Über dieses Buch
Theodor W. Adorno schrieb die vorliegenden zwölf Essays zwischen 1937 und 1953. Kulturkritik ist dem ...
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Über dieses Buch
Theodor W. Adorno schrieb die vorliegenden zwölf Essays zwischen 1937 und 1953. Kulturkritik ist dem Autor nicht ästhetischer Selbstzweck, sie bezieht sich auf Struktur und Funktion der Gesellschaft. Unter diesem Kennzeichen gewinnt Adornos Interpretation stets einen erregenden, durch begriffliche Pointierungskunst gesteigerten Akzent. Ob er sich mit Oswald Spenglers >Untergang des Abendlandes <, mit Thorstein Veblens Angriff auf die Kultur oder mit Huxleys Verhältnis zum Utopischen auseinandersetzt: stets zielt die Kritik auf das denkerische Verhältnis der Schreibenden zur gesellschaftlichen Wirklichkeit ab. In der Korrespondenz zwischen Stefan George und Hugo von Hof mannsthal scheint die Problematik moderner Geisteshaltung ebenso faszinierend auf wie in der Gegenüberstellung von Paul Valery und Marcel Proust. Walter Benjamin und Franz Kafka sind weitere Themen-Figuren dieser vielseitigen, in ihrer dialektischen Spannung nicht nur anregenden, sondern auch aufregenden Essaysammlung. Beiträge zu musikalischen Fragen unserer Zeit (Arnold Schönbergs Bedeutung für die moderne Musik; Massenphänomen Jazz; Johann Sebastian Bachs Werk im Spiegel moderner Interpreten) bereichern diese kulturkritischen Prismen um interessante Brechungen.
Ungekürzte Ausgabe November 1963 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München Lizenzausgabe mit freundlicher Genehmigung des Suhrkamp Verlages Copyright 1955 by Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. Alle Rechte vorbehalten Ausstattung: Celestino-Fiatti Gesamtherstellung: C. H. Beck'sche Buchdruckerei, Nördlingen Printed in Germany
Theodor W. Adorno: Prismen Kulturkritik und Gesellschaft
Deutscher Taschenbuch Verlag
Inhalt
Kulturkritik und Gesellschaft.................................... , Das Bewußtsein der Wissenssoziologie........................ Spengler nach dem Untergang...................................... Veblens Angriff auf die Kultur..................................... Aldous Huxley und die Utopie..................................... Zeitlose Mode. Zum Jazz.............................................. Bach gegen seine Liebhaber verteidigt.......................... Arnold Schönberg (1874-1951)..................................... Valery Proust Museum.................................................. George und Hofmannsthal. Zum Briefwechsel . . . Charakteristik Walter Benjamins................................... Aufzeichnungen zu Kafka............................................. Drucknachweise.............................................................
7 27 43 68 92 118 133 147 176 190 232 248 282
Kulturkritik und Gesellschaft
Wer gewohnt ist, mit den Ohren zu denken, der muß am Klang des Wortes Kulturkritik sich ärgern nicht darum bloß, weil es, wie das Automobil, aus Latein und Griechisch zusammengestückt ist. Es erinnert an einen flagranten Widerspruch. Dem Kulturkritiker paßt die Kultur nicht, der einzig er das Unbehagen an ihr verdankt. Er redet, als verträte er sei's ungeschmälerte Natur, sei's einen höheren geschichtlichen Zustand, und ist doch notwendig vom gleichenWesen wie das, worüber er erhaben sich dünkt. Die von Hegel, zur Apologie von Bestehendem, immer wieder gescholtene Insuffizienz des Subjekts, das in seiner Zufälligkeit und Beschränktheit über die Gewalt von Seiendem richte, wird unerträglich dort, wo das Subjekt selber bis in seine innerste Zusammensetzung hinein vermittelt ist durch den Begriff, dem es als unabhängiges und souveränes sich entgegensetzt. Aber die Unangemessenheit von Kulturkritik läuft dem Inhalt nach nicht sowohl auf Mangel an Respekt vor dem Kritisierten hinaus wie insgeheim auf dessen verblendet-hochmütige Anerkennung. Der Kulturkritiker kann kaum die Unterstellung vermeiden, er hätte die Kultur, welche dieser abgeht. Seine Eitelkeit kommt der ihren zu Hilfe: noch in der anklagenden Gebärde hält er die Idee von Kultur isoliert, unbefragt, dogmatisch fest. Er verschiebt den Angriff. Wo Verzweiflung und unmäßiges Leiden ist, soll darin bloß Geistiges, der Bewußtseinszustand der Menschheit, der Verfall der Norm sich anzeigen. Indem die Kritik darauf insistiert, gerät sie in Versuchung, das Unsagbare zu vergessen, anstatt wie sehr auch ohnmächtig zu trachten, daß es von den Menschen abgewandt werde. Die Haltung des Kulturkritikers erlaubt ihm, kraft der Differenz vom herrschenden Unwesen theoretisch darüber hinauszugehen, obwohl er oft genug bloß dahinter zurückfällt. Aber er gliedert die Differenz in den Kulturbetrieb ein, den er unter sich lassen wollte und der selber der Differenz bedarf, um sich als Kultur zu dünken. Es gehört zu deren Prätention auf Vornehmheit, durch welche sie von der Prü7
er es ist. Sachverständnis war nicht primär, sondern allenfalls Nebenprodukt, und je mehr es daran mangelt, um so beflissener wird es stets durch Bescheidwissen, Konformismus ersetzt. Wenn die Kritiker auf ihrem Tummelplatz, der Kunst, am Ende nicht mehr verstehen, was sie beurteilen, und mit Gusto zu Propagandisten oder Zensoren sich erniedrigen lassen, so erfüllt sich an ihnen die alte Unehrlichkeit des Gewerbes. Das Vorrecht von Information und Stellung erlaubt ihnen, ihre Ansicht zu sagen, als wäre sie die Objektivität. Aber es ist einzig die Objektivität des herrschenden Geistes. Sie weben mit am Schleier. Der Begriff der freien Meinungsäußerung, ja der geistigen Freiheit selber in der bürgerlichen Gesellschaft, auf dem die Kulturkritik beruht, hat seine eigene Dialektik. Denn während der Geist der theologisch-feudalen Bevormundung sich entwand, ist er kraft der fortschreitenden Vergesellschaftung aller Beziehungen zwischen den Menschen mehr stets einer anonymen Kontrolle durch die bestehenden Verhältnisse verfallen, die ihm nicht nur äußerlich widerfuhr, sondern in seine immanente Beschaffenheit einwanderte. Im autonomen Geist setzen jene so unerbittlich sich durch, wie vordem im gebundenen die heteronomen Ordnungen. Nicht nur richtet der Geist auf seine marktmäßige Verkäuflichkeit sich ein und reproduziert damit die gesellschaftlich vorwaltenden Kategorien. Sondern er ähnelt objektiv dem Bestehenden sich an, auch wo er subjektiv nicht zur Ware sich macht. Immer enger werden die Maschen des Ganzen nach dem Modell des Tauschakts geknüpft. Es läßt dem einzelnen Bewußtsein immer weniger Ausweichraum, präformiert es immer gründlicher, schneidet ihm a priori gleichsam die Möglichkeit der Differenz ab, die zur Nuance im Einerlei des Angebots verkommt. Zugleich macht der Schein der Freiheit die Besinnung auf die eigene Unfreiheit unvergleichlich viel schwerer, als sie im Widerspruch zur offenen Unfreiheit war, und verstärkt so die Abhängigkeit. Solche Momente, im Verein mit der gesellschaftlichen Selektion der Träger des Geistes, resultieren in dessen Rückbildung. Seine Selbstverantwortung wird, der überwiegenden Tendenz der Gesellschaft nach, zur Fiktion. Er entwickelt von seiner Freiheit bloß das negative Moment, die Erbschaft des planlos-monadologischen Zu-
fung an den materiellen Lebensverhältnissen sich dispensiert, nie sich vornehm genug zu sein. Die Überspannung des kulturellen Anspruchs, die doch wieder der Bewegung des Geistes immanent ist, vergrößert den Abstand von jenen Verhältnissen um so mehr, je zweifelhafter die Würde der Sublimierung, sowohl der zum Greifen nahen materiellen Erfüllung wie der drohenden Vernichtung ungezählter Menschen gegenüber, wird. Solche Vornehmheit macht der Kulturkritiker zu seinem Privileg und verwirkt seine Legitimation, indem er als bezahlter und geehrter Plagegeist der Kultur an dieser mitwirkt. Das jedoch affiziert den Gehalt der Kritik. Noch die unerbittliche Strenge, mit der sie die Wahrheit übers unwahre Bewußtsein ausspricht, bleibt festgehalten im Bannkreis des Bekämpften, auf dessen Manifestationen sie starrt. Wer auf Überlegenheit pocht, fühlt allemal zugleich sich als einer vom Bau. Ginge man aber dem Beruf des Kritikers in der bürgerlichen Gesellschaft nach, der schließlich zum Kulturkritiker avancierte, so stieße man fraglos auf ein usurpatorisches Element im Ursprung, wie es etwa noch Balzac vor Augen stand. Die berufsmäßigen Kritiker waren vorab »Berichterstatter«: sie orientierten über den Markt geistiger Erzeugnisse. Dabei erlangten sie zuweilen Einsicht in die Sache, blieben stets jedoch auch Agenten des Verkehrs, im Einverständnis wo nicht mit dessen einzelnen Produkten so doch mit der Sphäre als solcher. Davon tragen sie die Spur, selbst wenn sie einmal aus der Rolle des Agenten herausgesprungen sind. Daß ihnen die des Sachverständigen und dann des Richters anvertraut wurde, war ökonomisch unvermeidlich, aber zufällig nach dem Maß der Sache. Ihre Agilität, die ihnen in der Konkurrenz bevorzugte Positionen zuspielte - bevorzugt, weil von ihrem Votum weithin das Schicksal des Beurteilten abhängt -, bringt den Schein der Zuständigkeit des Urteils selber hervor. Indem sie geschickt in die Lücken schlüpften und mit der Ausbreitung der Presse an Einfluß gewannen, erlangten sie eben jene Autorität, die ihr Beruf vorgeblich schon voraussetzt. Ihre Überheblichkeit rührt daher, daß, in den Formen der Konkurrenzgesellschaft, in denen alles Sein bloß eines Für anderes ist, auch der Kritiker selbst nur nach seinem marktmäßigen Erfolg gemessen wird, also daran, daß 8
Stands, Unverantwortlichkeit. Sonst aber heftet er sich immer dichter als bloßes Ornament an den Unterbau, von dem sich abzusetzen er beansprucht. Die Invektiven von Karl Kraus gegen die Pressefreiheit sind gewiß nicht buchstäblich zu nehmen: im Ernst die Zensur gegen die Skribenten anrufen, hieße den Teufel mit Beelzebub austreiben. Wohl aber sind Verdummung und Lüge, wie sie unterm Schutz der Pressefreiheit gedeihen, nichts dem historischen Gang des Geistes Akzidentelles, sondern die Schandmale der Sklaverei, in welcher seine Befreiung spielt, der falschen Emanzipation. Das wird nirgends so eklatant wie dort, wo der Geist an den eigenen Ketten zerrt, in der Kritik. Wenn die deutschen Faschisten das Wort verfemten und durch den abgeschmackten Begriff der Kunstbetrachtung ersetzten, so hat sie dabei gewiß nur das handfeste Interesse des autoritären Staates geleitet, der noch in der Schnoddrigkeit des Feuilletonisten das Pathos Marquis Posas fürchtete. Aber die selbstzufriedene Kulturbarbarei, die nach der Abschaffung der Kritik schrie, der Einbruch der wüsten Horde ins Gehege des Geistes, vergalt ahnungslos Gleiches mit Gleichem. In der bestialischen Wut des Braunhemds über den Kritikaster lebt nicht bloß Neid auf die Kultur, gegen die er dumpf auf begehrt, weil sie ihn ausschließt; nicht bloß das Ressentiment gegen den, welcher das Negative aussprechen darf, das man selber verdrängen muß. Entscheidend ist, daß die souveräne Geste des Kritikers den Lesern die Unabhängigkeit vorspielt, die er nicht hat, und die Führerschaft sich anmaßt, die unvereinbar ist mit seinem eigenen Prinzip geistiger Freiheit. Das innervieren seine Feinde. Ihr Sadismus ward idiosynkratisch von der schlau als Kraft drapierten Schwäche jener angezogen, deren diktatorisches Gebaren es dem der nachfolgenden minder schlauen Machthaber so gern zuvor getan hätte. Nur daß die Faschisten der gleichen Naivetät verfielen wie die Kritiker, dem Glauben an Kultur als solche, der sich nun auf Ostentationen und approbierte Geistesriesen zusammenzog. Sie fühlten sich als Ärzte der Kultur und entfernten aus ihr den Stachel der Kritik. Damit haben sie sie nicht nur zum Offiziellen erniedrigt, sondern obendrein verkannt, wie sehr Kritik und Kultur zum Guten und Schlechten verflochten sind. Wahr ist Kultur bloß als impli10
zit-kritische, und der Geist, der daran vergaß, rächt sich in den Kritikern, die er züchtet, an sich selber. Kritik ist ein unabdingbares Element der in sich widerspruchsvollen Kultur, bei aller Unwahrheit doch wieder so wahr wie die Kultur unwahr. Kritik tut unrecht nicht, sofern sie auflöst - das wäre noch das Beste an ihr -, sondern sofern sie durchs Nichtparieren pariert. Die Komplizität der Kulturkritik mit der Kultur liegt nicht in der bloßen Gesinnung des Kritikers. Vielmehr wird sie von seiner Beziehung zu dem erzwungen, wovon er handelt. Indem er Kultur zu seinem Gegenstand macht, vergegenständlicht er sie nochmals. Ihr eigener Sinn aber ist die Suspension von Vergegenständlichung. Sobald sie selber zu »Kulturgütern« und deren abscheulicher philosophischer Rationalisierung, den sogenannten »Kulturwerten« gerinnt, hat sie bereits gegen ihre raison d'etre gefrevelt. In der Abdestillation solcher Werte, die nicht umsonst an die Sprache des Güteraustauschs anklingen, ist sie dem Geheiß des Marktes zu Willen. Noch in der Begeisterung über fremde Hochkulturen zittert sie über das seltene Stück nach, in das man Geld investieren kann. Wenn die Kulturkritik bis hinauf zu Valery es mit dem Konservativismus hält, so läßt sie insgeheim von einem Kulturbegriffsich leiten, der auf festen, von Konjunkturschwankungen unabhängigen Besitz in der Ära des Spätkapitalismus abzielt. Er behauptet sich als diesem entzogen, gleichsam um inmitten universaler Dynamik universale Sekurität zu gewähren. Das Modell des Kulturkritikers ist der abschätzende Sammler kaum weniger als der Kunstkritiker. Kulturkritik erinnert allgemein an den Gestus des Herunterhandelns, etwa wie der Experte einem Bild die Echtheit bestreitet oder es unter die minderen Werke des Meisters einreiht. Man setzt herab, um mehr zu bekommen. Mit einer von Kulturwerten befleckten Sphäre hat es der Kulturkritiker, als Wertender, unweigerlich zu tun, auch wenn er gegen die Verschacherung der Kultur eifert. In seiner kontemplativen Stellung zu dieser steckt notwendig Durchmustern, Überblicken, Abwägen, Auswählen: dieses paßt ihm, jenes verwirft er. Gerade seine Souveränität, der Anspruch tieferen Wissens dem Objekt gegenüber, die Trennung des Begriffs von seiner Sache durch die Unabhängig11
keit des Urteils, droht der dinghaften Gestalt der Sache zu verfallen, indem Kulturkritik auf eine Kollektion gleichsam ausgestellter Ideen sich beruft und isolierte Kategorien wie Geist, Leben, Individuum fetischisiert. Ihr oberster Fetisch aber ist der Begriff der Kultur als solcher. Denn kein authentisches Kunstwerk und keine wahre Philosophie hat ihrem Sinn nach je sich in sich selbst, ihrem an sich Sein erschöpft. Stets standen sie in Relation zu dem realen Lebensprozeß der Gesellschaft, von dem sie sich schieden. Gerade die Absage an den Schuldzusammenhang des blind und verhärtet sich reproduzierenden Lebens, das Beharren auf Unabhängigkeit und Autonomie, auf der Trennung vom geltenden Reich der Zwecke impliziert, als bewußtloses Element zumindest, die Anweisung auf einen Zustand, in dem Freiheit realisiert wäre. Diese bleibt zweideutiges Versprechen der Kultur, solange deren Existenz von der verhexten Realität, letztlich von der Verfügung über fremde Arbeit abhängt. Daß die europäische Kultur in ihrer Breite, dem, was zum Konsum gelangte und heute von Managern und Psychotechnikern den Bevölkerungen verordnet wird, zur bloßen Ideologie entartete, rührt vom Wechsel ihrer Funktion der materiellen Praxis gegenüber, dem Verzicht auf den Eingriff, her. Dieser Wechsel freilich war kein Sündenfall, sondern historisch erzwungen. Denn nur gebrochen, in der Zurücknahme auf sich selbst geht der bürgerlichen Kultur die Idee der Reinheit von den entstellenden Spuren des zur Totalität über alle Bezirke des Daseins ausgebreiteten Unwesens auf. Nur soweit sie der zum Gegenteil ihrer selbst verkommenen Praxis, der immer neuen Herstellung des Immergleichen, dem Dienst am Kunden im Dienst der Verfügenden sich entzieht und damit den Menschen, hält sie den Menschen die Treue. Aber solche Konzentration auf die absolut eigene Substanz, wie sie in der Dichtung und Theorie von Paul Valery den großartigsten Niederschlag gefunden hat, arbeitet zugleich an der Aushöhlung jener Substanz. Sobald die gegen die Realität gekehrte Spitze des Geistes von jener abgezogen wird, verändert sich sein Sinn trotz strengster Erhaltung des Sinnes. Durch Resignation gegenüber der Fatalität des Lebensprozesses, und um wieviel mehr noch durch Abdichtung als ein Sonder12
bereich unter anderen, steht er dem bloß Seienden bei und wird selbst zu einem bloß Seienden. Die Emaskulierung der Kultur, über welche die Philosophen seit Rousseauschen Zeiten und dem Räuberwort vom tintenklecksenden Säculum über Nietzsche bis zu den Predigern des engagement um seiner selbst willen sich entrüsten, ist bewirkt vom sich selber zur Kultur Werden der Kultur, damit aber ihrer kräftigen und folgerechten Opposition zur anwachsenden Barbarei der Vorherrschaft von Ökonomie. Was an Kultur Verfall dünkt, ist ihr reines zu sich selber Kommen. Nur als neutralisierte und verdinglichte läßt sie sich vergötzen. Der Fetischismus gravitiert zur Mythologie. Meist berauschen sich die Kulturkritiker an Idolen, von der Frühgeschichte bis zur dubiosen, mittlerweile evaporierten Wärme des liberalistischen Zeitalters, die im Untergang an den Ursprung mahnte. Weil die Kulturkritik gegen die fortschreitende Integration allen Bewußtseins im materiellen Produktionsapparat sich auflehnt, ohne diesen zu durchschauen, wendet sie sich nach rückwärts, verlockt vom Versprechen der Unmittelbarkeit. Dazu wird sie durch die eigene Schwerkraft genötigt, nicht bloß von einer Ordnung angehalten, die jeden Fortschritt in der Entmenschlichung, die sie herbeiführt, mit Gezeter über Entmenschlichung und Fortschritt übertönen muß. Die Isolierung des Geistes von der materiellen Produktion steigert zwar seine Schätzung, macht ihn aber auch im allgemeinen Bewußtsein zum Sündenbock für das, was die Praxis verübt. Aufklärung als solche, nicht als Instrument realer Herrschaft soll schuld sein: daher der Irrationalismus der Kulturkritik. Hat diese einmal den Geist aus seiner Dialektik mit den materiellen Bedingungen herausgebrochen, so faßt sie ihn einstimmig, geradlinig als Prinzip der Fatalität, und seine eigene Resistenz wird unterschlagen. Versperrt ist dem Kulturkritiker die Einsicht, daß die VerdingUchung des Lebens selbst nicht auf einem Zuviel, sondern einem Zuwenig anAufklärung beruhe und daß die Verstümmelungen, welche der Menschheit von der gegenwärtigen partikularistischen Rationalität angetan werden, Schandmale der totalen Irrationalität sind. Deren Abschaffung, die mit der der Trennung körperlicher und geistiger Arbeit zusammenfiele, erscheint der kulturkritischen Verblendung 13
als Chaos: wer Ordnung und Gestalt, welchen Schlages auch immer, glorifiziert, dem wird die versteinerte Trennung zum Urbild des Ewigen. Daß die tödliche Spaltung der Gesellschaft aufhören könnte, setzen sie dem tödlichen Verhängnis gleich: lieber soll das Ende aller Dinge kommen, als daß die Menschheit der Verdinglichung ein Ende machte. Die Angst davor harmoniert mit dem Interesse der Interessenten am Fortbestand der materiellen Versagung. Wann immer Kulturkritik über Materialismus klagt, befördert sie den Glauben, die Sünde sei der Wunsch der Menschen nach Konsumgütern und nicht die Einrichtung des Ganzen, die sie ihnen vorenthält: Sattheit und nicht Hunger. Wäre die Menschheit der Fülle der Güter mächtig, so schüttelte sie die Fesseln jener zivilisierten Barbarei ab, welche die Kulturkritiker dem fortgeschrittenen Stand des Geistes anstatt dem zurückgebliebenen der Verhältnisse aufs Konto schreiben. Die ewigen Werte, auf welche die Kulturkritik deutet, spiegeln das perennierende Unheil. Der Kulturkritiker nährt sich von der mythischen Verstocktheit der Kultur. Weil die Existenz der Kulturkritik, gleichgültig welchen Inhaltes, vom ökonomischen System abhängt, ist sie in dessen Schicksal verflochten. Je vollkommener die gegenwärtigen gesellschaftlichenOrdnungen, voran die östliche,denLebensprozeß, die »Muße« inbegriffen, einfangen, um so mehr wird allen Phänomenen des Geistes die Marke der Ordnung aufgeprägt. Entweder sie tragen als Unterhaltung oder Erbauung unmittelbar zu deren Fortbestand bei und werden als ihre Exponenten, nämlich gerade um ihrer gesellschaftlichen Präformiertheit willen, genossen. Als allbekannt, gestempelt, angetastet, schmeicheln sie beim regredierten Bewußtsein sich ein, empfehlen sich als natürlich und erlauben die Identifikation mit den Mächten, deren Übergewicht keine Wahl läßt als die falsche Liebe. Oder sie werden durch Abweichung zur Rarität und abermals verkäuflich. Durch die liberalistische Ära hindurch fiel Kultur in die Zirkulationssphäre, und deren allmähliches Absterben geht ihr selber an den Lebensnerv. Mit der Beseitigung des Handels und seiner irrationalen Schlupfwinkel durch den kalkulierten Verteilungsapparat der Industrie vollendet sich die Kommerzialisierung der Kultur zum Aberwitz. Als ganz gebändigte, verwaltete, 14
gewissermaßen durchkultivierte stirbt sie ab. Spenglers denunziatorischer Satz, Geist und Geld gehörten zusammen, trifft zu. Aber seiner Sympathie mit der unmittelbaren Herrschaft zuliebe redete er einer der ökonomischen wie der geistigen Vermittlungen entäußerten Verfassung des Daseins das Wort und warf den Geist mit einem in der Tat überholten ökonomischen Typus hämisch zusammen, anstatt zu erkennen, daß Geist, wie sehr auch das Produkt jenes Typus, zugleich doch die objektive Möglichkeit impliziert, ihn zu überwinden. - Wie Kultur, als ein von der unmittelbaren, je eigenen Selbsterhaltung sich Absetzendes, im Verkehr, der Mitteilung und Verständigung, dem Markt entsprang; wie sie im Hochkapitalismus dem Handel verschwistert war, wie ihre Träger zu den »dritten Personen« zählten, als Mittelsmänner sich am Leben erhielten, so ist am Ende die nach den klassischen Spielregeln »gesellschaftlich notwendige«, nämlich ökonomisch sich selbst reproduzierende Kultur wieder auf das zusammengeschrumpft, als was sie begann, auf die bloße Kommunikation. Ihre Entfremdung vom Menschlichen terminiert in der absoluten Fügsamkeit gegenüber der von den Lieferanten in Kundenschaft verzauberten Menschheit. Im Namen der Konsumenten unterdrücken die Verfügenden an Kultur, womit sie über die totale Immanenz in der bestehenden Gesellschaft hinausgeht, und lassen übrig nur, was dort seinen eindeutigen Zweck erfüllt. Die Konsumentenkultur kann sich daher dessen rühmen, kein Luxus, sondern die einfache Verlängerung der Produktion zu sein. Einträchtig stigmatisieren denn auch die auf Massenmanipulation berechneten politischen Tickets als Luxus, Snobismus, highbrow alles Kulturelle, das den Kommissaren mißfällt. Nur wenn die je etablierte Ordnung als Maß aller Dinge akzeptiert ist, wird zur Wahrheit, was sich bei deren bloßer Reproduktion im Bewußtsein bescheidet. Darauf deutet Kulturkritik und empört sich über Flachheit und Substanzverlust. Indem sie jedoch bei der Verfilzung von Kultur mit dem Kommerz stehenbleibt, hat sie an der Flachheit teil. Sie verfährt nach dem Schema der reaktionären Sozialkritiker, die das schaffende gegen das raffende Kapital ausspielen. Während aber in der Tat alle Kultur am Schuldzusammenhang der Gesellschaft teilhat, fristet sie ihr Dasein doch nur, wie, 15
der >Dialektik der Aufklärung < zufolge, der Kommerz,von dem in der Produktionssphäre bereits verübten Unrecht. Darum verlagert die Kulturkritik die Schuld: sie ist soweit Ideologie, wie sie bloß Kritik der Ideologie bleibt. Die totalitären Regimes beider Spielarten, die das Bestehende noch vor der letzten Unbotmäßigkeit behüten wollen, welche sie der Kultur selbst im Lakaienstande zutrauen, können diese und ihre Selbstbesinnung zwingend des Lakaientums überführen. Sie rücken dem an sich schon unerträglich gewordenen Geist zuleibe und fühlen sich dabei auch noch als Reiniger und Revolutionäre. Die ideologische Funktion der Kulturkritik spannt deren eigene Wahrheit, den Widerstand gegen die Ideologie ein. Der Kampf gegen die Lüge kommt dem nackten Grauen zugute. »Wenn ich Kultur höre, entsichere ich meinen Revolver«, sagte der Sprecher der Hitlerischen Reichs kulturkammer. Kulturkritik kann aber nur darum so eindringlich der Kultur ihren Verfall als Verletzung der reinen Autonomie des Geistes, als Prostitution vorwerfen, weil eben Kultur selber in der radikalen Trennung geistiger und körperlicher Arbeit entspringt und aus dieser Trennung, der Erbsünde gleichsam, ihre Kräfte zieht. Wenn Kultur die Trennung bloß verleugnet und unmittelbare Verbundenheit mimt, fällt sie hinter ihren Begriff zurück. Erst der Geist, der im Wahn seiner Absolutheit vom bloß Daseienden ganz sich entfernt, bestimmt in Wahrheit das bloß Daseiende in seiner Negativität: solange nur ein Geringes vomGeiste noch im Zusammenhang der Reproduktion des Lebens verbleibt, wird er auf diesen auch vereidigt. Die athenische Antibanausie war beides : der dreiste Hochmut dessen, der sich die Hände nicht schmutzig macht, gegen den, von dessen Arbeit er lebt, und die Bewahrung des Bildes einer Existenz, die hinausweist über den Zwang, der hinter aller Arbeit steht. Indem die Antibanausie das schlechte Gewissen zum Ausdruck bringt und auf die Opfer als deren Niedrigkeit projiziert, verklagt sie zugleich, was ihnen widerfährt: die Unterwerfung der Menschen unter die je geltende Form der Reproduktion ihres Lebens. Alle »reine Kultur« ist den Wortführern der Macht unbehaglich gewesen. Piaton und Aristoteles haben wohl gewußt, warum sie deren Vorstellung nicht aufkommen ließen, 16
sondern in Fragen der Beurteilung von Kunst einem Pragmatismus das Wort redeten, der zum Pathos der beiden großen Metaphysiken im wunderlichen Gegensatz steht. Die neuere bürgerliche Kulturkritik freilich ist zu vorsichtig geworden, darin offen ihnen zu folgen, obwohl sie insgeheim bei der Scheidung von hoher und populärer Kultur, von Kunst und Unterhaltung, von Erkenntnis und unverbindlicher Weltanschauung sich beruhigt. Sie ist um so viel antibanausischer als die athenische Oberklasse, wie das Proletariat gefährlicher als die Sklaven. Der moderne Begriff der reinen, autonomen Kultur bezeugt den ins Unversöhnliche angewachsenen Antagonismus durch Kompromißlosigkeit gegenüber dem für anderes Seienden sowohl wie durch die Hybris der Ideologie, die sich als an sich Seiendes inthronisiert. Kulturkritik teilt mit ihrem Objekt dessen Verblendung. Sie ist außerstande, die Erkenntnis ihrer Hinfälligkeit, die in der Spaltung gesetzt ist, aufkommen zu lassen. Keine Gesellschaft, die ihrem eigenen Begriff, dem der Menschheit, widerspricht, kann das volle Bewußtsein von sich selber haben. Es zu hintertreiben, bedarf es nicht erst der subjektiven ideologischen Veranstaltung, obwohl diese in Zeiten des historischen Umschlags die objektive Verblendung zu verstärken pflegt. Aber daß jegliche Form der Repression, je nach dem Stand der Technik, zur Erhaltung der Gesamtgesellschaft erfordert war und daß die Gesellschaft, so wie sie ist, trotz aller Absurdität doch ihr Leben unter den bestehenden Verhältnissen reproduziert, bringt objektiv den Schein ihrer Legitimation hervor. Kultur, als der Inbegriff des Selbstbewußtseins einer antagonistischen Gesellschaft, kann solchen Scheines so wenig sich entäußern wie jene Kulturkritik, welche die Kultur an deren eigenem Ideal mißt. Der Schein ist total geworden in einer Phase, in der Irrationalität und objektive Falschheit hinter Rationalität und objektiver Notwendigkeit sich verstecken. Dennoch setzen die Antagonismen um ihrer realen Gewalt willen auch im Bewußtsein sich durch. Gerade weil Kultur das Prinzip von Harmonie in der antagonistischen Gesellschaft zu deren Verklärung als geltend behauptet, kann sie die Konfrontation der Gesellschaft mit ihrem eigenen Harmoniebegriff nicht vermeiden und stößt dabei auf Disharmonie. Die Ideologie, welche das Leben bestätigt, 17
tritt durch die immanente Triebkraft des Ideals zum Leben in Gegensatz. Der Geist, der sieht, daß die Realität nicht in allem ihm gleicht, sondern einer bewußtlosen und fatalen Dynamik unterliegt, wird selbst gegen seinen Willen über die Apologie hinausgedrängt. Daß die Theorie zur realen Gewalt werde, wenn sie die Menschen ergreift, gründet in der Objektivität des Geistes selber, der kraft der Erfüllung seiner ideologischen Funktion an der Ideologie irre werden muß. Wenn der Geist Verblendung ausdrückt, so drückt er zugleich, von der Unvereinbarkeit der Ideologie mit dem Dasein bewogen, den Versuch aus, ihr sich zu entwinden. Enttäuscht erblickt er das bloße Dasein in seiner Blöße und überantwortet es der Kritik. Entweder er verdammt, nach dem wie immer fragwürdigen Maß seines reinen Prinzips, die materielle Basis, oder er wird an seiner Unvereinbarkeit mit jener der eigenen Fragwürdigkeit inne. Kraft der gesellschaftlichen Dynamik geht Kultur in Kulturkritik über, welche den Begriff Kultur festhält, deren gegenwärtige Erscheinungen aber als bloße Waren und Verdummungsmittel demoliert. Solches kritische Bewußtsein bleibt der Kultur hörig insofern, als es durch die Befassung mit dieser von dem Grauen ablenkt, aber es bestimmt sie auch als Komplement des Grauens. - Es folgt daraus die doppelschlächtige Stellung der gesellschaftlichen Theorie zur Kulturkritik. Das kulturkritische Verfahren steht selber zur permanenten Kritik sowohl in seinen allgemeinen Voraussetzungen, seiner Immanenz in der bestehenden Gesellschaft, wie in den konkreten Urteilen, die es vollzieht. Denn die Hörigkeit der Kulturkritik verrät sich je an ihrem spezifischen Inhalt und ist nur an diesem verbindlich zu greifen. Zugleich aber hat die dialektische Theorie, will sie nicht dem Ökonomismus verfallen und einer Gesinnung, welche glaubt, die Veränderung der Welt erschöpfe sich in der Steigerung der Produktion, die Verpflichtung, die Kulturkritik in sich aufzunehmen, die wahr ist, indem sie die Unwahrheit zum Bewußtsein ihrer selbst bringt. Zeigt die dialektische Theorie an der Kultur als bloßem Epiphänomen sich desinteressiert, so trägt sie dazu bei, daß das kulturelle Unwesen fortwuchert, und wirkt mit an der Reproduktion des Schlechten. Der kulturelle Traditionalismus und der Terror der neuen russischen Gewaltherrscher sind eines Sinnes. Daß sie 18
Kultur als ganze unbesehen bejahen und 2ugleich alle nicht eingeschliffenen Bewußtseinsformen verfemen, ist nicht weniger ideologisch, als wenn die Kritik sich dabei bescheidet, die losgelöste Kultur vor ihr Forum zu rufen, oder gar deren vorgebliche Negativität für das Unheil verantwortlich macht. Wird Kultur einmal als ganze akzeptiert, so ist ihr bereits das Ferment der eigenen Wahrheit entzogen, die Verneinung. Kulturfreudigkeit stimmt zum Klima von Schlachtenmalerei und -musik. Die Schwelle der dialektischen gegenüber der Kulturkritik aber ist, daß sie diese bis zur Auf hebung des Begriffs der Kultur selber steigert. Gegen die immanente Kritik der Kultur läßt sich vorbringen, daß sie das Entscheidende, die jeweilige Rolle der Ideologie in den gesellschaftlichen Konflikten unterschlage. Indem man überhaupt etwas wie eine eigenständige Logik der Kultur, sei's auch bloß methodisch, supponiere, mache man sich zum Mitschuldigen an der Abspaltung der Kultur, dem ideologischen denn ihr Gehalt liege nicht rein in ihr selbst, sondern in ihrem Verhältnis zu einem ihr Auswendigen, dem materiellen Lebensprozeß. Sie sei, wie Marx von den Rechtsverhältnissen und Staatsformen lehrte, insgesamt »weder aus sich selbst zu begreifen . . ., noch aus der sogenannten allgemeinen Entwicklung des menschlichen Geistes«. Davon absehen, hieße kaum weniger, als die Ideologie zur Sache selbst machen und damit zu befestigen. In der Tat darf die dialektische Wendung der Kulturkritik nicht die Maßstäbe derKultur hypostasieren. Sie hält sich dieser gegenüber beweglich, indem sie ihre Stellung im Ganzen einsieht. Ohne solche Freiheit, ohne Hinausgehen des Bewußtseins über die Immanenz der Kultur wäre immanente Kritik selber nicht denkbar: der Selbstbewegung des Objekts vermag nur zu folgen, wer dieser nicht durchaus angehört. Aber die traditionelle Forderung von Ideologienkritik unterliegt selber einer historischen Dynamik. Sie war konzipiert gegen den Idealismus als die philosophische Form, in welcher die Fetischisierung der Kultur sich spiegelt. Heute aber ist die Bestimmung von Bewußtsein durch Sein zu einem Mittel geworden, alles nicht mit dem Dasein einverstandene Bewußtsein zu eskamotieren. Das Moment der Objektivität von Wahrheit, ohne das Dialektik nicht vorgestellt werden kann, 19
wird stillschweigend durch vulgären Positivismus und Pragmatismus - in letzter Instanz: bürgerlichen Subjektivismus ersetzt. Im bürgerlichen Zeitalter war die vorherrschende Theorie die Ideologie, und die oppositionelle Praxis stand unmittelbar dagegen. Heute gibt es eigentlich kaum mehr Theorie, und die Ideologie tönt gleichsam aus dem Räderwerk der unausweichlichen Praxis. Kein Satz mehr wird zu denken gewagt, dem nicht explizit, in allen Lagern, eben der Hinweis, für wen er gut sei, fröhlich beigegeben wäre, den einmal die Polemik herauszuschälen suchte. Unideologisch ist aber der Gedanke, der sich nicht auf operational terms bringen läßt, sondern versucht, rein der Sache selbst zu jener Sprache zu verhelfen, welche ihr die herrschende sonst abschneidet. Seitdem jedes avancierte wirtschaftspolitische Gremium es für selbstverständlich hält, daß es darauf ankomme, die Welt zu verändern, und es für Allotria erachtet, sie zu interpretieren, fällt es schwer, die Thesen gegen Feuerbach schlicht zu unterstellen. Dialektik schließt auch das Verhältnis von Aktion und Kontemplation ein. In einer Epoche, in der die bürgerliche Sozialwissenschaft, nach Schelers Wort, den marxistischen Ideologienbegriff »geplündert« und in allgemeinen Relativismus verwässert hat, ist die Gefahr, die Funktion von Ideologien zu verkennen, schon geringer als die, subsumierend, sachfremd und administrativ über geistige Gebilde zu befinden und sie blank in jene geltenden Machtkonstellationen einzugliedern, die zu durchschauen dem Geist obläge. Gleich manchen anderen Elementen des dialektischen Materialismus ist auch die Ideologienlehre aus einem Mittel der Erkenntnis zu einem von deren Gängelung geworden. Im Namen der Abhängigkeit des Überbaus vom Unterbau wird der Einsatz der Ideologien überwacht, anstatt daß diese kritisiert wären. Man kümmert sich nicht um ihren objektiven Gehalt, wofern sie nur zweckmäßig sind. Aber die Funktion der Ideologien wird offenbar selbst immer abstrakter. Gerechtfertigt ist der Verdacht früherer Kulturkritiker, daß es in einer Welt, in der Bildungsprivileg und Fesselung des Bewußtseins die eigentliche Erfahrung geistiger Gebilde sowieso den Massen vorenthält, nicht mehr so sehr auf die spezifischen ideologischen Inhalte ankomme wie darauf, daß überhaupt irgend etwas da sei, was das Va20
kuum des expropriiertenBewußtseins ausfüllt und vom offenbaren Geheimnis ablenkt. Für den gesellschaftlichen Wirkungszusammenhang ist es vermutlich weit weniger wichtig, welche besonderen ideologischen Lehren ein Film seinen Betrachtern einflößt, als daß die nach Hause Gehenden an den Namen der Schauspieler und ihren Ehehändeln interessiert sind. Vulgäre Begriffe wie der der Zerstreuung sind angemessener als hochtrabende Erklärungen darüber, daß der eine Schriftsteller Vertreter des Klein- und der andere des Großbürgertums sei. Kultur ist ideologisch geworden nicht nur als Inbegriff der subjektiv ausgeheckten Manifestationen des objektiven Geistes, sondern im weitesten Maße auch als Sphäre des Privatlebens. Diese verdeckt mit dem Schein von Wichtigkeit und Autonomie, daß sie nur noch als Anhängsel des Sozialprozesses sich fortschleppt. Leben verwandelt sich in die Ideologie der Verdinglichung, eigentlich die Maske des Toten. Darum hat die Kritik oftmals weniger nach den bestimmten Interessenlagen zu fahnden, denen kulturelle Phänomene zugeordnet sein sollen, als zu entziffern, was von der Tendenz der Gesamtgesellschaft in ihnen zutage kommt, durch die hindurch die mächtigsten Interessen sich realisieren. Kulturkritik wird zur gesellschaftlichen Physiognomik. Je mehr das Ganze der naturwüchsigen Elemente entäußert, gesellschaftlich vermittelt, filtriert, »Bewußtsein« ist, um so mehr wird das Ganze »Kultur«. Der materielle Produktionsprozeß als solcher offenbart sich am Ende als das, was er in seinem Ursprung im Tauschverhältnis, als einem falschen Bewußtsein der Kontrahenten voneinander, neben dem Mittel zur Erhaltung des Lebens zugleich immer schon war: Ideologie. Umgekehrt aber wird zugleich das Bewußtsein mehr stets zu einem bloßen Durchgangsmoment in der Schaltung des Ganzen. Ideologie heißt heute: die Gesellschaft als Erscheinung. Sie ist vermittelt durch die Totalität, hinter der die Herrschaft des Partialen steht, nicht jedoch umstandslos reduktibel auf ein Partialinteresse, und darum gewissermaßen in all ihren Stücken gleich nah dem Mittelpunkt. Die Alternative, Kultur insgesamt von außen, unter dem Oberbegriff der Ideologie in Frage zu stellen, oder sie mit den Normen zu konfrontieren, die sie selbst auskristallisierte, kann die kritische Theorie nicht anerkennen. Auf der Ent21
Scheidung: immanent oder transzendent zu bestehen, ist ein Rückfall in die traditionelle Logik, der Hegels Polemik gegen Kant galt: daß jegliche Methode, welche Grenzen bestimmt und in den Grenzen ihres Gegenstandes sich hält, eben dadurch über die Grenzen hinausgehe. Die kulturtranszendente Position ist von der Dialektik in gewissem Sinn vorausgesetzt als das Bewußtsein, welches vorweg der Fetischisierung der Sphäre Geist sich nicht unterwirft. Dialektik heißt Intransigenz gegenüber jeglicher Verdinglichung. Die transzendente Methode, die aufs Ganze geht, scheint radikaler als die immanente, welche das fragwürdige Ganze zunächst sich vorgibt. Sie bezieht einen der Kultur und dem gesellschaftlichen Verblendungszusammenhang enthobenen Standort, einen archimedischen gleichsam, von dem aus das Bewußtsein die Totalität, wie sehr sie auch laste, in Fluß zu bringen vermag. Der Angriff aufs Ganze hat seine Kraft darin, daß um so mehr Schein von Einheit und Ganzheit in der Welt ist, wie gelungene Verdinglichung, also Trennung. Aber die summarische Abfertigung der Ideologie, wie sie heute schon in der Sowjetsphäre als Ächtung des »Objektivismus« zum Vorwand zynischen Terrors wurde, tut jener Ganzheit wiederum zuviel Ehre an. Sie kauft der Gesellschaft ihre Kultur en bloc ab, gleichgültig wie sie nun darüber verfügt. Die Ideologie, der gesellschaftlich notwendige Schein, ist heute die reale Gesellschaft selber, insofern deren integrale Macht und Unausweichlichkeit, ihr überwältigendes Dasein an sich, den Sinn surrogiert, welchen jenes Dasein ausgerottet hat. Die Wahl eines ihrem Bann entzogenen Standpunkts ist so fiktiv wie nur je die Konstruktion abstrakter Utopien. Daher sieht sich die transzendente Kritik der Kultur, ganz ähnlich der bürgerlichen Kulturkritik, zum Rückgriff verhalten und beschwört jenes Ideal des Natürlichen, das selber ein Kernstück der bürgerlichen Ideologie bildet. Der transzendente Angriff auf die Kultur spricht regelmäßig die Sprache des falschen Ausbruchs, die des Naturburschen. Er verachtet den Geist: die geistigen Gebilde, die ja doch nur gemacht sein, nur das natürliche Leben überdecken sollen, lassen um solcher vorgeblichen Nichtigkeit willen beliebig sich hantieren und für Herrschaftszwecke verwerten. Das erklärt die Unzulänglichkeit der meisten sozialistischen Beiträge zur Kulturkritik: 22
sie entraten der Erfahrung dessen, womit sie sich befassen. Indem sie das Ganze wie mit einem Schwamm wegwischen wollen, entwickeln sie Affinität zur Barbarei, und ihre Sympathien sind unweigerlich mit dem Primitiveren, Undifferenzierteren, wie sehr es auch im Widerspruch zum Stand der geistigen Produktivkraft selber stehen mag. Die bündige Verleugnung der Kultur wird zum Vorwand, das Gröbste, Gesündeste, selber Repressive zu befördern, zumal den perennierenden Konflikt von Gesellschaft und Individuum, die dochbeidegleichermaßen gezeichnet sind, stur zugunsten der Gesellschaft zu entscheiden nach dem Maß der Administratoren, die ihrer sich bemächtigt haben. Von da ist dann nur ein Schritt zur offiziellen Wiedereinführung der Kultur. Dagegen sträubt sich das immanente Verfahren als das wesentlicher dialektische. Es nimmt das Prinzip ernst,nicht die Ideologie an sich sei unwahr, sondern ihre Prätention, mit der Wirklichkeit übereinzustimmen. Immanente Kritik geistiger Gebilde heißt, in der Analyse ihrer Gestalt und ihres Sinnes den Widerspruch zwischen ihrer objektiven Idee und jener Prätention zu begreifen, und zu benennen, was die Konsistenz und Inkonsistenz der Gebilde an sich von der Verfassung des Daseins ausdrückt. Solche Kritik bescheidet sich nicht bei dem allgemeinen Wissen von der Knechtschaft des objektiven Geistes, sondern sucht dies Wissen in die Kraft der Betrachtung der Sache selbst umzusetzen. Einsicht in die Negativität der Kultur ist verbindlich bloß dann, wenn sie sich ausweist im triftigen Befund der Wahrheit oder Unwahrheit einer Erkenntnis, der Konsequenz oder Lahmheit eines Gedankens, der Stimmigkeit oder Brüchigkeit eines Gebildes, der Substantialität oder Nichtigkeit einer Sprachfigur. Wo sie aufs Unzulängliche stößt, schreibt sie es nicht eilfertig dem Individuum und seiner Psychologie, dem bloßen Deckbild des Mißlingens zu, sondern sucht es aus der Unversöhnlichkeit der Momente des Objekts abzuleiten. Sie geht der Logik seiner Aporien, der in der Aufgabe selber gelegenen Unlösbarkeit, nach. In solchen Antinomien wird sie der gesellschaftlichen inne. Gelungen aber heißt der immanenten Kritik nicht sowohl das Gebilde, das die objektiven Widersprüche zum Trug der Harmonie versöhnt, wie vielmehr jenes, das die Idee von Harmonie negativ ausdrückt, indem es 23
die Widersprüche rein, unnachgiebig, in seiner innersten Struktur prägt. Vor ihm verliert das Verdikt »bloße Ideologie« seinen Sinn. Zugleich jedoch hältdie immanente Kritik in Evidenz, daß aller Geist bis heute unter einem Bann steht. Er ist nicht von sich aus der Aufhebung der Widersprüche mächtig, an denen er laboriert. Selbst der radikalsten Reflexion aufs eigene Versagen ist die Grenze gesetzt, daß sie nur Reflexion bleibt, ohne das Dasein zu verändern, von dem das Versagen des Geistes zeugt. Darum vermag die immanente Kritik bei ihrem Begriff sich nicht zu beruhigen. Weder ist sie eitel genug, die Versenkung in den Geist unmittelbar dem Ausbruch aus seiner Gefangenschaft gleichzusetzen, noch auch nur naiv genug, zu glauben, der unbeirrten Versenkung in den Gegenstand fiele kraft der Logik der Sache die Wahrheit zu, wenn nicht das subjektive Wissen ums schlechte Ganze, von außen gleichsam, jeden Augenblick in die Bestimmung des Gegenstandes mit eingeht. Je weniger die dialektische Methode heute die Hegeische Identität von Subjekt und Objekt sich vorgeben kann, um so mehr ist sie verpflichtet, der Doppelheit der Momente eingedenk zu sein: das Wissen von der Gesellschaft als Totalität, und von der Verflochtenheit des Geistes in jene, zu beziehen auf den Anspruch des Objekts, als solches, seinem spezifischenGehalt nach, erkannt zu werden. Dialektik läßt daher von keiner Forderung logischer Sauberkeit das Recht sich verkümmern, von einem Genus zum anderen überzugehen, die in sich verschlossene Sache durch den Blick auf die Gesellschaft aufleuchten zu machen, der Gesellschaft die Rechnung zu präsentieren, welche die Sache nicht einlöst. Am Ende wird der dialektischen Methode der Gegensatz der von außen und von innen eindringenden Erkenntnis selber als Symptom jener Verdinglichung suspekt, die anzuklagen ihr obliegt: der abstrakten Zurechnung dort, dem gleichsam verwaltenden Denken, entspricht hier der Fetischismus des gegen seine Genesis abgeblendeten Objekts, die Prärogative des Fachmanns. Wie aber die stur immanente Betrachtung in den Idealismus zurückzuschlagen droht, die Illusion selbstgenügsamen, über sich und die Realität gebietenden Geistes, so droht die transzendente, die Arbeit des Begriffs zu vergessen, und mit der vorschriftsmäßigen Etikettierung, dem gefrorenen Schimpfwort 24
— meist lautet es »kleinbürgerlich« —, dem von oben her abfertigenden Ukas sich zu begnügen. Topologisches Denken, das von jedem Phänomen weiß, wo es hingehört, und von keinem, was es ist, ist insgeheim verwandt dem paranoischen Wahnsystem, dem die Erfahrung des Objekts abgeschnitten ward. Die Welt wird mit leerlaufenden Kategorien in Schwarz und Weiß aufgeteilt und zu eben der Herrschaft zugerichtet, gegen welche einmal die Begriffe konzipiert waren. Keine Theorie, und auch die wahre nicht, ist vor der Perversion in den Wahn sicher, wenn sie einmal der spontanen Beziehung auf das Obj ekt sich entäußert hat. Davor muß Dialektik nicht weniger sich hüten als vor der Befangenheit im Kulturobjekt. Sie darf weder dem Geistkult sich verschreiben noch der Geistfeindschaft. Der dialektische Kritiker an der Kultur muß an dieser teilhaben und nicht teilhaben. Nur dann läßt er der Sache und sich selber Gerechtigkeit widerfahren. Die herkömmliche transzendente Kritik der Ideologie ist veraltet. Prinzipiell macht durch ungebrochene Transposition des Kausalbegriffs aus dem Bereich der physischen Natur in die Gesellschaft die Methode eben jene Verdinglichung sich zu eigen, die sie zum kritischen Thema hat, und fällt hinter ihren eigenen Gegenstand zurück. Immerhin kann die transzendente Methode darauf sich berufen, daß sie nur so weit Begriffe verdinglichten Wesens benutzt, wie die Gesellschaft selber verdinglicht ist; daß sie dieser durch die Roheit und Härte des Kausalbegriffes gleichsam den Spiegel vorhält, der sie der eigenen Roheit und Härte wie der Entwürdigung des Geistes in ihr überführt. Aber die finstere Einheitsgesellschaft duldet nicht einmal mehr jene relativ selbständigen, abgesetzten Momente, welche einst die Theorie der kausalen Abhängigkeit von Überbau und Unterbau meinte. In dem Freiluftgefängnis, zu dem die Welt wird, kommt es schon gar nicht mehr darauf an, was wovon abhängt, so sehr ist alles eins. Alle Phänomene starren wie Hoheitszeichen absoluter Herrschaft dessen was ist. Gerade weil es im eigentlichen Sinn von falschem Bewußtsein keine Ideologien mehr gibt, sondern bloß noch die Reklame für die Welt durch deren Verdopplung, und die provokatorische Lüge, die nicht geglaubt werden will, sondern Schweigen gebietet, nimmt die Frage nach der kausalen Abhängigkeit der Kultur, die un25
mittelbar als Stimme dessen ertönt, wovon sie bloß abhängig sein soll, etwas Hinterwäldlerisches an. Allerdings wird davon am Ende auch die immanente Methode ereilt. Sie wird von ihrem Gegenstand in den Abgrund gerissen. Die materialistisch durchsichtige Kultur ist nicht materialistisch aufrichtiger, nur niedriger geworden. Mit der eigenen Partikularität hat sie auch das Salz der Wahrheit eingebüßt, das einmal in ihrem Gegensatz zu anderen Partikularitäten bestand. Zieht man sie zu jener Verantwortung vor sich, welche sie verleugnet, so bestätigt man nur die kulturelle Wichtigmacherei. Als neutralisierte und zugerichtete aber wird heute die gesamte traditionelle Kultur nichtig: durch einen irrevokablen Prozeß ist ihre von den Russen scheinheilig reklamierte Erbschaft in weitestem Maße entbehrlich, überflüssig, Schund geworden, worauf dann wieder die Geschäftemacher der Massenkultur grinsend hinweisen können, die sie als solchen Schund behandeln. Je totaler die Gesellschaft, um so verdinglichter auch der Geist und um so paradoxer sein Beginnen, der Verdinglichung aus eigenem sich zu entwinden. Noch das äußerste Bewußtsein vom Verhängnis droht zum Geschwätz zu entarten. Kulturkritik findet sich der letzten Stufe der Dialektik von Kultur und Barbarei gegenüber: nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch, und das frißt auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben. Der absoluten Verdinglichung, die den Fortschritt des Geistes als eines ihrer Elemente voraussetzte und die ihn heute gänzlich aufzusaugen sich anschickt, ist der kritische Geist nicht gewachsen, solange er bei sich bleibt in selbstgenügsamer Kontemplation.
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Das Bewußtsein der Wissenssoziologie
Die von Karl Mannheim vertretene Wissenssoziologie beginnt abermals in Deutschland zu wirken. Das verdankt sie dem Gestus der harmlosen Skepsis. Sie stellt, gleich ihren existenzphilosophischen Gegenspielern, alles in Frage und greift nichts an. Intellektuelle, die sich vom wirklichen oder vermeintlichen »Dogma« abgestoßen fühlen, sind angeheimelt vom Klima einer Vorurteilslosigkeit und Voraussetzungslosigkeit, die ihnen obendrein etwas vom Pathos der selbstbewußt-einsam ausharrenden Rationalität Max Webers als Wegzehrung fürs schwankende Bewußtsein ihrer Autonomie spendet. Bei Mannheim so gut wie bei seinem Antipoden Jaspers kommen manche Impulse der Weberschen Schule zutage, die einstmals dem polyhistorischen Bau eingemauert waren. Deren wichtigster ist der zur Abwehr der Ideologienlehre in ihrer authentischen Gestalt. All das mag rechtfertigen, auf ein älteres Buch Mannheims wie >Mensch und Gesellschaft im Zeitalter des Umbaus < zurückzukommen. Es wendet sich an eine breitere Leserschicht als das Ideologiebuch. Es ist nicht auf jegliche seiner Formulierungen festzulegen. Um so mehr trägt es zur Einsicht in die Wirkung bei. Die Gesinnung ist »positivistisch«: gesellschaftliche Phänomene werden »als solche« hingenommen und dann klassifikatorisch nach Allgemeinbegriffen aufgeteilt. Damit sind die sozialen Antagonismen tendenziell nivelliert:sie erscheinen bloß noch als subtile Modifikationen eines Begriffsapparates, dessen abdestillierte »Prinzipien« sich selbstherrlich installieren und sich schattenhafte Kämpfe liefern: »Die letzte Wurzel aller Konflikte im gegenwärtigen Zeitalter des Umbaus läßt sich in eine einfache Formel fassen. Es geht auf der ganzen Linie um Spannungen, die aus dem unbewältigten Nebeneinanderwirken des >laisser-faire-Prinzips < und des neuen Prinzips der Regulierung entstehen.« Als ob nicht alles davon abhinge, wer wen reguliert. Oder es wird für die Nöte des Zeitalters »das Irrationale« anstelle bestimmter Menschengruppen oder einer bestimmten Beschaffenheit der 27
Gesellschaft verantwortlich gemacht; das Anwachsen der Antagonismen heißt nobel »disproportionale Entwicklung der menschlichen Fähigkeiten«, wie wenn es sich um Persönlichkeiten handelte und nicht um die anonyme Maschinerie, welche das Individuum abschafft. Die Nivellierung trifft Gerechte und Ungerechte gleichermaßen; aus ihnen wird der »Durchschnittsmensch« ausabstrahiert und diesem, als »von je vorhanden«, »Engstirnigkeit« zugeschrieben. Mannheim gesteht von der »experimentierenden Selbstbeobachtung«, deren Namen er exakteren Wissenschaften entlehnt, frank zu: »Alle diese Formen der Selbstbeobachtung haben eine Tendenz zur Nivellierung und verzichten auf individuelle Differenzen, weil sie am Generellen des Menschen und seiner Wandelbarkeit interessiert sind.« Nicht aber an seinen besonderen Verhältnissen und seiner realen Verwandlung. Die generalisierende Ordnung von Mannheims Begriffswelt ist in ihrer Neutralität der realen wohlgesinnt: sie bedient sich der sozialkritischen Termini und nimmt ihnen zugleich den Stachel. Nivelliert wird vorab der Begriff der Gesellschaft als solcher, vermöge einer Redeweise, die den aufs äußerste kompromittierten Terminus »Integration« beschwört. Er tritt nicht zufällig auf. Der Rekurs auf die gesellschaftliche Totalität hat bei Mannheim weniger die Funktion, die verstrickte Abhängigkeit der Menschen im Ganzen hervorzuheben, als den gesellschaftlichen Prozeß selber im Sinne eines mittleren Ausgleichs der Widersprüche im Ganzen zu verklären, durch welchen theoretisch die Widersprüche verschwinden, in denen doch gerade der Lebensprozeß »der« Gesellschaft besteht. »So sieht man es einer sich durchsetzenden Meinung in der Gesellschaft nicht ohne weiteres an, daß sie das Ergebnis eines Selektionsprozesses ist, der viele in dieselbe Richtung strebende Lebensäußerungen integriert«: in solchem Begriff der Selektion verschwindet die Tatsache, daß Lebensnot unter immerwährender katastrophischer Bedrohung und aberwitzigen Opfern den Mechanismus stöhnend im Gange erhält. Die prekäre und irrationale Selbsterhaltung der Gesellschaft wird umgefälscht zu einer Leistung ihrer immanenten Gerechtigkeit oder »Vernünftigkeit«. Wo integriert wird, sind auch die Eliten nicht weit. Die »Kulturkrise«, zu welcher bei Mannheim Terror und Grauen 28
eilends sich sublimieren, wird ihm zum »Problem der Elitenbildung«. Er weiß vier »Prozesse« herauszupräparieren, in denen dies Problem sich kristallisieren soll: die wachsende Zahl der Eliten und die daraus entstehende Schwächung ihrer Stoßkraft; die Zerstörung der Geschlossenheit der Elitegruppen; der Wandel im Selektionsprozeß der Eliten; der Wandel in ihrer Zusammensetzung. Es stehen dabei zunächst die benutzten Kategorien in Frage. Der Positivist, der sine ira et Studio die Tatsachen registriert, ist bereit, mit ihnen die Phrasen hinzunehmen, welche die Tatsachen verschleiern. Eine solche Phrase ist der Elitebegriff selber. Seine Unwahrhaftigkeit besteht darin, daß die Privilegien bestimmter Gruppen teleologisch für das Resultat eines wie immer gearteten objektiven Ausleseprozesses ausgegeben werden, während niemand die Eliten ausgelesen hat als etwa diese sich selber. Mannheim aber sieht bei der Verwendung des Elitebegriffs von der gesellschaftlichen Macht ab. Er gebraucht ihn lediglich formalsoziologisch »deskriptiv«.Das erlaubt es ihm, auf die je Privilegierten alles erwünschte Licht fallen zu lassen. Zugleich aber ist der Elitebegriff so gewandt, daß die gegenwärtige Not durch irgendwelche gleichfalls »neutrale« Störungen des Elitemechanismus ohneRücksicht auf die politische Ökonomie von oben her deduzierbar wird. Dabei gerät Mannheim in offenen Konflikt mit den Fakten. Wenn er behauptet, es sei in der »massendemokratischen« Gesellschaft für jedermann stets leichter geworden, in alle gesellschaftlichen Wirkungssphären Zutritt zu finden, und es werde damit den Eliten »ihre zur Ausformung der geistigseelischen Impulse nötige Exklusivität genommen«,so widerspricht dem die bescheidenste vorwissenschaftliche Erfahrung.Die mangelnde Homogenität der Eliten ist eine Fiktion, verwandt der marktgängigen vom Chaos der Wertewelt und der Zersetzung aller festen Ordnungen. Wer nicht hereinpaßt, wird draußengehalten. Noch diejenigen Differenzen der Überzeugung, in denen sich solche der realen Interessen ausprägen, taugen dazu, über die Einigkeit im Entscheidenden zu täuschen. Nichts ist dabei dienlicher als das Gerede von der Kulturkrise, in das Mannheim ohne Zögern einstimmt. Es verzaubert das reale Leiden in die Schuld des Geistes, denunziert die Kultur und kommt meist der Barbarei zugute. Kul29
turkritik hat ihre Funktion gewechselt. Längst ist der Bildungsphilister nicht mehr der Fortschrittsmann, die Figur, als welche Nietzsche David Friedrich Strauß identifizierte. Sondern er hat Tiefsinn und Pessimismus gelernt, verleugnet in deren Namen die Humanität, die mit seinen gegenwärtigen Interessen unvereinbar ward, und sein altehrwürdiger Zerstörungsdrang kehrt sich gegen die gleichen Güter, deren Untergang er sentimental bejammert. Den Bildungssoziologen der Kulturkrise ficht das wenig an. Seine heroische ratio hat nicht einmal Bedenken, die abgeleierte These vom Erlöschen der stilbildenden Kraft der europäischen Kunst seit dem Ende des Biedermeiers romantisch-reaktionär gegen die Moderne zu wenden. Hingenommen wird mit der Elitetheorie auch deren spezifische Färbung. Zu den konventionellen Begriffen schickt sich der naive Respekt vor dem, wofür sie einstehen. Mannheim nennt als Selektionsprinzipien der Eliten »Blut, Besitz und Leistung«, ohne daß die Leidenschaft zur Destruktion von Ideologien ihn etwa dazu bewöge, diesen Prinzipien selber die Legitimation abzuverlangen; ja er weiß zu Hitlers Lebzeiten von einem »echten Blutprinzip« zu erzählen, das früher »die Reinheit edler Zuchtminoritäten und deren Traditionen« garantiert habe. Von da ist zum Neuadel aus Blut und Boden nur ein Schritt. Ihn zu vollziehen, wird Mannheim durch allgemeinen Kulturpessimismus abgehalten. Für ihn gibt es noch zu wenig Blut. Seine Angst ist eine »Massendemokratie«, in der Blut und Besitz als Selektionsprinzipien wegfielen: durch den allzu raschen Wechsel der Eliten sei die Kontinuität bedroht. Besonders aber liegt ihm am Herzen, daß es mit der Esoterik des »echten Blutprinzips« nicht mehr recht stimme: man sei »in dieser Beziehung demokratisch geworden und möchte den offenen Gruppen der großen Massen plötzlich das Privileg des leistungslosen Emporkommens gewährleisten«. So wenig die Edlen je edler waren als die anderen, so wenig sind sie objektiv in der Lage oder subjektiv gewillt, vom Prinzip des Privilegs im Ernst etwas nachzulassen. - Vereint die invariantenfrohe Elitetheorie historisch verschiedene Stufen dessen, was die Soziologen heute soziale Differenzierung nennen, wie die feudale und die kapitalistische, als »Blut- und Besitzprinzip«, so reißt sie dafür 30
ebenso gutwillig auseinander, was zusammengehört: Besitz und Leistung. Max Weber hatte dargetan, daß der Geist des Frühkapitalismus beide identifiziert: daß die Leistungsfähigkeit im rational konstituierten Arbeitsprozeß meßbar wird an ihrem materiellen Erfolg. Die Gleichsetzung von Leistung und materiellem Erfolg hat ihren psychologischen Niederschlag in der Bereitschaft gefunden, den Erfolg als solchen zum Fetisch zu machen. Mannheim erhebt das zum »Geltungstrieb«. In der Ideologie treten Besitz und Leistung erst auseinander, wenn offenkundig der »Leistung« als der ökonomischen ratio des Einzelnen nicht mehr der »Besitz« als ihr möglicher Erfolg entspricht. Dann erst werden die Bürger wahrhaft zu Edelmännern. - Mannheims »Selektionsmechanismen« sind danach Erfindungen: willkürlich gewählte Bezugssysteme, distanziert vom Lebensprozeß der tatsächlichen Gesellschaft. Sie müssen zu Konsequenzen herhalten, die den verdrossenen Vorstellungen der Sombart und Ortega y Gasset fatal ähnlich sehen. Mannheim redet von einer »Proletarisierung der Intelligenz«. Richtig wird zunächst die Überfüllung des kulturellen Marktes konstatiert: es seien mehr »kulturell«, nämlich bildungsmäßig Qualifizierte vorhanden als ihnen angemessene Positionen. Dadurch aber soll der soziale Wert der Kultur fallen, denn es sei »ein soziologisches Gesetz, daß der soziale Wert des Geistes sich nach der sozialen Geltung derer richtet, die ihn produzieren«. Zugleich nehme der »soziale Wert« der Kultur zwangsläufig darum ab, weil die Rekrutierung des intellektuellen Nachwuchses mehr und mehr auf niedrige Schichten, zumal des kleinenBeamtentums, sich erstrecke. - Der Begriff des Proletarischen ist dabei formalisiert: er erscheint als bloße Bewußtseinsstruktur, etwa so, wie die obere Bourgeoisie den, der die Spielregeln nicht kennt, einen Proleten schimpft. Die Genesis bleibt außer Betracht. Das resultiert in ihrer Verfälschung. Indem eine »strukturelle« Angleichung des Bewußtseins an das der unteren Schichten festgestellt wird, ist die Schuld stillschweigend diesen und ihrer angeblichen massendemokratischen Emanzipation zugeschrieben. Verdummung wird aber nicht durch die Unterdrückten bewirkt, sondern Unterdrückung macht dumm: die Unterdrückten und - worauf Mannheim wenig 31
Wert legt - wesentlich auch die Unterdrücker. Die Überfüllung der intellektuellen Berufe ist durch die Überfüllung der wirtschaftlichen, im Grunde durch die technologische Arbeitslosigkeit bedingt. Mit der von Mannheim behaupteten Demokratisierung der Eliten hat sie nichts zu tun; die intellektuelle Reservearmee übt auf diese am letzten Einfluß aus. Im übrigen bietet das soziologische Gesetz von der Abhängigkeit der sogenannten Geltung einer Kultur von der ihrer Träger den Schulfall einer falschen Generalisierung. Sei nur an die Musik des achtzehnten Jahrhunderts erinnert, deren kulturelle Relevanz im damaligen Deutschland außer Zweifel steht. Während die Musiker, außer den den Höfen besonders attachierten Maestri, Primadonnen und Kastraten, gering geschätzt waren; währendBach als subalterner Kirchenbeamter, der junge Haydn als Bedienter existierte, gewannen die Musiker soziale Geltung erst, als ihre Produkte der unmittelbaren Gebrauchsfähigkeit sich entäußerten, der Komponist der Gesellschaft als selbstherrliches Individuum sich entgegensetzte : mit Beethoven. Der Grund für den Fehlschluß liegt im Psychologismus der Methode. Die individualistische Fassade der Gesellschaft verdeckt für Mannheim, daß sie ihr Wesen gerade darin hat, Formen zu entwickeln, die sich sedimentieren und die Individuen zu bloßen Agenten der objektiven Tendenz herabsetzen. Der desillusionierten Attitüde zum Trotz gehört die Wissenssoziologie auf einen vor-Hegelischen Standpunkt. Ihr Rekurs auf die eine Gruppe bildenden Menschen - im Falle jenes »Gesetzes«: die Kulturträgersetzt eine Übereinstimmung von gesellschaftlichem und individuellem Sein gewissermaßen transzendental voraus, deren Nichtexistenz einen der vordringlichsten Gegenstände der kritischen Theorie bildet. Sie ist nur insoweit die Lehre von den Beziehungen der Menschen, wie sie auch die Lehre von der Unmenschlichkeit ihrer Beziehungen ist. Die wissenssoziologischen Verzerrungen gründen in der Methode. Diese übersetzt die dialektischen Begriffe in klassifikatorische. Indem in die einzelnen logischen Klassen jeweils das gesellschaftlich Widerspruchsvolle eingeht, verschwinden die gesellschaftlichen, und das Bild des Ganzen gerät harmonistisch. Wenn etwa im dritten Abschnitt der Schrift drei Stufen des Bewußtseins: Finden, Erfinden und Planen er32
dacht werden, so ist damit nichts anderes versucht, als das dialektische Schema der Epochen als das fließend wechselnder Verhaltensweisen des vergesellschafteten Menschen schlechthin zu interpretieren, in denen die bestimmenden Gegensätze verschwinden: »Es ist klar, daß der Übergang vom erfindenden, unmittelbare Ziele rational verwirklichenden Denken zum planenden Denken flüssig ist. Niemand wird angeben können, bei welcher Art der Voraussicht und bei welcher Verlängerung der Reichweite der bewußten Fernregelung der Übergang von der Stufe des erfindenden zu der des planenden Denkens beginnt.« Der Vorstellung eines bruchlosen Überganges von der liberalen zu der »planenden« Gesellschaft entspricht die Auffassung jenes Überganges als eines zwischen verschiedenen Weisen von »Denken«. Erweckt wird der Glaube, der geschichtliche Prozeß sei von einem in sich einstimmigen gesellschaftlichen Gesamtsubjekt gesteuert. Die Übersetzung der dialektischen in klassifikatorische Begriffe abstrahiert von den Bedingungen der realen gesellschaftlichen Macht, von denen allein jene Stufen des Denkens abhängen. »Das Neue der soziologischen Betrachtung von Vergangenheit und Gegenwart ist es, die Geschichte als ein Experimentierfeld für regulierendes Eingreifen anzusehen«: als ob die Möglichkeit solchen Eingreifens jeweils mit der Stufe der Einsicht zusammenfiele. Solche Nivellierung der gesellschaftlichen Kämpfe auf formal definierbare und vorweg spiritualisierte Verhaltensweisen erlaubt erbauliche Aussagen über die Zukunft: »Nun bliebe noch ein anderer Weg offen, daß nämlich die einheitliche Planung auf Grund von Einverständnishaltung und Kompromiß zustandekommt, d. h. daß jene Mentalität auch an der Gesellschaftsspitze sich durchsetzt, die eigentlich vorher nur innerhalb der Gesellschaft in den befriedeten Enklaven möglich war.« Durch die Idee des Kompromisses werden die gleichen Widersprüche weitergeschleppt, die durch die Planung aufgehoben werden sollten: der abstrakte Begriff des Planens verdeckt sie vorweg und ist selber Kompromiß zwischen dem konservierten Laisser faire und der Einsicht in dessen Insuffizienz. Dialektische Begriffe sind nicht in formalsoziologische »übersetzbar«, ohne an ihrer Wahrheit Schaden zunehmen. 33
Mannheim kokettiert mit dem Positivismus insofern, als er meint, auf objektiv vorgegebene, aber, nach seiner einigermaßen laxen Redeweise, »unartikulierte« Tatsachen sich stützen zu können, diedurch den soziologischen Denkmechanismus »verarbeitet« und zu allgemeinen Begriffen erhoben werden können. Er bequemt sich darin der gängigen Wissenschaftslogik an. Die Klassifikation nach Ordnungsbegriffen wäre aber ein zureichendes Verfahren der Erkenntnis nur, wenn die vermeintlich unmittelbar gegebenen Tatsachen abstraktiv so leicht von ihrem Grunde sich ablösen ließen, wie sie einem naiven »ersten Zugriff« sich darbieten. Nicht aber wenn die gesellschaftliche Realität eine jeglichem theoretischen »Zugriff« vorgeordnete und höchst »artikulierte« Beschaffenheit hat, von der das szientifische Subjekt samt den Gegebenheiten seiner Erfahrung selber abhängt. Je weniger dieAusgangs»tatsachen« als deskriptive Selbstgegebenheiten vor der fortschreitenden Analyse bestehen, um so weniger hat Soziologie die Freiheit, klassifizierend über sie je nach Bedarf zu verfügen. Die notwendige Korrektur der »Tatsachen« im Fortgang der theoretischen Erkenntnis der Gesellschaft bedeutet nicht bloß, daß andere subjektive Ordnungsschemata gewählt werden müssen, als es der naiven Erfahrung scheint, sondern daß die vermeintlichen Gegebenheiten selber mehr als bloßes Material zur begrifflichen Verarbeitung darstellen, nämlich daß sie vom Ganzen geprägt und dadurch an sich »strukturiert« sind. Der Idealismus wäre dann erst verlassen, wenn die Freiheit der abstrahierenden Begriffsbildung preisgegeben wäre. Die These vom Primat des Seins übers Bewußtsein schließt die methodische Forderung ein, Begriffe nicht nach dem Maßstab denkpraktischzweckmäßiger Merkmaleinheiten zu bilden und zu verifizieren, sondern in ihrer Bildung und Bewegung die Bewegungstendenzen der Wirklichkeit auszudrücken. Das Bewußtsein der Wissenssoziologie hat dieser Forderung sich gesperrt. Die Abstraktionsschnitte sind ihm willkürlich, solange sie nur in Übereinstimmung mit einer differenzierenden und korrigierenden Erfahrung bleiben. Mannheim verbietet sich die Konsequenz, daß die »vorurteilslose« Registrierung der Tatsachen fiktiv ist; daß der Sozialforscher nicht ein unqualifiziertes, chaotisches Erfahrungsmaterial zu ordnen hat, son34
dem daß das Material seiner Erfahrung die soziale Ordnung ist, ein »System« im härteren Sinne, als je die Philosophie eines erfand; und daß über Recht und Unrecht seiner Begriffe nicht sowohl deren Allgemeinheit und andererseits deren Annäherung an »reine« Fakten entscheidet als vielmehr, ob sie die realen Bewegungsgesetze der Gesellschaft zureichend fassen und die widerspenstigen Fakten auf jene transparent machen. Auf einem durch Begriffe wie Integration, Elite, Artikulation definierten Koordinatensystem erscheinen jene bestimmenden Gesetze samt allem, was sie fürs Dasein der Menschen bedeuten, als kontingent oder akzidentell, als bloße soziologische »Differenzierungen«; darum wirkt die generalisierende und differenzierende Soziologie wie Hohn auf die Realität. Sie schreckt vor Formulierungen wie »abgesehen von der Konzentration und Zentralisation des Kapitals« nicht zurück. Solche Abstraktionsschnitte sind nicht »neutral«. Wovon bei einer Theorie abgesehen und nicht abgesehen wird, das macht ihre Qualität aus. Man könnte, wäre es mit dem Absehen getan, eine Analyse etwa der »Eliten« auch durch Betrachtung von Gruppen wie der Vegetarianer oder der Mazdaznan-Anhänger vollziehen und diese Analyse dann durch begriffliche Verfeinerung so korrigieren, daß ihre offene Absurdität verschwände. Aber keine Korrektur könnte darüber hinweghelfen, daß die Wahl der Grundkategorien falsch: daß die Welt nicht nach jenen Kategorien eingerichtet ist. Diese Falschheit verschöbe noch in aller Korrektur die Akzente so gründlich, daß die Wirklichkeit aus den Begriffen herausfiele: die Eliten blieben immer noch »Gruppen von der Form Mazdaznan« mit der zusätzlichen Qualität »gesellschaftliche Macht«. Wenn Mannheim einmal sagt, »daß es im Kulturellen (eigentlich auch im Wirtschaftlichen) niemals einen absoluten Liberalismus gab in jenem Sinne, daß neben den freiwaltenden gesellschaftlichen Kräften nicht auch Regulierung etwa im Bildungswesen bestanden hätte«, so ist er offensichtlich bemüht um eine differenzierende Korrektur des Glaubens, das längst als Ideologie durchschaute Laisser-faire-Prinzip habe je ungeschmälert geherrscht. Es wird aber, eben durch die Wahl jenes erst nachträglich differenzierten Ausgangsbegriffes, das Eigentliche entstellt: die Einsicht, daß das Laisser-faire-Prinzip auch unter dem Libe35
ralismus bloß die wirtschaftliche Verfügung verdeckte und daß demgemäß die Selektion der »Kulturgüter« wesentlich nach dem Maß von deren Konformität mit den herrschenden gesellschaftlichen Interessen erfolgte. Die Einsicht in einen Grundtatbestand der Ideologie verflüchtigt sich zur bloßen Finesse: die Methode will konziliant zeigen, daß sie auch das Konkrete nicht vergesse, anstatt vorab, und ohne die unvermeidlichen Allgemeinbegriffe zu verselbständigen, aufs Konkrete sich zu richten. Die Unzulänglichkeit der Methode wird an ihren Polen manifest: beim Gesetz und beim »Beispiel«. Wenn die widerspenstigen Fakten, als bloße Differenzierungen, von der Wissenssoziologie unter die obersten generellen Einheiten subsumiert werden, so wird dafür eben diesen willkürlichen Allgemeinheiten, als sozialen »Gesetzen«, vom Typus etwa jener Relation von Kulturgut und sozialer Geltung der kulturell Produzierenden, selbständige Macht über die Fakten zugeschrieben. Sie werden hypostasiert. Zuweilen nehmen sie ausschweifenden Charakter an: »Nun gibt es aber ein entscheidendes Gesetz, in dessen Zeichen wir gerade im gegenwärtigen Augenblick stehen. Ungeplante, durch natürliche Selektion regulierte Felder einerseits, zielbewußt erfundene und bedachtsam eingefügte Gebilde andererseits, können nur so lange reibungslos nebeneinander bestehen, als die Felder des Ungeplanten überwiegen.« Quantifizierte Sätze von dieser Gestalt sind um nichts evidenter als solche der Baaderschen Metaphysik, vor denen sie lediglich den Mangel an Phantasiekraft voraus haben. - Die Hypostasierung der Allgemeinbegriffe wird präzis als Fehler faßbar an den von Mannheim zwischengeschalteten »principia media«, zu welchen er die dialektischen Bewegungsgesetze erniedrigt. Da heißt es denn: »So stark man freilich die >principia media< und die in ihnen verwendeten Begriffe (>Hochkapitalismus<, strukturelle Arbeitslosigkeit«, >Angestelltenideologie<) historisieren und differenzieren muß, so darf man doch niemals übersehen, daß sich in ihnen dennoch abstrakte und generelle Bestimmungen (allgemeine Wirkkräfte) differenzieren und individualisieren. Sie sind in einem bestimmten Sinne nichts anderes als zeitweilig verfestigte Bündel von Ursachenreihen, die dann in ihrer Geschlossenheit wie ein einziger Ur36
sachenkomplex wirken. Daß es sich in ihnen im wesentlichen um historisierte und individualisierte generelle Wirkkräfte handelt, läßt sich an unseren Beispielen erweisen. Hinter der ersten Beobachtung steht das allgemeine Prinzip des Funktionierens einer Gesellschaftsordnung mit frei kontrahierenden Rechtspersonen: hinter der zweiten die allgemeinen psychologischen Wirkungen der >Arbeitslosigkeit< überhaupt und hinter der letzteren das allgemeine Gesetz, wonach bestehende Aufstiegshoffnungen auf Gruppen und Individuen im Sinne der Verdeckung ihrer kollektiven Lage zu wirken tendieren.« Es sei kein geringerer Fehler, als wenn man mit Vorstellungen vom Menschen überhaupt auskommen zu können glaube, wenn »man in den konkreten Verhaltungsweisen dieser historischen Typen die allgemeinen Prinzipien menschlicher Psyche vernachlässigt und überspringt«. Danach scheint das historische Ereignis teilweise von »allgemeinen« und teilweise von »besonderen« Ursachen determiniert, die irgendwelche »Bündel« zusammen bilden. Das impliziert aber die Verwechslung von Abstraktionsgraden mit Ursachen. In der Verkennung der »generellen Kräfte« sieht Mannheim die entscheidende Schwäche dialektischen Denkens - als ob nicht die Warenform für alle bei ihm behandelten Fragen »generell« genug wäre. Jedoch solche »generellen Kräfte« sind überhaupt nicht selbständig im Gegensatz zu irgendwelchen »besonderen«, so als ob etwa ein konkretes Ereignis einmal durch den Kausalsatz »verursacht« würde und dann durch die spezifische »historische Situation«. Kein Ereignis wird durch generelle Kräfte oder gar Gesetze verursacht: Kausalität ist nicht die »Ursache« von Ereignissen, sondern die oberste begriffliche Allgemeinheit, unter welcher konkrete Verursachungen zusammengefaßt werden können. Auch die Newtonsche Beobachtung am fallenden Apfel hat nicht den Sinn, daß dabei die allgemeine Gesetzmäßigkeit der Kausalität in einer Komplexion mit Faktoren von niedrigerem Abstraktionsgrad »wirkte«. Nur im Besonderen und nicht zusätzlich zu diesem setzt Kausalität sich durch.Einzig soweit kann der fallende Apfel überhaupt »Ausdruck des Fallgesetzes« genannt werden: das Fallgesetz ist vom Fallen dieses Apfels so gut abhängig wie umgekehrt. Das konkrete Kräftespiel läßt sich auf Schemata verschiedener Allgemein37
heitsstufen reduzieren, aber es gibt nicht verschränkte »allgemeine« und »besondere« Kräfte. Der Mannheimsche Pluralismus freilich, bei dem das Eine und Entscheidende als bloß eine Perspektive unter vielen möglichen erscheint, mag der Addition allgemeiner und besonderer Wirkkräfte nicht gerne entraten. Dafür wird das Faktum, vorweg »Einmaligkeitssituation« getauft, zum bloßen Beispiel - während die dialektische Theorie den Begriff des Beispiels so wenig wie schon Kant gelten lassen könnte. Die Beispiele fungieren als beliebige auswechselbare Illustrationen; deshalb sind sie oft aus bequemer Distanz von den wahren Nöten der gegenwärtigen Menschheit gewählt oder aus den Fingern gesaugt. Dafür ereilt sie rasch die Strafe. Mannheim meint etwa: »Ein klärendes Beispiel für Störungen, die aus der substantiellen Irrationalität kommen, liegt vor, wenn z. B. die Diplomaten eines Landes eine Aktionsreihe sorgfältig durchgedacht und auf andere geplante Handlungsreihen abgestimmt haben, und wenn dann einer von ihnen durch einen plötzlichen Nervenzusammenbruch gegen den Plan handelt und ihn zerstört.« Müßig, solche privaten Begebenheiten als »Wirkkräfte« auszumalen: nicht bloß ist der »Aktionsradius« des einzelnen Diplomaten romantisch überschätzt; jede solche Fehlhandlung ließe mit einem Telefonat in fünf Minuten sich beheben, es sei denn, daß sie selber im Zuge politischer Entwicklungen liegt, die stärker sind als die Erwägungen der Diplomaten. - Oder, mit der Anschaulichkeit der Kinderbücher : »Ich werde meine Triebregungen und Wünsche als Soldat in ganz anderem Maße zu kontrollieren haben, als wenn ich ein freier Jäger bin, der nur ab und zu fluktuierend zielgerichtet handelt und sich nur gelegentlich in der Gewalt haben muß - im Augenblick etwa, wenn er auf das Wild schießen muß.« Anstelle des Jägerberufs ist bekanntlich in neuerer Zeit der Jagdsport getreten, aber selbst ein Sportjäger, der sich nur in der Gewalt hat »im Augenblick, wo er auf das Wild schießen muß«, offenbar, um nicht über den Knall der eigenen Flinte zu erschrecken, wird schwerlich etwas zur Strecke bringen; wahrscheinlich das Wild verscheuchen; vielleicht es nicht einmal bloß aufspüren. Die Nichtigkeit solcher Beispiele steht mit der Wirkung der 38
Wissenssoziologie im engsten Zusammenhang. Subjektiv möglichst »neutral« gewählt und darum vorweg unwesentlich, lenken sie ab. Soziologie meinte an ihrem Ursprung Kritik der Prinzipien der Gesellschaft, der sie sich gegenüberfand. Wissens Soziologie begnügt sich mit Reflexionen über den Jägersmann im grünen oder den Diplomaten im schwarzen Frack. Worauf der Formalismus solcher Begriffsbildung inhaltlich hinausläuft, zeigt sich, sobald programmatische Forderungen lautwerden. Für die Durchorganisation der Gesellschaft wird ein »Optimum« verlangt, ohne daß des Bruchs gedacht wäre, der von diesem Optimum trennt. Wenn man sich nur vernünftig zusammensetzt, soll alles in Ordnung kommen. Dem entspricht Mannheims Ideal einer »erwünschten Linie« zwischen »unbewußtem Konservatismus« und »schlechter Utopie«: »Von hier aus wird aber zugleich eine mögliche Lösung der gegenwärtigen Spannungen in ihren Umrissen sichtbar, nämlich eine Art autoritärer Demokratie mit Planung, die aus den heutigen gegeneinander-laufenden Prinzipien ein ausbalanciertes System schafft.« Dazu paßt die Hinaufstilisierung der»Krise«zum»Problem des Menschen«, in der Mannheim trotz seiner Erklärung gegen die neudeutsche Anthropologie mit ihr und den Existentialphilosophen einig geht. Zwei Züge aber sind es vor anderen, die den Konformismus der Mannheimschen Wissenssoziologie markieren. Einmal: sie bleibt Symptomdenken. Sie ist durchweg geneigt, die Bedeutung der Ideologien zu überschätzen gegenüber dem, wofür sie einstehen. Friedlich teilt sie mit ihnen jene äquivoke Auffassung »des« Irrationalen, an der gerade der kritische Hebel anzusetzen wäre: »Ferner muß man einsehen, daß das Irrationale nicht unter allen Umständen etwas Schädliches ist, im Gegenteil, es ist vielleicht das Wertvollste im Vermögen des Menschen, wenn es etwa als mächtiger Antrieb zur Erreichung rationaler objektiver Ziele wirkt oder in Gestalt von Sublimierungen und Kultivation Kulturwerte schafft, oder aber auch als pure Vitalität die Lebensfreude steigert, ohne das Gesellschaftsleben planlos zu zerstören.« Man erfährt nicht näher, was das Irrationale sei, das da durch Kultivation Kulturwerte schaffe, die doch ex definitione das Produkt von Kultivation sind, oder eine 39
Lebensfreude »steigere«, die ohnehin schon irrational ist. Jedenfalls aber wirkt unheilvoll die Gleichsetzung der Triebmacht mit dem »Irrationalen«. Denn der Begriff deckt die Libido und die Figur ihrer Verdrängung gleichermaßen und »wertfrei«. Das Irrationale scheint bei Mannheim den Ideologien eine Substantialität zu verleihen, die zwar väterlichen Tadel erfährt, aber nicht durch Hinweis aufs Verhüllte selber zerstört wird. Dem positivistischen Hinnehmen der Symptome, der leisen Achtung vorm Anspruch der Ideologien aber ist verschwistert der Vulgärmaterialismus herrschender Praxis: während die Fassade intakt bleibt im Glanze der willigen Betrachtungsweise, ist es die letzte Weisheit dieser Soziologie, daß im Innern des Hauses keine Regung gedeihen könne, die über dessen abgesteckten Umkreis ernsthaft hinausdrängte : »Faktisch überschreitet der vorgegebene Ideenschatz (darin dem Wortschatz durchaus ähnlich) den Horizont und den Aktionsradius der existierenden sozialen Gemeinschaft niemals.« Dann freilich vermag, was immer »überschreitet«, leicht als »Ausrichtung auf Stimmungserweckung seelischer Werte usw.« zu erscheinen. Dieser Materialismus, verwandt dem eines Familienoberhauptes, das es von vornherein für ausgeschlossen hält, daß sein Sprößling je einen neuen Gedanken denken könne, da ohnehin alles schon gedacht sei, und das diesem daher empfiehlt, lieber ordentlich Geld zu verdienen - dieser wohlerfahrene und demütigende Materialismus ist das Reversbild eines Idealismus der Geschichtsbetrachtung, dem Mannheim in der Konstruktion insbesondere von »Rationalität« und Fortschritt sonst verschworen bleibt, und demzufolge Änderungen des Bewußtseins es gar vermögen sollen, »das Aufbauprinzip der Gesellschaft sozusagen von innen heraus aus ihren Angeln« zu heben. Die eigentliche Attraktionskraft der Wissenssoziologie darf nun darin gesucht werden, daß jene Änderungen des Bewußtseins, als Leistungen von »planender Vernunft«, zur Vernunft der heute Planenden in unmittelbare Beziehung gesetzt werden: »Die Tatsache, daß das Durchdenken der Handlungsreihen in der funktioneil durchrationalisierten Gesellschaft sichnurindenKöpfenwenigerOrganisatoren vollzieht, sichert diesen eine Schlüsselstellung in der Gesellschaft.« Es 40
verrät sich hier ein Motiv, das weiter reicht als das Bewußtsein der Wissenssoziologie: der objektive Geist als der jener »wenigen Organisatoren« spricht aus ihr. Während die Wissenssoziologie von neuen akademischen Arbeitsgebieten träumt, dient sie ahnungslos denen, die keinen Augenblick gezögert haben, die Arbeitsgebiete zu kassieren. Mannheims vom altliberalen common sense genährte Überlegungen laufen schließlich alle darauf hinaus, gesellschaftliches »Planen« zu empfehlen, ohne zum gesellschaftlichen Grund durchzudringen. Es sollen die Folgen des offenbar gewordenen Widersinns, von Mannheim bloß an der Oberfläche und als »Kulturkrise« gewahrt, von oben her, nämlich durch die Verfügenden beschwichtigt werden. Das bedeutet aber nichts anderes, als daß der Liberale, der keinen Ausweg sieht, zum Sprecher einer diktatorialen Einrichtung der Gesellschaft sich macht, noch während er ihr zu opponieren denkt. Wohl wird der Wissenssoziologe entgegnen, die Instanz seiner Planung sei nicht Macht, sondern Vernunft, und zu ihr gelte es die Mächtigen zu bekehren. Indessen sollte man seit den Platonischen Philosophiekönigen gelernt haben, was es mit solcher Bekehrung auf sich hat. Wenn Mannheim die Intelligenz früher als die freischwebende bestaunte, so wäre dem nicht sowohl mit dem reaktionären Postulat ihrer »Seinsverwurzelung« zu widersprechen als mit der Erinnerung daran, daß eben die Intelligenz, die frei zu schweben vorgibt, in dem gleichen Sein gründlich verwurzelt ist, das es zu verändern gilt und dessen Kritik sie bloß fingiert. Vernünftig heißt ihr das optimale, nämlich die Katastrophe aufschiebende Funktionieren des Getriebes, gleichgültig dagegen, ob es nicht etwa in seiner Totalität die optimale Unvernunft sei. Planend es am Leben zu erhalten, führt in den totalitären Systemen jeglicher Gestalt dazu, die Widersprüche, die es zwangsläufig produziert, mit barbarischem Druck unter die Oberfläche des gesellschaftlichen Seins zu drängen. Die Advokaten solcher Planung sprechen die Macht im Namen der Vernunft denen zu, denen sie im Namen der Verblendung ohnehin gehört. Die Macht der Vernunft des Heutigen ist die blinde Vernunft der heute Mächtigen. Wie sie aber der Katastrophe zusteuert, verführt sie den Geist, der sie mit Maß verneint, dazu, vor ihr zu abdizieren. Er nennt sich noch liberal, aber schon ist für 41
ihn Freiheit »soziologisch gesehen nichts anderes als eine Disproportionalität zwischen dem Wachstum des Wirkradius der zentral organisierbaren Beeinflussungsmechanismen einerseits und dem Wachstum des Umfanges der zu beeinflussenden Gruppeneinheit andererseits«. Die Wissenssoziologie richtet der obdachlosen Intelligenz Schulungslager ein, in denen sie lernen soll, sich selber zu vergessen.
