aus Spaß an dem Lesetischchen Platz und schaute auf die leeren Stuhlreihen und stellte mir vor, sie seien besetzt und dieser Dr. Gerhus, der Leiter der Volks hochschule, würde noch einmal sagen: »Gnädige Frau, für Veranstaltungen dieser Art scheinen Sie besonders begabt zu sein!« Sei mir nicht böse, Pauline, daß ich das hier so ausführlich erwähne, aber ich werde nicht so oft gelobt, als daß ich es mir leisten könnte, über dieses Geschehen einfach so hinwegzuge hen. Am liebsten hätte ich Dr. Gerhus gebeten, die zwölf Worte auf Band zu sprechen, um sie jederzeit parat zu haben, wenn ich sie brauche. (Und das war bereits fünf Minuten nach meiner Rückkehr der Fall!) Die Meinen sind jedenfalls nicht der Ansicht, daß ich für irgend etwas begabt bin, es sei denn dazu, Schränke so zuzu stopfen, daß man nie mehr was findet (Änne), und den Garten so verwahrlosen zu lassen, daß man selbst mit der Axt nicht mehr durchkommt (Benno I). Benno II fragte, ob ich denn wenigstens was mitgebracht hätte. Er zeigte sich sehr ent täuscht, daß das einzige Mitbringsel in Gerdas Essay »Zickzackwege« und in meinen süßen Erinnerungen bestand. Die »Zickzackwege« würdigte bei uns übrigens niemand auch nur eines Blickes, und die süßen Erinnerungen behalte ich für mich. Hab Angst, daß ihnen was passiert. Auf Bennos beiläufig in meine Richtung geworfene Frage »Wie war’s?« antwortete ich ebenso beiläufig mit »Leer und langweilig!«. Ist besser so … Umarmung, Lisbeth 42
Mittwoch abend Liebe Paula, danke für Deinen Blitzbesuch! Ich war ein bißchen überrumpelt, so daß ich erst so richtig begriff, was geschehen war, als Du und Dein schöner Begleiter bereits wieder abgefahren wart und ich, an meinem Gartentör chen stehend, nur noch die Schlußlichter Eures Autos leuchten sah. Liebste Freundin, wenn Du wieder mal hier in der Gegend sein solltest und »ganz spontan« eine Stippvisite im örtlichen Gefängnis planst, dann kündige bitte Deinen Besuch vorher an, damit ich mich rechtzeitig in meine Avantgardehose werfen, die Cocktails mixen und meine Aufseherin geknebelt im Gästeklo einsperren kann. Undankbar, wie ich bin, weiß ich es nämlich nicht zu schätzen, daß mir Änne neben der Pflicht, meine Zeit zu verplanen, auch gern die Pflicht abnimmt, meine Gäste zu unterhalten, und mit den Erfolgen von Benno I und Benno II herumprahlt, derweil ich, blaß vor Wut, in der Küche stehe und den Imbiß richte. Freundlicherweise gab mir Änne dann später wenigstens den Inhalt Eurer interessanten Gespräche wieder. (Du hast übrigens einen »sehr guten Eindruck« hinterlassen!) Also, Dein schöner Begleiter war »Herr Schneider«, und Ihr habt die große Chagall-Ausstellung in der Kreisstadt besucht. Änne empfindet es als sehr positiv, daß Du, nachdem Du gesellschaftlich und finanziell in eine »Notlage« geraten warst (leider gehörst Du ja zu jener Sorte bedauernswerter Frauen, die, für Änne absolut unverständlich, ihren Mann nicht »halten« konnten), also, daß Du nach dieser Niederlage tapfer wieder aufgestanden bist, die Zähne zusammengebissen und eine kleine Buchhandlung eröffnet hast, wobei zu bedenken ist, daß Buchhändlerin ein sehr akzeptabler Frauenberuf ist! Er ist selbstverständlich nicht zu vergleichen mit dem Beruf der Bibliothekarin, aber für eine 43
vom Schicksal Gezeichnete wie Dich »durchaus akzeptabel«. Ganz bezaubernd fand ich übrigens, daß sie später die Auf gabe übernahm, Dir und Herrn Schneider Bennos Haus zu zeigen und sich während der Führung für die Nachlässigkeit ihrer Schwiegertochter zu entschuldigen, die Benno plus Haus leider nicht jene Pflege zukommen läßt, auf die beide eigent lich ein Anrecht hätten. Sie schien nicht ganz erfaßt zu haben, daß Herr Schneider nicht zu jener Sorte von »Kränzchen schwestern« gehört, die man mit einem Bericht über die Vorteile von Alufenstern fesseln kann und die bei der Nennung der Preise der Armaturen im Bad die gewünschten Rückschlüs se auf Bennos Erfolg im Beruf ziehen. »Mitten ins Herz« traf mich während der Hausbesichtigung übrigens jener Blick, den Du mir zuwarfst, als Änne die Tür zu Lils Zimmer öffnete, in dem sich ein alter Teddy neben einem Popplakat und diverse Soziologiewälzer neben alten Kinderbü chern langweilen. Und wie Änne sagte: »Ja, das war nun früher das Zimmer meiner Enkelin, das heute leider leer steht und nur noch als Rumpelkammer genutzt wird!« Und wie Du dann erst mit dem Teddy und dann mit mir einen Blick wechseltest und scheinbar gleichgültig fragtest: »Und warum steht es leer?« Meine liebe Paula, dies sei hier nur schnell und ein für alle mal vermerkt. Lils Zimmer steht nicht leer. Es macht vielleicht einen etwas vernachlässigten Eindruck, aber es ist Lils Zim mer, und es wird immer Lils Zimmer bleiben, damit sie bei ihren Besuchen das Gefühl hat, wirklich nach Hause zu kommen und nicht »bei irgendwelchen Leuten, die sie früher mal gekannt hat«, bloß zu Besuch zu sein! Nach der Hausbesichtigung habt Ihr dann noch im Stehen die Schinkenbrote verzehrt, die ich in aller Eile zurechtgebastelt hatte, und Dein schöner Begleiter hat sehr auffällig auf die Uhr gesehen, sichtlich von der Panik ergriffen, daß Änne ihn zwingen könnte, nun auch noch die Garage und die Kellerräu me zu bewundern oder zu warten, bis Benno I nach Hause 44
käme und sich somit die Gelegenheit ergäbe, einen Blick auf Bennos funkelnagelneuen Wagen zu werfen. Ich versuchte Euch noch zu einem Glas Wein auf der Terras se zu überreden, einfach weil die Terrasse und der Blick in den blühenden Garten das einzig wirklich Vorzeigbare an Bennos Haus sind und ich nicht wollte, daß eine zu unerträglicher Geschwätzigkeit neigende Schwiegermutter und ein Haus voller Betten und Schränke das einzige sind, an das sich Herr Schneider nach seinem Besuch bei uns erinnern kann. Aber Du tatest mir den Gefallen nicht … ich nehme an, wegen der Sache mit Lils Zimmer!? Als Ihr dann weg wart, war Änne äußerst zufrieden mit sich und der Welt (und mit Bennos Haus natürlich), denn es war ihr wieder einmal gelungen, alles anzubringen, was anzubringen einfach unerläßlich ist, sobald sich eines Fremden Fuß dem Gartentörchen nähert. Ich trug das Tablett mit dem Geschirr und den übriggebliebe nen Broten in die Küche zurück, und Änne kam mir nach, und plötzlich sagte sie: »Wer war eigentlich dieser Herr Schnei der?« Ja, wer war eigentlich dieser Herr Schneider??? Wäre Änne nicht besessen von dem Wahn, einem jeden, der da kommt, jenen Eindruck ins Gehirn hämmern zu müssen, den dieser Jemand sich von uns machen soll, dann wäre es viel leicht möglich, daß wir uns unsererseits einmal einen Eindruck von unseren Gästen verschafften. So ist die Erinnerung an Deinen Begleiter recht schemenhaft! Was mir spontan einfällt: Er war jung! Er war schön! Er hatte Locken! Er konnte nicht lächeln! Und es war ganz sicher nicht der von der Vernissage, der, der neben Dir saß, während Lila Luder aus »Weggedörn« las. Der hatte zwar ebenfalls Locken und etwas leicht Verkrampftes in 45
den Mundwinkeln, aber er war ganz sicher mindestens ebenso alt wie Du! (Entschuldige, mindestens ebenso alt wie wir, wollte ich natürlich sagen.) Nun, Änne war jedenfalls mit dem Nachmittag und der Art, »wie alles abgelaufen war«, äußerst zufrieden, was sie in so gute Laune versetzte, daß sie mir sogar kumpelhaft zuzwinker te und bemerkte: »Wie gut, daß wir gestern noch die Küche so richtig auf Vordermann gebracht und endlich mal die Fliesen hinter dem Herd abgewaschen haben, gerade, als ob wir es gewußt hätten!« Ich ersparte es mir, sie darüber aufzuklären, daß mir die gewienerte Küche und die gekämmten Teppichfransen im Wohnraum eher peinlich waren … (Ich bemerkte nämlich sehr wohl, daß Herr Schneider, als er beim Überschreiten der Teppiche besagte Fransen leicht in Unordnung brachte, sehr ironisch »oh« sagte, ehe er sich bückte, um sie wieder glatt zustreichen.) Änne begreift so was nicht, und wenn man ihr tausendmal erklärt, daß zwischen einem Typen wie beispiels weise Herrn Schneider und ihrer Bekannten, Frau MüllerWippersfürth, gewisse Unterschiede bestehen. (Frau MüllerWippersfürth ist die Dame, die Änne vor sechs Jahren anläß lich ihrer Gallenoperation im Krankenhaus kennengelernt hat. Ihre Freundschaft beschränkt sich vorwiegend darauf, daß sie sich gegenseitig von der Blaublütigkeit ihrer Vorfahren und den beruflichen und sonstigen Erfolgen ihrer Kinder und Kindeskinder vorprahlen. Frau Müller-Wipperfürths Großonkel war Kommerzienrat und mit einer von Kronenberg verheiratet … Ich meine, das solltest Du wissen!) Auf jeden Fall kann sich Änne kaum vorstellen, daß sich Herr Schneider auf der Rückfahrt keine Gedanken über Bennos Einkommen machte und daß ihm sogar die brillanten Schulno ten von Benno II scheißegal sind. Sie ist zutiefst davon überzeugt, daß Paula ihrerseits Herrn Schneider ausschließlich aus dem Grund zu einer Stippvisite bei Lisbeth überredet hat, 46
um ihm zu zeigen, welch feine Freunde sie trotz ihres gesell schaftlichen Absturzes noch immer hat. Ich meinerseits fand es übrigens sehr schade, daß ich ausge rechnet gestern die gesammelten Jeans der Familie gewaschen und zum Trocknen in den Garten gehängt hatte, so daß Herr Schneider gar nicht sehen konnte, wie schön unsere Rosen blühen. Hat Herr Schneider denn wenigstens bemerkt, daß die Gardi nen im Schlafzimmer ganz neu sind, und fiel ihm der maßgeschneiderte Anzug von Benno I auf, der glücklicherwei se gerade am Kleiderschrank hing? Oder habt Ihr Euch über diese Dinge auf der Rückfahrt gar nicht »ausgetauscht«? Menschenskind, Paula, ich hätte so gern am Küchentisch mit Euch eine Tasse Kaffee getrunken!!! Lisbeth PS: Ich möchte Dich übrigens herzlich bitten, etwaige Angebo te, an Vernissagen, Lesungen und dergleichen teilzunehmen, nicht auszupacken, wenn Änne mit stählernem Blick meine Reaktion beäugt. Ich hätte bestimmt irgendeine Möglichkeit gefunden, zu Eurem Literaturstraßenfest zu kommen, obwohl es dummerweise an genau dem Tag stattfindet, an dem Benno II zu seiner Klassenfahrt aufbricht, und ich Änne versprochen habe, ihn mit ihr zusammen zum Bus zu bringen, um WinkeWinke zu machen. Mir fiel, in die Enge getrieben, so spontan kein einziges Argument ein, das mich dazu berechtigte, meine Mutterpflichten eines derart billigen Vergnügens wegen zu vernachlässigen. Aber zu Eurer nächsten Veranstaltung komme ich bestimmt, und wenn es wieder einmal eine Ausstellung zu eröffnen gilt, komme ich sogar zu Fuß, wenn es sein muß. Soll ich Dir abschließend zu diesem Thema noch ein süßes Geheimnis verraten, das mir seit neuestem das Herz erwärmt 47
(und meine Überlebens- beziehungsweise Zukunftsaussichten spürbar verbessert)? Ich könnte doch, wenn ich genügend Erfahrung in Deinem Laden gesammelt habe, in einigen Jahren hier bei uns auch so einen Laden eröffnen. Er würde bestimmt ein Erfolg. Ich sehe mir die Gesichter der Frauen auf meinen täglichen Supermarktausflügen so an, und glaub mir, er fehlt ihnen!!!
15. Juli Liebe Paula, vielen Dank für Deinen Brief von letzter Woche. Es war interessant zu erfahren, daß Du den guten Eindruck, den Änne von Dir hatte, vollinhaltlich zurückgibst. Sie ist also eine nette, »ganz normale« Frau, die sich bemüh te, aus Eurem Aufenthalt in unserm Haus auf ihre Weise das Beste zu machen … und der man es nicht verwehren kann, daß sie »auch etwas braucht, auf das sie stolz sein kann«! Und natürlich kann das in ihrem Fall nur der Erfolg ihres Sohnes sein, da es ihr aus gesellschaftlichen Gründen versagt war, selbst Erfolg zu haben. Ich weiß sehr wohl, liebe Paula, daß Du mir mit diesen Sätzen diskret unterjubeln willst, daß ich Änne in Ruhe lassen und nicht geschickterweise dafür verantwortlich machen soll, daß ich meine eigene Selbstverwirklichung immer wieder hinauszögere, obwohl selbige peinlicherweise (ich meine, peinlicherweise für mich) gesellschaftspolitisch ja möglich geworden ist. Und wo, wenn nicht hinter dem Rücken meiner armen Schwiegermutter, soll ich mich mitsamt meiner Unfä higkeit schon verstecken? Dabei hätte ich, wie Du mir fein zu verstehen gibst, sehr wohl die Möglichkeit, alles, was in mir steckt, in Ruhe zu entfalten, denn wie Du dank Ännes freundli cher Führung durchs Haus feststellen konntest, hätte ich ja ein Zimmer für mich allein und könnte, wenn ich nur wollte, an Lils verkratztem, mit Micky-Maus-Bildchen beklebtem 48
Schreibtisch alles zu Papier bringen, was in mir steckt … aber ha … außer meinem kleinlichen Haß auf Änne steckt eben nichts in mir!!! Natürlich hat Dein durch jahrelanges Psychotraining geschul ter Geist haarscharf erfaßt, daß es meinem Unterbewußtsein inzwischen gelungen ist, die Wut auf Benno I, der er sich in geradezu perverser Weise und immer geschickter entzieht, auf Änne zu übertragen, und wenn ich Änne nicht zur Verfügung hätte, dann würde ich die Maiglöckchen im Garten oder die Farbe meiner Küchengardinen dafür verantwortlich machen, daß ich das bißchen Disziplin nicht aufbringe, das dazugehört, einen fünfhundertseitigen Roman (»Wie ich wurde, was ich nicht bin«) oder wenigstens einen Artikel über unsere Metzger zeitung zu schreiben (»Zu Unrecht verschmäht: Hirn«). Meine liebe Pauline, um mal ganz sachlich zu sein, meine Zeit wird kommen, aber sie ist eben noch nicht da, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil die Zeiträume, die zwischen den einzelnen Mahlzeiten liegen, einfach nicht groß genug sind, um etwas zu Papier zu bringen, das den Umfang meiner Einkaufsliste sprengt, und zudem in diesem Hause so viel Ablenkung herrscht, daß ich nicht einmal dazu komme, meine Kuchenrezepte zu sortieren. Aber schließlich soll die durchschnittliche Lebenserwartung von uns Frauen ja täglich steigen, so daß ich noch massenhaft Zeit habe. Was hältst Du übrigens von dem Titel: »Endlich über siebzig«? Es blieben mir immerhin etliche Jahre, meine Erkenntnisse zu Papier zu bringen, und ich bin sicher, daß ich im Greisenalter auch endlich die nötige Ruhe für mein Projekt finden werde, denn schließlich steigt die Lebenserwartung der Männer ja nicht im gleichen Maße. Auf diesen glücklichen Umstand baue ich das Vertrauen in meine Karriere!!! – Ein Gedanke, mit dem ich mich übrigens in bester Gesellschaft befinde … Ich las erst kürzlich von einer Mitbetroffenen, die mit achtzig 49
das goldene Sportabzeichen meisterte, und von einer anderen, die im selben Alter ihre Doktorarbeit über das Paarverhalten der Amphibien unter besonderer Berücksichtigung der Erwär mung der Erde bravourös abschloß. Und warum, darfst Du jetzt fragen, haben sie erst so spät mit ihrer Selbstentfaltung begonnen? Weil sie vorher nicht dazu kamen!!! Denn siehe, Schwesterchen von einem anderen Stern, meine Tassen und Teller sind eben noch nicht gespült, das letzte Dinner nicht gekocht und zumindest ein Kind noch nicht in die Welt entlassen (wenn es nicht überhaupt vorzieht, für immer bei mir zu bleiben, was auch möglich ist). Du stehst übrigens, dies sei hier abschließend zum ÄnneThema zu bemerken, mit Deiner Sympathie nicht allein da. Auch die beiden Bennos haben nicht das geringste an ihr auszusetzen. Ihr solltet einen Fan-Club gründen. Daß Herr Schneider auf den melodischen Vornamen »Mario« hört und Du ihn mir mit den Worten: »Das ist Mario, ein Freund von mir« vorgestellt haben willst, habe ich in der freudigen Panik, Euch plötzlich hinter dem Goldregen auftau chen zu sehen, nicht richtig mitbekommen. Dann war also der andere Lockenkönig, der von der Vernissage, auch »ein Freund von Dir«! (O Paula, die Welt muß Dir sperrangelweit offenste hen.) Aber weder der eine noch der andere haben es bisher geschafft, Dir »wirklich nah zu sein«? Wie meinst Du das eigentlich? Jedenfalls war es traurig zu erfahren, daß sie »alle« (wer denn noch???) nicht sensibilisiert genug sind, um auf Dein neu erarbeitetes Selbstbewußtsein in der richtigen Art und Weise einzugehen! Bravo, Schwesterchen, daß Du Dich mit Halbheiten nicht mehr abgibst und heute »genau hinhörst«. Frage: Was sagen sie Dir denn? Entschuldige bitte diese Ausrutscher ins Ironische (nix als Neid!), aber es würde mich wirklich interessieren, was Mann Frau heute so ins Öhrchen flüstert. Sind es noch dieselben 50
Worte? Bitte, kläre mich doch einmal auf. Ich könnte mich natürlich auch an Lil wenden, aber sie hat diesbezüglich die Position ihrer Ur-Urgroßmutter bezogen, die es auch bei Themen dieser Art vorzog, nichts gehört zu haben, und bei weiterem In-sieDringen so tat, als wisse sie nicht, daß es Wesen mit der Bezeichnung Mann überhaupt gibt. Ganz zu schweigen von Gesprächen über das Thema, was diese Wesen sagen oder tun … Zu welcher Sorte »neuer Mann« gehört eigentlich Mario? Abgesehen davon, daß es ihm schwerzufallen schien zu lächeln, fand ich eigentlich nichts an ihm auszusetzen. Und gemessen an Werner entdeckte ich doch eine Menge Vorzüge: Er ist jung! Er hat Locken! Er liebt Chagall! Und er erträgt (ich nehme es jedenfalls an) Deine Freundin Lila Luder. Also ein Macho ist er nicht. Und ein Softie scheint er auch nicht zu sein, immerhin nahm er »das Steuer in die Hand«, als Ihr abgefahren seid … das sind so Kleinigkeiten, die einem früher gar nicht aufgefallen sind. Abends Änne hat sich gerade verabschiedet, und Benno II hat eines seiner geheimnisvollen Dates mit Jack the Ripper, eine gespenstische Vereinigung, von der ich ausgeschlossen bin, und so will ich noch ein paar Worte anfügen. Du fragtest während Deines Besuches, wie es Benno I geht. Bei Gott, das interessiert mich auch!!! Tatsache ist, daß ich ihn eigentlich kaum noch zu Gesicht bekomme, weil man ihn neuerdings dauernd auf Tagungen schickt. Zu wessen Segen er mit wem was dort treibt, bleibt meiner Phantasie überlassen, und die Blüten, die meine Phantasie diesbezüglich treibt, sind tatsäch lich einer der Gründe, weshalb ich mich so an Änne festkralle. Will sagen, der Unmut, der eigentlich Benno I zugedacht ist 51
und den ich nicht loswerde, weil er sich zu einem zähen Klumpen in der Magengegend festgepappt hat, ergießt sich über Änne. Und dann habe ich immer häufiger Tage, an denen ich mich einfach nicht von der zermürbenden Vorstellung lösen kann, was eigentlich wäre, wenn ich dreimal im Monat auf Reisen ginge und Benno in Gesellschaft meiner Mutter und eines Sortiments erblindeter Nirostatöpfe zurückließe und zu allem Überfluß auch noch verlangte, daß er sich des immensen Glücks, das er einzig und allein mir verdankt, bewußt sei und sich entsprechend dankbar erweise. Wobei, dies nebenbei, zu bemerken ist, daß meine Mutter immer noch mehr hergibt als Änne! Sie sagte gestern unvermutet, daß es doch nett wäre, wenn wir einen kleinen Flitzer hätten, der es uns(!) ermöglichte, hin und wieder Ausflüge zu machen. Nur sie und ich – ganz allein. Ich fürchte, sie schenkt mir den kleinen Flitzer zum Geburts tag, dann gute Nacht, Marie. Mit vor Schreck geweiteten Augen, Lisbeth
1. August Liebe Paula, Änne ist zu einer vierzehntägigen Busreise ins Loiretal aufgebrochen, und Benno II war übers Wochenende mit Stenni und Stennis Eltern zelten – und so begab es sich, daß Benno I und ich zu Bennos Geburtstag unvermutet vor einer großen Aufgabe standen: Wir waren nur zu zweit und für das uns auferlegte innige Festtagsgefühl ganz allein verantwortlich, alles in allem eine ziemliche Strapaze, wenn Du mich fragst. Schließlich sind wir es seit mehr als zwanzig Jahren gewohnt, stets ablenkende Mitspieler in reichlicher Auswahl zur Verfü gung zu haben, und so war es nicht verwunderlich, daß wir vor dem Problem, die so unvermutet über uns hereingebrochene Zweisamkeit nicht nur irgendwie hinter uns zu bringen, 52
sondern sie darüber hinaus auch noch genießen zu müssen, ziemlich erschraken. Daß Benno am Freitag Geburstag hatte, fiel mir selbst erst am Donnerstagmorgen auf, als ich Ännes Fußpflegerin Frau Luckmann anrief, um irgendeinen Termin zu verschieben. Ich hatte, was selten vorkommt, einen Kalender in der Hand, um den neuen Termin gleich eintragen zu können, und da fiel es mir wie Schuppen von den Augen … Ich kratzte alles Geld zusammen, das ich gerade in der Börse hatte, und hetzte in die Stadt, um zwei Tennishemden von der etwas feineren Sorte zu kaufen, und besorgte von dem Rest ein paar Sächelchen aus der Kaufhof-Delikatessenabteilung, wobei ich mir wie stets auf verschämte Weise blöd vorkam, weil ich das dafür benötigte Geld vom Haushaltsgeld abzweigen mußte (und es mir erfahrungsgemäß deshalb bereits in der nächsten Woche fehlen wird). Aber schließlich konnte ich Benno nicht gut um einen Zuschuß bitten, wie ich dies vor den Geburtsta gen der anderen Familienmitglieder zu tun pflegte. Es wäre einfach, nun sagen wir mal, ein wenig direkt gewesen … Benno seinerseits würde wahrscheinlich mit Wonne auf jegliches Geschenk verzichten, wenn er das dafür verwendete Geld sparen dürfte, aber zweimal im Jahr zwingen uns Reste von Konvention und Anstand in die Knie: zu Weihnachten und zum Geburtstag. Ich muß zugeben, daß Benno im Laufe der Zeit eine recht elegante Lösung für das Problem gefunden hat. Mit einem gemurmelten: »Kauf dir was Nettes!« überreicht er mir seinerseits jeweils zu Weihnachten und zum Geburtstag einen größeren Geldschein, den ich mit einem flüchtig auf seine Wange gehauchten Kuß entgegennehme, um ihn dann, so diskret wie möglich, in meiner Hosentasche verschwinden zu lassen, wobei ich mir regelmäßig wie »unsere gute Frau Schulz« vorkomme, »die das ganze Jahr über so rührend für uns sorgt!«. Und genau wie unsere gute Frau Schulz bringe ich 53
es nicht fertig, das Geld lange aufzuheben, sondern gebe es für Geschenke oder sonstwas aus und stehe dann, wenn Bennos Geburtstag naht, mit leeren Händen da. Am Freitagmorgen überreichte ich Benno dann sein Ge schenk und küßte ihn und wünschte ihm, verbunden mit der Hoffnung, daß alle seine geheimen Wünsche in Erfüllung gehen mögen, alles Gute, und ich konnte seinem betretenen Gesicht ansehen, daß bereits einer seiner geheimen Wünsche, nämlich der, daß ich seinen Geburtstag vergessen hätte und er wie immer nach Dienstschluß im Club sein Bierchen trinken könnte, nicht in Erfüllung gegangen war. Statt dessen mußte er nun am Morgen Freude heucheln und am Abend gleich nach Hause spurten und am festlich gedeck ten Terrassentisch Sekt trinken und lächeln und so tun, als ob dies die einzig wahre Form sei, Geburtstag zu feiern. Er sah bereits morgens um acht einen unsäglich langen Abend auf sich zukommen, und da wir einen der ganz seltenen wirklich warmen Abende zu erwarten hatten, würde es nicht einmal möglich sein, sich vor den Fernseher zu retten. Er hauchte mir, schon sichtlich ermattet, einen Kuß auf die Stirn und eilte mit dem Versprechen, heut abend so früh wie möglich nach Hause zu kommen, von dannen. Gegen fünf rief er an und sagte, daß es doch etwas später werde, es sei leider unvermeidlich gewesen, die gesamte Belegschaft zu einem Umtrunk einzuladen, da seine Sekretärin Fräulein Spitzhagen »ganz spontan, einfach so, einfach, weil sie so nett ist«, einen kleinen Imbiß vorbereitet habe. Ich stellte den kleinen Imbiß, den ich vorbereitet hatte, in den Kühl schrank zurück und dachte, daß Ehefrauen, die in Konkurrenz mit der Firma und den dazugehörigen Büroschönheiten treten wollen, einfach dumm sind. Dann streifte ich die hochhackigen Schuhe, die ich mir bereits angequält hatte, wieder von den Füßen, legte mich auf das Sofa und überlegte, mit welchen Themenkreisen ich den illustren Gast, den ich für heute abend 54
