Im Mittelpunkt des Geschehens steht der englische Privatdetektiv Pat Oakins, ein ebenso in Judo wie in Karate geschulte...
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Im Mittelpunkt des Geschehens steht der englische Privatdetektiv Pat Oakins, ein ebenso in Judo wie in Karate geschulter Mann und ein Feinschmecker dazu, vor allem, was Käse anbelangt. Er träumt davon, ein Star in seiner Branche zu werden. Dazu verhelfen soll ihm eine berühmte Verbrecherkartei, die ihm zum Kauf angeboten wird. Doch sein Geldbeutel ist leer. Gezwungenermaßen muß er alle ihm angetragenen Aufträge übernehmen. Aber Erfolg ist launisch. Sein zuverlässigster Kunde ist ein Fischhändler, dessen Frau den Fischgestank nicht ausstehen kann, ihm deswegen ständig davonläuft und die Oakins immer wieder aufzuspüren hat. Die tragikomischen Erlebnisse des kleinen Detektivs verdichten sich zu einer bemerkenswerten Satire. Literarisches Vergnügen bereiten Loests parodistische Seitenhiebe auf die einschlägige Literatur von Raymond Chandler, Erle Stanley Gardner bis Hans Walldorf.
Scanned and Corrected by
Pegasus37
Dieses eBook ist nicht für den Verkauf bestimmt.
Erich Loest
Oakins macht
Karriere
Eulenspiegel Verlag Berlin
Prämie: zehntausend Pfund
Pat Oakins, der Privatdetektiv, wußte es längst: Am Ende der Judostunde liebte es Kokichi Nagaoka, sein japanischer Trainer, ihn durch einen besonders heimtückischen Wurf auf die Matte zu schleudern, vor allem wohl, um seinem Schüler zu beweisen, wieviel es noch zu lernen gab. Nagaoka riß die Arme hoch und deutete eine Hüftbewegung an, aus der Oakins schloß, er sollte mit einem Uki-Otoshi geworfen werden; Oakins setzte das rechte Bein vor, verlegte seinen Schwerpunkt, um mit einem Hidari-Tai-Otoshi abzuwehren, aber Nagaoka sprang hoch, klemmte die Oberschenkel seines Schülers mit den Beinen ein und ließ sich zur Seite fallen, so daß Oakins wie ein Frosch auf den Rücken klatschte. Nagaoka stand augenblicklich wieder. „Hasami-Geashi“, erklärte er höflich. „Scherenwurf.“ Unter der Brause verschwand Oakins’ Ärger und machte der Überlegung Platz, wo er essen könnte. Er nahm abends gern leichte Speisen zu sich, Fisch etwa, er spielte mit dem Gedanken, eines der berühmten Fischlokale aufzusuchen, Dover Buttery in der DoverStreet oder Scott’s in der Coventry-Street, wo man die besten Austern in ganz London aß. Dabei ahnte er, daß ihn letztlich die Scheu vor hohen Preisen in eine der minderen Pubs treiben würde, und so kam es auch: In einer Filiale von Lyons & Co. bestellte er Fisch und Chips, aß den Fisch mit Appetit und ließ die Hälfte der Chips liegen, weil er, wie er überschlug, sein selbstgesetztes Kalorienlimit an diesem Tag schon überschritten hatte.
Er fuhr bis in die Nähe seiner Wohnung, den letzten Kilometer ging er zu Fuß. Es war ein heiterer Sommerabend; London zeigte sich in halbwegs klaren Farben, und die Luft bestand nur zur Hälfte aus Ausdünstungen und Abgasen. Oakins bewohnte ein Appartement auf den Hügeln von Highgate, er fuhr mit dem Lift hinauf, streckte sich auf die Couch und blätterte in seinem Judo-Lehrbuch. Nach einer Weile fand er heraus, daß er sich gegen Nagaokas letzte Tücke womöglich mit einem Hidari-Aobi-Goshi hätte wehren können. Er las: „Legen Sie die Hand hinten an die Hüfte des Angreifers, die Finger nach unten, lockern Sie den Griff und pressen Sie die Handfläche oben außen an seinen rechten Oberschenkel, springen Sie hoch…“ Das klang verworren; vor allem vermochte sich Oakins nicht vorzustellen, wie er alle diese Anweisungen in Bruchteilen von Sekunden ausführen sollte, so schnell, daß seinem Gegner keine Zeit zur Gegenwehr blieb. Oakins war mit diesem Problem nicht zu Rande, als das Telefon klingelte. „James Harrison“, hörte er. „Sie wissen, wer ich bin?“ „Selbstverständlich.“ Oakins spürte eine verwirrende Leere im Hirn, die er für Ehrfurcht hielt. „Es wäre mir recht, wenn ich Sie möglichst bald sprechen könnte.“ „Morgen früh“, antwortete Oakins ein wenig zu rasch, wie er sich später vorwarf. „Bitte zehn Uhr in meinem Büro.“ An diesem Abend begriff Oakins nichts vom HidariAobi-Goshi, seine Expanderübungen absolvierte er ohne Schwung und klemmte sich sogar, was selten
geschah, die Haut am Nacken schmerzhaft ein. Er kam nicht von dem Gedanken los, warum James Harrison, einer der versiertesten Privatdetektive Londons und Besitzer einer berühmten Kartei, ihn sprechen wollte. Oakins hatte sich gerade geduscht, als jemand an der Tür klingelte; im Bademantel öffnete er, sein rundliches, gutmütiges Gesicht, dem er so oft einen Zug von Härte und Schläue gewünscht hatte, überzog sich mit törichtem Staunen. „Kommissar Varney!“ „Darf ich Sie sprechen?“ Oakins ließ seinen Gast ins Zimmer, ärgerte sich, daß er sich darüber ärgerte, daß Decke, Judobuch und Unterwäsche auf der Couch ein wirres Durcheinander boten. Bei einem Detektiv des von ihm bewunderten amerikanischen Kriminalschriftstellers Chandler, so sagte er sich, wären noch eine halbvolle Whiskyflasche und eine nackte Frau daruntergemischt gewesen, und es hätte ihm nicht das geringste ausgemacht. An dieser Vorstellung straffte er sein Selbstbewußtsein, wies auf den einzigen Sessel, holte eine Flasche Gin aus dem Kühlschrank und begann sich anzukleiden. Dabei sagte er: „Kommt Scotland Yard ohne mich nicht weiter? Ist ein Jährchen her, seit Sie das letzte Mal an mich gedacht haben, Kommissar.“ „Oakins, Ihre Verdienste sind unvergessen. Aber Sie wissen selber, daß wir nur in ganz seltenen Fällen einem Privatdetektiv einen Auftrag zukommen lassen dürfen.“ „Wenn Ihnen die Puste ausgegangen ist.“ „Oakins“, erwiderte Varney friedlich, „ich bin nicht hierhergekommen, um mit Ihnen zu streiten. Ich weiß, daß Sie es gern hören, wenn man Ihnen sagt, daß Sie wesentlich daran beteiligt waren, daß der
Doppelmörder Graham gefaßt wurde, und deshalb bestätige ich es Ihnen hier und heute ein weiteres Mal. Aber sollten Sie nicht endlich einsehen, daß wahrhaft gute Polizeiarbeit heutzutage nur von einem Apparat und niemals von einem Einzelgänger geleistet werden kann?“ Während Varney schilderte, welche Möglichkeiten Oakins als Mitarbeiter der Mordkommission des Yard hätte, während Varney versicherte, daß er schon bei seinem Leiter vorgefühlt hatte und einen Antrag von Oakins wohlwollend unterstützen würde, während er vorsichtig von Gehalt und Aufstiegsmöglichkeiten und Pension sprach, ließ Oakins vor seinem inneren Auge die Chandlerschen Recken Revue passieren, die sich mit den Gangstern und der Polizei gleichermaßen herumschlugen, wortkarge Männer in einer kalten Welt, die ihr Selbstgefühl aus der Tatsache ableiteten, daß sie einsam und hart waren, die einen einzigen Freund hatten, der sie tröstete, und das war die Whiskyflasche. Oakins hockte auf der Couch, die Beine untergeschlagen, vergeblich versuchte er, grimmige Falten in seine Wangen zu pressen, er trank Gin, der ihm zuwider war, und sehnte sich nach Apfelsaft. Varney sagte gerade: „Nehmen Sie es mir nicht übel, Oakins, daß ich mich ein wenig um Ihre Existenz gekümmert habe. Sie betreuen einen einzigen festen Kunden, einen Fischhändler, dem immerzu die Frau durchbrennt. Daneben gibt es Laufkundschaft, eifersüchtige Ehemänner und ähnlichen Krimskrams. Ich sag’s Ihnen noch mal: Oakins, kommen Sie zum Yard!“ „Und ich habe dann ein Dutzend Chefs über mir.“ „Aber ein schönes festes Gehalt.“
„Doch ich kann mir die Fälle, die ich bearbeite, nicht aussuchen.“ „Himmel, Oakins, das können Sie doch jetzt auch nicht! Sie müssen jeden Fall annehmen, der sich Ihnen bietet, wenn Sie über Wasser bleiben wollen.“ Varney mochte Oakins, das war keine Frage, er schätzte ihn wegen seiner Härte und Tapferkeit. Oakins war nur 151 Zentimeter groß, er war der kleinste Privatdetektiv Londons. Manchmal hatte er die große Klappe, daß Varney ihn am liebsten hinausschmiß, aber so richtig böse sein konnte er ihm selbst dann nicht. Varney hatte Oakins manches Mal gefrotzelt, Oakins hätte nichts übelgenommen – an diesem Tag war Varney friedlich gestimmt, er verzichtete darauf, Oakins vorzuschlagen, in der Maske eines Schulanfängers mit Ranzen und Zuckertüte listig Verbrechergespräche zu belauschen und dem Yard unschätzbare Dienste zu leisten. Varney bedauerte, daß dieser Mann seine Fähigkeiten im Alleingang verschliß, er hätte gern seinen Apparat durch diesen eigenwilligen Burschen verstärkt. „Sie fürchten die Routine, ich weiß. Ich fürchte sie ja selber. Ich bin nun ewig auf dem gleichen Posten und möchte gern jemanden um mich haben, der mit frischem Blick an die Arbeit herangeht.“ Oakins fühlte Oberwasser. „Sagen Sie ganz ehrlich, Kommissar, beneiden Sie mich nicht auch ein wenig um meine Freiheit?“ „Am Gehaltstag bestimmt nicht.“ Varney hatte sein Pulver verschossen, er sagte noch, daß im Yard gerade jetzt ein Plätzchen für Oakins frei wäre, und daß er dennoch nicht hoffe, es ginge Oakins einmal so miserabel, daß er notgedrungen zum Yard kommen
müßte. Er ging und ließ Oakins in dem starken Gefühl zurück, abermals einer Versuchung nach bürgerlicher Solidität und Anpassung widerstanden zu haben. Oakins blickte mit runden Kinderaugen auf die beiden halbvollen Gläser mit Gin und dachte selig: Ich bin ein einsamer, wilder, räudiger, zähnefletschender grauer Wolf. Dabei fiel ihm Harrisons Anruf wieder ein. War auch das eine Falle? Später stand Oakins sinnend vor seinem Bücherregal und schaute auf die Kriminalromane von Chandler, Gardner, Simenon und Durbridge. Für Oakins schlossen sie Welten auf: Den Chandlerhelden galt seine ganze Sympathie, diesen Einzelkämpfern in einer mißlichen, unerforschlichen Welt. Wenn ich, sann er, die Kartei des alten Harrison besäße, wäre ich wie Mason, Gardners Serienheld, ein Schreibtischstratege, der mit genialem Weitblick seine Fälle löst und die Dreckarbeit von anderen erledigen läßt. Hörte ich auf Varney und würde Angestellter des Yard, könnte ich mich hochdienen zu einer Position, wie sie Kommissar Maigret innehat, Simenons enorme Gestalt. Oakins überlegte: War das jeweilige Wunschbild eine Frage des Alters? Chandlers Helden waren bestenfalls dreißig, ein Fünfzigjähriger bräche vermutlich nach einer Woche derartigen Treibens mit einem Herzinfarkt zusammen. Ich halte durch, sann Oakins, mich schaffen sie alle zusammen nicht. Oder ist das Chandlerideal veraltet, ist es abgelöst worden durch Durbridges Supermänner, die zu allen alten Tugenden noch die moderne Technik einsetzen, die nicht mehr mit dem Colt kämpfen, sondern mit dem Laserstrahl? Ich bleibe bei meinem Leisten, beschloß Oakins, ich werde es denen allen zusammen schon zeigen!
Am nächsten Morgen fuhr Oakins nach Kensington, verließ die U-Bahn an der Bond-Street und bog in die Welbeck-Street ein. Harrisons Büro lag im dritten Stock eines um die Jahrhundertwende gebauten, von den Zeppelinen des ersten und den Heinkelbombern des zweiten Weltkrieges verschont gebliebenen Geschäftshauses. Die Treppe wand sich um einen gitterumkleideten Fahrstuhlschacht, an dessen Türen Schilder mit der Aufschrift „Außer Betrieb“ hingen; die Männer in den Korridoren trugen dunkle Anzüge und steife schwarze Hüte und in ihren Gesichtern den Ausdruck von Würde und Verläßlichkeit. So sah auch Harrison aus: Er war ein Mann nahe der Siebzig, der sich kerzengerade hielt und den Mund zu einem Strich zusammengepreßt hatte, als wollte er damit ausdrücken, dahinter wäre jedes Geheimnis so wohlverwahrt wie Rolls-Royce-Aktien in der Bank von England. „Kommen Sie herein, Oakins“, sagte er, „wir sehen uns zum ersten Mal, aber ich weiß natürlich einiges von Ihnen. Sie haben Kommissar Varney durch den Leichenfund in den Mendip-Hügeln einen hübschen Dienst erwiesen und sich selbst übrigens auch. Ohne Sie liefe Graham heute noch frei herum. Nehmen Sie Platz. Whisky?“ Oakins nickte verbissen. Er, dem sportliche Lebensweise über alles ging, hatte schwere Kämpfe hinter sich: Chandlers Detektive waren allesamt trinkfeste Gesellen, und so opferte Oakins seinem Ideal, wenn nötig, hin und wieder einen Teil seiner sportlichen Prinzipien.
Harrisons Zimmer war ein fast quadratischer Raum, in dessen Mitte ein klobiger Schreibtisch stand; der Schreibmaschinentisch an der Fensterfront war verwaist. Drei Seiten waren mit Schränken aus Eichenholz verkleidet, die bis an die Decke reichten. „Ich habe“, begann Harrison, „in der vorigen Woche meine langjährige Mitarbeiterin verloren, pünktlich an ihrem sechzigsten Geburtstag ist sie in ein Damenstift übergesiedelt und unterhält nun ihre Umgebung mit Histörchen aus dem Verbrecherleben und sich selbst mit dem Stricken von Teehauben für grönländische Waisenkinder. Ich hätte nicht gedacht, daß sie mir so fehlt. Plötzlich habe ich keine Lust mehr.“ „Und Ihre Söhne?“ „Alle drei haben mich schwer enttäuscht. Sam, der Älteste, zeigte schon während seines Jurastudiums nicht den nötigen Fleiß. Danach trat er in meine Firma ein. In der ersten Woche kam er dreimal zu spät, insgesamt waren es vierundzwanzig Minuten. Seine Arbeit an der Kartei erledigte er liederlich und ohne Interesse. Sechs Wochen lang brauchte ich, um seine Versäumnisse, die während einer einzigen Woche entstanden waren, auszubügeln. Wir mußten uns trennen. Seitdem betreibt er eine eigene Detektei, ich habe mich nicht mehr um ihn gekümmert. William, der zweite, wollte technische Albernheiten einführen, eine Ziffernsprache anstelle meiner Karteikarten, dabei brachte er alles durcheinander. Pit, der dritte, zeigte sich erst recht anstellig, später aber mußte ich konstatieren, daß er einige Fälle auf eigene Rechnung bearbeitete; er behauptete, mit seinem wohlweislich zu keinem Wohlleben verleitenden Gehalt nicht
auszukommen. Er betreibt nun eine winzige Detektei in Wimbledon.“ Oakins warf ein: „Immerhin, alle drei sind Männer vom Fach.“ „Aber nicht von der alten englischen Schule. Die drei würden mein Erbe im Nu verwirtschaften, wahrscheinlich würden sie die Kartei aufteilen und dadurch zerstören.“ Harrison blickte angewidert zum Fenster hinaus. „Eine merkwürdige Familie! Neulich hörte ich, eine Nichte wolle Schauspielerin werden. Schauspielerin! Oakins, wenn Sie mir versprechen, die Kartei weiterzuführen, biete ich sie Ihnen zum Kauf an.“ Eine beklemmende Welle der Freude schlug in Oakins hoch. Harrisons Kartei, das wußte jeder in der Branche, war einmalig: Harrison und seine Sekretärin hatten vierzig Jahre lang eine Unzahl von Daten und Fakten zusammengetragen, die mit Verbrechern und ihren Taten zusammenhingen; diese Kartei war so umfangreich, daß es bisweilen sogar die stolzen Kommissare von Scotland Yard übers Herz brachten, bei Harrison anzufragen. Diese Kartei – aber in Oakins sank die Freude rasch wieder in sich zusammen. „Was soll sie kosten?“ „Fünfzehntausend Pfund, davon achttausend sofort, den Rest in Monatsraten von hundert.“ Oakins nickte schwach. „So ungefähr habe ich es mir gedacht. Achttausend bar – ich könnte Ihnen noch nicht einmal fünfhundert zahlen.“ „Aber Ihr Erfolg in den Mendip-Hügeln muß Sie doch groß herausgebracht haben. Hat Varney nichts für Sie getan?“
„Varney liegt mir ständig in den Ohren, ich soll in den Yard kommen und sein Stellvertreter werden.“ Oakins schlug ein Bein über das andere. „So was liegt mir einfach nicht. Ich bin gern mein freier Mann.“ Harrison wollte erneut eingießen, überlegte es sich aber anders und setzte die Flasche ab. „Ich möchte nach dem Süden. Italien, Frankreich. Haben Sie nie Sehnsucht nach ewig blauem Himmel gespürt?“ Und ich soll dir diesen Himmel bezahlen, dachte Oakins. Ich soll dir das Geld für die Hotelrechnungen herauswirtschaften. Diese Kartei, deine berühmte Kartei… „Überlegen Sie es sich“, riet Harrison eine Spur zu freundlich. „Ich halte meinen Vorschlag zwei Wochen lang aufrecht. Es soll ja hin und wieder noch reiche Tanten geben.“ Oakins zwang seinen Ärger hinunter. Er war auf der Schattenseite des Lebens geboren, hatte eine karge Kindheit verlebt, schlug sich schlecht und recht als Privatdetektiv durchs Leben, war, und das bedeutete seinen größten Kummer, nur hunderteinundfünfzig Zentimeter groß – es hätte einfach nicht in diese Kette von Mißlichkeiten hineingepaßt, wenn er der Besitzer der Harrisonschen Kartei geworden wäre. Er verabschiedete sich. An der Tür bemühte er sich um ein sarkastisches Grinsen, es fiel enttäuschend bieder aus. Eine halbe Stunde später, als Oakins in einer Snackbar vor einem Glas Johannisbeermilch saß, fiel ihm ein, wie Raymond Chandler den Detektiv seiner Prägung charakterisiert hatte: Der Detektiv mußte auf der erbärmlichen Straße des Lebens ein ganzer Mann und ein einfacher Mann und dennoch ungewöhnlich
sein. Er mußte reden, wie man in dieser Zeit redete, also kräftig und gescheit, mit feinem Gefühl dafür, was lächerlich war. Er mußte einsam sein und keine Beleidigung einstecken, ohne sich genau und leidenschaftlich zu rächen. Nichts hatte Chandler davon gesagt, daß ein Detektiv reich sein und von einem Büroschemel aus mit Hilfe einer Kartei seine Fälle klären müßte. Das war Gardners Masche. Aber Oakins wollte kein Gardner-Held sein – war er gerade spießbürgerlichen Fallstricken entronnen? Oakins querte die Baker-Street, bog in den HydePark ein und musterte alte Damen auf den Bänken, wobei er überlegte, welche von ihnen wohl so aussah, als ob sie ihrem Neffen achttausend Pfund vorschießen würde. Aber er war nicht der Neffe irgendeiner reichen Tante irgendwo in der Welt. Die Sonne schien so stark, daß die Dunstschicht über der Stadt kaum zu merken war. In Hyde-Park-Corner stieg Oakins wieder in das Dämmerlicht der U-Bahn hinunter, und als er vor seinem Haus stand, war es noch immer hell, und Oakins hatte an diesem Tag nur ein zweckloses Gespräch geführt und keinen Penny verdient. Tags darauf rief ein Fischwarenhändler aus Brixton an und bat Oakins um Hilfe. Dieser Mann war sein Stammkunde; immer einmal lief ihm die Frau davon, dann mußte Oakins sie suchen. Diesmal telefonierte Oakins alle Tanten der ungetreuen Gattin an, und eine verriet ihm, ihre Nichte hätte ihr unter sämtlichen Siegeln der Verschwiegenheit mitgeteilt, sie wäre zu einem Physikstudenten geflüchtet. Oakins traf sie an, wie sie die Wäsche des Studenten wusch, er machte ihr klar, wie sehr ihr Mann unter der Trennung litt, und hörte sich geduldig an, es wäre eine Grausamkeit
gewesen, zu verlangen, sie sollte jede der einzulegenden Gewürzgurken mit einer Nadel anstechen. „Sechs Tonnen!“ rief sie und schwenkte anklagend eine feuchte Unterhose. Der Student ergänzte, ohne von einer technischen Apparatur aufzublicken: „Sechs Tonnen sind wirklich happig.“ Zärtlich federte sein Zeigefinger auf einer Taste, leises Piepsen stieg auf. „Ein Funkgerät?“ fragte Oakins höflich. „Ein kombiniertes Funk- und Sprechfunkgerät, paßt in jede Aktentasche.“ „Eigenbau?“ „So halb und halb.“ „Zur Sache selbst.“ Oakins wendete sich wieder der Fischhändlersgattin zu. „Würden Sie es unter Umständen mit zehn Zentnern versuchen?“ Die Frau schnüffelte versonnen, sagte: „Gut, teilen Sie meinem Mann mit, daß ich unter diesen Bedingungen zurückkehre. Aber keine einzige Gurke darüber hinaus!“ Oakins nickte dem Studenten mitfühlend zu, fuhr zum Fischhändler und teilte ihm mit, dessen Frau käme zurück, sobald die Wäsche des Studenten gebügelt und gestopft im Schrank läge. Mit einer Pfundnote und einem Karton marokkanischer Sardinenbüchsen machte sich Oakins auf den Heimweg. Er hockte noch nicht lange in seinem Zimmer, als das Telefon klingelte. Eine kühle Frauenstimme teilte ihm mit, sie spräche im Namen der Three-BellVersicherung, und fragte an, ob es Mister Oakins möglich wäre, kurzfristig einen Auftrag zu übernehmen. Wenn ja, möchte er so freundlich sein, am nächsten Morgen Direktor Ashton aufzusuchen.
Adresse, Uhrzeit – Oakins sagte zu. Wenig später machte er sich, weit weniger mißgelaunt, mit Verve an seinem Expander zu schaffen. Unter der Brause überlegte er mit mißtrauischem Eifer: War er in eine Glückssträhne geraten? Direktor Ashton überlegte einen Augenblick, ob er aufstehen sollte; dann tat er es doch nicht. Er hätte die Hose hochziehen müssen, es war brutwarm im Büro trotz der Ventilation, und schließlich war Oakins nichts weiter als ein Privatdetektiv. Oakins hob halb die Hand, wie Chandlers Detektive es taten, lärmte: „Hallo“ und grinste. „Hallo, Oakins.“ Ashton war überrascht: Er hatte gehört, Oakins wäre ein kleiner Mann, aber Oakins war ein außerordentlich kleiner Mann, und für einen Augenblick zweifelte Ashton, ob es richtig gewesen war, ihn hierherzubitten. Über eine Leiche stolpern konnte jeder; daß er selbst noch keine gefunden hatte, lag nur daran, daß ihm niemand eine in den Weg gelegt hatte. „Freut mich, Sie zu sehen. Hätten Sie einige Tage Zeit für die Three-Bell-Versicherung?“ „Ich will sehen, daß ich Ihre Angelegenheit einschieben kann.“ Oakins mochte diese feisten Burschen nicht, die taten, als wären sie die Besitzer der Firma und ihre Gründer obendrein. Der da wog glatt zweieinhalb Zentner, bewegte sich wahrscheinlich höchstens vom Lift zum Auto und bildete sich ein, er müßte verhungern, wenn er nicht jeden Tag ein Steak von einem Pfund naschte. „Eine merkwürdige Geschichte“, begann Ashton. „Vor einem Vierteljahr schloß ein Mann eine Lebensversicherung bei uns ab. Er war fünfunddreißig
Jahre alt, kerngesund bis auf Spreizfüße und ein wenig Rheuma in der linken Schulter – wir nahmen an, er müßte neunzig Jahre alt werden. Versicherungssumme hunderttausend Pfund, bei Unfall das Doppelte, auszahlbar an die Witwe. Vor zwei Monaten verunglückte dieser Mann bei der Fahrt nach Italien. Irgendwo in Südfrankreich stieß er gegen einen Baum, sein Vanguard brannte aus. Der Mann war auf der Stelle tot. Wir einigten uns mit der Witwe, die Summe in sechs Monatsraten zu berappen, die erste sofort, die zweite vier Wochen später, die dritte ist in der nächsten Woche fällig. In diesem Rhythmus geht’s weiter. Der schwerste Schlag, den unser Haus seit langem hinnehmen mußte.“ Die drei Kinne Ashtons legten sich in melancholische Falten, der Ausdruck seiner Augen ähnelte dem eines Karpfens in der Reuse. „Einiges jedoch läßt uns hoffen. Die Witwe hatte schon vor dem Tod ihres Gatten mit einem anderen Mann angebändelt, jetzt hat sie ihm die Leitung der verwaisten Firma übertragen, und seine Anzüge hängen seit zwei Wochen in den Schränken des Toten. Zu rasch und zu glatt sind einige Interessen unter einen Hut gekommen.“ „Wenn ich für Sie arbeiten sollte“, entwickelte Oakins, „kostet Sie das pro Tag zehn Pfund. Dazu die üblichen Spesen. Da die Summe, um die es geht, erheblich ist, sollten wir eine Erfolgsprämie vereinbaren.“ Oakins sah, wie die Augen des Direktors zu glitzern begannen, überlegte, rechnete. „Fünf Prozent der strittigen Summe währen wohl nicht zuviel. Zehntausend Pfund.“ Es wurde so still, daß das Klappern der Schreibmaschine im Vorzimmer durch die Doppeltür
hindurch zu hören war. Oakins bedachte, was zehntausend Pfund für eine gewaltige Summe waren. Dafür konnte er ein Häuschen bauen mit Garage und Goldfischbecken und Hundehütte, konnte einen Zaun darum ziehen und einen Sonnenschirm auf die Terrasse stellen. Oder: Er konnte Harrisons Kartei kaufen. Das Glitzern in Ashtons Augen erlosch. „Ich engagiere Sie für zehn Tage, danach werden wir sehen, ob es lohnt, den Kontrakt zu verlängern. Sollten Sie herausfinden, daß ein Versicherungsschwindel vorliegt, zahlen wir Ihnen zehntausend Pfund Prämie.“ Oakins nahm einen Notizblock aus der Tasche, Ashton legte die Details dar. Am fünften März hatte der Fleischwarenfabrikant Curtin eine Lebensversicherung abgeschlossen, am zwölften Mai war sein Wagen bei dem Städtchen St. Affrigue im südfranzösischen Departement Averyon gegen einen Baum geprallt. „Eine Sekretärin des verehrten Toten, Harriet Flaherty, hat die Meinung geäußert, der Dame Curtin wäre der Tod des Gatten gerade recht gekommen. Heute mittag steht sie wegen Verleumdung vor Gericht. Es wäre gut, wenn Sie sich diesen Prozeß anschauten.“ „Unser Vertrag tritt sofort in Kraft?“ Ashton drückte auf eine Klingel; ein Mädchen trat ein. Zehn Minuten später unterschrieb Oakins einen Vertrag, der ihm je zehn Pfund für zehn Tage und zehntausend Pfund Erfolgsprämie zusicherte. Etliche Einzelheiten erfragte er noch: Adresse der Fleischwarenfabrik und der Wohnung der Witwe Curtin, sie hieß Helen und war sechsundzwanzig Jahre alt, der Mann, der jetzt bei ihr wohnte, war der
zweiunddreißigjährige Diplomkaufmann Lammence; der Tote hatte den Betrieb von seinem Vater geerbt, offenbar mit nicht allzu großer Lust geleitet, denn er war ein Bücherwurm, kümmerte sich lieber um alte Schlachten als um neue Salamisorten. „Eine Menge für den Anfang“, sagte Oakins und verabschiedete sich, um in einem Speiselokal den Auftrag mit gebratener Leber und Blumenkohl – sechshundertfünfzig Kalorien – gebührend zu feiern. Dabei wurde er sich klar: Wenn er die zehntausend Pfund erhielt, kaufte er dem alten Harrison seine Kartei ab. Er überlegte schmerzhaft: Verrat an Chandler, oder kam er einfach in die Jahre? Satt und zufrieden machte sich Oakins eine Stunde später auf zum Prozeß gegen die Sekretärin Flaherty. Er fand vor dem Gericht in der Bow Street statt, wo es wie immer entsetzlich nach Desinfektionsmitteln roch. Harriet Flaherty war ein spätes, dickliches, wenig sorgfältig gepudertes Mädchen, dem es offenbar schrecklich peinlich war, vor Gericht wiederholen zu müssen, was es in einer Anwandlung von Mut und Empörung über drei Schreibmaschinen hinweg gelästert hatte. Unter blütenweißer Lockenperücke heraus drang Frage auf Frage auf sie zu: Seit wann arbeitete sie in der Firma Curtin? Hatte sie den ehemaligen Prinzipal auch privat gekannt? Altes Holz an den Wänden, ein verstaubter Kronleuchter in der Mitte, sechs Zuhörer, die sich auf hartem Gestühl langweilten, ein Staatsanwalt, dem es offenbar mehr auf ein Schuldbekenntnis als auf eine Strafe ankam, ein schwitzender, müder Richter, ein sich heißspornig gebender Vertreter der klagenden Partei – es war ein Prozeß, der keinen Journalisten angelockt hatte und der für niemanden außer den Beteiligten von
irgendeinem Interesse sein konnte. Der Richter fragte: „Und was haben Sie am dreißigsten Mai während der Mittagspause über Frau Curtin geäußert?“ Schweigen der Angeklagten, Schnüffeln in ein Taschentuch hinein, dann las der Richter vor: „Die Angeklagte verbreitete sich darüber, daß Herr Lammence schon seit längerer Zeit im Hause Curtin ein und aus gegangen wäre. Er hätte mit Frau Curtin Tennis gespielt, Theater besucht und Reisen unternommen. Ihr, der Angeklagten, könnte niemand einreden, daß die beiden, wie sie wörtlich formulierte, nur zusammengekommen wären, um Butterhörnchen zu backen.“ Der Richter fragte mit leisem Vorwurf: „Was meinten Sie damit?“ Schulterzucken, erneutes Schnüffeln, dann die Antwort, sie hätte sich nichts dabei gedacht. Das gab dem Staatsanwalt Anlaß, gebührend auf das Hinterhältige, Doppelbödige dieser Formulierung hinzuweisen. Danach las der Richter weiter vor: „Schließlich verstieg sich die Angeklagte zu der Behauptung, selten hätte ein Autounfall anderen so gut ins Konzept gepaßt, und man hätte ja schon genug darüber gelesen, wie durch eine heimlich gelockerte Schraube ein Eheproblem auf überraschendste Art gelöst worden wäre.“ Der Vertreter der Klägerin verlangte höhnisch Beweise, die die Angeklagte natürlich nicht geben konnte. Da die Angeklagte geständig war, die inkriminierten Äußerungen getan zu haben, wurde auf die Vorführung von Zeugen verzichtet und die Beweisaufnahme geschlossen. Nach kurzer Pause hielten Staatsanwalt und Verteidiger ihre Plädoyers. Der Staatsanwalt brandmarkte das Hinterhältige, Niederträchtige im Verhalten der Angeklagten, die das Leid ihrer Chefin
genutzt hatte, ihren Schnabel zu wetzen, der Verteidiger beschränkte sich darauf, das unbescholtene Vorleben seiner Mandantin ins Feld zu führen. Das Urteil sprach Harriet Flaherty, Sekretärin ohne Anstellung, dreiunddreißigjährig, nicht verheiratet, schuldig der Verleumdung und verurteilte sie zu einer Geldbuße von zwölf Pfund. Nach kräftigem Schneuzen fragte Harriet Flaherty, wo sie den Betrag einzahlen könnte. Zimmer 243 – die Sitzung wurde geschlossen. Vor dem genannten Zimmer wartete Oakins, bis das gemaßregelte Fräulein herauskam. Er stellte sich vor und eröffnete mit einer Miene, als wäre er professioneller Rächer von Witwen und Waisen, er hätte den Entschluß gefaßt, den Fall erneut aufzurollen und zu einem günstigen Ende zu bringen. Aus schwimmenden Augen starrte ihn Harriet Flaherty erschrocken an. „Nein“, flehte sie hastig, „ich bin froh, daß alles zu Ende ist.“ Oakins lächelte sein großes Beschützerlächeln, rollte die Schultern und rieb die Hände. Zuversichtlich klang die Stimme: Zunächst würde man irgendwo Tee trinken und sich in Ruhe unterhalten. Er faßte sie am Arm und schob, bis sie in Gang kam, dann ließ er los, denn nicht gern ging er per Arm mit Damen, die ihn überragten, woraus zu folgern war, daß er überhaupt nicht gern per Arm ging. „Liebes armes Fräulein“, sagte er, als sie in einer Pub saßen und Teegläser vor sich stehen hatten, „wir beide wissen, daß Ihnen Unrecht geschehen ist. Aber wie wollen wir es beweisen?“ Wieder trat das Taschentuch in Tätigkeit; Oakins fältelte seine Züge zu
einer Leidensmiene zusammen. „Wer also hat nach Ihrer Ansicht den armen Curtin auf dem Gewissen?“ Sie steckte das Taschentuch weg. „Diese beiden natürlich, Helen Curtin und Lammence. Wie oft habe ich Theaterkarten bestellen müssen! Und wer ging dann? Die zwei. Curtin hat Lammence obendrein als Prokuristen in alle geschäftlichen Dinge eingeweiht; ich mußte dabei helfen.“ „Sie waren die Privatsekretärin des Toten?“ „Drei Jahre lang. Alles ging über meinen Schreibtisch. Jeder im Betrieb wußte, daß Lammence ein Verhältnis zu Helen Curtin hatte, und ich wußte es natürlich am besten.“ „Hat auch Curtin es gewußt?“ „Vielleicht hat er es geahnt. Aber er war ja so großzügig, so feinfühlig. Er war ein Künstler.“ „Ging es unter seiner Leitung mit der Firma bergab?“ „Das nicht, aber bergauf auch nicht. Lammence macht es nun Spaß zu beweisen, was für ein forscher Manager er ist.“ Sie wäre geradezu froh, fuhr sie fort, daß sie nicht unter seiner Fuchtel arbeiten müßte, sie würde schon eine Stellung finden, wenn sie auch nun als vorbestraft gelte – jetzt machte Harriet Flaherty aus ihrem Herzen keine Mördergrube, war keineswegs mehr das verschüchterte Geschöpf wie vor Gericht, jetzt konnte man ihr durchaus glauben, daß sie Chefsekretärin gewesen war und keine schlechte. Auf die Frage, wie Curtin ausgesehen hatte, erzählte sie, er wäre ein schlanker Mann von einem Meter achtzig gewesen, dunkelhaarig, mit schmalem Gesicht und ausgeprägter Nase und zarten Händen. Leise und höflich hatte er seine Anweisungen gegeben und
niemals sie oder eine andere Sekretärin angeherrscht. Curtin hatte auf seine Kleidung geachtet wie ein Schauspieler. Niemals hatte er geraucht, während der Arbeitszeit nur dann Alkohol getrunken, wenn Besuch gekommen war, aber er hatte Kaffee geschätzt; wahrscheinlich hatte er sich das auf seinen Italienreisen angewöhnt. „Was tat er in Italien?“ Er hatte dort, berichtete Harriet, historische Studien getrieben, Schlachtfelder und Gemäldegalerien besucht. Und das jedes Jahr drei- oder viermal. „Hat er Post von dort bekommen?“ „Manchmal schickten Hotels ihre Prospekte. Einige Male bekam er Briefe, aber das ist ein Jahr her. Von einer Frau, glaube ich. Wenn ich mich nicht irre, war es eine große, schöne Handschrift.“ „Sprach er italienisch?“ „Ja, und französisch und spanisch auch.“ „Könnten Sie mir ein Foto von ihm verschaffen?“ „Ich habe eins zu Hause. Das ist bei einer Bürofeier aufgenommen worden. Irgend jemand hatte Geburtstag.“ Eine Stunde später stieg Oakins an der Seite von Harriet Flaherty die Treppe eines Mietshauses hinauf. Das Bild, das er zu sehen bekam, zeigte einen Mann, der mit gesunden Zähnen lachte, dessen Haar akkurat gescheitelt war, der ein Glas in einer Hand hielt und mit der anderen auf irgend etwas zeigte. „Haben Sie noch zu jemandem in Ihrer alten Firma Verbindung?“ „Kitty Malone ist meine beste Freundin, sie ist auf meinen Platz gerückt.“
„Das trifft sich gut. Bleiben Sie mit ihr in Kontakt. Wenn Sie etwas erfahren haben: Hier auf der Karte sind Adresse und Telefonnummer. Das Foto darf ich behalten?“ Oakins fuhr nach Hause, nahm den Expander vom Haken und begann seine strapaziösen Übungen wie an jedem Abend. Seine literarischen Kenntnisse reichten kaum über die von Kriminalromanen hinaus, aber einen Satz Goethes kannte er: „Ein kleiner Mann ist auch ein Mann“, und er wußte, daß diese Weisheit täglich neu errungen werden mußte. Wenn er bei den harten Eventualitäten seines Berufes eine Chance haben wollte, mußte er flinker sein als die Burschen, die ihn um Haupteslänge überragten, mußte härter zuschlagen als sie und das Doppelte einstecken können. Bisher war es ihm gelungen, seine Muskeln straff zu halten und jedes Gramm Fett zu verbannen, noch lief er hundert Yards in zwölf Sekunden, noch drehte er am Hochreck die Riesenwelle, vorausgesetzt, daß ihn jemand hinaufhob. Aber er war vierunddreißig Jahre alt und fürchtete sich vor dem Tag, an dem er sich eingestehen mußte, daß seine Spannkraft nachließ. An diesem Abend arbeitete er mit besonderem Elan, duschte und stellte sich auf die Waage. Er war zufrieden: Der Zeiger zitterte über die 59-kg-Marke; Oakins hatte das, was er sein Kampfgewicht nannte, gehalten. Schließlich vertiefte er sich, ehe er einschlief, noch ein halbes Stündchen in die östlich dunklen Geheimnisse des Hasami-Geashi, des Scherenwurfs. Am nächsten Morgen bugsierte er seinen Wagen aus der Garage. Wenn er in der City zu tun hatte, hielt er
es für nützlicher, die U-Bahn oder einen der vielen roten Omnibusse zu benutzen, die sich wie plumpe Herdentiere, oft in langen Schlangen hintereinander, durch das Gewühl zwängten. Hampstead aber war einer der nördlichen Vororte Londons. Oakins umrundete den großen Friedhof von Highgate, durchquerte die grüne Lunge des Hampstead-Heath und vermied es, zu tief in das Innere von Hampstead einzudringen, das wie ein italienisches Dörfchen an den Hang des Hügels gebaut war, das mit seinen südlichweißen Häusern und seinen ungezählten Antiquitätenläden eine Augenweide für den Touristen, mit seinen winkligen Gassen jedoch eine Qual für einen Kraftfahrer darstellte. Er fand die Siedlung, in der Helen Curtin wohnte, parkte seinen Wagen und bummelte an blühenden Hecken entlang, bis er den Namen „Curtin“ auf einem Bronzeschild las und hinter dem Zaun ein zweistöckiges Haus mit flachem Dach, breiten Fenstern und Liegestühlen auf einer Terrasse sah. Es war ein Wetter, wie es sich freundlicher nicht denken läßt: Sonne und hier und da eine silberne Sommerwolke, leichter Wind, Glanz und Frische auf allen Blättern von einem sanften Nachtregen. Die ersten Rosen blühten, überall in den Vorgärten war das Gras geschoren und brachte helle Nuancen in das vielfältig abgestufte Grün. Schräg gegenüber dem Haus der Helen Curtin lag ein Lebensmittelgeschäft, in ihm gab es auch Zeitungen und Kosmetika, und unter einem Vordach standen eine Reihe von Automaten, zwei Tische und ein paar Stühle. Dorthin setzte sich Oakins mit einer Flasche Cola und einer Zeitung. Nach einer Stunde, in der nichts
geschehen war, ging er um das Straßengeviert herum, kaufte eine neue Zeitung, las von einer Sitzung des Sicherheitsrates der UN über das Schicksal der Palästinaflüchtlinge, vom Fußball und von der Hochzeit der dänischen Kronprinzessin, dann endlich wurde drüben die Gartentür geöffnet, und eine Frau kam geradewegs auf ihn zu. Sie trug anliegende schwarze Hosen und einen lose fallenden Pullover, sie hatte das rötliche Haar aufgetürmt, und wenn nicht alles trog und wenn sie nicht allzuviel Polsterung untergeschmuggelt hatte, war es dichtes, reiches Haar. Das Gesicht darunter war jung und glatt und jetzt am Morgen ohne Make-up bis auf eine Spur Lippenstift. Als die Frau an Oakins vorbeiging, sah er, daß die Nase ein wenig zu dick war; das war vielleicht das einzige, was man an diesem Gesicht bemäkeln konnte, aber es wurde reichlich aufgewogen durch einen hübschen kleinen Mund mit dazu passenden niedlichen Zähnen. Dicht neben Oakins kam ein Gespräch in Gang zwischen Frau Curtin und einer anderen Frau, um das Wetter ging es und um einen Pudel, der auf das neue Mischfutter mit Leber geradezu verrückt war, man wünschte sich einen weiteren guten Tag, und Helen Curtin betrat den Laden, gefolgt von Oakins, der beobachtete, wie sie Öl und Zucker, Tee und Makkaroni in ihr Körbchen legte. Siehe da, die Erbin einer Fabrik und einer stattlichen Lebensversicherung kaufte selbst ein. Ihre Grüße waren freundlich, aber nicht heiter, denn sie war ja Witwe. Sie zahlte, Oakins sah ihr nach, wie sie zu ihrem Haus zurückging, und war sicher, daß er sich immer so im Hintergrund gehalten hatte, daß in ihrem Gedächtnis keine Spur von ihm geblieben war.
Am Nachmittag klapperte Oakins Buchhandlungen und Kioske ab, bis er eine Autokarte von Südfrankreich fand. Er suchte die Straße, auf der Curtin verunglückt war, und wunderte sich: Was hatte jemand, der nach Italien wollte, auf ihr verloren? Er rief die Three-BellVersicherung an, um Ashton zu fragen, was bisher über diesen Umstand in Erfahrung gebracht worden war, aber der gewichtige Direktor war nicht zu sprechen. Gegen Abend steuerte Oakins wieder hinaus zum Haus der Helen Curtin. Er stellte seinen Wagen eine Straße weiter ab und postierte sich so, daß er die Pforte des Curtinschen Hauses im Auge behalten konnte. Ein Auto hielt dort, ein junger Mann stieg aus und öffnete das Tor; das mußte wohl Lammence sein. Der Wagen wurde in die Garage bugsiert, dann lag die Straße wieder einsam. Als es dunkel wurde, bummelte Oakins an dem Haus vorbei. In einem Zimmer im zweiten Stock brannte Licht; es lag zur Veranda hinaus, ein Fenster war geöffnet. Das brachte Oakins auf eine Idee. Er ging zu seinem Wagen zurück und kurvte so lange durch die Straßen, bis er ein Postamt fand. Dort zog er einen Brief aus einem Automaten, adressierte ihn an Helen Curtin und schrieb mit großen Buchstaben: NICHT ALLE WISSEN SO WENIG WIE DIE FLAHERTY! JEMAND HAT EINEN FEHLER GEMACHT! DAS KANN SIE EINIGES KOSTEN! EINER, DER ES NICHT GUT MIT IHNEN MEINT! Von dem Beamten hinter dem Schalter ließ sich Oakins versichern, daß dieser Brief, wenn er als Eilbrief frankiert wurde, in einer Stunde seinen Adressaten erreichte. Oakins zahlte, fuhr zurück und stellte sich wieder an seinen Platz.
Leichter Wind ließ die Blätter rascheln, sonst war es völlig still hier draußen, die Villen lagen hinter ihren Zäunen mit spärlich erleuchteten Fenstern, kein Auto fuhr. Jetzt hockten die Leute vor ihren Fernsehapparaten, natürlich, heute abend wurde die Simenon-Serie fortgesetzt. Nach einer halben Stunde bog ein Wagen in die Straße ein und hielt vor dem Haus der Helen Curtin, ein Mann stieg aus und klingelte, es wurde hinuntergerufen und Licht über der Haustür eingeschaltet. Das Auto fuhr wieder ab, es wurde so dunkel und ruhig wie vorher. Oakins ging rasch auf das Curtinsche Haus zu, wartete, bis das Licht im Treppenhaus erlosch, setzte mit einer Flanke über die Gartentür, trat vom Kiesweg auf den Rasen und schlich auf das Haus zu. Er hatte einige Mühe, an einer Betonsäule zur Veranda hinaufzuklettern. Als er sich über das Geländer schwang, sah er ein erleuchtetes Fenster dicht vor sich, hinter den Gardinen standen sich Helen Curtin und ein Mann gegenüber und sprachen aufeinander ein, die Frau nahm den Brief vom Tisch, zeigte darauf, sagte einige offenbar heftige Sätze. Oakins hätte viel darum gegeben, wenn er das, was jetzt gesprochen wurde, hätte hören können, wenn das Fenster vor ihm geöffnet gewesen wäre und nicht das nach der Straße hinaus. Er beugte sich vor, sah, daß das offene Fenster höchstens anderthalb Meter weiter links war, daß ein zwei Zentimeter breiter Sims zu ihm hinführte und daß ein Spalier an der Wand befestigt war. Auf diesem Sims, sich am Spalier festhaltend, schob er sich vorwärts, erreichte das Fenster, tastete bis an den Rahmen und hielt sich dort fest. Jetzt hörte er, wie die Frau sagte: „Aber die Flaherty muß nicht
dahinterstecken.“ Der Mann erwiderte etwas, das Oakins nicht verstand, die Frau fuhr fort: „Wahrscheinlich ist das nur der Anfang. Jemand baut eine Erpressung auf, denkst du nicht auch?“ Gleich darauf die Stimme des Mannes: „Aber viel hat der Strolch nicht in den Händen. Wir sollten uns nicht aus der Ruhe bringen lassen. Ob wir Lucia informieren?“ Während der letzten Worte hörte Oakins Schritte, fühlte einen heißen Schmerz an der Hand, riß sie zurück, verlor dabei das Gleichgewicht und hatte noch genügend Geistesgegenwart, sich nicht am Spalier festzuklammern und das womöglich mit sich zu reißen, sondern abzuspringen. Er spürte ein Zerren an der Hose, fiel, schlug weich auf, rollte sich zur Seite unter einen Busch und blieb regungslos liegen. Oben war das Fenster geschlossen worden; Lammence, der ihm beinahe die Finger abgequetscht hätte, hatte ihn nicht bemerkt. Wie Oakins den Garten betreten hatte, so verließ er ihn wieder. Er fuhr nach Hause, besah seine zerrissene Hose und seine Finger, die blau zu werden begannen, verzichtete unter dem Eindruck des überstandenen Abenteuers auf die üblichen Expanderübungen, suchte ein Abendbrot aus dem Kühlschrank zusammen und wälzte dabei den Namen Lucia in seinem Hirn. Man würde herausfinden müssen, wer in der Verwandtschaft oder Bekanntschaft von Helen Curtin oder Lammence diesen Namen trug. Oakins musterte gerade erneut seine zerfetzte Hose und kam nicht mit der Überlegung zu Rande, ob ein Chandlerscher Detektiv sie eigenhändig flicken oder kurzerhand wegwerfen würde, als das Telefon klingelte.
„Sam Harrison“, hörte Oakins. „Ich bin der älteste Sohn von James Harrison.“ „Der in einer einzigen Woche vierundzwanzig Minuten zu spät kam?“ „Ich merke, Sie haben mit meinem Vater gesprochen. Hören Sie, Mister Oakins, wie man sich in meiner Familie erzählt, hat mein Vater Ihnen seine Kartei zum Kauf angeboten. Stimmt das?“ Oakins spürte einen Druck in der Leistengegend, den er für eine Ahnung hielt. „Warum fragen Sie nicht Ihren Vater selbst?“ Als Sam Harrison nicht antwortete, setzte Oakins hinzu: „Keine Bange, ich bin ein Mann, der von der Hand in den Mund lebt.“ Sekundenlang sah Oakins einen Wolf über eine einsame Steppe jagen, einen Fasan quer im Maul, und dieser Wolf hatte ein rundliches Gesicht und gutmütige braune Augen. „Wenn ich ehrlich sein soll: Ihr Vater hat mir gegenüber eine Andeutung gemacht, aber woher soll ich das Geld nehmen? Könnten Sie denn mit der Kartei etwas anfangen?“ „Das steht auf einem anderen Blatt. Sie versichern also, Mister Oakins, daß Sie die Kartei nicht kaufen wollen?“ „Mein Wollen steht gar nicht zur Debatte, vielmehr mein finanzielles Können.“ „Mister Oakins, ich bedanke mich für Ihre Auskunft.“ Später kramte Oakins ein Übungsbuch der französischen Sprache hervor und polierte lange vernachlässigte Kenntnisse auf. Das tat er noch, während er im Bett lag. Darüber schlief er ein, und am nächsten Morgen machte er sich auf, um Ashton über seine bisherigen Ermittlungen zu informieren.