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Spengler nach dem Untergang
Wenn die Geschichte der Philosophie nicht so sehr in der Lösung ihrer Probleme besteht als darin, daß die Bewegung des Geistes jene Probleme wieder und wieder vergessen macht, um die sie sich kristallisiert, dann ist Oswald Spengler vergessen worden mit der Geschwindigkeit der Katastrophe, in die, seiner eigenen Lehre zufolge, die Weltgeschichte überzugehen im Begriff ist. Nach einem populären Anfangserfolg hat sich die öffentliche Meinung in Deutschland sehr rasch gegen den >Untergang des Abendlandes < gekehrt. Die offiziellen Philosophen warfen ihm Flachheit vor, die offiziellen Einzelwissenschaften Inkompetenz und Scharlatanerie, und im Betrieb der deutschen Inflations- und Stabilisierungsperiode wollte niemand etwas mit der Untergangsthese zu schaffen haben. Spengler hatte sich mittlerweile durch eine Reihe kleinerer Schriften anmaßenden Tones und wohlfeiler Antithetik so exponiert, daß die Ablehnung dem gesunden Lebenswillen leicht genug wurde. Als 1922 der zweite Band des Hauptwerks erschien, fand er nicht entfernt mehr die Beachtung des ersten, obwohl eigentlich erst in ihm die Untergangsthese konkret entwickelt wurde. Die Laien, die Spengler lasen wie vordem Nietzsche und Schopenhauer, hatten sich mittlerweile der Philosophie entfremdet; die zünftigen Philosophen hielten sich an Heidegger, der ihrer Verdrossenheit gediegeneren und gehobeneren Ausdruck verlieh. Er veredelte den von Spengler ohne Ansehen der Person dekretierten Tod und versprach, den Gedanken daran in ein akademisches Betriebsgeheimnis zu verwandeln. Spengler hatte das Nachsehen: seine Broschüre über >Mensch und Technik < war gegenüber den gleichzeitigen smartenphilosophischen Anthropologien nichtmehr konkurrenzfähig. Kaum daß man noch von seinen Beziehungen zu den Nationalsozialisten, seinem Streit mit Hitler und endlich seinem Tod Notiz nahm. In Deutschland war er als Schwarzseher und Reaktionär, so wie eben die zeitgenössischen Herren solche Worte brauchten, verfemt, im Ausland galt er als einer der ideologischen Mitschuldigen am Rückfall in die Barbarei. 43
All dem gegenüber ist guter Grund, die Frage nach der Wahrheit und Unwahrheit Spenglers noch einmal zu stellen. Es hieße ihm zuviel vorgeben, wollte man in der Weltgeschichte, die über ihn hinweg zur neuen Ordnung ihres Tages schritt, das Weltgericht erblicken, das über den Wert seiner Gedanken zu entscheiden hat. Dazu ist aber um so weniger Anlaß, als der Gang der Weltgeschichte selber seinen unmittelbaren Prognosen in einem Maße recht gab, das erstaunen müßte, wenn man sich an die Prognosen noch erinnerte. Der vergessene Spengler rächt sich, indem er droht, recht zu behalten. Sein Vergessensein inmitten der Bestätigung leiht der Drohung blinder Fatalität, die von seiner Konzeption ausgeht, ein objektives Moment. Als einmal die sieben deutschen Fachgelehrten sich zusammentaten, um in der Zeitschrift Logos den Outsider zu erledigen, hat ihr philiströser Eifer Spott provoziert. Heute gewinnt er einen weniger harmlosen Aspekt. Er zeugt von einer intellektuellen Ohnmacht, vergleichbar der politischen der Weimarer Republik im Angesicht Hitlers. Spengler hat kaum einen Gegner gefunden, der sich ihm gewachsen gezeigt hätte: das Vergessen wirkt als Ausflucht. Man braucht nur das Buch Manfred Schröters >Der Streit um Spengler < zu lesen, das einen vollständigen Überblick der Kritiken bis 1922 bietet, um dessen innezuwerden, wie sehr der deutsche Geist versagte einem Widersacher gegenüber, an den die historische Gewalt der eigenen Vergangenheit gänzlich übergegangen schien. Pedantische Kleinlichkeit im Konkreten, phrasenhaft konformistischer Optimismus in der Idee, dazu oft genug das unfreiwillige Zugeständnis der Schwäche in der Versicherung, so schlimm sei es denn doch noch nicht um unsere Kultur bestellt, oder in dem sophistischen Trick, durch Überspannung des Relativismus Spenglers relativistische Position selber aufzulösen - das ist alles, was die deutsche Wissenschaft und Philosophie aufbrachte gegen einen Mann, der sie abkanzelte wie der Feldwebel den Einjährig-Freiwilligen. Fast könnte man in der wichtigtuerischen Hilflosigkeit den geheimen Drang vermuten, demFeldwebel doch endlich zu parieren. Je mehr aber die Welt nach seinem Rhythmus marschierte, um so dringlicher wäre es, dem Sinn jener Sätze sich zu stellen, die ein Schicksal der 44
Menschheit proklamiert haben, das mit dem Mord an Millionen noch die düstere Prophezeiung seiner selbst überboten hat. Die Gewalt Spenglers wird sichtbar durch Konfrontation einiger seiner Thesen mit den späteren Entwicklungen. Weiter wäre den Kraftquellen nachzuforschen, die einer Philosophie, deren theoretische und empirische Unzulänglichkeiten so offen zutage liegen, trotz allem jene Gewalt verliehen. Endlich wäre mit gründlichem Mißtrauen gegen das Thema probandum zu fragen, welche Überlegungen es etwa vermöchten, den Spenglerschen ins Auge zu schauen, ohne die Pose der Kraft und ohne das schlechte Gewissen des offiziellen Optimismus. Um die Gewalt Spenglers zu zeigen, seien zunächst nicht die allgemeinen geschichtsphilosophischen Grundgedanken vom pflanzenhaften Wachsen und Absterben der Kulturen diskutiert, sondern die Zuspitzung dieser Geschichtsphilosophie auf die Spengler zufolge bevorstehende Phase, die er nach Analogie mit der Römischen Kaiserzeit »Cäsarismus« nennt. Die bezeichnendsten Vorhersagen beziehen sich auf Fragen der Massenbeherrschung, auf Propaganda, Massenkunst, dann auf politische Herrschaftsformen, insbesondere auf gewisse Tendenzen der Demokratie; aus sich heraus in Diktatur umzuschlagen. In Übereinstimmung mit Spenglers Gesamtauffassung, welche die Wirtschaft nicht als tragende gesellschaftliche Realität, sondern vielmehr als »Ausdruck« eines bestimmt gearteten »Seelentums« visiert, treten demgegenüber eigentlich wirtschaftliche Prognosen zurück. Die Frage nach der Vertrustung wird nicht gestellt, so scharfsichtig auch Spengler die kulturellen Konsequenzen der zunehmenden Zentralisierung der Macht sieht. Doch trägt seine Einsicht weit genug, um gewisse triftige ökonomische Konsequenzen, zumal in Hinsicht auf das Absterben der Geldwirtschaft, zu erlauben. Gedankengänge des zweiten Bandes gelten der Zivilisation im Cäsarismus. Zum Beginn einige Sätze zur »Physiognomik der Weltstädte«.Von ihren Häusern heißt es: »Sie sind überhaupt nicht mehr Häuser, in denen Vesta und Janus, die Penaten und Laren irgendeine Stätte besitzen, sondern bloße Behausungen, welche nicht das Blut, sondern der Zweck, nicht das Gefühl, sondern der wirtschaftliche Unterneh45
mungsgeist geschaffen hat.Solange der Herd dem frommen Sinne der wirkliche, bedeutsame Mittelpunkt einer Familie ist, solange ist die letzte Beziehung zum Lande nicht geschwunden. Erst wenn auch das verlorengeht und die Masse der Mieter und Schlafgäste in diesem Häusermeer ein irrendes Dasein von Obdach zu Obdach führt, wie die Jäger und Hirten der Vorzeit, ist der intellektuelle Nomade völlig ausgebildet. Diese Stadt ist eine Welt, ist die Welt. Sie hat nur als Ganzes die Bedeutung einer menschlichen Wohnung. Die Häuser sind nur die Atome, welche sie zusammensetzen.« Sehr verwandte Gedankengänge waren zu Beginn des Jahrhunderts ausgeführt in Werner Sombarts Broschüre > Warum gibt es in Amerika keinen Sozialismus ?<. Die Vorstellung vom späten Städtebewohner als zweitem Nomaden verdient, besonders hervorgehoben zu werden. Sie drückt nicht bloß Angst und Entfremdung aus sondern auch die dämmernde Geschichtslosigkeit eines Zustandes, in dem die Menschen sich bloß noch als Objekte undurchsichtiger Prozesse erfahren und, zwischen jähem Schock und jähem Vergessen, zur kontinuierlichen Zeiterfahrung nicht mehr fähig sind. Spengler sieht den Zusammenhang von Atomisierung und regressivem Menschentypus, wie er im Zeichen der totalitären Ausbrüche erst ganz sich enthüllt hat: »Ein grauenvolles Elend, eine Verwilderung aller Lebensgewohnheiten, die schon jetzt zwischen Giebeln und Mansarden, in Kellern und Hinterhöfen einen neuen Urmenschen züchten, hausen in jeder dieser prachtvollen Massenstädte.« In den »Lagern« jeden Typus, die das Haus nicht mehr kennen, ist jene Regression offenbar geworden. Spengler weiß wenig von den Bedingungen der Produktion zu sagen, die es dahin gebracht haben. Um so genauer aber sieht er dafür den Bewußtseinszustand, der die Massen außerhalb des eigentlichen Produktionsprozesses, in den sie eingespannt sind, ergreift: jene Phänomene, die man als solche der »Freizeit« zu bezeichnen sich gewöhnt hat. »Die intellektuelle Spannung kennt nur noch eine, die spezifisch weltstädtische Form der Erholung: die Entspannung, die >Zerstreuung<. Das echte Spiel, die Lebensfreude, die Lust, der Rausch sind aus dem kosmischen Takte geboren und werden in ihrem Wesen gar nicht mehr begriffen. Aber die Ablösung intensiv46
ster praktischer Denkarbeit durch ihren Gegensatz, die mit Bewußtsein betriebene Trottelei, die Ablösung der geistigen Anspannung durch die körperliche des Sports, der körperlichen durch die sinnliche des >Vergnügens < und die geistige der >Aufregung< des Spiels und der Wette, der Ersatz der reinen Logik der täglichen Arbeit durch mit Bewußtsein genossene Mystik - das kehrt in allen Weltstädten aller Zivilisationen wieder.« Spengler steigert den Gedanken zu der These, die Kunst selber werde zum Sport. Er hat weder vom Jazz etwas gewußt noch vom Quiz. Aber wollte man die wichtigsten Tendenzen der gegenwärtigen Massenkunst auf die Formel bringen, keine prägnantere ließe sich angeben als die des Sports, des Nehmens rhythmischer Hindernisse, des Wettbewerbs, sei es unter den Ausführenden, sei es zwischen Produktion und Publikum. Die Opfer des Zivilisationsbetriebs der Reklamekultur, nicht die Manipulierenden, trifft Spenglers ganze Verachtung. »Es entsteht der Typus des Fellachen.« Dies Fellachentum wird von ihm näher bestimmt als Enteignung des Bewußtseins der Menschen durch die zentralisierten Mittel der öffentlichen Kommunikation. Er sieht diese noch im Zeichen der Geldmacht, obwohl er das Ende der Geldwirtschaft ahnt: Geist im Sinne schrankenloser Autonomie kann es Spengler zufolge nur im Zusammenhang mit der abstrakten Einheit des Geldes geben. Wie immer es sich damit verhalte, seine Beschreibung trifft genau auf die Zustände unter dem totalitären Regime zu, das ideologisch Geld und Geist gleichermaßen den Krieg erklärt. Es ließe sich sagen, daß er an der Presse Züge gewahrte, die erst das Radio völlig ausgebildet hat - so wie er gegen die Demokratie Vorwürfe erhebt, die ihr ganzes Gewicht erst gegenüber der Diktatur gewinnen. »Die Demokratie hat das Buch aus dem Geistesleben der Volksmassen vollständig durch die Zeitung verdrängt. Die Bücherwelt mit ihrem Reichtum an Gesichtspunkten, die das Denken zur Auswahl und Kritik nötigte, ist nur noch für enge Kreise ein wirklicher Besitz. Das Volk liest die eine, >seine < Zeitung, die in Millionen Exemplaren täglich in alle Häuser dringt, die Geister vom frühen Morgen an in ihren Bann zieht, durch ihre Anlage die Bücher in Vergessenheit bringt und, wenn eins oder das andere doch einmal in den 47
Gesichtskreis tritt, seine Wirkung durch eine vorweggenommene Kritik ausschaltet.« Spengler sieht etwas vom Doppelcharakter der Aufklärung im Zeitalter universaler Herrschaft. »Mit der politischen Presse hängt das Bedürfnis nach allgemeiner Schulbildung zusammen, das der Antike durchaus fehlt. Es ist ein ganz unbewußter Drang darin, die Massen als Objekte der Parteipolitik dem Machtmittel der Zeitung zuzuführen. Dem Idealisten der frühen Demokratie erschien das als Aufklärung ohne Hintergedanken, und heute noch gibt es hier und da Schwachköpfe, die sich am Gedanken der Pressefreiheit begeistern, aber gerade damit haben die kommenden Cäsaren der Weltpresse freie Bahn. Wer lesen gelernt hat, verfällt ihrer Macht, und aus der erträumten Selbstbestimmung wird die späte Demokratie zu einem radikalen Bestimmtwerden der Völker durch die Gewalten, denen das gedruckte Wort gehorcht.« Was Spengler den bescheidenen Pressemagnaten des ersten Weltkrieges zuschreibt, ist ausgereift in der Technik der manipulierten Pogrome und spontanen Volks kundgebungen. »Ohne daß der Leser es merkt, wechselt die Zeitung und damit er selbst den Gebieter« — das ist im Dritten Reich buchstäblich in Erfüllung gegangen. Spengler nennt es den »Stil des zwanzigsten Jahrhunderts«. »Ein Demokrat vom alten Schlage würde heute nicht Freiheit für die Presse, sondern von der Presse fordern, aber inzwischen haben die Führer sich in >Angekommene < verwandelt, die ihre Stellung gegenüber der Masse sichern müssen.« Spengler hat Goebbels prophezeit: »Kein Tierbändiger hat seine Meute besser in der Gewalt. Man läßt das Volk als Lesermasse los, und es stürmt durch die Straßen, wirft sich auf das bezeichnete Ziel, droht und schlägt Fenster ein. Ein Wink an den Pressestab, und es wird still und geht nach Hause. Die Presse ist heute eine Armee mit sorgfältig organisierten Waffengattungen, mit Journalisten als Offizieren, Lesern als Soldaten. Aber es ist hier wie in jeder Armee: der Soldat gehorcht blind, und die Wechsel in Kriegsziel und Operationsplan vollziehen sich ohne seine Kenntnis. Der Leser weiß nichts von dem, was man mit ihm vorhat, und soll es auch nicht, und er soll auch nicht wissen, welch eine Rolle er damit spielt. Eine furchtbarere Satire auf die Gedankenfrei48
heit gibt es nicht. Einst durfte man nicht wagen, frei zu denken; jetzt darf man es, aber man kann es nicht mehr. Man will nur noch denken, was man wollen soll, und eben das empfindet man als seine Freiheit.« Nicht minder erstaunlich sind die spezifischen Prognosen. Zunächst die militärische, die im übrigen nicht unbeeinflußt sein mag von gewissen Erfahrungen der deutschen Heeresleitung während des ersten Weltkriegs, die unterdessen in die Praxis umgesetzt wurden. Spengler hält das »demokratische« Prinzip der allgemeinen Wehrpflicht samt den aus ihr entwickelten taktischen Mitteln für überwunden. »An Stelle der stehenden Heere werden von nun an allmählich Berufsheere freiwilliger und kriegsbegeisterter Soldaten treten, an Stelle der Millionen wieder die Hunderttausende, aber eben damit wird dieses zweite Jahrhundert« (nach den Napoleonischen Kriegen) »wirklich das der kämpfenden Staaten sein. Das bloße Dasein dieser Heere ist kein Ersatz des Krieges« (wie es Spengler zufolge im neunzehnten Jahrhundert der Fall war), »sie sind für den Krieg da, und sie wollen ihn. In zwei Generationen werden sie es sein, deren Wille stärker ist als der aller Ruhebedürftigen. In diesen Kriegen um das Erbe der ganzen Welt werden Kontinente eingesetzt, Indien, China, Südafrika, Rußland, der Islam aufgeboten, neue Techniken und Taktiken gegeneinander ausgespielt werden. Die großen weltstädtischen Machtmittelpunkte werden über die kleineren Staaten, ihr Gebiet, ihre Wirtschaft und Menschen nach Gutdünken verfügen; das alles ist nur noch Provinz, Objekt, Mittel zum Zweck; sein Schicksal ist ohne Bedeutung für den großen Gang der Dinge. Wir haben in wenigen Jahren gelernt, Ereignisse kaum noch zu beachten, die vor dem Kriege die Welt hätten erstarren lassen.« Unterdessen gilt bereits an Auschwitz zu erinnern für langweiliges Ressentiment. Keiner gibt mehr etwas fürs Vergangene. Was auf das von Spengler so genannte Zeitalter der kämpfenden Staaten folgt, ist seiner Konstruktion zufolge eine im dämonischen Sinne geschichtslose Zeit: die Tendenz der gegenwärtigen Wirtschaft, unter Eliminierung desMarktes und der Dynamik der Konkurrenz einen statischen und im eigentlich ökonomischen Sinn »krisenlosen« Zustand unmittelbarer Verfügung herbeizuführen, kommt mit Speng49
lers Prognose deutlich genug überein. Mehr und sinnfälliger noch erfüllt sie sich in der Statik der »Kultur«, deren avancierten Versuchen seit dem neunzehnten Jahrhundert schon die Gesellschaft Verständnis und eigentliche Rezeption verweigert, die unablässige und tödliche Wiederholung des einmal Akzeptierten erzwingend, während die standardisierte Massenkunst vermöge ihrer »gefrorenen« Modelle Geschichte ausschließt. Man könnte wohl alle spezifisch moderne Kunst als den Versuch betrachten, die Dynamik der Geschichte beschwörend am Leben zu erhalten oder das Grauen über die Erstarrung zum Schock zu steigern, zur Katastrophe, in der das Geschichtslose jäh den Ausdruck des lang Gewesenen annimmt. Was Spengler den kleineren Staaten prophezeit, beginnt sich an den Menschen selber, auch denen der großen Staaten, und gerade der mächtigsten, zu erfüllen. Darum scheint Geschichte erloschen. Alles Geschehende geschieht ihnen, nicht durch sie. Noch den größten strategischen Unternehmungen und Triumphzügen haftet ein Zug des Illusionären, nicht ganz Realen an. Seine Erfahrung hat das amerikanische Wort phony ein für alle Male festgehalten. Die Ereignisse spielen sich zwischen den Oligarchen und ihren Mordspezialisten ab: sie entspringen nicht aus der Dynamik der Gesellschaft, sondern unterwerfen diese einer zur Vernichtung gesteigerten Verwaltung. Als Objekte der politischen Gewalt begeben sich die Menschen ihrer Spontaneität: »Seit dem Anbruch der Kaiserzeit gibt es keine politischen Probleme mehr. Man findet sich ab mit den Lagen und Gewalten, die vorhanden sind. Ströme von Blut hatten zur Zeit der kämpfenden Staaten dasPflaster aller Weltstädte gerötet, um die großen Wahrheiten der Demokratie in Wirklichkeit zu verwandeln und Rechte zu erkämpfen, ohne die das Leben nicht wert schien, gelebt zu werden. Jetzt sind diese Rechte erobert, aber die Enkel sind selbst durch Strafen nicht mehr zu bewegen, von ihnen Gebrauch zu machen.« Spenglers Prognose der Wesensveränderung der Partei ist im Nationalsozialismus radikal bestätigt worden: die Parteien werden zu »Gefolgschaften«. Seine Charakteristik der Partei, vermutlich von Robert Michels inspiriert, ist von jener Hellsichtigkeit, die der Faschismus so satanisch auszunutzen 50
verstand, indem er das Unwahre an einer Humanität, die sich zum Maß der Welt erklärt, ohne verwirklicht zu sein, zur Rechtfertigung absoluter Unwahrheit und Inhumanität erhebt. Er sieht die Zugehörigkeit des Parteiwesens zum bürgerlichen Liberalismus. »Das Auftreten einer Adelspartei in einem Parlament ist innerlich ebenso unecht wie das einer proletarischen. Nur das Bürgertum ist hier zu Hause.« Er insistiert bei den Mechanismen, die das Parteiwesen in Diktatur umschlagen lassen. Solche Erwägungen sind der zyklischen Geschichtsphilosophie seit der Stoa vertraut. Machiavelli entwickelte den Gedanken, daß die Verderbtheit demokratischer Institutionen auf die Dauer wieder Diktaturen notwendig mache. Aber Spengler, der am Ende der Epoche in gewissem Sinne die Position wiederherstellt, die Machiavelli zu ihrem Beginn eingenommen hatte, zeigt sich dem frühbürgerlichen Staatsphilosphen überlegen durch die Erfahrung der historischen Dialektik, deren Namen er an keiner Stelle ausspricht. Ihm entfaltet sich das Prinzip der Demokratie selber vermöge der Parteiherrschaft zu seinem Gegenteil. »Das Zeitalter der echten Parteiherrschaft umfaßt kaum zwei Jahrhunderte und ist für uns seit dem Weltkrieg bereits in vollem Niedergang begriffen. Daß die gesamte Masse der Wählerschaft aus einem gemeinsamen Antrieb heraus Männer entsendet, die ihre Sache führen sollen, wie es in allen Verfassungen ganz naiv gemeint ist, war nur im ersten Anlauf möglich und setzt voraus, daß nicht einmal die Ansätze zur Organisation bestimmter Gruppen vorhanden sind. So war es 1789 in Frankreich, 1848 in Deutschland. Mit dem Dasein einer Versammlung ist aber sofort die Bildung taktischer Einheiten verbunden, deren Zusammenhalt auf dem Willen beruht, die einmal errungene herrschende Stellung zu behaupten, und die sich nicht im geringsten mehr als Sprachrohr ihrer Wähler betrachten, sondern umgekehrt diese mit allen Mitteln der Agitation sich gefügig machen, um sie für ihre Zwecke einzusetzen. Eine Richtung im Volk, die sich organisiert hat, ist damit bereits das Werkzeug der Organisation geworden, und sie schreitet unaufhaltsam auf ihrem Wege weiter, bis auch die Organisation das Werkzeug der Führer geworden ist. Der Wille zur Macht ist stärker als alle Theorien. 51
Am Anfang entsteht die Führung und der Apparat des Programms wegen; dann werden sie von den Inhabern um der Macht und Beute willen verteidigt, wie es heute schon ganz allgemein der Fall ist, wo in allen Ländern Tausende von der Partei und den von ihr vergebenen Ämtern und Geschäften leben, und endlich verschwindet das Programm aus der Erinnerung, und die Organisation arbeitet für sich allein.« Zugespitzt auf Deutschland, in Voraussicht der Jahre der Minderheitsregierungen, die Hitler in den Sattel halfen: »Die deutsche Verfassung von 1919, also schon an der Schwelle der absteigenden Demokratie entstanden, enthält in aller Naivität eine Diktatur der Parteimaschinen, die sich selbst alle Rechte übertragen haben und niemand ernsthaft verantwortlich sind. Die berüchtigte Verhältniswahl und die Reichsliste sichern ihnen die Selbstergänzung. Statt der Rechte des >Volkes<, wie sie die Verfassung von 1848 der Idee nach enthielt, gibt es nur solche der Parteien, was harmlos klingt, aber den Cäsarismus der Organisation in sich schließt. In diesem Sinne ist sie allerdings die fortgeschrittenste Verfassung des Zeitalters; sie läßt das Ende bereits erkennen; einige ganz kleine Änderungen, und sie verleiht einzelnen die unumschränkte Gewalt.« Spengler fühlt vor, wie der Gang der Geschichte die Menschen Idee und Wirklichkeit der eigenen Freiheit vergessen macht. »Diese abstrakten Ideale besitzen eine Macht, die sich kaum über zwei Jahrhunderte - die der Parteipolitik - erstreckt. Sie werden zuletzt nicht etwa widerlegt, sondern langweilig. Rousseau ist es längst, und Marx wird es in kurzem sein. Man gibt endlich nicht diese oder jene Theorie auf, sondern den Glauben an Theorien überhaupt und damit den schwärmerischen Optimismus des achtzehnten Jahrhunderts, unzulängliche Tatsachen durch Anwendung von Begriffen verbessern zu können.« - »Niemand sollte sich darüber täuschen, daß das Zeitalter der Theorie auch für uns zu Ende geht.« Die Prognose vom Absterben der Denkkraft kulminiert im Denkverbot, das sich mit der Unausweichlichkeit des Geschichtsverlaufs zu legitimieren trachtet. Damit ist aber zugleich der archimedische Punkt des Spenglerschen Entwurfs erreicht. Seine geschichtsphilosophische Behauptung vom Absterben des Geistes und die 52
denkfeindlichen Konsequenzen, die daraus folgen, beziehen sich nicht bloß auf die Phase der »Zivilisation«, sondern sind Grundbestände der Spenglerschen Ansicht vom Menschen schlechthin. »Wahrheiten gibt es für den Geist; Tatsachen gibt es nur in bezug auf das Leben. Historische Betrachtung, in meiner Ausdrucksweise physiognomischer Takt: das ist die Entscheidung des Blutes, die auf Vergangenheit und Zukunft erweiterte Menschenkenntnis, der angeborene Blick für Personen und Lagen, für das, was Ereignis, was notwendig war, was dagewesen sein muß, und nicht die bloße wissenschaftliche Kritik und Kenntnis von Daten.« Entscheidend dabei ist der Begriff der Menschenkenntnis und seine Verkopplung mit der unterdessen zu sich selbst, dem verkündeten Grauen gekommenen Ideologie des Blutes. Dahinter steht implizit die Machiavellische Annahme von der Unveränderlichkeit der Menschennatur, die man nur ein für allemal, nämlich in ihrer Nichtswürdigkeit, zu kennen brauchte, um ein für allemal, in der Erwartung des Immergleichen, über sie verfügen zu können. Menschenkenntnis im prägnanten Sinn heißt Menschenverachtung: so sind sie nun einmal. Das leitende Interesse der Betrachtung ist das der Beherrschung. Auf sie sind sämtliche Kategorien zugeschnitten. Bei den Herrschern liegt alle Sympathie, und der Geschichtsphilosoph der Desillusion kann schwärmen wie nur einer der von ihm hartnäckig verhöhnten Pazifisten, wenn er auf die vermeintlich ungeheure Intelligenz und den stahlharten Willen moderner Wirtschaftsführer zu sprechen kommt. Das gesamte Bild der Geschichte wird am Ideal der Herrschaft gemessen. Die Wahlverwandtschaft mit ihr verleiht Spengler den tiefsten Blick, wann immer es sich um Potentialitäten von Herrschaft handelt, und verblendet ihn mit Haß, sobald er Regungen begegnet, die über die bisherige Geschichte als Geschichte von Herrschaftsverhältnissen hinausgehen. Die Tendenz der idealistischen deutschen Systeme, die großen Allgemeinbegriffe zu Fetischen zu erheben und ihnen ungerührt das Opfer der einzelmenschlichen Existenz in der Theorie zu bringen — jene Tendenz, der Schopenhauer, Kierkegaard und Marx an Hegel widersprachen -, ist bei Spengler zur unverhohlenen Freude an den tatsächlichen Menschenopfern gesteigert. Wo Hegels Geschichtsphilosophie in star53
rer Trauer von der Schlachtbank der Geschichte redet, sieht Spengler nichts als Tatsachen, die man zwar, nach Temperament und Anlage, bedauern könne, um die sich aber besser der nicht bekümmere, der sich in Komplizität mit der historischen Notwendigkeit befindet und dessen Physiognomik es mit den stärkeren Bataillonen hält. In seiner unbefangenen Kritik sagt James Shotwell in den >Essays in Intellectual History <: «Spenglers Interesse richtet sich auf das große und tragische Drama, das er schildert, und er verschwendet nicht viel müßige Sympathie auf die Opfer der wiederkehrenden Nacht.« Im grandios verfügenden Gestus der Spenglerschen Begriffswahl, die mit Kulturen umspringt wie mit bunten Steinen und Schicksal, Kosmos, Blut, Geist in vollendeter Gleichgültigkeit, wie das Naziwort hieß, »einsetzt« - darin spricht selber das Motiv der Herrschaft sich aus. Wer alles Erscheinende blank auf die Formel »alles schon dagewesen« abzieht, übt eben dadurch ein Gewaltregime der Kategorien aus, nur allzu nahe verwandt dem politischen, dem Spenglers Enthusiasmus gilt. Er siedelt die Geschichte in den Sparten seines Großplans an, wie Hitler die Minderheiten von einem Lande ins andere verschob. Am Ende geht die Rechnung auf. Alles ist eingeordnet, und liquidiert sind die Widerstände, die allemal nur beim Unerfaßten liegen. So unzulänglich die einzelwissenschaftliche Kritik an Spengler gewesen sein mag, hier hat sie ihre Wahrheit. Der Fata Morgana der historischen Großraumwirtschaft entzieht sich bloß das Einzelne, an dessen Starrsinn die befehlshaberische Subsumtion ihre Grenze erreicht. Zeigt Spengler einer detaillistischen Einzelwissenschaft sich überlegen durch Perspektive und Großzügigkeit der Kategorien, so ist er unterlegen zugleich durch eben diese Großzügigkeit, die erreicht wird, indem er die Dialektik von Begriff und Einzelheit niemals ehrlich austrägt, sondern umgeht durch einen Schematismus, der sich der »Tatsache« generell und ideologisch zur Niederschmetterung des Gedankens bedient, ohne ihr jemals mehr als den ersten zuordnenden Blick zu widmen. In Spenglers welthistorischer Perspektive steckt ein Element von Ostentation und Aufgeblasenheit, nicht unähnlich dem Geist der Wilhelminischen Siegesallee : nur wenn die Welt sich in eine Siegesallee verwandelt, nimmt sie die Gestalt an, die er ihr wünscht. Der Aberglaube, 54
daß die Größe einer Philosophie an ihren grandiosen Aspekten haftet, ist schlechtes idealistisches Erbe; etwa wie wenn die Qualität eines Bildes von der Erhabenheit seines Sujets abhinge. Große Themen sagen nichts über die Größe der Erkenntnis. Wenn das Wahre, wie Hegel es will, das Ganze ist, so ist es doch das Wahre nur, wenn die Kraft des Ganzen völlig in die Erkenntnis des Besonderen eingeht. Nichts davon bei Spengler. Nirgendwo offenbart ihm das Besondere, wessen die tabellarische Übersicht seiner vergleichenden Kulturmorphologie ihn nicht vorher schon versichert hätte. Seine Methode nennt sich stolz Physiognomik. In Wahrheit ist sein physiognomisches Denken an den totalen Charakter der Kategorien gebunden. Alles Einzelne und noch das Entlegene wird zur Chiffre des Großen, der »Kultur«, weil die Welt so lückenlos gedacht ist, daß für nichts Raum bleibt, was nicht seinem Wesen nach spannungslos mit jenem Großen identisch wäre. Es liegt darin ein Element von Wahrheit, insofern als die herrschaftlich organisierte Gesellschaft je und je in der Tat zu Totalitäten zusammenschießt, die dem Einzelnen keine Freiheit lassen: Totalität ist ihre logische Form. Spenglers Physiognomik hat das Verdienst, den Blick aufs »System« im einzelnen auch dort noch freizulegen, wo es mit einer Freiheit sich gibt, hinter der doch bloß die universale Abhängigkeit sich verbirgt. Aber dies Verdienst wird wettgemacht dadurch, daß die Insistenz auf der universalen Abhängigkeit der einzelnen Momente vom Ganzen, als eine Abhängigkeit der Ausdruckscharaktere von der Totalität der Kultur, in ihrer abstrakten Weite die konkreten und scharf differenzierten Abhängigkeiten verschwinden macht, die über das Leben der Menschen entscheiden. Darum spielt Spengler die Physiognomik gegen die Kausalität aus. Wenn der Typus des passiv reagierenden Massenmenschen, den Spengler beschreibt, kausalitätslos auf der gleichenEbene erscheint wie die Konzentration der Macht, die doch als Schlüsselkategorie des »Systems« und durchs System hindurch den Massenmenschen erst produziert und reproduziert, dann wird es möglich, gesellschaftliche Abhängigkeitsverhältnisse aufs Schicksal und den Stundenschlag der Kulturphasen zu nivellieren und wohl gar dem ohnmächtigen Massenmenschen metaphysisch die Schmach aufzubürden, die 55
ihm historisch von den Cäsaren angetan wird. Der physiognomische Blick verliert sich, indem er die Phänomene den wenigen Schlagzeilen der Invarianten zurechnet. Anstatt sich in die Ausdruckscharaktere der Phänomene zu versenken, beeilt sich Spengler, die lieblos zusammengerafften mit greller Reklameschrift loszuschlagen. Die Einzelwissenschaften werden von oben herab durchmustert zum Zweck des Ausverkaufs. Wollte man Spengler selbst in der Formensprache der von ihm denunzierten Zivilisation und in seiner Manier benennen, so müßte man den »Untergang des Abendlandes« einem Warenhaus vergleichen, wo die getrockneten Lesefrüchte feilgeboten werden, die der intellektuelle Disponent von der Konkursmasse der Kultur billig zusammengerafft hat. Darin steckt der erbitterte, ressentimenterfüllte Drang des mittelständlerischen deutschen Gelehrten, den Schatz seines Wissens endlich in Kapital zu verwandeln und in den meistversprechenden Zweigen der Wirtschaft - damals der Schwerindustrie - zu investieren. Die Erkenntnis von der Hilflosigkeit der liberalen Intellektuellen unterm Schatten der heraufziehenden totalitären Macht läßt ihn zum Überläufer werden. Durch Selbstdenunziation macht der Geist sich tauglich, anti-ideologische Ideologien zu liefern. Hinter der Spenglerschen Proklamation des Untergangs der Kultur steht der Wunsch als Vater des Gedankens. Der Geist, der sich verneint und auf die Seite der Gewalt stellt, hofft auf Pardon. Lessings Diktum vom Klugen, der klug genug war, nicht klug zu sein, erfüllt sich an Spengler.Die Einleitung zum Untergang des Abendlandes enthält einen Satz, der berühmt werden sollte: »Wenn unter dem Eindruck dieses Buches sich Menschen der neuen Generation der Technik statt der Lyrik, der Marine statt der Malerei, der Politik statt der Erkenntniskritik zuwenden, so tun sie, was ich wünsche, und man kann ihnen nichts Besseres wünschen.« Man mag sich nach dem Satz die Persönlichkeiten vorstellen, zu denen er respektvoll blinzelnd gesprochen ist. Spengler weiß sich mit ihnen einig in der Überzeugung, daß es Zeit ist, den jungen Leuten die Mucken endgültig auszutreiben. Es sind die gleichen Persönlichkeiten, die sich später auf Realpolitik beriefen. In der Wut auf Bilder, Gedichte und Philosophie meldet sich die tiefe Angst, daß in jenem von Spengler 56
mit schauderndem Entzücken geschilderten »geschichtslosen« Zustand, wo es keine »politischen Probleme« und vielleicht selbst keine Ökonomie mehr gibt, die Kultur, wenn sie nicht rechtzeitig untergeht, aufhören könnte, die harmlose Fassade zu sein, die Spengler herunterschlagen möchte: daß sie die Widersprüche denunziert, die im reglementierten Unterbau keine Stätte mehr haben. Die offiziell in den faschistischen Ländern gelieferte Kultur bewirkte Gelächter und Unglauben bei den von ihr Betroffenen, und viel Opposition fand ihre Zuflucht bei Büchern, in Kirchen und in den Theaterstücken der Klassiker, die man tolerierte, weil sie so klassisch sind, und die als tolerierte aufhörten, es zu sein. Spenglers Verdikt trifft unterschiedslos die offizielle Kultur und ihr Gegenteil: Expressionismus und Kino stehen im gleichen Satz. Die Undifferenziertheit des Verdikts stimmt genau zur Verfassung der Machthaber in den Diktaturstaaten, die die eigenen Lügen verachten, die Wahrheit hassen und erst ruhig schlafen können, wenn keiner mehr zu träumen wagt. Dem einzelwissenschaftlichen Widerstand steht Spengler gemeinhin, und zumal in den angelsächsischen Ländern, vor Augen als ein Metaphysiker, der mit der Willkür seiner Begriffskonstruktion die Realität vergewaltigt. Nächst den Idealisten, die von ihm den Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit verleugnet fühlen, fand er kaum gereiztere Gegner als die Positivisten. Kein Zweifel, daß seine Philosophie der Welt Gewalt antut. Aber es ist dieselbe Gewalt, die ihr täglich in Wirklichkeit angetan wird. Geschichte, so quicken Lebens voll, daß ihr der Fortschritt zu mechanistisch war, scheint dafür um so williger nach dem Spenglerschen Begriffsschema zu erfrieren. Ob eine Philosophie metaphysisch oder positivistisch ist, läßt sich ihr nicht auf den ersten Blick ansehen. Zuweilen sind die Metaphysiker bloß weiterblikkende oder weniger verängstigte Positivisten. Ist Spengler überhaupt der Metaphysiker, als den er und seine Feinde ihn betrachteten? Bleibt man formal beim Übergewicht der Begriffsbildung über den empirischen Inhalt, der Schwierigkeit oder Unmöglichkeit der Verifikation und den grob irrationalistischen Hilfsbegriffen seiner Erkenntnistheorie stehen, so ist er es gewiß. Geht man aber der Substanz dieser Begriffe nach, so führen sie allemal auf positivistische Desiderate; ins57
besondere auf den Kult der »Tatsache«. Spengler läßt keine Gelegenheit vorübergehen, ohne die Wahrheit, welchen Sinnes auch immer, zu verlästern und das, was nun einmal so und nicht anders ist, was registriert und akzeptiert werden muß, zu glorifizieren. ». . . Aber in der geschichtlichen Wirklichkeit gibt es keine Ideale; es gibt nur Tatsachen. Es gibt keine Gründe, keine Gerechtigkeit, keinen Ausgleich, kein Endziel; es gibt nur Tatsachen - wer das nicht begreift, der schreibe Bücher über Politik, aber er mache keine Politik.« Die essentiell kritische Einsicht von der Ohnmacht der Wahrheit in der bisherigen Geschichte, von der Übermacht des bloß Seienden über alle Versuche, durch Bewußtsein aus dessen Kreis auszubrechen, wird unvermerkt für Spengler zur Rechtfertigung des bloß Seienden selber. Daß was ist, was Macht hat und was sich durchsetzt, doch unrecht haben könnte, ist ein Gedanke, der ihm nicht beikommt oder vielmehr einer, den er sich und anderen krampfhaft verbietet. Wut ergreift ihn, wann immer die Stimme der Ohnmacht laut wird, und doch hat er dieser nichts zu entgegnen, als daß sie eben ein für allemal ohnmächtig sei. Hegels Lehre von der Vernünftigkeit des Wirklichen entartet zur Karikatur. Das Hegeische Pathos des sinnvollen Wirklichen und der Spott gegen den Weltverbesserer wird festgehalten, während zugleich das nackte Herrschaftsdenken der Wirklichkeit den Anspruch auf Sinn und Vernunft raubt, in dem das Hegelsche Pathos allein gründet. Vernunft und Unvernunft der Geschichte sind für Spengler das gleiche, reine Herrschaft, und Tatsache ist, worin diese sich manifestiert. Nietzsche, dessen herrischen Ton Spengler unablässig nachahmt, ohne auch nur einmal wie Nietzsche vom Einverständnis mit der Welt sich loszusagen, sagt an einer Stelle, Kant habe die Vorurteile des gemeinen Mannes gegen die Wissenschaft mit deren Mitteln verteidigt. Etwas Ähnliches gilt für Spengler. Er hat den Tatsachenglauben und die Fügsamkeit des Positivismus gegen die kritischen Widerstände der Metaphysik mit deren eigenen Waffen verfochten; er hat, ein zweiter Comte, aus dem Positivismus eine Metaphysik gemacht, aus der Unterordnung unter das Seiende die Liebe zum Schicksal, aus dem Mit-dem-Strom-Schwimmen den kosmischen Takt, aus der Sinnlosigkeit das Geheimnis, aus 58
der Verleugnung der Wahrheit die Wahrheit. Daher seine Gewalt. Spengler zählt zu jenen Theoretikern der extremen Reaktion, deren Kritik des Liberalismus der progressiven sich in vielen Stücken überlegen zeigte. Es lohnte die Mühe zu untersuchen, warum. Entscheidend sind die Differenzen im Verhältnis zur Ideologie. Die liberale erschien der historisch-dialektischen Kritik weithin als falsche Versprechung. Ihre Sprecher haben nicht die Ideen der Menschlichkeit, Freiheit, Gerechtigkeit in Frage gestellt, sondern den Anspruch der bürgerlichen Gesellschaft, die Verwirklichung dieser Ideen darzustellen. Ihnen waren die Ideologien Schein, aber doch der Schein der Wahrheit. Versöhnender Abglanz fiel damit wenn nicht aufs Bestehende, so zumindest auf dessen »objektive Tendenzen«. Die Rede vom Anwachsen der Antagonismen und das Zugeständnis der aktuellen Möglichkeit des Rückfalls in die Barbarei wurden kaum so ernst genommen, daß man die Ideologien als Schlimmeres denn apologetische Verhüllungen, nämlich als den objektiven Widersinn, erkannt hätte, der dazu hilft, die Gesellschaft der liberalen Konkurrenz in die der unmittelbaren Unterdrückung zu verwandeln. Die Frage etwa, wie gerade jene das Bestehende verändern sollten, die dessen ganze Last zu tragen haben, ist kaum gestellt worden. Begriffe wie die der Masse und der Kultur blieben positiv hingenommen, ohne daß man auch bloß ihrer Dialektik innegeworden wäre oder gar des Produziert-Werdens der spezifischen Kategorie Masse im gegenwärtigen Stadium der Gesellschaft und der gleichzeitigen Verwandlung der Kultur in ein Kontrollsystem. Daß vollends sogar die »Ideen« in ihrer abstrakten Gestalt nicht bloß die regulative Wahrheit darstellen, sondern selber an dem Unrecht kranken, unter dessen Bann sie gedacht sind, kam nicht zum Bewußtsein. Man hatte es rechts um so viel leichter, die Ideologien zu durchschauen, als man sich an der Wahrheit desinteressierte, die in falscher Form in den Ideologien enthalten ist. Wem Freiheit, Menschlichkeit und Gerechtigkeit nichts als ein Schwindel sind, den sich die Schwachen zum Schutz vor den Starken ausgedacht haben - und darin folgten die Theoretiker der deutschen Reaktion meist Nietzsche -, der vermag es recht wohl, als Anwalt der Starken auf den Widerspruch zu 59
deuten, der zwischen jenen vorweg schon verkümmerten Ideen und der Realität gilt. Die Kritik an den Ideologien überschlägt sich. Sie lebt von der Verschiebung der Einsicht in die schlechte Wirklichkeit auf die Schlechtigkeit der Ideen, die damit bewiesen sein soll, daß sie nicht verwirklicht sind. Was dieser eingängigen Kritik gleichwohl ihre Erkenntniskraft verleiht, ist ihr tiefes Einverständnis mit den Mächten, die sich durchsetzen. Spengler und seinesgleichen sind weniger die Propheten des Zuges, den der Weltgeist nimmt, als seine beflissenen Agenten. In der Form der Prognose bereits steckt das Verfügen über die Menschen als Außer-Kraft-Setzen ihrer selbst. Die Theorie, die alles von den Menschen und ihrer Aktion erwartet, die nicht mehr mit politischen »Kräfteverhältnissen« rechnet, sondern dem »Kräftespiel« ein Ende bereiten will, prophezeit nicht. Spengler sagt, es käme darauf an, in der Geschichte in weitestem Maße mit Unbekannten zu rechnen. Die Unbekannten der Menschheit sind aber gerade das, womit sich nicht rechnen läßt. Die Geschichte ist keine Gleichung, kein analytisches Urteil. Die Auffassung, sie sei das, schließt vorweg die Möglichkeit des Anderen aus. Die Spenglersche Vorhersage der Geschichte mahnt an die Mythen von Tantalus und Sisyphus und an die Sprüche des Orakels, die von alters her Böses verkünden. Er ist mehr ein Wahrsager als ein Prophet. In der gigantischen und destruktiven Wahrsagerei triumphiert der Kleinbürger. Die Morphologie der Weltgeschichte dient dem gleichen Zweck wie die Graphologie bei Klages. Im Wunsch des Kleinbürgers, aus der Handschrift, dem Vergangenen und den Karten sein Schicksal sich vorhersagen zu lassen, steckt eben, was Spengler den Opfern hämisch ankreidet: der Verzicht auf bewußte Selbstbestimmung. Er identifiziert sich mit der Macht, aber seine Theorie verrät durch ihre wahrsagerische Gestalt zugleich die Ohnmacht der Identifikation. Er ist seiner Sache so sicher wie ein Henker, nachdem die Richter ihren Urteilsspruch gefällt haben. In der geschichtsphilosophischen Weltformel verewigt sich nicht bloß die fremde, sondern auch die eigene Schwäche. Vielleicht erlaubt solche Charakteristik von Spenglers Denkweise einige prinzipiellere Überlegungen zu seiner Kri60
tik. Positivistisch ist seine Metaphysik im sich Bescheiden bei dem, was nun einmal so und nicht anders ist; im Abschneiden der Möglichkeit, im Haß gegen ein Denken, dem es mit dem Möglichen gegen das Wirkliche ernst sein könnte. Dieser Positivismus ist nun an einer entscheidenden Stelle von Spengler durchbrochen - so sehr, daß einige seiner theologischen Rezensenten ihn schließlich geradezu als Bundesgenossen glaubten reklamieren zu dürfen. Das ist Spenglers Auffassung von der bewegenden Kraft der Geschichte, vom »Seelentum«: von der rätselhaften, durchaus innerlichen, unerklärlich jeweils in die Geschichte eintretenden Beschaffenheit eines besonderen Typus Mensch oder, wie Spengler es gelegentlich nennt, einer »Rasse«. Allem Tatsachenglauben, aller relativistischen Skepsis zum Trotz wird ein metaphysisches Prinzip zur letzten Erklärung der historischen Dynamik herangezogen; ein Prinzip, das, wie Spengler oft versichert, dem Entelechiebegriff Leibnizens und damit Goethes nächstverwandt sei, »geprägte Form, die lebend sich entwickelt«. Diese Metaphysik der pflanzenhaft sich entfaltenden und absterbenden Kollektivseele hat Spengler in die Nachbarschaft der Lebensphilosophen, außer Nietzsches Simmels und des von ihm verketzerten Bergson, gerückt. Dem Taktiker Spengler ist die Rede von Seele und Leben ein willkommenes Hilfsmittel, einen Materialismus flach zu schelten, dem er doch in Wahrheit nur darum grollt, weil er ihm nicht positivistisch genug ist und die Welt anders haben möchte, als sie ist. Aber die Metaphysik des Seelentums hat weiterreichende Konsequenzen als die taktische. Man möchte von einer latenten Identitätsphilosophie reden. Weltgeschichte, so ließe übertreibend sich sagen, wird zur Stilgeschichte: die historischen Schicksale der Menschheit sind so sehr das Produkt ihrer Innerlichkeit wie die Kunstwerke. Der Mann der Tatsachen verkennt den Anteil der Lebensnot an der Geschichte. Die Auseinandersetzung des Menschen mit der Natur, wie sie die Tendenz der Naturbeherrschung hervorbringt, die sich dann in der Beherrschung von Menschen durch andere Menschen fortsetzt, tritt im Untergang des Abendlandes nicht ins Blickfeld. Spengler sieht nicht, wie sehr die historische Fatalität, auf die alles Licht der Betrachtung fällt, aus 61
dem Zwang der Auseinandersetzung mit der Natur hervorgeht. Er ästhetisiert das Bild der Geschichte. Die Wirtschaft wird ihm eine »Formenwelt« ganz wie die Kunst; eine Sphäre reinen Ausdrucks der so und nicht anders gearteten Seele, die im wesentlichen unabhängig von der Forderung nach der Reproduktion des Lebens sich konstituiere. Kein Zufall, daß Spenglers Verständnis ökonomischer Vorgänge hilflos dilettantisch bleibt. Er spricht von der Allmacht des Geldes im gleichen Tone, in dem ein kleinbürgerlicher Agitator gegen die Weltverschwörung der Börse loszieht. Er verkennt, daß für die Wirtschaft stets die Produktion maßgebend ist und nicht das Tauschmittel. Er ist so fasziniert von der Geldfassade, von der »Symbolkraft« des Geldes, daß er darüber das Symbol zur Sache selbst macht. Er sagt selbst den Arbeiterparteien in eklatantem Widerspruch zu allen Programmen nach, sie wollten die Geldwerte nicht überwinden, sondern besitzen. Sklavenwirtschaft, Industrieproletariat, Maschinenwirtschaft sind bei ihm als Kategorien nicht prinzipiell verschieden von der Plastik, der musikalischen Polyphonie oder der Infinitesimalrechnung. Sie verflüchtigen sich zu Zeichen eines bloß Inwendigen. Während die Querverbindungen zwischen den heterogenen Kategorien von Realität und Bild oftmals die Einheit historischer Epochen überraschend ins Licht setzen, entfällt dafür alles, was nicht frei und autonom dem menschlichen Ausdrucksvermögen angehört. Nur in vagen Reden von kosmischen Zusammenhängen überlebt bei Spengler, was sich nicht als Symbol auf die von ihm trotz allem Fatalismus mit Souveränität ausgestattete Menschennatur reduzieren läßt. So verstellt die schicksalsverfallene Welt der Spenglerschen Geschichtskonzeption sich in ein Reich der Freiheit. Aber sie scheint es bloß. Es bildet sich eine höchst paradoxe Konstellation. Gerade dadurch, daß ihm alles Auswendige zum Bild des Inwendigen wird, und daß es bei ihm zu einem eigentlichen Prozeß zwischen Subjekt und Objekt überhaupt nicht mehr kommt, scheint die Welt organisch aus der Seelensubstanz zu erwachsen wie die Pflanze aus dem Samen. Die Geschichte nimmt durch ihre Reduktion auf das Wesen Seele einen bruchlos gestalthaften, in sich geschlossenen, damit aber erst recht deterministischen Charakter an. Karl Joel 62
erklärt es in seiner Kritik im Spengler-Sonderheft des >Logos< für »die ganze Krankheit dieses bedeutsamen Buches, daß es den Menschen vergessen hat mit seinem Schaffen und seiner Freiheit. Bei aller Verinnerlichung entmenschlicht es die Geschichte zu einem Ablauf typischer Naturprozesse, bei aller Durchseelung verleiblicht es die Geschichte, indem es ihre >Morphologie< oder >Physiognomik< liefern will, also ihre äußeren Gestalten, ihre Ausdrucksformen, die Sonderzüge ihrer Erscheinungen vergleichen will«. Nicht bei aller Verinnerlichung jedoch wird die Geschichte entmenschlicht, sondern gerade vermöge ihrer Verinnerlichung. Natur, mit der die Menschen in der Geschichte sich auseinanderzusetzen haben, wird von Spenglers Philosophie souverän beiseite geschoben. Dafür verwandelt sich Geschichte selber in zweite Natur, blind, auswegslos und verhängnisvoll wie nur je das vegetabilische Leben. Was man Freiheit des Menschen nennen mag, konstituiert sich bloß in den menschlichen Versuchen, den Naturzwang zu brechen. Wird dieser ignoriert, wird die Welt zu einem bloßen Gebilde des reinen Menschenwesens gemacht, so geht in solcher Allmenschlichkeit der Geschichte Freiheit verloren. Sie entfaltet sich bloß am Widerstand des Seienden: wird sie absolut gesetzt und das Seelentum zum herrschenden Prinzip erhöht, so verfällt es selber dem bloßen Dasein. Die Hybris des Spenglerschen Geschichtsbildes und die Erniedrigung des Menschen, die er betreibt, sind in Wahrheit identisch. Kultur heißt nicht, wie bei Spengler, das Leben sich entfaltender Kollektivseelen, sondern entspringt im Kampf der Menschen um die Bedingungen ihrer Reproduktion.Damit enthält die Kultur ein Element des Widerspruchs gegen die blinde Notwendigkeit: den Willen, sich selbst zu bestimmen aus Erkenntnis. Spengler reißt die Kultur los von jenem Drang der Menschheit zu überleben. Sie wird ihm zu einem Spiel der Seele mit sich selber. Das Phantasma der Kultur aus bloßer Innerlichkeit aber setzt er gleich mit den realen historischen Kräften - ja mit den naturwüchsigen Kräften, weil die anderen ausgelassen sind, samt der Realität, an der sie erst sich erproben könnten. Damit aber tritt gerade der Spenglersche Idealismus in den Dienst der Machtphilosophie. Die Kultur wird der Herr63
schaft ganz immanent; der Prozeß, der aus bloßer Innerlichkeit entspringt und in bloße Innerlichkeit notwendig sich zurücknimmt, zum Schicksal, und Geschichte zersetzt sich zu jener Zeitlosigkeit im ziellosen Auf und Nieder der Kulturen, die Spengler den späten Zivilisationen nachsagt und die den Grund seines eigenen Weltplans ausmacht. Das Element an Kultur, das der Naturbefangenheit widersteht, wird eskamotiert. Reines Seelentum und reine Herrschaft sind das gleiche, so wie bei Spengler die Seele gewalttätig und unerbittlich ihre eigenen Träger beherrscht. Die reale Geschichte verklärt sich ideologisch zur Seelengeschichte, nur damit das Antithetische, sich Auflehnende am Menschen, sein Bewußtsein, der blinden Notwendigkeit um so vollkommener verfällt. Spengler hat die Affinität von absolutem Idealismus die Lehre vom Seelentum ist Schellingsches Erbe — und dämonischer Mythologie ein letztes Mal unter Beweis gestellt. An manchen exzentrischen Punkten läßt seine mythische Befangenheit sich mit Händen greifen. Die regelhafte Periodizität gewisser Ereignisse, heißt es in einer Fußnote des zweiten Bandes, »deutet wieder daraufhin, daß die kosmischen Flutungen in Gestalt des menschlichen Lebens an der Oberfläche eines kleinen Gestirns nichts irgendwie für sich Bestehendes sind, sondern mit dem unendlichen Bewegtsein des Alls in tiefem Einklang stehen. In einem kleinen, merkwürdigen Buch: R. Mewes, >Die Kriegs-und Geistesperioden im Völkerleben und Verkündigung des nächsten Weltkrieges < (1896), ist die Verwandtschaft dieser Kriegsperioden mit Perioden der Witterung, der Sonnenflecken und gewisser Planetenkonstellationen festgestellt und daraufhin ein großer Krieg für 1910-1920 angesetzt worden. Aber diese und zahllose ähnliche Zusammenhänge, die in den Bereich unserer Sinne treten, bergen ein Geheimnis, das wir zu ehren haben.« Spengler, bei all seinem Hohn für zivilisatorische Mystik, kommt in solchen Formulierungen dem astrologischen Aberglauben überaus nahe. So endet die Verherrlichung der Seele. Die Wiederkehr des Immergleichen, in der solche Schicksalslehre terminiert, ist aber nichts anderes als die immerwährende Reproduktion der Schuld von Menschen gegen Menschen. Im Begriff des Schicksals, der den Menschen selber blinder Herrschaft unterstellt, reflektiert sich die Herr64
schaft, die Menschen ausüben. Sooft Spengler von Schicksal redet, handelt es sich um die Unterwerfung einer Gruppe von Menschen durch andere. Die Seelenmetaphysik tritt zum Positivismus hinzu, um das Prinzip der unablässig sich reproduzierenden Herrschaft als ewig und unausweichlich zu hypostasieren. Die Unausweichlichkeit des Schicksals ist in Wahrheit definiert durch Herrschaft und Ungerechtigkeit selber, und das vertuscht Spenglers Weltordnung. Gerechtigkeit tritt bei ihm als verpönter Gegenbegriff zu dem des Schicksals auf. An einer der brutalsten Stellen, einer unfreiwilligen Parodie auf Nietzsche, beklagt er, »daß das Weltgefühl des Rassemäßigen, der politische und deshalb nationaleTatsachensinn-right or wrong, my country! -, der Entschluß, Subjekt und nicht Objekt der historischen Entwicklung zu sein —denn etwas Drittes gibt es nicht -, kurz, der Wille zur Macht durch eine Neigung überwältigt wird, deren Führer sehr oft Menschen ohne ursprüngliche Triebe, aber desto mehr auf Logik versessen sind, in einer Welt der Wahrheiten, Ideale und Utopien zu Hause, Büchermenschen, welche das Wirkliche durch das Logische, die Gewalt derTatsachen durch eine abstrakte Gerechtigkeit, das Schicksal durch die Vernunft ersetzen zu können glauben. Es fängt an mit den Menschen der ewigen Angst, die sich aus der Wirklichkeit in Klöster, Denkerstuben und geistige Gemeinschaften zurückziehen und die Weltgeschichte für gleichgültig erklären, und endet in jeder Kultur bei den Aposteln des Weltfriedens. Jedes Volk bringt solchen - geschichtlich betrachtet-Abfall hervor. Schon die Köpfe bilden physiognomisch eine Gruppe für sich. Sie nehmen in der >Geschichte des Geistes < einen hohen Rang ein-eine lange Reihe berühmter Namen ist darunter -, vom Standpunkt der wirklichen Geschichte aus betrachtet sind sie minderwertig.« Spengler standhalten hieße demnach, den »Standpunkt der wirklichen Geschichte«, die keine Geschichte, sondern schlechte Natur ist, geschichtlich aufzuheben und das geschichtlich Mögliche zu verwirklichen, das Spengler unmöglich nennt weil es noch nicht verwirklicht ist. In diese Zusammenhänge ist James Shotwells Kritik unbestechlich eingedrungen : »Dem Herbst ist bisher stets der Winter gefolgt, weil das Leben sich im Kreislauf wiederholte und auf dem begrenzten Raum einer autarken Wirtschaft abspielte. Der Ver65
kehr zwischen den einzelnen Gesellschaften trug eher räuberischen als stimulativen Charakter, weil von der Menschheit noch kein Mittel zur Erhaltung der Kultur gefunden worden war, das sie nicht in unverhältnismäßigem Maße von denen abhängig gemacht hätte, die keinen Anteil an ihren materiellen Segnungen hatten. Von den ersten wilden Raubzügen und der Sklaverei bis zu den industriellen Problemen unserer Tage sind alle Kulturen auf falschen wirtschaftlichen Grundlagen aufgebaut gewesen und von ebenso falschen moralischen und religiösen Spitzfindigkeiten gestützt worden. Es hat ihnen an innerem Gleichgewicht gefehlt, weil sie von der Ungerechtigkeit der Ausbeutung ausgingen. Es gibt keinen Grund zu der Annahme, daß die moderne Kultur diesen umwälzenden Rhythmus zwangsläufig wiederholen müsse.« Diese Einsicht vermag es, die ganze Spenglersche Geschichtskonzeption aufzurollen. Ist der Untergang der Antike gesetzt durch autonome Notwendigkeit im Leben und Ausdruck ihres Seelentums, dann gewinnt er in der Tat den Aspekt des Schicksals, und leicht lassen die Züge der Fatalität auf die gegenwärtige Situation sich übertragen. Ist aber, wie es im Sinn von Shotwells Sätzen liegt, der Untergang der Antike zu verstehen aus dem unproduktiven Latifundiensystem und der damit zusammenhängenden Sklavenwirtschaft, so ist das Schicksal zu meistern, wenn es gelingt, solche und ähnliche Herrschaftsformen zu überwinden, und die universale Struktur enthüllt sich als falscher Analogieschluß auf eine schlechte Einmaligkeit. Das involviert freilich mehr als den Glauben an stetigen Fortschritt und ans Überleben der Kultur. Spengler hat die Naturwüchsigkeit der Kultur mit einem Nachdruck hervorgehoben, der ein für allemal das Vertrauen in ihre versöhnende Kraft erschüttern sollte. Schlagender als fast jeder andere hat er demonstriert, wie die Naturwüchsigkeit der Kultur stets wieder zum Untergang treibt, und wie Kultur selber als Form und Ordnung verschworen ist der blinden Herrschaft, die in permanenter Krise sich und ihren Opfern gleichermaßen das Schicksal bereitet. Was Kultur ist, trägt die Spur des Todes - das zu verleugnen, bliebe ohnmächtig vor Spengler, der von den Geheimnissen der Kultur kaum weniger ausgeplaudert hat als Hitler von denen der Propaganda. 66
Um dem Zauberkreis der Spenglerschen Morphologie zu entrinnen, genügt es nicht, die Barbarei zu diffamieren und auf die Gesundheit der Kultur sich zu verlassen - eine Vertrauensseligkeit, in deren Angesicht Spengler hohnlachen könnte. Vielmehr ist das Element der Barbarei an der Kultur selber zu durchdringen. Nur solche Gedanken haben eine Chance, das Spenglersche Verdikt zu überleben, welche die Idee der Kultur nicht weniger herausfordern als die Wirklichkeit der Barbarei. Die pflanzenhafte Kulturseele Spenglers, das vitale »In-Form-Sein«, die unbewußte archaische Symbolwelt, an deren Ausdruckskraft er sich berauscht - all diese Zeugnisse selbstherrlichen Lebens sind Sendboten des Verhängnisses, wo sie wirklich in Erscheinung treten. Denn sie alle zeugen von Zwang und Opfer, die Kultur den Menschen auferlegt. Auf sie sich verlassen und den Untergang verleugnen, heißt nur ihrer tödlichen Verstrickung um so tiefer verfallen, Es heißt zugleich wiederherstellen wollen, worüber bereits Geschichte jenes Verdikt aussprach, das für Spengler das letzte bleibt, während Weltgeschichte, indem sie ihr Urteil vollstreckt, das mit Recht Verurteilte gerade in seiner Unwiederbringlichkeit ins Recht setzt. Eines ist Spenglers spähendem Jägerblick, der erbarmungslos die Städte der Menschheit durchstreift, als wären sie die Wildnis, die sie sind - eines ist diesem Jägerblick verborgen: die Kräfte, die im Verfall frei werden. »Wie scheint doch alles Werdende so krank« - der Satz des Dichters Georg Trakl transzendiert die Spenglersche Landschaft. In der Welt des gewalttätigen und unterdrückten Lebens ist Dekadenz, die diesem Leben, seiner Kultur, seiner Roheit und Erhabenheit die Gefolgschaft aufsagt, das Refugium des Besseren. Die ohnmächtig, nach Spenglers Gebot, von Geschichte beiseite geworfen und vernichtet werden, verkörpern negativ in der Negativität dieser Kultur, was deren Diktat zu brechen und dem Grauen der Vorgeschichte sein Ende zu bereiten wie schwach auch immer verheißt. In ihrem Einspruch liegt die einzige Hoffnung, es möchten Schicksal und Macht nicht das letzte Wort behalten. Gegen den Untergang des Abendlandes steht nicht die auferstandene Kultur sondern die Utopie, die im Bilde der untergehenden wortlos fragend beschlossen liegt. 67
Veblens Angriff auf die Kultur
Veblens >Theory of the Leisure Class < ist berühmt geworden durch die Lehre von der conspicuous consumption. Ihr zufolge soll der Güterkonsum von einem sehr frühen Stadium der Geschichte an, das durch das Prinzip des Beutemachens bezeichnet ist, bis heute in weitem Maße nicht der Befriedigung der wahren Bedürfnisse der Menschen dienen oder dem, was Veblen mit Vorliebe die Fülle des Lebens nennt, sondern der Aufrechterhaltung von gesellschaftlichem Prestige, von »Status«. Aus der Kritik des Güterverbrauchs als bloßer Ostentation hat er Folgerungen abgeleitet, die ästhetisch mit denen der neuen Sachlichkeit - wie sie gleichzeitig etwa von Adolf Loos formuliert wurden -, praktisch mit denen der Technokratie aufs engste sich berühren. Die historisch wirksamen Elemente von Veblens Soziologie umschreiben aber nicht zureichend die sachlichen Impulse seines Denkens. Sie richten sich gegen den barbarischen Charakter der Kultur. Der Ausdruck barbarian culture wird wie eine Opfermaske starr durch Veblens Hauptwerk hindurch immer wieder präsentiert. Schon im ersten Satz tritt er auf. Während er sich prägnant nur auf eine freilich ungemein weit gespannte Phase bezieht, die vom archaischen Jäger und Krieger bis zum Feudalherrn und absoluten Monarchen reicht und deren Schwelle gegen das kapitalistische Zeitalter absichtsvoll undeutlich gehalten wird, ist an zahllosen Stellen unverkennbar die Intention, die Moderne gerade dort, wo sie den Anspruch auf Kultur am nachdrücklichsten erhebt, als barbarisch zu denunzieren. Eben jene Züge nämlich, in welchen sie als der nackten Utilität entronnene und menschenwürdige sich gibt, sollen Relikte längst vergangener Geschichtsepochen darstellen. Die Emanzipation vom Reich der Zwecke ist ihm nichts anderes als der Index einer Zwecklosigkeit, die daher rührt, daß kulturelle »institutions« - die deutsche philosophische Sprache müßte den Veblenschen Begriff der institution etwa mit Bewußtseinsform, nicht mit »Einrichtung« übersetzen; er definiert einmal institutions als habits of thought - und anthropologische Beschaffenheiten sich nicht 68
gleichzeitig und nicht übereinstimmend mit den wirtschaftlichen Produktionsweisen verändern, sondern hinter diesen zurückbleiben und in bestimmten Perioden in offenen Widerspruch zu ihnen treten. Die Charakteristiken der Kultur, in denen Sucht nach Vorteil, Gier und Beschränkung auf die bloße Unmittelbarkeit überwunden scheinen, sind, wenn man dem Zug von Veblens Gedanken lieber als seinen zwischen Haß und Vorsicht schwankenden Formulierungen folgt, der bloße Rückstand objektiv überwundener Gestalten von Gier, Sucht nach Vorteil und schlechter Unmittelbarkeit. Sie entspringen dem Bedürfnis, den Menschen zu beweisen, daß man der Rücksicht aufs krude praktische Leben enthoben sei; insbesondere, daß man seine Zeit an Unnützes wenden könne, um eben damit seinen Standort in der sozialen Hierarchie und das Maß seiner sozialen Ehre zu erhöhen und schließlich seine Macht über andere Menschen zu befestigen. Die Wendung der Kultur gegen die Utilität geschieht um der mittelbaren Utilität willen. Kultur ist von der Lebenslüge gezeichnet. In der Verfolgung von deren Spur erweist Veblen eine Insistenz, nicht unähnlich der seines Zeitgenossen Freud in der Erforschung des »Abhubs der Erscheinungswelt«. Spazierstock und Rasen, der Schiedsrichter im Sport und die Charaktere der Haustiere werden unter Veblens trübsinnigem Blick zu verräterischen Allegorien des Barbarischen der Kultur. Um dieser Methode nicht minder als der ganzen Lehre willen ist Veblen als destruktiv, als närrisch und als Outsider diffamiert worden und hat es als Dozent in Chicago zu einem akademischen Skandal gebracht, der mit seiner Entlassung endete. Zugleich jedoch hat man seine Lehre adaptiert. Sie findet heute vielfach offizielle Anerkennung, und seine schlagende Terminologie ist wie die Freuds bis in die Tagesschriftstellerei gedrungen. Man mag darin die objektive Tendenz erkennen, einen lästigen Opponenten durch Rezeption zu entgiften. Veblens Denken widerspricht aber nicht durchaus solcher Rezeption. Es hat weniger vom Outsider, als sich ihm auf den ersten Blick anmerken läßt. Wollte man seiner geistigen Ahnenreihe nachgehen, so wären drei Quellen zu nennen. Die erste und wichtigste ist der amerikanische Pragmatismus. Veblen gehört ganz und gar dessen älterer, darwi69
nistisch gefärbter Tradition an. »The life of man in society«, beginnt das zentrale Kapitel des Hauptwerks, »just like the life of other species, is a struggle for existence, and therefore it is a process of selective adaptation. The evolution of social structure has been a process of natural selection of institutions. The progress which has been and is being made in human institutions and in human character may be set down, broadly, to a natural selection of the fittest habits of thought and to a process of enforced adaptation of individuals to an environment which has progressively changed with the growth of the Community and with the changing institutions under which men have lived.« Der Begriff der adaptation oder des adjustment steht im Mittelpunkt. Der Mensch ist dem Leben gleichwie der Versuchsanordnung eines unbekannten Laboratoriumsleiters unterworfen, und es wird von ihm die Leistung erwartet, den ihm auferlegten Bedingungen, den natürlichen und den historischen, sich so anzupassen, daß ihm die Chance des Überlebens bleibt. Die Wahrheit von Gedanken wird daran ermessen, ob sie dieser Anpassung dienen und zum Überleben der Gattung beitragen. Veblens Kritik setzt stets dort an, wo die Anpassung unvollkommen geleistet sei. Er sieht die Schwierigkeit, auf welche die Anpassungslehre im gesellschaftlichen Bereich stößt, recht wohl Er weiß, daß die Bedingungen, denen die Menschen sich anpassen müssen, zu weitem Maß selber gesellschaftlich produziert sind: daß zwischen Innen und Außen Wechselwirkung obwaltet und daß Anpassung verdinglichten Verhältnissen zugute kommen mag. Diese Einsicht treibt ihn zur ständigen Verfeinerung und Modifikation der Anpassungslehre. Aber sie erreicht kaum je den Punkt, an dem die absolute Notwendigkeit der Anpassung als solche in Frage gestellt würde. Fortschritt ist Anpassung, nichts anderes. Daß die innere Zusammensetzung dieses Begriffs und dessen Dignität bei bewußten Wesen qualitativ anders sein könnten als im blinden Naturzusammenhang, wird von ihm trotzig ignoriert. Die Übereinstimmung dieser Grundposition Veblens mit dem geistigen Klima, das ihn umgab, hat die Rezeption seiner Ketzereien erleichtert. Der spezifische Inhalt aber seiner Anpassungslehre weist auf eine zweite Quelle des älteren Positivismus zurück, auf 70
die Schule von St. Simon, Comte und Spencer. Die Welt, welcher die Menschen Veblen zufolge sich anpassen sollen, ist die Welt der industriellen Technik. Mit St. Simon und Comte vertritt er deren Suprematie. Fortschritt heißt bei ihm konkret, die Formen des Bewußtseins und des »Lebens«, als Konsumsphäre, denen der industriellen Technik angleichen. Das Mittel dazu ist das wissenschaftliche Denken. Es wird von Veblen als universale Durchführung des Kausalprinzips gegenüber animistischen Rückständen betrachtet. Kausaldenken bedeutet für ihn das Übergewicht sachlicher, regelhafter Relationen, deren Begriff am industriellen Arbeitsbegriff gewonnen ist, über personalistische und anthropomorphistische Anschauungsweisen. Insbesondere soll jeglicher Teleologiebegriff strikt ausgeschlossen bleiben. Der Vorstellung vom Geschichtsverlauf als einem langsamen und ungleichmäßigen, in sich aber ungebrochenen Fortschritt in der Anpassung an die Welt und in deren Entzauberung entspricht eine klassifikatorische Stadienlehre, nicht unähnlich der Comteschen. In deren Zusammenhang läßt Veblen zuweilen durchblicken, daß er für die kommende Phase mit der Abschaffung des Privateigentums rechnet. Damit ist auf Marx als auf die dritte Quelle verwiesen. Veblens Stellung zum Marxismus ist kontrovers. Seine Kritik ist keine Kritik der politischen Ökonomie der bürgerlichen Gesellschaft in ihren Voraussetzungen sondern eine ihres unökonomischen Lebens. Der ständige Rekurs auf Psychologie und habits of thought zur Erklärung ökonomischer Tatbestände ist mit der Marxischen objektiven Wertlehre unvereinbar. Dennoch hat Veblen von den sekundären Theorien des Marxismus seiner pragmatistischen Grundansicht soviel einverleibt, wie ihm nur erreichbar war. Dabei ist auch an den Ursprung spezifischer Prägungen, wie conspicuous waste und reversion, zu denken. Die Vorstellung eines Verbrauchs, der nicht um seiner selbst willen, sondern auf Grund als objektiv zurückgespiegelter gesellschaftlicher Qualitäten der Tauschobjekte erfolgt, ist verwandt der Marxischen Lehre vom Fetischcharakter der Ware; die These von der reversion, vomzwangshaften Rückgriff auf veraltete Bewußtseinsformen unter dem Druck ökonomischer Verhältnisse Marx zumindest verpflichtet. Der Versuch, die Antagonismen des von ihm prag71
matistisch aufgefaßten Anpassungsprozesses der Menschen zu begreifen, treibt bei Veblen wie bei Dewey dialektische Motive hervor. Sein Denken ist ein Amalgam aus Positivismus und historischem Materialismus. Mit einer solchen Formel ist nun aber zur Einsicht in den Kern seiner Theorie wenig genug geleistet. Es kommt auf die Kraft an, die j ene Motive in ihr zusammenzwingt. Veblens Grunderfahrung läßt als die der falschen Einmaligkeit sich charakterisieren. Je weiter die industrielle Massenproduktion von Gütern, die sich untereinander gleichen, und deren zentral gelenkte Verteilung getrieben wird, je weniger die technisch-ökonomische Ordnung des Lebens die an der handwerklichen Produktionsweise gebildete Individuation des hie et nunc zuläßt, um so mehr wird die Erscheinung des hie et nunc, des nicht durch unzählige andere Gegenstände seinesgleichen Substituierbaren, zur Lüge. Es ist, als verhöhne der unabdingbare und im Interesse des Absatzes unablässig verstärkte Anspruch der Dinge, jedes für sich ein Besonderes zu sein, einen Zustand der Menschheit, in dem alle der Immergleichheit unterworfen sind. Diesen Hohn kann Veblen nicht ertragen. Verbissen insistiert er darauf, die Welt möge sich in jener abstrakten Gleichheit ihrer Objekte präsentieren, die von den Verhältnissen vorgezeichnet wird. Während Veblen einer rationalen Gestaltung des Konsumlebens das Wort redet, verlangt er eigentlich nichts anderes, als daß die Massenproduktion, die den Käufer vorweg als ihr Objekt kalkuliert, in der Konsumsphäre endlich Farbe bekenne. Seitdem »deliciously different« und »quaint« selber längst zu Standardformeln der Reklame erstarrt sind, liegt Veblens Erfahrung auf der Straße. Er als erster hat sie spontan vollzogen. Er hat die falsche Individualität der Dinge erkannt, längst ehe die technische Verfahrungsweise der Individualität ihr Ende bereitete. Er hat die Lüge des Besonderen an der Unstimmigkeit der Gegenstände selber abgelesen: am Widerspruch ihrer Gestalt und ihrer Funktion. Übertreibend könnte man sagen, daß der Kitsch des neunzehnten Jahrhunderts in Gestalt des Protzentums1 ihm als Bild zukünftiger 1 Dessen ökonomischer Grund wäre zu bestimmen. Es drängt sich auf, jene Art Repräsentation aus der Notwendigkeit abzuleiten, als kreditwürdig sich darzustellen. Diese Notwendigkeit konnte auf die Kapitalknappheit während expansiver Phasen zurückweisen.