zu Tisch gebeten hatte, wohl unterhalten könnte. Aber es fielen mir immer bloß die Kinder ein, Änne, das Haus, die Kinder, Änne, das Wirtschaftsgeld und schließlich der defekte Öltank, dessen Erneuerung eine Stange Geld kosten wird – und mir schwante bereits, daß es mir wohl kaum gelingen würde, Benno mit einem dieser Themen lange zu fesseln. Er kam gegen halb neun, lächelte, duschte, zog sich um, und dann setzten wir uns an den herausgeputzten Terrassentisch, und Benno lächelte erneut und sagte: »Hm, was haben wir denn da Feines?« Und ich zeigte mit dem Finger auf jedes einzelne Schüsselchen und pries den Inhalt der Reihe nach an: »Waldorf, Krabben, Aal in Aspik«, und Benno sagte: »Hm, das ist ja ein Götterfraß!« und langte tapfer zu, was ihm sichtlich schwerzufallen schien, da er bereits bis zum Stehkra gen mit dem Götterfraß vollgestopft war, den Fräulein Spitzhagen für ihn vorbereitet hatte. Aber krisenerprobt nahm er nichtsdestoweniger von allem ein Häppchen und polkte sehr diskret die Gewitterfliegen aus seinem Sektglas. Kaum war der letzte Bissen geschluckt, deckte ich in fieberhafter Eile den Tisch ab, damit nicht noch mehr Fliegen ihr Leben in der Mayonnaise lassen mußten, und Benno lüftete mit zwei Fingern den Hemdkragen und sagte: »Puh, schwül heute, ich wette, wir kriegen gleich noch eins aufs Dach.« »Ich glaub auch!« sagte ich. »Aber trotzdem prima, daß ausgerechnet zu meinem Geburts tag so ein Bombenwetter ist«, sagte Benno, »passiert ja eigentlich ziemlich selten, daß man abends mal draußen sitzen kann.« »Wirklich wahr«, sagte ich und dachte, daß das Draußensit zenkönnen im Club weit weniger wetterabhängig ist als das Draußensitzenkönnen zu Hause. Wir starrten sinnend auf den Goldfischteich, und als mir unser Schweigen peinlich zu werden begann, stellte ich jene Frage, die uns erfahrungsgemäß rasch über die Klippe des 55
»Sich-einfach-nichts-mehr-zu-sagen-Habens« hinweghilft. »Wie war’s denn heute im Büro?« fragte ich, woraufhin Benno zu einer längeren Schilderung der Mißstände in der Sowieso-Abteilung anhob, die alle der dortige Leiter Herr xxx verschuldet hat, der zwar, zugegebenermaßen, fachlich ziemlich qualifiziert ist, auf dem Sektor Menschenführung jedoch gänzlich versagt. Und ich hörte so zu und dachte, daß ich gleich morgen etwas gegen die Blattläuse auf den Rosen knospen unternehmen müsse. Dann gähnte ich mehrmals mit geschlossenem Mund, was Benno jedoch wegen der romanti schen Dämmerung, die uns umgab, gottlob nicht sehen konnte, und so plauderten wir uns tapfer bis zu den Spätnachrichten durch. Wir hörten den Glockenschlag von der Jacobikirche und sprangen wie erlöst von unseren Stühlen und trugen unsere Sektgläser in den herrlich kühlen, absolut fliegenfreien Salon, lehnten uns in die gemütlichen Polster und warfen den Fernse her an. Entspannt, wie nach einer mit Anstand hinter sich gebrachten Strapaze, durften wir nun die Nachrichten anguk ken, und hinterher ließen wir den Apparat einfach so weiterlaufen, glücklich, daß die Geburtstagsparty beendet und alles wieder wie immer war. »Auch mal ganz schön, die Bude für sich allein zu haben, was?« fragte Benno, als wir später die Gartenstühle zusam menstellten. »Doch, ja!« sagte ich. Am Samstag hatten wir es dagegen dann wirklich nett! Benno rumorte im Garten herum, und ich saß am Terrassen tisch und strippte die ersten reifen Johannisbeeren ab, und nachher lagen wir Seite an Seite auf den Liegen und sonnten uns. Doch dann klingelte das Telefon, und Helmi aus dem Verein der Waldsprinter rief an und sagte, er habe da ein neues Computerprogramm (ich glaube, Paintbrush), mit dem er einfach nicht zurechtkomme, und ob Benno nicht eben mal rüberkommen und helfen könne. Benno ging eben mal rüber, 56
und als er zurückkam, war es Mitternacht. Er, Helmi und Paintbrush hatten einen erlebnisreichen Abend miteinander gehabt, und Helmis Frau Grete hat (wahrscheinlich) ebenfalls einen erlebnisreichen Abend gehabt, weil sie nämlich vor drei Monaten ausgezogen ist – eine Tatsache, die übrigens weder Benno noch Helmi selbst weiter erwähnenswert finden –, und nur Lisbeth wußte wie stets nichts Rechtes mit sich anzufan gen. In Ermanglung anderer Wesen, die bereit gewesen wären, meine Einsamkeit zu teilen, und nach mehreren vergeblichen Versuchen, ein paar nette Leute anzurufen, die jedoch alle ausgegangen waren oder im Begriff standen, es zu tun (auch bei meiner Freundin Paula verhallte der Ruf des Telefons in einer gänzlich leeren Wohnung!), näherte ich mich in letzter Verzweiflung sogar Jack the Ripper, da ich in irgendeinem Käseblättchen erst kürzlich wieder gelesen hatte, daß ein gemeinsamer Freundeskreis zur Festigung der ehelichen Bande einfach unerläßlich sei. Ich muß gestehen, daß ich mich Jack the Ripper eher zögernd näherte, denn wenn ich hin und wieder auch mal dabeisein durfte, wenn er, Benno I und Benno II eine ihrer mysteriösen Zusammenkünfte abhielten, so waren wir doch noch nie miteinander allein, eine Tatsache, die mir, wie ich zugeben muß, ein bißchen Herzklopfen machte. Ich schaltete mit spitzem Finger Jackys Mechanismus ein, und er antwortete zunächst mit einem nicht gerade vertrauenerwek kenden Brummen, doch dann rauschten plötzlich irgendwelche völlig unverständliche Sachen über den Bildschirm, wobei sich sein Brummen verstärkte, und plötzlich erstrahlte der Schirm in fleckenlosem wunderschönen Himmelblau. Ich begann mich zu entspannen und tippte zunächst das einzige Wort in sein Herz, das ich in seiner Sprache beherrsche: cd word4! Und tatsäch lich reagierte er mit erfreulicher Spontaneität auf diese Kontaktsuche, wobei er mir jedoch zunächst einmal zu verstehen gab, daß ich entweder meinen Text bearbeiten(?) oder aber jetzt sofort zum Hauptbefehlsmenü unterbrechen 57
sollte. (Will sagen, er scheuchte mich in die Küche zurück – diesbezüglich sind sie doch alle gleich!!!) Ich gehorchte jedoch nicht, sondern tippte zunächst einmal die große Einkaufsliste für nächste Woche ein, womit ich ihn hinzuhalten hoffte, und fügte, übermütig geworden, noch einen Liebesschwur an Benno I hinzu, um Jacky zu zeigen, »daß es da noch einen anderen gibt«, womit ich mich interessant zu machen hoffte. Aber leider verstand er keinen Spaß, sondern bestand darauf, daß ich was auch immer »bearbeiten« oder aber wegen der Sache mit dem Menü »unterbrechen« sollte, und dann geschah irgend etwas Dummes, und alles war weg, und ich konnte weder den Liebesschwur noch die Einkaufsliste wiederfinden! Und Jack the Ripper teilte mir statt dessen in nervenzermürbendem Stumpfsinn mit: »Falscher Dateiname.« Ich versuchte es neu und tippte Ben no, und Jack the Ripper antwortete: »Falscher Dateiname, falscher Befehl, bitte wählen Sie!« Leider enthielt er sich der Aussage, was, außer Benno, ich denn wählen sollte (es hätte mich wirklich interessiert!!!), und so gab ich es schließlich auf, wobei ich dachte, daß die Unterhaltung mit Jack the Ripper nicht im mindesten inhalts reicher ist als die Unterhaltung mit Benno I. Ich schaltete höflich auf »Quitt« (für Benno) und dann auf »by« (für Jacky) und deckte ihn wieder zu, wobei ich ihm zuflüsterte, daß alles nicht ernst gemeint sei und ich nur gescherzt hätte. Dann entfernte ich mich so unauffällig wie möglich, in der Hoffnung, daß er weder Benno I noch Benno II etwas von unserem heimlichen Rendezvous erzählen wird … Bleibt die Frage, was er nun mit der Einkaufsliste und dem Liebesschwur macht, die beide so plötzlich verschwunden wa ren. Ich habe gehört, daß es eine besondere Sorte von Viren ge ben soll, die Computerprogramme auffressen. Glaubst Du, daß sie auch aus dem Ding ausbrechen und sich über irgend etwas anderes hermachen können? Solange sie sich nur auf Paint 58
brush und meine Liebesschwüre beschränken, soll’s mir egal sein. Ziemlich beunruhigt, Deine Lisbeth
10. August Liebe Paula, vielen Dank für Deinen fröhlichen mitternächtlichen Anruf!!! Ihr müßt ja mächtig in Fahrt gewesen sein – neidischer Gedankenstrich –, ja, und danke für die Grüße von Dr. Ge rhus… Könntet Ihr die Vernissage in der Volkshochschule nicht um drei Tage verschieben? Bei mir ist nämlich zur Zeit der Teufel los, weil beide Bennos verreisen wollen und auf meine Mithilfe bei den Reisevorbereitungen angewiesen sind. Zudem wird zur Zeit der gesamte Heckenweg verkabelt, und wenn ich unser Haustor nicht wie ein Höllenhund bewache, dann läßt Änne, in beider Bennos Auftrag, das gesamte Haus durchbohren, damit die Sippe künftig bereits ab sechs Uhr morgens vor der Glotze liegen und Werbespots in hundertdreißig Ausführungen konsumieren kann. Die Frage, ob Ihr Eure Veranstaltung nicht vertagen könntet, ist natürlich nicht ernst gemeint! An sich wollte ich sagen: Verdammt schade, daß Ihr sie nicht ein bißchen später geplant habt, denn dann hätte Lisbeth nicht nur den größten Teil der Sippe vom Hals und könnte selbstverständlich fliegenden Fußes kommen, sondern darüber hinaus auch noch einige Tage bleiben … So bleibt mir nichts, als Euch gutes Gelingen zu wünschen, ja, und viele Grüße an Dr. Gerhus … Drei Tage später Gestern sind meine »beiden Jungs« auf große Fahrt gegangen, genauer, sie brachen bepackt mit Zelt, Spirituskocher und 59
Schlafsäcken in einen Abenteuerurlaub Richtung Süden auf, à la: »frei und ungebunden reisen und einfach anhalten, wo es einem gefällt«, eine Idee, der ich mich aus unverständlichen Gründen nicht anschließen mochte. Wahrscheinlich bin ich (Benno spricht) durch das Arbeiten an meinem vollautomati schen Herd mit Mikroeinstellung dermaßen verpimpelt, daß ich der Aussicht, unser Essen in gebückter Stellung im feuchten Grase kniend zubereiten zu dürfen, einfach nichts abgewinnen konnte. Ebensowenig wie der Gedanke an unser »Bett im Kornfeld«, in welchem dann Lisbeth zwischen zwei Männern pennt, eine »Dreiecksgeschichte«, die jeglicher Erotik entbehrt, wenn Du mich fragst. Als ich meinen Männern mitteilte, daß ich beschlossen hätte, meine Ferien in diesem Jahr einmal ganz allein zu Hause zu verbringen, fügten sie sich nach kurzem Erschrecken beleidi gend schnell in die Situation. Benno II schien es vollkommen gleichgültig zu sein, ob ich mitkomme oder nicht, für ihn war das Mitführen seiner neuen Taucherausrüstung von entschieden größerer Wichtigkeit!!! Benno I äußerte sich sogar dahinge hend, daß mir ein paar Wochen »nur für mich« sicher gut täten. (Vorausgesetzt, daß als Ort des »Nur-für-sich-Seins« das eigene Zuhause und nicht eine Berghütte im Zentralmassiv oder eine Suite im »Palace« in Nizza gewählt wird!) Änne nahm die Nachricht, daß ich gewillt war, meine beiden Männer allein auf Reisen zu schicken, zunächst einmal schweigend zur Kenntnis, sichtlich zwischen den damit verbundenen Vor- und Nachteilen hin- und hergerissen. Einerseits war zu befürchten, daß sich meine Entscheidung nachteilig auf die Frische der Urlaubshemden beider Bennos und die Stabilität unserer Ehe auswirken würde (Änne hätte ihren Mann nicht mal allein zum Briefkasten gehen lassen) – andererseits war die Aussicht, Lisbeths Schaffenskraft einmal ungeteilt für sich in Anspruch nehmen zu können, von nicht geringem Reiz. Sie überlegte sich die Sache eine Nacht lang 60
und schlug sich dann auf meine Seite, wobei sie auch gleich Vorschläge parat hatte, wie man die Wochen sinnvoll hinter sich bringen könnte. »Es wäre doch mal zu überlegen«, meinte sie, »daß man die Zeit, in der du nicht groß zu kochen brauchst, nutzt, um endlich mal Lils Zimmer auf Vordermann zu bringen. Man könnte es entrümpeln und streichen und ein kleines Gastzimmerchen einrichten.« Und nun rate, wer sich als erster in dem kleinen Gastzimmer chen einnisten wird …? Exakt! Es ist Änne nämlich schon lange zuviel, immer und immer bei Anbruch der Dämmerung in ihre Wohnung gehen zu müssen, gerade jetzt, wo wir die schönen langen Abende haben, die man zufrieden in unserem schönen blühenden Garten verbringen könnte, und wo doch jenseits unserer Weißdornhecke abends »immer so viel passiert«. Bei ihren Worten sah ich die Meuchelmörder förmlich vor mir, wie sie sich an den Sommerabenden jenseits der Hecke zusammendrängen und darauf warten, daß Änne, von ihrer verantwortungslosen Schwiegertochter getrieben, durch das Törchen hinaus auf die Straße tritt, und sie sich dann auf sie stürzen, um ihr die Handtasche (oder Kostbareres!) zu rauben. »Du brauchtest auch gar keine neuen Möbel für das Gast zimmerchen zu kaufen«, legte sie ihre Fährte aus, »ich würde gern meinen kleinen Biedermeiersekretär und das Ruhesofa spendieren und ein paar Kleinigkeiten, damit es auch richtig nett wird!« Ich wartete ab, bis beide Bennos sich verabschiedet hatten, und teilte ihr dann mit, daß ich beschlossen hätte, die kostbare Zeit des »Nicht-groß-kochen-Müssens« zu nutzen, um an einem Roman zu arbeiten – und zwar in Lils Zimmer, in dem alles genauso bleibe, wie es ist. Du hättest ihre Augen sehen müssen, in denen deutlich die Ahnung vom kommenden Niedergang sämtlicher kulturellen 61
Werte flackerte. Sie erwiderte nichts, sondern ging bereits zwei Stunden eher als gewöhnlich nach Hause, wahrscheinlich, um ihrem Bie dermeiersekretär mitzuteilen, daß ihr kleines Komplott leider an Lisbeths ewigem Argwohn gescheitert sei – und dann gemeinsam mit ihm ein bißchen zu weinen. Am nächsten Morgen rief sie an, faßte sich sehr kurz und teilte mir mit, daß sie sich entschlossen habe, mit Frau MüllerWippersfürth an die Ostsee zu fahren, wo Frau MüllerWippersfürth ein kleines Ferienhaus besitze, wobei sie durch blicken ließ, daß sie selbst, strenggenommen, ja auch ein kleines Ferienhaus besitzen könnte … »Von allen verlassen« stand ich wenig später unschlüssig in der Tür zu Lils ehemaligem Reich, das heute eher eine Art Gedenkstätte ist, und betrachtete nachdenklich die Galerie verstaubter Plüschtiere auf dem Regal und die nicht minder verstaubten Plakate an der Wand. Ich bückte mich, um ein Buch aufzuheben, das hinuntergefallen war, und als ich es aufschlug, da waren es »Die wilden Zwillinge auf dem Bauernhof«. Widmung: »Meiner lieben Lil zum zehnten Geburtstag von ihrer Omi!« Ich pustete den Staub von dem verblaßten Einband, der die wilden Zwillinge beim Kampf mit einer Kuh zeigte, und stellte das Buch wehen Herzens neben »Sorokins Contemporary sociological theories«. Dann strich ich die Tagesdecke auf dem Bett glatt und ging leise hinaus. Am Abend rief Lil an und sagte, daß sie für zwei Wochen nach Holland fahren und auf dem Weg dorthin »kurz« vorbei kommen wolle, um »guten Tag zu sagen« und ihre Urlaubsklamotten zu waschen. Sie würde jedoch »höchstens« eine Nacht bleiben, fügte sie hastig hinzu. Ich teilte Lil mit, daß Änne vorgeschlagen habe, ihr Zimmer zu entmisten und sich mit Biedermeiersekretär und Ruhesofa selbst dort einzuquartie ren, und Lil schrie auf, als ob sie ihre Klamotten bereits auf 62
dem Scheiterhaufen sähe, und beschwor mich, bloß nichts anzufassen, wenn schon, dann wolle sie ihre Besitztümer selbst sichten und auf den Speicher bringen. Inzwischen war ich bereits voller Zweifel ob der Richtigkeit meines Tuns und kam mir wie eine Rabenmutter vor, die ihr eben flügge gewordenes Kind aus dem Nest stößt, um sich selbst dort auszubreiten, und als Lil dann ankam, hatte ich ihr Zimmer schön aufgeräumt und gelüftet und ihr Schokolade auf den Nachttisch gelegt! Dann beschwor ich sie, das Ganze um Himmels willen nicht so ernst zu nehmen, schließlich könne sie ihre Sachen doch immer noch sichten, nach Weihnachten oder so … Im Grunde genommen war mir Lils Zimmer mitsamt seiner Einrichtung vollkommen gleichgültig. Ich war bloß von der Panik ergriffen, daß es (kleiner Scherz des Schicksals) plötz lich Änne sein könnte, die »ein Zimmer für sich allein hat«!!! Ich teilte Lil meine Gedanken mit, und sie lachte und sagte, daß die Kinderzimmervertreibung auch in anderen Elternhäu sern tobe. »Ich kann jedoch verstehen, daß man eine Bude, in der ›das Kind‹ noch so ein-, zweimal im Jahr schläft, nicht gut die ganze übrige Zeit leerstehen lassen kann. Auch ist kaum anzunehmen«, fügte sie hinzu, »daß sich der Mittzwanziger, der sich dazu herabläßt, alle Jubeljahre einmal in seinem ehemaligen Kinderzimmer zu nächtigen, vor dem Einschlafen in seine alten ›Fünf-Freunde-Bücher‹ vertieft, und man kann eigentlich von keiner Mutter erwarten, dieselben aus reiner Nostalgie ein Leben lang abzustauben!« »Doch, das kann man«, hörte ich mich zu meiner Überra schung ausrufen. Ich hatte inzwischen irgendwie an Kraft eingebüßt, so daß ich Lil förmlich anflehte, ihre Sachen heute noch nicht zu sortieren und wegzupacken, sondern damit zu warten, bis sie einmal mehr Zeit dazu haben werde, nach der Promotion oder so … Lil holte einige Kartons aus dem Keller und begann, ohne mit 63
der Wimper zu zucken, das erste Regal zu leeren. »Hab bemerkt«, sagte sie, »daß die Mütter, die die ehemali gen Kinderzimmer wie Goethes Schreibstube hegen und ›alles so lassen, wie es einmal war‹, exakt dieselben Mütter sind, die mit stets parater Traurigkeit in der Stimme fragen, wann denn Evchen oder Udo wieder einmal heimkäme, schließlich habe sie erst gestern das Bett wieder mal frisch überzogen, obwohl es ja eigentlich gar nicht benutzt, sondern … (schluchz) … bloß ganz eingestaubt war. Und dann haben Udo und Evchen die peinliche Pflicht, die mit soviel Liebe gepflegte Gedenk stätte auch regelmäßig aufzusuchen!« Wir lachten beide, und dann begannen wir damit, Lils ver schiedene Kindheitsphasen in Kartons zu versenken, die »Lolli-auf-dem-Ponyhof-Bücher« zuunterst und die Soziolo gieschwarten obenauf, und rollten die Plakate auf und schleppten alles auf den Speicher, und Lil sah mich an und sagte: »Im Grunde hätten wir das schon vor Jahren machen können, damit du endlich mal ein Zimmer für dich hast, in dem du zum Beispiel in Ruhe bügeln und ruhig mal was rumliegen lassen kannst!« Und ich dachte, daß wir alle uns doch selbst ganz anders sehen, als unsere Umwelt es tut, und wie gespenstisch dies im Grunde doch ist … Zu guter Letzt nahmen wir die Regale von den Wänden und schraubten Lils alten Schülerschreibtisch auseinander, und Lil fragte, ob mich die selbstgebastelte, mit Oblaten beklebte Lampe in der Zimmermitte sehr störe, sonst würde sie den Schirm abnehmen. »Laß sie hängen«, sagte ich schnell. Am Abend traf sich Lil mit einer ehemaligen Schulfreundin in der Stadt, und ich strich so durch das Haus und blieb mehrmals in der geöffneten Tür zu Lils Zimmer stehen. Es war nun leer und kühl, und nur der vergessene Teddy auf der Fensterbank und die weißen Flecken an den Wänden erinnerten noch an seine frühere Bestimmung. Ich warf einen raschen 64
Blick in die so wohltuend chaotische Bude von Benno II, und zum erstenmal tat mir der Anblick von Herzen wohl, und ich nahm mir vor, ihn mir so lange wie möglich zu erhalten. In dieser Nacht schlief Lil zum erstenmal als Gast auf unse rem Gästesofa, so wie alle anderen Gäste auch. Als sie dann am nächsten Morgen abgefahren war, holte ich den Eimer mit der weißen Farbe aus dem Keller und begann, das Zimmer zu streichen, und nachdem ich etwa zwei Stunden so vor mich hin gearbeitet hatte, begann ich mich wohler zu fühlen und sogar ein bißchen zu singen. Ich putzte das Fenster und riß mit einer gewissen Genugtuung das ewig schief hängende Bambusrollo herunter, eine Tätigkeit, nach der es mich bereits seit Jahren dürstete. Dann legte ich mich zur Entspannung eine volle Stunde in die Wanne. Irgendwie fühlte ich mich wie zerschlagen, und ich wette, daß mich die gesamte Aktion weit mehr Kraft gekostet hat als Lil. Am nächsten Morgen kam Änne noch einmal vorbei, um sich zu verabschie den. Sie schnüffelte die frische Farbe und stieg, dem Geruch folgend, in die erste Etage hinauf, und dann stand sie in Lils Zimmer und sah, »was ich getan hatte«! Als ihr dämmerte, daß ich es ganz allein und ohne ihre Unter stützung getan hatte, was den Schluß zuließ, daß es nur für mich und niemanden sonst geschehen war, wechselte sie augenblicklich das Lager. Bei einer letzten Tasse Kaffee schilderte sie mir feuchten Auges das Zimmerchen, welches ihr Bennolein einst in ihrem Hause bewohnt hat, »und zwar lange über die Studienzeit hinaus«! Einerlei, was immer er auch tat und wo in der Welt er sich auch herumtrieb, zu Hause wartete doch immer sein liebes, altes Zimmerchen auf ihn, und der Gedanke daran »hat ihm gutgetan!« Ich konnte es nicht lassen, mir den lange erwachsenen Benno vorzustellen, wie er, etwa von einer USA-Reise zurückkom mend, mit seiner BMW zu Hause vorröhrt und wenig später den Backenbart in seinen lieben, alten Micky-Maus-Bezug 65
schmiegt, umgeben von seinen lieben, alten Laubsägearbeiten und fünf vollständigen Kickerjahrgängen. Und wie Änne dann noch mal auf Zehenspitzen hereinkommt, um nachzusehen, ob er auch schön schläft und gut zugedeckt ist. Sind es Erlebnisse dieser Art, die ihn heute in so merkwürdig kindlicher Freude Bällen jeglicher Größe nachjagen lassen? Sehr nachdenklich, Deine Lisbeth PS: Der plattgeliebte Teddy, mit dem Du anläßlich Deiner Hausbesichtigung einen so ironischen Blick wechseltest, sitzt übrigens nach wie vor auf der Fensterbank. Ich war es, die sich nicht von ihm trennen konnte. Er heißt Brummi … PS 2: Habe mir in Ermanglung anderer greifbarer Möglichkei ten zunächst einmal die beiden Tischböcke und die große Resopalplatte aus der Garage geholt und in Lils Zimmer aufgestellt. Zum Zusammenlegen der Bügelwäsche ist die Konstruktion ganz hervorragend geeignet, obwohl das Ganze natürlich nur als Übergang gedacht ist. Ich bin wirklich fest entschlossen, mir eine eigene kleine Schreibbude einzurichten, bloß fehlt mir wie üblich das nötige Kleingeld dafür. Ich werde demnächst bei Benno einen entsprechenden Antrag stellen, muß aber leider erst »gut Wetter« abwarten. Im Moment ist er überhaupt nicht ansprechbar, weil er seinerseits mit einem neuen Vorgesetzten zu kämpfen hat, der nicht ansprechbar ist. Aber ich habe Chancen, sobald sich die Laune des neuen Vorgesetzten bessert. Ich bete täglich für sein Wohlergehen … PS 3: Das »Herzflimmern«, welches Du beim Übertragen der Grüße von Dr. Gerhus durch die Leitung hindurch zu erkennen glaubtest, hat sich inzwischen verflüchtigt. Ich habe es in hundert Litern weißer Farbe ertränkt. Gegen Herzflimmern ist körperliche Anstrengung die beste Therapie!
