Klaus Feldmann Tod und Gesellschaft
Klaus Feldmann
Tod und Gesellschaft Sozialwissenschaftliche Thanatologie im Über...
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Klaus Feldmann Tod und Gesellschaft
Klaus Feldmann
Tod und Gesellschaft Sozialwissenschaftliche Thanatologie im Überblick 2., überarbeitete Auflage
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
2., überarbeitete Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010 Lektorat: Frank Engelhardt VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-17350-4
Inhalt
Einleitung
7
Überlegungen zu einer Soziologie des Sterbens und des Todes Strukturierung des Arbeitsfeldes Der Körper und der physische Tod
10 17 24
Mortalität und Gesellschaft Geschlechtsspezifische Unterschiede der Mortalität Mortalität und soziale Schicht
29 33 36
Sozialgeschichte des Todes Vorindustrielle Kulturen Geschichte des Todes im Abendland
39 39 44
Todesbewusstsein und Todesideologie Verdrängung des Todes Der ‚natürliche’ Tod: das moderne Todesideal? Wert des Lebens, Lebens- und Sterbequalität Konzepte der Entwicklung des Todesbewusstseins Zeichen und Bilder des Todes und die Medialisierung Seele und Unsterblichkeit
58 59 79 84 89 97 112
Das soziale Sterben Soziales Sterben und Töten in traditionellen Kulturen Soziales Sterben in der modernen Gesellschaft
126 128 132
Bürokratisierung und Professionalisierung Professionalisierung und staatliches Todesmonopol Hospizbewegung
140 145 150
Der gute Tod, Euthanasie und Sterbehilfe Der gute Tod Euthanasie und Sterbehilfe
154 154 159
5
Suizid Theorien des Suizids Suizidologie und die Gestaltung einer humanen Gesellschaft
176 177 204
Das Töten von (anderen) Menschen Lebensminderung Der gewaltsame Tod und die Sanktionierung des Tötens Gesellschaftliche Ursachen und Folgen des Tötens Soziales Töten Exkurs: Sexualität und (gewaltsamer) Tod
209 209 210 213 220 221
Das kollektive Sterben und Töten, der Krieg Der Krieg Moderne Tötungssysteme Genozid und Angst vor dem Untergang des eigenen Kollektivs
226 227 233 238
Trauer, Erinnerung und soziale Restrukturierung Der Tod in der modernen Familie
241 246
Die Zukunft von Sterben und Tod
252
Literatur
263
6
Einleitung
Thanatos ist der griechische Gott des Todes, der ältere Bruder von Hypnos, dem Gott des Schlafes. Er geleitet die Menschen in die Unterwelt, zum Hades. Thanatologie1 ist die interdisziplinäre Wissenschaft des Todes, für die jedoch nicht nur im deutschen Sprachraum bisher keine eigenständige Lehr- und Forschungsstelle geschaffen wurde.2 Diese nomadisierende Wissenschaft wird von Theologen, Philosophen, Medizinern, Psychologen, Historikern, Soziologen, Ethnologen und anderen Spezialisten heimgesucht – und meist wieder nach einiger Zeit verlassen. Es gibt vielfältige Gründe für die mangelhafte wissenschaftliche Institutionalisierung der Thanatologie:
Diffusion des Todes innerhalb der modernen Gesellschaft (verschiedene Institutionen, Professionen, Wissenschaften etc.). Sterben und Tod werden je nach Subsystem (Wirtschaft, Politik, Erziehung, Gesundheit, Religion, Medien, Kunst, Naturwissenschaft etc.) unterschiedlich verarbeitet und verwaltet. Mächtige Professionen und wissenschaftliche Disziplinen besetzen die nach ihren Interessen und Codes geformten Felder. Verhinderung der Institutionalisierung neuer Wissenschaftsbereiche durch die alten herrschenden Disziplinen. Sterbende und Tote haben keine Lobby. Eine eigenständige thanatologische Professionalisierung hat aus den genannten Gründen nicht stattgefunden.
Bei Diskussionen und Entscheidungen im Todesbereich werden Sozialwissenschaftler kaum einbezogen, sondern hauptsächlich Angehörige der medizinischen, der rechtlich-politischen, militärischen und kirchlichen Subsysteme. Von 1 Thanatologie wird nicht einheitlich bestimmt. Es gibt z.B. sehr eingeschränkte Definitionen: „Unter ‚Thanatologie’ (griech. thanatos = Tod) versteht man die Wissenschaft von den Ursachen und Umständen des Todes“ (Madea/ Dettmeyer 2007, 68). 2 Das international anerkannte thanatosoziologische Forschungs- und Lehrzentrum der EU befindet sich an der University of Bath in Großbritannien. Einen Überblick über thanatologische Organisationen in verschiedenen Ländern gibt Lubberich (2010).
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der Empfängnis bis zum Grabe werden die Menschen inzwischen medizinisch betreut und staatlich überwacht. Die dünnen Stimmchen kritischer Sozialwissenschaftler gehen in den kräftigen Männerchören der Mediziner, Politiker und Bischöfe unter. Menschliches Leben wird vom Anfang bis zum Ende medizinisch und rechtlich kontrolliert. Die öffentlichen Stellungnahmen zu Sterben und Tod haben einen normativen Überhang. In der Medienöffentlichkeit auftretende Funktionäre äußern massive Wertungen im Interesse ihrer Organisationen – ohne eine fundierte wissenschaftliche Basis zur Verfügung zu haben. Sowohl die theoretischen Grundlagen als auch die empirischen Forschungen über Sterben und Tod entsprechen häufig nicht den Standards, die z.B. in der Werbeforschung gelten, obwohl Arbeitsteilung und Professionalisierung in Teilbereichen entwickelt wurden: Sterbehilfe, Palliativpflege, Bestattungsriten, Trauer, Suizid, Mord, Krieg etc. werden jeweils von spezialisierten Medizinern, Historikern, Psychologen, Ethnologen, Suizidologen, Kriminologen oder Militärwissenschaftlern bearbeitet, wobei der Gesamtzusammenhang kaum bzw. nur klischeehaft thematisiert wird. Betrachtet man die moderne Gesellschaft systemtheoretisch, dann besteht sie vor allem aus teilautonomen Subsystemen (Luhmann 1984). Nach Luhmann verarbeiten die gesellschaftlichen Subsysteme ‚Umwelt’, zu denen die konkreten Menschen gehören, gemäß ihren Codes, also kann z.B. das Subsystem Wissenschaft mit Gefühlen nicht ‚direkt’ umgehen, sondern sie nur in psychologische oder andere wissenschaftliche Begriffe und Theorien ‚transformieren’. Es gibt also nicht ‚das Sterben’ oder ‚den Tod’ in der Gesellschaft, sondern nur viele verschiedene ‚Übersetzungen’ (Preise, Einfluß, Macht, Wahrheit und andere Codes) einer anthropologischen Grundproblematik. Dies soll beispielhaft in Abbildung 1 dargestellt werden. Dieser Einblick in die gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Subsysteme, Institutionen und Felder gibt Hinweise auf die Vielfalt der Herangehensweisen, Professionalisierungen, Perspektiven, gruppenspezifischen Interessen und Interaktionspotenziale. Eine – fragmentierte – Gesamtschau wird in Lexika oder Enzyklopädien angeboten (Wittwer/ Schäfer/ Frewer 2010; Bryant 2003; Bryant/ Peck 2009; Kastenbaum 2003; Howarth/Leaman 2001). Obwohl eine Person von einem solchen Unternehmen überfordert wird, soll diese Schrift einen Überblick über die Soziologie von Sterben und Tod bieten, der weder zu undifferenziert ist, noch im Sumpf der Fakten ertrinkt. Eine solche Bereichsschau dient nicht nur akademischen Zwecken, also der Lehre und Forschung, und der Weiterbildung der Professionellen in den genannten Bereichen,