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Gewaltherrschaft aufgegangen ist. Er hat am Kitsch eine Seite gewahrt, die den ästhetischen Kritikern sich entzog, die aber wohl dazu beitragen mag, den Ausdruck des schockhaft Katastrophischen zu erklären, den so viele Architekturen und Interieurs des neunzehnten Jahrhunderts heute angenommen haben: den der Unterdrückung. Unter Veblens Blick werden die Ornamente zu Drohungen, indem sie alten Modellen von Repression sich anähneln. Nirgendwo hat er das sinnfälliger angezeigt als an einer Stelle, die der Diskussion von Wohltätigkeitsbauten gewidmet ist. »Certain funds, for instance, may have been set apart as a foundation for a foundling asylum ora retreat for invalids.The diversion of expenditure to honorific waste in such cases is not uncommon enough to cause surprise or even to raise a smile. An appreciable share of the funds is spent in the construction of an edifice facedwith some aesthetically objectionable but expensive stone, covered with grotesque and incongruous details, and designed, in its battlemented walls and turrets and its massive portals and Strategie approaches, to suggest certain barbaric methods of warfare.« Die Hervorhebung des drohenden Aspekts von Prunk und Ornamentierung steht im Dienst von Veblens Geschichtsphilosophie. Die Bilder aggressiver Barbarei, die er am Kitsch des neunzehnten Jahrhunderts, insbesondere an den dekorativen Veranstaltungen der Gründerjahre gewahrte, galten seinem Fortschrittsglauben als Relikte vergangener Epochen oder als Züge der Regression der nicht selber Produzierenden, der vom industriellen Arbeitsprozeß Ausgenommenen. Zugleich aber sind die von ihm archaisch genannten Züge die heraufdämmernden Grauens. Seine triste Innervation desavouiert seine fortschrittsfrohe Gesinnung. Ihm hat die Geschichte der Menschheit in der Antizipation von deren furchtbarster Phase sich geformt. Der Schock, den seinem Sensorium das ritterburgähnliche Findlingsheim bereitet, ist im Columbushaus, der neusachlichen Folterstätte der Nationalsozialisten, zur geschichtlichen Macht geworden. Veblen hypostasiert die totale Herrschaft. Alle Kultur der Menschheit wird ihm zur Fratze nackten Entsetzens. Es ist die Faszination durchs Unheil, welche die Ungerechtigkeit erklärt und rechtfertigt, die Veblen der Kultur widerfahren läßt. Hat heute die Kultur den Charakter der Reklame, des bloßen Kitts 73
angenommen, so ist sie bei Veblen nie etwas anderes gewesen als Reklame, als Ausstellung von Macht, Beute, Profit. In großartiger Misanthropie schiebt er alles beiseite, was darüber hinausgeht. Der Splitter in seinem Auge wird ihm zum Mittel, die Blutspuren des Unrechts noch an den Bildern des Glücks zu gewahren. Die Metropolen des neunzehnten Jahrhunderts haben die Säulen des attischen Tempels, die gotischen Kathedralen und die trotzigen Paläste der italienischen Stadtstaaten im Namen grenzenlosen Disponierens über die Menschengeschichte trugvoll versammelt. Veblen aber zahlt ihnen heim: die echten Tempel, Kathedralen und Paläste sind ihm schon so falsch wie die Imitationen. Die Weltgeschichte ist die Weltausstellung. Er erklärt die Kultur aus dem Kitsch, nicht umgekehrt. Man könnte Veblens Verallgemeinerung des Zustands, in welchem die Kultur von der Reklame verzehrt wird, nicht einfacher formulieren als Stuart Class: »People above the line of bare subsistence, in this age and all earlier ages, do not use surplus, which society has given them, primarily for useful purposes.« Für »all earlier ages« wird unterschlagen, was nicht der business culture des letzten gleicht: der Glaube an die reale Macht ritualer Veranstaltungen, das Motiv der Sexualität und ihrer Symbolik — der Sexualität geschieht in der ganzen Theory of the Leisure Class keine Erwähnung -, der künstlerische Ausdruckszwang, alle Sehnsucht, der Sklaverei der Zwecke zu entfliehen. Der pragmatistische Todfeind teleologischer Betrachtung verfährt wider Willen nach dem Schema einer satanischen Teleologie. Gröbster Rationalismus ist seinem Scharfsinn gerade gut genug, um die Allherrschaft von Fetischen übers vorgebliche Reich der Freiheit ins Licht zu rücken. Die Konkretion, welche dem Einerlei der Naturverfallenheit Einheit gebietet, pervertiert sich seiner Anklage zum Massenprodukt, das den betrügerischen Anspruch erhebt, konkret zu sein. Der böse Blick ist fruchtbar. Er trifft Phänomene, welche man verfehlt und verharmlost, solange man sie als bloße Fassade der Gesellschaft von obenher abtut, ohne bei ihnen zu verweilen. Dahin gehört der Sport. Veblen hat bündig jegliche Art von Sport, von den Kampfspielen der Kinder und den Leibesübungen der Universitäten bis zu den großen sportlichen Ostentationen, die später in den Diktaturstaaten 74
beider Spielarten blühten, als Ausbruch von Gewalt, Unterdrückung und Beutegeist charakterisiert. »These manifestations of the predatory temperament are all to be classed under the head of exploit. They are partly simple and unreflected expressions of an attitude of emulative ferocity, partly activities deliberately entered upon with a view to gaining repute for prowess. Sports of all kinds are of the same general character.« Die Sportleidenschaft ist Veblen zufolge regressiver Natur: »The ground of an addiction to sports is an archaic Spiritual constitution.« Nichts aber ist moderner als diese Archaik: die sportlichen Veranstaltungen waren die Modelle der totalitären Massenversammlungen. Als tolerierte Exzesse verbinden sie das Moment der Grausamkeit und Aggression mit dem autoritären, dem disziplinierten Innehalten von Spielregeln: legal wie die neudeutschen und volksdemokratischen Pogrome. Veblen erspürt die Affinität des sportlichen Exzesses und der manipulierenden Führerschicht : »If a person so endowed with a proclivity for exploits is in a position to guide the development of habits in the adolescent members of the Community, the influence which he exerts in the direction of conservation and reversion to prowess may be very considerable. This is the significance, for instance, of the fostering care latterly bestowed by many clergymen and other pillars of society upon >boys brigades < and similar pseudo-military organisations.« Seine Einsicht reicht darüber noch hinaus. Er erkennt den Sport als PseudoAktivität: als Kanalisierung von Energien, die anderwärts gefährlich werden könnten; als Investition sinnloser Tätigkeit mit den trugvollen Zeichen des Ernstes und der Bedeutung. Je weniger man selber mehr erwerben muß, um so mehr sieht man sich veranlaßt, den Schein seriöser, gesellschaftlich bestätigter, doch desinteressierter Tätigkeit zu erwecken. Zugleich aber entspricht der Sport dem aggressiven, praktischen Beutegeist. Er bringt die antagonistischen Desiderate von zweckmäßigem Tun und Zeitvergeudung auf die gemeinsame Formel. So wird er zum Element des Schwindels, zum make believe. Veblens Analyse wäre freilich zu ergänzen. Denn zum Sport gehört nicht bloß der Drang, Gewalt anzutun, sondern auch der, selber zu parieren und zu leiden. Einzig Veblens rationalistische Psychologie verstellt ihm das maso75
chistische Moment im Sport. Es prägt den Sportgeist nicht bloß als Relikt einer vergangenen Gesellschaftsform, sondern mehr noch vielleicht als beginnende Anpassung an die drohende neue - im Gegensatz zu Veblens Klagen, daß die »institutions« hinter dem freilich von ihm auf die Technologie beschränkten Geist der Industrie zurückgeblieben seien. Der moderne Sport, so ließe sich sagen, sucht dem Leib einen Teil der Funktionen zurückzugeben, welche ihm die Maschine entzogen hat. Aber er sucht es, um die Menschen zur Bedienung der Maschine um so unerbittlicher einzuschulen. Er ähnelt den Leib tendenziell selber der Maschine an. Darum gehört er ins Reich der Unfreiheit, wo immer man ihn auch organisiert. Minder zeitgemäß dünkt ein anderer Komplex von Veblens Kulturkritik: die sogenannte Frauenfrage. Den sozialistischen Programmen war die endliche Emanzipation der Frau so selbstverständlich, daß man seit geraumer Zeit vom Durchdenken der konkreten Stellung der Frau sich dispensierte. In der bürgerlichen Literatur vollends gilt die Frauenfrage seit Shaw für komisch. Strindberg hat sie in die Männerfrage pervertiert, so wie Hitler die Emanzipation der Juden in die Emanzipation von den Juden. Die Unmöglichkeit der Befreiung der Frau unter den herrschenden Bedingungen wird nicht diesen, sondern den Advokaten der Freiheit zur Last geschrieben und die Hinfälligkeit der emanzipatorischen Ideale, die sie der Neurose annähert, mit deren Verwirklichung verwechselt. Die vorurteilsfreie Angestellte, der die Welt recht ist, solange sie mit dem Freund ins Kino gehen kann, hat Nora und Hedda verdrängt, und wenn sie von ihnen wüßte, so würde sie ihnen in kessen Redewendungen ihre mangelnde Realitätsgerechtigkeit vorwerfen. Ihr entspricht der Mann, der von der erotischen Freiheit Gebrauch macht nur, um die Partnerin in ihrer beschränkten Willfährigkeit kalt und glücklos mitzunehmen und sie zum Dank womöglich desto zynischer zu verachten. Veblen, der vieles mit Ibsen gemein hat, ist vielleicht der letzte Denker von Rang, der sich die Frauenfrage nicht ausreden läßt. Als später Apologet der Frauenbewegung hat er die Strindbergschen Erfahrungen in sich aufgenommen. Ihm wird die Frau gesellschaftlich zu dem, was sie psychologisch sich selbst ist, zum 76
Wundmal. Er weiß von ihrer patriarchalen Erniedrigung. Ihre Stellung, die er zu den Relikten aus dem Stadium des Jägers und Kriegers rechnet, gleicht der des Dieners. Freizeit und Luxus, die ihr gelassen werden, sollen nur den Status ihres Meisters bekräftigen. Das involviert zwei einander widersprechende Konsequenzen. In einiger Unabhängigkeit von Veblens Text ließen sie etwa so sich wiedergeben: auf der einen Seite ist die Frau gerade vermöge ihrer wie sehr auch entwürdigenden Situation als »Sklavin« und Gegenstand der Ostentation dem »praktischen Leben« in gewissem Sinn entzogen. Sie ist - oder war noch zu Veblens Zeit - der wirtschaftlichen Konkurrenz nicht in gleichem Maße ausgesetzt wie der Mann. In manchen sozialen Schichten und zu manchen Epochen war sie davor geschützt, jene Qualitäten zu entwickeln, die Veblen unter die oberste Kategorie des Beutegeistesbringt.Vermöge ihrer Distanz zum Produktionsprozeß hält sie Züge fest, in denen der noch nicht ganz erfaßte, noch nicht ganz vergesellschaftete Mensch überlebt. So scheint gerade die Angehörige der Oberschicht am ehesten bestimmt, dieser den Rücken zu kehren. Dem jedoch steht eine Gegentendenz gegenüber, als deren vorwaltendes Symptom Veblen den Konservatismus der Frau designiert. Sie hat als Subjekt an der geschichtlichen Entwicklung kaum wesentlichen Anteil. Die Abhängigkeit, in der sie gehalten wird, verstümmelt sie. Das kompensiert die Chance, die das Ausgeschlossensein vom ökonomischen Wettkampf ihr gewährt. Gemessen an der geistigen Interessensphäre des Mannes, selbst noch dessen, der in der Barbarei des Erwerbs aufgeht, befinden sich, Veblen zufolge, die meisten Frauen in einem Bewußtseinszustand, den er nicht zögert, Schwachsinn zu nennen. Man könnte seinen Gedanken dahin treiben, daß die Frau der Produktionssphäre nur entronnen ist, um von der Sphäre der Konsumtion um so vollkommener aufgesaugt zu werden, gebannt in der Unmittelbarkeit der Warenwelt, so wie die Männer fixiert sind an die Unmittelbarkeit des Profits. Das Unrecht, das die männliche Gesellschaft den Frauen angetan hat, wird ihr von diesen zurückgespiegelt: sie gleichen den Waren sich an. Veblens Einsicht indiziert eine Veränderung in der Utopie der Emanzipation. Hoffnung zielt nicht darauf, daß die verstümmelten Sozialcharaktere der Frauen den ver77
stümmelten Sozialcharakteren der Männer gleich werden, sondern daß einmal mit dem Antlitz der leidenden Frau das des tatenfrohen, tüchtigen Mannes verschwindet; daß von der Schmach der Differenz nichts überlebt als deren Glück. Solche Gedanken freilich liegen Veblen fern. Sein Bild der Gesellschaft ist jener undeutlichen Rede von der Fülle des Lebens zum Trotz nicht am Glück gemessen, sondern an der Arbeit. Nur als Erfüllung des »Arbeitsinstinktes«, seiner obersten anthropologischen Kategorie tritt Glück in sein Blickfeld. Er ist ein Puritaner malgre lui-meme. Während er unermüdlich Tabus attackiert, macht seine Kritik vor der Heiligkeit der Arbeit halt. Seine Kritik hat etwas von der väterlichen Weisheit, daß die Kultur ihre eigene Arbeit nicht genug ehre, sondern vielmehr ihre vermessene Ehre am Ausgenommensein von der Arbeit, an der Muße habe. Als deren schlechtes Gewissen konfrontiert er die Gesellschaft mit ihrem eigenen Utilitätsprinzip. Er rechnet ihr vor, daß diesem zufolge Kultur Verschwendung sei und Schwindel, so irrational, daß sie Zweifel weckt an der Rationalität des Systems. Er hat etwas von dem Bürger, der die Forderung der Sparsamkeit grimmig ernst nimmt. Darüber wird ihm die ganze Kultur zum sinnlosen, protzenhaften Aufwand, wie Bankrotteure ihn betreiben.Gerade vermöge der starren Insistenz auf dem einen Motiv deckt er den Widersinn eines gesellschaftlichen Prozesses auf, der sich am Leben erhalten kann nur, indem er auf Schritt und Tritt »falsch kalkuliert« und ein Soffittenwerk von Schein und Betrug aufbaut. Aber Veblen hat selbst den Preis seiner Methode zu entrichten. Er vergötzt die Sphäre der Produktion. Es gibt bei ihm implizit etwas wie raffend und schaffend. Er unterscheidet zwei Kategorien von modernen ökonomischen »institutions: pecuniary and industrial«. Danach teilt er die Beschäftigung der Menschen ein und dann die Verhaltensweisen, die diesen Beschäftigungen entsprechen sollen. »So far as men's habits of thought are shaped by the competitive process of acquisition and tenure; so far as their economic functions are comprised within the ränge of ownership of wealth as conceived in terms of exchange value, and its management and financiering through a permutation of values; so far their experience in economic 78
life favours the survival and accentuation of the predatory temperament and habits of thought.« Indem er verfehlt, den gesellschaftlichen Prozeß als Gesamtprozeß zu verstehen, gelangt er innerhalb dieses Prozesses zu einer Scheidung produktiver und nicht produktiver Funktionen, die vorab gegen die unrationellen Verteilungsmechanismen sich kehrt. Das verrät etwa seine Rede von »that class of persons and that ränge of duties in the economic process which have to do with the ownership of enterprises engaged in competitive industry; especially those fundamental lines of economic management which are classed as financiering operations. To these may be added the greater part of mercantile occupations«. Erst im Licht dieser Distinktion wird ganz deutlich, was Veblen eigentlich gegen die leisure class einzuwenden hat. Es ist nicht so sehr der Druck, den sie ausübt, als daß, im Sinn seines eigenen puritanischen Arbeitsethos, nicht genug Druck auf ihr lastet. Er mißgönnt ihr die wie sehr auch selber verzerrte Chance des Entrinnens. Daß die wirtschaftlich Unabhängigen noch nicht ganz von den Notwendigkeiten des Lebens erfaßt sind, dünkt ihm archaisch: »An archaic habit of mind persists because no effectual economic pressure constrains this class to an adaptation of its habits of thougt to the changing Situation«: jener adaptation, wohlverstanden, der Veblen das Wort redet. Gewiß ist ihm das Gegenmotiv, das der Muße als der Voraussetzung von Humanität, nicht fremd. Aber hier setzt sich ein atheoretisches, pluralistisches Denkschema durch. Die Muße soll ihr Recht haben und die Verschwendung, aber nur »ästhetisch«. Als Ökonom will er darauf nicht sich einlassen. Man braucht den Hohn nicht zu überhören, der gerade durch solche Aufteilung aufs isoliert Ästhetische fällt. Um so eindringlicher aber wird man zu fragen haben, was bei Veblen ökonomisch eigentlich bedeutet. Es geht dabei nicht darum, wieweit seine Schriften der ökonomischen Schuldisziplin zuzurechnen sind, sondern um seinen Begriff des Ökonomischen selber. Der bleibt aber bei Veblen impliziert definiert als »profitable«. Seine Rede von ökonomisch kommt überein mit der des Geschäftsmanns, der eine unnütze Ausgabe als unökonomisch ablehnt. Der vorausgesetzte Begriff des Nützlichen und Unnützen wird nicht analysiert. Er weist nach, daß die Gesellschaft nach ihrem eigenen Maß un79
ökonomisch verfährt. Das ist viel und wenig zugleich. Viel: weil er die Unvernunft der Vernunft grell ins Licht rückt. Wenig: weil er vor der Verschränkung des Nützlichen und Unnützen versagt. Er überläßt die Frage nach dem Unnützen heteronomen, durch die Arbeitsteilung der Wissenschaften vorgegebenen Kategorien und macht sich zu einem Sparkommissar der Kultur, dessen Votum vom ästhetischen Kollegen vetiert werden könnte, anstatt den Gegensatz der Ressorts selber als Ausdruck der fetischistischen Arbeitsteilung zu erkennen. Während er als Ökonom mit der Kultur zu souverän umspringt und sie als Verschwendung vom Budget streicht, resigniert er insgeheim vor ihrem bloßen Dasein außerhalb des Budgetbereichs. Er verkennt, daß über ihr Recht oder Unrecht nicht nach der ressortmäßigen Einstellung des Fragenden, sondern nach der Erkenntnis des Zusammenhanges der Gesellschaft zu urteilen ist. Daher inhäriert seiner Kulturkritik ein Moment der Clownerie. Er möchte tabula rasa machen, den Schutt der Kultur forträumen, das Urgestein bloßlegen. Aber die Suche nach »Residuen« verfällt regelmäßig der Verblendung. Schein ist dialektisch als Widerschein der Wahrheit; was keinen Schein gelten läßt, wird erst recht dessen Opfer, indem es mit dem Schutt die Wahrheit drangibt, die anders als in diesem nicht erscheint. Veblen aber sperrt sich gegen die Motive alles dessen, wogegen seine Grunderfahrung sich kehrt. Im Nachlaß Frank Wedekinds findet sich die Bemerkung, Kitsch sei die Gotik oder der Barock unserer Zeit. Mit der darin visierten historischen Notwendigkeit des Kitsches hat Veblen es sich zu leicht gemacht. Ihm ist die falsche Ritterburg nichts als anachronistisch. Er weiß nichts von der Moderne der Regression. Ihm sind die trugvollen Bilder der Einmaligkeit in der Ära der Massenproduktion bloße Rückstände, nicht aber Repliken auf die hochindustrielle Mechanisierung, die über diese selber etwas aussagen. Die Welt jener Bilder, die Veblen als conspicuous consumption demaskiert, ist eine synthetische Bilderwelt. Sie stellt den gescheiterten, doch zwangsläufigen Versuch dar, dem Erfahrungsverlust, wie ihn die moderne Produktionsweise involviert, zu entrinnen und durch selbstgemachte Konkretion der Herrschaft des abstrakt Gleichen sich zu entziehen. Lieber wollen die Men80
sehen das Konkrete sich selber vorspiegeln als die Hoffnung von sich werfen, die daran haftet. Die Warenfetische sind nicht bloß die Projektion undurchsichtiger menschlicher Beziehungen auf die Dingwelt. Sie sind zugleich die schimärischen Gottheiten, welche das nicht im Tausch Aufgehende repräsentieren, während sie doch selber dessen Primat entsprungen sind. Von dieser Antinomie ist Veblens Denken zurückgeprallt. Sie aber gerade macht den Kitsch zum Stil. Kitsch bezeichnet nicht einfach Fehlleitung von Arbeit. Daß die synthetischen Bilder Regressionen aufs längstVergangene darstellen, bezeugt einzig seine Unmöglichkeit.Bilder, welche den Stand des technisch Möglichen und den menschlichen Anspruch aufs Konkrete zusammendächten, hat die avancierte Kunst entworfen. Ihr blieb die gesellschaftliche Rezeption versagt. Vielleicht ist es erlaubt, das Verhältnis von Fortschritt - »Moderne« - und Regression - »Archaik« — thesenhaft zu formulieren. In einer Gesellschaft, in der die Entwicklung und die Stauung der Kräfte aus dem gleichen Prinzip unabdingbar hervorgehen, bedeutet jeglicher technische Fortschritt zugleich auch eine Regression2. Veblens Rede vom barbarian normal verrät davon die Ahnung. Normal ist die Barbarei, weil sie nicht in bloßen Rudimenten besteht, sondern in gleichem Maße wie die Naturbeherrschung immerfort reproduziert wird. Diese Äquivalenz hat Veblen zu harmlos genommen. Er hat die Ungleichzeitigkeit der Ritterburg und des Bahnhofs gewahrt, nicht aber diese Ungleichzeitigkeit als geschichtsphilosophisches Gesetz. Der Bahnhof maskiert sich als Ritterburg, aber die Maske ist seine Wahrheit. Erst wenn die technische Dingwelt unmittelbar der Beherrschung dient, vermag sie es, solche Masken abzuwerfen. Erst in den totalitären Schreckensstaaten gleicht sie sich selber. 2 In der psychologischen Theorie Freuds, welche die Regression zum Produkt einer vom Ich - dem Subjekt allen »Fortschritts« - ausgeübten Zensur macht, ist objektiv etwas davon angelegt. Nur wird es nicht am »Menschen« und seiner Seele, dem Objekt der bisherigen Geschichte, bestimmbar sein, sondern am realen gesellschaftlichen Prozeß, dem bewußtlosen Subjekt, dessen Naturwüchsigkeit eben daran zutage kommt, daß es für jegliche Schöpfung den Preis der Vernichtung einsetzt. Die Doppeldeutigkeit der »Sublimierung« ist die psychologische Chiffre für die Doppeldeutigkeit des gesellschaftlichen Fortschritts, so wie das Freudsche Ökonomieprinzip, das die konstante Gleichheit von Credit und Debet im psychologischen Haushalt formuliert, nicht sowohl einen anthropologischen Ursachverhalt bezeichnet wie die Immergleichheit dessen, was bis heute sich ereignete.
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Wenn Veblen den Zwang in der modernen Archaik verkennt und die synthetischen Bilder als bloße Lebenslüge glaubt ausmerzen zu können, dann versagt er zugleich vor der gesellschaftlichen quaestio iuris von Luxus und Verschwendung, die der Weltverbesserer wie einen Auswuchs abschaffen möchte. Man könnte vom Doppelcharakter des Luxus reden. Dessen eine Seite ist die, auf welche Veblen seine Scheinwerferbatterien konzentriert: jener Teil des Sozialprodukts, der nicht menschlichen Bedürfnissen und menschlichem Glück zugute kommt, sondern vergeudet wird, um veraltete Verhältnisse aufrechtzuerhalten. Die andere Seite des Luxus ist die Verwendung von Teilen des Sozialprodukts, die weder mittelbar noch unmittelbar der Wiederherstellung verausgabter Arbeitskräfte dient, sondern den Menschen, soweit sie vom Prinzip des Nutzens nicht völlig erfaßt sind. Während Veblen diese beiden Momente des Luxus nicht explizit unterscheidet, ist es fraglos seine Intention, die erste als conspicuous consumption zu beseitigen und die zweite im Namen der fullness of life zu retten. Aber in der Blankheit dieser Intention liegt die Schwäche der Theorie. Am Luxus heute lassen faux frais und Glück nicht sich isolieren. Sie machen die in sich selber vermittelte Identität des Luxus aus. Während Glück nur dort existiert, wo Menschen intermittierend der schlechten Vergesellschaftung sich entziehen, enthält die konkrete Gestalt ihres Glücks allemal den Stand der Gesamtgesellschaft, das Negative in sich3. Man könnte Prousts Romanwerk als den Versuch deuten, diesen Widerspruch zu entfalten. So bezieht das erotische Glück sich nie auf den Menschen an sich, sondern auf den Menschen in seiner gesellschaftlichen Bestimmtheit und in seinem gesellschaftlichen Erscheinen. Benjamin hat einmal ausgespro3 Veblens Unfähigkeit, die Dialektik des Luxus zu artikulieren, kommt am schlagendsten in seiner Vorstellung vom Schönen zum Ausdruck. Er sucht das Schöne vom Aufwand, der Ostentation zu feinigen. Damit aber bringt er es um jede konkrete gesellschaftliche Bestimmtheit und fallt auf den vor-Hegelschen Standpunkt eines bloß formalen, an Naturkategorien meßbaren Schönheitsbegriffs zurück. Veblens Rede von der Schönheit ist so abstrakt, weil an keiner Schönheit das immanente Moment des Unrechts getilgt werden kann. Konsequent müßte er die Abschaffung der Kunst verlangen. Sein Pluralismus, der ein ökonomisches Prinzip der Sparsamkeit durch ein ästhetisches der Scheinlosigkeit ergänzt, entspringt dem Unvermögen zu solcher Konsequenz. Die auseinander tretenden Momente aber nähern sich in ihrer Isolierung beide der Absurdität. Wie die vollendete Zweckmäßigkeit des Schönen in unversöhnlichen Widerspruch tritt zu dessen Zwecklosigkeit, so tritt Veblens Fassung des Ökonomischen in Widerspruch zu seiner Idee einer richtigen Gesellschaft.
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chen, es sei erotisch nicht minder wichtig für den Mann, ob die Geliebte mit ihm sich zeige, als ob sie ihm sich hingebe. Veblen hätte in den Bürgerspott darüber eingestimmt und von conspicuous consumption geredet. Aber das Glück, das der Mann real findet, ist von der conspicuous consumption nicht zu trennen. Kein Glück, das nicht dem gesellschaftlich konstituierten Wunsch Erfüllung verhieße, aber auch keines, das nicht in dieser Erfüllung das Andere verspräche. Die abstrakte Utopie, die darüber sich täuscht, wird zur Sabotage am Glück und spielt dem in die Hände, was sie negiert. Denn während sie vom Glück die gesellschaftlichen Male zu tilgen unternimmt, muß sie zur Leugnung jeglichen konkreten Glücksanspruchs schreiten und den Menschen zur bloßen Funktion seiner eigenen Arbeit reduzieren. Noch der Warenfetischist, der der conspicuous consumption bis zur Obsession verfallen ist, hat an dem Wahrheitsgehalt des Glücks seinen Anteil. Während er das eigene lebendige Glück verleugnet und durch das Prestige der Dinge - Veblen spricht von social confirmation - surrogiert, offenbart er wider Willen das Geheimnis, das in allem Aufwand und aller Ostentation beschlossen liegt: daß kein individuelles Glück möglich sei, das nicht virtuell das der Gesamtgesellschaft in sich beschließt. Noch die Bosheit, die Hervorkehrung des Status und der Drang zu imponieren, in welchem unterm Prinzip der Konkurrenz das gesellschaftliche Moment am Glück unausweichlich sich durchsetzt, enthält die Anerkennung der Gesellschaft, des Ganzen als des wahren Subjekts von Glück. Die von Veblen als invidious bezeichneten Züge des Luxus, der böse Wille, reproduzieren nicht nur die Ungerechtigkeit, sondern enthalten verzerrt den Appell an Gerechtigkeit. Die Menschen sind nicht schlechter als die Gesellschaft, in der sie leben: darin liegt das Korrektiv für Veblens Menschenfeindschaft. Aber auch diese ist ein Korrektiv. Sie diffamiert den bösen Willen in seinen sublimsten Regungen, weil sie dem guten starrsinnig die Treue hält. Es ist aber die tiefste Ironie, daß diese Treue zwangshaft bei Veblen jene Gestalt annimmt, die er an der bürgerlichen Gesellschaft am unerbittlichsten verfemt: die der Regression. Ihm liegt Hoffnung nur bei der Urgeschichte der Menschheit. Alles Glück, das ihm vom Anspruch traumloser Realitäts83
gerechtigkeit, fügsamer Anpassung an die Bedingungen der industriellen Arbeitswelt versperrt ist, wird reflektiert im Bild eines paradiesischen Urzustands. »The conditions under which men lived in the most primitive stages of associated life that can properly be called human, seem to have been of a peaceful kind; and the character - the temperament and spiritual attitude - of men under these early conditions of environment and institutions seems to have been of a peaceful and unaggressive, not to say an indolent cast. For the immediate purpose this peaceable cultural stage may be taken to mark the initial phase of social development. So far as concerns the present argument, the dominant spiritual feature of this presumptive initial phase of cujture seems to have been an unreflecting, unformulated sense of group solidarity, largely expressing itself in a complacent, but by no means strenuous, sympathy with all facility of human life, and an uneasy revulsion against apprehended inhibition or futility of life.« Die Züge von Entmythologisierung und Humanität, welche die Menschheit im bürgerlichen Zeitalter aufweist, heißen bei Veblen nicht das Ihrer-selbst-Innewerden der Menschheit, sondern vielmehr der Rekurs auf diesen Urzustand. »Under the circumstances of the sheltered Situation in which the leisure class is placed there seems, therefore, to be something of a reversion to the ränge of non-invidious impulses that characterize the ante-predatory savage culture. The reversion comprises both the sense of workmanship and the proclivity to indolence and good-fellowship.« Von Karl Kraus, dem Kritiker des sprachlichen Ornaments, stammt der Vers: »Ursprung ist das Ziel.« So geht die Sehnsucht des Technokraten Veblen auf die Wiederherstellung des Ältesten: die Frauenbewegung ist ihm die blinde und brüchige Anstrengung »to rehabilitate the women's pre-glacial Standing«. Solche provokanten Formulierungen scheinen dem Tatsachensinn des Positivisten ins Gesicht zu schlagen. Aber hier eröffnet sich einer der merkwürdigsten Zusammenhänge in Veblens Theorie: der zwischen der Rousseauistischen Lehre vom Ideal des Urzustands und dem Positivismus. Als Positivist, der keine andere Norm als Anpassung gelten läßt, sieht er vor die Frage sich gestellt, warum man nicht auch nach der Gegebenheit der principles of waste, futility and ferocity sich zu 84
richten, ihnen sich anzupassen habe, die seiner Anschauung zufolge den canon of pecuniary decency ausmachten. »But why are apologies needed? If there prevails a body of popular sentiment in favour of Sports,why is not the fact a sufficient legitimation? The protracted discipline of prowess to which the race had been subjected under the predatory and quasipeaceable culture has transmitted to the man of to-day a temperament that finds gratification in these expressions of ferocity and cunning. So, why not accept these sports as legitimate expressions of a normal and wholesome human nature? What other norm is there that is to be lived up to than that given in the aggregate ränge of propensities that express themselves in the sentiments of this generation, including the hereditary strain of prowess?« Hier stößt Veblens Konsequenz, mit einem Grinsen, das Ibsen nicht fremd war, bis zu jenem Punkt vor, wo sie in Gefahr steht, vorm bloß Daseienden, vor der normalen Barbarei zu kapitulieren. Die Antwort ist überraschend : »The ulterior norm to which appeal is taken is the instinct of workmanship, which is an instinct more fundamental, of more ancient prescription, than the propensity to predatory emulation.« Das ist der Schlüssel für die Theorie des Urzustandes. Der Positivist erlaubt sich die Möglichkeit des Menschen nur zu denken, indem er sie in eine Gegebenheit verzaubert. Mit anderen Worten: in die Vergangenheit. Es gibt für ihn keine Rechtfertigung versöhnten Lebens, als daß es noch gegebener, noch positiver, noch daseiender sei als die Hölle des Daseins. Das Paradies ist die Aporie des Positivisten. Den Arbeitsinstinkt erfindet er nebenher, um Paradies und industrielles Zeitalter doch noch auf den gleichen anthropologischen Nenner zu bringen. Schon vor der Erbsünde wollten ihm zufolge die Menschen im Schweiße ihres Angesichts ihr Brot essen. Mit Theorien solcher Art, ohnmächtigen und leise sich selbst karikierenden Hilfskonstruktionen, in denen der Gedanke des Anderen mit der Anpassung ans Immergleiche zu paktieren trachtet, hat Veblen am meisten sich exponiert. Es ist leicht, den Positivisten, der ausbrechen möchte, einen Narren zu schelten. Veblens ganzes Werk ist vom Motiv des spieen durchsetzt. Es ist ein einziger Hohn auf jenen sense of proportions, den die positivistischen Spielregeln seiner Um85
weit erheischen. Er kann sich nicht genugtun in ausgeführten Analogien zwischen Gebräuchen und Einrichtungen des Sports und der Religion, oder zwischen dem aggressiven Ehrenkodex des gentleman und des Verbrechers. Er kann es sich nicht einmal versagen, die Verschwendung zeremonialer Paraphernalien ökonomisch zubeklagen, die in den religiösen Kulten erfolgt. Den Lebensreformern steht er nicht fern. Oft genug verkehrt sich ihm die Utopie der Urzeit zum billigen Glauben ans Natürliche, und er eifert gegen sogenannte Modetorheiten wie lange Röcke und Korsett - meist Attribute des neunzehnten Jahrhunderts, welche der Fortschritt des zwanzigsten weggefegt hat, ohne damit der Barbarei der Kultur Abbruch zu tun. Die conspicuous consumption wird zur fixen Idee. Um den Widerspruch zwischen dieser und dem Scharfsinn von Veblens gesellschaftlichen Analysen zu verstehen, ist von der Erkenntnisfunktion des spleen selber Rechenschaft zu geben. Gleich dem Bild des friedlichen Urzustands ist der spleen bei Veblen - und nicht bloß bei ihm eine Zufluchtsstätte der Möglichkeit. Der Betrachter, der vom spleen sich leiten läßt, macht den Versuch, die übermächtige Negativität der Gesellschaft seiner eigenen Erfahrung kommensurabel zu machen. Undurchdringlichkeit und Fremdheit des Ganzen sollen gleichsam mit den Organen ergriffen werden, während sie gerade es ist, die dem Zugriff unmittelbarer und lebendiger Erfahrung sich entzieht. Die fixe Idee ersetzt den abstrakten Allgemeinbegriff, indem sie bestimmte und begrenzte Erfahrung verhärtet und patzig festhält. Der spieen möchte dieUnverbindlichkeitundUnevidenz einer bloß vermittelten und abgeleiteten Erkenntnis des Allernächsten, nämlich des realen Leidens, korrigieren. Aber dies Leiden entspringt im umfassenden Unwesen und kann darum nur abstrakt und »vermittelt« zur Erkenntnis erhoben werden. Dagegen rebelliert der spieen. Er entwirft gleichsam Schemata des Gesprächs mit Herrn Kannitverstan. Sie versagen, weil die gesellschaftliche Entfremdung eben darin besteht, daß sie die Gegenstände der Erkenntnis dem Umkreis der unmittelbaren Erfahrung entrückt. Der Erfahrungsverlust des Subjekts in der Welt des Immergleichen, Voraussetzung der gesamten Veblenschen Theorie, bezeichnet die anthropologische Seite des seit Hegel in objektiven Katego86
rien bestimmten Entfremdungsvorgangs. Der spleen ist eine Abwehrreaktion. Stets und überall, auch schon bei Baudelaire, ist sein Gestus anklagend. Aber er denunziert die Gesellschaft in Formen der Nähe und Unmittelbarkeit, rechnet ihre Schuld den Phänomenen zu. Für die Kommensurabilität der Erkenntnis mit dem Erfahrbaren wird durch die Insuffizienz der Erkenntnis bezahlt. Darin nähert sich der spleen der kleinbürgerlichen Sekte, die das Unheil der Welt Verschwörungen von Mächten zuschreibt, während er freilich den Widersinn dessen, worauf er sich kapriziert, selber einbekennt. Wenn Veblen einem Fassadenphänomen wie dem barbarischen Aufwand wesentlich die Schuld aufbürdet, so wird gerade die Disproportionalität der These zum Element ihrer Wahrheit. Sie zielt auf einen Schock ab. Er bringt die Unangemessenheit dieser Welt und ihrer möglichen Erfahrbarkeit zum Ausdruck. Die Erkenntnis begleitet sich selber mit dem sardonischen Gelächter darüber, daß ihr eigentlicher Gegenstand ihr entschlüpft, solange siemenschlicheErkenntnis bleibt, und daß sie erst als unmenschliche der unmenschlichen Welt gewachsen wäre. Die einzige geistige Kommunikation zwischen dem objektiven System und der subjektiven Erfahrung ist die Explosion, welche beide voneinander reißt, um mit ihrer Stichflamme sekundenweise die Figur zu beleuchten, die sie mitsammen bilden. Indem diese Art Kritik die Barbarei an der nächsten Straßenecke dingfest macht, anstatt sich im allgemeinbegrifflichen Bereich zu vertrösten,hält sie gegenüber der unnaiven Theorie, vor der sie sich lächerlich macht, ein Memento fest, dessen Vernachlässigung in der Konzeption des wissenschaftlichen Sozialismus beginnt und in dem endet, was Karl Kraus Moskauderwelsch genannt hat. Die Borniertheit ist das Komplement nicht nur, sondern zuweilen die heilsame Brille, die dem allzu umfassenden weiten Blick Einhalt gebietet. Als solche bewährt sie sich bei Veblen. Sein spieen rührt her vom degoüt gegenüber dem offiziellen Optimismus eines Fortschrittsgeistes, dessen Partei er selber nimmt, soweit er mit dem common sense schwimmt. Der spleen diktiert die besondere Art seiner Kritik. Es ist die Desillusionierung, das »debunking«. Mit Vorliebe folgt er einem traditionellen Schema der Aufklärung: dem von der Religion als Pfaffenbetrug. »It is feit that the divinity must be 87
of a peculiarly serene and leisurely habit of life. And whenever his local habitation is pictured in poetic imagery, for edification or in appeal to the devout fancy, the devout wordpainter, as a matter of course, brings out before his auditors' imagination a throne with a profusion of the insignia of opulence and power, and surrounded by a great number of servitors. In the common run of such presentations of the celestial abodes, the office of this corps of servants is a vicarious leisure, their time and efforts being in great measure taken up with an industrially unproductive rehearsal of the meritorius characteristics and exploits of the divinity.« Die Art, mit der hier den Engeln die Unproduktivität ihrer Arbeit vorgeworfen wird, hat etwas von säkularisierten Flüchen, aber auch vom Witz, derverpufft. Ein abgebrühter Mann läßt sich nichts vormachen von den Fehlleistungen, Träumen und Neurosen der Gesellschaft. Sein Humor gleicht dem des Ehemanns, der die hysterische Frau zur Hausarbeit anhält, um ihrdieMucken auszutreiben. Heftet sich der spieen eigensinnig an die entfremdete Dingwelt und macht die Tücke des Objekts für die Untat der Subjekte verantwortlich, so ist die Haltung des debunking die dessen, der auf die Tücke des Objekts nicht hineinfällt. Er reißt den Objekten die ideologischen Fetzen herunter, um jene ungestörter manipulieren zu können. Seine Wut gilt dem verdammten Schwindel eher als dem schlechten Zustand. Nicht zufällig kehrt der Haß des debunking sich so gern gegen Vermittlungsfunktionen: Schwindel und Vermittlung gehören zusammen. Aber auch Denken und Vermittlung. Auf dem Grunde des debunking wohnt der Haß gegens Denken4. Die wahre Kritik der barbarischen Kultur aber könnte sich nicht damit begnügen, barbarisch die Kultur zu denunzieren. Sie müßte die offene, kulturlose Barbarei als 4 Von diesem Haß ist Veblen dem Bewußtsein nach ganz frei gewesen. Aber in seinem Kampf gegen die gesellschaftlichen Vermittlungsfunktionen ebenso wie in seiner Denunziation des »higher learning« ist der Anti-Intellektualismus objektiv angelegt. In einem debunker wie AIdous Huxley schlägt er durch. Dessen Werk ist weithin Selbstdenunziation des Intellektuellen als Schwindlers im Namen einer Ehrlichkeit, die auf die Verherrlichung der Natur hinausläuft. - Es ist wohl möglich, daß die Beschranktheit von Veblens Theorie in letzter Instanz durch die Unfähigkeit sich erklärt, die Frage der Vermittlung zu durchdenken. In seiner Physiognomie schickt sich das Zelotentum des skandinavischen Lutheraners, das keinen Vermittler zwischen der Gottheit und der Innerlichkeit zulaßt, verblendet an, in den Dienst einer Ordnung zu treten, welche die Vermittlungen zwischen der kommandierten Produktion und den Zwangskonsumenten kassiert. Beiden Haltungen, der radikal protestantischen und der staatskapitalistischen, ist der Anti-Intellektualismus gemein.
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Telos jener Kultur bestimmen und verwerfen, nicht aber krud der Barbarei den Vorrang über die Kultur zusprechen, nur weil sie nicht mehr lügt. Ehrlichkeit als Sieg des Grauens hallt wider in Formulierungen Veblens wie der von der industriellen Unproduktivität der himmlischen Heerscharen. Solche Witze appellieren an den Konformismus. Das Gelächter übers Bild der Seligkeit steht der Macht näher als jenes Bild, mag dieses auch selber noch entstellt sein von Macht und Herrlichkeit. Dennoch ist in Veblens Insistenz auf den Fakten, in der Tabuierung aller Bilder ein Gutes und Heilsames gelegen. Der Widerstand gegen das barbarische Leben ist bei ihm eingewandert in die Kraft der Anpassung an dessen unbarmherzige Notwendigkeit. Für den Pragmatisten seiner Art gibt es nicht das Ganze: keine Identität von Denken und Sein, nicht einmal den Begriff einer solchen Identität. Immer wieder kommt er darauf zurück, daß die Bewußtseinsformen und die Anforderungen der konkreten Situation für ewig unversöhnbar seien: »Institutions are products of the past process, are adapted to past circumstances, and are therefore never in füll accord with the requirements of the present. In the nature of the case, this process of selective adaptation can never catch up with the progressively changing Situation in which the Community finds itself at any given time; for the environment, the Situation, the exigencies of life which enforce the adaptation and exercise the selection, change from day to day; and each successive Situation of the Community in its turn tends to obsolescence as soon as it has been established. When a Step in the development has been taken, this step itself constitutes a change of Situation which requires a new adaptation; it becomes the point of departure for a new Step in the adjustment, and so on interminably.« Unversöhnbarkeit verbietet das abstrakte Ideal oder läßt es als kindliche Phrase erscheinen. Die Wahrheit reduziert sich auf den kleinsten Schritt. Wahr ist das Nächste, nicht das Fernste. Gegen die Forderung, das Interesse des »Ganzen« gegenüber dem wie immer verstandenen Partialinteresse zu vertreten und damit die utilitäre Befangenheit der Wahrheit zu transzendieren, kann der Pragmatist mit Grund einwenden, daß das Ganze nicht abschlußhaft gegeben, daß nur das Nächste erfahrbar, daß dar89
um das Ideal zum Fragmentarischen und zur Ungewißheit verurteilt sei. Demgegenüber reicht die Berufung auf den Unterschied des Totalinteresses einer richtigen Gesellschaft vom beschränkten Nutzeffekt nicht aus. Die bestehende und die andere Gesellschaft haben nicht zweierlei Wahrheit, sondern die Wahrheit in dieser ist untrennbar von der realen Bewegung innerhalb des Bestehenden und jedem einzelnen ihrer Momente. Daher reduziert sich der Gegensatz von Dialektik und Pragmatismus, gleich jedem echt philosophischen, auf die Nuance. Nämlich auf die Auffassung jenes nächsten Schritts. Er wird aber vom Pragmatisten als Anpassung bestimmt. Sie verewigt die Herrschaft des Immergleichen. Dialektik gäbe mit deren Sanktionierung sich selber, die Idee der Möglichkeit auf. Wie aber wäre diese zu denken, wenn sie nicht abstrakt und willkürlich sein soll, vom Schlage jener Utopie, welche die dialektischen Philosophen verfemt haben? Umgekehrt, wie vermag der nächste Schritt Richtung und Ziel zu erlangen, ohne daß das Subjekt mehr weiß als bloß das Vorgegebene? Wollte man die Kantische Frage umformulieren, sie könnte heute wohl lauten: wie ist ein Neues überhaupt möglich ? In der Zuspitzung der Frage liegt der Ernst des Pragmatisten, dem des Arztes vergleichbar, dessen Hilfsbereitschaft an der Tierähnlichkeit des Menschen ihren Kanon hat. Es ist der Ernst des Todes. Der Dialektiker aber sollte der sein, der davor nicht resigniert. Seiner Bestimmung zergeht das Entweder-Oder der diskursiven Logik. Wo dem Pragmatisten die sturen Fakten als »opaque items«, als undurchsichtiges Dies da zurückbleiben; wo sie sich nur noch klassifizieren, aber nicht erkennen lassen, sieht der Dialektiker erst seiner Erkenntnisaufgabe sich gegenüber; der, noch die phänomenalen Residuen, die »Atome« durch den Begriff aufzulösen. Nichts aber ist undurchsichtiger als die Anpassung selber, welche die Nachahmung bloßen Daseins als Maß der Wahrheit installiert. Wenn der Pragmatist den geschichtlichen Index jeglicher Wahrheit fordert, so hat seine Idee von der Anpassung selbst einen solchen Index. Es ist der, welchen Freud die Lebensnot genannt hat. Nur soweit ist der nächste Schritt einer der Anpassung, wie Mangel und Armut in der Welt herrschen. Anpassung ist die Verhaltensweise, welche der Situation des Zuwenig entspricht. Der Pragmatismus ist 90
darum befangen und eng, weil er diese Situation als ewig hypostasiert. Nichts anderes besagen seine Begriffe von Natur und Leben. Was er den Menschen wünscht, ist die »Identifikation mit dem Lebensprozeß«, ein Verhalten, das jenes perpetuiert, das die Lebewesen in der Natur führen, solange diese ihnen nicht Lebensmittel genug gewährt. Veblens Ausfälle gegen die »Geschützten«, denen es ihre bevorzugte Stellung gestatte, der Anpassung an die veränderte Situation mehr oder minder sich zu entziehen, kommt auf eine Verherrlichung des Darwinistischen Kampfes ums Dasein hinaus. Es ist aber gerade die Hypostasis der Lebensnot, die heute in ihrer gesellschaftlichen Gestalt als überholt durchsichtig wird, und zwar eben kraft jener Entwicklung der Technik, deren Stand nach Veblens Doktrin die Menschen sich anpassen sollen. So wird der Pragmatist zum Opfer der Dialektik. Der gegenwärtigen technischen Situation gerecht werden, welche den Menschen Fülle und Überfluß verspricht, heißt, sie nach dem Bedürfnis einer Menschheit einrichten, die der Gewalt nicht mehr bedarf, weil sie ihrer selbst mächtig ist. Veblen hat an einer der schönsten Stellen seines Werks den Zusammenhang zwischen der Armut und der Beharrung des Schlechten erkannt: »The abjectly poor, and all those persons whose energies are entirely absorbed by the struggle for daily sustenance, are conservative because they cannot afford the effort of taking thought for the day after to-morrow; just as the highly prosperous are conservative because they have small occasion to be discontented with the Situation as it Stands today.« Der Pragmatist aber hält, selber regressiv, am Standpunkt dessen fest, der nicht bis übermorgen - über den nächsten Schritt hinaus - denken kann, weil er nicht weiß, wovon er morgen leben soll. Er vertritt die Armut. Das ist seine Wahrheit, weil die Menschen noch zur Armut verhalten sind, und seine Unwahrheit, weil der Widersinn der Armut offenbar geworden ist. Dem heute Möglichen sich anpassen, heißt, nicht länger sich anpassen, sondern das Mögliche verwirklichen.
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Aldous Huxley und die Utopie
Die europäische Katastrophe, die ihren langen Schatten vorauswarf, hat zum ersten Male in Amerika den Typus der intellektuellen Emigration hervorgebracht. Wer im neunzehnten Jahrhundert in die neue Welt ging, den lockten die unbegrenzten Möglichkeiten; er wanderte aus, um sein Glück zu machen oder wenigstens das Auskommen zu finden, das übervölkerte europäische Länder ihm versagten. Das Interesse der Selbsterhaltung war stärker als das der Erhaltung des Selbst, und der wirtschaftliche Aufschwung der Vereinigten Staaten stand im Zeichen des gleichen Prinzips, das den Auswanderer über den Ozean trieb. Er bemühte sich um erfolgreiche Anpassung, nicht um Kritik, welche den Rechtsanspruch und die Aussicht der eigenen Anstrengung angekränkelt hätte. Beherrscht vom Kampf um die Reproduktion des Lebens, waren die Ankömmlinge weder ihrer Bildung und Vergangenheit noch ihrer Stellung im gesellschaftlichen Prozeß nach dazu angetan, von der Übergewalt des tobenden Daseins sich zu distanzieren. Soweit sie an die Umsiedlung utopische Hoffnungen knüpften, gingen diese selber auf im Horizont eines noch nicht durchmessenen Daseins, dem Märchen des Aufstiegs, der Aussicht, vom Tellerwäscher zum Millionär es zu bringen. Die Skepsis eines Besuchers wie Tocqueville, der vor hundert Jahren bereits den Aspekt der Unfreiheit an der hemmungslosen Egalität wahrnahm, blieb die Ausnahme; Auflehnung gegen das, was man im Jargon der deutschen Kulturkonservativen Amerikanismus nannte, gab es eher bei Amerikanern wie Poe, Emerson und Thoreau als bei den Neuankömmlingen. Hundert Jahre später emigrierten nicht mehr einzelne Intellektuelle, sondern die europäische intelligentsia als Schicht, keineswegs bloß die Juden. Sie wollten nicht besser leben, sondern überleben; die Möglichkeiten waren nicht länger unbegrenzt und darum das Diktat von Anpassung unerbittlich von der wirtschaftlichen Konkurrenz auf sie übertragen. Anstelle der Wildnis, die der Pionier, auch geistig, zu erschließen und an der er sich selber zu regenerieren gedenkt, ist eine Zivilisation getreten, die als 92
System das ganze Leben einfängt, ohne dem unreglementierten Bewußtsein auch nur jene Schlupflöcher zu gewähren, welche die europäische Schlamperei bis ins Zeitalter der großen Konzerne hinein offenhielt. Dem Intellektuellen von drüben wird unmißverständlich bedeutet, daß er sich als autonomes Wesen auszumerzen habe, wenn er etwas erreichen unter die Angestellten des zum Supertrust zusammengeschlossenen Lebens aufgenommen werden will. Der Renitente, der nicht kapituliert und mit Haut und Haaren sich gleichschaltet, ist preisgegeben den Schocks, welche die zu Riesenblöcken aufgetürmte Dingwelt all dem erteilt, was nicht sich selber zum Ding macht. Die Verhaltensweise aber, mit der der Intellektuelle, ohnmächtig in der Maschinerie des allseitig entwickelten und allein anerkannten Warenverhältnisses, auf den Schock reagiert, ist die Panik. Huxleys >Brave New World < ist deren Niederschlag, oder vielmehr ihre Rationalisierung. Der Roman, eine Zukunftsphantasie mit rudimentärer Handlung, versucht, die Schocks aus dem Prinzip der Entzauberung der Welt zu begreifen, es ins Aberwitzige zu steigern und die Idee von Menschenwürde der durchschauten Unmenschlichkeit abzutrotzen. Ausgangsmotiv scheint die Wahrnehmung der universalen Ähnlichkeit alles Massenproduzierten, von Dingen wie von Menschen. Die Schopenhauersche Metapher von der Fabrikware der Natur wird beim Wort genommen. Wimmelnde Zwillingsherden werden in der Retorte bereitet, ein Alptraum endlosen Doppelgängertums, wie er vom genormten Lächeln, der von der charm school gelieferten Anmut bis zum standardisierten, in den Bahnen der communication industry verlaufenden Bewußtsein Ungezählter mit der jüngsten Phase des Kapitalismus in den wachen Alltag einbricht. Das Jetzt und Hier spontaner Erfahrung, längst angefressen, wird entmächtigt: die Menschen sind nicht mehr bloß Abnehmer der von den Konzernen gelieferten Serienprodukte, sondern scheinen selber von deren Allherrschaft hervorgebracht und der Individuation verlustig. Der panische Blick, dem unassimilierbare Beobachtungen zu Allegorien der Katastrophe versteinern, durchschlägt die Illusion des harmlos Alltäglichen. Ihm wird das Verkaufslächeln der Modelle zu dem, was es ist, dem verzerrten Grinsen des Opfers. Die mehr als 93
dreißig Jahre seit dem Erscheinen des Buches haben mehr als genug verifiziert: kleine Greuel, wie daß Eignungsprüfungen für den Beruf des Liftjungen die Dümmsten ermitteln, und Schreckensvisionen wie die rationelle Verwertung der Leichen. Die Brave New World ist ein einziges Konzentrationslager, das, seines Gegensatzes ledig, sich fürs Paradies hält. Wenn, einer Lehre aus Freuds Massenpsychologie zufolge, Panik der Zustand ist, in welchem mächtige kollektive Identifikationen zerfallen und die freigesetzte Triebenergie sich in jähe Angst verwandelt, dann vermag der von Panik Ergriffene das Finstere zu innervieren, das auf dem Grunde der kollektiven Identifikation selber liegt, das falsche Bewußtsein der Einzelnen, die ohne durchsichtige Solidarität, in blinder Gebundenheit an Bilder der Macht, sich eines Sinnes mit einem Ganzen meinen, dessen Ubiquität sie erstickt. Huxley ist frei von der törichten Besonnenheit, die noch dem Ärgsten ihr gemäßigtes »Alles nicht so schlimm« abgewinnt. Er macht dem Kinderglauben, daß angebliche Auswüchse der technischen Zivilisation im unaufhaltsamen Fortschritt von selbst ausgeglichen würden, keine Zugeständnisse und verschmäht den Zuspruch, nach dem Exilierte so gern greifen: daß die beängstigenden Aspekte der amerikanischen Kultur ephemere Reste ihrer Primitivität oder kraftvolle Bürgen ihrer Jugend seien. Kein Zweifel daran wird geduldet, daß jene nicht sowohl hinter dem großen Zug der europäischen zurückblieb als vielmehr dieser vorauseilte; daß die Alte Welt beflissen der Neuen es nachtut. Wie der Weltstaat der Brave New World zwischen den Golfplätzen und biologischen Versuchsanstalten von Mombaza, London und dem Nordpol keine anderen Unterschiede mehr kennt als künstlich aufrechterhaltene, so ist der parodierte Amerikanismus die Welt. Sie soll, im Sinn des vorangestellten Mottos von Berdiajew, der Utopie gleichen, deren Verwirklichung nach dem Stand der Technik absehbar ward. Zur Hölle wird sie durch Linienverlängerung: Beobachtungen am gegenwärtigen Zustand der Zivilisation sind aus ihrer eigenen Teleologie vorgetrieben bis zur unmittelbaren Evidenz ihres Unwesens. Der Nachdruck dabei liegt weniger auf gegenständlichtechnischen und institutionellen Elementen als auf dem, was aus den Menschen werde, die Not nicht mehr kennen. Die 94
ökonomisch-politische Sphäre als solche tritt dem Gewicht nach zurück. Ausgemacht nur, daß es sich um ein durchrationalisiertes Klassensystem planetarischen Maßstabs, um lükkenlos geplanten Staatskapitalismus handelt; daß der totalen Kollektivierung totale Herrschaft entspricht; daß Geldwirtschaft und Profitmotiv fortdauern. Anstelle der drei Parolen der Französischen Revolution heißt es: Community, Identity und Stability. Community definiert einen Stand der Gemeinschaft, in dem jedes Einzelwesen unbedingt dem Funktionieren des Ganzen untergeordnet ist, nach dessen Sinn in der Neuen Welt keine Frage mehr erlaubt oder auch bloß möglich sein soll; Identity die Auslöschung individueller Differenzen, Standardisierung bis in den biologischen Grund hinein; Stability das Ende jeglicher gesellschaftlichen Dynamik. Der abgefeimt ausgewogene Zustand wird extrapoliert aus gewissen Symptomen eines Wegfalls des ökonomischen »Kräftespiels« unterm Spätkapitalismus: Perversion des Millenniums. Die Panazee, welche die gesellschaftliche Statik garantiert, ist das conditioning, ein schwer übersetzbarer Ausdruck, der von der Biologie und behavioristischen Psychologie - wo er das Hervorrufen bestimmter Reflexe oder Verhaltensweisen durch willkürliche Veränderungen der Umwelt, durch Kontrolle von »Bedingungen« bedeutet - in die amerikanische Alltagsspra che drang als Kennwort für jegliche Art wissenschaftlicher Kontrolle über Lebensbedingungen; etwa air conditioning für den maschinellen Temperaturausgleich in geschlossenen Räumen. Bei Huxley meint conditioning vollkommene Präformation des Menschen durch gesellschaftlichen Eingriff, von künstlicher Zeugung und technifizierter Bewußtseinsund Unbewußtseinslenkung im frühesten Stadium bis zum death conditioning, einem Training, das Kindern das Grauen vor dem Tod austreibt, indem ihnen Sterbende vorgeführt und sie gleichzeitig mit Süßigkeiten gefüttert werden, mit denen sie den Tod für alle Zukunft assoziieren. Der Endeffekt des conditioning, der zu sich selbst gekommenen Anpassung, ist Verinnerlichung und Zueignung von gesellschaftlichem Druck und Zwang weit über alles protestantische Maß hinaus : die Menschen resignieren dazu, das zu lieben, was sie tun müssen, ohne auch nur noch zu wissen, daß sie resignieren. 95
So wird ihr Glück subjektiv befestigt und die Ordnung zusammengehalten. Alle Vorstellungen einer bloß äußerlichen und durch Agenturen wie Familie und Psychologie vermittelten Einwirkung der Gesellschaft auf die Einzelnen sind als überholt durchschaut. Was heute schon aus der Familie ward, wird ihr in der Brave New World nochmals von oben herangetan.Als Kinder der Gesellschaft im wörtlichen Sinn befinden sich die Menschen prinzipiell nicht mehr in dialektischer Auseinandersetzung mit dieser, sondern fallen der Substanz nach mit ihr zusammen. Willfährige Exponenten der kollektiven Totalität, zu der jede Antithese eingezogen ist, sind sie im unmetaphorischen Sinne »gesellschaftlich bedingt« und nicht erst nachträglich, durch »Entwicklung«, dem herrschenden System angeglichen. Das verewigte Klassenverhältnis wird in die Biologie verlegt, indem die Zuchtdirektoren über die Zugehörigkeit zu den mit griechischen Buchstaben registrierten Kasten schon bei den Embryos entscheiden. Das niedere Volk rekrutiert sich, durch eine ingeniöse Spaltung von Zellen, aus eineiigen Zwillingen, deren physisches und geistiges Wachstum durch künstlichen Zusatz von Alkohol ins Blut unterbunden wird. Gemeint ist, daß die Reproduktion der Dummheit, wie sie vordem bewußtlos, unterm Diktat der bloßen Lebensnot sich vollzog, weil diese abgeschafft werden könnte, von der triumphalen Massenkultur in die Hand genommen wird. In der rationalen Fixierung des irrationalen Klassenverhältnisses meldet Huxley dessen Überflüssigkeit an: daß die Klassengrenze heute bereits den Charakter der »Naturwüchsigkeit« verloren habe, dessen Illusion sie in der ungesteuerten Geschichte der Menschheit hervorbrachte, daß nur noch willkürliche Selektion und Kooption, nur noch administrative Differenzierung in der Verteilung des Sozialprodukts die Fortexistenz von Klassen gewährleistet. Wenn man gar die Embryos und Kleinkinder der Unterkasten in den Brutanstalten der Brave New World knapp an Sauerstoff hält, so bereiten die Lenker eine artifizielle slum-Atmosphäre. Sie veranstalten Entwürdigung und Regression inmitten der schrankenlosen Möglichkeit. Solche vom totalitären System sowohl selbsttätig herbeigeführte wie schließlich ausgeklügelte Regression ist aber wahrhaft total. Huxley, der sich 96
auskennt, bezeichnet die Male der Verstümmelung auch an der Oberklasse: »Even alphas have been conditioned.« Noch das Bewußtsein derer, die sich etwas darauf zugute tun, individuiert zu sein, ist im Bann der Standardisierung kraft ihrer eigenen Identifikation mit der »in-group«. Automatisch geben sie unablässig die Urteile von sich, zu denen sie conditioned sind, etwa so wie ein Großbürger heute ungereizt davon plappert, daß es nicht auf die materiellen Verhältnisse, sondern auf die religiöse Wiedergeburt ankomme, oder daß er die moderne Kunst nicht verstünde. Nichtverstehen wird zur Tugend. Ein Liebespaar aus der Oberkaste fliegt bei stürmischem Wetter über den Kanal, und der Mann wünscht den Flug zu verzögern, um nicht in einer Menge, länger mit der Geliebten allein, ihr näher und mehr er selbst zu sein. Ob sie ihn denn nicht verstünde. »I don't understand anything, she said with decision, determined to preserve her incomprehension intact.« Huxleys Beobachtung nagelt nicht bloß die Rancune fest, die das Aussprechen der bescheidensten Wahrheit bei dem erregt, der sie sich nicht gestatten darf, um nicht im Gleichgewicht gestört zu werden, sondern gibt die Diagnose eines mächtigen neuen Tabus. Je meh rdas gesellschaftliche Dasein, kraft seiner Allgewalt und Geschlossenheit, den Desillusionierten zur Ideologie seiner selbst wird, um so mehr brandmarkt es den als Sünder, dessen Gedanken dagegen freveln, daß was ist, eben darum auch recht hat. Sie leben in Flugmaschinen, aber parieren dem gleich allen echten Tabus unausdrücklichen Gebot: Du sollst nicht fliegen. Den werden die Götter der Erde strafen, der über die Erde sich erhebt. Die antimythologische Vereidigung aufs Existierende stellt den mythischen Bann wieder her. Huxley demonstriert das am Sprechen. Die Idiotie des obligatorischen small talk, die Konversation als Gewäsch, wird mit Diskretion ins Äußerste verfolgt. Längst handelt es sich nicht mehr bloß um jene Spielregel, die das Gespräch als beschränkte Fachsimpelei oder unverschämte Zumutung verwehrt. Sondern der Verfall des Sprechens liegt in der objektiven Tendenz. Die virtuelle Verwandlung der Welt in Waren, die Vorentschiedenheit dessen, was gedacht und getan wird, durch die gesellschaftliche Maschinerie macht Sprechen illusorisch: es verkommt, unterm Fluch des Immergleichen, 97
zu einer Folge analytischer Urteile. Die Damen der Brave New World - und dazu bedarf es kaum einer Linienverlängerung unterhalten sich eigentlich nur noch als Konsumentinnen. Prinzipiell betrifft die Unterhaltung nichts anderes mehr, als was im Katalog der allgegenwärtigen Industrie ohnehin verzeichnet steht, Informationen über Angebotenes, sachlich überflüssig, leere Hülse des Dialogs, dessen Idee es war zu finden, was man nicht schon wußte. Bar dieser Idee wäre er reif zu verschwinden. Die vollendet Kollektivierten und unablässig Kommunizierenden müßten zugleich aller Kommunikation sich begeben und als die stummen Monaden sich bekennen, die sie insgeheim seit der bürgerlichen Frühzeit waren. Sie versinken in archaischer Unmündigkeit. Abgeschnitten sind sie vom Geist, den Huxley einigermaßen handfest den überlieferten Kulturgütern gleichsetzt und an Shakespeare exemplifiziert, und von der Natur als Landschaft, dem Bild unbesetzter Schöpfung jenseits der Gesellschaft. Der Gegensatz von Geist und Natur machte das Thema der bürgerlichen Philosophie auf ihrer Höhe aus. In der Brave New World verbinden sie sich gegen die Zivilisation, die alles antastet, nichts erträgt, was ihr nicht gliche. War die Einheit von Geist und Natur von der idealistischen Spekulation als die oberste Versöhnung konzipiert, so ist sie nun als der absolute Gegensatz zur absoluten Verdinglichung intendiert. Nur so viel Geist, spontane und autonome Synthesis des Bewußtseins, ist möglich, wie er Unerfaßtes, nicht vorweg schon kategorial Umklammertes, »Natur«, sich gegenüber hat; nur so viel Natur wie Geist, der sich als Gegensatz zur Verdinglichung weiß und diese transzendiert, anstatt sie selber in Natur zu verzaubern. Beides verschwindet: Huxley kennt den Normalbürger jüngsten Stils, der die Meeresbucht als Sehenswürdigkeit betrachtet, während er im Auto sitzen bleibt und den Reklameweisen des Radios lauscht. Dem gesellt ist Feindschaft gegen alles Vergangene: Geist selber erscheint vergangen, läppische Zutat zu den glorifizierten Tatsachen, dem je Gegebenen, und was nicht mehr da ist, wird vollends bric-äbrac und Gerumpel. Ein Ford zugeschriebenes Wort, »history is bunk«, wirft alles nicht den jüngsten industriellen Produktionsmethoden Entsprechende, schließlich jegliche 98
Kontinuität des Lebens auf den Schutthaufen. Durch solche Reduktion verkrüppeln die Menschen. Ihre Unfähigkeit, wahrzunehmen und zu denken, was nicht wie sie selber ist, die ausweglose Selbstgenügsamkeit ihres Daseins, das Diktat der reinen subjektiven Zweckmäßigkeit resultiert in der reinen Entsubjektivierung. Die wissenschaftlich hergestellten, von allem Mythos gesäuberten Subjekt-Objekte des realisierten Welt-Ungeistes sind infantil. Die halb unwillkürlichen, halb veranstalteten Rückbildungen von heutzutage werden schließlich, im Sinne der Massenkultur, zu bewußt oktroyierten Geboten für die Freizeit, zum »proper Standard of infantile decorum«, zum Gelächter der Hölle über das christliche »So ihr nicht werdet wie die Kindlein«. Schuld daran trägt der Ersatz aller Zwecke durch Mittel. Der Kult des Werkzeugs, abgespalten von jeglichem objektiven Wozu - in der Brave New World herrscht buchstäblich die einstweilen erst implizite Autoreligion, mit Ford für Lord und dem Zeichen des Modells T für das des Kreuzes; die fetischistische Liebe zur Equipierung, jene unverkennbaren Züge des Irreseins, die gerade jenen eingezeichnet sind, die auf ihren praktischen und realitätsgerechten Sinn sich etwas zugute tun, werden zur Norm des Lebens erhoben. Das gilt aber auch, wo in der Brave New World Freiheit angebrochen scheint. Huxley hat den Widerspruch visiert, daß in einer Gesellschaft, in der die sexuellen Tabus ihre innere Kraft verloren und entweder der Erlaubnis des Unerlaubten weichen oder durch hohlen Zwang fixiert werden, Lust selber verfällt zum armseligen fun und zur Gelegenheit für die narzißtische Befriedigung darüber, daß man diese oder jenen »gehabt« habe. Der Sexus wird gleichgültig durch die Institutionalisierung der Promiskuität, und noch der Ausbruch aus der Gesellschaft wird in dieser angesiedelt. Die physiologische Auslösung ist, als ein Stück Hygiene, erwünscht; der Affekt dabei, als Energievergeudung ohne gesellschaftlichen Nutzen, kassiert. Um keinen Preis darf man ergriffen sein. Die urbürgerliche Ataraxie hat sich über alles Reagieren schlechthin ausgebreitet. Indem sie den Eros ereilt, kehrt sie sich unmittelbar gegen jenes ehemals höchste Gut, subjektive Eudämonie, um dessentwillendieReinigung von den Affekten verlangt war. Sie greift in der Ekstase zugleich den Kern jeg99
licher Beziehung zwischen Menschen, das Hinausgehen über die monadologische Existenz an. Huxley erkennt das komplementäre Verhältnis von Kollektivierung und Atomisierung. Seine Darstellung der organisierten Orgiastik jedoch hat einen Unterton, der Zweifel weckt an der satirischen These. Indem diese der Unbürgerlichkeit das Bürgerliche attestiert, verfängt sie selber sich in der Bürgerlichkeit. Huxley entsetzt sich über die Nüchternen, aber ist im Innern dem Rausch feind und keineswegs bloß dem narkotischen, in dessen Verdammung er früher mit der herrschenden Ansicht übereinstimmte. Gleich dem vieler emanzipierter Engländer ist sein Bewußtsein vom selben Puritanismus präformiert, den er abschwört. Ungeschieden sind bei ihm Freigabe und Erniedrigung des Geschlechts. In seinen früheren Romanen schon erscheint die Libertinage als gleichsam lokalisierter Reiz, ohne Aura, etwa wie in sogenannten männlichen Kulturen die Herren unter sich von den Frauen und der Liebe zu reden pflegen, mit jenem Gestus, der in den Stolz über die errungene Souveränität, die Sache zu erwähnen, unweigerlich deren Geringschätzung mischt. Bei Huxley geht es sublimierter zu als bei dem Lawrence der four letter words, aber dafür ist auch gründlicher verdrängt. Seine Empörung über das falsche Glück opfert mit diesem auch die Idee des wahren. Längst ehe er zu buddhistischen Sympathien sich bekannte, verriet seine Ironie, zumal in der Selbstdenunziation des Intellektuellen, etwas vom wütenden Büßer, einem Sektierertum, wogegen sein Niveau sonst gefeit ist. Die Weltfluchtführt in dieNudistenkolonie, wo jaauch der Sexus durch seine Enthüllung ausgerottet wird. Trotz der Vorkehrungen, die Huxley trifft, um die hinter der absoluten Massenkultur zurückgebliebene Welt des »Wilden«, der als Relikt des Menschlichen in die Brave New World verschlagen wird, ebenfalls als entstellt, abstoßend und wahnhaft auszumalen, dringen reaktionäre Impulse durch. Unter den Figuren der Moderne, über welche das Anathema ergeht, befindet sich auch Freud, der an einer Stelle mit Ford gleichgesetzt ist. Er wird zum bloßen efficiency expert des Innenlebens. Allzu gemütlicher Spott kreidet ihm an, er habe als erster »the appalling dangers of family life« aufgedeckt. Aber er hat es in der Tat, und die historische Gerechtigkeit ist auf seiner 100
Seite: die Kritik der Familie als Agentur der Unterdrückung, wie sie gerade in der englischen Opposition seit Samuel Butler längst vertraut war, ist im gleichen Augenblick hervorgetreten, in dem die Familie mit ihrer ökonomischen Basis auch den letzten Rechtsausweis verloren hat, über die Entwicklung von Menschen zu bestimmen, und sich in das gleiche neutralisierte Unwesen verwandelte, das Huxley im Bereich der offiziellen Religion schneidend beim Namen ruft. Gegenüber der Ermunterung der infantilen Sexualität, die er der Zukunftswelt, übrigens in vollkommenem Mißverständnis des am Erziehungsziel des Triebverzichts nur allzu orthodox festhaltenden Freud, zuschreibt, schlägt Huxley sich auf die Seite derer, die gegen das Industriezeitalter weniger die Entmenschlichung als den Verfall der Sitten einzuwenden haben. Die abgründige dialektische Fragestellung, ob am Ende nur so viel Glück möglich sei, wie Verbote zu brechen sind, wird von der Gesinnung des Romans ins Affirmative verdorben, zur Ausrede für den Fortbestand hinfälliger Verbote mißbraucht, so als ob je das Glück, das aus der Tabuverletzung hervorgeht, das Tabu legitimieren könnte, das nicht um des Glücks, sondern um dessen Hintertreibung willen in der Welt ist. Wohl werden die regelmäßig stattfindenden Gemeinde-Orgien des Romans, der anbefohlene kurzfristige Wechsel der Partner folgerecht aus dem stumpfsinnig-offiziellen Sexualbetrieb abgeleitet, der aus der Lust einen Spaß macht und sie durch Gewährung verweigert. Aber eben darin, in der Unmöglichkeit, der Lust ins Auge zu sehen, kraft der Reflexion ihr sich ganz zu überlassen, wirkt das uralte Verbot fort, dem Huxley voreilig nachtrauert. Wäre es durchbrochen, wäre die Lust den Zügel des Institutionellen los, der auch in der orgy-porgy sie bändigt, so löste mit ihrer Totenstarre sich die Brave New World. Deren oberster Moralgrundsatz soll sein, daß jeder jedem gehört, die absolute Fungibilität, die den Menschen als Einzelwesen auslöscht, sein letztes An sich als Mythologie liquidiert und ihn als bloßes Für anderes und damit, im Sinne Huxleys, als nichtig bestimmt. In dem nach dem Kriege hinzugefügten Vorwort zur amerikanischen Ausgabe hat Huxley die Verwandtschaft jenes Prinzips mit der Sadeschen Enunziation entdeckt, daß zu den Menschen101
rechten die absolute sexuelle Verfügung aller über alle gehöre. Darin erblickt er die Vollendung der Narrheit folgerechter Vernunft. Aber er verkennt die Unvereinbarkeit der verketzerten Maxime mit seinem Zukunftsweltstaat. Alle Diktaturen haben die Libertinage verfemt, und Himmlers vielberufene SS-Gestüte waren ihr staatsfrommes Widerspiel. Herrschaft wäre geradezu definierbar als Verfügung der einen über die anderen, nicht als totale Verfügung aller über alle. Diese wäre mit keiner totalitären Ordnung zusammenzudenken. Das bezöge sich weit mehr noch als auf den Zustand sexueller Anarchie aufs Arbeitsverhältnis. Die nur noch Für anderes seienden Menschen, das absolute wären zwar ihres Selbst entäußert, aber auch dem Bann der Selbsterhaltung entronnen, der die Brave New World wie die alte zusammenhält. Reine Fungibilität zersetzte den Kern von Herrschaft und verspräche die Freiheit. Es ist die Schwäche der gesamten Konzeption Huxleys, daß sie zwar all ihre Begriffe rücksichtslos dynamisiert, zugleich jedoch ängstlich vorm Übergang in ihr eigenes Gegenteil behütet. Die scène à faire des Romans ist der erotische Zusammenstoß der beiden »Welten«; der Versuch der Heldin Lenina, des Typus der gepflegten und wohlgeratenen amerikanischen »career woman«, den »Wilden«, der sie liebt, nach den Spielregeln pflichtgemäßer Promiskuität zu verführen. Ihr Gegenspieler entspricht dem scheuen, ästhetischen Jüngling, an die Mutter gebunden und triebgehemmt, der sein Gefühl lieber betrachtend genießt als ausdrückt und an der lyrischen Verklärung der Geliebten sein Genügen findet; ein Charakter übrigens, der in Oxford und Cambridge kaum weniger gezüchtet wird als die Epsilons in der Retorte, und der denn auch zu den sentimentalen Requisiten des neueren englischen Romans gehört. Der Konflikt entsteht dadurch, daß John die sachliche Selbstpreisgabe des schönen Mädchens als Herabwürdigung seines sublimen Gefühls für sie empfindet und davonläuft. Die Überzeugungskraft der Szene kehrt sich gegen ihr thema probandum. Die künstliche Anmut und zellophanhafte Schamlosigkeit Leninas macht keineswegs den unerotischen Effekt, der ihr zugewiesen wird, sondern einen überaus verlockenden, dem selbst der entrüstete Kulturwilde am Ende des Romans erliegt. 102
Wäre sie die imago der Brave New World, so verlöre diese das Grauen. Wohl ist jede ihrer Gebärden gesellschaftlich präformiert, Teil eines konventionellen Rituals. Aber indem sie bis zum Kern mit der Konvention eins ist, zergeht die Spannung des Konventionellen und der Natur, und damit die Gewalt, welche das Unrecht der Konvention ausmacht: psychologisch ist das schlecht Konventionelle immer Mal einer mißlungenen Identifikation. Wie sein Gegensatz würde der Begriff der Konvention selbst hinfällig. Durch die totale gesellschaftliche Vermittlung stellte gleichsam von außen nach innen zweite Unmittelbarkeit, Humanität sich her. Es fehlt nicht an solchen Ansätzen in der amerikanischen Zivilisation. Huxley aber konstruiert Humanität und Verdinglichung in starrem Gegensatz, einig mit der gesamten Romantradition, die den Konflikt des lebendigen Menschen mit versteinerten Verhältnissen zum Gegenstand hat. Er verkennt das humane Versprechen der Zivilisation, weil er vergißt, daß Humanität wie den Gegensatz zur Verdinglichung auch diese selber in sich einschloß, nicht bloß als antithetische Bedingung des Ausbruchs, sondern positiv, als die wie immer brüchige und unzulängliche Form, welche die subjektive Regung verwirklicht einzig, indem sie sie objektiviert. Alle die Kategorien, aufweiche das Licht des Romans fällt, Familie, Elternschaft, der Einzelne samt seinem Besitz, sind bereits Produkte der Verdinglichung. Huxley verhängt diese als Fluch über die Zukunft, ohne am Segen des Vergangenen, den er anruft, des gleichen Wesens innezuwerden. So wird er zum unfreiwilligen Sprecher jener nostalgia, deren Affinität zur Massenkultur sein physiognomischer Blick so durchdringend wahrnimmt in dem Song über die Retorte: »Bottle ofmine, it's you I've always wanted! Bottle of mine, why was I decanted? . . . There ain't no Bottle in all the world Like that dear Bottle of mine.« Der Ausbruch des »Wilden« gegen die Geliebte ist denn auch nicht sowohl, wie vielleicht intendiert, der Protest reiner Menschennatur gegen die kalte Frechheit der Mode, sondern die poetische Gerechtigkeit gestaltet ihn als Aggression eines Neurotikers, dem der von Huxley schlecht behandelte Freud leicht verdrängte Homosexualität als Motiv der krampfhaften Reinheit vorhalten könnte. Er schimpft auf 103
die Dirne wie der Hypokrit, der bebt vor Wut gegen das, was er sich selber verbieten muß. Indem Huxley ihn ins Unrecht setzt, distanziert er sich von der Gesellschaftskritik. Ihr eigentlicher Träger im Roman ist der »Alpha plus« Bernard Marx, der gegen das eigene conditioning rebelliert, eine skeptisch mitfühlende Judenkarikatur. Daß die Juden als nicht ganz Angepaßte verfolgt werden und daß eben darum ihr Bewußtsein zuweilen übers Gesellschaftssystem hinausreicht, ist Huxley vertraut. Er verdächtigt nicht die Authentizität von Bernards kritischer Einsicht. Aber diese wird selber bloß einer Art von Organminderwertigkeit, dem unvermeidlichen inferiority complex zugeschrieben, und zugleich wird der radikale jüdische Intellektuelle, nach bewährten Mustern, des vulgären Snobismus, schließlich der schmählichen moralischen Feigheit bezichtigt. Seit Ibsens Erfindung von Gregers Werle und Stockmann, eigentlich seit Hegels Geschichtsphilosophie, hat die bürgerliche Kulturpolitik im Namen einer die Totalität überschauenden, abwägenden Gesinnung den, der es anders möchte, als das echte Kind und zugleich die Mißgeburt des Ganzen, dem er widerstrebt, entblößt, und darauf bestanden, daß, sei's gegen ihn, sei's durch ihn hindurch, die Wahrheit doch allemal mit dem Ganzen sei. Damit solidarisiert sich der Romancier Huxley, während der Kulturprophet die Totalität verabscheut. Wohl richtet Gregers Werle die zugrunde, die er retten will, und von der Eitelkeit Bernard Marxens ist keiner frei, der, indem er über die Dummheit sich erhebt, zugleich klüger sich vorkommt. Aber der von außen die Phänomene unbeteiligt, frei, überlegen abschätzende Blick, der über die Beschränktheit der Negation, den Austrag der Dialektik sich zu erheben meint, ist eben darum weder der von Wahrheit noch von Gerechtigkeit. Diese sollte nicht sowohl die Unzulänglichkeit des Besseren auskosten, um es vorm Schlechten zu kompromittieren, als aus jener Unzulänglichkeit zusätzliche Kraft für die Empörung ziehen. Zu der Geringschätzung der Kräfte der Negativität um ihrer Ohnmacht willen schickt sich die Kraftlosigkeit des Positiven, das als absolut gegen die Dialektik zitiert wird. Wenn der »Wilde«, in dem entscheidenden Gespräch mit dem world Controller Mond, erklärt, »what you need is something with 104
tears for a change«, so ist die absichtlich schnoddrig vorgebrachte Exaltation des Leidens keine bloße Charakteristik des verrannten Individualisten, sondern beschwört die christliche Metaphysik, die Erlösung in der Nachfolge einzig kraft des Leidens verheißt. Da jene jedoch im trotz allem durch und durch aufgeklärten Bewußtsein des Romans nicht mehr sich hervortraut, so wird der Kultus des Leidens zum absurden Selbstzweck, dem Gehabe eines Ästhetizismus, dessen Bündnis mit den finsteren Mächten Huxley kaum verborgen sein kann; das Nietzschesche »Lebe gefährlich«, das der »Wilde« gegen den resigniert hedonistischen Weltkontrolleur anmeldet, war als Parole dem totalitären Mussolini, selber so einem Weltkontrolleur, gerade recht. An einer Stelle, in der Erörterung einer vom Weltkontrolleur unterdrückten biologischen Schrift, tritt der allzu positive Kern des Romans unbefangen ans Licht. Es ist »the sort of idea that might easily de-condition the more unsettled minds among the higher castes - make them lose their faith in happiness as the Sovereign Good and take to believing instead, that the goal was somewhere beyond, somewhere outside the present human sphere; that the purpose of life was not the maintenance of well-being, but some intensification and refining of consciousness, some enlargement of knowledge.« So blaß und verdünnt, auch gewitzigt vorsichtig das Ideal formuliert wird, es entgeht darum doch nicht der Widersprüchlichkeit. »Intensification and refining of consciousness« oder »enlargement of knowledge« hypostasiert umstandslos den Geist gegenüber der Praxis und der Erfüllung materieller Bedürfnisse. Wie jedoch aller Geist seinem Sinn nach den gesellschaftlichen Lebensprozeß und zumal die Arbeitsteilung voraussetzt; wie alles Geistige als auf seine »Erfüllung« auf Daseiendes bezogen, implizit auch eine Anweisung auf Praxis ist, so heißt es den arbeitsteiligen und gespaltenen Zustand ideologisch verewigen, wenn der Geist zu den materiellen Bedürfnissen in unbedingten, zeitlosen Gegensatz gerückt wird. Nichts Geistiges, nicht der weltflüchtigste Traum ward je konzipiert, dessen Gehalt nicht auch die Veränderung der materiellen Realität objektiv in sich begriffe. Kein Affekt, kein Inwendiges, das nicht endlich Auswendiges meinte und, bar solcher wie sehr auch 105
sublimierten Intention, zum bloßen Schein, zur Unwahrheit verdürbe. Noch die selbstvergessene Leidenschaft von Romeo und Julia, aus der Huxley etwas wie einen »Wert« macht, ist kein autarkisches An sich, sondern wird geistig, mehr als bloßes Schauspiel der Seele, indem sie über den Geist hinausweist auf die körperliche Vereinigung. Huxley verrät diese an die Sehnsucht, welche sie bedeutet. Denn untrennbar ist die Schönheit von »Es war die Nachtigall und nicht die Lerche« von der Symbolik des Geschlechts. Das Tagelied um seiner Transzendenz willen verherrlichen, ohne dieser anzuhören, daß sie gerade als Transzendenz nicht in sich ruht, sondern gestillt werden will, wäre so leer wie die physiologisch abgezirkelte Sexualität der Brave New World, die den Zauber tötet, der sich nicht um seiner selbst willen konservieren läßt. Die Schmach heute ist nicht das Überwiegen der sogenannten materiellen Kultur über die geistige: in der Klage darüber fände Huxley unwillkommene Genossen, die Arch-Community-Songsters aller neutralisierten Denominationen und Weltanschauungen. Anzugreifen wäre die gesellschaftlich diktierte Trennung des Bewußtseins von seiner gesellschaftlichen Verwirklichung, an der es doch sein Wesen hätte. Gerade der Chorismos zwischen Geistigem und Materiellem, den Huxleys philosophia perennis aufrichtet, der Ersatz des »faith in happiness« durch ein unbestimmbar abstraktes »goal somewhere beyond« bekräftigt den verdinglichten Zustand, dessen Symptome ihm unerträglich sind, die Neutralisierung der vom materiellen Produktionsprozeß abgespaltenen Kultur. »Wenn zwischen materiellen und ideellen Bedürfnissen schon einmal ein Unterschied gemacht wird«, formulierte einmal Horkheimer, »so muß man zweifellos auf der Erfüllung der materiellen bestehen, denn in dieser Erfüllung ist . . . die gesellschaftliche Änderung mitgesetzt. Sie schließt sozusagen die richtige Gesellschaft ein, die allen Menschen möglichst gute Lebensbedingungen gewährt. Das ist mit der schließlichen Ausschaltung der schlechten Herrschaft identisch. Die Betonung der isolierten, ideellen Forderung aber führt zu wirklichem Unsinn. Man kann nicht das Recht auf Sehnsucht, auf das transzendente Wissen, auf das gefährliche Leben geltend machen. Der Kampf gegen die Massen106
kultur kann einzig im Nachweis des Zusammenhangs zwischen ihr und dem Fortgang des sozialen Unrechts bestehen. Es ist lächerlich, dem Kaugummi vorzuhalten, daß er den Hang zur Metaphysik beeinträchtige, aber es ließe sich wahrscheinlich zeigen, daß die Gewinne Wrigleys und sein Palast in Chicago in der gesellschaftlichen Funktion begründet waren, die Menschen mit den schlechten Verhältnissen zu versöhnen, sie von ihrer Kritik abzubringen. Nicht daß der Kaugummi der Metaphysik schadet, sondern daß er im Gegenteil selbst Metaphysik ist, gilt es klarzumachen. Wir kritisieren die Massenkultur nicht deshalb, weil sie den Menschen zuviel gibt oder ihr Leben zu sicher macht - das überlassen wir der lutherischen Theologie -, sondern weil sie dazu hilft, daß die Menschen zu wenig und zu Schlechtes bekommen, daß ganze Schichten drinnen und draußen in furchtbarem Elend leben, daß die Menschen sich mit dem Unrecht abfinden, daß sie die Welt in einem Zustand festhält, bei dem man einerseits gigantische Katastrophen, andererseits die Verschwörung abgefeimter Eliten zu einem dubiosen Friedenszustand zu gewärtigen hat.« Huxley setzt der Sphäre der Bedürfnisbefriedigung korrektiv eine andere entgegen, die jener verdächtig ähnlich sieht, welche das Bürgertum die höhere zu nennen pflegt. Dabei geht er von einem invarianten, gleichsam biologischen Begriff von Bedürfnis aus. Aber jegliches menschliche Bedürfnis ist in seiner konkreten Gestalt historisch vermittelt. Die Statik, welche die Bedürfnisse heute scheinbar angenommen haben, ihre Fixierung auf die Reproduktion des Immergleichen, ist selber bloß der Reflex auf die materielle Produktion, die mit der Eliminierung von Markt und Konkurrenz bei gleichzeitigem Fortbestand der Eigentumsverhältnisse stationären Charakter annimmt. Mit dem Ende dieser Statik wird das Bedürfnis völlig anders aussehen. Wenn die Produktion unbedingt, schrankenlos sogleich auf die Befriedigung der Bedürfnisse, auch und gerade der vom bislang herrschenden System produzierten, umgestellt wird, werden sich eben damit die Bedürfnisse selbst entscheidend verändern. Die Undurchdringlichkeit von echtem und falschem Bedürfnis gehört wesentlich zur gegenwärtigen Phase. In ihr bilden die Reproduktion des Lebens und dessen Unterdrückung 107
eine Einheit, die zwar als Gesetz des Ganzen, doch nicht im einzelnen durchschaubar ist. Einmal wird sich rasch genug zeigen, daß die Menschen den Schund, den die Kulturindustrie, und die jämmerliche Erstklassigkeit, die ihnen die handfestere liefert, nicht brauchen. Der Gedanke etwa, das Kino sei neben Wohnung und Nahrung zur Reproduktion der Arbeitskraft notwendig, ist »wahr« nur in einer Welt, welche die Menschen auf die Reproduktion der Arbeitskraft zurichtet und ihre Bedürfnisse zur Harmonie mit dem Interesse von Angebot und gesellschaftlicher Kontrolle zwingt. Die Vorstellung, daß eine emanzipierte Gesellschaft nach der schlechten Schauspielerei von Lametta oder den schlechten Suppen von Devory schreie, ist absurd. Je besser die Suppe, um so lustvoller der Verzicht auf Lametta. Ist der Mangel verschwunden, so wird die Relation von Bedürfnis und Befriedigung sich verändern. Heute ist der Zwang, fürs Bedürfnis in seiner durch den Markt vermittelten und dann eingefrorenen Form zu produzieren, eines der Hauptmittel, alle bei der Stange zu halten. Es darf nichts gedacht, geschrieben, getan und gemacht werden, was über einen Zustand hinausginge, der sich weitgehend durch die Bedürfnisse der ihr Ausgelieferten hindurch an der Macht hält. Unvorstellbar, daß der Zwang zur Bedürfnisbefriedigung in einer veränderten Gesellschaft als Fessel fortwirkte. Die gegenwärtige Gesellschaft hat den ihr immanenten Bedürfnissen weithin die Befriedigung versagt, dafür aber die Produktion durch den Verweis eben auf die Bedürfnisse in ihrem Bannkreis festgehalten. Sie war so praktisch wie irrational. Eine Ordnung, welche die Irrationalität abschafft, in welche die Warenproduktion verwickelt war, aber die Bedürfnisse befriedigt, wird ebenso den praktischen Geist abschaffen, der noch in der Zweckferne des bürgerlichen l'art pour l'art sich spiegelt. Sie hebt nicht nur den hergebrachten Antagonismus von Produktion und Konsum auf, sondern auch deren jüngste staatskapitalistische Einheit und konvergiert mit der Idee, daß, nach den Worten von Karl Kraus, »Gott den Menschen nicht als Konsumenten oder Produzenten erschaffen hat, sondern als Mensch«. Daß etwas unnütz sei, ist dann keine Schande mehr. Anpassung verliert ihren Sinn. Die Produktivität wird nun erst im eigentlichen, nicht ent108
stellten Sinn aufs Bedürfnis wirken: nicht indem sie das unbefriedigte mit Unnützem sich stillen läßt, sondern indem das Gestillte vermag, zur Welt sich zu verhalten, ohne sich durch universale Nützlichkeit zuzurichten. In der Kritik am falschen Bedürfnis bewährt Huxley die Idee von der Objektivität des Glücks. Die sture Wiederholung des Satzes »everybody's happy now« wird zur äußersten Anklage. Insofern die Menschen von einer auf Versagung und Betrug gegründeten Ordnung hervorgebracht, ihre Bedürfnisse von dieser ihnen eingebildet werden, ist Glück, das mit der Befriedigung solcher Bedürfnisse zusammenfällt, wahrhaft schlecht, das letzte Anhängsel an die Maschinerie. Während in der integralen Welt, welche Trauer nicht duldet, das Gebot des Römerbriefs »Weinet mit den Weinenden« mehr gilt als je, ist das »Freuet euch mit den Fröhlichen« zum blutigen Hohn geworden: was die Ordnung den Geordneten an Freude läßt, zehrt von der Verewigung des Jammers. Daher wirkt die bloße Absage ans falsche Glück heute bereits subversiv. Die Reaktion Leninas auf ihren »Wilden«, der einen idiotischen Film widerlich findet, »why did he go out of his way to spoil things ?«, ist die typische Manifestation eines dichten Verblendungszusammenhangs. Daß man es den Leuten nicht nehmen darf, hat von je zum Sprichwörterschatz derer gehört, welche es den Leuten nehmen. Aber zugleich enthält die Beschreibung von Leninas Gereiztheit das Element der Kritik an Huxleys eigener Ansicht. Ihm ist der Aufweis der Nichtigkeit des subjektiven Glücks, nach Maßstäben der traditionellen Kultur, gleichbedeutend mit dem der Nichtigkeit von Glück an sich. An seine Stelle soll eine aus der Religion und Philosophie von ehedem destillierte Ontologie treten, Glück und objektiv höchstes Gut seien unversöhnlich. Eine Gesellschaft, die auf nichts anderes aus sei als auf Glück, gehe unweigerlich in die »insanity«, in maschinelle Vertierung über. Aber Leninas übereifrige Defensive verrät Unsicherheit, den Verdacht, daß ihre Art Glück vom Widerspruch verunstaltet, daß es dem eigenen Begriff nach kein Glück sei. Um des Schwachsinns jenes Films - und damit der »objektiven Verzweiflung« des genießenden Betrachters - innezuwerden, bedarf es keiner pharisäischen Erinnerung an 109
Shakespeare. Sondern das Wesen des Films als bloßer Verdopplung und Verstärkung dessen, was ohnehin ist; seine eklatante Überflüssigkeit und Sinnlosigkeit sogar in der zum Infantilismus verhaltenen Freizeit; die Unvereinbarkeit des Verdopplungsrealismus und des Anspruchs, Bild zu sein all das tritt in der Sache selbst hervor, ohne Rekurs auf dogmatisch zitierte verites eternelles. Daß der von Huxley so sorgfältig gezogene circulus vitiosus seine Lücken hat, liegt nicht an Mängeln seiner Phantasiekonstruktion, sondern an der Vorstellung eines subjektiv vollkommenen, aber objektiv widersinnigen Glücks. Gilt seine Kritik des bloß subjektiven, dann verfällt die Idee eines bloß objektiven, vom menschlichen Anspruch getrennten hypostasierten Glücks nicht weniger der Ideologie. Grund des Unwahren ist die zur starren Alternative verdinglichte Trennung. Mustapha Mond, der raisonneur und advocatus diaboli des Buches, der das exponierteste Bewußtsein der Brave New World von sich selber verkörpert, bringt jene Alternative auf die Formel. Auf den Einwand des »Wilden«, es werde der Mensch durch die totale Zivilisation degradiert, antwortet er: »Degrade him from what position? As a happy, hard-working, goods-consuming Citizen he's perfect. Of course, if you choose some other Standard than ours, then perhaps you might say he was degraded. But you've got to stick to one set of postulates.« In den beiden sets of postulates, die gleich Fertigfabrikaten zur Auswahl gestellt werden, scheint Relativismus durch: die Frage nach Wahrheit löst sich in eine Wenn-dann-Relation auf. So wird denn auch die von Huxley isolierte Wertewelt von Tiefe und Innerlichkeit Beute der Pragmatisierung. Der »Wilde« berichtet, daß er einmal in einer seiner asketischen Anwandlungen mit ausgespannten Armen bei glühender Hitze an einem Felsen gestanden habe, um zu verspüren, wie es einem Gekreuzigten zumute sei. Um Erklärung gebeten, erteilt er die kuriose Antwort: »Because I feit I ought to. If Jesus could stand it. And then, if one has done something wrong . . . Besides. I was unhappy, that was another reason.« Wenn der »Wilde« schon selber für seine religiösen Abenteuer, die Wahl des Leidens, keinen anderen Rechtsgrund zu finden vermag, als daß er gelitten habe, kann er kaum seinem Interviewer widersprechen, der 110
meint, es sei denn doch vernünftiger, die euphorische Allheildroge Soma zu nehmen, um sich von Depressionen zu kurieren. Irrational hypostasiert, selber gleichsam zu bloßem Daseingemacht, verlangt die Ideenwelt immerzu nach Rechtfertigung durchs bloß Daseiende: sie wird um jenes empirischen Glücks willen verordnet, das durch sie verneint werden soll. Die krude Alternative von objektivem Sinn und subjektivem Glück, die These der Ausschließlichkeit, ist der philosophische Grund für das reaktionäre Fazit des Romans. Man habe sich zu entscheiden zwischen der Barbarei des Glücks und Kultur als dem objektiv höheren Zustand, der Unglück in sich einbegreift. »Fortschreitende Naturbeherrschung und Gesellschaftsbeherrschung« - so interpretierte Herbert Marcuse — »beseitigt alle Transzendenz, physische sowohl als psychische. Kultur, als der zusammenfassende Titel für die eine Seite des Gegensatzes, lebt von Unerfülltem, Sehnsucht, Glauben, Schmerz, Hoffnung, kurz, von dem, was nicht ist, sich aber in der Wirklichkeit anmeldet. Das bedeutet aber, Kultur lebtvom Unglück.« Der Kern der Kontroverse ist die bündige Disjunktion: daß man nicht das eine ohne das andere haben kann, nicht die Technik ohne death conditioning, nicht den Fortschritt ohne die angedrehte infantile Regression. An der Disjunktion selber aber ist die Unbestechlichkeit des Gedankens vom ideologischen Gewissenszwang abzuheben. Nur der Konformismus könnte mit dem objektiven Wahnsinn heute als bloßem Unfall der Entwicklung sich abfinden. Die Rückbildung ist der folgerechten Entwicklung von Herrschaft wesentlich. Theorie kann nicht in gutmütiger Freiheit der Wahl akzeptieren, was ihr an der geschichtlichen Tendenz paßt, und das andere fortlassen. Weltanschauliche Versuche, zur Technik eine »positive Haltung« einzunehmen, aber zu advozieren, daß ihr ein Sinn gegeben werden müsse, vertrösten kunstgewerblich und kommen bloß der fragwürdigsten Arbeitsfreude zugute. Aber der Druck, den die Brave New World universal ausübt, ist dem Begriff nach mit jener totenhaften Statik unvereinbar, die sie zum Angsttraum macht. Nicht umsonst tragen alle Hauptfiguren, selbst Lenina, Züge von subjektiver Verstörtheit. Das Entweder-Oder ist falsch. Der mit grimmigem Behagen ausgemalte Zustand vollkommener Imma111
nenz transzendiert sich selber, nicht vermöge einer von außen herangebrachten, ohnmächtigen Selektion des Wünschbaren und Verwerflichen sondern vermöge seiner objektiven Beschaffenheit. Huxley weiß von der über den Kopf der Menschen hinweg sich durchsetzenden historischen Tendenz. Sie ist ihm die Selbstentfremdung und vollkommene Entäußerung des Subjekts, das sich zum bloßen Mittel macht, ohne daß ein Zweck überhaupt noch wäre. Aber er fetischisiert den Fetischismus der Ware. Ihm wird der Warencharakter zu einem Ontischen, an sich Seienden, vor dem er kapituliert, anstatt den ganzen Hexenspuk als bloße Reflexionsform, als das falsche Bewußtsein des Menschen von sich selber zu durchschauen, das mit seinem ökonomischen Grunde zergehen müßte. Er gesteht nicht zu, daß die phantasmagorische Unmenschlichkeit der Brave New World eine ihrer selbst vergessene Beziehung zwischen Menschen, gesellschaftliche Arbeit; daß der total verdinglichte der gegen sich selbst verblendete Mensch ist. Statt dessen hetzt er unanalysierte Fassadenphänomene aufeinander nach Art des »Konflikts zwischen Mensch und Maschine«. Wessen er die Technik bezichtigt, das liegt nicht, wie er es den romantischen Philistern glaubt, in ihrem eigenen Sinne, der Abschaffung der Arbeit, sondern folgt, wie es übrigens im Roman durchschimmert, aus ihrer Verfilzung mit den gesellschaftlichen Verhältnissen der Produktion. Selbst die Unvereinbarkeit von Kunst und Massenreproduktion heute rührt nicht von der Technik als solcher her, sondern davon, daß diese, unterm Diktat jener sinnwidrig fortbestehenden Verhältnisse, den Anspruch von Individuation, nach Benjamins Wort die »Aura«, festhalten muß, den sie nicht einlösen kann. Noch die Verselbständigung des Mittels, die Huxley an der Technik rügt, entzieht nicht notwendig den Zwecken das Ihre. Auf dem bewußtlosen Weg des Bewußtseins, gerade in der Kunst1, vermag das blinde Spiel mit 1 Schumann schreibt einmal, in seiner Jugend habe er seinem Instrument, dem Klavier dem Mittel -, etwas Besonderes bieten wollen, in seiner Reife aber rein an der Musik - dem Zweck - sich interessiert. Aber die fraglose Überlegenheit seiner frühen Werke über die späten ist nicht zu trennen von dem unablässig produktiven Phantasiereichtum des Klaviersatzes, der das Helldunkel, die gebrochene harmonische Farbe, ja die Dichte des kompositorischen Gefüges erst hervorbringt. Künstler realisieren nicht von sich aus die »Idee«. Diese fällt vielmehr technologischen Leistungen zu, oft der unerhellten Spielerei.