Stumm hörte sich der massige Direktor an, was Oakins über den Prozeß gegen Harriet Flaherty und das anschließende Gespräch berichtete, mit leichter Mißbilligung nahm er zur Kenntnis, daß Oakins dem Gespann Curtin-Lammence in einer Weise auf die Pelle gerückt war, die keineswegs feinster Lebensart entsprach. Er hob den Kopf so weit, daß sich seine Kinne um eines verringerten, und brummte, die ThreeBell-Versicherung distanziere sich von derlei Praktiken. „Aber ich habe dabei den Namen Lucia gehört!“ „Wer ist das?“ „Das weiß ich noch nicht.“ Ashton hob nicht einmal die Augenbrauen. Da fand es Oakins an der Zeit, mit seinem stärksten Trumpf aufzuwarten: die Lage des Ortes, an dem Curtin ums Leben gekommen war, die Richtung der Straße. Er breitete seine Karte aus: Fuhr man so nach Italien? Ashtons Mund rutschte fast in die aufquellende Kinnpartie hinein, es war ein Wunder, daß er noch knurren konnte: „Das habe ich natürlich längst gemerkt, oder für wie dumm halten Sie mich? Man kann daraus allerhand schließen: daß Curtin einen Umweg gemacht hat, um noch dies und das zu besichtigen oder jemanden zu besuchen. Aber ich muß die Versicherungssumme auch zahlen, wenn er nicht nach Italien wollte.“ „Vielleicht zu Lucia?“ „Das herauszufinden ist Ihre Sache.“ „Und deshalb muß ich an Ort und Stelle.“ „Jetzt im Juni eine hübsche kleine Reise nach dem Süden. Und wer bezahlt sie? Glauben Sie vielleicht, Sie finden jetzt noch im feuchten Sand die Spuren des Mörders?“
„Sie sparen an der falschen Stelle. Mit hundert Pfund wäre allerhand zu machen.“ „Oakins, Sie ziehen mir das Fell über die Ohren.“ Oakins sah deutlich, wie sich Ashton einen Ruck gab; ein Zittern durchlief das Wangenfleisch. „Gut, fahren Sie“, raunzte Ashton. „Aber gnade Ihnen Gott, wenn Sie braungebrannt und ohne Ergebnis zurückkommen!“
Käse aus Frankreich
Am nächsten Nachmittag blickte Oakins aus einem Flugzeug auf Schiffe im Kanal, trank im Flughafenrestaurant von Paris Kaffee, bestieg abermals eine Maschine und absolvierte am Abend seine Expanderübungen in einem Marseiller Hotel. Später im Bett studierte er in seinem englisch französischen Übungsbuch das Kapitel, das einen gequälten Disput vor einer Tankstelle zum Inhalt hat und in dem Wörter und Wendungen über den Verkauf von Benzin und Öl, über Reparaturen und Straßenverhältnisse summiert sind. Wie immer schlief er von einer Minute zur anderen ein. Am folgenden Morgen lieh Oakins einen kleinen bequemen Wagen, einen Dauphin. Es war ein diesiger Morgen, gegen Mittag brach die Sonne durch. In Arles, kurz bevor Oakins die Rhone überquerte, trank er ein Glas Saft und aß einen winzigen, nach Paprika schmeckenden Kuchen. Später fuhr er durch Nimes und steuerte in die Hügel und Berge der Cevennen hinein. Er hätte gern gewußt, ob Curtin diese Straße gefahren war, und versuchte sich vorzustellen, warum er es getan haben könnte. Allmählich wurden die Straßen schlechter, der Verkehr nahm ab. Eine Stunde lang traf Oakins nicht einen einzigen ausländischen Wagen; die Bundesdeutschen, die nach Spanien fuhren oder von dort kamen, bevorzugten eine günstigere Route. Dieser Umstand ließ in Oakins die Hoffnung wachsen, er könnte eine Spur finden. St. Affrigue war ein Städtchen von der Art, wie sie in leicht albernen Filmen gern als Kulisse für die Schicksale schlichter Gastwirte, Handwerksmeister und
Lehrerinnen benutzt werden, in dem die Geistlichen bieder und die Polizisten rechtschaffen und ohne urbane Raffinesse sind. Im einzigen Hotel bekam Oakins ein Zimmer, von dem aus er den Markt mit seinen Tauben und Linden überschauen konnte. Während er sich ins Gästebuch eintrug, ging er auf sein Ziel los: Vor zwei Monaten wäre sein bester Freund in der Nähe verunglückt, er möchte an dieser Stelle einen Kranz niederlegen – wo konnte man in St. Affrigue einen kaufen? Oh, das würde keine Schwierigkeiten machen, erklärte der Wirt, übrigens besann man sich auf den Herrn, der gegen einen Baum geprallt war. Er hatte hier im Hotel mit seinem Begleiter gegessen, es kam ja nicht jeden Tag ein Engländer hierher. Der schöne hellgraue Wagen hatte da draußen gestanden, wo jetzt die Frau den Kinderwagen schob. Begleiter? Oakins traute seinen Sprachkenntnissen nicht recht, übrigens sprach der Wirt stark Dialekt. Zwei Engländer? Ja, aber nur einer war verunglückt, gottlob. Den beschädigten Wagen hatte man hier vorbeigeschleppt, schwarz war alles gewesen durch den Brand. Drei Tage später hatte die Witwe hier gewohnt, hatte den Toten identifiziert. Eine so hübsche Frau und so jung Witwe. Beide stießen die Luft durch die Nase: Männer stöhnen so. Oakins besann sich auf seine Rolle: Es war Curtins bester Freund, natürlich hatte ihm Helen erzählt, daß sie in St. Affrigue gewesen war. „Frau Curtin war des Lobes voll über Ihr Hotel. Wer übrigens hat den Totenschein ausgestellt?“ „Doktor Papet.“ Der Wirt zeigte hinaus: Die Straße am anderen Ende des Marktes nach links, nur ein paar
Häuser, in St. Affrigue war nichts weit voneinander entfernt. Oakins fragte noch einmal: „Zwei, wirklich zwei? Wer war der andere?“ Der Wirt hob die Schultern. Eigentlich hatte er auf diese Gäste nicht so geachtet wie auf ihren Wagen. Er hatte sie nicht einmal bedient, das hatte Manon getan, die Kellnerin. Sie war jetzt nicht da, besuchte ihre Eltern in einem Dorf in der Nähe, kam erst am nächsten Morgen zurück. Oakins hütete sich, etwas anderes zu bestellen, als der Wirt empfahl: Hähnchen mit Karotten und einen leichten roten Wein. Nach dem Essen lobte er die gastronomische Leistung, ging in sein Zimmer hinauf, beschaute das gemächliche Feierabendtreiben unten auf dem Markt und dachte nach. Zwei waren zusammen hier angekommen und wieder weggefahren. Aber nur einer war verunglückt. Gegen sieben schlenderte Oakins über den Markt und in eine Seitenstraße hinein und klingelte am Hause des Dr. Papet. Eine Frau öffnete, zeigte sich entzückt: Ein Engländer! Sie bat Oakins in den Salon, rief ihren Mann. Dr. Papet war klein und rundlich, sein Kopf zeigte kein einziges Haar und war von glatter, brauner, fast faltenloser Haut überzogen. Ein Engländer in St. Affrigue und dazu in seinem Haus, das geschah selten! Er äußerte seine Freude in einem Englisch, das dem Französisch von Oakins mehrfach überlegen war, und zeigte sich untröstlich, als er hörte, Oakins hätte schon gegessen. Aber einen Wein würde er nicht abschlagen dürfen, und später würde der Appetit schon wiederkommen. Dr. Papet führte Oakins in seine Bibliothek, zeigte stolz eine zweihundertfünfzig Jahre alte Ausgabe der Canterbury Tales. Oakins heuchelte genau so viel Erstaunen und
Bewunderung, wie Dr. Papet erwartete; dunkel entsann er sich der Schulzeit, in der er mit der Lektüre dieser Reliquie gemartert worden war. Um einen geschnitzten Eichentisch setzten sich das Ehepaar Papet und ihr Gast. Oakins fürchtete, er könnte diese freundlichen Leute enttäuschen, wenn er zuließ, daß das Gespräch sich bei Chaucer und ähnlichen Heroen festhakte, und argwöhnte, daß es wenig sinnvoll war, auf Chandler überzulenken. So sprach er von seinem Freund, der in der Nähe verunglückt war und dem, wenn er recht unterrichtet war, Dr. Papet die Augen zugedrückt hatte. Der Arzt nickte: Ein tragischer Fall. Die Straße war kurvenreich und nicht im besten Zustand, sie führte nach St. Izaire hinunter am Ufer der Tarn entlang, war nicht für solche schnellen Wagen gebaut. Einen Baum hatte Curtin gerammt, war mit der Stirn gegen die Kante oberhalb der Windschutzscheibe geprallt. Dieser Schlag mußte ihn betäubt haben. Der Wagen war in Brand geraten, Curtin war in den Flammen erstickt. Oakins fragte: „Und der Begleiter?“ Begleiter? Curtin hatte allein im Wagen gesessen. Die Brieftasche in der Jacke des Toten war angekohlt gewesen, aber Paß, Fahrtpapiere und Geldscheine hatten nicht gelitten gehabt. Ein Begleiter? Nichts hatte darauf hingedeutet. Oakins lenkte auf Helen Curtin über. Eine wirklich tapfere Frau: Mit Energie führte sie die Fabrik ihres Mannes weiter, ließ sich durch den Schmerz nicht unterkriegen. Dr. Papet bestätigte voller Anerkennung: Vor der Leiche ihres Mannes hatte sie Fassung bewahrt, obwohl dieser Anblick gräßlich gewesen war.
Oakins fragte: „War die Leiche durch die Verbrennungen unkenntlich?“ „Keinesfalls. Der Ordnung halber hat der Polizeipräfekt die Identität des Toten durch dessen Frau bestätigen lassen.“ „Und wo ist die Leiche jetzt?“ „Sie wurde eingeäschert und die Urne nach London übergeführt.“ Nach der Stelle, an der Curtin ums Leben gekommen war, fragte Oakins noch und erhielt eine genaue Beschreibung: Da war eine kleine Brücke, dahinter eine scharfe Rechtskurve; aus ihr war Curtins Wagen herausgetragen worden und gegen einen Baum geprallt. Man sah noch jetzt die Abschürfungen an der Rinde. Oakins wußte nichts weiter zu fragen, was mit Curtins Tod zusammenhing, so glitt das Gespräch ab, eine zweite Flasche Wein wurde geholt, die Frau des Hauses machte appetitliche Happen zurecht. „Käse“, versicherte die Hausfrau, „ist zu jeder Zeit bekömmlich. Sie sind in Frankreich, also müssen Sie unseren Käse probieren. Nur drei Sorten fürs erste: Bleu des Chausses, Maroilles und Livarot.“ Blond, rot und braun lagen die Käsestücke auf Salatblättern, von Butterwürfeln und Schwarzbrotscheiben flankiert. Stöhnend schnitt Oakins ein Stück ab und hörte auf den Vortrag seiner Gastgeberin: Dieser fleckige Käse war der Bleu des Chausses, der in den Cevennen in der Gegend von Rouergue aus Kuhmilch hergestellt wurde. Dem Maroilles, diesem traditionsreichen Käse aus der Umgebung von Thiérache, spendeten noch heute die Feinschmecker höchstes Lob. Er wurde von den Mönchen der Abtei gleichen Namens erfunden, war quadratisch und kam in vier Größen in den
Handel. Unter einer ziegelroten Rinde verbarg sich eine weiche Masse hochfeinen Geschmacks. Der Livarot schließlich war der König unter diesen drei Käsen, er stammte aus der Normandie und war ein exklusiver, saftiger und farbkräftiger Käse, der sich leicht an seinen Binsengrasborden erkennen ließ. „Eine Wissenschaft“, anerkannte Oakins. „Eine nützliche Wissenschaft obendrein“, ergänzte der Arzt. „Käse ist bekömmlich und enthält wertvollste Aufbaustoffe. In England ißt man zuviel Fleisch und Fett.“ „Ich sollte mich auf Käse umstellen?“ Oakins nahm noch einmal vom Livarot, noch einmal vom Maroilles. Dann legte er die Hände auf den Magen, erklärte sich als überaus gesättigt. Mit herzlichem Dank schied er und hatte Mühe, seinen Gastgebern begreiflich zu machen, daß es seine Zeit leider unter keinen Umständen erlaubte, sie am nächsten Tag noch einmal zu besuchen. Am nächsten Morgen fragte er den Wirt, welchen Käse dieser zum Frühstück empfehlen könnte, und erfreute sich an einem Triple Crème Aromatisé, einem weichteigigen Käse mit leichter Schimmelbildung, der Geschmeidigkeit der Butter und einer außerordentlichen Milde. Er verglich dieses Frühstück mit dem, das in England üblich war, und mußte dem Arzt recht geben: Leichter verdaulich als Spiegeleier und Bacon war Käse gewiß. Manon, die Kellnerin, war ein kräftiges Mädchen mit großen Händen, klaren Augen und einer selbstbewußten Stimme; Oakins traute ihr nüchterne Beobachtungsgabe zu. Sie besann sich durchaus auf die beiden Engländer. Zwei? War sie sicher? Sie
räumte ein, daß sie sich wahrscheinlich nicht erinnern würde, wenn nicht danach der Unfall geschehen wäre. Der Mann jedenfalls, der das Abendessen bestellt und bezahlt hatte, hatte französisch gesprochen. Er war eleganter gekleidet gewesen als der andere, schicker, und ihr wäre nicht von vornherein aufgefallen, daß er kein Franzose war. Oakins zeigte das Bild, das er von Harriet Flaherty erhalten hatte, und wies auf Curtin. Manon besah das Foto gründlich und versicherte, das wäre der Mann gewesen, der bestellt und bezahlt hätte. Der andere hatte nicht gesprochen? Sie zuckte mit den Schultern. Wie hatte er ausgesehen? Auch daran erinnerte sie sich nicht, nur das: Er war wesentlich schlechter gekleidet gewesen. Oakins fuhr durch das Tal der Tarn auf St. Izaire zu. An der Unfallstelle stieg er aus und betrachtete die Straße; es war denkbar, aus dieser Kurve herausgetragen zu werden. An einem Baum war Rinde abgefetzt; andere Spuren gab es nicht mehr. Oakins hatte schon etliche Male gesehen, wie Autos gegen Bäume, Zäune und Mauern gestoßen waren, hier schien der Aufprall nicht sonderlich stark gewesen zu sein, und das gab ihm zu denken. Oakins fuhr nach St. Izaire hinunter; er fragte in den beiden Hotels, ob Mister Curtin aus London für den 12. Mai ein Zimmer bestellt gehabt hatte, und erinnerte an den Unfall an der Straße nach St. Affrigue hinauf. Die Wirte schlugen nach, schüttelten die Köpfe. Ein Unfall, ja, man besann sich dunkel. Aber, gottlob, man hatte nichts damit zu tun. Oakins verbrachte den Rest des Tages damit, ostwärts von St. Affrigue an der Straße, auf der Curtin vermutlich gekommen war, an jeder Tankstelle und
jeder Gaststätte zur halten, das Foto vorzuzeigen und sein Sprüchlein aufzusagen, er wäre der beste Freund des Toten und hätte sich aufgemacht, dessen letzte Lebenstage zu erforschen. Hatte Curtin hier getankt? Hatte er hier gegessen, getrunken? Die Hände von Tankwarten und deren Frauen, von Wirten und Kellnerinnen griffen nach dem Bild – damals im Mai? Ein britischer Wagen, ein schöner, fast neuer hellgrauer Vanguard? Zwei Männer hatten im Auto gesessen, vielleicht nur einer. Leider, man besann sich nicht. Am Abend betrat Oakins einen Gasthof im Dorf Monoblet. Er ließ sich Coulommiers servieren, beschaute seine Autokarte und fand, daß von der nächsten Stadt an seine Chancen immer mehr abnahmen – dort gabelte sich die Straße, kurz danach senkten sich ihre Arme in die Ebene hinab und fächerten immer mehr auf. Dem Kellner zeigte er das Bild des Toten. 12. Mai, Unfall oben in den Cevennen, hellgrauer Vanguard – hatte der Mann hier gegessen? Der Kellner drückte den Zeigefinger an die Nasenwurzel. „Polizei?“ Oakins schüttelte den Kopf, breitete die Hände: Natürlich nicht, der beste Freund pilgerte auf dem Leidensweg des armen Toten. Durfte er den Herrn zu einem Kognak einladen? Der Kellner verschwand in der Küche, kurz darauf steckte ein anderer Mann seinen Kopf heraus und spähte zu Oakins hin. Der tat, als merkte er nichts, und seine Hoffnungen begannen zu wachsen. Nach einer Weile kam der Kellner zurück, schenkte an der Theke zwei Kognaks ein und brachte sie zu Oakins. Kellner und Detektiv hoben die Gläser,
blickten sich in die Augen, nahmen kräftige Schlucke, verharrten andächtig. Sie nickten, lobten; Oakins fragte: „Er war hier, nicht wahr?“ Der Kellner sah über Oakins hinweg zum Fenster hinaus, als müßte er sich über seine Antwort schlüssig werden. Dann blickte er plötzlich auf Oakins herunter, aber die Miene des kleinen Engländers war so bieder, daß der Kellner nicht noch einmal fragte, ob der Mann, der ihm da einen Kognak spendiert hatte, von der Polizei wäre. Oakins lächelte. „Inzwischen ist Ihnen was eingefallen?“ „Ich war an dem Abend nicht hier. Aber Bernard hat mit dem Engländer am Tisch gesessen, der dann verunglückt ist.“ „Wer ist Bernard?“ „Ein Steinbrucharbeiter.“ „Kommt er heute her?“ „Er kommt nur an dem Tag, an dem er Geld bekommen hat, und der ist erst übermorgen.“ „Und wo wohnt er?“ „Wenn Sie Bernard zwei Liter Wein spendieren, könnte es sein, daß er Ihnen etwas erzählt. Aber mit der Polizei will er nichts zu tun haben.“ „Ehrenwort. Lassen Sie ihn holen, er kann so viel Wein trinken, wie er will.“ Nach einer Stunde trat ein Mann ein, der eine fleckige Weste über dem Hemd trug, er hatte die Ärmel hochgekrempelt, daß Oakins die Muskelstränge an den Armen und die Tätowierungen sah: ein Herz, eine Schlange, die sich um einen Dolch wand, ein Anker. Der Mann polterte mit schweren Schuhen zur Theke, der Kellner wies mit den Augen zu Oakins, der blickte in ein durchfurchtes, gebräuntes Gesicht
hinauf, in dem helle Augen dicht beieinanderstanden. Oakins drückte eine Hand, die sich wie Hartholz anfühlte. Er hörte eine rauhe Stimme, die Sätze sprach, die er zunächst nicht für französisch hielt, so stark waren sie dialektgefärbt. Mit einiger Besorgnis sah er auf die Größe des Weinkruges, der vor Bernard hingestellt wurde und aus dem dieser einen Zug nahm, als wäre er kurz vor dem Verdursten. „Mein armer Freund“, begann Oakins, „hat also mit Ihnen hier gesessen. Vielleicht trank er auch aus solch einem Krug, trank zuviel?“ Bernard schüttelte den Kopf. Das wäre es ja gewesen: Der Engländer hätte ganz wenig getrunken, und deshalb hätten sie sich gestritten. Denn er liebte es nun einmal nicht, wenn einer nur bestellte und nicht mithielt. Auto hin, Auto her entweder man trank mit Freunden, oder man trank nicht, aber trinken hieß richtig trinken, und der Engländer hätte immer wieder beteuert, sie wären Freunde, er und der Spanier und Bernard. Oakins bestellte einen zweiten Krug Wein, vergewisserte sich, daß er in diesem Gasthof übernachten könnte. Er stieß mit Bernard an und bat ihn, seinen Zorn zu vergessen, man sprach von Toten nur Gutes. Rührselige Geschichten aus angeblich gemeinsamer Kindheit erfand Oakins, schilderte Curtin als gütigen Menschen, seiner schönen Frau in inniger Liebe zugetan. Und dann dieser Tod. Vielleicht trug der Spanier gewisse Schuld daran? Bernard schüttelte den Kopf: Der hatte gar nicht mitgewollt, hatte vielleicht hier ein Mädchen entdeckt, aber Curtin hatte ihm versprochen, ihn bis an die spanische Grenze mitzunehmen, sogar vor seiner Haustür abzusetzen,
da erst hatte Roberto, der Spanier, eingewilligt, in Curtins Wagen zu steigen. Roberto war aus Mainz gekommen oder Wiesbaden, hatte dort drei Jahre gearbeitet, aber man hatte seinen Vertrag nicht erneuert. Nun hatte sich Roberto auf eine gemächliche, gemütliche Heimreise gemacht, ein Stück mit der Bahn, ein Stück mit dem Auto, er hatte Zeit gehabt. Roberto und er hatten getrunken, hatten gesungen, da war der Engländer aufgetaucht. Oakins kombinierte, verwarf. Der Spanier als Werkzeug von Helen Curtin und Lammence? Zur Sicherheit fragte er noch einmal, und Bernard wiederholte hartnäckig: Curtin hatte gebeten, sich an ihren Tisch setzen zu dürfen, hatte zu trinken kommen lassen. Hatte er gesagt, daß er nach Italien fahren wollte? Bernard schien ganz sicher zu sein: Von Italien war nie die Rede gewesen, aber von Spanien immerzu. Oakins wollte rasch zum Ziel kommen, denn der Wein begann zu wirken. Als Bernard ausgetrunken hatte, bestellte er zwei neue Krüge und versuchte, seinen Krug halbvoll zurückzugeben, aber der Wirt merkte es. Da verfinsterte sich Bernards Miene, und Oakins beeilte sich, den Krug zu leeren. Er lobte Wein und Käse, bekundete seine tiefe Befriedigung, mit einem Mann zu trinken, mit dem sein Freund gesprochen hatte. Er fragte nach dem Spanier, wie er mit dem Familiennamen hieß, wo er wohnte. Bernard wußte es nicht, hätte es auch nicht gesagt, wenn er es gewußt hätte. Denn der kleine Mann fragte jetzt zu direkt, kam immer wieder auf denselben Punkt zurück. Bernards Fäuste krampften sich um den Krug, als durch sein Hirn der Gedanke schlich, dieser Wicht könnte ein Polizist sein. Alter Haß stieg auf: Bernard
war einmal zu einer Geldstrafe und einmal zu sechs Wochen Haft verurteilt worden, beide Male wegen Körperverletzung. Nach dem nächsten Krug standen sie auf und gingen zur Toilette. Sie lag hinter dem Haus und war aus Holz. Ein Schild hing an der Tür und warnte: Sie war frisch gestrichen. Vor dieser Tür tat Bernard so, als ob er taumelte, hielt sich an Oakins fest und drückte ihn gegen die Tür. „Nana“, sagte Oakins und lachte. Als er den nächsten Schritt machen wollte, lachte er nicht mehr; er mußte sich losreißen. Bernard war schon in das Häuschen hineingegangen, schlug sein Wasser ab, tat, als hätte er nichts gemerkt. Oakins zog die Jacke aus; an der Schulterpartie und an den Ärmeln waren handgroße Teerflecken. Es gelang ihm, seine Wut zu zügeln; er blieb auch noch gelassen, als Bernard fragte, was denn mit der Jacke sei. Als sie wieder draußen standen, sagte Bernard unvermittelt, er müßte nun nach Hause. Die Frau, nicht wahr? „Es hat mich wirklich gefreut“, knurrte Oakins. Er zahlte die Zeche, bekam ein Zimmer und schlief seinen Rausch aus. Am nächsten Morgen sah er zu, wie die Wirtin sich mühte, die Jacke mit Benzin zu säubern. Er hing an dieser Wildlederjacke, weil er sie getragen hatte, als er auf die Leiche des Hundezüchters Powell in den Mendip-Hügeln gestoßen war. Oakins in Rollkragenpullover und Wildlederjacke, so war er in allen Londoner Zeitungen abgebildet worden. Die Wirtin beseitigte den Teer bis auf eine schwache Spur, das Leder allerdings hatte erheblich gelitten. Erst am Mittag kam Oakins zur Weiterfahrt. In Marseille gab er den Leihwagen zurück und kaufte in einer Käsehandlung ein Kistchen mit einem erlesenen
Sortiment und ließ sich einen bunten mehrsprachigen Prospekt dazulegen. Im Flugzeug las er von SaintPaulin und Brie, von Munster und Reblochon und überlegte ernsthaft: Sollte er im Interesse seiner Gesundheit den Rat des Arztes von St. Affrigue befolgen und seine Ernährung umstellen? Später, während sein Flugzeug über dem Kanal von gräßlichen Gewitterböen geschüttelt wurde, bedauerte Oakins vor allem eins: Daß er nicht dazu gekommen war zu fragen, wie Roberto ausgesehen hatte. Das Flugzeug landete im Sturm und Regen, leer lagen die Rollfelder. Zwei Stunden später, als Oakins in Highgate aus der U-Bahn stieg, kaufte er eine Abendzeitung. Die Schlagzeile lautete: „Orkan im Ärmelkanal, Europa ist abgeschnitten.“ Er fühlte sich wieder zu Hause. Ashton empfing ihn am nächsten Tag in unverhohlen schlechter Laune. „Haben Sie eine Lösung?“ „So schnell geht’s nun doch nicht.“ „Dann müssen wir übermorgen die nächste Rate an Frau Curtin überweisen.“ „Auf welche Bank?“ „Bank von England, Zweigstelle fünf in Chelsea. Und was haben Sie erreicht?“ Der dicke Direktor zog die Augenbrauen hoch, als er vom Gastarbeiter Roberto erfuhr. „Curtin wollte nach Spanien fahren, nicht nach Italien. Beweist das was?“ Sein Mund sank in die weichen Wellen hinab, die sich über dem Hemdkragen wölbten. „Vielleicht hat Roberto den armen Curtin umgebracht?“ „Aber er hat ihn nicht beraubt. Und dazu hätte er gewiß Zeit gehabt.“ „Sehen Sie eine Chance, diesen Roberto zu finden?“
„Ich werde zunächst in London weiterforschen.“ Aber Oakins sah keine Möglichkeit zum Einhaken. Er wäre ohne Beschäftigung gewesen, wenn ihn der Fischwarenhändler aus Brixton nicht angerufen und gebeten hätte, nach seiner Frau zu suchen. Sie hatte einen Zettel mit der Aufschrift hinterlassen: „Ich bin außerstande, täglich in Hunderte von toten Heringsaugen zu blicken. Leb wohl!“ Zunächst rief Oakins die Tanten der Verschollenen an, erhielt aber keinen Hinweis. Er suchte den Physikstudenten auf, bei dem sie unlängst Unterschlupf gefunden hatte. Der junge Mann zog den Kopfhörer herunter und nahm den Finger von der Morsetaste. „Sie war hier“, sagte er. „Ein psychologisch schwieriger Fall. Ich habe ihr geraten, eine Umgebung aufzusuchen, in der es viele lebendige Tieraugen gibt. Ich nahm an, das könnte sie auf andere Gedanken bringen. Sie ist auf einer Schaffarm in Milborne, Dorset.“ Oakins maulte: „Konnten Sie nichts in der Nähe empfehlen?“ Stundenlang saß er hinter dem Steuer seines Wagens. Er fand die Fischhändlersgattin in einem Stall, eine Forke in der Hand, Auge in Auge mit fünfhundert geduldigen Schafen. „Lebendige Tieraugen sind nicht besser als tote“, urteilte sie. Oakins nahm sie gleich mit, erhielt von ihrem Gatten Dank und Spesenvergütung, zwanzig Pfund Prämie und einen Karton Thunfischbüchsen. An diesem Abend fuhr Oakins noch hinaus nach Tottenham. Er traf Harriet Flaherty in ihrer Wohnung an, wurde zu Tee und Gebäck eingeladen, mimte den Erschöpften, Erfolglosen, der dankbar für die geringste Freundlichkeit war. Sie erzählte: Eine Anstellung hatte
sie noch immer nicht. Kitty Malone, ihre Freundin und Nachfolgerin, hatte ihr nichts mitgeteilt, was überraschend gewesen wäre. Immer dasselbe: Lammence brachte die Firma voran, hatte einen Rindermastbetrieb dazugekauft, trug sich mit den Gedanken, eigene Verkaufsstellen zu eröffnen. Helen Curtin kam selten ins Büro. Dann taten beide kühl und geschäftsmäßig. Oakins fragte nach einem Spanier Roberto; Harriet hatte nie von ihm gehört. „Ich bin an den nächsten Abenden zu Hause“, sagte Oakins beim Abschied. „Wenn es etwas gibt, rufen Sie mich bitte an.“ Einen halben Tag verbrachte Oakins auf der Couch. Er versuchte herauszufinden, wie groß die Wahrscheinlichkeit war, daß er die Zehntausendpfundprämie verdiente; er gab sich nicht mehr als fünf Prozent. Am späten Nachmittag suchte er den Übungsraum des Kokichi Nagaoka auf, unterwarf sich einem harten Konditionstraining, übte verbissen das zum kleinen Einmaleins des Judosports gehörende Fußfegen, De-Ashi-Bari genannt, und wurde mit einer Spezialtechnik, dem Soto-Moro-Te, dem Außenschwinghandwurf, vertraut gemacht. Geduldig zeigte Nagaoka die Schwierigkeit, den Schwerpunkt blitzartig zu verlagern, demonstrierte Abwehrmöglichkeiten. Wie immer am Schluß bewies er seinem Schüler, wieviel es noch zu lernen gab, und schmetterte ihn auf die Matte. „Yoko-Otoshi“, erläuterte er danach freundlich, „Seitfallzug.“ Die Läden waren, noch geöffnet. In drei Lebensmittelgeschäften hielt Oakins nach französischem Käse Ausschau, fand nichts außer Camembert, Brie und Roquefort, im vierten endlich
kaufte er einen kleinen Reblochon. Zu Hause las er in seinem Prospekt: „Dieser Käse ist in Savoyen beheimatet. Seine Ursprünge lassen sich bis in älteste Zeiten zurückverfolgen. Die weiche Masse erinnert köstlich an den Geschmack von Nüssen, das Format ist handlich, sowohl das des großen von 450 Gramm wie des um die Hälfte kleineren.“ Oakins war dabei, die Richtigkeit dieser Angaben zu überprüfen, als es klingelte. Der Mann an der Tür stellte sich vor: „Sam Harrison.“ Oakins hatte keine Ursache, an dieser Angabe zu zweifeln. Der Mann, den er ins Zimmer bat, war genauso hager, hielt sich womöglich noch gerader und hatte die Lippen in ebensolcher Weise zusammengekniffen wie sein Vater, nur war er um fünfundzwanzig Jahre jünger. „Sie sehen einen Junggesellen bei seinem bescheidenen Abendbrot“, erklärte Oakins. „Käse aus Frankreich, leicht und bekömmlich, vor allem seiner Fettsäuren wegen.“ „Ich bitte um Entschuldigung. Ich hätte nicht gewagt, bei Ihnen einzudringen, wenn der Anlaß nicht dringlich wäre. Es handelt sich natürlich um das väterliche Erbe. Meine jüngeren Brüder haben mich beauftragt, Sie abermals und diesmal von Mann zu Mann zu fragen, ob Sie die Absicht haben, die Kartei meines Vaters zu kaufen.“ „Mein Herr“, antwortete Oakins, „ich versichere Ihnen erneut, daß es außerhalb meiner Absicht liegt, von seinem Angebot Gebrauch zu machen.“ Sam Harrison erwiderte feierlich: „Manches in unserem Vaterland steht nicht zum besten, ich weiß es wohl. Eines aber läßt mich unverzagt: Die Gewißheit, daß man auf das Wort eines Engländers bauen kann.“
Oakins beantwortete die Sätze seines Besuchers mit einer Verbeugung. Eine Minute darauf war er wieder mit seinem Reblochon allein. Als er zwei Stunden später seine allabendlichen Expanderübungen zelebrierte, klingelte das Telefon. Harriet Flaherty berichtete aufgeregt: Ihre Freundin Kitty Malone hatte von Helen Curtin den Auftrag erhalten, eine Flugkarte nach Mailand für den nächsten Nachmittag zu besorgen. War diese Nachricht wichtig? „Sie könnte es sein.“ Oakins fragte nach der Flugzeit und der Nummer der Maschine. Er bedankte sich für den Anruf, legte auf, hängte den Expander an den Haken. Während er duschte und den Körper trockenrieb, baute er eine Gedankenkombination auf, wie alles gewesen sein könnte, wie alles weitergehen würde. Dann rief er den Flughafen Croydon an und buchte einen Platz in derselben Maschine, mit der Helen Curtin fliegen wollte. Ihm wurde versichert, die Wetterverhältnisse über dem Kanal wären längst wieder normal. Während Oakins seine Bettstatt zurechtmachte und als Lektüre das Judohandbuch und den Käsekatalog bereitlegte, rechnete er sich, was die Klärung des Falles Curtin betraf, eine Chance von nahezu fünfzig Prozent aus. Am nächsten Morgen saß er beizeiten vor dem Spiegel und klebte sich Spitzbart und buschige Augenbrauen an. Er kleidete sich in einen dunklen, altmodischen Anzug, setzte eine nickelgefaßte Brille auf, nahm Hut und Stock. Auf der Straße ging er mit den kurzen, unsicheren Schritten eines alten Mannes, im Omnibus bot ihm ein Mädchen einen Sitzplatz an. Als die Zweigstelle der Bank von England in Chelsea ihre Pforten öffnete, betrat Oakins sie als erster, setzte
sich auf eine Bank an der Seite, kreuzte seine Hände über dem Stockknauf, wartete. Manchmal ergab sich ein Gespräch mit einem Nachbarn: Die hohen Kosten der Rheinarmee, die Stimmenverluste der LabourParty bei Nachwahlen in zwei Grafschaften. Gegen zehn betrat Helen Curtin die Schalterhalle. Sie trug ein elegantes graues Straßenkostüm, einen weißen Hut, weiße Schuhe und eine große weiße Handtasche. Oakins sah ihr zu, wie sie ein Formular ausfüllte. Als sie zur Kasse gebeten wurde, trat er schräg hinter sie, so daß er sehen konnte, wie der Kassierer ihr Bündel auf Bündel vorzählte, tausend, zweitausend, dreitausend Pfund. Helen Curtin verstaute das Geld in ihrer Handtasche, verließ die Halle. Oakins trippelte ihr nach, sah, wie sie in ein Taxi stieg. Dann fuhr er nach Hause, löste Bart und Augenbrauen und legte die Nickelbrille ins Futteral zurück. Als er am Nachmittag den Croydoner Flughafen betrat, unterschied er sich in seinem Äußeren nicht von den übrigen Italienreisenden: heller Anzug, leichte Schuhe, geflochtener weißer Hut, Sonnenbrille. In einem Spiegel sah er sich auf sich zukommen und versuchte herauszufinden, wofür andere ihn halten mochten: mittlerer Angestellter, Besitzer eines kleinen Betriebes, eines Friseursalons? Helen Curtin betrat den Flughafen an der Seite von Lammence. Sie trug ein kognakfarbenes Reisekostüm und die gleiche geräumige Tasche, in der sie auf der Bank die Notenpäckchen verstaut hatte. Sie sprach fortwährend auf Lammence ein, und Lammence nickte in kurzen Abständen, als hätte er das, was sie sagte, schon zum Überdruß gehört. Der Abschied verlief ohne Zärtlichkeit. Während des Flugs saß Oakins so, daß er
Helen Curtin nicht sehen und von ihr nicht gesehen werden konnte. Die Maschine ging in Paris herunter. Während des Landemanövers teilte eine der Stewardessen mit, der Aufenthalt würde vierzig Minuten betragen, solange könnten sich die Passagiere die Beine vertreten. Als Helen Curtin an Oakins vorbeiging, hielt er eine Zeitung vors Gesicht, dann folgte er ihr in einigem Abstand. An einem Kiosk kaufte sie Zigaretten und Schokolade, ging einem Wegweiser nach, betrat eine Wechselstube. Ein anderer Mann stellte sich hinter sie, Oakins bildete den dritten in der kleinen Schlange und sah, wie Helen Curtin einen Pfundbetrag in französische Franken, einen anderen in Lire umtauschte. Nach dem Start strich das Flugzeug über eine Wolkendecke, über den Alpen war der Blick frei auf Grate und Gletscher, Firne und harte Schatten, Dörfer in den Tälern, Seen und die sich krümmenden Bänder der Bergstraßen. Auf dem Flughafen von Mailand bereitete es Oakins Mühe, Helen Curtin nicht aus den Augen zu verlieren. Bei der Gepäckabfertigung gab es eine Stockung, er mußte warten, während Helen Curtin schon ihren Koffer vom Band genommen und einen Träger gefunden hatte. Oakins überlegte, ob er seinen Koffer zurücklassen sollte, aber dann bekam er ihn überraschend schnell und ging Helen Curtin so eilig nach, daß ihm der Schweiß aus den Poren trat. Er sah sie einen der Omnibusse besteigen, die zum Stadtinnern fuhren, und zwängte sich im letzten Augenblick durch die Tür. Als sie ausstieg, folgte er ihr. Sie verschwand in einem kleinen Hotel. Auf der
anderen Straßenseite wartete Oakins eine Viertelstunde, ging ebenfalls hinein und ließ sich ein Zimmer geben. Der Name, der in der Hotelliste vor ihm eingetragen war, lautete Mary Webster, London. Sie bewohnte Zimmer zwölf. Oakins erhöhte seine Chance auf achtzig Prozent. Er hielt sich nur kurze Zeit in seinem Zimmer auf und ging wieder in die Halle hinunter. Der Schlüssel zum Zimmer zwölf hing nicht an seinem Haken. Eine Stunde lang blätterte Oakins in Prospekten von Reisebüros und Fluggesellschaften, sah Bilder mit Palmen und hübschen Mädchen an herrlichen Sandstränden. Endlich stöckelte Helen Curtin aus dem Lift, gab ihren Schlüssel ab und verließ das Hotel. Drei Stunden lang schleppte sie Oakins durch die belebtesten Abteilungen der belebtesten Kaufhäuser. Er war der Auffassung, daß es für einen einigermaßen geschulten Mann keineswegs zu den schwersten Aufgaben gehörte, jemanden zu beschatten, wenn er sich an einige einfache Regeln hielt, wozu es gehörte, sich nie vor seinem Opfer verstecken zu wollen und ihm, sollte es sich umdrehen, nie ins Gesicht zu schauen. Er setzte den Hut ab und wieder auf, zog das Jackett aus und verbarg den Hut darunter. Helen Curtin drehte sich kaum um, versuchte auch nicht den banalen Trick, so zu tun, als wollte sie sich die Lippen nachziehen, um dabei durch den Taschenspiegel etwaige Verfolger aufzuspüren. Daraus schloß Oakins, daß sie kein völliger Anfänger war. In einem Café gönnte sie sich eine Verschnaufpause. Sie bestellte Eis und Erdbeeren. Eine Frau trat an ihren Tisch, wies auf einen freien Stuhl, worauf Helen Curtin nickte. Die Frau nahm Platz, bestellte Eiskaffee und
Torte. Sie war etwa dreißig Jahre alt und trug das schwarze Haar zu einer Madonnenfrisur gescheitelt. Sie hatte braune, kluge Augen, scharf nachgezogene Augenbrauen und einen vollen, stark geschminkten Mund. Die beiden Frauen sprachen kein Wort miteinander. Nach einer halben Stunde stand Helen Curtin auf, nahm die Handtasche der Madonna und ging. Ihre eigene Handtasche ließ sie auf dem Tisch stehen. Oakins sah zu, wie die Madonna diese Handtasche öffnete, ohne Zögern einen Schein herausnahm und ihre Zeche bezahlte. Er stellte sich in dieser Sekunde den dicken Ashton vor, wie dieser ihm zehntausend Pfund auf den Tisch blätterte und sein Mund vor Kummer in den Fleischfalten zwischen Nase und Krawatte versank. Fünf Minuten später stieg die Madonna in einen beigefarbenen Fiat; Oakins merkte sich die Nummer. Zum ersten Mal, seit ihn Ashton auf Curtins Spur gesetzt hatte, ging er an diesem Abend zeitig schlafen. Als er am nächsten Morgen in die Hotelhalle hinunterkam, stellte er ohne Erstaunen fest, daß Helen Curtin abgereist war. Der Portier erklärte ihm den Weg zum Büro der Verkehrspolizei. Dort hatte Oakins Mühe, sich verständlich zu machen. Er hätte, so berichtete er in einem Gemisch von Englisch und Französisch und mit heftigen Gesten, am vergangenen Nachmittag auf reichlich unvorsichtige Weise die Fahrbahn überquert. Um ein Haar wäre es zu einer Kollision gekommen, aber die Fahrerin eines beigefarbenen Fiat hätte blitzschnell reagiert. Oakins schrieb die Nummer auf: Wem gehörte dieser Wagen? Wer war diese beherzte Frau? Er hielt es für seine selbstverständliche Pflicht, ihr einen Blumenstrauß zu schicken. Die Polizisten
schauten lächelnd auf Oakins hinunter und suchten die Nummer heraus. Die Dame hieß Lucia Campanini und wohnte in Canzo. Eine Karte wurde geholt, ein Finger fuhr von Milano nach Norden zum Lago di Como. In zwei Armen streckte sich dieser See nach Südwesten; in seiner Gabel lag der kleine Ort. Eine hübsche Gegend? Die Polizisten schnalzten bewundernd. Zunächst fuhr Oakins mit der Eisenbahn, in Como stieg er in den Bus um. Eine Stunde lang blickte er auf das Alpenpanorama zu seiner Linken, dann hatte er Canzo erreicht, stand auf einem winzigen Platz, gesäumt von Kirche und Gemeindeverwaltung und fünf, sechs kleinen Häusern. Eiskaltes Wasser schoß aus dem Mund eines bronzenen Bären in eine Granitschale. Wege kurvten die Wiesenhänge hinan, über sie waren Häuser und Häuschen gestreut. Oakins sah mit einem Blick, wie jeder es gesehen hätte: Wer hier wohnte, gehörte nicht zu den Armen. Lucia Campanini? Ein Mann wies zu einem Bungalow, der mit breiter Veranda nach Süden oben am Waldrand lag. Dort hinauf stieg Oakins, bog vor dem Bungalow ab, schlug einen Bogen durch den Wald. Von dessen Rand her warf er einen Blick hinunter. Vor dem Haus saß ein Mann unter einem Sonnenschirm und las. Eine Viertelstunde wartete Oakins, eine halbe. Dann ging er hinunter. Nach kurzer Zeit verdeckten ihm Büsche und Zaun den Blick auf den lesenden Mann, nach einer Wegbiegung sah er den Platz leer unter dem Sonnenschirm. Der Mann stand mit einem Rechen wenige Meter hinter dem Zaun. Oakins rief einen italienischen Gruß hinüber, fragte, ob der Mann französisch oder englisch spräche. Er wäre Franzose, antwortete der Mann, womit könnte
er dienen? Der Weg nach Asso – bitte schön, da hinunter und quer über den Hügel mit den beiden weißen Häuschen. Er war ein großer, schlanker, braungebrannter Mann mit gepflegtem grauem Kinnbart und angegrautem, kurzgeschnittenem Haar, er hatte eine angenehme Art zu sprechen und war sorgsam darauf bedacht, daß der Fremde am Bach die richtige Brücke fand. Oakins bedankte sich herzlich. Am nächsten Morgen betrat Oakins das Gebäude der Mailänder Kriminalpolizei. Im Treppenhaus lag kühler Steingeruch; an der Ecke, an der die Zimmer des Morddezernats begannen, standen zwei ältliche Damen und begossen Blumen auf den Fensterbrettern. Mario Fellini? Drei Finger wurden gehoben, auf die andere Seite gewiesen. An der dritten Tür klopfte Oakins, ein schwarzhaariger Mann erhob sich. „Hallo“, sagte Oakins und nannte seinen Namen. „Ich bin sehr froh, Sie zu sehen. Sprechen Sie ein wenig englisch?“ Fellini wies auf einen Sessel. Oakins argwöhnte, daß Fellini mit seinem Namen nichts anzufangen wußte. „Pat Oakins“, erläuterte er deshalb, „Privatdetektiv aus London. Vielleicht erinnern Sie sich: Ich bin der Mann, dem Kommissar Varney von Scotland Yard seinen jüngsten Erfolg verdankt. Ich habe die Leiche in den Mendip-Hügeln gefunden.“ „Tatsächlich!“ Fellini setzte sich Oakins gegenüber. „Was führt Sie zu mir?“ Viel später dachte Oakins noch manches Mal an diese Stunde, und immer wieder wurde er sich bewußt, daß sie eine der glücklichsten in seinem Leben gewesen war. Er, der einsame graue Wolf, hatte sein Ziel erreicht. Polizisten hatten versagt, er, der Privatdetektiv, war besser gewesen als sie. „Ein Mord.
Ich möchte, daß Sie mitkommen.“ Das sagte Oakins so leichthin, wie es Marlowe, Chandlers Held, nicht nonchalanter fertiggebracht hätte. Er hätte sich gern in den Zähnen gestochert, aber er wußte nicht, womit. Er hätte sich gern eine Pfeife gestopft, aber er rauchte nicht. Vergeblich wartete er auf einen erstaunten Ausruf Fellinis: Ein Mord? Verärgert sann Oakins darüber nach, ob wohl auch Fellini die Romane Chandlers gelesen hatte und ihm nun bewußt die Schau störte. Zehn Minuten später fuhren sie in Fellinis Wagen aus Mailand hinaus. Sie parkten vor dem wasserspeienden Bronzebären und stiegen den Hang hinan. Oakins zeigte Fellini das Haus der Lucia Campanini; sie gingen ohne weiteres durch die Pforte und in das Haus hinein. Im Flur kam ihnen die Madonna entgegen. „Kriminalpolizei“, sagte Fellini und hielt seinen Ausweis hin. „Wir möchten Sie sprechen und den Herrn, der bei Ihnen wohnt.“ Stumm öffnete Lucia Campanini die Tür zum Salon. Der Mann mit dem grauen Kinnbart erhob sich. Oakins hatte den Eindruck, daß dessen Haut trotz der Sonnenbräune fahl geworden war. Fellini fragte: „Wer sind Sie?“ „Pierre Gaillard“, sagte der Mann. „Wünschen Sie, daß ich mich ausweise?“ Er ging zum Schreibtisch und zog die Schublade auf. Oakins hatte das Gefühl, es würde im nächsten Augenblick knallen, aber Gaillard nahm keine Pistole heraus, sondern einen Paß. „Ich bin der Verlobte dieser Dame.“ „Wollen wir doch mal in Ruhe Platz nehmen“, schlug Oakins vor. „Auch Sie, gnädige Frau, bleiben bitte hier. Ich möchte eine Geschichte erzählen, die wie ein Märchen beginnt. Es war einmal ein Londoner
Fabrikant namens Curtin. Er fuhr nach Italien, wo er sich wohler fühlte als im englischen Nebel, er verliebte sich in eine Italienerin, die Liebe zu seiner Frau verblaßte. Auch seine Frau verliebte sich in einen anderen Mann. Die beiden kratzten sich nicht die Augen aus, sondern berieten, wie man das Beste aus dieser Lage machen könnte. Hin und wieder kam ein Brief aus Italien nach London, geschrieben in einer großen, schönen Handschrift, in der gleichen Schrift wie die Notizen da auf dem Schreibtisch. Die stammen von Ihnen, gnädige Frau, nicht wahr?“ Mit unnatürlich geweiteten Augen starrte Lucia Campanini Oakins an, während sie kaum merklich nickte. Oakins setzte seinen Bericht fort: „In dieser Situation kam das Ehepaar Curtin auf eine satanische Idee. Eine hohe Lebensversicherung wurde abgeschlossen, Curtin setzte sich in seinen Vanguard, um angeblich nach Italien zu fahren. Er hatte es aber damit nicht eilig, vielmehr suchte er ein Opfer. In einem Gasthof im Dorf Monoblet traf er einen Mann, der ihm in der Statur, dem Gesichtsschnitt und der Haarfarbe ähnelte; es war ein spanischer Gastarbeiter, der sich auf der Heimreise befand. Curtin erbot sich, ihn in seinem Wagen mitzunehmen. Der Spanier ging darauf ein. In der Nacht täuschte Curtin eine Panne vor, bat den Spanier um Hilfe und versetzte ihm einen Schlag über die Stirn, der ihn betäubte.“ Lucia Campanini hatte den Blick starr auf Oakins gerichtet, ihr Verlobter saß regungslos; vielleicht war er noch eine Spur bleicher geworden. „Eine spannende Geschichte“, sagte Fellini. „Curtin zog dem Spanier seine eigenen Kleidungsstücke an, fuhr den Wagen mit nicht zu
großer Geschwindigkeit gegen einen Baum und bugsierte den noch immer Ohnmächtigen hinter das Steuer. Dann setzte er den Wagen in Brand. Der Spanier erstickte.“ „Das ist nicht wahr!“ Lucia Campanini sprang auf. „Sag doch, daß es nicht wahr ist!“ Aber der Mann mit dem Kinnbart rührte sich nicht. „Verlieren Sie nicht die Nerven“, bat Oakins. „Helen Curtin verlor sie ja auch nicht. Sie reiste nach St. Affrigue, identifizierte die Leiche des Spaniers als die ihres Mannes und sorgte dafür, daß sie rasch endgültig verbrannt wurde. Sie kassierte die ersten Raten der Versicherungsprämie und nahm ihren Liebhaber Lammence ins Haus, der die Firma zielstrebiger führte, als Curtin das jemals getan hatte. Curtin aber kam hierher zu der Frau, die er liebte, und in eine Umgebung, wie sie seinen Neigungen entsprach. Helen Curtin erbte die Fabrik, dafür überließ sie ihrem angeblich toten Mann den Löwenanteil der Versicherungsprämie.“ Jetzt wandte sich Oakins an den Mann mit dem Kinnbart. „Sie sind Curtin, Sie ersparen sich Ungelegenheiten, wenn Sie es gleich zugeben. In London finden wir tausend .Leute, die Sie kennen.“ Der Mann mit dem Kinnbart nickte. Eine Stunde später holte ein Polizeiwagen den Mörder Curtin ab. Oakins fuhr mit Fellini nach Mailand zurück. Sein Telegramm an Ashton lautete: „Curtin lebendig im Netz.“ Am nächsten Morgen flog Oakins nach London und betrat in bester Laune Ashtons Büro. Forsch schlug er auf die Klinke, munterer als je einer der Chandlerschen Detektive tippte er an den Rand seines Hutes. „Hallo, Chef.“
„Hallo, Oakins. Ein großer, schöner Tag für die Three-Bell-Versicherung.“ „Und für mich.“ „Gewiß. Erzählen Sie!“ Das tat Oakins, wobei er seine Schläue, seine Überlegungen und Schlüsse keineswegs untertrieb. „Fellini hat sich mit Scotland Yard in Verbindung gesetzt. Zu dieser Stunde wird man die hübsche und energische Helen Curtin aus ihrem netten Haus geholt haben, Lammence wird sich allerhand einfallen lassen müssen, um sich aus der Sache herauszuwinden, und für Harriet Flaherty ist es geradezu ein Kinderspiel, die Wiederaufnahme ihres Prozesses durchzusetzen.“ „Alle sind glücklich“, fügte Ashton hinzu, „besonders die Three-Bell-Versicherung. Im Namen des Vorstandes darf ich Ihnen meinen tiefempfundenen Dank aussprechen.“ „Gern geschehen. Die Prämie überweisen Sie bitte auf mein Konto.“ Ashton räusperte sich. „Wie wäre es, wenn wir über dem Glück der Stunde nicht das allmächtige Schicksal vergäßen? Schnell tritt der Tod den Menschen an – Mister Oakins, sollten nicht auch Sie“, bei diesen Worten zog Ashton ein Formular aus der Schublade, „handeln wie Zehntausende vor Ihnen und eine ThreeBell-Lebensversicherung abschließen?“ Oakins schlug gelassen ein Bein über das andere und entgegnete leichthin wie nur je einer seiner Chandlerschen Kollegen: „Für unsereinen ist noch keine Kugel gegossen, Sir.“ Die nächsten Tage verliefen für Oakins so anstrengend, daß es äußerster Energie bedurfte, sich
abends zur gewohnten Expanderübung aufzuraffen. Sie führten ihn auf Gebiete, auf denen er nicht zu Hause war, er hatte mit Bankbeamten und Notaren zu tun, mußte Unterschriften unter Schriftsätze leisten, von denen er nicht mehr als einen Bruchteil verstand. Sinnend stand er vor seinen Kriminalromanen; ihm wurde bewußt, daß er eine Lebensstufe hinter sich ließ. Nicht mehr der gehetzte, hetzende graue Wolf war er, wenn er die Harrisonsche Kartei erwarb, kein Chandlertyp mehr, sondern ein Detektiv, wie Gardner sie gezeichnet hatte, ein Mann des Schreibtischs. Eines Mittags unterzeichneten James Harrison und Oakins den Kaufvertrag, im Bristol feierten sie ihn mit Steak und Rotwein. Den Käse danach schlug Oakins vor. Harrison sagte geringschätzig: „Meine Söhne werden jetzt wütend in ihren schäbigen Büros hocken, sie haben es nicht besser verdient. Oakins, Detektiv wird man nicht, man ist es. Vielleicht werde ich Ihnen mal von Sizilien eine Karte schreiben.“ Abends rief Oakins den ältesten der Harrison-Söhne an und setzte ihn mit einer steifen Formulierung über das Ereignis des Tages in Kenntnis. Eine Weile herrschte Schweigen, dann knurrte Sam Harrison: „Oakins, ich warne Sie, Sie könnten enorme Schwierigkeiten haben! Meine Brüder und ich werden um unser väterliches Erbe kämpfen!“ „Falls das eine Drohung sein sollte, Harrison, so sollten Sie wissen, daß ich mich von niemandem und nichts einschüchtern lasse!“ Tags darauf engagierte Oakins die noch immer stellungslose Harriet Flaherty als Sekretärin; voller Rührung schnüffelte sie in ihr Taschentuch, und Oakins fürchtete schon, sie würde ihm aus Dankbarkeit um
den Hals fallen. Einen Abend lang las er in den Werken Gardners, um herauszufinden, ob er sich den bisherigen persönlichen Stil würde auch weiterhin leisten können: Rollkragenpullover und Wildlederjacke. Kein Zweifel: Er würde manchmal ohne Krawatte nicht auskommen. Eine Lehre zog Oakins: Vor allem brauchte er ein enges, nahezu freundschaftliches Verhältnis zum Yard. Bisher hatte er sich mit der Polizei gerieben und nur gelegentlich mit ihr zusammengearbeitet, erst unlängst hatte er dem großmächtigen Varney den Stuhl vor die Tür gesetzt – das Studium der Werke Gardners lehrte, daß auch auf diesem Gebiet neue Formen geboten waren. Noch ehe Oakins seine Detektei im Büro des alten Harrison eröffnete, ließ er sich bei Varney melden. Der Kommissar breitete erstaunt die Hände, als Oakins ihn über die Ereignisse der letzten Tage in Kenntnis setzte. „Oakins“, sagte Varney, „wer hätte das gedacht! Sie selber?“ „Nicht im Traum.“ „Da hat es ja nicht den geringsten Zweck mehr, Sie für den Yard engagieren zu wollen.“ Varney hatte eine Idee: „Vielleicht gerade! Sie kommen zum Yard und bringen Ihre Kartei mit!“ „Sicherlich wäre das keinesfalls im Sinne von James Harrison. Andernfalls hätte er Ihnen doch wohl die Kartei verkauft.“ „Daran ist natürlich etwas Wahres. Harrison war nie unser Freund, er bildete sich auf seine Unabhängigkeit zu viel ein. Oakins, ich hoffe, mit Ihnen wird das anders sein.“ „Wäre ich sonst hier, Kommissar?“
Varney und Oakins lächelten sich an, keiner wollte zuerst damit aufhören, und erst, als Varneys Mundwinkel schmerzten, sagte er: „Natürlich, Oakins: Wenn Sie mit der Kartei zum Yard kämen, brauchten Sie nicht auf der untersten Stufe anzufangen. Wir würden die Kartei bar bezahlen und Ihnen Ihr Entgegenkommen durch einen hübschen Dienstgrad honorieren. Sie können sich denken, daß diese Kartei bei uns viel effektiver eingesetzt werden könnte als in Ihrem Ein-Mann-Betrieb. Oakins, wie fänden Sie diesen Text einer Visitenkarte: Pat Oakins, KriminalOberassistent?“ „Nicht schlecht. Aber als Besitzer der Harrisonschen Kartei fühle ich mich besser.“ „Hoffentlich, Oakins. Und Sie können sich darauf verlassen: Wenn ich einen Auftrag für Sie habe, rufe ich Sie an.“ Oakins erhob sich. „Hoffentlich habe ich dann auch Zeit für Sie.“ Das fand Varney ziemlich dreist. Seine Rache kam prompt: „Damit Sie es mit Ihrer Kartei leichter haben: Es gibt jetzt diese hübschen fahrbaren Leitern.“ Abends, in seinem Zimmer, nahm Oakins die Chandlerbände aus dem Regal und verstaute sie in einem Karton. Sein Magen schmerzte dabei.
Ein kleiner toter Elefant
„Liebes Fräulein Flaherty“, sagte Oakins am nächsten Morgen und lächelte sein biederes Siegeslächeln, „die altehrwürdige Detektei Harrison schreitet in eine neue Periode, getragen vom Elan unverbrauchter Ideen und vom Schwung, der der Jugend eigen ist, gestützt auf die Tradition, ohne die in unserem guten England nichts fruchtet. Ich wünsche Ihnen und mir gedeihliche Arbeit.“ Harriet Flaherty hob das Taschentuch und schniefte. Oakins ging zu den Eichenschränken, schob einen Rolladen hoch und labte sich am Anblick der Karten, die Auskunft über zwanzigtausend Londoner gaben, zusammengetragen in jahrzehntelanger Arbeit, in endlosen Nächten immer wieder auf den neuesten Stand gebracht. „Fräulein Flaherty, Sie halten bitte diese Kartei auf dem laufenden, damit sie nicht durch Lücken ihren Wert einbüßt. Verfolgen Sie Gerichtsberichte, Unfallanzeigen, Todesnachrichten. Wer sich in London im Guten wie im Bösen vom Durchschnitt unterscheidet, gehört in diese Kartei.“ „Ich werde mich bemühen“, flüsterte Harriet mit so unsicherer Stimme, daß Oakins zum ersten Mal zweifelte, ob es richtig gewesen war, sie als Sekretärin zu engagieren. Er hatte es aus Dankbarkeit heraus getan, aber, so fragte er sich, war Dankbarkeit ein Gefühl, das sich ein Detektiv leisten konnte? Er schüttelte diesen Gedanken ab: An ihm würde es liegen, daß Harriet so eingesetzt wurde, wie es den Erfordernissen einer Weltstadtdetektei entsprach. Oakins trat ans Fenster. Es war ein diesiger Morgen, der Wetterbericht der BBC hatte Frühnebel und danach einen im wesentlichen heiteren Tag versprochen.