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21. August Liebe Paula, bitte halte meine Hand und kühle mir die Stirn mit Lavendel wasser und sag mir, daß ich träume und nicht wache … Zusammen mit Deiner toll aufgemachten Einladungskarte anläßlich der Eröffnung Deines Zweitladens (Warum hast Du dieses grandiose Ereignis so geheimgehalten? Ich hätte mich um den Posten der Geschäftsführerin beworben!) erhielt ich ein Schreiben von Mutter, in welchem sie mir mitteilt, daß sie beschlossen habe, zu den Wurzeln ihres Seins, nämlich nach Old Germany zurückzukehren, und zwar für immer)!! Und nun rate, wo sie diese Wurzeln hat! …??? Falsch! Marys Wurzeln befinden sich exakt sechsundzwanzig Kilometer von hier in der Kreisstadt. Zu denken, daß ich nun seit mehr als zwanzig Jahren in unmittelbarer Nähe von Mutters Wurzeln lebe, ohne von dieser Tatsache auch nur etwas zu ahnen … Fassen wir zusammen: Mutter Marlene (in ihrem letzten Brief versuchte sie bereits vorsorglich, die peinliche Tatsache, in Germany nicht nur Mutter, sondern auch Oma zu sein, zu entschärfen, indem sie uns vorschlug, sie doch bitte beim Vornamen zu nennen: »Kinder, nennt mich einfach Mary!«) – also Mary, weitläufig mit mir verwandt, kehrt heim ins Reich. Und da sie bereits im Alter von drei Jahren festgestellt hat, daß es viel amüsanter ist, ein rechtslastig ausgeprägter Linkshänder zu sein (wie Du weißt, ist die rechte Gehirnhälfte für Spiel, Spaß und Phantasie zuständig, derweil man mit der linken beispielsweise ausrechnet, was Spaß und Spiel kosten), ist Mary vollkommen unbegabt für jegliche Art von praktischer Arbeit und praktischem Denken, eine Tatsache, auf die sie eher stolz ist, zumal es jede Menge langweiliger Tölpel gibt, die erst links denken und ihr dann mit ihren beiden rechten Händen die Kastanien aus dem Feuer holen. 67
Folgerichtig begann Mary ihre Umsiedlung denn auch damit, an ihre Tochter Lisbeth (linksdenkende Rechtshänderin) eine Liste mit all den Dingen zu schicken, die diese für sie erledigen soll. Neben diversen Amtgängen (Marlenchen vertut sich da immer mit den vielen Türen – kicher-kicher) steht da auf Platz 1: Suche eines Zweizimmerstudios, City, ruhige Lage, offner Grundriß, Whirlpool. Um mich anzuspornen, schilderte sie mir im selben Brief auch gleich detailliert, wie sie das Studio einrichten will: also das Schlafzimmer ganz in Weiß mit einem Hauch von Silber; weißer Teppichboden, breite Liege unter weißem Chintz, weiße Einbauzeile, weiße Gardinen, silberne Lampen und eventuell zur Abrundung ein silbernes Kettchen auf einem der Nachttische. Im Wohnzimmer geht es dann eher exotisch zu: Recamière mit schräg drapierten Fellen, Messingtische, raumhohe Spiegel, Palmen. Auf die Farbe des Whirlpools brauche ich glücklicherweise nicht zu achten, Hauptsache er whirlt in vorschriftsmäßiger Weise. O Paula, während ich dies voll gelben Neides schreibe, tanzt mir die Schreibmaschine unter den Fingern. Stell Dir Mutter vor, wenn sie sich morgens so gegen neun von ihrem weißen Chintzbett erhebt und herzhaft gähnend zum Fenster schlendert und kurz mal rausguckt und später auf ihrer Recamière liegend ihren Kaffee trinkt und dazu die Post liest, ehe sie sich and resst, um in der feinen, kleinen Parfümerie nebenan nach einem Puderdöschen zu suchen, dessen Deckel exakt zu ihrem Badesalz paßt. Ich muß zugeben, daß ich mich diesen Vorstellungen mit denselben niedrigen Neidgefühlen hingebe, mit denen Änne gewöhnlich meinen Maschinenpark und all die kleinen Helfer im Haushalt mustert, die das Führen desselben heutzutage zu dieser immerwährenden Freude machen – und daß ich vor 68
diesen kleingeistigen Instinkten wahrlich erschrecke. Ich erzählte Änne, daß Mutter vorhabe, in die alte Heimat, genauer in unsere unmittelbare Nähe zurückzukehren, und sie kniff in ihrer typischen Art die Lippen zusammen und sagte: »Na, dann wird’s wohl ein bißchen eng hier!«, wobei sie offenließ, ob sie damit die Bundesrepublik oder bloß unser Wohnzimmer meinte. Ich meine, wenn Mary nicht Mary wäre, könnte man sie ja mit Änne verkuppeln und somit zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen, so aber sehe ich sie noch nicht gemeinsam zum Seniorentreff eilen oder abends friedlich vereint beim gemein samen Betrachten der Fotos ihrer verblichenen Ehemänner auf dem Sofa sitzen. O Paula, statt dessen kommen mir ganz andere Bilder: Ich sehe mich zum Beispiel, um Änne zu gefallen, den Matjes für den Matjessalat selbst filieren, derweil mir Mary, in taubenb laue Seide gekleidet, ironisch lächelnd dabei zusieht. Später Erhielt gerade eine Karte von Lil, auf der sie mir ihre Freude über den Familienzuwachs mitteilt und es einfach toll findet, daß Mary in unsere Nähe zieht – und mir krampfte dieselbe Eifersucht das Herz zusammen, mit der Änne in bezug auf Benno I ein Leben lang zu kämpfen hat. Vielleicht spielt mir das Schicksal ja dahingehend einen Streich, daß mein Neid auf die Recamière und die damit verbundene Eifersucht auf Mary Änne und mich vereinen werden. Ich sehe uns bereits mit klopfenden Halsschlagadern und grämlich nach unten verzoge nen Mundwinkeln hinter der Hecke lauern, wenn Mary im neuen Stadtensemble vorübergeht, was sage ich, aus ihrem kleinen Cabrio steigt, denn selbstverständlich ist Mary motori siert. (Kein Schwein geht in »Emärrikä« zu Fuß!) Mein Gott, Paula, wie kann man nur auf seine eigene Mutter neidisch sein??? Nur gut, daß Lil diese niedrigen Gefühle in bezug auf ihre Mutter niemals haben wird, wobei sich natürlich 69
die Frage ergibt, ob das nun günstig für Lil ist oder günstig für die Mutter oder lediglich den Schluß zuläßt, daß Lils Mutter nichts, aber auch gar nichts hat, das begehrenswert wäre … Entschuldige die lange, dumme Epistel über Neid, ich bin sicher, es ist nur ein Anfall, der bald vorübergehen wird. Im Grunde will ich ja gar keinen Whirlpool. Bloß das morgendliche Postlesen auf der Recamière läßt mir keine Ruhe … Zwei Tage später Danke für Deinen Brief! Ich las ihn wie immer am Küchentisch und wollte eigentlich auf der Stelle antworten (die Sache mit Mario gab mir einiges zu denken), aber dann kam ich wieder nicht dazu, weil meine Nachbarin, Frau Schweizer, deren Familie ebenfalls auf Tour ist, herüberkam, angeblich, um sich zwei Zwiebeln zu borgen, in Wirklichkeit jedoch, um die Stunden, die sie für sich allein hat, irgendwie hinter sich zu bringen. Noch lange nicht jeder Frau, dachte ich gestern, die herumjammert, daß die Familie sie verrückt mache, geht es besser, wenn die Familie sie nicht verrückt macht. Sie schwanken zwischen »Verrücktgemachtwerden« und »Decke-auf-den-Kopf-Fallen« hin und her. Nun, jedenfalls lehnte sich Frau Schweizer gegen den Kühlschrank (sie gehört zu jener Sorte nimmermüder Hausfrauen, die jeden Versuch, sie zum Hinsetzen zu bewegen, mit dem Hinweis, ja sofort wieder gehen und irgend etwas Unaufschiebbares tun zu müssen, energisch von sich weisen) und erzählte mir detailliert, wie sehr ihre Sippe sie nerve und daß sie dieser undankbaren Typen wegen eine Mordskarriere bei der Finanzbehörde in den Wind geschrieben habe. Und daß sie sicher sei, daß das Überbein am linken Fuß, das sie seit Jahren mit sich herum schleppe, eine direkte Folge des Familienärgers und der aufgegebenen Behördenkarriere sei. Sie redete so viel dummes 70
Zeug zusammen, daß ich mich fragte, wieso eigentlich noch nie ein Mann auf die Idee gekommen ist, eine solche Frau zu schildern. Eine Frau, die er einst als schlankes, zartes Reh gefreit hat und die sich im Laufe der Zeit zu einer hysterischen, ewig unzufriedenen, vor sich hin kränkelnden Matrone entwickelt hat. Weil, würde meine gescheite Freundin Paula jetzt antworten, die Matrone das Leben des Mannes lange nicht so tiefgreifend und rund um die Uhr beeinflußt, wie es umgekehrt der Fall ist. Er setzt sie einfach auf die Stufe einer nicht sonderlich sympa thischen Dienstspritze, senkt die Kosten, die sie verursacht, auf ein Minimum herab … und sucht »das Leben« anderswo! Frau Schweizer blieb zwei Stunden lang, bis ich sie zwang, endlich zu gehen, weil ich angeblich einen unaufschiebbaren Termin beim Friseur hatte (welchen unaufschiebbaren Termin hätte ich sonst haben können?), und sie blieb doch tatsächlich, ununterbrochen vor sich hinquatschend, so lange in der Diele stehen, bis ich mich zurechtgemacht und den Mantel angezo gen hatte. Schließlich verließen wir Seite an Seite das Haus, und wenn sie nicht ihre alten Hauslatschen angehabt hätte, wäre zu befürchten gewesen, daß sie mich bis zum Friseur verfolgt hätte, um sich danebenzustellen und zuzusehen, wie er das Shampoo aufzutragen pflegt. Abends Nun endlich zu Deinem Brief beziehungsweise zu der Sache mit Mario und Deiner damit verbundenen Warnung vor dem schwer identifizierbaren Typ des Macho-Softies. Ich muß gestehen, daß ich es schon ein bißchen beleidigend fand, daß Du mir nicht einmal zutraust, einen der oben genann ten Typen erkennen zu können, bloß weil ich (Zitat) seit mehr als zwanzig Jahren auf den Typ des Paschas »fixiert« bin und die mannigfaltigen Möglichkeiten, die es sonst noch gibt, »nicht mal im Traum ausprobiert habe«! 71
Woher, mein Schätzchen, kennst Du meine Träume??? Also zu Deiner Beruhigung, ich rekapituliere: Den Macho erkennt man an seiner gebräunten Brust, die durch das offene Hemd blitzt und mit Goldkettchen verziert ist. Er röhrt gern auf dem Motorrad daher und erweist den Weibern seine Wertschätzung, indem er sie »Puppe« oder »Baby« nennt und in den Hintern kneift, immer vorausgesetzt, daß die Qualität ihres Hinterns seinen Ansprüchen genügt. Wenn die Puppe dann in der exakt richtigen Tonlage aufquiekt und sich dem Macho an die Brust wirft, dann kauft er ihr was: einen Teddy, Strapse oder Schuhe mit Bleistiftabsätzen. Merke: Der Macho ist kein kleinlicher Krämertyp, der sich das ausgelegte Garderobengeld zurückgeben läßt. Ganz anders der Softie. Er kneift die Puppen nirgendwohin (dazu verehrt er sie zu sehr), und das Garderobengeld verlangt er nicht zurück, weil er es gar nicht erst ausgegeben hat. Anstatt, wie der Macho, unentwegt nur an »das Eine« zu denken, sucht der Softie Schutz vor Gefahr, am liebsten bei einer schönen, starken Frau, zu der er aufschauen kann, wobei ihn der Gedanke quält, nicht auch so schön und stark zu sein wie sie. Der Softie trägt nicht einen Pfennig zum gemeinsamen Haushalt bei, ist jedoch leicht zu halten und gibt sich in der Regel mit dem ausgeleierten Pulli seines Vorgängers und ein paar Roggennudeln zu Mittag zufrieden. Mit der Zeit kann man ihn daran gewöhnen, leichte Aufgaben, wie zum Beispiel das Blumengießen, selbständig zu übernehmen. Der Softie ist in der Regel treu und anschmiegsam, sehr häuslich und im Unterhalt nicht wesentlich teurer als eine Hauskatze, von der er sich dahingehend unterscheidet, daß er seinem »Frauchen« keine zerfetzten Mäuse vor die Füße legt. Der Softie legt Frauen außer seinem Herzen gar nichts vor die Füße, denn der Softie ist einfach zu soft, um sich der rauhen (Arbeits-) Welt zu stellen. 72
Daß ausgerechnet Du auf die in letzter Zeit häufiger in Er scheinung tretende, ganz neuartige Kombination des MachoSofties hereingefallen bist, läßt Rückschlüsse auf Marios Intelligenz – und auf Dein Bankkonto – zu, denn letztendlich ist es ja nur so zu erklären, daß er Dich »in aller Zärtlichkeit« dazu bringen konnte, ein Puccelli-Jackett und die MailandReise für ihn zu finanzieren und zusätzlich die Karten für das Open-air-Konzert von Milva zu bezahlen, das ihr gemeinsam besucht habt, weil Mario für Milva schwärmt. Sehr schlecht ist natürlich, daß er sich jetzt weigert, Deine Wohnung zu verlas sen, nachdem er sich erst mal häuslich darin eingenistet hat. Aber bedenke, daß er mit seinen niedlichen Wipplocken und dem Puccelli-Jackett so hinreißend aussieht, daß sich schon bald eine finanzkräftige Nachfolgerin für Dich finden wird, die bereit ist, Deine Pflichten zu übernehmen. Bleibt nur die Frage, wieso ausgerechnet Du so arglos warst, ihn Deinerseits von einer ausgeräuberten Vorgängerin zu übernehmen. Hast Du Dich denn, als er zum erstenmal näher rückte, gar nicht gefragt, wer wohl das teure Seidenhemd bezahlt hat? Oder hat Dich seine Schönheit zu sehr geblendet? Erinnert mich ja doch stark an den angegrauten Geschäfts mann, der eine siebzehnjährige Unschuld in seine Zweitwohnung lockt und auch die Frage ignoriert, wer wohl die Brillantclips bezahlt hat, die sich die Siebzehnjährige lässig von den Ohrchen zupft. Daß es dem angegrauten Geschäftsmann gelungen ist, die Siebzehnjährige in seine Wohnung zu locken, hat mir übrigens nie imponiert, mir tat der Opi immer leid. Gerade sehe ich Frau Schweizer auf unser Haus zueilen, sie will die beiden Zwiebeln zurückbringen. Nichts für ungut, Deine Lisbeth PS: Der Vergleich zwischen dem angegrauten Geschäftsmann 73
und Dir hinkt natürlich. Im Gegensatz zu Dir besitzt er eine Zweitwohnung!!!
Montag früh Las meine »gesammelten Werke« gerade noch einmal durch, ehe ich sie zur Post gebe. (In mir scheint ein immenser Mittei lungswahn zu wüten!!!) Liebste Paula, bitte verzeih, daß ich auf den hundert Blättern, die ich in der letzten Woche für Dich vollgekritzelt habe, überhaupt nicht mehr auf die Eröffnung Deines Lit-Ladens No. 2 eingegangen bin. (Übrigens ein sehr schicker Name, Deine Idee?) Ich gratuliere Dir auf jeden Fall von ganzem Herzen zu Deinem Erfolg. Pauline, ich kann es nur immer und immer wiederholen, bitte, denke an mich, wenn Du eine Aushilfskraft brauchst. Ich muß es nur rechtzeitig wissen, damit ich ein bißchen vorplanen kann, und dann werde ich bestimmt kommen. Ich habe den Eindruck, daß Du ein bißchen beleidigt warst, daß ich weder zum Straßenfest noch zur Vernissage gekommen bin, aber es war in diesen beiden speziellen Fällen wirklich nicht möglich. Zur Eröffnungsparty komme ich natürlich … was denn sonst? Grüße an Lila und »all die anderen«! Schwer beladen und mit eingeknickten Kniekehlen zur Post wankend, in der Hoffnung, daß Du irgendwann einmal genü gend Zeit finden wirst, das ganze Zeug zu lesen, Deine Lisbeth
4. September Liebe Paula, gratuliere, daß sich die finanzkräftige Nachfolgerin gefunden hat und es Dir gelungen ist, Mario auf so geschickte Weise loszuwerden. Daß Du in dem Puccelli-Jackett ebenso süß aussiehst wie er, ist natürlich außerordentlich tröstlich, vor allem, wenn es, wie Du schreibst, den einzigen »Zugewinn« 74
aus Eurer dreizehneinhalb Monate währenden Lebensgemein schaft bildet. Aber als Eintrittsgeld in die Penthousewohnung Deiner Nachfolgerin hat Mario dann das Ariani-Service mitgehen lassen? Arme Paula … Weißt Du, ich muß gestehen, daß ich beim Lesen dieser Passage Deines Briefes weniger Mitleid als Neid empfand, denn immerhin könnt Ihr Emanzen Euch so kostspielige Hobbys wie die Haltung echter Marios mit einer gewissen Lässigkeit leisten, derweil wir Haussklaven uns nach wie vor an so Sachen wie »Küchenkräuter, selbst gezogen« ergötzen müssen. Glaub mir, selbst das Aussäen von Kresse samen auf Watte und das atemlose Zugucken, »wie es wächst«, verliert mit den Jahren irgendwie an Reiz. Dennoch, liebe Paula, möchte ich Dich bitten, mich in Zu kunft mit detailgetreuen Schilderungen Deiner Kämpfe um Puccelli-Jacken und Ariani-Geschirre, bei denen irgendwelche Marios absichtlich unersetzliche Deckelchen fallen lassen, zu verschonen. Es könnte schließlich so weit kommen, daß ich das Gefühl habe, in der »Welt da draußen« gar nicht so viel zu verpassen, und demütig-verliebt zu meinem Pascha aufschaue und glücklich bin, »daß es ihn gibt«! (Kleines Scherzchen am Rande.) Mein Pascha ist seit einer Woche wieder da! Beiden Bennos gefiel ihre abenteuerliche Männertour so gut, daß sich sogar Benno I zu einer längeren Schilderung derselben hinreißen ließ, wobei er dem Punkt der Ernährung unter besonderer Berücksichtigung der Frage, wann er wo was wie gekocht habe, die dem Thema angemessene Beachtung verlieh. Ein urkomisches Foto zeigt ihn dann auch bei strömendem Regen unter der Zeltplane im Gras hockend, den Kopf mit Klein Bennos Regenmantel bedeckt, und breit grinsend den Inhalt einer Dose in einen malerisch zerbeulten Kopftopf leerend … Ich überlege bereits, ob ich ihn wohl dazu bringen 75
könnte, mir in der Küche zu helfen, wenn ich den Herd mit Baumästen garniere und den Küchenboden mit nassem Gras auslege. Wenn ich ihm dann noch erlaube, das Wasser aus der Regentonne im Garten zu schöpfen, hätte ich vielleicht den eifrigen Helfer, nach dem es mich schon so lange verlangt. Änne ist ebenfalls zurück und scheint sich mit Frau MüllerWippersfürth dahingehend ausgetauscht zu haben, daß es doch keine sonderlich dankbare Sache sei, sein Vermögen bereits zu Lebzeiten abzugeben. Cool, wie die »junge« Generation nun mal ist, bedanken sie sich ein einziges Mal, und dann wird nie wieder davon gesprochen, es sei denn, man brächte selbst die Rede auf das Thema. Änne brachte selbst die Rede auf das Thema! Sie schilderte mir zunächst das entzückende Häuschen an der Ostsee (welches genaugenommen ja auch ihr Häuschen sein könnte) in allen Einzelheiten und ließ durchblicken, daß es ja wohl nicht zuviel verlangt sei, wenn man ihr als Gegenwert für ein ganzes Häuschen ein simples Zimmerchen von vierzehn Quadratmetern zur Verfügung stelle. Kurz und gut, sie wurde in bezug auf Lils Zimmer deutlich, und als ich mich taub stellte, wurde sie sehr deutlich, und als ich immer noch nicht reagierte, da schritt sie zur Tat. Und da, wo ich mir den praktischen Bügelplatz eingerichtet hatte und wo in Kürze der Platz meiner inneren Sammlung entstehen sollte, da befinden sich jetzt Ännes Biedermeiersekretär und ihr Ruhesofa. Änne will noch ein paar Grünpflanzen besorgen und einige Bildchen aufhängen, damit das »Gästezimmer« ein bißchen wohnlicher wird und es so richtig nett aussieht, »wenn man reinguckt«! Das ist nun das einzige, was mir von dem ganzen Projekt geblieben ist, ein zugegebenermaßen recht netter Blick »hinein«, wenn ich mit der Bügelwäsche über dem Arm vorbeigehe. Also Änne hat nun, was sie begehrt: neben ihrer eigenen Wohnung ein Zimmer für sich allein in Bennos Haus, und ich 76
war so fassungslos über die Dreistigkeit ihres Vorgehens und so verbittert über Bennos feigen »Das müßt ihr Weibsleute unter euch ausmachen«-Standpunkt, daß mir der Zorn in den Schläfen pochte und ich, anstatt mit Änne, einiges mit mir selbst ausmachte, wobei ich mir in sämtlichen zur Debatte stehenden Fragen recht gab! Dies erwies sich als äußerst wohltuend und hatte einen interessanten Nebeneffekt: Denk Dir, Paula, ich war beim Arbeitsamt!!! Ich schlich mich am Montagmorgen hin, als Benno I im Büro, Benno II in der Schule und Änne bei ihrer Fußpflegerin war, und nachdem ich eine Stunde gewartet hatte, ließ man mich hinein, und Fräulein Beinhauer, ein sehr selbstbewußtes Kind von etwa fünfundzwanzig Jahren, fragte mit stählernem Blick, ob ich einen Termin hätte. Natürlich hatte ich keinen Termin und dachte, daß man auch ohne Termin … eben schnell … jetzt gleich … , und wo ich doch bloß mal fragen wollte … , aber Fräulein Beinhauer teilte mir unmißverständlich mit, daß man selbst für eine einzige Frage einen Termin haben müsse, und schlug mir Dienstag, den soundsovielten, nachmittags, vierzehn Uhr dreißig vor. Ich schlich geknickt hinaus und kam mir blöd vor und glaubte, in Fräulein Beinhauers Augen bereits gelesen zu haben, daß sie mir an dem entsprechenden Dienstag um vierzehn Uhr dreißig die herbe Nachricht verpassen wird, daß ich für jegliche Art bezahlter Arbeit zu alt, zu ungebildet und »zu lange aus der Welt« sei! Auf dem Rückweg kam ich bei Gelz & Söhne, einem neuen Büromaschinenladen, vorbei, und mein Blick fiel auf ein großes Schild: Büro- und Computerkurse im Hause. Anmel dung hier! Ich stürzte wie besessen hinein, und ehe ich mich versah, hatte ich mich für einen »Kurs für Maschinentechnik« (sprich: Zehn-Finger-Blind-System) einschreiben lassen. Der junge Mann, der die Anmeldung entgegennahm, war sehr freundlich und verfügte über einen dem Verkauf von Büroma 77
schinen samt der dazugehörigen Kurse sehr förderlichen Optimismus. Er beteuerte, daß gerade Hausfrauen für jegliche Art von Aushilfs- oder Halbtagsjob immer gesucht würden, vorausgesetzt natürlich, sie verfügten über ein Zertifikat, das ihre Fähigkeit im Zehn-Finger-Blind-Schreiben nachweist. »Sehen Sie her«, sagte er und öffnete die Tür zu einem Glaskasten, den man in den Verkaufsraum hineingebaut hatte und der mit einigen Schreibtischen, einer Schreibmaschine und drei Computern ausgestattet war. »Hier könnte Ihr Arbeitsplatz sein! Allerdings«, er mustere mich traurig, »stellen wir gerade auf Computer um!« Jedoch, und das wisse er sicher, gebe es immer noch jede Menge kleinerer Büros, die ohne eine geübte Schreibkraft nicht auskämen. Die Tatsache, daß selbst ein vergleichsweise mickriger Laden wie Gelz & Söhne inzwischen dazu überge gangen ist, »umzustellen«, tapfer ignorierend und mich statt dessen an dem Satz festklammernd, daß gute Schreibkräfte immer gesucht würden, begab ich mich gleich am nächsten Montag zur ersten Stunde in Maschinentechnik, und ich muß sagen, es gefiel mir recht gut. Leider brachte unsere Trainerin, eine sehr engagierte Dame namens Blitzer, die es nicht zulassen wird, daß demnächst die ganze Welt umstellt und sie mitsamt ihrem Job überflüssig macht, die Rede auf ein peinli ches Thema. Zum professionellen Trainieren des Zehn-FingerSystems sei es unerläßlich, eine moderne elektrische Maschine mitsamt dem dazugehörigen Tischchen zu besitzen, damit man sich die Griffolgen gleich in der einzig richtigen Haltung angewöhne und sich kein unausrottbarer Fehler einschleiche. Der Hinweis war völlig überflüssig, denn sämtliche Kursteil nehmer (mit einer einzigen Ausnahme) besaßen die richtige Maschine mit dem dazugehörigen Tischchen. Es waren fast alles junge Mädchen, und die eine oder andere unter ihnen hatte sich die Ausstattung selbst verdient, die meisten hatten sie jedoch von Papa geschenkt bekommen. 78
Ich dachte so an die Maschine, die ich von Papa geschenkt bekommen habe, und an das Tischchen, auf dem sie gewöhn lich steht, und nahm mir vor, beides weder Fräulein Blitzer noch meinen Kommilitoninnen jemals zu zeigen. Leider erwies es sich jedoch, daß ich nicht imstande war, die Hausaufgaben in der gewünschten Weise zu erledigen, und da ich mich fürchtete, Fräulein Blitzer mit meinen verschmierten Zetteln unter die Augen zu treten, war ich geneigt, die ganze Idee wieder aufzugeben (schließlich bin ich im Wiederaufge ben jeglicher Idee seit Jahrzehnten geübt), als ich zufällig ein Telefonat mithörte, das Änne mit Frau Müller-Wippersfürth führte. Änne teilte Frau Müller-Wippersfürth mit, daß sie jetzt stets unter »dieser Nummer« zu erreichen sei, da sie sich ja fast immer »bei ihrem Sohn in dessen Haus« aufhalte. (In einer stilvollen Villa, in der die Hauswirtschaft seit Jahren von einer Perle besorgt wird, deren Name Änne im Augenblick entfallen war.) Die kochende Wut, die daraufhin plötzlich und unerwar tet in mir aufstieg, machte mich aktiv. (Ich habe festgestellt, daß das plötzliche Aufsteigen kochender Wut das einzige Mittel ist, das mich aus meiner Lethargie aufschreckt und das Fallenlassen sämtlicher Wünsche verhindert!) Als Änne ihr Telefonat beendet hatte, ergriff ich den noch warmen Hörer, rief die Redaktion der Morgenpost an und gab eine Annonce auf: »Gesucht: gut erh. elektr. Schreibm. mit Tisch!« Und denk Dir, das ganze Wochenende über stand unser Telefon kaum still. Es ist nicht zu fassen, wieviel Leute ihre »überholten« Maschinen loswerden wollen, weil sie »umge stellt« haben. Am Dienstag brachte mir dann ein junger Mann seine Maschine mit drei Typenrädern und ein sehr niedliches rollbares Tischchen, und für neunhundert Mark hat er mir alles überlassen. »Ich arbeite ja jetzt ausschließlich mit dem Compu ter«, sagte er, »aber Ihnen wird die Maschine bestimmt noch gute Dienste leisten!« Ich kam mir vor wie der Mensch, der die 79
letzte Kutsche kauft, nachdem das Automobil endgültig die Welt erobert hat, aber ich bin sicher, daß dieser letzte Kut schenkäufer sehr glücklich mit seinem Erwerb war, immer vorausgesetzt, daß er bis dahin zu Fuß gehen mußte. Am Abend näherte ich mich Benno und teilte ihm mit, daß ich beschlossen hätte, den »Neuzuwachs« selbst zu finanzieren beziehungsweise die neunhundert Mark durch Putzen zu verdienen. Er sah mich entgeistert an und schrie, wo um Himmels willen ich denn putzen gehen wolle, und sah mich wahrscheinlich im Geiste bereits inmitten der Kolonne, die sich nach fünf über sein Büro hermacht. »Ich hab da ein ganz gutes Angebot in einer Villa am Heckenweg«, sagte ich. »Pflegeleichte Räume, modernste Hilfsmittel, absolut selbst ändiges Arbeiten. Fünfzehn Mark die Stunde, am Wochenende zwanzig!« Er schleppte sich zu seinem Schreibtisch und stellte mit gramzerfurchter Stirn den Scheck aus, und Änne bemerkte aus ihrer Sofaecke, daß »sie zu ihrer Zeit nie auf solche Ideen gekommen wäre«! Dafür kommt sie heute auf andere!!! Nun, egal, welch mißgünstiger Blick von zwei Seiten meine Maschine und den kleinen Rolltisch auch streift, beide sind mein, und ich bin selig mit ihnen. Wie findest du übrigens das Schriftbild? Schick, was? Ich habe noch zwei weitere Typenräder, eins mit Schreib schrift und eins mit kleinen eckigen Buchstaben, aber dieses finde ich eigentlich am schönsten. Allein die drei Typenräder sollen zweihundertdreißig Mark gekostet haben. Also ich bin mit meinem Kauf sehr zufrieden. Zu schade, daß ich erst in Wut und Bewegung gekommen bin, als Änne Lils Zimmer bereits mit Beschlag belegt hatte. Wie wonnig könnten die Maschine und das Tischchen und ich jetzt in unserem eigenen Zimmer residieren, in dem Zimmer mit der Morgensonne und dem Blick in den Garten. Aber gerechterweise muß ich zugeben, daß, wenn Änne nicht die Initiative ergriffen und 80