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Mitteln Zwecke zu setzen und zu entfalten. Das Verhältnis von Mittel und Zweck, von Humanität und Technik läßt sich nicht nach ontologischen Prioritäten regeln. Die Alternative läuft darauf hinaus, daß die Menschheit nicht aus dem Unheil sich herausarbeiten soll. Sie wird vor die Wahl gestellt zwischen dem Rückfall in eine selbst bei Huxley fragwürdige Mythologie und dem Fortschritt zur lückenlosen Unfreiheit des Bewußtseins. Kein Raum bleibt einem Begriff vom Menschen, der weder im kollektiven Systemzwang noch im kontingenten Einzelnen aufginge. Die Konstruktion, die den totalitären Weltstaat denunziert und den Individualismus, der es dahin brachte, retrospektiv verklärt, ist selber totalitär. Der Gedanke, der keinen Ausweg läßt, impliziert bereits die Liquidation alles nicht Aufgehenden, vor der Huxley mit Grund schaudert. Die praktische Konsequenz des bürgerlichen »Man kann nichts machen«, wie es als Echo des Romans nachhallt, ist genau das perfide »Du mußt dich fügen« in totalitären Brave New World. Die Eindeutigkeit der Tendenz, die Geradlinigkeit des Fortschrittsbegriffs, wie er im Roman gehandhabt wird, leitet von der beschränkten Form der Entfaltung der Produktivkräfte in der »Vorgeschichte« sich her. Unausweichlichkeit kommt in der negativen Utopie dadurch zustande, daß jene Beschränktheit der Produktionsverhältnisse, die profitbedingte Inthronisierung des Produktionsapparats als Eigenschaft der technischen und menschlichen Produktivkräfte an sich zurückgespiegelt wird. In seiner Prophezeiung der Entropie der Geschichte folgt Huxley dem Schein, den die Gesellschaft notwendig verbreitet, gegen die er eifert. Er kritisiert den Geist des Positivismus. Aber weil auch seine Kritik bei Schocks stehenbleibt, bei der erlebten Unmittelbarkeit, und den gesellschaftlichen Schein unbefragt als Tatsache registriert, wird er selber zum Positivisten. Trotz des ungemütlichen Tons stimmt er zusammen mit der deskriptiv gesinnten Kulturkritik, welche durch die Klage über den unausweichlichen Untergang der Kultur der Verfestigung der verklagten Herrschaft Vorwände lieferte. Zivilisation zieht im Namen von Kultur in die Barbarei ein. Er visiert anstelle der Antagonismen etwas wie ein in sich widerspruchsloses Gesamtsubjekt der technologischen ratio, und 113
demgemäß eine simple Totalentwicklung. Solche Vorstellungen gehören zur Fassade, den kurrenten Ideen von Universalgeschichte und Lebensstil. Er verfehlt, die Symptome der Unifizierung selber, deren eindringliche Physiognomik er liefert, als Äußerungen des antagonistischen Wesens zu entziffern, des Drucks der Herrschaft, der Totalität teleologisch ist. Bei allem Hohn über das »everybody's happy nowadays« wohnt seinem Geschichtsbild der Form nach, die mehr vom Wesen freilegt als der Stoff der Begebenheiten, ein tief Harmonistisches inne. Die Konzeption undurchbrochenen Fortschritts unterscheidet sich von derliberalistischen durch die Akzente, nicht durch den Blick auf die Sache. Wie ein Bentham-Liberaler prognostiziert Huxley eine Entwicklung zum größtmöglichen Glück der größtmöglichen Zahl: nur daß sie ihm nicht behagt. Er verurteilt die Brave New World mit dem gleichen gesunden Menschenverstand, dessen Walten in der Brave New World verhöhnt ist. Allerorten treten daher im Roman unanalysierte Momente eben jener Art ausgelaugter Weltanschauung zutage, der Huxley so wenig hold ist. Das Vergängliche als das Nichtige, Geschichte als Unheilsgeschichte wird den Invarianten kontrastiert, der philosophia perennis, dem ewigen Sonnenschein des Ideenhimmels. Demgemäß rücken Äußerlichkeit und Innerlichkeit in primitive Antithese: den Menschen wird das Übel, von der künstlichen Zeugung bis zur galoppierenden Vergreisung, bloß angetan, die Kategorie des Einzelnen aber erscheint in unbeftagter Würde. Unreflektierter Individualismus behauptet sich, als wäre nicht das Grauen, auf das der Roman hinstarrt, selber die Ausgeburt der individualistischen Gesellschaft. Aus dem historischen Prozeß wird die einzelmenschliche Spontaneität eliminiert, dafür aber der Begriff des Individuums von der Geschichte abgespalten, seinerseits zu einem Stück philosophia perennis gemacht. Individuation, ein wesentlich Gesellschaftliches, wird nochmals zur unabänderlichen Natur. Anstelle der Einsicht in ihre Verstricktheit in den Schuldzusammenhang, deren die bürgerliche Philosophie auf ihrer Höhe mächtig war, tritt die empirische Nivellieiung des Individuums durch den Psychologismus. Im Gefolge einer Tradition, deren Übermacht eher zum Widerstand als zum Respekt herausfordert, wird das In114
dividuum als Idee ins Ungemessene erhöht, andererseits aber jeder einzelne Mensch vom Nachzügler der Desillusionsromantik des moralischen Bankrotts überführt. Die Erkenntnis von der Nichtigkeit des Individuums, gesellschaftlich wahr, wird auf das privat überforderte Individuum abgewälzt. Daß es fungibel, in Wahrheit nicht es selber, sondern die »Charaktermaske« der Gesellschaft ist, rechnet Huxleys Buch, wie sein gesamtes oeuvre, dem verabsolutierten Individuum als seine Schuld, als Unechtheit, Verlogenheit, beschränkten Egoismus, als all das an, worauf subtil beschreibende Ichpsychologie pochen kann. Im authentischen bürgerlichen Geiste ist der Einzelne für Huxley zugleich alles — weil er nämlich einmal das Prinzip der Eigentumsordnung abgab - und nichts, absolut ersetzbar als bloßer Träger des Eigentums. Das ist der Preis, den die Ideologie des Individualismus für die eigene Unwahrheit zu entrichten hat. Das fabula docet des Romans ist nihilistischer, als es der Humanität recht sein kann, die er proklamiert. Damit aber widerfährt Unrecht gerade dem Tatsächlichen, auf dem der positivistische Nachdruck liegt. Mit allen ausgeführten Utopien teilt die Huxleysche den Aspekt von Eitelkeit. Es ist anders gegangen und wird weiter anders gehen. Nicht die exakte Phantasie versagt, sondern der Blick in die ferne Zukunft als solcher, das Erraten der Faktizität des Nichtseienden, ist mit der Ohnmacht von Vermessenheit geschlagen. Das antithetische Moment der Dialektik läßt sich nicht konsequenzlogisch, etwa durch den Oberbegriff der Aufklärung, eskamotieren. Wer das versucht, scheidet das nicht Subjekteigene, nicht selber »Geistige«, sich selbst Durchsichtige aus, das den Triebstoff der dialektischen Bewegung liefert. Die ausgepinselte Utopie, wie sehr auch mit materialistisch-technologischen Elementen versetzt und naturwissenschaftlich korrekt, ist dem Ansatz nach ein Rückfall in die Identitätsphilosophie, den Idealismus. Darum mißrät ihr die ironische »Richtigkeit«, um die Huxleys Verlängerungen sich bemühen. So gewiß der seiner selbst unbewußte Begriff totaler Aufklärung dem Umschlag in Irrationalität zutreibt, so wenig läßt aus ihm sich deduzieren, ob es sich ereignen und ob es dabei sein Bewenden haben wird. Die heraufdämmernden politischen Katastrophen können 115
die Fluchtbahn der technischen Zivilisation nicht unberührt lassen. >Ape and Essence< ist der einigermaßen hastige Versuch, einen Fehler zu korrigieren, der nicht von mangelnder Kenntnis der Atomphysik, sondern von der linearen Geschichtskonzeption herrührt und darum durch Korrekturen, die Verarbeitung zusätzlicher Stoffe, nicht sich überwinden läßt. War die Plausibilität der Prognosen von Brave New World allzu simpej, so tragen die des zweiten Zukunftsbuches, etwa die Teufelsreligion, ein Stigma der Unwahrscheinlichkeit, das inmitten der realistischen Romantechnik durch den Hinweis auf die philosophische Allegorik kaum zu verteidigen ist. Im unvermeidlichen Denkfehler aber rächt sich die ideologische Befangenheit der Konzeption. Die Haltung bleibt unwillentlich jener großbürgerlichen verwandt, die souverän versichert, keineswegs aus eigenem Interesse den Fortbestand der Profitwirtschaft zu befürworten, sondern um der Menschen willen. Diese seien noch nicht reif für den Sozialismus. Hätten sie nichts mehr zu arbeiten, so wüßten sie nichts mit ihrer Zeit anzufangen. Derlei Weisheiten sind nicht bloß durch ihren Gebrauch kompromittiert, sondern ohne Erkenntnisgehalt, weil sie ebenso »die Menschen« als Gegebenheiten verdinglichen, wie den Betrachter als freischwebende Instanz verhimmeln. Solche Kälte wohnt im Innersten von Huxleys Gefüge. Voll fiktiver Sorge um das Unheil, das die verwirklichte Utopie der Menschheit antun könnte, schiebt er das weit dringlichere und realere Unheil von sich, das die Utopie hintertreibt. Müßig, darüber zu klagen, was aus den Menschen wird, wenn Hunger und Sorge aus der Welt verschwunden sein werden. Denn sie ist deren Beute kraft der Logik eben jener Zivilisation, der der Roman nichts Schlimmeres nachzusagen weiß als die Langeweile des ihr prinzipiell nicht zu erreichenden Schlaraffenlandes. Zugrunde liegt, trotz aller Empörung über das Unwesen, eine Konstruktion der Geschichte, die Zeit hat. Dieser wird zugeschoben, was an den Menschen wäre. Das Verhältnis zu ihr ist parasitär. Der Roman überträgt die Schuld der Gegenwart gleichsam auf die Ungeborenen. Darin reflektiert sich das unselige »Es soll nicht anders werden«, Endprodukt der urprotestantischen Verquickung von Einkehr und Repression. Weil der Mensch erbsündig und auf 116
Erden des Besseren nicht fähig sei, wird die Verbesserur? der Welt selber in die Sünde umgebogen. Das Blut der Ungeborenen aber schlägt dem Roman nicht an. Er versagt aus der Schwäche eines mit oft sehr großartigen Erfindungen ausgeschmückten Leerschemas. Weil die Veränderung der Menschen nicht kalkuliert werden kann und der vorgreifenden Imagination sich entzieht, wird sie ersetzt durch die Karikatur der Menschen von heute, nach dem uralten und vernutzten Verfahren der »Satire«. Die Fiktion der Zukunft verbeugt sich vor der Allmacht des Gegenwärtigen: was noch nicht war, wird komisch durch den minderen Effekt, daß es bloß dem gleicht, was ohnehin ist, wie Götter in Offenbachschen Operetten. Fürs Bild des Fernsten wird die Ansicht unterschoben, die das umgekehrte Opernglas vom Nächsten bietet. Der Formtrick, von Zukünftigem als von Vergangenem zu berichten, verleiht dem Gehalt ein abstoßend Einverstandenes. Die Groteske, die das Gegenwärtige durch Konfrontation mit seiner eigenen Verlängerung in die Zukunft ereilt, hat dieselben Lacher auf ihrer Seite wie naturgetreue Darstellungen mit vergrößerten Köpfen. Der pathetische Begriff des ewigen Menschen bescheidet sich zum menschenunwürdigen des Normalen von gestern, heute und morgen. Nicht das kontemplative Moment als solches, das der Roman mit aller Philosophie und Darstellung teilt, ist ihm vorzuwerfen, sondern daß er nicht selber in die Reflexion das Moment einer Praxis hineinnimmt, welche das verruchte Kontinuum sprengte. Die Menschheit hat nicht zwischen totalitärem Weltstaat und Individualismus zu wählen. Ist die große historische Perspektive überhaupt mehr als die Fata Morgana des verfügenden Blicks, so geht sie auf die Frage, ob die Gesellschaft schließlich sich selbst bestimmen oder die tellurische Katastrophe herbeiführen wird.
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Zeitlose Mode Zum Jazz
Über bald fünfzig Jahre, seit 1914 in Amerika die anstekkende Begeisterung für den Jazz ausbrach, hat dieser als Massenphänomen sich behauptet. Die Prozedur, deren Vorgeschichte bis auf gewisse Liedchen wie >Turkey in the Straw< und >Old Zip Coon< aus der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts zurückdatiert, blieb im wesentlichen, allen Erklärungen propagandistischer Historiker zum Trotz, unverändert. Jazz ist Musik, die bei simpelster melodischer, harmonischer, metrischer und formaler Struktur prinzipiell den musikalischen Verlauf aus gleichsam störenden Synkopen zusammenfügt, ohne daß je an die sture Einheit des Grundrhythmus, die identisch durchgehaltenen Zählzeiten, die Viertel gerührt würde. Das will nicht heißen, es sei im Jazz nichts geschehen. So wurde das einfarbige Klavier aus der Vorherrschaft, die es im Ragtime innehatte, von kleinen Ensembles, meist Bläsern, verdrängt; so haben die wild sich gebärdenden Praktiken der frühen Jazzbands aus dem Süden, vor allem New Orleans, und aus Chicago sich mit zunehmender Kommerzialisierung und breiterer Rezeption gemildert, um stets in fachmännischen Versuchen wieder belebt zu werden, die dann aber regelmäßig, mochten sie Swing oder Bebop heißen, abermals dem Geschäft verfielen und rasch ihre Schärfe verloren. Vollends ist das Prinzip selbst, das sich zu Anfang übertreibend hervorheben mußte, mittlerweile so selbstverständlich geworden, daß es jener Akzente auf den schlechten Taktteilen entraten kann, deren man früher bedurfte. Wer heute noch mit solchen Akzenten musizierte, würde als corny verspottet, altmodisch wie Abendkleider von 1927. Widerspenstigkeit hat sich in Glätte zweiten Grades verwandelt, die Reaktionsform des Jazz derart sich niedergeschlagen, daß eine ganze Jugend primär in Synkopen hört und den ursprünglichen Konflikt zwischen 118
diesen und dem Grundmetron kaum mehr austrägt. All das ändert aber nichts an einer Immergleichheit, die das Rätsel aufgibt, wieso Millionen von Menschen des monotonen Reizes immer noch nicht überdrüssig sind. Der heute als Kunstredakteur des Magazins >Life< weltbekannte Winthrop Sargeant, dem das beste, zuverlässigste und besonnenste Buch über den Gegenstand zu danken ist, schrieb vor fünfundzwanzig Jahren, daß der Jazz keineswegs ein neues musikalisches Idiom, sondern »noch in seinen komplexesten Erscheinungen eine sehr einfache Angelegenheit unablässig wiederholter Formeln« sei. So unbefangen läßt sich das wohl nur in Amerika wahrnehmen: in Europa, wo der Jazz noch nicht zur alltäglichen Einrichtung wurde, neigen zumal jene Gläubigen, die ihn weltanschaulich betreiben, dazu, ihn als Durchbruch ursprünglicher und ungebändigter Natur, als Triumph über die musealen Kulturgüter mißzuverstehen. So wenig aber Zweifel an den afrikanischen Elementen des Jazz sein kann, so wenig auch daran, daß alles Ungebärdige in ihm von Anfang an in ein striktes Schema eingepaßt war und daß dem Gestus der Rebellion die Bereitschaft zu blindem Parieren derart sich gesellte und immer noch gesellt, wie es die analytische Psychologie vom sadomasochistischen Typus lehrt, der gegen die Vaterfigur aufmuckt und dennoch insgeheim sie bewundert, ihr es gleichtun möchte und die verhaßte Unterordnung wiederum genießt. Eben diese Tendenz leistete der Standardisierung, kommerziellen Ausschlachtung und Erstarrung des Mediums Vorschub. Nicht etwa haben erst böse Geschäftsleute von außen der Stimme der Natur ein Leids getan, sondern der Jazz besorgt es selber und zieht durch die eigenen Gebräuche den Mißbrauch herbei, über den dann die Puristen des unverwässerten reinen Jazz sich entrüsten. Schon die Negro Spirituals, Vorformen des Blues, mögen als Sklavenmusik die Klage über die Unfreiheit mit deren unterwürfiger Bestätigung verbunden haben. Übrigens fällt es schwer, die authentischen Negerelemente des Jazz zu isolieren. Das weiße Lumpenproletariat hatte offenbar ebenfalls an seiner Vorgeschichte teil, ehe er ins Scheinwerferlicht einer Gesellschaft gerückt ward, die auf ihn zu warten schien, mit seinen Impulsen durch Cakewalk und Steptänze längst vertraut. 119
Gerade der schmale Vorrat an Verfahrungsweisen und Eigentümlichkeiten jedoch, der rigorose Ausschluß jeglichen unreglementierten Ansatzes, macht die Beharrlichkeit einer nur notdürftig und meist zu Reklamezwecken mit Änderungen ausstaffierten Spezialität so schwer verständlich. Während der Jazz inmitten einer sonst nicht eben statischen Phase sich für eine kleine Ewigkeit eingerichtet hat und nicht die mindeste Bereitschaft zeigt, von seinem Monopol etwas nachzulassen, sondern einzig die, sich je nachdem hochtrainierten oder undifferenziert rückständigen Hörern anzupassen, hat er doch vom Charakter der Mode nichts eingebüßt. Was da fast fünfzig Jahre lang veranstaltet wird, ist so ephemer, als währte es eine Saison. Jazz ist eine Manier der Interpretation. Wie bei Moden geht es um Aufmachung und nicht um die Sache; leichte Musik, die ödesten Produkte der Schlagerindustrie werden frisiert, nicht etwa Jazz als solcher komponiert. Die Fanatiker - amerikanisch nennen sie sich abgekürzt fans -, die das wohl spüren, berufen sich deshalb mit Vorliebe auf die improvisatorischen Züge der Darbietung. Aber das sind Flausen. Jeder gewitzigte Halbwüchsige in Amerika weiß, daß die Routine heutzutage der Improvisation kaum mehr Raum läßt und daß, was auftritt, als wäre es spontan, sorgfältig, mit maschineller Präzision einstudiert ist. Selbst dort aber, wo einmal wirklich improvisiert ward, und in den oppositionellen Ensembles, die vielleicht heute noch auf dergleichen zu ihrem Vergnügen sich einlassen, bleiben die Schlager das einzige Material. Daher reduzieren sich die sogenannten Improvisationen auf mehr oder minder schwächliche Umschreibungen der Grundformeln, unter deren Hülle das Schema in jedem Augenblick hervorlugt. Noch die Improvisationen sind in weitem Maß genormt und kehren stets wieder. Was im Jazz überhaupt vorkommen darf, ist so beschränkt wie irgendein besonderer Schnitt von Kleidern. Angesichts der Fülle der Möglichkeiten, musikalisches Material selbst in der Unterhaltungssphäre, falls es deren durchaus bedarf, zu erfinden und zu behandeln, zeigt der Jazz sich völlig verarmt. Was er von den verfügbaren musikalischen Techniken anwendet, ist ganz willkürlich. Allein das Verbot, die Grundzählzeit mit dem Fortgang eines Stückes lebendig abzuwandeln, engt das Musizieren derart 120
ein, daß ihm eifrig zu willfahren eher psychologische Regression als ästhetisches Stilbewußtsein erheischt. Nicht minder fesseln die Restriktionen metrischer, harmonischer, formaler Art. Die Immergleichheit des Jazz besteht insgesamt nicht in einer tragenden Organisation des Materials, in der wie in einer artikulierten Sprache Phantasie frei und ungehemmt sich regen könnte, sondern in der Erhebung einiger definierter Tricks, Formeln und Cliches zur Ausschließlichkeit. Es ist, als klammere man sich krampfhaft an den Reiz des en vogue und verleugne den Ausdruck des Bildes einer Jahreszahl, indem man das Kalenderblatt abzureißen sich weigert. Mode selbst inthronisiert sich als Bleibendes und büßt eben darüber die Würde der Mode ein, die ihrer Vergänglichkeit.
Um zu verstehen, warum ein paar Rezepte eine ganze Sphäre umschreiben, als ob es nichts anderes gäbe, wird man von all den Phrasen über Vitalität und Rhythmus der Zeit sich freimachen müssen, welche die Reklame, ihrjournalistischer Anhang und schließlich auch die Opfer herbeten. Gerade rhythmisch ist, womit der Jazz aufwartet, äußerst bescheiden. Die ernste Musik seit Brahms hatte alles, was am Jazz etwa auffällt, längst aus sich heraus hervorgebracht, ohne dabei zu verweilen. Vollends fragwürdig ist es um die Vitalität eines noch in den Abweichungen standardisierten Fließbandverfahrens bestellt. Die Jazzideologen zumal in Europa begehen den Fehler, eine Summe psychotechnisch kalkulierter und ausprobierter Effekte für den Ausdruck jener Seelenlage zu halten, deren Trugbild von dem Betrieb im Hörer erweckt wird, etwa wie wenn man jene Filmstars, deren ebenmäßige oder leidvolle Gesichter nach irgendwelchen Porträts berühmter Leute stilisiert sind, eben darum für Wesen wie Lucrezia Borgia oder die Lady Hamilton hielte, falls nicht gar diese selber schon ihre eigenen Mannequins gewesen sein sollten. Was enthusiastisch verstockte Unschuld als Urwald ansieht, ist durch und durch Fabrikware, selbst dort noch, wo in Sonderveranstaltungen Spon121
taneität als Sparte des Geschäfts ausgestellt wird. Die paradoxe Unsterblichkeit des Jazz gründet in der Ökonomie. Die Konkurrenz des Kulturmarkts hat eine Anzahl von Zügen, wie Synkopierung, halb vokalen, halb instrumentalen Klang, gleitende impressionistische Harmonik, üppige Instrumentation nach dem Grundsatz »bei uns wird nicht gespart«, als besonders erfolgreich erwiesen. Diese sind dann aussortiert und kaleidoskopisch zu immer neuen Kombinationen zusammengesetzt worden, ohne daß zwischen dem Schema des Ganzen und den kaum minder schematischen Details je auch nur die leiseste Wechselwirkung stattgehabt hätte. Die Resultate der Konkurrenz, die vielleicht selber schon nicht so frei war, sind allein übriggelassen worden, das ganze Verfahren eingeschliffen, insbesondere wohl durchs Radio. Die Investitionen, die in den name bands, den durch wissenschaftlich gelenkte Propaganda berühmten Jazzorchestern stecken, und wohl mehr noch das Geld, das die Firmen, welche Radiozeit für Reklamezwecke kaufen, für musikalische best-seller-Programme wie die hit parade aufwenden, machen jede Divergenz zum Risiko. Darüber hinaus bedeutet die Standardisierung immer festere Dauerherrschaft über die Hörermassen und ihre conditioned reflexes. Man erwartet, daß sie einzig das verlangen, woran sie gewöhnt sind, und in Wut geraten, wenn etwas die Ansprüche enttäuscht, deren Erfüllung ihnen als Menschenrecht des Kunden gilt. Würde der Versuch, mit etwas anders Geartetem durchzudringen, in der leichten Musik überhaupt noch gewagt, so wäre er durch die ökonomische Konzentration vorweg hoffnungslos. In der Unüberwindlichkeit eines der eigenen Art nach Zufälligen und Willkürlichen spiegelt sich etwas von der Willkür gegenwärtiger sozialer Kontrolle. Je vollständiger die Kulturindustrie Abweichungen ausmerzt und damit die Entwicklungsmöglichkeiten des eigenen Mediums beschneidet, um so mehr nähert sich der lärmend dynamische Betrieb der Statik an. Wie kein Jazzstück, im musikalischen Sinn, Geschichte kennt; wie alle seine Bestandteile umzumontieren sind, und wie kein Takt aus der Logik des Fortgangs folgt, so wird die zeitlose Mode zum Gleichnis einer planmäßig eingefrorenen Gesellschaft, gar nicht so unähnlich 122
dem Schreckbild aus Huxleys >Brave New World <. Ökonomen mögen erwägen, ob darin eine Tendenz der überakkumulierenden Gesellschaft zur Rückbildung aufs Stadium der einfachen Reproduktion von der Ideologie sei's ausgedrückt, sei's getroffen ist. Die Befürchtung, die der am Ende gründlich enttäuschte Thorstein Veblen in seinen Spätschriften hegt: daß das wirtschaftliche und gesellschaftliche Kräftespiel in einem negativ-geschichtslosen hierarchischen Zustand, einer Art potenziertem Feudalsystem stillgelegt werde, hat zwar wenig Wahrscheinlichkeit für sich, wohnt jedoch dem Jazz als dessen Wunschbild inne. Die imago der technischen Welt enthält ohnehin ein Geschichtsloses, das sie zum mythischen Blendwerk von Ewigkeit tauglich macht. Die geplante Produktion scheint dem Lebensprozeß, aus dem sie das Ungelenkte, nicht Absehbare und nicht Vorausberechnete ausscheidet, damit das eigentlich Neue zu entziehen, ohne das Geschichte schwer gedacht werden kann, und die Form des standardisierten Massenprodukts teilt auch dem zeitlich aufeinander Folgenden etwas vom Ausdruck der Immergleichheit mit. An einer Lokomotive von 1950 wirkt paradox, daß sie anders ist als eine von 1850: darum werden die modernsten Schnellzüge angelegentlich mit Photographien altertümlicher dekoriert. Seit Apollinaire haben die Surrealisten, die manches mit dem Jazz verbindet, auf diese Erfahrungsschicht angesprochen: »ici meme les automobiles ont l'air d'etre anciennes«. Bewußtlos sind Spuren dessen in die zeitlose Mode eingegangen; der Jazz, der sich nicht umsonst mit der Technik solidarisiert, wirkt als streng wiederholte, doch gegenstandslose Kulthandlung mit am »technologischen Schleier« und täuscht vor, das zwanzigste Jahrhundert wäre ein Ägypten von Sklaven und endlosen Dynastien. Täuscht vor: denn während die Technik nach dem Modell des einförmig kreisenden Rades symbolisiert wird, entfalten sich ihre eigenen Kräfte ins Ungemessene, und sie ist von einer Gesellschaft umklammert, deren Spannungen weitertreiben, deren Irrationalität fortbesteht und die den Menschen mehr an Geschichte angedeihen läßt, als ihnen lieb ist. Zeitlosigkeit wird auf die Technik von einer Weltverfassung projiziert, die sich nicht mehr verändern möchte, um nicht zu stürzen. Die falsche Unvergänglichkeit 123
jedoch wird Lügen gestraft von dem schlecht Zufälligen und Minderen, das sich als allgemeines Prinzip einrichtet. Die Herren der tausendjährigen Reiche von heutzutage sehen wie Verbrecher aus, und die perennierende Gebärde der Massenkultur ist die Asozialer. Daß gerade dem Synkopentrick die musikalische Diktatur über die Massen zufiel, mahnt an Usurpation, die bei aller Rationalität der Mittel im Endzweck irrationale totalitäre Kontrolle. Im Jazz liegen Mechanismen, welche in Wahrheit der gesamten gegenwärtigen Ideologie, aller Kulturindustrie angehören, sichtbar obenauf, weil sie ohne technische Kenntnis nicht ebenso leicht sich festnageln lassen wie etwa im Film. Doch auch der Jazz trifft seine Vorsichtsmaßnahmen. Parallel zur Standardisierung läuft Pseudoindividualisierung. Je mehr die Hörer an die Kandare genommen werden, desto weniger dürfen sie es merken. Es wird ihnen weisgemacht, sie hätten es mit einer ihnen auf den Leib geschnittenen »Konsumentenkunst« zu tun. Die spezifischen Effekte, mit denen der Jazz sein Schema ausfüllt, insbesondere die Synkopierung selber, präsentieren sich jeweils als Ausbruch oder Karikatur unerfaßter Subjektivität - virtuell der des Zuhörers - oder auch als piekfeine Nuance zu dessen höherer Ehre. Nur fängt sich die Methode im eigenen Netz. Während sie unablässig dem Hörer etwas Apartes versprechen, seine Aufmerksamkeit anstacheln, vom grauen Einerlei sich abheben muß, darf sie doch andererseits selbst nie den abgesteckten Bannkreis überschreiten; sie muß immer neu und immer dasselbe sein. Daher sind die Abweichungen ebenso standardisiert wie die Standards und nehmen sich im gleichen Augenblick zurück, in dem sie auftreten: der Jazz, wie alle Kulturindustrie, erfüllt Wünsche nur, um sie zugleich zu versagen. So sehr das Jazz-Subjekt, der Stellvertreter des Hörers in der Musik, sich als Sonderling aufführt, so wenig ist es doch es selber. Die individuellen Züge, die mit der Norm nicht übereinstimmen, sind von dieser geprägt, Male der Verstümmlung. Voll Angst identifiziert es sich mit der Gesellschaft, die es fürchtet, weil sie es zu dem machte, was es ist. Das verleiht dem Jazzritual den affirmativen Charakter: den der Aufnahme in die Gemeinde unfreier Gleicher. In deren Zeichen kann der Jazz mit teuflisch gutem Gewissen sich auf die Hö124
rermassen selbst berufen. Standardverfahren, die unbestritten herrschen und über sehr lange Zeiträume gehandhabt werden, bringen Standardreaktionen hervor. Viel zu harmlos wäre die Ansicht, es ließe bei geänderter Programmpolitik, wie sie wohlmeinenden Erziehern vorschwebt, den vergewaltigten Menschen etwas Besseres oder auch nur Abwechslung sich aufdrängen. Ernsthafte Änderungen der Programmpolitik würden, sofern sie nicht über den ideologischen Bereich der Kulturindustrie weit hinausgriffen, in der Tat entrüstet abgelehnt. Die Bevölkerung ist so an den Unfug gewöhnt, der ihr widerfährt, daß sie selbst dann nicht auf ihn verzichten mag, wenn sie ihn halb durchschaut; im Gegenteil, sie muß die eigene Begeisterung andrehen, um sich die Schmach als Gunst einzureden. Der Jazz entwirft Schemata eines gesellschaftlichen Verhaltens, zu dem die Menschen ohnehin genötigt sind. An ihm exerzieren sie jene Verhaltensweisen und lieben ihn obendrein, weil er ihnen das Unvermeidliche leichter macht. Er reproduziert seine eigene Massenbasis, ohne daß doch darum die weniger schuld wären, die ihn hervorbringen. Die Ewigkeit der Mode ist ein circulus vitiosus.
Die Anhänger des Jazz gliedern sich, wie erneut von David Riesman nachdrücklich hervorgehoben wurde, in zwei recht deutlich getrennte Gruppen. Im Innern hausen die Experten oder solche, die sich dafür halten - denn sehr oft sind die Fanatiker, die mit einer selbst bereits lanciertenTerminologie um sich werfen und mit gewichtigem Anspruch Jazzstile unterscheiden, kaum fähig, in präzisen, technischmusikalischen Begriffen Rechenschaft von dem zu geben, wovon sie hingerissen sein wollen. Meist halten sie sich, in einer Konfusion, die heute allenthalben zu beobachten ist, für avantgardistisch. Unter den Symptomen des Zerfalls von Bildung ist nicht das letzte, daß der wie sehr auch fragwürdige Unterschied von autonomer »hoher« und kommerzieller »leichter« Kunst zwar nicht kritisch durchschaut, dafür aber überhaupt nicht mehr wahrgenommen wird. Nachdem 125
einige kulturdefaitistische Intellektuelle diese gegen jene ausspielten, haben die banausischen Champions der Kulturindustrie auch noch die stolze Zuversicht, an der Spitze des Zeitgeistes zu marschieren. Die mittlerweile selber nach dem Schema lowbrow, middlebrow und highbrow für Hörer erster, zweiter und dritter Programme organisierte Scheidung von »Kulturniveaus« ist widerwärtig. Aber sie läßt sich nicht dadurch überwinden, daß sich lowbrow-Sekten zu highbrows erklären. Das berechtigte Unbehagen an der Kultur bietet den Vorwand, aber keinen Grund dafür, eine hochrationalisierte Sparte der Massenproduktion, die jene Kultur erniedrigt und ausverkauft, ohne im mindesten sie zu transzendieren, als Aufbruch eines neuen Weltgefühls zu verherrlichen und mit dem Kubismus, der Lyrik von Eliot und der Prosa von Joyce durcheinanderzubringen. Regression ist nicht Ursprung, aber dieser die Ideologie für jene. Wer sich von der anwachsenden Respektabilität der Massenkultur dazu verführen läßt, einen Schlager für moderne Kunst zu halten, weil eine Klarinette falsche Töne quäkt, und einen mit dirty notes versetzten Dreiklang für atonal, hat schon vor der Barbarei kapituliert. Die zur Kultur herabgesunkene Kunst wird von der Strafe ereilt, daß man sie, je mehr sie ihr Unwesen ausbreitet, um so hilfloser mit ihren eigenen Abfallprodukten verwechselt. Selbstbewußtes Analphabetentum, dem der Stumpfsinn des tolerierten Exzesses fürs Reich der Freiheit gilt, zahlt dem Bildungsprivileg heim. In schwächlicher Rebellion sind sie schon wieder bereit zu ducken, ganz so wie der Jazz es ihnen vormacht, indem er Stolpern und Zufrühkommen mit dem kollektiven Marschschritt integriert. Auffällig ist eine gewisse Ähnlichkeit des Typus des Jazzenthusiasten mit manchen jugendlichen Adepten des logischen Positivismus, die mit demselben Eifer die philosophische Bildung abschütteln wie jene die musikalische. Die Begeisterung ist auf Ernüchterung übergesprungen, die Affekte heften sich an eine Technik, feindlich allem Sinn. Man fühlt sich geborgen in einem System, das so wohl definiert ist, daß keine Fehler unterlaufen können, und die verdrängte Sehnsucht nach dem, was draußen wäre, äußert sich in unduldsamem Haß und einer Miene, in der das Besserwissen des Eingeweihten mit dem Anspruch des Illusionslosen sich 126
paaren. Auftrumpfende Trivialität, das Befangensein in der Oberfläche als zweifelsfreie Gewißheit, verklärt die feige Abwehr jeglicher Selbstbesinnung. All diese altgewohnten Reaktionsformen haben neuerdings ihre Unschuld verloren, werfen sich als Philosophie auf und werden damit erst ganz böse. Um die Sachverständigen einer Sache, an der es wenig zu verstehen gibt außer Spielregeln, kristallisieren sich die unartikulierten, vagen Anhänger. Meist berauschen sie sich an dem Ruhm der Massenkultur, den diese manipuliert; sie können ebensogut sich in Klubs zur Verehrung von Filmstars zusammenfinden oder Autogramme anderer Prominenzen sammeln. Ihnen kommt es auf die Hörigkeit als solche, auf Identifikation an, ohne daß sie viel Aufhebens von dem jeweiligen Inhalt machten. Sind es Mädchen, so haben sie sich geschult, bei der Stimme eines crooner, eines Jazzsängers, in Ohnmacht zu fallen. Ihr auf ein Lichtsignal einschnappender Beifall wird bei populären Radioprogrammen, deren Sendung sie beiwohnen dürfen, gleich mit übertragen; sie nennen sich selbst jitterbugs, Käfer, die Reflexbewegungen ausführen, Schauspieler der eigenen Ekstase. Überhaupt von etwas hingerissen sein, eine vermeintlich eigene Sache haben, entschädigt sie für ihr armes und bilderloses Dasein. Der Gestus der Adoleszenz, entschlossen für diesen oder jenen von einem zum andern Tag zu »schwärmen«, mit der immer gegenwärtigen Möglichkeit, morgen schon als Narrheit zu verdammen, was man heute eifernd anbetet, ist sozialisiert. Freilich wird in Europa leicht übersehen, daß die Jazzanhänger dort keineswegs denen in Amerika gleichen. Das Exzessive, Unbotmäßige, das am Jazz in Europa immer noch mitgefühlt wird, fehlt heute in Amerika. Die Erinnerung an die anarchischen Ursprünge, die der Jazz mit allen rezipierten Massenbewegungen der Gegenwart teilt, ist gründlich verdrängt, wiewohl sie unterirdisch weitergeistern mag. Jazz als Institution ist vorgegeben, taken for granted, stubenrein und gut gewaschen. Das Moment der Gefügigkeit im parodistischen Überschwang jedoch teilen die Jazzbegeisterten aller Länder. Darin mahnt ihr Spiel an den tierischen Ernst von Gefolgschaften in totalitären Staaten, mag auch der Unterschied von Spiel und Ernst auf den 127
von Leben und Tod hinauslaufen. Die Reklame für irgendeinen Schlager, den eine berühmte name band spielte, lautete: >Follow Your Leader, X. Y.<. Während in europäischen Diktaturstaaten die Führer beider Schattierungen wider die Dekadenz des Jazz eiferten, hatte die Jugend der anderen schon längst sich von den synkopierten Gehtänzen, deren Kapelle nicht umsonst von der Militärmusik abstammt, elektrisieren lassen wie von Märschen. Die Zweiteilung in Kerntruppen und unartikulierte Gefolgsleute hat etwas von der zwischen der Partei-Elite und den restlichen Volksgenossen.
Das Jazzmonopol beruht auf der Ausschließlichkeit des Angebots und der Ökonomischen Übermacht dahinter. Aber es wäre längst gebrochen, enthielte nicht die allgegenwärtige Spezialität ein Allgemeines, auf das die Menschen ansprechen. Der Jazz muß eine »Massenbasis« besitzen, die Technik muß an ein Moment in den Subjekten anknüpfen, das freilich wieder auf die soziale Struktur und auf typische Konflikte zwischen Ich und Gesellschaft zurückverweist. Auf der Suche nach jenem Moment wird man zunächst an den Excentric-Clown denken oder Parallelen mit älteren Filmkomikern ziehen. Die Kundgabe individueller Schwäche wird widerrufen, das Stolpern als eine Art höherer Geschicklichkeit bestätigt. In der Integration des Asozialen berührt sich das Schema des Jazz mit dem ebenso standardisierten des Kriminalromans und seiner Ableger, wo regelmäßig die Welt so verzerrt - oder enthüllt - ist, als wäre das Asoziale, das Verbrechen die alltägliche Norm, und wo man zugleich durch den unvermeidlichen Sieg der Ordnung die lockende und bedrohliche Anfechtung wegzaubert. Dem allen wäre wohl einzig die psychoanalytische Theorie angemessen. Ziel des Jazz ist die mechanische Reproduktion eines regressiven Moments, eine Kastrationssymbolik, die zu bedeuten scheint: gib den Anspruch deiner Männlichkeit auf, laß dich kastrieren, wie der eunuchenhafte Klang der Jazzband es verspottet und proklamiert, und du wirst dafür belohnt, in einen Männerbund aufgenommen, welcher das 128
Geheimnis der Impotenz mit dir teilt, das im Augenblick des Initiationsritus sich lüftet1. Daß diese Deutung des Jazz, von dessen sexuellen Implikationen die schockierten Feinde eine bessere Vorstellung haben als die Apologeten, nicht willkürlich und zu weit hergeholt ist, ließe an zahllosen Details der Musik wie der Schlagertexte sich belegen. In dem Buch >American Jazz Music< beschreibt Wilder Hobson einen frühen Jazzkapellmeister namens Mike Riley, der als musikalischer Exzentrik wahre Verstümmelungen an den Instrumenten muß verübt haben. »The band squirted water and tore clothes, and Riley offered perhaps the greatest of trombone comedy acts, an insane rendition of Dinah during which he repeatedly dismembered the hörn and reassembled it erratically until the tubing hung down like brass furnishings in a junk shop, with a vaguely harmonic honk still sounding from one or more of the loose ends.« Längst zuvor hatte Virgil Thomson die Leistungen des berühmten Jazztrompeters Armstrong mit denen der großen Kastraten des achtzehnten Jahrhunderts verglichen. Für die ganze Sphäre steht der Sprachgebrauch ein, der zwischen long-haired und short-haired musicians unterscheidet. Die letzteren sind die Jazzleute, die Geld verdienen und sich gepflegtes Aussehen leisten können; die andern, etwa der Karikatur des slawischen Pianisten mit der langen Mähne nachgebildet, fallen unter ein geringschätziges Stereotyp des zugleich hungerleidenden und über konventionelle Anforderungen sich frech hinwegsetzenden Künstlers. Soweit der manifeste Inhalt jenes Sprachgebrauchs. Wofür aber das abgeschnittene Haar einsteht, bedarf kaum der Erläuterung. Im Jazz werden die Philister, die über Simson sind, in Permanenz erklärt. Wahrhaft die Philister. Denn während die Kastrationssymbolik tief vergraben ist im Vollzug des Jazz, durch die Institutionalisierung des Immergleichen vom Bewußtsein abgezogen, wenn auch vielleicht darum um so mächtiger, laufen die Praktiken des Jazz sozial auf die fast bis in die Physiologie des Subjekts hinein fortgesetzte Anerkennung einer traumlos-realistischen, von jeglicher Erinnerungsspur *Die Theorie ist entfaltet in der 1936 in der )Zeitschrift für Sozialforschung< erschienenen Studie >Über Jazz< (S. 252ff.) und ergänzt in einer Kritik der Bücher von Sargeant und Hobson in den >Studies in Philosophy and Social Science<, 1941, S. 175.
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ans nicht ganz Eingefangene gereinigten Welt hinaus. Man muß, um die Massenbasis des Jazz zu begreifen, sich Rechenschaft geben von dem Tabu, das in Amerika, allem offiziellen Kunstbetrieb zum Trotz, über dem künstlerischen Ausdruck, sogar den Ausdrucksregungen von Kindern liegt die progressive education, die sie zum freien Produzieren anhält, ja Ausdrucksfähigkeit zum Selbstzweck erklärt, ist einzig eine Reaktion darauf. Während der Künstler teils toleriert, teils als »Unterhalter«, als Funktionär in die Konsumsphäre eingeschaltet, wie ein höher bezahlter Oberkellner der Forderung nach Diensten unterworfen wird, ist das Stereotyp des Künstlers zugleich das des Introvertierten, des egozentrischen Narren, vielfach des Homosexuellen. Mögen immer solche Eigenschaften den Berufskünstlern nachgesehen, mag selbst ein skandalöses Privatleben als Teil der Unterhaltung von ihnen erwartet werden - jeder andere macht durch die spontane, nicht vorweg gesellschaftlich gesteuerte künstlerische Regung sich bereits verdächtig. Ein Kind, das lieber ernste Musik hört oder Klavier übt, als sich ein Baseballspiel anzuschauen oder fernzusehen, wird in seiner Klasse oder in den anderen Gruppen, denen es angehört und die ihm weit mehr Autorität verkörpern als Eltern oder Lehrer, als sissy, als weibischer Schwächling, zu leiden haben. Der Ausdrucksregung selber gilt bereits die gleiche Kastrationsdrohung, die im Jazz symbolisiert und mechanisch-rituell bewältigt wird. Trotzdem jedoch ist gerade während der Entwicklungsjahre das Ausdrucksbedürfnis, das mit Kunst ihrer objektiven Qualität nach gar nichts zu tun zu haben braucht, nicht ganz auszutreiben. Die Halbwüchsigen sind noch nicht völlig vom Erwerbsleben und dessen seelischem Korrelat, dem »Realitätsprinzip«, unterjocht. Ihre ästhetischen Impulse werden von der Unterdrückung nicht einfach ausgelöscht, sondern abgelenkt. Der Jazz ist das bevorzugte Medium solcher Ablenkung. Den Massen der Jugendlichen, die der zeitlosen Mode Jahr um Jahr zulaufen, vermutlich um sie nach ein paar Jahren zu vergessen, liefert er einen Kompromiß zwischen ästhetischer Sublimierung und gesellschaftlicher Anpassung. Das »unrealistische«, praktisch unverwertbare, imaginative Element wird durchgelassen, soweit es im eigenen Charakter derart sich verän130
dert, daß es selber dem Realbetrieb unermüdlich sich anähnelt, seine Gebote in sich wiederholt, ihnen willfahrt und damit dem Bereich wieder sich eingliedert, aus dem es ausbrechen wollte. Kunst wird entkunstet: sie tritt selber als ein Stück jener Anpassung auf, der ihr eigenes Prinzip widerspricht. Von daher fällt Licht auf manche absonderlichen Züge des Jazzverfahrens. So auf die Rolle des Arrangements, die keineswegs bloß aus technischer Arbeitsteilung oder aus dem musikalischen Illiteratentum der sogenannten Komponisten zulänglich sich erklärt. Nichts darf sein, was es an sich ist; alles muß zurechtgestutzt werden, Spuren einer Zubereitung tragen, die es, indem es dem schon Bekannten sich annähert, leichter auffaßbar machen, zugleich aber auch bezeugen, daß es bestimmt ist, dem Hörer zu Willen zu sein, ohne ihn zu idealisieren, und die schließlich es kenntlich machen als ein vom Gesamtbetrieb Gebilligtes, das keinerlei Distanz beansprucht, sondern vorbehaltlos mitspielt: Musik, die sich nichts Besseres dünkt. Ebenso gehorcht dem Primat der Anpassung die spezifische Art von Geschicklichkeit, welche der Jazz von den Musikern und zu einigem Maß auch von den Hörern, sicherlich von den Tänzern verlangt, welche die Musik imitieren wollen. Ästhetische Technik, als Inbegriff der Mittel zur Objektivierung einer autonomen Sache, wird ersetzt durch die Fähigkeit, Hindernisse zu nehmen, sich nicht durch Störungsfaktoren wie die Synkope irremachen zu lassen und dabei doch die der abstrakten Spielregel unterstellte Sonderaktion schlau durchzuführen. Der ästhetische Vollzug wird sportifiziert von einem Tricksystem. Wer seiner mächtig bleibt, erweist sich zugleich als praktisch. Die Leistung des Jazzmusikers und -kenners addiert sich zu einer Folge glücklich bestandener Tests. Der Ausdruck aber, eigentlicher Träger des ästhetischen Protests, wird ereilt von der Macht, gegen die er protestiert. Vor ihr nimmt er den Klang des Hämischen und Jämmerlichen an, der eben noch flüchtig ins Grelle und Aufreizende sich kostümiert. Das Subjekt, das sich ausdrückt, drückt eben damit aus: ich bin nichts, ich bin Dreck, es geschieht mir recht, was man mit mir macht; es ist potentiell schon einer jener Angeklagten russischen Stils, die zwar unschuldig sind, aber von Anbeginn mit dem 131
Staatsanwalt kooperieren und keine Strafe schwer genug für sich finden. War einmal das ästhetische Bereich, als eine Sphäre eigener Gesetze, aus dem magischen Tabu hervorgegangen, welches das Heilige vom Alltäglichen sonderte und jenes rein zu halten gebot, so rächt sich nun die Profanität am Nachkommen der Magie, der Kunst. Diese wird am Leben gelassen nur, wenn sie aufs Recht der Andersheit verzichtet und der Allherrschaft der Profanität sich einordnet, an welche am Ende das Tabu überging. Nichts darf sein, was nicht ist wie das Seiende. Jazz ist die falsche Liquidation der Kunst: anstatt daß die Utopie sich verwirklichte, verschwindet sie aus dem Bilde.
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Bach gegen seine Liebhaber verteidigt
Die heute herrschende musikwissenschaftliche Ansicht von Bach trifft zusammen mit der Rolle, die ihm Stagnation und Betriebsamkeit der auferstandenen Kultur zuweisen. Es soll sich in ihm, mitten im aufgeklärten Jahrhundert, nochmals die traditional verbürgte Gebundenheit, der Geist der mittelalterlichen Polyphonie, der theologisch überwölbte Kosmos offenbaren. Seine Musik sei dem Subjekt und seiner Zufälligkeit enthoben; sie töne nicht sowohl vom Menschen und seinem Inwendigen, als daß in ihr die Ordnung des Seins an sich verpflichtend laut werde. Die als unveränderlich und unausweichlich vorgestellte Struktur solchen Seins wird zum Surrogat des Sinnes: was nicht anders sein kann, als es erscheint, zur Rechtfertigung seiner selbst. An ihn halten sich alle, die, des Glaubens wie der Selbstbestimmung entwöhnt oder ihrer nicht mehr fähig, nach Autorität suchen, weil es gut wäre, geborgen zu sein. Die derzeitige Funktion seiner Musik ähnelt der ontologischen Mode: durchs Versprechen, den individualistischen Zustand kraft Setzung eines den Menschen übergeordneten, dem Dasein enthobenen, zugleich jedoch eindeutigen theologischen Inhalts entratenden, abstrakten Prinzips zu überwinden. Sie genießen die Ordnung seiner Musik, weil sie sich unterordnen dürfen. Das Werk, das einmal aus der Enge des theologischen Horizonts sich erzeugte, um ihn zu durchbrechen und in Universalität überzugehen, wird in die Schranken zurückgerufen, die es überstieg: Bach wird von der ohnmächtigen Sehnsucht zu eben dem Kirchenkomponisten degradiert, gegen dessen Amt seine Musik sich sträubte und das er nur unter Konflikten erfüllte. Was ihn von den Verfahrungsweisen seiner Epoche absetzt, wird nicht als Widerspruch seines Gehalts zu diesen verstanden, sondern taugt einzig dazu, den Nimbus handwerkerlicher Beschränktheit ins Klassische zu erhöhen. Die Reaktion, ihrer politischen Helden beraubt, bemächtigt sich vollends dessen, den sie längst unter dem 133
schmachvollen Namen des Thomaskantors beschlagnahmt hatte. Amusische Gymnasien monopolisieren ihn, und seine Wirkung geht nicht länger, wie noch bei Schumann und Mendelssohn, von dem aus, was musikalisch in seiner Musik sich zuträgt, sondern von Stil und Spiel, von Formel und Symmetrie, vom bloßen Gestus des Bestätigten. Indem der neureligiöse Bach in den Dienst der konvertitenhaften Begierde tritt, wird er zugleich arm, schmal, eben des spezifischen musikalischen Inhalts enteignet, von dem wiederum sein Prestige zehrt. Ihm widerfährt, was seine eifernden Protektoren am letzten Wort haben möchten, er verwandelt sich in ein neutralisiertes Kulturgut, in dem trüb das ästhetische Gelingen mit einer an sich nicht mehr substantiellen Wahrheit sich vermischt. Sie haben aus ihm einen Orgelfestspielkomponisten fürwohlerhalteneBarockstädte gemacht, ein Stück Ideologie. 2
Die einfachste historische Reflexion sollte gegen das historistische Bild Bachs mißtrauisch machen. Zeitgenosse der Enzyklopädisten, starb er sechs Jahre vor der Geburt Mozarts, zwanzig nur vor der Beethovens. Nicht die kühnste Konstruktion von der »Ungleichzeitigkeit« der Musik könnte die These tragen, daß in einem einzelnen Ich substantiell sich am Leben erhält, was der Geist der Epoche auflöste, als vermöchte je die Wahrheit eines Phänomens schlicht dessen Rückständigkeit sich zu verdanken. Schlechter Individualismus und der Aberglaube ans Zeitlose finden sich zusammen: nur Willkür unternimmt es, den Einzelnen aus seiner wie immer auch polemischen Beziehung zum geschichtlichen Stand des Bewußtseins zu isolieren. Dem Einwand, Bach habe, in seiner gleichsam geschichtslosen Werkstatt, in die doch alle technischen Funde der Epoche eingingen, von jenem Zeitgeist nichts erfahren als den Pietismus der Texte seiner geistlichen Werke, also eine der Aufklärung feindliche Tendenz, wäre zu erwidern, daß der Pietismus selber, wie alle Gestalten von Restauration, die Kräfte derselben Aufklärung in sich enthielt, der er sich entgegensetzte. Das Subjekt, das vermöge der Versenkung in sich, kraft reflektierter 134
»Innerlichkeit« der Gnade meint habhaft weiden zu können, ist bereits aus der dogmatischen Ordnung entlassen und auf sich selbst gestellt, autonom in der Wahl der Heteronomie. Die Teilhabe an der Zeit bezeugen aber drastisch Sachverhalte im Gefüge von Bachs Musik. Man vergißt über dem Gegensatz der Generation Philipp Emanuels zu der des Vaters, daß dessen ceuvre die ganze Sphäre des »Galanten« einbegreift, nicht bloß in Stilmodellen wie den Französischen Suiten, in denen zuweilen die mächtige Hand genrehafte Typen des neunzehnten Jahrhunderts vorweg ein für alle Mal zu prägen scheint, sondern auch in großen durchkonstruierten Gebilden wie der Französischen Ouvertüre, wo auf Bachische Weise das Gefällige und Organisierte nicht weniger vollkommen sich durchdringt als dann im Wiener Klassizismus. Wer aber spielte das Wohltemperierte Klavier, dessen Titel zum Prozeß der Rationalisierung sich bekennt, aufgeschlossen durch, ohne stets wieder auf ein lyrisches Element zu stoßen, das mit Differenziertheit, Individuation, Freiheit eher zu Vierzehnheiligen paßt als zu einem selbst schon fragwürdigen Bild des Mittelalters? Es sei an Fis-Dur-Präludium und Fuge aus dem ersten Band erinnert; jene Fuge, die einmal ein Komponist dem Kellerschen Tanzlegendchen verglich und in der nicht bloß subjektive Anmut unmittelbar sich darstellt, sondern wo überdies der kompositorische Verlauf selber, indem das Motiv des Zwischensatzes seinen Impuls im Verlauf des Stücks den Durchführungen mitteilt, allem regelhaften ordo der Fuge, den doch Bach selber hervorgebracht hatte, ein Schnippchen schlägt. Oder die Doppelfuge in gis-moll aus dem zweiten Band, die der späte Beethoven gut gekannt haben muß: erstaunlich nicht bloß um der bei Bach keineswegs seltenen Chromatik, sondern mehr noch um der schwebenden, gewählt vagen Harmonisierung willen, die beim Sechsachtelcharakter des Stücks unabweislich den reifsten Chopin heraufruft; das Ganze eine in zahllosen Farbfacetten gebrochene Musik, modern genau in jenem Sinne nervöser Empfindlichkeit, den der Historismus exorzieren möchte. Wer dem gegenüber von romantischen Mißverständnissen reden wollte, der müßte dem thema probandum zuliebe erst jeder spontanen Beziehung zum Sinn des musikalischen Idioms sich ent135
schlagen, wie sie von Monteverdi bis Schönberg überhaupt als Voraussetzung dem Verständnis von Musik zugrunde lag. Aus solchen Gebilden, auf Kosten des Subjekts, nichts als die Ordnung des Seins herauszuhören anstelle des sehnsüchtig beseelten Echos, das die entsinkende im Bewußtsein findet, ergriffe nur das caput mortuum. Das Phantasma der Bachischen Ontologie kommt zustande durch die mechanische Gewalttat des Banausen, der einzig begehrt, der Kunst zu parieren, weil ihm die Organe für ihren Sinn abgehen. 3
All dem freilich stehen jene Züge Bachs entgegen, die man zu seiner Zeit bereits als anachronistisch empfand. Sie tragen Schuld an der rätselhaften Amnesie, die sein Werk achtzig Jahre lang zudeckte und, mit unabsehbarer Folge für die Geschichte der abendländischen Musik, verhinderte, daß seine Errungenschaften in gerader Tradition und ganzem Umfang dem Wiener Klassizismus zuteil wurden. Bach erfüllte in der Tat nicht bloß den Geist des Generalbasses, des stufenmäßigharmonischen Denkens, sondern er war in jenem Geiste zugleich der Polyphoniker, der aus den tappenden Ansätzen des siebzehnten Jahrhunderts die Form der Fuge schuf ihre Theorie ist von ihm abgezogen so wie die des strengen Kontrapunkts von Palestrina - und ihr einziger Meister blieb. Aber gerade die Doppelheit harmonischen und kontrapunktischen Bewußtseins, welche ein jegliches der Kompositionsprobleme umschreibt, die Bach paradigmatisch auflöste, schließt das Bild vom Vollender des Mittelalters aus. Wäre er gewesen, wozu sie ihn stempeln, so hätte er weder jene Doppelheit in sich gehabt, noch, zumal in den spekulativen Werken der Spätzeit, um ein Paradoxon sich bemüht, das dem alten polyphonen Bewußtsein unvorstellbar war, nämlich wie Musik es vermöchte, harmonisch-generalbaßmäßig in jeder Fortschreitung als sinnvoll sich auszuweisen und zugleich polyphon, durch die Simultaneität selbständiger Stimmen sich ganz und gar zu organisieren. Schon der bloße Ausdruck mancher der archaisch auftretenden Stücke sollte skeptisch stimmen. Der affirmative Ton der Es-Dur136
Fuge aus dem zweiten Band des Wohltemperierten Klaviers ist nicht der unmittelbarer Gewißheit einer musikalisch laut werdenden, in der offenbaren Wahrheit gesicherten sakralen Gemeinschaft - den Niederländern liegt solche Affirmation und Emphase ganz fern. Sondern es ist, der Substanz, gewiß nicht dem subjektiven Bewußtsein nach, die Reflexion aufs Glück des Bestätigten, der musikalischen Geborgenheit, wie sie einzig dem emanzipierten Subjekt zuteil wird: es erst vermag Musik als das nachdrückliche Versprechen objektiver Rettung zu konzipieren. Eine solche Fuge setzt den Dualismus voraus. Sie sagt, wie schön es wäre, die Botschaft der Bestätigung aus dem umgrenzten Kosmos zum Menschen zurückzubringen: sie ist, zum Ärgernis des religiösen Neophytentums von heutzutage, romantisch, nur freilich unbeschreiblich viel weiter greifend, als es späterhin der romantische Stil sich zutrauen konnte. Sie spiegelt nicht das einsame Subjekt als Garanten des Sinnes zurück, sondern meint dessen Aufhebung in einem objektiv umfassenden Absoluten. Aber dies Absolute wird beschworen, behauptet, gesetzt, gerade weil und soweit es der leibhaften Erfahrung nicht gegenwärtig ist, und Bachs Gewalt ist die solcher Beschwörung. Er war kein archaischer Handwerksmeister, sondern ein Genius des Eingedenkens. Erst die heraufziehende Barbarei, die Kunstwerke aufs Vorfindliche vereidigt, blind gegen die Differenz von Wesen und Erscheinung in ihnen, kann bieder das Sein seiner Musik mit seiner Intention verwechseln und damit genau jene Metaphysik in ihm ausrotten, die zu protegieren man sich vornimmt. Da aber der Barbarei mit dem Wesen auch das Vorfindliche sich verfinstert, so wird übersehen, daß gerade die besonderen polyphonischen Mittel, deren Bach zur Konstruktion musikalischer Objektivität sich bedient, Subjektivierung voraussetzen. Die Kunst der Fugenkomposition ist eine der motivischen Ökonomie: durch Ausnutzung der kleinsten Bestandteile eines Themas aus diesem ein Integrales herzustellen. Es ist eine Kunst der Zerlegung, fast ließe sich sagen, der Auflösung des als Thema gesetzten Seins, unvereinbar mit der Allerweltsvorstellung, dies Sein hielte in der durchgeformten Fuge statisch, unveränderlich sich durch. Solcher Technik gegenüber verwendet Bach die eigentlich mittelalterliche 137
der polyphonen Gestaltung, die Imitatorik, nur an zweiter Stelle. In den übrigens bei Bach keineswegs gehäuften Teilen und Stücken, wo Imitatorik triumphiert, den Engführungen und Engführungsfugen, wie der zu dichtestem Leben gesteigerten in D-Dur aus dem zweiten Bande, ist das ehrwürdige Mittel in den Dienst einer drängenden, durchaus dynamischen - durchaus »modernen«, Wirkung getreten. Daß unter dem Angriff der von der Polyphonie entbundenen neuen Kompositionsmittel die Identität der wiederkehrenden Themen bei Bach überhaupt sich erhalten konnte, bedeutet kaum mehr an Statik, als daß die dynamische Beethovensche Sonate durchweg der tektonischen Forderung der Reprise treulich nachkam, freilich um diese selber aus dem »Prozeß«derDurchführung zu entwickeln. Schönberg spricht in seinem letzten Buch mit Recht von BachsTechnik der entwickelnden Variation, die dann imWiener Klassizismus zum Kompositionsprinzip schlechthin geworden sei. Eine gesellschaftliche Dechiffrierung Bachs müßte vermutlich jene Aufspaltung des thematischVorgegebenen durch die subjektive Reflexion der daran sich bewährenden motivischen Arbeit in Zusammenhang bringen mit den Veränderungen des Arbeitsprozesses, die in derselben Epoche durch die Manufaktur sich durchgesetzt hatten und wesentlich in der Zerlegung der alten handwerklichen Verrichtungen in kleine Teilakte bestanden. Wenn daraus die Rationalisierung der materiellenProduktion resultierte, so hat Bach, der nicht umsonst sein instrumentales Hauptwerk nach der wichtigsten technischen Errungenschaft der musikalischen Rationalisierung nannte, als erster die Idee des rational konstituierten Werkes, der ästhetischen Naturbeherrschung auskristallisiert. Vielleicht ist es Bachs innerste Wahrheit, daß bei ihm j eneTendenz der Gesellschaft, bis heute die mächtigste der bürgerlichen Ära, indem sie im Bilde sich reflektiert, nicht bloß festgehalten ist, sondern versöhnt mit der Stimme des Humanen, die real von der gleichen Tendenz, als diese einmal losgelassen war, zum Schweigen verdammt wurde.