Oakins war mit diesem Ausblick halbwegs zufrieden: Über zwei Höfe hinweg sah er Baumkronen eines Parkstücks, weiter links den spitzen Turm der Gloriakirche. Kensington war ein Geschäfts- und Einkaufsviertel, Oxford- und Baker-Street kreuzten sich unweit, hier lagen große Kaufhäuser, Selfridge’s beispielsweise in der Oxford-Street, wo er seine Wildlederjacke gekauft hatte; die U-Bahn-Station Bond-Street spülte den ganzen Tag über Menschenströme an die Oberfläche und verschluckte sie wieder. Welbeck-Street, an der Oakins’ Praxis lag, war eine der wichtigen Straßen dieses Viertels, und wenn Kundschaft ausbleiben sollte, lag es keinesfalls daran, daß niemand hierhergefunden hätte. Oakins bummelte, die Hände in den Taschen, durch sein Büro, besah die sinnreiche Einrichtung neben der Tür, die es gestattete, einen Besucher beim Eintreten unauffällig zu fotografieren, warf einen Blick in den Alkoven hinter einem Wandschrank. Er kehrte zu seinem Schreibtisch zurück und besann sich auf die Herren, denen er auf den Gängen dieses Hauses begegnet war; sie trugen dunkle Anzüge und steife Hüte auch jetzt im Sommer. Paßte er in seiner sportlichen Jacke und seinem Pullover in dieses Haus, mußte er mit seiner Position auch den Anzug wechseln? Das Telefon klingelte, er hob den Hörer ab. „Hier spricht der Butler von Lord Lybury“, hörte er. „Wir benötigen Ihre Dienste.“ „Sehr wohl. Wo, wann?“ „Seine Lordschaft bittet Sie sofort in sein Schloß. Sie wissen: Harrow on the Hill.“
Oakins ärgerte sich, weil er sich eben verbeugt hatte. „Ich werde in einer reichlichen Stunde bei Ihnen sein.“ Nachdem er aufgelegt hatte, zog er das Fach L auf, suchte die Karte Lybury, fand und las: „Jonathan Lybury war 1356 in der Schlacht von Maupertius wesentlich beteiligt, Johann II. zu fangen. Danach in den Adelsstand erhoben. Lord Benedict L. kämpfte 1840-42 im Afghanischen Krieg und verlor am Kaiberpaß ein Bein. Dessen Sohn Ralph war 1862-78 Subdirektor der Ostindischen Kompanie. Das gegenwärtige Familienoberhaupt, Ralph Jonathan Benedict L. lebt auf Schloß L. in Harrow on the Hill und widmet sich der Numismatik.“ Das war allerhand, und es war doch wenig genug. Entweder hatte die Familie keinen dunklen Fleck auf ihrem Wappenschild, oder der alte Harrison hatte ihn nicht entdeckt. „Mein erster Auftrag“, konstatierte Oakins. „Miß Flaherty, hüten Sie das Haus!“ Der Hauptverkehr der Morgenstunden war vorbei, Oakins kam flott voran. Das eiserne Gatter des Schlosses der Familie Lybury stand offen, Oakins parkte seitlich vom Haupteingang und ging die Stufen zur Tür hinauf; noch ehe er den Klopfer aufgehoben hatte, wurde die Tür geöffnet, und ein hagerer Mann in dunklem Anzug ließ ihn ein. „Nennen Sie mich Absalom, Sir“, sagte er und wies in die Halle. „Darf ich Tee bringen lassen?“ Er verschwand hinter einer Tür, kehrte sofort zurück. „Seine Lordschaft läßt sich entschuldigen. Ich bin beauftragt, Sie um Ihre Hilfe zu bitten. Dschamnar ist verschwunden, unser Elefant.“ Oakins fühlte sich nicht sehr behaglich. „Wo hatte er seinen Stall?“
„Im Gelben Salon. Um Mißverständnissen vorzubeugen, Dschamnar ist ein Zwergelefant, und er ist tot. Lord Ralph hat ihn achtzehnhundertvierundsiebzig in Bihar erlegt, er wurde ausgestopft und steht seit achtzehnhundertsiebenundsiebzig im Gelben Salon. In der letzten Nacht wurde er gestohlen, wir haben heute morgen seine Fußspuren im Garten bemerkt. Die Diebe haben ihn ein Stück getragen und, da er ihnen zu schwer wurde, abgesetzt. Dschamnar wiegt immerhin drei Zentner.“ Ein Mädchen servierte den Tee, Oakins nahm reichlich Zucker. „Diebstahl“, sagte er, „fällt in den Bereich der Polizei. Wollen Sie nicht Anzeige erstatten?“ „Seine Lordschaft Ralph Arthur Benedict Lybury ist stolz darauf, daß der Name seines Hauses noch niemals mit der Polizei in Verbindung gebracht werden konnte. Wenn es irgend möglich ist, soll das so bleiben.“ „Verstehe vollkommen. Es war lediglich meine Pflicht, Sie darauf aufmerksam zu machen. Ich möchte mir zunächst die Fußspuren ansehen.“ Absalom begleitete Oakins in den Park. Auf einem Weg, der vor einigen Tagen geharkt worden war, fand man neben menschlichen Fußspuren auch vier kreisrunde Abdrücke. „Einwandfrei Zwergelefant“, urteilte Oakins mit der Sicherheit eines Waldläufers. „Schade, mit den anderen Spuren kann ich nicht viel anfangen. Ein Glück für die Verbrecher, daß nicht am Tag vorher geharkt worden ist.“
„Wir harken die Wege jeweils donnerstags. Der Diebstahl ereignete sich in der Nacht zum Mittwoch.“ Oakins ließ sich ins Haus zurück und in den Gelben Salon führen. Dieser hatte einen halbrunden Erker zum Park hinaus und war überaus spärlich möbliert. Wenn man von einem Podest in der Mitte absah, auf dem Dschamnar gestanden hatte, befanden sich in ihm nur drei Hocker an einer Längswand; sie waren augenscheinlich orientalischen Ursprungs. Die Wände waren mit gelbem Stoff bespannt, über den Hockern hing das Gemälde eines schnauzbärtigen Mannes in Kolonialuniform; es war, wie ein Schild darunter nachwies, Lord Ralph Lybury, seinerzeit Subdirektor der Ostindischen Kompanie und Sieger über Dschamnar. „Ein stilvoller Raum“, anerkannte Oakins, „wer sich einen Sinn für Tradition erhalten hat, atmet hier den Geist großer englischer Tage.“ „Ich spüre ihn täglich.“ Ernst blickte Absalom zu dem Gemälde hinauf. Nach einer respektvollen Pause sah sich Oakins im Raum um. Das Türschloß war unversehrt, die Fenster waren geschlossen bis auf eine Klappe oben an einem Seitenfenster. Wie so oft quälte es Oakins, daß er nur hunderteinundfünfzig Zentimeter groß war. Um einen Blick auf den Rahmen dieser Klappe werfen zu können, mußte er einen Hocker heranziehen. Er streifte die Schuhe ab, stieg hinauf und sah: Die Unterseite des Rahmens war in der Mitte blank gewischt, an den Seiten lag ein wenig Staub. Er fragte: „Steht diese Klappe in der Nacht offen?“ „Der Restaurator, der Dschamnar betreut, hat es zur Bedingung erhoben, daß Dschamnar niemals stickiger Luft ausgesetzt ist. Dieser und anderer Vorsorge ist es
zu verdanken, daß seine Haut wunderbar erhalten ist. Sieht man von seinen Glasaugen ab, macht er einen absolut lebendigen Eindruck.“ „Wer alles weiß, daß diese Klappe nachts offensteht?“ „Seine Lordschaft, Lady Winterbottom, eine Tante Seiner Lordschaft, der Heizer, die Köchin, die beiden Stubenmädchen, vielleicht der Gärtner. Selbstverständlich der Restaurator. Und ich.“ Oakins fragte weiter: Wer hatte die letzte Nacht im Haus verbracht? Wann war der Diebstahl bemerkt worden? Hatte Seine Lordschaft Feinde? Seit wann versah Absalom das Amt des Butlers? „Erst seit vier Jahren, Sir. Mein Vorgänger war Henry, er wirkt jetzt als Butler bei Lady Chrambleham, einer Großnichte von Winston Churchill.“ Oakins umrundete, wobei er die Hände auf dem Rücken und den Kopf, gesenkt hielt, den verwaisten Sockel. Er reckte die Brust vor Absalom und sprach in dessen kotelettengerahmtes Gesicht hinauf: „Bestellen Sie Seiner Lordschaft: Die Detektei Oakins wird es zur Sache ihres Namens machen, Dschamnar auf seinen angestammten Platz zurückzuführen.“ Er ließ sich Name und Anschrift des Restaurators nennen; es war ein Herr Gibson in Dulwich. Dann fragte er: „Wie pflegen Sie Dschamnar?“ „Er wird jede Woche einmal mit Doktor Hassenbrinks Hautmilch eingerieben. Alle vier Wochen erfolgt eine leichte Massage. Die Stoßzähne putze ich mit Carodent. Wenn Sie Dschamnar sehen, werden Sie über die wunderbar weißen Zähne entzückt sein. Wenn man bedenkt: In sieben Jahren jährt sich sein Todestag zum hundertsten Mal.“
Oakins faßte zusammen: „Der Diebstahl wurde von jemandem ausgeführt, der die Örtlichkeiten kennt. Er kletterte am Spalier hinauf, faßte durch die Klappe, öffnete den Riegel des darunterliegenden Fensters und stieg ein. Dann wurde das Mittelfenster geöffnet, Dschamnar hinausgeschoben, das Fenster von innen geschlossen, der Dieb stieg durch das Seitenfenster hinaus und verschloß es wieder durch die Klappe. Das Motiv: Wer hat Interesse an einem ausgestopften Elefanten?“ Diese Frage richtete Oakins mehr an sich selbst als an den Butler und wartete keine Antwort ab. „Richten Sie Seiner Lordschaft aus: Die Detektei Oakins hat den Kampf um Dschamnar aufgenommen.“ Der Butler verbeugte sich. Während seiner Rückfahrt pfiff Oakins Pop-Schlager und altenglische Märsche durcheinander und hoffte, es würde nicht allzu bekannt werden, daß er nach einem entschwundenen Zwergelefanten fahndete. Mit bitterem Gefühl dachte er daran, was Varney für Vergleiche zwischen einem Zwergelefanten und der geringen Körpergröße des Detektivs Oakins ziehen könnte – rasch ließ er diesen Gedanken fallen. In seinem Büro traf er Harriet bei der Lektüre der Morgenpresse an. „Schauen Sie in der Kartei nach“, rief er. „Restaurator Gibson aus Dulwich.“ Eine Minute später las Harriet vor: „Gibson, Präparator und Restaurator ausgestopfter Tiere, geboren nullneun, im zweiten Weltkrieg Soldat, dreiundfünfzig zu einer Geldstrafe verurteilt: Er hat aus drei Klapperschlangen vier gemacht und die vierte mit einem Plastekopf verkauft.“ „Solche Leute sind zu allem fähig.“ Oakins fuhr nach Dulwich, fand die Straße, in der Gibson wohnte, und
suchte in einem weiträumigen Häuserblock nach der Werkstatt des Präparators. Er fand sie im dritten Stock eines fabrikähnlichen Seitengebäudes, klopfte, drückte die Klinke nieder, aber die Tür war verschlossen. Er wartete eine Weile, horchte, ging dann die Treppe hinunter. Vom Hof aus blickte er an dem Gebäude hinauf und sah, daß in einem Raum, der vermutlich zu Gibsons Werkstatt gehörte, Licht brannte. Er entsann sich der Klapperschlangen, ging wieder hinauf und öffnete mit einem Dietrich ohne große Mühe die Tür. Er trat in einen Raum, in dem es scharf nach Leder und Beizmitteln roch, im nächsten Raum hing ein Krokodil von der Decke; dort hörte er gleichmäßig klopfende Geräusche und leises Pfeifen; sie drangen vermutlich aus dem Raum herüber, in dem er Licht gesehen hatte. Rasch entschlossen drückte er die Klinke nieder und trat über die Schwelle. Was er sah, war dieses: Ein älterer Mann, hemdsärmelig und mit einer Lederschürze vor dem Leib, betätigte eine Motorradluftpumpe, deren Schlauch in den Bauch eines Schweins hineinführte. Der Mann drehte sich erschrocken um, und Oakins sagte: „Offenbar haben Sie mein Klopfen nicht gehört. Ich komme im Auftrag von Lord Lybury und frage Sie ernsthaft: Wo ist Dschamnar?“ Der Mann brachte vor Schreck noch immer kein Wort hervor, und so war nichts zu hören als das Pfeifen, mit dem die Luft aus dem Schwein entwich. Langsam verlor es seine pralle Form, sank in die Knie, grämliche Falten krümmten sich über seinen Schinken. „Ein interessantes Experiment“, anerkannte Oakins. „Damit Sie wissen, wen Sie vor sich haben: Ich bin Pat Oakins, Privatdetektiv. Sie wissen, daß ich die Leiche
in den Mendip-Hügeln gefunden habe? Wer findiger war als Scotland Yard, wird auch Dschamnar auftreiben. Sagen Sie ehrlich: Wo ist er? Ich wäre dann unter Umständen bereit, über den merkwürdigen Versuch, bei dem ich Sie hier angetroffen habe, hinwegzusehen.“ Das Schwein hatte inzwischen seinen Inhalt ausgehaucht und lag als graue Hülle auf dem Boden. Gibson hatte sich soweit gefangen, daß er stammeln konnte: „Dschamnar? Vor zwei Wochen habe ich ihn zum letzten Mal gesehen, da war mit ihm alles in Ordnung. Keine Milben, keine Schrumpfung, keine Schuppenbildung.“ „Wo waren Sie letzte Nacht?“ „Zu Hause.“ Oakins betrachtete Gibson; ihm kamen Zweifel, daß dieser Mann fähig gewesen sein sollte, beim Diebstahl des Zwergelefanten Hand anzulegen. Gibson war fast sechzigjährig, glatzköpfig, verfettet, offenbar keineswegs nervenstark, denn noch jetzt ging sein Atem kurz infolge des Schrecks, den ihm das plötzliche Auftauchen von Oakins eingejagt hatte. Aber er konnte Helfer gehabt haben. Oakins fragte: „Warum versuchen Sie, diese Schweinshaut aufzublähen?“ „Ein Experiment. Ich wollte prüfen, ob das Schwein so einem jungen Nilpferd ähnelt.“ „Und Sie wollten einen Plastekopf basteln und einen arglosen Kunden anschmieren. Sie sind bekannt für solche Tricks, Gibson! Aus drei mach vier – besinnen sie auf Ihren Klapperschlangenstreich? Doch ich bin nicht der Mann, der anderen einen Verdienst mißgönnt, solange der Benachteiligte nicht zu meinen
Klienten gehört. Sie haben wohl nichts dagegen, wenn ich mich bei Ihnen umsehe!“ Oakins öffnete ungeniert Schränke und Schubladen, betrat eine Besenkammer, eine Küche. Er sah Häute von Schlangen und Eidechsen, Bälge von Vögeln, einen ausgestopften Bussard auf einem Pappfelsen und eine präparierte Hecke von Mäusen auf einem stilisierten Stück Getreidefeld. Von Dschamnar fehlte jede Spur. „Sie kennen Ihre Branche“, sagte Oakins zum Abschied. „Halten Sie Augen und Ohren offen, und rufen Sie mich an, falls Sie Verdacht schöpfen.“ Der Präparator begleitete Oakins auf den Hof hinunter und versuchte ihn dabei zu überzeugen, ein ausgestopfter Adler wäre eine sinnbildliche Zier für ein Detektivbüro, und er könnte ausgezeichnete Angebote machen. Aber Oakins schnitt ihm das Wort ab: „Ich käme nie von dem Verdacht los, daß Sie mir eine geschändete Krähe angedreht hätten, Gibson. Gehen Sie in sich!“ Oakins fuhr in sein Büro zurück, versah Gibsons Karteikarte mit einem Hinweis und suchte eine Pub von Aerated Bread Co. auf, die im Nebenhaus lag. Er aß gebratene Niere mit Chips und Blumenkohl, wobei er über nun zu unternehmende Schritte nachsann. Der vor vier Jahren zu Lady Chrambleham übergewechselte Butler Henry – man sollte ihn sich vorknöpfen. Nach dem Essen kehrte Oakins in sein Büro zurück und wies seine Sekretärin an, die Karte der Lady Chrambleham herauszusuchen. „Über diese Dame“, sagte Harriet Flaherty, „stand heute morgen etwas in der Zeitung. Sie plant in ihrem Garten ein Dschungelfest für die Pfadfindergruppe der Umgebung.“
„Dschungelfest? Alles ist sonnenklar! In einer Stunde werde ich meinen ersten Fall in diesem Büro geklärt haben. Sie werden sehen, diese prompte Arbeit verschafft uns Aufträge aus höchsten Kreisen!“ Eine Stunde später hielt Oakins vor dem schmiedeeisernen Tor, das den parkähnlichen Garten der Lady Chrambleham gegen eine stille Straße in Brentford abgrenzte. Er mußte eine Minute lang in der Halle warten und sah sich während dieser Zeit einem Gemälde gegenüber, das eine Mittelmeerlandschaft darstellte, Pinien, blaues Meer, heller Sandstrand, ein paar Felsen. Dann erschien der Butler, er war nicht mehr als mittelgroß und ein wenig füllig, seine Koteletten waren ebenso lang und sein Kinn ebenso makellos rasiert wie bei seinem Nachfolger. „Sie sind Henry?“ fragte Oakins und erntete eine leichte Verbeugung. In dieser Sekunde hatte er einen Geistesblitz, er wies auf das Gemälde und fragte: „Ein echter Churchill?“ „Sehr wohl. Sir Winston malte es drei Jahre vor seinem Tode.“ „Er war ein Genius“, bekannte Oakins, löste seinen Blick von den Pinien und richtete ihn fest auf Henry. „Henry, wo ist Dschamnar?“ Röte flog über die Wangen des Butlers, er senkte den Blick schamhaft. „Im Pavillon hinten im Garten. Er ist wohlauf.“ „Sie haben ihn ausgeliehen, nicht wahr?“ Henrys Augenaufschlag war von grenzenloser Offenheit. „Sie kommen von der Polizei?“ „Seien Sie unbesorgt, ich bin der bekannte Detektiv Pat Oakins. Ich bin sicher, daß wir diesen Fall in der Stille klären können, die den Häusern Chrambleham
und Lybury gebührt.“ Nun raffte er sich zu einem vorwurfsvollen Tonfall auf: „Mann Gottes, was ist nur in Sie gefahren, daß Sie sich zu solch einem Wagnis hinreißen ließen? Konnten Sie sich nicht denken, daß ein Außenstehender Ihre Tat leicht als Diebstahl hätte mißdeuten können?“ Henry erschrak, seine Röte wich einer plötzlichen Blässe. Oakins fuhr fort: „Ich bin mit diesem Wort weit gegangen, ich weiß. Sie brauchten Dschamnar für das Dschungelfest?“ „Lady Chrambleham hat mich mit der Ausgestaltung beauftragt; ich wollte mein Bestes geben, wenn nicht mein Allerbestes. Dschamnar sollte den Höhepunkt darstellen. Ich war sicher, daß sowohl die Lady als auch die Pfadfinder enthusiasmiert sein würden.“ „Konnten Sie den Elefanten nicht offiziell ausleihen?“ „Das war unmöglich. Die Häuser Chrambleham und Lybury sind seit der Pulververschwörung von sechzehnhundertvier verfeindet. Ein Lybury gehörte zu den Verschwörern, ein Chrambleham war damals Polizeipräfekt von London.“ „Fürchteten Sie nicht, daß die Ausleihe bemerkt werden könnte?“ „Während meiner Zeit bei Lord Lybury pflegte ich Dschamnar jeweils freitags zu salben. An den übrigen Tagen kam niemand zu ihm. Ich nahm an, dieser Rhythmus wäre beibehalten worden.“ „Ihr Nachfolger scheint eifriger zu sein. Wann findet das Dschungelfest statt?“ „Heute nachmittag. Ich hatte vor, Dschamnar heute abend an seinen angestammten Platz zurückzubringen. Dazu habe ich einen Helfer. Ich kenne seinen Namen nicht, ich lernte ihn in einem
Lokal im Südosten unserer Stadt kennen, das ich eigens aufsuchte, um eine für die Aufgabe geeignete Person zu engagieren. Wir sind für elf Uhr verabredet.“ „Hören Sie zu, Henry. Ich bin kein Unmensch und werde Ihrer verehrten Lady und den Jungen die Freude nicht verderben. Soll das Dschungelfest seinen Verlauf nehmen. Heute abend elf Uhr werde ich mich hier vom ordnungsgemäßen Abtransport Dschamnars überzeugen.“ Oakins und der Butler verbeugten sich, Oakins fuhr zurück in sein Büro und rief den Butler des Lords Lybury an. „Ich habe ihren Schützling gefunden“, versicherte er. „Ja, ihm ist kein Haar gekrümmt worden. Hören Sie zu Absalom, gehen Sie heute schlafen wie immer, und kümmern Sie sich um nichts. Ich versichere Ihnen, daß Dschamnar morgen an seinem Platz stehen wird.“ Er raffte sich zu einem Scherz auf: „Andernfalls erlaube ich Ihnen, mich an Dschamnars Stelle mit Doktor Hassenbrinks Hautmilch einzureiben.“ Den Rest des Tages verbrachte Oakins in ausgezeichneter Stimmung. Er blätterte in den Karteikästen, ging im Branchenadreßbuch die Spalte der Käse-Spezialgeschäfte durch und fand zu seiner Freude, daß eines nur wenige Straßen von seinem Büro entfernt in der Nähe von Hyde-Park-Corner lag. Dieses Geschäft übertraf alle seine Erwartungen. Da lagen Fondue de Savoie au Raisin neben Comté, Carré de l’Est neben Saint Paulin, Bleu de Bresse neben Chevres, da sah Oakins Sorten und Arten, deren Namen er weder gehört noch gesehen hatte, und nach längerem Schwanken ließ er sich von einem mächtigen Cantal eine schöne Scheibe herunterschneiden. Später in seiner Wohnung, als er zusammen mit Butter,
Schwarzbrot und Radieschen diesen Käse aß, las er in seinem Prospekt, der Cantal wäre einer der ältesten französischen Käse, würde seit mehr als zweitausend Jahren zu Füßen erloschener Vulkane in der Auvergne hergestellt und hätte die Form einer Trommel. Oakins fand ihn halbhart und würzig. Kurz nach zehn zog Oakins seine Wildlederjacke über und fuhr nach Brentford. Vor dem Gitter der Chramblehamschen Villa parkte ein Lieferwagen, das Tor stand offen, zwei Männer trugen eine deckenverhüllte Last heraus und bugsierten sie in den Wagen. „Ich begrüße Sie“, sagte Oakins zu Henry. „Ich habe mit Absalom gesprochen, niemand wird Sie hindern, Dschamnar an seinen Platz zu stellen. Ihr Helfer?“ „Sie werden verstehen“, erwiderte Henry, „daß ich in diesem außergewöhnlichen Fall von der Sitte des Vorstellens absehe.“ „Selbstredend.“ Ein Auto fuhr vorüber, Licht fiel über einen Augenblick auf das Gesicht des Mannes, der eben die Tür des Lieferwagens schloß, und da erkannte ihn Oakins. „Bicket“, sagte er mit leichtem Vorwurf, „ich glaubte, Sie wären auf den Pfad der Tugend zurückgekehrt. Hat Ihnen das halbe Jahr Untersuchungshaft wegen des Verdachts, die Bande unterstützt zu haben, die neunzehnhundertsechsundsechzig den Cup Rimet stehlen wollte, nicht genügt? Ist Ihnen nicht klar, daß Sie glimpflich davongekommen sind?“ „Ach, Sie sind’s, sagte Bicket. „Der Mann, der mir während der Fußballweltmeisterschaft die Abhöranlage in meinen Tabakladen geschmuggelt hat. Mir Ihnen wollte ich schon immer mal ein Hühnchen rupfen!“
„Nicht jetzt. Dschamnar bedarf Ihrer ungeteilten Aufmerksamkeit. Fahren Sie los.“ Henry und Bicket stiegen in den Lieferwagen. Oakins sah diesem nach, bis er verschwand. Er fuhr nach Hause, schlief bis zum Morgen und fand sich pünktlich acht Uhr in seinem Büro ein. Eine Minute später klingelte das Telefon; Absaloms Stimme klang steif vor Gekränktheit. „Ich hatte mich fest darauf verlassen, Dschamnar heute morgen an seinem Platz zu finden. Leider haben Sie mich enttäuscht.“ Oakins spürte, wie ihm ein Schauer über die Haut kroch, dann schlug sein Schreck in Zorn um. „Haben Sie richtig nachgesehen?“ „Dschamnar ist zwar ein Zwergelefant, ist aber immer noch groß genug, daß man ihn mit bloßem Auge erkennen sollte. Sein Podest steht leer.“ Oakins rief: „Ich werde mich sofort um die Sache kümmern!“ Er warf den Hörer hin und wählte die Nummer der Chramblehamschen Villa. Henrys Stimme hörte sich ausgesprochen kleinlaut an. „Ein Mißgeschick“, gestand er. „Wir waren dabei, Dschamnar auszuladen, als wir von einer Streife der Kriminalpolizei gestellt wurden. Sie verlangte Dschamnars Impfschein.“ „Was soll dieser Blödsinn?“ „Ich weiß noch aus der Zeit, in der ich bei Lord Lybury in Dienst stand: Exotische Tiere dürfen nur mit Impfschein eingeführt, vertrieben und transportiert werden.“ „Aber doch keine toten Tiere!“ „Der Gesetzgeber macht da leider keinen Unterschied.“ „Mann Gottes!“ schrie Oakins. „Und wo ist Dschamnar jetzt?“
„Leider in den Händen der Kriminalpolizei.“ Oakins legte auf und verfiel in dumpfes Brüten. Er verfügte nur zum Morddezernat über gute Beziehungen; natürlich hatten Varney und seine Leute nichts mit diesem Fall zu tun. Nach einer Weile rief Oakins trotzdem im Yard an, ließ sich mit Varney verbinden und schilderte sein Problem. Wie er befürchtet hatte, blieb Spott nicht aus. „Sie jagen einem Zwergelefanten nach?“ rief Varney. „Gleich zu gleich gesellt sich gern. Ich meine das natürlich so: Als ich Sie neulich beim Rugby durch die gegnerische Deckung brechen sah, machten Sie durchaus den Eindruck eines afrikanischen Kriegselefanten.“ „Die Zeit ist vorbei. Rugby ist gut, aber Judo ist besser. Sie sollten mich sehen, wenn ich einen KamiShito-Gatame ansetze!“ „Spaß beiseite, Oakins, ich werde im Haus herumfragen. Sie bekommen in einer halben Stunde Bescheid.“ Während dieser Zeit erschien Harriet Flaherty. Sie griff zum Taschentuch, nachdem Oakins berichtet hatte. „Hören Sie auf“, rief Oakins, „Sie können nicht jedesmal losheulen, wenn eine Panne passiert.“ Dabei versah er die Karte des Gewohnheitsverbrechers Bicket mit einem erneuten Vermerk. Später rief Varneys Sekretärin an und teilte mit, im Yard wäre nichts über einen beschlagnahmten Zwergelefanten bekannt. Wütend wählte Oakins die Nummer der Lady Chrambleham; der Butler meldete sich, Oakins fragte: „Haben Sie sich die Ausweise der Polizisten zeigen lassen? Besitzen Sie eine Quittung für Dschamnar?“
„Selbstverständlich habe ich die Ausweise gesehen“, antwortete Henry. „Leider war es ziemlich dunkel, ich habe die Namen nicht lesen können. Quittung – ich habe nicht daran gedacht.“ „Die Leute waren in Zivil? Und Sie sind immer noch überzeugt, daß es sich um Kriminalpolizisten und nicht um Gangster gehandelt hat?“ Oakins fragte nach dem Aussehen der angeblichen Kriminalisten; sie hatten Mäntel und Hüte getragen, einer war ein wenig größer als der andere gewesen, hatte das Wort geführt, kein Dialekt, ein mittelgroßer Lastwagen – Henry hatte weder auf die Marke noch auf die Nummer geachtet. „Sie haben sich anschmieren lassen“, rief Oakins wütend. „Wenn mich wieder mal jemand um eine Gefälligkeit bittet, damit die herzigen Pfadfinder ihre Freude haben, was glauben Sie, was ich dann antworte!“ Nachdem Oakins aufgelegt hatte, zwang er sich zur Ruhe; er mußte rasch nachdenken. Wer hatte erfahren, daß dieser nächtliche Transport stattfand? Wer hatte geplaudert, wer hatte wissentlich oder fahrlässig Dschamnar hinterhältigen Verbrechern in die Hände gespielt? Wenn auf einen Verdacht fiel, dann auf Bicket; er war zahlreiche Male vorbestraft, seinerzeit aus dem Zuchthaus Hertford ausgebrochen, eingeweiht in Geheimnisse der Unterwelt. Noch einmal rief Oakins in der Villa Chrambleham an; diesmal befragte er Henry, wo er Bicket kennengelernt hatte. In der Kakadu-Bar in Southwark. Am Abend fuhr Oakins mit der U-Bahn nach Southwark. Vor der Kakadu-Bar stand ein bulliger Rausschmeißer, KettenStan, alter Bekannter von Oakins, ehemaliger Artist der unteren Sorte. Er trug eine Livree, die aussah wie eine Uniform eines Fregattenkapitäns dalmatinischer
Seeräuber aus dem sechzehnten Jahrhundert. Oakins sagte in den sich mäßig verdichtenden Nebel hinein: „Ein kleiner Elefant soll verschwunden sein. Schon gehört?“ „Nichts gehört. Ich höre in der letzten Zeit so gut wie nichts mehr.“ „Ein Erbstück. Bicket soll ihn gekannt haben.“ „Schade, daß ich Bicket nicht kenne.“ „Sie sind ein Witzbold, Stan“, sagte Oakins und ging an ihm vorbei. Es war noch wenig Betrieb, ein paar Mädchen langweilten sich auf den Barhockern und hatten Sektgläser vor sich stehen, in denen Limonade war. Drei Neger lehnten hinter ihren Instrumenten und unterhielten sich, einige Gäste saßen mit Gesichtern an ihren Tischen, als wären sie sich nicht schlüssig, ob sie bleiben oder es mit einem anderen Lokal versuchen sollten. Oakins bestellte notgedrungen einen Black and White und sah zu, wie die Garderobenfrau herunterkam und dem Wirt etwas zuflüsterte. Er war sicher: Ketten-Stan ließ signalisieren, daß Oakins nach Bicket gefragt hatte. Die Mädchen an der Bar berieten miteinander, schließlich kam die Kleinste, ein dickliches, schwarzhaariges Mädchen, an seinen Tisch, und das war ihm gar nicht recht, denn er liebte blonde Frauen mit langen Beinen, besonders wenn sie einen Kopf größer waren als er. „Setz dich hin, Mädchen“, sagte er. „Wenn du einen Black and White trinken willst, kannst du ein Weilchen bleiben.“ Das Mädchen legte die Hand auf seinen Arm und sagte: „Unsereiner muß sein Geld hart genug verdienen, stimmt’s?“ „Wenn du wüßtest, wie recht du hast.“ Die Band spielte, Oakins kam mit dem Mädchen in ein leidliches Gespräch über breite Schuhabsätze und
Pfundabwertung. Er führte gerade seinen dritten Whisky zum Mund, als er an der Theke Bicket stehen sah. Bicket war also hereingekommen, obwohl KettenStan ihm gesagt haben mußte, daß ein Detektiv auf ihn wartete, und das sprach für ihn. „War nett, daß du mir Gesellschaft geleistet hast“, sagte Oakins zu dem Mädchen. „Jetzt muß Vater ein Gespräch unter Männern führen. Schick mir den Knaben in dem blauen Anzug da mal an den Tisch, und werde nicht alt bis zum nächsten Mal.“ Das Mädchen ging, Bicket kam heran und setzte sich. „Dschamnar muß an seinen Platz zurück“, begann Oakins ohne Übergang. „Was soll er kosten?“ „Ich habe mit der Sache nichts zu tun, aber vielleicht kenne ich einen, der einen Tip geben könnte.“ „Und wo treffe ich den?“ „Wir könnten hingehen. So in einer Stunde ungefähr.“ „Bicket, vielleicht haben Sie noch bißchen Wut auf mich, weil ich damals in Ihrem Tabakladen das hübsche kleine Mikrophon eingebaut habe, durch das dann Sie und Woodward und Grebb aufgeflogen sind. Nehmen Sie es mir nicht länger krumm, so was ist nun einmal mein Beruf. Es sollte uns nicht hindern, heute ein Geschäft zusammen zu machen. Wenn der Elefant in seinem Salon steht, und wenn Sie mitgeholfen haben, ihn zu finden: zehn Pfund.“ „Dafür werde ich mir kein Bein ausreißen. Ich sag’ Ihnen Bescheid, wenn es soweit ist. Ein Pfund Handgeld wollen Sie wohl nicht ausspucken?“ Oakins schob Bicket eine Pfundnote hin. Ihm blieb eine Stunde lang Zeit, den drei Negern zuzuhören,
deren Beat immer härter wurde. Das dickliche Mädchen kam noch einmal an seinen Tisch, dann tauchte Bicket wieder auf und sagte, sie könnten gehen. Der Nebel war dichter geworden; er schmeckte nach Rauch und Ruß, um die Laternen herum bildete er gelbe Ballons. Oakins fragte: „Noch weit?“ „Bloß um zwei Ecken. Da ist ein kleiner Park, da geht eine Straße ab, das erste Haus links. Im Erdgeschoß wohnt Geoffry Baxter, dort klingeln Sie.“ „Dort ist Dschamnar?“ „Sagen Sie, ich hätte Sie geschickt, alles Weitere müssen Sie selbst aushandeln. Ich bringe Sie bis vor die Haustür.“ Das tat Bicket, er zeigte auf das Haus, drehte sich um und verschwand im Nebel. Oakins drückte die Tür auf. Es war dunkel im Flur, gerade so viel Licht fiel herein, daß er den Schalter erkenne konnte. Licht flammte auf, er sah einen Mann, der an der Wand lehnte, wollte fragen, wo Geoffry Baxter wohnte, da trat der Mann mit zwei schnellen Schritten auf ihn zu und schwang die Fäuste. Oakins bückte sich, riß beide Fäuste nach oben und hieb sie dem Mann in den Magen, aber es mußte noch jemand im Flur sein, denn ihm wurde ein Bein weggerissen. Er rollte über die Schulter, schnellte die Beine hoch und trat gegen einen Kopf, seine Rolle rückwärts hätte wunderbar geklappt, wenn nicht eine Treppenstufe seinen Schwung gebremst hätte, und da war der Mann, der ihn zuerst angegriffen hatte, schon über ihm und hieb ihm zwischen die Augen. Oakins kam noch einmal hoch und merkte, daß er sich allmählich der Spezialitäten fortgeschrittener Judo-Kunst bedienen
mußte, versuchte es mit seinem Uki-Waza, aber er hatte seinen Gegner nicht richtig zu fassen bekommen, selbst O-Uchi-Gari, die Große Innensichel, klappte jetzt nicht mehr, und mit der hatte Oakins doch schon ein paarmal seinen Lehrer zu Fall gebracht. Sein Handgelenk wurde gepackt und der Arm nach hinten gerissen, eine Hand preßte sich gegen seine Kehle; da begriff Oakins, daß er am Ende war, und sagte röchelnd: „Was ist los, Jungs, warum belästigt ihr einen harmlosen Wanderer?“ Sekundenlang blickte er in ein Gesicht, in dem die Augen eng beieinander standen, in das eine braune Locke hineinfiel, er sah einen keuchenden Mund mit Goldzähnen und ein spitzes Kinn, er hoffte, er hätte sich dieses Gesicht eingeprägt, als ihm etwas über den Kopf geworfen wurde, eine Jacke vielleicht, da nahm er den Kampf wieder auf, aber es war zu spät, noch etwas auszurichten, einer kniete auf seinen Beinen und schnürte seinen Kopf ein, der andere bog ihm die Arme nach hinten. Jetzt versuchte Oakins zu brüllen, aber es drang nur ein gurgelnder Laut heraus, er riß noch einmal die Knie hoch, aber sein Stoß ging ins Leere, er fiel mit dem Steiß hart auf eine Treppenstufe, und ein weiteres Mal steckte er auf. Seine Arme wurden auf dem Rücken zusammengebunden, so stieß man ihn auf die Straße hinaus. Er hatte den Eindruck, daß man ihn in die Richtung führte, aus der er mit Bicket gekommen war; nach einer Weile fühlte er weichen Grund unter den Füßen. Er dachte: Die Burschen werden mich nicht umbringen, davon hätten sie nichts; außerdem hat man mich mit Bicket aus der Kakadu-Bar weggehen sehen, Verdacht würde auf Bicket fallen, und so blind
vor Rachedurst wird er nicht sein, daß er sich solcher Gefahr aussetzt. Was dann geschah, lief rasch ab: Oakins bekam einen Stoß, daß er zur Seite fiel, er schlug hart an, seine Arme wurden hochgezerrt und festgeschnürt, er fühlte Hände in seinen Taschen, hörte sich eilig entfernende Schritte auf knirschendem Kies und begriff: Die Burschen hatten ihn auf einer Parkbank festgebunden und ausgeraubt. Er dachte: Wenn Bicket das Maß seiner Rache vollmachen wollte, rief er jetzt eine Zeitungsredaktion an: „Wollt ihr eine Sensation? Geht mal in den Soundsopark in Southwark, da sitzt ein Detektiv in merkwürdiger Verfassung auf einer Bank. Und vergeßt eure Fotoapparate nicht!“ Aber die Blamage war auch groß genug, wenn ihn am Morgen die ersten Passanten fanden. Außerdem: Es war kein Vergnügen, stundenlang hier festgebunden zu sein, und es würde während der Nacht nicht wärmer werden. Oakins warf seinen Körper vor und zurück, dabei kam die Bank ins Schaukeln, schließlich ruckte er sich mit aller Kraft nach vorn, zog den Kopf ein und die Schultern vor, so schlug er auf, die Bank fiel auf ihn und hieb mit der Lehne gegen die Schulterblätter. Er wußte: Ohne sein Training, ohne die tägliche Expanderübung hätte seine Rückenmuskulatur diesen Druck nicht so gut aufgefangen. Vor seinem Gesicht fühlte er harten, kratzenden Stoff, ihn preßte er auf den Sand, schob, zog, merkte ein Nachgeben, zog wieder, endlich atmete er frische Luft und sah mit einem Auge den Sand und den blassen Schimmer einer Zigarettenkippe. Er kroch zurück, wobei die Bank noch immer auf ihm lastete, zog dabei den
Kopfverband herunter und richtete sich mit einem Ruck auf. Die Strolche hatten ihn leider nicht in der Mitte der Bank festgebunden, deshalb schleppte sie auf einer Seite im Sand. Ein paarmal mußte Oakins anhalten, denn die Schmerzen in seinen Armen wurden zu stark. Er hoffte, er hätte nicht den Weg zur Mitte des Parks eingeschlagen, und der Park wäre nicht allzu groß. Nach einer Weile kam er auf eine Straße; jetzt polterte die Bank hinter ihm über das Pflaster. Unter einer Laterne blieb er stehen, hörte in der Ferne Autos fahren und Schritte auf der anderen Straßenseite. Da rief er, ob man ihm einen Gefallen tun wollte, hörte die Schritte auf sich zukommen, in den Lichtschein trat ein Mann mit Schirm und Mantel und Melone, der aussah wie ein Bankbeamter. „Vielleicht haben Sie ein Messer bei sich“, sagte Oakins, „und könnten mich losschneiden.“ „Gottlob, ich bin Zigarrenraucher.“ Der Mann klappte ein Taschenmesser auf. „Allerdings könnte man versuchen, die Schnüre aufzuknoten, sie sind von gutem Material, und vielleicht brauchen Sie sie noch. Ostindischer Sisal.“ „Sehr liebenswürdig, aber Ihre Mühe wäre überflüssig. Machen Sie bitte zwei, drei kleine Schnitte, alles Weitere findet sich.“ Oakins hörte ein Knirschen, spürte ein Rucken in den Armen, die Bank polterte aufs Pflaster. „Vermutlich“, sagte der Mann, „fühlen Sie sich wie frisch geboren. Darf ich Ihnen eine Zigarre anbieten? Ich rauche ‚Snow King’, leicht, bekömmlich, das Richtige für Sie.“
„Verbindlichen Dank, aber ich bin Nichtraucher. Darf ich Ihnen meinen Dank für Ihre Mühewaltung aussprechen.“ „Nicht die geringste Ursache. Übrigens“, fuhr der Mann fort, während er auf den Strick in seiner Hand blickte, „es ist tatsächlich ostindischer Sisal. Ich war während des Krieges da, wir haben mit solchen Stricken die Büffel vor die Wagen gebunden, als wir die Japaner verfolgten.“ „Interessant. Eine letzte Bitte: Wollen Sie mir behilflich sein, die Bank unter die Laterne zu stellen, damit nicht jemand darüber stolpert?“ Der Mann faßte zu, Oakins bedankte sich abermals, der Mann zog die Melone, Oakins verbeugte sich, und jeder ging seines Wegs, wobei Oakins in seine Taschen hineinfühlte ; er vermißte Portemonnaie und Feuerzeug, fand Schlüsselbund und Kamm und Ausweispapiere, auch ein paar Münzen. Nach kurzer Zeit kam er auf die Trinity-Street, sah ein Kino, besann sich, schon hier gewesen zu sein. In der Toilette des U-Bahnhofs Borough brachte er sein Äußeres ein wenig in Ordnung, besah die Striemen an den Handgelenken und merkte, daß seine Armbanduhr fehlte. Das verbliebene Geld reichte, nach Hause zu fahren, dort duschte er und schlief sofort ein. Morgens verspürte er wütenden Hunger, den er mit dem Rest Cantal, Toast und Milch bekämpfte. Dabei beschloß er, die Rache an Bicket bis zu einer günstigen Gelegenheit zu vertagen; jetzt stand der Kampf um Dschamnar obenan. Als er sein Büro betrat, sagte Harriet Flaherty: „Der alte Harrison hat angerufen. Er fliegt heute nach Mallorca und wollte sich verabschieden.“
»Zu gütig. Möchte wissen, ob er den Elefanten schon aufgetrieben hätte.“ Oakins versah Bickets Karteikarte mit einem abfälligen Vermerk, warf einen Blick in die Morgenpresse, massierte verstohlen seine Handgelenke. Ein wenig später ging er hinunter und kaufte Portemonnaie und Armbanduhr. Kurz vor Mittag klingelte das Telefon, eine Männerstimme sagte: „Habe gehört, daß Sie einen Elefanten suchen. Sie sollten sich um den ehemaligen Brigadegeneral Coolborough kümmern, er wohnt in Buckhurst Hill.“ Ehe Oakins eine Frage stellen konnte, wurde aufgelegt. Er hörte noch ein Knacken dicht an seinem Ohr, dann war Stille. „Coolborough“, sagte er, „ein ehemaliger General. Schauen Sie nach.“ „Coolborough“, las die Sekretärin vor, „geboren nulleins, besuchte das Gymnasium in Sheffield, trat einundzwanzig in die Armee ein. Kolonialdienst in Aden, Lahore, Singapur. Bei Ausbruch des Krieges Major in Burma. Machte Anfang zweiundvierzig den Rückzug mit, wurde verwundet, kämpfte von dreiundvierzig an gegen die Japaner. Rasche Beförderung, bei Kriegsende Brigadegeneral. Seit neunundvierzig demobilisiert, Kriegsschriftsteller. Veröffentlichungen: ,So fiel Singapur’, ,Pagoden und Banditen’, ,Dschungelkrieg’, ,Das Jahr nach Pearl Harbour’.“ „In Burma gibt es Elefanten. Ich werde mir den Haudegen ansehen.“ Nach Buckhurst Hill mußte Oakins durch halb London hindurch und noch ein Stück nach Nordost hinaus. Villengegend, hier und da schon eine Weide, Büsche an Bachläufen, immer wieder Kolonien von Ein und Zweifamilienhäusern – hier mochte sich ein
schriftstellernder alter General wohl fühlen. Am Ende einer Parkstraße fand Oakins Coolboroughs Haus und trat durch ein halboffenes Tor in den Garten. Ein Kiesweg führte zum Haus hinauf; Oakins hatte etwa die Hälfte zurückgelegt, als er MG-Feuer bekam. Wie der Blitz nahm er unter einem Rhododendron-Busch Deckung. Im Haus detonierten Handgranaten, eine Stimme schrie: „Drittes Bataillon greift durch die Reisfelder an, linke Grenze Straße ausschließen, rechte Grenze Anschluß zwotes Bataillon!“ Stukas heulten, der Lärm erstarb, die Stimme, die eben ihre Kommandos gebrüllt hatte, sagte ruhig: „Das war Mandalay im April zweiundvierzig, das war der letzte Angriff der ruhmreichen Longhorse-Dragoner, ehe die gelbe Welle sie verschluckte.“ Oakins stand auf und putzte sich verstohlen Erde von den Knien. Er ging an das Haus heran und schaute durch ein offenes Fenster, sah einen Mann in Offiziersuniform mit Orden und einem Barett, der zwischen Tonbandgeräten und Lautsprechern und Tischen mit Papieren saß. Oakins räusperte sich: „General Coolborough?“ Der General blickte auf. Es schien, als müßte er sich aus längst vergangenen Kriegswirren in die Londoner Gegenwart zurückreißen. Oakins nannte seinen Namen und fügte höflich hinzu: „Störe ich, General?“ „Ich arbeite an einer Langspielplatte. Ist es dringend?“ „Lord Lyburys Zwergelefant ist verschwunden, Sir. Der Lord wäre Ihnen verbunden, wenn Sie etwas von seinem Aufenthalt wüßten.“ Die eisgrauen Augen des Generals verengten sich, nachdenklich strich seine Hand über den Schnurrbart.
„Verschwunden.“ Das war keine Rückfrage, das war eine Feststellung: So etwa mochte Cäsar gesprochen haben, wenn man ihm gemeldet hatte, eine Legion wäre im Eimer. „Lord Lybury hat in Indien einen Namen, heute noch. Richten Sie seiner Lordschaft aus: Brigadegeneral Coolborough weiß nichts von einem Elefanten.“ Oakins hätte jetzt gern gewußt, wie man die Hacken zusammenschlägt, aber er hatte es nie gelernt. So blickte er fest in die Augen des Dschungelkriegers und sagte: „General, Lord Lybury dankt Ihnen in gleichem Maße wie die Detektei Oakins.“ Der General wandte sich wieder seinen Geräten zu, Oakins ging zu seinem Wagen zurück. Während er auf die Straße trat, barst in seinem Rücken die Schlacht von Mandalay mit der MPi-Salve. Den Rest des Tages verbrachte Oakins in dem unguten Gefühl, daß etwas geschehen war, das er zwar bemerkt, aber nicht wichtig genommen hatte. Auf einen Witz besann er sich: Da saßen drei steinalte Männchen auf einer Bank, blickten einer vorüberstöckelnden jungen Dame nach, einer brummte versonnen: „Da war doch noch was!“ So ging es ihm, da war irgendwas gewesen, aber etwas anderes hatte es überdeckt. In dem Augenblick, als das Telefon klingelte, erinnerte er sich. Eine Konzertdirektion bat um seinen diskreten Besuch in diskreter Angelegenheit; er sagte für den übernächsten Tag zu. Nachdem der Gesprächspartner aufgelegt hatte, war wieder dieses Knacken dicht an seinem Ohr. Oakins zog den Telefonstecker aus der Wand und machte sich daran, das Telefon auseinanderzunehmen. Er staunte nur wenig: Im Hörer befand sich ein winziges Mikrofon mit
einem winzigen Sender, noch kleiner als die Geräte, die Oakins damals in Bickets Tabakladen montiert hatte. „Im Raum müssen ein Verstärker und ein weiterer Sender sein“, sagte er zu Harriet. „Suchen Sie!“ Zwei Stunden lang krochen Detektiv und Sekretärin auf dem Bauch, kletterten auf Stühle und Tische, klopften die Wände ab. Schließlich fand Oakins in einem Rollschrank, im toten Raum hinter den Kästen, was er gesucht hatte. Er rührte es nicht an. Danach setzte er Mikrofon und Mikrosender wieder in seinen Telefonhörer ein. „Ich hätte es mir denken können“, sagte er, „die Söhne des alten Harrison wollen mich zu Fall bringen. Es ist ein wahres Glück, daß ich das schon heute merke.“ Er grübelte; gegen Mittag schälte sich eine Idee heraus. Er wählte die Nummer des Lord Lybury in Harrow on the Hill; der Butler war am Apparat. „Hören Sie, Absalom“, sagte Oakins, „ich bin den Schuften, die Dschamnar gekidnappt haben, auf der Spur. Ich werde Ihnen ihre Namen heute abend sieben Uhr in einer Feldscheune mitteilen, die nordwestlich von Elstree liegt, am AldenhamReservoir. Am Südufer, an einem pappelbestandenen Weg finden Sie diese Scheune, die einzige weit und breit. Ich bitte Sie, pünktlich zu sein.“ „Es wäre gut, wenn wir Dschamnar bis morgen abend fänden; Seine Lordschaft könnte bald Verlangen nach ihm verspüren.“ Oakins wartete, bis Absalom auflegte; befriedigt hörte er das Knacken dicht neben seinem Ohr. Am späten Nachmittag fuhr Oakins hinaus nach Els tree. Er stellte seinen Wagen am Rand des Ortes ab und ging den Pappelweg zum Stausee hinunter. Er
umrundete die Feldscheune und hätte gern gewußt, wie viele Männer in ihr steckten und ob gegebenenfalls auf die Hilfe von Absalom zu rechnen war. Drei Minuten vor der vereinbarten Zeit erschien der Butler, er hatte sich in Loden gekleidet und trug Wanderschuhe. In der Scheune herrschte Grabesdunkel. Oakins ließ den Schein seiner Taschenlampe durch den Raum huschen, sah eine Dreschmaschine, einen Grasmäher; dahinter war alles bis an das Dach mit Heu gefüllt, vorn an der Seite lagen einige Strohballen. Oakins sagte: „Ich war in den letzten Tagen nicht untätig und bin in der Lage, Ihnen zu sagen, wer Dschamnar gestohlen hat. Und nicht nur den Namen kann ich Ihnen nennen, ich kann Ihnen diese Burschen sogar zeigen. Wollen Sie bitte so liebenswürdig sein, meine Taschenlampe zu halten und auf diesen Strohhaufen zu richten.“ Oakins warf die Ballen zur Seite. Hinter ihnen hockte ein Mann, der die Hand vors Gesicht hielt und knurrte: „Nun blenden Sie mich gefälligst nicht so!“ „Was machen Sie hier?“ „Kann man nicht mal ein Stündchen schlafen?“ In diesem Augenblick hörte Oakins hinter sich ein Geräusch, machte einen Satz zur Seite, etwas flog an ihm vorbei und traf den Mann im Stroh an den Kopf. Geistesgegenwärtig richtete Absalom den Strahl der Taschenlampe in die Richtung, aus der der Angriff erfolgt war, Oakins sah sich einem Hünen gegenüber, der eine dreizinkige Gabel in der Hand hielt; blitzschnell rekapitulierte er, ob sich jemals ein Chandlerscher Detektiv gegen eine Mistgabel zu verteidigen gehabt hatte; ihm fiel kein Parallelfall ein.