damit alles ins Rollen gebracht hätte, heute möglicherweise weder Ännes Ruhesofa noch meine Schreibmaschine in Lils Zimmer stünden, sondern selbiges auf unbestimmte Zeit (und wegen meines ewigen Kapitalmangels) durch die häßliche Resopalplatte verschandelt würde. Trotz meiner Gebete wird die Laune von Bennos Chef nämlich täglich schlechter … Jetzt steht mein Tischchen im Schlafzimmer in der Ecke, in der früher die Frisiertoilette war, und Bennos Kopfkissen guckt beleidigt zu mir herüber. Ich kann blind »Kalle kann keine Kassen kaufen« schreiben. Mit stolzgeschwellter Brust, Lisbeth
14. September Liebe Paula, der Wandschirm ist da! Oh, mein geliebtes Paulinchen, wie soll ich Dir nur für dieses wundervolle Geschenk danken? Ich habe meine Arbeitsecke nach Deinen Vorschlägen abgegrenzt – abgeschirmt, im eigentlichen Sinne des Wortes – und festgestellt, daß zumin dest ich nicht mehr als drei Quadratmeter benötige, um mich vollkommen glücklich zu fühlen. Den freudigen Schwung, in den mich das Einrichten meines »Studios« gebracht hat, ausnutzend, habe ich tags drauf die Schultern gestrafft, das Kinn energisch vorgestreckt und bin zum Schreiner gegangen, um mich beraten zu lassen. Und jetzt habe ich vier Regalbretter an der Wand, von denen das unterste zu einer Art Schreibplatte verbreitert ist, und ich habe dann die Schreibmaschine und den Rolltisch im rechten Winkel dazu aufgestellt, alles auf das schönste von zwei Klemmlampen beleuchtet. Die Wand zwischen den Regalbrettern habe ich mit Fotos und Zeitungs ausschnitten beklebt, und ich sage Dir, ich fühle mich einfach königlich, wenn ich den linken Flügel des Paravents lupfe und hineinschlüpfe, grad so, wie die Biene in den Blütenkelch 81
schlüpft. Ich muß gestehen, daß ich den linken Flügel des Paravents lupfe, so oft ich am Schlafzimmer vorbeikomme, und das ist in der letzten Zeit mindestens zwanzigmal am Tag der Fall. Ich gehe einfach blicklos an dem Kleiderschrank und dem Doppelbett vorbei, so als ob mich beide gar nichts angingen, und – Simsalabim – bin ich verschwunden. Du solltest Änne sehen, wenn sie nach ihrer Siesta in Lils Zimmer auf dem Weg nach unten in der Tür stehen bleibt und bloß den Wandschirm sieht, hinter dem jemand wie verrückt in die Tasten haut (Kalle kauft keine Kassen) – und anschließend zur Erholung vielleicht noch ein Briefchen an Paula klimpert. Und demnächst, das verspreche ich Dir, etwas Größeres! Der Lyrikband von Lila Luder bekam auf dem neuen Regal einen Ehrenplatz, und ich denke, daß sich seine »Aura« positiv auf meine Kreativität auswirken wird. Geliebtes, süßes Zuckerpaulinchen, Du hast mir mit dem Wandschirm das schönste Geschenk meines Lebens gemacht, und ich umarme Dich tausendmal dafür. Dies ist kein richtiger Brief, bloß ein Freudenschrei, der Dich so schnell wie möglich erreichen soll. Ich habe gehört, daß man »Entwicklungshilfe« von der Steuer absetzen kann, denk dran! Im Glückstaumel, Deine Lisbeth PS: Größenwahnsinnig geworden, habe ich mir in dem Laden, in dem der Schreibkurs abgehalten wird, Bürostühle angeguckt. Es gibt da einen mit Wippschalter, auf dem man auf und niederschweben und sich drehen und wenden kann … er hat einen leuchtend blauen Bezug, der genau zu dem Einband von Lilas Buch paßt … Aber er kostet über fünfhundert Mark …
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3. Oktober Liebe Paula, eigentlich wollte ich Dir längst geschrieben haben und Dir für die äußerst erheiternde Schilderung Eurer Einweihungsparty danken (nein, kein Herzflimmern, trotz der »Grüße«), aber die Suche nach Mutters Studio hat mich wochenlang in Atem gehalten. Dies war nun garantiert das letzte Mal, daß ich aus familiären Gründen abgesagt habe, und ich schwöre Dir, bei allem, was mir heilig ist, daß es nicht wieder vorkommen wird. Allein der Gedanke, künftig möglicherweise ohne Deine Freundschaft (und ohne die bewußten »Grüße«) leben zu müssen, läßt mir das Blut erstarren! Und das ist leider (!) nicht ironisch gemeint … Hier der Grund meiner plötzlichen Absage: Mutter will ihre »Umsiedlung« noch vor Weihnachten hinter sich bringen (white christmas) und setzte mich mit Briefen und Telefonaten so unter Druck, daß ich das Gefühl hatte, sie könne ihr ameri can way of life keine Woche länger ertragen. Benno ließ verlauten, es sei wahrscheinlich eher der amerika nische Jugendwahn, der ihr das Leben »jetzt im Alter« so schwer erträglich mache. Von Kurzbesuchen einmal abgese hen, war Mutter seit fünfundzwanzig Jahren nicht hier, und ihre Erinnerung an old Germany ist stark an Curd-JürgensFilmen aus den Fünfzigern orientiert. Hoffentlich wird sie, was den Jugendwahn angeht, hierzulande keine Enttäuschung erleben. In den letzten Wochen habe ich beinahe nichts anderes getan, als mir Wohnungen anzusehen, doch soviel ich auch suchte, es war keine dabei, in der ich mir Mutter hätte vorstellen können. Bis ich hörte, daß in dem Neubau in der Fußgängerpassage Studios der gewünschten Art gebaut würden, und das im obersten Stockwerk gelegene – eine entzückende Sache mit Wintergarten und einem bezaubernden Blick hinüber zur Friedenskirche – sagte mir sofort zu. 83
Ich schickte Mutter die genaue Beschreibung und die Pläne, und noch am selben Abend, an dem sie beides erhalten hatte, rief sie an und meinte, Lage und Raumaufteilung sagten ihr sehr zu und ich solle das Ding sofort für sie kaufen. Sie sagte das so lässig, als ob es sich um eine neue Kloumrandung und nicht um ein Objekt für immerhin 390000 Mark handle. Da die Geschäftsbeziehungen, die ich je im Leben getätigt habe, über die zu meinem Ewa-Frischemarkt nie hinausgekommen sind, fühlte ich mich den Haien aus der Baubranche nicht so recht gewachsen und bat Benno, die Sache für mich zu übernehmen. Er ließ sich nicht lange bitten (es ist interessant zu sehen, wie seine Nasenflügel anfangen zu beben, sobald sie den Geruch von Kapital auch nur wittern), stieg sofort ins Geschäft ein und machte seine Sache so gut, daß er den Preis sogar noch um etliches drückte und aus den Leuten das Zugeständnis heraus preßte, freie Wahl bei den Teppichböden und den sanitären Anlagen zu haben, was ursprünglich nicht vorgesehen war. An dieser Stelle des Geschäftes angelangt, nahm ich das Ruder wieder in die Hand, und es war wunderbar, einmal in den Katalogen und Musterbüchern blättern und aussuchen zu dürfen, ohne die Preislisten auch nur eines Blickes zu würdi gen. Mutter zeigte sich von Bennos Geschäftssinn außerordentlich beeindruckt und sagte, daß wir uns den »erwirtschafteten« Gewinn als Vermittlungsprovision teilen könnten, immerhin eine Wahnsinnssumme von fünftausend Mark pro Kopf. Benno schlug mir vor, meinen Anteil zinsgün stig für mich anzulegen (auf neunundneunzig Jahre oder so), ein Ansinnen, bei dessen bloßer Vorstellung mir der Schweiß ausbrach. Ich teilte ihm mit vor Aufregung zitternder Stimme mit, daß ich die gesamte Summe bar ausgezahlt haben möchte, und zwar in kleinen Scheinen, die ich nach einem ausgeklügel ten Plan über das ganze Haus verteilt verstecken werde. O Pauline, ich glaube, im Moment hat eine Glücksfee mein Schicksal in die Hand genommen, und ich würde mich nicht 84
wundern, wenn ich jetzt noch einen Sechser im Lotto hätte oder Änne auf die Idee käme, mir weitere fünftausend zu schenken – zwei Wunder, welche der Wahrscheinlichkeits rechnung nach auf einer Stufe stehen. Also der Vertrag ist jedenfalls unterschrieben und Mutters Studio in der Woche vor Weihnachten einzugsbereit, und die durch meinen selbstlosen Einsatz verdiente Prämie ist zur selben Zeit fällig. Sollen wir im Februar zusammen einen kleinen Winterurlaub machen? Ich bin so beschwingt, daß ich zu Ausflippern jeglicher Art bereit bin!!! Samstag Gestern abend war ich im Zuge meiner galoppieren den Emanzipation in einer Veranstaltung im hiesigen Frauenzentrum, Thema: »Frau und Beruf«, eine Sache, die mich sehr interessierte, weil ich dachte, daß ich vielleicht Tips und Anregungen bekäme, wie man mit vierzig noch Karriere macht und sich weitere fünftausend (oder mehr) verdienen kann! Zunächst einmal erschien eine gestählt wirkende Dame auf dem Podium, ausgestattet mit einem tadellos sitzenden Kostüm und einer tadellos sitzenden Fönwellenfrisur, lächelte gefroren, räusperte sich, schob die Brille auf die Nase (damit ich euch besser sehen kann) und hob zu sprechen an. Sie begann ihren Vortrag mit einer Attacke gegen die Gegne rinnen des §218, und zwar mit dem Argument, daß frau heutzutage Kinder in beliebiger Menge und Berufstätigkeit in beliebiger Art und Stundenzahl leicht unter einen Hut kriegen könne, wenn sie nur wolle und alles ein bißchen organisiere und ein bißchen Herz, Verstand und guten Willen walten lasse. Sie hieß Gerlinde Gern und erzählte uns, daß sie selbst mit achtzehn geheiratet, innerhalb von acht Jahren fünf Kinder geboren und nebenbei studiert und ihre Examen abgelegt habe, und zwar alles gleichzeitig und ohne, daß das eine unter dem anderen zu leiden gehabt hätte. »Kinder zu haben ist nun einmal – auch wenn einige unter 85
uns dies noch so geschickt verdrängen – unser dringlichster Wunsch und das Schönste, was es gibt«, und hierbei lächelte sie so richtig herzlich in die Runde, und ich dachte, daß in ihrem Fall doch nicht einmal fünf Kinder genügt hatten, ihr Leben so auszufüllen, daß sie nicht noch der Wunsch quälte, nebenbei eine Mordskarriere anzustreben – sagen wir mal, zur Entspannung … Natürlich, räumte Frau Gern ein, habe sie für die Kinder nicht so viel Zeit wie eine Nur-Hausfrau, aber dafür widme sie sich ihnen, wenn sie sich ihnen widme, auch besonders intensiv, und ansonsten sei sie dafür, die Mutterpflichten zu delegieren. Dennoch, das sei ja selbstverständlich, habe sie natürlich alles in der Hand, alles! Frühmorgens setzt sie sich zum Beispiel mit der Kinderfrau gemütlich zu einer Tasse Kaffee an den Tisch, und dann besprechen sie ganz in Ruhe sämtliche anfallenden Probleme. (»Für Patricia in dieser Woche die doppelte Ration Lebertran, sie erschien mir bei meinem gestrigen Kontrollgang etwas blaß, und machen Sie für Dennis einen Termin beim Therapeuten, das idiotische Hin-und-Herschaukeln im Bett muß endlich aufhören!«) Und dann sieht sie auf die Uhr und springt auf und läßt den Motor ihres Wagens an, und auf dem Weg zur Arbeit löscht sie das Programm Kinder einfach aus und legt das Programm Datenverarbeitung, oder was immer es auch ist, ein. So einfach, so logisch, so leicht durchführbar, mit ein bißchen Verstand und gutem Willen. Denn frau (Lächeln) möchte selbstverständlich heute nicht mehr zu Hause am Herd ver kümmern, aber doch bitte nicht zu Lasten von Kindern!!! Bei der anschließenden Diskussion ging es hoch her, und es wurden Rufe laut, was Gerlinde denn gemacht hätte, wenn ihr Ehemann sie zwar beim Kinder-, nicht jedoch beim Karriere machen unterstützt hätte, und Gerlinde zog erstaunt die Brauen hoch, als ob sie von solchen Ehemännern noch nie etwas gehört hätte. Natürlich, räumte sie ein, gebe es auch in ihrer 86
Ehe ab und an mal ein Problem, in welcher Ehe denn nicht? Andernfalls wäre das Leben ja richtig langweilig (komplizen haftes Augenzwinkern), aber man sei doch schließlich unter erwachsenen Menschen, und so setze man sich dann halt hin und diskutiere die Sache ganz sachlich aus. Ich stellte mir Gerlinde vor, wie sie morgens mit der Kinder frau über die Stotterei von Kind Nr. 3 diskutiert, gegen zehn mit dem Aufsichtsrat tagt, gegen vier zu Hause anruft, um sich die Zeugnisnoten ihrer Jüngsten durchsagen zu lassen, und am Abend mit ihrem Ehemann ganz sachlich die Frage diskutiert, ob seine Geliebte – diese, wie heißt sie noch, Lotte Lecker – für sein Selbstwertgefühl wirklich notwendig sei und wie man, wenn ja, die Unkosten, die Lotte verursacht, am günstigsten von der Steuer absetzt. Wie schade, daß ich bei keiner einzigen dieser Diskussionen dabeisein und einmal Gerlindes Mann und die Kinderfrau in Augenschein nehmen und mich mit den fünf Kindern amüsie ren kann, die, wie Gerlinde mehrmals betonte, ganz besonders fröhlich sein sollen, gerade, weil sie keine Mutter haben, die dauernd hinter ihnen her ist. Und dann würde ich zu gerne sehen, wie Gerlinde am Sonntag in der Küche steht und für alle Spaghetti mit Tomatensauce kocht, denn, wie sie uns vertrau lich mitteilte, im Grunde bleibt der Haushalt ja doch an ihr hängen, und sonntags kocht Mutti immer selbst. Ich muß das Fleisch anbraten, bei uns kocht Mutti auch montags selbst. Kribblig vor Ärger, Lisbeth PS: Der Punkt, für dessen Erläuterung ich den ganzen Blödsinn überhaupt über mich ergehen ließ, blieb leider unberücksich tigt. Gerlinde erwähnte mit keinem Wort, wieviel sie verdient. Ich könnte mir denken, daß das genau der Punkt ist, für den sich der Ärger mit der Kinderfrau, Lotte Lecker und sogar das Hin-und-Herschaukeln von Klein-Dennis lohnen … Vielleicht 87
ist aber auch der Augenblick, in dem sich Gerlinde in ihr Auto setzt und abhaut, der schönste ihres Tages, und sie wird den Deibel tun, mit der Kinderfrau zu tauschen. Blöd ist nur, daß auch die Kinderfrauen ihren Arbeitsplatz erstaunlich rasch leid werden und beispielsweise mit einem Arbeitsplatz im Büro tauschen, sobald sich die Gelegenheit ergibt. Wie kommt das eigentlich? An den Kindern kann es ja nicht liegen …?
Allerheiligen Liebe Paula, Mary ist da! Sie muß in Amerika auf gepackten Koffern gesessen haben, anders ist es nicht zu erklären, daß sie sich, kaum, daß sie den Startschuß vernahm, in die Lüfte begab. Änne hat ihr großzü gigerweise »für den Übergang« ihre eigene kleine Wohnung angeboten, derweil sie selbst bereit gewesen wäre, ganz in Lils Zimmer zu ziehen, in dem sie es »zwar etwas eng, ansonsten jedoch durchaus erträglich findet«. Eigene Vorteile in der Maske der Selbstlosigkeit anzubieten und den anderen Dan kesworte abzuringen für etwas, das nur ihr selbst und niemandem sonst von Nutzen ist, ist eine Fähigkeit, die Änne mit einer solchen Virtuosität handhabt, daß man nur immer wieder offnen Mundes staunen kann. Aber Mary ging ihr nicht auf den Leim, schon aus dem Grunde, weil sie aus ganz demselben Holz geschnitzt ist. Sie riß bei Ännes Angebot erschrocken die Augen auf, umarmte Änne (!) und sagte, daß sie um Gottes willen doch nicht in der allerersten Stunde bereits für Unruhe sorgen und Änne aus ihrem Heim vertreiben wolle und daß es selbstverständlich sie und niemand sonst sei, der die Enge von Lils Zimmer ertragen werde. Änne konterte mit ihren Lieblingsargumenten: Sie meine es ja nur gut, wolle sich ja beileibe niemandem aufdrängen und habe halt leider nicht bedacht, daß man einer Frau von Welt wie Mary nicht 88
eine derart bescheidene Behausung wie die ihre anbieten könne. Schließlich steigerte sie sich von »Ich habe ja nur versucht, es allen recht zu machen« über »Aber bitte, ich möchte ja nicht stören« bis hin zu einem weinerlichen »Ihr habt mir jedenfalls deutlich genug zu verstehen gegeben, wo mein Platz ist« in einen derart dumm-bockigen Trotz hinein, wie ich ihn zuletzt von Benno II im Alter von drei Jahren erlebt habe. Siehst Du, Pauline, so rundet es sich zum Ganzen, und ich habe den verdammten Verdacht, daß jetzt, wo endgültig beide Kinder aus dem Trotzalter heraus sind, gleich zwei Mütter hineinkommen, die man mit denselben sinnlos-hilflosen Worten zu beruhigen sucht. Mary ließ durchblicken, daß es doch wohl natürlich sei, wenn sie jetzt, nachdem sie sich fünfundzwanzig Jahre lang zurück gehalten habe, auch einmal etwas von ihrer Tochter haben wolle, woraufhin Änne spitz konterte, daß Marys späte Wiedervereinigung mit ihrer Tochter ohne ihren und Bennos unermüdlichen Arbeitseinsatz wohl kaum in einem so stilvol len Rahmen, wie ihn Bennos Haus nun einmal darstelle, stattgefunden hätte. Mary lachte glockenhell und klärte Änne darüber auf, daß in den Staaten jeder kleine Limo-Fahrer sein eigenes Haus besitzt und man diesem Haus so wenig Wert beimißt, daß man es, sobald es einen gelüste, umzuziehen, einfach wie einen alten Besen zurückläßt. Man stellt eines Tages beim Frühstück fest, daß man den ewig gleichen Blick auf die Rückwand der nachbarlichen Garage und das gelbliche Rasenviereck mit der Wäschespinne darauf herzlich leid ist, kippt zum Abschied einen Whiskey, steckt sich die Tüte mit den Erdnüssen ein und haut einfach ab, wobei »alles stehen und liegen lassen« wörtlich zu nehmen ist. Ännes Hinweis auf unser aller Wohler gehen in Zusammenhang mit Bennos Haus sei jedenfalls ebenso spießig-vermieft wie rückständig. Schließlich zischelten sie sich noch einige Bosheiten zu, bei 89
denen die Themen »Kinder erst ihrem Schicksal überlassen und dann auftauchen und alles an sich reißen wollen« und »Kinder an sich ketten, bis sie erstickt sind« variiert wurden. Zu guter Letzt hielt Mary an uns alle gewandt eine kleine Ansprache und sagte, daß wir keine Angst zu haben bräuchten, daß sie uns lästig falle, denn wenn sie erst ihr Studio habe, was – Gott gebe es – ja bald der Fall sei, werde sie uns hin und wieder zum Tee bitten und uns ansonsten mit ihrer anstrengen den Gegenwart (helles Gelächter) verschonen. Änne hatte sich mittlerweile einigermaßen beruhigt und sagte, daß sie persön lich ja gar nichts dagegen habe, wenn Mary »hin und wieder mal« vorbeikomme, und Mary lachte wieder und sagte: »Ob du es glaubst oder nicht, Änne, aber Haushalte, in denen der Fernseher mit dem Telefon um die Wette plärrt, ein gestreßter Hausherr wie ein Säugling versorgt werden muß und der Tisch pausenlos auf- und abgedeckt wird, ohne daß es je zu einer wirklich gemütlichen Mahlzeit käme, haben mich noch nie interessiert.« Womit sie Änne fein zu verstehen gab, daß sie ihr das Terrain zwar kampflos überlassen wird, jedoch einzig und allein deshalb, weil es ihr zu unattraktiv ist. Zum guten Schluß der Veranstaltung verabschiedete sich Änne betont kühl von Mary und mir und umarmte beide Bennos in einer Weise, als ob es sich nicht nur um einen Abschied für immer handle, sondern sie darüber hinaus davon überzeugt sei, daß alle drei denselben nicht überleben würden. Im Hinausgehen wünschte sie mir noch »viele stilvolle Teestunden mit meiner Mutter«, wobei sie durchblicken ließ, daß es letztendlich sie, Änne, sei, die die stilvollen Teestunden finanziere … Seit zwei Wochen brütet sie nun in ihrer Wohnung vor sich hin und ruft allenfalls einmal an, um Benno zu bitten, ihr doch die warme Rheumadecke vorbeizubringen, ohne die sie sich in ihrer kalten Wohnung schier den Tod holt, oder nach dem Namen des Herzspezialisten zu fragen, der Bennos Chef 90
irgendwann einmal operiert hat. Auf ihre eigene Herzkrankheit möchte sie dann jedoch nicht näher eingehen, denn »das interessiert euch ja doch nicht!«. O Gott, Paula, werden wir auch mal so??? Bestimmt nicht! Schon weil uns die passenden Mitspieler fehlen werden. Dir in Deiner gefährlichen Eigenständigkeit (die Dir im Alter noch bitter aufstoßen wird!) sowieso, und was mich angeht, so kann ich mir auch kaum vorstellen, daß mir Lil und Benno II eines Tages jenen Pensionsfrieden gewähren werden, den sich Änne und Mary heute so selbstverständlich von mir erzwingen. Sie zahlen, grad so wie auf ihr Rentenkon to, irgendwann eine gewisse Summe ein und – zack – Anspruch auf Lebenszeit! Dagegen wird mir Lil wohl in einigen Jahren bei ähnlichen Anwandlungen cool verpassen, daß wir sie ja schließlich zu unserem eigenen Vergnügen in die Welt gesetzt haben, obwohl sie, strenggenommen, ja gar nicht mitspielen wollte (Tschernobyl, Aids, menschliche und sonstige Kälte) und, ebenso strenggenommen, ich diejenige sein müsse, die für die Kaprize, zwei Kinder in diese Welt gesetzt zu haben, ein Leben lang zu zahlen habe. Verpflichtungen, gleich welcher Art, hat diese Generation jedenfalls nur sich selbst gegenüber, ein Standpunkt, den ich durchaus zeitgemäß finde, er müßte nur für alle gelten. Was den Punkt der ausschließlichen Verpflichtung sich selbst gegenüber angeht, so fanden sich Lil und Mary gleich bei ihrem ersten Treffen nach Marys Ankunft. Lil fand es einfach super, daß Mary »ihren eigenen Weg gegangen ist« und sich nicht im lebenslänglichen sinnlosen Essenkochen und -anbieten erschöpft hat. (Wie Lisbeth das zum Beispiel getan hat, dieser idiotische Trampel.) Dafür ist Mary heute eine Frau, die etwas »mitzuteilen« hat, und zwar inhaltsreichere Sachen als etwa die Weisheiten ihres Drogeriekalenders. Und nach interessanten Gesprächspartnerinnen besteht heute eben mehr Bedarf als nach selbstfabrizierten Krautwickeln und den nervtötenden 91
»Wem darf ich denn noch etwas Gulasch auftun«-Sprüchen der Küchenmeisterinnen. Dennoch muß ich zugeben, daß es mir immer noch leichter fällt, Mary zu ertragen, wenn sie neben mir in der Küche steht und zusieht, wie ich arbeite, als wenn Änne neben mir in der Küche steht und zusieht, wie ich beispielsweise Salat putze. Anstatt mir zu erklären, »wie man das macht«, und scharf darüber zu wachen, daß nicht etwa ein Blatt, das man durchaus verwenden kann, vergeudet wird (was auf eine geringe Achtung von Bennos Arbeitskraft schließen läßt), lehnt sich Mary, die Zigarette in der Hand, dekorativ gegen den Kühl schrank und kann sich über die entzückende Nostalgie, die in meiner Küche die Atmosphäre bestimmt, gar nicht beruhigen. »O nein, du schlägst die Mayonnaise wirklich noch selbst? Oh, welch eine entzückende Gugelhupfform, jetzt sag nur, sie ist noch wirklich in Gebrauch!!!« Zwei Stunden Schaukochen, untermalt von Marys Kommen taren, und ich komme mir wie eine Angestellte im Freiluftmuseum vor, die unter den Jubelrufen der Touristen ihr Herdfeuer aus zwei Steinen schlägt! In der nächsten Woche wollen Mary und ich in die Stadt, um die Möbel für Marys Studio auszusuchen. Ich werde für diesen großen Tag meine Festtagstracht und die gefältelte Haube aus der Truhe holen. Es grüßt Dich vom Brunnen vor dem Tore, Deine Lisi
17. November Liebe Paula, war die ganze letzte Woche mit Mary einkaufen (Benno konnte wegen der Vermittlungsprovision nichts dagegen einwenden, was er sonst sicher gern getan hätte), und ich muß Dir geste hen, daß Bennos finstere Miene, mit der er mich nach meinen Exkursionen zu Hause empfing, durchaus berechtigt war. Als 92
erfahrener Mann, der, im Gegensatz zu mir, mitten im Leben steht, hatte er die mit der Einkauferei verbundene Suchtgefahr sofort erkannt, denn die ganze Aktion hat mir ein geradezu gefährliches Vergnügen bereitet. Mary schleppte mich in Geschäfte, die ich bisher nur von außen oder überhaupt nicht kannte, und dann saßen wir in kleinen Sesselchen und ließen die Einrichtungsspezialisten (sie einfach »Verkäufer« zu nennen, erscheint mir unpassend) um uns herumspringen. Wir durchwühlten Berge von Musterbü chern und Katalogen und suchten aus, und zwar ausschließlich Dinge, die schön sind und/oder Spaß machen, ohne im gering sten zu berücksichtigen, ob sie denn auch preisgünstig, fleckunempfindlich, zeitlos modern und mit irgendwelchem bereits vorhandenen Kram kombinierbar sind! Und die keinem Haushaltsvorstand gefallen müssen, der jeden Einkauf unter dem Aspekt der Reduzierung seines Kapitals sieht. Wir haben jetzt das komplette Schlafzimmer (ein absolut unpassender Begriff, in diesem himmlischen Raum auch nur eine Minute die Augen zu schließen, erscheint mir als sträfliche Vergeudung) und die große Bücherwand für den Wohnraum, die fest eingebaut wird, und eine wirklich witzige Kochbar, in der Mary bunte Cocktails mixen und vielleicht hin und wieder ihren morning tea zubereiten wird, das Ganze in einem sehr frischen, gute Laune verbreitenden Türkis. Die Recamière wird nach Marys eigenem Entwurf angefertigt und erst in einigen Monaten geliefert. Sie ist breit, weich gepolstert und mit schneeweißem Leinen bezogen, und die schräg drapierten Felle werden ihr im Winter etwas Urgemütli ches geben. In den Sommermonaten will Mary sie mit vielen Seidenkissen in Türkis, passend zu der offenen Kochbar, ausstatten. Dieses Traumding von »Couchgarniturersatz« kommt in einigem Abstand leicht schräg vor die Bücherwand, mit einem kleinen Rolltischchen daneben, auf dem das Telefon stehen wird. Das Problem, den richtigen Platz für das Telefon 93
zu finden, hat Mary sehr beschäftigt, und schließlich entschied sie sich für zwei Anschlüsse, einen neben der Recamière und einen ein paar Meter weiter neben dem Schlafdiwan, je nachdem, wo sie gerade liegt, wenn das Gelüst nach Kommu nikation sie überfallen sollte. Nach jedem geglückten Einkauf meinte Mary, daß es nötig sei, sich für die Strapaze des Aussuchen- und Entscheidenmüs sens zu belohnen, und lud mich ins Café ein, wo wir zur Aufmunterung und Kreislaufstabilisierung eine Flasche Schampus leerten. Ohne Benno, der immer sagt, daß Weiber, die alles hätten außer einer richtigen Aufgabe, die aller-allerunglücklichsten seien, direkt widersprechen zu wollen, scheint mir dies zumindest in Marys Fall nicht zuzutreffen. Verglichen mit Änne, die nach eigener Aussage »außer Pflichten nie was hatte« und allein aus diesem Grunde ein quicklebendiger Lebensborn sein müßte, trägt Mary die Bürde ihres Reichtums mit bewundernswerter Gelassenheit und wirkt ausgesprochen zufrieden, entspannt und heiter. Weiß der Teufel, wie sie das macht!!! Änne muß übrigens nicht befürchten, daß Mary sich in Ben nos Haus auf Bennos grauem Noppensofa breitmacht, um in Bennos TV zu glotzen, eher muß Mary befürchten, daß Lil und Lisbeth sich um den Platz auf ihrer Recamière prügeln … Nun, wie es aussieht, wird das Studio tatsächlich noch vor Weihnachten bezugsfertig sein, und Mary kann den zauberhaf ten kleinen Wintergarten, der dem Wohnraum vorgelagert ist, mit dem ersten richtigen Tannenbaum auf deutschem Boden schmücken. Sie freut sich jetzt schon darauf und will dieses Fest so richtig genießen … mit Gwen und Bobby Rogers, alten Freunden aus Amerika, die sich zur Zeit auf einem Europatrip befinden und sich die legendäre, typisch deutsche Weihnacht endlich einmal ansehen wollen. Mary zog kurz in Erwägung, ihnen die typisch deutsche Weihnacht in unserem Hause 94