Wäre aber Bach in der Tat modern gewesen - warum dann war er archaistisch? Denn kein Zweifel kann daran sein, daß 138
seine Formenwelt, und gerade in den mächtigsten Manifestationen des noch jüngst von Hindemith grotesk verkannten Spätstils, vieles heraufruft, was schon seiner eigenen Zeit vergangen klang und aufs Mißverständnis des Schulmeisterlichen und Pedantischen hintersinnig angelegt scheint. Unmöglich, den Ton des siebzehnten Jahrhunderts zu überhören gerade in so großartigen Konzeptionen wie derTripelfuge in ds-moll aus dem ersten Band des Wohltemperierten Klaviers, die, um den Gegensatz der drei Themen desto drastischer herauszuarbeiten, alles, was nicht unmittelbar auf diesen Kontrast sich bezieht, gleichsam vorthematisch, motivisch unprofiliert läßt im Sinne der rudimentären vor-Bachischen Fugentypen, auf deren einen, die Ricercata, ein Wortspiel des Musikalischen Opfers anspielt. Wie jene trägt die im großen AUa-breve-Takt geschriebene E-Dur-Fuge des zweiten Bandes das Altertümliche bis ins Notenbild hinein, als wäre sie ixagusto einer freilich selber schon fiktiven, hochstilisierten Vergangenheit geschrieben, nicht anders als das berühmte Klavierkonzert im Italienischen. Bach gehorcht oftmals einer mit existentieller Gediegenheit höchst unvereinbaren Neigung, mit fremden, willkürlich ergriffenen Idiomen zu experimentieren und an ihnen die durchformende Kraft der musikalischen Gestaltung zu erwecken. Schon bei ihm bringt die Rationalisierung der kompositorischen Technik, das Vorwalten gleichsam subjektiver Vernunft es mit sich, daß zwischen allen objektiv verfügbaren Verfahrungsweisen der Epoche frei gewählt werden kann. An keine weiß er blind, substantiell sich gebunden, sondern ergreift jeweils die, welche der kompositorischen Intention am genauesten sich anmißt. Solche Freiheit zum Altertümlichen kann aber unmöglich als Vollendung der Tradition aufgefaßt werden, die gerade den disponierenden Blick über die Möglichkeiten verwehren müßte. Noch weniger ließe der Sinn des Bachischen Rückgriffs als restaurativ sich ansprechen. Denn die archaisch getönten Stücke sind oft genug gerade die kühnsten, nicht bloß was die kontrapunktische Kombinatorik anlangt, die ja unmittelbar durch die älteren polyphonen Veranstaltungen befördert wird, sondern auch mit Rücksicht auf das Avancierte der Wirkung. Jene cis-moll-Fuge, die beginnt, als sei sie ein dichtes Geflecht gleich relevanter Linien, 139
deren »Thema« zunächst nichts anderes scheint als der unauffällige Kitt, der die Stimmen zusammenhält, enthüllt sich in ihrem Verlauf, vom Eintritt des figurierten zweiten Themas an, als ein unaufhaltsam auskomponiertes Crescendo, mit der mächtigen Explosion des Hauptthema-Einsatzes im Baß, der äußersten Zusammenballung einer pseudo-zehnstimmigen Engführung und dem Wendepunkt einer schwer betonten Dissonanz, um dann wie durch ein dunkles Tor zu verschwinden. Kein Hinweis auf den klanglich-statischen Charakter von Cembalo und Orgel vermag über die rein in der Kompositionsstruktur selbst gelegene Dynamik zu betrügen, gleichgültig ob sie auf den Instrumenten als Crescendo zu verwirklichen war, ja ob, wie die müßige Frage lautet, Bach auch nur ein solches Crescendo sich »vorstellte«. Nirgends steht geschrieben, daß die Vorstellung eines Komponisten von seiner Musik mit deren immanentem Wesen, ihrem objektiv eigenen Gesetz, zusammenfallen müsse. Barock ist ein solches Werk weit eher in dem Sinn des vom Theater des siebzehnten Jahrhunderts her vertrauten Exzessiven, zum äußersten allegorischen Ausdruck Gesteigerten, auf perspektivische Wirkung Angelegten als in dem des »Vorklassischen«, dessen Begriff überall dort versagt, wo es um Bachs Spezifisches geht, und am meisten bei seinen archaistischen Tendenzen. Um diesen gerecht zu werden, wird man nach ihrer Funktion im kompositorischen Gefüge fragen müssen. Und dabei stößt man auf eine Doppeldeutigkeit des Fortschritts selber, die mittlerweile universal sich entfaltete. Für modern galt seiner Zeit, was die Last der res severa abschüttelte um des Gaudiums willen, des Gefälligen und Spielerischen im Zeichen der Kommunikation, der Rücksicht auf den präsumtiven Hörer, dem mit der alten theologischen Ordnung das Bewußtsein geschwunden war, die an jene Ordnung mahnende Formensprache sei verbindlich. Weder läßt die historische Notwendigkeit sich verleugnen, daß Kunst Mittel preisgibt, wenn sie nicht länger vom objektiven Geist getragen werden, noch, daß jene Wendung Kräfte des menschlich Beredten in der Musik entband, die schließlich selber in einer höheren Gestalt der Wahrheit resultierten. Der Preis aber, der für die errungene Freizügigkeit bezahlt wurde, war die immanente Stimmigkeit der 140
Musik. Gerade die frühen Produkte des »ungelehrten« Stils, am auffälligsten die von Bachs eigenen Söhnen, hatten ihn zu entrichten. Jäh erleuchtet sich das Rätselbild solcher Doppeldeutigkeit des Fortschritts, wenn man kommensurable Formtypen des Wiener Klassizismus und Bachs vergleicht, das Rondo eines Mozartschen Klavierkonzerts mit dem Presto des Italienischen. Trotz all der gewonnenen Geschmeidigkeit und Luftigkeit des Komponierens hat Mozarts sprichwörtliche Grazie, verglichen mit dem unendlich in sich vermittelten, unschematischen Verfahren Bachs, als rein musikalische peinture etwas Mechanisches und Vergröbertes. Es ist Grazie des Tons eher als der Faktur. Je deutlicher die Umrisse der Form geworden sind, um so mehr scheint deren dichte und reine Konsequenz durch den Appell ans einmal etablierte Schema ersetzt. Wer, nach andauernder intensiver Beschäftigung mit Bach, zu Beethoven zurückkehrt, dem kommt es selbst dort zuweilen vor, als stünde er einer Art von dekorativer Unterhaltungsmusik gegenüber, wo das Kulturcliche einzig Tiefe vermutet. Gewiß ist ein solches Urteil verzerrt und befangen und bringt den Maßstab an den Gegenstand von außen heran. Nicht umsonst würden ihm die heutigen Apologeten Bachs zustimmen. Aber es enthält doch Elemente der geschichtlichen Konstellation, die Bachs Wesen ausmacht. Seine archaistischen Züge begreifen in sich den Versuch, jene Verarmung und Verhärtung der musikalischen Sprache zu parieren, die den Schatten ihres entscheidenden Fortschritts bildet. Sie meinen den Widerstand gegen den unaufhaltsamen ineins mit ihrer Subjektivierung sich durchsetzenden Warencharakter der Musik. Sie sind aber zugleich insofern identisch mit Bachs Moderne, als sie überall die fortgetriebene Konsequenz der musikalischen Logik der Sache selbst gegenüber ihrer Zession an den Geschmack vertreten. Der Archaist Bach unterscheidet von späteren Klassizisten bis hinauf zu Strawinsky sich dadurch, daß er kein abstraktes Stilideal dem geschichtlichen Stand des Materials konfrontiert. Sondern das Gewesene wird zum Mittel, das Zeitgenössische zur Zukunft der eigenen Entfaltung zu zwingen. Die Versöhnung von Gelehrt und Galant, die, wie Alfred Einstein hervorhob, seit Haydn die Idee des Wiener Klassizismus abgibt, ist in gewissem Sinn auch 141
die Bachs. Ihm aber war es nicht um einen mittleren Ausgleich beider Elemente zu tun. Er hat die Indifferenz der Extreme gegeneinander so radikal angestrebt wie erst wieder Beethovens Spätstil. Bach, als der fortgeschrittenste Generalbaßmeister, sagte zugleich, als altertümlicher Polyphoniker, der Tendenz der Zeit, die er selber ausprägte, den Gehorsam auf, um jener Tendenz zu ihrer eigenen Wahrheit zu verhelfen, der Emanzipation des Subjekts zur Objektivität in einem bruchlosen Ganzen, das in Subjektivität selber entspringt. Es geht um die ungeschmälerte Koinzidenz, det hatmonisch-funktionellen und der kontrapunktischen Dimension bis in die subtilsten Bestimmungen der Struktur. Das längst Vergangene wird zum Träger der Utopie des musikalischen Subjekt-Objekts, der Anachronismus zum Boten der Zukunft. 5 Danach aber wäre nicht nur die Erkenntnis der Bachischen Musik in Gegensatz gerückt zur herrschenden Meinung, sondern es wäre das unmittelbare Verhältnis zu ihr berührt. Es bestimmt sich wesentlich durch die Aufführungspraxis. Die hat aber heute, unterm Unstern des Historismus, einen sektiererischen Gestus angenommen. Er löst ein zelotenhaftes Interesse aus, das dem Werke selbst entzogen wird. Man kann sich zuweilen des Verdachts nicht erwehren, als käme es den heutigen Liebhabern Bachs einzig darauf an, daß nur ja keine unauthentische Dynamik, keine Modifizierungen der Tempi, keine zu großen Chöre und Orchester geduldet würden, und als warteten sie mit potentieller Wut auf jede humanere Regung, die in der Wiedergabe laut wird. Die Kritik an dem aufgeblähten und sentimentalisierten Bachbild der Spätromantik braucht nicht bestritten zu werden, wenn auch etwa die Beziehung zu Bach, die Schumanns Werk bezeugt, als unvergleichlich viel produktiver sich erwies denn die beflissene Reinheit von heutzutage. Wohl aber ist dieser abzuerkennen, worauf sie selber am meisten sich zugute tut: die Sachlichkeit. Sachlich wäre einzig eine Darstellung von Musik, die dem Wesen ihrer Sache angemessen 142
sich zeigt. Das fällt aber nicht, wie auch Hindemith es noch unterstellt, mit der Idee der historisch ersten Wiedergabe zusammen. Daß die koloristische Dimension der Musik in Bachs Ära kaum entdeckt, gewiß nicht als Kompositionsmittel freigesetzt war; daß die Komponisten noch nicht einmal zwischen den verschiedenen Klaviertypen und der Orgel streng unterschieden, sondern den Klang in weitem Maße dem Geschmack anheimgaben, weist in genau umgekehrte Richtung als das Verlangen, den damals gebräuchlichen Klang sklavisch zu imitieren. Wäre Bach -wirklich mit den Orgeln und Cembali und gar den dünnen Chören und Orchestern seiner Epoche zufrieden gewesen, so besagte das gar nicht, daß diese der Substanz seiner Musik an sich gerecht werden. Das Bewußtsein der Künstler von sich selbst ihre »Vorstellung« von den eigenen Werken ist ohnehin nie rekonstruierbar - vermag zwar zur Erkenntnis manches beizutragen, gibt aber nicht deren Kanon ab. Die authentischen Werke entfalten ihren Wahrheitsgehalt, der den individuellen Bewußtseinskreis überschreitet, kraft der Objektivität ihres eigenen Formgesetzes in der Zeit. Übrigens widerspricht, was vom Interpreten Bach überliefert wird, durchaus dem musikhistorischen Darstellungsstil und deutet auf eine Flexibilität, die lieber aufs Monumentale verzichtet als auf die Möglichkeit, den Ton der subjektiven Regung anzuschmiegen. Gewiß erschien Forkels berühmter Bericht zu lange nach Bachs Tod, um volle Authentizität beanspruchen zu können; aber was er vom Klavierspieler Bach mitteilt, folgt offensichtlich präzisen Angaben, und kein Grund liegt vor, warum in einer Zeit, die die Kontroverse noch nicht kannte und wenig Sympathien fürs Klavichord hegte, das Bild hätte verfälscht werden sollen: »Am liebsten spielte er auf dem Klavichord. Die sogenannten Flügel (seil. Cembali), obgleich auch auf ihnen ein gar verschiedener Vortrag stattfindet« — womit nur die Registrierung gemeint sein kann »waren ihm doch zu seelenlos, und die Pianoforte waren bei seinem Leben noch zu sehr in ihrer ersten Entstehung, und noch viel zu plump, als daß sie ihm hätten Genüge tun können. Er hielt daher das Klavichord für das beste Instrument zum Studieren, sowie überhaupt zur musikalischen Privatunterhaltung. Er fand es zum Vortrag seiner feinsten Ge143
danken am bequemsten, und glaubte nicht, daß auf irgendeinem Flügel oder Pianoforte eine solche Mannigfaltigkeit in den Schattierungen des Tons hervorgebracht werden könne, als auf diesem zwar tonarmen, aber im einzelnen außerordentlich biegsamen Instrument.« Was aber für die Differenzierung des Intimen gilt, gilt umgekehrt erst recht für die ausladende Dynamik der großen Chorwerke. Gleichgültig wie in der Thomaskirche verfahren wurde, eine Aufführung etwa der Matthäuspassion mit den kargen Mitteln wirkt fürs gegenwärtige Ohr blaß und unverbindlich wie eine Probe, zu der nur zufällig einige Teilnehmer sich eingefunden haben, und nimmt zugleich den lehrhaften Charakter des Justament an. Nicht genug damit aber tritt sie in Gegensatz zum Wesen der Bachischen Musik an sich. Der objektiv in seinem Werke verschlossenen Dynamik gebührt einzig eine Interpretation, welche sie realisiert. Denn die wahre Interpretation ist die Röntgenphotographie des Werks: ihr obliegt, im sinnlichen Phänomen die Totalität all der Charaktere und Zusammenhänge hervortreten zu lassen, welche Erkenntnis aus der Versenkung in den Notentext sich erarbeitet. Das Lieblingsargument der Puristen, all dies solle man dem Werk an sich überlassen, das man nur mit Selbstverleugnung auszusagen brauche, damit es rede, während die eigentlich interpretative Darstellung herausschreie, was sich ohne Zutun schlicht, doch um so eindringlicher kundgebe und was nur verzerrt werde, wenn man es hervorhebe - dies Argument ist ohne Kraft. Solange Musik überhaupt der Interpretation bedarf, hat sie ihr Formgesetz an der Spannung zwischen dem kompositorischen Wesen und der sinnlichen Erscheinung. In diese das Werk zu versetzen, rechtfertigt sich nur, wenn sie fürs Wesen zeugt. Eben das leistet die Reflexion im Subjekt und dessen Anstrengung. Der Versuch, dem objektiven Gehalt Bachs zu seinem Recht zu verhelfen, indem man die subjektive Anstrengung bloß daran wendet, das Subjekt auszumerzen, überschlägt sich. Objektivität bleibt nicht als Rest nach Subtraktion des Subjekts zurück. Nie und an keiner Stelle ist der musikalische Notentext mit dem Werk identisch; stets vielmehr gefordert, in der Treue zum Text zugleich zu ergreifen, was er in sich verbirgt. Bar solcher Dialektik wird die Treue zum Verrat: 144
die Interpretation, die sich um den musikalischen Sinn nicht kümmert, weil er aus sich heraus sich offenbare, anstatt ihn selber als je sich erst konstituierenden zu erkennen, verfehlt ihn. Er gehört nicht der von vermeintlicher Exhibition gereinigten Wiedergabe an, sondern diese, sinnlos an sich selber und vom »Unmusikalischen« nicht abzuheben, wird zur Mauer vor dem musikalischen Sinn, als dessen Fenster sie sich wähnt. Damit ist nicht den monströse Massen einsetzenden Bachaufführungen das Wort geredet, wie sie bis nach dem Ersten Krieg gang und gäbe waren. Die geforderte Dynamik bezieht sich nicht auf Stärkegrade und den Umfang von crescendo und decrescendo. Sie ist der Inbegriff aller kompositorischen Kontraste, Vermittlungen, Unterteilungen, Übergänge, Beziehungen, die das Werk in sich enthält; und in Bachs reifster Zeit war Komponieren nicht weniger die Kunst des infinitesimalen Übergangs als bei einem der Nachgeborenen. Der ganze Reichtum des musikalischen Gefüges, in dessen Integration seine Kraft eigentlich besteht, muß von der Aufführung zur Evidenz erhoben werden, anstatt daß man der Fülle ein starres, in sich unbewegtes Einerlei entgegensetzt, den nichtigen Schein einer Einheit, die das Mannigfaltige, das sie bewältigen soll, ignoriert. Die Reflexion auf den Stil darf nicht den konkreten musikalischen Inhalt verdrängen und sich selbstzufrieden bei der Pose transzendenten Seins bescheiden. Sie muß der unter der klanglichen Oberfläche verborgenen, kompositorischen Struktur der Musik folgen. Mechanisch zirpende Continuo-Instrumente, bettelhafte Schulchöre dienen nicht der heiligen Nüchternheit, sondern der hämischen Versagung, und daß etwa schrille und hüstelnde Barockorgeln die langen Wellen der lapidaren großen Fugen aufzufangen vermöchten, ist purer Aberglaube. Vom Gesamtniveau ihrer Epoche trennt Bachs Musik ein astronomischer Abstand. Beredt wird sie erst wieder, wenn sie der Sphäre des Ressentiments und des Obskurantismus entrissen ist, dem Triumph der Subjektlosen über den Subjektivismus. Sie sagen Bach, meinen Telemann und sind heimlich eines Sinnes mit jener Regression des musikalischen Bewußtseins, die ohnehin unterm Druck der Kulturindustrie droht. Freilich zeichnet die Möglichkeit sich ab, daß der Widerspruch zwischen 145
Bachs kompositorischer Substanz und den Mitteln von deren klanglicher Realisierung, den zu seiner Zeit verfügbaren sowohl wie den von der Tradition angesammelten, nicht länger sich schlichten läßt. Im Licht dieser Möglichkeit gewinnt die vielberufene klangliche »Abstraktheit« des Musikalischen Opfers und der Kunst der Fuge als der Werke, in denen die Wahl der Instrumente offenbleibt, einen neuen Horizont. Denkbar, daß in ihnen der Widerspruch von Musik und Klangmaterial - zumal die Unangemessenheit des Orgelklangs überhaupt an die unendlich gegliederte Struktur damals schon durchschlug. Dann hätte Bach den Klang ausgespart und seine reifsten Instrumentalwerke wartend auf den Klang, der ihnen selber gliche, hinterlassen. Bei diesen Stücken kann es am letzten sein Bewenden damit haben, daß kompositionsfremde Philologen die Stimmen ausschreiben und durchlaufenden Instrumenten oder Gruppen anvertrauen. Gefordert wäre, sie umzudenken für ein Orchester, das weder schmückt noch spart, sondern als Moment der integralen Komposition fungiert. Für die ganze Kunst der Fuge ward das bislang einzig von Fritz Stiedry angestrebt, dessen Bearbeitung es nicht über die eine New Yorker Aufführung hinausbrachte. Gerechtigkeit widerfährt Bach nicht durch die Usurpation stilkundiger Sachverständiger, sondern einzig vom fortgeschrittensten Stande des Komponierens her, der mit dem Stand des sich entfaltenden Werks von Bach konvergiert. Die wenigen Instrumentationen, die Schönberg und Anton von Webern beistellten, insbesondere die der großen Tripelfuge in Es-Dur und der sechsstimmigen Ricercata, in denen jeder Zug der Komposition in ein farbliches Korrelat übersetzt, die Oberfläche des Liniengeflechts in die kleinsten Motivzusammenhänge aufgelöst und diese dann durch die konstruktive Gesamtdisposition des Orchesters wieder vereint sind - diese Instrumentationen sind Modelle einer Stellung des Bewußtseins zu Bach, die dem Stande von dessen Wahrheit entspräche. Vielleicht ist der überlieferte Bach in der Tat uninterpretierbar geworden. Dann fällt sein Erbe dem Komponieren zu, das ihm die Treue hält, indem es sie bricht, und seinen Gehalt beim Namen ruft, indem es ihn aus sich heraus nochmals erzeugt. 146
Arnold Schönberg 1874-1951
Heard melodies are sweet, but those unheard Are sweeter; therefore, ye soft pipes, play on; Not to the sensual ear, but, more endear'd, Pipe to the spirit ditties of no tone. Keats
Dem öffentlichen Bewußtsein heute gilt Schönberg als Neuerer, als Reformator, wohl gar als Erfinder eines Systems. In widerwilligem Respekt räumt man ein, er habe für andere einen Weg bereitet, den zu betreten jene freilich keine große Neigung zeigen, läßt aber durchblicken, er habe es nicht selbst vollbracht und sei bereits veraltet. Der einst Verfemte wird verdrängt zugleich und gefahrlos aufgesogen. Nicht nur die Jugendwerke, sondern auch die der mittleren Zeit, die ihm einst den Haß aller Kulturbesitzer eintrugen, schiebt man als wagnerisch und spätromantisch ab, obgleich man sie in vierzig Jahren kaum nur richtig aufzuführen lernte. Was er dann nach dem Ersten Krieg erscheinen ließ, wird als Exempel der Zwölftontechnik gewertet. Wohl haben ihr neuerdings zahlreiche junge Komponisten sich anvertraut, aber eher wie einem Gehäuse, in das man unterschlüpft, als aus der Not der eigenen Erfahrung heraus, und daher ohne Sorge um die Funktion des Zwölftonverfahrens in Schönbergs eigenem ceuvre. Solche Verdrängung und Zurichtung wird herausgefordert von den Schwierigkeiten, die Schönberg einer von der Kulturindustrie gekneteten Hörerschaft bereitet. Wer etwas nicht versteht, projiziert gleich dem hohen Verstand von Mahlers Esel seine Unzulänglichkeit auf die Sache und erklärt diese für unverständlich. Tatsächlich erheischt Schönbergs Musik von Anbeginn aktiven und konzentrierten Mitvollzug; schärfste Aufmerksamkeit für die Vielheit des Simultanen; Verzicht auf die üblichen Krücken eines Hörens, das immer schon weiß, was kommt; angespannte Wahrnehmung des Einmaligen, Spezifischen und die Fähigkeit, die oftmals auf kleinstem Räume wechselnden Charaktere und ihre wie derholungslose Geschichte präzis 147
aufzufassen. Die Reinheit und Unbeirrtheit, mit der Schönberg der Forderung der Sache jeweils sich anvertraut, hat ihn von der Wirkung abgeschnitten; Rancune weckt gerade der Ernst, der Reichtum, die Integrität seiner Musik. Je mehr sie den Hörern schenkt, desto weniger bietet sie ihnen zugleich. Sie verlangt, daß der Hörer ihre innere Bewegung spontan mitkomponiert, und mutet ihm anstelle bloßer Kontemplation gleichsam Praxis zu. Damit aber frevelt Schönberg gegen die im Widerspruch zu allen idealistischen Beteuerungen gehegte Erwartung, daß Musik als eine Folge gefälliger sinnlicher Reize dem bequemen Hören sich präsentiere. Selbst Schulen wie die Debussys haben trotz der ästhetischen Atmosphäre des l'art pour l'art jener Erwartung entsprochen. Die Grenze zwischen dem jungen Debussy und der Salonmusik war fließend, und die technischen Errungenschaften des reifen wurden der kommerziellen Massenmusik behend einverleibt. Bei Schönberg hört die Gemütlichkeit auf. Er kündigt einen Konformismus, der die Musik als Naturschutzpark infantiler Verhaltensweisen inmitten einer Gesellschaft beschlagnahmt, die längst erkannte, daß sie sich ertragen läßt nur, wenn sie ihren Gefangenen eine Quote kontrollierten Kinderglücks zukommen läßt. Er versündigt sich gegen die Zweiteilung des Lebens in Arbeit und Freizeit; er verlangt für die Freizeit eine Art Arbeit, die an dieser selbst irremachen könnte. Sein Pathos gilt einer Musik, deren der Geist sich nicht zu schämen brauchte und die damit den herrschenden beschämt. Seine Musik will mündig werden an ihren beiden Polen: sie setzt das bedrohlich Triebhafte frei, das sonst Musik nur filtriert und harmonistisch gefälscht durchläßt; und spannt die geistige Energie aufs äußerste an; das Prinzip eines Ichs, das stark genug wäre, den Trieb nicht zu verleugnen. Kandinsky, in dessen Blauem Reiter er die >Herzgewächse< veröffentlichte, formulierte das Programm des »Geistigen in der Kunst«. Dem hielt Schönberg die Treue, nicht indem er auf Abstraktionen ausging, sondern indem er die konkrete Gestalt der Musik selber vergeistigte. Daraus wird ihm der beliebteste Vorwurf gemacht, der des Intellektualismus. Die immanente Kraft der Vergeistigung wird entweder verwechselt mit einer der Sache äußerlichen Reflexion, oder es wird dogmatisch Musik von jener 148
Forderung der Vergeistigung ausgenommen, die als Kor-, rektiv der Verwandlung von Kultur in Kulturgut für alle ästhetischen Medien unabweisbar ward. In Wahrheit ist Schönberg ein naiver Künstler gewesen, nicht zuletzt in den oft hilflosen Intellektualisierungen, mit denen er das Eigene zu rechtfertigen suchte. Wenn einer, so gehorchte er der überquellend unwillkürlichen musikalischen Anschauung. Die Sprache der Musik war dem halben Autodidakten selbstverständlich. Nur mit äußerstem Widerstreben hat er sie bis in ihre Grundschichten hinein verändert. Während seine Musik alle Kräfte des Ichs an die Objektivierung ihrer Impulse wandte, ist sie ihm zugleich zeitlebens »ichfremd« geblieben. Er selbst hat gern mit dem Erwählten sich identifiziert, der sich gegen den Auftrag wehrt; tapfer waren ihm »solche, die Taten vollbringen, an die ihr Mut nicht heranreicht«. Die Paradoxie der Formel charakterisiert seine Stellung zur Autorität. Ästhetischer Avantgardismus und konservative Gesinnung laufen nebeneinander her. Während er der Autorität durchs Werk die tödlichsten Schläge versetzt, möchte er es wie vor einer verborgenen Autorität verteidigen, schließlich selbst zur Autorität erheben. Dem Wiener aus engen Verhältnissen dünkten die Normen einer geschlossenen und halbfeudalen Gesellschaft gottgewollt. Aber solcher Respekt fand sich mit einem konträren, ob auch mit dem Begriff des Intellektuellen ebenso unvereinbaren Element zusammen. Etwas nicht Integriertes, nicht ganz Zivilisiertes, ja Zivilisationsfeindliches hielt ihn aus der gleichen Ordnung draußen, an der er so wenig Zweifel hegte. Wie ein Ursprungsloser, vom Himmel Gefallener, ein musikalischer Kaspar Hauser traf er jäh ins Schwarze. Nichts sollte an den Naturzusammenhang erinnern, dem er doch angehörte, und damit ward das Naturwüchsige an ihm selber um so sinnfälliger. Der die Fäden abgeschnitten hatte, um alles nur sich zu verdanken, gewann gerade in solcher Isolierung Kontakt mit dem kollektiven Unterstrom der Musik und jene Verbindlichkeit, die jedes einzelne seiner Gebilde für die ganze Gattung einstehen ließ. Nichts konnte mehr überraschen, als wenn der heiser und gereizt Sprechende ein paar Takte sang. Die warme, freie und wohltönende Stimme kannte das Fürchten nicht: das vorm Singen selber, das den Zivilisier149
ten eingebrannt ist und die falsche Unbefangenheit des Berufssängers doppelt peinlich macht. Anstatt der Eltern hatte er Musik selber eingesetzt, »musikalisch« als ein von der Sprache der Musik Getragener, sie wie einen Dialekt Sprechender, darin vergleichbar etwa Richard Strauß oder slawischen Komponisten. Von den allerersten Werken an, ganz deutlich schon in der >Verklärten Nacht<, strömt diese Sprache spezifische Wärme aus im Ton wie in der Fülle sukzessiver und simultaner musikalischer Gestalten, ungehemmt erzeugend, fast orientalisch fruchtbar. Genug ist nicht genug. Schönbergs Unduldsamkeit gegen alles ornamental Überladene, Aufgezäumte stammt aus Generosität: keine Ostentation soll dem Hörer den gediegensten Reichtum ersetzen. Schenkende Phantasie, eine künstlerische Gastfreundschaft, die jeden Geladenen mit dem Besten bedenkt, inspiriert ihn vielleicht mehr, als was man gemeinhin, fragwürdig genug, Ausdrucksbedürfnis nennt. Ganz unwagnerisch, entspringt seine Musik aus dem zeugenden Rausch, nicht der sehrenden Sehnsucht: unersättlich im Gewähren. Als wären alle künstlerischen Stoffe, an denen Schönberg sich erproben konnte, noch erborgt, schafft er schließlich den Stoff und dessen Widerstände sich selber in rastlosem Überdruß an allem, was er nicht hervorbringt wie am allerersten Tage. Die Flamme des Ungebändigten, Mimetischen, die Schönberg aus dem unterirdischen Erbe zuwächst, verzehrt zugleich das Erbe. Tradition und Neubeginn verschränken sich in ihm wie der revolutionäre und konservative Aspekt. Der Vorwurf des Intellektuellen geht mit dem des Mangels an Melodie zusammen. Aber er war der Melodiker schlechthin. Anstelle der eingeschliffenen Formel hat er unablässig neue Gestalten produziert. Kaum je kann seine melodische Eingebung mit einer einzelnen Melodie haushalten, sondern alle gleichzeitigen musikalischen Ereignisse werden als Melodien profiliert und damit gerade die Auffassung erschwert. Die ursprüngliche musikalische Reaktionsweise Schönbergs selbst ist melodisch: alles bei ihm eigentlich »gesungen«, auch die instrumentalen Linien. Das verleiht seiner Musik das Artikulierte, zugleich frei Schwingende und bis zum letzten Ton Gegliederte. Der Primat des Atmens über den Schlag der abstrakten Zeit macht den Gegensatz Schön150
bergs zu Strawinsky aus und all denen, die, der gegenwärtigen Existenz besser angepaßt, sich für moderner halten als Schönberg. Das verdinglichte Bewußtsein ist allergisch gegen die ausgreifende Erfüllung der Melodie und substituiert sie durch die gehorsame Wiederholung ihrer verstümmelten Bruchstücke. Das Vermögen, dem musikalischen Atem ohne Angst zu folgen, hat aber Schönberg bereits von anderen, älteren Komponisten der neudeutschen Schule wie Strauß und Wolf unterschieden, bei denen stets wieder die Entfaltung der Musik aus ihrer eigenen Substanz heraus paralysiert erscheint und ohne literarisch-programmatische Lückenbüßer, selbst im Lied, nicht auskommt. Ihnen gegenüber sind schon die Werke der ersten Periode, die noch die symphonische Dichtung >Pelleas und Melisande< und die Gurrelieder einschließt, auskomponiert. Der Wagnerischen Verfahrungsweise so wenig wie dem Wagnerischen Ausdruck ist Schönberg verwandt: indem der musikalische Impuls ans Ziel kommt, anstatt abzubrechen und abermals anzusetzen, verliert er das Moment des Süchtigen, obsessiv Befangenen. Schönbergs ursprünglicher Ausdruck, generös und im bedeutenden Sinne jovial, mahnt an den Beethovenschen des Humanen. Er ist freilich von Anbeginn bereit, in Trotz sich zu verwandeln gegen eine Welt, die den Schenkenden zurückstößt. Spott und Gewalt wollen das Kalte, Widerstrebende bezwingen, und zur Angst wird das Gefühl dessen, der die Menschen, eben weil er sie als Menschen anspricht, nicht erreicht. Daraus entsteht Schönbergs Ideal der Perfektion. Er reduziert, konstruiert, panzert die Musik; das zurückgewiesene Geschenk soll so vollkommen werden, bis es empfangen werden muß. Seine Liebe mußte sich reaktiv verhärten wie die allen Geistes seit Schopenhauer, der sich nicht bescheidet bei dem, was ist. Der Kraussche Vers »Was hat die Welt aus uns gemacht« gilt emphatisch für den Musiker. Schönbergs Nonkonformismus ist keine Sache der Gesinnung. Ihm ließ die Komplexion seiner musikalischen Anschauung keine Wahl als auszukomponieren. Zur Lauterkeit war er genötigt; die Spannung zwischen Brahmsischen und Wagnerischen Elementen mußte er austragen. Am Wagnerischen Material entzündete sich seine expansive Phanta151
sie, zur Brahmsischen Verfahrungsweise zog ihn die Forderung kompositorischer Konsequenz, die Verantwortung vor dem, wohin Musik von sich aus will. Demgegenüber war die Frage nach dem Brahmsischen oder Wagnerischen Stil bei Schönberg irrelevant. So wenig der Wagnerische Stil um seiner kompositorischen Schranken willen ihn kann befriedigt haben, so wenig konnte er sich bei dem akademischen Aspekt der Brahmsischen Lösung bescheiden. Er hat um der »Idee«, also der reinen Ausprägung musikalischer Gedanken willen den Begriff des Stils, als eine der Sache vorgeordnete und am äußerlichen Consensus orientierte Kategorie, in seiner Praxis stets so verworfen wie dann auch theoretisch. Auf allen Stufen kam es ihm auf das Was, nicht auf das Wie, die Selektionsprinzipien und Mittel der Präsentation an. Daher sollten denn auch die verschiedenen Stilphasen in seinem ceuvre nicht allzusehr belastet werden. Das Entscheidende findet sich schon recht früh, sicherlich nicht später als in den Liedern op. 6 und dem d-moll-Quartett op. 7. Wer in diesen Werken zu Hause ist, dem werden alle späteren zufallen. In den Neuerungen, die einmal Sensation machten, wurden einzig auch für die Sprache der Musik die vollen Konsequenzen aus dem gezogen, was die je einzelnen musikalischen Ereignisse im spezifischen Werk hervorgebracht hatten. Die Dissonanzen und weiten Intervalle, das Auffallendste an der Verfahrungsweise des reifen Schönberg, sind sekundär, bloße Derivate der inneren Zusammensetzung all seiner Musik; übrigens kommen die großen Intervalle schon beim jungen vor. Zentral ist die Bewältigung des Widerspruchs von Wesen und Erscheinung. Reichtum und Fülle soll Wesen werden, nicht bloßer Schmuck; das Wesen aber zutage kommen, nicht länger mehr starres Skelett, das die Musik umkleidet, sondern konkret und offenbar im subtilsten ihrer Züge. Das, was er das »Subkutane« nannte, das Gefüge der musikalischen Einzelereignisse als der unabdingbaren Momente einer in sich konsistenten Totalität, durchbricht die Oberfläche, wird sichtbar und behauptet sich unabhängig von jeglicher stereotypischen Form. Das Innere tritt nach außen. Das musikalische Phänomen reduziert sich auf die Elemente seines Strukturzusammenhangs. Ordnungskategorien, die auf Kosten der reinen Ausprägung des Ge152
bildes das Mithören erleichtern, werden beseitigt. Solche Absenz aller von außen ins Werk eingelegten Vermittlungen läßt dem unnaiv-naiven Hörer den musikalischen Vorgang, je höher er in sich organisiert ist, als zerrissen und abrupt erscheinen. Das frühe Lied >Lockung< aus op. 6 etwa, Prototyp eines Charakters, der bis in die Zwölftonphase wiederkehrt, hat eine zehntaktige Einleitung. Sie reiht drei scharf kontrastierende und auch im Tempo unterschiedene Gruppen aneinander: die erste viertaktig, die zweite und dritte je dreitaktig. Keine wiederholt sinnfällig etwas aus einer der vorhergehenden, alle aber sind durch eingreifende Variation aufeinander bezogen. Zugleich hängen die Gruppen syntaktisch zusammen: stürmische Frage, Nachdrängen und eine halbe, vorläufige und schon überleitende Antwort. Unendlich viel geschieht auf knappstem Raum und ist doch derart durchgeformt, daß es sich nie verwirrt. So variiert die zweite Gruppe die erste, indem zwar die Intervalle der kleinen Sekund und übermäßigen Quart erhalten bleiben, zugleich aber der Dreiachtel- zu einem Zweiachteltakt verkürzt wird, der eben den drängenden Charakter stiftet. Inmitten radikaler Veränderung waltet melodische Ökonomie. Solche Organisation des musikalischen Gefüges, nicht die Bevorzugung sinnfälliger Mittel ist das eigentlich Schönbergische: buntester Wechsel voneinander verschiedener und genau gegeneinander schattierter Gestalten bei universaler Einheit motivisch-thematischer Beziehungen. Es ist eine Musik der Identität in der Nichtidentität. Alle Entwicklungen vollziehen sich gedrängter und rascher, als die träge Gewohnheit des kulinarischen Hörens gutheißt; die Polyphonie operiert mit realen Stimmen, nicht mit umkleidenden Kontrapunkten; die Einzelcharaktere werden aufs äußerste geschärft, die Artikulation verzichtet auf alle fertigen Sigel, und der im neunzehnten Jahrhundert durch den Übergang verdrängte Kontrast wird, unterm Zwang einer nach Extremen polarisierten Gefühlslage, zum formbildenden Mittel. Technisch heißt das Mündigwerden der Musik Protest gegen die musikalische Dummheit. Ist Schönbergs Musik nicht intellektuell, so erheischt sie dafür musikalische Intelligenz. Ihr Grundprinzip ist, nach seinem Ausdruck, das der entwickelnden Variation. Was erscheint, will seine Kon153
sequenz, will weitergetrieben werden, gespannt, aufgelöst bis zum Ausgleich. Es herrscht universale Verpflichtung und Idiosynkrasie gegen alle Züge der Musik, die der journalistischen Sprache ähneln. Die Albernheit der Phrase ebenso wie der betrügerische Gestus, der mehr verspricht, als er hält, werden geächtet. Schönbergs Musik tut dem Hörer Ehre an, indem sie ihm nichts konzediert. Daher wird sie experimentell gescholten. Zugrunde liegt die Vorstellung, der Fortschritt der künstlerischen Mittel vollziehe sich in stetigem, gleichsam organischem Übergang. Wer eigenmächtig, ohne offenbare geschichtliche Deckung, Neues erfinde, verletze nicht nur die Ehrfurcht vorm Überkommenen, sondern verfalle der Eitelkeit und Ohnmacht. Aber in die Kunstwerke, auch die musikalischen, gehen Bewußtsein und Spontaneität von Menschen ein, und stets wieder machen sie den Schein kontinuierlichen Wachstums zunichte. Als die neue Musik noch das gute Gewissen ihrer Feindschaft gegen jene Tradition hatte, die Mahler als Schlamperei definierte, und nicht ängstlich zu beweisen suchte, eigentlich meine sie es nicht so böse, hat sie denn auch zum Begriff des Experimentellen sich bekannt. Einzig der Aberglaube, der das Verdinglichte und Verfestigte, wenn man will, gerade das der Natur Entfremdete, fetischistisch mit Natur verwechselt, wacht darüber, daß in Kunst nichts versucht werden darf. Gleichwohl hat das künstlerische Extrem zu verantworten, ob es der Logik der Sache, einer wie sehr auch verborgenen Objektivität gehorcht, oder bloß der privaten Willkür oder dem abstrakten System. Seine Legitimität aber zieht es wesentlich aus der Tradition, die es negiert. Hegel hat gelehrt, daß, wo ein Neues unvermittelt, schlagend, authentisch sichtbar wird, es längst sich bildete und nun die Hülle abwirft. Nur was von den Säften der Überlieferung sich nährte, hat wohl überhaupt die Kraft, dieser authentisch gegenüberzutreten; das andere wird zur hilflosen Beute der Mächte, von denen es allzu wenig in sich selber bewältigte. Jedoch das Band der Überlieferung ist schwerlich die simple Verwandtschaft dessen, was in der Geschichte aufeinanderfolgt, sondern ein Unterirdisches. »Eine Tradition«, heißt es in Freuds Spätschrift über Moses und den Monotheismus, »die nur auf 154
Mitteilung gegründet wäre, könnte nicht den Zwangscharakter erzeugen, der dem religiösen Phänomen zukommt. Sie würde angehört, beurteilt, eventuell abgewiesen werden wie jede andere Nachricht von außen, erreichte nie das Privileg der Befreiung vom Zwang des logischen Denkens. Sie muß das Schicksal der Verdrängung, den Zustand des Verweilens im Unbewußten durchgemacht haben, ehe sie bei ihrer Wiederkehr so mächtige Wirkungen entfalten, die Massen in ihren Bann zwingen kann.« Nicht nur die religiöse, auch die ästhetische Tradition ist Erinnerung an ein Unbewußtes, ja Verdrängtes. Wo sie in der Tat »mächtige Wirkungen« entfaltet, gehen diese nicht vom vordergründigen und geradlinigen Bewußtsein der Fortsetzung aus sondern eher von dort, wo das unbewußt Erinnerte die Kontinuität aufsprengt. Tradition ist gegenwärtig in den als experimentell gescholtenen Werken und nicht in den der eigenen Absicht nach traditionalistischen. Was an der neuen französischen Malerei längst bemerkt ward, trifft nicht minder für Schönberg und die Wiener Schule des Komponierens zu. Am manifesten Klangmaterial des Klassizismus und der Romantik, den tonalen Akkorden und ihren genormten Verbindungen, der zwischen Dreiklangs- und Sekundintervallen ausgewogenen Melodik, kurz der ganzen Fassade der Musik der letzten zweihundert Jahre wird von ihm produktive Kritik geübt. Aber in der großen Musik der Tradition kam es nicht auf jene Elemente als solche an sondern darauf, daß sie in der Darstellung des spezifisch musikalischen Inhalts, des Komponierten, eine genaue Funktion übernahmen. Unter der Fassade lag eine zweite, latente Struktur. Sie war vielfältig von der Fassade determiniert, hat aber zugleich auch jene, als ein dauernd Problematisches, stets aufs neue aus sich hervorgebracht und gerechtfertigt. Traditionelle Musik verstehen hieß immer auch: mit der Fassadenstruktur jener zweiten innewerden und das Verhältnis der beiden realisieren. Dies Verhältnis war, kraft der gesellschaftlichen Emanzipation der Subjektivität, so prekär geworden, daß am Ende beide Strukturen auseinanderklafften. Schönbergs spontane Produktivkraft vollstreckte einen objektiven historischen Richterspruch: er hat die latente Struktur freigesetzt, die manifeste beseitigt. So wurde er gerade im »Experiment«, 155
in der Ungewohntheit des Erscheinenden zum Erben der Tradition. Er hat Normen gehorcht, die im Wiener Klassizismus und dann in Brahms teleologisch enthalten waren, und auch in diesem historischen Sinn Verpflichtungen eingelöst. Die objektivierende Leistung unterm Primat des »Auskomponierens« war bei Brahms unverbindlich geraten, weil sie gleichsam leerläuft, nicht in einen ihr widerstrebenden musikalischen Stoff eingreift, den ausbrechenden Impuls überhaupt verleugnet. Bei Schönberg aber ist das musikalische Einzelmoment an sich, bis hinab zum »Einfall«, unvergleichlich viel substantieller. Seine Totalität geht, getreu dem geschichtlichen Stand des Geistes, vom Individuellen, nicht vom Plan oder der Architektur aus. Er zieht, wie rudimentär schon Beethoven, das romantische Element ins integrale Komponieren hinein. Es findet sich gewiß auch bei Brahms als liedähnliche Melodik inmitten der instrumentalen Form; dort aber wird es ausgeglichen, balanciert, in einer Art Äquilibrium mit der »Arbeit« gehalten, und daher rührt das Scheinhafte und, wenn man will, Resignierte der Brahmsischen Form, welche die Gegensätze weise schlichtet, anstatt sie sich durchdringen zu lassen. Bei Schönberg wird die Objektivierung des subjektiven Impulses zum Ernstfall. War die variierende motivisch-thematische Arbeit an Brahms geschult, so gehört die Polyphonie, kraft deren die Objektivierung des Subjektiven bei Schönberg ihre Schärfe gewinnt, ganz ihm an, buchstäblich das Eingedenken eines seit zweihundert Jahren Verschütteten. Sie wäre daraus abzuleiten, daß die Beethovensche »thematische Arbeit« insbesondere der Kammermusik polyphonische Verpflichtungen einging, ohne ihnen bis auf wenige Ausnahmen der Spätzeit nachzukommen. Wilhelm Fischer hat in seiner Studie >Zur Entwicklungsgeschichte des Wiener klassischen Stils< die Einsicht erreicht: »Im allgemeinen ist die Wiener klassische Durchführung der Tummelplatz für die nunmehr aus der Exposition verdrängten melodischen Mittel des alten klassischen Stils.« Nicht nur jedoch für das »barocke« melodische Fortspinnungsprinzip, sondern in viel höherem Maße für die Polyphonie, wie sie immer wieder in den Durchführungen sich regt, um zu versanden. Schönberg denkt zu Ende, was der Klassizismus versprach und nicht hielt, und 156
darüber zerbricht die traditionelle Fassade. Er hat die Bachische Forderung wieder aufgenommen, der der Klassizismus, Beethoven einbegriffen, sich entzog, ohne daß Schönberg doch hinter den Klassizismus zurückgefallen wäre. Dieser hatte Bach aus geschichtlicher Notwendigkeit vernachlässigt. Die Autonomie des musikalischen Subjekts überwog jedes andere Interesse und schloß kritisch die überkommene Gestalt der Objektivierung aus, während man mit dem Schein der Objektivierung vorliebnehmen konnte, so wie das ungehemmte Zusammenspiel der Subjekte die Gesellschaft zu garantieren schien. Heute erst, da die Subjektivität in ihrer Unmittelbarkeit nicht länger als höchste Kategorie waltet, sondern als der gesamtgesellschaftlichen Verwirklichung bedürftig durchschaut ist, wird die Insuffizienz selbst der Beethovenschen Lösung, die das Subjekt zum Ganzen ausbreitet, ohne das Ganze in sich zu versöhnen, erkennbar. Schönbergs Polyphonie bestimmt die Durchführung, die bei Beethoven noch auf der Höhe der Eroica »dramatisch«, nicht ganz auskomponiert bleibt, als dialektische Auseinanderlegung des subjektiven melodischen Impulses in der objektiv organisierten Mehrstimmigkeit. Dies Organisierende, kein Beliebiges Duldende unterscheidet den Schönbergischen Kontrapunkt von jedem anderen seiner Epoche. Es überwindet zugleich das lastende harmonische Schwergewicht. Er soll einmal gesagt haben, bei wirklich gutem Kontrapunkt denke man gar nicht an die Harmonie; das charakterisiert aber nicht nur Bach, bei dem die Stringenz der Mehrstimmigkeit das Generalbaß Schema vergessen läßt, in dem sie spielt, sondern auch Schönbergs eigenes Verfahren, in dem solche Stringenz schließlich jegliches Akkordschema und jegliche Fassade überflüssig macht: Musik des spirituellen Ohrs. Als »entwickelnde Variation« wird Vergeistigung zum technischen Prinzip. Es hebt alle bloße Unmittelbarkeit auf, indem es deren eigener Bewegung sich anvertraut. Schönberg hat ironisch davon gesprochen, daß die Musiktheorie eigentlich immer nur vom Anfang und vom Schluß handle, und nie von dem, was dazwischen geschieht, also von der Musik selber. Sein ganzes Werk ist ein einziger Versuch der Antwort auf jene von der Theorie umgangene Frage. Die 157
Themen und ihre Geschichte, der musikalische Verlauf, haben das gleiche Gewicht: ja die Differenz von beiden wird liquidiert. Das geschieht in der Gruppe der Werke, die etwa von den Liedern op. 6 bis zu den Georgeliedern reicht und die beiden ersten Quartette, die Erste Kammersymphonie und den ersten Satz der Zweiten umfaßt. Nur der Obsession mit »Stil« können sie als bloßer »Übergang« erscheinen; als Kompositionen sind sie von der höchsten Reife. Das d-tnollQuartett hat ein ganz neues Niveau bis zur letzten Note thematisch auskomponierter Kammermusik geschaffen. Wie es gestaltet ist, wurden später die Zwölftonwerke gestaltet; wer diese begreifen will, sollte lieber das d-moll-Quartett studieren als Reihen abzählen. Jeder »Einfall« vom ersten Takt an ist kontrapunktisch und birgt die Möglichkeit seiner Durchführung in sich; jede Durchführung bewahrt sich die Spontaneität des ersten Einfalls. In den knappen Dimensionen und der Vielstimmigkeit der Ersten Kammersymphonie dann ist, was immer noch im Ersten Quartett sukzessiv sich auslebte, zur Simultaneität zusammengedrängt. Damit beginnt die Fassade zu zerfallen, die das Quartett noch einigermaßen duldet. Schönberg hat in seinem letzten Buch beschrieben und belegt, wie er in der Exposition der Kammersymphonie dem unbewußten Impuls - also dem Desiderat der latenten Struktur - folgte, die übliche Vorstellung von der »Konsequenz« offenbarer thematischer Bezüge opferte und statt dessen die Konsequenz aus dem inneren Gefüge der Themen zog. Die beiden an der Oberfläche voneinander ganz unabhängigen Hauptmelodien des ersten Themenkomplexes erweisen sich als verwandt im Sinne des Reihenprinzips der späteren Zwölftontechnik: so weit reicht diese in Schönbergs Entwicklung zurück, ein Implikat des Kompositionsverfahrens eher als des bloßen Materials. Der Zwang jedoch, Musik vom Vorgedachten zu reinigen, führt nicht nur auf neue Klänge wie die berühmten Quartenakkorde, sondern auch auf eine neue, der Abbildung menschlicher Gefühle entrückte Ausdruckssphäre. Ein Dirigent hat das Auflösungsfeld am Ende der großen Durchführung mit Glück einer Gletscherlandschaft verglichen. Die Kammersymphonie sagt sich zum erstenmal von einer Grundschicht der Musik seit dem Generalbaßzeitalter los, dem Stile rap158
presentativo, der Anpassung der musikalischen Sprache an die meinende der Menschen. Zum erstenmal schlägt die Schönbergische Wärme ins Extrem einer Kälte um, deren Ausdruck das Ausdruckslose ist. Später hat er polemisch gegen die sich gewandt, die von der Musik »animalische Wärme« verlangen; sein Diktum, daß Musik ein nur durch Musik zu Sagendes sage, entwirft die Idee einer Sprache, die der der Menschen nicht gleicht. Das Helle, beweglich Spröde und gleichsam Stachlige, ein Charakter, der sich im Fortgang der Ersten Kammersymphonie verstärkt, antizipiert vor fünfzig Jahren die spätere Sachlichkeit ohne alle vorklassische Gebärde. Musik, die sich treiben läßt von der reinen und unverstellten Expression, wird gereizt empfindlich gegen alles, was diese Reinheit antasten könnte, gegen jegliche Anbiederung an den Hörer wie jegliche des Hörers an sie, gegen Identifikation und Einfühlung. In der Konsequenz des Expressionsprinzips selbst liegt auch das Moment von dessen Verneinung als jene negative Form der Wahrheit, welche die Liebe in die Kraft des unbeirrten Protests versetzt. Zunächst, und für viele Jahre, ging Schönberg dem nicht weiter nach. Der gleichzeitig entstandene erste Satz der Zweiten Kammersymphonie ist expressiv durchaus und harmonisch gehört, eines der vollkommensten Beispiele des Ausharmonisierens, der Fülle qualitativ verschiedener und konstruktiv eingesetzter Akkordstufen, die Schönbergs Phantasie der vertikalen Dimension abgewann. Der auf Anregung Fritz Stiedrys in Amerika nachkomponierte zweite Satz aber, der die Erfahrungen der Zwölftontechnik auf die späte Tonalität anwendet, zeitigt eine selbst bei Schönberg einzigartige Verschränkung von Ausdruck und Konstruktion: das Stück setzt spielerisch wie eine Serenade ein, aber je mehr es kontrapunktisch sich verdichtet, um so mehr schürzt sich der tragische Knoten, bis es am Ende bestätigend in den düsteren Ton des ersten Satzes mündet. Dieser Zweiten Kammersymphonie steht technisch das fis-mollQuartett op. 10 näher als der Ersten. H. F. Redlich hat darauf aufmerksam gemacht, daß es als Mikrokosmos die gesamte Entwicklung Schönbergs retrospektiv wie vorblikkend repräsentiert. Der erste Satz holt, mit einem Äußer159
sten an Stufenreichtum und thematischen Profilen, wie auf einem Fuße stehend heraus, was die bereits souverän überschaute und bewußt wie ein Darstellungsmittel ausgenützte Tonalität an ihrem Ende zu geben vermag. Der zweite, scherzoartige läßt alles grelle Weiß und alle schwarzen Fratzen des Strindbergschen Expressionismus los: Dämonen zerfetzen die Tonalität. Im dritten, den Gesangsvariationen zu der Georgeschen >Litanei<, besinnt Musik sich auf sich selbst. Reihenartig treten im Thema die wesentlichsten Motivbestandteile des Materials der beiden ersten zusammen. Integrale Konstruktion bändigt den Ausbruch von Trauer. Der letzte Satz aber, wiederum mit Gesang, tönt herüber aus dem Reich der Freiheit, die neue Musik schlechthin, trotz des Fis-Dur am Ende, ihr erstes schlackenloses Zeugnis, so utopisch inspiriert wie keine andere danach. Die instrumentale Einleitung dieser >Entrückung< tönt wahrhaft, als wäre Musik aller Fesseln ledig geworden und dränge über ungeheure Abgründe hinweg zu jenem anderen Planeten, den das Gedicht beschwört. Schönbergs Zusammentreffen mit Georges ihm schroff entgegengesetzter und dennoch wahlverwandter Lyrik ist einer der wenigen Glücksfälle in seiner sporadischen und unsicheren Erfahrung dessen, was außerhalb der Musik zu seiner Zeit geistig sich zutrug. Solange er an George sich maß, war er gefeit vor den literarischen Versuchungen des wohlfeilen Urlauts: das Georgesche »Strengstes maaß ist zugleich höchste freiheit« hätte er als Maxime wählen können. Gewiß hängt die Qualität von Musik nicht simpel von der von Gedichten ab, aber authentische Vokalmusik will nur dort gelingen, wo sie im Gehalt der Dichtung einem Authentischen begegnet. Die Georgelieder op. 15 bezeugen bereits den manifesten Stilbruch und sind denn auch bei der Uraufführung durch eine programmatische Erklärung Schönbergs eingeleitet worden. Aber der Substanz nach gehören sie zum fis-mollQuartett, zumal dessen letztem Satz. Die damals überaus ungewohnten und befremdenden Kompositionsmittel rufen noch einmal die Idee der großen Liederzyklen, der Fernen Geliebten, der Müllerin, der Winterreise, herauf. Stets ist bei Schönberg das Zum-ersten-Mal ein Noch-einmal. Knappheit, Prägnanz und Charakteristik eines jeden einzelnen Lie160
des sind der Architektur des Ganzen ebenbürtig, mit dem Einschnitt nach dem achten Lied, dem Adagioschwerpunkt im elften und der Steigerung des letzten zum Finale. Der Klaviersatz hat sich asketisch aller herkömmlichen Sonorität entäußert und bringt dafür den gedämpften Zauber weltweiter Ferne heim. Die lyrische Wärme des Saget mir auf welchem pfade, die schleierlose Nacktheit von Wenn ich heut nicht deinen leib berühre, das auf der Höhe einer kaum mehr zu ertragenden Intensität des Ausdrucks bebende Pianissimo von Als wir hinter dem beblümten tore - das klingt, als könnte es nicht anders sein und wäre immer schon dagewesen. Der düstere Abschied des Endes aber weitet sich symphonisch wie einst der Jubel von »Und ein liebend Herz erreichet / was ein liebend Herz geweiht«. Mit den Georgeliedern beginnt die Phase der »freien Atonalität«, die Schönberg den Ruf des Umstürzlers eintrug, nachdem bereits die Kammersymphonie und das Zweite Quartett offenen Skandal erregt hatten. Heute erscheint der radikale Bruch von damals einzig das Unvermeidliche zu ratifizieren. Schönberg hat das Vokabular, vom Einzelklang bis zu den Schemata der großen Form, umgestülpt, aber er hat weiter das Idiom gesprochen, die Art musikalischer Textur angestrebt, die nicht nur genetisch, sondern auch dem Sinn nach mit den von ihm eliminierten Mitteln verwachsen ist. Solcher Widerspruch hat Schönbergs Entwicklung nicht weniger weitergetrieben als gehindert. Auch in den exponiertesten Werken blieb er traditionell derart, daß er zwar den musiksprachlichen Stoff ausschied, an dem seit dem beginnenden siebzehnten Jahrhundert der musikalische Zusammenhang sich herstellte, daß aber die Kategorien des Zusammenhangs als solche, die Träger eben der »subkutanen« Momente seiner Musik fast unangefochten bewahrt wurden. Das Idiom war ihm so selbstverständlich und jeder Frage entzogen wie nur Schubert, und etwas vom Überzeugenden seiner Gebilde rührt daher. Zugleich aber kommen die vertrauten Kategorien des musikalischen Zusammenhangs - etwa die von Thema, Fortsetzung, Spannung, Auflösungsfeld - mit dem von ihm freigesetzten Material nicht mehr überein. Gereinigt von allen vorgegebenen Implikationen, ist es zugleich entqualifiziert. Eigentlich müßte 161
jeder Augenblick und jeder Ton gleich nah zum Zentrum sein, und das schlösse die bei Schönberg vorwaltende Organisation des musikalischen Zeitverlaufs aus. Gelegentlich, in besonders ungebärdigen Stücken wie dem dritten aus op. 11, hat er danach gehandelt; sonst aber, als hätte er es noch mit vorstrukturiertem Material zu tun. Vielleicht war die Zwölftontechnik im innersten gemeint als Versuch, dem Material auf eigene Faust etwas von jener Vorstrukturiertheit zu verleihen. Denn sonst nimmt die schaltende Verfügung über das Material ein Äußerliches, Willkürliches, ja Blindes an. Nirgends wird das deutlicher als in Schönbergs Verhältnis zum musikalischen Drama. Es war, bei allem Expressionismus der beiden ersten Bühnenwerke, schlicht von der Wagnerischen Ästhetik diktiert. Noch in >Moses und Aron< steht die Musik kaum anders zum Text als bei einem Neudeutschen, so wenig sie auch als solche mit den musikdramatischen Partituren zu schaffen hat. In Schönberg prallt Ungleichzeitiges aufeinander. Der immanent-musikalisch seiner Epoche um Lichtjahre voraus war, blieb ein Kind des neunzehnten Jahrhunderts, wo es um den terminus ad quem der Musik, ihre Funktion ging. Insofern ist die Kritik, die an Schönberg von Strawinsky her geübt wird, nicht bloß reaktionär, sondern markiert eine Grenze, die Schönbergs Naivetät vorzeichnet. Gegen sie wendet sich freilich das kunstfeindlich explosive Element Schönbergs. Die Klavierstücke op. 11 sind antiornamental bis zum Gestus des Zerschlagens. Unstilisierter, nackter Ausdruck und Kunstfeindschaft sind eins1. Etwas in Schönberg, vielleicht Gehorsam vor jenem »Du 1 Der Gestus vollzieht vor den Ohren des Hörers, worauf Schönbergs Entwicklung abzielt: das Subkutane aufzudecken, analog zum gleichzeitigen Kubismus, in dem ebenfalls latente Strukturen ins unmittelbare Phänomen versetzt werden. Die Analogie betrifft zumal die Abschaffung der traditionellen Perspektive in der Malerei und die der tonalen - »räumlichen« Harmonik. Beides folgt aus dem Impuls der Ornamentfeindschaft. Die malerische Perspektive, nicht umsonst »trompe-rceil« geheißen, enthalt ein Element der Täuschung, das auch, auf eine freilich schwer zu bestimmende Weise, der tonalen Harmonik eignet, welche die Illusion räumlicher Tiefe hervorbringt. Eben diese wird vom Satz der Klavierstücke op. 11 zerstört. Unerträglich ward an der Harmonie das Illusionsmoment, und die Reaktion dagegen hat entscheidend dazu beigetragen, das Innere nach außen zu wenden. Das Illusionsmoment aber war aufs tiefste verbunden mit jenem Stile rappresentativo, von dem Schönberg sich distanzierte. Soweit Kunst nachmacht, war sie immer auf Illusion aus. Aber wie die Malerei schaffte auch die Musik den Raum nicht einfach ab, sondern ersetzte den illusionären, vorgetäuschten durch einen gleichsam erweiterten, nur der Musik selber zugehörigen.
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sollst dir kein Bild machen«, das ein Text der Chorstücke op. 27 zitiert, möchte in Musik, der bilderlosen Kunst, die abbildlich-ästhetischen Züge ausmerzen. Aber diese Züge sind zugleich Charaktere des Idioms, in dem jeder musikalische Gedanke Schönbergs gedacht wird. Daran hat er bis zum Ende laboriert. Immer wieder, auch in der Zwölftonphase, hat er heroische Anstrengungen des Vergessens, des Abbaus überdeckender musikalischer Schichten gemacht, aber immer wieder hat demgegenüber das musikalische Idiom sich zäh behauptet. Immer wieder folgen daher auf die Reduktionen komplexe, reich gewobene Werke, in denen musikalische Sprache wird, was eben noch die musikalische Sprache kündigen wollte. So sind nach den ersten atonalen Klavierstücken die Orchesterstücke op. 16 entstanden, die zwar von der Emanzipation des Materials nichts nachlassen, aber, inmitten ihrer »Prosa«, aufs neue in Polyphonie und thematischer Arbeit sich entfalten. Diese resultiert, längst vor der Zwölftontechnik, bereits in »Grundgestalten«. Auch der >Pierrot lunaire< kennt ihresgleichen, etwa der >Mondfleck<, der berühmt ward durchs tour de force einer von zwei simultanen krebsgängigen Kanons begleiteten Fuge, aber überdies das Fugenthema und das des Bläserkanons schon streng aus einer Reihe ableitet, während der Streicherkanon ein »Begleitsystem« von der Art bildet, die dann in der Zwölftontechnik fast zur Regel ward. Wie die freie Atonalität aus dem Gefüge der großen tonalen Kammermusiken hervorging, so das Zwölftonverfahren aus der Kompositionsweise der freien Atonalität. Daß die Orchesterstücke das Reihenprinzip entdecken, ohne es zum System zu verfestigen, rückt sie zu den gelungensten Werken. Einige daraus, die verästelte Lyrik des zweiten und das in einem Schluß von beispielloser perspektivischer Kraft gesammelte letzte, sind den großen tonalen Kammermusikwerken und den Georgeliedern ebenbürtig. Als Kompositionen stehen die Bühnenwerke >Erwartung< und >Glückliche Hand< nicht dahinter zurück. Aber in ihnen fährt Schönbergs Kunstfeindschaft, als Kunstfremdheit, der Konzeption in die Parade. Sicherlich hat er kaum je etwas Freieres als die Erwartung komponiert. Nicht nur die Darstellungsmittel, sondern die Syntax selber emanzipiert sich. 163
Webern übertrieb nicht, als er in der ersten Sammelpublikation über Schönberg schrieb, die Partitur sei »ein unerhörtes Ereignis. Es ist darin mit aller überlieferter Architektonik gebrochen; immer folgt Neues von jähster Veränderung des Ausdrucks.« Jeder Augenblick überantwortet sich der spontanen Regung, und der Gegenstand, die Darstellung der Angst, bewährt Schönbergs geschichtliche Innervation, verwandt der tiefsten des Expressionismus unmittelbar vor 1914. Aber in der Wahl des Textes hat Schönberg nicht zu unterscheiden vermocht. Marie Pappenheims Monodram ist Expressionismus aus zweiter Hand, dilettantisch nach Sprache und Bau, und das teilt sich auch der Musik mit. So ingeniös Schönberg das Ganze dreiteilig, in. Suchen, Ausbruch und klagenden Abgesang gliedert, so wenig kann doch die Musik aus dem Text innere Form ziehen und muß, indem sie sich ihm anschmiegt, dieselben Gesten und Konfigurationen stets wiederholen. So verstößt sie gegen das Postulat des unablässig Neuen. In der Glücklichen Hand, die bei nicht minder expressionistischer Haltung kompositorisch zum objektiv Symphonischen sich wendet und pastose Formflächen entwirft, wird solche Objektivität vom törichtnarzißtischen Sujet trostlos kompromittiert. Die Symphonie, zu der Schönbergs Werk zusammenschießen wollte, ist nicht geschrieben worden. Die Orchesterlieder op. 22 schließen mit den Worten Und bingant^ allein in dem großen Sturm. Schönberg muß damals die äußerste Steigerung seiner Kräfte erfahren haben. Seine Musik dehnt sich wie ein Riese: als wolle aus der selbstvergessenen Subjektivität - »ganz allein« - das Totale, der »große Sturm« aufrauschen. Diesen Jahren gehört der Pierrot lunaire an, von allen Werken Schönbergs seit der Preisgabe der Tonalität das bekannteste. Glücklich wird die Tendenz zum Objektiven, umfassend Weiten balanciert mit dem, was das Subjekt zu füllen vermag. Ein Kosmos aller erdenklichen musikalischen und expressiven Charaktere wird erstellt, aber wie im Spiegel isolierter Inwendigkeit, in einem Seelentreibhaus gleich dem, das kurz zuvor im Maeterlincklied besungen war; märchenhaft und absurd. Das Restaurative dabei, Passacaglia, Fuge, Kanon, Walzer, Serenade und strophisches Lied, zieht einzig ironisch, gleichsam de164
naturiert ins paradis artificiel ein, und die zu Aphorismen verkürzten Themen klingen bloß noch wie das ferne Echo buchstäblich gemeinter. Solche Gebrochenheit läßt sich aber nicht trennen vom anachronistischen Vorwurf. Die von Hartleben übertragenen Gedichte Albert Girauds regredieren hinter den Expressionismus in eine Sphäre des Kunstgewerbes, des figürlich Ornamentalen, Stilisierten. Was da an Form und Gehalt dem Subjekt verpflichtend gegenübertritt, bleibt dessen ihrer selbst unkundige Projektion. Nicht nur der Vorwurf bringt Schönbergs exquisites Meisterstück in eine paradox allem Exquisiten drohende Affinität zum Kitsch, sondern die Musik selber opfert in ihrer Neigung zu eingängigem Fließen und sinnfälligen Pointen etwas von dem, was Schönberg seit der Erwartung vollbracht hatte. Bei aller virtuosen Spiritualität und obwohl im Pierrot einige seiner kompliziertesten Kompositionen stehen, nimmt das musikalische Vorhaben, als Herstellung von Oberflächenzusammenhängen, die avancierteste Position unmerklich zurück. Das aber ist keiner Minderung des kompositorischen Vermögens zuzuschreiben. Schönberg hat nie souveräner über die Mittel verfügt als in den Arabesken, die jegliche musikalische Schwerkraft spielend überwinden. Aber er kollidiert mit eben der geschichtlichen Notwendigkeit, die in keinem Musiker der Epoche vollkommener sich verkörpert hatte als in ihm selber. Er ist in die Aporie des falschen Übergangs geraten. Nichts Geistiges seit Hegel ist ihr entronnen - vielleicht weil Widerspruchslosigkeit im selbstgenügsamen Bereich des Geistes nicht mehr zu erlangen ist, wenn anders sie je zu erlangen war. Das ästhetische wie das philosophische Subjekt kann, als voll entfaltetes und seiner selbst mächtiges, sich nicht bei sich selbst und seinem »Ausdruck« bescheiden und muß auf objektive Verbindlichkeit zielen, wie sie Schönbergs schenkender Gestus vom ersten Tag an gemeint hat. Aus bloßer Subjektivität heraus jedoch, und wäre sie gespeist von aller gesellschaftlichen Dynamik, läßt diese Verbindlichkeit sich nicht bereiten, wenn sie nicht substantiell in der Gesellschaft gegenwärtig ist, von der doch heute das ästhetische Subjekt sich lossagen muß, eben weil sie jenes substantiellen Gehalts enträt. An Schönberg hat sich das Schicksal von Nietzsches 165
Neuen Tafeln wiederholt und das Georges, der um der Möglichkeit kultischer Lyrik willen sich einen Gott erfand; nicht umsonst hat Schönberg zu beiden sich hingezogen gefühlt. Nach dem Pierrot und den Orchesterliedern hat er die Komposition eines Oratoriums begonnen. Die Bruchstücke der Musik, die veröffentlicht wurden, zeigen nochmals Schönbergs Fähigkeit, ohne Umschweife das Äußerste zu treffen wie der Hammerschlag der Glücklichen Hand; der Text aber enthüllt das Verzweifelte des Unternehmens. In der literarischen Unzulänglichkeit kommt die Unmöglichkeit der Sache selbst, das Ungemäße eines religiösen Chorwerks inmitten der spätkapitalistischen Gesellschaft zutage: der ästhetischen Gestalt von Totalität. Das Ganze als Positives läßt sich nicht antithetisch, aus dem Willen und der Kraft des Einzelnen heraus, der entfremdeten und gespaltenen Realität abzwingen, sondern ist verwiesen auf die Negation, wofern es nicht zum Trugbild und zur Ideologie verderben soll. Das chef d'oeuvre blieb unvollendet, und das Eingeständnis des Scheiterns, Schönbergs Erkenntnis »Bruchstück wie alles« zeugt vielleicht mehr als jedes Gelingen für ihn. Fraglos hätte er forcieren können, was ihm vorschwebte, aber er muß in dem, was ihm vorschwebte, ein Falsches gespürt haben: die Idee des chef d'oeuvre ist heute ins genre chef d'oeuvre verhext. Zu tief ist der Bruch zwischen der Substantialität des Ichs und einer Gesamtverfassung des gesellschaftlichen Daseins, die ihm nicht bloß die äußere Sanktion, sondern die apriorischen Bedingungen versagt, als daß Kunstwerken die Synthesis beschieden wäre. Das Subjekt weiß von sich selbst als einem Objektiven, der Zufälligkeit seines bloßen Daseins Entrückten, aber dies Wissen, das wahr ist, ist zugleich auch unwahr. Jener im Subjekt angelegten Objektivität ist die Versöhnung verwehrt mit einem Zustand, der ihren eigenen Gehalt negiert, gerade soweit die volle Versöhnung mit ihr gemeint ist, und in den sie doch übergehen müßte, um von der Ohnmacht des bloßen Fürsichseins geheilt zu werden. Je höher geartet der Künstler, um so größer die Verführung des Schimärischen. Denn wie Erkenntnis kann die Kunst nicht warten, aber sobald sie der Ungeduld nachgibt, verstrickt sie sich. Darin ähnelt Schönberg nicht nur Nietzsche und George sondern auch Wagner. Die Male des Sektierer166
tums an ihm und seinem Umkreis sind Symptome des falschen Übergangs. Sein autoritäres Wesen ist so geartet, daß er, der sich folgerecht zum Prinzip der gesamten Musik aufwirft, es sich selber vorschreiben und ihm dann parieren muß. Die Idee der Freiheit in seiner Musik wird blockiert von dem desperaten Bedürfnis, einem Heteronomen sich zu beugen, weil die Anstrengung, bloße Individualität zu überschreiten und sich zu objektivieren, fehlschlägt. Die innere Unmöglichkeit der Objektivation der Musik manifestiert sich an den Zwangszügen ihrer ästhetischen Komplexion. Sie kann nicht wahrhaft aus sich herausgehen und muß darum die eigene Willkür, in deren Zeichen sie es versucht, zur Autorität über sich selber erhöhen. Der Bilderstürmer wird zum Fetischisten. Das Prinzip rational durchsichtiger und gleichwohl das Subjekt einschließender Musik, von der Verwirklichung abgeschnitten, verwandelt als Abstraktes sich in die starre, unbefragte Vorschrift. Die biblisch lange Schaffenspause läßt sich nicht aus Schönbergs privatem Schicksal in Krieg und Inflation zureichend erklären. Wie nach einer tödlichen Niederlage haben seine Kräfte sich umgruppiert. In jenen Jahren hat er sich ungemein intensiv mit dem von ihm gegründeten >Verein für musikalische Privataufführungen < befaßt. Was er für die musikalische Interpretation bedeutet, kann kaum überschätzt werden. Der als Komponist das Subkutane nach außen kehrte, hat eine Darstellungsweise gefunden und tradiert, in der die subkutane Struktur sichtbar, in der die Aufführung zur integralen Realisierung des musikalischen Zusammenhangs wird. Das Interpretationsideal konvergiert mit dem kompositorischen. Der Traum vom musikalischen Subjekt-Objekt konkretisiert sich technologisch, nachdem der Komponist auf den Abschluß der >Jakobsleiter< verzichtet hat. Er erwartet die Ausweitung ins Verbindliche nicht länger von überpersonalen Vorwürfen und Formen, sondern einzig von der Selbstbewegung der Sache kraft konsequenter Kompositionsverfahren. Er hat damit allen usurpatorischen und restaurativen Tendenzen, die in der nachexpressionistischen Musik sich hervorwagten, unbestechlich überlegen sich gezeigt selbst dort noch, wo er mit dem von ihm verspotteten Neoklassizismus sich berühren 167
mochte. Aber das verbissene Vertrauen des späteren Schönberg auf die Verfahrensweise als Garantin umfassender Totalität schob die Aporie bloß zurück. Ein fast Unmerkliches hat mit der Musik unterm Primat der höchst ingeniösen Zwölftontechnik sich zugetragen. Wohl sind in ihr Erfahrungen und Regeln, die zwangvoll und überzeugend im kompositorischen Prozeß zusammenschössen, zum Bewußtsein erhoben, kodifiziert und systematisiert worden. Aber dieser Akt berührt den Wahrheitscharakter jener Erfahrungen. Sie sind nicht länger offen und der dialektischen Korrektur zugänglich. Als Nemesis droht Schönberg, was Kandinsky 1912 in einem Aufsatz zu seinem Ruhm geschrieben hatte: »Der Künstler meint, daß er, nachdem er >endlich seine Form gefunden hat<, jetzt ruhig weiter Kunstwerke schaffen kann. Leider merkt er gewöhnlich selbst nicht, daß von diesem Moment (des >ruhig<) er sehr bald diese endlich gefundene Form zu verlieren beginnt.« Denn jedes Kunstwerk ist ein Kraftfeld, und wie vom Wahrheitsgehalt des logischen Urteils denkender Vollzug nicht sich abtrennen läßt, so sind wahr Kunstwerke nur so weit, wie sie ihre materialen Voraussetzungen überschreiten. Das wahnhafte Element, das technisch-ästhetische Systeme mit solchen der Erkenntnis gemeinsam haben, sichert ihnen zwar ihre Suggestivkraft. Sie werden zum Modell. Aber indem sie der Selbstreflexion sich verweigern und sich stillstellen, befällt sie ein Totenhaftes und lähmt eben jene Impulse, die zuvor das System hervorgetrieben hatten. Kein Mittelweg entgeht der Alternative. Die Einsichten, die im System geronnen sind, zu ignorieren, heißt ohnmächtig ans Überholte sich klammern. Das System selbst aber wird zur fixen Idee und zum Universalrezept. Falsch ist nicht das Verfahren an sich -keiner wohl kann heute mehr komponieren, der die Gravitation zur Zwölftontechnik nicht mit den eigenen Ohren verspürt hätte - sondern dessen Hypostasierung, die Abwehr des Anderen, nicht bereits analytisch Eingeschlossenen. Musik darf nicht die Methode, ein Stück subjektiver Vernunft, als die Sache selbst, als Objektives unterschieben. Dazu wird sie aber um so mehr genötigt, je weniger das ästhetische Subjekt an einem ihm Gegenüberstehenden und zugleich mit ihm Harmonierenden sich ausrichten kann: die 168
Zauberformel ersetzt das umfassende Werk, das sich selbst verbietet. Wer Schönberg die Treue hält, müßte warnen vor allen Zwölftonschulen. Indem diese heute wie von Vorsicht und vom Tasten so vom Risiko nichts mehr wissen, haben sie sich in den Dienst des zweiten Konformismus gestellt. Die Mittel werden zum Zweck. Schönberg selber kam seine Bindung an die musiksprachliche Tradition zugute: er organisierte durchs Zwölftonverfahren höchst komplexe und solcher Stütze bedürftige Musik. Bei den Nachfolgern verliert es allmählich die Funktion und wird als bloßer Tonalitätsersatz mißbraucht, gut genug, um musikalische Phänomene aneinander zu kitten, die so simpel sind, daß man nicht so viele Umstände mit ihnen machen müßte. Auch an dieser Wendung indessen war Schönberg nicht ganz unschuldig. Zuzeiten schrieb er Zwölftongiguen und -rondos, Formen, an denen die Zwölftontechnik zur Überbestimmung wird, während sie zugleich unvereinbar bleibt mit Typen, welche so unmißverständlich die tonale Modulatorik voraussetzen. Er hat im Anfang die Inkonsistenz des allzu Konsistenten durch derlei Anleihen grell ins Licht gerückt, um dann jahrelang um die Korrektur sich zu bemühen. Bis heute noch ist das Potential der Zwölftontechnik offen. Sie erlaubte in der Tat die Synthesis von ganz freiem und ganz strengem Verfahren. Indem die thematische Arbeit ganz und gar das Material durchherrscht, könnte die Komposition selber wirklich athematisch, »Prosa« werden, ohne darüber der Zufälligkeit zu verfallen. Aber die Verdinglichung der Verfahrungsweise wird daran flagrant, daß Schönberg den Zwölftonreihen selber, die einzig das Material prädisponieren, zutraut, daß sie große Formen stiften. Was jedoch einmal die Tonalität vermöge der modulatorischen Proportionen leistete, leistet eine Technik nicht, in deren Sinn es geradezu liegt, nicht auswendig zu erscheinen. Würden Zwölftonreihen und -relationen in einer größeren Form ebenso evident wie in der traditionellen Musik die Verhältnisse von Tonarten, so klapperte die Form mechanisch. Die Zwölftonreihen definieren nicht einen musikalischen Raum, innerhalb dessen das Werk spielt und der die Anschauung vorweg regelt. Sondern sie sind die kleinsten Einheiten, die es gestatten, ein integrales Ganzes allseitiger 169
Beziehungen zu konstruieren. Würden sie manifest, so zerginge das Ganze in seine Atome. Schönbergs variative Phantasie hat denn auch selbstverständlich die Reihen hinter dem realen Verlauf der Musik versteckt. Dort konnten sie dann aber auch nicht die architektonische Wirkung ausüben, die er sich erhoffte. Der Widerspruch latenter Organisation und manifester Musik reproduziert sich auf höherer Stufe. Ihn zu bannen, beschwört Schönberg traditionelle Formmittel. Weil er der Zwölftontechnik Objektivität als eine Art allgemeinbegrifflicher Ordnung aufbürdete, die sie nicht trug, mußte er Kategorien solcher Ordnung von außen, ohne Rücksicht aufs Material heranholen. Des Glaubens an musikalische Ordnungskategorien an sich hat er sich nie entschlagen. Viele der großen zwölftönigen Sätze, besonders aus der amerikanischen Zeit, sind überzeugend gelungen. Die besten aber haben sich weder auf die Zwölftonreihen noch auf die traditionellen Typen verlassen. Es sind jene, in denen er unbefangen mit eigentlich kompositorischen Mitteln operiert; etwa um je verschiedene Kernmodelle geordnete thematische Flächen aneinander schichtet. Die Logik des Aufbaus wird nochmals gesteigert: die Konstruktion etwa des Hauptthemas aus dem ersten Satz des Violinkonzerts ist prägnanter als irgend etwas vor Einführung der Zwölftontechnik. An ihren Widerständen hat das kompositorische Vermögen sich potenziert. Aber der Schein des Natürlichen, des musikalischen ordo, den sie im Bewußtsein der Adepten als schlechte Erbschaft der Tonalität annimmt, die selber schon nicht Natur, sondern Produkt der Rationalisierung war, ist bloßes Zeugnis der Schwäche, der hilflosen Sehnsucht nach Sekurität. Das läßt drastisch etwa am Verhältnis der Zwölftontechnik zur Oktav sich zeigen. Die Identität der Oktav wird stillschweigend akzeptiert: sonst wäre eines der wichtigsten Zwölftonprinzipien, Versetzbarkeit jedes Tons in jede beliebige Oktavlage, undenkbar. Zugleich aber haftet der Oktav selber etwas »Tonales« und das Gleichgewicht der zwölf Halbtöne Störendes an: wo Oktaven verdoppelt werden, assoziiert man Dreiklänge. Der Widerspruch hat sich in Schönbergs schwankender Praxis ausgeprägt. Früher, weithin schon in den Werken der freien Atonalität, war die Oktav ver170
mieden. Dann aber hat Schönberg, wohl der klanglichen Verdeutlichung von Bässen und thematischen Hauptstimmen zuliebe, doch Oktaven geschrieben, und zwar zuerst in einem mit der Tonalität spielenden Stück, der Ode an Napoleon; hier so wenig wie dann im Klavierkonzert läßt eine gewisse Gewaltsamkeit und Unreinheit des Satzes sich überhören. Vollends in der Frühzeit der Technik verrät sich falsche Natur in Zügen des Apokryphen, Schäbigen und Absurden. Zuweilen droht Musik in zugleich formelhaftem und sinnleerem Wesen all ihre Sublimierung ungeschehen zu machen, zum kruden Stoff zu werden. So wie das Dogma der Astrologen die Bewegung der Gestirne und die Prognose menschlicher Schicksale zwar zusammenbringt, beide aber dem Vollzug der Einsicht unverbunden bleiben, so enthält auch die Folge der bis zur letzten Note determinierten Zwölftonereignisse für die lebendige Erfahrung den Rest eines Unverbundenen. Zum Hohn auf die mögliche Synthesis von Gesetzmäßigkeit und Freiheit erweist sich die verabsolutierte Notwendigkeit als Zufall. Nochmals siegte der große Komponist über den Erfinder, als Schönberg alle Energie seines späteren Lebens daran wandte, das apokryphe Element der Zwölftontechnik auszutreiben. Von ihm waren die ersten, nicht strikt zwölftönigen Reihenkompositionen noch frei. In den vier ersten Stükken aus op. 23 zittert die eruptive Gewalt der expressionistischen Phase nach. Kaum finden sich starre Partien. Das zweite etwa, eine Peripetie, jenem Typus zugehörig, zu dem unter Schönbergs Händen das Scherzo wurde, ist nur ein auskomponiertes Diminuendo höchster Originalität: der Ausbruch klingt rasch ab und läßt einen nächtlich ruhigen und tröstlich schließenden Nachsatz übrig. Das schwungvolle vierte Stück kommt der Idee einer athematischen Zwölftonkomposition nahe wie kaum ein anderes. Ganz und gar zwölftönig sind erst die Klaviersuite op. 25 und das Bläserquintett op. 26. Sie heben das Zwangshafte eigens hervor, eine Art Bauhausmusik, metallischer Konstruktivismus, dessen Schlagkraft gerade von der Absenz primären Ausdrucks herrührt; wo Ausdruckscharaktere begegnen, sind diese selber »auskonstruiert«. Das Quintett, am schwierigsten wohl zu hören von allem, was Schönberg schrieb, 171
treibt in seiner Schroffheit die Sublimierung nach einer Dimension hin am weitesten: es sagt der Farbe den Krieg an. Der Impuls gegen das Infantile, musikalisch Dumme ergreift das Medium, das mehr als andere kulinarisch, bloßer sinnlicher Reiz diesseits des geistigen Vollzugs scheint. Unter Schönbergs Akten der Integration musikalischer Mittel war nicht der letzte, daß er endgültig die Farbe der Sphäre des Schmückenden entriß und zum Kompositionselement eigenen Rechtes erhob. Sie verwandelt sich in ein Mittel der Verdeutlichung des Zusammenhangs. Solche Einbeziehung in die Komposition aber wird ihr zum Verhängnis. An einer Stelle von >Style and Idea< hat er sie ausdrücklich verworfen. Je nackter die Konstruktion sich darstellt, um so weniger bedarf sie der koloristischen Hilfe. So kehrt sich das Prinzip gegen Schönbergs eigene Errungenschaften, vergleichbar vielleicht dem letzten Beethoven, bei dem alle sinnliche Unmittelbarkeit zu einem bloß Vordergründigen, Allegorischen sich reduziert. Man kann sich diese Spätform der Schönbergischen Askese, der Negation alles Fassadenhaften, leicht genug ausgedehnt denken auf alle musikalischen Dimensionen überhaupt. Mündige Musik schöpft Verdacht gegen das real Erklingende schlechthin. Ähnlich wird mit der Realisierung des »Subkutanen« das Ende der musikalischen Interpretation absehbar. Stumm imaginatives Lesen von Musik könnte das laute Spielen ebenso überflüssig machen wie etwa das Lesen von Schrift das Sprechen, und solche Praxis könnte zugleich Musik von dem Unfug heilen, der dem kompositorischen Inhalt von fast jeglicher Aufführung heute angetan wird. Die Neigung zum Verstummen, wie sie in Weberns Lyrik die Aura jeden Tones bildet, ist dieser von Schönberg ausgehenden Tendenz verschwistert. Sie läuft aber auf nicht weniger hinaus, als daß Mündigkeit und Vergeistigung der Kunst mit dem sinnlichen Schein virtuell die Kunst selber tilgen. Emphatisch arbeitet in Schönbergs Spätwerk die Vergeistigung der Kunst an deren Auflösung und findet sich so mit dem kunstfeindlichen und barbarischen Element abgründig zusammen. Daher sind denn auch Bestrebungen völliger Abstraktion, wie die von Boulez und jüngeren Zwölftonkomponisten in allen Ländern, keineswegs bloße »Verirrung«, 172
sondern denken eine Intention Schönbergs weiter. Aber er hat sich doch nie ganz zum Sklaven der eigenen Intention und der objektiven Tendenz gemacht. Das Schaltende und gewaltsam Verfügende im Verhältnis zum Material, immer schroffer im Alter, hat, paradox genug, in manchem Betracht den Systemzwang der losgelassenen Konsequenz gebrochen. Sein Komponieren hat niemals die primitive Einheit von Komposition und technischer Verfahrungsweise vorgetäuscht. Die Erfahrung, daß kein musikalisches Subjekt-Objekt heut und hier sich konstituieren kann, war an ihm nicht verschwendet. Das hat ihm auf der einen Seite die subjektive Bewegungsfreiheit gerettet, auf der andern den Dämon der Komponiermaschine von der objektiven Gestalt ferngehalten. Jene Freiheit gewann er wieder, sobald er mit der Zwölftontechnik abermals wie mit einer vertrauten »Sprache« umgehen konnte, in der Schule der unbelastet heiteren Kammersuite op. 29 und der fast didaktischen Orchestervariationen, aus denen Leibowitz ein Kompendium der neuen Technik destillierte. Die enge Fühlung mit dem Text und den wie sehr auch bescheidenen Pointen der Lustspieloper >Von heute auf morgen < hat ihm vollends alle Flexibilität des musikalischen Idioms zurückgegeben. Ihrer bewußt, holt er zum zweitenmal zum chef d'oeuvre aus, und wieder verschiebt er den Abschluß mit jenem rätselvollen Glauben an eine endlose Lebenszeit, in den sich seine Verzweiflung über das Es-soll-nicht-sein maskierte. Daß in den frühen Dreißiger jähren tatsächlich seine Kraft nochmals zum Gipfel sich erhob, tat die unvergeßliche Darmstädter Uraufführung des >Tanzes um das goldene Kalb< unter Scherchen im Sommer 1951 dar, die wenige Tage vor Schönbergs Tod zum erstenmal einem der Zwölftonwerke jenen Jubel eintrug, dessen der Verächter des Beifalls mehr als jeder andere bedurfte. Die Intensität des Ausdrucks, die Disposition der Farbe, die Gewalt des Aufbaus trägt über Stock und über Stein. Nach dem Text des Bruchstückes zu urteilen, wäre Moses und Aron als vollendete Oper verloren gewesen; die unvollendete zählt zu den großen Fragmenten der Musik. Schönberg, der allen Konventionen im Bereich der Musik widerstand, hat in die Rolle sich gefunden, die ihm in 173
der gesellschaftlichen Arbeitsteilung zufiel, die ihn aufs Bereich der Musik vereidigte. Seine Regung, als Maler und Dichter darüber hinauszugehen, wurde vereitelt: Arbeitsteilung ist nicht durch den Anspruch des Universalgenies zu widerrufen. So hat er sich denn unter die »großen Komponisten« eingereiht, als wäre ihr Begriff ewig. Die leiseste Kritik an einem der Meister seit Bach war ihm unerträglich; er bestritt nicht nur Qualitätsunterschiede im oeuvre jedes einzelnen, sondern womöglich auch noch stilistische zwischen ihren Arbeiten aus verschiedenen Gattungen, selbst so fraglose wie den zwischen Beethovens Symphonik und Kammermusik. Daß die Kategorie des großen Komponisten geschichtlich variieren könnte, kam ihm so wenig bei wie der Zweifel daran, daß sein Werk, wenn es an der Zeit sei, ähnlich etabliert sein müsse wie das eines Klassikers. Gegen seinen Willen, im Innern seines Werks kristallisiert sich, was musikalisch-immanent solchen gesellschaftlich naiven Vorstellungen entgegen ist. Der Überdruß am sinnlichen Scheinen in seinem Spätstil entspricht der Emaskulierung von Kunst im Angesicht der Möglichkeit, ihr Versprechen real einzulösen, aber auch dem Grauen, das, um solche Möglichkeit zu hintertreiben, jegliches Maß dessen sprengt, was noch Bild werden könnte. Inmitten des verblendeten Spezialistentums sind seiner Musik die Lichter aufgegangen, die über das ästhetische Bereich hinausstrahlen. Einmal hat seine unbestechliche Redlichkeit das Bewußtsein davon erreicht, in den ersten Monaten der Hitlerdiktatur, als er unverblümt sagte, daß zu überleben wichtiger sei als Kunst. Wenn sein Spätwerk, wie sonst wohl nur das Picassos, von der Hinfälligkeit aller Kunst nach dem Zweiten Krieg verschont blieb, so hat sie das jener Relativierung des Künstlerischen zu danken, zu der das kulturfremde Element Schönbergs selber sich vergeistigte. Vielleicht enträtselt das erst ganz die didaktischen Züge. Valerys Bemerkung, daß die Arbeit großer Künstler etwas von Fingerübungen hat, etwas von Studien zu Werken, die selber nie gelingen, könnte auf Schönberg gemünzt sein. Die Utopie der Kunst überflügelt die Werke. Übrigens schafft einzig dies Medium das eigentümliche Einverständnis zwischen Musikern, in dem der Unterschied von Produktion 174
und Reproduktion gleichgültig wird. Sie spüren, daß sie an der Musik arbeiten und nicht an den Werken, wenngleich nur durch diese hindurch. Der späte Schönberg komponiert an deren Stelle Paradigmata einer möglichen Musik. Um so durchsichtiger wird die Idee der Musik selber, je weniger die Werke auf ihrem Schein bestehen. Sie nähern sich dem Fragmentarischen, dessen Schatten Schönbergs Kunst sein Leben lang begleitete. Nicht nur in ihrer Kürze, sondern in ihrer geschrumpften Diktion wirken die letzten Arbeiten bruchstückhaft. An Splitter geht die Dignität des großen Werkes über. Oratorium und biblische Oper werden aufgewogen von den paar Minuten der Erzählung des >Überlebenden von Warschau <, in denen Schönberg von sich aus den ästhetischen Bereich suspendiert durchs Eingedenken an Erfahrungen, welche der Kunst schlechterdings sich entziehen. Schönbergs Ausdruckskern, die Angst, identifiziert sich mit der Angst der Todesqual von Menschen unter der totalen Herrschaft. Die Klänge der Erwartung, die Schocks der Filmmusik von »drohender Gefahr, Angst, Katastrophe«, treffen, was sie seit je prophezeiten. Was die Schwäche und Ohnmacht der individuellen Seele auszudrücken schien, bezeugt, was der Menschheit angetan wird in denen, die als Opfer das Ganze vertreten, das es ihnen antut. So wahr hat nie Grauen in der Musik geklungen, und indem es laut wird, findet sie ihre lösende Kraft wieder vermöge der Negation. Der jüdische Gesang, mit dem der Überlebende von Warschau schließt, ist Musik als Einspruch der Menschheit gegen den Mythos.