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sondern auch der allgemeinen Aufklärung in einer gesellschaftlichen Situation der sich erweiternden persönlichen Sinngebung und der öffentlichen Konflikte. Abbildung 1: Politik Recht Wirtschaft Medizin Religion Medien Kunst Bildung Biologie Ethnologie Geschichte Psychologie Soziologie
Sterbethemen in Subsystemen Beispiele für Themen Gewaltmonopol, Militär, Krieg, Terror Strafrecht, z.B. Todesstrafe, Mord, Tötung auf Verlangen Lebensversicherung, Rüstungsindustrie Lebensverlängerung, Dauerkoma, Reproduktionsmedizin Totenkult, Jenseitsvorstellungen, ars moriendi reale und fiktive Bilder des gewaltsamen Todes Ausdruck für intensive Emotionen, z.B. Trauer death education, „totes” Wissen, Bewahrung vergangener Kultur Genetik, Alterungsprozess Vergleich von Kulturen und Todeskulten historische Entwicklung der Todesvorstellungen Einstellung zum Sterben, Todesangst Mortalität und soziale Ungleichheit
Kurz weise ich noch auf vergleichbare Produkte hin: zwei neuere Werke aus Großbritannien und Frankreich. Howarth (2007) geht ausführlich auf Risikobewertung, Medikalisierung, die Hospizbewegung, die Untersuchung von Todesursachen, moderne Totenrituale, Trauer und Spiritualität ein. Clavandier (2009) bezieht sich in ihrem Buch „Sociologie de la mort“ vor allem auf die französischsprachige Literatur, d.h. philosophische und ethische Fragen spielen eine zentrale Rolle, die intellektuelle Distinktion wird hoch bewertet und die angelsächsische Theorie und Empirie wird kaum einbezogen.
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Überlegungen zu einer Soziologie des Sterbens und des Todes
Thanatosoziologie, die Soziologie des Sterbens und des Todes, ist innerhalb der deutschsprachigen Soziologie ein schwach entwickeltes Gebiet (Feldmann 2003, 2010a). Im britischen bzw. anglophonen Bereich ist die Lage günstiger (Walter 2008). Außerdem wird die Orientierung durch Theorievielfalt erschwert, wobei es Modeströmungen gibt, z.B. die Vorliebe für postmoderne Konzeptionen (Baudrillard, Bauman) und Foucault in den 80er und 90er Jahren. Außerdem wird häufig an die nationalen Gestalten angeschlossen, britische Soziologen wählen Giddens, französische Thomas und deutsche Luhmann oder Habermas. Nur das schmale Büchlein „Über die Einsamkeit der Sterbenden“ von Elias (1982) wurde von Thanatologen aller drei Nationen rezipiert. Auch wie man sich dem Thema nähert, ist von sozialen und historischen Bedingungen abhängig.
Durkheim hat als Franzose, der im 19. Jahrhundert die grande nation gefährdet sah3, das Thema Suizid behandelt, da er die Suizidrate als Indikator für Integration und Stabilität eines Kollektivs ansah. Jahrzehnte lang haben viele durch die Brille der Verdrängung des Todes das Feld betrachtet. In der neueren britischen Soziologie wird u.a. der Zugang zu dem Thema über die Soziologie des Körpers gewählt (Seale 1998, 11 ff; Howarth 2007, 177 ff).
Es gibt verschiedene Möglichkeiten, in das Reich der Thanatosoziologie einzutreten. Auf vier Wegen wird es hier versucht: 1. 2. 3.
Im sozialwissenschaftlichen Raum nach Sterben und Tod suchen. Die Leitgestalten der Soziologie befragen (vgl. Feldmann/Fuchs-Heinritz 1995a). Grundlagentheorien für eine Erörterung des Themas heranziehen.
3 Ende des 19. Jahrhunderts wurde das französische Volk als „sterbend“ und das deutsche Volk als „fruchtbar“ und „wachsend“ bezeichnet.
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4.
Die historische Entwicklung thanatosoziologischen Denkens nachzuvollziehen.
In den meisten sozialwissenschaftlichen Theorien und Untersuchungen wird der Tod nicht thematisiert – sowohl der Tod von Individuen als auch von Kollektiven oder anderen sozialen Gebilden. Das Individuum, die Familie, die Gruppe und die Gesellschaft wachsen, wandeln sich, erfüllen Funktionen, integrieren und desintegrieren sich, doch über ihr (unvermeidliches!) Ende wird kaum gesprochen oder geschrieben. Implizit tradieren die meisten Sozialwissenschaftler in säkularisierter Form den Unsterblichkeitsglauben. Der progressive kritische Habitus der meisten Leitsoziologen huldigt dem Glauben an eine kontinuierliche Gesellschaftsverbesserung – an Todesbewältigung. Allerdings weisen Termini wie Lebensqualität, Entfremdung, Verdinglichung, Repression, Verdrängung, Versklavung, Herrschaft, Ausbeutung, soziale Ungleichheit, Exklusion oder Scheitern (Feldmann 2004) auf das Problem der Lebensminderung und -verkürzung und der gesellschaftlichen Unterdrückung potentieller Lebensäußerungen. Die Proto-Soziologen des 19. Jahrhunderts, die sich in der Regel ihren Nationalstaaten verpflichtet fühlten, haben sich primär um das Kollektiv und sein Überleben gekümmert, der Tod der Individuen wurde ihnen kaum zum (soziologischen) Problem. Sie wandten ihre Aufmerksamkeit auf Großkollektive, vor allem Staaten, Klassen, Rassen, Völker, Nationen und Kulturen. Bis ins 20. Jahrhundert hinein zeigte sich eine Parallelität in den biologischen und soziologischen Evolutionstheorien: die einzelnen Organismen und Menschen werden zu Vehikeln, deren Tod zwar ein notwendiges aber letztlich peripheres Ereignis darstellt. Das wissenschaftliche Interesse richtet sich auf das Bedeutsame, in der Biologie auf die Gene und in der Soziologie auf soziale Entitäten (Institutionen, Kommunikation etc.). In Europa war bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts ein materieller und geistiger Imperialismus, Ethnozentrismus und Rassismus vorherrschend, was sich in der gleichgültigen oder akzeptierenden Haltung der europäischen Eliten gegenüber Genoziden und der brutalen Unterdrückung ‚minderwertiger’ Gruppen und Ethnien äußerte. Der Tod des Einzelnen war ein pompöses Ereignis, wenn er ein leuchtender Repräsentant eines gefeierten Kollektivs war, der Tod der meisten ohne jede allgemeine Bedeutung – eine traditionelle Einstellung der europäischen Herrschaftseliten, die die zynische Vernichtung hunderttausender Menschen in Kriegen begünstigte. Der heroische Tod auch des einfachen Mannes im Dienst des Kollektivs (vor allem des Vaterlandes bzw. der Nation) freilich wurde