Er bückte sich, warf Stroh und Staub hoch, sah die Zinken dicht vor sich, bekam den Stiel zu packen, drückte ihn zu Boden, warf den Körper zu einem Überschlag hoch und traf mit den Schuhsohlen seinen Gegner so hart an der Stirn, daß der in die Knie ging. Absalom war auch jetzt ein glänzender Sekundant. Er richtete den Lichtstrahl an die Wand, wo der andere ihrer Widersacher, den das Wurfgeschoß seines Kumpanen vorübergehend gefällt hatte, sich eben mühselig erhob. Dort machte Oakins mit einem SodeGuruma ganze Arbeit, nahm einen Kälberstrick von einem Wandhaken, kehrte zu dem Hünen zurück und schnürte ihm die Hände auf den Rücken. Absalom half, den Gefesselten an die Dreschmaschine heranzuziehen, dort band Oakins ihn fest. Den anderen Mann trugen sie auf die Wiese hinaus; die kühle Abendluft brachte ihn bald zu sich. Oakins richtete den Lichtstrahl auf das Gesicht des Mannes, musterte, verglich, der schmallippige Mund fiel ihm auf, er sagte: „Sie heißen Harrison?“ Der Mann nickte apathisch. „Welcher der Söhne sind Sie?“ „William.“ „Der mittlere“, stellte Oakins fest, „der Mann, der schon frühzeitig mit technischen Albernheiten seinen Vater ärgerte. Ihr älterer Bruder hat mir Rache geschworen, Sie bauten dieses Kuckucksei in den Telefonhörer ein, belauschten meine Aktion und mischten heimtückisch mit. Sie und dieser Strolch da drin waren es, die sich als Kriminalpolizisten ausgaben und mir Dschamnar abjagten.“ „Ein Bubenstück“, ergänzte Absalom; Oakins hatte den Eindruck, daß der Butler soeben das radikalste
Wort gesprochen hatte, zu dem er fähig war. Oakins fuhr fort: „Sie können sich aus der Schlinge befreien, wenn Sie mir Dschamnar ausliefern.“ William Harrison senkte den Kopf. „Ich gebe mich geschlagen, Oakins.“ Sie gingen zum Ort zurück, setzten sich in ihre Wagen und fuhren nach London hinein. In einer Seitenstraße von Wood Green stoppte William Harrison vor einem schuppenartigen Gebäude, die drei Männer stiegen aus. Oakins sagte: „Ehe ich’s vergesse: Harrison, haben Sie mich zu diesem General geschickt?“ „Ich hoffte, es könnte Sie irritieren.“ „Ist Dschamnar hier?“ „Ich habe ihn in dieser Lederwarenwerkstatt abgeliefert.“ Oakins hörte hinter sich ein Stöhnen; das war der Butler. Sie klopften den Besitzer heraus, schlaftrunken erschien er am Fenster. „Ich muß den Elefanten wiederhaben“, forderte William Harrison. Minuten später öffnete der Besitzer die Tür und führte seine Besucher in die Werkstatt. Auf dem Tisch lag eine lederne Aktentasche. „Die letzte, sie gingen weg wie warme Semmeln.’ „Geben Sie sie mir.“ Oakins kümmerte sich nicht mehr um Harrison und Dschamnars Schlächter, er ging hinaus, schob Absalom neben sich auf den vorderen Sitz seines Wagens, so fuhren sie nach Harrow on the Hill. Die Tasche ruhte im Schoß des Butlers, sacht strichen dessen Finger darüber hin, er murmelte: „Die Wirkung von Doktor Hassenbrinks Hautmilch ist wunderbar.“
Gegen Mitternacht standen Oakins und Absalom im Gelben Salon; unter feierlichem Schweigen stellte Oakins das, was von Dschamnar geblieben war, auf den Sockel. „Pars pro toto“, sagte der Butler. Für Oakins übersetzte er: „Wenigstens etwas.“ Im Hinausgehen kämpfte Oakins einen schweren Kampf, schließlich überwand er sich: „Unter diesen Umständen gewähre ich einen Preisnachlaß von zwanzig Prozent.“ Absalom rückte an der Tasche, bis sie in der Mitte des Podestes stand und sagte: „Es würde der Reputation Ihrer Detektei nutzen, sollten Sie davon absehen, uns eine Rechnung zu schicken. In diesem Fall dürfen Sie auf unsere Verschwiegenheit rechnen.“ Den ganzen nächsten Tag über war Oakins noch stolz auf seinen letzten Satz: „Ich werde über Ihren Vorschlag nachdenken lassen.“
Ölfarbe unter den Fingernägeln Eine Woche lang erfüllte Oakins läppische, ermüdende Aufträge. Im Dienst einer Konzertdirektion fand er heraus, daß ein Pianist entgegen einem Ausschließlichkeitsvertrag in einer Tanzkapelle spielte. Seinem Stammkunden, dem Fischhändler aus Brixton, verhalf er wieder zu dessen Frau: Im Süden der Riesenstadt, wo der Verputz von den Fassaden bröckelt und Jamaica-Neger von Geld und Sonne träumen, horchte er bei den Tanten der Geflüchteten herum. Von einer erfuhr er, ihre Nichte hätte sich beklagt, welche Kälte im Fischladen herrschte, sie würde sich noch Rheuma in allen Gliedern holen, und hätte hinzugefügt, wie mollig es bei einem portugiesischen Waffelbäcker wäre. Das Branchenadreßbuch verriet Oakins, daß es in London drei portugiesische Waffelbäcker gab. Schon beim ersten fand er die wärmesüchtige Frau, sie füllte vor einer heißen Herdplatte bizarre Eisenformen mit flüssigem Teig. Nach kurzem Hin und Her versprach die Frau, nach Hause zurückzukehren, wenn ihr Mann gelobte, eine Heizsonne anzuschaffen. Klein waren die Honorare für Oakins, aber noch stärkte ihm der Rest von Ashtons Prämie den Rücken. Trotz allem: Seine Sekretärin forderte ihr Gehalt, Mietzahlung und Monatsrate für den alten Harrison waren fällig. Kein Zweifel, der erste Monat zwischen Harrisons Karteikästen wurde zu einem Verlustgeschäft. Überdies kam Oakins mit seinen Grübeleien über seinen neuen Lebensstil nicht zu Rande. Durfte er genußsüchtig werden wie ein Gardner-Held? Mußte er die Eigenschaften von
Chandlers und Gardners Recken kombinieren? Keineswegs mit dem gewohnten Elan zerrte Oakins des Abends an seinem Expander, zweimal schwänzte er die Übungsstunden bei Kokichi Nagaoka. Am Ende des folgenden Trainings stemmte ihn sein Judolehrer aus, drehte ihn um die eigene Achse und stieß ihn mit dem Kopf nach unten auf die Matte, als wollte er ihn in den Boden rammen. Drei Tage lang schmerzte Oakins der Rücken, inbrünstig sehnte er sich nach der segensreichen Wirkung von Dr. Hassenbrinks Hautmilch. Wieder einmal lag Oakins am Abend auf der Couch und lauschte einem Gardner-Roman charakterbildende Eigenschaften ab, als Varney anrief. „Man hört so verschiedenes, Oakins. Üben Sie für eine Großwildjagd in Afrika? Aber zur Sache: Haben Sie schon gehört, daß die Harrison-Söhne einen Prozeß angestrengt haben, um ihren Vater als geistesgestört erklären zu lassen? Das könnte Sie um Ihre Kartei bringen. Ich hätte einen Vorschlag für Sie: Sie verkaufen uns sofort die Kartei, und wir verzahnen sie so mit unseren eigenen Unterlagen, daß sie auch bei einem Sieg der Harrison-Brüder nicht mehr herauszulösen ist.“ „Und was wird aus mir?“ „Sie kommen in den Yard.“ „Hören Sie, Kommissar, mir ist nicht nach Scherz zumute. So langsam lerne ich es, mit den zwanzigtausend Karten umzugehen, da soll ich schon wieder den Job wechseln?“ Oakins warf einen Blick auf die stattliche Reihe von Simenon-Romanen und dachte: Dann wäre mein gesamtes Gardner-Studium umsonst. „Ich wollte Ihnen nur einen Tip geben.“
„Nett von Ihnen, Kommissar. Aber seien Sie ganz beruhigt: Die Harrison-Brüder lasse ich kurz über die Schulter rollen, einen wie den anderen.“ „Bloß gut, daß die Jungs dabei nicht besonders tief fallen. Wollte Sie nur warnen, Oakins. Also, alles Gute weiterhin!“ „Ihnen auch, Kommissar.“ Oakins brauchte fast eine halbe Stunde, ehe er zur Andacht für seine Lektüre zurückfand. Am nächsten Morgen betrat ein junger Mann das Büro. Er war nahezu einen Meter neunzig groß, hatte die Schultern eines Lastträgers und den herzerfrischenden Blick eines Zehnjährigen, dem man ein Dutzend Matchbox-Spielautos geschenkt hat. Er verneigte sich mit mäßiger Grazie und murmelte seinen Namen. „Mister Frank Coppard“, erwiderte Oakins, „die Detektei Oakins steht zu Ihren Diensten. Haben wir uns nicht schon einmal gesehen?“ Coppard stieß schnaufend die Luft aus. „Vor einer Woche.“ „In einer Feldscheune am Aldenham-Reservoir, nicht wahr?“ Coppard hob die Hände zu einer hilflosen Geste. „Ich möchte Detektiv werden.“ Oakins warf sich gegen die Sessellehne und brach in ebenso vergnügtes wie höhnisches Gelächter aus. „Erst stürzen Sie mit einer Mistgabel auf mich los, dann wollen Sie bei mir in die Lehre gehen?“ „Ich hab’ nicht gewußt, wer Sie sind. Der Kerl, der mich angestiftet hat, hat mir nicht die Wahrheit erzählt. Ich dachte, Sie wären ein Gangster.“ „Wie lange haben Sie da draußen gelegen?“
„Bis zum nächsten Morgen. Da endlich kam jemand.“ Oakins überlegte: Schickten Harrisons Söhne ihm diesen Flegel erneut auf den Hals? Hatten sie ihre Taktik gewechselt? Aber so primitiv würden sie wohl nicht sein. Wie auch immer, brauchen konnte er Coppard auf keinen Fall. „Sie wollen also Detektiv werden“, fuhr er spottend fort, „warum bleiben Sie dann nicht bei William Harrison?“ „Weil Sie besser sind.“ Ein warmherziges Gefühl für den jungen Riesen wollte in Oakins aufsteigen, aber er zwang sich zu kalter Sachlichkeit. „Was glauben Sie, wie viele Detektive in London sehnlichst wünschen, etwas anderes gelernt zu haben? Nun wollen Sie die Konkurrenz noch verstärken? Wahrscheinlich leben Sie von den Zinsen Ihres Vermögens und können es sich leisten, einem Hobby zu frönen?“ „Quatsch“, sagte der junge Mann mit plötzlicher Respektlosigkeit. „Ich bin vom Gymnasium geflogen, weil ich einen Pauker, der mir blöd kam, über die Bank geschnippt habe. Man hat nicht umsonst Judo trainiert. Nun hat mein Alter angeordnet, daß ich ein Jahr lang meinen Unterhalt selbst verdienen soll.“ Oakins röchelte vor Vergnügen. „Der göttlichste Spaß, der mir untergekommen ist. Oakins leistet sich einen Lehrling. Lieber junger Freund, ich habe James Harrison seine berühmte Kartei abgekauft, das hat mich ein Vermögen gekostet, und diese Kartei ist so viel wert wie fünfzig Mitarbeiter.“ Er stand auf und ging um den Schreibtisch herum, Coppard erhob sich höflich. „Jedenfalls, Mister Coppard, habe ich mich
gefreut.“ Oakins schlenderte auf den langen Burschen zu, sah, daß dessen rechtes Bein ein wenig nach vorn gestellt war, und entschloß sich, es mit einem O-SotoGari zu versuchen. Er stellte sein linkes Bein neben den Hünen, schlug Coppards rechtes Bein in Höhe der Kniekehle weg und drückte mit Schultern und Armen gegen dessen Oberkörper. Coppard grunzte überrascht und setzte zu etwas an, das Oakins fälschlicherweise für einen Ko-Uchi-Gari hielt. Aber ehe er sich versah, hatte sich Coppard zum Uki-Goshi eingedreht, hob Oakins aus, und nur dessen Gewandtheit im Fallen war es zu verdanken, daß er relativ elegant abrollte und verblüffend plötzlich wieder stand. Coppard wagte ein schüchternes Lächeln zu Oakins hinunter, der seine Wildlederjacke glattzog und sich mit dem Kamm durchs fahlblonde Igelhaar fuhr. Oakins sagte: „Das war eine kleine Prüfung, ob Sie auch mit einem schwereren Kaliber als einem unterbezahlten Lehrer fertig werden. Trotzdem sollten Sie sich umsehen, ob auf dem Fischmarkt von Billingsgate Träger gebraucht werden. Immerhin können Sie mir Ihre Adresse dalassen. Einen Wagen besitzen Sie?“ „Leider nicht.“ „Merken Sie sich: Bereift sein ist alles!“ Frank Coppard schrieb Adresse und Telefonnummer auf und verschwand, Harriet Flaherty starrte ihm begeistert nach. Nachdem sich die Tür geschlossen hatte, sagte Oakins: „Nun machen Sie nicht Augen wie ein Schellfisch! Bei einem Mann kommt es vor allem auf das an, was unter der Schädeldecke ist, und das scheint bei diesem Riesenbaby noch ein wenig flüssig zu sein.“
Der Tag verlief ohne Aufregung und Auftrag. Oakins schickte seine Sekretärin früher als gewöhnlich nach Hause und kämpfte gegen das Gefühl an, daß es womöglich ein Fehler gewesen war, das spesenarme Leben eines einsamen Detektivs aufzugeben und sich in dieses Büro einzukaufen. Er raffte sich auf: Erst wenige Tage saß er hier, er sollte die Flinte nicht so schnell ins Korn werfen. Emsig las er in seiner Kartei. Es war fast dunkel, als er sein Büro abschloß. Er bestieg einen Omnibus, und mit der stets wachen Aufmerksamkeit, die er sich anerzogen hatte, ließ er seinen Blick über die übrigen Fahrgäste schweifen. Ihm gegenüber saß ein kräftiger Mann mittleren Alters, auf dessen Schoß ein schmales rechteckiges Paket lag. Oakins überlegte, was darin sein könnte, ein zusammengelegter Anzug vielleicht, den der Mann vom Schneider nach Hause trug? Sein Blick glitt nach oben und traf auf Augen, die auf ihn gerichtet waren – sein Gegenüber, mutmaßte Oakins, kannte ihn. Das war kein Wunder: Sein Bild war in allen Zeitungen abgedruckt gewesen, nachdem er eine Leiche gefunden und Kommissar Varney einen spektakulären Erfolg ermöglicht hatte. Dieser Mann also hatte ihn erkannt – aber standen nicht Argwohn und rasch aufflackernde Furcht in diesen Augen? Senkten sich nicht ein wenig zu rasch die Lider? Dieser Mann, sann Oakins, besaß nicht das reinste Gewissen, da war allerlei faul, da sollte ein Detektiv einhaken, wenn auch noch keineswegs zu ersehen war, auf welche Weise ein Verdienst herausspringen konnte. Vielleicht hatte sich Oakins getäuscht: Ein Verfolgter brauchte Hilfe und ging mit sich zu Rate, ob er den berühmten Detektiv um Beistand bitten sollte?
Drei Haltestellen weiter stieg der Mann aus. Oakins folgte ihm und hatte Mühe, den Anschluß nicht zu verpassen, als der Mann in eine Seitenstraße einbog und seine Schritte beschleunigte. Hier brannten weniger Laternen, gingen weniger Menschen. Oakins begann zu zweifeln, ob sein Unternehmen einen Sinn hatte, und wäre bald umgekehrt, wenn er nicht, als er um die. Ecke bog, in eine Faust hineingelaufen wäre. Mit einem dumpfen Stöhnen setzte er sich aufs Pflaster. Durch eine Seitenwindung seines Hirns huschte der Gedanke, wie gut es wäre, jetzt den jungen Judoriesen neben sich zu haben, er hörte sich rasch entfernende Schritte, rappelte sich hoch, begann zu rennen und merkte, daß der Schlag nicht allzu schlimm gewesen war. Er kam dem Flüchtenden näher; als er bis auf einen Meter heran war, ließ er sich nach vorn fallen, packte die Beine seines Gegners und hörte mit Befriedigung, wie dieser aus vollem Lauf aufs Pflaster schlug. Er selbst war rasch wieder hoch, wollte sich auf den Mann werfen, als dieser das Knie anzog und Oakins gegen die Brust trat. Das nahm Oakins die Luft, er mußte sich abermals setzen, was merkwürdigerweise nicht sonderlich hart ausfiel. Der Mann flüchtete unterdessen um die nächste Ecke. Mühselig stand Oakins auf; jetzt erkannte er, worauf er gesessen hatte: Es war das Paket, das der Schurke auf seinem Schoß gehalten hatte. Er nahm es mit nach Hause. Vor dem Spiegel im Bad sah Oakins, daß sein Kinn geschwollen war. Er wusch sich, beseitigte den gröbsten Schmutz von Mantel und Hose und schnürte das Paket auf. In Holzwolle und Seidenpapier lag das Porträt eines alten Herrn, dem wallendes Haar über die
Schultern fiel, der einen hohen Kragen trug und finster und wachsam aus schmalen Augen den Beschauer anblickte. Oakins drehte das Bild um, auf einem Schildchen las er: „William Dobson: Sir Peter Abrahams. Kopie.“ In mißlichen Gedanken aß Oakins Abendbrot – Fromage Fondue, Pumpernickel und Apfel –, und obwohl er an diesem Tag einen kleinen Judokampf und eine blamable Prügelei hinter sich gebracht hatte, ließ er doch nicht von seiner Gewohnheit: Er nahm den Expander vom Haken und absolvierte das übliche Repertoire. Am nächsten Morgen suchte er in seiner Kartei vergeblich den Namen Dobson. Er fuhr in die City, ließ sich in einer Bibliothek ein Künstlerlexikon geben und fand dieses: „William Dobson, 1610-1646, ist einer der bedeutendsten in England geborenen Porträtmaler. Er wurde von van Dyck gefördert und nach dessen Tod zum königlichen Hofmaler ernannt. An seinen Bildnissen ist der charakteristische Ausdruck zu rühmen.“ Allerlei wurde noch über Dobsons Maltechnik berichtet, die wichtigsten seiner Bilder wurden aufgezählt. Oakins las: „Sir Peter Abrahams, Tafelgemälde, 36 x 28 cm, Victoria- und AlbertMuseum.“ Dorthin machte er sich auf. In einem Flügel des Museums kicherte eine Mädchenklasse. Oakins schlenderte von Bild zu Bild und fand, was er suchte: Sir Peter Abrahams musterte ihn kritisch und argwöhnisch, lang und dicht fiel ihm das Haar über die Schultern. Es bestand kein Zweifel: Der Mann, der das Bild kopiert hatte, war dem Gemälde nur in Äußerlichkeiten gerecht geworden. Dieses Gesicht hier war lebenswarm, auf dem Stoff
lagen Lichttöne, die ihn plastisch schimmern ließen, das sah sogar Oakins, der Laie. Dobson war ein Künstler gewesen, sein Nachahmer ein Stümper. Oakins betrachtete unaufmerksam noch einige Bilder, wurde von der Mädchenklasse fast eingeholt und floh auf die Straße. Während er zu seinem Büro zurückfuhr, ging ihm das merkwürdige Verhalten des Mannes, der die Kopie bei sich getragen hatte, nicht aus dem Sinn. Am Nachmittag klingelte das Telefon. „Dort Pat Oakins persönlich? Einer meiner Mitarbeiter hat gestern eine Dummheit begangen, Sie wissen, was ich meine. Mister Oakins, Sie können sich etwas darauf einbilden, daß bereits Ihr Anblick Angst und Schrecken verbreitet.“ „Mit wem spreche ich?“ „Kopieranstalt Delafield. Wann kann ich das Bild abholen?“ „Morgen früh, ich habe es jetzt nicht hier. Übrigens ist mein Mantel verschmutzt und muß zur Reinigung. Mit den Hosen steht es nicht anders.“ „Gut, ein Pfund als Entschädigung?“ „Zwei Pfund. Morgen früh neun Uhr. Bitte seien Sie pünktlich.“ Oakins suchte in seiner Kartei den Namen Delafield, fand ihn nicht, zog vergeblich Telefon- und Branchenadreßbuch zu Rate. Nach einiger Überlegung rief er Frank Coppard an. „Wie war’s auf dem Fischmarkt? Ich hätte morgen was für Sie, simple Beschattung. Bloß sind Sie ein zu auffälliger Typ.“ „Ich könnte meinen kleinen Bruder Bob mitbringen?“ „Was verstehen Sie unter klein?“ „So eins siebzig. Er ist vierzehn.“
Dort, wo in Oakins der Neid seinen Sitz hatte, krampfte sich etwas zusammen, dennoch klang seine Stimme leichthin: „Kommen Sie acht Uhr. Mit Hut oder Mütze, der Bruder auch.“ Die Brüder waren pünktlich. Bob war wesentlich kleiner als Frank, wiewohl immer noch groß für sein Alter, seine Schultern waren längst nicht so breit, sein Blick war wacher und kritischer. „Meine Herren“, begann Oakins, „wir haben eine halbe Stunde Zeit, in der ich versuchen will, die Grundbegriffe der Beschattung zu erläutern.“ Es gelang ihm, in diesem kleinen Seminar eine Reihe von Regeln begreifbar zu machen: Wenn sich der Verfolgte umblickte, durfte man ihm nicht in die Augen schauen, durfte nie stehenbleiben oder versuchen, sich zu verbergen. Man mußte gelegentlich eine Kopfbedeckung auf- oder absetzen, den Mantel öffnen, die Jacke über den Arm nehmen, den Kragen hochschlagen. Übernahmen zwei die Verfolgung, durfte immer nur einer das Objekt im Auge behalten, der andere blieb in unsichtbarem Abstand; dann und wann wurde gewechselt. Bob stellte hin und wieder eine Zwischenfrage, Frank stand staunend und glücklich dabei. „Der Dienst beginnt“, schloß Oakins. „Gegen halb zehn wird ein Mann das Haus verlassen, der dieses Paket unter dem Arm trägt. Ich muß wissen, wie er heißt und wo er wohnt. Erfolgsprämie: Pro Mann ein Pfund.“ „Und wenn der Mann mit einem Wagen kommt?“ „Ich wäre mit der Nummer zufrieden.“ Die Brüder Coppard gingen; Oakins nahm neben der Tür ein Bild vom Haken, zog aus einer Maueröffnung eine Kamera heraus, setzte einen Film ein und stellte einen Mechanismus ein, der die Gewähr bot, daß die
Person, die als nächste durch die Tür trat, fotografiert wurde. Er packte das Gemälde aus, blätterte in den Morgenzeitungen und war mit seinen Gedanken beim Maler Dobson, dem nervenschwachen Paketträger im Omnibus und dem Kopieranstaltbesitzer Delafield, von dem das Adreßbuch nichts wußte. Wenige Minuten nach neun trat ein Mann durch die Tür, der etwa dreißig Jahre alt und von dem landläufigen Äußeren eines Angestellten, Lehrers oder Vertreters war. Sein Haar zeigte fahles Braun, sein Gesicht war schmal, ohne hager zu sein, seine Stirn war weder zu niedrig noch seine Nase zu groß oder sein Kinn zu vorspringend. „Delafield“, sagte der Mann; sein Blick blieb an dem Bild hängen, das auf dem. Schreibtisch lag. „Ich muß Sie für meinen Angestellten um Entschuldigung bitten. Ein Bote – was wollen Sie schon für Intelligenz erwarten. Er erkennt Sie und dreht durch. Vielleicht hat er seiner Schwiegermutter ein paar Handtücher gestohlen.“ „Die Presse und gewisse Groschenhefte sind schuld; sie haben den Detektiv zum Teil lächerlich, zum anderen furchteinflößend dargestellt und so die Phantasie der Leute vergiftet.“ Delafield nahm das Bild auf. „Das gute Stück hat nicht gelitten, das ist die Hauptsache. Das heißt, so gut ist es nun auch wieder nicht: eine Kopie.“ „Trotzdem solide Arbeit. Ich kenne das Original, bei einem meiner Besuche im Viktoria- und AlbertMuseum vor einigen Wochen betrachtete ich es wieder einmal mit Freude.“ „Oh, ich habe einen Kenner vor mir!“ „Einen Interessenten zumindest.“
Einige Floskeln wurden noch gewechselt, Delafield packte das Bild ein, legte zwei Pfundnoten auf den Tisch und verabschiedete sich. Oakins nahm die Kamera aus dem Versteck neben der Tür. Im Alkoven entwickelte er den Filmstreifen, vom besten Bild machte er einige Vergrößerungen. Er war damit fast fertig, als Frank Coppard anrief. „Der Mann mit dem Paket ist Angestellter in Freemans Reisebüro. Jetzt verhandelt er mit Kunden.“ „Gut gemacht. Hat er euch bemerkt?“ „Glaube nicht, Chef.“ „Ihr könnt euch die zwei Pfund abholen.“ Wahrscheinlich, dachte Oakins mißmutig, ist das rausgeschmissenes Geld. Das Wochenende kam heran, Oakins füllte seinen Kühlschrank, wobei er keineswegs Saint-Nectaire, Crème de Gruyère und Père Ernest vergaß. Am Sonntagmorgen blieb er lange liegen, las Aufschlußreiches über den Tomeo-Nage, den Kopfwurf, und vertiefte sich wieder in die Käsewissenschaft. „Der Saint-Nectaire“, erfuhr er, „wird in den Bergen der Auvergne hergestellt; sein Name erinnert an ein berühmtes Thermalbad. Er ist ein Käse von eigenartigem, charakteristischem Geschmack, dessen Gewicht zwischen 1,5 und 1,8 kg variiert. Seine halbweiche Masse wird von einer rötlich bis fahlgelb gefleckten Kruste umschlossen.“ Voller Vorfreude schloß Oakins die Augen, leider aber begannen seine Gedanken, die mißliche Lage seiner Firma zu umkreisen. Ehe er sich seinem Frühstück hingab, dachte er noch: Vielleicht sollte er doch einmal Varney anrufen und um einen Auftrag bitten?
Das war eine Sonntagmorgenstunde, wie Kommissar Varney sie liebte. Er hatte ausgeschlafen, saß mit seiner Familie beim Frühstück. Man hatte Zeit, der Tisch war mit Sorgfalt gedeckt: Ei, Schinken, Honig, Butter, Fisch standen darauf, mit leisem Klicken sprang eine frischgeröstete Weißbrotscheibe aus dem Toaster. Varney ließ sich eine zweite und dritte Tasse Tee einschenken, nahm noch einmal Butter und Honig. Er würde diesen Sonntag über zu Hause bleiben müssen, denn er befand sich in dienstlicher Bereitschaft; er hatte also Zeit, sich mit seiner Frau und seinen Kindern zu unterhalten. Wie ging’s in der Schule? In der Klasse der Tochter wurde der Hundertjährige Krieg behandelt, der Seekrieg bei Sluis, die Schlachten von Crecy und Maupertius. Die Tochter stöhnte, Geschichte war so gar nicht ihr Fach. Die Kinder machten sich ans Abräumen, Varney griff zu den Zeitungen. Ein Windstoß trieb Regenfetzen gegen die Scheiben. „Fürchterlich“, sagte seine Frau. „So ging es die ganze Nacht. Ich bin um zwölf extra aufgestanden und habe das Badfenster geschlossen.“ Varney las: Noch immer verstärkte Goldkäufe infolge der Pfundabwertung, eine amerikanische Firma hatte sich entschlossen, die zweitbekannteste Brücke Londons, London-Bridge, die dem modernen Verkehr nicht mehr genügte, abzumontieren, Stück für Stück über den Atlantik zu transportieren und irgendwo im Mittelwesten wieder aufzubauen. Die Summe, die bezahlt wurde, war stattlich, trotzdem erfüllte dieses Geschäft Varney wie jeden Briten mit Wehmut. Das Telefon klingelte. Varney hob den Hörer ab; Boston, sein Assistent, meldete sich. „Eine Leiche in
einem Hausflur in der Nähe des Paddington-Bahnhofs. Kopfschuß. Soll ich einen Wagen schicken?“ „Meiner steht vor der Tür. Wo sind Sie jetzt?“ „Noch im Yard. Ich trommle den Stab zusammen.“ „Also bis gleich.“ Varney legte auf. Matt sagte er zu seiner Frau: „Ich muß fort. Man hat jemanden erschossen.“ An diesem Sonntagmorgen lagen die Straßen ruhig, Varney kam schnell voran. Der Regen hatte inzwischen aufgehört. Vor dem Paddington-Bahnhof standen drei Wagen von Scotland Yard, ein Fahrer wies die Richtung, in einer Seitenstraße hielt Varney hinter einem Rotkreuzwagen, aus dem zwei Männer eine Trage hoben. In einem Hausflur beugte sich ein Arzt über eine Leiche, sagte: „Einschuß im Hinterkopf, offenbar aus nächster Nähe, Haare und Kopfhaut sind versengt. Die Kugel steckt noch im Schädel, der Mann war sofort tot.“ Varney blickte auf den Toten hinab, der mit dem Gesicht auf einer Treppenstufe lag, der Ärmel hatte Putz von der Wand gestreift. Jemand zog mit Kreide nach, wie die Leiche lag; sie wurde auf die Trage gehoben und hinausgetragen. Varney fragte: „Wer hat den Toten gefunden?“ Ein Mann räusperte sich, er trug eine Strickjacke, die falsch geknöpft war, Pantoffeln und eine ausgebeulte Hose. „Ich heiße Shann und wohne gleich über dem Hausflur. Ich hab’s knallen hören, aber ich habe nicht gedacht, daß einer totgeschossen wird. Konnte ja auch ‘n Feuerwerkskörper sein.“ „Wann war das?“ „Ich hab’ nicht auf die Uhr geschaut, es war mitten in der Nacht, alles war ruhig sonst. Nach dem Schuß wurde die Tür zugeworfen, das war alles. Ich hab
weitergeschlafen, und als ich vorhin herunterkam, sah ich den Toten.“ „Mister Shann, einer unserer Mitarbeiter wird dann ein Protokoll machen.“ Varney ging auf die Straße hinaus, der Rotkreuzwagen mit dem Toten fuhr eben ab. Assistent Boston kam nach und sagte: „Der Tote hatte nicht nur Kalk von der Wand am Ärmel, sondern auch auf dem Rücken. Beim Zusammensinken kann er den nicht abgewischt haben.“ „Ich glaube, hier ist nicht mehr viel zu tun.“ Sie fuhren zum Yard und standen dabei, als dem Toten die Taschen ausgeräumt wurden. Nichts wurde gefunden, das den Namen des Mannes offenbart hätte, kein Ausweis, kein Brief. Sie betrachteten das Gesicht des Toten, und Boston notierte für das Protokoll: Scheinbares Alter 29 bis 32, schmales ovales Gesicht, bartlos, mittelbraunes, kurzgeschnittenes Haar, Zähne ebenmäßig und vollständig. Varney ging in sein Zimmer hinauf. Er rief seine Frau an: Er würde nicht zum Mittagessen kommen und konnte nicht sagen, ob er zum Abendessen zu Hause war. Eine Stunde später lag ein erster Bericht vor. Der Tote war von einem Geschoß aus einer belgischen Pistole getroffen worden, 7,65 FN, die Schußentfernung hatte etwa einen Meter betragen, das Geschoß hatte den obersten Halswirbel zertrümmert und war im Schädel oberhalb des Haaransatzes steckengeblieben. Vorher hatte offenbar ein Kampf stattgefunden, der Mantel des Toten war am Kragen eingerissen. Boston sagte: „Der Mann hat gegen mindestens zwei Gegner gekämpft. Sonst wäre er nicht in den Hinterkopf getroffen worden.“
Varney las den Bericht zu Ende. „Unter den Nägeln des Zeige- und Mittelfingers der rechten Hand wurde getrocknete graubraune Ölfarbe entdeckt.“ Varney fragte: „Dort, wo sich der Kampf abgespielt hat, gab es da graubraune Ölfarbe?“ „Ich kann mich nicht erinnern. Man sollte noch einmal nachschauen.“ Man sollte dies, sollte das, es war wie immer in den ersten Stunden beim Aufklären eines Falls. Man mußte alles tun, was immer wieder erprobt war, und mußte versuchen, trotz aller Routine schon jetzt herauszuspüren, was an diesem Fall das Besondere, das zur Klärung Führende war. Varney wußte: Boston war ein bis zur Pedanterie sorgfältiger Mitarbeiter, unablässig bemüht, seine Kenntnisse zu erweitern, ein Bücherwurm, ein wunderbarer zweiter Mann. Boston sagte: „Ich fahre noch einmal an den Tatort. Graubraune Ölfarbe – ich müßte mich wundern.“ An diesem Sonntag wurde nicht mehr viel ermittelt. Die Gerichtsmediziner präzisierten die Tatzeit: zwischen zwölf und ein Uhr nachts. Boston erklärte, Farbe der Art, wie sie unter den Fingernägeln gefunden worden war, gab es nicht im Hausflur, nicht an der Haustür, nicht an der Treppe oder am Geländer. Abends las Varney das Protokoll, das über die Aussage von Shann gemacht worden war. Darin stand, daß die Haustür während der Nacht nicht immer verschlossen war; es wohnten junge Burschen im Haus, die zu faul oder zu liederlich waren, die Haustür beim nächtlichen Nachhausekommen abzuschließen. Es war also möglich, daß der Ermordete und seine Mörder nur in den Flur getreten waren, um etwas darin zu besprechen. „Machen wir Schluß für heute“, sagte
Varney. „Schlafen wir uns aus, wahrscheinlich geht morgen der Tanz richtig los.“ Am nächsten Morgen erschien das Bild des Ermordeten in den Zeitungen. Noch vor sieben Uhr erfolgte die erste telefonische Angabe, dann mehrten sich die Anrufe von Kollegen, ehemaligen Mitschülern, Verwandten und Bekannten: Der Tote hatte John Baxter geheißen und war Angestellter von Freemans Reisebüro gewesen. Varney fuhr sofort zu diesem Büro. Auf den Gesichtern der Angestellten lag der gespannte, aufgeregte Zug, der allen eigen ist, die an ein öffentliches Ereignis herangerückt werden und das nicht gewöhnt sind. Ein Mädchen gab einem Zeitungsreporter das erste Interview ihres Lebens: Baxter war ein hilfsbereiter Kollege gewesen, immer freundlich, lustig, zu Streichen aufgelegt. Beim letzten Betriebsausflug hatte er alle fortwährend zum Lachen gebracht. Und Baxter war immer bemüht gewesen, seine Kenntnisse zu erweitern: Er sprach das beste Französisch von allen Angestellten, ja. Varney zeigte seine Marke, bat, den Geschäftsführer sprechen zu dürfen. Er wurde in ein Büro geleitet, dort saß ein dünner ältlicher Mann, er hatte die gelbliche Gesichtsfarbe eines Gallenkranken und riesige Tränensäcke. Der Geschäftsführer zitterte vor Zorn: Es war eine abgrundtiefe Gemeinheit, einen so jungen, begabten Mann mir nichts, dir nichts umzuschießen. Ein nicht zu ersetzender Kenner französischer Kurorte, gewandt im Verhandeln mit Hotelbesitzern, immer auf der Suche nach Möglichkeiten, den Tourismus zu beleben. „Eine junge Frau, ein Kind – und dann das!“ „Sie haben recht, es ist furchtbar, und Sie können versichert sein, daß wir alles tun werden, den oder die
Mörder zu fassen. Wissen Sie, ob Baxter Feinde hatte? Schulden? Eine Geliebte? Kostspielige Hobbys?“ Der Mann schüttelte den Kopf, sein Mund wurde noch bitterer: „Baxter hatte in diesem Haus nicht einen einzigen Feind. Er .verdiente gut, eigentlich müßte er mit seinem Gehalt ausgekommen sein. Sein Hobby: Er malte. Das kann doch nicht so ins Geld gehen, oder?“ „Er malte in Öl?“ „Einzelheiten kenne ich nicht.“ Eine halbe Stunde lang saß Varney noch in diesem Büro. Er hörte nichts mehr, das ihm wichtiger gewesen wäre als der Hinweis auf Baxters Steckenpferd. Anschließend fuhr er zum Yard; seine Sekretärin sagte: „Bitte zum Chef!“ Inspektor Sheperdson, ein sich sehr gerade haltender Sechziger, der bestangezogene Mann des Hauses, empfing ihn sofort. Varney konzentrierte sich bei seinem Bericht auf das Wichtigste, Sheperdsons Zwischenfragen waren präzis wie immer, ein kleiner Monolog folgte: Leute, die berufsmäßig zwischen mehreren Ländern hin und her reisten, waren anfällig für Schmuggel von Rauschgift, Diamanten und Devisen; Geheimdienste machten sich mit Vorliebe an sie heran. Varney dachte: Klugscheißerei, aber er nickte. Sheperdson hob die Hand wie ein segnender Papst: „Lassen Sie sich nicht aufhalten!“ Das war die Zeit, da sich Oakins von Harriet Flaherty die Morgenzeitungen geben ließ. Er blätterte im Sportteil des „Herald Tribune“, da wurde die Tür geöffnet, und drei Herren marschierten herein, zwei davon kannte er, es waren Sam und William Harrison.
Auch der Mund des dritten war schmallippig – Oakins legte die Zeitung weg und sagte: „Die HarrisonBrüder, siehe da. Und nicht einer kommt auf die Idee, man könnte anklopfen, wenn man ein fremdes Zimmer betritt.“ „Fremdes Zimmer?“ Sam schaute sich um. „Wenigstens haben Sie nichts verändert, Oakins. Man kann Ihnen allerhand vorwerfen, mangelnde Pietät vorläufig nicht. Das Zimmer, in dem unser Vater sein Leben lang gewirkt hat!“ Seine Stimme sank ab wie die eines Museumsführers, der die bergende Hülle vom Kleinod des Hauses zieht. „Das Harrison-Zimmer.“ „Nun übertreiben Sie nicht! Glauben Sie nicht auch, daß man in kurzer Zeit nur noch vom Oakins-Zimmer sprechen wird?“ William Harrison warf ein: „Wir wollen uns nicht streiten, Oakins. Sam und ich sind Ihnen bekannt, ich darf Ihnen unseren jüngsten Bruder, Pit Harrison, vorstellen. Wir sind in durchaus friedlicher Absicht hier.“ „Sie haben Ihre Mistgabeln diesmal auf dem Gang abgestellt?“ „Mister Oakins, es sind Fehler gemacht worden, wir geben es zu. Aber wir sind hergekommen, um das Kriegsbeil zu begraben.“ Harriet Flaherty nahm den Herren Hüte und Mäntel ab, die Brüder nahmen Platz, der Älteste ergriff das Wort. „Mister Oakins, Ihnen als Kenner der Materie dürfte nicht verborgen geblieben sein, daß wir Söhne des großen James Harrison nicht immer an einem Strang gezogen haben. Diese Periode ist vorbei. Gestern hat eine Konferenz stattgefunden, in der wir unsere Interessengebiete abgesteckt und als Fernziel
eine Union, vielleicht sogar eine Fusion unserer Detekteien ins Auge gefaßt haben.“ „Einigkeit“, murmelte William, „Einigkeit.“ „Bruderhände wurden ausgestreckt“, setzte Pit fort, „Bruderhände wurden ergriffen.“ Oakins paßte sich diesem Ton an: „Mir kommen die Tränen. Wenn Ihr Vater im fernen Süden das wüßte!“ „Wir haben ihm ein Telegramm geschickt.“ Sam blickte William und Pit an, sie nickten ihm zu. Sam wandte sich wieder an Oakins: „Mister Oakins, auf unserer Versöhnungskonferenz haben wir den weittragenden Beschluß gefaßt, Sie von unserem erhabenen Werk der Brüderlichkeit nicht auszuschließen. Wir alle wissen, daß der Staat in immer stärkerem Maße den Tätigkeitsbereich des freien Detektivs einschnürt. Wann fallen für uns schon einmal Aufträge ab? Wir werden ins Zwielicht gedrängt, bald haben wir allen Glanz verloren, wenn wir nicht vereint gegen diese Tendenz ankämpfen.“ Oakins verschränkte die Arme über der Brust. „Ich höre noch immer!“ „Mit einem Wort, Mister Oakins, wir bieten Ihnen den Zusammenschluß unserer vier Detekteien an!“ Oakins riß die Arme hoch und stieß ein brüllendes Lachen aus. Er tat so, als bekäme er keine Luft, in unbändigem Vergnügen röchelte er: „Meine Herren, Sie glauben wirklich, daß ich, wenn ich drei Angestellte brauchte, ausgerechnet Sie einstellen würde?“ William erwiderte: „Es war nicht die Rede davon, daß Sie uns anstellen sollten. Als gleichberechtigte Partner wollten wir…“ „Gleichberechtigt?“ Oakins zwang seiner Stimme den schneidenden Ton ab, den er immerzu ersehnte,
und der ihm so selten gelang. „Welche Art von Karteien besitzen Sie? Was bringen Sie ein in diese Union? Nichts, meine Herren, außer alten Stühlen und einem ramponierten Ruf! Durch die Hintertür versuchen Sie, die berühmte Kartei, die Ihr Vater in die rechten Hände gab, wieder an sich zu bringen. Aber ich sage Ihnen, daraus wird nichts!“ Sam verlegte sich aufs Handeln. „Soll nicht Ihr Schade sein, Oakins! Sie bringen die Kartei, wir schießen jeder einen Barbetrag ein, um von vornherein gleiche Bedingungen zu schaffen.“ „Und wer wird Chef?“ „Das bestimmen wir in gleicher, freier und geheimer Wahl.“ „Könnte wetten, daß mit drei Stimmen gegen eine Stimme Sam Harrison gewählt wird! Meine Herren, Ihr Vorschlag ist so durchsichtig, daß ich ein Narr sein müßte, wollte ich ihn nur erwägen.“ Pit Harrison sagte gefährlich leise: „Oakins, wir wissen, daß Ihnen das Wasser bis zum Hals steht!“ William fügte hinzu: „Oakins, wollen Sie den Kampf?“ Oakins beschloß, der Szene ein Ende zu setzen. „Meine Herren, in wenigen Minuten erwarte ich einen Klienten, ich möchte nicht, daß er Sie hier antrifft. Sie verstehen: Ich bin auf den Ruf meiner Firma bedacht, Fräulein Flaherty, Sie wollen bitte die Herren hinausbegleiten.“ Steif erhoben sich die HarrisonBrüder, ihre Lippen schienen nicht breiter als Messerrücken zu sein. In der Tür zischte Sam: „Also Kampf, Oakins, Kampf!“ Da hatte sich Oakins schon wieder seinen Zeitungen zugewandt.
Die Erregung sackte ab, Oakins sonnte sich im Gefühl des Siegers, der seine Feinde zu Paaren getrieben hat. Er las Vorschauen auf die Fußball Ansetzungen des kommenden Spieltages, schlug den lokalen Teil auf – da stieß er auf das Bild des Ermordeten. Er zog die Fotos zu Rate, die sein neben der Tür eingebauter Apparat vom angeblichen Delafield gemacht hatte – kein Zweifel, der Zufall hatte ihn eng an den Tätigkeitsbereich von Scotland Yard herangebracht. Entschlossen zog Oakins den Reißverschluß seiner Wildlederjacke hoch und verließ das Büro. Er fuhr zum Yard, ließ sich bei Varney melden und wurde sofort vorgelassen. Varney und Boston standen über ein Schriftstück gebeugt, Varney sagte: „Ich habe wenig Zeit, Oakins, bin an einem frischen Fall. Was gibt’s?“ „Der Tote heute morgen in den Zeitungen war Angestellter des Reisebüros Freeman.“ „Und hieß John Baxter und hatte Frau und Kind und sprach Französisch und betrieb als Hobby die Malerei – was wissen Sie außerdem?“ Oakins ärgerte sich, daß Varney seine Überlegenheit so rücksichtslos hochspielte. Er hätte es sich denken können: Auf Grund des Zeitungsbildes mußte Varney längst wissen, wie der Tote geheißen hatte, und natürlich arbeitete nun der Apparat. Ihm lag schon auf der Zunge zu sagen, daß er außerdem allerhand wüßte, und fast hätte er die Bilder aus der Tasche gezogen, die seine Kamera von Baxter gemacht hatte, doch da sagte Varney: „Schade, Oakins, aber ich habe in dieser Sache keine Verwendung für Sie.“ Varney hatte den Blick schon wieder auf den Bericht des Gerichtsmediziners gesenkt, an dem dieses neu war:
Die Knöchel an der rechten Hand des Toten waren blutunterlaufen; er mußte zugeschlagen haben, ehe er umgebracht worden war. In Oakins stieg Zorn hoch. Das war also der Dank dafür, daß er die Leiche in den Mendip-Hügeln gefunden hatte – ohne seine Hilfe würde Varney wahrscheinlich jetzt noch dem Doppelmörder Graham hinterherlaufen. Aber so war es: Die Bullen vom Yard fühlten sich als Götter, und ein Privatdetektiv mußte dankbar für die Brosamen sein, die von ihrem Tisch fielen. Sollte Varney allein weiterwursteln – er würde ihm jedenfalls die interessanten Umstände um ein Gemälde des Malers Dobson nicht auf die Nase binden. „Schön, ich bin Gott sei Dank nicht mehr auf die Aufträge des Yard angewiesen.“ „Hübsch für Sie“, sagte Varney. Oakins ging hinaus und fuhr mißgelaunt zurück. Vor seinem Schreibtisch hockte Frank Coppard. Oakins sagte: „Nichts zu tun auf dem Fischmarkt?“ „Mich hat gestern einer angequatscht wegen des Kerls, der das Paket abgeholt hat.“ „Dieser Kerl hieß Baxter, und er ist tot. Lesen Sie keine Zeitung?“ Coppards Kiefer klappte töricht nach unten. Oakins schob eine Zeitung mit dem Bild Baxters hin und sagte forsch: „Sie müssen sich daran gewöhnen, daß Sie in unserer Branche öfter über eine Leiche stolpern, als Ihnen lieb ist. Also, wer hat Sie wegen Baxter angequatscht?“ „Da stand einer vor meinem Haus, vielleicht fünfundvierzig, kräftiger Bursche. Er fragte mich, was ich bei Freemans Reisebüro gewollt hätte. Ich hab’
gesagt, ich wüßte gar nicht, wo das liegt. Aber unsicher wurde der dadurch nicht.“ „Da hat also Baxter jemanden bestellt gehabt, der aufpassen sollte, daß ihm keiner nachschlich. Ihr Bruder und Sie haben Baxter beschattet, und dieser Mann hat Sie beschattet. Ich muß mir vorwerfen, Sie nicht auf diese Möglichkeit aufmerksam gemacht zu haben. Was weiter?“ „Wir haben eine Weile hin und her gestritten, dann ist er gegangen. Mein Bruder hat vom Fenster aus eine Aufnahme gemacht.“ „Ihr Bruder scheint ein Talent zu sein. Wo ist das Bild?“ „Wir haben den Film zum Entwickeln gebracht, morgen ist er fertig.“ „Wie sah der Mann aus?“ Coppard besaß keine großen Fähigkeiten, jemanden zu beschreiben, Oakins hatte auch nicht damit gerechnet und sagte: „So kommen wir nicht weiter. Bringen Sie mir morgen das Foto.“ Coppard bückte sich durch die Tür, Oakins saß längere Zeit reglos und schlug sich mit düsteren Gedanken herum. Er war in eine Sache hineingeraten, die ihn schon deshalb nichts anging, weil er nicht die geringste Aussicht hatte, an ihr auch nur ein Pfund zu verdienen. Mordfälle waren die Angelegenheit von Scotland Yard, nicht sein Brot. Trotz aller kluger Gedanken fuhr Oakins am nächsten Morgen wieder zum Albert- und VictoriaMuseum. Er fragte einen Pförtner, ob man eine Genehmigung brauchte, wenn man ein Gemälde kopieren wollte, wurde in ein Sekretariatszimmer verwiesen und sah sich dort einer fülligen Dame
gegenüber, die ihn kritisch musterte, als er sein Anliegen vorbrachte. „Sie sind Maler?“ fragte sie, und Oakins überdachte kurz, daß er mit Wildlederjacke und Rollkragenpullover immerhin wie ein Maler aussehen mochte, obwohl er bartlos war. „Ich bin bemühter Dilettant, ohne größere Ambitionen, male zum Spaß. Das Gemälde von Dobson hat es mir angetan, der alte Sir Peter Abrahams.“ „Nummer siebenhundertelf.“ Die Dame schlug eine Kladde auf. „Die Kopiergenehmigung kostet fünf Pfund.“ „Ist das Gemälde in der letzten Zeit oft kopiert worden?“ „Das bestimmt nicht. Zuletzt von einem Mister Lawton.“ „Ein bekannter Mann?“ „Kaum. Und wie ist Ihr Name?“ „Bennet“, log Oakins. Er blickte über die rundliche Schulter der Dame und sah, daß die Anschrift von Lawton nicht eingetragen war. „Ich komme morgen wieder, ich habe keine fünf Pfund bei mir.“ Oakins wußte: Männer mit dem Namen Lawton gab es in London Tausende. Er aß Mittag in einer Selbstbedienungsgaststätte von Express Dairies und fuhr in sein Büro zurück. Frank Coppard hatte Fotos auf den Schreibtisch gelegt. Oakins sah mit einem Blick: Das war der Mann, der ihn angegriffen und das Bild in seiner Hand zurückgelassen hatte. Wenn die Göttin der Kriminalistik dem Detektiv Oakins ausnahmsweise günstig gesinnt war, hatte dieser Mann den Sir Peter Abrahams kopiert und hieß Lawton. „Keine üble Arbeit.“ Oakins zog eine
Pfundnote aus der Tasche. „Geben Sie die Hälfte Ihrem Bruder.“ „Und die Spesen? Der Film? Die Entwicklungskosten?“ „Und wer bezahlt meine Spesen? Lieber junger Freund, wir befinden uns im selbstlosen Kampf für die Gerechtigkeit!“ Oakins zog den Kasten mit den Karten auf, die sein Vorgänger über alle gesetzesbrecherischen Londoner namens Lawton angelegt hatte. Es waren 36, bei keinem war vermerkt, daß er jemals gemalt hätte. Oakins überlegte, wie er an den Mann, der ihn niedergeschlagen und das Bild in seinen Händen zurückgelassen hatte, herankommen könnte. Durch eine Annonce?
Gemälde mit Einlage
Varney saß vor Sheperdson, seinem Chef, und ließ geduldig einen Vortrag über sich ergehen, obwohl ihm allerhand unter den Nägeln brannte. Er wollte die Frau des ermordeten Reisebüroangestellten Baxter aufsuchen, wollte alles Material durchsehen, was seine Mitarbeiter über diesen Mord in einem Hausflur in der Nähe des Paddington-Bahnhofs zusammengetragen hatten. Wie immer drückte sich Sheperdson nahezu druckreif, leider auch reichlich weitschweifig aus. „Gewiß ist Scotland Yard an der Kartei des alten Harrison interessiert, allerdings müßten wir sie nach einem eventuellen Erwerb neu gliedern, durchsichtiger und modernen Auswahlmethoden zugänglich machen.“ Varney warf ein: „Umprogrammieren.“ „Genau das! Natürlich ist Oakins nicht der Mann, die Kartei auch nur auf dem bisherigen Stand zu halten; in zwei, drei Jahren dürfte sie ihre Universalität eingebüßt haben. Vielleicht sollten wir ein paar tausend Pfund mehr bieten?“ „Sie kennen unseren Schatzmeister.“ Sinnend sagte Sheperdson: „Stolpern lassen.“ „Das wäre unfair.“ „War Oakins uns gegenüber immer fair?“ „Nicht mehr und nicht weniger als andere Privatdetektive. Aber er ist amüsanter. Darf ich mich jetzt meiner Hauptaufgabe zuwenden?“ Sheperdson nickte. „Über die Kartei reden wir andermal.“ Eine Stunde später saß Varney der Witwe des toten John Baxter gegenüber; sie war eine fünfundzwanzigjährige Blondine mit beneidenswert
dichtem Haar. Jetzt waren ihre Augen glanzlos vor Schmerz. Sie hatte die Hände zusammengekrampft und saß steif im Atelier ihres toten Mannes. Varney stand vor der Staffelei, besah ein Schloß mit Türmen und Zinnen und wehender Fahne. „Fast jedesmal“, sagte Frau Baxter, „wenn mein Mann auf einer Geschäftsreise in Frankreich war, hat er ein Gemälde begonnen. Bisweilen wurde er nicht fertig, dann hat er es hier beendet.“ „Malte er auch in Öl?“ „Nur Aquarelle.“ „Hat er verkauft?“ „Aber ja. Seit einem halben Jahr stand er mit einer Galerie in Paris in Verbindung. Man hat dort seine Bilder zu einem passablen Preis abgenommen, bis zu tausend Francs das Stück. Er hat damit in der letzten Zeit mehr verdient als durch seine Anstellung.“ „Wollte er deshalb den Beruf wechseln?“ „Ich habe einmal das Gespräch darauf gebracht, da hat er nur gelacht. Er hätte keine regelrechte Ausbildung, vielleicht wären Aquarelle dieser Art im nächsten Jahr nicht mehr gefragt.“ „Ein vernünftiger Standpunkt. Wissen Sie, wie die Galerie heißt, an die er verkauft hat?“ „Poussin. Er hat mir auch gesagt, wo sie liegt, aber ich habe es vergessen.“ Varney fragte weiter: Hatte der Tote Feinde? War er verschuldet? Hatte er womöglich zuviel Geld ausgegeben für irgend etwas? Wie kam es, daß er zu dieser Nachtstunde in diesem Stadtviertel gewesen war? War er oft erst gegen Morgen nach Hause gekommen?