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Valery Proust Museum
Hermann von Grab zum Gedächtnis Der Ausdruck »museal« hat im Deutschen unfreundliche Farbe. Er bezeichnet Gegenstände, zu denen der Betrachter nicht mehr lebendig sich verhält und die selber absterben. Sie werden mehr aus historischer Rücksicht aufbewahrt als aus gegenwärtigem Bedürfnis. Museum und Mausoleum verbindet nicht bloß die phonetische Assoziation. Museen sind wie Erbbegräbnisse von Kunstwerken. Sie bezeugen die Neutralisierung der Kultur. Kunstschätze sind in ihnen angehortet: der Marktwert verdrängt das Glück der Betrachtung. Aber es ist doch auf die Museen verwiesen. Wer nicht selbst eine Sammlung besitzt - und die großen privaten Sammler werden zu Raritäten - kann Malerei und Plastik zu weitem Maß nur in Museen kennenlernen. Wo das Unbehagen an diesen überwiegt und der Versuch gemacht wird, etwa Bilder in ihrer ursprünglichen Umgebung zu zeigen oder einer, welche dieser ähnelt, in Barock- oder Rokokoschlössern, stellt peinlichere Abneigung sich ein, als wo sie abgesprengt und wieder zusammengebracht erscheinen; das Feinsinnige tut der Kunst mehr Harm als selbst das Sammelsurium. Analoges gilt für die Musik. Die Programme der großen Konzertgesellschaften, meist retrospektiv gerichtet, haben mehr stets mit den Museen gemeinsam, aber der bei Kerzenlicht aufgeführte Mozart wird zum Kostümstück erniedrigt, und die Anstrengungen, Musik aus der Distanz der Aufführung in den Zusammenhang des unmittelbaren Lebens zurückzurufen, haben nicht nur etwas Hilfloses, sondern obendrein etwas von geschäftig rückschrittlicher Rancune. Mit Grund sagte Mahler, als ein Wohlmeinender ihm riet, der Stimmung zuliebe beim Konzert den Saal verdunkeln zu lassen, eine Aufführung, über der man nicht die Umgebung vergäße, tauge nichts. Es zeichnet in dergleichen Schwierigkeiten etwas von der fatalen Lage dessen sich ab, was kulturelle Tradition heißt. Sobald dieser keine umfangende, substantielle Kraft mehr innewohnt, sondern sie her176
beizitiert wird, weil es doch gut wäre, Tradition zu haben, löst sich als Mittel zum Zweck auf, was von ihr noch übrig sein mag. Die kunstgewerbliche Veranstaltung spottet dessen, was da konserviert werden soll. Glaubt man, das Ursprüngliche lasse sich aus dem Willen wiederherstellen, so verfängt man sich in hoffnungsloser Romantik; die Modernisierung des Vergangenen tut diesem Gewalt an und wenig Gutes; wollte man aber auf die Möglichkeit, das Traditionelle zu erfahren, radikal verzichten, so überlieferte man sich aus lauter Kulturtreue der Barbarei. Daß die Welt aus den Fugen ist, zeigt allerorten sich daran, daß man es falsch macht, wie man es auch macht. Bei der allgemeinen Einsicht in den negativen Zustand sollte man sich jedoch nicht beruhigen. Ein geistiger Rechtsstreit wie der ums Museum wäre mit spezifischen Argumenten durchzufechten. Dazu gibt es nun zwei außerordentliche Dokumente. Die beiden authentischen Dichter der letzten Generation in Frankreich, Paul Valery und Marcel Proust, haben zur Frage des Museums sich geäußert, und zwar in genau entgegengesetztem Sinn; ohne daß übrigens jene Äußerungen polemisch aufeinander zugeschnitten wären oder daß auch nur die eine Kenntnis der anderen verriete. Valery hat in seinem Beitrag zu einem Proust gewidmeten Sammelband hervorgehoben, wie wenig er mit dessen Romanwerk vertraut sei. Das in Rede stehende Stück von ihm heißt >Le Probleme des musees< und steht in dem Essayband Pieces sur L'art. Die Stelle bei Proust kommt im dritten Band von >A l'ombre des jeunes filles en fleurs< vor. Valerys Plädoyer bezieht sich offensichtlich auf die verwirrende Überfülle des Louvre. Er habe die Museen nicht allzu gern. So viel des Bewundernswerten in ihnen aufbewahrt werde, so wenig gebe es dort das Köstliche. Das Wort delices, das er dafür verwendet, gehört, beiläufig gesagt, zu den schlechterdings unübersetzbaren: Köstlichkeiten klänge wie aus dem Feuilleton, Wonnen schwerfällig-wagnerisch, Entzückungen käme vielleicht dem Gemeinten am nächsten, aber keines von all den Worten drückt die leise Erinnerung an feudalen Genuß aus, die der Haltung des l'art pour l'art seit Villiers de L'Isle Adam gesellt war und die auf Deutsch nur in der Rosenkavalierkomik von »deliziös« anklingt. Je177
denfalls fühlt der seigneuriale Valery sich bedrängt schon von der autoritären Geste, die ihm den Spazierstock abnimmt, und von dem Schild, welches das Rauchen verbietet. Kalte Verwirrung herrsche unter den Skulpturen, ein Tumult gefrorener Geschöpfe, deren jedes die Nichtexistenz des anderen fordert, sonderbar organisierte Unordnung. Inmitten der zur Kontemplation dargebotenen Bilder werde man, spottet Valery, von heiligem Schauder ergriffen: man spreche zwar eben noch lauter als in der Kirche, aber doch leiser als im Leben. Man wisse nicht, warum man gekommen sei: um sich Bildung zu holen, um Entzücken zu suchen oder um eine Pflicht zu erfüllen, einer Konvention nachzukommen. Ermüdung und Barbarei fänden sich zusammen. Keine Kultur der Wollust und keine der Vernunft hätten ein derartiges Haus des Unzusammenhängenden errichten können. Tote Visionen seien darin aufgebahrt. Das Sinnesorgan des Ohrs, meint Valery, der der Musik ferner stand und daher Illusionen hegen mochte, sei besser daran: niemand könne ihm zumuten, zehn Orchester zugleich zu hören. Vollends der Geist führe nicht simultan alle möglichen Operationen aus. Nur das bewegliche Auge müsse im gleichen Augenblick ein Portrait und ein Seestück, eine Küche und einen Triumphzug auffassen, vor allem aber: miteinander schlechterdings unvereinbare Malweisen. Je schöner jedoch Bilder seien, um so mehr seien sie voneinander verschieden: seltene Objekte, Unica. Dies Bild, so sage man zuweilen, tötet die anderen, die es umgeben. Wird daran vergessen, so gehe das Erbe zugrunde. Wie der Mensch seine Kräfte einbüße durchs Übermaß von technischen Hilfsmitteln, so verarme er durchs Übermaß seiner Reichtümer. Valerys Argumentation trägt durchaus kulturkonservative Akzente. Er hat sich gewiß wenig um die Kritik der politischen Ökonomie bekümmert. Um so erstaunlicher, daß die ästhetischen Nerven, die den falschen Reichtum registrieren, so genau auf den Tatbestand der Überakkumulation ansprechen. Metaphorisch gebraucht er einenAusdruck, der wörtlich für die Wirtschaft gilt, und spricht von der Ansammlung eines exzessiven und daher unverwertbaren Kapitals. Was immer geschehe - ob Künstler produzieren oder 178
reiche Leute sterben, es komme den Museen zugute; wie die Spielbank könnten sie nicht verlieren, und eben das sei ihr Fluch. Denn die Menschen seien trostlos verloren in den Galerien, Einsame gegen so viel Kunst. Keine andere Reaktion daraufsei möglich als jene, die Valery überhaupt als den Schatten des Fortschritts jeglicher Materialbeherrschung ansieht, anwachsende Oberflächlichkeit. Kunst werde zur Sache von Erziehung und Information, Venus zum Dokument, und Bildung sei, in Angelegenheiten der Kunst, eine Niederlage. Ganz ähnlich argumentierte Nietzsche in der Unzeitgemäßen Betrachtung über den Nutzen und Nachteil der Historie. Valery erreicht, im Schock des Museums, die geschichtsphilosophische Einsicht ins Absterben der Kunstwerke : wir richten dort, sagte er, die Kunst der Vergangenheit hin. Er werde das großartige Chaos des Museums - ein Gleichnis, könnte man es nennen, für die Anarchie der Warenproduktion in der entfalteten bürgerlichen Gesellschaft noch auf der Straße nicht los und suche nach dem Grund seines Unbehagens. Malerei und Skulptur, so spreche zu ihm der Dämon der Erkenntnis, seien verlassene Kinder. »Ihre Mutter ist tot, ihre Mutter, die Architektur. Solange sie lebte, gab sie ihnen ihren Ort, ihre Beschränkung. Die Freiheit zu irren war ihnen versagt. Sie hatten ihren Raum, ihr wohldefiniertes Licht, ihren Stoff. Es herrschten zwischen ihnen die rechten Verbindungen. Solange jene lebte, wußten sie, was sie wollten ... Leb wohl, sagt mir der Gedanke, weiter will ich nicht gehen.« Mit einem romantischen Gestus hält Valerys Reflexion inne. Indem er sie offenläßt, vermeidet er die sonst unvermeidliche Konsequenz des radikalen Kulturkonservativen : die Kultur zu kündigen, um ihr die Treue zu halten. Prousts Ansicht über das Museum ist aufs kunstvollste in den Zusammenhang der >Recherche du temps perdu< verwoben. Nur dort erschließt sie sich ganz in ihrem Stellenwert. Durchweg bei Proust sind die Reflexionen, durch deren Gebrauch er auf die ältere vor-Flaubertsche Übung des Romans zurückgreift, nicht bloße Betrachtungen über das Dargestellte, sondern durch unterirdische Assoziationen mit diesem zusammengewachsen und fallen dergestalt wie 179
die Erzählung selbst ins große ästhetische Kontinuum, das des inwendigen Selbstgesprächs. Er berichtet von seiner Reise nach dem Seebad Balbec. Dabei markiert er die Zäsur, die Reisen in den Ablauf des Lebens setzen, indem sie »uns von einem Namen zu einem anderen Namen führen«. Schauplätze jener Zäsur seien zumal die Bahnhöfe, »diese ganz besonderen Stätten . . . die sozusagen kein Teil der Stadt sind und doch die Essenz ihrer Persönlichkeit so deutlich enthalten, wie sie in dem Signalschild ihren Namen tragen«. Bahnhöfe werden, wie alles unter dem Blick der Proustschen Erinnerung, die gleichsam die Intention aus ihren Gegenständen saugt, zu geschichtlichen Urbildern, und zwar, als solche des Abschieds, zu tragischen. Von der Glashalle der Gare St-Lazare heißt es: »Über einer auseinandergerissenen Stadt spannte sie ihren weiten wüsten Himmel voll drohender Dramen; so modern, so fast pariserisch sind manche Himmel von Mantegna oder Veronese, unter solcher Wölbung kann sich nur etwas Furchtbares und Feierliches vollziehen, eine Abfahrt auf der Eisenbahn oder die Kreuzerhöhung.« Der assoziative Übergang zum Museum ist im Roman verschwiegen: das Bild jenes Bahnhofs, gemalt von dem von Proust leidenschaftlich geliebten Claude Monet, das jetzt in der Sammlung des Jeu de Paume sich befindet. Ohne viel Worte vergleicht er den Bahnhof dem Museum. Beide Orte sind dem konventionellen Oberflächenzusammenhang der Aktionsobjekte entzogen, und dem mag man hinzufügen: beide sind Träger einer Todessymbolik, der Bahnhof der uralten des Reisens, das Museum jener, die sich auf das Werk bezieht, »l'univers nouveau et perissable«, den neuen und hinfälligen Kosmos, den der Künstler geschaffen habe. Gleich den Erwägungen Valerys kreisen die Prousts um die Sterblichkeit der Artefakte. Was ewig dünkt, sagt er an anderer Stelle, enthalte in sich die Motive seiner Destruktion. Die entscheidenden Sätze übers Museum sind eingelassen in die Physiognomik des Bahnhofs. »Aber auf allen Gebieten hat ja unsere Zeit die Manie, uns die Dinge in ihrer natürlichen Umgebung vor Augen führen zu wollen und damit das Wesentliche zu unterschlagen, nämlich den geistigen Vorgang, der sie aus jener heraushob. Man >präsentiert< 180
heute ein Bild inmitten von Möbeln, kleinen Kunstgegenständen und Vorhängen >aus der Epoche < in einer belanglosen Dekoration, die jetzt in neu eingerichteten Stadthäusern eine gestern noch in diesen Dingen völlig unwissende Hausherrin großartig zustande bringt, nachdem sie ihre Tage in Archiven und Bibliotheken verbracht hat; aber das Meisterwerk, das man während des Abendessens betrachtet, schenkt uns nicht mehr das gleiche berauschende Glücksgefühl, das man nur in einem Museumssaal — der viel besser in seiner nüchternen Enthaltung von allen Details die inneren Räume symbolisiert, in die sich der Künstler zurückgezogen hat, um es zu erschaffen - wird erwarten können.« Prousts These ist der Valeryschen vergleichbar, weil er mit ihm die Voraussetzung des Glücks an den Kunstwerken teilt. Wie Valery von den delices, spricht er von der joie enivrante, der berauschenden Freude. Weniges könnte den Abstand nicht nur zwischen der gegenwärtigen Generation von der vorhergehenden, sondern auch zwischen dem deutschen Verhältnis zur Kunst und dem französischen genauer charakterisieren als jene Voraussetzung; schon als A l'ombre geschrieben ward, muß im Deutschen der Ausdruck Kunstgenuß rührend philiströs geklungen haben wie ein Reimwort aus Wilhelm Busch. Übrigens war es um diesen Genuß, an den Valery und Proust glauben wie an die Versicherung einer bewunderten Mutter, immer schon fraglich bestellt. Wer den Kunstwerken nah ist, dem pflegen sie so wenig Gegenstände des Entzückens zu sein wie der eigene Atem. Weit eher lebt er mit ihnen wie der moderne Einwohner einer mittelalterlichen Stadt, der, vom Besucher auf die Schönheit von Gebäuden aufmerksam gemacht, darauf brummig »ja, ja« antwortet, aber in jedem Winkel und unter jedem Torbogen sich auskennt. Nur dort jedoch, wo jene feste Distanz zwischen den Kunstwerken und dem Betrachter herrscht, welche den Genuß erlaubt, kann die Frage nach deren Lebendig- oder Totsein aufkommen. Wer im Kunstwerk zu Hause ist, anstatt es zu besuchen, verfiele schwerlich darauf. Die beiden Franzosen aber, die doch nicht bloß selbst produzieren, sondern zudem stetig über die eigene Produktion nachdenken, sind gleichwohl des Glückes noch gewiß, das die Werke dem draußen spenden. So weit sogar 181
stimmen sie überein, daß sie etwas von der Todfeindschaft der Werke untereinander wissen, die jenes Glück begleitet, das im Wettkampf entsprang. Proust jedoch, anstatt vor solcher Feindschaft zu erschrecken, bejaht sie, als wäre er so deutsch, wie Charlus es affektiert. Der Prozeß zwischen den Werken ist ihm einer von Wahrheit; die Schulen, heißt es an einer Stelle von >Sodome et Gomorrhe<, verschlingen sich gegenseitig wie Mikroorganismen und sorgen durch ihren Kampf dafür, daß das Leben sich erhält. Diese dialektische, übers Beharren vorm Sein des je Einzelnen hinausgehende Ansicht bringt Proust in Gegensatz zu dem Artisten Valery und erlaubt ihm die perverse Toleranz für die Museen, während jenem die Sorge um die Dauer der Werke alles ist. Sie mißt sich am Jetzt und Hier. Die Kunst ist für Valery verloren, wenn sie ihren Platz im unmittelbaren Leben eingebüßt hat, den Funktionszusammenhang, in dem sie stand; schließlich: ihre Beziehung auf möglichen Gebrauch. Der Handwerker in ihm, der Dinge, Gedichte mit jener Präzision der Konturen herstellt, die stets den Blick auf ihre Umgebung einbegreift, ist für den Ort des Kunstwerkes, den buchstäblichen und den geistigen, unendlich hellsichtig geworden, so als wäre bei ihm das perspektivische Gefühl des Malers zu einem für die Perspektive der Realität gesteigert, in der das Werk selber erst seine Tiefe empfängt. Sein Standpunkt ist der künstlerische als der der Unmittelbarkeit, aber zur verwegensten Konsequenz getrieben. Er gehorcht dem Prinzip des l'art pour l'art bis zur Schwelle von dessen Verneinung. Ihm liegt am reinen Kunstwerk als Objekt der durch nichts verwirrten Kontemplation, aber er faßt es so lange und so starr ins Auge, bis er sieht, daß es gerade als Gegenstand solcher reinen Kontemplation abstirbt, zum kunstgewerblichen Zierstück degeneriert und jener Würde beraubt wird, die fürs Werk wie für Valery selbst die raison d'etre ausmacht. Dem reinen Werk droht Verdinglichung und Gleichgültigkeit. Mit dieser Erfahrung überwältigt ihn das Museum. Er entdeckt, daß die reinen Werke, die der Betrachtung im Ernst standhalten, nur die nicht reinen Werke sind, die in jener Betrachtung sich nicht erschöpfen, sondern auf einen gesellschaftlichen Zusammenhang hinweisen. Und da Valery mit der Unbestechlichkeit des großen 182
Rationalisten weiß, daß dieser Stand der Kunst unwiederbringlich ist, so bleibt dem Antirationalisten und Bergsonianer in ihm nichts übrig als die Trauer um die versteinerten Werke. Fast beginnt der Romancier Proust dort, wo der Lyriker Valery ins Schweigen fällt, beim Nachleben der Werke. Denn Prousts primäres Verhältnis zur Kunst ist das Gegenteil der Haltung des Experten und des Produzenten. Er ist zunächst der bewundernd Konsumierende, der Amateur, geneigt zu jenem überschwenglichen und unter Künstlern verdächtigen Respekt, den nur jene für Werke aufbringen, die gleichwie durch einen Graben von ihnen getrennt sind. Fast könnte man sagen, seine Genialität habe nicht zum letzten darin bestanden, diese Haltung des Konsumenten - auch die dessen, der im Leben selber als Zuschauer sich geriert - so unbeirrt einzunehmen, bis sie umschlug in einen neuen Typus der Produktivität, bis die Kraft der Kontemplation des Inwendigen und Auswendigen sich steigerte zum Eingedenken, zur unwillkürlichen Erinnerung. Der Liebhaber paßt von vornherein unvergleichlich viel besser ins Museum als der Sachverständige. Dieser, Valery, fühlt sich dem Atelier zugehörig, jener, Proust, flaniert durch die Ausstellung. Seine Beziehung zur Kunst hat etwas Exterritoriales, und manche seiner Fehlurteile, etwa in Fragen der Musik — was hat der konziliante Kitsch seines Freundes Reynaldo Hahn mit Prousts Roman zu tun, der in jedem seiner Sätze durch unerbittliche Zartheit eine etablierte Ansicht außer Kurs setzt -, zeigen bis zum Ende Spuren des Dilettanten. Aber er hat diese Schwäche so großartig zum Instrument der Stärke umgeschmiedet wie nur Kafka die seine. So viel naiver sein enthusiastisches Urteil über die einzelnen Kunstwerke, zumal die italienische Renaissance, sich anhört als das Valerys, so viel weniger naiv stand er zur Kunst als solcher. Von Naivetät gerade bei Valery zu reden, bei dem der künstlerische Produktions Vorgang und dieReflexion auf diesen Vorgang unauflöslich ineinander verschlungen sind, mag provokatorisch klingen. Aber er war in der Tat naiv insofern, als er keinen Zweifel an der Kategorie des Kunstwerks als solcher hegte. Er nahm es, nach einer englischen Redensart, for granted; und die Dynamik seines Denkens, seine ge183
schichtsphilosophische Energie steigerte sich gerade im Festhalten an jener Kategorie. Sie wird zum Kriterium dafür, wie die innere Zusammensetzung der Kunstwerke und der Erfahrung von ihnen sich verändert. Proust aber ist ganz frei von dem unabdingbaren Fetischismus des Künstlers, der die Dinge selber macht. Ihm sind von Anbeginn die Kunstwerke, neben ihrem spezifisch Ästhetischen, ein anderes, ein Stück des Lebens dessen, der sie betrachtet, ein Element seines eigenen Bewußtseins. Dadurch gewahrt er an ihnen eine Schicht, die sehr verschieden ist von der, auf welche das Formgesetz der Werke sich bezieht. Das ist aber keine andere als die, welche an den Kunstwerken erst mit ihrer geschichtlichen Entfaltung frei wird, eben die, welche bereits den Tod der lebendigen Intention des Kunstwerks voraussetzt. Prousts Naivetät ist eine zweite; auf jeder Stufe des Bewußtseins reproduziert sich erweitert neue Unmittelbarkeit. Wenn Valerys konservativer Glaube an Kultur als ein reines Ansichsein schneidende Kritik an einer Kultur übt, die jenes Ansichsein vermöge ihrer eigenen historischen Tendenz zerstört, dann resultiert Prousts außerordentliche Sensibilität für Änderungen der Erfahrungsweise, seine bestimmende Reaktionsform, in der paradoxen Fähigkeit, Geschichtliches als Landschaft wahrzunehmen. Museen adoriert er wie Gottes wahre Schöpfung, die ja, Prousts Metaphysik zufolge, nicht fertig ist, sondern kraft jeden konkreten Moments der Erfahrung, kraft jeder ursprünglichen künstlerischen Anschauung aufs neue sich ereignet. In seinem staunenden Blick hat er sich ein Stück Kindheit gerettet; ihm gegenüber spricht Valery von Kunst wie ein Erwachsener. Weiß dieser etwas von der Macht, die Geschichte über Produktion und Apperzeption der Werke hat, so weiß Proust, daß Geschichte im Innern der Kunstwerke selbst gleichwie ein Verwitterungsprozeß waltet. »Ce qu'on appelle la posterite, c'est la posterite de l'ceuvre« - das darf man wohl übersetzen : was die Nachwelt heißt, ist das Nachleben der Werke. In der Fähigkeit der Artefakte zu verwittern, entdeckt Proust ihre Ähnlichkeit mit dem Naturschönen. Er kennt die Physiognomik des Verfalls der Dinge als die ihres zweiten Lebens. Weil nichts bei ihm Bestand hat als das bereits durch die Erinnerung Vermittelte, haftet seine Liebe am zweiten 184
schon vergangenen Leben eher als am ersten. Die Frage nach der ästhetischen Qualität ist dem Proustschen Ästhetizismus sekundär; an einer berühmten Stelle hat er die mindere Musik verherrlicht um der Erinnerung ans Leben des Hörers willen, die jeder alte Schlager so viel treuer und eindringlicher bewahrt, als ein Satz von Beethoven, ein an sich Seiendes, je es vermöchte. Der saturnische Blick der Erinnerung durchdringt den Schleier von Kultur: kulturelle Niveaus und Distinktionen, nicht länger als Domäne des objektiven Geistes isoliert, sondern hereingezogen in die strömende Subjektivität, verlieren jenen pathetischen Anspruch, den ihnen noch Valerys Ketzereien ungebrochen konzedieren. Das Chaotische des Museums, an dem Valery sich stößt, weil es den Ausdruck der Werke verwirrt, gewinnt bei Proust eigenen Ausdruck: den tragischen. Der Tod der Werke im Museum erweckt diese für Proust zum Leben; durch den Verlust der Ordnung des Lebendigen, in der sie fungiert haben, soll erst ihre wahre Spontaneität sich entbinden: das je Einmalige, ihr Name, das, worin die großen Werke der Kultur mehr sind als bloß Kultur. Prousts Reaktionsform bewährt in abenteuerlichem Raffinement das Goethesche Diktum aus Ottiliens Tagebuch, daß alles in seiner Art Vollkommene über seine Art hinausweise - einen sehr unklassischen Satz, der der Kunst Ehre widerfahren läßt, indem er sie relativiert. Wer aber nicht beim geistesgeschichtlichen Verständnis sich bescheiden will, kann nicht der Frage sich entziehen, wer recht habe, der Kritiker oder der Retter des Museums. Für Valery ist das Museum Stätte der Barbarei. Zugrunde liegt die Anschauung von der Heiligkeit der Kultur, die er mit Mallarme teilt. Gegenüber allen Einwänden, welche von dieser Religion des spieen herausgefordert werden, zumal den eilfertig sozialen, ist auf dem Moment ihrer Wahrheit zu bestehen. Nur was um seiner selbst willen, ohne den Blick auf die Menschen, denen es gefällig sein soll, da ist, erfüllt seine menschliche Bestimmung. Wenig hat zur Enthumanisierung so viel beigetragen wie der an der Vorherrschaft der schaltenden Vernunft gebildete, allmenschliche Glaube, geistige Gebilde empfingen ihre Rechtfertigung nur, insoweit sie für anderes da sind. Valery hat ihren objektiven Charak185
ter, die immanente Stimmigkeit des Kunstwerks und die Zufälligkeit des Subjekts ihr gegenüber, mit unvergleichlicher Autorität dargetan, weil er die Einsicht an subjektiver Erfahrung, dem Zwang in der Arbeit des Künstlers selber gewann. Darin war er fraglos Proust überlegen: unverführbar, von größerer Resistenz, während der Proustische Primat des Erfahrungsstroms, der nichts Verhärtetes duldet, einen finsteren Aspekt, den des Konformismus, der bereitwilligen Anpassung an die je wechselnde Situation mit Bergson gemein hat. Es gibt bei ihm Stellen über Kunst, die aus losgelassenem Subjektivismus jener banausischen Ansicht ähneln, die aus den Kunstwerken eine Batterie projektiver Tests macht, während Valery gelegentlich, und kaum ohne Ironie, darüber klagt, daß die Qualität von Gedichten nicht sich testen lasse. Nach einer Äußerung im zweiten Band des >Temps retrouvé< ist das Werk des Schriftstellers nichts als eine Art von optischem Instrument, das er dem Leser anbietet, damit dieser in sich entdeckt, was er ohne das Buch vielleicht nicht hätte entdecken können. Auch was Proust zugunsten des Museums vorbringt, ist vom Menschen, nicht von der Sache her gedacht. Nicht zufällig identifiziert er, was im musealen Nachleben der Werke aufgehen soll, mit einem Subjektiven, dem jähen Akt der Produktion, durch den das Kunstwerk von der Realität sich scheidet. Ihn findet er in jener Isolierung der Gebilde widerspiegelt, die Valery als deren Schandmal betrachtet. Erst diese Treulosigkeit der fessellosen Subjektivität dem objektiven Geist gegenüber befähigt Proust, die Immanenz der Kultur zu durchbrechen. Weder Valery noch Proust hat recht in dem latenten Prozeß, der zwischen ihnen anhängig ist, noch ließe gar eine mittlere Versöhnung zwischen beiden sich herbeiführen. Aber ihr Konflikt bezeichnet aufs eindringlichste einen der Sache selbst, und beide stellen Momente jener Wahrheit bei, welche die Entfaltung des Widerspruchs ist. Die Fetischisierung des Objekts und die Vernarrtheit des Subjekts in sich selber finden wechselseitig ihr Korrektiv. Die Positionen gehen ineinander über. Valery wird des Ansichseins der Werke in unablässiger Selbstreflexion gewahr, während umgekehrt der Proustsche Subjektivismus das Ideal, die Rettung des Lebendigen von der Kunst erhofft. Er vertritt 186
gegen die Kultur, und durch diese hindurch, Negativität, Kritik, den spontanen Akt, der beim Sein sich nicht bescheidet. Damit läßt er den Kunstwerken Gerechtigkeit widerfahren, die nur so weit welche sind, wie sie den Inbegriff solcher Spontaneität verkörpern. Er hält um des objektiven Glücks willen an der Kultur fest, während Valerys Loyalität dem objektiven Anspruch der Werke gegenüber die Kultur verloren geben muß. Und wie beide kontradiktorische Momente der "Wahrheit repräsentieren, so haben beide, die Wissendsten, die in der neuen Zeit über Kunst geschrieben haben, Schranken, ohne die ihr Wissen selber nicht möglich gewesen wäre. Valery ließ wenig Zweifel darüber, daß er mit seinem Lehrer Mallarme darin übereinstimmte, daß, wie es in dem Essay >Triomphe de Manet< heißt, Dasein und Dinge einzig dazu da seien, um von der Kunst verzehrt zu werden; daß die Welt existiere, um ein schönes Buch hervorzubringen; daß ein absolutes Gedicht ihre Vollendung sei. Er gewahrte auch scharf den Fluchtpunkt, dem die poesie pure zustrebt. »Nichts führt so sicher zur vollkommenen Barbarei«, beginnt ein anderer seiner Essays, »wie die ausschließliche Bindung an den reinen Geist.« In der Tat kam seine eigene Anschauung, die Erhöhung der Kunst zum Bilderdienst, jenem Prozeß der Verdinglichung und des Verschleißes der Kunst zugute, als dessen Stätte Valery das Museum verfemt: erst im Museum, wo die Bilder der Betrachtung als Selbstzweck dargeboten sind, werden sie so absolut, wie Valery es sich erträumte, und er erschrickt tödlich vor der Verwirklichung des eigenen Traums. Dagegen weiß Proust das Heilmittel. Indem die Kunstwerke, als Elemente des subjektiven Bewußtseinsstroms ihres Betrachters, gleichsam nach Hause geholt werden, verzichten sie auf die kultische Prärogative und sind damit befreit von dem usurpatorischen Zug, der ihnen in der heroischen Ästhetik der Impressionisten eignet. Dafür überschätzt Proust nach Art der Amateure den Akt der Freiheit in der Kunst. Oft versteht er die Werke, gar nicht so verschieden von den Nervenärzten, allzu sehr als Abdruck des Seelenlebens dessen, der das Glück und Unglück hatte, sie hervorzubringen oder zu genießen, und gibt nicht volle Rechenschaft davon, daß das Kunstwerk seinem Autor und seinem Publikum bereits im Augen187
blick der Konzeption als ein Objektives, Forderndes mit eigener Konsequenz und Logik gegenübertritt. Wie das Leben der Künstler, so erscheinen auch ihre Gebilde nur von außen »frei«. Weder sind sie Spiegelungen der Seele noch Verkörperungen Platonischer Ideen, reines Sein, sondern »Kraftfelder« zwischen Subjekt und Objekt. Das objektiv Notwendige, für das Valery spricht, verwirklicht sich nur durch den Akt der subjektiven Spontaneität hindurch, in den Proust allen Sinn und alles Glück verlegt. Der Kampf gegen die Museen hat etwas von Donquichotterie nicht bloß, weil der Einspruch der Kultur gegen die Barbarei ungehört verhallt: es bedarf des hoffnungslosen Einspruchs. Aber Valery ist noch um ein weniges zu harmlos im Verdacht, daß lediglich die Museen es an den Bildern verüben. Noch die an der alten Stelle in den Schlössern jener Adeligen hängen, um die wiederum Proust mehr sich bemühte als Valery, wären Museumsstücke ohne Museen. Was am Leben des Kunstwerks zehrt, ist zugleich dessen eigenes Leben. Wenn Valerys kokette Allegorie Malerei und Skulptur den Kindern vergleicht, welche die Mutter verloren haben, dann wäre daran zu erinnern, daß in den Mythen die Helden, in denen das Menschliche dem Schicksal sich entringt, allemal die Mutter verloren. Zur vollen promesse du bonheur werden Kunstwerke erst losgerissen von ihrem Nährboden, auf der Bahn zum eigenen Untergang. Das hat Proust erkannt. Der Vorgang, der jedes Kunstwerk heute, und wäre es die jüngste Plastik von Picasso, dem Museum überantwortet, ist irreversibel. Er ist aber nicht nur verworfen, sondern deutet auf einen Zustand, in dem die Kunst, die ihre eigene Entfremdung von den menschlichen Zwekken vollendet, nach dem Vers des Novalis ins Leben zurück sich begibt. Etwas davon ist in Prousts Roman zu spüren, wo die Physiognomien von Bildern und Personen ohne Schwelle fast ineinander gleiten und die Erinnerungs spuren an Erlebnisse und an musikalische Passagen. An einer der exponiertesten Stellen des Ganzen, auf der ersten Seite von >Du côté de chez Swann<, bei der Beschreibung des Einschlafens, sagt der Erzähler »es kam mir so vor, als sei ich selbst, wovon das Buch handelte: eine Kirche, ein Quartett, die Rivalität zwischen Franz dem Ersten und Karl dem 188
Fünften«. Das ist die Versöhnung des Getrennten, dem Valerys unversöhnliche Klage gilt. Das Chaos der Kulturgüter verdämmert in die Seligkeit des Kindes, dessen Leib sich eins fühlt mit dem Nimbus der Ferne. Die Museen lassen sich nicht zusperren, es wäre auch nicht einmal zu wünschen. Die Naturalienkabinette des Geistes haben recht eigentlich die Kunstwerke in eine Hieroglyphenschrift der Geschichte verwandelt und ihnen einen neuen Gehalt hinzugefügt, während der alte einschrumpfte. Dagegen ist kein der Vergangenheit abgeborgter und zugleich ihr unangemessener Begriff reiner Kunst aufzubieten. Keiner hätte das besser gewußt als Valery, der eben darum seine Reflexion abbrach. Wohl aber verlangen die Museen nachdrücklich, was eigentlich schon jedes Kunstwerk verlangt: etwas vom Betrachter. Denn auch der Flaneur, in dessen Schatten Proust wandelte, ist längst hinab, und keiner kann mehr durch Museen schlendern, um hier und dort sein Entzücken zu finden. Das einzige Verhältnis zur Kunst, das in der katastrophisch verhängten Realität noch anstünde, wäre eines, das die Kunstwerke so blutig ernst nimmt, wie der Weltlauf es geworden ist. Des von Valery diagnostizierten Übels erwehrt sich bloß, wer mit Stöcken und Schirmen die Reste seiner Naivetät draußen abgegeben hat, genau weiß, was er will, zwei oder drei Bilder sich aussucht und vor ihnen so konzentriert verharrt, als wären es wirklich Idole. Manche Museen kommen ihm dabei entgegen. Mit Luft und Licht haben sie auch jenes Prinzip der Auswahl sich zugeeignet, das Valery zu dem seiner Schule erklärt hat und das er an den Museen vermißt. In jenem Jeu de Paume, wo jetzt die Gare St-Lazare hängt, wohnen Prousts Elstir und Valerys Degas friedlich nahe und doch diskret getrennt beieinander.
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George und Hofmannsthal Zum Briefwechsel: 1891-1906
Walter Benjamin zum Gedächtnis
Wer den Briefwechsel zwischen George und Hofmannsthal zur Hand nimmt, um daraus Erkenntnis dessen zu gewinnen, was mit der deutschen Lyrik in den fünfzehn Jahren sich zutrug, die der Band umschließt, der wird vorab enttäuscht. Während die beiden mit Strenge und Vorsicht bis zur Stummheit sich voreinander verschließen, fördert ihre persönliche Disziplin kaum je die sachliche Erörterung. Vielmehr scheint der Gedanke von der Starre mitbefallen. Publikationstechnische und verlagspolitische Details, dazwischen gereizt-zurückhaltende Angriffe und stereotype Verteidigungen füllen die Seiten. Stellen, wie Georges Kritik eines überzähligen Wortes in einem Hofmannsthalschen Vers, wie seine Polemik gegen Dehmel und sein gleichsam verhandlungsloses Urteil über das >Gerettete Venedig < sind die Ausnahme. Der Gestus der Briefe möchte glauben machen, daß die Materialnähe des Künstlers weitgreifender Reflexionen nicht bedürfe oder auch, daß man gemeinsamer Erfahrungen und Anschauungen zu sicher sei, um sich auf profanierendes Zerreden einzulassen. Dieser Anspruch indessen beruht eher auf stillschweigender Vereinbarung, als daß die Briefe selber ihn bewährten. Ihm widerspricht der formale Charakter der Rezeption zumal von Hofmannsthals Gedichten durch George, der dem Jüngeren gegenüber durchweg in der Position des Redaktors sich befindet. Nicht von George, sondern von einem wohlwollenden Herausgeber wären Sätze zu erwarten wie: »ich empfange und lese Ihre gediente und danke Ihnen. Sie können kaum eine strofe schreiben die einen nicht um einen neuen schauer ja um ein neues fühlen bereichert.« Es handelt sich um zwei von Hofmannsthals denkwürdigsten lyrischen Modellen, Manche freilich müssen drunten sterben und das >Weltgeheimnis<, das noch in dem >Lied< aus Georges letz-
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tem Band erinnert wird. An das erledigende Lob schließt George die unbegreifliche Frage: »Ist es Ihre absicht das gedicht >Manche freilich müssen < . . . auf >Weltgeheimnis < folgen zu lassen? oder ist es teil? eine angabe darüber fehlt.« Die Unterstellung der bloßen Möglichkeit, daß die zwei Gedichte, das eine trochäisch, vier- und sechszeilig gegliedert, das andere jambisch-daktylisch, durchweg vierfüßig, in dreizeiligen gereimten Strophen, zusammen eines abgeben könnten, straft das vorausgesetzte sachliche Einverständnis Lügen. So muß die Armut an theoretischem Gehalt aus der Position der beiden wenig naiven Autoren geklärt werden. Unter den Plänen zur Zusammenarbeit an den >Blättern für die Kunst<, wie sie Hofmannsthal 1892 mit dem Bevollmächtigten Georges, Carl August Klein, brieflich erwog, fehlen nicht durchaus solche theoretischer Publikationen. Hofmannsthal fragt am 26. Juni: »Womit werden die einzelnen >Hefte< bei der notwendigerweise geringen Zahl der Mitarbeiter und der quantitativ geringen Produktion von wirklichen Kunstwerken ausgefüllt werden? oder soll der Kritik und der technischen Theorie Raum gewährt werden, und wenn, wieviel?« Er erhält den Bescheid: »von landläufigen kritischen essays kann keine rede sein«, der dann von Klein einigermaßen undeutlich dahin abgemildert wird, es bleibe »nicht ausgeschlossen daß jeder von uns über ein beliebiges kunstwerk sein urteil abgibt«. Denn es sei - im altfränkischen Sprachgebrauch der deutschen decadence »sehr interessant über bilder über ein theater- oder musikstück irgend eine neue oder pikante ansieht zu hören«. Hofmannsthal, längst Mitarbeiter an Zeitschriften wie die >Moderne< oder die >Moderne Rundschau <, gibt sich dabei nicht zufrieden. »Unter Prosaaufsätzen hatte ich mir weit weniger landläufige kritische Essays als vielmehr Reflexionen über technische Fragen, Beiträge zur Farbenlehre der Worte und ähnliche Nebenprodukte des künstlerischen Arbeitsprocesses vorgestellt, durch deren Mittheilung einer den anderen, wie ich meine, wohl zu fördern im Stande wäre.« Die Farbenlehre der Worte < spielt vermutlich auf die >Voyelles< an, eines der drei Gedichte Rimbauds, die George später in die Übertragungen zeitgenössischer Dichter aufgenommen hat. Die Voyelles sind eine Litanei der Moderne, die ihre Macht 191
noch über die Surrealisten behauptet. Wenn Rimbaud darin die Enthüllung der naissances latentes der Vokale für die Zukunft verspricht, dann hat mittlerweile das Geheimnis des Gedichtes selber sich enthüllt. Es ist die Genauigkeit des Ungenauen, wie sie erstmals in Verlaines >Art poetique< als Verbindung des Indecis und des Precis gefordert war. Poesie wird zur technischen Beherrschung dessen, was vom Bewußtsein sich nicht beherrschen läßt. Die Belehnung von Lauten mit Farben, die mit ihnen in keinem Zusammenhang als dem der bedeutungsfernen Gravitation der Sprache stehen, emanzipiert das Gedicht vom Begriff. Zugleich indessen überantwortet die Sprache als Instanz das Gedicht der Technik: die Charakteristik der Vokale ist nicht sowohl deren assoziative Verkleidung als eine Anweisung, wie sie im Gedicht sprachgerecht zu verwenden seien. Auch, die Voyelles sind ein Lehrgedicht. Das Verlainesche kommt mit ihm überein. Die Nuance, die Verlaine als Regel proklamiert, ist vom Schlage jener Korrespondenz von Laut und Farbe: ihre Unterstellung unter den Primat der Musik hält zugleich ihre Bedeutungsferne fest und macht die technische Stimmigkeit zum Kriterium der Nuancen selber, der recht oder falsch gegriffenen Töne1. Das schweigsame Verfahren von George und Hofmannsthal appelliert an nichts anderes alsRimbauds und Verlaines Manifeste: das Inkommensurable. Das ist nicht das metaphysische Absolutum, auf welchem die erste deutsche Romantik und ihre Philosophie bestand. Träger des Inkommensurablen ist nicht zufällig der Ton: es ist nicht intelligibel sondern sinnlich. Der Dichtung fallen jene sensuellen Momente des Gegenstandes - fast könnte man sagen: des naturwissenschaftlichen Objekts - zu, die sich exakten Meßmethoden entziehen. Der poetische Kontrast des Lebens zu dessen technischer Entstellung ist selbst technischer Art. Die überlaut gepriesene Feinnervigkeit des Künstlers macht ihn gewissermaßen zum Komplement des 1 Der junge George hat die Musik noch nicht mit jenem Verdikt bedacht, das er später seinen Gehilfen zu exekutieren erlaubte, ohne sich im Beethovenspruch des Siebenten Ringes selber daran zu kehren. Dafür ersetzt er das Wort Musik durch »Ton« oder »Töne«. Der Protest gegen ein Cliché, das der Muse ein einzelnes ästhetisches Stoffbereich zuteilt, verführt ihn dazu, die ausgebildete Kunst in ihr mythisches Urstadium romantisch zu transponieren. Dem ist dann die Doktrin des Kreises in der Tat gefolgt. Zugleich jedoch enthält die Reduktion der Musik auf Töne den Verweis auf das technische Element. Nahe verwandt ist die Gewohnheit Georges, das Wort Dichter im Plural zu bringen.
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Naturforschers: als befähigte ihn sein Sensorium, kleinere Differenzen zu registrieren als die den Apparaten zugänglichen2. Er versteht sich als Präzisionsinstrument. Die Sensibilität wird zur Versuchsanordnung, ja zur Veranstaltung, jene Grundreize auf der Skala der Empfindungen ablesbar zu machen, die anders der subjektiven Herrschaft sich entzögen. Als Techniker wird der Künstler zur Kontrollinstanz seiner Sensibilität, die er an- und abstellen kann, wie Niels Lyhne sein Talent. Er bemächtigt sich des Unerwarteten: dessen, was unter den kurrenten Ausdrucksmaterien noch nicht vorkommt; des Neuschnees, in welchem noch keine Intentionen ihre Spur hinterlassen haben3. Wenn aber die nackte Empfindung der Deutung durch den Dichter sich verweigert, unterjocht er sie, indem er die unberechenbare in den Dienst berechneter Wirkung stellt. Das Geheimnis des sinnlichen Datums ist kein Geheimnis sondern die blinde Anschauung ohne Begriff. Es ist vom Schlag des gleichzeitig etwa von Ernst Mach formulierten Empiriokritizismus, in dem das Ideal naturwissenschaftlicher Akribie mit der Preisgabe jeglicher Selbständigkeit der kategorialen Form sich zusammenfindet. Die reine Gegebenheit, welche diese Philosophie herauspräpariert, bleibt undurchdringlich wie das Ding an sich, das sie verwirft. Das Gegebene läßt sich nur »haben«, nicht halten. Als Erinne2 An Jacobsen, der Naturwissenschaften studierte und den Darwinismus propagierte, ehe seine literarische Produktion begann, ist das früh bemerkt worden. In einer 1898 geschriebenen, ungemein eindringlichen Einleitung zu der Ausgabe der gesammelten Werke bei Eugen Diederichs von 1905 sagt Marie Herzfeld: »J. P. Jacobsen ist zugleich ein traumwirrer Phantasiemensch und ein hellwacher Realist.« Die Einheit beider Momente in der Komplexion der Neuromantik konnte damals noch nicht durchschaut werden. Die Verfasserin jener Einleitung befindet sich unter den vier Lesern, die Hofmannsthal am 24. August 1892 »persönlich von unseren Absichten verständigen« möchte.—Der erste Band von Georges Übertragung zeitgenössischer Dichter stellt Jacobsen zu Rossetti und Swinburne. 3 In der Musik handhabt Berlioz, der Platzhalter des modern style in der älteren Romantik, das Orchester als Palette im Namen des imprevu. Er ist der erste Orchestertechniker. Der Begriff des imprevu geht auf Stendhal zurück. Der junge Hofmannsthal bezieht sich darauf: »Es ist nichts anderes als die suchende Sehnsucht des Stendhal nach dem >imprevu<; nach dem Unvorhergesehenen, nach dem, was nicht >ekel, schal und flach und unerträglich < in der Liebe, im Leben« (Loris, die Prosa des jungen Hugo von Hofmannsthal, Berlin 1930). Das imprevu suspendiert die gleichförmige Mechanik des bürgerlichen Lebens und ist doch selber mechanisch hervorzubringen: durch Tricks. — Die Interpretation vor-Berliozscher Musik in Kategorien ihrer Technik gehört einem späteren Aspekt an und konnte sich erst historisch erschließen. Man wird in der Zeit Mozarts oder Beethovens schwerlich dem Wort Kompositionstechnik begegnen. Beethoven freilich begann, sich der Relevanz technischer Mittel im Gegensatz zum »Naturgenie des Komponisten« bewußt zu werden.
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rung und gar in Worten ist es nicht mehr es selbst; ein Abstraktum, in dessen Bereich man das unmittelbare Leben verwiesen hat, nur um es mit der Technik desto besser manipulieren zu können. Nicht länger vermögen die kategorialen Formen Subjekt und Objekt zu fixieren: beide versinken im »Bewußtseinsstrom« als im wahren Lethe der Moderne. Das Gedicht an George, das den Briefwechsel eröffnet, hat zum Titel: >Einem, der vorübergeht<. George wird sogleich des Ungehörigen gewahr: »aber bleibe ich für Sie nichts mehr als >einer, der vorübergeht 4« Er ist von Anbeginn darauf aus, das Sein vom Strom des Vergessens zu schützen, an dessen Rand gleichsam er seine Gebilde aufrichtet5. Zum Schutz dient die Esoterik: als Geheimnis wird festgebannt, was anders entglitte. Daher das Schweigen des nicht existenten Einverständnisses. Denn das statuierte Geheimnis existiert selber nicht. Das hochtrabende Gleichnis, worin der Briefwechsel es designiert, bleibt ganz inhaltslos: »später aber wäre ich gewiß zusammengebrochen hätt ich mich nicht durch den Ring gebunden gefühlt, das ist eine meiner letzten Weisheiten - das ist eines der geheimnisse!« Es muß gewahrt werden, nicht sowohl um Profanierung als um Demaskierung zu verhüten. In der mystischen Zelle sind die puren Stoffe versammelt. Würde aber die Technik öffentlich, die über die Stoffe disponiert, so ginge mit ihr der Anspruch des Dichters auf eine Herrschaft verloren, die längst an die Veranstaltung zediert ward. Geheimgehalten wird das nicht Geheime; eingeweiht wird ins Rationale die Technik selber. Je mehr die Fragen der Dichtung in Fragen der Technik sich übersetzen, um so lieber bilden sich exklusive Zirkel. Der Teppich, das intentionslose Stoffgewirk, stellt ein technisches Rätsel; dessen »lösung« aber »wird den vielen nie und nie durch rede«. Die Rechtfertigung des Zir4 Die mutwillige Verfügung über die Vergänglichkeit gehört zum ältesten Inventar des Ästhetizismus. In den Diapsalmata aus Kierkegaards Entweder-Oder heißt es 1843: »An jedem Erlebnis vollziehe ich die Taufe der Vergessenheit und weihe es der Ewigkeit der Erinnerung.« 5 Von diesem Impuls zeugt eine Briefstelle, wo er nach ein paar Sätzen über eine Nummer der >Blätter für die Kunst< fortfährt: »Verzeihen Sie, daß ich den geschichtlichen Teil meines briefes wieder so wenig ausdehne.« Ihm wird das Vergängliche sogleich als Geschichtliches verewigt. Die Überspannung des Geschichtlichen ist die Gegenwehr gegen den Zerfall des Gegenstandes. Hofmannsthals »organische« und Georges »plastische« Formgesinnung, die man zu kontrastieren pflegt, datieren auf den gleichen geschichtsphilosophischen Sachverhalt zurück.
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kels jedoch, wie er für George in der Mitarbeiterschaft an den >Blättern für die Kunst< sich auswies, ist keineswegs die Teilnahme an verborgenen Gehalten, keineswegs die Substantialität des Einzelnen, sondern technische Kompetenz: »Und nicht einmal von den ganz kleinen will ich schweigen • den zufälligen Schnörkeln und Zieraten • die ich an sich betrachtet völlig preisgebe. Daß aber diese kleinsten solche arbeit zu liefern vermochten: daß man ihnen rein handwerklich bei aller dünnheit nicht soviel Stümperei anzukreiden hat als manchen Vielgerühmten: das scheint mir zeitlich und örtlich betrachtet für unsere kunst und kultur von höherer Bedeutung als alle verbände und alle theaterstücke auf die Sie damals hoffnungen setzten.« Es bleibt offen, ob die Technik als Arcanum, sakramental tradiert, nicht notwendig in technische Insuffizienz umschlägt: in jene Routine, die der vulgären Kritik vor Augen steht, wenn sie von Formalismus schwatzt. Je leerer das Geheimnis, um so mehr bedarf sein Wahrer der Haltung. Sie ist es, die George an seinen Schülern außer Technik zu rühmen weiß: »Ihnen aber mit Ihrem großen gefühl für stil muß es doch mindestens zu denken gegeben haben - muß es doch sehr anmutend geschienen haben diese menschen zu sehen >die nie mitthaten< >sich nie öffentlich machten < von so vornehmer haltung wie sie in ihrem kreis etwa durch unseren gemeinsamen freund Andrian vertreten sind.« Wie sehr auch das nicht Mittun und die Distanz vom Betrieb für diese Haltung spricht, es wird der Begriff zugleich kompromittiert durch das Epitheton vornehm, das jene Distanz positiv bestimmen soll. Ja, dem Begriff Haltung selber ist nicht zu trauen. In der intelligiblen Welt spielt er eine ähnliche Rolle wie in der profanen das Rauchen. Wer Haltung hat, lehnt sich in seine Persönlichkeit zurück: die Kälte, die sein Ausdruck vorstellt, macht einen guten Eindruck. Monaden, die durch ihr Interesse voneinander abgestoßen werden, ziehen durch die Geste des Uninteressierten noch am ehesten sich an. Die Not der Entfremdung wird in die Tugend der Selbstsetzung umgebogen. Darum sind im Lob der Haltung alle einig. Sie wird an einem Revolutionär so gern gerühmt wie an Max Weber, und in den>Nationalsozialistischen Monatsheften< präsentierten bereits die 195
Jagdhunde sich knapp, gefaßt und entschlossen. Das Unrecht, das der überlegene Einzelne in der Konkurrenzgesellschaft allen anderen notwendig antut, schreibt er sich durch Haltung als moralischen Profit gut. Nicht bloß die stramme, noch die edle Haltung ist stigmatisiert, und selbst jene Anmut, die nach Georges Ideenhierarchie als Schönheit des einfach gestalthaften Seins die oberste Stelle einnimmt. War Anmut einmal Ausdruck des Dankes am Menschen - des Dankes, den diesem die Götter abstatten, wenn er ohne Angst und ohne Hochmut in der Schöpfung sich zu bewegen vermag, als wäre sie es noch -, dann ist Anmut heute, entstellt, Ausdruck jenes Dankes am Menschen, den ihm die Gesellschaft abstattet, weil et als einstimmend Zugehöriger sicher zugleich und widerstandslos in ihr sich bewegt. Charme und Grazie und ihr Erbe, der gut Aussehende, taugen eben noch dazu, das Privileg vergessen zu machen. Das Edle selber ist edel kraft des Unedlen. Das kommt bei George nicht bloß in sinistren Formulierungen zu Tage wie: »Ich habe nie etwas anderes als Ihr bestes gewollt. Mögen Sie sich davon nicht zu spät überzeugen.« Wer vor seinen Gedichten die Besonnenheit aufbringt, den pragmatischen Gehalt nicht über der prätendierten Identität mit dem lyrischen zu vergessen, dem ist ein Niedriges an den gehobenen Stellen oft unverkennbar. Schon im berühmten Eingangszyklus des Jahres der Seele, >Nach der Lese<, wird eine demütigende Ersatzliebe vorgeführt, deren Restriktionen vor der Beleidigung der Geliebten nicht zurückscheuen. Zwischen den zartesten Versen stehen solche von unbedachter Roheit. Kein Geschäftsmann ließe so leicht sich beikommen, seiner Freundin »und ganz als glichest du der Einen Fernen« und ähnliche karge Freundlichkeiten zu sagen. Mit Grund stellt der Gedanke an den Geschäftsmann sich ein: das Ideal, das man sich selber nicht gönnt und das einem gerade gut genug dazu ist, das herabzusetzen, was man ohnehin hat, gehört zur eisernen Ration des Bürgers. Solche Idealität ist die Kehrseite von Sein, Gehalt und Kairos. »Der heut nicht kam bleib immer fern!« Er muß sich am Parkgitter die Nase plattdrücken und obendrein noch eine platte Nase nachsagen lassen. In jedem Augenblick wird die Georgesche Kultur mit Barbarei erkauft. 196
Der Gegensatz von George und Hofmannsthal bewegt sich um das Postulat der Haltung, das George durch Vorbild wie Rede immer wieder erhebt und dem Hofmannsthal mit unablässig variierten Wendungen sich entzieht, wie dem Ausfall »es widerstrebt mir sehr, den Ausdruck der Herrschaft über das Leben, der Königlichkeit des Gemüthes aus einem Munde zu vernehmen, dessen Ton mich nicht zugleich mit der wahren Ehrfurcht erfüllt« oder der Parade »in mir ist vielleicht die Dichterkraft mit anderen geistigen Drängen dumpfer vermischt als in Ihnen«. Er setzt jedoch der Haltung eine Lässigkeit entgegen, die kaum menschlicher sich bewährt als das Unerbittliche. Es ist die geflissentliche Weltoffenheit des Jungen Herren aus großem Hause, als welchen Hofmannsthal später seine am ersten Tage schon legendäre Vergangenheit stilisierte; dessen der keiner Haltung bedarf, weil er ohnehin dazugehöre. Krampfhaft identifiziert er sich mit der Aristokratie oder wenigstens jener Art großbürgerlicher society, die mit ihr manche Interessen teilt und Bescheid weiß: »So viel von mir: außerdem bin ich wohl, werde ein paar Tage dieses Sommers in München vor den Bildern zubringen, den Herbst wohl in Böhmen zur Jagd. Und Sie? Wenigstens ein paar Zeilen bei Gelegenheit wären mir sehr erwünscht. Hugo Hofmannsthal.« Die böhmischen Wälder haben es ihm angetan. Von »einem meiner Freunde« heißt es: »Er gehört völlig dem Leben an, keiner Kunst. Er wird Ihnen einen schönen Begriff von österreichischem Wesen geben, bei reichlicher Übersicht über vielfältige äußere und innere Verhältnisse auch der anderen Länder. Es ist der Graf Josef Schönborn von der böhmischen Linie des Hauses«, deren mit Nonchalance Erwähnung geschieht. George, in chthonischen Dingen zuständiger und nüchtern genug, um die Hoffnungslosigkeit solcher Anbiederung zu erkennen, nennt darauf das Kind beim Namen: »Sie schreiben einen satz, mein lieber freund: >er gehört völlig dem Leben an, keiner Kunst < den ich fast als Lästerung auffassen möchte. Wer gar keiner kunst angehört darf sich der überhaupt rühmen dem leben anzugehören? Wie? höchstens in halbbarbarischen Zeitläuften.« Hofmannsthals Lässigkeit assimiliert die Kritik in weniger als einem halben Jahr: »Mir schwebt eine Art von Brief an einen sehr jungen Freund vor, 197
der dem Leben dient, und dem gezeigt werden soll, daß er sich mit dem Leben niemals recht verknüpfen kann, wenn er sich ihm nicht zuerst in der geheimnisvollen Weise entfremdet, deren Werkzeug das Aufnehmen von Dichtungen ist.« Unbestimmt bleibt, zu welcher Art Leben der junge Freund vorbereitet werden soll. Es ist aber Grund zur Annahme, daß das höhere von Attaches und Offizieren gemeint ist, die sich mit den Söhnen der Bankiers und Fabrikbesitzer beim Vornamen nennen, wobei alle Beteiligten ihren Adel taktvoll sich verschweigen6. Man braucht das Glücksverlangen nicht zu verkennen, das den Snob inspiriert, der aus dem Bereich des Praktischen in ein gesellschaftliches zu entweichen trachtet, das dem Geist in der Absage an Utilität verschworen scheint. Die Mädchen zu Hofmannsthals Gedichten waren nicht im Mittelstand zu finden. Aber der Geist, der auf jene gesellschaftlichen Abenteuer sich einläßt, hat es nicht leicht. Er kann beim Glanz des schönen Lebens sich nicht bescheiden und muß in dessen Mitte die Erfahrung des Das ist es nicht wiederholen, von der er sich abwandte. Dem ist der eine Proust gerecht geworden. Seine Jugendphotographien ähneln denen Hofmannsthals, als hätte die Geschichte zweimal an verschiedenen Stellen das gleiche Experiment geplant. An Hofmannsthal ist es gescheitert. Der Intellektuelle, der, von Hunden umspielt, fröhlichem Waidwerk obliegt oder viel »Reiten durch Abenddämmerung, Wind und Sternenlicht« vorhat, kann sich schwerlich gut sein. Der Geist ist recu um den Preis seiner Selbstdenunziation. Hofmannsthals böhmischen Affiliationen entspricht der verstohlene Eifer des Umgänglichen, von anderen 6 Der junge Hofmannsthal hat sich der Einsicht in solche Aspekte seiner Welt nicht durchaus versagt. Von Marie Bashkirtseff, der Schutzheiligen des fin du siecle, sagte er: »En attcndant ist sie so hochmütig als möglich. Alles, was an Macht und Königlichkeit erinnert, berauscht sie: die Paläste der Colonna und Chiarra; die königlichen Truppen des Vatikan, irgendein Triumphwagen in irgendeinem Museum; irgendein hochmütiges und ruhig überlegenes Wort, eine feine und legitime Arrogan2. Sie ist selbst für diesen großen Stil der Vornehmheit bei aller innerer Eleganz ihres Wesens zu lebhaft und nervös; es liegt in ihrer stark betonten Sympathie dafür etwas von dem Neid, mit dem Napoleon einsah, daß er das legitime Gehen nicht erlernen könne; sie spricht zu laut und wird zu leicht heftig; auch der Ton des Tagebuchs ist lauter, werfi ger reserviert, als man in guter Gesellschaft gewöhnlich spricht.« Man mag in diesen Sätzen ein Stück uneingestandener Selbstkritik Hofmannsthals suchen. Der Vorwurf der Lautheit zeigt eine von Proust beschriebene Urgeste des Snobs: den anderen einen Snob zu nennen. Sie entspringt dem Konkurrenzmotiv. Vornehmheit verbietet dem vitalen Aufstiegswillen niemals den Gebrauch der Ellenbogen.
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Intellektuellen sich fernzuhalten. In seinem paradis artificiel waltet kein Bergotte und kein Elstir: »Leider ist meine Gesellschaft eine so durchaus unlitterarische, daß ich Ihnen keinen ernst zu nehmenden Mitarbeiter vorzuschlagen weiß.« Solche krampfhafte Selbstverleugnung des Literaten gründet in den problematischen Beziehungen zwischen der Macht und den Intellektuellen. Ohne angedrehten Charme und gewundene Schultern geht es nicht ab. Die deutsche Society, die sich aus Landadligen und Großunternehmern rekrutierte, war der künstlerischen und philosophischen Tradition weniger verbunden als die westliche. Die feinen Leute nach 1870 haben meist unsicher und nervös mit der Kultur sich eingelassen; unsicher und nervös sind die Intellektuellen denen entgegengekommen, die keinen Augenblick ihre Bereitschaft vergessen ließen, jeden herauszuwerfen, der unbequem wurde. Die paar Schriftsteller, die darauf bestanden, die »Nation« zu repräsentieren, hatten die Wahl, entweder die herrschende Halbroheit als Substantialität und »Leben« zu glorifizieren, oder der wirklichen society, der sie nachliefen und vor der sie Angst hatten, eine Traumsociety zu substituieren, die sich nach ihnen richtete und die man jener als pädagogisches Muster vor Augen stellen konnte. Hofmannsthal hat beides versucht: er hat, vertrauend auf substantielle Momente der österreichischen Tradition, eine Ideologie für das high life gemacht, welche diesem eben jene humanistische Gesinnung zuschiebt, gegen die der Jagdstiefel erhoben ist, und hat eine fiktive Aristokratie sich ausgedacht, die seine Sehnsucht als erfüllt vorspiegelt. Der Schwierige Kari Bühl ist das Produkt dieser Bemühung. Der junge Hofmannsthal war derart kunstreicher Kreationen noch nicht mächtig. Er macht sich bei den Feudalen als Zwischenhändler des fin du siecle beliebt; er vermittelt ihnen bald auf anpreisende, bald auf apologetische Weise, womit die Eliten in England, Frankreich und Italien den Ton angeben. Es ist, als wolle er manche derer, die er sucht, zum Dank intellektuelle Manieren lehren. Das eröffnet ihm zugleich den Zugang zum Markt. Die Unterweisungen, die er den Wiener Phäaken über d'Annunzio, die Bashkirtseff und den modern style erteilt, waren als Feuilletons recht wohl danach ange199
tan, dem mittleren Bürger, der von alldem ausgeschlossen ist, das Wasser im Munde zusammenlaufen zu lassen, wie denn in der ganzen Esoterik der schmeichelnde Appell an jene mitklingt, die nicht mitspielen dürfen7. Auch darin erweisen die Geheimnisse des Ästhetizismus sich als öffentliche. Der Plauderer Loris gibt mit der Miene der Heimlichkeit den Zeitgeist jenem Publikum preis, von dem er ohnehin stammt. - Der Flügel der deutschen Rechten, mit dem Hofmannsthal sympathisiert, ist zum Nationalsozialismus übergegangen, soweit man es ihm erlaubt hat, oder tobt sich in jener geistigen Handweberei aus, deren Figuren Lorenz und Cordula heißen. Sie dienen der Propaganda auf eigene Weise: ihr besonnenes Maßhalten dementiert das maßlose Grauen. 1914 begnügte sich die äußerste Gemeinheit mit den Reimen, zu denen freilich auch Hofmannsthal beitrug. Im Zeitalter der Konzentrationslager haben die Skribenten das verschlossene Schweigen, die herbe Rede und die nachsommerliche Fülle gelernt. Die Georgesche Schule hat, bei geringerer Weitläufigkeit, mehr Widerstand aufgebracht: darin zeigte die angestrengte Haltung immer noch jener »Herrschaftlichkeit«, jenem Blick »von oben herab« sich überlegen, den Borchardts Mißverständnis an Hofmannsthal zu rühmen wußte. George selber zumindest blieb unverführt von einer mondanité, die auch über Hitler internationale Gespräche zu führen verstand. Das »geheime Deutschland«, das George proklamierte, vertrug sich weniger gut mit dem aufgebrochenen als das legere 7 Am deutlichsten bei Oscar Wilde: der >Dorian Gray< reklamiert l'art pour l'art und ist ein Kolportageroman. In Deutschland hat diese Tendenz auf der Bühne sich durchgesetzt. Die Vorbilder waren d'Annunzios >Gioconda< und Maeterlincks >Monna Vanna<. Hofmannsthal hing mit der Sphäre schon vor seiner Kollaboration mit Richard Strauß zusammen. — George hat das früh erkannt und gegen Hofmannsthal den Vorwurf des Sensationalismus erhoben, insbesondere in der Kritik am >Geretteten Venedig<: »Das ganze neuere geschichts- und sittenstück leidet - für mich — an übelangewandtem Shakespeare. Bei ihm bildet sich die handlung aus gestalten seiner leidenschaftlichen seele - bei den heutigen aus gedanklichem: aus abwicklungen bei diesen oder jenen Voraussetzungen, dort ist alles rauhe und rohe notwendigkeit hier aber befleckende zutat oder gar kitzel. ..« In der Sensation kommt das technische Geheimnis des Künstlers unter die Leute. Am Sensationellen hat George selbst größeren Anteil, als die asketische Ideologie zumal der Spätwerke glauben machen möchte: keineswegs nur mit den Provokationen des Algabal, sondern noch mit einem Gedicht wie der >Porta Nigra< des Siebenten Ringes. Der römische Buhlknabe Manlius, der die moderne Zivilisation verflucht, mahnt an Hugenbergs Nachtausgabe, wenn sie gegen den Kurfürstendamm wettert. Man wirbt von alters her Bundesgenossen gegen die Verderbtheit, indem man mit dieser auf vertrautem Fuße sich zeigt.
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Einverständnis, das von Anbeginn sich nicht durch die Landesgrenzen beengt fühlte, die später revidiert werden sollten. Er hatte den Blick für die fatale Toleranz, die ihm die maßgebenden Salons hätten bewilligen mögen. Diesen zieht er Konventikel vor, zu denen er ohnehin gravitiert: als Verfemter. Davon gibt der Briefwechsel Zeugnis. Der Grund der Aufregung, die George im Hause des siebzehnjährigen Hofmannsthal hervorrief, wird nicht ausgesprochen. Robert Boehringer datiert die Affäre auf einen Tritt zurück, den George im Cafe einem Hund mit den Worten »sale voyou« erteilt haben soll. Die Sphäre des Konflikts wird richtiger wohl bezeichnet in dem Brief, mit dem George - in der Absicht nach Mexiko auszuwandern — von Hofmannsthals Vater sich verabschiedet: »Mögen ihr hr. söhn und ich uns auch im ganzen leben nicht mehr kennen wollen, wendet er sich weg, wende ich mich weg, für mich bleibt er immer die erste person auf deutscher seite die ohne mir vorher näher gestanden zu haben mein schaffen verstanden und gewürdigt und das zu einer zeit wo ich auf meinem einsamen Felsen zu zittern anfing es ist schwer dem nicht-dichter zu erklären von wie großer bedeutung das war. Das konnte denn kein wunder sein daß ich mich dieser person ans herz warf (Carlos ? Posa?) und habe dabei durchaus nichts anrüchiges gefunden. « Zwei Tage früher heißt es in einem Brief an Hofmannsthal selber: »Also auf etwas hin und gott weiß welches etwas >das Sie verstanden zu haben glauben < schleudern Sie einem gentleman der dazu im begriff war Ihr freund zu werden eine blutige kränkung zu. Wie konnten Sie nur so unvorsichtig sein, selbst jeden Verbrecher hört man nach den schreiendsten indizien.« Das ist die Sprache des Verfemten: nichts als die Angst, in die Maschinerie der Sittlichkeit zu geraten, kann George dazu vermocht haben, sich einen Gentleman zu nennen. Besser als jeder andere mußte er die Spielregel der Sprache kennen, der zufolge die Anrufung eines solchen Wortes genügt, um den Anrufenden von dessen Inhalt auszunehmen. Dafür bietet es bei ihm einen zweiten Aspekt. Der Sprengstoff der Angst fördert das Bild des Gentleman als historisches Modell des zeitlosen George zutage: das Phantasma des fin du siecle. Wie hier das priesterhafte Zivil des Unholds inkognito, wird in Georges Traumprotokollen 201
aus Tage und Taten8 - nur in diesen - die Eisenbahn vor dem Zeit-Ende zitiert; nicht anders stehen englische Titel in Gedichten Verlaines. Die »blutige Beleidigung« scheint weniger dem Gentleman zugefügt, als daß sein beleidigendes Antlitz von Anbeginn die Blutspur trägt. Aus Georges Sätzen blickt das Wort Gentleman wie ein Mörder. Seine Korrektheit bedarf des Frevels wie der Anzug des Dandys der Gardenia. In Georges Ära nimmt der Verfemte die Last des unfruchtbaren Widerstandes auf sich. Er erfährt das Unwesen der Gesellschaft an der Familie, zu deren Vernichtung es ihn treibt. Das hält der Spruch >Vormundschaft< des Siebenten Ringes fest: »Als aus dem schönen söhn die flammen fuhren / Umsperrtest du ihn klug in sichern höfen. / Du hieltst ihn rein für seine ersten huren . . . / Öd ist dies haus nun: asche deckt die öfen.« Der von der Familie Umsperrte verfällt eben der Welt als Markt und Öde, vor welcher der moralische Verfall ihn hätte bewahren mögen. In den sichern Höfen aber erkennt George den Besitz, der diese Welt am Leben erhält, und ihnen gegenüber pointiert er sich in dem Spruch an Derleth: »In unsrer runde macht uns dies zum paare: / Wir los von jedem band von gut und haus9.« Von 8 Der Name des Unholden erscheint im Stern des Bundes als Symbol für »nicht ganz gestalte kräfte«. Es liegt nahe, diese als noch jenseits der Polarität der Geschlechter vorzustellen, etwa wie die Hexen des Macbeth. Das Gedicht mißt ihnen gerade die Möglichkeit zu, welche die Epoche versäumte. »Unholdenhaft nicht ganz gestalte kräfte: / Allhörige zeit die jedes schwache poltern / Eintrug ins buch und alles staubgeblas / Vernahm nicht euer unterirdisch rollen - / Allweis und unkund des was wirklich war. / Euch trächtig von gewesnem die sie nutzen / Sich zur belebung hätte bannen können / Euch übersah sie dunkelste Verschollne . . . / So seid ihr machtlos rückgestürzt in nacht / Schwelende sprühe um das innre Licht,« 9 Borchardt kontrastiert Hofmannsthal der »zernichteten Bagage, die von keinem Hause mehr weiß als dem Kaffeehause, dem Pfandhause und dem verrufenen«. Solch schändliches Lob könnte George nicht gespendet werden, davon zu schweigen, daß der Wiener Schauplatz der Freundschaft mit Hofmannsthal nach allen Zeugnissen des Briefwechsels eben das Cafe" ist. Klagend über einen unterbliebenen Besuch Hofmannsthals findet George ein Wort, das allein genügt, ihn untauglich zu machen zur Hetze gegen den Literaten: das von der »landschaft als haus«. Die chthonische Erfahrung, die es anmeldet, ist aufs tiefste verschränkt mit der des Obdachlosen. Homer hat sein ganzes Epos aus dem Heimweh dessen hervorgesponnen, der Ithaka noch einmal sehen will. Die Chthoniker von heutzutage kennen das Heimweh nicht. Sie sind immer bei sich zu Hause. In Gedichten wie der >Rückkehn des Jahres der Seele zeigt George ihnen sich weit überlegen: »Du wohntest lang bei fremden stammen. / Doch unsre liebe starb dir nicht.« - Solche Verse freilich verdanken sich eher dem mächtigen Kindergefühl bei Indianergeschichten als dem Gedanken an gentile Gesellschaftsformen, der dem früheren George verhaßt war: »Gegen das biderbe, das Sie so erträglich finden, hab ich auch wenig einzuwenden, wo es den grund bildet auf dem noch etwas wachsen kann .. . wo Sie es aber hervorheben, wird Ihnen bei näherer betrachtung klar werden, daß nichts verlogener, verstunkener, wurmstichiger sein kann als dieses derb- und dumm-thun.«
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der Bohèe trennt ihn deren Schlamperei, die auf die Welt vertraut, wie sie ist; mit der Boheme verbindet ihn die Möglichkeit der Kriminalität als der Weise von Opposition, die der Welt das letzte Vertrauen kündigt. Der Beginn des Gedichtes an den Jugendfreund Carl August: »Du weißt noch ersten Stürmejahres gesell / Wie du voll trotz am zäun den hagelschlossen / Hinwarfst den blanken leib auf den blauschwarz / Die trauben hingen?« mahnt an den Weinberg Hanschen Rilows in >Frühlings Erwachen <. Die Tradition, der zufolge George Wedekind hoch soll geschätzt haben, ist einleuchtend. Der Möglichkeit der Kriminalität zeigt Georges großes Gedicht vom Täter eher sich verschworen als daß es sie, eine Möglichkeit unter anderen, gestaltete. Dazu stehen noch petriflzierte Verse wie der dritte Jahrhundertspruch des Siebenten Ringes und der >Gehenkte< des >Neuen Reichs <. Hier allein liegt das Recht von Georges Haltung beschlossen: der Baudelairesche Hochmut des Verstoßenen, »tresor de toute gueuserie10«. Wenn freilich der Gehenkte in einer ungefügen Metapher sich rühmt »und eh ihrs euch versähet, biege / Ich diesen starren balken um zum rad«, so degeneriert im Stiftertum des späten George der Frevler zum Helden. Der Protest gegen Ehe und Familie schlägt um, 10 Baudelaire, Le vin du solitaire, Les fleurs du mal. - Von den Perfidien des verstorbenen Gundolf ist nicht die geringste die Herrichtung des Verfemten für den Nachttisch von Rechtsanwälten. In der dritten Auflage des Georgebuchs heißt es geschwollen, doch beschwichtigend: »Was jeweils Tugend, Ordnung, Macht dünkt, bedarf eines unterirdischen Tilgers, zugleich Hegers und Erneuerers, des Trägers der künftigen Gottesgeschichte. Genauer ertönt hier eine Lehre Georges, die schon der >Siebente Ring< verkündet: sein Glaube an die Erneuerung der Welt aus dem Fernsten, an ihren Umbau auf dem Stein des Anstoßes, der Grundstein wird ,.. an den Vollzug jeder heilsamen Tat durch die jeweiligen Verbrecher, ja Zuchthäusler.« Für Zwecke der Erneuerung, des Umbaus und ähnliche Kulturmaßnahmen sind Gundolf auch die Verbrecher recht, als wäre bei George an deren Zwangsarbeit gedacht und nicht ans Attentat. Georges Gehenkter ist zweideutig genug, aber er bringt immerhin noch den blutigsten Hohn für jene Sittlichkeit auf, in deren Dienst der Kommentator die Unsittlichkeit stellen möchte: »Als ich zum richtplatz kam und strenger miene / die Herrn vom Rat mir beides: ekel zeigten / Und mitleid mußt ich lachen: >ahnt ihr nicht / Wie sehr des armen sünders ihr bedürft< / Tugend - die ich verbrach - auf ihrem antlitz / Und sittiger frau und maid, sei sie auch wahr,/ So strahlen kann sie nur wenn ich so fehle!« Gundolf" fährt fort: »In solchen Gedichten (auch der >Täter< im >Teppich des Lebens< gehört dazu) verrät George den Abgrund, woraus seine vielgepriesene und vielbelächelte Schönseligkeit steigt. Mit Genießertum hat sie nichts zu tun, sondern setzt - wie der griechische Apollo die Titanen, wie Dantes Paradies seine Hölle, wie Shakespeares Lustspiele seine Tragödien, den Aufenthalt in der unbarmherzigen Schrecknis voraus.« Diesen aber kann der Literarhistoriker nur kurzfristig sich vorstellen. Die Unmoral wird erst zur mythischen Amoral neutralisiert und dann in den Zug positiver Entwicklung als eben die Schwelle eingefügt, deren Begriff George als idealistisch verworfen hat. Einzig als Ausflugsort wird die Holle in der Landkarte des »gotthaft gestaltigen Seins« verzeichnet.
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sobald der totalitäre Staat, dessen Schatten über den letzten Büchern Georges liegt, selber von Ehe und Familie sich lossagt und deren Geschäfte in die Hand nimmt. Dann wird der Brandstifter als Entzünder, der Täter als Prophet des Büttels rezipiert. Wer eben noch »los von jedem band von gut und haus« sich wußte, versteht sich nun als Freischärler: »Wir einzig können stets beim ersten saus / Wo grad wir stehn nachfolgen der fanfare.« Die ominöse Reinheit, die schon den Algabal des frühen George befleckte und den Täter so gut wie das bündische Wesen entgleisten Schulmeistern empfahl, pervertiert ihn schließlich zur Lichtgestalt. Georges Transzendenz zur Gesellschaft entlarvt deren Humanität. Seine Unmenschlichkeit aber wird von der Gesellschaft aufgesogen. Transzendenz zur Gesellschaft beansprucht auch Hofmannsthal, und der Gedanke an Outsidertum ist dem nicht fremd, der seine society fingieren muß. Aber es ist ein konziliantes Outsidertum, zu verliebt in sich selber, um den anderen ernsthaft böse zu sein. »Ich hatte von der Kindheit an ein fieberhaftes Bestreben, dem Geist unserer verworrenen Epoche auf den verschiedensten Wegen, in den verschiedensten Verkleidungen beizukommen. Und die Verkleidung eines gewissen Journalismus - in einem so anständigen Sinn genommen, daß allenfalls jemand wie Ruskin, bei uns dagegen niemand, als Vertreter davon anzusehen wäre, hat mich öfters mächtig angezogen. Indem ich in den Tagesblättern und vermischten Revuen veröffentlichte, gehorchte ich einem Trieb, den ich lieber gut erklären als irgendwie verleugnen möchte.« Der Trieb zur Verkleidung, in prästabilierter Harmonie auf die Erfordernisse des Marktes eingestimmt, ist der des Schauspielers. Ihn wiederum hat George sehr früh erkannt. Einem Brief vom 31. Mai 1897 sind Verse eingefügt, die gemildert im Jahr der Seele mit Hofmannsthals Initialen wiederkehren: »Finder / Des flüssig rollenden gesangs und sprühend / Gewandter Zwiegespräche, frist und trennung / erlaubt daß ich auf meine dächtnistafel / Den alten hasser grabe, thu desgleichen!« Damit ist nicht der Dramatiker charakterisiert, sondern der »Schauspieler deiner selbstgeschafFenen Träume«, der Page im >Tod des Tizian <, den sein Freund, der Dichter, verteidigend apostro204
phiert11. Vor aller Stilkostümierung, ja vor aller dramatischen Absicht komponieren die Gedichte Hofmannsthals, und gerade die vollkommensten, die rollende Stimme des Schauspielers mit. Es ist, als objektiviere diese Stimme das Gedicht so, wie in Musik die lyrische Unmittelbarkeit des Subjekts durchs mitgedachte Instrument objektiviert wird. Verse wie: »Er glitt durch die Flöte / Als schluchzender Schrei, / An dämmernder Röte, / Flog er vorbei« tragen in sich den Ton von Josef Kainz, dem Hofmannsthal den Nekrolog geschrieben hat12. Hofmannsthals Schauspielertum, gleichgültig worauf Psychologie es zu reduzieren vermöchte, entspringt in der technischen Handhabung der Lyrik. Wie zur eigenen Kontrolle rezitieren seine Gedichte sich selbst. Ihr Redendes gestattet es den Versen sich zuzuhören13. Daher die Vorliebe für den redenden, den Blankvers. Dessen Synkopierung, Hofmannsthals berühmtes Stilmittel, hat er den Engländern abgelernt. Sie ist eine Veranstaltung des technischen Dichters, die dem formimmanenten Schauspieler dient: sie nimmt die Freiheit, mit der der Vers sonst erst rezitiert wird, in die Geschlossenheit des poetischen Metrons selber auf. Es ist aber zugleich der Vers, der dem Kind aus einem Theater übriggeblieben ist, das seit Hofmannsthals Jugend 11 An das Wort des Pagen glaubt Borchardt in der Rede über Hofmannsthal die Verteidigung vor dem Vorwurf des Ästhetizismus anschließen zu müssen: »Er, den man als den >büdungssatten DecadenU, als ästhetenhaften Klangehascher abzutun vermeint - denn dafür wagt das dummdreiste Gezücht, das bei uns Bücher und Theater beurteilt, ihn immer noch auszugeben ist seit Goethe der erste deutsche Dichter, der einem selbstdurchlittenen problematischen Zustande durch den Emst der Vertiefung, die Gewalt der Vision und die Verbindung mit allem höheren Dasein seiner Zeit Allgemeingültigkeit und völligen Kunstwert zu geben gewußt hat.« So armselig der Vorwurf, gegen den Borchardt zu Felde zieht, Begriffe wie Ernst der Vertiefung und höheres Dasein sind ihm nicht überlegen. Hofmannsthal ist nicht vor der Verleumdung in Schutz zu nehmen, er sei ein Ästhet: zu retten ist der Ästhetizismus selber. Leicht genug könnte sich herausstellen, daß die von Borchardt so genannten »moralischen Dramen«, wie der »Tor und der Tod« und der »Kaiser und die Hexe«, in denen der Schein thematisch und eben jenem »Ernst der Vertiefung« zur Korrektur überantwortet wird, in Wahrheit den Verrat Hofmannsthal an seiner tragenden Erfahrung darstellen, gar nicht so verschieden von der Wendung Georges seit dem »Teppich«. 12 George bietet dazu ein Seitenstück. Die Beschreibung der Anemonen am Ende von »Betrübt als führten sie zum totenanger«: »Und sind wie seelen die im morgengrauen / Der halberwachten wünsche und im herben / Vorfrühjahrswind voll lauerndem verderben / Sich ganz zu Öffnen noch nicht recht getrauen« nimmt in ihrer letzten Zeile akustisch fast den rheinischen Tonfall an, der dem Dichter mag eigen gewesen sein. 13 Das sich selbst Zuhören Hofmannsthals tendiert zur Anpreisung. Gelegentlich schließen Gedichte die Augen und schmecken sich mit der Zunge ab, als wollten sie ihr Unvergleichliches empfehlen. Nach den Zeilen: »Dein Antlitz war mit Träumen ganz beladen. / Ich schwieg und sah dich an mit stummem Beben« folgt der Satz: »Wie stieg das auf!« Er wird dreimal wiederholt.
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den Hamlet und wie viel mehr Schiller Schülern vorbehält. Mit Grund datiert Hofmannsthal das Bestreben zur intellektuellen Verkleidung auf die Kindheit zurück. Wer da Theater spielt, hängt die Worte und ihren Widerstand um wie den ererbten Bühnenschmuck mit bunten Steinen und Rheinkieseln. Wohl mag von Hofmannsthal bestehen bleiben, daß er unermüdlich die Gestik dieses Kindes geübt und gleichsam die Stufe wiederhergestellt hat, auf der allein noch das Trauerspiel sich erfahren läßt. Unter den Händen seiner Stimme verzaubert jeglicher Stoff sich in Kindheit, und es ist diese Transformation, kraft deren er der Gefahr von Haltung und Verantwortung stets wieder entschlüpft. Die magische Verfügung über Kindheit ist die Stärke des Schwachen14: er entrinnt der Unmöglichkeit seiner Aufgabe als Peter Pan der Lyrik. Wahrhaft einer Unmöglichkeit. Denn Hofmannsthals Schauspielertum verdankt sich bis in seine alexandrmischen Konsequenzen hinein, bis zu den Pseudornorphosen. der späteren Zeit einer höchst realen Einsicht: daß die Sprache nichts mehr zu sagen erlaubt, wie es erfahren ist15. Entweder ist sie die verdinglichte und banale von Warenzeichen und fälscht vorweg den Gedanken. Oder sie installiert sich selber, feierlich ohne Feier, ermächtigt ohne 14 Sie bedingt den Ton der zweiten Naivetät in Hofmannsthals Dichtung. Ihr Begriff gehört Jacobsen an. Er rindet sich in der kleinen Prosa >Es hätten Rosen da sein müssen< (1881), einer Schatzkammer Hofmannsthalscher Motive. Die Personen des »Proverbs«, das zu einem südlichen Garten geträumt wird, sind zwei Pagen. Deren Beschreibung springt über zu der der beiden Schauspielerinnen, die die Pagen geben. »Die Schauspielerin, welche die jüngere von den Pagen sein soll, ist in dünner Seide, die ganz dicht anschließt und die blaßblau ist, mit eingewebten, heraldischen Lilien aus lichtestem Gold. Das und dann so viele Spitzen als anzubringen möglich, ist das hervorstechendste an der Tracht, die nicht so sehr auf ein bestimmtes Jahrhundert hinweisen, als die jugendlich volle Figur, das prachtvolle blonde Haar und den durchsichtigen Teint hervorheben will. Sie ist verheiratet, aber es währte bloß anderthalb Jahre; dann wurde sie von ihrem Mann geschieden, und soll sich gegen ihn durchaus nicht gut aufgeführt haben. Und das mag schon sein; allein etwas Unschuldigeres kann man nicht leicht vor seinen Augen sehen. Das will sagen, es ist ja nicht jene ungemein niedliche Unschuld aus erster Hand, die gewiß auch ihr Ansprechendes hat; es ist im Gegenteil jene soignierte, wohl entwickelte Unschuld, in der kein Mensch sich irren kann und die einem geradewegs ins Herz geht und einen gefangennimmt mit all der Macht, die einmal dem Vollendeten gegeben ist.« 15 Diese Einsicht ist, wie sehr auch lebensphilosophisch verdorben, von Hofmannsthal im Chandosbrief formuliert worden: »Mein Fall ist, in Kürze, dieser: Es ist mir völlig die Fähigkeit abhanden gekommen, über irgend etwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen. Zuerst wurde es mir allmählich unmöglich, ein höheres oder allgemeineres Thema zu besprechen und dabei jene Worte in den Mund zu nehmen, deren sich doch alle Menschen ohne Bedenken geläufig zu bedienen pflegen. Ich empfand ein unerklärliches Unbehagen, die Worte >Geist<, >Seele< oder >Körper< nur auszusprechen ... die abstrakten Worte, deren sich doch die Zunge naturgemäß bedienen muß, um irgendwelches Urteil an den Tag zu geben, zerfielen mir im Munde wie modrige Pilze.«
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Macht, bestätigt auf eigene Faust, kurz, von dem Schlage, wie Hofmannsthal an der Georgeschen Schule es bekämpfte. Sie verweigert sich vollends dem Gegenstand in einer Gesellschaft, in der die Gewalt der Fakten solches Entsetzen annimmt, daß noch das wahre Wort wie Spott klingt. Hofmannsthals Kindertheater ist der Versuch, die Dichtung von der Sprache zu emanzipieren. Indem dieser die Substantialität aberkannt wird, verstummt sie: Ballett und Oper sind die notwendige Folge. Unter den tragischen und komischen Masken ist kein menschliches Antlitz übrig. Daher die Wahrheit von Hofmannsthals Schein. Dort gerade nimmt diese Sprache den Ausdruck des Schreckhaft-Schwankenden an, wo sie aus epischer Vernunft zu reden vorgibt. »Circe, kannst du mich hören? / Du hast mir fast nichts getan«, heißt es im Text der >Ariadne<. Das epische Fast, das noch im Angesicht der mythischen Metamorphose einschränkend innehält, entzieht dem gleichen Mythos den Boden durch neuzeitliche Lässigkeit. Gegen Hofmannsthals Schauspielertum hält George den trivialsten Einwand bereit: »Woran Sie am schmerzlichsten leiden ist eine gewisse wurzellosigkeit. . .« Er scheint damit das Vokabular eines Antisemitismus zu bemühen, dessen Spuren seinem Werk trotz der Absage an Klages nicht fehlen. Der Übersetzer der Baudelaireschen Malabaraise proklamiert im Stern des Bundes: »Mit den frauen fremder ordnung / Sollt ihr nicht den leib beflecken / Harret! lasset pfau bei äffe! / Dort am see wirkt die Wellede / Weckt den mädchen tote künde: / Weibes eigenstes geheimnis« - Verse, die in der Turnhalle eines rheinländischen Gymnasiums nicht übel sich ausgenommen hätten. Aber mit deren Atmosphäre möchte George am wenigsten zu schaffen haben: »Es war nur unfug des schreibenden pöbeis diese äußerst Verschiedenartigen zu einem häufen zu werfen weil sie sich in gleicher weise von ihm entfernten - eine ähnliche Scheidung wie dermalen des rheinischen Janhagels der alle die sich anders trugen als >juden< anrief.« Dem Wurzellosen hat George nicht seine empirische Existenz als verwurzelte gegenüberstellen wollen: »Um Weihnachten hab ich hier wenig zu bieten • weiß auch kaum ob ich dann hier bin. das von Ihnen ausgemalte trauliche Winterzusammensein gewährt nur (sei 207
es In stadt oder land) wer wie Sie ein Heim hat • nicht wer wie ich überall gleichsam nur besucher ist.« Erstaunlicher noch formuliert ein kaum wohl ironisch gemeinter Brief Georges vom 27. August 1892: »ich glaube in der leidenschaft für ein schönes und klangvolles können Sie sich nicht so weit reißen lassen. Das ist das graniten-germanische in Ihnen, das romanische an mir. Das werden Sie bei dauerndem verkehr mit leuten wälscher zunge merken daß die in ihren vor- und abneigungen thätlicher • lauter sind16.« Seinen Gegensatz zum »Wurzellosen« legt George zu Anfang nicht als einen der Ursprünge aus, sondern vielmehr als einen des Entschlusses17. Er beruft sich nicht auf Erde, Seinsgewalt und Unbewußtes. Strategische Überlegungen zur Situation, und zwar recht genau zur literarischen, inspirieren ihn zu dem prinzipiellen Brief an Hofmannsthal vom Juli 1902, ohne daß dabei die Gegenposition von Anbeginn als minderwertig oder unebenbürtig ausgeschlossen wäre: »So lassen Sie mich ausreden nachdem Sie es getan: 16 Noch am 26. März 1896 schreibt George an Hofmannsthal: »wer weiß ob ich - wenn ich Sie nicht oder Gerardy als dichter gefunden hätte - in meiner muttersprache weitergedichtet hätte!«; noch Februar 1893 hat er im Floreal die ursprünglich französische Fassung eines Gedichtes publiziert. Der treudeutsche Gundolf hat davon nichts wissen wollen: »Wenn man ihn als Jünger der französischen Parnassiens und Symbolisten in die >Richtung< Swinburnes oder d'Annunzios eingereiht hat, so verwechselt man die Oberfläche mit dem Grund: diese Dichter waren für ihn - einerlei was sie ihrem Land als Literaturrichtungen bedeuten, welche Motive oder Techniken sie brachten - lediglich willkommen als die damals dichtesten, reinsten und feinsten Sprachkomplexe ihres Volkes. Baudelaires Höllenweihe und Verlaines Endschaftsanmut und Müdigkeit, d'Annunzios Sinnenprunk, Swinburnes rauschende Seelenwoge, Rossettis keltisch-italische schwermütige Glut, selbst die Poesie seiner persönlichen Freunde Verwey und Lieder, gingen ihn nur insofern an, als sie die Sprache um neue Massen, Gewichte, Widerstände, Bewegungen, Tiefen und Lichter bereicherten. Es ist ein Literatenmißverständnis, wenn man nachher auf Georges Spurea all diese Dichter als ) Richtungen < oder Seelenwerte, als Stimmung oder Manier importierte, und ihren ersten Vermittler als Jünger ihrer Gesinnung ansah.« Nur Dilettanten vermögen den dichterischen »Grund« von bloßen »Motiven oder Techniken« abzuheben; nur Banausen bringen den Namen Baudelaires nicht über die Lippen, ohne den Verlaines mitzuplappern. 17 Es wird dem Entschluß - und in letzter Instanz der politischen Aktion - von George zugemutet, was gerade nicht Sache des Entschlusses sein kann: die Präsenz des Gewesenen. Damit aber wandelt sich der Entschluß in den Feind dessen, wozu man sich entschließt. Die Neuchthoniker haben vergessen, daß Rumpelstilzchen sich in Stücke reißt, sobald ihm sein Name vorgehalten wird. Solches Unheil bereitet der agitatorische Kult der Ursprungsmächte. George und Klages nehmen darin verhängnisvolle Tendenzen des Nationalsozialismus vorweg. Unablässig zerstören die Mythologen, was sie für ihre Substanz halten, durch Benennung. Sie waren die Herolde des Ausverkaufs vorgeblicher Urworte wie Tod, Innerlichkeit und Echtheit, der dann im Dritten Reich Platz griff. Die Phänomenologie, welche die Wesenheiten gewissermaßen ausstellt, hat ebenfalls für diesen Ausverkauf gute Vorarbeit geleistet. Das Buch >Die Transzendenz des Erkennens< von Frau Edith Landmann stellt zwischen der Georgeschen und der phänomenologischen Schule die Verbindung her.
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Wenn Sie es für schön preisen sich von den vielfarbigen thatsächlichkeiten treiben zu lassen bedeuten sie mir nichts ohne auswahl und zucht. Was das bessere sei bleibe ganz unberedet. nur soviel ist gewiß: dass in allgemeinem wie besonderem sinn etwas geschehe ermöglicht nur die eine art der führung • wol weiß ich: durch alle haltung und führung wird kein meisterwerk geboren - aber ebensogut wird ohne diese manches oder alles unterdrückt, auch Ihnen wird schon aufgefallen sein wie unsere ganze kunst bestürzt durch das fetzen- und sprunghafte • durch die reihe von kraft-menschen denen immer das letzte versagt blieb - all das hat seinen grund in derselben geistesart. . . Und nun die höhere tagesschriftstellerei die Sie rühmen und die sehr zu billigen ist - erfordert nicht die lauliche reizbarkeit und weichtierhafte eindrucksfähigkeit die heut >Berliner naturalismus< morgen >Wiener Symbolismus < untergeht — sondern das gegenteil: das strenge sich-aufeinen-punktstellen. . .« Über den Sprachzerfall kennt er so wenig Illusionen wie Hofmannsthal: »Sagbar ward Alles: drusch und leeres stroh.« Aber wo Hofmannsthal die Finte wählt, greift er mit Desperation zur Gewalt. Er würgt die Worte, bis sie ihm nicht mehr enteilen können: der toten meint er sich sicher, während sie als tote vollends ihm so verloren sind, wie die flüchtigen es waren. Darum überschlägt sich der Georgesche Heroismus. Seine mythischen Züge sind das Gegenteil jenes Erbgutes, als welches die politische Apologetik sie beschlagnahmte. Sie sind Züge von Trotz. »Es ist worden spät.« Keine Spur des Archaischen in Georges Werk, die nicht diesem Späten als Gegensatz unmittelbar verschwistert wäre. Er blickt auf die Worte so nah und fremd, als vermöchte er dadurch ihrer an ihrem ersten Schöpfungstag innezuwerden. Solche Entfremdung ist vom liberalen Zeitalter so vollkommen determiniert wie die antiliberale Politik, die in Deutschland so gern auf George sich berief. Wie sehr bei ihm die liberale Vorstellung von Rechtssicherheit, der trotzige Drang zur Herrschaft und der Vorstellungskreis urgeschichtlicher Verhältnisse ineinanderspielen, zeigen Sätze aus einem Brief vom 9. Juli 1893: »Jede gesellschaft auch die kleinste und loseste baut sich auf vertrage Ihre stimme gilt soviel als jede andre sie muß sich aber in jedem 209
fall unverhüllt vernehmen lassen.« Setzen die Verträge anscheinend die volle Rechtsgleichheit bürgerlicher Kontrahenten voraus, so ist ihre Anrufung in Fragen geistiger Solidarität doch ein Mittel zur Suspension der Gleichheit und zur Unterdrückung und nimmt einen Zustand tödlicher Feindschaft zwischen den Subjekten an, durch den die Gesellschaft der Konkurrenten der der Horden sich annähert. Die Aufforderung, sich »unverhüllt vernehmen zu lassen« jedoch, wie sie George Hofmannsthal gegenüber immer wieder mit Rücksicht auf die >Blätter für die Kunst < erhebt, kann dem von ihr Betroffenen allemal nur Unheil bringen. Wann immer Hofmannsthal zur Kritik an George und dessen Hörigen sich verführen ließ, ist es ihm übel angeschlagen. George ruft gegen jene Welt, die ihm als wurzellos erscheint, die Eindeutigkeit der Natur auf. Eindeutig aber wird dieser Moderne Natur nur durch Naturbeherrschung. Das gibt den berühmten Schlußstrophen des Templergedichtes, die die Georgesche Lehre von der Gestalt umreißen, ihren geschichtsphilosophischen Sinn, so wie er an Ort und Stelle nicht vermeint war: »Und wenn die große Nährerin im zorne / Nicht mehr sich mischend neigt am untern borne, / In einer weltnacht starr und müde pocht: / So kann nur einer der sie stets befocht / Und zwang und nie verfuhr nach ihrem rechte / Die hand ihr pressen, packen ihre flechte, / Daß sie ihr werk willfährig wieder treibt: / Den leib vergottet und den gott verleibt18.« Wer Natur nur denken kann, indem er ihr Gewalt antut, sollte nicht das eigene Wesen als Natur rechtfertigen. Solcher Widersinn ist das Georgesche Gegenbild zur Hofmannsthalschen Fiktion. George möchte Hofmannsthal beherrschen. Was in dem Andrian gewidmeten Gedicht >Den Brüdern< von Öster18 In der Vorstellung des Zwanges, der der »großen Nährerin« widerfahren soll, tritt George in so bestimmten Gegensatz zu Klages, wie er diesem durch die neuheidnische Invokation der Erde ähnlich bleibt. So schwankend war seine Stellung zu Klages insgesamt. Im Briefwechsel mit Hofmannsthal verteidigt er den Pelasger, Hofmannsthal hatte bereits 1902 die bizarre Inkonsistenz zwischen der pedantischen Nüchternheit des Ausdrucks und dem Dogma des Rausches erkannt, welche die Klagessche Philosophie unablässig desavouiert und der Kostümfestlyrik von Alfred Schuler nahebringt: »Aber ich muß offen gestehen, daß mir in Klages' Schrift über Sie an unendlich wichtigen Stellen der Ausdruck, also die Kraft das innerlich Geschaute zu verleiblichen, peinlich zurückzubleiben schien. Es fanden sich da Metaphern, die ich zu vergessen trachte.« Georges Antwort daraufist recht allgemein: »Wegen K. und seinem Buch lassen Sie mich heute nur sagen, daß wir uns da auf würdigem streit-boden befinden. Er ist ein Edler, der für höchste werte glüht, aber auch ein titan, der blocke entgegenwälzt.« Im
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reich gesagt wird, beZeichnet das Verhältnis: »Da wollten wir euch freundlich an uns reißen / Mit dem was auch in euch noch keimt und wächst.« Hofmannsthal ist in der Verteidigung. Wie er privat der Werbung um Freundschaft und Nähe sich entzieht, nimmt er literarisch den Standpunkt des hochmütig Unbeteiligten ein. Es macht ihm nicht einmal viel aus, seine Gedichte in obskuren Zeitschriften erscheinen zu sehen, während George, sobald es ums schriftstellerische Metier geht, auf Haltung verzichtet und so leidenschaftlich sich zeigt wie nur je einer seiner Pariser Freunde. Hofmannsthals Abwehr bietet umsichtig alle Kräfte der Phantasie auf. Bald surrogiert er das Zeremonial des alten Goethe oder der Wahnsinnsbriefe Hölderlins; bald desertiert er kokett zur »lesenden menge«; bald versöhnt er durch Teilnahme, selbst für die sonst verachteten Freunde Georges, bald kränkt er durch das Pathos eines Dankes, der Distanz setzt. Selbst die unzählige Male und bis zum Schluß beteuerte »Nähe« zu George wird durch die Stereotypie der Versicherung in den Dienst der Ferne gestellt. Er versteckt sich in die Nähe und schlüpft in Georges Sprache: seine Briefe an andere ließen niemals den gleichen Verfasser erraten. Die zuverlässigste Technik aber ist die der Selbstanklage. Unübertrefflich die von George als solche durchschaute »bescheidene ausflucht«, mit der er auf den Vorschlag Georges reagiert, mit diesem gemeinsam die Redaktion der >Blätter für die Kunst < zu übernehmen. Hofmannsthal fängt selbst beleidigende Vorwürfe Georges wie den der Solidarität mit der »schwindelhaftigkeit« durch die Berufung auf den eigenen schlechten Zustand ab. Seine Nachgiebigkeit und Beiehrbarkeit - noch im letzten Brief teilt er mit, daß er Georges vernichtende »Beurtheilung des geretteten Venedig<, die im ersten Augenblick hart erschien, nach Stern des Bundes von 1913 wird den Chthonikern eine Absage erteilt, die auf den gleichen Nationalsozialismus auftriflt, dessen Sprachbereich sie selber angehört: »Ihr habt, fürs reckenalter nur bestimmte / Und nach der Urwelt, später nicht bestand. / Dann müßt ihr euch in fremde gaue wälzen / Eur kostbar tierhaft kindhaft blut verdirbt / Wenn ihrs nicht mischt im reich von körn und wein. / Ihr wirkt im andern fort, nicht mehr durch euch, / Hellhaarige schar! wißt daß eur eigner Gott / Meist kurz vorm siege meuchlings euch durchbohrt.« Der Dialog von Mensch und Drud jedoch im >Neuen Reich< ist in der Tendenz von Klages nicht mehr zu unterscheiden. Je mehr die von George abstrakt verherrlichte Tat in tödlich politische Praxis überging, um so notwendiger bedurfte sie der unverstörten Natur und des »Lebens« als Ideologie.
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und nach« sich »völlig zu eigen machen konnte« - ist so grenzenlos, daß er unbelehrbar erscheint: nur wen keine Kritik je erreicht, kann so widerstandslos jede akzeptieren. Die Freundschaft der beiden ist im Zerfall, ehe sie jemals sich verwirklichte. Damals bereits war Freundschaft selbst unter Menschen der außerordentlichsten Produktivkraft nicht mehr aus bloßer Sympathie und bloßem Geschmack möglich, sondern einzig auf dem Grunde bindend gemeinsamer Erkenntnis: Freundschaft aus Solidarität, welche die Theorie als Element ihrer Praxis einschließt. Im Briefwechsel wird Erkenntnis von den Voraussetzungen der Freundschaft beklommen ferngehalten: das Trauma des ersten Wiener Zusammentreffens wirkt fort und macht jeden Versuch der Explikation zum neuen Akt der Verwirrung: »ich ging vielleicht früher zu streng mit Ihnen zu gericht • nicht wegen gesühnter that sondern wegen der geäußerten gesinnung. ich zog Ihre ganz verschiedene art des fühlens zu wenig in betracht wie Ihre ganz verschiedene erziehung unter andrem himmelsstrich • ich glaubte der satz von der edlen plötzlichkeit an der große und vornehme menschen sich allzeit erkannt haben erleide keine ausnähme und ich wies in meinem geist Ihnen den platz an >wo die schweren rüder der schiffe streifen <. doch immer wieder hatte ich als entschuldigung für Sie die unbegreiflichkeit des Wahnsinnes und habe nie aufgehört Sie zu lieben mit jener liebe deren grundzug die Verehrung ist und die für die höhere menschlichkeit allein in betracht kommt. Soweit das persönliche.« Man kann kaum erwarten, das Persönliche sei durch diese undeutlichen, zugleich saugenden und beißenden Sätze gefördert worden. Sie stehen in Georges feierlichem Versöhnungsbrief, dem gleichen, dem die Verse über den »alten hasser« beigefügt sind. Durch den Briefwechsel hindurch variiert George die allemal fatale Absicht, das Frühere vergessen und vergeben sein zu lassen. Jeder freundlich intermittierende Brief sucht eine Schuld auszulöschen, während doch durch die hartnäckige Nachsicht das Schuldkonto unaufhaltsam anschwillt: es bedarf nur einer entgegenkommenden Geste des einen, um den anderen zur Bosheit oder zum Zurückweichen zu inspirieren. Hinter der Kasuistik der Briefe stehen Fragen des Prestiges, des Verfügungsrechts über fremde - sei's auch 212
geistige - Arbeit und schließlich selbst des intellektuellen Eigentums und einer Art von Originalität, die dem von beiden Autoren emphatisch vertretenen Begriff des Stils kraß widerspricht. 1892 heißt es in einem Brief Hofmannsthals an George: »Im >Tode des Tizian< wird Ihnen ein bekanntes Detail entgegentreten: ich meine das Bild des Infanten.« Das spielt an auf ein Gedicht der Hymnen. Mit gereizt ostentativer Noblesse entgegnet George: »Da Sie über den >Prolog< kein motto setzen so ließ ich da man in der selben nummer auszüge aus meinen büchern bringt meinen >Infanten< streichen, die masse könnte da leicht mit miß Verständnis reden.« Die Verachtung gegen die Masse hat George nicht vor einer Eifersucht bewahrt, wie sie in eben den Zirkeln alltäglich ist, denen seine Exklusivität ausweicht. Nichts aber könnte die Absurdität solcher Besorgnisse greller ins Licht stellen als der Gegenstand der Kontroverse. Das Bildungserlebnis des Infanten ist weder von George noch von Hofmannsthal zuerst gemacht worden: es stammt von Baudelaire19. Kalkulationen solcher Art sind es, die Solidarität ausschließen und noch solidarische Handlungen wie das publizistische Eintreten des einen für den anderen belasten. Hofmannsthal hat zwar wiederholt über George, nie aber dieser über jenen geschrieben, obwohl der Vorwurf mangelnder Solidarität stets vom Älteren ausgeht. Einmal ist es beinahe soweit gewesen, aber die vorweg aufgebrachte Mitteilung über den Plan, die implizit Hofmannsthal seinen Ruhm vorwirft, läßt keinen Zweifel daran, warum Georges Essay nie zustande kam. »Ich sinne seit einiger zeit an einem aufsatz über Sie - doch werde ich mir zur Veröffentlichung ein großes ausländisches blatt aussuchen müssen — wo künstlerische ereignisse überhaupt als ereignisse gelten - Ich rede nicht über Sie nachdem alle wilden volksstämme alle gold- und gewürz-händler zu wort gekommen sind.« Im Zerfall der Freundschaft Georges mit Hofmannsthal setzt der Markt sich durch, in dessen Negation ihre Lyrik entspringt : die sich gegen die Erniedrigung durch Konkurrenz wehren, verlieren sich als Konkurrenten. George stand weniger naiv zum Markt als Hofmannsthal. 19 »Je suis comme le roi d'un pays pluvieux, / Riche, mais impuissant, jeune et pourtaat très vieux,« Das Gedicht ist von George übersetzt.