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vor allem im 19. Jahrhundert ideologisch hochgepäppelt und übte auch auf viele Intellektuelle seine Faszination aus. Frühzeitiges Sterben und regelmäßige Tötung von Personen und Kollektiven wurden von den abendländischen Eliten als normal und ‚gottgegeben’ angesehen. Für Marx stand das Leben und Sterben von Klassen, Gesellschaftsformationen und Produktionsverhältnissen im Zentrum seiner Überlegungen. Auch für Durkheim waren die Individuen im Dienst des Kollektivs tätig und die Erhöhung der Selbstmordraten interpretierte er als Zeichen der Krise der modernen Gesellschaft, als Hinweis auf Anomie (Normschwäche) bzw. Desintegration. Auch Max Weber beschäftigte sich intensiv mit der ‚Sinnkrise’ des modernen Menschen. Für ihn war diese ‚Sinnkrise’ prinzipieller Natur, d.h. in der Struktur (Rationalisierung, Bürokratisierung) der modernen Gesellschaft liegend, und folglich durch Interventionen nicht zu beheben. Weber (1968) stellt in einer kurzen Passage in seiner Schrift „Wissenschaft als Beruf“ (1910) die Frage: Wie werden Todeserfahrungen und Sinngebung durch die Rationalisierung der Handlungen, die „Entzauberung der Welt“ und die ökonomisch-wissenschaftlich-technische Beherrschung der ‚Natur’ und der Gesellschaft verändert? Weber bezieht sich auf die radikale Antwort Tolstois: Durch Fortschritt und Modernisierung wird der Tod ‚sinnlos’. Die Gesellschaft ist nicht mehr stabil, sondern in einem prinzipiell unabschließbaren Fortschrittsprozess, wodurch auch das Individuum keine abgeschlossene soziale Entwicklung mehr haben kann, also durch den Tod willkürlich aus diesem Prozess herausgerissen wird. Die religiösen, politischen und anderen kulturellen Weltanschauungen und Ideologien werden in zunehmendem Maße als inkonsistent, relativ beliebig und austauschbar angesehen. Weber verwendet jedoch noch positive Metaphern, wie „der Forderung des Tages gerecht werden“ oder „den Dämon finden und ihm gehorchen, der des Lebens Fäden hält“, um dem Relativismus und Defaitismus entgegenzutreten – ein gefährlicher Heroismus in einem hypernationalistischen Staat. Der von Intellektuellen geäußerte Zweifel am ‚Sinn’ des ‚normalen Sterbens’ konnte als Verstärker für den Wahn des Supersinns des heroischen Schlachtentodes oder des totalen Krieges verwendet werden! Ein moderner sozialwissenschaftlicher Todesdiskurs hat erst in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts begonnen, in den USA u.a. durch R. Fulton, B.G. Glaser, A. L. Strauss, D. Sudnow, T. Parsons und in Deutschland durch Ch. v. Ferber, A. Hahn und W. Fuchs geleitet.
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Doch Sterben und Tod ist noch immer ein Randthema in der Soziologie. Von Ferber (1963, 1978) weist die professionelle Verlegenheit als Teil einer allgemeinen gesellschaftlichen aus, indem er die Kommunikation über den Tod als „behindert“ bezeichnet. In einer Radikalisierung von Gedanken Georg Simmels und Max Webers postuliert von Ferber (1978, 51) einen Antagonismus zwischen Individuum und Gesellschaft, zwischen individuellem Freiheitspotential und gesellschaftlichem Zwang. „Ein verbindliches, kommunizierbares Verhältnis zum Tode wiederzugewinnen heißt also, den schweigenden Totalitarismus der Gesellschaft brechen.“
Fuchs (1969) knüpft an Modelle der kulturellen Evolution an: Auf die Phase der magisch-archaischen Todesbilder folgt die der modern-rationalen Todesbilder.4 Ziegler (1977), der Konflikte zwischen der Industriekultur und anderen Kulturen in seine Überlegungen einbezieht, sieht in der Archaik ein Mittel des Widerstands und der Kritik gegenüber dem Imperialismus der Industriekultur. Auch innerhalb der Industriekultur werde mit Hilfe ‚atavistischer’ Vorstellungen und Ideologien Widerstand gegen die Verwaltung des Sterbens durch Thanatokraten geübt. Eine nüchterne weniger spekulative Sterbe- und Todesforschung ist vor allem im angelsächsischen Raum entstanden (z.B. Riley 1983; Kearl 1989; Clark 1993; Seale 1998). Viele englischsprachige Autoren setzen harte Fakten an den Anfang ihrer Berichte: z.B. die dramatische Veränderung der Mortalität in den modernen Industriestaaten gegenüber allen früheren Kulturen und Gesellschaften. Blauner (1966) unterscheidet zwischen Kollektiven mit hoher und solcher mit niedriger Mortalität. Die Fundierung zentraler Werte und Normen in komplexen Verwandtschaftssystemen eignet sich für Gesellschaften mit hoher Mortalität, da sie trotz der Beziehungsbrüche durch ständig auftretenden vorzeitigen Tod Stabilität gewährleisten. Die Einbindung der Ahnen und die Antizipation der Lebenden, dass sie auch als Tote dem sozialen System angeschlossen bleiben, integrieren die Einzelnen in die Gemeinschaft und schützen diese vor Anomie und Zerfall.5
4 In seinem Nachwort bezeichnet Fuchs selbst die „Polarität von Archaik und Rationalität“ als unzureichend. Die Dichotomie Rationalität contra Archaik, die Fuchs seinem Evolutionskonzept zugrundelegt, relativiert er selbst durch den Hinweis, dass sich die beiden Dimensionen auch in der modernen Kultur verschränkt zeigen. 5 Diese Annahme wurde von Comte in seine soziologischen Konstruktionen eingebaut (vgl. FuchsHeinritz 1998, 251 ff).