„Nicht oft, nur wenn er diesen Malzirkel besuchte. Ein Herr Wyld gibt Unterricht in seinem Atelier.“ „Wo wohnt er?“ „In Paddington.“ Sie nannte die Adresse. „Nicht weit davon wurde Ihr Mann erschossen.“ Varney drehte Bilder um, die an die Wand gelehnt waren, besah Fassaden, Mauern, Türme, Wälle. Er blätterte in Mappen, hob eine massive Schatulle auf, fragte, wozu sie benutzt worden war. „Die nahm mein Mann mit, wenn er nach Frankreich fuhr. In ihr brachte er die Bilder unter, in die Tasche an der Seite steckte er die Pinsel.“ Varney strich über das Holz, drückte gegen den Boden, schob eine Pappe hoch, darunter blieb ein zwei bis drei Millimeter starker Zwischenraum, in ihm steckte in einem Plastbeutel ein kleines Ölgemälde, eine römische Landschaft in stark nachgedunkelten Farben. Varney fragte überrascht: „Auch ein Werk Ihres Mannes?“ „Keinesfalls.“ „Ich habe keinen Durchsuchungsbefehl und schon gar nicht die Berechtigung, etwas zu beschlagnahmen. Ich bitte Sie trotzdem, mir diese Schatulle und ihren Inhalt zu überlassen. Vielleicht kommen wir so einen Schritt weiter.“ Frau Baxter nickte. Ihre Bewegungen, als sie Varney zur Tür brachte, waren so, als litte sie unter Gliederschmerzen. Im Yard klappte Varney die Schatulle auf, schob die Pappe hoch und hielt das darunterliegende Gemälde ins Licht. Boston fragte: „Was gefunden?“ „Hoffentlich. Boston, Sie fliegen sofort nach Paris.“
Bostons Gesicht blieb ohne Überraschung oder Begeisterung. „Mein Gott“, sagte Varney, „was sind Sie doch für ein Stück Eis! Fährt es Ihnen nicht in die Glieder, wenn Sie hören: Paris?“ „Ich werde ja wohl nicht zum Vergnügen hingeschickt.“ „Das freilich nicht. Sie sollen in der Galerie Poussin fragen, in welcher Verbindung sie mit Baxter gestanden hat.“ Er erzählte, was er von Baxters Frau erfahren hatte. Boston machte sich seine Notizen. Varney wußte: Wenn man einen Mitarbeiter nach Paris schicken konnte, der sich nicht durch Nachtlokale oder Pferderennen ablenken ließ, dann war es Boston, der wunderbare zweite Mann. Drei Stunden lang sah Varney zu, wie Spezialisten verschiedener Branchen die Schatulle und das darin versteckte kleine Gemälde unter die Lupe nahmen. Am Ende sagte einer: „Mit hoher Wahrscheinlichkeit ein echter Tischbein. Sie wissen: Das war der Maler, der Goethe mehrfach porträtiert hat.“ Varney wußte es nicht, aber er nickte. „Wem gehört das Bild?“ „Das bekommen wir sicherlich in ein paar Stunden heraus.“ Es war schon dunkel, als sich Varney aufmachte, den Maldozenten Wyld zu besuchen. An diesem Abend war der Himmel klar über London, die Luft schmeckte frisch wie selten in dieser zu großen Stadt. Wyld wohnte in einem Haus, das um die Jahrhundertwende gebaut war; an ihm war alles hoch und weit und kalt: der Flur mit seinen Marmorwänden, das Treppenhaus mit den angedunkelten Säulen, die bis zur Decke reichenden Wohnungstüren. An einer von ihnen
klingelte Varney, ein Mann in verschmutztem weißem Kittel öffnete; lange graue Haare standen ihm vom Kopf ab und fielen in den Nacken, über die Ohren und in die Stirn. Varney zeigte seine Marke, Wyld bat ihn in sein Atelier. Dort fragte er: „Sie kommen wegen Baxter? Ich habe von seinem Tod in der Zeitung gelesen und hätte mich beinahe zur Verfügung gestellt. Denn am Abend vor seinem Tod war er bei mir.“ „Warum sind Sie nicht zu uns gekommen?“ „Eine alte Abneigung gegenüber der Polizei.“ Wyld lachte gequält. Varney schaute sich im Atelier um: Es war hoch und geräumig wie alles in diesem Haus, und im Winter mußte es hier vermutlich bitter kalt sein. „Hier halten Sie Ihre Malzirkel ab?“ „Man gibt seine Erfahrungen weiter. Baxter war seit zwei Jahren mein Schüler.“ „Talentiert?“ „Nicht allzusehr.“ „Wann ist er an diesem Abend gegangen, und wer ging mit ihm?“ „Es waren neun Schüler bei mir. Wir besprachen die Komposition der ,Löwenjagd’ von Rubens und betrachteten einen Zyklus von Grafiken eines der Zirkelmitglieder. Gegen elf war Schluß, nur Baxter blieb. Wir gerieten in eine Debatte über Frans Floris, einen Holländer. Akademismus oder nicht, so ging Baxter zehn Minuten nach den anderen.“ Varney überlegte: Höchstens zwei Stunden waren von der angegebenen Zeit an verstrichen, bis Baxter erschossen worden war. „Haben Sie etwas Auffälliges an ihm bemerkt?“
„Er war nicht aufgeregt, nicht furchtsam, zuletzt machte er einen Spaß wie immer.“ „Gemalt hat er nicht an diesem Abend? Vor allem nicht mit Ölfarbe?“ „Niemand hat an diesem Abend gemalt. Und soweit ich weiß, malte Baxter nie in Öl.“ Varney dachte an die Ölfarbe unter den Fingernägeln des Toten. „Sie sind der letzte, der Baxter gesehen hat. Ich könnte mir denken, daß Sie sich bei diesem Gedanken nicht sonderlich wohl fühlen.“ Die Haare des Malers vollführten einen wirbelnden Tanz, die Nase stach aus einem Gesicht heraus, das verzerrt und gelb war vor Wut. „Keine Anspielungen dieser Art, Herr!“ „Regen Sie sich nicht auf, niemand hat Sie verdächtigt. Und legen Sie nicht jedes Wort auf die Goldwaage. Unsereinem geht jetzt zuviel im Kopf herum, als daß er mit jedem Satz pingelig sein könnte. Können Sie mir sagen, wer die übrigen Zirkelmitglieder sind?“ Wyld schnappte nach Luft, dann zählte er auf: Cusack, Leacock, Heaven, Lawton, Macaulay, Segal, Nicholson, Kin, Jenkins. Varney fragte: „Wer malt in Öl?“ „Alle außer Cusack und Heaven.“ „Können Sie mir die Adressen der Ölmaler geben?“ „Nicht von allen.“ „Wann kommen die Herren wieder bei Ihnen zusammen?“ „Am Sonnabend in acht Tagen.“ „Eine lange Zeit bis dahin. Ich werde morgen früh einen meiner Mitarbeiter zu Ihnen schicken, dem
diktieren Sie bitte alles, was Sie über Ihre Schüler wissen. Hatte Baxter Malutensilien bei sich?“ „Wir haben nicht gemalt, deshalb habe ich nicht darauf geachtet. Einige hatten etwas mitgebracht, weil sie nicht genau wußten, was ich an diesem Abend vorhatte. Aber Baxter nicht, soviel ich weiß.“ „Keinen Ärger mehr wegen vorhin, nicht wahr?“ Wyld schnaufte noch einmal, schüttelte sich, daß die Haare bis zum Kinn hinabfielen, murmelte: „Man hat so seine Erfahrungen.“ „Natürlich. Jedenfalls Dank für Ihre Auskünfte.“ Varney fuhr nach Hause, aß ein wenig und legte sich ins Bett. Am nächsten Morgen ging es Schlag auf Schlag. Boston meldete sich aus Paris zurück und berichtete, wohl gäbe es eine Galerie Poussin, aber in ihr wüßte niemand etwas von einem Maler Baxter. Dann teilte die Sekretärin mit, Frau Baxter wäre am Telefon und wünschte dringend Kommissar Varney zu sprechen. Frau Baxters Stimme klang erregt, als sie mitteilte, ein Mann namens Dewey hätte eben bei ihr angerufen und sie gebeten, die bewußte Schatulle zurückerhalten zu dürfen, sie wäre sein Eigentum, Baxter hätte sie vor einiger Zeit bei ihm geborgt. „Kennen Sie Dewey?“ „Ich besinne mich nicht. Er sagte, er wäre ebenfalls Maler. Vielleicht hat er meinen Mann bei Wyld kennengelernt. Ich habe gesagt, ich hätte im Augenblick den Kopf voll und wüßte nicht, wo die Schatulle wäre. Er will morgen noch einmal anrufen. Ich wollte mich erst mit Ihnen beraten.“ „Das haben Sie geschickt gemacht. Sagen Sie auf keinen Fall, daß sich die Schatulle bei mir befindet. Vielleicht stelle ich sie Ihnen bis morgen wieder zu. Ich
möchte gern dabeisein, wenn Sie die Schatulle übergeben. Dewey soll sie bei Ihnen abholen, und ich sitze während dieser Zeit im Nebenzimmer. Machen wir es so? Jedenfalls danke ich Ihnen sehr für Ihren Anruf.“ Nachdem Varney aufgelegt hatte, nahm er sich den Zettel vor, auf dem er die Namen von Baxters Zirkelkollegen notiert hatte. Er rief Boston wieder herein und wies ihn an, zu Wyld zu fahren und die Namen der Malbeflissenen zu notieren, die vor Baxter Wylds Atelier verlassen hatten. Wenn Wyld schon nicht alle Anschriften wußte, so sollte er doch wenigstens angeben, in welchem Stadtteil seine Schüler wohnten, und irgend etwas müßte ihm von ihnen bekannt sein, der Beruf, das Alter. „Und fragen Sie besonders nach einem gewissen Dewey.“ Während des übrigen Tages geschah nichts, von dem Varney glaubte, es würde ihn näher an Baxters Mörder heranführen. Boston brachte von Wyld die Nachricht mit, nie hätte dessen Malzirkel ein Mann namens Dewey angehört; Varney hatte mit nichts anderem gerechnet. Er gab den Auftrag, das Telefon der Witwe Baxter zu überwachen und jeden Anruf auf Tonband mitzuschneiden; gegen Abend wurde er unterrichtet, auf dem zuständigen Fernmeldeamt wären die notwendigen technischen Vorkehrungen getroffen worden. Dann fuhr er nach Hause. Der nächste Tag begann mit Regen und Nebel, die Straßen waren glatt, und beinahe wäre Varneys Wagen in einen anderen hineingerutscht. Als Varney sein Zimmer im Yard betrat, saß Boston neben dem Schreibtisch. Ein Tonbandgerät stand darauf. Boston drückte Tasten, die Spulen begannen zu kreisen, das
Rufzeichen eines Telefons war zu hören, eine Frauenstimme meldete sich: „Baxter.“ Leise trat Varney näher. „Hier ist Dewey“, hörte er. „Darf ich fragen, ob Sie die Schatulle gefunden haben?“ „Ja, ich hoffe, es ist die, die Sie meinen.“ „Ich wäre Ihnen außerordentlich dankbar, wenn Sie sie zu mir bringen könnten.“ Frau Baxter schien zu zögern, dann sagte sie: „Ich nahm an, Sie holen sie ab?“ „Das wollte ich ursprünglich auch, und natürlich wäre es völlig normal, ich käme zu Ihnen. Aber es sind einige Dinge geschehen, mit denen ich nicht gerechnet habe. Ja, sie hängen mit dem Mord zusammen. Ich erkläre Ihnen alles, wenn Sie hierherkommen.“ „Ich werde auf keinen Fall…“ „Sagen Sie nichts Voreiliges, bitte. Wenn Sie erfahren können, wer Ihren Mann umgebracht hat, dann durch mich. Ich darf mich aber keinesfalls exponieren.“ „Aber wäre es nicht besser, Sie würden die Polizei…“ „Unmöglich. Glauben Sie mir, Frau Baxter, es ist auch für Sie am besten so, wie ich es Ihnen vorschlage.“ Der Disput ging eine Weile hin und her, wieder forderte Frau Baxter ihren Gesprächspartner auf, zu ihr zu kommen, wieder lehnte er ab. Schließlich nannte er die Stelle, an der Frau Baxter die Schatulle übergeben sollte, eine Straße in Edgware, westlich vom Flughafen. „Da ist eine ehemalige Tankstelle, dort erwarte ich Sie morgen abend acht Uhr.“ „Die Sache erscheint mir ziemlich gefährlich.“
„Ich versichere, daß Ihnen nichts passiert. Sie geben mir die Schatulle, ich teile Ihnen dafür alles mit, was ich über den Mörder Ihres Mannes weiß. Und kommen Sie bitte allein.“ Frau Baxter ließ sich noch einmal die Örtlichkeit schildern, sagte ihr Kommen halb und halb zu, widerrief, blieb schließlich dabei, sie wollte sich alles noch einmal überlegen. „Ich bin sicher, daß Sie sich die Chance, den Mörder Ihres Mannes zu finden, nicht entgehen lassen werden.“ Es knackte in der Leitung, Dewey hatte aufgelegt. Boston schaltete das Tonbandgerät ab und sagte: „Dieses Gespräch ist gestern abend kurz vor elf Uhr geführt worden.“ „Und warum hat man mich nicht sofort unterrichtet?“ „Sie hatten die Kollegen, die das Gespräch mitschnitten, nicht darum ersucht.“ Varney seufzte. „Wann endlich wird in diesem Haus jemand einen selbständigen Schritt tun?“ Varney ließ sich das Gespräch noch einmal vorspielen, danach sagte Boston: „Sie erinnern sich doch, daß ich einmal in Sheffield war?“ „Natürlich. Sie wurden in einen stinkenden Fluß geschmissen, und eine nackte Frau setzte sich auf Ihren Schoß.“ „Sie haben eine wunderbare Art, einen an die angenehmsten Dinge seines Lebens zu erinnern. Mein Aufenthalt dort hatte ein Nebenergebnis: Ich lernte den nicht besonders wohlklingenden Dialekt dieser Gegend kennen. Und ich sage Ihnen: Der Mann, der dieses Gespräch geführt hat, stammt aus Sheffield.“
„Immerhin etwas.“ Wenig später bat die Sekretärin Varney ans Telefon; Frau Baxter berichtete von Deweys Anruf, Varney tat so, als wäre er überrascht, stellte Zwischenfragen und konstatierte zufrieden, daß Frau Baxter zuverlässig informierte, nichts vergessen hatte, nichts dazuphantasierte. „Unternehmen Sie nichts auf eigene Faust“, bat er. „Wir werden überlegen, was zu tun ist. In einer Stunde rufe ich Sie wieder an.“ In dieser Stunde berieten Varney und Boston mit ihrem Chef. Mit leiser Stimme stellte Sheperdson seine Zwischenfragen. „Und“, sagte er am Ende, „was wollen Sie tun?“ „Die Angelegenheit erscheint mir zu gefährlich, als daß wir Frau Baxter hineinziehen sollten“, sagte Varney. „Sie wollen eine Beamtin einschalten?“ „Wir sollten eine Kollegin nehmen, die Frau Baxter in der Figur ähnelt und blond ist.“ „Notfalls gibt es Perücken.“ „Sie müßte die echte Schatulle übergeben, allerdings ohne das echte Gemälde. Sie wird sich anhören, was Dewey ihr zu sagen hat, und in der richtigen Sekunde greifen wir ein.“ „Vielleicht wählen Sie eine Beamtin aus, die diese moderne Nahkampfart beherrscht. Wie heißt sie doch?“ „Karate“, erwiderte Boston. Varney erhob sich. „Herr Inspektor, Sie gestatten, daß wir uns an die Arbeit machen.“
Als Varney in sein Zimmer zurückkehrte, saß dort der Kollege, der das Tischbein-Gemälde überprüft hatte. „Nachricht aus Rom“, begann er. „Das Bild wurde vor einem halben Jahr zusammen mit einem Dutzend anderer Gemälde aus einer römischen Villa gestohlen. Ein Bild wurde inzwischen in Brasilien sichergestellt.“ „Baxter als Hehler, als Mittelsmann“, vermutete Varney. „In seiner Schatulle schmuggelt er die Bilder von Frankreich nach England, andere brachten sie über den großen Teich. Komplizen oder andere Gauner jagten ihm die Ware ab, er wehrte sich – so könnte es doch gewesen sein!“ Der Kollege lächelte. „Das fällt nun schon wieder in Ihr Ressort.“ Eine Viertelstunde später rief Varney bei Frau Baxter an und bat sie, an diesem Tag das Haus nicht zu verlassen und nach sechs Uhr abends den Telefonhörer nicht abzunehmen. Er wies Boston an, sich nach einer jungen schlagkräftigen Beamtin umzusehen; er selbst fuhr nach Edgware. Bis Hendon wußte er noch Bescheid, geriet in ihm unbekannte Straßenzüge, fragte nach dem Flugplatz, kam an einem weitläufigen Park heraus und hielt am Beginn der Straße, die Dewey am Telefon genannt hatte. Selbst jetzt am frühen Nachmittag herrschte hier wenig Betrieb. In fünf Minuten zählte Varney drei Last- und fünf Personenautos, sieben Fußgänger, eine Frau mit einem Kinderwagen und einen Jungen, der auf Stelzen balancierte. Lagerschuppen gab es hier, eine Konservenfabrik, ein Möbeldepot und einen Autofriedhof. Am Ende der Straße lag eine verlassene Tankstelle, der Betonboden war gesprungen, die
Fenster waren mit Brettern vernagelt, von den Tanksäulen blätterte Farbe ab. Ein Weg führte zwischen Gärten hinein, bog um eine Schutthalde herum. Varney ging ein Stück auf dem Weg entlang, kehrte zurück und versuchte sich vorzustellen, wie hier am Abend die Lichtverhältnisse waren. Eine Lampe hing so, daß ihr Licht von der Straße her in den Weg hineinfiel, nach dem ersten Knick aber war zweifellos schon alles dunkel. Als Varney in den Yard zurückkehrte, stellte ihm Boston eine junge Frau vor: „Kriminalassistentin Chris Douglas wird uns heute abend helfen.“ „Ich freue mich.“ Varney betrachtete die kurzgeschnittenen dunklen Haare der Beamtin. „Wie unser großer Chef schon mit Recht sagte, gibt es Perücken.“ Varney zog einen Bogen Papier heran und zeichnete die Straße, die Tankstelle und den Weg. „Ich könnte wetten, daß Dewey von hier kommt und sich in diese Richtung zurückzieht.“ „Vielleicht kommt er durch die Gärten“, sagte Boston. „Vielleicht halte ich mich in der Nähe der Schutthalde auf.“ „Gut, Sie müssen sich von rückwärts heranschleichen.“ Chris Douglas fragte: „Was soll ich tun?“ „Sie fahren bis an die Tankstelle heran, steigen aus, nehmen die Schatulle in die Hand. Sie müssen versuchen, Dewey in ein Gespräch zu verwickeln, bevor er die Schatulle bekommt. Natürlich fragen Sie, wer Ihren angeblichen Mann ermordet hat. Stellen Sie sich aufgeregt, tun Sie meinetwegen so, als würden
Sie weinen. Ich werde inzwischen auf den Rücksitzen Ihres Wagens liegen.“ An diesem Nachmittag führte Varney ein Gespräch mit dem Leiter einer Einsatzgruppe, die die umliegenden Straßen absichern sollte. Er legte sich probeweise auf die hinteren Polster einer Limousine, hielt ein Mikrofon in der Hand, sprach hinein: „Thompson, hören Sie mich? Kämmen Sie die Gärten durch. Lassen Sie die Hunde von der Leine.“ Der Leiter der Einsatzgruppe kam vom anderen Ende des Hofes herüber und sagte: „Sie können noch leiser sprechen. Unsere Geräte sind erstklassig.“ Eine halbe Stunde später stand Varney dabei, als Chris Douglas mit gerunzelter Stirn ihr Spiegelbild musterte. „Ich habe mich nie für eine Schönheit gehalten“, sagte sie, „aber ich habe auch nie vermutet, daß mich eine Perücke so entstellen könnte.“ „Sie besuchen schließlich keinen Faschingsball.“ Als erster verließ an diesem Abend Boston Scotland Yard, nach ihm setzte sich Thompsons Truppe in Bewegung. Den letzten Wagen steuerte Chris Douglas aus dem Tor, neben ihr saß Varney. Als sie durch Hendon fuhren, krümmte sich Varney auf den hinteren Sitzen zusammen. Flüchtig dachte er dabei an Oakins, der es an diesem Tage bequemer haben würde. Er machte das Sprechfunkgerät zurecht und rief Thompson. „Alles klar bei Ihnen?“ „Alle Leute stehen auf ihren Posten, die Nummern aller Wagen, die in Richtung Tankstelle fahren, werden notiert.“ Varney wies Chris Douglas ein, langsam rollte der Wagen durch die Straße, in der die Tankstelle lag. „Ich
möchte den Kopf nicht mehr heben“, sagte Varney. „Was sehen Sie?“ „Alles ruhig hier vorn. Weiter hinten geht ein Paar. Links in den Schuppen brennt Licht. Jetzt sehe ich die Tankstelle. Kein Mensch in der Nähe.“ Chris Douglas ging mit dem Tempo herunter. „Wir sind gleich da“, sprach Varney leise in sein Mikrofon. „Alles ruhig. Alles leer.“ Chris Douglas musterte die Tanksäulen, das Dach darüber, das Häuschen dahinter, die Straße. Das Paar, das sie beim Heranfahren bemerkt hatte, ging auf der anderen Straßenseite vorbei, für kurze Zeit waren Schritte zu hören. Pünktlich um acht stieg Chris Douglas aus. Sie nahm die Schatulle und ging einen Schritt vom Wagen weg. „Guten Abend, Frau Baxter“, sagte eine Stimme von der Tankstelle her. „Guten Abend.“ „Ich danke Ihnen, daß Sie gekommen sind. Ich möchte mein Versprechen einlösen und Ihnen sagen, wer Ihren Mann ermordet hat. Es war der Maler Wyld. Und nun stellen Sie die Schatulle bitte an die Tür der Tankstelle und fahren Sie weiter.“ „Aber, Herr Dewey, ich möchte natürlich einen Beweis; es genügt doch nicht, wenn ich mit einer bloßen Behauptung zur Polizei komme. Wo stecken Sie denn überhaupt?“ Die Antwort blieb aus. Chris Douglas wiederholte ihre Frage, machte ein paar Schritte auf die Tankstelle zu, schaute hinter die Zapfsäule, sah auch hier niemanden, ging rasch wieder zurück. „So kommen Sie doch hervor!“ rief sie. Wieder kam keine Antwort, die Situation wurde immer unheimlicher. „Herr Dewey,
ich gebe Ihnen die Schatulle nicht, wenn Sie nicht herauskommen und mir sagen, was Sie von Wyld wissen!“ Leise sagte Varney ins Mikrofon: „Unklare Lage. Langsam näher rücken!“ Chris Douglas rief, immer ungeduldiger werdend: „Nun kommen Sie doch endlich!“ Noch eine Minute verstrich und noch eine, da endlich begriff Varney. „Alle sofort vorrücken“, befahl er. „Jede Person anhalten, die entgegenkommt.“ Er sprang aus dem Wagen und rannte auf die Tankstelle zu. Er rüttelte an der Tür, sah einen dünnen Strich auf dem Betonboden, bückte sich, hob einen Draht hoch, der von einer Zapfsäule um die Ecke des Häuschens führte, dorthin lief er, wobei er den Draht durch die Hand gleiten ließ. Der Draht führte über einen Zaun hinweg ins Dunkle hinein. „Boston!“ schrie Varney. „Aufpassen! Dewey, machen Sie keinen Unsinn! Das Gelände ist umstellt!“ Nichts rührte sich. Varney kehrte um, folgte dem Draht bis zu einer der Tanksäulen. In einer Nische, in der früher ein Manometer angebracht gewesen war, stand ein Tonbandgerät. „Übler Trick“, sagte er. Thompson und seine Leute durchsuchten das Gartengelände, blieben mit Hosen und Mänteln an Hecken und Drahtzäunen hängen, leuchteten in Lauben und Wassertonnen, hinter Büsche und in die Kronen der Obstbäume. „Wie ist das, Herr Kommissar“, fragte Chris Douglas, „darf ich die blöde Perücke abnehmen?“ „Heben Sie sie gut auf, unser Garderobenverwalter beklagt sich schon lange über seinen geringen Etat.“ Varney wendete sich an Thompson und wies ihn an, die Nacht über das Gelände weiterhin zu beobachten
und am Morgen das Gartengelände noch einmal zu durchsuchen. Mit Boston und Chris Douglas fuhr er zum Yard zurück. Es war fast Mitternacht, als die drei in Varneys Zimmer das Tonband ablaufen ließen, mit dem der Mann, der sich Dewey nannte, sie genarrt hatte. Sie verglichen es mit dem Band, auf dem der Anruf Deweys bei Frau Baxter aufgenommen worden war. „Kein Zweifel“, sagte Boston, „es ist derselbe Mann. Und ich möchte wetten, daß er aus Sheffield stammt.“ Am nächsten Mittag erfuhr Varney, daß Thompson die Suche erfolglos abgebrochen hatte. Zu Boston sagte er: „Ich bin überzeugt, daß Wyld nicht der Mörder ist. Trotzdem: Woher erfahre ich am schnellsten, von welcher Art der Dreck ist, den Wyld am Stecken hat?“ Oakins betrachtete wohlgefällig die Annonce, die an diesem Morgen auf der zweiten Seite der „Times“ zu lesen war. „Sir Peter Abrahams von dem alten Freund gesucht, der mit ihm auf der Straße zusammenprallte. Anruf erbeten.“ Er legte die Zeitung zusammen und überrechnete, was ihn diese Affäre schon gekostet hatte. Sollte er nicht endlich die Finger davonlassen? Wenig später betraten die Brüder Coppard sein Büro. „Hier ist nicht Billingsgate!“ schrie Oakins. „Wollt ihr nicht endlich ehrliche Arbeit anfassen?“ Die beiden blieben verdattert an der Tür stehen. Der Jüngere erholte sich zuerst und öffnete den Mund zu einer Entgegnung, als das Telefon klingelte. „Varney“, hörte Oakins zu seiner Verblüffung. „Sie könnten mir einen Gefallen tun. Schauen Sie doch bitte in Ihrer
Kartei nach, was über einen Maler namens Wyld darin steht.“ Oakins suchte Wylds Karte heraus und las vor: „Fünf Monate Untersuchungshaft wegen Verdachts der Bigamie. Soll vor seiner Ehe in London in Malaya mit einer Tänzerin verheiratet gewesen sein. Hauptzeugin verstarb vor dem Prozeß, Wyld wurde freigesprochen mangels Beweises.“ Varney bedankte sich, fügte hinzu: „Geben Sie mir die Auskunft bitte schriftlich in mein Büro mit einer Kostenrechnung.“ „Wird gemacht. Sonst ein Auftrag?“ „Im Moment nicht.“ Damit war das Telefongespräch beendet, und Oakins wandte sich wieder seinen Besuchern zu. „Das“, sagte er, „war einer der berühmtesten Männer von Scotland Yard, der große Varney. Er war wieder mal auf mich angewiesen. Also: Was wollt ihr?“ Frank zog die Hände aus den Taschen, hob sie bis zur Brust und ließ sie wieder fallen. Schließlich war es Bob, der bemüht munter sagte: „Och, Mister Oakins, wir kamen gerade vorbei und dachten, wir fragen mal, ob es was zu tun gibt.“ „Hast du keine Schule?“ „Die fällt heute aus, die Heizung wird repariert.“ „Na schön, ihr könnt Fräulein Flaherty helfen, die Kartei zu vervollständigen.“ Die beiden hockten sich an den Tisch der Sekretärin, Bob bekam rote Ohren vor Eifer. Wieder las Oakins die Annonce; jetzt hätte er sie gern ein wenig anders formuliert gehabt. Ob der Bursche sie bemerkte, und ob er anbiß?
Gegen Mittag klingelte das Telefon. „Hier spricht Sir Peter Abrahams“, hörte Oakins. „Sie wollen mich sprechen?“ „Ich glaube vielmehr, daß Sie Interesse haben, mich zu sprechen. Es geht um einen gewissen Reisespezialisten. Sie wissen, daß der Mann bei mir gewesen ist. Wir haben alle Ursache, uns zu arrangieren. Ob Sie mich nicht mal besuchen sollten?“ „Könnte Ihnen so passen.“ Einige Sekunden verstrichen, dann sagte der Mann: „Heute abend sechs Uhr erwarte ich Sie in Mill Hill. Kennen Sie den Zuckerspeicher von Carter? Kommen Sie an den letzten Schuppen vor der Eisenbahnunterführung. Ich rate Ihnen dringend: Lassen Sie Ihre Jüngelchen zu Hause.“ „Vorausgesetzt, auch Sie kommen allein.“ „Klarer Fall.“ Eine Viertelstunde lang saß Oakins in Nachdenken versunken. Dann sagte er: „Jungs, ich könnt euch heute abend brauchen. Ihr dürft euch aber nicht so dämlich anstellen wie bei der Beschattung vor einigen Tagen, wo ihr nicht gemerkt habt, daß man euch beschattete. Eine Besprechung bei der ich gern eine Rückendeckung hätte. Ich erwarte euch Viertel nach vier an der Südspitze des Parks von Hempstead, wo die Straße den harten Knick macht, vor dem Zigarettenkiosk. Jetzt verschwindet ihr, aber nicht beide auf einmal. Ihr geht getrennt dorthin. Und paßt auf, daß euch keiner folgt.“ Die Jungen machten sich auf. Oakins beobachtete vom Fenster aus die Straße, fuhr dann durch den dichtesten Verkehr der Innenstadt, wo es erfahrungsgemäß schwer war, ein Auto zu verfolgen.
Als er vor dem Kiosk am Park von Hempstead die beiden Jungen aufnahm, war er sicher, daß er etwaige Beschatter abgeschüttelt hatte. „Hört zu“, sagte er, „die Sache kann gefährlich werden. Wenn einer aussteigen will, ist jetzt noch Zeit. Also?“ Die Jungen saßen, ohne sich zu rühren, und Oakins fuhr fort: „Ich werde an Carters Zuckerlager mit einem Mann zusammentreffen, der mir eventuell nicht wohl will. Frank, du folgst mir unauffällig, Bob, du beobachtest die Sache aus einiger Entfernung. Ich überlasse es deiner Intelligenz, unter Umständen nötige Schritte zu unternehmen.“ Er rang mit sich, Bob direkt zu beauftragen, gegebenenfalls die Polizei zu benachrichtigen, brachte es aber nicht fertig. Ein paar hundert Meter vor Carters Zuckermagazin setzte Oakins die Brüder ab. Langsam fuhr er an einem Plankenzaun entlang, Bogenlampen erhellten Straße und Zaun leidlich, im Lagergelände selbst schien alles dunkel zu sein. Es war eine einsame Gegend, und wenn nicht alles trog, wollte der Strolch mit dem Ölbild versuchen, ihn in eine Falle zu locken. Noch war es Zeit zum Umkehren, aber Oakins rekapitulierte alles, was er jemals von Chandler gelesen hatte, und ihm fiel keine einzige Geschichte ein, in der ein Detektiv bei solch einer Gelegenheit den Rückzug angetreten hätte. Ein Detektiv Chandlerscher Prägung mußte dem Löwen in den Rachen greifen, ins Höllenfeuer hineinspringen, den Kampf gegen eine Gangsterbande auch allein und mit bloßen Händen aufnehmen – unter diesem Gesetz war er angetreten. Ein Gardner-Held wäre in dieser Situation sowieso aufgeschmissen gewesen. Vor der Eisenbahnunterführung stellte Oakins den Wagen ab und ging die wenigen Meter zum
Zuckerlager zurück. Er blickte die Straße hinauf und hinunter; auf der anderen Seite schlenderten zwei junge Männer, von den Brüdern Coppard war nichts zu sehen. Pünktlich um sechs trat ein Mann aus einem gegenüberliegenden Haus und kam herüber. Oakins vermutete zunächst, es wäre der Mann, der das Bild in seinen Händen zurückgelassen hatte und wahrscheinlich Lawton hieß, aber bei dessen Näherkommen sah er, daß dieser Mann größer und schlanker war. „Herr Oakins? Mein Freund möchte Sie sprechen, aber natürlich nicht hier.“ „Kein schlechter Platz.“ „Aber kalt und ungemütlich. Mein Freund und ich glauben nicht, daß wir in wenigen Minuten fertig sind. Am anderen Ende dieses Schuppens liegt ein Büro, es ist geheizt, überdies sind wir dort sicher.“ „Bißchen umständlich.“ „Sie haben doch nicht etwa Angst?“ Oakins hoffte, daß die Brüder Coppard von einem Versteck aus sehen würden, wie er zwischen die Schuppen hineinwies. „Also dort lang? Schön. Angst habe ich nicht. Mir wird es doch nicht ergehen wie Baxter.“ „Über eben dieses Mißverständnis wollen wir uns unterhalten.“ Mit jedem Schritt kamen Oakins und sein Begleiter weiter ins Dunkel. Oakins ließ das Gespräch nicht abreißen, denn er glaubte, aus den Tonschwankungen und Atempausen des Mannes neben sich heraushören zu können, ob der die Absicht hatte, sich im nächsten Augenblick auf ihn zu stürzen. Aber das Gespräch lief ruhig, sogar heiter. „Eine Klärung, nichts weiter. Wir
wollen Sie nicht zum Komplizen einer dunklen Sache machen. Sie sollen nur Bescheid wissen, dann sehen Sie manche Dinge anders.“ „Auch den Mord an Baxter?“ „Das war kein Mord.“ „Sieht aber verdammt so aus.“ Hinter einer Fensterlade schimmerte Licht, nach dreimaligem Klopfen wurde eine Tür geöffnet. „Hallo“, sagte der Mann, dem Oakins im Omnibus begegnet war und der die Kopie des Dobsonschen Gemäldes in seinen Händen zurückgelassen hatte. „Kommen Sie herein.“ Oakins trat in einen Flur und gleich darauf in ein kleines Zimmer, das seiner Einrichtung nach das Büro eines Magazinschreibers sein konnte. Zwei Schritte lang war ihm bewußt, daß er sich in denkbar schlechter Lage befand, einer der beiden Männer war vor, der andere hinter ihm. Er wollte sich zu einem Stuhl hinwenden, der an der Seite stand, wollte den Rücken freibekommen, wurde aber von hinten umfaßt und begriff, daß es auf Biegen und Brechen ging. Er spielte ein beachtliches Repertoire an Judo-Schlägen durch, erzielte damit auch eine gewisse Wirkung, aber dann wurde seine Kehle von hinten zusammengedrückt, schwach dachte er noch: SodeGuruma, die Luft wurde ihm knapp, und ein Hieb zwischen die Augen gab ihm den Rest. Als er die Besinnung wiedererlangt hatte, sah er die beiden Kerle, die ihn überwältigt hatten, vor sich und merkte, daß er auf einem Stuhl festgebunden war. „Sie sind ganz schön blöd“, sagte er aufs Geratewohl, „denjenigen übel zu behandeln, der Ihr Schicksal in der Hand hält.“
„Hielt“, sagt einer. „Jetzt haben wir es wieder selbst in die Hand genommen. Wir wollen bloß eines von dir wissen: Was hast du der Polizei erzählt? Wir sind sicher, daß du es verrätst, ehe wir dir auf die Zehen treten müssen.“ „Ihr wißt sehr wenig von einem Detektiv“, sagte Oakins. Ein Nebel schob sich vor seine Augen, er fürchtete, nochmals ohnmächtig zu werden, wiederholte seinen Satz und fügte hinzu: „Ich bin ein unabhängiger Detektiv und habe nichts mit den Bullen zu tun.“ „Du mußt dir doch einbilden“, sagte der Mann, der vermutlich Lawton hieß, „daß wir überhaupt keine Zeitung lesen. Als du die Leiche in den Mendip-Hügeln gefunden hast, bist du so schnell wie möglich zu Varney gerannt.“ „War eine Ausnahme.“ Oakins dachte: Du mußt Zeit gewinnen, die Coppards werden dich nicht im Stich lassen. „Ihr seid ein paar kleine Bilderfälscher, was geht mich das an? Der eine von euch heißt Lawton, das habe ich inzwischen herausbekommen. Wenn ihr wollt, vergesse ich das.“ „Du schwatzt und schwatzt“, sagte der Lange. „Was hast du uns noch zu erzählen?“ „‘ne Menge, aber ich habe keine Lust, solange ich auf diesem Stuhl festgebunden bin.“ Draußen im Vorraum fiel etwas um, ein Brett vielleicht, gleich darauf wurde die Tür aufgestoßen, und Frank Coppard brach in den Raum wie ein blindwütiger Stier. Er deckte den Langen mit Faustschlägen ein, schrie: „Chef, ich haue Sie ‘raus!“, wurde von einem Hieb auf den Magen erwischt und zeigte Wirkung. Oakins rief Coppard zu: „Bikotsutan!“,
was bedeutete, Coppard sollte seine Knöchel auf die Nasenwurzel seines Gegners sausen lassen, aber Coppard entschied sich für einen Ude-Garami, einen gebeugten Armhebel, der im Ansatz steckenblieb, weil sein anderer Gegner eine Latte gegen Coppards Nacken hämmerte. Coppards Fukukoso war sehenswert und riß Oakins zu einem Beifallsschrei hin, aber er war leider die letzte Kampfmaßnahme des jungen Riesen, dann ließ ihn ein weiterer Schlag mit der Latte in die Knie gehen. Wenig später saß Frank Coppard in der gleichen ruhmlosen Haltung, an Armen und Beinen an einen Stuhl gefesselt, Oakins gegenüber. „Ich weiß gar nicht“. sagte der Untersetzte, „warum wir uns so lange mit euch abgeben. Das ist wie in einem Kriminalfilm, wo so lange dußliges Zeug gequatscht wird, bis dann doch die Polizei eintrifft. Also machen wir Schluß.“ Der andere nickte. In diesem Augenblick wurde die Tür aufgerissen, Varney und Boston standen mit Pistolen in den Händen im Rahmen, über ihre Schultern hinweg blickte Bob Coppard. „Keine Bewegung“, sagte Varney. „Die beiden Gentlemen da heben die Hände etwas höher. Vor allem Sie da. Wie heißen Sie?“ „Lawton. Übrigens möchte ich feststellen…“ Varney unterbrach: „Sie haben dem Malzirkel von Wyld angehört?“ „Ich erkläre Ihnen, daß ich…“ „Kommen Sie ‘raus“, sagte Varney. „Und machen Sie keinen Unsinn. Ich habe genügend Leute mitgebracht.“
Bob Coppard befreite unterdessen Oakins und seinen Bruder von den Fesseln. „Ich habe mich absichtlich fesseln lassen“, sagte Oakins zu Varney, „damit Sie sehen sollen, was für rabiate Burschen das sind.“ „Schon gut, Oakins. Sonst wären die Kerle natürlich nie mit Ihnen fertig geworden.“ Varney wendete sich dem anderen der beiden Gefangenen zu: „Wie heißen Sie?“ „Pudney.“ Varney fragte Lawton: „Sie stammen aus Sheffield?“ Lawton nickte überrascht. Zwei Tage später klopfte Varney an der Tür seines Chefs. Sheperdson sagte: „Ich sehe Ihnen an, daß Sie Erfolg gehabt haben.“ „Was wir jetzt wissen, ist dies: Vor einem halben Jahr lernte Baxter an der Riviera einige Leute kennen, die in Italien Bilder gestohlen hatten und finanzkräftige Abnehmer suchten. Baxter kam durch seine Tätigkeit bei einem Reisebüro viel herum, er horchte hier und da, schließlich tastete er bei seinem Malkollegen Lawton vor, der wieder kannte Pudney, der als Vermessungsingenieur oft nach Südamerika fuhr.“ „Alles Amateure also?“ „Genau. Lawton, der sich später Dewey nannte, bastelte die Schatulle, in der Baxter eines der gestohlenen Bilder nach dem anderen über den Kanal brachte. Lawton gibt an, es wären bisher sechs gewesen. Zwei wurden durch Pudney nach Brasilien geschmuggelt und dort verkauft, eines ist inzwischen beschlagnahmt worden. Zwei Bilder fanden wir bei Pudney.“
„Da war also Lawton der Drehpunkt, der Organisator?“ „Das ja. Aber er verlor die Nerven, als er Oakins im Bus gegenübersaß und ihm Oakins nachging; er ließ dabei eine Kopie in den Händen von Oakins zurück, die nichts mit der Sache zu tun hatte. Aber durch sie kam der Stein ins Rollen.“ Sheperdson sagte versonnen: „Immer wieder kreuzt dieser Gernegroß Oakins unsere Wege. Berichten Sie weiter.“ „Lawton wollte aus dem Geschäft aussteigen. Das führte zu einem Zusammenprall mit Baxter, der Lawton vorwarf, grundlos in Panik zu verfallen. Um nachzuweisen, wie harmlos Lawtons Debakel mit Oakins gewesen war, erbot sich Baxter, die Kopie des Dobsongemäldes herbeizuschaffen. Baxter ging zu Oakins, Oakins ließ Baxter beschatten, aber Lawton war seinerseits mißtrauisch genug, um wiederum Baxter zu beschatten. Dabei entging ihm nicht, daß die beiden Gehilfen von Oakins hinter Baxter herschlichen.“ „Nun drehte Lawton endgültig durch?“ „Das kann man nicht sagen, denn er besaß ja Tage darauf noch die Nerven, sich an Frau Baxter heranzumachen, um das Tischbein-Gemälde in seine Hand zu bringen. Zunächst kam es zwischen Lawton, Baxter und Pudney zu einer erregten Auseinandersetzung. An jenem Abend nach dem Malunterricht trafen sich Lawton, Pudney und Baxter in der Nähe des Paddington-Bahnhofs. Pudney forderte am energischsten, daß mit dem Handel Schluß gemacht und alle Spuren verwischt würden. Baxter, der glaubte, daß nun von Oakins keine weitere Gefahr
ausging, wollte das lukrative Geschäft fortsetzen. Eine Landschaft von Vigorelli trug er an diesem Abend bei sich, er wollte sie Pudney geben. Pudney lehnte jede weitere Mitarbeit ab, aber Baxter bedrohte ihn: Es gäbe Mittel, ihn dazu zu zwingen. Es regnete, deshalb gingen die drei in ein Haus, dessen Tür zufällig offenstand; dort sollte noch einmal alles durchgesprochen werden. Ob Pudney schon vor dem Betreten des Flures die Absicht gehabt hatte, Baxter umzubringen, wird nicht zu klären sein, er streitet es ab. Im Flur kam es jedenfalls zu einem Handgemenge, in dessen Verlauf Baxter in den Hinterkopf geschossen wurde. Lawton und Pudney beschuldigten sich anfangs gegenseitig. Die Waffe fehlt, sie wurde angeblich später in die Themse geworfen. Es gelang mir jedoch, einen Beweis zu führen. In der Wohnung von Lawton beschlagnahmte ich das Gemälde von Vigorelli. Von der Farbe war ein wenig abgekratzt, Spuren derselben Farbe fanden sich unter Baxters Fingernägeln. Baxter und Lawton haben also an dem Bild herumgezerrt, Pudney stand hinter Baxter und schoß ihm in den Kopf. Von dieser Beweisführung fühlte sich Pudney so in die Enge gedrängt, daß er gestanden hat.“ „Leute mit schlechten Nerven“, urteilte Sheperdson geringschätzig. „Lawton dreht durch, als ihm Oakins im Omnibus gegenübersitzt, Pudney glaubt, er käme aus dieser Geschichte heraus, indem er jemanden umschießt.“ „Vielleicht war alles wirklich so, wie Lawton und Pudney jetzt angeben, vielleicht hat Baxter sie wirklich bedroht, vielleicht rissen Lawton und er wirklich an dem kostbaren Beutestück herum, weil jeder es für sich wollte. Baxter ist tot, Pudney hat ihn erschossen –
das genaue Motiv dafür mag das Gericht herausfinden.“ Sheperdson nickte zustimmend. „Wir wollen die Herren Richter nicht um jedes Erfolgserlebnis bringen.“ „Nach dem Mord an Baxter brauchten Lawton und Pudney einige Tage, um die Fassung wiederzugewinnen. Dann wagten sie sich erneut vor. Lawton rief Frau Baxter an, gab sich als Dewey aus und startete die Aktion, die ihn in den Besitz des Tischbein-Gemäldes bringen sollte. Um in keine Falle zu gehen, stellte Lawton das Tonbandgerät an der Tankstelle auf und verbarg sich hundert Meter weiter dahinter in einem Garten. Von dort aus beobachtete er, was an der Tankstelle geschah. Als unsere nahkampferfahrene Kollegin ausstieg, setzte er über seinen Leitdraht das Gerät in Tätigkeit, als er mich aus dem Wagen springen sah, machte er sich davon. Er ließ Thompsons Männer an sich vorbei und entkam.“ „Und dann glaubte er, Oakins ausschalten zu müssen, was ihm übel bekam. Übrigens: Oakins hat sich wieder in unsere Dinge eingemischt, daß es ein Skandal ist. Weitergeholfen hat er uns doch nicht, oder?“ „Objektiv schon. Aber wenn mich dieser vierzehnjährige Junge nicht angerufen hätte, als Oakins gerade in Scheiben geschnitten werden sollte, wäre es für unseren kleinen Detektiv übel ausgegangen. Oakins hatte sich über mich geärgert. Wie es seine Pflicht ist, kam er unverzüglich in den Yard, um mir mitzuteilen, daß der Tote in Freemans Reisebüro gearbeitet hatte. Er hörte Spott aus meiner Stimme heraus, als ich entgegnete, daß wir das längst wüßten. Sicherlich kam er deshalb ein paar Tage
später nicht zu mir, als ihm der Name Lawton bekannt geworden war. Er schnüffelte auf eigene Faust, und das hätte ihm um ein Haar das Genick gebrochen.“ „Wir könnten ihm einen Denkzettel wegen versäumter Anzeigepflicht verpassen.“ Varney sagte nachsichtig: „Vielleicht beim nächsten Mal.“
Fahndung nach einem alten Stein Verdrossen hockte Oakins zwischen seinen Wandschränken. Es war sonnenklar: Er hatte, seit er hier arbeitete, nicht mehr verdient als vorher. Aber jetzt mußte er Miete für dieses Büro zahlen, seine Sekretärin verlangte ihr Gehalt, James Harrison beanspruchte seine Rate. Gottlob waren noch vierhundert Pfund von Ashtons Prämie übrig. Die Sonne schien dünn durch schleirige Wolken und warf ihr Licht auf den Schreibmaschinentisch, an dem Harriet Flaherty Karteikarten sortierte. Unvermittelt sagte sie: „Und wenn die Coppards nun doch im Dienste der Harrison-Brüder stehen?“ „Ich nehme an, daß die Lektion, die ich dem jüngsten Harrison erteilt habe, auf die übrigen gewirkt hat. Und die Coppards sind mir viel zu sehr ergeben, als daß sie sich ein weiteres Mal mißbrauchen ließen.“ Oakins legte die Zeitung weg, nahm einen Kriminalroman aus der Schublade und setzte seine Lektüre fort. Es war ein Gardner. Nicht mehr die ruppigen, auf sich gestellten Chandlerhelden nötigten Oakins Bewunderung ab, mit wachsender Sympathie las er in Erle Stanley Gardners Werken über den Rechtsanwalt Perry Mason, der mit Klugheit, Charme und den Umgangsformen eines Gentleman die Gangster zur Verzweiflung trieb. „Perry Mason und die schweigende Braut“ hieß das Buch – vor Jahren hatte man in Las Vegas einen Spielkasinobesitzer erschossen, nie war der Mörder gefunden worden, nun machte sich jemand an die Tochter des Toten heran, wollte ihr die Beteiligung an diesem Kasino abkaufen, plötzlich lag
der dunkle Geselle in seinem Blut, die Tochter war aufs höchste verdächtig. Da griff Perry Mason ein, unterstützt wurde er von Della Street, seiner attraktiven Sekretärin. Oakins langte in den Schreibtisch und holte eine Flasche Cola heraus. Während er trank, fiel sein Blick auf Harriet Flaherty. Welch ein Unterschied! Eine Della Street müßte dort sitzen, sann er, ein cleveres Mädchen, das Ideen hatte und ihn selbst beflügelte. Er müßte sich umschauen, vielleicht annoncieren. Hübsche junge Mädchen gab es in Massen, gesunden Menschenverstand und Beweglichkeit und Ehrgeiz mußte jemand mitbringen, der in diesem Büro die Tätigkeit einer Della Street verrichten sollte; die nötigen Fachkniffe würde Oakins schon beisteuern. Es wurde an die Tür geklopft, ein junger Mann in sportlicher Jacke, hellen Hosen und Sandalen trat herein. „Mister Oakins?“ Oakins lächelte wie ein erschöpfter Verkäufer. „Sie wünschen?“ „Mein Name ist Croft. Ich bin Angestellter der Brower-und-Brownde-Corporation, die London-Bridge abbaut. Sie haben davon gehört?“ „Natürlich.“ „Dann wissen Sie auch, wie wichtig es ist, daß jeder Stein über den Teich kommt.“ „Sie sind Amerikaner?“ „Aus Brentfield, Arizona. Nicht weit von uns wird die neue Stadt gebaut, zu der die alte Brücke gehören soll. Wir lassen uns Tradition eine Stange Geld kosten. Aber richtige Tradition, Sie verstehen?“ „Hat man Ihnen eine falsche Brücke angedreht?“
Croft lachte mit einer Fülle sauberer Zähne. „Die Londoner Stadtverwaltung arbeitet nach anderen Prinzipien als ein ägyptischer Souvenirverkäufer, und London-Bridge ist etwas Anderes als eine garantiert echte Pharaonenmumie. Unsere Brücke muß makellos sein, sonst machen sie uns drüben in Arizona einen Heidenkrach. Leider hat jemand einen Geländerstein der Nancy-Treppe gestohlen.“ „Das ist die Treppe, die seitlich zur Themse hinunterführt?“ Croft schrieb die Kontrollnummer des Steins auf einen Zettel: XII-304-007, er gab seine Maße an: 68 cm lang, 43 cm hoch, 38 cm breit. „Die Kontrollnummer ist mit Teerfarbe auf die Unterseite geschrieben. Sind Sie bereit, uns bei der Suche zu helfen?“ „Welche Anhaltspunkte haben Sie?“ „Zunächst zwei. Eine Markiererin hat Hals über Kopf gekündigt, weil sie angeblich in Frankreich ein Häus chen geerbt hat.“ „Was ist eine Markiererin?“ „So nennen wir die Frauen, die die Nummern auf die Steine schreiben. Diese Frau hat den betreffenden Stein gekennzeichnet und ist am selben Tag wie er verschwunden.“ „Was wiegt dieser Stein?“ „Mehr als zweihundertfünfzig Kilogramm.“ „Ein wenig schwer für eine einzelne Dame.“ „Das geben wir zu. Der andere Verdächtige ist ein Abbrucharbeiter, der im Streit mit uns geschieden ist. Er ließ sich hinreißen, unsere Firma als Diebesbande zu beschimpfen, die nicht mehr Moral besäße als ein ägyptischer Königsgrabplünderer.“
„Ein Standpunkt, den man sich in der Situation, in der sich das Pfund befindet, nicht leisten darf. Ich kann mich heute noch nicht entscheiden. Im Laufe des Nachmittags muß ich über einige weitere Fälle disponieren; dabei wird sich klären, ob ich Zeit für Sie erübrigen kann. Darf ich Sie morgen früh im Büro Ihrer Firma aufsuchen?“ Der junge Mann nannte die Anschrift. „Neun Uhr? Mister Garvin wird Sie empfangen, einer unserer britischen Angestellten.“ An diesem Nachmittag verließ Oakins sein Büro beizeiten und suchte das Trainingsquartier seines Judolehrers auf. Kokichi Nagaoka stand neben zwei Arbeitern, die am Rande der kleinen Halle einen Holzpfosten in den Boden zementierten. Oakins näherte sich seinem Lehrer mit wachen Sinnen, denn er hatte mehr als einmal erlebt, daß der flinke Japaner bereits die Begrüßung zu einem überraschenden Wurf genutzt hatte. Aber Nagaokas Aufmerksamkeit galt eindeutig dem Pfosten: Er beugte sich zum Loch hinab, hielt eine Wasserwaage ans Holz und sagte: „Alte kanadische Eiche, das Beste, was man sich für das Karate-Training denken kann.“ „Wollen Sie sich umstellen?“ „Nicht völlig. Judo hat weiter seine Berechtigung, aber auch für Karate habe ich meine Kundschaft. Sumi-Gaeshi!“ rief er unvermittelt und setzte zum Eckenwurf an; blitzartig reagierte Oakins mit einem Kata-Gatame, einer Schulterschärpe. „Nicht übel“, lobte Nagaoka, während Oakins die Jacke glattzog. „Karate“, setzte Nagaoka seine Erläuterung fort, „erfordert schärfere Trainingsmethoden und einen noch leistungsfähigeren Körper als Judo. Beim Judo
dominieren die Würfe, beim Karate die Schläge.“ Er würde, fuhr Nagaoka fort, einen Teil seines Trainingsquartiers zu einem Dojo, einem Karate-Raum, umbauen; dieser Pfosten, der später ein Polster bekäme, wäre der Anfang. „Makiwara, das Kernstück für das Karate-Training. Hätten Sie Lust?“ „Vorläufig bin ich mit Judo ausgekommen.“ Und wenn, überlegte Oakins, er in dem Hausflur, in den Bicket ihn gelockt hatte, mit Handkantenschlägen auf seine Gegner losgegangen wäre? Das folgende Training war eine mittlere Folter. Nagaoka unterwarf seinen Schützling einer Serie von Streckensprüngen, Liegestützen, Klimmzügen, Rollen vorwärts und rückwärts; verbissen übten sie eine Kombination von Ura-Nage, dem Rückwurf, und UkiWaza, dem Rückfallzug. Zum Schluß schleuderte Nagaoka seinen Schüler mit einem hochangesetzten Kami-Shito-Gatame auf die Matte, daß Oakins fürchtete, die Schulterblätter wären ihm herausgefallen. Erschöpft schlich er unter die Brause. An diesem Abend begnügte sich Oakins nicht mit Käse und Radieschen. In Soho, wo einst MackieMesser seinem anrüchigen Gewerbe nachgegangen war und wo sich jetzt unzählige Vergnügungslokale und Restaurants drängten, betrat Oakins eine bayrische Bierschwemme, bestellte Selchfleisch und Knödel, aß mit Genuß und ohne die Spur schlechten Gewissens. Er trank Bier aus hohem Tonkrug und fühlte sich danach satt und müde und glücklich. Karate, grübelte er und klopfte mit der Handkante probeweise gegen die Tischplatte, entsprach vielleicht seinem Wesen stärker als Judo?