vorzuführen, verwarf den Gedanken jedoch wieder – unver ständlicherweise, denn »typisch« wird’s bei uns doch eigentlich immer. Liebe Paula, in Deinem letzten Brief fragst Du in dieser taktlos direkten Art, die Du Dir angewöhnt hast, seitdem Du Dich auf Deinem Ego-Psycho-Endlostrip befindest (ich nehme an, dies ist die direkte Folge von Fragen, die man Dir stellt), was eigentlich meine Sammlungsecke hinter dem Paravent mache. Ja, was macht sie eigentlich? Ich nutze sie in letzter Zeit nur noch vormittags für ein Stündchen (in den vergangenen Wochen wegen Marys Umzug allerdings nicht mehr regelmäßig), weil Benno I verlangt, daß in dem Raum, in dem er schläft, weder geheizt noch geraucht wird. Also muß die Heizung spätestens um vier abgedreht und gründlich durchgelüftet werden, und bis der Raum sich morgens wieder erwärmt hat und ich die scheußliche Schlaf zimmergruft-Atmosphäre daraus vertrieben habe, ist es Zeit, ans Mittagessen zu denken. Leider ist es, seitdem Benno I mittags nach Hause kommt, bereits gegen elf Zeit, ans Mittagessen zu denken, dafür habe ich dann abends (kalte Platte) aber auch »unbegrenzt Luft«. Das heißt, Benno hat unbegrenzt Luft, er kann jetzt nämlich kommen, wann er will, ohne jedesmal extra anrufen zu müssen, und das ist doch (Benno spricht) für alle viel angenehmer. Daß es auch für mich viel angenehmer ist, habe ich allerdings bisher nicht feststellen können, aber das liegt natürlich an der mangelnden Flexibilität, für die Hausfrauen ja seit Jahr und Tag bekannt sind. Kommt die Müllabfuhr anstatt am Donner stag ein einziges Mal bereits am Mittwoch, gackern sie kopflos herum und wissen nicht, wie sie ihren Kram jemals wieder auf die Reihe kriegen sollen. Auf jeden Fall hat mir die neue betriebsinterne Regelung, gegen die leider keine Gewerkschaft Einspruch erhob, eine 95
Mittagszeit von dreieinhalb Stunden beschert, da ich mein Gasthaus selten vor halb vier nachmittags schließen kann. Es ist vollkommen idiotisch, für zwei Männer dreieinhalb Stunden lang Küche und Eßzimmer in Betrieb zu halten, aber was willst Du machen??? (Nein, Arsen ist keine Lösung, ich las erst kürzlich wieder, daß es sehr leicht nachweisbar ist.) Also um auf Deine Frage nach der Ecke meiner Sammlung zurückzukommen, jetzt im Winter macht mir weder die Ecke noch die dazugehörige Sammlung die rechte Freude. Am liebsten sitze ich im Moment im gemütlich-warm vermieften Wohnraum, lasse den Fernseher laufen, stricke ein paar Runden und stehe in regelmäßigen Abständen auf, um die Kaffeemaschine in Gang zu setzen und/oder (meist »und«) mir eine kleine Leckerei aus dem Kühlschrank zu holen. Ich esse nämlich, um abzunehmen, nicht mehr zu Mittag, sondern erzähle beiden Bennos, daß ich jeweils mit dem anderen Herrn getafelt hätte – dafür bin ich den ganzen Tag über kauend unterwegs. Meiner Spur durch das Haus kann man anhand der Krümel, die ich hinterlasse, mit Leichtigkeit folgen. Das ist nun das Ergebnis meines hundertfünfzigsten Versuches, mir das Rauchen abzugewöhnen, aber wie es aussieht, ist es mir nicht gegeben, die berühmte innere Leere einfach so leer zu lassen, wie sie ist. Als ordentliche Hausfrau muß ich das Loch einfach stopfen, obwohl ich strenggenommen lieber an Nikotinvergif tung stürbe als an Fettleibigkeit. Es ist einfach intellektueller … Um auf den Paravent zurückzukommen: Gleich nach ihrer Ankunft, als Mary mit hochgezogenen Brauen und ironischem Lächeln durch Bennos Haus ging, gefolgt von Lil und mir, derweil es Änne vorzog, die gute Gelegenheit zu nutzen, ihrem Benno Verhaltensmaßregeln ins Ohr zu zischen, unter besonde rer Berücksichtigung des »Riegels«, welchen er von Anfang an vor irgendwelche Dinge schieben soll, und zwar ehe diese sich einschleichen, blieb Mary in der geöffneten Schlafzimmertür 96
stehen, blickte amüsiert auf den Wandschirm und sagte: »Nein, wie entzückend, erinnert mich an diesen alten Doris-Day-Film, ›Pyjama für zwei‹, glaube ich, in dem er so erwartungsvoll im Bett liegt und sie hinter dem Paravent verschwindet und er nur ihre Dessous über den oberen Rand fliegen sieht … also, daß man das hier immer noch so macht …« Ich teilte ihr mit, daß man das hier noch nie so gemacht habe und daß sich hinter dem Wandschirm kein Spitzenhöschen, sondern ein Arbeits platz befinde, mein kleines Privatbüro sozusagen, in welches ich mich zurückziehen und in das mir (ha-ha-ha-ha) aus Platzmangel kein weiteres Familienmitglied folgen könne. Und da sah ich – mit einem kleinen Stich im Herzen –, wie Mary einen erstaunten Blick mit Lil wechselte und diese ihr dann kaum merklich zuzwinkerte, so als wolle sie sagen: »Nichts anmerken lassen, die Arme ist so stolz darauf!« Und Mary sagte daraufhin mit dieser unnatürlich hohen, Begeisterung heuchelnden Stimme, mit der man gewöhnlich den im Sandka sten gebackenen Rosinenkuchen Dreijähriger »probiert«: »Nein, wie entzückend, eine bezaubernde Idee, wirklich!« Dann strich sie mit dem Zeigefinger den Staub von der Schreibplatte und fügte hinzu: »Scheint aber nicht häufig in Gebrauch zu sein!« »Das ist nur gerade jetzt mal so«, sagte ich ärgerlich, »ge wöhnlich benutze ich mein Eckchen täglich!« Woraufhin sich Mary sehr mühsam ein Lächeln verkniff und Lil ihr einen weiteren Blick zuwarf, der deutlich besagte: »Solange es nicht schlimmer wird, ist es besser, ihr ihren Wahn zu lassen!« Ich habe übrigens trotz des ganzen Mary-Getöses meinen Kurs für Maschinentechnik mit Zertifikat abgeschlossen und mich bereits in den Fortgeschrittenenkurs einschreiben lassen. Das Zertifikat habe ich gerahmt und aus Spaß neben das Gewürzre gal in der Küche gehängt, und jedesmal, wenn Bennos Blick darauf fällt, nennt er mich ironisch »Frau Doktor Tipp-Ex!« Auf 97
meine bescheidene Art macht es mich aber dennoch stolz … Mary hat mir für meinen Schreibplatz eine silberne Bleistift schale und tausend Blatt Manuskriptpapier geschenkt. Ich muß Schluß machen, der Wäschetrockner pfeift. Bin seit Tagen irgendwie traurig, weiß gar nicht warum, Deine Lisbeth
2. Advent Liebe Paula, vielen Dank für Deine Einladung zur großen Bottle-Party am 24. Dezember (Du Luder!!!) und Lilas »Lesung zwischen den Jahren«! Leider habe ich am 24. schon eine Einladung zu der Weihnachtsfeier einer mir recht nahestehenden Familie am Heckenweg angenommen (sie wären beleidigt, wenn ich absagte), aber zu Lilas Galaabend komme ich gern. Nein, Du brauchst jetzt nicht ironisch-zweifelnd die Brauen zu heben, ich komme bestimmt, und niemand wird mich hindern! Der letzte Satz ist ganz wörtlich zu nehmen, denn es ergaben sich im wahrsten Sinne des Wortes bahnbrechende Veränderungen in Sachen Weihnachten, die jeglichen Ausbruch meinerseits ermöglichen werden. Es begann eher harmlos damit, daß Lil anläßlich ihres letzten Besuches ein wenig unsicher fragte, ob ich sehr traurig sei, wenn sie in diesem Jahr den Heiligen Abend mal woanders verbrächte. Ich verneinte dies etwas zu schrill, um glaubwürdig zu sein, eine Feinheit, die Lil jedoch nicht weiter aufzufallen schien, denn sie zauberte – Simsalabim – einen Prospekt aus der Tasche, der die Schönheit der Dolomiten zeigte, mit einem Kreuzchen an der Stelle, an der sich die einsame Hütte befin det, in die sie ein privater Skiclub eingeladen hat. Dort wollen sie zu zehnt sehr stimmungsvoll (mit Schnee!) den Heiligen Abend und den Jahreswechsel feiern. Ich schluckte kurz, brachte es jedoch fertig, glaubwürdig zu versichern, wie sehr mich dies für sie freue. 98
An dieser Stelle mischte sich Benno I ins Gespräch und bemerkte, das treffe sich gut, daß wir gerade von Weihnachten sprächen. Es sei nämlich so (trocknes Räuspern), daß es ihm aus innerbetrieblichen Gründen in diesem Jahr nicht möglich sei, den Jahresurlaub an einem Stück und zur Hauptreisezeit anzutreten. Deshalb habe er beschlossen, die seit Jahren geplante Fernostreise jetzt zu machen, genauer: in diesem Jahr, noch genauer: am zweiten Feiertag! Ich sagte mit leider leicht zittriger Stimme, daß es mir total entgangen sei, daß wir seit Jahren eine Fernostreise geplant hätten, woraufhin Benno sich erhob und mir wie einem alten Mütterchen, dem schon wieder die Brille ins Klo gefallen ist, über die Haare strich. »Nicht wir – ich – allein!« teilte er mir sodann mit. »Das Ganze passiert ja nur, weil wir den Markt auf Fernost erweitern, und ich müßte im Januar sowieso mal runterfliegen, und da dachte ich diese einmalige Gelegenheit zu nutzen und meinen Privaturlaub mit dranzuhängen. Das Blöde ist jetzt nur, daß ich am fünfzehnten Januar wieder im Betrieb sein soll und deshalb meinen Privaturlaub vorher nehmen müßte …« Und er setzte noch eine Zeitlang seine Erklärungen fort, derweil sich meine Augen an den Gardinen festkrallten und mir der idiotische Gedanke kam, daß sie dringend mal gereinigt werden müßten. Kurz und schlecht (und einerlei, was immer ich auch davon halte), er strebt am sechsundzwanzigsten von uns weg. An dieser Stelle der Diskussion bemerkte Änne, die kurz mal vorbeigekommen war, um ihre Heizdecke zu holen, das habe sie schon lange kommen sehen, womit sie mir fein zu verste hen gab, daß Benno eine Fernostreise plant und ich mir die dazugehörigen Gewissensbisse machen soll. Bereits in der Tür drehte sie sich noch einmal um und sagte, sie wisse zwar nicht, ob es uns interessiere, aber da man ihr ja deutlich genug zu verstehen gegeben habe, daß ihre Gegenwart im Hause ihres Sohnes unerwünscht sei, habe sie sich ent 99
schlossen, zu Weihnachten mit Frau Müller-Wippersfürth zu Frau Müller-Wipperfürths Schwester zu fahren. Diese hat nämlich irgendwo in den Alpen eine Ferienwohnung, und es wird bestimmt sehr gemütlich. (Mit Schnee!) Heiligabend macht sie zwar noch gute Miene zum bösen Spiel (ein Fern bleiben an diesem Tag kann sie dem Kleinen nicht antun, der ja immerhin noch ihr Enkelkind ist!!!), aber gleich am 25. morgens holt der Schwager von Frau Müller-Wippersfürth beide Damen zu Hause ab, um sie in die Wohnung von Frau Müller-Wippersfürths Schwester zu fahren. (Mit diesem Satz hatte Änne uns an unserer empfindlichsten Stelle getroffen, indem sie uns nämlich klarmachte, über welch reichhaltige intakte Familie Frau Müller-Wippersfürth verfügen kann, ganz im Gegensatz zu Änne, die weiß Gott auch etwas Besseres verdient hätte!) Kaum war Änne gegangen, trampelte Benno II in das Ge schehen, zog geräuschvoll die Nase hoch und teilte mir sodann ohne Umschweife mit, daß Stennis Eltern ihn eingeladen hätten, mit ihnen und Stenni zum Wintercamping zu fahren. Heiligabend würden sie noch zu Haus verbringen, dann aber am zweiten Feiertag gleich frühmorgens losdüsen. Letztes Jahr hätten sie es auch so gemacht, und es sei ganz toll gewesen (mit Schnee), und sie würden sich echt freuen, wenn Benno in diesem Jahr mitfahren dürfte. Ich war Stennis Eltern sehr dankbar, daß sie Heiligabend noch zu Hause verbringen und unseren Sohn erst am zweiten Feiertag entführen werden. (Diese ständige Zelt- und Reiselust von Stennis Eltern geht mir nebenbei bemerkt schon lange auf den Geist.) Fassen wir also zusammen: Frau Müller-Wippersfürth, ein mir unbekannter Skiclub, Stennis Eltern und der Ferne Osten laufen Lisbeth in diesem Jahr also den Rang ab. Ich komme mir wie die Regisseurin eines entzückend altmodischen Weihnachtsmärchens vor, die am Premierenabend auf leere Stuhlreihen guckt, weil nebenan eine Popveranstaltung läuft, 100
die die Massen eher anzieht als ihr »Freuet euch – freuet euch« im Kerzenlicht. Ich verscheuchte diesen Gedanken und sagte tapfer, daß mir die Idee, Weihnachten einmal »ganz anders« zu feiern, sehr entgegenkomme, stellte jedoch erstaunt fest, daß mich bei dem Gedanken daran fröstelte. »Natürlich machen wir in diesem Jahr keinen Baum«, kam Benno I noch einmal auf das Thema zurück, »und das mit der blöden Schenkerei sollte auch endlich aufhören. Meinetwegen für die Kinder eine Kleinigkeit, aber wir Älteren haben doch wirklich alles, was wir brauchen!« Was nicht ganz exakt ausgedrückt war, denn eigentlich hätte es heißen müssen: »… was wir Älteren brauchen, kann uns ohnehin keiner schenken.« »Kein Baum!« wiederholte ich und sah zu Benno II hinüber, insgeheim einen Schrei der Empörung erhoffend. Aber er saß auf dem Sofa und sah sich voller Interesse ein Buch über Wintercamping an, das Stennis Eltern ihm geliehen hatten. Auch Lil drang noch einmal in mich, daß ich mir doch um Gottes willen in diesem Jahr nicht wieder so viel Mühe machen solle. Tannenzweig-in-Vase, kleiner Imbiß, eine Kleinigkeit für jeden, das eigentliche Geschenk sei ja dann die Reise, die sie alle machen würden, und ich solle mich »einmal so richtig ausruhen!« Im Geiste sah ich uns bereits am Weihnachtsabend so dasit zen mit ein paar gekauften Salaten und einem Fläschchen Wein – und einer zum Heulen gut ausgeruhten Lisbeth, der, zum Teufel noch mal, im Moment sämtliche Felle davonschwim men, und zwar alle auf einmal und in ganz verschiedene Richtungen. Ich hoffe sehr, daß mich die Vorfreude auf die Reise zu Dir am Abend des 26. spontan überfallen wird, im Augenblick neige ich eher dazu, mir die Rückkehr von dieser Reise auszumalen, die Rückkehr in ein ödes, kaltes Haus, das mit herabgelassenen 101
Rollos und einer einsam an einem verstaubten Tannenzweig baumelnden Christbaumkugel auf mich wartet. Meiner heiß geliebten Adventszeit fehlt in diesem Jahr über haupt der Glanz! Ich habe mein Pfefferkuchenhaus am vergangenen Sonntag allein gebaut, weil ich mich plötzlich fürchtete, Benno II zu fragen, ob er Lust habe, die Herzchen für das Dach auszustechen. Ich stach sie am Abend alleine aus, wobei mir allerdings das ganz spezielle, friedlich-warme Gefühl in der Herzgegend fehlte, das mir sonst immer so tröstlich versichert hat, daß sich letztendlich doch alles lohnt. Glücklicherweise lenkt mich Mary mitsamt ihrem Studio von meinen schwarzen Gedanken ab. Sie war eine Woche bei Freunden in Bayern und kommt morgen zurück, um ihren Umzug zu managen. Die Sache wird pflegeleicht über die Bühne gehen, denn da sie sich ja komplett neu einrichtet, muß sie eigentlich nur in ihrem Studio sitzen und auf die einzelnen Lieferungen warten. Bett und Kochcenter sind schon da, und, was wichtiger ist, das Telefon funktioniert auch bereits. Alles andere steht auf Abruf bereit. Wie einfach ist doch das Leben, wenn man es (Zitat Lil) von Anfang an richtig anpackt. Habe übrigens gestern trotz allem wie immer einen Christ stollen gebacken, aber irgendwie kam ich mir blöd dabei vor. Lil sagte neulich, ich müsse endlich aufhören, ausschließlich »durch andere leben zu wollen«. (Die moderne Fassung von: »für andere da zu sein«!) Ich werde den Stollen also allein vertilgen, nur dumm, daß er so groß ist (anderthalb Kilo). Liebe Pauline, ich freue mich sehr auf Lila und Dich. Die Luftveränderung wird mir sicher guttun. Was ist eigentlich mit der gemeinsamen Winterreise, die ich Dir für Februar vorge schlagen habe? Du hast nie darauf reagiert. Heute schon mal »frohes Fest« und besinnliche Stunden, falls ich nicht mehr dazu komme, ein Extrakärtchen zu schicken. Deine Lisbeth 102
PS: Verzeih den saudummen Satz: »falls ich nicht mehr dazu komme!« Er fällt ausgedienten * Hausfrauen aus der Schnauze, sobald sie im November die erste Weihnachtsbeleuchtung in den Schaufenstern sehen. Es ist wie ein Nervenzucken und kommt aus dem Unterbewußtsein, man kann nichts dagegen tun. PPS: Las gestern zufällig in einem Buch, das Änne von Frau Müller-Wippersfürth zum Geburtstag geschenkt bekam, »Philosophie des Alltags«: Manch einer erschreckte sich wohl sehr, wenn seine Wünsche plötzlich in Erfüllung gingen …
Mitte Januar Liebe Paula, seit Tagen wollte ich Dir schon für die herrliche Woche bei Dir und die mehr als vergnügliche »Hexensilvesterparty« danken, mit den schönen, besinnlichen Gesprächen und dem Tarot nach Mitternacht. Ich muß gestehen, daß ich weder Benno I noch die fröhliche Fernsehfamilie, mit welcher ich seit Jahren feiere, auch nur eine Minute vermißt habe. Nun bleibt nur zu hoffen, daß Lilas glückverheißender Blick in die Zukunft nicht umsonst getätigt wurde und die Zukunft auch weiß, was von ihr erwartet wird. Für eine lahmgelegte Hausente wie mich liegt ja die einzige noch verbleibende Chance letztendlich doch »im Schicksal«, da dieses, wie man weiß, dazu neigt, ganz plötzlich zuzuschlagen, ohne sich lange von hunderterlei »Wenn« und »Aber« aufhalten zu lassen. Also sehen wir die Dinge gelassen auf uns zukommen. Wann, sagte Lila noch, stehen diese »positiven Veränderungen in jeder Beziehung« ins Haus? War’s nicht Ende März? Der Termin nach dem Früh jahrsputz träfe sich ganz ausgezeichnet. Wobei sich natürlich *
Freudscher Versprecher, ich wollte natürlich »langgedienten« schreiben. Bin ein bißchen durcheinander … 103
die Frage ergibt, ob sich der Frühjahrsputz überhaupt noch lohnt … Liebe Pauline, Du kluges Mädchen, ich hatte den Eindruck, daß Du sehr wohl bemerktest, wie ich etwas verkniffen und zögernd zustimmte, als die rote Britta vorschlug, den nächsten Hexentreff bei mir abzuhalten – denn es ist so, daß ich mit ziemlicher Sicherheit sagen kann, daß Benno I an dem betref fenden Tag nicht nur nicht auf Geschäftsreise sein wird (so oft er auch sonst unterwegs ist), sondern mit jenem Affenzahn, mit dem er sonst in den Club sprintet, zu seinem Haus eilt. Denn so richtig zufrieden-entspannt auf Reisen oder sonstwo kann er nur sein, wenn er weiß, daß zu Hause alles in Ordnung ist, das heißt Lisbeth, bewacht von Änne, artig fernsieht oder als Alternative dazu vielleicht die Wäsche bügelt. Alle anderen Alternativprogramme dagegen erwecken sofort sein tiefstes Mißtrauen. Denn ist zu befürchten, daß sich ein Wesen seinem Besitztum (und dem sich darin befindenden lebenden Inventar) nähert, welches fremdes Gedankengut hineintragen könnte, dann ist er mit Sicherheit zur Stelle, um die Gefahr abzuwen den. Dies tut er, indem er Lisbeth zunächst einmal an den Herd verweist und selbst »die Unterhaltung« in die Hand nimmt, indem er die Anwesenden zum Beispiel zwingt, ein Fußball spiel oder (wenn sie Glück haben) die Wim-Thoelke-Schau anzusehen. Auf jeden Fall bringt er sie zum Schweigen!!! Und wenn es ihm dann endlich gelungen ist, alle zu vertreiben, dann kann er rasch noch rüber in den Club eilen oder sich, sollte es doch später geworden sein, in Frieden zur Ruhe begeben. Zwar hat er sich Lisbeths Haß zugezogen, aber etwas wirklich Schlim mes hat er (erleichterter Stoßseufzer) in letzter Minute verhindern können. Nun muß man natürlich in Betracht ziehen, daß selbst einem so eingemauerten Geist wie dem von Benno I inzwischen aufgegangen ist, daß die Themen der Frauen nicht mehr wie früher vorwiegend um die Ernährung ihres Paschas 104
kreisen oder darum, wie man den Pascha »halten« kann, sondern weit öfter die Frage beleuchtet wird, wie frau ihn wieder loswird. Es ist also durchaus zu verstehen, daß mann das Zusammen sein seiner Frau mit einer Geschlechtsgenossin heute mindestens ebenso beunruhigend findet wie ein Rendezvous mit einem anderen Mann (Betonung auf »mindestens«), und so ganz unrecht hat er mit seinen Befürchtungen ja auch nicht … Also dies mit einem schönen Gruß an Britta, als Antwort auf ihren Plan, den nächsten Hexensabbat in Bennos Haus abzuhal ten. Sie mag ja mit Hexen und Geistern aller Art bestens vertraut sein, Unholde wie Benno scheinen ihr noch nicht über den Weg gelaufen zu sein, sonst könnte sie nicht so arglos naive Vorschläge machen. Wobei ich natürlich zugeben muß, daß man Bennos der o. g. Art höchst selten auf alten Friedhö fen antrifft, wo sie um die Grabmale herumtanzen. Man trifft sie ausschließlich im ganz normalen Leben, in ganz normalen Kneipen und Vereinen, in Touristenhochburgen und samstags in der Fußgängerpassage, also an Orten, wo Britta sich eher selten aufhält. Die Sippe ist inzwischen von ihren verschiedenen Exkursionen zurückgekehrt, und ich habe das Gefühl, daß es, mit Ausnahme von Benno II, niemandem so recht gefallen hat. Benno I kehrte vor einigen Tagen von seinem Geschäftsaus flug ins Exotische zurück, und obwohl er beinahe drei Wochen lang unterwegs war und der geschäftliche Teil der Reise höchstens fünf Prozent der Zeit in Anspruch genommen hat, wußte er bemerkenswert wenig zu erzählen. Falls es Dich interessiert (mich eigentlich weniger): Die air condition im Hotel funktionierte tadellos, das Essen war einwandfrei, allerdings mehr so, wie wir es kennen, ansonsten natürlich alles ziemlich exotisch, leben könnte man da aber nicht. Als er begann, mir jeden einzelnen Artikel, den man billiger 105
als bei uns haben kann, aufzuzählen und auszurechnen, wieviel Prozent der Preisnachlaß jeweils ausmacht (unter besonderer Berücksichtigung des Wechselkurses), verlor ich wie üblich den Faden und erwachte erst aus meinem Wachtraum, als Benno mich vorwurfsvoll darauf aufmerksam machte, »daß ich ja gar nicht richtig zuhöre«, wozu ich bemerken möchte, daß ich seit mindestens fünfzehn Jahren nicht richtig zuhöre, nur daß ich dies nicht mehr so gut verbergen kann wie früher. Auch Benno II hatte erstaunlich wenig erlebt. Ich brachte lediglich in Erfahrung, daß es »echt super« gewesen sei, eine hundertprozentige Steigerung zu bloß »super«, sozusagen das Höchste überhaupt, und daß er im nächsten Jahr wieder mit Stenni und Stennis Eltern zum Wintercamping fahren wird, wahrscheinlich sogar schon am ersten Feiertag. Na gut, daß ich das weiß … Änne ist ebenfalls wohlbehalten und platzend vor Energie zurückgekehrt und schilderte freiwillig, und ohne daß man ihr die Worte einzeln aus der Nase ziehen mußte, den Komfort, den sie in der Wohnung von Frau Müller-Wippersfürths Schwester genießen durfte! Sie bedauerte mehrmals, nicht auch so eine Wohnung gekauft zu haben! Menschen wie Änne sind es nämlich nicht gewohnt (Zitat), bei anderen zu nassauern und sich dann hundertmal bedanken und lebenslänglich verpflichtet fühlen zu müssen. Das haben Menschen wie Änne »an sich« nicht nötig!!! Ob der geforderten Dankbarkeit wegen oder aus anderen Gründen, es schien jedenfalls zu Reibereien zwischen ihr und Frau Müller-Wippersfürth gekommen zu sein. (Sie ist eben doch nichts wirklich Feines, nur Geld und eine unerträgli che Sucht zur Angabe – ganz im Gegensatz zu Änne!) Nun, jedenfalls wirkte sich das kleine Zerwürfnis mit Frau MüllerWippersfürth positiv auf Ännes Familiensinn aus, und so ist sie wieder zu uns zurückgekehrt und rotiert im gewohnten Dreieck: Eßplatz, Fernsehplatz, Ruheplatz! Auch Lil ließ sich kurz blicken, war hübsch und ein bißchen 106
rosiger als gewöhnlich, ließ jedoch verlauten, daß sie nie wieder mit einem Haufen Pubertätsidioten in eine einsame Hütte fahre, wo es als einzige Ausweichmöglichkeit einen vereisten Steilhang gebe. Über den Grund ihrer Ausweichbe dürfnisse ließ sie sich nicht näher aus!!! Meinen eigenen Ausflipper in Richtung »Silvesterparty bei Paula« nahmen alle mehr oder weniger amüsiert zur Kenntnis. Während es Änne zu beruhigen schien, daß ich im Kreise älterer Damen »ein Glas Sekt getrunken« hatte, und Benno zuversichtlich bemerkte, daß dies ja nur eine Ausnahme und beileibe keine Dauereinrichtung sei (im nächsten Jahr feiern wir zwei ja dann wieder gemeinsam), äußerte Lil sich dahinge hend, daß sie Kaffeekränzchen jeglicher Art einfach zum Speien finde. Für Lil sind mehr als zwei Frauen immer Kaffeekränzchenrunden, wobei sie keinerlei Unterschied gelten läßt, ob sich die Damen nun über Gugelhupfrezepte oder die Auswirkung der Atomkraft auf die dritte Welt unterhalten. Ganz zu schweigen von dem lächerlichsten aller lächerlichen Themen: dem Feminismus, ein Thema, welches in seiner Lächerlichkeit sogar das Gugelhupfthema um Längen schlägt. Ich kann’s ihr nicht weiter übelnehmen, warum für eine Sache kämpfen, die man vom ersten Tag an besessen hat? Ich hätte auch wenig Interesse daran, mich an einer Demo zur Abschaf fung des Korsetts zu beteiligen. Das neue Jahr hat für mich übrigens, von der vergnüglichen Silvesterparty einmal ganz abgesehen, sehr gut angefangen. Marys Freunde, Gwen und Bobby Rogers, waren von Marys Christmasparty so angetan, daß sie beschlossen, noch ein paar Tage länger zu bleiben, und deshalb nach einer Übernach tungsmöglichkeit suchten, woraufhin Mary sie in Bennos Haus einquartierte – und ich muß sagen, sie waren reizende Gäste. Ohne groß zu fragen, faßten sie mit an und halfen, und wenn sie abends von ihren Sightseeingtouren zurückkamen, hatte Gwen unterwegs eingekauft, und Bobby begab sich in die 107
Küche und zauberte irgendeine Köstlichkeit auf den Tisch. Ich schaute offnen Mundes zu, denn im Gegensatz zu Benno, der dies nach zwanzig Jahren noch nicht kapiert hat, hatte Bobby bereits nach fünf Minuten herausgefunden, wo bei uns die Küchenmesser liegen!!! Er nervte mich weder mit »Darf ich helfen« noch mit »Wo, bitte, finde ich denn«, und jeder uneingeweihte Besucher hätte das Gefühl haben müssen, daß Lisbeth über einen beneidenswert tüchtigen Mann verfüge. Und was das Tollste war: Er schaffte es doch tatsächlich, das Essen zu servieren, ohne einen mit diesem beifallheischenden »Bin ich nicht ein toller Typ«-Blick (Lob-Lob-Lob) zu nerven, den ich sonst bei kochenden Männern beobachtet habe. (Welche sich zudem allenfalls einmal im Jahr in die Küche begeben, und zwar um ihr weltweit berühmtes Hechtsteak in Dillcreme zu komponieren.) Gwen sagte, sie wünsche sich schon so lange, mal einen Europatrip zu machen, nach Italien oder nach Frankreich würde sie zum Beispiel so gern mal fahren, und ob wir beide (sie und ich) das bei ihrem nächsten Besuch nicht mal machen sollten. Ich erwiderte, daß ich, zu dumm, leider keinen eigenen Wagen besäße, woraufhin Gwen mich ansah, als ob ich gestanden hätte, keine eigenen Füße zu besitzen, und Bobby sagte, wir hätten doch einen Wagen (er hatte Bennos Schlitten in der Garage gesehen). Und Gwen sagte, es mache ihr nichts aus, auch lange Strecken zu fahren, für den Fall, daß ich nicht gern am Steuer säße … Ach, lassen wir das! (Wie alles andere auch.) Werde nur auf wehmütige Weise sauer, wenn ich daran denke, daß Frauen wie Gwen Männer wie Bobby haben, einfach so … für nix, aus Zufall, nur weil sie zur richtigen Zeit am richtigen Ort waren. Sieben Uhr, ich muß in meinen Tippkurs. Lernziel: Ge schäftsbriefe.