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Die Institutionen in der modernen Gesellschaft haben sich von den Individuen emanzipiert, ihre bürokratischen Strukturen sind unpersönlich und kennen keine Ahnen. Verwandtschaftssysteme sind peripher geworden und in die Privatsphäre abgesunken. Somit haben sie auch ihre ideologische und religiöse Aufladung großenteils verloren. Der physische Tod ist damit ein persönliches Problem der Betroffenen geworden, denn gesellschaftlich ist er entschärft. Nach Parsons und Lidz (1967) ist die naturwissenschaftliche Betrachtung nicht nur für die Wissenschaft sondern für die gesamte Gesellschaft zur verbindlichen Anschauung geworden: Der Tod der Individuen ist nicht nur unvermeidlich sondern eine unverzichtbare Voraussetzung für die Entwicklung der Art und für die Evolution. Ganz analog zu dieser biologischen Betrachtung sehen Parsons und Lidz den Tod der Individuen funktional für die gesellschaftliche Entwicklung. Die Positionen und Rollen müssen immer wieder von neuen der jeweiligen nächsten Generation angehörenden Individuen besetzt werden, um soziale und kulturelle Innovationen und Anpassungsleistungen zu ermöglichen. Der zentrale objektive Unterschied zwischen modernen und traditionellen Gesellschaften besteht in der Art und Wirksamkeit der Kontrolle des Todes. In der modernen Gesellschaft besteht für die Mehrzahl der Menschen die Gewissheit bzw. eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass sie erst nach einem relativ langen Leben eines ‚natürlichen’ Todes sterben. Der gewaltsame frühzeitige Tod wurde zurückgedrängt. Die Sterbesituationen unterliegen einer starken medizinischen, rechtlichen und bürokratischen Kontrolle. Durch Modernisierung und Säkularisierung ist die Grundlage einer allgemein anerkannten und integrierten Ritualisierung des Todesbereichs aufgehoben und der Tod wird innerhalb der gesellschaftlichen Subsysteme arbeitsteilig behandelt. Nach dieser kurzen Einführung in thanatosoziologische Überlegungen wird im Folgenden eine vorläufige theoretische Strukturierung angeboten. Man kann jede ‚soziale Tatsache’, also auch Sterben und Tod, mit Hilfe von Grundlagentheorien analysieren und gesellschaftlich verorten. Als Grundlagentheorien wähle ich hier eine Kombination klassischer Ansätze: Funktionalismus/Systemtheorie, Konfliktansätze und Symbolischen Interaktionismus (vgl. Feldmann 2006, 27 ff).
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Der klassische Funktionalismus6 als dominante soziologische Theorie der 1940er und 1950er Jahre in den westlichen Industriestaaten hatte ein soziales System im Blick und dessen Erhaltung und griff folglich die ‚sinnkritischen’ Gedanken Webers nicht auf, sondern entwickelte sich zu einer makrosoziologischen Systemtheorie, die weder den Tod von Systemen noch den von Individuen ausführlich in ihre Reflexionen einbezog. Das Hauptinteresse funktionalistischer Theoretiker richtete sich auf die soziale Integration, das Gleichgewicht von sozialen Systemen und auf die Koordination der Teilsysteme.7 Eine funktionalistische Sicht wendet sich nicht einzelnen sondern Gruppen und Kollektiven zu. Für die Kategorisierung von Kollektiven gibt es Indikatoren, der wichtigste im thanatologischen Bereich ist die durchschnittliche Lebensdauer. Eine zentrale funktionalistische Frage lautet: Welche Funktionen hat die Lebensdauer (Durchschnitt, Streuung etc.) für die Gesellschaft bzw. für Großkollektive? Sowohl eine zu starke Steigerung der durchschnittlichen Lebensdauer als auch ein größere Gruppen betreffendes frühzeitiges Sterben, z.B. durch Aids in manchen afrikanischen Ländern, kann zu sozialen und politischen Störungen führen, also dysfunktional sein.8 Doch auch die Verschränkung von Individuum und Gesellschaft kann funktionalistisch betrachtet werden. Das Individuum wird durch das Bewußtsein seiner Endlichkeit, der ablaufenden Lebenszeit, zur ‚Leistung’ motiviert. Da das Kollektiv bzw. die Gesellschaft das Individuum überdauert, wird eine Motivation gefördert, Leistungen im Dienste des Kollektivs durchzuführen, weil dadurch eine Teilnahme an der kulturell konzeptionierten Unsterblichkeit ermöglicht wird. Doch immer bleibt ein Spannungsverhältnis: Die Individuen werden gesellschaftlich instrumentalisiert, im krassen Fall, wenn sie im Krieg ‚verheizt’ werden. Seltener instrumentalisieren Individuen Gemeinschaft oder Gesellschaft, verhalten sich ‚verantwortungslos’ gegenüber dem Kollektiv – Hitler, Amokläufer, Finanzspekulanten etc. Konfliktansätze beziehen sich auf die Konkurrenz zwischen Gruppen und Kollektiven. Zuerst ist die unbestreitbare Tatsache zu nennen, dass die Lebensund Überlebenschancen weltweit primär ökonomisch bestimmt werden und dass 6
Der Funktionalismus wird von vielen Soziologen als veraltet angesehen. doch er ist eine herrschende Perspektive in den Institutionen Politik, Recht und Medizin und ein bewährtes Theorieinstrument des Alltagsbewusstseins. 7 Diese Aussagen treffen auf den funktionalistischen mainstream zu, nicht auf eine Nebenlinie des Hauptvertreters des Funktionalismus Parsons (vgl. Feldmann 1995). 8 Der „rechtzeitige Tod“ im funktionalistischen Sinne betrifft Durchschnittswerte und in der Regel nicht den Einzelfall. Folglich könnten Minderheitsgruppen frühzeitig ihr Leben beenden oder zu „Langlebern“ werden, ohne dass dies dysfunktional wäre.
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nach wie vor schwere Kämpfe um Lebensressourcen stattfinden. Nur die Minderheit der reichen Staaten bzw. der wohlhabenden Bevölkerungsgruppen in den reichen Staaten können sich Gesellschafts- und Gesundheitssysteme leisten, in denen die grundlegenden Lebenserhaltungsmittel fast allen zur Verfügung stehen – wohlgemerkt nur die grundlegenden, nicht darüber hinausgehende; und die Polarisierung zwischen grundlegend und darüber hinausgehend nimmt auch in den reichen Staaten zu, vor allem in den USA. Die soziale Ungleichheit im Sterbebereich ist in den reichen Staaten keineswegs aufgehoben (vgl. Helmert et al. 2000). Dies betrifft sowohl die quantitativen Aspekte (7 bis 10 Jahre Lebensverlust für unterprivilegierte Gruppen) als auch die qualitativen (Lebens- und Sterbequalität), wobei über die qualitativen Aspekte nur unzureichend repräsentative Daten existieren (Freund et al. 2003, 39 ff). Staaten und Staatengruppen stehen im Wettbewerb, z.B. welche durchschnittliche Lebensdauer sie ihren Bürgern garantieren können. Lebenslänge wird nicht primär über das Sekundärsystem Medizin gesteuert, sondern ergibt sich als Emergenzeffekt des Zusammenwirkens aller Teilsysteme, vor allem von Wirtschaft, Politik und Bildung. Konfliktansätze werden zwar primär auf der Makroebene lokalisiert, doch auch auf der Mesoebene begegnen sie in Organisationen und Professionen. Verschiedene Professionen konkurrieren um Ressourcen und Klienten: Ärzte, Krankenpflegepersonal, Altenpfleger, Priester, Juristen, Bestatter, Psychologen. Historisch am bedeutsamsten war der ‚Kampf’ zwischen Ärzten und Funktionären der Kirchen, der mit Hilfe des Staates, aber auch der Mehrheit der Bevölkerung, zu Gunsten der Ärzte entschieden wurde. Ein anderer von der Makro- bis zur Mikroebene reichender Konfliktansatz ergibt sich aus feministischen bzw. Geschlechtertheorien. Sterbende haben zumeist einen niedrigen Status. Dienstleistungen für Klienten mit niedrigem Status werden Frauen zugeordnet, die eine traditionelle Rollenbindung als Pflegekräfte für Schwerkranke und Sterbende und als Trauernde tragen. Die Trauerrolle ist inzwischen in den hochindustrialisierten Staaten weitgehend privatisiert und zeigt teilweise anomische Züge, doch faktisch fällt der größte Teil der Trauer nach wie vor den Frauen zu. Die öffentlichen und privaten Pflegerollen werden noch immer überwiegend von Frauen wahrgenommen (vgl. Seale/Cartwright 1994, 75 f), doch zeigt sich eine Aufwertung, z.B. durch Professionalisierung und Entwicklung der Pflegewissenschaft. Die symbolisch-interaktionistischen Basistheorien9 nahmen in ihren Grundstrukturen ebenso wenig wie die klassischen Makrotheorien die Todesproblematik auf. Doch die grundlegenden empirischen soziologischen Untersuchungen 9 Hier wird eine weiter Begriff von Symbolischen Interaktionismus verwendet, der phänomenologische, ethnomethodologische, ethnographische und partiell sozialpsychologische Ansätze einschließt.