Spät kam Oakins an diesem Abend nach Hause. Er legte sich auf die Couch und las den Gardner-Krimi zu Ende. Della Street roch den Braten eher als ihr Chef und fand sich schneller in dem Wirrwarr mit den drei völlig gleichen Pistolen zurecht als alle handelnden Personen und der wachsame Oakins obendrein. Oakins malte sich aus, wie sich eine Frau wie Della Street zwischen seinen Eichenschränken ausmachen würde. Frischer Wind käme herein, er selbst würde vorwärts gerissen werden. Sollte er annoncieren? Als Oakins am nächsten Morgen das Bürohaus in der King William Street betrat, in das sich die Firma Brower-und-Brownde-Corporation eingemietet hatte, argwöhnte er ernsthaft, Wildlederjacke und Rollkragenpullover wären nicht die richtige Kleidung für diese Stunde. Hatte Gardner eine Bemerkung über das Äußere von Perry Mason gemacht? Natürlich durfte ein Detektiv Gardnerscher Prägung nicht wie ein Cityangestellter gekleidet sein, schwarzer Anzug und harter Hut waren unmöglich. Homespun? Wie auch immer, er konnte an der Seite einer Frau wie Della Street nicht in der bisherigen Aufmachung erscheinen. Mister Garvin war ein breitschultriger Mann, dessen Hände so klobig waren, als hätte er damit ein Dutzend Brücken in sämtliche Teile zerlegt. Er wäre Oakins vom ersten Augenblick an restlos sympathisch gewesen, wäre er nicht beim Händedruck zu nahe vor ihn hingetreten und hätte auf ihn hinabgeschaut; das konnte Oakins von jeher nicht leiden. Garvin lud zum Sitzen ein, bot Tee und Whisky an, Oakins bat um Tee, Garvin nahm beides und sagte: „Sie haben gehört, worum es sich handelt. Unsere Firma besitzt Weltruf. Wir haben norwegische Holzkirchen, französische
Barockschlösser, indische Pagoden und einen mexikanischen Tempel demontiert und in den USA wiederaufgebaut, wir haben den Italienern für den schiefen Turm von Pisa eine enorme Summe geboten und verursachten einen Presseskandal, als wir das Braune Haus in München kaufen wollten. Immer war unsere Devise: Echtheit zuerst! Sie werden verstehen, daß uns der jüngste Vorfall nicht kaltlassen kann. Sie wurden uns als erstklassiger Mann empfohlen. Nehmen Sie unseren Auftrag an?“ „In alarmierender Weise steht der Name Englands auf dem Spiel. Schon aus diesem Grunde halte ich es für meine Pflicht, den Stein herbeizuschaffen. Sie haben eine ehemalige Mitarbeiterin in Verdacht?“ „Und einen Mitarbeiter. Lady first – die Frau heißt Stephanie Tragg und ist zu Schiff nach Frankreich. In der Nähe von St. Malo hat sie ein Häuschen geerbt. Die Frau hat zwei Tage vor ihrer Abreise von unserem Büro aus mit einer Speditionsfirma telefoniert. Eine Kollegin hat gehört, wie Frau Tragg gesagt hat, es wäre eine schwere Last zu transportieren.“ Oakins notierte den Namen des Ortes, in dem das geerbte Häuschen lag, stellte seine Spesenforderungen und vereinbarte mit Garvin eine Erfolgsprämie von dreihundert Pfund. „In drei Tagen werden Sie von mir hören.“ Einen halben Tag lang beugte sich Oakins über Karten, suchte den Ort, in dem sich Frau Tragg befand, forschte in seiner Kartei vergeblich nach ihrem Namen. Mittags rief er Frank Coppard an: „Heute nacht fahren wir nach Frankreich.“ Vor Freude kippte Coppards Stimme über.
Vom Waterloo-Bahnhof aus begannen sie ihre Reise. In Southampton stiegen sie auf ein Fährschiff, fuhren zwischen Werften, die übersprüht waren von den Funken der Schweißapparate, zwischen Schiffsliegeplätzen und Krananlagen hinunter, sahen links die Lichter von Portsmouth und rechts den Leuchtturm von Ryde, standen an der Reling und froren, gingen hinunter in die Kajüte und tranken Grog und aßen heiße Würstchen, stiegen wieder an Deck und blickten zu den Lichtern der Schiffe hinüber, deren Kurs sie kreuzten. Über Le Havre schien die Sonne. Sie schien, als die beiden Detektive mit einem Küstenboot nach Caen übersetzten und im Schnellzug nach Westen fuhren. „Die Normandie“, erklärte Oakins, „ist für ihre Rinderzucht berühmt, und eines ihrer speziellen Produkte ist der Pont L’Eveque, ein Käse aus der Landschaft von Auge. Er hat eine geschmeidige und zugleich feste Masse mit köstlichem Duft. Er kommt in zwei Größen in den Handel und wird in viereckigen Dosen verpackt.“ Frank Coppard riß die Augen auf. Sie fuhren durch Avranches und erreichten St. Malo, standen vor dem berühmten Felsen und schrieben Ansichtskarten an Harriet Flaherty, George Varney und Kokichi Nagaoka. Sie mieteten einen Kombiwagen, fuhren nach Boisgerville und nahmen ein Doppelzimmer im einzigen Gasthof des Ortes; es bedeutete für Oakins tiefe Genugtuung, nicht nur Frank Coppard, sondern auch den Wirt durch seine Käsekenntnisse in Staunen zu versetzen. SaintNectaire war nicht vorrätig, auch Chevres nicht? Nun gut, Roquefort bedeutete immer eine reine Freude. Während sie Fischsuppe aßen, bereitete Oakins seinen
Gehilfen auf den anschließenden Genuß vor: Roquefort, dieser exklusive Käse von Weltruf, wurde aus Schafsmilch hergestellt und war der älteste grünfleckige Käse Frankreichs; man kannte ihn seit zweitausend Jahren. Er wurde im Departement Aveyron und der nächsten Umgebung hergestellt und in den berühmten Höhlen von Roquefort verfeinert. Jedes Stück wog 1,8 Kilogramm und wurde in Stanniolpapier verpackt. „Vor allem ist dieser Käse nicht imitierbar.“ Später, als der Wirt den Käse aufgetragen hatte, fragte sich Oakins ernsthaft, ob er sich mit seinem letzten Satz nicht geirrt haben könnte. Sie erkundigten sich beim Wirt nach einer Engländerin, die in diesem Ort ein Häuschen geerbt hatte und vor einigen Tagen hierhergezogen war. Der Wirt wußte Bescheid: Das letzte Haus an der Straße nach Evran, gleich dahinter begannen die Karpfenteiche. Oakins und Coppard machten sich auf. Es war ein milder Abend mit dünnem Mondlicht; die Luft war still und trug jeden Ton weit. Das letzte Haus an der Straße nach Evran lag hinter Hecken und wurde von einem Nußbaum überwölbt. Oakins und Coppard bogen in die Felder ein und näherten sich von der Rückseite. Eine Hoflaterne brannte, eine Unterhaltung wurde geführt, von der nichts zu verstehen war; jemand lachte laut und herzlich. Einmal waren Hammerschläge zu hören, Türen wurden zugeschlagen. „Stell dir vor“, flüsterte Oakins, „die Tragg hat erfahren, daß zwei Engländer angekommen sind, sie riecht Lunte und verbuddelt den Stein.“ Nach einer Weile begann im Haus jemand Klavier zu spielen, ein Fenster stand offen, die Klänge drangen in die Nacht hinaus. Etwas Klassisches wurde gespielt,
Oakins lauschte, spürte, wie die Atmosphäre auf ihn zu wirken begann und seine Wachsamkeit einschläferte. Er riß sich aus dieser Stimmung heraus, zwang sich zu kombinieren. Er faßte Coppard am Ärmel, sie gingen um das Haus herum und stellten sich auf der anderen Straßenseite hinter einen Baum. Fünf Minuten später wurde das Tor geöffnet, drei Männer zogen einen gummibereiften Wagen heraus, auf dem ein klobiger Gegenstand lag. Oakins spürte einen Druck in der Brust vor Freude und Spannung, er überlegte fieberhaft, ob er zusammen mit Coppard versuchen sollte, die Männer zu überwältigen, aber er wußte nicht, in welchem Maße diese Hilfe aus dem Haus heraus erhalten konnten. Noch immer wurde drin Klavier gespielt, heiter perlten die Töne durch das Mondlicht; es war eine Szene von gespenstischer Gegensätzlichkeit. Der Karren wurde dicht neben Oakins vorbeigezogen, Oakins hörte, wie die Männer sich unterhielten; seine französischen Sprachkenntnisse reichten aus, einige Worte aufzuschnappen. Von einem Angler war die Rede und von einem Fahrrad, die drei lachten und waren vorüber. In einigem Abstand, im Schatten der Bäume folgten ihnen Oakins und Frank Coppard. Nach einem Kilometer bogen die drei Männer auf einen Weg ein, der an einem Teich entlangführte. Oakins und Coppard hörten Brocken einer Debatte, etwas klatschte ins Wasser, wenig später zogen die drei ihren leeren Wagen wieder an Oakins und Coppard vorbei. Die beiden Detektive blieben im Straßengraben hocken, bis alles ruhig war. Dann schlichen sie am Teich entlang bis dorthin, von wo das klatschende
Geräusch zu ihnen gedrungen war. „Da unten“, sagte Oakins, „liegt der Stein der Nancy-Treppe.“ „Jeden Karpfenteich kann man ablassen.“ Sie umrundeten den Teich und fanden einen Schützen, zogen ihn und hörten Wasser durch ein Rohr gurgeln. Danach kehrten sie zu der Stelle zurück, an der die Männer ihre Last abgeworfen hatten und starrten auf den Wasserspiegel, der sich langsam senkte. Manchmal durchbrach ein Fisch die Oberfläche, das war dann für längere Zeit das einzige Geräusch. Der Mond sank, stärkere Bewölkung kam auf, es wurde kalt. Oakins flüsterte: „Ganz gut, daß du gleich zu Beginn deiner Laufbahn solch eine Nacht durchmachst Das raubt dir alle Illusionen über die Romantik unseres Berufs.“ Das, dachte er, wäre eine Nacht nach Chandlers Geschmack; es ist schwer vorstellbar, Perry Mason stünde hier, der Klugscheißer, und Della Street hätte zweifellos zu zarte Fingerchen, einen Fünfzentnerstein aus dem Schlamm zu polken. Ergriffen und sehnsüchtig dachte Oakins: Guter alter Chandler! Gegen Mitternacht wurde ihnen klar: Vor dem Morgengrauen würde das Wasser nicht so weit sinken, daß sie an den Stein herankonnten. Sie stocherten mit einer Stange, die sie in der Nähe des Schützen fanden, im Wasser herum, förderten einen zerrosteten Eimer zutage, gaben es auf. Gegen zwei Uhr sagte Oakins: „Am besten ist, du gehst zurück ins Dorf, holst den Wagen und stellst ihn an der Straße ab. Wir fahren ihn erst hierher, wenn wir den Stein auf den Weg gewälzt haben.“ Nachdem Coppard gegangen war, umrundete Oakins noch einmal den Teich. Fleißig gurgelte das Wasser
unter dem Damm hindurch, in einer flachen Bucht war bereits Schlamm zu sehen. Oakins war zufrieden, daß seine Wildlederjacke den Wind abhielt. Als die Dämmerung über den Horizont kroch, war das Wasser so weit gesunken, daß die Karpfen unruhig wurden. Oakins erkannte einen kantigen Körper im Schlamm, krempelte die Hosenbeine hoch und stieg hinunter. Die Freude, am Ziel zu sein, ließ es ihn als geringfügig erachten, daß er bis an die Waden einsank. Er machte ein paar mühselige Schritte, verlor beinahe einen Schuh, riß das Bein aus dem Schlick, ein Karpfen sprang ihm gegen den Bauch. Das, was er anpackte, war nicht Stein, es war Holz, es war nicht der Stein vom Geländer der Nancy-Treppe, sondern eine Fischreuse. Noch bevor sich Enttäuschung in Oakins ausbreiten konnte, hörte er Stimmen, duckte sich auf die Reuse hinab, spürte Nässe in die Ärmel dringen und roch den Schlamm dicht vor seiner Nase. Wieder sprang ein Karpfen, diesmal vor seinem Gesicht, und spritzte ihm Schlamm in die Augen. Oben schlurften Schritte, eine Stimme sagte: „Sieh mal an, welch hübscher Fang!“ In Oakins stritten sich widerstrebende Gedanken, Zorn und Enttäuschung und Ratlosigkeit, sogar ein wenig Furcht. Er wünschte, er hätte nie diesen Auftrag angenommen oder zumindest Frank Coppard nicht weggeschickt, er wünschte, er wäre jetzt oben auf dem Weg und könnte davonlaufen oder den Kampf aufnehmen, und ein bißchen hoffte er sogar, die Männer hätten ihn nicht gesehen und die Bemerkung über den Fang hätte nicht ihm gegolten.
„Ein Karpfen der Extraklasse“, spottete einer der Männer. „Schau nur, was für einen feinen breiten Buckel er hat.“ „Es wird eine Freude sein, ihm die Därme herauszuschneiden. Ob wir ihm Zunder geben?“ „Er kommt uns nicht davon. Gaston, wir wollen ihn angeln. Ob er anbeißt?“ Oakins hob vorsichtig den Kopf. Er sah zwei Männer direkt über sich auf dem Damm, einer schwang eine Angelrute, etwas hakte sich in der Jacke über seiner Schulter fest. Einer der Männer spaßte: „Halt ihm den Haken vors Maul, Gaston. Fette Karpfen beißen auch ohne Köder.“ Im nächsten Augenblick spürte Oakins einen bösen Schmerz im Ohr, er zog hastig die Hände aus dem Schlamm, in diesem Augenblick schlug einer mit der Stange nach ihm, mit der er selbst vor kurzem im Teich gestochert hatte. „Du Hund!“ rief der Mann. „Du gottverdammter Schuft, das Wasser, ablassen und unsere Reuse plündern! Wir werden dir alle Knochen zerschlagen!“ Oakins schrie auf, als der Angelhaken mit einem Ruck aus seinem Ohr gerissen wurde, und entschloß sich zum Angriff. Flucht war sinnlos, er konnte nicht durch den ganzen Teich waten, und wo auch immer er ans Ufer zu kommen versuchte, diese zornigen Angler würden schon dort sein. „Ich hab’ den Teich nicht abgelassen!“ schrie er. „Ein Mißverständnis! Leute, laßt mich doch erklären!“ Ein Schlag mit der Stange auf den Kopf ließ ihn verstummen. Er stapfte weiter, wobei er die Arme über den Kopf hielt, der Angelhaken riß ihm den Ärmel auf, zum letzten Mal zog er den Fuß aus dem Schlamm und mühte sich den Hang hinauf. In kurzen Abständen klatschte die Stange auf ihn herab, er stöhnte und
fluchte und fühlte eine unbändige Erleichterung, als er die Männer auf gleicher Höhe vor sich hatte und zum Angriff übergehen konnte. Er tat so, als wollte er sich auf den Mann mit der Angel stürzen, sprang zur Seite, fiel den anderen an und warf ihn mit einem Ura-Nage zu Boden. Die Angelrute pfiff ihm übers Genick, er drehte sich um und sprang seinen zweiten Gegner an und stürzte ihn mit einem simplen De-Ashi-Bari, dem Fußfeger für Anfänger. Häßliche Freude erfaßte ihn, als er ihn in den Schlamm klatschen hörte, dann hatte er es wieder mit dem ersten Gegner zu tun, der sich aufgerappelt hatte und ihm die Stange gegen das Schienbein stieß. Der folgende Tai-Otoshi, der Körperwurf, war so stilrein, daß Kokichi Nagaoka seine helle Freude daran gehabt hätte. Nun lagen beide Gegner unten neben der Reuse. Oakins stand auf dem Damm, schlammbeschmiert, mit zerfetzter Jacke, mit blutendem Ohr. „Ihr Hundesöhne“, sprach er hinab, „beantwortet meine Fragen auf Ehre und Gewissen, sonst kommt ihr nie aus diesem Schlamm heraus. Wo hat die Tragg den großen Stein versteckt, den sie aus England mitgebracht hat?“ Unisono klang es vom Schlammgrund: „Welchen Stein?“ „Warum hat sie eine Speditionsfirma beauftragt, eine schwere Last zu befördern?“ „Kumpel“, stöhnte es aus der Tiefe, „ist ein Klavier etwa keine schwere Last?“ Oakins begriff, daß er umsonst die Tortur dieser Nacht auf sich genommen hatte. Unten im Dreck standen seine beiden Widersacher, rührten und regten sich nicht, emsig sprangen die Karpfen in den letzten Pfützen. „Hört gut zu“, sagte Oakins. „Ihr bewegt euch
eine halbe Stunde lang nicht von der Stelle. Wenn ich zurückkomme und ihr seid nicht am alten Fleck, stopfe ich euch mit dem Kopf zuerst in den Schlamm.“ Dann stapfte Oakins der Straße entgegen. Er hörte ein Auto auf ihr entlangfahren; es war der Kombiwagen, den Frank Coppard steuerte. Oakins zog seine Jacke aus und warf sie zu Werkzeug und Ersatzreifen, wischte sich notdürftig Hände und Gesicht ab und legte eine Decke auf den Sitz neben den Fahrer. „Wie ich von Anfang an vermutete“, erklärte er dabei, „hat die Tragg den Stein nicht gestohlen. Ich wollte nur sichergehen.“ „Chef, Sie scheinen ein wenig mitgenommen zu sein.“ „Nicht der Rede wert. Ich mußte ein halbes Dutzend Fischer über Sitte und Anstand belehren. Fahr los.“ Im Hotel badete Oakins und säuberte notdürftig seine Kleidung. Die Jacke steckte er schweren Herzens in eine Mülltonne. Er und Coppard gaben den Leihwagen in St. Malo ab und kehrten auf dem gleichen Wege nach London zurück, auf dem sie es verlassen hatten. Im Zug zwischen Southampton und dem Waterloo-Bahnhof sagte Oakins: „Bloß eins ist schade: Ich hätte mich an Ort und Stelle mit Käse eindecken sollen.“ In dieser Nacht schlief Oakins traumlos, am Morgen lag er eine Stunde lang wach und überlegte, welche Schlüsse hinsichtlich seiner Kleidung aus dem Verlust der Jacke zu ziehen waren. Er mußte sich ja nun nicht gerade in der Burlington-Arkade in Piccadilly einkleiden lassen, wo die Herrenausstatter ihre eleganten Läden hatten und die berühmten bunten Westen feilboten. Aber es ging auch nicht mehr an, daß er sich in einem
der Kaufhäuser, bei Harrod’s in der Brompton Road oder bei Selfridge’s in der Oxford Street, eine Wildlederjacke vom Haken nahm. Oder dies: Wildlederjacke und Maßanzug, jedes zu seiner Zeit? Zwei Stunden später kaufte Oakins eine Wildlederjacke; danach beauftragte er Harriet Flaherty, einen Schneider in der Nähe ausfindig zu machen und eine Konsultation zu vereinbaren. Ihre Fragen nach dem Ausgang seiner Frankreichreise wehrte er mürrisch ab. Am Nachmittag kreuzte Oakins erneut im Büro des klobigen Garvin in der King William Street auf. „Stephanie Tragg“, berichtete er, „hat nicht den Stein der Nancy-Treppe nach Frankreich transportieren lassen, sondern ihr Klavier. Ich hörte sie im Mondschein spielen, Brahms. Ich werde mich nun dem Patrioten zuwenden, der Ihre Firma mit einer Bande von Königsgrabplünderern verglichen hat.“ Garvin ließ sich die Personalakte des ausgeschiedenen Jim Davis bringen. „Achtundzwanzig Jahre alt, war fünf Jahre Soldat, auf eigenen Wunsch ausgeschieden, als er aus Arabien zurückkam. Seitdem im Baugewerbe. Mitglied der Konservativen Partei, bereits als Wahlredner tätig gewesen. Jetzt arbeitet er in Schottland im Dorfe Dores am Loch Ness.“ „Am Ende der Welt also.“ In der nächsten halben Stunde handelte Oakins seinen Spesensatz ein wenig hinauf, er hörte einiges über den Fortschritt beim Abbruch der London-Bridge und über die Schwierigkeiten beim Verladen der Steine. „Unsere Chemiker“, erläuterte Garvin, „haben inzwischen herausgefunden, welcher Mörtel achtzehnhunderteinunddreißig beim Bau der Brücke
verwendet worden ist. Wir wollen versuchen, die gleiche Zusammensetzung beim Wiederaufbau in den Staaten zu verwenden.“ „Der Ruf Ihrer Firma verpflichtet dazu.“ „Wenn Sie Erfolg haben, rufen Sie sofort hier an. Abends erreichen Sie mich im Baldwin-Club. Sie wissen“, dabei lachte Garvin dröhnend, „London ist die Stadt der Männer, die einen Lehnstuhl einer Frau vorziehen.“ Am Nachmittag hatte Oakins Gelegenheit, Grundzüge der Karate-Kunst in sich aufzunehmen. Kokichi Nagaoka erläuterte die Fußstellungen, die Haltung der Arme und Fäuste, Oakins ließ sich Rolle, Streckbank, Eisenschuh und Stock erklären, schlug Hand- und Armkante gegen das Polster des Makiwara, hundertmal von innen nach außen, hundertmal von außen nach innen, und schließlich sprang er fünfzigmal mit seitlich abgestrecktem Bein in die Höhe, den KeKomi, den Fußstoß gegen Magen, Rippen und Gesicht übend. Er stellte sich vor, er wäre gegen die normannischen Teichwächter mit dieser barbarischen Methode vorgegangen; zweifellos hätte er sich damit allerlei Hiebe erspart. Abends aß Oakins Knäckebrot und einen länglichen, rundlichen Sainte Maure, einen weißschimmligen Käse von herzhaftem Geschmack. Er las Gardners Krimi zu Ende und sann über die Formulierung der Annonce nach, mit der er um eine Assistentin vom Format einer Della Street werben könnte. „Intelligente, energische, sportliche junge Dame, die am Detektivberuf Interesse hat, unabhängig, sprachgewandt“ – welches Gehalt sollte er bieten? Die Übungen, die Oakins an diesem
Abend mit dem Expander absolvierte, fielen schwächer und lustloser aus als seit langer Zeit. Die Reise nach Schottland hinauf bedeutete für Oakins, der langes Autofahren nicht schätzte, eine Strapaze. Hinter Carlisle hatte er eine Reifenpanne, in Glasgow bekam er erst nach mühseligem Suchen ein Quartier, das nicht zu teuer war. An zerfallenden Werft- und Hafenanlagen vorbei, durch trostlose Städte und Industriesiedlungen mit kalten Schornsteinen fuhr Oakins nach Norden. Er kannte Schottland nicht und war beeindruckt von seiner Kargheit, seiner Weite und dem rauhen Klima. In den Grampian-Bergen ließ er seinen Wagen vor einem Dorfgasthof stehen und wanderte in die Hügel hinauf, stand auf hartem, dürrem Gras, sah Gehöfte mit schadhaften Dächern und schiefen Mauern und spürte den Wind, der bösartig aus einem kalten Himmel herunterfiel. Durch Regenschauer und Nebel fuhr er am Loch Ness entlang, in dem es die berühmte Schlange gab oder nicht gab, er versuchte sich vorzustellen, wie ein achtundzwanzigjähriger Betonarbeiter aussehen mochte, der so konservativ war, daß er die Tradition seiner Hauptstadt der Prosperität des Pfundes vorzog. Am Rande von Dores verkündete ein Plakat, am Abend spräche Jim Davis auf einer Wahlversammlung zum Thema: „Britanniens Größe – Schottlands Größe“. Ein Bild zeigte den Kopf eines Mannes mit dunklem Haar, starken Brauen und tiefliegenden Augen; solche Gesichter, besann sich Oakins, hatte er auf Stichen gesehen, die mittelalterliche Aufrührer zeigten, deren Köpfe man auf die Zinnen des Tower gespießt hatte.
Im Gasthof, in dem Jim Davis sprechen sollte, nahm Oakins ein Zimmer und spazierte danach durch die Ortschaft. Er sprach mit traurigen alten Männern, hatte den Geruch von Schafdung in der Nase und am oberen Ende des Dorfes die scharfen Ausdünstungen einer Whisky-Fabrik. Neben einem Schafstall entstand ein Silo, den Mischer bediente ein schlanker Mann von asketischem Aussehen, zweifelsfrei Jim Davis. Oakins entschloß sich, den Abend abzuwarten. Noch eine Viertelstunde nach dem festgesetzten Versammlungsbeginn war die Gaststube halb leer. Da erhob sich Jim Davis, schob hastig Papiere auf seinem Pult hin und her, fuhr sich durchs Haar, räusperte sich. Die Konservative Partei, so eröffnete er, begänne die Wahlkampagne mit dieser Aussprache, um den schottischen Separatisten endgültig die heuchlerische Maske vom Gesicht zu reißen. Schottlands Größe sei immer mit Britanniens Größe eng verbunden gewesen, das weise die Geschichte hundertfältig aus. Und schon schlug sich Davis mit der Frage herum, ob es Rechtens gewesen war, Maria Stuart aufs Schafott zu führen, er verweilte bei den Rosenkriegen, rühmte die Hochlandregimenter des ersten Weltkrieges, verwies auf die Erzählungen seines Vaters, der im zweiten Weltkrieg Seite an Seite mit den Schotten in der ruhmreichen Long Ranch Desert Group gekämpft hatte. Er sprach leidenschaftlich, wenn auch in nicht immer vollständigen Sätzen, und es gelang ihm, das Dutzend Zuhörer, ausschließlich Männer, eine Weile zu fesseln. Als sich Davis aber der gegenwärtigen wirtschaftlichen Lage Schottlands im allgemeinen und dieses Ortes im besonderen zuwandte, erntete er erstes Murren. In helle Empörung schlug es um, als er
an die Opferbereitschaft eines jeden Patrioten appellierte. Männer sprangen auf und redeten dazwischen, bisweilen schrien drei auf einmal, und der, der am heftigsten opponierte, war ein fünfzigjähriger Mann mit brandroten Haaren. Um Straßen- und Kanalisationsbau ging es, um die Abwanderung der Jugend, das Sinken der Wollpreise. Schutzzölle und Subventionierung aus Staatsmitteln wurden gefordert, und wenn das von den Konservativen nicht zugesichert werden konnte, mußte man die Separatisten wählen, basta! „Schottland“, schrie der Rothaarige, „ist drauf und dran, zum Armenhaus Großbritanniens zu werden! Wir liegen am Rande des EWG-Raumes und sind durch die Natur alles andere als begünstigt. Deshalb müssen wir uns, wenn kein anderer uns hilft, selber helfen!“ Der Rothaarige war, das wurde wenig später offenbar, der Ortsvorsitzende der Separatistenpartei. Durch seine Argumente kam Davis unter die Räder, packte seinen Zettel zusammen und erklärte die Versammlung als geschlossen. Später, auf der Dorfstraße, kam Oakins mit Davis ins Gespräch. Er bezeichnete sich als Touristen, der die Einsamkeit liebte, beteuerte seine Freude, hier oben einen Londoner zu finden. Sie gingen einmal die Dorfstraße hinauf und hinunter, dabei brach aus Davis eine Flut von Enttäuschung heraus. Oakins brauchte kaum zu fragen, er erfuhr auch so fast alles, was er wollte. Davis war als Sohn eines Berufssoldaten aufgewachsen, hatte schon als Kind von der Größe Englands geträumt. Als Soldat hatte er in Südarabien gedient, hatte sich nach der Heimkehr demobilisieren lassen und war in seinen erlernten Beruf
zurückgekehrt. Überall sah er, wie der Stern seines Vaterlandes verblaßte. „Ich mußte mit ansehen“, tastete Oakins vor, „wie eines der Wahrzeichen unserer Hauptstadt, die London-Bridge, abgebaut wird. Sie wissen, daß man sie nach Amerika verkaufen will?“ „Ich weiß es. Übrigens bin ich hier zu Hause.“ Davis wünschte Oakins flüchtig eine gute Nacht und verschwand in der Dunkelheit. War, so fragte sich Oakins, dieser Abschied nicht recht unvermittelt gekommen? Er ging zur Gastwirtschaft zurück; vor deren Tür traf er den Rothaarigen. „Bißchen kühl zum Spazierengehen“, sagte der, „oder wie?“ „Nicht für einen Naturfreund.“ „Wir sehen Touristen gern, sie bringen Geld hier herauf. Aber vielleicht sind Sie gar kein Tourist, sondern von der Zeitung? Oder gar von dieser verdammten Labour-Party?“ „Weder noch. Ich bin jemand, der Ihnen einen Gefallen tun könnte. Ich bin nämlich in der Lage, Ihnen Davis vom Halse zu schaffen.“ „Großartig. Ich heiße übrigens Sharty!“ „Erfreut, Mister Sharty. Gehen wir mal ein paar Schritte von hier fort?“ Auf einem Feldweg, zwischen Koppelzäunen berichtete Oakins, wer er war und was er suchte. Leise pfiff Sharty durch die Zähne. Er fragte: „Was wiegt dieser Stein?“ „Mehr als fünf Zentner.“ „Nichts für die Uhrkette. Wie finden Sie das: Drei Tage, nachdem Davis hierhergekommen ist, hat er sich oben am Hünengrab zu schaffen gemacht. Und
dann ist ein Wagen einer Speditionsfirma aus Glasgow hinaufgefahren.“ „Wo liegt dieses Hünengrab?“ „Drei Kilometer dort hinüber, man muß zwischen Sümpfen hindurch und ein Stück über die Heide.“ „Zeigen Sie mir den Weg?“ „Wenn es gegen Davis geht, immer.“ Die Fahrt war beschwerlich, einmal blieb der Wagen fast im Sand stecken. Oakins mutmaßte: „Wenn nicht alles täuscht, sind Sie Ihren Konkurrenten morgen los.“ „Vielleicht steigen wir besser aus.“ Oakins nahm eine Taschenlampe aus dem Handschuhfach. Er und Sharty gingen um Sumpflöcher herum und stiegen einen Hügel hinauf; da hörten sie Metall gegen Stein schlagen. Ein Lichtschein huschte an einem Felsbrocken hinauf, kratzende Geräusche wurden deutlich. Dann sahen sie den Schatten eines gebückt stehenden Mannes, hörten ein Ächzen. Oakins richtete den Schein seiner Taschenlampe gegen den Mann, sagte: „Geben Sie auf, Davis!“ Davis ließ den Spaten fallen. In einer flachen Grube lag ein in Säcke eingehüllter Quader; Oakins bat Sharty, die Säcke beiseite zu schieben, er sah einen Stein mit römischen und arabischen Zahlen: XII-304007. „Der Geländerstein der Nancy-Treppe“, konstatierte er, „Davis, warum haben Sie ihn nach Schottland bugsiert?“ „Später“, murmelte Davis, „wenn Britannien wieder erstarkt ist, wollte ich um ihn herum ein Denkmal errichten lassen.“
„Hier zwischen den Hünengräbern wäre kein schlechter Platz. Ich achte Ihre Motive, bin jedoch meinem Auftraggeber verpflichtet. Das einzige, was ich für Sie tun kann: Ich werde die Brower-undBrownde-Corporation bitten, von einer Strafanzeige abzusehen.“ „Und ich gebe dir Hund ebenfalls eine Chance“, grunzte Sharty. „Morgen früh packst du deine Klamotten und verschwindest aus Dores!“ „Warum, Davis“, fragte Oakins, „haben Sie den Stein heute nacht wieder ausgegraben?“ „Ich wurde stutzig, als Sie die London-Bridge erwähnten. Da besann ich mich: Ich hatte Ihr Bild schon einmal in der Zeitung gesehen. Sie sind Pat Oakins?“ „Ich bin’s“, antwortete Oakins wie nebenbei. „In dieser Situation haben Sie einen weiteren Fehler gemacht. Wenn Sie schon wußten, daß ich Ihnen auf den Fersen bin, hätten Sie einsehen müssen, daß jede weitere Mühe sinnlos ist.“ Er ging zu seinem Wagen zurück und fuhr ihn noch ein Stück an das Hünengrab heran. Die beiden Gegenspieler um die politische Macht in Dores halfen einträchtig, den kostbaren Stein im Kofferraum zu verstauen. Langsam und voller Furcht um die Federn seines Wagens rollte Oakins zum Gasthof zurück. Er schlief noch ein paar Stunden und machte sich in aller Frühe auf die Rückfahrt. Einen Tag lang hockte Oakins hinter dem Steuer und durchquerte die Insel von Nord nach Süd fast in ihrer ganzen Länge; als er am Ziel den Motor abstellte, zerrte die plötzliche Ruhe an seinen Nerven. Er ging in seine Wohnung hinauf, rief den Baldwin-Club an und
bat Mister Garvin an den Apparat. „Hier Oakins, ihr Auftrag ist erfüllt. Der Stein liegt im Kofferraum meines Wagens.“ Einen Augenblick war Stille, dann sagte Garvin ergriffen: „Ich danke Ihnen, Oakins, in meinem Namen und im Namen meiner Firma. Ich glaube sogar sagen zu dürfen: Im Namen Englands. Kommen Sie bitte sofort in den Baldwin-Club. Ich möchte Sie meinen Freunden vorstellen.“ „Ihre Einladung ist mir eine Ehre, und bei späterer Gelegenheit werde ich gern von ihr Gebrauch machen. Im Augenblick ist es mir leider unmöglich, ihr zu folgen. Sie werden verstehen: Eine Dame wartet.“ Er hängt auf, aß einen Carré demi-sel und stellte sich unter die Dusche. Seinem Expander warf er noch einen schuldbewußten Blick zu, dann kroch er unter die Decke. Am nächsten Morgen steuerte Oakins seinen Wagen in die City hinein und bugsierte ihn in den Hof des Bürohauses, in dem die Brower-und-BrowndeCorporation ihren Sitz hatte. Strahlend empfing ihn Garvin; ihm und einigen weiteren Herren voran ging Oakins auf den Hof hinunter. „Es war“, erklärte er dabei seinem Gefolge, „mir nur möglich, diesen Fall außerordentlich schnell aufzuklären, weil ich mir meine Kenntnisse der innerschottischen Verhältnisse zunutze machte. Schottland, am Rande des EWG-Gebietes gelegen, ist drauf und dran, zum Armenhaus Großbritanniens zu werden. Deshalb ist es zerrissen von politischen Gegensätzen. Geschickt spielte ich eine Partei gegen die andere aus, das Ergebnis sehen Sie hier: Ich holte den gestohlenen Stein der Nancy-Treppe nach London zurück.“ Mit diesen Worten öffnete er den Kofferraum,
schlug die Säcke beiseite, blickte auf einen hellen, rohen Granitbrocken, hörte hinter sich Garvins erstauntes Räuspern und stieß heraus: „Aber gestern abend war er noch da!“ „Und im Augenblick“, erwiderte Garvin, „ist er jedenfalls nicht da.“ Auf dem Weg hinauf in Garvins Büro sprach Oakins kein einziges Wort. Diesmal schlug er einen Sherry keineswegs ab. „Wir müssen darüber nachdenken“, murmelte er, „wer uns diesen Streich gespielt haben könnte.“ „Ich habe den Eindruck, daß Sie darüber nachdenken müssen.“ „Einige Fragen nur: Wem haben Sie gestern abend erzählt, daß ich den Stein gefunden habe?“ „Meinen Freunden im Club natürlich. Für mich war es der Anlaß, ein paar Flaschen Sekt zu spendieren.“ „Wer befand sich in Ihrer Umgebung?“ „Es gehört zu den ungeschriebenen Gesetzen des Baldwin-Clubs, daß über Interna nicht gesprochen wird.“ „Aber Sie würden eine Einladung wiederholen?“ „Das ist keine Frage.“ Oakins erhob sich. „Sie werden von mir hören.“ Er fuhr zu seinem Büro und ließ sich von Harriet Flaherty informieren, was während seines Schottlandbesuchs geschehen war. Der Fischhändler aus Brixton bat abermals, ihm bei der Suche nach seiner verschwundenen Frau zu helfen, ein Schneidermeister hatte sich bereit erklärt, für Oakins kurzfristig einen Anzug zu liefern. „Alles zu seiner Zeit“, entgegnete Oakins und rief Frank Coppard an. „Können Sie herkommen?“
Zwei Stunden später schleppten er und Frank den Granitbrocken ins Büro und betrachteten ihn stumm. Danach schickte Oakins den Jungen weg und setzte sich hinter seinen Schreibtisch. In Gedanken streifte er durch die letzten Tage, versuchte herauszufinden, welchen Fehler er gemacht hatte. Wie auch immer, er durfte über diesen einzelnen Fall nicht das Große und Ganze aus dem Auge verlieren. Er brauchte einen Anzug, er brauchte eine Helferin vom Format einer Della Street. „Was“, sagte er zum Fenster hin, „gibt es Neues in London?“ „Die Staatsanwaltschaft hat die Anklageschrift gegen Curtin wegen Mord und gegen seine Frau Helen wegen Beihilfe zum Mord fertiggestellt, der Prozeß beginnt in zwei Wochen vor Old Baily.“ „Es wird nicht ohne meine Zeugenschaft abgehen.“ Einen Nachmittag lang quälte sich Oakins im Dojo des Kokichi Nagaoka am Makiwara und mit dem Eisenschuh, stippte seine Fingerkuppen in eine Schüssel mit Maiskörnern und übte verbissen den Empi-Uchi, den geraden Schlag, bei dem die Schulter nicht mitgehen darf. Er sah zu, wie ein athletisch gebauter junger Mann den Hitsui-Geri, den Kniestoß, immer und immer wieder gegen die abblockenden Hände seines Lehrers führte. Später ging Nagaoka noch ein Viertelstündchen mit Oakins auf die Matte zum Judo-Kampf, er fällte den Detektiv zum Schluß mit einem Yama-Arashi, dieser Spezialtechnik, zusammengesetzt aus Ausheber und Niederwurf mit Beinfegen. Rippen, Schultern und Arme schmerzten Oakins danach wie lange nicht mehr, aber sein Gesichtsausdruck bei der Verbeugung war gelassen, wie das Gesetz es befahl.
Am Abend in der Stille seines Zimmers feilte Oakins an einem Anzeigentext. „Bestens eingeführte Detektei sucht junge, energische, kluge Assistentin, die gewillt ist, voll und ganz in ihrem Beruf aufzugehen. Führerschein, Sprachkenntnisse, sicheres Auftreten Bedingung.“ Am nächsten Morgen gab er sie in einer Annoncenstelle der „Times“ ab. Die Suche nach der Fischhändlersgattin verlief auch diesmal erfolgreich. Einer Eingebung zufolge suchte Oakins einige der Männer auf, zu denen sie sich schon einmal geflüchtet hatte. Beim dritten traf er sie an; sie war dabei, Makkaroni zu kochen. Er wartete, bis diese gar waren, und aß zusammen mit dem illegitimen Paar, denn die Einladung erfolgte so herzlich, daß es unhöflich gewesen wäre, sie abzulehnen. „Ihr Gatte“, sagte er beim Kompott, „macht sich ernsthafte Sorgen.“ „Ich weiß, es ist immer so. Aber warum mußte er darauf bestehen, daß ich auch nach Feierabend noch Rollmöpse wickelte? Ich hatte an diesem Tag bereits zweihundert Stück gespießt.“ „Eine Unüberlegtheit, gewiß. Aber man sollte bei einigem guten Willen darüber wegkommen können.“ Der Hausherr, ein U-Bahn-Schaffner, brummte unwillig: „Beim letzten Mal solltest du Fischklopse braten.“ „Eine Zumutung“, bestätigte die Frau. „Mein Haar riecht danach tagelang. Oakins riet: „Vielleicht sollten Sie Ihren Gatten überreden, daß er nur noch mit Konserven handelt?“ „Eine gute Idee.“ Die Frau nahm den Mantel, von der Tür her rief sie: „Ich werde mit meinem Mann darüber reden. Tschüs allerseits.“
Der U-Bahn-Schaffner maulte: „Nun habe ich den Abwasch für drei. Oder helfen Sie abtrocknen?“ „Muß zum Schneider“, antwortete Oakins. „Vielleicht beim nächsten Mal.“ Der Anzug würde ein Gedicht werden, das merkte Oakins schon bei der ersten Anprobe. Er betonte die Breite seiner Schultern, ließ ihn in der Hüfte schmal erscheinen, streckte die Beinpartie. „Sie werden“, erklärte der Schneider, „mit diesem Anzug vor die Königin hintreten können.“ „Zumindest vor die Herren des Baldwin-Clubs.“ Eine Stunde später rief Oakins wieder bei Garvin an. „Sie hatten vor kurzem die Freundlichkeit, mich in Ihren Club einladen zu wollen.“ „Eine Zwischenfrage: Was macht der Stein?“ „Werden Sie bitte nicht ungeduldig, London-Bridge wird auch nicht an einem Tag abgerissen. Ich möchte mir die Herren ansehen, denen Sie in einer Sektlaune von unserem Steinchen erzählt haben.“ „Gut“, erwiderte Garvin eine Spur freundlicher, „ich werde Sie morgen abend einführen. Eines unserer Mitglieder, ein ehemaliger General, spielt eine Memoirenplatte vor.“ Der Anzug wurde rechtzeitig fertig, Oakins spreizte sich in ihm vor den Augen seiner Sekretärin. Im Alkoven vervollständigte Oakins seine Toilette: Er klebte sich ein Bärtchen über die Oberlippe, verlängerte seine Koteletten bis zum Unterkiefer und setzte eine fensterglasbestückte Hornbrille auf. Begeistert schlug Harriet die Hände über dem Kopf zusammen. „Mein Gott“, rief sie, „man wird Sie für einen Priesterschüler halten!“
Oakins knurrte: „Warum nicht gleich für einen Untersekundaner?“ In diesem Aufzug schritt Oakins an Garvins Seite die Marmortreppe des Baldwin-Clubs hinauf und trug sich als Dr. Bloomsbrick, Privatgelehrter, in das Gästebuch ein. Ernst und würdig verbeugte er sich vor ernsten und würdigen Herren und nahm in einem Vortragssaal Platz. Brigadegeneral Coolborough, unter dessen Rhododendronbüschen Oakins jüngst in Deckung gegangen war, betrat das Podium mit federnden Schritten. Er trug Uniform mit Orden und Barett und sprach mit knapper Diktion einführende Worte über die Kämpfe um Mandalay im April 1942, über den letzten Angriff der ruhmreichen Longhorse-Dragoner gegen eine japanische Übermacht. Seine Platte lief ab: Handgranaten detonierten, Stukas heulten, Maschinengewehre hackten, der General schrie, das dritte Bataillon sollte durch die Reisfelder angreifen, linke Grenze Straße ausschließlich, rechte Grenze Anschluß zwotes Bataillon. Ein altes englisches Soldatenlied erklang, die Stimme des Generals erhob sich zu sachlichem Vortrag, schilderte den Werdegang der Longhorse-Dragoner seit ihrer Gründung im Jahre 1812, ihren Kampf gegen Napoleon, ihren Einsatz in Indien und Burma, die Landung in Saloniki im ersten Weltkrieg und den Marsch bis Belgrad, ihren ruhmreichen Untergang endlich im zweiten Weltkrieg bei Mandalay. Wieder heulten Stukas, rasselten Panzerketten. Aber der Angriff durch die Reisfelder kam nicht vorwärts, Verwundete stöhnten. Eine Krise drohte, das begriff selbst Oakins, der nie Soldat gewesen war. Der Schlachtenlärm brach ab, der
General erhob sich vom knarrenden Stuhl neben dem Tonbandgerät, wendete die Platte. Die zweite Seite begann mit schmetternder Marschmusik, orientalische Klänge folgten, der General pries den Burmareis als den besten der Welt. Mit einer Detonation, die einen schlummernden Herrn neben Oakins aufschrecken ließ, begann neues Gemetzel, in den Reisfeldern bahnte sich eine Katastrophe an, der General rief nach Reserven, aber sein Adjutant teilte lakonisch mit, dieselben wären aufgebraucht Mit dem Abgesang von Glory Halleluja endete das erstaunliche Rillenwerk. Dem General wurde gedankt, Schweigen folgte, Oakins hatte Zeit, sich umzuschauen, musterte Gesicht nach Gesicht, keines kannte er. Während Oakins mißmutig den Hals am ungewohnt engen Hemdkragen scheuerte, belebte sich die Diskussion. Ein alter Herr stieß knotige Finger vor, während er behauptete, es hätte der Platte gutgetan, wäre sie mit dem River-Kwai-Marsch beschlossen worden, im übrigen vertrete er durchaus nicht die Auffassung, der burmesische Reis wäre der beste der Welt. Der nächste Redner lobte die Realistik der Schlachtendarstellung und hätte sich mehr davon gewünscht, vor allem hier und da ein Hornsignal. Zwei Herren gerieten in einen Disput, ob eine Panzerkette im Reisfeld rasseln könnte, und einigten sich schließlich, es möchte gehen, wenn das Wasser nicht höher reichte als bis zur Unterkante der Stützrollen beim Mark III und der Stützrollenmitte beim Mark IV. Hohngelächter war die Antwort: War den verehrten Herren nicht bekannt, daß kein einziger Mark IV in Burma eingesetzt worden war?