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In der Hoffnung, von Ihnen zu hören, verbleiben wir mit freundlichen Grüßen Lisbeth AG (nach Diktat leider nicht verreist)
3. März Liebe Paula, habe ich vergessen, Dir mitzuteilen, daß ich donnerstags abends immer im Tipp-Kurs bin, oder hast Du dies bloß nicht richtig mitbekommen, weil Du einfach davon ausgehst, daß Lisbeth – ebenso wie der Küchenschrank – schließlich zum festen Inventar von Bennos Haus gehört und in dieser Eigen schaft immer erreichbar ist? Trotzdem tut es mir leid, daß Du zur Strafe gleich mit zwei Bennos kommunizieren mußtest, mit Benno II, der Deinen Anruf entgegennahm, und mit Benno I, der zwecks Unterstüt zung von Benno II herbeigerufen wurde. Die Anstrengung, mit der Du dann schließlich aus Benno I die Information, daß Lisbeth gar nicht da sei, herausgebaggert hast, kann ich mir lebhaft vorstellen. Ich selbst erfuhr von Deinem Anruf erst kurz vor dem Einschlafen, als Benno mir ein in ein herzhaftes Gähnen verpacktes »Paula hat angerufen« zukommen ließ. Als ich, augenblicklich wieder hellwach, mit der Frage in ihn drang, was Paula denn gewollt habe, brachte er gerade noch ein mit letzter Kraft gehauchtes »weiß nicht« zustande, ehe er einschlief. An der Dynamik seiner Aussage kann ich mir den Esprit, mit dem Ihr Eure kleine Abendplauderei geführt haben mögt, bestens vorstellen. Immerhin werde ich mich beruhigten Herzens auf meine Fortbildung konzentrieren und muß nicht befürchten, daß falsche Freundinnen meine Aushäusigkeit ausnutzen, um allein und ungestört mit Benno I zu telefonieren (von Benno II ganz zu schweigen!). Also, um auf das Wesentliche zu kommen:
An jedem Donnerstagabend bin ich von neunzehn bis ei 109
nundzwanzig Uhr dreißig außer Haus. Bitte trage dies in Deinen Terminkalender ein, denn die Tatsache, daß ich seit neuestem ebenfalls einen Terminkalender habe, macht mich zu stolz, als daß ich zulassen würde, daß man sie einfach ignoriert. Liebe Pauline, ich denke, der Grund Deines Anrufs war der, einmal nachzuforschen, wo ich eigentlich geblieben bin und warum ich so lange nicht geschrieben habe. Nein, ich bin nicht im Winterurlaub gewesen, wie Du vielleicht gedacht haben magst, einfach, weil sich niemand fand, der bereit gewesen wäre, mich zu begleiten. (Ich weiß, daß dies kein Grund ist, eine Reise zu vertagen, aber ich bin nun mal ein Herdentier, das sich allein nur unter Zwang in Bewegung setzt.) – Ich habe statt dessen unser Wohnzimmer von Grund auf renovieren und sämtliche Türen in Bennos Haus streichen lassen. Es fing damit an, daß Mary die Familie zu einem kleinen Umtrunk in ihr Studio einlud, welches inzwischen bis auf die allerletzte Ecke durchgestylt ist. Alles ist einfach wundervoll geworden, auch wenn Änne die fehlende Couchgarnitur bemängelte und langatmig die Frage »Wo man sich denn hier überhaupt hinsetzen kann« zur Diskussion stellte. Mary fackelte nicht lange und zwang sie auf die Recamière, wo sie mit kerzengeradem Rücken und beleidigt dreinblickender Handtasche auf den Knien den ganzen Abend hocken blieb und mehrmals betonte, daß man, wenn man ein gewisses Alter erreicht habe, einen richtig gemütlichen Sessel eher zu schätzen wisse. Mary teilte ihr charmant mit, daß man auf einer Reca mière ja auch keine sitzende, sondern eher eine halb liegende Position einnehmen müsse, und wollte sie scherzhaft in die halb liegende Position hineinzwingen, was Änne mit stram pelnden Beinen und so entsetzt ablehnte, als habe man von ihr verlangt, für ein Pin-up-Foto zu posieren. Wir anderen gruppierten uns auf die großen Sitzkissen und an der Küchenbar zum gefälligen Rund, und es war erheiternd zu sehen, wie verbittert Bennos Blick an der grauen Mattscheibe 110
des in die Bücherwand eingelassenen Fernsehers klebte, der uns, hätte man ihn nur eingeschaltet, mit irgendeiner Boule vardkomödie mit Harald Juhnke unterhalten hätte. Statt dessen zog Mary es vor, uns ihre eigene Boulevardkomödie zu präsentieren, und das war fast genausogut. Mein eigener Blick klebte dagegen den ganzen Abend an der schönen Einrichtung, und der Umstand, daß bei Mary jeder Gegenstand, angefangen vom Kopfkissen bis hin zum kleinsten Teelöffel, funkelnagelneu ist, bewirkte, daß mir bei unserer Rückkehr Bennos Haus wie ein Behelfsheim erschien. Ich hoffte, daß sich der Eindruck wieder verflüchtigen und alles am nächsten Tag wie immer sein werde, aber am nächsten Tag bat mich Mary, doch für einige Stunden vorbeizukommen und auf den venezianischen Spiegel zu warten, der just an jenem Tage geliefert wurde, an dem sie selbst eine dringende Verabredung im Flughafen hatte, wo irgendeine interessante Person zwi schenlandete. So hatte ich Gelegenheit, weitere vier Stunden lang die Einrichtung auf mich wirken zu lassen, und als ich schließlich in Bennos Haus zurückkehrte, hatte sich der Eindruck, in einem Behelfsheim zu wohnen, verstärkt. Die Erkenntnis, daß ich es ja glücklicherweise nicht mehr nötig habe, mich mit so etwas einfach abzufinden, ließ mich unge heuer munter werden. Ich rief unseren Malermeister, Herrn Brennmeier, an, und wir gingen Seite an Seite durch Bennos Haus und waren uns darüber einig, daß es wirklich an der Zeit sei, daß hier einmal etwas getan werde. Ich hätte Herrn Brennmeier für den freudigen Eifer, mit dem er auf jeden meiner Vorschläge einging, küssen können (ein Beweis für das ständige Defizit freudigen Eifers in meinem Leben), und wir kamen überein, daß nicht nur das Wohnzim mer neu tapeziert, sondern darüber hinaus der Flur und sämtliche Türen neu gestrichen werden müßten. Herr Brenn meier meinte, daß alles in allem etwa zwei Wochen dauern und Viereinhalbtausend Mark kosten würde, eine Summe, mit der 111
ich so ungefähr gerechnet hatte. Meinen Vorschlag, sich an den Kosten zwecks Verschöne rung seines Hauses zur Hälfte zu beteiligen, schlug Benno leider rundweg aus und sagte, daß für ihn alles, so wie es sei, gerade recht sei, und wenn ich mir durch einen einzigen Besuch in Marys Filmstudio Flausen in den Kopf setzen ließe, dann solle ich verdammt noch mal auch sehen, wie ich die Flausen finanziert kriege. Nun gut, ich habe also die Neugestaltung von Bennos Heim selbst finanziert, und ich muß sagen, daß mich keine Mark reut und daß ich nicht wüßte, wie ich Mutters Provision sinnvoller hätte anlegen können. Diese Renovierung von Grund auf war bestimmt das Beste, was ich mit dem Geld tun konnte, anson sten hätte ich es mit der Zeit wahrscheinlich nach und nach für neue Zwiebelbrettchen oder sonst was verpulvert und hätte schon nach einem Jahr nicht mehr gewußt, wo der ganze Zaster eigentlich geblieben ist. Unverbesserlich, oder besser gesagt, unbelehrbar, hatte ich nach vollbrachter Tat die Hoffnung, daß Benno nunmehr unsere alte, mausige Couchgarnitur ebenso unschön ins Auge sticht wie mir und er sich, eingedenk meiner erwiesenen Großzügigkeit, nicht lumpen läßt und eine neue Couchgarnitur kauft, denn die alte wirkt nun in all der strah lenden Helligkeit älter und mausiger als je zuvor. Aber Benno ließ sich lumpen (sich lumpen zu lassen, ist etwas, dessen er sich weit weniger schämt, als zum Beispiel ein einziges Tennismatch zu verlieren) und teilte mir mit, daß er unsere Couchgarnitur nach wie vor sehr gemütlich finde und beim besten Willen nicht verstehe, was ich an ihr auszusetzen hätte. Zudem, teilte er mir mit, würden so gut gepolsterte Sessel heutzutage gar nicht mehr hergestellt. Allerdings muß ich zugeben, daß der Anblick der Mausgrauen ihn schon aus dem Grunde nicht wesentlich stören kann, weil er, sobald er das Wohnzimmer betritt, nicht erst lange auf das Sofa glotzt, so wie ich das tue, sondern sich unverzüglich und mit geschlosse 112
nen Augen darauf niederläßt. Ich aber habe Blut geleckt, und die neu erwachte Lust, Geld nicht nur zu haben, sondern auch auszugeben, und zwar wie es mir gefällt, giert nach neuer Befriedigung. Ich habe jetzt noch vier Donnerstage in meinem Tipp-Kurs, und dann ist Prüfung, und wenn ich das »große Zertifikat« habe, welches den Beweis liefert, daß ich in der Lage bin, Geschäftsbriefe jeglicher Art in mittlerer Geschwindigkeit im Zehn-Finger-Blind-System zu schreiben, werde ich einmal naßforsch eine Annonce aufgeben und mich und meine Fähigkeiten auf dem Arbeitsmarkt anbieten. Was meinst Du, was sie zahlen werden, wenn sie mich nehmen? Und wie lange werde ich tippen gehen müssen, bis ich die neue Couchgarnitur habe? Bitte, liebe Paula, lach mich jetzt nicht aus, ich weiß, daß meine Wünsche spießig und rückständig sind und es Dinge gibt, die ich mir eher wünschen sollte als ausgerechnet eine neue Couchgarnitur. Aber wenn man an die wirklich großen Sachen nicht rankommt, kann man doch nicht zusätzlich für immer auf die kleinen und erreichba ren verzichten. Damit Du mich besser verstehst: Die speckigen Sessel in dem blitzsauberen, strahlenden Wohnzimmer kommen mir so vor wie Dein Puccelli-Jackett mit einer uralten, total verschwitzten Bluse darunter. Ich denke, jetzt verstehst Du mich schon besser … Von dem Ärger mit der Mausgrauen einmal abgesehen, geht es mir im Moment eigentlich ausgesprochen gut. So ein frisch renoviertes Haus hat ganz einfach etwas Aufmunterndes … Ich fand heute das erste Schneeglöckchen! Umarmung, Deine Lisbeth
Mittags Gerade ist Benno zur Tür hinaus, nach einem fürchterlichen Krach, zum Nachtisch. Es ging um die Rechnung, die mir Herr Brennmeier heute geschickt hatte und über die sich Benno überhaupt nicht beruhigen konnte. So tausend bis tausendfünf 113
hundert Mark hätte er für angemessen gehalten, mit Arbeits utensilien natürlich, die Herr Brennmeier ja schließlich billiger kriegt. Wie erklärst Du es Dir, Paula, daß ein Mann, der mitten im Berufsleben steht und gewohnt ist, täglich über Millionen projekte zu verhandeln (und der seinen eigenen Stundenlohn mit fünfhundert Mark veranschlagen würde), alle anderen Menschen zu Verbrechern stempelt, wenn sie die Unverschäm theit besitzen, sich ihre Arbeitskraft ebenso wie er angemessen vergüten zu lassen? Sind die Kerle durch die Tatsache, lebenslänglich eine Diene rin zu haben, die alles umsonst macht, so versaut, daß für sie die gesamte Welt nur aus Dienern besteht? Ich habe mich über die anmaßende Haltung, mit der Benno die Rechnung von Herrn Brennmeier auf den Tisch knallte, dermaßen aufgeregt, daß Änne glauben muß, ich sei an dem Umsatz, den Herr Brennmeier mit seinem Laden macht, maßgeblich beteiligt. Früher dachte ich immer, es ginge Benno ausschließlich um sein Geld, aber das trifft es nicht … Es ist ganz einfach die Tatsache, daß es außer ihm noch mehr Menschen auf der Welt gibt, die sich für ihre Arbeit bezahlen lassen, die die Ader an seiner Schläfe anschwellen und ihn am Sinn des Daseins zweifeln läßt. Und ich hirnverbrannte Trine unterstütze diese maßlose Unverschämtheit auch noch, was wiederum Benno dazu veranlaßte, mich wie eine Dreijährige, der das Brötchengeld in den Gulli gefallen ist, abzukanzeln. Merke: Von allem, was über die Dreckbeseitigung nach der Renovierung hinausgeht, habe ich mich fernzuhalten. Es ist nicht mein Metier. Ich bin so sauer, daß mich das Gelüst überkommt, die neu tapezierten Wände von der Decke bis zum Boden mit Graffiti zu beschmieren. »Haut die Bullen platt wie Stullen« und ähnliches. Ich hatte gedacht, daß sich Benno mit mir an dem frisch gestrichenen Haus freuen würde und die Tatsache, daß nicht er, sondern ich die Renovierung bezahlt habe, seine 114
Freude ungetrübt zutage treten lassen würde. Und daß es ihm ein einziges Mal egal ist, wieviel es gekostet hat!!! Aber denkste! Die ganze Streicherei wäre gar nicht nötig gewesen, und der einzige, der etwas davon hat (freudloses Lachen), ist Herr Brennmeier. Warum klemme ich mir die frisch lackierten Türen (lindgrün) nicht einfach unter den Arm und suche das Weite??? Gerade nähert sich die Antwort auf meine Frage dem Garten tor. Ich will für Benno II das Essen wärmen. Mich mit schlurfendem Schritt dem Herd nähernd, L.
Sonntag abend Liebe Paula, jetzt möchte ich Dir mal eine Frage stellen: Kannst Du Dir (unter Auferbietung sämtlicher kreativer Kräfte) vorstellen, daß sich Benno I schlotternd vor Aufregung auf einen Besuch von Dir vorbereitet, wochenlang darüber nachdenkt, was er anläßlich dieses großen Ereignisses tragen wird, und sorgen volle Überlegungen anstellt, ob wir Deinen empfindlichen Magen nun mit heimischen Spezialitäten Hausmacherart füllen, oder diese Aufgabe doch lieber einem Spezialisten wie Feinkost Käfer überlassen …? Daß er sich dann bereits zwei Stunden vor Deiner Ankunft in seinen besten Anzug wirft, meine Erscheinung kritisch mustert und uns dann beide in bebender Erwartungshaltung und mit gefalteten Händen auf das Sofa zwingt, um beim leisesten Geräusch mit einem wehen Laut auf den Lippen (sie ist da!) ans Fenster zu spurten und durch die Gardine zu lugen? Und daß er Dich dann später, während der gesamten Dauer Deines Besuches mit einer Aufmerksamkeit umschwirrt, die Du zuletzt bei dem Kammerdiener von Marie Antoinette in irgendeinem Kostümfilm bewundert hast??? Was? Du wärst schon froh, wenn Benno Dich in Ruhe Dein 115
Bier trinken ließe, ohne mit finsterer Miene das Gefühl zu verbreiten, daß Du Dich nicht nur unrechtmäßig bei uns eingeschlichen hast, sondern seine Ruhe und sämtliche Rechte, »die er in diesem Hause hat«, darüber hinaus empfindlich störst??? Und warum ich so saublöde Fragen stelle? Ja nun, gestern waren Graßmanns hier! Ich bin jetzt noch total erschöpft, und die Klammer, die mein Herz umfangen hält, lockert sich erst ganz allmählich … Du solltest die wundersame Veränderung sehen, die mit Benno vor sich geht, sobald der Schatten derer von Graßmann auch nur am Horizont auftaucht … Herr Graßmann bekleidet nämlich bei »Deterich-Werke & Partner« eine maßgebliche Position, und einmal im Jahr laden er und seine Gattin Benno und mich ein (zu einem alptraumartigen Abendessen, bei dem das Klingeln der Eiswürfel im Glas das lauteste Geräusch ist) – was zur Folge hat, daß wir sie unsererseits einladen müssen (zu einem alptraumartigen Abendessen, bei dem das Klingeln der Eiswürfel im ständigen hysterischen Hin- und Herrennen der Gastgeberin vollkommen untergeht). Bereits Tage vor dem großen Ereignis pflegt Benno seine Haltung mir gegenüber in bemerkenswerter Art und Weise zu ändern, will sagen, er hält mich scharf im Auge, aus Angst, daß ihn das geschulte Personal ausgerechnet am Tage X im Stich läßt und sich zum Beispiel mit Cholera oder Selbstmord aus der Affäre zieht. Ein bißchen komme ich mir immer vor wie jener Vorarbeiter, den der Chef normalerweise total übersieht, der jedoch plötzlich eine gewisse Wichtigkeit erhält, weil er am Tage der großen Werkbesichtigung die Maschinen (und das gute Betriebsklima) vorführen soll. Stellt Benno dann fest, daß ich aller Voraussicht nach wie immer auf Zack sein werde, entspannt er sich zusehends und ist bereit, die Menüfolge und die Art des Aperitifs zu besprechen und vor Eintreffen der Gäste höchstpersönlich die Gläser zu polieren, damit – 116
schrecklicher Gedanke – die Graßmannschen Kehlen nicht etwa durch eine Fluse geschädigt werden. Ich stelle derweil bittere Überlegungen an, wie froh ich schon wäre, wenn er mich seinerseits mit Paula bei ihrem nächsten Besuch in Ruhe am Küchentisch einen Wein trinken ließe, meinetwegen aus einem alten Senfglas. (Vergiß es, Liebling!!!) Später habe ich dann die kräftezehrende Aufgabe, einerseits die Rolle der adäquaten Gattin eines Topmanagers und die der Dienstspritze der Gattin in einer Person zu vereinen, und zwar so diskret, daß man der Gattin die Dienstspritze weder ansieht noch anriecht und weder das geputzte Gästeklo noch die Aale im Fischsud wittert, die die Dienstspritze gerade im Auftrag der Gattin filiert hat. Und während sich später bei Tisch Benno mit Herrn Graß mann über Geschäftliches unterhält, habe ich die Aufgabe, Frau Graßmann zuzuhören und die Frage zu erörtern, ob die Überbewertung des Sports, welche sich neuerdings in der Internatserziehung eingebürgert hat (ganz besonders auf Schloß Rhöndorf, wie ich hörte), wünschenswert ist oder nicht. Später pflichte ich Frau Graßmann bei, wenn sie feststellt, daß man sich eigentlich nur noch in Hamburg »wirklich gut« einkleiden kann, da Düsseldorf bedauerlicherweise ja immer mehr nachläßt, und stimme ihr dahingehend zu, daß man den Platz, den der Swimmingpool einnimmt, eigentlich besser für ein Fitneßcenter nutzen sollte, denn, unter uns, wann hat man den Pool denn zum letztenmal benutzt? Und das alles habe ich mit so viel Sachverstand zu erörtern, daß Frau Graßmann nicht merkt, daß ich vor zweiundzwanzig Jahren zum letztenmal in einem Pool war (nämlich anläßlich der Hauseinweihung des Tennisclubvorsitzenden) und daß mich zur Zeit eher das Problem bewegt, was wohl, wenn Frau Graßmann weiterhin so spatzenhaft ißt und zum Zeichen ihrer Vornehmheit nach jedem Bissen die Gabel niederlegt und mit der Serviette die Lippen abtupft, mit den Rehmedaillons 117
geschieht, die derweil auf Fliegengröße zusammenschrumpfen. Das einzig Gute an der ganzen Sache ist nur, daß man Frau Graßmann immer mit dem beliebten Thema fesseln kann, wie unendlich schwer es doch heutzutage ist, gutes Personal zu bekommen, und ich deshalb (und hier bin ich sehr anspruchs voll) gerade wieder ohne dastehe. An diesem Punkt angelangt, pflegt Frau Graßmann mitfühlend mit dem Kopf zu nicken und zu sagen: »Lassen Sie sich nicht hetzen, meine Liebe, das Problem kenne ich«, und ist anschließend geneigt, alles, einschließlich der fliegenartigen Rehmedaillons, zu verzeihen. Und dennoch, Pauline, ich sage Dir, der fliegende Wechsel von der Köchin, Putze und Gärtnersfrau hin zur First Lady, die nie etwas anderes getan hat, als dafür zu sorgen, daß die Vasen im Salon immer frisch gefüllt sind, und dann zu ihrem schönen, großen, erfolgreichen Mann hinaufzulächeln, so, wie Frau Nancy es uns alle gelehrt hat, fällt mir von Mal zu Mal schwerer. Dabei hätte ich gar nichts dagegen, für Graßmanns das Haus von oben bis unten zu putzen, den Rasen wie einen englischen Landschaftsrasen zu stutzen und ein fünfgängiges Menü zu kochen, aber ich will es in meiner Eigenschaft als Hausfaktotum tun, dem man seine Tätigkeit ruhig anmerken kann. Und wenn die Gäste dann endlich beim Mokka sitzen, dann will ich mich knicksend verabschieden und mit einem schönen kitschigen Liebesroman ins Bett gehen, in dem ich die Lady bin, und zwar eine, die am Tisch sitzt und mit einem silbernen Glöckchen bimmelt. Was ich einfach nicht mehr will, ist die Kombination von sowohl als auch. Und was ich ganz bestimmt nicht mehr will, ist, daß in diesem Hause ein so gravierender Unterschied gemacht wird zwischen »Also bitte, es sind schließlich »Graßmanns« und »Ist ja nur Paula«. Ich will, daß jeder, der dieses Haus betritt, einfach bloß ein Freund ist, der uns besucht und um den Benno und ich gleichermaßen freundlich bemüht sind.
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Nachdem Graßmanns unter der Beteuerung, daß es wie immer ganz reizend war, endlich gegangen waren und Benno sich zur Entspannung einen Thriller ansah, wechselte ich das Kostüm, um in meinen alten Hausjeans die Küche in Ordnung zu bringen. Anschließend verbrachte ich die Nacht schlaflos vor mich hinbrütend und schwor mir, beim Nächstenmahl ganz bestimmt endlich meinen Vorsatz in die Tat umzusetzen, Graßmanns genauso zu behandeln, wie Benno gewöhnlich meine Freundinnen behandelt. Ich stellte mir genüßlich vor, wie ich mit vor der Brust verschränkten Armen vor dem Fernseher hocke, Graßmanns mit »Tach« begrüße, mich nach dreimaliger Aufforderung von Benno langsam an den Tisch quäle, das Essen bemäkele und, während Herr Graßmann von seinem letzten Segelturn erzählt, unverdrossen in den Fernse her starre. Dann erhebe ich mich noch kauend vom Tisch und steige allenfalls in die Unterhaltung ein, indem ich, an Graß mann geflissentlich vorbeisehend, Benno etwa darauf aufmerksam mache, daß er schon wieder vergessen habe, die Garage abzuschließen, um ihn anschließend mit kühler Stimme zu fragen, wann er eigentlich endlich den Brief an die Kran kenkasse zu schreiben gedenke, den ich ihm bereits vor einer Woche in Auftrag gab. Aber wenn dann zum Beispiel Bennos alter Schulkamerad Gustl vorbeikommt, den Benno zwanzig Jahre lang nicht gesehen hat und den ich noch gar nicht kenne, dann ertappe ich mich dabei, wie ich doch wieder wie ein dressierter Tanzbär meine Männchen mache, mich drehe und wende und lächelnd meine kleinen Artigkeiten darbiete. Was sind wir Weiber doch eitel, denn etwas anderes steckt ja nicht dahinter. Ich habe einfach nicht die Größe, den Gedanken zu ertragen, daß sich Herr und Frau Graßmann und Schulfreund Gustl nach der Veranstaltung darüber austauschen, an welch primitive, schlechterzogene Schlampe doch der arme Benno da geraten ist, wogegen es Benno scheißegal ist, was Paula von ihm hält 119
… Ich finde es inzwischen so anstrengend, für Bennos Gäste als ewig makellose Gattin dazustehen und bei meinen Gästen Bennos ungehobeltes Verhalten überspielen und selbiges durch doppelte Aufmerksamkeit meinerseits wieder wettmachen zu müssen, daß ich kaum noch Lust habe, überhaupt Gäste zu uns zu bitten. Änne bemerkte gestern, daß es sie doch sehr wundere, wie selten wir im Grunde trotz des großen Hauses und des schönen Gartens Besuch hätten, und beantwortete sich die Frage auch gleich selber. Es liege einzig und allein daran, daß den jungen Frauen heutzutage einfach alles zuviel ist. Wahr gesprochen! Mich Ännes These vollinhaltlich anschließend, Deine Lisbeth PS: Die Vorstellung, Graßmanns beim Nächstenmahl hingela gert auf mein Sofa mit einem freudlosen »Tach« zu empfangen und auf etwaige Essenswünsche lediglich mit dem lässigen Hinweis »Aufschnitt im Kühlschrank« zu reagieren, reizt mich ungemein. Aber wenn sie sich dann ansagen, werde ich doch wieder die Lady in mir mit der Garderobenfrage quälen und der Dienstspritze Peitsche und Sporen geben, damit sie am Tage X auch tüchtig spurt und die Lady nicht blamiert … Vielleicht wäre es das Beste, wenn die Dienstspritze die Lady einfach umbrächte … oder die Lady die Dienstspritze? Oder beide den Brotherrn? Was würdest Du vorschlagen?