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des Sterbens von Glaser, Strauss, Sudnow u.a. sind diesen Ansätzen verpflichtet. Viele neuere soziologische Untersuchungen über das Sterben in Krankenhäusern oder Hospizen sind teilweise dieser Theoriegruppe zuzuordnen (z.B. Seymour 2001, Göckenjan/Dreßke 2002, Streckeisen 2001, Zwettler 2001, Dreßke 2005). Begriffe werden in interaktiven und kommunikativen Auseinandersetzungen mit Bedeutungen und Assoziationen versehen und ihr normaler Gebrauch wird festgelegt: natürlicher Tod, Euthanasie, Sterbehilfe, Verdrängung des Todes, Hirntod. Diese Definitionsprozesse können durch eine Kombination von symbolisch-interaktionistischen, konfliktorientierten, funktionalistischen und wissenssoziologischen Perspektiven analysiert werden. Die medizinisch-technischen Praktiken in Krankenhäusern erscheinen naturwissenschaftlich legitimiert und deshalb der symbolisch-interaktionistischen Analyse entzogen. Doch mikrosoziologische Untersuchungen zeigen, dass sie nicht nur im Bewusstsein der Betroffenen anders gedeutet werden, sondern auch in ihrer konkreten Gestaltung bereits sozial geformt werden. Sie dienen u.a. der Herstellung des ‚natürlichen Sterbens’, wobei zunehmend ‚Kompetenz’ und ein ‚heimliches Curriculum’ erforderlich sind, um das Sterben als ‚natürlich’ und ‚würdevoll’ erscheinen zu lassen (vgl. Harvey 1997). Dreßke (2008, 233) beschreibt die ‚sanfte Sterbetechnologie’ im Hospiz: „Die Steuerung des Sterbens als organisatorischer Auftrag orientiert sich immer am körperlichen Verfall, und zwar entsprechend der Idealisierung eines natürlichen und friedlichen Sterbens.“ Betrachtet man die derzeitige Diskurslage, dann werden zwar implizit nach wie vor funktionalistische Ansätze verwendet, doch seit den 1990er Jahren gewannen „poststrukturalistische und postmoderne Konzeptionen an Bedeutung, v.a. Bezüge zu Foucaults Werk (Seale 1998). Konflikttheorien wurden vernachlässigt. Die öffentlichen Debatten über Abtreibung, Todesstrafe, Hirntod, künstliche Befruchtung, Pränataldiagnostik, Hospiz, Palliativmedizin etc. wurden mit Hilfe von hermeneutischen Verfahren, Diskursanalysen und wissenssoziologischen Methoden untersucht (z.B. Schneider 1999; Zimmermann 2007)“ (Feldmann 2010b).10
Strukturierung des Arbeitsfeldes Die Differenzierungen der Begriffe von Sterben und Tod, die in der wissenschaftlichen Literatur zu finden sind, ergeben sich aus kulturellen Traditionen,
10 Da eine kritische reflexive multiparadigmatische Thanatologie (Feldmann 2010c) die bisherigen Sterbe- und Todesdiskurse kaum prägte, wird sie auch in diesem Text nur sporadisch auftreten.
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Gruppenkämpfen und aufgrund der Spezialisierung und Professionalisierung.11 Ursprünglich haben Philosophie, Theologie und Rechtswissenschaft das semantische Feld stark besetzt. Inzwischen ist eine Biologisierung und Medizinisierung der Begrifflichkeit dominant, wobei die beteiligten Wissenschaften und Professionen zusätzlich politisch und wirtschaftlich gesteuert werden. Somit sollten Sozialwissenschaftler und gebildete Menschen das semantische Feld von Sterben und Tod erkunden und die vorhandenen Begriffe, Bilder und Modelle auf ihre Brauchbarkeit hin prüfen und mit kritischer Distanz nutzen, de- und rekonstruieren (vgl. Pfeffer 2005, 259 ff; Feldmann 2010c). Eine Hilfe für Theorie- und Empirieentscheidungen können Vorschläge zur Strukturierung und zur Typenbildung bieten:
das eigene und das fremde Sterben physisches, soziales und psychisches Sterben (Sudnow, Feldmann) Tatsachen, Einstellungen und Praktiken (Schneider) Fremd- und/oder Selbstbestimmung des Sterbens (‚natürliches’ und ‚gewaltsames’ Sterben) Sterben als Prozess oder Übergang (rites de passages) (van Gennep, Kellehear) das Sterben von Individuen, Gruppen, Kollektiven, Institutionen, Sprachen und Kulturen.
Eine zentrale Differenzierung des Todesfeldes ergibt sich durch die Analyse des ‚Wesens des Menschen’, der sowohl Teil einer Gesellschaft und Kultur als auch freies Individuum, Teil der Natur, aber auch ‚Freigelassener’ der Natur ist. Dass ein menschliches Individuum aus ‚Wesensteilen’ besteht, war eine Basisannahme vieler Kulturen (Zander 1999). Das gängige abendländische Modell ist dualistisch strukturiert: Seele und Körper. Wenn man in einer säkularen sozialwissenschaftlichen Konzeption die Seele12 mit Identität ‚übersetzt’, so bietet sich folgende Dreiteilung an: Körper, personale und soziale Identität13. 11 Eine offensichtliche Strukturierung ergibt sich durch die faktische Arbeitsteilung und Institutionalisierung (Krankenhaus, Hospiz, Suizidologie, Bestattung, Religion etc.) – mit der Konsequenz der theoretischen Heterogenität und der Segmentierung der Arbeitsgruppen. 12 Der Ausdruck „Seele“ wird wahrscheinlich von den meisten Sozialwissenschaftlern in einem anderen semantischen Feld eingeordnet als Ich, Identität, Bewusstsein etc. In dem Kontext dieses Buches wird er in dieses semantische Feld gestellt, in dem er auch „früher“ lokalisiert war und nach Meinung vieler vielleicht der meisten Menschen auch in den Industriestaaten noch enthalten ist. Damit wird von mir freilich keine eindeutige philosophische oder wissenschaftstheoretische Position bezogen, sondern nur die wissenschaftliche Diskussion aufgelockert. 13 Kriz (1999, 129) nennt die drei personellen Ebenen: bio-somatisch, kognitiv-emotional und interaktionell.