Mit wachem Ohr folgte Oakins dieser profunden Debatte. Er hielt sich zurück, als sich der General anschickte, Exemplare der neuesten Auflage von „Pagoden und Banditen“ zu signieren, und verließ den Raum, als die Forderung laut wurde, die Rückseite der Platte noch einmal abzuspielen. Mißmutig stand er an der Tür zur Bibliothek, sich ernsthaft fragend, ob die Ausgabe für den Anzug und die Strapaze dieses Abends sich gelohnt hatten, als ein Mann an ihm vorbeiging. Eine Sekunde später wußte er: Dieser Mund war unverwechselbar, es war ein Harrison-Mund, es waren diese schmalen, harten Lippen, die sich vom Vater auf die Söhne vererbt hatten. Da ging Pit Harrison, der jüngste der Brüder. Oakins ließ ihn nicht aus den Augen. Im Salon des Clubs sah er sich genötigt, ein Gedeck zu sich zu nehmen, denn auch Harrison speiste; die Mahlzeit bestand aus Spargelcremesuppe, überbackenen Kalbshirnröllchen, Türkenspieß mit Bratkartoffeln und hatte gut und gern ihre 1800 Kalorien. Fettsäuren und Verdaulichkeitsgrade des Eiweißes, darüber war sich Oakins im klaren, waren ungünstig, aber er mußte dieses Opfer bringen, wenn er in der Nähe seines Feindes bleiben wollte. Oakins zahlte und beobachtete Harrison, wie dieser das gleiche tun wollte, im Portemonnaie kramte und nicht die passenden Münzen fand. Ein umständliches Hin und Her mit dem ClubDiener begann, schließlich erhob sich Pit Harrison mit verärgertem Gesicht, woraus Oakins schloß, daß Harrison mehr Trinkgeld hatte geben müssen, als er gewollt hatte. Dieser Feind war geizig. Bald darauf zog sich Pit Harrison zurück. Oakins hatte wenig Mühe, seinem Wagen zu folgen, denn um
diese Mitternachtsstunde lagen die Straßen leer. Harrison steuerte über die Themse nach Battersea, durchquerte Wandsworth und hielt in Wimbledon in einer Villenstraße. Oakins parkte zwei Straßen weiter und ging zu Fuß zurück. Im Treppenhaus erlosch soeben das Licht. Auf einem Messingschild las Oakins: Pit Harrison, Privatdetektiv. Eine Weile blieb Oakins vor dem Gitter stehen, lauschte, dachte nach. Er betrachtete die Umrisse eines zweistöckigen Wohnhauses, das von Büschen und Bäumen umgeben war; wenn nicht alles täuschte, lag dahinter ein Nebengebäude. Oakins ging zurück zu seinem Wagen und steuerte ihn nach Norden hinauf, wobei er die Größe Londons verfluchte. Kurz nur war diesmal seine Arbeit am Expander. Am nächsten Morgen rief er die Coppard-Brüder in sein Büro. „Vermutung Nummer eins“, verkündete er, „Pit Harrison hat den Stein gestohlen. Vermutung Nummer zwei: Er ist zu geizig, ihn einfach in die Themse zu schmeißen. Mein Schluß: Der Stein liegt im Schuppen hinter seinem Haus,“ „Kein Problem.“ Frank Coppard rollte die Schultern. „Ohne Gewalt, wenn ich bitten darf!“ Oakins fügte hinzu: „Wenn es irgend geht.“ „Vielleicht“, riet Bob, „sollten wir uns als Grabsteinhändler ausgeben?“ „Keine üble Idee. Sollten wir darauf zurückkommen, ist dir eine Prämie von einem Pfund sicher. Zunächst schnüffelt ihr einmal um das Haus herum.“ „Wir behaupten, wir kämen vom Elektrizitätswerk“, sagte Bob. „Wir müßten die Leitungen kontrollieren.“ Die beiden Coppards verschwanden. Oakins rief Garvin an, teilte ihm mit, der Abend im Baldwin-Club
sei über die Maßen anregend gewesen, und wenn er sich nicht sehr täuschte, war er auf einer heißen Spur. Eine Stunde später brach das Chaos über Oakins’ Büro herein. Als erste drang eine stämmige Frau mittleren Jahrgangs durch die Tür, die die „Times“ schwenkte und rief: „Ich bin genau die richtige für Ihren Chef. Melden Sie mich sofort bei ihm an, junger Mann!“ „Ich treffe eine Vorauswahl“, erwiderte Oakins kühl. „Sprachkenntnisse? Abitur?“ „Unsinn. Ich komme vom Varieté, ,Die vier Tornados’, schon gehört? Ich habe fünf Jahre als Untermann gearbeitet.“ „Und was machen die übrigen drei Tornados ohne Sie?“ „Fragen Sie nicht so dämlich, melden Sie mich an. Sagen Sie Ihrem Chef, Emma Peel die Zweite möchte ihn sprechen.“ „Die Stelle ist besetzt“, log Oakins und vertiefte sich in seinen Käseprospekt. Maulend zog die Artistin ab. Nach ihr trat eine Lehrerin mit vortrefflicher Aussprache auf, die gelobte, Tag und Nacht im Dienste der Gerechtigkeit arbeiten zu wollen, auch für vergleichsweise geringes Entgelt. Oakins schickte sie weg und bereitete einer siebzehnjährigen, kurzsichtigen Lyzeumsschülerin, einem Dienstmädchen, das schwor, alle Fernsehsendungen der Serien „Auf der Flucht“ und „Simon Templar“ gesehen zu haben, und einer verkrachten Medizinstudentin, die sich an der Männerwelt rächen wollte, das gleiche herbe Schicksal. Neugierig wurde Oakins, als eine hübsche, sehr gepflegte Dame weder schüchtern noch keß hereintrat,
sich als Kennerin des Deutschen, des Holländischen, Dänischen und Schwedischen entpuppte, eine Urkunde vorlegte, die sie als die Hürdenmeisterin der Grafschaft Kent auswies, und angab, sie hätte eine Anstellung als Direktrice in einem Warenhauskonzern aufgegeben, um ihren Interessen zu leben. „Ich bin nicht unvermögend“, schloß sie bescheiden. „Wir sollten es miteinander versuchen.“ Ihre Augen wurden rund vor Erstaunen. „Ich dachte, ich arbeite mit dem Chef zusammen.“ „Der Chef bin ich.“ „Ach so“, sagte die Dame verblüfft. Sie lächelte bereits wieder, als sie hinzufügte: „Vielleicht sollte ich mir Ihr Angebot noch einmal überlegen.“ Damit ging sie. Eine Zeitlang saß Oakins in tiefem Mißmut. Sein Gemüt hellte sich auf, als eine Frau eintrat, die nicht zu alt und nicht zu jung für seine Idealvorstellung, blond und langmähnig und langbeinig war und eine großartige Figur und das bezauberndste Lächeln hatte, das Oakins sich vorstellen konnte. „Ich heiße Mary Glenn“, sagte sie, „und hoffe, die Stelle ist noch nicht vergeben.“ Oakins wollte Mißverständnisse nicht aufkommen lassen. „Ich bin Pat Oakins. Vielleicht haben Sie gelesen, daß ich die Leiche in den Mendip-Hügeln gefunden habe, die Varney seinen größten Erfolg ermöglichte.“ „Aber natürlich!“ Mary Glenn schleuderte ihre Haare aus dem Gesicht. „Auf den Bildern trugen Sie ebenfalls Wildlederjacke und Rollkragenpullover. Wie habe ich seit damals gehofft, Sie kennenzulernen!“
Oakins räusperte sich vergnüglich. Fast war er zu der Annahme geneigt, daß es bei dieser Frau auf Sprachkenntnisse nicht so sehr ankam, aber er fragte dennoch. Die Antwort war: „Französisch, Deutsch, Italienisch, ein wenig Spanisch.“ „Sie treiben Sport?“ „Fechten, Reiten, Pistolenschießen und Federball.“ „Sie sind gereist?“ „Italien, Frankreich, das Rheinland, eine Woche Leningrad. Einmal Portugal, Irland häufig.“ Oakins, der sich vorgenommen hatte, als Anfangsgehalt zehn Pfund in der Woche zu bieten, schlug vor: „Pro Woche fünfzehn Pfund? Natürlich können Sie sich hinaufarbeiten, und von Fall zu Fall könnte ich eine Prämie aussetzen.“ „Und ich darf mich darauf verlassen, daß ich wirklich eng mit Ihnen zusammenarbeite?“ „Selbstverständlich.“ „Dann bin ich einverstanden.“ Mary Glenn erhob sich, ging mit dem reizendsten Lächeln auf Harriet Flaherty zu, gab ihr die Hand, sagte, daß sie sich bestimmt verstehen würden. Harriets säuerliche Miene hellte sich ein wenig auf. Oakins überlegte gerade, womit er Mary Glenn nun beschäftigen sollte, als das Telefon klingelte. „Chef“, berichtete Bob Coppard, „dieser Gauner ist gerade weggefahren. Sollen wir den Elektrikertrick probieren?“ „Aber geschmackvoll, wenn ich bitten darf! Ich komme auf einen Sprung zu euch, obwohl ich hier vor Arbeit nicht ein noch aus weiß.“ Oakins wies seine Sekretärin an, die neue Mitarbeiterin mit der Kartei vertraut zu machen, ruckte den Reißverschluß nach
oben und fuhr sich mit dem Kamm durchs Igelhaar. „Das nächste Mal“, sagte er mit ermunterndem Nicken zu Mary Glenn, „dürfen Sie schon mitkommen!“ Er fuhr nach Wimbledon und hielt in der Nähe des Hauses, in dem am vergangenen Abend Pit Harrison verschwunden war. Nach einer Weile sah er die Coppard-Brüder herauskommen, sie trugen Overalls und Werkzeugtaschen. Vor einem Leitungsmast blieben sie stehen und starrten nach oben; anscheinend führten sie eine fachliche Debatte. Sie schlenderten um das Haus herum und verschwanden im Schuppen, kamen wieder heraus, zündeten sich Zigaretten an und bummelten die Straße hinunter. Als sie an Oakins vorbeigingen, zog Bob die Mundwinkel herunter; da wußte Oakins, daß die Suche vergeblich gewesen war. Er erwog gerade, seine frischgebackene Assistentin vorzuschicken, als ein Wagen vor dem Haus hielt, in dem zwei Männer saßen. Der eine war Pit Harrison; er ging ins Haus und kam kurz darauf mit einer Aktentasche zurück und stieg wieder ein. Der Wagen fuhr an Oakins vorbei; da erkannte Oakins den anderen: Es war Sam, der älteste der Harrisons. Oakins machte sich an die Verfolgung. Die Harrisons steuerten weiter nach Westen hinaus, in Kingston hielten sie vor einer Gärtnerei. Einem zweiten Wagen entstiegen zu Oakins’ maßloser Verwunderung die Herren Garvin und Croft. Hüte wurden gelüftet, die vier betraten die Gärtnerei, Oakins sah sie zwischen Gewächshäusern verschwinden. Er beschloß, ihnen nachzugehen. Ein paar Minuten später stand er auf einem Komposthaufen und spähte durch Bohnengestänge und nicht sehr saubere Glasscheiben in ein
Gewächshaus hinein, in dem die vier Männer beieinanderstanden und debattierten. Er konnte nichts hören und nicht genügend sehen, so kroch er durch die Bohnenranken näher heran. Weiter oben stand eine Klappe offen, da schwang er sich auf einen Mauersims, bekam einen Haken zu fassen und zog sich hinauf. Noch kam er nicht so weit an die Klappe heran, daß er das Gespräch hätte verstehen können, doch sah er jetzt, daß die vier auf etwas herabblickten, das zwischen ihnen zu ihren Füßen lag. Oakins kletterte noch ein Stück hinauf, bog sich zur Seite, sah, daß es ein Quader war. In diesem Augenblick löste sich der Haken aus der Mauer, Oakins konnte sich im Fallen noch so weit drehen, daß er mit den Füßen zuerst durch die Glasscheibe brach, riß die Arme vors Gesicht, hörte Krachen und Splittern, prasselte durch Blätter und Äste und schlug Sam Harrison gegen den Rücken. Er bekam die Faust des jungen Harrison gegen den Magen, hörte den Ruf Garvins: „Aber meine Herren!“, warf seinen Gegner mit einem Hidari-TaiOtoshi zurück, beschloß, da er es mit einer Übermacht zu tun hatte, Karate anzuwenden, sah, wie Croft sich auf ihn stürzen wollte und sprang zum Ke-Komi hoch. Jetzt hätte er dem jungen Amerikaner den Fuß ins Gesicht stoßen müssen, zog schon das Knie an, aber in diesem Augenblick fielen ihm Crofts wunderbare Zähne ein, das ließ ihn zögern, er fiel auf die Hände, wälzte sich blitzschnell zur Seite in den Mulm unter einem Zierstrauch; dort, durch stachlige Blätter gedeckt, war er fürs erste sicher. Was er sah, war ein Steinquader mit den teerfarbenen Ziffern XII-304-007, und was ihn bedrückte und verwunderte und gleich darauf mit Selbstachtung erfüllte, war die Tatsache, daß er es
nicht fertiggebracht hatte, Zähne zu zertrümmern, die von der Natur begnadet, durch emsiges Gummikauen gekräftigt und durch wirkstoffhaltige Pasten gepflegt waren. War, so fragte sich Oakins gerührt, er vielleicht im Grunde seines Herzens ein gütiger Mensch? „Mister Oakins“, bat Garvin, „kommen Sie doch heraus!“ Sam Harrison warf ein: „Mister Garvin, Sie können sich ja von unserem Meisterdetektiv beim Aufladen helfen lassen. Wir sind uns jedenfalls einig: achtzig Pfund.“ Oakins beobachtete durch stachlige Zweige hindurch, wie ein Geldbündel seinen Besitzer wechselte, Hüte wurden gezogen, die Harrison-Brüder verließen die Stätte von Oakins’ bitterster Niederlage. Oakins kroch heraus und putzte Schmutz von der Jacke. „Mußten Sie sich“, sagte er Vorwurf voll zu Garvin, „mit diesen Gangstern einlassen?“ „Sie boten mir den Stein zu einem annehmbaren Preis.“ „Und wissen Sie auch, daß die Harrisons ihn mir gestohlen haben?“ „Vielleicht ist es so. Aber jetzt kann ich ihn meiner Firma zurückgeben, das ist die Hauptsache.“ Croft zeigte lächelnd seine wunderbaren Zähne. „Außerdem sparen wir die Erfolgsprämie an Sie.“ Garvin zögerte, dann fragte er doch: „Mister Oakins, wäre es zuviel, wenn ich sie bäte, uns zu helfen, den Stein zum Wagen zu tragen?“ Oakins hatte sich schon wieder in der Gewalt, als er antwortete: „Was tut man nicht alles für die atlantische Freundschaft?“
Auf Bildungsjagd
Drei Tage später stakte Mary Glenn vor Oakins’ Bücherregal auf und ab, bei jeder Wendung schwangen ihre Haare von einer Schulter zur anderen. „Chandler!“ höhnte sie. „Gardner! Mister Oakins, ich muß Ihnen vorwerfen, daß Sie drauf und dran sind, zur komischen Figur zu werden. Diese Autoren suchten und fanden ihre Stoffe in den dreißiger und vierziger Jahren, jetzt, da wir den Blick auf die achtziger Jahre werfen, können sie einem modernen Menschen bestenfalls das nostalgische Lächeln abgewinnen, das der Historie gebührt. Jawohl, Oakins, Sie brauchen nicht die Stirn zu runzeln und wütend zu blicken, was Ihnen trotz größter Mühe nur unvollkommen gelingt. Bleiben Sie gelassen und spöttisch, das paßt noch am besten zu Ihnen. Mister Oakins, begreifen Sie endlich, daß es höchste Zeit wird, daß ich ein neues Image für Sie erarbeite?“ Oakins saß mit untergeschlagenen Beinen auf der Couch, sein Kopf pendelte hin und her und kam endlich zur Ruhe, als Mary Glenn vor ihm stehenblieb und sich vorneigte, so daß ihn ihre Hautfrische streifte. „Pat Oakins“, mahnte sie eindringlich, „Sie sind jung genug, noch einmal ganz von vorn anzufangen. Haben Sie die Werke des Francis Durbridge gelesen, kennen Sie seine Filme? Durbridge ist der Mann, der unsere Tage versteht.“ „Dort stehen sechs Bücher von ihm.“ „Es sind nicht genug. Sie müssen alle studieren! Und natürlich müssen Sie nach ihnen leben.“ Oakins schielte zu seinem Expander, er fürchtete, dessen noch so kraftvolle Handhabung wäre in Mary
Glenns Augen kein Argument. Er sagte: „Aber meine Kartei“, und brach ab, weil er nicht wußte, wie er seinen Satz abschließen sollte. „Mister Oakins, der moderne Detektiv ist weder der trinkfeste Einzelgänger Chandlers, der allen Mädchen unter den Rock schielt und unsagbar viel Prügel einstecken kann, noch ist er wie Rechtsanwalt Perry Mason, der mit hausbackener Rechtskenntnis und hausschlachtenem Hirnschmalz dem Verbrechen auf die Schliche kommt. Die Zeit schreitet fort zu immer vollkommenerer Technisierung. Ihre Kartei ist ein Schmarren, solange sie nicht in einen Computer eingefüttert werden kann, der Sie in Sekundenschnelle bedient. Der Detektiv von heute verfügt über Allgemeinwissen, er kennt die Welt. Aber Sie? Ihre Französischkenntnisse sind bruchstückhaft und stellen doch fast Ihr einziges geistiges Kapital dar. Regen Sie sich nicht auf – dies heute ist die Stunde der Wahrheit, und es ist keine leere Drohung, wenn ich Ihnen versichere, daß ich mich am nächsten Ersten nach einem anderen Brötchengeber umschauen werde, sollten Sie nicht bis dahin den Stil Ihrer Detektei und Ihres Lebens grundlegend geändert haben.“ Blaue Augen, blonde Haare, weiße Zähne lockten vor Oakins, erschüttert murmelte er: „Nun machen Sie’s halblang. Durbridge, na schön, aber wie soll ich einen Computer bezahlen!“ „Der Ankauf einer Denkmaschine wäre der letzte Schritt in einer langen Entwicklung. Zunächst einmal müßten Sie sich Wind um die Nase wehen lassen. Reisen müssen Sie, Chef! Rom, Venedig, Moskau! Waren Sie in Afrika? Sahen Sie die Geysire Islands? Sie müssen heraus aus Londons Mief, Sie brauchen
andere Kundschaft als diesen gräßlichen Fischwarenhändler.“ „Die Finanzen…“ „Diese machen keinen rosigen Eindruck, zugegeben. Aber gerade deshalb müssen Sie Ihren Lebensstil aufstocken, nur dann kommen lukrative Aufträge herein. Ein Finanzmann, der vor einer Pleite steht, gibt einen großartigen Empfang in einem erstklassigen Hotel, nur so kann er seine Gläubiger in Sicherheit wiegen und neue Verbindungen anknüpfen. Sie können noch ein paar Wochen so weiterwursteln, aber was dann? Oakins, geben Sie sich einen Ruck! Wann fliegen wir?“ „Wir?“ „Natürlich wir. Ich werde Ihnen Europa zeigen. Stellen Sie sich vor, Sie und ich in Venedig.“ „In einer Gondel.“ „Auch das. Aber Venedig ist vor allem berühmt durch seine Kunstschätze. Wir werden enorme Mengen von Madonnen besichtigen. Heute ist Sonntag, morgen räumen Sie Ihren Schreibtisch auf, heben das nötige Geld ab, am Dienstag fliegen wir.“ Wie im Traum murmelte Oakins: „Und am Mittwoch werden wir gondeln.“ Mary Glenn lachte. Wie es Oakins einige Wochen später schien, lachte sie um eine Nuance zu laut. Am nächsten Tag wies Oakins seine Sekretärin an, das Haus zu hüten und die Kartei sorgsam zu führen. Harriet Flaherty starrte ihren Chef erschrocken an und senkte ihren Blick auf die Karteiblätter. „Kein Neid!“ rief Oakins ihr krampfhaft-munter zu. „Lesen Sie Durbridge, und Sie werden mich verstehen. Neuer Schwung, wenn ich bitten darf! Übrigens täten Sie gut
daran, nach Feierabend einen Lehrgang für Computerbedienung zu besuchen, es könnte sonst leicht sein, daß man Sie eines Tages wegrationalisiert. Hallo, Baby!“ An Mary Glenns Seite verließ er das Büro. „Ich habe die Flugkarten bei mir“, sagte Mary. Ihr Lächeln war wie ein Gebirgsmorgen. Am frühen Nachmittag landeten Mary Glenn und Pat Oakins auf dem Flugplatz von Venedig, in einem Taxi fuhren sie zur Innenstadt. Während sie über den weinroten Teppich schritten, der im Hotel „Ambassadeur“ die Drehtür mit der Rezeption verbindet, belehrte Mary ihren Chef: „Wirklich bedeutende Männer scheuen sich nie, unter ihrem Namen aufzutreten, sie können gar nicht anders. Stellen Sie sich vor, Heinrich Böll stiege hier ab und behauptete, er wäre Strumpffabrikant Krause aus Neuß.“ „Wer ist Böll?“ „Nicht alles auf einmal. Wir beginnen mit den Madonnen. Vergessen Sie nie: Sie sind Pat Oakins, wer ist mehr?“ Oakins zog das Meldebuch zu sich heran und trug Namen und Beruf ein. Während er zum Lift ging, erklärte Mary Glenn dem Empfangschef mit einer Stimme, die zehn Meter weit trug: „Mister Oakins arbeitet an einem internationalen Fall. Nur drei Personen dürfen vorgelassen werden: Kommissar Fellini von der Mordkommission Mailand, der finnische Botschafter, Exzellenz Kaolinen, und der Zigarettenkönig Peter Stuyvesant.“ Der Empfangschef verneigte sich und versah den Namen Oakins mit fünf Sternen.
Drei Frauen und ein Mann hatten dieses Gespräch mitgehört, eine Stunde später hatte sich ihre Zahl versechsfacht, und die Liste der Personen, die zu Oakins vorgelassen werden durften, hatte sich um den Papst, Brigitte Bardot und Franz Beckenbauer erweitert. Drei Uhr nachmittags klopfte es an Oakins’ Tür. Er öffnete, eine Frau lehnte mit schreckgeweiteten Augen im Rahmen und flüsterte: „Helfen Sie, man will mich ermorden!“ „Gefahr ist mein Geschäft“, antwortete Oakins mit einem Rückfall in Chandlers Diktion und öffnete die Tür weit; die Frau sank ihm schwer in die Arme. Mit einem Okotso-Gari schwang sich Oakins die Frau auf die Schulter und trug sie zur Couch. Gleich darauf rief er Mary Glenn an: „Eine Frau ist bei mir, bitte kommen Sie sofort!“ „Sollen Sie geheiratet werden?“ „Lassen Sie Ihre Witze!“ Zwei Minuten später stand Mary vor der Frau. Oakins schob den Ärmel der Ohnmächtigen zurück, um den Puls zu fühlen, und entdeckte rötlichblaue Pünktchen am Unterarm. „Das Kind scheint fleißig gespritzt zu haben.“ Die Frau schlug die Augen auf, Oakins fragte: „Wer will Sie umbringen?“ „Bonifaz“, flüsterte sie, während ihr Kopf zur Seite sank. Mary Glenn hob die Augenbrauen. „Kaum sind wir in Venedig, schneit uns das Verbrechen ins Haus. Mister Oakins, die Madonnen müssen warten. Wer ist die Dame?“ „Keine Ahnung.“
„Das Gesicht kommt mir bekannt vor. Unten in der Halle hängt eine Nachtklubreklame. Ich glaube, da habe ich das Bild dieser Frau gesehen.“ Oakins murmelte: „Sie sollten Ihre Gedanken auf die Madonnen richten und keine Bilder fragwürdiger Damen betrachten. Immerhin, jetzt bin auch ich gezwungen, mir die Bilder anzuschauen. Die Frau wird sich hier unterdessen ausschlafen. Vielleicht sollten wir sie vorher durchsuchen?“ „Wir nicht“, entschied Mary, „ich schon eher. Sie blicken unterdessen aus dem Fenster!“ Während Oakins auf einen trüben Kanal, auf dem Zigarettenschachteln schwammen, und eine bröcklige Fassade starrte, hörte er hinter sich Wäsche rascheln; nach einer Minute sagte Mary: „Ein Zettel steckte im Höschen, wollen Sie sehen? Wie es scheint, stammt er von einer Mailänder Bank, genauer: von der Filiale in Venedig.“ Kurz darauf fuhren Oakins und Mary Glenn in die Halle hinunter und betrachteten den ReklameSchaukasten des Nike-Nachtklubs. In der Tat, das Bild der berauschten Frau hing darin; sie trat als Tänzerin auf und nannte sich Franca Castello. Oakins wies Mary Glenn an, zur betreffenden Bankfiliale zu fahren und dort den Zettel vorzuzeigen. „Ich werde mir unterdessen diesen Klub ansehen.“ Oakins fragte den Empfangschef nach dem NikeClub und wurde drei Straßen weiter verwiesen. Durch eine Toreinfahrt betrat Oakins einen Hof, Bäume und Bänke standen hier, Oakins dachte ein Wort, das ihm romantisch und bildungsschwer erschien: Palazzo. An einer Seitenfront stand in verschlungenen Buchstaben der Name des Clubs. Oakins drückte eine Tür auf; ein
Mann trat ihm entgegen, er hatte lackschwarzes Haar, reichliches Wangenfleisch und schokoladenfarbene Augen. Oakins fragte: „Ist Fräulein Castello zu sprechen?“ „Leider nein. Dabei müßte sie längst hier sein.“ „Dann darf ich wohl in ihrem Zimmer warten?“ Als der Mann zögerte, setzte Oakins hinzu: „Bonifaz schickt mich.“ „Entschuldigen Sie, das wußte ich nicht. Kommen Sie bitte mit.“ Oakins wurde in ein schmales Zimmer geführt, es enthielt einen verstellbaren Wandspiegel, einen Schminktisch mit fließendem Wasser, zwei Stühle und einen Schrank, es roch nach Puder und ungewaschener Wäsche. Oakins schob den Türriegel vor und machte sich daran, das Zimmer zu durchsuchen. Er fand zwei Tanzkostüme, Sprungseile, Schuhe und eine Mappe mit Zeitungsausschnitten; die Kritiken, die Franca Castello in Madrid, London, Istanbul und München bekommen hatte, waren darin gesammelt. In einer Ecke lag Papier zusammengeramscht, darunter fand Oakins einen Schuhkarton und in ihm endlich, was er suchte: vier kleine Päckchen. Eines riß er auf, weißes Pulver rann heraus. Sorgsam barg Oakins seinen Fund in seinem Taschentuch. Er war eben fertig damit, als der Riegel krachend aus seinem Bügel brach und die Tür aufsprang. Ein Mann von außergewöhnlicher Körpergröße stand im Rahmen und sagte drohend: „Bürschchen, wer bist du?“ „Franca bat mich…“ „Und wo ist sie?“ „Das werde ich erst sagen, wenn…“
Oakins kam nicht dazu, seinen Satz zu vollenden, er mußte blitzschnell einer Faust ausweichen, riß die Handkante zum Shuto-Uchi hoch und traf den Hünen am Unterkiefer, daß der schwere Mann mit Wucht gegen den Spiegel stieß. Blut rann über seine Stirn, er raffte sich noch einmal auf und wollte sich auf Oakins fallen lassen, aber ein schulmäßig geschlagener KagiTsuki beendete das Gefecht. Sofort machte sich Oakins daran, seinen ohnmächtigen Gegner mit Hilfe der Sprungseile an die Stühle zu fesseln. Währenddessen klopfte es zaghaft, der Mann mit den schokoladenfarbenen Augen steckte den Kopf durch die Tür. „Unsere Unterredung dauert noch an“, belehrte ihn Oakins. Der Mann murmelte eine Entschuldigung und zog sich zurück. Als der Hüne zu sich kam, sagte Oakins: „Sie sind Bonifaz?“ „Ich bin Bonifaz und werde dich Würstchen in Stücke schneiden. Wo ist Franca?“ „Sie verkennen die Situation“, erwiderte Oakins. „Hier frage ich.“ Da sah er, daß die Pupillen des Mannes verdächtig klein waren; auch Bonifaz stand also unter Rauschgift. „Warum wollten Sie Franca umbringen?“ „Kein Wort ist wahr. Bindest du Ratte mich endlich los?“ Wieder klopfte es, diesmal war es Mary. Sie winkte ihren Chef auf den Gang hinaus. „Wir haben Glück. Dieser Zettel ist von der hiesigen Filiale einer Mailänder Bank ausgestellt worden, auf ihm wird bescheinigt, daß ein Päckchen in einem Safe hinterlegt worden ist. Ich bat um die Herausgabe, diese Bankbürokraten behaupten jedoch, es sei ein zusätzliches Kennwort vereinbart worden.“
Oakins entsann sich der kühnen Gedankenarbeit, mit der Perry Mason das Geheimnis von drei völlig gleichen Pistolen gelüftet hatte, er wußte, daß in der jetzigen Situation eine ähnlich schwere Aufgabe vor ihm stand. Durbridge? Was sollten hier alle supermodernen Mätzchen, was konnte in dieser Situation ein Computer ausrichten? Handfeste Arbeit galt es zu leisten, Oakins fühlte sich in seinem Element. „Das Kennwort werde ich sofort herauskriegen!“ Er ging in die Garderobe zurück und fragte drohend: „Und wie lautet das Kennwort für das Päckchen bei der Mailänder Bank?“ Bonifaz lachte. „Das weiß nicht einmal Franca, das weiß nur ich, und du Hund wirst es nicht erfahren!“ „Du sagst es mir in einer Minute!“ Mary wurde blaß, während sie flüsterte: „Sie werden ihn doch nicht foltern?“ „Noch nie“, entgegnete Oakins mit Würde, „griff ich zu diesem profanen Mittel. Meine Waffe ist rein geistiger Natur.“ Er knotete sein Taschentuch auf und nahm die vier Päckchen heraus, das erste riß er auf und spülte das weiße Pulver in den Ausguß. „Aufhören!“ schrie der Hüne und bäumte sich in seinen Fesseln. Als Oakins mit dem zweiten Päckchen ebenso verfuhr, riß Bonifaz die Beine hoch, daß der Stuhl, an den sie gebunden waren, gegen den Schrank krachte. „Das hilft nichts“, versicherte Oakins und machte sich daran, auch den Inhalt des dritten Päckchens den beiden anderen nachfolgen zu lassen. „Wann endlich nennen Sie mir das Kennwort?“ Das Wasser rauschte. Oakins riß das Päckchen auf, da schrie Bonifaz: „Tun Sie das nicht, ich sage Ihnen alles!“ „Wie heißt das Kennwort?“
„Napoleon“, flüsterte Bonifaz und sackte zusammen. Ein drittes Mal klopfte es, diesmal war es die Polizei. „Der Besitzer dieses Unternehmens“, erklärte einer der Polizisten, „hat uns gerufen. Was geht hier vor?“ Oakins zeigte seinen Paß. „Sie können die Sache übernehmen, was noch kommt, sind lediglich Aufräumungsarbeiten. Dieses Bündel hier ist ein Rauschgiftsüchtiger namens Bonifaz, seine Partnerin finden Sie in meinem Hotelzimmer. Über die Verteilung ihres Vorrats an Stoff konnten sich die beiden nicht einigen, sie gerieten sich in die Haare, der Mann wollte die Frau umbringen, und die Frau verriet in der Angst ihren Komplizen. Mit diesem Zettel hier und dem Kennwort Napoleon können Sie die heiße Ware bei der hiesigen Filiale der Mailänder Bank abholen.“ „Und“, fragte Mary, „wenn das Kennwort aber nicht stimmt?“ „In dieser Situation vermag kein Süchtiger zu lügen“, erklärte Oakins mit Sicherheit. Die Polizisten banden Bonifaz los. Oakins und Mary traten auf die Straße hinaus. „Wir wollen“, schlug Oakins vor, „diese Bagatelle möglichst rasch vergessen. Wie kommt man am schnellsten zu den Madonnen?“ In den nächsten drei Tagen schleppte Mary ihren Chef von einer Kirche zur anderen, von einem Museum zum nächsten. Am dritten Abend stöhnte Oakins: „Alles was recht ist, Mary, aber ich habe den Eindruck, daß ein normaler Engländer, und das bin ich, pro Tag nur eine ganz bestimmte Anzahl Madonnen ertragen kann.“ Mary nickte. Am nächsten Tag strich sie den Rest des Bildungsprogramms. In einer Gondel durchfuhren
sie übelriechende Kanäle und ermunterten durch Geldspenden den Gondoliere zu schwermütigen Gesängen. Einmal legte Oakins den Arm um Marys Schultern, was ihm einen verwunderten Blick eintrug. Da sagte Oakins: „Durbridges Helden gingen in einer solchen Situation noch ganz anders ‘ran.“ Leise erwiderte Mary: „Ich sehe, Sie entwickeln sich, Oakins!“ An ihrem letzten Abend in Venedig wurden sie von einem Vertreter der Polizei aufgesucht, der einen Strauß roter Rosen für Mary Glenn und ein Anerkennungsschreiben des Polizeipräsidenten für Oakins überreichte. Bonifaz und Franca Castello, so erfuhr Oakins, hatten die Namen ihrer Hintermänner preisgegeben, der Polizei war ein großer Schlag gelungen. „Wir werden diese Urkunde in unserem Büro aufhängen“, sagte Mary. Oakins knurrte: „Bargeld wäre mir lieber.“ Trotzdem strapazierte sich Oakins am Abend inbrünstig am Expander und übte so verwegene Sprünge, daß der Gast unter ihm den Putz von der Decke schlug. Am nächsten Morgen flogen Mary Glenn und Oakins über Rom nach Sardinien. Der Himmel war von strahlendem Blau, zufrieden blickte Oakins über Berge und Meer. Einmal faßte er hinüber zu Marys Hand. „Ich bin glücklich“, verkündete er lächelnd. „London mit seinem Nebel und Dreck, wie weit weg ist das! Mary, mit Ihrer Bildungsreise haben Sie eine großartige Idee gehabt!“ Gegen Abend schritten Mary Glenn und Oakins über den Teppich, der im Hotel „Rinaldo Rinaldini“ der sardinischen Stadt Cagliari die Drehtür mit der Rezeption verbindet. Mary sagte: „Auch hier müssen
Sie sich unter Ihrem Namen einschreiben, schließlich sind Sie einer der bedeutendsten Detektive des Abendlandes. Wir sind hier, um die berühmteste Attraktion Sardiniens zu besichtigen, echte Banditen. Dabei sollen Sie sie nicht entlarven, sondern nach den Madonnen Venedigs ein gegensätzliches Bildungserlebnis absolvieren. Wir nehmen morgen nachmittag an einem einführenden Lichtbildervortrag teil, er heißt: Banditive Leitungstätigkeit im Wandel der Zeiten, Teil eins: Der Hauptmann als Ordnungsfaktor.“ Oakins trug indessen ein: Pat Oakins, Privatdetektiv, London. Er ging zum Lift, während Mary dem Empfangschef mit weittragender Stimme erklärte: Herr Oakins arbeitet an einem diffizilen Fall und darf nicht gestört werden. Nur drei Personen dürfen vorgelassen werden: Kommissar Varney von Scotland Yard, Claudia Cardinale und der schwedische Holzfäller Tanne Tannström.“ Der Empfangschef versah den Namen Oakins mit fünf Sternen. Am nächsten Morgen wurde Oakins aus sanftem Schlummer geweckt. Jemand trommelte an seine Tür, er öffnete, eine Dame, die die besten Jahre hinter sich gelassen hatte, stand schreckensbleich davor. „Mister Oakins“, hauchte sie, „ich bin bestohlen worden.“ „Gerechtigkeit ist mein Geschäft“, erwiderte Oakins. Einen Hauch edlen Parfüms verbreitend, schritt die Dame ins Zimmer. „Ich bin die Marchesa von Bitontino“, begann sie, „und wohne seit drei Tagen in diesem Hotel. Gestern abend erfuhr ich, daß Sie hier abgestiegen sind, vor zehn Minuten entdeckte ich, daß man mir die Schlüssel zu meinem Safe gestohlen hat.“ „Wo steht dieser Safe?“
„Im Nordturm des Stammschlosses meiner Familie in Bitontino bei Florenz.“ „Wer hat gewußt, daß Sie diese Schlüssel bei sich tragen?“ „Nur meine Zofe.“ „Ich möchte sie sprechen.“ Die Marchesa telefonierte; währenddessen hatte Oakins Zeit, ihre mageren Halswirbel zu betrachten. Nachdem die Zofe das Zimmer betreten hatte, spulte Oakins seine Routinefragen ab: Mit wem war sie in den letzten Tagen zusammengewesen, wem hatte sie von den Schlüsseln, wem vom Stammschloß der Marchesa erzählt, wer hatte versucht, ihr den Hof zu machen? Niemand, so beharrte das Mädchen, hatte auch nur ein Sterbenswörtchen vom Schloß, von den Schlüsseln, von dem im Safe verborgenen Familienschmuck erfahren, allerdings hatte ein schwarzhaariger junger Mann namens Luigi, ein Sohn dieser Insel, am letzten Abend heftig mit ihr getanzt. „Wissen Sie, wo er wohnt?“ Die Zofe hauchte: „Flintengasse zwölf.“ Minuten später befanden sich Oakins und Mary Glenn auf dem Weg. Am Hause Flintengasse zwölf klopfte Oakins, die Tür wurde aufgerissen, ein Gewehrlauf starrte Oakins entgegen. Blitzartig ließ sich Oakins zur Seite fallen, packte die Waffe, stieß sie krachend gegen den Türpfosten, bäumte sich zu einem Tai-Otoshi auf und riß den Mann, der ihn bedroht hatte, von den Füßen. Vorsichtshalber schlug er noch einen leichten Riken-Uchi, daß ein dumpfes Röcheln erklang, dann war Stille. Man hörte nur das Klicken von Marys Absätzen auf den Flurplatten.
An der Wand hing eine Urkunde des Fremdenverkehrsverbandes von Cagliari, die Herrn Luigi Brutaloso bescheinigte, im Rahmen der gemeinnützigen Banditenvereinigung „Schrecken der Nacht“ zwanzig Jahre lang treue Dienste für Stadt und Insel geleistet zu haben. Oakins durchsuchte die Taschen des Mannes, er fand einen Ausweis, Mary übersetzte: „Herr Brutaloso ist berechtigt, mit einem Gewehr an Hecken und Mauern entlangzuschleichen, ein Taschentuch um den Unterkiefer zu binden, mit Patronen zu klimpern, Totenköpfe mit gekreuzten Knochen an Touristenautos zu malen, ein Käuzchen nachzuahmen und an jedem ersten und dritten Dienstag des Monats je fünf Schüsse an der Rückwand des Hotels Carlo Stülpnero abzugeben.“ Oakins brummte: „Hier sind wir an der falschen Adresse.“ „Meinen Sie nicht auch, daß der Dieb so schnell wie möglich versuchen wird, das Festland zu erreichen und den Safe auszurauben?“ „Das war von vornherein mein Gedanke.“ Unverzüglich machten sich Oakins und Mary Glenn zum Flughafen auf. Eine Maschine, so erfuhren sie, startete in einer halben Stunde nach Rom, die hundertvier Plätze waren ausgebucht. „Der Dieb“, murmelte Oakins, „ist ohne Zweifel darunter.“ Zwei Minuten lang überlegte er fieberhaft, dann schritt er auf eine Telefonzelle zu. „Dynamito in maschina via Roma“, bellte er, nachdem er die Nummer der Flughafenleitung gewählt hatte. „Bombino in rauma di koffero. Bumbum, du verstehen?“ Er hängte auf, verließ die Zelle, sah zu, wie die Türen zu den Flugsteigen geschlossen wurden, wie Polizeiautos auf
eine startbereite Maschine zurasten, wie Männer eilig zum Kofferraum hinaufstiegen und ein Gepäckstück nach dem anderen heraustrugen. „Der Dieb“, äußerte sich Oakins zu seiner Assistentin, „hat es unserer Theorie nach sehr eilig, nach Bitontino zu kommen; er möchte den Safe öffnen, bevor die Marchesa den Diebstahl bemerkt. Wenn wir recht haben, stehen wir kurz vor der Lösung eines Falles. Würden Sie so freundlich“ sein, die Marchesa zum Flugplatz zu bitten? Und vorher machen Sie noch ausfindig, in welchem Zimmer man eine Sondermaschine bestellen kann.“ Mary sah sich um. „Zimmer siebzehn, schräg da drüben.“ Sie entfernte sich in Richtung der Telefonzellen. Oakins brauchte nicht lange zu warten. Eine Lautsprecheransage scheuchte die Reisenden von den Tischen des Flughafenrestaurants und von den Andenkenschaltern, wo sie im Begriff gewesen waren, niedliche kleine Räuber aus Schaumgummi und Salzstreuer in Pistolenform zu kaufen; sie umringten alle Angestellten und bestürmten sie mit Fragen. Mary kam zurück, sagte: „Die Marchesa ist auf dem Weg“, stellte sich zu einer heftig debattierenden Gruppe und teilte danach Oakins mit, daß die Flughafenleitung mit einer Verzögerung des Abflugs der für Rom bestimmten Maschine um zwei Stunden rechnete. „So lange“, versicherte Oakins, „wird es unser Strolch nicht aushalten.“ In der nächsten Minute strebte ein junger Mann mit langen Schritten auf Zimmer 17 zu. Er trat ein, durch die Glasscheibe in der Tür sah Oakins ihn heftig gestikulieren. Oakins schlenderte näher, öffnete die
Tür einen Spalt, hörte, daß der junge Mann englisch sprach, da schob er sich hinein. „Ich bin bereit, jeden Preis zu zahlen“, rief der Mann soeben. „Notfalls nehme ich einen Hubschrauber.“ „Zunächst“, sagte Oakins, „nehmen Sie gefälligst die Safeschlüssel der Marchesa von Bitontino aus Ihrer Tasche.“ Der junge Mann fuhr herum. „Was quatschen Sie da“, rief er, „lassen Sie gefälligst Ihre blöden Witze! Ich habe es eilig.“ „Das glaube ich gern“, entgegnete Oakins. Als der Mann an ihm vorbeiwollte, faßte er ihn am Ärmel, aber der Mann riß sich los und wollte auf Oakins einschlagen. Oakins verteidigte sich mit einem ShutoUchi und wendete eine Fußtechnik aus seinem KarateRepertoire an, einen Fumi-Komi, der seinen Widersacher stolpern ließ. „Noch könnten wir uns friedlich einigen“, sagte Oakins. „Wollen Sie die Schlüssel nicht freiwillig herausgeben?“ In diesem Augenblick wurde die Tür aufgerissen. Mary Glenn und ein Polizist standen davor. „Durchsuchen Sie diesen Mann!“ rief Oakins, sah, wie sein Gegner eine Pistole aus der Tasche riß, sprang zum komplizierten Morote-Uke hoch und schlug mit der Innenkante des rechten Fußes die Pistole zu Boden. Der Polizist erledigte den Rest, die Taschen des Mannes wurden durchsucht, ein Schlüsselbund zutage gefördert. „Was ist das?“ fragte der Polizist. „Es sind die Schlüssel meines Safes“, antwortete statt des Verbrechers die Marchesa von Bitontino, die soeben aufgetaucht war.
Oakins putzte sich Staub vom Ärmel und sagte: „Gnädige Frau, es war mir ein Vergnügen, Ihnen einen Dienst zu erweisen.“ Die Marchesa flüsterte ergriffen: „Wie kann ich Ihnen danken?“ „Das dürfte nach der Erfindung des Bargelds keine Schwierigkeiten bereiten. Meine Assistentin wird Ihnen die Details mitteilen.“ Oakins verbeugte sich und schritt die Halle hinaus. Drei Minuten später kam ihm Mary nach. „Fünfhundert Dollar“, verkündete sie. „Immerhin. Wir wollen uns nun nicht länger von unserem Konzept abbringen lassen. Kommen wir noch zum Vortrag über banditive Leitungstätigkeit zurecht?“ Der Vortrag wurde von einem vollbärtigen Individuum gehalten, dessen Italienisch so stark von sardinischem Dialekt gefärbt war, daß Mary Glenn fast nichts verstand. „Machen Sie sich nichts daraus“, tröstete Oakins. „Diese provinziellen Weisheiten kommen für meine Praxis ohnehin nicht in Betracht.“ Drei Tage lang lagen Oakins und Mary Glenn am Strand, schwammen, sonnten sich und spielten Federball. Nur einmal rief Oakins sein Londoner Büro an; zu seinem Mißbehagen erfuhr er, daß nicht der geringste Auftrag eingegangen war, nicht einmal der Fischhändler aus Brixton hatte um Hilfe nachgesucht. Mary Glenn versicherte, nach der Rückkehr würde sie die Praxis schon ankurbeln, jetzt sollte sich Oakins nur keine Gedanken machen. Mit einem Vergnügungsdampfer fuhren Oakins und Mary Glenn nach Palermo, ritten auf Eseln durch eine karge Landschaft. Einen Tag später flogen sie nach Tunis hinüber. Auf der Fahrt vom Flughafen zur
Stadtmitte sagte Mary: „Es war wohl doch ein Fehler, daß Sie sich zweimal mit Ihrem Namen und Ihrem Beruf ins Gästebuch eingetragen haben. Ich möchte nicht, daß wir auch auf afrikanischem Boden durch ein Verbrechen von unseren Bildungserlebnissen abgelenkt werden. Diesmal werde ich Sie abschirmen.“ „Ihr Wille geschehe“, murmelte Oakins und trug sich unter dem Namen Galloway, Birmingham, ein. Im Lift erläuterte Mary Glenn: „Dieses Hotel gehört einem Griechen und wird in griechischem Stil geleitet. Ich wollte Ihnen den Übergang von Europa nach Afrika leicht machen. Es genügt fürs erste, wenn wir gelegentlich in einem Lokal der Altstadt ein Kamelsteak probieren. Der heutige Abend gehört der Entspannung. Morgen werden wir das AmphorenMuseum besichtigen. Sie wissen, daß Griechen hier siedelten? Und Sie wissen, was Amphoren sind?“ „Alte Krüge.“ „Ausgezeichnet!“ Der Abend verlief harmonisch. Mary Glenn und Oakins speisten auf einer Terrasse, von der aus sie den Hafen überblicken konnten, sie tranken Ouzo, einen sanften Anisschnaps, und aßen Ovelias, Lämmchen am Spieß. „Eine griechische Delikatesse“, belehrte Mary, „ich habe darüber nachgelesen. Das Lämmchen wird immerfort gedreht und mit einem Gemisch aus Öl, Zitronensaft, Pfeffer und Salz bepinselt. Es ist gar, wenn die Haut an den Lenden zu reißen beginnt.“ „Wie ungemütlich für das kleine Tier“, konstatierte Oakins und befeuchtete seine Kehle mit Ouzo. „Dennoch, wir sind nicht zum Vergnügen hier. Die Mauern Karthagos, die Halbinsel, auf der das deutsche
Afrika-Korps kapitulierte, ein guterhaltenes römisches Amphitheater und eine moderne Fabrik für JuiceKonserven stehen auf dem Programm. Freuen Sie sich schon auf die Amphoren?“ „Wie verrückt!“ Nach der Mahlzeit blätterte Oakins in seinem Appartement noch ein wenig in einer Karate-Anleitung, dabei kam er auf die Idee, den Gedan-Uke, einen Beinstoß, der im Springen ausgeführt wurde, für zwei Personen zu arrangieren. Er erklärte Mary, wie er sich seine Weiterentwicklung vorstellte: Er sprang hoch und stieß nach dem Gegner, während ihm Mary mit gleichzeitig geführten Handkantenschlägen entgegenarbeitete. Oakins führte seinen Sprung vor, Mary imitierte Schläge gegen einen imaginären Gegner, Oakins arbeitete verbissen und erklärte nach einer halben Stunde schnaufend: „Großartig, Mary! Damit können wir in Sekundenbruchteilen jeden Gegner zu einem pflegeleichten Bündel einschrumpfen lassen. Ob wir mit dieser Kombination vor den Augen Ihres großen Durbridge Gnade fänden?“ Mary zollte gemäßigtes Lob, zufrieden zog sich Oakins in seinen Schlafraum zurück. Als Mary Glenn erwachte, war es heller Tag. Sie pfiff im Badezimmer den Hit der Woche und klopfte gegen sieben an das Zimmer ihres Chefs. Als keine Reaktion erfolgte, drückte sie die Klinke nieder und öffnete die Tür, das Bett war leer. Nach kurzem Verwundern telefonierte sie zur Rezeption hinunter und erfuhr, Mister Galloway hätte vor einer Stunde das Hotel in Begleitung von zwei Herren verlassen. Welcher Herren? Das, erklärte der Herr von der Rezeption, wisse er selbst nicht.
Sofort fuhr Mary im Lift hinab und überfiel den Mann, mit dem sie telefoniert hatte, mit einem Schwall von Fragen. Seine Augen waren von einem sanften Braun, das Güte, Redlichkeit und die Fähigkeit ausdrückte, neidlos auf Erfolg und Reichtum anderer zu schauen und eigenes stilles Glück im Busen zu päppeln. Dieser Mann schien bereit, Auskunft zu geben, jedoch waren seine Angaben so allgemein, daß mit ihnen wenig anzufangen war. Zwei normal gekleidete arabisch sprechende und aussehende Herren wären gegen sechs Uhr morgens erschienen, hätten höflich gebeten, telefonisch mit Mister Galloway sprechen zu dürfen, daraufhin hätte sich der Herr mit den edelmütigen Augen zurückgezogen, denn Diskretion wäre eine seiner stärksten Seiten, wie er betonte und was sein Blick mit einem gefühlsstarken Ausdruck unwandelbarer Demut unterstrich. Zehn Minuten später wäre Mister Galloway heruntergekommen und hätte mit den Herren das Hotel verlassen. Das wäre etwa Viertel nach sechs gewesen. Mehr wäre leider nicht zu sagen. Mary Glenn dankte. Sie setzte sich in einen Sessel und blickte durch hohe Glasscheiben auf das geschäftige Treiben auf der Straße hinaus, ihre Gedanken liefen kreuz und quer, plötzlich kam ihr eine Idee: Sollte Oakins, als er sich unter einem Namen gemeldet hatte, der ihm gerade einfiel, das Pech gehabt haben, den Namen eines Mannes zu wählen, der zu Tunesien in nicht ungetrübten Beziehungen stand? Eine Viertelstunde später gab Mary ein Telegramm an Harriet Flaherty auf: Wer oder was ist Galloway Birmingham stop seine Verbindungen mit Tunis stop halten Sie die Stellung stop Mary.