Mittwoch morgen Liebe Paula, soeben kam Dein langer Sonntagsbrief, und ich habe die Bügelwäsche in die Besenkammer geworfen und das Telefon abgestellt, um Dir gleich zu antworten. Ja, sicher fahre ich mit Lila und Dir im August nach Tirol!!! In diesem Jahr werde ich nicht abwarten, bis mir die heilige Familie an irgendeinem 120
Abend lässig ihre Reisepläne unterbreitet und mir nichts weiter bleibt, als überrumpelt bis fassungslos den abfahrenden Reisekutschen nachzuwinken. Mach gleich ein Einzelzimmer für mich fest (als Endlos-Gattin ist das »Einzel« bereits die Hälfte des Vergnügens), aber einfachste Sorte, bitte! Ich benötige weder eigene Dusche noch einen atemberaubenden »Was-weiß-ich-Blick«, es reicht, wenn eine Pritsche zum Schlafen und eine Waschschüssel vorhanden sind und ein stabiler Haken an der Wand zum Aufhängen der Garderobe. Also im Klartext: Ich nehme das Billigste, das sie haben. Mary will mir die Hälfte dazutun, und bei Benno habe ich schon mal angeklopft, weil mir ja strenggenommen die im letzten Sommer eingesparten Reisekosten zustehen, welche er mir in diesem Jahr sozusagen nachträglich auszahlen könnte. Geäu ßert hat er sich bis jetzt noch nicht dazu, aber mehrmals erwähnt, daß Frauen, die ohne Sinn und Verstand irgendwel chen Handwerkern Unsummen in den Rachen stecken (er spielte auf die Renovierung an), diese Unsummen nicht hinterrücks bei ihrem Ehemann wieder einklagen können. Seit er mit mir verheiratet sei, fügte er abschließend hinzu, höre er überhaupt nur noch ein einziges Wort, nämlich: Geld, Geld, Geld!!! Womit er durchaus recht hat, denn bis ich besagtes Geld aus ihm herausgepreßt habe, muß ich mein Anliegen schließlich bis zur Erschöpfung wiederholen. Vielleicht schlügen sich die Deterich-Werke mit demselben Problem herum, wenn sie es nicht von Anfang an so weise eingerichtet hätten, ihren Angestellten die ihnen zustehende Summe ohne jegliche Nachbohrerei Monat für Monat auf ein Konto zu überweisen. Aber ich habe noch Hoffnung. Ich glaube nämlich recht zu haben in der Annahme, daß Benno, still für sich, zum Jahreswechsel eine erneute Reise nach Fernost plant und aus diesem Grunde auch für Tirol ein Scheinchen herausrücken wird. Und Dankesworte nach allen Seiten murmelnd, werde ich dann mein Köfferchen wohl packen können. Ach Pauline, es ist 121
mir vollkommen gleichgültig, in welchen Ort wir fahren werden und ob Wetter und Hotel gut oder schlecht sind und sie uns, wie Lila befürchtet, zwei Wochen lang nichts als Kaiser schmarren servieren – wenn ich erst all die oben erwähnten Hürden genommen habe, wird es auf jeden Fall ganz wunder voll werden … Eine Woche später: Fand den Brief gerade unter einem Stapel alter Zeitungen, die ich zur Altpapiersammlung geben wollte. Ich hatte ihn über einem Streit mit Benno vollkommen verges sen. Also Benno fährt in diesem Jahr nicht nach Fernost (dieser Reiseplan ist nichts als ein erneuter Auswuchs meiner brach liegenden Phantasie), sondern er gedachte, entweder mit mir eine kleine Reise ins Blaue zu machen (eine Reise, auf die wir Änne dann mitnehmen würden) oder aber gemütlich zu Hause zu bleiben und dieses Zuhause »auch endlich mal« so richtig zu genießen. Daß ich zur selben Zeit mit Paula nach Tirol fahren will, ein Unfug, den er auch noch finanzieren soll, davon hielt er, selbstverständlich unterstützt von Änne, »gar nichts!«. Beide waren sich darüber einig, daß das Auseinanderbrechen der Familie nämlich »genauso« anfängt. Was zum Teufel, Paula, meint Benno mit »genauso«? Daß Ehefrauen nach mehr als zwanzig Jahren vierzehn Tage lang mit Freundinnen nach Tirol fahren??? Oder daß sie plötzlich Geld kosten? Oder daß sie nach vierundzwanzig Jahren plötzlich und unerwartet nach Tirol fahren und dann für immer in Tirol bleiben, weil der Hotelier sie heiratet und/oder in seiner Küche anstellt? Aber Spaß beiseite, aus unserer Reise wird nichts! Nicht, weil ich es vorziehe, mit Benno und Änne gemütliche Ferien im eigenen Haus zu verbringen, sondern weil ich mich vor drei Tagen bei einem Maklerbüro beworben habe und sie mich probeweise nehmen werden – (höre ich Dich fassungslos »Waaas?« rufen?) – und ich meinem neuen Chef nicht gleich mit Urlaubswünschen kommen kann. Er zöge möglicherweise 122
unschöne Rückschlüsse auf meinen Arbeitseifer, und warum sollte er mich bereits nach wenigen Wochen mit Paula nach Tirol entlassen, wo Benno dies nicht mal nach vierundzwanzig Jahren für angebracht hält? Hier einige Informationen in bezug auf meinen neuen Wir kungskreis: Ich werde von morgens neun bis nachmittags siebzehn Uhr für einen Herrn Ulf Schulze leichte Büroarbeiten erledigen und das Telefon bedienen. 1600 Mark netto will er mir – zunächst – für meine Dienste zahlen. Eine schwindeler regende Summe, verglichen mit dem Gehalt, das ich bisher bezogen habe. Dies ist kein Witz, Paula, ich empfinde die Summe wirklich als schwindelerregend. Schließlich ist zu bedenken, daß man sie mir Monat für Monat freiwillig auszah len wird und diese Zahlung ausschließlich von meiner Leistung und nicht von der augenblicklichen Laune meines Chefs abhängig ist oder, schlimmer, von der Laune des Chefs meines Chefs, auf die ich noch weniger Einfluß habe. Entschuldige diesen Brief, der sich so ausgiebig mit dem schmutzigen Thema »Geld« befaßt, aber obwohl ich natürlich weiß, daß es höhere Dinge gibt, über die zu reden sich mehr lohnte, gilt dies doch nur für diejenigen, die genügend Schein chen in der Tasche haben. Acht Wochen weiter, und auch ich werde wieder fähig und in der Lage sein, entspannt über den Einfluß der Blauen Reiter auf den deutschen Expressionismus zu plaudern. Für Marys Ferienzuschuß habe ich mir übrigens ein paar adrette Kleider gekauft. Schließlich kann ich an meinem neuen Arbeitsplatz nicht gut in den Klamotten auftauchen, in denen ich meine bisherige Arbeit meisterte. Grüße Lila von mir und halt mir die Daumen. Hier ist es zur Zeit sehr still! Die gesammelte Familie hat sich noch nicht von dem lähmenden Entsetzen erholt, in das sie mein Entschluß versetzt hat. Dabei, verdammt noch mal, tue ich doch nichts anderes als 123
das, was Millionen anderer Leute auch tun. Aber sobald ich nur einen einzigen Schritt von dem mir zugewiesenen Trampelpfad zwischen Eßtisch und Herd abweiche, rufen sie im Chor nach dem Krankenwagen. Benno fragte mich gestern, wie es denn nun eigentlich weitergehen solle? Ja, das frage ich mich auch. Vereint einem ungewissen Schicksal entgegentaumelnd, Lisbeth PS: Änne plante Hals über Kopf eine Sommerreise mit Frau Müller-Wippersfürth (Zell am See, glaube ich), Lil fährt mit ihrer Clique in die Provence. Benno II mit Stenni und Stennis Eltern zum Camping nach Schweden. Sollte Benno I seinen Entschluß wahrmachen, seinen Urlaub zu Hause zu verbringen, könnte es endlich zu dem von mir so lange ersehnten Rollen tausch kommen: ich werde gestreßt und nervös nach Hause kommen und er mit einem kleinen, meine Laune testenden Seitenblick das Essen servieren. Dann werde ich etwas von den hirnverbrannten Entscheidungen Herrn Schulzes erzählen, und Benno wird hoffen, daß ich mich nach dem Essen erst mal ein halbes Stündchen hinlege, damit er derweil schnell und heimlich mit seinem Freund Karli telefonieren kann … aber dann lege ich mich nicht hin, sondern setze mich gleich vor den Fernseher, und Benno darf mir ein kühles Bier servieren, ehe er sich, anstatt mit Karli zu telefonieren, über die Küche her macht… Die Vorstellung entbehrt natürlich jeglicher Realität, doch auf eine dumm-naive Weise stimmt sie mich fröhlich. Dies ist aber auch das einzige, das mich zur Zeit fröhlich stimmt, denn (nur Dir und heimlich ins Öhrchen geflüstert) ich sehe meinem ersten Arbeitstag mit ähnlichem Herzklopfen entgegen wie seinerzeit meinem ersten Rendezvous mit Benno! Bleibt nur zu hoffen, daß meine Romanze mit dem Maklerbü ro Schulze besser ausgeht … Laut Anzeige haben sie eine »junge Frau, vertraut mit sämtlichen leichten Büroarbeiten – 124
auch Anfängerin« gesucht. Von all diesen geforderten Punkten erfülle ich eigentlich nur den letzten, obwohl Herr Schulze bereits nach einem fünfzehnminütigen Gespräch einen »Ver such« mit mir machen wollte. Er scheint sehr tolerant und vorurteilsfrei zu sein, denn ich fand es besser, die Karten gleich offen auf den Tisch zu legen und zu sagen, wo ich herkomme, ehe er Verdacht schöpft und es später hintenherum erfährt. Er sagte, er persönlich habe mit Hausfrauen, gerade, wenn sie nie zuvor berufstätig gewesen seien, die allerbesten Erfahrungen gemacht, und ich kann mir natürlich denken, auf welche Sorte von Erfahrung er anspielte. Wir Haussklaven nehmen ja jede Art von Bezahlung, und wenn sie auch aus Pfennigen bestünde, mit dem Gefühl entgegen, ein Geschenk zu bekommen, zu dem der Brotherr, strenggenommen, nicht verpflichtet wäre … Also irgendwie fühle ich mich schon wie eine Hochstaplerin, denn immerhin war mein damaliger Auftritt in Deinem Laden die einzige Erfahrung, die ich je auf beruflichem Sektor gemacht habe. Könntest Du mir nicht ein Zeugnis über meine Tätigkeit ausstellen? Irgendeinen Leistungsnachweis sollte der Mensch im Leben doch haben, und Benno mag ich nicht darum bitten … Also, am nächsten Ersten fange ich an. Denke an mich in der Schlacht. Mit flatterndem Herzen, Lisbeth
2. Juni Liebe Paula, ja, ich weiß, daß ich Dir »jahrelang« nicht geschrieben habe, aber wenn jemand vom Zehnmeterbrett ins tiefe Wasser springt, dann dauert es gewöhnlich eine gewisse Zeit, bis er wieder auftaucht! Du mußt bedenken, daß Du seinerzeit Deine berufliche 125
»Neuorientierung« ohne jeglichen Ballast begonnen hast, wogegen ich vor jedem einzelnen Sprung erst eine gesamte Familie daran hindern muß, mich ihrerseits am Springen zu hindern! Lisbeth von dem verrückten Gedanken abzubringen, bei irgendeinem dubiosen Herrn Schulze »arbeiten zu gehen« und sich dabei schamlos ausnutzen zu lassen, ist etwas, das selbst so unterschiedliche Naturen wie beispielsweise Änne und Mary vereint. Änne ist, wie sollte es anders sein, der Meinung, daß mein Platz hier, in Bennos Haus und nirgend woanders ist, und Mary befürwortet die Idee der berufstätigen Frau zwar im Prinzip, ist, was die Art dieser Berufstätigkeit betrifft, jedoch stark von ihrer jahrzehntelangen »Vogue« Lektüre geprägt. Laut »Vogue« eröffnet »die Dame« bei spielsweise eine Galerie, ein Antiquitäten- oder Modegeschäft oder beginnt selbst als Redakteurin bei »Vogue«, Ressort »Schönheit« oder »Das internationale Gesellschaftsleben«. Keinesfalls rutscht sie zum Telefon eines Maklerbüros ab, so wie ich es tue. Und was die Meinen besonders irritiert: Ich tue es gern!!! Haben sich in den ersten Wochen die Gemüter noch in der Hoffnung gewiegt, daß ich diesen Blödsinn nach einigen Tagen ganz von selbst wieder aufgeben werde, wenn ich (Benno spricht) erst einmal gesehen habe, daß das Arbeitenge henmüssen alles andere als ein Spaß ist, sind sie im Moment in der Vorahnung erstarrt, daß ich dunkle, nicht näher bestimmba re Perversionen in mir trage, die mich direkt ins Schulzesche Maklerbüro zwingen. Denn wie anders als durch »dunkle Triebe« ist mein verdächtiges Verhalten zu erklären? Dabei ist das Geheimnis ganz einfach zu lüften: Ich genieße es, morgens aufzustehen, mich schick zu machen, im Stehen, mit einem hastigen Blick auf die Küchenuhr, einen Kaffee zu trinken und mich dann durch die kühle Morgenluft Richtung U-Bahn auf den Weg zu machen. Im Büro angekommen, erwartet mich bereits meine Kollegin, eine sehr nette Frau in meinem Alter, die mich einarbeiten soll und leider in einigen Monaten, wenn 126
ich hoffentlich kapiert haben werde, um was es geht, aufhören wird. Meist trinken wir dann zuerst einmal einen Kaffee und klatschen ein bißchen über unsere Familien und das Büro. Interessant ist hierbei zu erfahren, daß Frau Grötter schon immer lieber zu Hause geblieben wäre (!), aber von ihrem Mann sozusagen zum Mitverdienen gezwungen wurde, weil sie das zu groß gebaute Haus, das sie niemals wollte, sonst nicht finanziert kriegen. Frau Grötter jedenfalls träumt seit Jahren von einem freien Leben zu Hause mit gleicher Sehnsucht wie ich von einem freien Leben im Büro. Gegen halb zehn gehen dann gewöhnlich die ersten Anrufe ein, von Leuten, die ein Objekt loswerden wollen, oder von denen, die sich für ein von uns annonciertes interessieren, und man spricht das dann durch und sucht die Pläne der Objekte raus, um sie den Interessenten zu schicken. Das dazugehörige Briefchen gehört dann, ebenso wie die Telefongespräche mit Kunden, zu meinen augenblicklichen Aufgaben, und ich sage Dir, ich meistere sie lässig!!! Mit der Bitte um äußerste Diskretion kann ich Dir sogar sagen, daß ich die Arbeit als so leicht und so angenehm empfinde, daß ich die 1600 Mark (laut Benno reinste Ausbeuterei!!!) tatsächlich als Geschenk betrachte! Denn, unter uns, ich würde diese Arbeit sogar ganz umsonst tun! Ein paarmal war ich mit Herrn Schulze auch unterwegs, um größere Objekte persönlich in Augenschein zu nehmen, und ich genoß die Fahrten wie eine Landpartie und habe inzwischen mehr Ortskenntnis angesammelt als in den zwanzig Jahren zuvor. Im Ernst, ich habe nicht gewußt, welch idyllische Ecken es hier ganz in der Nähe gibt! Mittags gehen Frau Grötter und ich gewöhnlich in das Bistro gegenüber, wo man immer dieselben Leute trifft, und zum erstenmal kann ich nachempfinden, mit welchen Gefühlen Benno allabendlich sein Clubhaus betritt. Eine Stammkneipe hat tatsächlich etwas sehr Anziehendes … 127
So gegen vierzehn Uhr fangen wir dann wieder an, und der Nachmittag vergeht so schnell, daß ich ihn kaum noch als »Zeit« empfinde und immer überrascht bin, daß es plötzlich siebzehn Uhr ist. Wenn ich nicht noch einen weiteren Arbeitsplatz am Hals hätte, könnte ich nun noch einen kleinen netten Abendbummel durch die Stadt machen und Geschäfte ansehen oder bei Mary vorbeischauen oder irgendwo eine Kleinigkeit essen oder ins Kino gehen, ach, es gibt im Grunde so viele Möglichkeiten, dieses Leben zu genießen! Wenn ich dann statt dessen, ohne nach rechts oder links zu schauen, im Strom der eilenden Füße zur U-Bahn haste, schaffe ich es, gegen halb sechs zu Hause zu sein, wo mich meist Änne mit eisiger Miene empfängt, um mir auf der Stelle Schreckensbotschaften mitzuteilen: Der Kleine hat nicht gut zu Mittag gegessen (kein Wunder, bei all den Aufregungen), die Schularbeiten hat er, wie Änne annimmt, auch nicht mit der nötigen Sorgfalt erledigt, den Limonaden mann hat sie verpaßt, schließlich kann sie auch nicht an alles denken, und während sie mir mit beleidigter Miene mitteilt, der ganze Garten würde von Millionen ekliger Schnecken kahlgef ressen (eine direkte Folge meines Bürojobs vermutlich), beginne ich, noch im Mantel, Bennos Abendessen vorzuberei ten. Denn seitdem ich zu Schulze gehe, kommt er mittags nicht mehr nach Hause, weil er Änne nicht noch zusätzlich belasten möchte (sagt er), ihr wehleidiges Geschwätz nicht ertragen kann (sage ich). Gegen sechs verabschiedet Änne sich dann, und kaum ist sie weg, kommen gewöhnlich beide Bennos von ihren Aktivitäten nach Hause. Das Tischgespräch dreht sich dann meist um das Thema, daß es ihm (Benno I) einfach unangenehm sei, eine Frau zu haben, die arbeiten geht (es läßt möglicherweise peinliche Rückschlüsse auf seinen Verdienst zu), daß es ihm (Benno II) im Grunde egal sei, ob ich arbeiten gehe oder nicht, er möchte nur nicht pausenlos von Änne beaufsichtigt und wie 128
ein Dreijähriger behandelt werden. Meist läutet im Laufe des unerfreulichen Abends dann noch einige Male das Telefon, und Änne pfeift mich heran, um mir irgendeinen völlig blödsinnigen Mist in Sachen Haushalt mitzuteilen. »Ich vergaß leider, Dir zu sagen, daß ich die grünen Fußball schuhe gereinigt und zum Trocknen an das Kellerfenster gestellt habe.« (Anruf um halb neun!) »Was mir gerade durch den Kopf geht, ich hatte den Eindruck, daß die Dosenmilch nicht mehr ganz frisch ist. Bitte, rieche doch einmal daran!« (Anruf um Viertel vor zehn!) Nun, jedenfalls erreichen Änne und Benno mit dem Herun terputzen meiner Arbeit und der Ungemütlichkeit, die sie in diesem Heim verbreiten, einem Heim, in dem ganz eindeutig, und das merkt man überall, die Mutter fehlt, nichts anderes, als daß mir Schulzes Maklerbüro nicht nur als gemütliche Gold grube, sondern darüber hinaus als wahrer Fluchtort erscheint … Ja, Pauline, es geht doch stets und überall immer nur um das bißchen Anerkennung, die auch unsereins nun einmal braucht, und wenn man es zu Haus nicht kriegt, dann holt man sich’s woanders … Benno holt sich seine bei den Deterich-Werken und in seinen diversen Clubs und bei seinem Autohändler, der ihn, da er ein guter Kunde ist, wie einen Ölmulti behandelt, und auf seinen dubiosen Geschäftsreisen und ist bei alledem ganz naiv der Meinung, daß es mir ein Leben lang genügen müsse, bei gesellschaftlichen Anlässen, wenn Graßmanns kommen beispielsweise, die adäquate Gattin zu spielen, so zwei-, dreimal im Jahr … Aber um auf Bennos Geschäftsreisen zurückzukommen, die mir, auch wenn ich es nie zugeben wollte, oft dumpfe Tage und hellwache Nächte bereiteten, und zwar mit den dazugehörigen Magenkrämpfen: sie interessieren mich, seitdem ich bei 129
Schulze arbeite, nicht mehr die Bohne! Dies ist eine sehr gesundheitsfördernde Begleiterscheinung meiner Berufstätig keit, auf die ich schon aus diesem Grunde niemals verzichten werde! Mein Gehalt haben sie mir inzwischen übrigens, ohne mit der Wimper zu zucken, pünktlich überwiesen – einfach so –, ich mußte Herrn Schulze kein einziges Mal daran erinnern, und ich habe mir im Überschwang der Gefühle und voller Angst, daß ich diese gewaltige Summe eventuell noch gar nicht verpraßt haben könnte, wenn schon wieder eine neue kommt, bei Marys Friseur »Antonio« eine flotte Frisur machen lassen und mir ein sehr schickes Kostüm geleistet, das ich tragen werde, wenn ich mit Herrn Schulze die verkaufswilligen Villenbesitzer aufsu che. Und für den Rest (schlechtes Gewissen, würde Dein Analytiker sagen – ich nenne es: andere an meiner Freude teilhaben lassen wollen) habe ich für Lil und Benno II Ge schenke gekauft. Für Änne habe ich nichts gekauft, weil ich das, was sie für die Familie tut, nach eigener Aussage mit keinem noch so großen Geschenk wiedergutmachen kann!!! Ja, liebe Freundin, so stehen die Aktien. Ich habe jetzt am Abend natürlich ein volles Arbeitsprogramm, aber ich bringe es mit Schwung und Elan hinter mich, mit mehr Schwung und Elan als früher, als ich nur den Haushalt hatte, eine der Unerklärlichkeiten meiner dunklen Seele. Oder sollte mich ein Satz wie: »Ich bin übrigens sehr zufrieden mit Ihnen«, von Herrn Schulze lässig im Vorbeigehen ausgesprochen, so glücklich machen, daß Ausläufer dieses Glücks bis zum Tagespunkt: »Wäschebügeln bei Spätprogramm« reichen? Benno sagte gestern, als wir einmal ganz in Ruhe und ohne Ännes wehleidig-giftiges Dazwischenreden miteinander sprachen, daß zu allem Übel ja auch noch die Art meiner Tätigkeit dazukomme. Hilfskraft in einem Maklerbüro … der Gattin eines Topmanagers einfach nicht würdig. Würde er meine Berufstätigkeit eher akzeptieren, wenn ich, geschmückt 130
mit zwei Doktortiteln, die Chirurgische Abteilung der Städti schen Krankenanstalten leitete? Die Frage erübrigt sich, »so eine« hätte Benno gar nicht erst eingekauft. Ich wollte Benno II gestern abend mal wieder zu einer Rie senpizza einladen, leider hatte er etwas Besseres vor. Im Vereinshaus der Leichtathletikjugend fand irgendein Fest statt. Die Eltern konnten auch »ruhig« mitkommen, was (hastiger Nachsatz) »jedoch nicht nötig sei«. Stennis Eltern sind auch nicht hingegangen. Zur Zeit genügt es, wenn man Benno irgendwann irgendwo abholt … bis auch dies dann nicht mehr nötig sein wird … Ich vergaß Lils Kommentar zu meiner Berufstätigkeit zu erwähnen. Sie findet es »zum Piepsen komisch«! In diesem Sinne, glücklich-gestreßt, Deine Lisbeth PS: Es ist nicht zu fassen, wie selten mich die Sippe im Grunde genommen noch wirklich benötigt. Aber für Notfälle wollen sie mich im Hintergrund ihres Lebens aufheben, so wie das alte Radio, das, falls die Stereoanlage einmal versagt, durchaus noch seinen Dienst tun kann. L.
Anfang August Liebe Paula, ehe Ihr nach Tirol aufbrecht, hier noch ein Grüßchen auf die schnelle. Ich wollte längst geschrieben haben, aber ich habe in der letzten Zeit viel Ärger gehabt. Vor allem leider auch im Geschäft, so daß ich, wenn ich am Abend nach Hause kam, einfach zu kaputt war, um mich noch zu einem Schrieb aufraffen zu können. Es fing damit an, daß Frau Grötter krank wurde und anschließend sofort zur Kur fuhr, was ihre Tätigkeit bei Schulze Unvorhergesehenerweise zehn Wochen früher als geplant beendete. So saß ich dann völlig überrumpelt von 131
einem Tag auf den anderen allein da und mußte den damit verbundenen Schock erst mal verkraften. Denn schließlich ist es ja doch ein Unterschied, ob man einer versierten Kraft, die den Laden seit Jahren kennt, nur zur Hand geht oder ob man die gesamte Verantwortung allein zu tragen hat. Glücklicherweise war geschäftlich gerade ganz besonders wenig los (sonst wäre ich total durchgedreht), aber mit Telefon, Schriftverkehr und dem Raussuchen von Akten und Vorgängen war ich auch so bis an die Grenze ausgelastet. Überdies fehlte dem ganzen Arbeitstag überhaupt plötzlich das Gemütliche: der Plausch mit Frau Grötter, das Komplizenhafte unserer Arbeitsbeziehung, die Bistrobesuche und so weiter … Und zu allem Übel kam dann noch dazu, daß sich Herr Schulze auf einmal weit öfter im Büro aufhielt als sonst, was mich zusätzlich verrückt machte. Bis jetzt hatte ich ihn eigentlich eher als Randfigur im Schulzeschen Maklerbüro betrachtet, in dem Frau Grötter und ich die Hauptrollen spielten, aber von dem Tage an, an dem Frau Grötter zum erstenmal ausfiel, wuchtete er sich höchstpersönlich hinter den Schreibtisch, besessen von dem Gedanken, sich selbst um alles kümmern zu müssen. Er hielt mich so in Trab und verbreitete eine so miese Stim mung, daß ich mich nicht einmal traute, mittags hinüber ins Bistro zu gehen, da Herr Schulze seinerseits auf die Pause verzichtete. So konnte ich nur immer mal heimlich, hinter dem Schreibtisch versteckt, von meinem Butterbrot abbeißen, was nun wirklich die am allerwenigsten attraktive Art ist, die Ernährungsfrage zu lösen. Nach drei Tagen war unser beider Stimmung dann so auf dem Nullpunkt angelangt, daß ich das Gefühl hatte, etwas tun zu müssen. Ich sagte Herrn Schulze klipp und klar, daß er nicht erwarten könne, von heut auf morgen eine vollwertige Kraft zu haben, schließlich sei die Einarbeitungszeit auf gut zwei Drittel verkürzt worden. Und da sagte er mir doch tatsächlich, und zwar in einem äußerst 132
scharfen, zurechtweisenden Ton, daß ich den Betrieb, wenn ich wirklich Interesse dafür aufbrächte, auch jetzt schon im Griff haben müßte. Das sei eigentlich das mindeste, was er erwartet hätte! Ich war so fassungslos über sein ungehobeltes Benehmen, daß ich gar nicht antworten konnte und den ganzen Nachmittag einen dicken Kloß im Hals fühlte und zusätzlich einen Fehler nach dem anderen machte, was ganz besonders unangenehm war … Inzwischen habe ich mich eingearbeitet und an die neue Situation gewöhnt, und es klappt schon besser, obwohl mir immer noch peinliche Schnitzer unterlaufen, ganz besonders bei der Ablage. Zwei Tage später Mußte den Brief unterbrechen, weil ich Änne und beiden Bennos versprochen hatte, mit ihnen ein neu eröffnetes Sportstadion zu besichtigen, eine Sache, die schon seit Wochen anstand, die ich aber immer wieder hinausgescho ben habe, weil mir am Wochenende einfach die Lust zu jeglichem Freizeitvergnügen außerhalb meiner eigenen Wände fehlt. Meine ewigen Absagen in der Familie und bei Freunden gehen mir selbst ebenso auf den Geist wie den Antragstellern selbst, aber was soll ich machen … Gestern hat sich Herr Schulze übrigens bei mir für seinen Ausrutscher entschuldigt (ich bin in der letzten Zeit allerdings auch betont zurückhaltend gewesen). Er sagte, er habe nicht so grob werden wollen und im großen und ganzen sei er mit mir und meiner Arbeit ja auch zufrieden. Aber die anhaltende Sommerflaute bei weiterlaufenden Unkosten zerre ihm halt doch sehr an den Nerven. Mir wurde schlagartig bewußt, daß auch ich zu den laufenden Unkosten gehöre, und zwar zu denen, die weitergehen, ohne etwas einzubringen, und die er darüber hinaus auch noch unmittelbar vor Augen hat. So ganz allmählich läuft das Geschäft jetzt wieder an, seine 133
Laune bessert sich … und meine demzufolge auch. Die Arbeit geht mir zur Zeit recht gut von der Hand! So langsam begreife ich, wohin der Hase läuft und hantiere nicht mehr so dilettan tisch-hektisch herum – auf eine Art, die Emsigkeit vortäuschen sollte, mit der ich Herrn Schulze jedoch bloß auf die Nerven ging. Im Büro geht’s im Moment also recht gut, zu Hause leider weniger. Benno II hat ganz unvermutet einen blauen Brief bekommen, die Versetzung ist in zwei Fächern gefährdet, und ich muß sagen, daß mich das schon ziemlich umgehauen hat, denn in der Schule haben beide Kinder eigentlich nie Probleme gehabt. Als der Brief kam, war ich nicht zu Hause, so daß Änne die Aufgabe übernahm, ihn zu öffnen, um ihn mir sodann mit einem eisigen »Bitte« am Abend zu überreichen. Wunsch gemäß meldete sich daraufhin auf der Stelle mein schlechtes Gewissen (nein, dies ist nicht ironisch gemeint), und ich lud Benno II am Abend zum Italiener ein. Über eine Riesenpizza hinweg schüttete er mir dann sein Herz aus, und ich war ehrlich entsetzt zu erfahren, daß es so voll war. (Ich habe, seitdem ich berufstätig bin, tatsächlich ganze Teile des Familienlebens gar nicht mehr richtig mitbekommen, eine Tatsache, die mir an diesem Abend mit erschreckender Deutlichkeit klar wurde.) Benno II erzählte, daß er im Prinzip ja gar nichts dagegen habe, daß ich arbeiten ginge, nur könne er einfach nicht einsehen, warum ich Änne zu seiner Betreuung eingestellt hätte. Wenn er mittags aus der Schule komme, stehe sie bereits hysterisch winkend am Gartenzaun, habe bei fünfminütiger Verspätung »seit Stunden« auf ihn gewartet und tische ihm dann, zusammen mit gesunder Gemüsekost (Blumenkohl und so), detaillierte Geschichten von kleinen Jungen auf, die in der Schule nicht richtig aufgepaßt haben und sich in direkter Folge davon später niemals ein so schönes Auto leisten können, wie der Papi eins hat. Zum Nachtisch gebe es dann gewöhnlich eine weitere Geschichte von einem kleinen Jungen, der auf 134