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Abbildung 2:
Homo triplex
Subjekt, Person, Habitus etc. partizipieren an drei Lebenssystemen: dem organischen, dem psychischen und dem sozialen System.14 Leben und Sterben in diesen drei Bereichen erfolgen mit einer relativen Unabhängigkeit, d.h. Sterben und Tod können auf verschiedenen Ebenen beobachtet und beschrieben werden:
als Körpertod oder physischer Tod (physisches Sterben) als Tod der Seele oder des Bewusstseins (psychisches Sterben) als sozialer Tod (soziales Sterben).
Die drei Sterbeformen sind soziale Konstruktionen, wobei im herrschenden westlichen Weltbild das jeweils anerkannte naturwissenschaftliche Paradigma als Masterkonstruktion gilt – im Alltagsbewusstsein der (säkular) Gebildeten spiegelt sich das als Konstruktion der so genannten Primärrealität. Durch eine gängige Interpretation dieser Masterkonstruktion ergibt sich die metatheoretische Position, das physische Sterben sei ‚tatsächliches Sterben’ und soziales und psychisches Sterben seien nur Metaphern oder sozialwissenschaftliche Konstrukte.15 Dass die Bestimmung und Gestaltung des physischen Sterbens ebenfalls durch soziale Konstruktionen erfolgt, soll noch kurz verdeutlicht werden (vgl. Seymour 2000).
14 Freud, Popper, Elias, Luhmann und andere haben ähnliche Realitätsebenen, Systeme oder Perspektiven konstruiert (vgl. z.B. Haller 1999, 514 ff). 15 Vgl. zur sozialkonstruktivistischen Position in der Thanatologie Rosenblatt 2001.
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Abbildung 3:
Formen des Lebens und Sterbens
Physisches Gesundheit Jugend Lebenslänge Krankheit Alter Schmerz Physisches
Formen des Lebens und Sterbens Psychisches Leben Selbstverwirklichung
Bewusstseinsverlust Todeswunsch Psychisches Sterben
Soziales Status Leistung Eigentum Sozialer Abstieg Rollenverlust Marginalisierung Soziales
Den physischen Tod als Hirntod zu bestimmen, ist bekanntlich eine soziale, medizinische und rechtliche Definition16 (vgl. Lindemann 2001). Man könnte ‚den Tod’ auch anders bestimmen, z.B. als Zelltodkontinuum, als Verlust der Reproduktionsfähigkeit eines Individuums oder als Ende einer Reihe von Wiedergeburten. Wann das physische Sterben beginnt und wann es endet, wird vor dem Hintergrund naturwissenschaftlicher Theorien soziokulturell festgesetzt, in der modernen Gesellschaft in der Regel durch Ärzte und Juristen. Was als Beginn oder Ende des Lebens eines Menschen festgelegt wird, ist folglich keine natürliche Tatsache, sondern eine soziale Tatsache. Auch die Naturalisierung bzw. Vernaturwissenschaftlichung des Todes ist eine soziale Tatsache (vgl. Feldmann 1998a). Kellehear äußert sich kritisch bezüglich der Biologisierung von Sterben und Tod: „Debates about the determination of death have encouraged an academic climate conducive to uncritical acceptance of biological criteria for death with an under-recognition of the crucial role of the social criteria for death” (Kellehear 2008, 1541). Auch die Annahme, dass mit dem physischen Tod die soziale Identität irreversibel zerstört ist, ist abhängig von soziokulturellen Wertungen und Gruppenideologien.17 Gemeinsames Merkmal des physischen, psychischen und sozialen Sterbens ist die Reversibilität, denn immer mehr Menschen werden aus einem Zustand zurückgeholt, der ‚unter natürlichen Bedingungen’ fast zwangsläufig dem physischen Tod kurz vorausgeht. Wie sind die drei Formen des Sterbens und des Todes normativ geregelt? Das physische Sterben ist ein Alltagsbegriff, der allerdings unter medizinischer
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Schneider (1999, 10 ff) spricht z.B. von „Deutungsmanagement“ und von einem gesellschaftlichen Definitionsprozess: „Diskurse, verstanden als „Flüsse von sozialen Wissensvorräten durch die Zeit“ (Jäger 1999, S. 158), produzieren, dabei verschiedenen Interessen folgend, auf je eigene Art soziale Wirklichkeit.“ (ebd., 12) 17 Nach Lindemann (2001, 319) bedeutet die durch einen Arzt erfolgende Feststellung des (physischen) Todes: „Die Mitgliedschaft in der Staatsorganisation und der damit eng zusammenhängende Status als soziale Person erlischt. In diesem Sinn ist der physische Tod der soziale Tod.“
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und rechtlicher Überwachung steht18, das soziale Sterben wird u.a. durch Altersgrenzen für die Berufstätigkeit oder durch das Strafrecht19 geregelt, das psychische Sterben wird rechtlich normiert durch Gesetze und professionelle Normen zur Entmündigung und zur Behandlung von psychisch Kranken. Individuum und Kollektiv bzw. Gesellschaft sind durch den Tod miteinander verschränkt. So wurde in allen Kulturen zwischen individuellem und kollektivem Tod unterschieden. Doch eine weitere Differenzierung sollte noch einbezogen werden, die sich aus der Primärgruppensozialisation, der Beziehung zwischen Kind und Mutter bzw. Bezugspersonen erschließen lässt. Somit ist mindestens folgende Unterscheidung gerechtfertigt:
der eigene Tod der Tod des anderen, d.h. von Bezugspersonen der allgemeine oder kollektive Tod.
Diese Kategorisierung ergibt mit den Sterbeformen verbunden einen differenzierten Einblick in das Feld. Abbildung 4:
Typologie des Sterbens und des Todes Physisches
Der eigene Tod Der Tod des anderen
Lebensverlängerung Sterbeort
Todesursache Umgang mit der Leiche Der allgemeine Massensterben Tod (Krieg, Katastrophen)
Psychisches Sterben Identitätserosion Lebensqualität Todesangst Sterbebegleitung Trauer Erinnerung Ängste vor kollektiver Vernichtung
Soziales Rollen- oder Statusverlust Mikrosystemerschütterung Genozid Vertreibung
Gemäß einer funktionalistischen oder systemtheoretischen Sichtweise verfügen Subsysteme oder Institutionen über vorherrschende Orientierungsmuster (vgl. Rosengren 1984).