In ihrem Zimmer wurde Mary von bohrender Unruhe befallen. Sie ließ sich das Frühstück heraufschicken, zu dem Oktopusstückchen gehörten, die auf Salatblättern garniert waren; mißmutig stocherte Mary in der würzigen Delikatesse. Kurz vor zehn klingelte das Telefon, Steine fielen von Marys Herzen, als sich Oakins meldete. „Kleines Mißgeschick, Mary“, verkündete er, „wir müssen den heißen Boden räumen. Bitte kommen Sie mit allen Koffern genau in einer Stunde an die Hintertür. Zehn Minuten vorher geben Sie vom Balkon ein Zeichen, schütteln Sie die Tischdecke aus. Ich gebe von unten das Gegenzeichen, indem ich meinen Taschenkamm hinter das linke Ohr klemme. Fragen?“ „Keine Fragen, Chef.“ In der nächsten halben Stunde hatte Mary mit dem Packen zu tun. Sie überlegte, wie sie es anstellen sollte, die Koffer am Zimmerpersonal vorbeizubringen, und kam zu keinem rechten Ergebnis. Sie schaute auf die Budenreihe eines Basars hinunter und hielt die Tischdecke bereit. Zur vereinbarten Minute schlenderte Oakins aus dem Schatten zwischen zwei Buden heraus, Mary schüttelte die Decke, Oakins griff in die Tasche, da sah Mary, wie eine Gestalt aus einer Bude sprang und sich auf Oakins warf. Mary beobachtete, wie sich Oakins zum Morote-Uke eindrehte, seinen Gegner an der Hüfte querlegte und mit einem linksgeschlagenen halbtrockenen Empi-Uchi in den Staub schleuderte. Vor Begeisterung klatschte Mary in die Hände, die Decke entfiel ihr, Oakins verschwand wie ein flüchtender Hirsch im Gedränge. Unten rauften sich Jungen um die Decke, da kehrte Mary voller
schwerer Gedanken ins Zimmer zurück. War es an der Zeit, die Koffer auszupacken? Kurz vor elf brachte ein Boy das ersehnte Telegramm, Mary las: Galloway Birmingham Arbeitsvermittler stop wegen illegaler Einfuhr tunesischer Arbeiter auf schwarzer Liste stop Stellung hier unerschüttert aber ohne Aufträge. Vom Lesen dieses Telegramms bis zu einem Entschluß vergingen nicht mehr als zwei Minuten. Mary Glenn legte kühnes Rot auf, fuhr hinunter und knöpfte sich den Mann mit den braunen Augen vor. „Mister Galloways Lage“, begann sie, „ist alles andere als erfreulich. Mir liegt daran, zu erfahren, wer die Herren waren, mit denen er fortgegangen ist. Sollte es Ihnen nicht eingefallen sein?“ Sie ließ eine Pfundnote in die Hand des Braunäugigen gleiten, seine Pupillen verengten sich um ein weniges, sein Mund murmelte: „Irgendwie kam mir sein Gesicht bekannt vor.“ „War es vielleicht das Gesicht eines Polizisten?“ fragte Mary und wurde um eine weitere Pfundnote ärmer. „Eines Polizisten?“ Der Braunäugige fühlte zum drittenmal gedächtnisförderndes Papier in seiner Hand. „Jetzt fällt es mir ein“, seufzte er, „seltsam, daß ich nicht eher daraufgekommen bin! Es war Leutnant Boumadan vom dritten Dezernat, Hannibal-Allee sieben, Zimmer dreihundertfünf.“ „Bestellen Sie sofort ein Taxi.“ Der Leutnant, dem Mary Glenn eine halbe Stunde später gegenübersaß, trug Zivil und war von kühler Höflichkeit. „Heute morgen“, begann sie, „haben Sie einen Mann im Hotel Olympico zum Mitgehen aufgefordert, den Sie für Mister Galloway aus
Birmingham hielten. Es war aber der berühmte Detektiv Oakins aus London, der sich zufällig unter diesem Namen in die Hotelliste eingetragen hatte.“ „Oakins“, murmelte Leutnant Boumadan, „ich habe viel von ihm gehört.“ „Natürlich haben Sie. Was geschah weiter?“ „Kurz bevor wir das Dezernat betraten, riß er sich los, schlug meinen Begleiter nieder und flüchtete.“ „Kein Wunder. Mister Oakins fürchtete das demütigende Schauspiel einer Verhaftung. Unter welchen Umständen würden Sie Gras über die Sache wachsen lassen?“ Das Telefon klingelte, Leutnant Boumadan griff zum Hörer, schüttelte verwundert den Kopf und legte auf. „Mister Oakins hat einen weiteren meiner Leute arg getroffen.“ „Mit einer Kombination von Morote-Uke und EmpiUchi“, erwiderte Mary. „Ich sah zu und war begeistert. Darf ich meine Frage wiederholen?“ Leutnant Boumadan brauchte einige Zeit, um mit sich ins reine zu kommen. „Wir sind ein gastfreundliches Land“, antwortete er schließlich, „und nichts liegt uns ferner, als mit unseren Besuchern hart umzuspringen. Aber Mister Galloway warb Raffineriearbeiter ab, die wir selbst dringend brauchen, das erboste uns. Deshalb wollten wir mit ihm sprechen. Mister Oakins setzte sich eindeutig ins Unrecht, doch wir bewundern ihn.“ „Und Sie verzeihen?“ Der Leutnant sah zum Fenster hinaus, als er antwortete: „Wie wäre es mit einem Schmerzensgeld an die beiden betroffenen Polizisten? Der eine hat sieben, der andere neun Kinder.“
„Allahs Segen ruhe auf ihnen. Für jeden der Herren fünf Pfund?“ „Das Pfund ist nicht mehr das, was es war.“ „Gewiß. Sechs?“ „Die Kinder meiner Polizisten werden Sie ihre Wohltäterin nennen.“ Abermals an diesem Tag öffnete Mary ihre Handtasche. Sie fand, daß Leutnant Boumadan ein Mann war, mit dem man sich sachlich unterhalten konnte. Im weiteren Gespräch vertrat sie die Auffassung, daß ihr Chef sie nicht wieder anrufen würde, denn seit seiner zweiten Erfahrung mit den Hütern tunesischer Gesetze mußte er annehmen, das Telefon würde überwacht. „Wahrscheinlich kommt er selbst ins Hotel, um mich und die Koffer abzuholen. Irgendein Trick wird ihm schon einfallen.“ „Ich möchte dabeisein, wenn er auftaucht.“ Mary zuckte die Schultern. „Es steht nicht in meiner Macht, Sie daran zu hindern, Leutnant.“ Zwei Stunden lang saßen sich Mary Glenn und der Polizeioffizier im Appartement gegenüber, das Oakins für seine Assistentin und sich gemietet hatte. Leutnant Boumadan pries das Klima, die Ruinen, die Berge und Wälder seiner Heimat. Mary Glenn versuchte vergeblich klarzumachen, was unter Londoner Nebel zu verstehen sei. Als sie dazu übergegangen war, die Einrichtung einer Londoner Kneipe, einer Pub, zu schildern, trat eine tief verschleierte Araberin ein. Sie schlug den Schleier zur Seite, und das fröhliche Gesicht von Pat Oakins wurde sichtbar. „Guten Tag, Sir“, sagte Boumadan. Oakins fuhr herum, erkannte den Leutnant und schnellte zum Gedan-Uke für zwei Personen vor. Er
hatte angenommen, Mary würde ihm mit gefächerten Handkantenschlägen entgegenarbeiten, da sie aber keinen Finger rührte, schoß er ins Leere, verfing sich in seinem Umhang, stolperte, rollte über dem Tisch ab und ging in einer Kollektion von Grünpflanzen unsauber zu Boden. „Das Spiel ist aus“, stellte Mary fest, „zerreißen Sie sich den Umhang nicht, sonst haben wir Ärger bei der Rückgabe.“ Oakins knirschte: „Meine Assistentin im Bündnis mit den Schergen!“ Der Leutnant verbeugte sich. „Einige Mißverständnisse, Sir. Miß Glenn war so freundlich, uns aufzuklären. Wir hoffen, Sie bleiben recht lange in unserem schönen Land. Darf ich Sie in unsere Nahkampfschule einladen? Es wäre ein Erlebnis, aus Ihrem Kenntnisschatz…“ Mary Glenn schnitt dem Leutnant das Wort ab. „Mister Oakins ist ausschließlich zu Bildungszwecken hier. Ich darf hoffen, daß die Polizei von Tunis sein Inkognito wahrt?“ Der Leutnant begriff, daß seine Mission erfüllt war. Nach einer Verbeugung, die Mary mit einem Nicken erwiderte, verließ er das Zimmer. Mary Glenn brauchte nur wenige Minuten, um ihren Chef über die Zusammenhänge aufzuklären, die zu den turbulenten Ereignissen geführt hatten. Währenddessen legte Oakins die orientalische Kleidung ab und bewies sich und seiner Assistentin, indem er auf den Händen zum Badezimmer lief, daß er nichts von seiner Spannkraft eingebüßt hatte. Vier Tage lang blieben Oakins und Mary Glenn in Tunis, sie absolvierten ein harten Programm, am Ende stöhnte Oakins: „Ich werde Wochen brauchen, bis ich
alle Eindrücke verdaut habe. Die Madonnen, die Räuber, die Amphoren, am Rande drei kleine Kriminalfälle – Mary, Sie nehmen mich ganz schön ‘ran!“ „Ein Image fällt niemandem in den Schoß. Nach meiner Rückkehr sorge ich dafür, daß Ihre Abenteuer in den Zeitungen gebührend gewürdigt werden. Ich werde in unserem Büro eine Pressekonferenz veranstalten. Mit Sandwiches und Bier.“ „Unterstehen Sie sich!“ „Wer hoch hinauf will, darf Opfer nicht scheuen.“ London lag unter Dunst und Dreck; als Oakins aus dem Flugzeug stieg, preßte ihm die Luft die Brust zusammen. Unterwegs stopfte er sich die Taschen voll Zeitungen, im Bus überflog er begierig die Überschriften. Harriet Flaherty begrüßte ihn mit einem gurgelnden Schrei; Oakins fürchtete schon, sie wollte ihm um den Hals fallen, und bremste sie mit einem einzigen Wort: „Aufträge?“ „Leider nein.“ „Unsere Pressekampagne wird alles ändern“, versicherte Mary Glenn. „Ich trommle die Journalisten für nächste Woche zusammen.“ Harriet Flaherty schniefte und wischte sich über die Augen: „Übermorgen, Sir, möchte Mister Varney mit Ihnen sprechen.“ Oakins schleuderte seine Zeitungen auf den Schreibtisch. „Na bitte, Scotland Yard besinnt sich!“ Mary Glenn mahnte: „Mister Oakins, unser Reiseprogramm ist noch nicht beendet. In vier Tagen fliegen wir nach Island, nehmen Sie sich bis dahin nicht allzuviel vor. Wahrscheinlich ist es besser, wenn
ich die Pressekonferenz bis nach unserer Rückkehr verschiebe.“ Oakins hatte plötzlich das Gefühl, daß von dem Gespräch mit Varney viel für ihn abhing. Sie trafen sich in Milford’s Pub, Oakins hatte Mary Glenn mitgenommen. In einer Nische saßen sie unter einer Kristallampe, hinter ihnen an der mahagonigetäfelten Wand kämpfte auf einem Ölgemälde ein Segelschiff gegen gigantische Wellen, eben ging der Mast über Bord. „Wichtige Gespräche führe ich gern hier“, begann Varney, „und was ich Ihnen heute zu sagen habe, ist das äußerste Angebot, das Scotland Yard zu machen hat. Ich habe noch einmal mit meinem Vorgesetzten verhandelt und bin bis zu unseren Finanzgewaltigen vorgedrungen. Oakins, wir kennen uns seit langem, und Sie sollten wissen, daß Sie von mir keinen Bluff zu erwarten haben.“ Mary Glenn hatte an diesem Abend ihr Haar straff nach hinten gekämmt und zu einem biederen Knoten zusammengesteckt, sie trug ein Kostüm mit hochgeschlossener Bluse, ihr Make-up war dezent wie zu einem Kirchgang. Varney ertappte sich dabei, daß er mehr zu ihr als zu Oakins sprach, und dachte verwundert: Wie kommt Oakins zu dieser Frau? Er schloß: „Mister Oakins, Scotland Yard bietet fünfzehntausend Pfund für die Kartei und Ihre sofortige Einstellung zu einem Dienstgrad, über den wir uns verständigen müßten.“ Oakins blickte Mary an, ehe er erwiderte: „Kein schlechtes Geld, wirklich. Aber ich verstoße höchst ungern gegen den Willen des alten Harrison. Ich
glaube, ihn träfe der Schlag, wenn er hört, daß seine Kartei nun doch in die Hände des Yard gefallen ist.“ „Ihn wird der Schlag keinesfalls treffen, wenn er die Summe, die Sie ihm schulden, auf einen Schlag ausbezahlt bekommt.“ Jetzt schaltete sich Mary ein. Ihre Stimme klang bescheiden, sie senkte die Augen vor Varneys forschendem Blick, als sie entwickelte, es bestünden Pläne, die Kartei praktikabler zu machen, für einen schnelleren Informationsfluß zu sorgen. Überhaupt stünde die Detektei im Umbruch. Hatte Herr Varney von der Mittelmeerreise gehört, von der Mister Oakins eben zurückgekehrt war? Wichtige Verbindungen zu Polizeikreisen in Venedig und Tunis, zum altitalienischen Adel, sogar zu sardinischen Banditen waren geknüpft worden. Über Kontaktaufnahme zur Maffia in Palermo möchte sie diskret hinweggehen. „Nun fliegen wir nach Island, und keinesfalls, um nur die berühmten Geysire zu besichtigen. Pat Oakins wird nach unserer Rückkehr auf einer Pressekonferenz über seine weitreichenden Pläne berichten.“ Varney blickte überrascht von Mary Glenn zu Oakins. Dessen Miene war bieder und freundlich wie meist; nachdem Mary geendet hatte, lächelte er wie ein Junge, der eben ein Autogramm des Fußballtrainers Sir Alfred Ramsey ergattert hat. Oakins sagte: „Stimmt alles haarscharf, Kommissar. Nicht schlecht, was? Wußten Sie übrigens, daß mich die Polizei in Tunis als Chefausbilder für ihre Offiziersschule gewinnen wollte? Ich habe natürlich abgelehnt.“ Mary lächelte, als sie hinzufügte: „Mister Varney, begreifen Sie, daß mein Chef in dieser Situation Ihr
Angebot einfach ablehnen muß? Wir sind in letzter Zeit zu viele Verpflichtungen eingegangen.“ Varney sagte: „Und ich hätte wetten mögen, Oakins, daß Sie auf dem trockenen sitzen.“ Oakins drückte die Brust heraus. „Ich habe mich selten so wohl gefühlt.“ „Noch etwas zum Abschluß: Sam Harrison hat in seinem Club geprahlt, es würde nur noch kurze Zeit dauern, und er hätte Sie fertiggemacht. Er hätte im Zentrum Ihrer Detektei eine Bombe eingebaut, die Sie mit tödlicher Sicherheit in die Luft jagen würde.“ Mary lächelte. „Ein Bluff.“ „Ich möchte, daß Sie diese Worte als Warnung auffassen, Oakins.“ „Danke für den Hinweis. Sie glauben doch nicht, daß ich vor einer derartigen plumpen Drohung in die Knie gehe?“ „Die Harrisonbrüder sind Nieten“, warf Mary Glenn hin. „Sie sind Pinscher, sie sind Schwächlinge. Wenn Mister Oakins seine Detektei neu organisiert hat, wird er die Harrisons an die Wand drücken. Er wird Kleinholz aus ihnen machen. Er wird sie von ihren Schreibtischen hinwegfegen. Sie werden aus London flüchten, weil niemand mehr von ihnen ein Stück Brot nimmt. Irgendwo in der Provinz werden sie trockene Kartoffeln essen.“ Varney blickte wohlgefällig auf Mary Glenn. „Sind Sie eine Verehrerin von Cassius Clay?“ Da lachten sie alle drei. Tags darauf flogen Oakins und seine Assistentin nach Island. Rumpelnd ging die Boing 707 über Reykjavik nieder, für einen Augenblick waren durch die Seitenfenster bunte Rudel von Fischerbooten auf dem
Skerjafjord sichtbar. Oakins reckte sich auf die Zehenspitzen, um seinen Mantel aus der Gepäckablage zu angeln. Er dachte: Fünf ruhige Tage in Island, sie werden mir guttun. Mary Glenn schritt vor ihm über die Gangway, unten drehte sie sich um und sprach zu ihrem Chef hinunter: „Mister Oakins, ich habe im Erikson-Hotel die besten Zimmer bestellt. Es kann nichts schaden, wenn Europa erfährt, daß Pat Oakins nach Island gekommen ist, um die berühmtesten Geysire der Welt zu besichtigen. Oakins in stummer Zwiesprache mit den Geheimnissen der Erdrinde – so oder ähnlich werden die Zeitungen schreiben. Da drüben steht der Bus des Erikson-Hotels.“ Ergeben folgte Oakins seiner blonden Assistentin. Zwei stille Tage verbrachte Oakins in seinem Appartement, er hatte sie bitter nötig. „Morgen“, sagte Mary beim Mittagessen am dritten Tag, „fahren wir zu Islands photogensten Geysiren. Das Bildungserlebnis wird Ihnen guttun.“ Nach dem Essen übte Oakins seine Variante des Mawashi-Geri. Die Nahkampfwissenschaft Karate hielt diesen Kniestoß parat, den Oakins zu einem Sprungstoß entwickeln wollte. Beinahe aus dem Stand schnellte er hoch, stieß mit dem Knie zu, riß sich in der Luft herum, landete mit den Händen zuerst und war nach einer Rolle vorwärts mit halber Auerbachdrehung wieder kampfbereit. Zwanzig Sprungstöße, von denen Oakins hoffte, sie würden demnächst als MawashiOakins-Geris in die Karate-Lektüre aufgenommen werden, gehörten zu seinem Pensum. Er sprang und stieß nach Mary Glenns flacher Hand, die diese in Magen-, Brust-, Hals- und Augenhöhe hielt, er rollte ab und federte auf die Füße, zum Schluß probierte er den
doppelten Rittberger-Mawashi-Oakins-Geri, bei dem er mit beiden Knien gleichzeitig nach zwei Gegnern stoßen wollte, und fiel wie gewöhnlich knallend aufs Kreuz. Nachdem er geduscht hatte, zog er Rollkragenpullover und Wildlederjacke an. Er stand noch vor dem Spiegel, als jemand an die Tür klopfte. Mary öffnete, ein blasser Mann flüsterte: „Kann ich den Meister sprechen?“ „Der Meister“, erwiderte Mary Glenn, „ist auf einer Bildungsreise in Island und bedarf der Entspannung. Was soll’s?“ „Man erpreßt mich!“ flüsterte der Mann. „Man droht, meine Tochter zu ermorden!“ „Die Geysire können warten. Herein mit Ihnen!“ Eine Minute später saß der blasse Mann zwischen Oakins und Mary Glenn. „Ich heiße Voordenstaam“, begann er, „und bin Buchhändler aus Rotterdam. Meine Frau, unsere Tochter und ich flogen mit derselben Maschine hierher wie Sie, ich hörte Ihren Namen, als Sie sich auf dem Rollfeld mit Ihrer Begleiterin unterhielten. Natürlich sind Sie mir seit langem bekannt.“ „Genug der Schmeichelei. Wer will Ihre Tochter ermorden?“ Mit zitternden Händen zog Voordenstaam einen Zettel aus der Tasche. In Druckbuchstaben war daraufgeschrieben: „Die Skaalfjel-Saga oder das Leben Ihrer Tochter! Wickeln Sie die Saga in eine Zeitung, gehen Sie morgen abend dicht an der Bordkante auf der rechten Seite die Gustavsonstraße hinunter und geben Sie das Buch einem Mann, der zu Ihnen sagt:
,Wollen Sie nicht einen Bungalow mieten?’ Ein Kinderfreund.“ Oakins las den Text dreimal und stellte einige Fragen. Er erfuhr, daß Voordenstaam die kostbare Handschrift der Saga aus dem elften Jahrhundert im Auftrag eines Millionärs aus Düsseldorf erworben hatte, daß er mit seiner Frau und seiner elfjährigen Tochter Wilma hierhergekommen war und daß die Übergabe in aller Diskretion in seinem Hotelzimmer stattgefunden hatte. Voordenstaam flüsterte: „Der Zoll, Sie wissen!“ „Aha“, erwiderte Oakins, „deshalb wenden Sie sich nicht an die Polizei, und der Erpresser weiß das. Trotzdem, ich kämpfe für die Gerechtigkeit, das macht meinen Ruf aus, und Erpressung mit Morddrohung wiegt schwerer als Zollvergehen. Sie werden mir die Hälfte dessen, was Sie beim Zoll sparen wollten, als Honorar zahlen, wenn ich den Erpresser unschädlich mache? Okay, Mynheer, Sie dürfen sich als meinen Klienten betrachten.“ Zwei Stunden lang fragte Oakins den Buchhändler nach allen Regeln der detektivischen Kunst aus. Wer hatte im Flugzeug in dessen Nähe gesessen? Mit wem hatte Voordenstaam im Hotel Kontakt gepflogen? Von wem hatte er die Saga gekauft? Nach einer Weile schloß Oakins: „Der Gauner ist ein Ausländer, denn die Isländer sind das redlichste Volk der Welt, die Bauern haben nicht einmal Schlösser an ihren Türen, und dennoch fehlt nie etwas.“ Mary Glenn warf ein: „Sagt man das nicht vielmehr von den Grönländern?“ „Von denen auch. Kurzum, wir haben den Schuft unter den Gästen dieses Hotels zu suchen, oder doch
nicht weit davon entfernt. Wem haben Sie von dem Kauf erzählt?“ „Niemandem.“ „Also hat man Ihr Gespräch abgehört. War außer dem Kellner jemand in Ihrem Zimmer?“ „Ein Telefonmonteur.“ „Der übliche, uralte Trick“, stellte Oakins angewidert fest. „Wann endlich wird man mir wieder mal eine ordentliche Aufgabe stellen?“ Fünf Minuten später betrat Oakins in Voordenstaams Begleitung dessen Zimmer. Er hatte den Holländer gebeten, kein Wort zu sprechen; stumm machte sich Oakins an die Arbeit. Er hatte damit gerechnet, in der Muschel des Telefons ein winziges Mikrofon und einen Kleinstsender zu entdecken, aber das Telefon war sauber wie Decken- und Tischlampe, wie Schalter und Verteilungsbuchsen. Auf einem Tischchen stand ein Käfig mit einem Goldhamster, Oakins suchte darunter, hinter den Bildern und den Scheuerleisten, unter den Betten und dem Waschtisch. Als er Voordenstaam wieder in seinem eigenen Zimmer gegenübersaß, sagte er: „Natürlich darf man sich nicht auf eine Idee versteifen. Kommen Sie, wir trinken in der Halle einen Apfelsaft. Dabei kann ich am besten nachdenken.“ Für kurze Zeit saßen Voordenstaams Frau und Tochter mit am Tisch, sie waren von einem Einkaufsbummel zurückgekehrt. Nachdem Oakins und Voordenstaam wieder allein waren, brummte der Detektiv: „Wir dürfen Wilma ab morgen nicht mehr aus den Augen lassen. Bis dahin wird der Strolch sie nicht anrühren.“ Ein stämmiger Herr grüßte Voordenstaam im Vorübergehen. „Ein schwedischer Tierhändler“, erläuterte der Holländer, „ich habe ihn
am Abend nach meiner Ankunft kennengelernt, er will Eisvögel einkaufen. Meiner Tochter hat er den Goldhamster geschenkt.“ „Das hätten Sie mir mitteilen sollen! Habe ich nicht ausdrücklich nach Ausländern gefragt?“ Nach dem fünften Apfelsaft war Oakins’ Schlachtplan fertig; mit wenigen Worten teilte er ihn dem Holländer mit. Während er so tat. als würde er austreten gehen, führte er ein kurzes Telefongespräch, dann fuhr er mit Voordenstaam zu dessen Zimmer hinauf. Der Buchhändler bat Frau und Tochter, inzwischen schon zum Abendessen zu gehen; nachdem die beiden das Zimmer verlassen hatten, sagte Oakins zu Voordenstaam: „Wissen Sie was, Mynheer, die Saga lassen Sie getrost in der Matratze Ihres Bettes. Während Ihre Frau und Ihr reizendes Töchterchen speisen, sehen wir uns die Gustavsonstraße an.“ Verabredungsgemäß erwiderte Voordenstaam: „Und Sie glauben nicht, Mister Oakins, daß die Saga inzwischen gefährdet ist?“ „Keine Spur, so wahr ich Oakins heiße und Londons bekanntester Detektiv bin. In einer Stunde sind wir zurück, bis dahin passiert der Schwarte überhaupt nichts.“ Voordenstaam erbleichte bei dieser Formulierung, aber er spielte weiter mit, knipste das Licht aus, öffnete die Tür, sagte: „Nach Ihnen, Mister Oakins!“ und bemühte sich, alle Geräusche zu machen, die beim Verlassen eines Zimmers entstehen. Er schloß aber die Tür von innen ab, und er und Oakins schlichen in einen Winkel hinter den Betten. Dort hockten sie zehn Minuten lang. Oakins rekapitulierte noch einmal seinen Plan. Er hatte
Voordenstaam gebeten, mehrmals den Namen Oakins zu nennen. Das war geschehen. Wenn der Erpresser wirklich aus der internationalen Branche war, mußte er den Namen Oakins kennen, wenn er durch ein verborgenes Mikrofon und einen kleinen Sender das eben geführte Gespräch mitgehört haben sollte, mußte er wissen, daß er in der nächsten Stunde eine Chance besaß, das Manuskript an sich zu bringen, die nicht wiederkam. Wenn sich kein Mikrofon im Zimmer befand, war kein Schaden angerichtet, dann mußte sich Oakins eben etwas anderes einfallen lassen. Oakins glaubte schon, sein Plan würde scheitern, als ein Schlüssel ins Schloß geschoben und umgedreht wurde und sich die Tür leise öffnete. Schritte näherten sich dem Bett, die Steppdecke glitt raschelnd zu Boden, da schaltete Oakins die Nachttischlampe ein und sprang aus seinem Versteck. Er sah ein erschrockenes Gesicht und eine Pistole, schnellte in einem gehechteten Mawashi-Oakins-Geri vor, stieß mit dem Knie nach dem Kinn seines völlig überraschten Gegners, schlug ihm mit dem Fuß des anderen Beines die Pistole aus der Hand, landete weich auf der Steppdecke und riß sich zur traditionellen KarateKampfstellung, die Handkanten gezückt, neben dem Bett hoch. Er stellte fest: „Der Tierhändler!“ Jetzt kroch auch Voordenstaam aus seinem Winkel. „Sie hier?“ fragte er verblüfft. „Ich wollte nur sehen, ob der Goldhamster genügend Futter hat“, antwortete mühselig der Schwede und rieb seinen Unterkiefer. „Dazu wühlen Sie im Bett?“ Oakins brachte die Pistole des Eindringlings an sich und dirigierte ihn in eine Ecke, wo er ihn durchsuchte. Er wies
Voordenstaam an, Mary Glenn telefonisch herbeizurufen. Während er dem Tierhändler die Taschen abklopfte, liefen rasche Gedankenketten in seinem Hirn ab. Kaum eine halbe Minute brauchte er, um eine Reihe von Fakten zueinander in Beziehung zu setzen. Mary Glenn trat gerade ein und erfaßte mit geübtem Blick die Situation, als Oakins zum Goldhamster trat, ihm, so zart er konnte, die Kiefer auseinanderdrückte und versuchte, ihm ins Mäulchen zu schauen. „Seien Sie nett zu ihm!“ rief da der Tierhändler. „Pucki ist so empfindlich!“ Oakins knurrte: „Sie geben also zu, ein Mikrofon in den Backentaschen des Goldhamsters versteckt zu haben?“ Der Schwede gab sich auf der ganzen Linie geschlagen. „Links das Mikrofon, rechts der Sender.“ „Maßarbeit“, erkannte Oakins an. „Aber Sie waren doch nicht schlau genug, mich zu überlisten. Wie haben Sie Mikrofon und Sender befestigt?“ „Mit Kuki-Kleber. Ich schätze ihn von meiner Gebißprothese her.“ Oakins wollte die leidige Geschichte zum Abschluß bringen. Er zog seine Jacke glatt und sagte: „Ich bin zur Erholung hier und habe keine Lust, meine Zeit vor den Justizorganen dieses Landes mit Zeugenaussagen zu vergeuden.“ Er wendete sich an den Tierhändler, als er fortfuhr: „Sind Sie bereit, zwanzigtausend Kronen für das Rote Kreuz des Inselstaates zu spenden?“ „Wenn damit die Sache erledigt ist?“ „In meinen Augen ist sie es. Mynheer Voordenstaam, einverstanden?“ Der Holländer nickte.
Alles wäre ganz friedlich verlaufen, wenn nicht in dieser Sekunde ein Mann die Tür aufgerissen hätte und ins Zimmer gestürzt wäre. Fast wäre er gegen Oakins geprallt. In einer Reflexbewegung schnellte Oakins zum Doppellux-Mawashi-Oakins-Geri hoch, sein Knie schmetterte gegen das Kinn des Eindringlings und leistete dort ganze Arbeit. Oakins rollte flüssig ab und kam neben Mary Glenn wieder zum Stehen. Seine Assistentin schaute auf ein Abzeichen an der Mütze des k.o. geschlagenen Mannes hinab und stellte fest: „Der Herr ist vom Zoll.“ „Natürlich“, bekannte Oakins schnaufend, „ich habe ja selbst beim Zoll angerufen und einen Vertreter in dieses Zimmer gebeten. Warum klopft er nicht an, wie es sich gehört? Oakins wendete sich an Voordenstaam und sagte: „Ich bin sicher, Sie wissen selbst, was Sie dem Zoll mitzuteilen haben. Im übrigen wird meine Assistentin Sie über meine Bankverbindungen informieren. Ich wünsche allerseits noch einen angenehmen Tag.“ Auf dem Korridor sagte Oakins zu Mary Glenn: „Ist das eigentlich die Erholung, die Ihnen vorgeschwebt hat, als Sie Island empfahlen? Nun gut, wir wollen diese Bagatelle so rasch wie möglich vergessen. Wie kommt man am schnellsten zu den Geysiren?“
Der Ritter der Bibi Call
Erschöpft erreichte Oakins einige Tage später seine Heimatstadt, seufzend verriet ihm Harriet Flaherty, daß während seiner Abwesenheit kein Auftrag eingegangen war. Mary Glenn erfüllte den Raum mit optimistischem Lärm: Sie würde eine Pressekonferenz einberufen, über die spektakulären Erfolge des Pat Oakins in Venedig, auf Sardinien und Island berichten, ein neues Zeitalter der ehrwürdigen Detektei verkünden. „Mister Oakins, Sie werden sich vor Aufträgen nicht retten können.“ Das Honorar des Holländers Voordenstaam reichte aus, Miete und Telefonrechnung zu begleichen und Harriet Flaherty und Mary Glenn ihr Gehalt auszuzahlen. Tags darauf überwies Oakins ein weiteres Mal eine Rate an James Harrison. Der Kontoauszug wies danach eine Summe aus, mit der Oakins noch zwei Wochen lang sein Leben fristen konnte, dann, wenn nicht ein wirklich lohnender Auftrag hereinkam, saß er auf dem trockenen. Oakins hatte keine Lust, in sein Büro zurückzukehren. Er bummelte durch die Oxford-Street und ließ sich durch Seitenstraßen zu einem Käsegeschäft treiben. Coulommiers lag im Schaufenster, Oakins wußte: Coulommiers war in der Ile-de-France beheimatet, seine Produktion hatte sich über die Champagne ausgebreitet. War er abgelagert, kam sein Geschmack dem des Brie nahe; nicht weniger empfehlenswert war sein Genuß im frischen, noch moussierenden Zustand. Oakins kaufte Coulommiers, war nicht stolz auf seine Kenntnisse. Während er in einem Park auf einer Bank saß und Tauben und Pensionären und Kindermädchen zusah,
besann er sich auf die Zeit, als er auf sich gestellt dem Erfolg nachgejagt war. Wenn er Hunger gehabt hatte, war es sein Hunger gewesen, jetzt hingen zwei Angestellte von ihm ab. Chandler, Gardner oder Durbridge – welcher Stil war vorzuziehen? Mary Glenn empfing Oakins in heller Aufregung. „Ich muß sofort weg!“ rief sie. „Der Sekretär von Bibi Call hat mich angerufen. Besprechung im Hotel ,Kairo’. Bibi hat einen Auftrag für uns!“ „Die Sängerin?“ „Sängerin ist ein wenig kleinlich ausgedrückt. Der Plattenstar, der Showstar, der Weltstar.“ Oakins hatte eine dunkle Vorstellung von einer rauchigen Stimme und einer Wolke schwarzen Haares, von einem weitaufgerissenen Mund, in dem alle zweiunddreißig Zähne zu sehen waren. „Ich komme am besten mit.“ Marys Lächeln war bezaubernder als jemals. „Wollen Sie mir nicht diese Chance lassen? Der Sekretär hat mit mir gesprochen, hat mich gebeten…“ „Nun gut, gehen Sie hin. Schlagerstars haben Geld wie Heu, vergessen Sie das nicht. Tagessatz für mich zwanzig Pfund, für Sie zehn. Die endgültige Entscheidung fälle natürlich ich. Sobald die Besprechung vorbei ist, rufen Sie mich an.“ Mary enteilte mit wehenden Haaren, zwei Stunden lang ging Oakins ruhelos im Büro auf und ab. Endlich rief Mary an: „Eine leichte Sache. Die Sängerin will sich auf einen ehemaligen Flakturm vor der Küste von Essex zurückziehen, dort in aller Ruhe Aufnahmen machen und sich auf den Auftritt in der Albert-Hall vorbereiten. Es kommen nur noch zwei Techniker hin
und Bibis Kammerzofe. Bibi will selbst kochen. Wir sollen ihren Schutz übernehmen.“ „Haben Sie den Tagessatz gefordert, den ich angegeben habe?“ Mary jubelte: „Ich habe für jeden von uns noch fünf Pfund Erschwerniszulage herausgeschlagen.“ „Die Unterbringung?“ „Ich wohne mit der Zofe in einem Zimmer, Sie mit den Technikern. Wir werden nicht viel mehr zu tun haben als in die Wolken zu starren. Wir können angeln – ist das alles nicht großartig?“ „Und wie lange?“ „Zehn Tage.“ „Haben diese Leute ein Funkgerät?“ „Ich weiß es nicht.“ „Wenn wir Bibi Call wirklich zuverlässig schützen wollen, müssen wir Verbindung mit der Außenwelt aufnehmen können.“ Oakins bezeichnete eine Straßenkreuzung im Osten Londons, an der er sich am nächsten Vormittag mit Mary treffen wollte, er wies Harriet an, in welcher Weise sie das Haus hüten sollte, dann fuhr er nach Brixton und suchte jenen PhysikStudenten auf, zu dem sich vor einigen Wochen die Fischhändlersgattin geflüchtet hatte. Oakins traf ihn inmitten seiner Geräte an, den Kopfhörer auf den Ohren, und kam sofort zur Sache: Konnte ihm der Herr für einige Zeit einen Kurzwellensender handlichen Formats überlassen? „Wenn es um die Gerechtigkeit geht, immer.“ Der Student stellte ein Kästchen vor Oakins hin. „Einfach zu bedienen, idiotensicher. Hier ziehen Sie die Antenne heraus, diesen Hebel legen Sie um. Hören Sie: der Polizeifunk.“ Irgendein Anton rief eine Gloria, Gloria
gab Zahlen durch, wieder sprach Anton, forderte Gloria auf, mitzuteilen, wo sich Robert befand. „Sie können mit Scotland Yard und jeder anderen Polizeistelle Verbindung aufnehmen.“ „Wunderbar.“ Oakins ließ sich den Mechanismus noch einmal erklären; er war wirklich simpel. Er fuhr nach Hause, packte seine Reiseutensilien, ging noch einmal hinunter und kaufte an einem Kiosk fünf Durbridge- und zwei Gardner-Romane. Zuoberst in seinen Koffer legte er seinen Expander. Am nächsten Morgen traf er zur vereinbarten Zeit mit Mary Glenn zusammen. Strahlend stieg sie in seinen Wagen. „Ich bin so froh“, sagte sie, „daß ich diesen Auftrag zustande gebracht habe.“ Leise setzte sie hinzu: „Zehn Tage mit Ihnen auf einer Insel – auch darüber bin ich froh.“ Behutsam legte Oakins seine Hand auf die ihre. Sie fuhren nach Southend on Sea durch einen klaren Morgen. Mary hatte das Fenster heruntergedreht, der Fahrtwind spielte mit ihrem Haar. Oakins sagte: „Es ist gut, daß wir einander gefunden haben. Wir werden ein großartiges Gespann abgeben.“ „Ich wäre glücklich, wenn es so wäre. Sagen Sie, Pat – ich darf Sie doch Pat nennen?“ „Wenn ich Mary sagen darf?“ „Gut, Pat. Also, was ist das mit diesen Flaktürmen?“ „Eine alte Sache aus dem Krieg. Man hat draußen im Wattenmeer Stahltürme errichtet und mit Plattformen verbunden. Darauf standen Geschütze und Unterkünfte für die Mannschaften. Von diesen Türmen aus konnte man die Nazibomber bekämpfen, ehe sie die Insel erreichten. Nach dem Krieg hat man die Türme nicht abgerissen, sie störten ja niemanden.
Später haben sich auf einigen von ihnen Piratensender eingenistet, die von Reklame und heißer Musik lebten und keine Steuern zahlten, weil sie sich ja außerhalb der Hoheitsgewässer befanden.“ „So ein Turm wird es sein. Es ist Turm drei auf dem Sunk Sand. Bibis Sekretär hat gesagt, wir sollten uns an einen Fischer namens Themley wenden, der bringt uns hinüber.“ Themley war ein bärtiger Mann mit gegerbter Haut und wasserblauen Augen. Er wäre informiert, sagte er, eine Dame hätte ihn angerufen. „Sollten wir nicht etwas Verpflegung mitnehmen?“ fragte Oakins seine Assistentin. „Nicht nötig, der Sekretär hat mir versichert, daß für alles gesorgt ist.“ Das Motorboot war klein und schnell und hatte eine winzige Kajüte. Meist saßen Oakins und Mary Glenn neben Themley und ließen sich erklären: Backbord lag der Leuchtturm Mouse, steuerbord der Leuchtturm Moplin. Hier war das Meer so flach, daß während der Ebbe weite Schlickstrecken bloßlagen. Drüben auf der Bank jenseits des West Swin, dem West Barrow, hatten im Krieg drei zerbombte Küstendampfer gelegen, aus ihnen hatten Themley und seine Kollegen Tag für Tag mit ihren Booten die Ladung gelöscht. Themley wies geradeaus: „Dort liegt West Barrow, auf ihm steht Turm drei. Ich war voriges Jahr zum letzten Mal oben.“ Oakins fragte: „Alles in Schuß?“ „Kann man nicht sagen. Aber Platz ist für zwanzig Leute. Wenn ich Kapital hätte, würde ich dort eine Pension einrichten. Flakturm – ist doch mal was anderes für die Snobs!“
Nebel kam auf, dann sahen sie den Turm zwei, ein zehn Meter hohes Stahlgerüst; auf einer Plattform streckte noch ein Geschütz sein Rohr gegen den Dunsthimmel. Eine Meile dahinter stand Turm drei, auf ihn hielt Themley zu. Er legte an einem von Rost zerfressenen Landungssteg an, half Oakins seinen Koffer hinüberheben. „Meinen Koffer hole ich dann“, sagte Mary. Über mit Vogelkot bedeckte Treppen stiegen Oakins und Mary Glenn hinauf. Oben spürten sie den Wind und hatten einen herrlichen Blick auf das Meer; Möwen kreischten zu ihren Köpfen. „Alles ziemlich vergammelt“, urteilte Oakins. „Ob sich eine verwöhnte Frau wie Bibi Call hier wohl fühlt?“ „Vielleicht spürt gerade sie die Romantik. Wer immer in Luxushotels wohnt, sehnt sich am meisten nach Einsamkeit.“ Oakins ging über eine Brücke zur Unterkunft hinüber. Der Schlüssel steckte im Schloß, die Tür quietschte in rostigen Angeln. Einiges der Einrichtung war noch erhalten, wenn auch nicht viel: Tisch, Hocker, ein elektrischer Herd. Ob die Kraftstation in Ordnung war? Immerhin: Man würde allerhand herüberschleppen müssen, wenn ein paar Leute hier zehn Tage lang leben sollten. Oakins öffnete ein bullaugenähnliches Fenster und schaute hinaus. Eines stand fest: Er konnte hier auf leichte Weise gutes Geld verdienen. Er würde Mary nahe sein, ihr näherkommen. Schade, daß er keinen Fotoapparat mitgebracht hatte; Mary hätte Aufnahmen machen können: Bibi Call und er über die Reling gebeugt; die Fotos wären für einen Reklameprospekt geeignet gewesen, vielleicht hätte eine Zeitung sie
veröffentlicht. Oakins rief nach Mary, wollte ihr seine Gedanken mitteilen, aber sie antwortete nicht. Er ging zurück, drückte die Klinke nieder, rüttelte, aber die Tür ließ sich nicht öffnen. „Mary! Nun lassen Sie doch den Unsinn. Mary, machen Sie schon auf!“ Er hörte, wie der Motor von Themleys Boot angeworfen wurde, und rannte zum Fenster. Der Landungssteg war von hier aus nicht zu sehen, aber der Motor war deutlich zu hören. Oakins beugte sich hinaus, sah, daß unter dem Fenster ein Sims an der Unterkunft entlanglief, kroch durchs Fenster, schob sich, zehn Meter unter sich die Wellen, auf dem Sims entlang, bis er die Verbindungsbrücke erreichte. Er sah den leeren Steg, auf dem sein Koffer stand, sah das Boot hundert Meter entfernt mit Kurs zur Küste, sah die dunkle Kappe von Themley und das helle, wehende Haar der Mary Glenn. Da begriff Oakins, daß er in eine Falle gegangen war. Eine Stunde verbrachte Oakins damit, die drei Stahlmasten und die sie verbindenden Plattformen und Stege zu besichtigen, Er fand eine Pritsche mit einer Drahtmatratze und einem feuchten Seegrassack, eine Segeltuchplane und viele Meter Stahlseil, leere Konservenbüchsen und sechs Mutterschlüssel. Er schaute nach Schiffen aus, aber dichter werdender Nebel hüllte den Turm ein. Fern tuteten Schiffshörner. Er mußte, daran bestand kein Zweifel, sich wohl oder übel darauf einrichten, eine Nacht auf diesem Turm zu verbringen. Ihm ging durch den Kopf, wie Menschen vor ihm den Naturgewalten, nur auf sich gestellt, getrotzt hatten; von Robinsons Pionierleistung über die 2000-Meilen-Trift abgeschossener amerikanischer Flieger in einem Schlauchboot im Pazifik bis zu jenem Überlebenstest der französischen Luftwaffe im
vergangenen Jahr streiften seine Gedanken. Fallschirmjäger waren in einem einsamen Pyrenäental „ausgesetzt“ worden, sie hatten weder Lebensmittel noch Streichhölzer noch Tabak bei sich gehabt, keine Waffen und nichts außer dem, was sie auf dem Leib trugen. Nach Tagen war es ihnen gelungen, Feuer nach Urväterart zu entzünden, nach einer Woche das erste Wild in Schlingen, die ersten Fische mit der Hand zu fangen. Nach zwei Wochen war das Unternehmen beendet worden, der Gewichtsverlust pro Mann hatte zwischen vier und sechzehn Kilogramm betragen. Ein paar Tage, hoffte Oakins, hielt er es hier auf. alle Fälle aus, und eine kleine Abmagerungskur konnte ihm nicht schaden. Für den äußersten Notfall besaß er ein Funkgerät. An diesem Abend regnete es in Strömen. Oakins hockte auf der Pritsche, schaute mißmutig hinaus auf das Stück Nordsee, das von einem Bullauge abgezirkelt war. Er absolvierte sein Expandertraining und schlief auf dem Sack mit Seegras unter einer Segeltuchplane. Im Morgengrauen erwärmte er sich durch Liegestütze und Kniebeugen, lag zwei Stunden lang bäuchlings auf dem Landungssteg und versuchte, einen der vorbeischwimmenden Fische mit einem Mutterschlüssel zu erschlagen. Später säuberte er notdürftig die Konservendosen und stellte sie auf dem Dach seiner Unterkunft auf. Gegen Mittag ging ein erneuter Regenguß nieder. Nachdem der Himmel wieder klar war, labte sich Oakins an einigen brackigen Schlucken. Viel Gedankenkraft verwendete er darauf, wie man Möwen fangen könnte, aber er kam wieder davon ab, nachdem ihm eingefallen war, daß Möwen tranig schmeckten. Er zog Fäden aus der
Segeltuchplane und drehte sie zu einem Strick zusammen, hing ein gebogenes Drahtstück aus dem Stahlseil daran und stellte so eine Angel her. Unter der Wasseroberfläche wuchsen an einem Pfeiler fingerkuppengroße schwarze Muscheln; er brach eine auf und benutzte sie als Köder. Gegen Abend fing er einen kleinen Hering, schuppte ihn am Treppengeländer und riß mit den Zähnen das Fleisch von den Gräten. Er hätte danach gern etwas zu trinken gehabt, aber der Wind vertrieb die Wolken. Die Sicht wurde klar, Oakins entdeckte ein Rudel Fischerboote, zog das Hemd aus und winkte. Aber niemand bemerkte ihn. Der Fisch hatte seine Magensäfte angeregt, er spürte Hunger, fühlte sich aber noch nicht schwach. Er zog einen Gardner-Roman aus seinem Koffer und las die schöne Stelle, wo Rechtsanwalt Perry Mason und seine Sekretärin Della Street ein Schlemmerlokal in Las Vegas besuchen, wo sie Hummer und Schildkrötensuppe und gebackene Schnepfen, Truthahn mit Champignons und unheimlich scharfe giftgrüne Gurken essen. Er stellte sich einen dunkelroten geräucherten Schinken vor und Bananen und Ananas und ein schlichtes Sandwich mit Camembert. Er nahm den Funkapparat auf die Knie und drückte die Empfangstaste, hörte schwach vom Festland herüber, wie Tony fünf immer wieder Charles, Charles, Charles rief, wie Charles endlich antwortete und verlangte, Reblaus viernulldreisechs sollte besetzt werden. Die Versuchung war groß, die Sendetaste zu drücken und sich zu vergewissern, ob sein Ruf bis zum Festland drang, aber er widerstand ihr in der Hoffnung, am nächsten Tag käme ein Schiff vorbei,
man würde ihn sehen und mitnehmen; er legte sich eine Story zurecht, die er dem Kapitän auftischen wollte. Inbrünstig hoffte er auf einen größeren Hering, auf einen Regenguß, der seine Büchsen füllte, und er versuchte sich mit dem Gedanken vertraut zu machen, er äße die ekligen schwarzen Muscheln, die an den Pfeilern wuchsen. Konnte nicht eine Kiste herangespült werden, konnte sie nicht mit Konserven gefüllt sein, mit dänischem Schweinefleisch, spanischen Sardinen, griechischem Wein? In dieser Nacht fror Oakins erbärmlich. Gegen Mitternacht vollführte er einen wilden Tanz, vermochte sich aber nicht zu erwärmen. Der Wind pfiff durch alle Ritzen, jaulte im Gestänge, Welle auf Welle brach sich an den Pfeilern, daß der Turm bebte. Oakins erwog, sich einen Termin zu setzen, bis zu dem er durchhalten wollte, ehe er Scotland Yard um Hilfe bat und sich damit der Gefahr einer Blamage aussetzte. Er träumte davon, am nächsten Morgen landete Bibi Call auf einer schneeweißen Jacht, brächte Ölöfen und Decken und Kisten voller Konserven, er malte sich aus, sein Messer schnitte in einen Maroilles hinein. Bibi erläuterte ihm, wie es zu diesem Mißverständnis gekommen war, und schuldbewußt stand Mary Glenn im Hintergrund, denn sie hatte irgend etwas verwechselt, aber in gutem Glauben gehandelt; nicht die Rede konnte davon sein, daß Ränke und Verrat im Spiel waren. Von Stund an war ihm Mary Glenn in unwandelbarer Treue ergeben, Bibi Call drückte ihm ein Päckchen Zehnpfundnoten in die Hand. Nie hatte Oakins die Morgendämmerung so inbrünstig herbeigesehnt. Zum Frühstück spendierte ihm eine Möwe ein Ei, gegen Mittag füllte ein
Regenguß seine Büchsen um Fingerbreite. Nach der kärglichen Mahlzeit spürte er Hunger und Durst stärker als vorher, und während er auf dem Landungssteg hockte und die Angel ins Wasser hielt, überlegte er, was vorzuziehen sei: Die Hilfe des Spötters Varney anzurufen oder sich von Algen und Muscheln zu ernähren. Wieder sah er Fischerboote, und als er die Treppe hinaufeilte, um sich durch Winken bemerkbar zu machen, wurde ihm schwindlig, daß er sich setzen mußte. Dieser Tag brachte nichts außer dem Entschluß, am nächsten Morgen aufzugeben. Oakins versuchte, sich durch Gardner-Lektüre abzulenken, las mehrmals die Stelle, in der geschildert wird, wie Rechtsanwalt Mason sich so über einen Klienten ärgert, daß er von einem Steak nur einen Bissen ißt und den Teller mürrisch von sich schiebt. Oakins malte sich aus, er gewöhnte sich an Muscheln und Algen, finge Möwen im Flug und erschlüge einen Delphin mit einem Mutterschlüssel, er hielte wochenlang durch, bis er endlich gefunden würde, in zerfallener Kleidung, das Gesicht von einem wilden Bart bedeckt. Die Presse drängte sich zu seiner Konferenz, die Nachricht von einem neuen Robinson lief um die Welt, Millionen saßen an den Bildschirmen und sahen schaudernd zu, wie er Tang und Muscheln schlang und seine Zähne in rohes Delphinfleisch schlug. Der Reporter verlas ein Telegramm der amerikanischen Weltraumbehörde, die ihn nach Cape Canaveral einlud, um von seinen Erfahrungen zu profitieren, und New York bereitete ihm einen Konfetti-Empfang. Als sich der Abend senkte, riß sich Oakins aus seinen Träumen. Er nahm den Expander aus seinem Koffer, und mit entblößtem Oberkörper vollführte er
auf der obersten Plattform sein volles Repertoire. Die Muskeln schmerzten ihm, er keuchte, Schweiß trat ihm auf die Stirn. So stand er, ein kleiner Mann, aber ein Mann, beschienen von rötlicher Abendsonne, Sinnbild für Mut und Zähigkeit. Er hätte so der Welt ein Vorbild sein können, aber niemand sah ihn außer einigen verwunderten Möwen und einer Flunder, die, ein Auge nach oben gerichtet, träge durch das flache Wasser schwamm. Kommissar Varney blieb am folgenden Morgen nach dem Wachwerden noch ein wenig im Bett. Er hörte, wie sich die Kinder verabschiedeten, hörte die Wohnungstür klappen. Dann stand er auf, ging ins Bad, setzte sich an den Frühstückstisch. „Im allgemeinen hängen mir Kriminalkongresse zum Halse heraus“, sagte er, „aber diesmal hat Interpol gute Leute eingeladen. Fellini aus Mailand soll referieren, wie er den Mord am Fernsehstar Falciera aufgeklärt hat, Doktor Fussel aus Basel wird dasein, Slavik aus Pilsen.“ „Und Kopenhagen ist eine schöne Stadt.“ „Das kommt hinzu. Was soll ich dir mitbringen?“ „Keramik, Volkskunst, eine Decke, ein Kissen – du wirst schon etwas finden.“ Varney fuhr noch nicht gleich zum Flugplatz, er ging im Yard noch einmal zu seinem Büro hinauf, wollte sich von Sheperdson verabschieden, wollte mit Boston einige Kleinigkeiten durchsprechen. Seine Sekretärin teilte ihm mit, Boston sei zur Funkstelle gerufen worden. Eine Viertelstunde später kam Boston zurück.
„Eine mysteriöse Geschichte. Oakins meldet sich auf einer Welle der Verkehrspolizei mit einem Hilferuf. Er will Sie sprechen.“ „Haben ihn Gangster wieder mal zu einem Bündel verschnürt?“ „Der Ruf war nicht klar, inzwischen ist die Verbindung abgerissen.“ „Vielleicht fragen Sie mal in seinem Büro nach, ob man etwas über ihn weiß.“ Boston zögerte. „Solange kein Mord geschehen ist…“ „…ist die Mordkommission nicht zuständig, wollten Sie sagen. Ich weiß, daß Sie Oakins nicht grün sind, seit er sich in die Geschichte Pudney-Lawton hineingedrängelt hat. Aber vergessen Sie das. Wenn Oakins in Not ist, müssen wir ihm helfen.“ Varney fuhr zum Flugplatz, Boston rief in Oakins’ Büro an. Harriet Flaherty teilte ihm mit, Mister Oakins stünde im Dienste einer Sängerin. Ein Notruf? Merkwürdig. Sie könnte dazu nichts sagen, und Miß Glenn, die neue Assistentin, wäre nicht da. Boston fand die Geschichte seltsam, wußte aber nicht, was er tun sollte. Er ging in die Bibliothek und ließ sich heraussuchen, was in den letzten Jahren über Giftmorde geschrieben worden war. Er vertiefte sich so, daß er den Sinn für Zeit und Ort verlor und von der Sekretärin herausgerissen werden mußte, sonst hätte er das Mittagessen vergessen. Während er Reis und Frikassee auf die Gabel schob, fragte er: „Was Neues über Oakins?“ Die Sekretärin schüttelte den Kopf. Am Nachmittag wurde eine weitere Meldung von der Funkstelle heraufgeschickt. Ein Streifenwagen aus Eastend hatte einen erneuten Hilferuf aufgefangen. „Bin auf einem Turm abgeschnitten“, hatte Oakins
gesendet. „Habe weder Wasser noch Lebensmittel. Erbitte dringend Hilfe. Verständigen Sie Varney.“ Seufzend legte Boston seine Lektüre weg, fuhr nach Kingston und. stieg um den wieder einmal defekten Fahrstuhl herum zum Büro von Oakins hinauf. Harriet Flaherty war dabei, Zeitungen zu durchforschen. „Mein Chef“, sagte sie obenhin, „geht einem größeren Auftrag nach. Einzelheiten sind mir nicht bekannt. Schade, daß er nichts für Sie tun kann.“ „Ich habe vielmehr den Eindruck, daß wir etwas für ihn tun könnten.“ Boston trat an den Schreibtisch heran, sah auf ihm einen Prospekt: „Käse aus Frankreich.“ Er fragte: „Hat dieser Prospekt eine besondere Bedeutung?“ „Mein Chef liest häufig darin. Wegen der Fettsäuren.“ „Ein interessantes Thema. Darf ich den Prospekt einmal mitnehmen?“ „Aber nur leihweise.“ Boston fuhr in den Yard zurück, las über Fromage Fondue, Crottin de Chavignol, Banon und Fromage Frais und wendete sich wieder seinen Giften zu. Am Abend kam ein Mitarbeiter der Funkstelle herüber und berichtete: „Ich habe Oakins inzwischen beigebracht, wie er seinen Apparat bedienen muß. Man kann sich jetzt mit ihm ganz leidlich unterhalten. Mir will er nicht mitteilen, wo er steckt, er will unbedingt Varney sprechen.“ „Sie haben ihm gesagt, daß Varney nicht da ist?“ „Vermutlich glaubt er mir nicht.“ Boston steckte den Käsekatalog in die Tasche und ging mit zur Funkstelle. Die Verbindung mit Oakins wurde hergestellt, Boston hörte durch Rauschen und
Knacken hindurch die Stimme des Detektivs: „Ist dort Kommissar Varney?“ Boston schrie: „Hier ist Boston, verstehen Sie mich? Varney ist nicht in London. Was können wir für Sie tun?“ „Wann kommt Varney zurück?“ „Das wissen wir nicht genau.“ „Dann warte ich, bis er da ist.“ „Auf welchem Turm sitzen Sie denn?“ „Teile ich alles Varney mit.“ „Schön.“ Wütend zog Boston den Katalog aus der Tasche. „Ich hörte, daß Sie nicht besonders gut verpflegt werden. Sollten Sie knapp dran sein, müssen Sie Ihre Phantasie spielen lassen. Stellen Sie sich einen Camembert vor, diese Schöpfung der Bäuerin Marie Harel zur Zeit der großen französischen Revolution, den sie nach ihrem Heimatdorf benannte. Er ist, wie Sie wissen, die größte Spezialität der Normandie. Sein Geschmack ist lieblich, sein Aroma duftig. Guten Appetit und gute Nacht!“ Später spürte Boston leichte Reue, daß er so heftig geworden war. Am nächsten Tag versuchte er, erneut eine Verbindung mit Oakins herzustellen, aber es gelang nicht. Mittags meldete sich Oakins wieder. „Hören Sie, Boston, langsam wird es hier ungemütlich. Eine Möwe hat eben ein Ei gelegt, ich habe es ausgeschlürft, aber es sättigt nicht sonderlich. Ist Varney noch nicht zurück?“ „Vor vier Tagen können Sie nicht mit ihm rechnen.“
„Und Sie garantieren mir, daß Sie nicht der Presse mitteilen, wo ich mich aufhalte und wie ich hierhergekommen bin?“ „Kommt darauf an.“ „Dann will ich lieber noch warten. Vielleicht gewöhnen sich die Möwen an mich.“ „Möglich. Und wenn Sie inzwischen Hunger bekommen, stellen Sie sich einen Chevres vor. Sie wissen doch: Frankreich besitzt etwa sechzig Sorten Ziegenkäse von unterschiedlichsten Formen, auch variieren sie in Farbe und Geschmack. Jede Art schaut auf eine lange Tradition zurück, ihre Rezepte wurden von Generation zu Generation weitervererbt. Guten Appetit, Oakins!“ Oakins kapitulierte am kommenden Morgen. „Ein frisches Möwenei als Frühstück ist zuwenig“, sagte er, „zumal, wenn man am Abend gefastet hat.“ „Ich aß Livarot, Saint-Nectaire und Fondue de Savoie au Raisin, falls Sie das interessieren sollte.“ „Hören Sie auf!“ schrie Oakins. Dann schilderte er, wo er sich befand, und ein weiteres Mal bat er dringend, der Presse nichts von seiner Misere mitzuteilen. „Als Gegenleistung versprechen Sie mir, sich nie mehr in eine Angelegenheit des Yard einzumischen?“ „Gut. Wann holen Sie mich hier herunter?“ „Sie können wählen. Hubschrauber oder Motorboot. Die Kosten belaufen sich beim Hubschrauber für Sie auf das Fünffache, allerdings geht es rascher.“ „Dann doch lieber Motorboot.“ „Und wenn Ihnen bis dahin die Zeit lang werden sollte, stellen Sie sich einen Bleu des Chausses vor,
diesen fleckigen Käse aus der Gegend von…“ Es knackte in der Leitung, Oakins hatte abgebrochen. Wenig später betrat Varney das Büro. „Bin froh, daß ich wieder da bin. Kopenhagen ist hübsch, aber fünfunddreißig Mordspezialisten auf einmal sind eine Qual. Was Neues hier?“ „Den einzigen Ärger gab es mit Oakins.“ Und Boston erzählte. „So was bringt diesen Mann nicht um“, urteilte Varney. „Es macht ihn nur härter. Vielleicht auch eigenwilliger.“ Varney zeigte auf die Bücher auf Bostons Tisch. „Wie ich vermute, wissen Sie nun alles über Gifte?“ „Nicht nur das.“ Boston zog den Käseprospekt aus der Tasche. „Schauen Sie nur mal her. Das hier beispielsweise ist ein Munster, der seit dem siebenten Jahrhundert in Lothringen von Mönchen…“ Am kommenden Morgen mühte sich ein Polizeiboot durch das flache Wasser vor Southend on Sea. In der Kajüte saß Oakins, durchgefroren, ausgehungert, übermüdet. Die Landungsbrücke war leer bis auf ein paar alte Fischer, die an ihren Pfeifen sogen. Als Oakins die Treppe hinaufstieg, wurde ihm schwarz vor den Augen, er mußte stehenbleiben, der Polizist sagte: „Ich gehe besser mit bis zum Hotel. Und den Koffer geben Sie mal hübsch her.“ Im Hotel aß Oakins viele Brötchen mit Butter und Honig und trank etliche Tassen Fleischbrühe. Danach befand er sich in einer Art Dämmerzustand, in dem alles, was hinter ihm lag, weniger zermürbend und alles, was noch kommen mußte, weniger aufregend erschien. Wichtig waren ein Bad in heißem Fichtennadelwasser und ein Bett; wichtig war, daß
niemand ihn weckte, und daß er, wenn er ausgeschlafen hatte, sich wieder an einen Tisch setzen und Steak mit Gemüse essen konnte. Oakins badete und schlief, aß Steak und Spiegeleier, trank Tee mit viel Zucker und Sahne, aß und trank also alles, was ein Engländer essen und trinken muß, um bei dem Klima auf seiner Insel seine Arbeitskraft, seine Gelassenheit und diese eigenartige Art von Humor zu entwickeln und zu erhalten, ohne die er längst zugrunde gegangen wäre. Dann setzte er sich an das Steuer seines Wagens, der noch dort stand, wo er ihn verlassen hatte. Bei seiner Fahrt nach London hinein nahm er sich Zeit, denn er hatte Zeit, und es gab allerhand, worüber er nachdenken mußte. Von seiner Wohnung aus rief er Harriet Flaherty an. Er fragte nach Mary Glenn und wunderte sich nicht, als er hörte, sie hätte sich noch nicht wieder blicken lassen. War sonst alles in Ordnung? Das ja, bloß eines: Einen Auftrag hatte unterdessen niemand erteilt. Oakins fand im Kühlschrank einen halben angetrockneten Seiles sur Cher und feuerte ihn in den Müllschlucker. Dann ging er um ein paar Straßenecken zu einer kleinen Pub, in der er manchmal aß, in der man ihn kannte. Er bestellte Leber mit Zwiebel und eine Pinte Stout. „Vielleicht hinterher etwas Käse?“ fragte der Kellner. „Wir haben einen vortrefflichen schottischen…“ „Scheren Sie sich zum Teufel“, knurrte Oakins. An diesem Abend zwang er sich, wenigstens einen Teil seiner üblichen Expanderübungen zu absolvieren, er legte sich auf die Couch und las in seinem liebsten Roman, den es auf Erden gab, in Chandlers „Die Frau im See“. Er genoß die große Szene, in der
Privatdetektiv Marlowe auf dem einsamen Gelände einer Ziegelei von Polizisten gestellt wird, die ihn zwingen wollen, eine Flasche Whisky auszutrinken, um ihm dann den Führerschein wegnehmen zu können, in der Marlowe zusammengeschlagen wird und einem Polizisten die Nase lädiert, und Oakins überlegte, in welchen Phasen Marlowe bestimmte Judogriffe oder Karateschläge hätte anbringen können. Darüber schlief er ein. Am nächsten Morgen erwachte er später als gewöhnlich. Er fuhr ins Büro, sagte von der Tür her zu Harriet Flaherty, die über ihren Zeitungen hockte: „Hallo, altes Mädchen, wie geht’s!“ Da erst sah er, daß ein Mann neben dem Schreibtisch saß, ein Mann in korrekter Kleidung, ein hagerer Mann mit schmalen Lippen, der älteste der Harrison-Söhne. „Tag, Oakins“, sagte Sam Harrison, „nehmen Sie Platz.“ „Sie scheinen allerhand Begriffe zu verwechseln.“ „Ich stelle den richtigen Sachverhalt her.“ „Soll ich Sie rausschmeißen?“ „Sie wissen genau, daß Sie das nicht tun werden, also spielen Sie sich nicht auf. Ich bin gekommen, um Ihnen Büro und Kartei abzukaufen.“ Oakins war entschlossen, in jedem Fall das Gesicht zu wahren. „Ich habe diese Detektei ausgebaut, habe eine Assistentin engagiert, habe…“ „Wenn Sie Mary Glenn meinen, so sollten Sie sich damit nicht aufhalten. Sie ist meine Cousine.“ Oakins schluckte. „Mary wollte immerzu Schauspielerin werden, ich nahm an, sie wäre dazu nicht geeignet. Jetzt glaube ich: Es war kein übler Befähigungsnachweis, wie sie die von mir erdachte Bibi-Call-Story aufgetischt hat.“
„Nicht gerade gentlemanlike von Ihnen.“ „Ein Gentleman“, erwiderte Sam Harrison ungerührt, „ist ein Mensch, der sich niemals rüde benimmt, es sei denn mit Absicht. Ich hatte Sie gewarnt, daß ich Sie mit allen Mitteln bekämpfen werde, und ich bin längst nicht am Ende meiner Mittel.“ Sam Harrison neigte sich vor: „Oakins, haben Sie nicht endlich begriffen, daß Sie auf das falsche Pferd gesetzt haben? Sie haben das Zeug in sich, als einer der großen einsamen Männer in die Geschichte der Detektive einzugehen!“ „Wahrscheinlich haben Sie recht. Der Adler fliegt allein, der Rabe scharenweise. Was zahlen Sie für den Krempel hier?“ „So viel, wie Sie an meinen Vater gezahlt haben, die Grundsumme und die Raten dazu.“ „Ich muß an Miß Flaherty denken.“ „Wir sind uns bereits einig. Ich übernehme sie, sie führt die Kartei weiter. Oakins, und wenn ich mal einen tatkräftigen Mann brauche, darf ich mich dann an Sie wenden?“ „Ich fürchte, ich werde sehr beschäftigt sein.“ Oakins zog die Schublade auf, nahm seine wenigen persönlichen Dinge heraus, steckte sie in seine Aktentasche. Er winkte Harriet zu und verbeugte sich vor Sam Harrison, verließ das Büro und ging die Welbeck-Street hinunter zum U-Bahnhof Bond-Street. Er begriff, daß ein Lebensabschnitt hinter ihm lag, der nicht zu seinen besten gehörte, und daß er nun wieder ein freier Mann war. Er war so, wie Chandler seine Detektive wollte: Auf sich gestellt, niemandem verpflichtet und von niemandem abhängig, einfach und klar denkend, redend, wie man in dieser Zeit redete, nämlich einfach und gescheit, von niemandem eine
Beleidigung einsteckend, ohne sich exakt und erbarmungslos zu rächen. Hatten die Harrison-Boys ihn beleidigt? Das hatten sie nicht; sie waren besser gewesen als er, das war alles. Es war richtig, daß er ihnen die Kartei abgetreten hatte und nicht dem Yard, denn so erbittert sich Privatdetektive auch bekämpften, so mußten sie doch gegenüber der Polizei, gegenüber den Bullen einig sein, der große Raymond Chandler hatte es so gelehrt. Oakins warf sich vor, daß er einige Male in den letzten Wochen nicht an dieses Gesetz gedacht hatte. In einer Selbstbedienungsgaststätte aß Oakins Pökelrippchen mit Kraut, auf einer Bank im Hyde-Park saß er, verdaute, träumte. Woher sollte er einen Auftrag bekommen? Am Nachmittag trainierte er im Dojo von Kokichi Nagaoka an der Maisschüssel und am Makiwara, übte den Kagi-Tsuki und den Haito-Uchi und wurde zum Abschluß mit einem Uki-Waza auf die Matte geschleudert, daß ihm Hören und Sehen verging. Dann fuhr er nach Hause, aß Brot und Gurke und Tomatenhering; die Kalorienzahl erschien ihm erträglich. Später klingelte das Telefon, es war der Fischhändler aus Brixton. „Meine Frau…“ „Schon gut“, versprach Oakins, „ich werde mich morgen um sie kümmern.“
2. Auflage © Eulenspiegel Verlag, Berlin • 1977 (1975) Lizenz-Nr.: 540/82/77 LSV 7001 Umschlagentwurf: Hans Ticha Printed in the German Democratic Republic Satz: Druckerei Neues Deutschland, Berlin Druck und buchbinderische Verarbeitung: LVZ-Druckerei „Hermann Duncker“, Leipzig, III/18/138 620 300 6 DDR 4,- M