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Aber er stand kaum weniger naiv zur Gesellschaft. So handelt er dem Markt als Phänomen entgegen, ohne an dessen Voraussetzungen zu rühren. Er möchte die Dichtung von der Nachfrage des Publikums emanzipieren und gleichwohl in einem sozialen Zusammenhang verbleiben, den er später mit Worten wie Bund und Held, Volk und Tat mythologisiert hat. Sich der »rücksicht auf die lesende menge« entheben, heißt ihm, durch eine Technik der Beherrschung, die der artistischen aufs engste verknüpft ist, die lesende Menge in eine von Zwangskonsumenten verwandeln. Daher seine ambivalente Stellung zum Erfolg. Der Entwurf eines verlorengegangenen Briefes an Hofmannsthal enthält die Sätze: »Keinesfalls beginne ich eh ich vertragsmäßig mit allen über lieferung und belohnung format und haltung mich geeinigt habe, das ist bei einigen meiner freunde unnötig bei andern jedoch umsomehr. Nichts zufälliges darf dazwischentreten was den erfolg verhindern könnte, denn wie Sie wissen ist keinen erfolg zu suchen: groß - ihn suchen und nicht haben unanständig. «20 Die Verachtung des Erfolgs bezieht sich bloß auf den Marktmechanismus, der die Konkurrierenden Fehlschlägen aussetzt. Erfolg wird angestrebt unter Umgehung des Marktes. Die Größe, die sich stolz dazu bescheidet, ihn nicht zu suchen, ist die des literarischen Trustmagnaten, als 20 Der Briefentwurf ist von 1897. Damals erschien das Jahr der Seele. Man mag die Wendung vom Buch der Hängenden Gärten zum Jahr der Seele mit dem Gedanken an die Technik des Erfolgs wohl in Zusammenhang bringen. Die Wendung hat ihr Vorbild an Verlaine, dem das Jahr der Seele Entscheidendes verdankt. Der Titel »Traurige Tänze«, Gedichte wie »Es winkte der abendhauch« mit den Schlußzeilen: »Meine trübste stunde / Nun kennst du sie auch« sind ohne Verlaine nicht zu denken. Die Lobrede aus Tage und Taten beschreibt den für George maßgeblichen Vorgang: »Nach seinen ersten Saturnischen Gedichten, wo der jüngüng in persischem und päpstlichem prunke sich berauscht, aber noch gewohnte parnassische Klänge spielt, führt er uns in seinen eigenen rokokogarten der Galanten Feste, wo gepuderte ritte* und geschminkte damen sich ergehen oder zu zierlichen gitarren tanzen, wo stille paare in kähnen rüdem und kleine mädchen in versteckten gangen lustern zu den nackten marmorgöttern aufblicken. Über dieses leichte lockende Frankreich aber haucht er eine nie empfundene luft peinigender innerlichkeit und leichenhafter Schwermut. .. Was aber ein ganzes dichtergeschlecht am meisten ergriffen hat, das sind die Lieder ohne Worte - strofen des wehen und frohen lebens ... hier horten wir zum erstenmal frei von allem redenden beiwerk unsre seele von heute pochen: wußten, daß es keines kothurns und keiner maske mehr bedürfe und daß die einfache flöte genüge um den menschen das tiefste zu verraten. Eine färbe zaubert gestalten hervor, indes drei spärliche striche die landschaft bilden und ein schüchterner klang das erlebnis gibt.« Die Wendung besteht im Versuch, dem Interieur zu entweichen und die »landschaft als haus« zu betreten. Sie involviert die äußerste Vereinfachung der Mittel: die Sprache des ganz Einsamen tönt als Echo der vergessenen Sprache aller. Diese Vereinfachung eröffnet nochmals die Lyrik einem Leserkreise: der ganz Einsame aber ist der Diktator derer, die ihm gleichen (cf. Walter Benjamin, Über einige Motive bei Baudelaire, Schriften I, Frankfurt 1935, S. 426 ff).
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den George sich früher konzipierte, als ihm zumindest die deutsche Wirtschaft die Modelle beistellen konnte: »Ich war des festen glaubens dass wir • Sie und ich • durch jähre in unsrem Schrifttum eine sehr heilsame diktatur hätten üben können • dass es dazu nicht kam dafür mach ich Sie allein verantwortlich.« Schwer nur können Diktatoren Fehler begehen. Die gefährlich leben, haben die wahre Sekurität. Ihnen ist auf längere Frist die Unanständigkeit des Fehlschlags erspart. Mit der Hellsichtigkeit des Hasses hat Borchardt in der Polemik gegen das >Jahrbuch für die geistige Bewegung < die monopolistischen Züge der Georgeschen Schule getroffen: »Das Zentralblatt für die deutschen Industriellen muß verkünden, daß wirtschaftliche Kraft nur frei werde, wo der Mensch sich dem Menschen um des Menschen willen verbinde, daß der Eigenbrötler sich über den wirtschaftlichen Ruin nicht beklagen solle, und dergleichen mehr . . . Die Freunde des Herrn Wolfskehl machen diese Not nicht sowohl zur Tugend als zum Dogma von der verödenden und verschrumpfenden Wirkung dessen, was sie strafend >Vereinzelung < nennen, und variieren Schillers Heldenwort in ihr Modernes: >Der Starke ist am mächtigsten im Kreis<, im Syndikat der Seelen.«21 Konkurrenz wird in die Herrschaft überzuführen gesucht, und ans Konkurrenzmotiv wird zynisch appelliert, wenn die Herrschaft es verlangt. 1896 trägt George Hofmannsthal die Mitredaktion der >Blätter für die Kunst < an. Dem verleiht er Nachdruck durch die Worte: »Da es sich hier um ein ernsthaftes zusammenwirken aller kräfte dreht so wäre Ihre gelegentliche mitarbeiterschaft (die Sie wol anbieten könnten) bedeutungslos. Ihre stelle müssen wir alsdann durch einen andren auszufüllen trachten, doch will ich an diesen schweren Verlust lieber nicht denken.« Die >Blätter für die Kunst < machen den sinnfälligen Gegenstand der Differenz Georges und Hofmannsthals aus. Im Verhalten der beiden zu den Blättern und deren Partei22 of21 Borchardts Kritik hat der Georgeschen Schule gegenüber den Standpunkt des Ultrarechten eingenommen. Er erlaubt zuweilen materialistische Durchblicke. Der bedeutende Aufsatz über die toskanische Villa entwickelt diese als Kunstform aus den ökonomischen Voraussetzungen der Pachtherrschaft. 22Aber auch in anderen Sphären, von der Bayreuther Runde bis zu den Psychoanalytikern, haben sich um die gleiche Zeit sektenbafte Gruppen formiert. Bei divergierendem Inhalt zeigen
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fenbart sich eine wahre Antinomie. Sie hat später im eigentlich politischen Bereich sich durchgesetzt an Stellen, von denen beide Autoren sich nichts träumen ließen. Hofmannsthal teilt 1893 Klein mit: »Einen Aufsatz über die >Blätter< in einem Tagesblatt zu schreiben, ist mir nicht sehr genehm: in den bisherigen Heften steht für meinen Geschmack 1. zu wenig wirklich wertvolles, 2. zu viel von mir. Beides müßte meine Reden so einschränken, daß ich vorziehe, zu schweigen.« Der Hintergrund dieser Äußerung wird in einem früheren Brief Hofmannsthals an Klein aufgedeckt: »überhaupt befremdet mich Ihr Vorschlag, in einem andern öffentlichen Blatt unser Unternehmen zu besprechen, aufs höchste. Wozu? warum dann nicht gleich meine Sachen wo anders unter Fremden abdrucken lassen? dann habe ich offenbar das ganze Wesen der Gründung falsch verstanden. Ich habe absolut keine Angst davor, mich zu >compromittieren< und ich bin in künstlerischen Dingen durch keine Rücksicht und Verbindung gehemmt. Aber bitte, sagen Sie mir klar, was Sie wollen und wozu Sie es wollen.« Es geht dialektisch genug zu: Georges Exklusivität drängt als diktatoriale auf öffentliche, selbst journalistische Stellungnahme und hebt damit virtuell sich selber auf: das aber erlaubt Hofmannsthal, sich eben auf die verletzte Esoterik zu berufen und seine Sachen »wo anders unter Fremden«, also vollends unter Preisgabe der Esoterik, drucken zu lassen. Die Furcht, sich zu kompromittieren, die er verleugnet, bestimmt sein Verhalten: sich zu kompromittieren nicht sowohl, indem er sich mit der kommerziellen Öffentlichkeit einläßt, als vielmehr, indem er es mit ihr verdirbt. Seine Isolierung im Kreis der Blätter macht ihn zum verständnisvollen Sprecher des profanum vulgus, gegen den die Blätter gegründet waren: »Wonach es mich verlangt ist nicht sosehr, dreinzureden, als minder spärliches zu erfahren. Ich berechne nach meiner mangelnden Einsicht in Vieles die fast vollständige Ratlosigkeit des Publicums einem so fremdartigen und herbwortkargen Unternehmen gegenüber.« Die Aversion des sich auffallende Übereinstimmungen im Bau. Gemeinsam ist ihnen ein mehrdeutiger Begriff von Reinigung und Erneuerung, der die Resistenz gegen das Bestehende vortäuscht und zugleich vereitelt. Politische Solidarität wird vom Glauben an die Panazee ersetzt. Die Realitätsgerechtigkeit solcher Katharsis bewährte sich im Guerillakrieg der Konkurrenz ebenso wie im Einparteiensystem.
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Publikums hat Hofmannsthal durch kritische Einsicht überboten. Mit seiner Ablehnung nicht bloß der schlechten Gedichte, die die Blätter füllten, sondern auch der Nachahmer Georges selber hielt er nicht hinterm Berge. Noch zu den höflicheren rechnet eine Formulierung wie: »Hätten Sie die Freunde und Begleiter die Sie verdienen, wieviele Freude würde dadurch auch auf mein Theil kommen.« Wie es mit den Blättern bestellt war, hat George fraglos so gut gewußt wie Hofmannsthal. Er konnte diesem den Vorwurf der geringen literarischen Qualität seiner Freunde bequem zurückgeben, nur daß mit diesen Hofmannsthal niemals ebenso verbindlich sich eingelassen hatte wie George mit seinen Mitarbeitern. Aber George hat sich damit nicht begnügt: »Ich halte nun meine ansieht der Ihrigen gegenüber die alle mitarbeit außer der Ihren und meinen ablehnt. Gar nicht zu reden von ausländern wie Lieder • Verwey begreife ich nicht wie Sie an künstlern und denkern wie z. B. Wolfskehl und Klages vorüber gehen konnten. - die dunklen gluten des Einen wie die scharfe ebnenluft des andern sind so einzig so urbedingt dass ich aus Ihrem kreis (soweit er sich geoffenbart hat) niemanden auch nur annähernd mit ihnen vergleichen dürfte . . . Reden Sie aber von den kleineren Sternen — so ist es leicht das urteil zu fällen das sie selber kannten — doch befinden Sie sich in großem irrtum wenn Sie dort die von Ihnen angeführte unehrlichkeit und falsche abgeklärtheit wittern - es sind alle menschen von guter geistiger zucht mit denen Sie wenn Sie sie kennten • aufs schönste leben würden • sich wie geniusse geberden - thaten sie nie, sondern gerade diejenigen die sie den unsren gegenüber in schütz nahmen ... In den >Blättern< weiß jeder was er ist • hier wird der scharfe unterschied gezeigt zwischen dem geborenen werk und dem gemachten • hasser der >Blätter< ist jeder, dem es darum zu thun ist diesen unterschied zu verwischen . . . Wenn aber Sie mir erklärten dort nur eine ansammlung mehr oder minder guter verse zu sehen - und nicht das Bauliche (construktive) von dem freilich heut nur die wenigsten wissen - so würden Sie mir eine neue große enttäuschung bringen.« Das Konstruktive umschließt ebenso die Gleichschaltung der Beherrschten wie die Einheit der bewußt tradierten Technik: Unterdrückung und Steigerung 217
der Produktivkraft. Hofmannsthal sieht das Unterdrückende, hat aber dagegen nichts aufzubieten als kurrente Ansichten von Tradition und Individualität: »ich würde vieles wertvolle, dem Individuum homogene an Formen, Beziehungen, Einsichten dadurch gegen Flacheres eintauschen«. Beide sind gegeneinander im Recht. George wittert in Hofmannsthals für sich Stehen »die ausgespitztheit die sofort aus der milchstraße butter machen und für die jeweiligen marktbedürfnisse herrichten will«; Hofmannsthal enthüllt dafür das Pseudos des kommandierten, der Spontaneität entäußerten Kollektivs und das Verhängnis des »Ordinären«, dem kein solches Kollektiv entrinnt. Der Einzelgänger und der Organisierte sind gleich bedroht, dem Bestehenden zu verfallen; jener durch die eigene Ohnmacht, die trügerisch sich als Maß installiert und real der feindlichen Macht das Recht überläßt; dieser durch die Macht, der er gehorcht und die das gleiche Unrecht, dem widerstanden werden soll, in die Reihen der Widerstehenden trägt. Denn beide müssen in der Welt des universalen Unrechts leben. Bis in die Sprache hinein ist Georges Haltung von ihr stigmatisiert. In den Tagen des ursprünglichen Konflikts fordert er Hofmannsthal heraus: »Wie lange noch das versteckspiel? Wenn Sie frei reden wollen (was nun auch meine absieht ist) so lade ich Sie ein noch einmal auf neutralem gebiet zu erscheinen. Ihr Brief der ja auch so diplomatisch war - aber war es meine schuld daß Sie gerade in jenes unglückl. cafe kamen . . .« Wie später die Rede von Verträgen, so bläht hier die von neutralem Gebiet und Diplomatie das Private zum Allgemeinen auf, als wäre es politisch relevant. Das aber reflektiert die Zeitung, die das Allgemeine, politisch Bedeutsame dem Privaten zuträgt. Leicht könnte das esoterische Pathos in der Waren weit entspringen: die Würde des Einzelnen ist der der Schlagzeilen abgeborgt. Georges ausgreifende Gebärde hat die Naivetät dessen, der mit den großen Worten sich bekleidet, ohne zu erröten. Er vermag keine Sache, und wäre es die privateste, je anders denn als öffentliche anzuschauen. Seine literarische Strategie stammt von verirrten politischen Impulsen. Einmal jedenfalls haben diese Impulse an ihrem wahren Objekt sich bewährt. 1905 hat Hofmannsthal im Namen des 218
von ihm selbst, in einigen Briefen an Bodenhausen, höchst kritisch beurteilten Grafen Harry Kessler sich zum Sprachrohr jenes schillernden Pazifismus der ruling class gemacht, der teleologisch schon die Attitüde derer in sich trug, die später während der Okkupation von Paris sich aufführten, als wäre sie vom Penklub arrangiert, damit sie mit den französischen Kollegen bei Prunier speisen könnten. George sollte mittun. Hofmannsthals Brief, Weimar, 1. Dezember 1905 datiert, lautet: Mein lieber George, ich werde gebeten, zu einem sehr ernsthaften und über das Persönliche hinausgehenden Zwecke an Sie zu schreiben. Die furchtbare nicht auszudenkende Gefahr eines englischdeutschen Krieges - wenn auch im Sommer beschworen ist näher, fortdauernd näher als die zeitungsschreibenden und die meisten der politikmachenden Individuen sich ahnen lassen. Die wenigen, die diesseits die Ernsthaftigkeit der Situation kennen, und die wenigen, die jenseits dem drohenden Losbrechen sich entgegenstemmen wollen, haben - wissend wieviel Gewalt in solchen Epochen die imponderabilia in sich tragen - sich geeinigt, offene Briefe zu wechseln, jederseits unterschrieben von vierzig bis fünfzig der absolut ersten Namen des Landes (mit Ausschluß von Berufspolitikern). Der englische offene Brief (unterschrieben von Lord Kelvin, George Meredith, A. Swinburne usw.) wird an die Herausgeber der deutschen Journale gerichtet sein, der deutsche an die englischen (da die Journale die eigentlichen Pulverfässer sind). Man bittet ganz ausnahmsweise und wohl wissend, wie wenig Sie Publizität lieben, um Ihren Namen, während man sich z. B. nicht mit der Absicht trägt, den des bekannten Sudermann aufzunehmen. Man wünscht in dieser tiefernsten Angelegenheit durchaus die ernsthaftesten geistigen Kräfte der Nation zu vereinigen. Wenn es Ihnen gefällt, den beigelegten Brief zu unterzeichnen, so senden Sie ihn dann bitte innerhalb zehn Tagen zurück an Harry Graf Kessler, Weimar, Cranachstraße 3. Ihr Hofmannsthal. Die Musterkollektion der »absolut ersten Namen«, der Ausschluß des unseligen Sudermann, der dazu herhalten muß, die Zugelassenen im Gefühl ihrer Superiorität zu be219
stärken, und das vage »Man«, das hinter der Wichtigmacherei gewaltige Mächte suggeriert, die so erhaben sind, daß ihr Beauftragter vor eitel Respekt sie nicht zu nennen wagt - all das hat soviel Stil wie die Josefslegende. George hat das unwürdige Schriftstück nicht beantwortet. Aber ein Entwurf zur Antwort ist erhalten geblieben und in den Briefwechsel, unterm Druck des Hitlerregimes ohne den wichtigsten Satz, nun vollständig aufgenommen worden: »Käme diese Zuschrift nicht von einem dessen verstand ich aufs höchste bewundre: so würd ich sie für einen scherz halten, wir treiben doch weder mit geistigen noch mit greifbaren dingen handel von hüben nach drüben, was soll uns das? und dann: so einfach wie diese Zettel vermelden liegen die Verhältnisse doch nicht, krieg ist nur letzte folge eines jahrelangen sinnlosen draufloswirtschaftens von beiden sehen, das Verklebmittel einiger menschen däucht mir ohne jede Wirkung, und noch weiter gesehen: wer weiß ob man als echter freund der Deutschen ihnen nicht eine kräftige Seeschlappe wünschen soll damit sie jene völkische bescheidenheit wieder erlangen, die sie von neuem zur erzeugung geistiger werte befähigt. Ich hätte mit größerer gelassenheit erwidert wenn sich nicht die trauer darüber einstellte daß es kaum noch einen punkt zu geben scheint wo wir uns nicht mißverstehen.« Kurz danach bot eine Verlagsangelegenheit den Anlaß zur endgültigen Entzweiung. Daß George den Zusammenhang internationaler Betriebsamkeit und imperialistischer Ambitionen durchschaut; daß der spätere Emigrant damals schon Worte über Deutschland findet, die seinem eigenen Kreis blasphemisch klingen mußten; ja, daß er ohne theoretische Einsicht in Gesellschaft den objektiven Zwang wahrnimmt, der zum Krieg treibt - all das wird nicht mit seinem von Borchardt notierten »bedeutenden Weltverband« hinreichend erklärt. Vielmehr ist seine Erkenntnis kraft dem dichterischen Gehalt zuzuschreiben. In der Arbeiterbewegung ist es zumal seit Mehring üblich, die auf die unmittelbare Abbildung des gesellschaftlichen Lebens gerichteten Tendenzen der Kunst, naturalistische und realistische, dem Fortschritt zuzurechnen und die ihnen entgegengesetzten der Reaktion. Wer nicht Hinterhöfe, 220
werdende Mütter und neuerdings Prominenzen darstellt, sei Mystiker. Solche Stempel mögen das Bewußtsein der zensierten Autoren zuweilen treffen. Aber die Insistenz auf der Wiedergabe des gesellschaftlich Unmittelbaren teilt die empiristische Befangenheit der bekämpften Bürger. Die Tauschgesellschaft treibt ihre Kinder dazu, unablässig Zwecke zu verfolgen, stur auf sie hin zu leben, die Augen von dem Vorteil aufgezehrt, nach dem man schnappt, ohne nach rechts und links zu blicken. Wer aus seinem Weg geht, dem droht der Untergang. Die zwangshafte Unmittelbarkeit hindert die Menschen daran, bewußt eben den Mechanismus zu erkennen, der sie verstümmelt: er reproduziert sich in ihrem fügsamen Bewußtsein. Dies Bewußtsein wird in dem Postulat der Anschauung und Abbildung des Unmittelbaren - mit ihrem Komplement, der fetischisierten Theorie, die man durch Treue verrät - hypostasiert. Der Realist, der literarisch aufs Handgreifliche sich eingeschworen weiß, schreibt aus der Perspektive des Hirnverletzten, dessen Regungen nicht weiter reichen als die Reflexe auf Aktionsobjekte. Er tendiert zum Reporter, der den sinnfälligen Begebenheiten nachjagt, wie Wirtschaftskonkurrenten dem geringsten Profit. Solcher Promptheit sind die als Luxus verpönten literarischen Gebilde entzogen. Heute vollends ist mit dem längst staatsfrommen sozialistischen Realismus kein Staat mehr zu machen. Selbst an den Konservativen George und Hofmannsthal indessen träfe die Rede von der Flucht vor der Realität kaum die halbe Wahrheit. Zunächst kehrt beider Werk pointiert sich wider die mystische Innerlichkeit: »Schwärmer aus zwang weil euch das feste drückt / Sehner aus not weil ihr euch nie entfahrt / Bleibt in der trübe schuldlos . . . die ihr preist - / Ein schritt hinaus wird alles dasein lug!« In Hofmannsthals >Gesprächen über Gedichte<, seiner verbindlichen Äußerung zu Georges Lyrik, bemüht er sich um die Theorie dazu: »Wollen wir uns finden, so dürfen wir nicht in unser Inneres hinabsteigen: draußen sind wir zu finden, draußen. Wie der wesenlose Regenbogen spannt sich unsere Seele über den unaufhaltsamen Sturz des Daseins. Wir besitzen unser Selbst nicht: von außen weht es uns an, es flieht uns für lange und kehrt uns in einem Hauch zurück.« Wie der nachkonstruierende Empiriokritizismus in der 221
reinen Immanenz der Subjektivität zur Verneinung des Subjekts und zum zweiten naiven Realismus gelangt, so verlöscht Innerlichkeit in Hofmannsthals Konzeption. Ist aber das Geheimnis der Symbolisten nicht sowohl eines von Innerlichkeit als von Metier, so geht es gewiß nicht an, ihnen anstandslos als »Formalisten« technisch fortschrittliche Funktion zuzumessen, die mit reaktionären Inhalten verkoppelt seien. Viele Progressive haben das grobschlächtige Form-Inhalt-Schema vom Positivismus auf die Kunst übertragen, als sei deren Sprache jenes ablösbare Zeichensystem, das sie schon in Wissenschaften nicht ist. Selbst wenn sie recht hätten jedoch, fiele keineswegs alles Licht auf die souveräne Form und alles Dunkel auf den hörigen Inhalt. Falsch wäre es, in Lob oder Tadel George, Hofmannsthal und den unter dem Namen Symbolismus und Neuromantik figurierenden Bewegungen, aus denen sie hervorgegangen sind, zu attestieren, was sie wohl selber sich attestiert hätten: daß sie das Schöne bewahrten, während die Naturalisten vor der Verwüstung des Lebens im Industrialismus resignierten. Die Preisgabe des Schönen vermöchte dessen Idee mächtiger festzuhalten als die scheinhafte Konservierung verfallender Schönheit. Umgekehrt ist nichts an George und Hofmannsthal so vergänglich wie das Schöne, das sie zelebrieren: das schöne Objekt. Es tendiert zum Kunstgewerbe, dem George seinen Segen nicht versagt hat: wie in der Vorrede der zweiten Ausgabe der Hymnen dem »freudigen aufschwunge von maierei und Verzierung«, so in einem nicht abgesandten Brief an Hofmannsthal von 1896: »Es macht sich in unsrem deutschland an vielen stellen eine Sehnsucht nach höherer kunst bemerkbar nach Jahrzehnten einer rein körperlichen oder auch wissenschaftlichen anstrengung. Sie geht von maierei ton und dichtung durch Verzierung und baukunst sogar allmählich in mode und leben.« Auf dem Weg in Mode und Leben fraternisiert die Schönheit mit der gleichen Häßlichkeit, der sie, die Nutzlose, den Kampf ansagte. Das Leben der Gemeinschaft, die George sich wünschte, hat kunstgewerbliche Färbung: »Heut ist dies nun alles leichter zu vergessen da unsre bestrebungen doch zu einem guten ende geführt wurden und eine Jugend hinter uns kommt voll vertrauen Selbstzucht und glühendem Schönheitswunsch.« Das 222
sind die »großen und vornehmen menschen«, wie sie seit Charcot und Monna Vanna der Familie in die Krankheit entflohen. Die Depravation ins Kunstgewerbe hat mit den Dingen die Individuen betroffen: Kunstgewerbe ist das Mal der emanzipierten Schönheit. Sie erliegt, sobald die neugewonnenen und technisch beherrschten Stoffe, beliebig herstellbar, billig und marktfähig werden. George ist dem Bewußtsein dessen im Schlußgedicht der Pilgerfahrten, das zum Algabal überleitet, sehr nahegekommen. Es redet vom Ideal des Schönen im Gleichnis der Spange: »Ich wollte sie aus kühlem eisen / Und wie ein glatter fester streif, / Doch war im schacht auf allen gleisen / So kein metall zum gusse reif. / Nun aber soll sie also sein: / Wie eine große fremde dolde / Geformt aus feuerrotem golde / Und reichem blitzenden gestein.« Wenn »so kein metall zum gusse reif«, in den Bedingungen des materiellen Lebens die objektive Möglichkeit des Schönen nicht angelegt war, das vielmehr »wie eine große fremde dolde« schimärisch in der Negation des materiellen Lebens sich öffnet, so zieht das materielle Leben die Schimäre wiederum in sich hinein durch Imitation. Die schlichte Spange des Kunstgewerbes, aus wohlfeilem Eisen, stellte allegorisch jene goldene dar, die gegossen werden mußte, weil es am rechten Eisen gebrach. Über den schimärischen Charakter des Erlesenen läßt der Briefwechsel keinen Zweifel. Es geht selber aus ökonomischen Machinationen hervor. Georges bibliophiles Pathos hat eine Druckschrift ersonnen, die seine Handschrift nachahmt: »Ich sende hier neue proben des einbandes. sowie der schrift (meiner eigenen an deren besserung ich schon lange arbeite) ich glaube daß sie Ihnen gefallen wird. Sie sehen daß sie meiner handschrift angeglichen ist: jedenfalls ein guter weg nachdem alle neueren Zeichner von buchstaben die bereits bestehenden mit irgendwelchen erdachten Schnörkeln versahen • um so vom alten loszukommen.« Das kunstgewerbliche Pseudos des technisch Massenhaften, das als originär auftritt, entspringt in der Not einer Veranstaltung, die kein sachlich bindendes Maß des Schönen hat, sondern nur das dürre Programm : »vom alten loszukommen«. Die trügende Einmaligkeit wird aber zugleich um des materiellen Wertes willen geplant: »Erstes ziel ist unserm kreis (durch die festen ab223
nehmer der händler erweitert) wahrhaft schöne und dabei erschwingliche bücher zu geben • die auch für den liebhaber ein wesentliches: die Seltenheit nicht einbüßen dürfen • der nachhinkende uns ganz ferne leser mag dann den erhöhten preis zahlen . . . Einen andren weg wie den der Einzeichnung giebt es nicht.« Daß schon der erlesene Reiz nach Wertbegriffen sich ausdrücken, das Einmalige sich vergleichen läßt; diese Abstraktheit von Malachit und Alabaster macht das Erlesene fungibel. Doppelt entstellt ist das symbolistisch Schöne: durch krude Stoffgläubigkeit und durch allegorische Ubiquität. Auf dem kunstgewerblichen Markt kann alles alles bedeuten. Je weniger vertraut die Stoffe, desto schrankenloser ihre Verfügbarkeit für Intentionen. Lange Seiten bei Oscar Wilde könnten den Katalog eines Juweliers abgeben, ungezählte Interieurs vom fin du siecle gleichen dem Raritätenladen. Noch George und Hofmannsthal zeigen rätselhaften Ungeschmack in Dingen der bildenden Kunst ihrer Ära. Unter den Malern, die der Briefwechsel preist, nehmen Burne-Jones, Puvis de Chavannes, Klinger, Stuck und der unsägliche Melchior Lechter die hervorragendsten Stellen ein. Der großen französischen Malerei der Epoche geschieht zwischen ihnen mit keinem Wort Erwähnung23. Wenn George in freilich ganz anderem Zusammenhang mit Bedauern davon redet, daß »unsre besseren geister . .. den kecken farbenkleckser nicht mehr vom maier trennen könnten«, so ist das vom Wilhelminischen Urteil über Impressionismus und Kloakenkunst nicht so gar sehr verschieden. Tabuiert sind die Bilder, in denen die wahren Impulse des Gedichts vom Frühlingswind oder der Eislandschaften des Jahres der Seele sich verwirklichen. Bejaht werden abbildlich treue Idealgestalten, schöne Wesen im erotischen Geschmack der Zeit, welche die erhabenen Bedeu23 Nochmals ist an Marie Bashkirtseff zu erinnern. Sie war ohne die leiseste Beziehung zur avancierten Kunst. Ihr malerischer Horizont war durch den Salon bestimmt; bewundert hat sie Bastien-Lepage. Ihre Bilder sind wie frühe Ansichtskarten. Mit jener Offenheit, die dem Geständniszwatlg gleichkommt und die zumal die gesunde Erfolgsgier der Kranken preisgibt, charakterisiert sie sich gelegentlich selber als rohe und rignorante Barbarin. Ihr Urteil über besuchte Kunststätten ist das der Bildungsreisenden; zur Wahrnehmung von Nuancen ist sie unfähig, da sie alles, was ihr begegnet, brutal ihrem Geltungsinteresse subsumiert. Das hat nicht verhindert, daß die Mischung von Machtkult, Naivetät und Morbidezza, die sie zur Schau stellt, sie Zur Heroine einer Bewegung machte, mit der sie sachlich nichts gemeinsam hat.
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tungen auf sich nehmen, ohne daß die autonome peinture der allegorischen Absicht im Wege stünde. Verkannt wird nichts Geringeres als das Formgesetz, dem die eigene Dichtung untersteht. Diesem Formgesetz aber entzieht George sich späterhin um so vollkommener, je mehr er die Stoffe Deutungen unterwirft, um sich vom Vorwurf des Ästhetizismus zu reinigen. In seiner Jugend war er noch so gleichgültig gegen den Sinn wie der Rimbaud der Voyelles: »Den einen fehler >sangen< st. saugen brauchen Sie nicht zu bedauern denn er verschlimmert nichts, es paßt auch sehr gut.« Der wahre Symbolismus ist ein lucus a non lucendo. In Hofmannsthals Georgedialog meint der Schüler von der Sprache: »Sie ist voll von Bildern und Symbolen. Sie setzt eine Sache für die andere.« Hofmannsthal weist ihn zurecht mit den Worten: »Welch ein häßlicher Gedanke! Sagst du das im Ernst? Niemals setzt die Poesie eine Sache für eine andere, denn es ist gerade die Poesie, welche fieberhaft bestrebt ist, die Sache selbst zu setzen, mit einer ganz anderen Energie als die stumpfe Alltagssprache, mit einer ganz anderen Zauberkraft als die schwächliche Terminologie der Wissenschaft. Wenn die Poesie etwas tut, so ist es das: daß sie aus jedem Gebilde der Welt und des Traumes mit durstiger Gier sein Eigenstes, sein Wesenhaftes, herausschlürft.« Und auf den Einwand: »Es gibt keine Symbole?« — »Oh, vielmehr, es gibt nichts als das, nichts anderes.« Mit dem intentionsfremden Stoff die in konventionellen Bedeutungen verhärtete Realität aufzusprengen, ist das Desiderat: zu den frischen Daten flüchtet, was sein könnte, daß es von keiner geläufigen Kommunikation hinabgezogen werde in den Kreis dessen, was ist. Durch jeden deutenden Zugriff über die bloßen Stoffe hinaus kompromittiert sich diese Dichtung: mit dem Engel des Vorspiels triumphiert Melchior Lechter. Schuld daran aber trägt nicht Georges besondere Verblendung. Was er den reinen Stoffen zutraute, konnten diese nicht bewähren. Als abstrakte Relikte der Dingwelt so gut wie als »Erlebnis« des Subjekts gehören sie eben jenem Umkreis an, dem man sie entrückt meinte. Ironisch bleibt Hofmannsthal im Recht: das Unsymbolische verkehrt notwendig sich ins Allsymbolische. Zwischen den reinen Lauten Rimbauds und den edlen Mate225
rialien der Späteren ist darin kein Unterschied. Wohl mag man den frühen ästhetischen George real nennen und schlecht ästhetisch den späten realen: dennoch ist dieser in jenem mitgesetzt. Die Schönheit, aus deren blinden Augen grelle Preziosen blicken, enthält schon die Ideologie vom »Jungen Führer im ersten Weltkrieg«, die das Geschäft zudeckt, von dessen Fluch der Zauber befreien sollte. Die Preziosen empfangen ihren Wert aus der Mehrarbeit. Das Geheimnis der intentionslosen Stoffe ist das Geld. Baudelaire ist allen, die ihm folgten, überlegen darum, weil er an keiner Stelle jener Schönheit als positiver und unmittelbarer sich zugeneigt hat, sondern bloß als unwiederbringlich verlorener oder in äußerster Verneinung. Ihm ist Satan, der vom Schicksal verratene deus absconditus, »le plus savant et le plus beau des Anges«; ihn betrübt nicht der rosige Engel des schönen Lebens, zu dessen Fidusbild Schönheit selber in George sich hergibt. Durch sie kommuniziert George mit den realistischen Abbildnern. Was ihn zu dieser Schönheit zog, war nicht vorab der dichterische Formwille, sondern ein Inhaltliches. Wie ein Schibboleth wird der Gegenstand unter Anrufung seiner Schönheit dem drohenden Verderben entgegengehalten. Die Korrespondenz mit Hofmannsthal gibt dafür ein merkwürdiges Beispiel. Es handelt sich um die Publikation des Tod des Tizian in den Blättern für die Kunst: »die lesezeichen wo unbeabsichtigt weggelassen vervollständigte ich in Ihrem sinn . . . und dann auf eigene faust (es war so wenig zeit) in der anmerkung >da Tizian 99Jährig an der pest starb< das bestrichene, damit brachten Sie eine schädliche luft in Ihr werk und augenscheinlich ungewollt.« Demnach könnte die bloße Erwähnung der Pest im Kunstwerk diesem Schaden tun und nicht diesem allein. Die Magie krampfhafter Schönheit beherrscht den Symbolismus. Hofmannsthal sucht im Georgedialog das ästhetische Symbol als Opferritual zu fassen: »Weißt du wohl, was ein Symbol ist? . . . Willst du versuchen dir vorzustellen, wie das Opfer entstanden ist? .. . Mich dünkt, ich sehe den ersten, der opferte. Er fühlte, daß die Götter ihn haßten . . . Da griff er, im doppelten Dunkel seiner niedern Hütte und seiner Herzensangst, nach dem 226
scharfen krummen Messer und war bereit, das Blut aus seiner Kehle rinnen zu lassen, dem furchtbaren Unsichtbaren zur Lust. Und da, trunken vor Angst und Wildheit und Nähe des Todes, wühlte seine Hand, halb unbewußt, noch einmal im wolligen warmen Vließ des Widders. - Und dieses Tier, dieses Leben, dieses im Dunkel atmende, blutwarme, ihm so nah, so vertraut - auf einmal zuckte das Messer in die Kehle, und das warme Blut rieselte zugleich an dem Vließ des Tieres und an der Brust, da den Armen des Menschen hinab: und einen Augenblick lang muß er geglaubt haben, es sei sein eigenes Blut; einen Augenblick lang, während ein Laut des wollüstigen Triumphes aus seiner Kehle sich mit dem ersterbenden Stöhnen des Tieres mischte, muß er die Wollust gesteigerten Daseins für die erste Zuckung des Todes genommen haben: er muß, einen Augenblick lang, in dem Tier gestorben sein, nur so konnte das Tier für ihn sterben . . . Das Tier starb hinfort den symbolischen Opfertod. Aber alles ruhte darauf, daß auch er in dem Tier gestorben war, einen Augenblick lang . . . Das ist die Wurzel aller Poesie . . . Er starb in dem Tier. Und wir lösen uns auf in den Symbolen. So meinst du es?« - »Freilich. Soweit sie die Kraft haben, uns zu bezaubern.« Diese blutrünstige Theorie des Symbols, welche die finsteren politischen Möglichkeiten der Neuromantik einbegreift, spricht etwas von ihren eigentlichen Motiven aus. Angst zwingt den Dichter, die feindlichen Lebensmächte anzubeten: mit ihr rechtfertigt Hofmannsthal den symbolischen Vollzug. Im Namen der Schönheit weiht er sich der übermächtigen Dingwelt als Opfer. Ist aber der Primitive, dem Hof manns thal die Ideologie beistellt, nicht wirklich gestorben, sondern hat das Tier geschlachtet, so ist dafür das unverbindliche Opfer des Modernen um so drastischer zu nehmen. Er möchte sich retten, indem er sich wegwirft und zum Mund der Dinge macht. Die von George und Hofmannsthal urgierte Entfremdung der Kunst vom Leben, die die Kunst zu erhöhen gedenkt, schlägt in grenzenlose und gefügige Nähe zum Leben um. Symbolismus ist in Wahrheit nicht darauf aus, alle Stoffmomente sich als Symbole eines Inwendigen zu unterwerfen. Eben an dieser Möglichkeit verzweifelt man und proklamiert, das Absurdum, die entfremdete Dingwelt selber, in ihrer Undurch227
dringlichkeit fürs Subjekt, verleihe diesem Weihe und Sinn, wenn nur das Subjekt in die Dingwelt sich auflöse. Nicht länger weiß sich Subjektivität als das beseelende Zentrum des Kosmos. Sie überliefert sich jenem Wunderbaren, das geschähe, wenn die bloßen sinnverlassenen Stoffe von sich aus die verlöschende Subjektivität beseelten. Anstatt daß die Dinge als Symbole der Subjektivität nachgäben, gibt Subjektivität nach als Symbol der Dinge, bereit, in sich selber schließlich zu dem Ding zu erstarren, zu dem sie von der Gesellschaft ohnehin gemacht wird. So ist denn der arglosen Zutraulichkeit des früheren Rilke gerade das Wort Dinge zur kultischen Formel geworden. Solche Angst meldet Erfahrungen von der Gesellschaft an, die dem unmittelbaren Blick auf diese verwehrt sind. Sie beziehen sich auf die Komposition des Individuums. Ehmals forderte Autonomie, daß die unverbrüchliche Äußerlichkeit des Objekts durch Aufnahme in den eigenen Willen überwunden werde. Der wirtschaftlich Konkurrierende bestand, indem er die Schwankungen des Marktes, wenn er schon nichts darüber vermochte, bewußt vorwegnahm. Der Dichter der Moderne läßt von der Macht der Dinge sich überwältigen wie der Outsider vom Kartell. Beide gewinnen den Schein der Sekurität: der Dichter jedoch auch die Ahnung ihres Gegenteils. Die »Chiffren, welche aufzulösen die Sprache ohnmächtig ist« - nämlich die, welche sich in der Signifikation ihrer Gegenstände erschöpft -, werden Hofmannsthal zum Menetekel. Die Entfremdung der Kunst vom Leben ist doppelten Sinnes. In ihr liegt nicht bloß, daß man mit dem Bestehenden sich nicht einlassen will, während die Naturalisten immerzu in Versuchung sind, die von ihnen mit zärtlich-scharfen Künstleraugen gesehenen Abscheulichkeiten als einmal so seiende zu bejahen. Nicht weniger haben George und Hofmannsthal mit der Ordnung sich encanailliert. Aber eben als mit einer entfremdeten. Die veranstaltete Entfremdung enthüllt so viel vom Leben, wie nur ohne Theorie sich enthüllen läßt, weil das Wesen die Entfremdung selber ist. Die anderen stellen die kapitalistische Gesellschaft dar, aber lassen die Menschen fiktiv so reden, als ob sie noch miteinander reden könnten. Die ästhetischen Fiktionen sprechen den wahrhaften Monolog, den die kommunikative Rede bloß verdeckt. 228
Die anderen erzählen Begebenheiten, als ob vom Kapitalismus sich noch erzählen ließe. Alle neuromantischen sind letzte Worte24. Die anderen bedienen sich der Psychologie als Klebemittels zwischen Innen und entfremdetem Außen, einer Psychologie, die an die gesellschaftlichen Tendenzen des Zeitalters nicht heranreicht, während sie zugleich, nach einer Bemerkung Leo Löwenthals, hinter der wissenschaftlich entwickelten seit dem Ende des neunzehnten Jahrhunderts zurückbleibt25. Anstelle der Psychologie tritt bei ihren ästhetischen Gegnern das unauflösliche Bild, das — wie sehr auch der Transparenz entratend - doch die Kräfte designiert, die zur Katastrophe treiben. Es ist die Konfiguration dessen, wovon die Psychologie nur abgeleitete und zerstreute Kunde gibt, so wie die Individuen, mit denen sie sich einläßt, selber nur Ableitungen des geschichtlich Wirklichen sind. Baudelaires Petites Vieilles, noch Georges Täter oder »Ihr tratet zu dem herde« stehen der Einsicht ins Zusammenbruchgesetz näher als die unverdrossene Beschreibung von Slums und Bergwerken. Tönt in dieser dumpf das Echo des historischen Stundenschlags, so wissen jene Gedichte, was die Stunde geschlagen hat. In diesem Wissen und nicht im unerhörten Gebet zur Schönheit entspringt die Form: im Trotz. Die leidenschaftliche Bemühung um sprachlichen Ausdruck, der bannend das Banale fernhält, ist der sei's auch hoffnungslose Versuch, das Erfahrene dem tödlichsten Feind zu entziehen, der ihm in der späten bürgerlichen Gesellschaft heranwächst: dem Vergessen. Das Banale ist dem Vergessen geweiht; das Geprägte soll dauern als geheime Geschichtsschreibung. Daher die Verblendung gegen den Impressionismus: man verkennt, daß keine Macht der Erde mehr der Vergängnis standzuhalten vermag, die nicht auch selber Macht der Vergänglichkeit wäre. - Der Trotz gegen 24 Der Testamentsvollstrecker war Wedekind. Sein Dialog beruht auf dem Prinzip, daß kein Sprecher je den anderen versteht. Wedekinds Stücke sind Mißverständnisse in Permanenz. Darauf hat erstaunlicherweise Max Halbe in seinen Memoiren hingewiesen. Die dramatischen Personen nähern als Akrobaten den Mechanismen sich an. Sie können bereits nicht mehr sprechen - daher das tiefe Recht des Wedekindschen Papierdeutschs -, wissen es aber noch nicht. 25 Hofmannsthal, der mit Schnitzler befreundet war, hat der Psychoanalyse Interesse entgegengebracht, ohne daß sie doch in seine Werke eingegangen wäre. Vom psychologischen Roman hat er sich ferngehalten. Die Georgesche Schule vollends ist anti-psychologistisch gleich der Phänomenologie.
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die Gesellschaft ist einer gegen deren Sprache26. Die anderen teilen die Sprache der Menschen. Sie sind »sozial«. Die Ästheten sind ihnen um so weit voraus, wie sie asozial sind27. Ihre Werke messen sich an der Erkenntnis, daß die Sprache der Menschen die Sprache ihrer Entwürdigung ist. Die Sprache ihnen rauben, der Kommunikation sich versagen, ist besser als Anpassung. Der Bürger verklärt das Daseiende als Natur und verlangt vom Mitbürger, daß er »natürlich« rede. Diese Norm wird von der ästhetischen Affektation umgestoßen. Der Affektierte redet, als wäre er sein Idol. Er macht sich damit zum billigen Ziel. Alle können ihm beweisen, er sei ihresgleichen. Er jedoch vertritt die Utopie, nicht man selber zu sein. Wohl üben die anderen Kritik an der Gesellschaft. Aber sie bleiben sich so treu wie deren Vorstellung vom Glück der eines gesunden, wohl organisierten, vernünftig eingerichteten Lebens. Die Utopie des Ästhetizismus kündigt dem Glück den Gesellschaftsvertrag. Es lebt von der antagonistischen Gesellschaft, einer Welt, »où l'action n'est pas la soeur du reve«28. Noch als gemäßigte Schüler Baudelaires haben George und Hofmannsthal das Glück dort aufgemacht, wo es verfemt ist. Vorm Verfemten sinkt ihnen das Erlaubte in nichts zusammen. Unnatur soll die vom Primat der Zeugung entstellte Vielheit des Triebes wieder herstellen, unverantwortliches Spiel den verderblichen Ernst 26 Daher die Vormacht der Übersetzung von Rossetti und Baudelaire bis George und Borchardt. Sie alle suchen die eigene Sprache vorm Fluch des Banalen zu retten, indem sie sie von der fremden her visieren und ihre Alltäglichkeit unterm Gorgonenblick der Fremdheit erstarren lassen ; jedes Gedicht von Baudelaire so gut wie von George ist der eigenen Sprachform nach am Idea Ider Übersetzung einzig zu messen. 27 Freilich nur um so weit; solange sie den Anstoß der »Entartung« bieten, die ihnen seit Max Nordaus Buch vorgeworfen worden ist. Jede Wendung ins Positive ist in der Tat Verfall. Ein Beleg für viele: das große Baudelairesche Motiv der Unfruchtbarkeit. Die Unfruchtbare entzieht sich dem Generationszusammenhang der verhaßten Gesellschaft. Von Baudelaire wird sie mit der Lesbierin und der Dirne gefeiert. Er vergleicht die froide majestd de la femme sterile mit dem nutzlosen Sternenlicht, das dem Umkreis der gesellschaftlichen Zwecke entrückt ist. Hofmannsthal übernimmt das Motiv, um es ins Staatserhaltende und zugleich Triviale zu wenden. »Von allen diesen Dingen / Und ihrer Schönheit - die unfruchtbar war«, sagt er sich um der Geliebten willen los. In der >Frau ohne Schatten< ist Unfruchtbarkeit ein Fluch, von dem erlöst werden soll. 28 George übersetzt: »Ich fliehe wahrlich gerne dies geschlecht / Das träum und that sich zu verbinden wehrte.« Die Übersetzung ist ein Verrat. Baudelaire spricht vom monde, der Gesamtverfassung der Wirklichkeit, die den Traum vom tätigen Handeln fernhält. George macht daraus das »geschlecht«, als ob es sich um einen Abfall, um »Dekadenz« handelte, wo die Baudelairesche Revolte das Prinzip der Ordnung selber trifft. Bei George tritt an Stelle des Aufruhrs jene »Erneuerung«, die dem »Geschlecht« allemal sich assoziiert.
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dessen überkommen, was man bloß ist. Beide rütteln lautlos lärmend an der Identität der Person, aus deren Mauern die innerste Gefängniszelle des Bestehenden sich fügt. Was immer sie der herrschenden Gesellschaft positiv kontrastieren mögen, ist ihr untertan als Spiegel des Individuums, so wie Georges Engel dem Dichter gleicht, so wie der Liebende im Stern des Bundes am Geliebten »mein eigen fleisch« errät. Was überlebt, ist die bestimmte Negation.
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Charakteristik Walter Benjamins
. . . . und den Geräuschen des Tages zu lauschen, als wären es die Akkorde der Ewigkeit. Karl Kraus
Der Name des Philosophen, der auf der Flucht vor den Schergen Hitlers sein Leben auslöschte, hat in den mehr als zwanzig Jahren, die seitdem vergingen, Nimbus gewonnen trotz des esoterischen Charakters seiner früheren Arbeiten und des fragmentarischen der späteren. Die Faszination von Person und œuvre ließ keinen Ausweg als magnetisches Hingezogensein oder schaudernde Abwehr. Unter dem Blick seiner Worte verwandelte sich, worauf immer er fiel, als wäre es radioaktiv geworden. Die Fähigkeit, unablässig neue Aspekte herzustellen, weniger indem er Konventionen kritisch durchbrach, als indem er durch seine innere Organisation zum Gegenstand sich verhielt, wie wenn die Konvention keine Macht über ihn hätte - diese Fähigkeit wird gleichwohl vom Begriff des Originellen kaum erreicht. Keiner der Einfälle des Unerschöpflichen dünkte je bloßer Einfall. Das Subjekt, dem leibhaft alle die originären Erfahrungen zuteil wurden, welche die offizielle zeitgenössische Philosophie einzig formal beredet, schien zugleich keinen Anteil an ihnen zu haben, wie denn seiner Art, zumal der Kunst augenblicklich-endgültiger Formulierung, das Moment des im herkömmlichen Sinne Spontanen und Sprudelnden durchaus abging. Er wirkte nicht wie einer, der Wahrheit erzeugte oder denkend gewann, sondern, indem er sie durch den Gedanken zitierte, wie ein höchstes Instrument von Erkenntnis, auf dem diese ihren Niederschlag hinterließ. Nichts hatte er vom Philosophierenden nach traditionellem Maß. Was er selber zu seinen Funden beitrug, war kaum ein Lebendiges und »Organisches«; gründlich verfehlte ihn das Gleichnis des Schöpfers. Die Subjektivität seines Denkens war verhutzelt zur spezifischen Differenz; das idiosynkratische Moment seines eigenen Geistes, das Singuläre daran, das der 232
herkömmlich philosophischen Verfahrungsweise für das Zufällige, Ephemere, ganz Nichtige gelten würde, bewährte sich bei ihm als das Medium des Verbindlichen. Angegossen ist ihm der Satz, in der Erkenntnis sei das Individuellste das Allgemeinste. Wäre nicht im Zeitalter der radikalen Divergenz von gesellschaftlichem und naturwissenschaftlichem Bewußtsein jedes physikalische Gleichnis tief suspekt, so könnte man bei ihm tatsächlich von der Energie intellektuellen Atomzerfalls reden. Seiner Insistenz löste das Unauflösliche sich auf; dort gerade ward er des Wesens habhaft, wo die Mauer bloßer Tatsächlichkeit alles trugvoll Wesenhafte unerbittlich verwehrt. Ihn trieb es, formelhaft gesprochen, dazu, aus einer Logik auszubrechen, welche das Besondere mit dem Allgemeinen überspinnt oder das Allgemeine bloß aus dem Besonderen herausabstrahiert. Er wollte das Wesen begreifen, wo es weder in automatischer Operation sichabdestillierennochdubios sich erschauen läßt: es methodisch erraten aus der Konfiguration bedeutungsferner Elemente. Das Rebus wird zum Modell seiner Philosophie. Ihrem planvoll Abwegigen jedoch kommt ihre zarte Unwiderstehlichkeit gleich. Sie liegt weder im magischen Effekt, der ihm nicht fremd war, noch in »Objektivität«, als dem bloßen Untergang des Subjekts in jenen Konstellationen. Vielmehr rührt sie her von einem Zug, den die Departementalisierung des Geistes sonst der Kunst vorbehält, der aber, umgesetzt in Theorie, des Scheins sich entäußert und unvergleichliche Würde annimmt: dem Versprechen von Glück. Was Benjamin sagte und schrieb, lautete, als nähme der Gedanke die Verheißungen der Märchen- und Kinderbücher, anstatt mit schmachvoller Reife sie von sich zu weisen, so buchstäblich, daß die reale Erfüllung selber der Erkenntnis absehbar wird. Von Grund auf verworfen ist in seiner philosophischen Topographie die Entsagung. Wer auf ihn ansprach, dem war es zumute wie einem Kind, das durch die Ritze der verschlossenen Tür das Licht des Weihnachtsbaums gewahrt. Aber das Licht verhieß zugleich, als eines der Vernunft, die Wahrheit selber, nicht deren ohnmächtigen Abglanz. War Benjamins Denken kein Schaffen aus dem Nichts, so war es dafür Schenken aus dem Vollen; 233
alles wollte es wiedergutmachen, was Anpassung und Selbsterhaltung an der Lust verbietet, in welcher Sinne und Geist sich verschränken. In seinem Aufsatz über Proust hat er Glücksverlangen als das Motiv des wahlverwandten Dichters bestimmt, und man geht kaum fehl, wenn man dort den Ursprung einer Passion vermutet, der zwei der vollkommensten Übersetzungen der deutschen Sprache - die von >A l'ombre des jeunes filles en fleurs< und von >Le cöte de Guermantes< - zu danken sind. Wie aber bei Proust das Glücksverlangen seinen Tiefgang gewinnt durch die lastende Schwere des Desillusionsromans, der in der >Recherche du temps perdu< tödlich sich vollendet, so wird die Treue zum verweigerten Glück bei Benjamin erkauft mit einer Trauer, von der die Geschichte der Philosophie sonst so wenig Zeugnis gibt wie von der Utopie des wolkenlosen Tages. Nicht ferner ist er mit Kafka verwandt als mit Proust. Daß es unendlich viel Hoffnung gebe, nur nicht für uns, könnte seiner Metaphysik als Motto dienen, hätte er je sich herbeigelassen, eine solche zu schreiben, und im Zentrum seines theoretisch entfaltetesten Werkes, des Barockbuchs, steht nicht umsonst die Konstruktion der Trauer als der letzten umschlagenden Allegorie, der von Erlösung. Die in den Abgrund der Bedeutungen stürzende Subjektivität »wird zum förmlichen Garanten des Wunders, weil sie die göttliche Aktion selbst ankündigt«. In all seinen Phasen hat Benjamin den Untergang des Subjekts und die Rettung des Menschen zusammengedacht. Das definiert den makrokosmischen Bogen, dessen mikrokosmischen Figuren er nachhing. Denn das Unterscheidende seiner Philosophie ist ihre Art von Konkretion. Wie sein Denken in immer erneuten Ansätzen dem klassifikatorischen sich zu entziehen trachtet, so ist ihm das Urbild aller Hoffnung der Name der Dinge und Menschen, und ihn sucht seine Besinnung zu rekonstruieren. Darin scheint er mit der Gesamttendenz sich zu begegnen, die gegenldealismus und Erkenntnistheorie aufbegehrte, nach den »Sachen selbst« anstatt deren gedanklichem Abguß verlangte und in der Phänomenologie und den an diese anschließenden ontologischen Richtungen ihren schulgerechten Ausdruck fand. Aber wie die entscheidenden Differenzen zwischen den Philosophen allemal in Nuancen sich ver234
stecken, und wie am unversöhnlichsten zueinander steht, was sich ähnelt, aber aus verschiedenen Zentren gespeist ist, so verhält Benjamin sich zu der heute akzeptierten Ideologie des Konkreten. Diese durchschaute er als bloße Maske des an sich selbst irregewordenen Begriffs, ebenso wie er den existential-ontologischen Geschichtsbegriff als bloßes Destillat verwarf, aus dem der Stoff der historischen Dialektik verdampft. Die kritische Einsicht des späten Nietzsche, daß die Wahrheit nicht mit dem zeitlos Allgemeinen identisch sei, sondern daß einzig das Geschichtliche die Gestalt des Absoluten abgebe, hat er, ohne sie vielleicht zu kennen, als Kanon seines Verfahrens befolgt. Das Programm ist formuliert in einer Notiz zum fragmentarischen Hauptwerk, daß »das Ewige jedenfalls eher eine Rüsche am Kleid ist als eine Idee«. Dabei hat er keineswegs harmlos die Illustration von Begriffen durch bunte geschichtliche Objekte gemeint, so wie es Simmel hielt, wenn er seine schlichte Metaphysik von Form und Leben am Henkel, am Schauspieler, an Venedig dartat. Sondern seine desperate Anstrengung, aus dem Gefängnis des Kulturkonformismus auszubrechen, galt Konstellationen des Geschichtlichen, die nicht auswechselbare Beispiele für Ideen bleiben, jedoch in ihrer Einzigkeit die Ideen als selber geschichtliche konstituieren. Das hat ihm den Ruf des Essayisten eingetragen. Bis heute noch ist sein Nimbus der des raffinierten Literators, wie er selber mit antiquarischer Koketterie es würde genannt haben. Angesichts der hintergründigen Absicht seiner Wendung gegen die ausgeleierte Thematik der Philosophie und ihren Jargon — er pflegte ihn Zuhältersprache zu nennen — fällt es leicht genug, das Cliché des Essayisten als bloßes Mißverständnis fortzuweisen. Aber die Berufung auf Mißverständnisse in der Wirkung geistiger Gebilde führt nicht weit. Sie setzt ein Ansichsein des Gehaltes unabhängig von dessen geschichtlichem Schicksal voraus, gar was der Autor sich dabei dachte, und was prinzipiell kaum je auszumachen ist, gewiß nicht bei einem so vielschichtigen und gebrochenen Schriftsteller wie Benjamin. Mißverständnisse sind das Medium der Kommunikation des Nicht-Kommunikativen. Die Herausforderung, ein Aufsatz über Pariser Passagen enthalte mehr an Philosophie als Betrachtungen über das Sein 235
des Seienden, schlägt genauer in den Sinn von Benjamins Werk als die Suche nach jenem sich selbst gleichbleibenden Begriffsskelett, das er in die Rumpelkammer verbannte. Im übrigen hat er, indem er die Grenze zwischen dem Literaten und dem Philosophen nicht respektierte, aus der empirischen Not seine intelligible Tugend gemacht. Zu ihrer Schande haben ihn die Universitäten refüsiert, während der Antiquar in ihm zum Akademischen auf ähnlich ironische Weise sich hingezogen fühlte wie etwa Kafka zum Versicherungswesen. Der perfide Vorwurf des Übergescheiten hat ihn sein Leben lang verfolgt: ein existentieller Bonze hat es gewagt, ihn als »von Dämonen geschlagen« zu beschimpfen, wie wenn das Leiden dessen, den der Geist beherrscht und entfremdet, das metaphysische Vernichtungsurteil über ihn wäre, bloß weil es die quicklebendige Ich-Du-Beziehung verstört. Dabei scheute er zurück vor aller Gewalttat gegen die Worte; Spitzfindigkeit war ihm bis ins Innerste fremd. In Wahrheit erregte er den Haß, weil sein Blick unwillkürlich, ohne alle polemische Absicht die gewohnte Welt in der Sonnenfinsternis zeigte, die ihr permanentes Licht ist. Zugleich jedoch erlaubte ihm dafür das Inkommensurable seiner Natur, durch keine Taktik überwindbar und unfähig zum Gesellschaftsspiel in der Republik der Geister, auf eigene Faust und ungeschützt als Essayist sein Leben sich zu verdienen. Das hat die Agilität seines Tiefsinns unendlich gefördert. Er lernte, mit lautlosem Kichern die gewaltigen Uransprüche der prima philosophia ihrer Hohlheit zu überführen. All seine Äußerungen sind gleich nah zum Mittelpunkt. Die in der Literarischen Welt und der Frankfurter Zeitung verstreuten Aufsätze zeugen kaum weniger für die hartnäckige Intention als die Bücher und die großen Abhandlungen aus der Zeitschrift für Sozialforschung. Die Maxime der >Einbahnstraße<, alle entscheidenden Schläge heute würden mit der linken Hand geführt, hat er selber befolgt, ohne doch darum von der Wahrheit das Mindeste nachzulassen. Noch die preziösesten literarischen Spielereien fungieren als Etüden zum chef d'œuvre, dessen Genre er zugleich gründlich mißtraute. Der Essay als Form besteht im Vermögen, Geschichtliches, Manifestationen des objektiven Geistes, »Kultur« so anzuschauen, als wären sie Natur. Benjamin war dazu fähig 236
wie kaum einer. Sein gesamtes Denken ließe als »naturgeschichtlich« sich bezeichnen. Ihn sprachen die versteinerten, erfrorenen oder obsoleten Bestandstücke der Kultur, alles an ihr, was der anheimelnden Lebendigkeit sich entäußerte, so an, wie den Sammler das Petrefakt oder die Pflanze im Herbarium. Kleine Glaskugeln, die eine Landschaft enthalten, auf die es schneit, wenn man sie schüttelt, zählten zu seinen Lieblingsutensilien. Das französische Wort für Stillleben, nature morte, könnte über der Pforte zu seinen philosophischen Verliesen geschrieben stehen. Der Hegelsche Begriff der zweiten Natur als der Vergegenständlichung sich selbst entfremdeter menschlicher Verhältnisse, auch die Marxische Kategorie des Warenfetischismus gewinnt bei Benjamin eine Schlüsselposition. Ihn fesselt es nicht bloß, geronnenes Leben im Versteinten - wie in der Allegorie zu erwecken, sondern auch Lebendiges so zu betrachten, daß es längst vergangen, »urgeschichtlich« sich präsentiert und jäh die Bedeutung freigibt. Philosophie eignet den Warenfetischismus sich selber zu: alles muß ihr zum Ding sich verzaubern, damit sie das Unwesen der Dinglichkeit entzaubere. So gesättigt ist dies Denken mit Kultur als seinem Naturgegenstand, daß es der Verdinglichung sich verschwört, anstatt ihr unentwegt zu widersprechen. Das ist der Ursprung von Benjamins Neigung, seine geistige Kraft ans ganz Entgegengesetzte zu zedieren, wie sie in der Arbeit über das >Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit < den extremen Ausdruck fand. Der Blick seiner Philosophie ist medusisch. Besetzt in ihr, zumal ihrer älteren, eingestanden theologischen Phase, der Begriff des Mythos die zentrale Stelle als Widerpart zur Versöhnung, dann wird seinem eigenen Denken wiederum alles, und zumal das Ephemere, mythisch. Die Kritik der Naturbeherrschung, welche das letzte Stück der Einbahnstraße programmatisch anmeldet, hebt den ontologischen Dualismus von Mythos und Versöhnung auf: diese ist die des Mythos selber. Im Fortgang solcher Kritik wird der Begriff des Mythos säkularisiert. Seine Lehre vom Schicksal als dem Schuldzusammenhang des Lebendigen geht über in die vom Schuldzusammenhang der Gesellschaft: »Solange es noch einen Bettler gibt, gibt es noch Mythos.« So wendet sich Benja237
mins Philosophie, die einmal, etwa in der >Kritik der Gewalt <, die Wesenheiten unmittelbar beschwören wollte, immer entschiedener zur Dialektik. Diese wuchs nicht einem an sich statischen Denken von außen oder durch bloße Entwicklung zu, sondern war vorgebildet in dem Quid pro quo des Starrsten und des Beweglichsten, das in all seinen Phasen wiederkehrt. Immer deutlicher trat die Konzeption von der »Dialektik im Stillstand« in den Vordergrund. Die Versöhnung des Mythos ist das Thema von Benjamins Philosophie. Aber es bekennt sich, wie in guten musikalischen Variationen, kaum je kahl ein, sondern hält sich verborgen und schiebt die Last seiner Legitimation der jüdischen Mystik zu, von der er in der Jugend durch seinen Freund Gerhard Scholem, den bedeutenden Kabbalaforscher, erfuhr. Es steht dahin, wie weit er in der Tat auf jene neuplatonischen und antinomistisch-messianischen Überlieferungen sich stützte. Manches spricht dafür, daß er, der kaum je mit aufgedeckten Karten spielte, aus eingewurzelter Opposition gegen amateurhaftes Drauflosdenken und »freischwebende« Intelligenz die unter Mystikern beliebte Technik der Pseudo-Epigraphie auch seinerseits benutzte - freilich ohne mit den Texten herauszurücken —, um damit die Wahrheit zu überlisten, von der er argwöhnte, sie sei der autonomen Besinnung unzugänglich. Auf jeden Fall hat er an der Kabbala seinen Begriff des heiligen Textes orientiert. Philosophie bestand ihm wesentlich aus Kommentar und Kritik, und der Sprache, als der Kristallisation des »Namens«, schrieb er höheres Recht zu als das des Bedeutungsund selbst Ausdrucksträgers. Die Beziehung von Philosophie auf je kodifiziert vorliegende Lehrmeinungen ist ihrer großen Tradition weniger fremd, als Benjamin glauben mochte. Zentrale Schriften oder Partien von Aristoteles und Leibniz, von Kant und Hegel sind »Kritiken« nicht nur implizit, als Arbeit an aufgeworfenen Problemen, sondern als spezifische Auseinandersetzungen. Erst als die zur Branche zusammengeschlossenen Philosophen des eigenen Denkens sich entwöhnten, glaubte ein jeder dadurch sich decken zu müssen, daß er vor Erschaffung der Welt anfing oder womöglich diese in eigene Regie nahm. Demgegenüber hat Benjamin den entschlossenen Alexandrinismus vertreten und 238
damit alle wurzelwütigen Affekte gegen sich aufgebracht. Die Idee des heiligen Textes transponierte er in eine Aufklärung, in die umzuschlagen nach Scholems Aufweis die jüdische Mystik selber sich anschickte. Sein Essayismus ist die Behandlung profaner Texte, als wären es heilige. Keineswegs hat er an theologische Relikte sich geklammert oder, wie die religiösen Sozialisten, die Profanität auf einen transzendenten Sinn bezogen. Vielmehr erwartete er einzig von der radikalen, schutzlosen Profanisierung die Chance fürs theologische Erbe, das in jener sich verschwendet. Der Schlüssel zu den Rätselbildern ist verloren. Sie sollen, wie es in dem barocken Gedicht von der Melancholie heißt, »selber reden«. Das Verfahren ähnelt der Blague Thorstein Veblens, er studiere fremde Sprachen, indem er jedes Wort so lange anstarre, bis er wisse, was es heiße. Unverkennbar die Analogie zu Kafka. Aber er unterscheidet sich von dem älteren Prager, dem noch in der äußersten Negativität ein Ländliches, episch Traditionales innewohnt, sowohl durch das weit prononciertere Element von Urbanität als Widerspiel zum Archaischen, wie dadurch, daß sein Denken, kraft des aufklärerischen Zuges, gegen die dämonische Regression unendlich viel gefeiter sich zeigt als Kafka, dem deus absconditus und Teufel sich verwirrten. Vorbehaltlos, ohne Mentalreservat konnte Benjamin in seiner reifen Zeit gesellschaftlich-kritischen Einsichten sich überlassen und hat doch von seinen Impulsen keinen sich verboten. Die Kraft der Auslegung hat sich umgesetzt in die, Äußerungen der bürgerlichen Kultur als Hieroglyphen ihres finsteren Geheimnisses zu durchschauen: als Ideologien. Gelegentlich hat er von dem »materialistischen Giftstoff« gesprochen, den er seinem Denken beimischen müsse, damit es überlebe. Zu den Illusionen, deren er sich entschlug, um nicht entsagen zu müssen, gehörte auch die von der monadologischen, in sich ruhenden Gestalt der eigenen Reflexion, die er unermüdlich, unbekümmert um den Schmerz der Entäußerung, an der zwangvollen Tendenz des Kollektivs maß. Aber er hat das fremde Element so ganz der eigenen Erfahrung assimiliert, daß es dieser zum Guten anschlug. Asketische Gegenkräfte hielten denen des an jedem Gegenstand sich erneuenden Einfalls die Waage. Das hat Ben239
jamin zur Philosophie wider die Philosophie verholfen. Nicht übel ließe sie sich darstellen an den Kategorien, die in ihr nicht vorkommen. Von ihnen vermittelt eine Vorstellung die Idiosynkrasie gegen Worte wie Persönlichkeit. Sein Denken sträubt sich von Anbeginn gegen die Lüge, Mensch und Menschengeist gründeten in sich selbst, und in ihnen entspränge ein Absolutes. Das Schneidende dieser Reaktionsweise läßt sich nicht verwechseln mit den neureligiösen Bewegungen, welche den Menschen in der Reflexion nochmals zu jener Kreatur machen wollen, zu der ihn die vollendete gesellschaftliche Abhängigkeit ohnehin degradiert. Er zielt nicht gegen den angeblich aufgeblähten Subjektivismus sondern gegen den Begriff des Subjektiven selber. Zwischen den Polen seiner Philosophie, Mythos und Versöhnung, zergeht das Subjekt. Dem medusischen Blick verwandelt der Mensch weithin sich zum Schauplatz objektiven Vollzugs. Darum verbreitet Benjamins Philosophie Schrecken kaum weniger, als sie Glück verspricht. Wie im Umkreis des Mythos anstelle von Subjektivität Vielfalt und Vieldeutigkeit herrscht, so ist die Eindeutigkeit der Versöhnung — nach dem Modell des »Namens« vorgestellt — das Widerspiel menschlicher Autonomie. Diese wird, beim tragischen Helden etwa, zum dialektischen Durchgangsmoment herabgesetzt, und die Versöhnung des Menschen mit der Schöpfung hat die Auflösung alles selbstgesetzten Menschenwesens zur Bedingung. Einer mündlichen Äußerung zufolge erkannte Benjamin das Selbst nur als mystisches, nicht als metaphysisch-erkenntniskritisches, als »Substantialität« an. Innerlichkeit ist ihm nicht bloß die Heimstätte von Dumpfheit und trüber Selbstgenügsamkeit sondern auch das Phantasma, welches das mögliche Bild des Menschen verstellt: überall kontrastiert er ihr das leibhaft Auswendige. So wird man denn nach Begriffen nicht nur wie Autonomie, sondern auch wie Totalität, Leben, System, die alle dem Bannkreis der subjektiven Metaphysik angehören, vergebens bei ihm suchen. Was er an dem sonst von ihm gänzlich verschiedenen Karl Kraus zu dessen Mißvergnügen feierte, ist ein eigener Zug Benjamins: Unmenschlichkeit gegen den Trug des Allmenschlichen. Die von ihm außer Kurs gesetzten Kategorien sind aber zugleich die eigentlich gesellschaftlich240
ideologischen. Je und je wirft in ihnen der Herr sich als Gott auf. Der Kritiker der Gewalt ruft die subjektive Einheit gleichsam ins mythische Gewimmel zurück, um sie selber noch als bloßes Naturverhältnis zu begreifen; der an der Kabbala ausgerichtete Sprachphilosoph betrachtet sie als Gekritzel für den Namen. Das verbindet seine materialistische Phase der theologischen. Seine Anschauung von Moderne als Archaik bewahrt nicht Spuren eines vorgeblich alten Wahren auf, sondern meint den realen Ausbruch aus der Traumbefangenheit der bürgerlichen Immanenz. Er läßt es nicht sowohl sich angelegen sein, die Totalität der bürgerlichen Gesellschaft nachzukonstruieren, als vielmehr sie als Verblendetes, Naturhaftes, Diffuses unter die Lupe zu nehmen. Den Gedanken der universalen Vermittlung, der bei Hegel wie bei Marx die Totalität stiftet, hat dabei seine mikrologische und fragmentarische Methode nie ganz sich zugeeignet. Unbeirrt stand er zu seinem Grundsatz, die kleinste Zelle angeschauter Wirklichkeit wiege den Rest der ganzen Welt auf. Ihm hieß, Phänomene materialistisch interpretieren, weniger sie aus dem gesellschaftlichen Ganzen erklären, als sie unmittelbar, in ihrer Vereinzelung, auf materielle Tendenzen und soziale Kämpfe beziehen. So gedachte er der Entfremdung und Vergegenständlichung zu entgehen, in der die Betrachtung des Kapitalismus als System diesem sich anzugleichen droht. Motive des frühen Hegel, den er kaum kannte, treten hervor: auch im dialektischen Materialismus hat er verspürt, was jener »Positivität« nannte, und auf seine Weise ihr opponiert. In der Tuchfühlung mit dem stofflich Nahen, der Affinität zu dem was ist, war seinem Denken, bei aller Fremdheit und Schärfe, stets ein eigentümlich Bewußtloses, wenn man will Naives gesellt. Solche Naivetät ließ ihn zuweilen mit machtpolitischen Tendenzen sympathisieren, welche, wie er wohl wußte, seine eigene Substanz, unreglementierte geistige Erfahrung, liquidiert hätten. Aber auch ihnen gegenüber hat er verschmitzt eine auslegende Haltung eingenommen, als wäre, wenn man nur den objektiven Geist deutet, gleichzeitig ihm Genüge getan und sein Grauen als begriffenes gebannt. Eher war er bereit, der Heteronomie spekulative Theorien beizustellen als auf Spekulation zu verzichten. 241
Politik und Metaphysik, Theologie und Materialismus, Mythos und Moderne, intentionsloser Stoff und extravagante Spekulation - alle Straßen von Benjamins Stadtschaft konvergierten in dem Plan des Buchs über Paris als in ihrer Etoile. Aber es wäre ihm nicht beigekommen, etwa an dem ihm gleichsam apriorisch zubestimmten Gegenstand seine Philosophie zusammenfassend darzustellen. Wie die Konzeption vom konkreten Anstoß ausgelöst ward, so bewahrte sie sich durch all die Jahre hindurch die monographische Form. Ein in der Neuen Rundschau erschienener Aufsatz >Traumkitsch< beschäftigte sich mit dem schockhaften Aufblitzen obsoleter Elemente des neunzehnten Jahrhunderts im Surrealismus. Die stoffliche Einsatzstelle bot ein Magazinaufsatz über Pariser Passagen, den er und Franz Hessel projektierten. Am Titel Passagenarbeit hielt er fest, nachdem längst ein Entwurf zusammengeschossen war, der mit extremen physiognomischen Zügen des neunzehnten Jahrhunderts ähnlich verfahren sollte wie das Trauerspielbuch mit denen des Barock. Aus ihnen dachte er die Idee der Epoche zu konstruieren im Sinne einer Urgeschichte von Moderne. Diese sollte nicht etwa archaische Rudimente im Jüngstvergangenen entdecken, sondern das je Neueste selber als Figur des Ältesten bestimmen: »Der Form des neuen Produktionsmittels, die im Anfang noch von der des alten beherrscht wird . . ., entsprechen im Kollektivbewußtsein Bilder, in denen das Neue sich mit dem Alten durchdringt. Diese Bilder sind Wunschbilder, und in ihnen sucht das Kollektiv die Unfertigkeit des gesellschaftlichen Produkts sowie die Mängel der gesellschaftlichen Produktionsordnung sowohl aufzuheben wie zu verklären. Daneben tritt in diesen Wunschbildern das nachdrückliche Streben hervor, sich gegen das Veraltete - das heißt aber: gegen das Jüngstvergangene - abzusetzen. Diese Tendenzen weisen die Bildphantasie, die von dem Neuen ihren Anstoß erhielt, an das Urvergangene zurück. In dem Traum, in dem jeder Epoche die ihr folgende in Bildern vor Augen tritt, erscheint die letztere vermählt mit Elementen der Urgeschichte, das heißt einer klassenlosen Gesellschaft. Deren Erfahrungen, welche im Unbewußten des Kollektivs ihr Depot haben, erzeugen in Durchdringung mit dem Neuen die Utopie, die in tausend 242
Konfigurationen des Lebens, von den dauernden Bauten bis zu den flüchtigen Moden, ihre Spur hinterlassen.« Solche Bilder indessen galten Benjamin für mehr als für Archetypen des kollektiven Unbewußten wie bei Jung: er verstand unter ihnen objektive Kristallisationen der geschichtlichen Bewegung und belegte sie mit dem Namen dialektische Bilder. Eine grandios improvisierte Theorie des Spielers erstellte deren Modell: sie sollten geschichtsphilosophisch die Phantasmagorie des neunzehnten Jahrhunderts als Figur der Hölle enträtseln. Jene ursprüngliche Schicht der Passagenarbeit, etwa von 1928, wurde dann von einer zweiten materialistischen überlagert: sei es, daß die Bestimmung des neunzehnten Jahrhunderts als Hölle angesichts des hereinbrechenden Dritten Reichs unhaltbar ward, sei es, daß der Gedanke an die Hölle in eine gänzlich veränderte politische Richtung drängte, als Benjamin von der strategischen Rolle der Haussmannschen Boulevarddurchbrüche Rechenschaft sich ablegte, und vor allem, als er auf eine verschollene, im Gefängnis entstandene Schrift von Auguste Blanqui, >L'eternite par les astres<, stieß, welche mit dem Akzent absoluter Verzweiflung Nietzsches Lehre von der ewigen Wiederkehr vorwegnimmt. Die zweite Phase des Passagenplans ist dokumentiert in dem 1935 geschriebenen Memorandum >Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts<. Es bezieht jeweils Schlüsselgestalten der Epoche auf Kategorien der Bilderwelt. Von Fourier und Daguerre, von Grandville und Louis Philippe, von Baudelaire und Haussmann sollte gehandelt werden, aber es ging um Themen wie Mode und nouveaute, Ausstellungswesen und Gußeisenkonstruktion, den Sammler, den Flaneur, die Prostitution. Von dem mit äußerster Erregung besetzten Bereich der Interpretation mag etwa eine Stelle über Grandville zeugen: »Die Weltausstellungen bauen das Universum der Waren auf. Grandvilles Phantasien übertragen den Warencharakter aufs Universum. Sie modernisieren es. Der Saturnring wird ein gußeiserner Balkon, auf dem die Saturnbewohner abends Luft schöpfen . . . - Die Mode schreibt das Ritual vor, nach dem der Fetisch verehrt sein will, Grandville dehnt ihren Anspruch auf die Gegenstände des alltäglichen Gebrauchs so gut wie auf den Kosmos aus. Indem er sie in ihren Extremen 243
verfolgt, deckt er ihre Natur auf. Sie steht im Widerstreit mit dem Organischen. Sie verkuppelt den lebendigen Leib der anorganischen Welt. An dem Lebenden nimmt sie die Rechte der Leiche wahr. Der Fetischismus, der dem sex appeal des Anorganischen unterliegt, ist ihr Lebensnerv. Der Kultus der Ware stellt ihn in seinen Dienst.« Überlegungen solchen Stils führten in das geplante Baudelairekapitel. Benjamin zweigte es von dem großen Entwurf ab, um ein kürzeres dreiteiliges Buch daraus zu machen; ein großes Stück erschien 1939-40 in der Zeitschrift für Sozialforschung als Aufsatz >Über einige Motive bei Baudelaire<. Er zählt zu den wenigen Texten, die er aus dem Passagenkomplex unter Dach und Fach brachte. Ein zweiter sind die Thesen >Über den Begriff der Geschichte<, welche gleichsam die erkenntnistheoretischen Erwägungen zusammenfassen, deren Entwicklung die des Passagenentwurfs begleitet hat. Von diesem liegen Tausende von Seiten vor, Materialstudien, die während der Okkupation in Paris versteckt waren. Das Ganze jedoch läßt sich kaum rekonstruieren. Benjamins Absicht war es, auf alle offenbare Auslegung zu verzichten und die Bedeutungen einzig durch schockhafte Montage des Materials hervortreten zu lassen. Philosophie sollte nicht bloß den Surrealismus einholen, sondern selber surrealistisch werden. Den Satz aus der Einbahnstraße, Zitate aus seinen Arbeiten seien wie Räuber am Wege, die hervorbrechen und dem Leser seine Überzeugungen abnehmen, faßte er wörtlich auf. Zur Krönung seines Antisubjektivismus sollte das Hauptwerk nur aus Zitaten bestehen. Nur spärlich finden sich Interpretationen notiert, die nicht im Baudelaire und den geschichtsphilosophischen Thesen aufgegangen wären, und kein Kanon besagt, wie das verwegene Unterfangen einer vom Argument gereinigten Philosophie etwa sich realisieren ließe, auch nur, wie die Zitate einigermaßen sinnvoll aneinanderzureihen wären. Die fragmentarische Philosophie blieb Fragment, Opfer vielleicht einer Methode, von der nicht entschieden ist, ob sie im Medium des Gedankens überhaupt sich einlösen läßt. Die Methode aber kann vom Gehalt nicht getrennt werden. Benjamins Ideal von Erkenntnis beschied sich nicht bei der Reproduktion dessen, was ohnehin ist. In der Ein244
schränkung des Umkreises möglicher Erkenntnis, dem Stolz der neueren Philosophie auf illusionslose Reife, witterte er die Sabotage am Glücksanspruch, die bloße Bekräftigung des endlos Gleichen: den Mythos selber. Gepaart aber ist das utopische Motiv mit dem antiromantischen. Unverführt blieb er von allen dem Scheine nach verwandten Versuchen - etwa dem Schelerschen -, aus natürlicher Vernunft Transzendenz zu ergreifen, als wäre der grenzensetzende Prozeß der Aufklärung widerruf bar, und es ließe auf vergangene theologisch überwölbte Philosophien unbekümmert sich rekurrieren. Darum verwehrt sein Denken seinem Ansatz nach sich selbst das »Gelingen« bruchloser Einstimmigkeit und macht das Fragmentarische zum Prinzip. Um zustande zu bringen, was ihm vorschwebte, wählte er die vollkommene Exterritorialität zur manifesten Überlieferung der Philosophie. Trotz aller Bildung gehen die Elemente ihrer approbierten Geschichte nur versprengt, unterirdisch, quer in sein Labyrinth ein. Das Inkommensurable beruht auf einem unmäßigen sich Überlassen an den Gegenstand. Indem der Gedanke gleichsam zu nah an die Sache herantritt, wird diese fremd wie jegliches Alltägliche unterm Mikroskop. Wollte man ihn, um der Absenz von System und geschlossenem Begründungszusammenhang willen, unter die Repräsentanten von Intuition oder Schau einreihen — und so ist er oft selbst von Freunden mißverstanden worden —, dann vergäße man das Beste. Nicht der Blick als solcher beansprucht unvermittelt das Absolute, aber die Weise des Blickens, die gesamte Optik ist verändert. Die Technik der Vergrößerung läßt das Erstarrte sich bewegen und das Bewegte innehalten. Seine Vorliebe für minimale oder schäbige Objekte wie Staub und Plüsch in der Passagenarbeit steht komplementär zu jener Technik, die von all dem angezogen wird, was durch die Maschen des konventionellen Begriffnetzes hindurchschlüpfte oder vom herrschenden Geist zu sehr verachtet ist, als daß er andere Spuren daran hinterlassen hätte als die des hastigen Urteils. Wie Hegel hofft der Dialektiker der Phantasie, die er als »Extrapolation im Kleinsten« definierte, die »Sache, wie sie an und für sich selber ist, zu betrachten«, also ohne Anerkennung der unauf hebbaren Schwelle zwischen Bewußtsein und Ding an 245
sich. Aber die Distanz solcher Betrachtung ist verrückt. Weil nicht sowohl, wie bei Hegel, Subjekt und Objekt als schließlich identisch entwickelt werden, sondern vielmehr die subjektive Intention als im Gegenstand erlöschende vorgestellt ist, gibt dies Denken mit Intentionen nicht sich zufrieden. Der Gedanke rückt der Sache auf den Leib, als wollte er in Tasten, Riechen, Schmecken sich verwandeln. Kraft solcher zweiten Sinnlichkeit hofft er, in die Goldadern einzudringen, die kein klassifikatorisches Verfahren erreicht, ohne doch darüber dem Zufall der blinden Anschauung sich zu überantworten. Die Herabsetzung der Distanz zum Gegenstand stiftet zugleich die Beziehung auf mögliche Praxis, die später dann Benjamins Denken leitet. Was die Erfahrung im dejä vu unerhellt und ohne Objektivität vorfindet, was Proust für die dichterische Rekonstruktion durch unwillkürliche Erinnerung sich versprach, wollte Benjamin einholen und zur Wahrheit erheben durch den Begriff. Diesen verpflichtet er, in jedem Augenblick selber zu leisten, was sonst dem begrifflosen Erfahren vorbehalten wird. Der Gedanke soll die Dichte der Erfahrung gewinnen und doch auf nichts von seiner Strenge verzichten. Die Utopie der Erkenntnis aber hat die Utopie zum Inhalt. Benjamin nannte sie die »Unwirklichkeit der Verzweiflung«. Philosophie verdichtet sich zur Erfahrung, daß ihr die Hoffnung zuteil werde. Diese jedoch erscheint einzig als gebrochene. Wenn Benjamin die Überbelichtung der Gegenstände veranstaltet um der verborgenen Konturen willen, die einmal im Stande der Versöhnung an ihnen offenbar werden sollen, dann tritt zugleich der Abgrund zwischen diesem und dem Dasein schroff hervor. Der Preis für die Hoffnung ist das Leben: »messianisch ist die Natur aus ihrer ewigen und totalen Vergängnis« und Glück, nach einem alles einsetzenden Fragment der Spätzeit, deren »eigener Rhythmus«. Darum ist die Mitte von Benjamins Philosophie die Idee der Rettung des Toten als der Restitution des entstellten Lebens durch die Vollendung seiner eigenen Verdinglichung bis hinab ins Anorganische. »Nur um der Hoffnungslosen willen ist uns die Hoffnung gegeben«, schließt die Abhandlung über die Wahlverwandtschaften, Im Paradoxon der Möglichkeit des Unmöglichen hat bei ihm ein 246
letztes Mal Mystik und Aufklärung sich zusammengefunden. Er hat des Traumes sich entschlagen, ohne ihn zu verraten und sich zum Komplizen dessen zu machen, worin stets die Philosophen sich einig waren: daß es nicht sein soll. Der Charakter des Rätsel- und Vexierbildes, den er selbst den Aphorismen der Einbahnstraße verlieh und der alles markiert, was er überhaupt schrieb, hat in jener Paradoxie seinen Grund. Sie mit den einzigen Mitteln, über welche Philosophie verfügt, den Begriffen, doch noch auseinanderzulegen, ist das Eine, um dessentwillen er ins Mannigfaltige rückhaltlos sich versenkte.