18 Ein Beispiel für daraus entstehende Konflikte bietet die unterschiedliche Beurteilung von Dauerkoma-Patienten als sterbend oder nicht-sterbend. 19 Durch das Strafrecht kann soziales Sterben produziert werden (z.B. lebenslängliche Freiheitsstrafe) oder es kann Personen, die andere zu sozialen Sterbeprozessen zwingen, Strafe angedroht werden (z.B. jemanden gegen seinen Willen privat gefangen zu halten).
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1. Normative Orientierung: Die leitenden Werte, Normen und Regeln werden durch die politischen, rechtlichen und religiösen Systeme vorgegeben. 2. Kognitive Orientierung: Die kognitive Analyse der Welt und die Pflege des ‚Feuers der Rationalität’ werden durch Wissenschaft und Bildung gewährleistet. 3. Instrumentelle Orientierung: Die Mittel zur Zielerfüllung werden durch Ökonomie und Technik bereitgestellt. 4. Expressive Orientierung20: Ästhetik, Kunst, der dionysische Bereich, Ekstase, auch Aspekte der Religion (Mystik) bzw. der Religiosität können hier zugeordnet werden, nicht zu vergessen die expressiven Formen der Tötung wie Amoklauf, Triebverbrechen und ein Teil der Suizide. Im Folgenden sollen Beispiele die verschiedenen Orientierungsmuster verdeutlichen: Normative (wertrationale) Todeskonzeptionen: der gute Tod; der natürliche Tod; der religiös legitimierte Tod; Ablehnung oder Befürwortung der Selbsttötung, der Euthanasie oder der Abtreibung; These von der Verdrängung des Todes. Gemeinsame bindende normative Grundlagen für alle Gesellschaftsmitglieder sind nur mehr im Recht vorhanden. Instrumentelle (zweckrationale) Todeskonzeptionen: z.B. Wahrscheinlichkeitsberechnungen für Lebens-, Kranken- und Rentenversicherungen; Geschwindigkeitsbegrenzungen; Strategien professioneller Killer. Kognitive Todeskonzeptionen (objektiver Tod): (natur)wissenschaftliche oder medizinische Definitionen und Annahmen über Sterben und Tod (z.B. Hirntod, Zelltod). Durch die zunehmende Bildung in der Bevölkerung nimmt die Bedeutung des kognitiven Bereiches zu, der zur Differenzierung und rational gesteuerten Selektion der normativen Todeskonzeptionen beiträgt.21 Expressive Todeskonzeptionen (schöner Tod): Tod als Rausch; Liebestod; Mordlust; Heldentod; intensive Trauer; kollektive Kriegsbegeisterung. Es ergeben sich gesellschaftliche Spannungen. Denn die kulturelle Affektzähmung (Elias), die kognitive Dominanz und der hohe Wert des langen Lebens (vorsichtiges Verhalten) lassen exzessive Expressivität zu seltenen und abweichenden Ereignissen werden. Doch andererseits hat die expressive Orientierung durch die Medialisie20
Walter (1993, 131) nennt die in der neuen Säkularisierung und in der New-Age-Bewegung enthaltene Forderung, seinen Gefühlen vor allem bei Trauer offen Ausdruck zu geben, „expressivism“. 21 Durch eine sozialwissenschaftliche Thanatologie können kognitive Konzeptionen in der Konkurrenz mit normativen Konzeptionen gestärkt werden.
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rung an Bedeutung gewonnen: Lady Diana, spektakuläre Fälle der Sterbehilfe, des Suizids, der Tötung. Die beiden Taxonomien der kulturellen Orientierungsmuster und der Identitätsteile (homo triplex) kann man kombinieren, um Konstrukte, Institutionen und Arbeitsbereiche zu beschreiben. Abbildung 5: normativ instrumentell kognitiv expressiv
Formen des Sterbens und kulturelle Orientierungsmuster physisches Sterben Maximierung der Lebensdauer Reanimation Hirntod als Kriterium Amoklauf
psychisches Sterben Erhaltung der personalen Identität Psychopharmaka, Drogen Bilanzsuizid schwere Depression
soziales Sterben Erhaltung der sozialen Identität Pflegeversicherung, Pflegedienst soziales Kapital, Netzwerkposition Ausstoßen aus der Gemeinschaft
Während in den traditionellen Kulturen Maximierung der Lebensdauer kein hochgeschätztes Ziel war, sondern z.B. Tod im Kampf mit den Feinden, also im normativen Bereich bedeutsame Unterschiede zu der modernen Gesellschaft feststellbar sind, erscheint auf den ersten Blick die Erhaltung der personalen und sozialen Identität ein transkulturelles Ziel. Doch die Entwicklung einer personalen Identität und die soziosemantische Trennung von personaler, sozialer und körperlicher Identität sind selbst kulturelle Produkte, wodurch die inter- oder transkulturelle Verwendung dieser Begriffe problematisch wird. Das traditionelle japanische Menschenbild geht von einer untrennbaren Einheit der ‚Körperteile’ (Teile eines Menschen) aus, da sonst die Identität gefährdet ist (Ohnuki-Tierney 1994). Somit stoßen Organtransplantationen und die Hirntoddefinition in Japan auf Widerstand. Wenn man den historischen Prozess des Umgangs mit Sterben und Tod in der westlichen Kultur mit Hilfe dieser Taxonomie beschreiben will, so erkennt man eine Verschiebung von den normativen und expressiven Orientierungen zu den kognitiven (wissenschaftlichen) und instrumentellen. Die Todes- und Trauerrituale standen in traditionellen Kulturen im Zentrum des kulturellen und des sozialen Bereichs. Sie werden in der modernen Gesellschaft immer mehr in den psychischen (privaten) Bereich verschoben. Würde heute jemand nach dem Tod einer Bezugsperson sich die Haare ausreißen oder sich
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absichtlich in der Öffentlichkeit Wunden zufügen, also stark expressiv agieren, so würde er für psychisch krank erklärt, während dies in vielen traditionellen Kulturen normativ-kulturell vorgeschrieben oder zugelassen war. Das Kriegführen durch modernes westliches Militär ‚entartet’ – glücklicherweise – weniger expressiv, als es in traditionellen Kulturen oder bei Bürgerkriegen in Afrika der Fall war und ist, sondern wird – zumindest offiziell – instrumentell und kognitiv gesteuert.22 Suizid kann expressiv, z.B. in Zusammenhang mit schweren Depressionen, bestimmt sein, aber auch normativ-kulturell, z.B. Harakiri im traditionellen Japan, oder kognitiv, als Bilanzsuizid. In der medizinischen Suizidologie wird eine derartige Differenzierung abgelehnt, um ein reduktionistisches normativ-naturwissenschaftliches Zwittermodell psychischer Krankheit mit dem Schwerpunkt Depression im Interesse der pharmazeutischen Industrie durchzusetzen. Die Instrumentalisierung des Körpers und des (physischen) Sterbens wird durch den wissenschaftlichen Fortschritt immer mehr vorangetrieben. Doch ‚hinter’ den instrumentellen professionellen Verfahrensweisen stehen latente normative (und expressive) Strategien (vgl. Lindemann 2001, Harvey 1997). Außerdem wollen Betroffene zunehmend selbst ihr Leben und Sterben gemäß den persönlichen normativen Konzeptionen gestalten. Der Wunsch vieler Menschen richtet sich auf die Erhaltung der Selbstbestimmung im eigenen (physischen, psychischen und sozialen) Sterbeprozess. Da jedoch nach wie vor das Sterben von Institutionen und Organisationen gestaltet wird, ergeben sich für das eigene Sterben – vor allem wenn es eigenwilliges Sterben sein soll – Konfliktzonen. Somit dürfte „eine subjektive Wiederaneignung des organisierten und ausgegliederten Todes“ (Knoblauch/ Zingerle 2005, 20) noch immer ein seltenes Ereignis sein.