dem Weg zur Schule mit dem Fahrrad verunglückt und demzufolge für sein ganzes Leben gezeichnet ist. Ergo: Solange sie, Änne, die Verantwortung trage, werde er nicht mit dem Fahrrad zur Schule fahren, sondern schön brav zu Fuß gehen, Punktum! Auch sehe sie es nicht gern, wenn er am Nachmittag zu Stenni oder den Kickers geht, einfach weil sie ihn lieber in der Nähe und unter Kontrolle hat und mit Argusaugen darüber wacht, ob er seine Schularbeiten auch ordentlich erledigt. Anschließend habe sie es dann am allerliebsten, wenn er Gesellschaftsspiele mit ihr macht oder, noch lieber, fein herausgeputzt mit ihr durch die Stadt geht oder Frau MüllerWipperfürth einen Besuch abstattet. Daß er in den besagten beiden Fächern ins Schleudern gera ten sei, das wisse er übrigens schon lange, aber irgendwie habe er da den Anschluß verpaßt. Ich hörte ihm zu, und mir fiel mit Schrecken auf, daß ich meinerseits dieses »Ins-SchleudernGeraten« verpaßt habe, obwohl ich ja bis zur Mitte dieses Jahres gar nicht berufstätig, sondern immer zu Hause gewesen bin. Aber ich war wohl nur körperlich anwesend und innerlich auf Tauchstation … Paula, ich habe nach diesem Gespräch versucht, mich daran zu erinnern, was in der letzten Zeitspanne, sagen wir mal, seit Weihnachten, eigentlich losgewesen ist, und mir fiel kaum etwas ein. Ich hatte das Gefühl, daß mein Leben irgendwie in einer Art Zeitraffer an mir vorbeigerauscht ist und in der Erinnerung nichts als zerstückelte Bilder davon übriggeblieben sind. Wenn ich mich frage, was Benno II in all den Monaten eigentlich gemacht hat, dann kann ich mir nur die Antwort geben, daß er allenfalls immer irgendwie »dagewesen« ist. (So wie Benno I und Lil auch, nur Änne neigt dazu, einem so auf den Pelz zu rücken, daß man ihre Gegenwart wie einen Flohstich spürt!) 135
Am nächsten Tag versuchte ich, mit Änne zu sprechen und ihr klarzumachen, daß es besser sei, Benno, trotz seiner schlechten Noten, ein wenig mehr Spielraum zu geben. Schließlich sei er doch immer ein guter Schüler gewesen, der seine Aufgaben vom ersten Schultag an allein erledigt habe. »Schlimm genug«, sagte sie, »man merkt ihm ja auch deut lich an, wie er sich geradezu dagegen wehrt, daß sich mal jemand um ihn kümmert, ganz einfach, weil er es gar nicht gewohnt ist … Immerhin«, spielte sie ihren größten Trumpf aus, »habe ich ja schon mal einen Jungen großgezogen und auf diesem Gebiet weit größere Erfahrungen gesammelt als du!« »Jungs müssen nämlich geführt werden«, erklärte sie mir später, »damit sie später selbst einmal in der Lage sind, Menschen zu führen.« Immerhin sehe sie doch mit ihren eigenen Augen, daß auch Lil ziellos in der Welt herumirre, einfach weil das Kind infolge meiner nachlässigen, gedanken losen Erziehung nicht imstande sei, seinen Platz in dieser Welt zu finden. An dieser Stelle unserer »Aussprache« angelangt, bemerkte ich, wie mir gleichzeitig der Schweiß ausbrach und der Kehlkopf schwoll, und ich verstand zum erstenmal, was der Begriff »Mord im Affekt« eigentlich beinhaltet. Ich unterdrückte derartige Gelüste und machte meinen Emo tionen dadurch Luft, daß ich abends um neun damit begann, sämtliche Fenster in Bennos Haus zu putzen, derweil Änne auf dem Sofa saß und leicht verunsichert zu mir hinüberäugte, während sie so tat, als ob sie sich die volkstümliche Hitparade ansähe. Ach, Pauline, ich bin sicher, daß ich mit Beruf und Benno II allein prima zurechtkäme, wir könnten es sicher schaffen, wenn uns nicht wohlmeinende »Helfer« dauernd in die Quere kämen. Am allerliebsten löste ich das ganze Problem dahingehend, daß sich jeder seinen Benno schnappt und das Weite sucht, wobei ich mit meinem Benno bestimmt mehr Spaß hätte als Änne mit 136
ihrem … Auf meinen vorsichtigen Vorschlag hin, ob es nicht vielleicht besser sei, nicht mehr an jedem, sondern nur noch, sagen wir mal, an zwei Tagen in der Woche zu kommen, warf sie mir einen ihrer blitzenden Brillenblicke zu und machte mich darauf aufmerksam, daß Benno II ja schließlich nicht nur mein Sohn, sondern auch ihr Enkelkind sei und sie es nicht zulassen werde, daß dieses Enkelkind vor die Hunde gehe, nur weil seine Mutter von irgendwelchen Wahnideen beherrscht werde. »Wenn ich nur wüßte, was an diesem Schulze mitsamt sei nem Büro so unendlich attraktiv ist«, fügte sie abschließend hinzu. Das fragte ich mich gestern auch … Ziemlich fertig mit den Nerven und »auch so«, Deine Lisbeth
18. August Liebe Paula, war heute mit Mary essen, es war einfach nötig, sich wieder mal wie ein ganz normaler Mensch zu fühlen und nicht wie eine Dienst- und Küchenkombispritze, und ich muß sagen, es war ein gelungener Abend. Mary hatte mich eingeladen, weil sie mich ihrerseits mal ins Gebet nehmen wollte, und gab mir, allerdings in angenehm sachlicher Form, zu verstehen, daß es besser sei, den Job bei Schulze aufzugeben. Eine solche Arbeit, noch dazu zu einem so niedrigen Gehalt, könne dem Leben doch einfach nicht so viel Glanz verleihen, als daß es sich lohne, wie eine Besessene dafür zu kämpfen. Daß Lil und Benno II vernachlässigt seien, findet Mary dagegen nicht! Im Gegenteil, ich hätte in jungen Jahren weit weniger Theater um sie machen und mir statt dessen einen Beruf aufbauen sollen, der wirklich Spaß macht. Ich fragte sie, was ich ihrer Meinung nach denn heute tun solle, wo alle echten Chancen wohl endgültig verpaßt sind. 137
Mary zündete sich eine Zigarette an, blickte mich nachdenk lich an und sagte schließlich: »Ganz einfach, werde zunächst einmal diese Schwiegermutter los, die mir immer wie eine Frau aus dem Versandhauskatalog erscheint, sprich dich mit deinem Mann gründlich aus, komm ihm entgegen, indem du zum Beispiel diese alberne Stelle aufgibst und dich statt dessen ein bißchen mehr für seine Hobbys interessierst!« Ratschläge, die auf meine reale Situation übertragen in etwa besagen: »Bring Änne diskret um die Ecke (denn wie anders sollte ich sie loswerden?), kauf dir Stirnband und Jogginganzug und hechle liebevoll hinter Benno durch den Stadtpark.« Im Prinzip machbar, bloß vergaß Mary so Kleinigkeiten wie die ungeheu re Zähigkeit von Änne und die traurige Tatsache, daß Benno viel lieber mit Karli durch den Stadtpark hechelt und mich überdies bereits am Ententeich abhängen würde. Tja, und dann wäre da, als wichtigster Punkt, natürlich dieser elende Kapitalschwund, der ohne meine unwürdige Beziehung zu Herrn Schulze auf der Stelle einträte, was wiederum die unschöne Debatte zur Folge hätte, wer Jogginganzug und Stirnband denn nun bezahlt! Der Punkt, daß ich ja letztendlich arbeiten gehe, um Geld zu verdienen, wird bei sämtlichen Familienmitgliedern überhaupt außer acht gelassen. Man scheint allgemein der Meinung zu sein, daß ich es ausschließ lich zu meinem Vergnügen tue. Das Gefühl, kein eigenes Geld zu haben und stets auf die Wohltätigkeiten anderer angewiesen zu sein, ist etwas, das Mary niemals kapieren wird, und daß der Zug, wenn die Weichen erst einmal falsch eingestellt wurden, unweigerlich in die falsche Richtung fährt … und fährt, und fährt, und fährt … Mary ist es übrigens gelungen, ihre Weichen auch hier wie der exakt richtig einzustellen, wahrscheinlich funktioniert das Prinzip in ihrem Falle ganz einfach mit genau entgegengesetz ter Logik: Einmal richtig angefangen, kann es gar nicht mehr verkehrt laufen. Wir waren in dem Lokal, in dem wir heute 138
gegessen haben, zum erstenmal, aber sie plauderte so charmant mit dem Kellner und dem Barkeeper, daß der Chef nicht nur persönlich an unseren Tisch eilte, stolz, eine Dame aus »Emerrikä« bei sich zu Gast zu haben, sondern uns darüber hinaus später die Rechnung erließ. (Ich mußte an die Sache mit dem Teufel denken.) Er lud uns beide an die Bar ein, und ich mußte neidlos anerkennen, daß Mary es auch hier wieder schaffte, dem Abend ein gewisses Flair zu verleihen … und ich lächelte bei der Vorstellung, von welchem Flair der Abend wohl umgeben gewesen wäre, wenn ich statt dessen mit Benno I dort getafelt hätte. Als wir uns später voneinander verabschiedeten und ich ihr für die wirklich netten Stunden dankte, sagte sie: »Und du vergiftest dir dein Leben mit dem Ärger über eine Schwieger mutter und vermiefst es dir durch tausend spießige Kleinigkeiten!« Die spießigen Kleinigkeiten haben mich zur Zeit wieder voll im Griff. Selbst ich sehe, daß das gesamte Haus von einem leichten Fettfilm überzogen ist. Irgendwie muß ich verhindern, daß wir alle morgens beim Brötchenschmieren an der Arbeits platte in der Küche festkleben und zappelnd wie Fliegen am Leim unser Leben aushauchen. Soeben schlägt es Mitternacht. Todmüde!!! Ich will das Wochenende nutzen, um wenigstens den Garten mal auf Vordermann zu bringen. Gestern hörte ich übrigens, wie Benno zu irgendeinem Freund, der angerufen und wohl nach mir gefragt hatte, beiläufig sagte: »Ach, die spinnt zur Zeit ein bißchen!« Ja, nur wenn sie der Sippe dient, spinnt »die« nicht. Viel leicht, denke ich manchmal, hat Benno aber auch recht mit seiner Annahme. Ich mißtraue mir in letzter Zeit ein wenig … Vor allem, wenn ich am Tage nach der Pfeife von Herrn Schulze und abends dann nach der von Benno tanze. Irgend etwas läuft da verkehrt, ich weiß nur noch nicht, was … werde 139
aber darüber nachdenken, sobald ich eine Stunde Zeit habe. Ruf mich an, wenn Ihr aus dem Urlaub zurück seid, und denkt an mich, wenn Ihr am Abend beim Tiroler Landwein sitzt. Ich wäre ja doch verdammt gern dabei. Mary fragte mich heute, ob ich nicht Lust hätte, sie auf einen New-York-Trip zu begleiten. Klar, ich hätte auch Lust, mir eine Segeljacht samt Besatzung schenken zu lassen oder das Schulzesche Maklerbüro aufzu kaufen und meinen unqualifizierten Mitarbeiter Herrn Schulze zu feuern. (Höre ich Dich lachen?) Wie stets mein Schicksal klaglos tragend (jetzt lacht Benno), Grüße an Lila, Eure Lisbeth
15. September Liebe Paula, hier schnell mein allerherzlichstes Dankeschön!!! Das Wanderwochenende mit Dir hat mir unendlich gutgetan, ebenso die Möglichkeit, sich endlich einmal alles in Ruhe und ungestört von der Seele reden zu können. Viele Dinge sind mir seitdem viel klarer geworden, und die Gedanken wühlen mir lange nicht mehr so konfus und quälend im Kopf herum, wie sie es vorher getan haben. Ich habe über vieles ganz sachlich nachgedacht, und natürlich hast Du vollkommen recht, wenn Du sagst, daß man einen wirklich befriedigenden Beruf nicht einfach so nebenbei aufbauen kann, vor allem, wenn man mit einer Familie gesegnet ist, die diesem Unterfangen jegliche Unterstützung versagt. Lächeln mußte ich später noch über Deine »These vom bißchen«: Ein bißchen Beruf und ein bißchen Geld, ein bißchen Eigenständigkeit und ein bißchen Familie ergibt summa summarum: ein bißchen. Damit hast Du meine Situation exakt beschrieben. Im Grunde fühle ich mich, seitdem ich zu Schulze gehe, immer stärker zwischen die Fronten geraten: Ich denke im Büro an zu Hause und zu Hause 140
ans Büro und kann weder die Vorteile des Hausfrauen- noch die des Berufslebens richtig auskosten, und so oft mein Blick auf Benno II fällt, plagt mich zusätzlich das schlechte Gewis sen. Er ist wirklich auffallend blaß und unkonzentriert, denn Ännes »Pflege« Tag für Tag ausgeliefert zu sein, wer hält das schon aus? Und schließlich kann er sich ja nicht retten, indem er einfach abhaut, so wie sein Vater es tut, und neuerdings seine Mutter … Ich war kürzlich in der Schule, um mit seinem Klassenlehrer zu sprechen, der mir meinen Eindruck bezüglich der fehlenden Konzentration bestätigte. Da er immer recht gut war, wird er das Klassenziel wohl erreichen, jedoch mit Vorbehalt … er muß sich im neuen Schuljahr von Anfang an dahinterklemmen, sonst ist er im nächsten Herbst endgültig geliefert! Mit Änne habe ich anschließend mal im Klartext gesprochen. Sie weinte und sagte, daß es nicht zu fassen sei, mit welcher Gnadenlosigkeit ich versuchen würde, ihr Bennos Schulprob leme, die doch einzig und allein eine Folge meiner Berufstätigkeit seien, in die Schuhe zu schieben. Ich muß sagen, daß sie mir in ihrer empörten Hilflosigkeit direkt ein bißchen leid tat, aber ich blieb fest und sagte (Paulas Lebens hilfe im Ohr), daß ich es nicht wünsche, daß sie öfter als zweimal die Woche zu uns komme. Statt dessen habe ich einen Nachhilfelehrer engagiert, der Bennos Aufgaben täglich beaufsichtigt, und mit Herrn Schulze (er war sehr verständnis voll) andere Arbeitszeiten vereinbart: Ich werde morgens eine Stunde eher anfangen und dafür nachmittags gegen sechzehn Uhr abhauen. Mal gucken, wie die neue Regelung sich bewäh ren wird. Zu Deiner erstaunlichen Karriere muß ich Dir überhaupt endlich mal ganz ernst meine Hochachtung aussprechen. Es ist einfach bewundernswert, wie Du Dir das aufgebaut hast. Auch 141
daß beide Läden so gut laufen und Du so gute Mitarbeiterinnen hast, daß Du Dir jetzt endlich den Australientrip leisten kannst, von dem Du, wie ich mich erinnere, doch schon vor zehn Jahren geträumt hast. Ja, mein Paulinchen, nun ist es also soweit, ich meine, daß Du nach all den Aufbaujahren an dem Punkt »Realisierung von Träumen« angelangt bist. Es ist einfach wunderbar, im eigent lichen Sinne des Wortes … Zum Thema Australien fällt mir noch ein, wie Du mich, als Du mir davon erzähltest, so schräg von der Seite angesehen und gefragt hast, ob ich nicht Lust hätte, mitzukommen, jetzt, »wo ich Geld habe«, und wir die Frage auch gleich mit dem Bißchenprinzip beantworten konnten. Lisbeth hat eben nur ein bißchen Beruf, demzufolge nur ein bißchen Geld und ein bißchen Freiheit … alles in allem nicht genug für Australienund andere Trips. Aber apropos Geld: Der neue Nachhilfelehrer und die Putz frau fressen mein bescheidenes Gehalt fast gänzlich auf … Benno beteiligt sich selbstverständlich nicht an den Kosten, die die beiden verursachen, sondern hat in der ganzen Angele genheit einen für ihn sehr bequemen Posten bezogen: Geht es um praktische Unterstützung, laufe ich ja bloß einem Hobby nach und muß daher zusehen, wie ich meine eigentlichen Aufgaben (die zu Hause selbstverständlich) neben dem Hobby in den Griff kriege … Geht es dagegen um finanzielle Dinge, hat er ja schließlich eine berufstätige Frau, die sich an den Le benskosten durchaus und »endlich einmal« beteiligen kann … Liebe Paula, für heute nur ein paar kurze Zeilen, als Danke schön für das Wochenende und die Geduld, mit der Du mir zugehört, und die guten Ratschläge, die Du mir gegeben hast. Du siehst, einige davon (Putzfrau, Nachhilfe, Aussprache mit Änne) habe ich bereits in die Tat umgesetzt. Mit der Putzfrau habe ich leider keinen guten Griff getan. Sie ist eine nette vertrauenswürdige Person, die jedoch nicht 142
gewohnt ist, selbständig zu arbeiten, sondern immer wartet, daß man ihr jede Arbeit, die zu tun ist, einzeln aufträgt. Ich glaube nicht, daß ich sie behalten werde. Mit dem Nachhilfe lehrer sind Benno II und ich dagegen sehr zufrieden, diesbezüglich habe ich Glück gehabt. Drück mir die Daumen, daß sich künftig alles irgendwie zurechtbiegt. Es muß wieder Ruhe ins Leben … In alter Freundschaft, Deine Lisbeth
17. Oktober Liebe Paula, es meldet sich, vom Frondienst befreit, mit Jubelruf die glückliche Hausfrau … die Seele des Hauses, die Mutter der Kinder … Nein, ich bin nicht übergeschnappt, sondern nur unversehrt »heimgekehrt«, will sagen, ich habe meinen Job aufgegeben! Es fing damit an, daß mich Herr Schulze immer häufiger bat, doch abends länger zu bleiben, obwohl ich mit ihm die neue Regelung, nämlich morgens früher zu kommen, um nachmit tags eher frei zu haben, fest abgemacht hatte. Nun muß ich zugeben, daß es gerade in einem Maklerbüro in den frühen Morgenstunden sehr wenig zu tun gibt und ich zu einer Stunde nach Hause ging, zu der der Telefondienst eigentlich erst so richtig anläuft. Aber ich meine, das hat Herr Schulze ja ebenso gewußt wie ich. Er bat jedenfalls immer öfter um Überstunden, kam auch immer häufiger mit der Bitte, ob ich mir die Objekte nicht mal allein ansehen könne, Dinge, die wirklich nicht zu meinem Aufgabengebiet gehören, und trat dann vor zwei Wochen mit der Forderung an mich heran, einen EDV-Kurs zu besuchen. Es handelte sich hierbei nun nicht um eine Art Volkshoch schulkurs, den ich in meinem überfrachteten Leben ja irgendwie noch hätte unterbringen können, sondern um eine 143
Intensivschulung, die zwei Wochen dauert und für die hier im Ort gar keine Möglichkeit besteht. Nun kann ich ja nicht gut und ohne Vorbereitung einfach für zwei Wochen verreisen, zumal ich im Moment ohne Putzfrau dastehe und auf gar keinen Fall mit dem Problem an Änne herantreten wollte, da zu befürchten war, daß sie kommen und sich das eben erst verlorene Terrain zurückerobern würde. Ich bat Herrn Schulze also höflich um Verständnis, daß ich meinen kleinen Sohn im Moment nicht allein lassen könne, woraufhin er die Selbstbeherrschung verlor und mich anbrüllte, daß ihn meine häuslichen Probleme nichts angingen und ich seine Geduld überdies bis an die äußerste Grenze strapaziert hätte. Ob ich Familie und Beruf miteinander verbinden könne, das hätte ich mir besser vorher überlegen sollen, schließlich habe er ein Geschäft und kein Wohltätigkeitsinstitut, in dem Hausfrauen ihre freien Stunden absitzen könnten. Ich ging heulend nach Hause und kam mir wie eine Drei zehnjährige vor, die von ihrem Lehrer abgekanzelt worden ist, und schuftete dann das ganze Wochenende verbissen und schweigend im Haus herum, wobei mir diese Tätigkeit, bei der niemand hinter mir stand, um mich herumzukommandieren, auf einmal wie die reinste Wohltat erschien. Am Sonntag lag mir der Gedanke an den Montagmorgen so auf der Seele, daß ich Frau Grötter anrief, einfach um mich bei jemandem, der den Laden kennt, zu erleichtern, und sie freute sich sehr und gestand mir, daß ihr die Büroarbeit so fehle, daß sie dabei sei, verrückt zu werden. Sie habe sich das Hausfrau enleben immer als das reinste Paradies vorgestellt, nun aber feststellen müssen, daß es ein sehr einsames Paradies sei und ihr das schweigende Herumwirtschaften im Haus auf den Magen schlage … Außerdem fehle ihr das eigene Geld, und die diesbezüglichen Debatten mit ihrem Ehemann gäben ihr den Rest … Ich lauschte atemlos ihren Worten, und plötzlich hörte ich 144
mich zu meiner eigenen Überraschung sagen, daß ich einen Job für sie hätte, nämlich einen Job im Schulzeschen Maklerbüro. Kurz und wunderbar: Sie fängt bereits zum nächsten Ersten an, und ich bin den ganzen Mist auf einfache Art und Weise losgeworden … Weißt du, Paula, ehe Du jetzt irgend etwas zu der Geschichte sagst, mußt Du bedenken, daß es sich ja letztlich um einen Job ohne jegliches Weiterkommen handelte, daß ich nicht gut verdient habe und das bißchen Geld überdies voll in den Haushalt buttern mußte, um die Putzfrau und den Nachhilfelehrer zu bezahlen. Und das alles zu der Doppelbela stung, der ich auf Dauer ohnehin nicht gewachsen gewesen wäre. Ich glaube auch, daß ich, die ich immer selbst über meine Zeit verfügen und meine Arbeit auf die Art erledigen konnte, wie es mir paßte, keine gute Angestellte bin. Der Ton, den sich Herr Schulze mir gegenüber immer häufiger leistete, ging mir schon lange auf den Keks! Ich habe das einfach nicht nötig, mich so behandeln zu lassen. Die Familie nahm meinen Entschluß, mich wieder aus dem Berufsleben zurückzuziehen, übrigens keineswegs so begeistert auf, wie ich mir das eingebildet hatte. Sie scheinen sich, ohne daß mir dies aufgefallen ist, unterdessen alle an meine Außer häusigkeit gewöhnt zu haben. Das hat mich sehr irritiert … Ich Idiotin habe nämlich geglaubt, daß sie mir jubelnd um den Hals fallen würden. Liebe Pauline, dies für heute nur schnell so runtergetippt, als kleinen Gruß, ehe Du Dich nach Australien davonmachst. Bitte, ruf mich sofort an, wenn Du wieder zurück bist. Menschenskind, acht Wochen und ein anderer Kontinent, Du hast das Spiel wirklich gemacht … und gewonnen! Ich denke jetzt immer öfter an die Zeiten, in denen wir zwei unsere Küchentischgespräche abhielten. Wie weit von alledem hast Du Dich entfernt … 145
»Wer neue Ufer entdecken will, muß den Mut haben, die alten aus dem Auge zu verlieren.« (Paula vor zehn Jahren) Du hattest diesen Mut, derweil ich hoffte, neue Ufer zu entdecken, wenn ich mich nur lange genug an der vertrauten Küste entlanghangelte. Sie änderte zuweilen das Gesicht, war aber doch immer dieselbe Küste … Ich wünsche Dir einen guten Flug. In Gedanken dabei, Deine Lisbeth
15. Februar Liebe Paula, vielen Dank für Deine Segenswünsche zum fünfundzwanzig sten Hochzeitstag. Nein, es gab (gottlob!!!) keine große Feier, und ich mußte nicht im Blauseidenen neben Benno I (schwar zer Anzug, Silberästchen im Knopfloch) stehen und zu ihm hinauflächeln und so tun, als ob mich heute, an unserem großen Tag, nur ein einziger Wunsch beseelt: daß nämlich die kom menden fünfundzwanzig Jahre ebenso harmonisch und liebevoll verlaufen mögen wie die vergangenen… Es traf sich für alle Beteiligten sehr günstig, daß Benno von der Firma nach Fernost geschickt wurde. Er machte den müden Vorschlag, die Silberhochzeitsfeier dann »später mal« nachzu holen, falls ich Wert darauf legte, und als ich sagte, daß mir der Gedanke an eine Silberhochzeit, womöglich im Kreise der Familie, Brechreiz verursache, da strahlte er mich sichtlich verliebt an und meinte, es sei ja auch netter, wenn wir statt dessen »nur so zu zweit« nach Venedig führen. Das muß er irgendwann einmal gelesen haben, daß man seiner Frau keine größere Freude machen kann, als wenn man ihr im fortgeschrittenen Alter eine Reise nach Venedig ver spricht. Es läßt auf nicht nachlassende erotische Anziehungskraft schließen, die in Venedig dann endlich den würdigen Rahmen erhält! 146
(Beachte in diesem Zusammenhang auch bitte die genaue Bezeichnung »verspricht«.) Nun, Benno weilte also an unserem großen Tag in Fernost und Änne mit Frau Müller-Wippersfürth in der Ferienwohnung von Frau Müller-Wippersfürths Schwester, und Benno II war mit seiner Klasse zu einer Skireise unterwegs. Die Reisen meiner Lieben erschütterten mich nicht allzusehr, was mir dagegen wirklich weh tat, war die Tatsache, daß Lil und Mary nach New York aufgebrochen waren, zu jener Reise, die ich vor einigen Monaten ausgeschlagen hatte … zum Teufel, Paula, warum eigentlich??? Genau an meinem fünfundzwanzigsten Hochzeitstag erreich te mich ihre Karte vom Empire State Building, und ich pinnte sie mir ans Küchenbord und strich so durch das Haus und hatte das Gefühl, daß sich sämtliche Gegenstände, die sich darin befinden, ebenso müde vor sich hinlangweilten, wie ich es tat, und nicht wußten, was sie mit sich und der Zeit anfangen soll ten. Wir glotzten uns so an und hatten uns nichts zu sagen … Liebe Paula, Du fragst in Deinem letzten Brief, wie es mir sonst so geht, und ich muß sagen, daß es mir in der letzten Zeit eigentlich ausgesprochen gut gegangen ist. Die berufliche Belastung losgeworden zu sein und am Morgen aufzuwachen und zu wissen, daß ich nicht mehr zu Schulze spurten muß, hat mir mein Heim als das wahre Paradies erscheinen lassen. Ich spürte eine immense, nie zuvor gekannte Lust, das Haus von oben bis unten zu wienern und mit Blumen zu dekorieren, sämtliche Lieblingsgerichte der Familie zu kochen, mich in Baumkuchenbäckerei zu üben und die leeren Blumenkästen auf der Terrasse mit Schneeheide zu bepflanzen. Ja, ich freute mich sogar, wenn Änne zu Besuch kam, um mir zu erzählen, wie die Familie von Frau Müller-Wipperfürth geschlossen aufjault, wenn sie sich an einem einzigen Sonntag nicht bei ihr blicken läßt … 147
Aber dann war alles geputzt und gewischt, und sogar die »guten« Gläser, die wir nie brauchen, waren poliert und in der Vitrine der Größe nach aufgestellt und alle Knöpfe angenäht und die Rezeptesammlung sortiert, und die Fransen sämtlicher Teppiche waren gekämmt … und ich war kurz davor, die Gardinenringe mit Silberputz zu bearbeiten … Und weil ich ja nun fast den ganzen Tag allein hier herumlau fe, weil Änne nur noch selten kommt (kürzlich hörte ich sie zu Frau Müller-Wippersfürth sagen, daß sie sich von der Sippe emanzipiert habe) und sich Benno II nach eher hastig erledig ten Schularbeiten wie eh und je seinen mannigfaltigen sportlichen Ambitionen hingibt, dreckt es einfach nicht schnell genug ein, um mich Tag für Tag zu beschäftigen. Ich hab mich an der Volkshochschule für einen Spanischkurs angemeldet und büffle nun täglich Vokabeln, aber irgendwie läßt mich das Gefühl nicht los, daß ich es ganz umsonst tue, weil ich an sich nicht die geringste Lust habe, nach Spanien zu fahren, und meinen Wortschatz dann auch anzubringen. Dein Vorschlag, den Du mir neulich am Telefon machtest, »doch vielleicht wieder mal ein bißchen an meinem Roman zu schreiben«, klang mir auch falsch im Ohr. Er klang mir so nach den bekannten »Mal der Omi doch mal ein ganz schönes Bild« Vorschlägen, mit denen man ein quengeliges Kind abzuwim meln versucht … Mit Benno II hatte ich kürzlich übrigens einen sehr unschönen Auftritt, als ich ihn bat, öfter mal zu Hause zu bleiben und sich nicht täglich noch kauend vom Eßtisch zu erheben, eine Angewohnheit, mit der mich bereits Benno I zur Raserei treibt. Ich erinnerte ihn daran (was pädagogisch gesehen natürlich ein totaler Flop war), daß ich meinen Job ja nicht zuletzt für ihn aufgegeben hätte. Und da verpaßt er mir doch tatsächlich ganz cool, daß ich seinetwegen ruhig wieder arbeiten gehe könne, denn mit Michael allein wär’s zuletzt richtig toll gewesen. 148
(Michael ist sein Nachhilfelehrer.) Tja Pauline, ich stecke tatsächlich in dem Dilemma, daß Haushalt und Beruf zuviel ist und Haushalt allein zu wenig und die Alternative Spanisch- oder Bastelkurse an der Volkshoch schule mich einfach auf Dauer nicht so recht befriedigt. Zur Zeit tröste ich mich damit, daß ich halt noch ein paar Jährchen warte und dann, von sämtlichen häuslichen Pflichten so gut wie befreit, etwas Richtiges anfange. Ein Frauen-LitLaden, so wie Du ihn betreibst, steckt mir dabei am meisten in der Nase. Grüße Lila von mir und sag ihr, daß sich ihr Vor schlag, mich ins Guinness Buch der Rekorde eintragen zu lassen, nämlich als Weltmeisterin im Warten (daß Du Dich diesem Vorschlag vollinhaltlich angeschlossen hast, war nicht sehr nett), leider nicht realisieren lassen wird. Ich habe gestern nämlich tatsächlich die Arbeit an meinem Roman wieder aufgenommen, und Mary will mir das seit Ännes Auszug leerstehende Zimmer von Lil als Schreibstube einrichten. Seht Ihr, so langsam wird’s … Ich muß Schluß machen, denn Frau Schweizer und meine Nachbarin zur Linken sind in Urlaub, und ich habe die Blu menpflege übernommen. Die alleinige Verantwortung für zweiundsiebzig Topfpflanzen tragend, Deine Lisbeth
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