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Aufzeichnungen zu Kafka
Für Gretel Si Dieu le Père a créé les choses en les nommant, c'est en leur ôtant leur nom, ou en leur donnant un autre que l'artiste les recrée. Marcel Proust Die Beliebtheit Kafkas, das Behagen am Unbehaglichen, das ihn zum Auskunftsbüro der je nachdem ewigen oder heutigen Situation des Menschen erniedrigt und mit quickem Bescheidwissen eben den Skandal wegräumt, auf den das Werk angelegt ist, weckt Widerwillen dagegen, mitzutun und den kurrenten Meinungen eine sei's auch abweichende anzureihen. Aber gerade der falsche Ruhm, die fatale Variante des Vergessens, das Kafka bitter ernst sich gewünscht hätte, zwingt zur Insistenz vor dem Rätsel. Weniges von dem, was über ihn geschrieben ward, zählt; das meiste ist Existentialismus. Er wird eingeordnet in eine etablierte Denkrichtung, anstatt daß man bei dem beharrte, was die Einordnung erschwert und eben darum die Deutung erheischt. Als ob es der Sisyphusarbeit Kafkas bedurft hätte, als ob es die Maelstrom-Gewalt seines Werkes erklärte, wenn er nichts anderes sagte, als daß dem Menschen das Heil verloren, der Weg zum Absoluten verstellt, daß sein Leben dunkel, verworren oder, wie man das heute so nennt, ins Nichts gehalten sei, und daß ihm nichts bleibe, als bescheiden und ohne viel Hoffnung die nächsten Pflichten zu besorgen und einer Gemeinschaft sich einzufügen, die genau dies erwartet und die Kafka nicht hätte vor den Kopf zu stoßen brauchen, wenn er darin mit ihr eines Sinnes gewesen wäre. Werden Deutungen dieses Typus damit erläutert, daß Kafka mit so dürren Worten es freilich nicht ausgesprochen, sondern als Künstler der Realsymbolik sich befleißigt habe, so meldet das zwar das Ungenügen an den 248
Formeln an, aber nicht viel mehr. Denn eine Darstellung ist entweder realistisch oder symbolisch; gleichgültig wie dicht gefügt die Symbole auch sein mögen, ihr Eigengewicht an Realität tut dem Symbolcharakter keinen Abtrag. Goethes >Pandora< steht gewiß an sinnlicher Gestaltung nicht hinter einem Roman von Kafka zurück, und trotzdem kann an der Symbolik des Fragments kein Zweifel sein, mag auch die Kraft der Symbole darin, etwa der Elpore, welche Hoffnung verkörpert, weiter reichen als das unmittelbar Vermeinte. Wenn der Symbolbegriff in der Ästhetik, mit dem es überhaupt nicht recht geheuer ist, irgend etwas Triftiges besagen soll, so einzig, daß die einzelnen Momente des Kunstwerks aus der Kraft ihres Zusammenhangs über sich hinaus weisen: daß ihre Totalität bruchlos übergehe in einen Sinn. Nichts aber paßt schlechter auf Kafka. Selbst in Gebilden wie jenem Goetheschen, das mit allegorischen Momenten so tiefsinnig spielt, geben doch diese, vermöge des Zusammenhangs, in dem sie stehen, ihre Bedeutung ab an den Schwung des Ganzen. Bei Kafka aber ist alles so hart, bestimmt, abgesetzt wie möglich; wie in Abenteuerromanen, nach jener Maxime, die James Fenimore Cooper dem >Roten Freibeuter < voranstellte: »Das wahre Goldene Zeitalter der Literatur kann nicht erscheinen, bis die Werke in ihrem Druck genau sind wie ein Schiffsbuch — in ihrem Inhalt körnig wie ein Wachtrapport.« Nirgends verdämmert bei Kafka die Aura der unendlichen Idee, nirgends öffnet sich der Horizont. Jeder Satz steht buchstäblich, und jeder bedeutet. Beides ist nicht, wie das Symbol es möchte, verschmolzen, sondern klafft auseinander, und aus dem Abgrund dazwischen blendet der grelle Strahl der Faszination. Kafkas Prosa hält es, trotz dem Protest seines Freundes, auch darin mit den Verfemten, daß sie eher der Allegorie nacheifert als dem Symbol. Benjamin hat sie mit Grund als Parabel definiert. Sie drückt sich nicht aus durch den Ausdruck sondern durch dessen Verweigerung, durch ein Abbrechen. Es ist eine Parabolik, zu der der Schlüssel entwendet ward; selbst der, welcher eben dies zum Schlüssel zu machen suchte, würde in die Irre geführt, indem er die abstrakte These von Kafkas Werk, die Dunkelheit des Daseins, mit seinem Gehalt verwechselte. Jeder Satz spricht: deute mich, und keiner will 249
es dulden. Jeder erzwingt mit der Reaktion »So ist es« die Frage: woher kenne ich das; das déjà vu wird in Permanenz erklärt. Durch die Gewalt, mit der Kafka Deutung gebietet, zieht er die ästhetische Distanz ein. Er mutet dem angeblich interesselosen Betrachter von einst verzweifelte Anstrengung zu, springt ihn an und suggeriert ihm, daß weit mehr als sein geistiges Gleichgewicht davon abhänge, ob er richtig versteht, Leben oder Tod. Unter den Voraussetzungen Kafkas ist nicht die geringfügigste, daß das kontemplative Verhältnis von Text und Leser von Grund auf gestört ist. Seine Texte sind darauf angelegt, daß nicht zwischen ihnen und ihrem Opfer ein konstanter Abstand bleibt, sondern daß sie seine Affekte derart aufrühren, daß er fürchten muß, das Erzählte käme auf ihn los wie Lokomotiven aufs Publikum in der jüngsten, dreidimensionalen Filmtechnik. Solche aggressive physische Nähe unterbindet die Gewohnheit des Lesers, mit Figuren der Romane sich zu identifizieren. Um jenes Prinzips willen kann der Surrealismus mit Recht ihn für sich in Anspruch nehmen. Er ist die Schrift gewordene Turandot. Wer es merkt und nicht vorzieht fortzulaufen, muß seinen Kopf hinhalten oder vielmehr versuchen, mit dem Kopf die Wand einzurennen, auf die Gefahr hin, daß es ihm nicht besser ergeht als den Vorgängern. Anstatt abzuschrecken, steigert ihr Los, wie im Märchen, den Anreiz. Solange das Wort nicht gefunden ist, bleibt der Leser schuldig. 2
Mehr als leicht für einen anderen gilt für Kafka, daß zwar nicht verum, wohl aber falsum index sui sei. Zur Verbreitung des Falschen jedoch hat er selbst einiges beigetragen. Den beiden großen Romanen >Schloß< und >Prozeß< scheinen, wenn schon nicht im Detail, so jedenfalls im großen Philosopheme auf die Stirn geschrieben, die trotz ihres gedanklichen Gewichts den Titel Betrachtungen über Sünde, Leid, Hoffnung und den wahren Weg< keineswegs Lügen strafen, den man einem theoretischen Konvolut Kafkas verliehen hat. Immerhin ist dessen Inhalt nicht kanonisch für 250
die Dichtung. Der Künstler ist nicht gehalten, das eigene Werk zu verstehen, und man hat besonderen Grund zum Zweifel, ob Kafka es vermochte. Jedenfalls reichen seine Aphorismen kaum an die enigmatischsten Stücke und Episoden heran, wie die >Sorge des Hausvaters < oder den >Kübelreiter<. Kafkas Gebilde hüteten sich vor dem mörderischen Künstlerirrtum, die Philosophie, die der Autor ins Gebilde pumpt, sei dessen metaphysischer Gehalt. Wäre sie es, das Werk wäre totgeboren: es erschöpfte sich in dem, was es sagt, und entfaltete sich nicht in der Zeit. Vorm Kurzschluß auf die allzu frühe, vom Werk schon gemeinte Bedeutung vermöchte als erste Regel zu schützen: alles wörtlich nehmen, nichts durch Begriffe von oben her zudecken. Die Autorität Kafkas ist die von Texten. Nur die Treue zum Buchstaben, nicht das orientierte Verständnis wird einmal helfen. In einer Dichtung, die unablässig sich verdunkelt und zurücknimmt, wiegt jede bestimmte Aussage die Generalklausel der Unbestimmtheit auf. Kafka hat diese Regel zu sabotieren gesucht, indem er an einer Stelle verkünden läßt, die Mitteilungen aus dem Schloß wären nicht »wortwörtlich« zu nehmen. Gleichviel, will man nicht jeden Boden unter den Füßen verlieren, so muß man festhalten, daß am Anfang des Prozesses steht, jemand müsse Josef K. verleumdet haben, »denn ohne daß er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet«. Man darf auch nicht in den Wind schlagen, daß K. am Anfang des Schlosses fragt: »In welches Schloß habe ich mich verirrt? Ist denn hier ein Schloß?«, also unmöglich berufen sein kann. Auch ist ihm nichts von jenem Grafen West-west bekannt, dessen Name nur einmal genannt, dessen allmählich weniger und dann gar nicht mehr gedacht wird, so wie, nach einer Parabel Kafkas, Prometheus eins wird mit dem Felsen, an den er geschmiedet ist, und dann vergessen. Das Prinzip der Wörtlichkeit, wohl Erinnerung an die Thora-Exegese der jüdischen Tradition, findet aber seine Stütze an manchen Kaf kaschen Texten. Zuweilen lösen die Worte, insbesondere Metaphern, sich los und gewinnen eigene Existenz. »Wie ein Hund« stirbt Josef K., und Kafka teilt die Forschungen eines Hundes mit. Gelegentlich wird die Wörtlichkeit bis zum Assoziationswitz getrieben. So in der Geschichte der Familie des Barnabas im 251
Schloß, wo von dem Beamten Sortini gesagt ist, er sei während des Festes des Feuerwehrvereins »bei der Spritze« geblieben. Die hemdsärmelige Redensart für die Pflichttreue wird ernst genommen, die Respektsperson bleibt bei der Feuerspritze, und zugleich wird wie in Fehlleistungen auf die grobe Begierde angespielt, die den Beamten den verhängnisvollen Brief an Amalia schreiben läßt - Kafka, Verächter der Psychologie, ist überreich an psychologischen Einsichten, gleich der von der Beziehung zwischen triebhaftem und Zwangscharakter. - Das Prinzip der Wörtlichkeit, ohne dessen Maß das Vieldeutige ins Gleichgültige zerfließen müßte, verbietet den geläufigsten Versuch, in der Auffassung Kafkas den Anspruch auf Tiefe mit Unverbindlichkeit zu vereinen. Mit Recht hat Cocteau darauf aufmerksam gemacht, daß die Einführung von Befremdendem als Traum stets den Stachel entfernt. Kafka selber hat zur Verhinderung solchen Mißbrauchs den Prozeß an einer entscheidenden Stelle durch einen Traum unterbrochen — das wahrhaft ungeheure Stück publizierte er im >Landarzt< — und durch den Kontrast dieses Traums alles andere als Wirklichkeit bekräftigt, wäre es auch jene aus den Träumen geschöpfte, an welche zuweilen in >Schloß< und >Amerika< so qualvoll ausgesponnene Partien gemahnen, daß der Leser fürchten muß, nicht wieder auftauchen zu können. Unter den Schockmomenten ist nicht das schwächste, daß er die Träume ä la lettre nimmt. Weil alles ausgeschieden ist, was nicht dem Traum und seiner prälogischen Logik gliche, ist der Traum selber ausgeschieden. Nicht das Ungeheuerliche schockiert, sondern dessen Selbstverständlichkeit. Kaum hat der Landvermesser aus seinem Zimmer im Wirtshaus die lästigen Gehilfen vertrieben, so kommen sie durchs Fenster wieder herein, ohne daß der Roman, über die bloße Mitteilung hinaus, sich auch nur mit einem Wort darüber aufhielte ; der Held ist zu müde, um sie nochmals zu vertreiben. So aber wie Kafka zu dem Traum sich verhält, soll der Leser zu Kafka sich verhalten. Nämlich auf den inkommensurablen, undurchsichtigen Details, den blinden Stellen beharren. Daß Lenis Finger durch eine Schwimmhaut verbunden sind oder daß die Exekutoren wie Tenöre aussehen, ist wichtiger als die Exkurse übers Gesetz. Das betrifft zugleich 252
Darstellungsweise und Sprache. Oft setzen Gesten Kontrapunkte zu den Worten: das Vorsprachliche, den Intentionen Entzogene fährt der Vieldeutigkeit in die Parade, die wie eine Krankheit alles Bedeuten bei Kafka angefressen hat. »>Den Brief<, begann K., >habe ich gelesen. Kennst du den Inhalt?< >Nein<, sagte Barnabas, sein Blick schien mehr zu sagen als seine Worte. Vielleicht täuschte sich K. hier im Guten, wie bei den Bauern im Bösen, aber das Wohltuende seiner Gegenwart blieb.« Oder: »>Nun<, sagte sie versöhnlich, >es war Grund zum Lachen. Sie fragten, ob ich Klamm kenne, und ich bin doch< - hier richtete sie sich unwillkürlich ein wenig auf, und wieder ging ihr sieghafter, mit dem, was gesprochen wurde, gar nicht zusammenhängender Blick über K. hin - >ich bin doch seine Geliebte. <« Oder, in der Szene der Trennung Friedas vom Landvermesser: »Frieda hatte ihren Kopf an K.s Schulter gelegt, die Arme umeinander geschlungen, gingen sie schweigend auf und ab. > Wären wir doch<, sagte dann Frieda langsam, ruhig, fast behaglich, so als wisse sie, daß ihr nur eine ganz kleine Frist der Ruhe an K.s Schulter gewährt sei, diese aber wolle sie bis zum letzten genießen, >wären wir doch gleich noch in jener Nacht ausgewandert, wir könnten irgendwo in Sicherheit sein, immer beisammen, deine Hand immer nahe genug, sie zu fassen; wie brauche ich deine Nähe, wie bin ich, seitdem ich dich kenne, ohne deine Nähe verlassen, deine Nähe ist, glaube mir, der einzige Traum, den ich träume, keinen andern.<« Solche Gesten sind die Spuren der Erfahrungen, die vom Bedeuten zugedeckt werden. Der jüngste Stand einer Sprache, die denen im Munde quillt, die sie sprechen; die zweite babylonische Verwirrung, der ohnehin Kafkas ernüchterte Diktion ohne zu ermüden widersteht, nötigt ihn dazu, das geschichtliche Verhältnis von Begriff und Gestus spiegelbildlich umzukehren. Der Gestus ist das »So ist es«; die Sprache, deren Konfiguration die Wahrheit sein soll, als zerbrochene die Unwahrheit. »>Auch sollten Sie überhaupt im Reden zurückhaltender sein, fast alles, was Sie vorhin gesagt haben, hätte man auch, wenn Sie nur ein paar Worte gesagt hätten, Ihrem Verhalten entnehmen können, außerdem war es nichts für Sie übermäßig Günstiges.<« Den in den Gesten sedimentierten Erfahrungen wird einmal 253
die Deutung folgen, in ihrer Mimesis ein vom gesunden Menschenverstand verdrängtes Allgemeines wiedererkennen müssen. »Durch das offene Fenster erblickte man wieder die alte Frau, die mit wahrhaft greisenhafter Neugierde zu dem gegenüberliegenden Fenster getreten war, um auch weiterhin alles zu sehen«, heißt es in der Verhaftungsszene am Anfang des Prozesses. Wer hätte nicht schon, in einer Pension, auf die gleiche, genau die gleiche Weise von Nachbarn sich beobachtet gefühlt, und wem wäre nicht daran samt allem Abstoßenden, Altgewohnten, Unverständlichen und Unvermeidlichen das Bild des Schicksals aufgeblitzt. Der aber solche Rebusse aufzulösen vermöchte, wüßte mehr von Kafka, als wer in ihm die Ontologie illustriert findet. 3
Nahe liegt der Einwand, dem dürfe die Deutung so wenig sich anvertrauen wie irgendeinem anderen Element von Kafkas verstörtem Kosmos. Jene Erfahrungen seien nichts als zufällig-private, psychologische Projektionen. Wer glaubt, die Nachbarn beobachteten ihn aus Fenstern, oder aus dem Telefon töne dessen eigene singende Stimme - und Kafkas Schriften wimmeln von solchen Aussagen -, der leide an Beziehungs- und Verfolgungswahn, und wer daraus eine Art System mache, sei von der Paranoia angesteckt; ihm taugten Kafkas Werke einzig dazu, die eigene Beschädigung zu rationalisieren. Der Einwand ist zu widerlegen bloß durch Reflexion aufs Verhältnis von Kafkas Werk selber zu jener Zone. Sein Wort »Zum letztenmal Psychologie«, seine Bemerkung, alles von ihm ließe psychoanalytisch sich interpretieren, nur bedürfte diese Interpretation dann weiterer ad indefinitum - solche Verdikte sollten so wenig wie der geweihte Hochmut, die jüngste ideologische Abwehr des Materialismus, zur These verführen, Kafka habe nichts mit Freud zu tun. Schlecht wäre es um die Tiefe bestellt, die man ihm nachrühmt, wenn in ihr verleugnet würde, was drunten west. Die Ansicht von der Hierarchie bei Kafka und Freud ist kaum zu unterscheiden. Eine Stelle aus >Totem und Tabu< lautet: »Das Tabu eines Königs ist zu stark für seinen 254
Untertan, weil die soziale Differenz zwischen ihnen zu groß ist. Aber ein Minister kann etwa den unschädlichen Vermittler zwischen ihnen machen. Das heißt aus der Sprache des Tabus in die normale Psychologie versetzt: der Untertan, der die großartige Versuchung scheut, welche ihm die Berührung mit dem König bereitet, kann etwa den Umgang des Beamten vertragen, den er nicht so sehr zu beneiden braucht und dessen Stellung ihm vielleicht selbst erreichbar erscheint. Der Minister aber kann seinen Neid gegen den König durch die Erwägung der Macht ermäßigen, die ihm selbst eingeräumt ist. So sind geringere Differenzen der in Versuchung führenden Zauberkraft weniger zu fürchten als besonders große.« Im Prozeß sagt ein Hochgestellter: »Schon den Anblick des dritten Türhüters kann nicht einmal ich mehr ertragen«, und Analoges kommt im Schloß vor. Licht fällt von hier zugleich auf einen entscheidenden Komplex bei Proust, den Snobismus als den Willen, durch Aufnahme unter die Eingeweihten die Angst vorm Tabu zu beschwichtigen: »denn nicht Klamms Nähe an sich war ihm das Erstrebenswerte, sondern daß er, K., nur er, kein anderer mit seinen, mit keines andern Wünschen an Klamm herankam, nicht um bei ihm zu ruhen, sondern um an ihm vorbeizukommen, weiter, ins Schloß«. Der ebenfalls für die Sphäre des Tabus zuständige, von Freud zitierte Ausdruck délier de toucher trifft genau den sexuellen Zauber, der bei Kafka Menschen, zumal niedrige mit höheren, zusammentreibt. Selbst auf die von Freud geargwöhnte »Versuchung« - die des Mords an der Vaterfigur - wird bei Kafka angespielt. Am Ende des Kapitels aus dem Schloß, wo die Wirtin dem Landvermesser auseinandersetzt, es sei unbedingt unmöglich für ihn, Herrn Klamm selbst zu sprechen, behält er das letzte Wort: »>Was fürchten Sie also? Sie fürchten doch nicht etwa für Klamm? < Die Wirtin sah ihm schweigend nach, wie er die Treppe hinabeilte und die Gehilfen ihm folgten.« Man wird dem Verhältnis zwischen dem Erforscher des Unbewußten und dem Paraboliker der Undurchdringlichkeit am nächsten kommen, wenn man sich daran erinnert, daß Freud eine archetypische Szene wie die Ermordung des Urhordenvaters, eine vorzeitliche Erzählung wie die von Moses, oder die Beobachtung des Bei255
schlafs der Eltern in der frühen Kindheit nicht als Verdichtungen der Phantasie, sondern weithin als reale Begebenheiten auffaßte. In solchen Exzentrizitäten folgt Kafka Freud, mit eulenspiegelhafter Treue, bis zum Absurden. Er entreißt die Psychoanalyse der Psychologie. Diese selbst bereits ist, indem sie das Individuum aus amorphen und diffusen Trieben, das Ich aus dem Es herleitet, in gewissem Sinn dem spezifisch Psychologischen entgegen. Die Person wird aus einem Substantiellen zum bloßen Organisationsprinzip somatischer Impulse. Bei Freud wie bei Kafka ist die Geltung des Beseelten ausgeschaltet; ja Kafka hat eigentlich von Anbeginn kaum Notiz davon genommen. Er unterscheidet von dem viel Älteren, naturwissenschaftlich Gesinnten sich nicht durch zartere Spiritualität, sondern indem er ihn in der Skepsis gegen das Ich womöglich noch überbietet. Dazu taugt die Kafkasche Buchstäblichkeit. Wie in einer Versuchsanordnung studiert er, was geschähe, wenn die Befunde der Psychoanalyse allesamt nicht metaphorisch und mental, sondern leibhaft zuträfen. Er pflichtet ihr bei, soweit sie Kultur und bürgerliche Individuation ihres Scheins überführt; er sprengt sie, indem er sie genauer beim Wort faßt als sie sich selber. Freud zufolge widmet die Psychoanalyse ihre Aufmerksamkeit dem »Abhub der Erscheinungswelt«. Er denkt dabei an Psychisches, an Fehlleistungen, Träume und neurotische Symptome. Kafka versündigt sich gegen eine althergebrachte Spielregel, indem er Kunst aus nichts anderem fertigt als aus dem Kehricht der Realität. Das Bild der heraufziehenden Gesellschaft entwirft er nicht unmittelbar - denn Askese herrscht bei ihm wie in aller großen Kunst gegenüber der Zukunft -, sondern montiert es aus Abfallsprodukten, welche das Neue, das sich bildet, aus der vergehenden Gegenwart ausscheidet. Anstatt die Neurose zu heilen, sucht er in ihr selbst die heilende Kraft, die der Erkenntnis: die Wunden, welche die Gesellschaft dem Einzelnen einbrennt, werden von diesem als Chiffren der gesellschaftlichen Unwahrheit, als Negativ det Wahrheit gelesen. Seine Gewalt ist eine des Abbaus. Er reißt die beschwichtigende Fassade vorm Unmaß des Leidens nieder, der die rationale Kontrolle mehr stets sich einfügt. Im Abbau - nie war das Wort populärer als in Kafkas Todesjahr - hält er nicht, wie die Psychologie, 256
beim Subjekt inne, sondern dringt auf das Stoffliche, bloß Daseiende durch, das im ungeminderten Sturz des nachgebenden, aller Selbstbehauptung sich entäußernden Bewußtseins auf dem subjektiven Grunde sich darbietet. Die Flucht durch den Menschen hindurch ins Nichtmenschliche das ist Kafkas epische Bahn. Dies Fallen des Ingeniums, die krampfhafte Widerstandslosigkeit, die mit Kafkas Moral so ganz übereinkommt, wird paradox belohnt durch die zwingende Autorität ihres Ausdrucks. Der zum Zerreißen angespannten Entspannung fällt, was Metapher, Bedeutung, Geist war, unmittelbar, intentionslos zu, als »spiritueller Leib«. Es ist, als würde die philosophische Lehre von der kategorialen Anschauung, die zur gleichen Zeit sich ausbreitete, als Kafka schrieb, in der Hölle honoriert. Die fensterlose Monade bewährt sich als Laterna magica, Mutter aller Bilder wie bei Proust und Joyce. Worüber Individuation sich erhebt, was sie verdeckt und was sie selber aus sich hervortrieb, ist allen gemein, aber nirgends als in der Verlassenheit und der Versenkung, die nicht um sich blickt, läßt es sich greifen. Wer nachvollziehen will, wie es zu den abnormen Erfahrungen kommt, die bei Kafka die Norm umschreiben, muß einmal in einer großen Stadt einen Unfall erlitten haben: ungezählte Zeugen melden sich und erklären sich als Bekannte, als hätte das ganze Gemeinwesen sich versammelt, um dem Augenblick beizuwohnen, da der mächtige Autobus in die schwache Autodroschke hineinfuhr. Das permanente dejä vu ist das dejä vu aller. Daher der Erfolg Kafkas, der zum Verrat wird erst, wenn das Allgemeine aus seinen Schriften abdestilliert wird und die Anstrengung der tödlichen Verschlossenheit erspart. Vielleicht ist das verborgene Ziel seiner Dichtung überhaupt die Verfügbarkeit, Technifizierung, Kollektivierung des dejä vu. Das Beste, das man vergißt, wird erinnert und in die Flasche gebannt wie die cumäische Sibylle. Nur verwandelt es sich dabei ins Schlimmste: »Sterben will ich«, und das wird ihm versagt. Die verewigte Vergängnis ereilt ein Fluch.
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Verewigte Gesten bei Kafka sind ein erstarrt Momentanes. Der Schock ist wie die surrealistische Veranstaltung dessen, den alte Photographien dem Betrachter erteilen. Eine solche, undeutlich, fast verblichen, spielt im Schloß ihre Rolle. Die Wirtin, die sie als Überbleibsel ihrer Berührung mit Klamm -und dadurch mit der Hierarchie - aufbewahrt, zeigt sie K., der nur mühsam etwas darauf erkennen kann. Vorgestrig grelle Tableaux, der Zirkussphäre entstammend, zu der Kafka mit der Avantgarde seiner Generation Affinität fühlte, sind vielfach in sein Werk eingelassen; vielleicht hätte alles Tableau werden sollen, und einzig ein Überschuß an Intention hat es durch lange Dialoge verhindert. Was auf der Spitze des Augenblicks balanciert wie ein Pferd auf den Hinterbeinen, wird geknipst, als solle die Pose für immer währen. Das grausigste Exempel enthält wohl der Prozeß: Josef K. öffnet die Rumpelkammer, in der am Tag zuvor seine Wächter geprügelt wurden, um die Szene getreu, auch mit der Anrufung seiner selbst, wiederholt zu finden. »Sofort warf K. die Tür zu und schlug noch mit den Fäusten gegen sie, als sei sie dann fester verschlossen.« Das ist die Gebärde von Kafkas eigenem Werk, das, wie manchmal schon das Poes, von den äußersten Gesichten sich abwendet, als könnte kein Auge den Anblick überleben. In diesem durchdringen sich das Immergleiche und das Ephemere. Stets wieder malt Titorelli jenes abgestandene Genrebild, die Heidelandschaft. Gleichheit oder intrigierende Ähnlichkeit einer Mehrzahl rechnet zu den hartnäckigsten Motiven Kafkas; alle möglichen Halbgeschöpfe treten paarweise auf, oftmals mit der Signatur des Kindischen und Albernen, oszillierend zwischen Gutmütigkeit und Grausamkeit wie Wilde aus Kinderbüchern. So schwer ist den Menschen die Individuation geworden, und so schwankend blieb sie bis zum heutigen Tag, daß sie tödlich erschrecken, wenn ihr Schleier um ein weniges sich hebt. Proust wußte von dem leisen Unbehagen, das den überrieselt, der auf seine Ähnlichkeit mit einem ihm fremden Verwandten aufmerksam gemacht wird. Bei Kafka ist es zur Panik gesteigert. Das Reich des dejä vu wird von Doppelgängern bevölkert, Wiederkehrern, Po-
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jatzen, chassidischen Tänzern, Knaben, die den Lehrer nachmachen und plötzlich uralt aussehen, archaisch; einmal zweifelt der Landvermesser, ob seine Gehilfen ganz am Leben sind. Zugleich aber Abdrücke des Heraufziehenden, Menschen, die im Fließbandverfahren hergestellt sind, mechanisch reproduzierte Exemplare, Huxleysche Epsilons. Der gesellschaftliche Ursprung des Individuums enthüllt sich am Ende als die Macht von dessen Vernichtung. Kafkas Werk ist ein Versuch, diese zu absorbieren. Nichts Irres wie bei dem Erzähler, dem er Entscheidendes absah, Robert Walser - ist in seiner Prosa, jeden Satz hat der seiner selbst mächtige Geist geprägt, aber jeden Satz hat er auch zuvor der Zone des Wahnsinns entrissen, in die wohl im Zeitalter der universalen Verblendung, welche der gesunde Menschenverstand bloß befestigt, jegliche Erkenntnis sich getrauen muß, um eine zu werden. Das hermetische Prinzip hat unter anderem die Funktion einer Schutzmaßnahme: den andrängenden Wahn draußen zu halten. Das heißt aber: die eigene Kollektivierung. Das Werk, das die Individuation zerrüttet, will um keinen Preis nachgeahmt werden: darum wohl ordnete er an, es zu vernichten. Wohin es sich begab, dort soll kein Fremdenverkehr aufblühen; wer aber so sich gebärdete, ohne dort gewesen zu sein, verfiele der puren Unverschämtheit. Er möchte den Reiz und die Gewalt der Verfremdung ohne Risiko einheimsen. Ohnmächtige Manier wäre die Folge. Karl Kraus, zu gewissem Maß auch Schönberg, haben darin ähnlich reagiert wie Kafka. Solche Unnachahmbarkeit affiziert aber auch die Lage des Kritikers. Seine Position Kafka gegenüber ist nicht mehr zu beneiden als die des Nachfolgers: sie wäre vorweg Apologie der Welt. Nicht daß es an Kafkas Werk nichts zu kritisieren gäbe. Unter den Mängeln, die in den großen Romanen obenauf liegen, ist der empfindlichste die Monotonie. Die Darstellung des Vieldeutigen, Ungewissen, Versperrten wird endlos wiederholt, oft auf Kosten der überall angestrebten Anschaulichkeit. Die schlechte Unendlichkeit des Dargestellten teilt sich dem Kunstwerk mit. Wohl mag in diesem Mangel einer des Gehalts zutage kommen, ein Übergewicht der abstrakten Idee, die selber der Mythos ist, den Kafka befehdet. Die Gestaltung will das Unsichere nochmals unsicher 259
machen, aber provoziert die Frage: wozu die Anstrengung? Wenn ohnehin alles fraglich ist, warum dann nicht ans gegebene Minimum sich halten. Kafka würde darauf erwidern, gerade zur hoffnungslosen Anstrengung forderte er auf, ähnlich wie Kierkegaard durch Weitschweifigkeit den Leser verärgern und damit aus der ästhetischen Kontemplation aufscheuchen wollte. Erwägungen über Recht und Unrecht solcher literarischen Taktik sind aber darum so fruchtlos, weil Kritik sich immer nur auf das an einem Werk beziehen kann, worin es Muster sein will; wo es spricht: so wie ich bin, so soll es sein. Genau dieser Anspruch wird von dem ungetrösteten So ist es Kafkas emphatisch fortgewiesen. Trotzdem hat die Gewalt der Bilder, die er beschwört, ihre Isolierschicht zuweilen zerrissen. Einige stellen die Selbstbesinnung des Lesers, vom Autor zu schweigen, auf eine harte Probe: Strafkolonie und Verwandlung, Berichte, wie sie erst durch die von Bettelheim, Kogon und Rousset eingeholt wurden, etwa wie Aufnahmen der von Bomben zerstörten Städte aus der Vogelperspektive den Kubismus durch die Verwirklichung dessen, worin er die Wirklichkeit aufgekündigt hatte, gleichsam versöhnten. Kennt Kafkas Werk Hoffnung, dann eher in jenen Extremen als in den milderen Phasen: im Vermögen, noch dem Äußersten standzuhalten, indem es Sprache wird. Sind es auch diese Werke, welche den Schlüssel zur Deutung bieten? Fast wäre es zu vermuten. In der >Verwandlung < läßt sich die Bahn der Erfahrung an der Wörtlichkeit rekonstruieren, als Verlängerung der Linien. »Diese Reisenden sind wie Wanzen«, heißt die Redensart, die Kafka aufgegriffen haben muß, aufgespießt wie ein Insekt. Wanzen, nicht wie die Wanzen. Was wird aus einem Menschen, der eine Wanze ist, so groß wie ein Mensch? So groß aber müßten einem Kind die Erwachsenen aussehen und so verschoben, mit riesigen, zertretenden Beinen und fernen, winzigen Köpfen, wenn der kindliche Blick des Schreckens ganz isoliert, festgebannt würde; mit schräger Kamera läßt sich das photographieren. Ein ganzes Leben reicht bei Kafka nicht aus, um ins nächste Dorf zu kommen; und das Schiff des Heizers, das Wirtshaus des Landvermessers sind von so unmäßigen Dimensionen, wie nur in verschollener Frühe dem Menschen das von Men260
sehen Gemachte dünkt. Der so blicken will, muß sich ins Kind verwandeln und vieles vergessen. Er erkennt den Vater wieder als den Oger, den er immer schon in winzigen Anzeichen gefürchtet hat, der Ekel vor Käserinden erweist sich als die schmähliche vormenschliche Begierde nach ihnen. Sichtbar umdunstet die Zimmerherren, als ihre Emanation, der Horror, der vordem unmerklich fast in dem Wort mitschwang. Die schriftstellerische Technik, die durch Assoziation an Worte sich heftet, wie die Proustische der unwillkürlichen Erinnerung an Sinnliches, bewirkt deren Gegenteil: anstelle des Eingedenkens ans Menschliche die Probe aufs Exempel der Entmenschlichung. Ihr Druck nötigt die Subjekte zu einer gleichsam biologischen Rückbildung, wie sie den Kafkaschen Tierparabeln den Boden bereitet. Der Augenblick des Einstands aber, auf den alles bei ihm abzielt, ist der, da die Menschen dessen innewerden, daß sie kein Selbst - daß sie selbst Dinge sind. Die langen und ermüdenden bilderlosen Partien verfolgen, seit dem Gespräch mit dem Vater im >Urteil<, den Zweck, den Menschen zu demonstrieren, was kein Bild vermöchte, ihre Unidentität, das Komplement ihrer kopienhaften Ähnlichkeit untereinander. Die minderen Beweggründe, die dem Landvermesser von der Wirtin und dann auch von Frieda schlüssig nachgewiesen werden, sind ihm fremd - den späteren psychoanalytischen Begriff des Ichfremden hat Kafka großartig antizipiert. Aber der Landvermesser gibt jene Motive zu. Sein individueller und sein Sozialcharakter klaffen auseinander wie bei Chaplins Monsieur Verdoux; Kafkas hermetische Protokolle enthalten die soziale Genese der Schizophrenie. 5 Trist und ramponiert ist die gesamte Bilderwelt Kafkas, auch dort, wo sie hoch hinaus will, im >Naturtheater von Oklahoma< - als hätte er die Wanderungen von Arbeitern aus diesem Staat vorausgesehen - oder in der Sorge des Hausvaters ; der Schatz der Blitzlichtaufnahmen kreidig und mongoloid wie eine kleinbürgerliche Hochzeit Henri Rousseaus; der Geruch der von ungelüfteten Betten, die Farbe das Rot 261
von Matratzen, deren Überzüge abhanden kamen; die Angst, die Kafka hervorruft, die vorm Erbrechen. Und doch ist das meiste in seinem Werk Reaktion auf grenzenlose Macht. Benjamin hat diese Macht, die wütender Patriarchen, parasitär genannt: sie zehrt von dem Leben, auf dem sie lastet. Aber das parasitäre Moment ist eigentümlich verschoben. Gregor Samsa, nicht sein Vater wird zur Wanze. Nicht die Mächte, sondern die ohnmächtigen Helden erscheinen überflüssig, keiner leistet gesellschaftlich nützliche Arbeit; selbst daß der angeklagte Bankprokurist Josef K., vom Prozeß präokkupiert, nichts Rechtes zustande bringt, wird verbucht. Sie kriechen eigentlich zwischen Requisiten umher, die längst amortisiert sind und ihnen ihr Dasein nur als Almosen gewähren, indem sie über die eigene Lebensdauer hinaus fortexistieren. Die Verschiebung ist der ideologischen Gewohnheit nachgebildet, welche die Reproduktion des Lebens zum Gnadenakt der Verfügenden, der »Arbeitgeber« verklärt. Sie beschreibt ein Ganzes, in dem die überzählig werden, die es umklammert und durch die es sich erhält. Aber darin erschöpft das Schäbige bei Kafka sich nicht. Es ist das Kryptogramm der auf Hochglanz polierten kapitalistischen Spätphase, die er ausspart, um sie desto genauer in ihrem Negativ zu bestimmen. Kafka nimmt die Schmutzspuren unter die Lupe, welche von den Fingern der Macht in der Prachtausgabe des Lebensbuchs zurückbleiben. Denn keine Welt könnte einheitlicher sein als die beklemmende, die er durchs Mittel der Kleinbürgerangst zur Totalität zusammenpreßt; geschlossen logisch durch und durch und des Sinnes bar wie jegliches System. Alles, was er erzählt, gehört der gleichen Ordnung an. Alle seine Geschichten spielen in demselben raumlosen Raum, und so gründlich sind dessen Fugen verstopft, daß man zusammenzuckt, wenn einmal etwas erwähnt wird, was nicht in ihm seinen Ort hat, wie Spanien und Südfrankreich an einer Stelle des Schlosses, während ganz Amerika, als imago des Zwischendecks, jenem Raum einverleibt ist. So hängen Mythologien untereinander zusammen wie Kafkas labyrinthische Schilderungen. Das Mindere, Abstruse, Angestochene ist aber ihrem Kontinuum so wesentlich wie Korruption und verbrecherische Asozialität der totalitären Herrschaft und wie die Liebe zum Kot 262
dem Kultus der Hygiene. Systeme des Gedankens und der Politik wollen nichts, was ihnen nicht gleicht. Je mehr sie sich jedoch verstärken, je mehr sie was ist gleichnamig machen, desto mehr unterdrücken sie es zugleich, desto weiter entfernen sie sich davon. Deshalb gerade wird ihnen die geringste »Abweichung« als Bedrohung des gesamten Prinzips so untragbar, wie den Mächten bei Kafka Fremde und Einzelgänger es sind. Integration ist Desintegration, und in ihr findet der mythische Bann mit der herrschaftlichen Rationalität sich zusammen. Das sogenannte Problem der Zufälligkeit, an dem die philosophischen Systeme sich abquälen, wird von ihnen selbst gezeitigt: nur um ihrer eigenen Unerbittlichkeit willen wird ihnen zum Todfeind, was durch ihre Maschen schlüpft, so wie die mythische Königin keine Ruhe hat, solange weit über den Bergen eine lebt, die schöner ist als sie, das Kind des Märchens. Kein System ohne Bodensatz. Aus ihm weissagt Kafka. Wenn alles, was in seiner Zwangswelt sich ereignet, mit dem Ausdruck des schlechthin Notwendigen den des schlechthin Zufälligen kombiniert, der dem Schäbigen eignet, so entziffert er das verruchte Gesetz in seiner Spiegelschrift. Die vollendete Unwahrheit ist der Widerspruch ihrer selbst, darum braucht ihr nicht ausdrücklich widersprochen zu werden. Kafka durchschaut den Monopolismus an den Abfallsprodukten der liberalen Ära, die von jenem liquidiert wird. Dieser geschichtliche Augenblick, nicht ein angeblich durch Geschichte hindurch scheinendes Überzeitliches ist die Kristallisation seiner Metaphysik, und Ewigkeit bei ihm keine andere als die des endlos wiederholten Opfers, aufgehend am Bilde des jüngsten. »Nur unser Zeitbegriff läßt uns das Jüngste Gericht so nennen, eigentlich ist es ein Standrecht.« Das jüngste Opfer ist immer das gestrige. Darum gerade wird fast jeder offene Hinweis auf Historisches - der aus der Kohlennot herausgesponnene Kübelreiter ist eine seltene Ausnahme — bei Kafka vermieden. Hermetisch verhält sich sein Werk auch zur Geschichte: über ihrem Begriff liegt ein Tabu. Der Ewigkeit des geschichtlichen Augenblicks korrespondiert die Ansicht von der Naturverfallenheit und Invarianz des Weltlaufs; der Augenblick, das absolut Vergängliche, ist Gleichnis der Ewigkeit des Vergehens, der Ver263
dammnis. Der Name von Geschichte darf nicht genannt werden, weil das, was Geschichte wäre, das Andere noch nicht begonnen hat. »An Fortschritt glauben, heißt nicht glauben, daß ein Fortschritt schon geschehen ist.« Inmitten scheinbar statischer, oft handwerkerlicher oder bäuerlicher Verhältnisse, solcher der einfachen Warenwirtschaft, wird Geschichtliches von Kafka nur als Gerichtetes vorgeführt, so wie jene Verhältnisse selber gerichtet sind. Seine Szenerie ist immer obsolet; von dem »niedrigen langen Gebäude«, das als Schule fungiert, wird gesagt, es vereinige »merkwürdig den Charakter des Provisorischen und des sehr Alten«. Schwerlich sind die Menschen anders. Das Veraltete ist das Schandmal des Gegenwärtigen; von solchen Malen hat Kafka ein Inventar aufgenommen. Zugleich aber das Bild dessen, woran Kindern, die es mit dem Abfall der historischen Welt zu tun haben, Geschichtliches überhaupt aufgeht, das »Kinderbild der Moderne«, die ihnen vermachte Hoffnung, daß einmal noch Geschichte sein könnte. »Das Gefühl eines, der in Not ist, und es kommt Hilfe, der sich aber nicht freut, weil er gerettet wird — er wird gar nicht gerettet —, sondern weil neue junge Menschen kommen, zuversichtlich, bereit, den Kampf aufzunehmen, zwar unwissend hinsichtlich dessen, was bevorsteht, aber in einer Unwissenheit, die den Zuschauenden nicht hoffnungslos macht, sondern ihn zur Bewunderung, zur Freude, zu Tränen bringt. Auch Haß gegen den, dem der Kampf gilt, mischt sich ein.« Zu diesem Kampf gibt es einen Aufruf: »In unserem Haus, diesem ungeheuren Vorstadthaus, einer von unzerstörbaren mittelalterlichen Ruinen durchwachsenen Mietskaserne, wurde heute am nebeligen eisigen Wintermorgen folgender Aufruf verbreitet: An alle meine Hausgenossen! Ich besitze fünf Kindergewehre. Sie hängen in meinem Kasten, an jedem Haken eines. Das erste gehört mir, zu den andern kann sich melden, wer will. Melden sich mehr als vier, so müssen die überzähligen ihre eigenen Gewehre mitbringen und in meinem Kasten deponieren. Denn Einheitlichkeit muß sein, ohne Einheitlichkeit kommen wir nicht vorwärts. Übrigens habe ich nur Gewehre, die zu sonstiger Verwendung ganz unbrauchbar sind, der Mechanismus ist ver264
dorben, der Pfropfen abgerissen, nur die Hähne knacken noch. Es wird also nicht schwer sein, nötigenfalls noch weitere solche Gewehre zu beschaffen. Aber im Grunde sind mir für die erste Zeit auch Leute ohne Gewehre recht. Wir, die wir Gewehre haben, werden im entscheidenden Augenblick die Unbewaffneten in die Mitte nehmen. Eine Kampfesweise, die sich bei den ersten amerikanischen Farmern gegenüber den Indianern bewährt hat, warum sollte sie sich nicht auch hier bewähren, da doch die Verhältnisse ähnlich sind. Man kann also sogar für die Dauer auf die Gewehre verzichten, und selbst die fünf Gewehre sind nicht unbedingt nötig, und nur weil sie schon einmal vorhanden sind, sollen sie auch verwendet werden. Wollen sie aber die vier andern nicht tragen, so sollen sie es bleiben lassen. Dann werde also ich allein als Führer eines tragen. Aber wir sollen keinen Führer haben, und so werde auch ich mein Gewehr zerbrechen oder weglegen. Das war der erste Aufruf. In unserem Haus hat man keine Zeit und keine Lust, Aufrufe zu lesen oder gar zu überdenken. Bald schwammen die kleinen Papiere in dem Schmutzstrom, der, vom Dachboden ausgehend, von allen Korridoren genährt, die Treppe hinabspült und dort mit dem Gegenstrom kämpft, der von unten hinaufschwillt. Aber nach einer Woche kam ein zweiter Aufruf: Hausgenossen! Es hat sich bisher niemand bei mir gemeldet. Ich war, soweit ich nicht meinen Lebensunterhalt verdienen muß, fortwährend zu Haus und für die Zeit meiner Abwesenheit, während welcher meine Zimmertür stets offen war, lag auf meinem Tisch ein Blatt, auf dem sich jeder, der wollte, einschreiben konnte. Niemand hats getan.« Das ist die Figur der Revolution in Kafkas Erzählungen. 6 Klaus Mann hat auf der Ähnlichkeit des Kafkaschen Reiches mit dem Dritten bestanden. So fern gewiß die unmittelbare politische Anspielung einem Werk liegt, dessen »Haß gegen den, dem der Kampf gilt«, viel zu unversöhnlich war, als 265
daß es die Fassade durch die leiseste Konzession an einen wie immer gearteten ästhetischen Realismus, durchs Hinnehmen dessen, wofür sie sich gibt, hätte bestätigen dürfen — jedenfalls zitiert der Stoffgehalt jenes Werkes eher den Nationalsozialismus als das verborgene Walten Gottes. Seine Beschlagnahmung für die dialektische Theologie mißglückt, außer wegen des mythischen Charakters der Mächte, von dem Benjamin mit Recht handelt, weil bei Kafka Vieldeutigkeit und Unverständlichkeit keineswegs bloß, wie in >Furcht und Zittern<, dem schlechthin Anderen zugeschrieben werden, sondern ebenso den Menschen und ihren Verhältnissen. Gerade der »unendliche qualitative Unterschied«, den Barth mit Kierkegaard lehrt, ist eingeebnet; zwischen Dorf und Schloß sei eigentlich kein Unterschied. Kafkas Methode ward verifiziert, als die veraltet liberalen, der Anarchie der Warenproduktion abgeborgten Züge, die er überhöht, in der politischen Organisationsform der sich überschlagenden Ökonomie wiederkehrten. Nicht bloß Kafkas Prophezeiung von Terror und Folter ward erfüllt. »Staat und Partei«: so tagen sie auf Dachböden, hausen in Wirtshäusern wie Hitler und Goebbels im Kaiserhof, eine als Polizei installierte Verschwörerbande. Ihre Usurpation offenbart das Usurpatorische am Mythos der Macht. Im Schloß tragen die Beamten eine Spezialuniform wie die SS, die man als Paria zur Not auch sich selber zusammenflicken kann; auch die Eliten im Faschismus haben sich selber ernannt. Verhaftung ist Überfall, Gericht Gewalttat. Mit der Partei gab es für deren potentielle Opfer immerzu einen fragwürdigen, korrupten Verkehr wie mit Kafkas verrammelten Behörden; das Wort Schutzhaft hätte er erfinden können, wäre es nicht bereits während des Ersten Krieges im Schwang gewesen. Die blonde Lehrerin Gisa, wohl das einzige schöne Mädchen, grausam und tierlieb, das unverletzt, als spotte seine Härte des Kafkaschen Strudels, von ihm geschildert wird, ist aus der präadamitischen Rasse der Hitlerjungfrauen, welche die Juden hassen, längst bevor es diese gibt. Ungezügelte Gewalt wird ausgeübt von Gestalten der Subalternität, Typen wie Unteroffizieren, Kapitulanten und Portiers. Das sind allemal Deklassierte, die im Sturz vom organisierten Kollektiv aufgefangen werden und überleben dürfen gleich dem 266
Vater Gregor Samsas. Wie im Zeitalter des defekten Kapitalismus wird die Last der Schuld von der Produktionssphäre abgewälzt auf Agenten der Zirkulation oder solche, die Dienste besorgen, auf Reisende, Bankangestellte, Kellner. Arbeitslose - im >Schloß<-und Emigranten - in >Amerika< - werden wie Fossilien der Deklassierung präpariert. Die ökonomischen Tendenzen, deren Relikte sie darstellen, schon ehe jene sich durchgesetzt haben, waren Kafka keineswegs so fremd, wie die hermetische Verfahrensweise vermuten läßt. Eine merkwürdig empirische Stelle aus dem Amerikaroman, dem frühesten, verrät das: »Es war eine Art Kommissions- und Speditionsgeschäft, wie sie, soweit sich Karl erinnern konnte, in Europa vielleicht gar nicht zu finden war. Das Geschäft bestand nämlich in einem Zwischenhandel, der aber die Waren nicht etwa von den Produzenten zu den Konsumenten oder vielleicht zu den Händlern vermittelte, sondern welcher die Vermittlung aller Waren und Urprodukte für die großen Fabrikkartelle und zwischen ihnen besorgte.« Genau dieser monopolistische Verteilungsapparat, »riesigen Umfangs«, hat den Handel und Wandel vernichtet, dessen hippokratisches Antlitz Kafka verewigt. Das geschichtliche Verdikt ergeht von der vermummten Herrschaft. So bildet es sich dem Mythos ein, der blinden, endlos sich reproduzierenden Gewalt. In deren neuester Phase, der bürokratischen Kontrolle, erkennt er die erste wieder; was sie ausscheidet, als urgeschichtlich. Risse und Deformationen der Moderne sind ihm Spuren der Steinzeit, die Kreidefiguren auf der Schultafel von gestern, die keiner wegwischte, die wahre Höhlenzeichnung. Die abenteuerliche Verkürzung, in der solche Rückbildungen erscheinen, trifft aber zugleich die gesellschaftliche Tendenz. Mit seiner Übersetzung in Archetypen verendet der Bürger. Die Preisgabe seiner individuellen Züge, die Aufdeckung des wimmelnden Grauens unter dem Stein der Kultur markiert den Verfall von Individualität selber. Das Grauen jedoch ist, daß der Bürger keinen Nachfolger fand; »niemand hat's getan«. Das meint vielleicht die Erzählung von Gracchus, dem nicht mehr wilden Jäger, einem Mann der Gewalt, dem das Sterben mißlang. So ist es dem Bürgertum mißlungen. Zur Hölle wird bei Kafka die Geschichte, weil 267
das Rettende versäumt ward. Diese Hölle hat das späte Bürgertum selber eröffnet. In den Konzentrationslagern des Faschismus wurde die Demarkationslinie zwischen Leben und Tod getilgt. Sie schufen einen Zwischenzustand, lebende Skelette und Verwesende, Opfer, denen der Selbstmord mißrät, das Gelächter Satans über die Hoffnung auf Abschaffung des Todes. Wie in Kafkas verkehrten Epen ging da zugrunde, woran Erfahrung ihr Maß hat, das aus sich heraus zu Ende gelebte Leben. Gracchus ist das vollendete Widerspiel der Möglichkeit, die aus der Welt vertrieben ward: alt und lebenssatt zu sterben.
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Die hermetische Prägung von Kafkas Schriften verführt dazu, nicht nur ihre Idee so abstrakt der Geschichte gegenüberzustellen, wie über weite Strecken hin bei ihm verhandelt wird, sondern auch das Werk selbst mit wohlfeilem Tiefsinn aus der Geschichte zu sekretieren. Aber gerade als hermetisches hat es teil an der literarischen Bewegung des Dezenniums um den Ersten Krieg, deren einer Brennpunkt Prag war und deren Milieu das Kafkas. Nur wer aus den schwarzen Broschüren Kurt Wolffs, dem >Jüngsten Tag<, das >Urteil<, die >Verwandlung<, das >Heizer<-Kapitel kennt, hat Kafka in seinem authentischen Horizont erfahren, dem des Expressionismus. Seine epische Gesinnung hat dessen Sprachgestus zu vermeiden getrachtet, obwohl Sätze wie: »Pepi, stolz, mit zurückgeworfenem Kopf, ewig gleichem Lächeln, ihrer Würde unwiderlegbar sich bewußt, schwenkend den Zopf bei jeder Wendung, eilte hin und her« oder: »Auf die wildumwehte Freitreppe trat K. hinaus und blickte in die Finsternis« großartig beherrscht ihn zeigen. Eigennamen, zumal aus der Kleinen Prosa, der Vornamen beraubt, wie Wese und Schmar, mahnen an die Personenverzeichnisse expressionistischer Stücke. Nicht selten desavouiert Kafkas Sprache den Inhalt so verwegen wie bei jener rauschenden Beschreibung des kleinen Hilfsausschankmädchens: ihr Schwung reißt den Vortrag mit weit ausgreifender Gebärde aus dem trostlos Stagnierenden der Fabel. Mit der 268
Liquidation des Traums durch dessen Allgegenwart verfolgte der Epiker Kafka den expressionistischen Impuls so weit wie nur die radikalen Lyriker. Sein Werk hat den Ton des Ultralinken: wer es aufs allgemein Menschliche nivelliert, verfälscht ihn bereits konformistisch. Anfechtbare Formulierungen wie die von der »Trilogie der Einsamkeit« behalten ihren Wert, weil sie eine Voraussetzung hervorheben, die jedem Satz Kafkas innewohnt. Das hermetische Prinzip ist das der vollendet entfremdeten Subjektivität. Nicht umsonst hat er in den Kontroversen, von denen Brod berichtet, jeglicher sozialen Eingliederung widerstrebt; diese ist nur um solchen Widerstrebens willen im Schloß thematisch geworden. Schüler Kierkegaards ist er einzig im Zeichen »objektloser Innerlichkeit«. Sie erklärt extreme Züge. Was Kafkas Glaskugel umfängt, ist einstimmiger und darum gräßlicher noch als das System draußen, weil im absolut subjektiven Raum und in absolut subjektiver Zeit nichts Platz hat, was deren eigenes Prinzip stören könnte, das der unabdingbaren Entfremdung. Immer wieder wird das RaumZeit-Kontinuum des »empirischen Realismus« durch kleine Sabotageakte lädiert wie die Perspektive in der zeitgenössischen Malerei; etwa wenn der umherwandernde Landvermesser vom viel zu frühen Einbruch der Nacht überrascht wird. Das Differenzlose der autarken Subjektivität verstärkt das Gefühl der Ungewißheit und die Monotonie des Wiederholungszwangs. Der widerstandslos in sich kreisenden Innerlichkeit wird versagt und zum Rätsel, was immer der schlecht unendlichen Bewegung Einhalt geböte. Ein Bann liegt über Kafkas Raum; das in sich verschlossene Subjekt hält den Atem an, als dürfe es nichts anfassen, was nicht ist wie es. Unter diesem Bann schlägt reine Subjektivität in Mythologie, der konsequente Spiritualismus in Naturverfallenheit um. Kafkas absonderliche Neigung zu Nacktkultur und Naturheilverfahren, seine sei's auch gebrochene Toleranz für den wüsten Aberglauben Rudolf Steiners sind nicht Rudimente intellektueller Unsicherheit, sondern gehorchen einem Prinzip, das, indem es unerbittlich das Unterscheidende sich verbietet, die Kraft zur Unterscheidung einbüßt und von derselben Regression bedroht wird, über die Kafka als Darstellungsmittel so souverän verfügt, vom Vieldeuti269
gen, Amorphen, Namenlosen. »Geist setzt gegen Natur sich frei und autonom, weil er sie als dämonisch erkennt: wie in der auswendigen Realität so bei sich selber. Indem aber der autonome Geist als leibhaft erscheint, nimmt Natur vom Geist Besitz, wo er am geschichtlichsten auftritt: im objektlosen Innen . . . Der Naturgehalt bloßen, in sich geschichtlichem Geistes mag mythisch heißen.« Die absolute Subjektivität ist zugleich subjektlos. Das Selbst lebt einzig in der Entäußerung; als sicherer Rest des Subjekts, der vorm Fremden sich verkapselt, wird er zum blinden Rest der Welt. Je mehr das Ich des Expressionismus auf sich selber zurückgeworfen wird, um so mehr ähnelt es der ausgeschlossenen Dingwelt sich an. Vermöge dieser Ähnlichkeit zwingt Kafka den Expressionismus, dessen Schimärisches er wie keiner seiner Freunde muß verspürt haben und dem er doch treu blieb, zu einer vertrackten Epik; die reine Subjektivität, als notwendig auch sich selber entfremdete und zum Ding gewordene, zu einer Gegenständlichkeit, der die eigene Entfremdung zum Ausdruck gerät. Die Grenze zwischen dem Menschlichen und der Dingwelt verwischt sich. Das macht den Grund der oft bemerkten Verwandtschaft mit Klee aus. Kafka nannte sein Schreiben »Kritzeln«. Das Dinghafte wird zum graphischen Zeichen, die gebannten Menschen handeln nicht von sich aus, sondern als wäre ein jeglicher in ein magnetisches Feld geraten1. Genau dies gleichsam äußerliche Bestimmtsein inwendiger Figuren verleiht Kafkas Prosa den abgründigen Schein nüchterner Objektivität. Die Zone des Nichtsterbenkönnens ist zugleich das Niemandsland zwischen Mensch und Ding: in ihm begegnet sich Odradek, den Benjamin als einen Engel Kleeschen Stils betrachtete, mit Gracchus, dem bescheidenen Nachbild Nimrods. Vom Verständnis dieser vorgeschobensten, inkommensurabeln Produktionen und einiger anderer, die ebenfalls der kurrenten Vorstellung von Kafka sich entziehen, dürfte ein1 Das verurteilt alle Dramatisierungen. Drama ist nur so weit möglich, wie Freiheit, wäre es auch als sich entringende, vor Augen steht; alle andere Aktion bliebe nichtig. Die Figuren Kafkas sind von einer Fliegenklatsche getroffen, ehe sie nur sich regen; wer sie als Helden auf die tragische Bühne schleppt, verhöhnt sie bloß. Der Dichter von >Paludes< wäre Andre Gide geblieben, wenn er nicht am >Prozeß< sich vergriffen hätte; er wenigstens hätte nicht im Zuge des fortschreitenden Analphabetismus vergessen dürfen, daß Kunstwerken, die es sind, ihr Medium nicht zufällig ist. Adaptations wären der Kulturindustrie vorzubehalten.
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mal das Ganze abhängen. Durchs gesamte Werk hindurch jedoch geht Depersonalisierung im Bereich des Sexuellen. Wie nach dem Ritus des Dritten Reichs die Mädchen den Hoheitsträgern nicht nein sagen durften, so hat der Kafkasche Bann, das große Tabu, alle jene geringeren Tabus ausgelöscht, die der individuellen Sphäre zugehören. Der Schulfall dafür ist die Bestrafung Amalias und ihrer Familie Sippenhaft -, weil sie Sortini nicht zu Willen war. In den Mächten triumphiert die Familie als archaisches Kollektiv über ihre spätere, individuierte Gestalt. Widerstandslos, aufeinander gehetzt wie Tiere müssen Männer und Frauen zusammenkommen. Kafka hat das eigene neurotische Schuldgefühl, seine infantile Sexualität wie seine Obsession mit »Reinheit«, zum Instrument geschaffen, das den approbierten Begriff von Erotik wegkratzt. Das Wahl- und Erinnerungslose der Verhältnisse von Angestellten in den Großstädten des zwanzigsten Jahrhunderts wird, wie später in einer berühmten Stelle aus Eliots >Waste Land<, zur imago eines seit undenklichen Zeiten vergangenen Zustands. Er ist alles eher als hetärisch. In der Suspension der Regeln der patriarchalischen Gesellschaft wird deren eigenes Geheimnis entblößt, das unmittelbarer barbarischer Unterdrückung. Frauen sind verdinglicht als bloßes Mittel zum Zweck: als Sexualobjekte und als Konnexionen. Aber mitten im Trüben fischt Kafka nach dem Bild vom Glück. Es ist aus dem Staunen des hermetisch abgeschlossenen Subjekts über das Paradoxon erzeugt, daß es gleichwohl geliebt werden kann. So unbegreiflich wie die Neigung aller Frauen zu den Gefangenen im Prozeß ist jegliche Hoffnung; Kafkas entzauberter Eros ist zugleich überschwengliche männliche Dankbarkeit. Wenn die dürftige Frieda sich Klamms Geliebte nennt, so strahlt die Aura des Wortes heller als in den erhobensten Augenblicken bei Balzac oder Baudelaire; wenn sie, während sie die Anwesenheit des unter dem Tisch Versteckten vor dem forschenden Wirt verleugnet, ihm »ihren kleinen Fuß auf die Brust setzt« und dann sich zu ihm hinabneigt und ihn »flüchtig küßt«, so findet sie die Geste, auf welche die Sehnsucht eines Menschenlebens vergebens warten mag, und die Stunden, welche die beiden »in den kleinen Pfützen Biers und dem sonstigen Unrat, von dem der Boden bedeckt 271
war«, zusammenliegen, sind die der Erfüllung in einer Fremde, »in der selbst die Luft keinen Bestandteil der Heimatluft« hat. Diese Schicht wurde von Brecht der Lyrik aufgeschlossen. Wie bei diesem jedoch ist bei Kafka die Sprache der Ekstase ganz fern der expressionistischen. Er hat die Quadratur des Zirkels, dem Raum der objektlosen Innerlichkeit die Worte zu finden, während doch der Umfang eines jeglichen über das absolute Dies da hinausreicht, das angerufen werden soll - den Widerspruch, an dem alle expressionistische Dichtung scheiterte -, ingeniös gemeistert durchs visuelle Element. Als das der Gesten behauptet es den Vorrang. Nur von Sichtbarem läßt sich erzählen, während es zugleich vollkommen zum Bilde verfremdet wird. Wahrhaft zum Bilde. Kafka rettet die Idee des Expressionismus, indem er, anstatt Urlauten vergebens nachzuhorchen, den Habitus expressionistischer Malerei auf die Dichtung überträgt. Zu jener verhält er sich ähnlich wie Utrillo zu den Ansichtspostkarten, nach denen er seine fröstelnden Straßen soll gemalt haben. Dem panischen Blick, der alle affektive Besetzung von den Objekten abgezogen hat, erstarren diese zu einem Dritten, weder Traum, der nur sich fälschen läßt, noch Nachäffung der Realität, sondern deren Rätselbild, zusammengefügt aus ihren zerstreuten Bruchstücken. Manche entscheidenden Partien Kafkas lesen sich, als wären sie expressionistischen Gemälden nachbuchstabiert, die hätten gemalt werden müssen. Am Ende des Prozesses fallenjosef K.s Blicke »auf das letzte Stockwerk des an den Steinbruch angrenzenden Hauses. Wie ein Licht aufzuckt, so fuhren die Fensterflügel eines Fensters dort auseinander, ein Mensch, schwach und dünn in der Ferne und Höhe, beugte sich mit einem Ruck weit vor und streckte die Arme noch weiter aus. Wer war es? Ein Freund, ein guter Mensch?« Solche Transpositionsarbeit bereitet Kafkas Bilderwelt. Sie beruht auf dem strikten Ausschluß alles Musikalischen im Sinn des Musikähnlichen, dem Verzicht auf die antithetische Abwehr des Mythos; Kafka ist, Brod zufolge, nach den üblichen Begriffen unmusikalisch gewesen. Sein stummes Schlachtgeschrei gegen den Mythos ist: ihm nicht widerstehen. Und diese Askese beschenkt ihn mit der tiefsten Beziehung zur Musik an Stellen wie jenem Gesang des Telephons im 272
>Schloß<, der Musikwissenschaft aus den Forschungen eines Hundes< und in einer der letzten vollendeten Erzählungen, >Josefine<. Indem seine spröde Prosa alle musikalischen Wirkungen verschmäht, verfährt sie wie Musik. Sie bricht ihre Bedeutungen ab wie Lebenssäulen auf Friedhöfen des neunzehnten Jahrhunderts, und erst die Bruchlinien sind ihre Chiffren. 8
Expressionistische Epik ist paradox. Sie erzählt von dem, wovon sich nicht erzählen läßt, dem ganz auf sich eingeschränkten und damit zugleich unfreien, ja eigentlich gar nicht recht seienden Subjekt. Dissoziiert in die Zwangsmomente der eigenen Befangenheit, der Identität mit sich selbst beraubt, kennt es keine Lebensdauer; die objektlose Innerlichkeit ist Raum in dem genauen Sinn, daß alles, was sie stiftet, dem Gesetz zeitfremder Wiederholung gehorcht. Dies Gesetz nicht zuletzt verhält das Kafkasche Werk zur Geschichtslosigkeit. Keine durch Zeit als Einheit des inneren Sinns konstituierte Form ist ihm möglich; er vollstreckt einen Richtspruch über die große Epik, dessen Gewalt Lukacs schon an so frühen Autoren wie Flaubert und Jacobsen beobachtet hat. Das Fragmentarische der drei großen Romane, die übrigens kaum mehr vom Begriff des Romans gedeckt werden, wird bedingt von ihrer inneren Form. Sie lassen sich nicht als zur Totalität gerundete Zeiterfahrung zu Ende bringen. Die Dialektik des Expressionismus resultiert bei Kafka in der Angleichung an Abenteuererzählungen aus aufgereihten Episoden. Er hat solche Romane geliebt. Durch die Übernahme ihrer Technik sagt er zugleich der etablierten literarischen Kultur ab. Seinen bekannten Modellen wären außer Walser wohl etwa der Anfang von Poes Arthur Gordon Pym und manche Kapitel aus Kürnbergers Amerikamüdem wie die Beschreibung einer New Yorker Wohnung hinzuzufügen. Vor allem aber solidarisiert sich Kafka mit apokryphen literarischen Gattungen. Den Zug des universal Verdächtigen, tief eingegraben der Physiognomie des gegenwärtigen Zeitalters, hat er dem Kriminal273
roman abgelernt. In diesem hat die Dingwelt das Übergewicht übers abstrakte Subjekt gewonnen, und Kafka benutzt es dazu, die Dinge zu allgegenwärtigen Emblemen umzuschauen. Die großen Werke sind gleichsam Detektivromane, in denen die Entlarvung des Verbrechers mißlingt. Aufschlußreicher noch das Verhältnis zu Sade, von dem dahinsteht, ob er Kafka bekannt war. Wie Unschuldige bei Sade - auch im amerikanischen Groteskfilm und in den »Funnies« - gerät das Kafkasche Subjekt, insbesondere der Auswanderer Karl Roßmann, aus einer verzweifelten und ausweglosen Situation in die nächste: die Stationen epischer Abenteuer werden zu solchen der Leidensgeschichte. Der geschlossene Immanenzzusammenhang konkretisiert sich als Flucht von Gefängnissen. Das Ungeheuerliche, zu dem der Kontrast fehlt, wird wie bei Sade zur ganzen Welt, zur Norm, im Gegensatz zum unreflektierten Abenteuerroman, der es stets auf außergewöhnliche Begebenheiten abgesehen hat und damit die gewöhnlichen bestätigt. In Sade aber und Kafka ist Vernunft am Werk, durchs principium stilisationis des Wahns den objektiven hervortreten zu lassen. Beide gehören, auf verschiedenen Stufen, der Aufklärung an. Bei Kafka ist ihr Entzauberungsschlag das »So ist es«. Er berichtet, wie es eigentlich zugeht, doch ohne Illusion übers Subjekt, das im äußersten Bewußtsein seiner selbst - seiner Nichtigkeit — sich auf den Schrotthaufen wirft, nicht anders als die Tötemaschine mit dem ihr Überantworteten verfährt. Er hat die totale Robinsonade geschrieben, die einer Phase, in der jeder Mensch sein eigener Robinson wurde und auf einem mit zusammengerafftem Zeug beladenen Floß ohne Steuer umhertreibt. Die Verbindung von Robinsonade und Allegorie, die ihren Ursprung in Defoe selber hat, ist der Tradition der großen Aufklärung nicht fremd. Sie gehört dem frühbürgerlichen Kampf gegen die religiöse Autorität an. Im VIII. Stück der wider den orthodoxen Hauptpastor Goeze gerichteten Axiomata des von Kafka als Dichter hochgeschätzten Lessing steht der Bericht von einem »abgesetzten, lutherischen Prediger aus der Pfalz« und seiner Familie, »die aus zusammengebrachten Kindern beiderlei Geschlechts bestand«. Das Schiff scheitert, und die Familie rettet sich samt einem Katechismus auf eine kleine unbewohnte Gruppe 274
der Bermudas. Generationen später findet ein hessischer Prediger die Nachkommen auf der Insel. Sie sprechen ein Deutsch, »in welchem er nichts als Redensarten und Wendungen aus Luthers Katechismus zu hören glaubte«. Sie sind orthodox, »einige Kleinigkeiten ausgenommen. Der Katechismus war, wie natürlich, in den anderthalbhundert Jahren aufgebraucht, und sie hatten nichts davon mehr übrig als die Bretterchen des Einbands. In diesen Bretterchen, sagten sie, steht das alles, was wir wissen. - Hat es gestanden, meine Lieben! sagte der Feldprediger. - Steht noch, steht noch weiter! sagten sie. Wir können zwar selbst nicht lesen, wissen auch kaum, was Lesen ist: aber unsere Väter haben es ihre Väter daraus herlesen hören. Und diese haben den Mann gekannt, der die Bretterchen geschnitten. Der Mann hieß Luther und lebte kurz nach Christo.« Womöglich noch näher dem Kafkaschen Duktus ist die >Parabel<, die mit ihm ein gewiß ungewolltes Moment des Verdunkelten teilt. Der Adressat Goeze hat sie ganz mißverstanden. Die parabolische Form selbst aber ist von der aufklärerischen Intention schwerlich zu trennen. Indem naturhaften Stoffen - stammt nicht der äsopische Esel von dem des Oknos ab? - menschliche Bedeutungen und Lehren eingelegt werden, erkennt der Geist in ihnen sich wieder. So bricht er den mythischen Bann, dem sein Blick standhält. Einige Stellen der Lessingschen Parabel, die er unter dem Titel >Der Palast im Feuer < neu herausbringen wollte, sind dafür um so exemplarischer, als ihnen das Bewußtsein mythischer Verstrickung ganz fern lag, zu dem sie in analogen Passagen bei Kafka erwacht sind. »Ein weiser, tätiger König eines großen, großen Reiches hatte in seiner Hauptstadt einen Palast von ganz unermeßlichem Umfange, von ganz besonderer Architektur. Unermeßlich war der Umfang, weil er in demselben alle um sich versammelt hatte, die er als Gehülfen oder Werkzeuge seiner Regierung brauchte. Sonderbar war die Architektur: denn sie stritt so ziemlich mit allen angenommenen Regeln. . .. Der ganze Palast stand nach vielen, vielen Jahren noch in eben der Reinlichkeit und Vollständigkeit da, mit welcher die Baumeister die letzte Hand angelegt hatten: von außen ein wenig unverständlich, von innen überall Licht und Zusammenhang. Wer Kenner von Architektur sein wollte, 275
ward besonders durch die Außenseiten beleidigt, welche mit wenig hin und her zerstreuten großen und kleinen, runden und viereckten Fenstern unterbrochen waren, dafür aber desto mehr Türen und Tore von mancherlei Form und Größe hatten . . . Man begriff nicht, wozu so viele und vielerlei Eingänge nötig wären, da ein großes Portal auf jeder Seite ja wohl schicklicher wäre und eben die Dienste tun würde. Denn daß durch die mehreren kleinen Eingänge ein jeder, der in den Palast gerufen würde, auf dem kürzesten und unfehlbarsten Wege gerade dahin gelangen solle, wo man seiner bedürfe, wollte den wenigsten zu Sinn. Und so entstand unter den vermeintlichen Kennern mancherlei Streit, den gemeiniglich diejenigen am hitzigsten führten, die von dem Inneren des Palastes viel zu sehen die wenigste Gelegenheit gehabt hatten. Auch war da etwas, wovon man bei dem ersten Augenblick geglaubt hätte, daß es den Streit sehr leicht und kurz machen müsse, was ihn aber gerade am meisten verwickelte, was ihm gerade zur hartnäckigsten Fortsetzung die reichste Nahrung verscharrte. Man glaubte nämlich verschiedene alte Grundrisse zu haben, die sich von den ersten Baumeistern des Palasts herschreiben sollten: und diese Grundrisse fanden sich mit Worten und Zeichen bemerkt, deren Sprache und Charakteristik so gut als verloren war . . . Einsmals, als der Streit über die Grundrisse nicht sowohl beigelegt als eingeschlummert war - einsmals um Mitternacht erscholl plötzlich die Stimme der Wächter: Feuer 1 Feuer in dem Palaste! . . . Da fuhr jeder von seinem Lager auf; und jeder, als wäre das Feuer nicht in dem Palaste, sondern in seinem eigenen Hause, lief nach dem Kostbarsten was er zu haben glaubte - nach seinem Grundrisse. Laßt uns den nur retten! dachte jeder. Der Palast kann dort nicht eigentlicher verbrennen, als er hier steht! . . . Über diese geschäftigen Zänker hätte er denn auch wirklich abbrennen können, der Palast, wenn er gebrannt hätte. - Aber die erschrockenen Wächter hatten ein Nordlicht für eine Feuersbrunst gehalten.« Es bedürfte bloß der geringsten Akzentverschiebungen, um aus der Geschichte, einem Bindeglied zwischen Pascal und Kierkegaards Diapsalmata ad me ipsum, eine von Kafka zu machen. Er hätte nur die bizarren und monströsen Züge des Baus auf Kosten seiner Zweck276
mäßigkeit stärker hervorzuheben, nur den Satz, der Palast könnte nicht eigentlicher verbrennen, als er im Grundriß steht, als Bescheid einer jener Kanzleien vorzubringen brauchen, deren einziger Rechtsgrundsatz ohnehin quod non est in actis non est in mundo lautet, und es wäre aus der Apologie der Religion gegen ihre verknöcherte Auslegung die Denunziation der numinosen Macht selber durchs Medium ihrer eigenen Auslegung geworden. Die Verdunkelung, das Abbrechen der parabolischen Intention sind Konsequenzen der Aufklärung. Je mehr Objektives sie auf den Menschen reduziert, desto trostloser, undurchdringlicher liegen die Umrisse des bloß Seienden vor ihm, das er nie vollends in Subjektivität aufzulösen vermag und aus dem er doch das Vertraute heraussaugte. Kafka reagiert im Geiste der Aufklärung auf deren Rückschlag in Mythologie. Man hat ihn oft mit der Kabbala verglichen. Mit welchem Recht, können einzig die der Texte Kundigen entscheiden. Wenn aber in der Tat die jüdische Mystik in ihrer späten Phase in Aufklärung verschwindet, dann ist Einsicht geboten in die Affinität des späten Aufklärers Kafka zur antinomistischen Mystik. 9 Antinomistisch ist Kafkas Theologie - wenn anders von einer solchen die Rede sein kann - gegenüber demselben Gott, dessen Begriff Lessing gegen die Orthodoxie verfocht, dem der Aufklärung. Das ist aber ein deus absconditus. Kafka wird zum Ankläger der dialektischen Theologie, der man ihn irrig zurechnet. Ihr schlechterdings Verschiedenes konvergiert mit den mythischen Mächten. Der völlig abstrakte, unbestimmte, von allen anthropomorph-mythologischen Qualitäten gereinigte Gott verwandelt sich in den schicksalhaft vieldeutigen und drohenden, der nichts erweckt als Angst und Schauer. Seine »Reinheit«, dem Geiste nachgeschaffen, den bei Kafka die expressionistische Innerlichkeit als absolute aufrichtet, stellt im Entsetzen vorm radikal Unbekannten das uralte der naturbefangenen Menschheit wieder her. Kafkas Werk hält den Schlag der Stunde fest, da der gereinigte Glaube als unreiner, die Entmythologisierung als 277
Dämonologie sich enthüllt. Aufklärer jedoch bleibt er im Versuch, den Mythos, der dergestalt hervortritt, zu rektifizieren, den Prozeß gegen ihn gleichwie vor einer Revisionskammer nochmals anzustrengen. Die Variationen von Mythen, die in seinem Nachlaß sich gefunden haben, bezeugen sein Bemühen um solche Korrektur. Der Prozeßroman selber ist der Prozeß über den Prozeß. Als Kritiker, nicht als Erbe hat er Motive aus Kierkegaards Furcht und Zittern verwandt. In Kafkas Eingaben an den, welchen es betreffen mag, wird das Gericht über den Menschen beschrieben, um das Recht zu überführen. Am mythischen Charakter des letzteren hat er keinen Zweifel gelassen. Eine Stelle im Prozeß handelt von der Göttin der Gerechtigkeit, des Krieges und der Jagd als Einer. Kierkegaards Lehre von der objektiven Verzweiflung greift auf die absolute Innerlichkeit selbst über. Absolute Entfremdung, preisgegeben dem Dasein, von dem sie sich abgezogen hat, wird als die Hölle durchforscht, die sie an sich schon, ohne es zu wissen, bei Kierkegaard war. Als Hölle aus der Perspektive der Erlösung. Kafkas künstlerische Verfremdung, das Mittel, die objektive Entfremdung sichtbar zu machen, empfängt ihre Legitimation aus dem Gehalt. Sein Werk fingiert einen Ort, von dem her die Schöpfung so durchfurcht und beschädigt erscheint, wie nach ihren eigenen Begriffen die Hölle sein müßte. Im Mittelalter hat man Folter und Todesstrafe an den Juden »verkehrt« vollzogen; schon an der berühmten Stelle des Tacitus wird ihre Religion als verkehrt angeprangert. Delinquenten wurden mit dem Kopf nach unten aufgehängt. So wie diesen Opfern in den endlosen Stunden ihres Sterbens die Erdoberfläche muß ausgesehen haben, wird sie vom Landvermesser Kafka photographiert. Nicht um Geringeres als um solche ungemilderte Qual bietet ihm die Optik des Heils sich dar. Seine Einreihung unter die Pessimisten, die Existentialisten der Verzweiflung ist verfehlt wie die unter die Heilslehrer. Nietzsches Verdikt über die Worte Optimismus und Pessimismus hat er geehrt. Die Lichtquelle, welche die Schrunde der Welt als höllisch aufglühen läßt, ist die optimale. Aber was der dialektischen Theologie Licht und Schatten war, wird vertauscht. Nicht wendet das Absolute dem bedingten Geschöpf seine ab278
surde Seite zu - eine Doktrin, die schon bei Kierkegaard zu Ärgerem führt als bloß der Paradoxie und die bei Kafka auf die Inthronisierung des Wahns hinausliefe. Sondern die Welt wird als so absurd enthüllt, wie sie dem intellectus archetypus wäre. Das mittlere Reich des Bedingten wird infernalisch unter den künstlichen Engelsaugen. So weit spannt Kafka den Expressionismus. Das Subjekt objektiviert sich, indem es das letzte Einverständnis aufkündigt. Dem freilich widerspricht scheinbar, was an Lehre aus Kafka herauszulesen ist, ebenso wie die Berichte vom byzantinischen Respekt, den er als Person absonderlichen Mächten skurril zollte. Aber die oft bemerkte Ironie dieser Züge rechnet selbst zu dem Lehrgehalt. Nicht Demut hat Kafka gepredigt, sondern die erprobteste Verhaltensweise wider den Mythos empfohlen, die List. Ihm ist die einzige, schwächste, geringste Möglichkeit dessen, daß die Welt doch nicht recht behalte, die, ihr recht zu geben. Wie der Jüngste im Märchen soll man ganz unscheinbar, klein, zum wehrlosen Opfer sich machen, nicht auf dem eigenen Recht bestehen nach der Sitte der Welt, der des Tausches, welcher ohne Unterlaß das Unrecht reproduziert. Kafkas Humor wünscht die Versöhnung des Mythos durch eine Art von Mimikry. Auch darin folgt er jener Tradition von Aufklärung, die vom homerischen Mythos bis Hegel und Marx reicht, bei denen die spontane Tat, der Akt der Freiheit, gleichkommt dem Vollzug der objektiven Tendenz. Seitdem aber ist die lastende Schwere des Daseins außer allem Verhältnis zum Subjekt angewachsen und mit ihr die Unwahrheit der abstrakten Utopie. Wie vor Jahrtausenden wird von Kafka Rettung gesucht bei der Einverleibung der Kraft des Gegners. Der Bann von Verdinglichung soll gebrochen werden, indem das Subjekt sich selbst verdinglicht. Was ihm widerfährt, soll es vollziehen. »Zum letztenmal Psychologie« - Kafkas Figuren werden angewiesen, ihre Seele in der Garderobe zurückzulassen, in einem Augenblick des gesellschaftlichen Kampfes, in dem die einzige Chance des bürgerlichen Individuums bei der Negation seiner eigenen Zusammensetzung steht und der der Klassenlage, die es zu dem verdammt hat, was es ist. Gleich seinem Landsmann Gustav Mahler hält Kafka es mit den Deserteuren. Anstelle der Menschenwürde, des obersten 279
bürgerlichen Begriffs, tritt bei ihm das heilsame Eingedenken der Tierähnlichkeit, von der eine ganze Schicht seiner Erzählungen zehrt. Die Versenkung in den Innenraum der Individuation, die in solcher Selbstbesinnung sich vollendet, stößt aufs Prinzip der Individuation, jenes sich selbst Setzen, das die Philosophie sanktionierte, den mythischen Trotz. Wiedergutmachung wird gesucht, indem das Subjekt ihn fahren läßt. Kafka verherrlicht nicht die Welt durch Unterordnung, er widerstrebt ihr durch Gewaltlosigkeit. Vor dieser muß die Macht sich als das bekennen, was sie ist, und darauf allein baut er. Dem eigenen Spiegelbild soll der Mythos erliegen. Schuldig werden die Helden von Prozeß und Schloß nicht durch ihre Schuld - sie haben keine -, sondern weil sie versuchen, das Recht auf ihre Seite zu bringen. »Die Erbsünde, das alte Unrecht, das der Mensch begangen hat, besteht in dem Vorwurf, den der Mensch macht und von dem er nicht abläßt, daß ihm Unrecht geschehen ist, daß an ihm die Erbsünde begangen wurde.« Darum haben ihre klugen Reden, zumal die des Landvermessers, ein Törichtes, Tölpelhaftes, Naives: ihre gesunde Vernunft verstärkt die Verblendung, gegen welche sie aufbegehrt. Kafka will durch die Verdinglichung des Subjekts, die ohnehin von der Welt verlangt wird, diese womöglich noch überbieten: Totenhaftes wird zur Botschaft der sabbatischen Ruhe. Das ist die Kehrseite der Kafkaschen Lehre vom mißlingenden Tod: daß die beschädigte Schöpfung nicht mehr sterben kann das einzige Versprechen von Unsterblichkeit, das der Aufklärer Kafka nicht mit dem Bilderverbot ahndet. Es knüpft sich an die Rettung der Dinge; derer, die nicht länger in den Schuldzusammenhang verflochten, die untauschbar, unnütz sind. Auf sie hat es die innerste Bedeutungsschicht des Obsoleten bei ihm abgesehen. Seine Ideenwelt gleicht - wie im Naturtheater von Oklahoma - einer von Ladenhütern: kein Theologumenon könnte ihm näher kommen als der Titel eines amerikanischen Filmlustspiels: Shopworn Angel. Während in den Interieurs, in denen Menschen wohnen, das Unheil haust, sind Schlupfwinkel der Kindheit, verlassene Stätten wie das Treppenhaus, solche der Hoffnung. Die Auferstehung der Toten müßte auf dem Autofriedhof stattfinden. Die Schuldlosigkeit des Unnützen setzt 280
den Kontrapunkt zum Parasitären: »Müßiggang aller Laster Anfang, aller Tugenden Krönung.« Nach dem Zeugnis von Kafkas Werk befördert in der verstrickten Welt jegliches Positive, jeglicher Beitrag, fast könnte man denken, die Arbeit selbst, die das Leben reproduziert, bloß die Verstrikkung. »Das Negative zu tun, ist uns noch auferlegt: das Positive ist uns schon gegeben.« Heilmittel gegen die halbe Nutzlosigkeit des Lebens, das da nicht lebt, wäre einzig die ganze. So verbrüdert sich Kafka mit dem Tode. Die Schöpfung gewinnt den Vorrang übers Lebendige. Das Selbst, die innerste Position des Mythos, wird zertrümmert, verworfen der Trug bloßer Natur. »Der Künstler wartete, bis K. sich beruhigt hatte, und entschloß sich dann, da er keinen andern Ausweg fand, dennoch zum Weiterschreiben. Der erste kleine Strich, den er machte, war für K. eine Erlösung, der Künstler brachte ihn aber offenbar nur mit dem äußersten Widerstreben zustande; die Schrift war auch nicht mehr so schön, vor allem schien es an Gold zu fehlen, blaß und unsicher zog sich der Strich hin, nur sehr groß wurde der Buchstabe. Es war ein J, fast war es schon beendet, da stampfte der Künstler wütend mit einem Fuß in den Grabhügel hinein, daß die Erde ringsum in die Höhe flog. Endlich verstand ihn K.: ihn abzubitten war keine Zeit mehr; mit allen Fingern grub er in die Erde, die fast keinen Widerstand leistete; alles schien vorbereitet; nur zum Schein war eine dünne Erdkruste aufgerichtet; gleich hinter ihr öffnete sich mit abschüssigen Wänden ein großes Loch, in das K., von einer sanften Strömung auf den Rücken gedreht, versank. Während er aber unten, den Kopf im Genick noch aufgerichtet, schon von der undurchdringlichen Tiefe aufgenommen wurde, jagte oben sein Name mit mächtigen Zieraten über den Stein. Entzückt von diesem Anblick erwachte er.« Der Name allein, der offenbar wird durch den natürlichen Tod, nicht die lebendige Seele steht ein fürs unsterbliche Teil.
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Vom selben Verfasser erschienen:
Kierkegaard. Konstruktion des Ästhetischen, Tübingen 1933 Philosophie der neuen Musik, Tübingen 1949 Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Berlin und Frankfurt 1951, 2. Auflage Frankfurt 1962 Versuch über Wagner, Berlin und Frankfurt 1952 Dissonanzen. Musik in der verwalteten Welt, Göttingen 1956, 2., erweiterte Auflage 1958 Zur Metakritik der Erkenntnistheorie. Studien über Husserl und die phänomenologischen Antinomien, Stuttgart 1956 Aspekte der Hegelschen Philosophie, Frankfurt 1957 Noten zur Literaturl, Frankfurt 1958, 3. Auflage 1961 Klangfiguren. Musikalische Schriften I, Berlin und Frankfurt 1959 Mahler. Eine musikalische Physiognomik, Frankfurt i960 Noten zur Literatur II, Frankfurt 1961 Einleitung in die Musiksoziologie. Zwölf theoretische Vorlesungen, Frankfurt 1962 Max Horkheimer und T. W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Amsterdam 1947 Sociologica II. Reden und Vorträge, Frankfurt 1962 In englischer Sprache: The Authoritarian Personality by T. W. Adorno, Else Frenkel-Brunswik, Daniel J. Levinson, R. Nevitt Sanford (Studies in Prejudice, edited by Max Horkheimer and Samuel H. Flowerman, Volume 1), New York 1950
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Theodor W. Adorno
Noten zur Literatur I Bibliothek Suhrkamp Band 47. Essays. 195 Seiten, DM 4.80
Noten zur Literatur II Bibliothek Suhrkamp Band 71. Essays. 238 Seiten, DM 5.80
Man muß schon die einzelnen Denkprozesse mit- und nachvollziehen. Die Mühe lohnt sich; denn die Intensität der Gedankenführung und die argumentative Dichte beglücken den Leser und bringen ihn in die Nähe eines Denkers, der weiß, daß der Geist aufhört, er selber zu sein, wenn er >erbaulich< wird. Hans Kudszus, Tagesspiegel
Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main
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überall spüren Mitarbeiter der DEUTSCHEN ZEITUNG wichtigen Geschehnissen und ihren Zusammenhängen nach. Ununterbrochen gehen die Meldungen eigener Redaktionsbüros und Korrespondenten aus dem In- und Ausland sowie die Informationen der großen Weltnachrichtenagenturen ein und werden von einem Stab erfahrener Redakteure gesichtet und ausgewertet. Das Wesentliche aus der Fülle dieses Berichtsmaterials bildet zusammen mit dem Leitartikel aus der Feder eines namhaften Publizisten, mit lebendigen Kommentaren und anderem interessanten Stoff die täglich erscheinende
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