Der Körper und der physische Tod Seale (1998) beginnt ‚materialistisch’ mit der banalen Tatsache, dass der Körpertod das entscheidende Faktum ist, mit dem sich der Todesdiskurs auseinandersetzen muss. Allerdings wendet Seale den Diskurs mit Foucault konstruktivistisch.
22 Freilich liegt in der technisch-kognitiven Steuerung die Gefahr der Abkoppelung von zentralen Werten, der Eigendynamik einer Zerstörungstechnologie.
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Der ‚Körper’ wird zum Konstrukt eines kulturellen Diskurses, in dem Macht das alles durchdringende Medium darstellt.23 An Armstrong (1983) anschließend zeigt Seale (1998), dass der Körper primär medizinisch bestimmt wird. Daraus folgt, dass der Tod als Körpertod definiert wird. Psychisches und soziales Sterben sind in dieser Konzeption nicht vorgesehen. Der verfallende Körper wird zum Gegenstand des Pflegekults – sozial und ökonomisch im medizinischen System gestützt und dieses stützend.24 Zuletzt stirbt – in den meisten Fällen im Krankenhaus oder Heim – nur mehr ein Körper, der als Leiche säkular-rituell beseitigt wird. Vermutlich führt die antizipatorische Vorstellung der Reduktion der Person auf den Körper bei einem Teil der Nochnicht-Reduzierten zu einer Stärkung der Seelenkonzeption25, die eine Trennbarkeit vom Körper postuliert.26 In den meisten traditionellen Kulturen war der lebende und der tote Körper sozial eingegliedert, unverzichtbarer Bestandteil auch eines sozialen Übergangs in das Reich der Toten, während er im säkularisierten Verständnis immer mehr zu einem ‚bloßen Instrument’ wird, dessen Teile auswechselbar sind.27 Im christlichen Abendland wurde der sinnliche und lustvolle Körper oft abgewertet, teilweise in extremer Weise, wobei sich allerdings eine starke Ambivalenz zeigte. Einerseits wurden der Körper und seine Lust als sündhaft bezeichnet, andrerseits war er der heilige Schrein, vor allem der in männlichem Besitz befindliche weibliche Körper. Außerdem wurden im Christentum Vorstellungen nicht nur einer Auferstehung der Seele sondern auch des Körpers vertreten. Daraus ergab sich zwar kein genereller Kult der Einbalsamierung, jedoch z.B. eine langdauernde Ablehnung der Leichenverbrennung und Bestrafungen von Ketzern und Abtrünnigen durch Zerstörung ihrer Körper.
23 „Die alte Mächtigkeit des Todes, in der sich die Souveränität symbolisierte, wird nun überdeckt durch die sorgfältige Verwaltung der Körper und die rechnerische Planung des Lebens.” (Foucault 1977b, 166 f) 24 vgl. „the body ... a last retreat“ (Shilling 1993, 182). 25 Vgl den Abschnitt „Seele – sozialwissenschaftlich betrachtet“. 26 Angesichts der Labilität des Sozialteils und des langwierigen physischen Sterbens (allmähliche Zerstörung des Körpers im Alter) könnte die private Konstruktion einer stabilen („unsterblichen“) Seele kompensatorische Funktionen erfüllen. 27 Die moderne Instrumentalisierung des Körpers hat die normative Körperkonstruktion zurückgedrängt. Kollektive normative Körperbilder waren in traditionellen Kulturen vorzufinden – z.B. wurden die Gebeine eines Verstorbenen mit denen anderer vereinigt.
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Nach Max Weber (1920) wurde das asketische Ideal oder die Verneinung der körperlichen Lust von der Klosterzelle in die Familie übertragen. Der Protestantismus durchbrach dadurch die Schranke zwischen der Elite und der Masse der Menschen, indem Elitepraktiken in Alltagsroutinen der Selbstkontrolle überführt wurden. (Turner 1996, 16) Doch nicht nur in der bürgerlichen Familie wurden diese asketischen Praktiken vor allem in der Kindererziehung installiert, sondern auch in den Organisationen, die ab dem 18. Jahrhundert ausgebaut wurden, z.B. Gefängnissen, Krankenhäusern und Fabriken. Nach Turner (1996), der hier an van Gennep u.a. anschließt, werden Eingangs- und Ausgangsriten für den Übergang des Körpers im kulturellen Zusammenhang definiert. Durch die Geburt wird man nicht unmittelbar Mitglied einer Gesellschaft, sondern nur durch bestimmte Rituale (Taufe, Beschneidung u.a. Initiationsrituale). Ebenso müssen die Körper bzw. Teile der Körper wieder von der Kultur in die Natur zurückgeführt werden, wobei Begräbnis, Einbalsamierung u.a. Rituale in traditionellen Kulturen dazu dienten. Dauerhafte Teile des Körpers, in der Regel Gebeine, bleiben in vielen Kulturen in der Gemeinschaft. Ein Verlust des gesamten Körpers ist in diesen Fällen folglich eine soziale Tragödie, weil ein Glied der Kultur dann fehlt. Für einen Merina (Madagaskar) ist es eine grauenhafte Vorstellung, dass sein Körper verloren gehen könne, denn dann würden seine Gebeine beim zweiten Begräbnis nicht in das Gemeinschaftsgrab überführt werden, das der Erhaltung der Fruchtbarkeit dient und das auch eine Art kultureller Weiterexistenz des Individuums garantiert. (Bloch/Parry 1982, 15) Nach Lewis (1983) zeigte sich in der westlichen Kultur schon seit der Antike eine zunehmende Tendenz, die Grenzen des Körpers als Fesseln anzusehen und durch soziale und technische Instrumentierung zu sprengen oder auszuweiten.28 In einfachen Kulturen werden die Grenzen des Körpers vor allem in Initiationsriten getestet, etwa durch Verletzungen und Torturen. Der Schmerz und die Gestaltung des Körpers werden in ritueller Weise in das Leben der Gemeinschaft eingebracht. Damit wird der Körper nicht als ein zu verbesserndes Werkzeug aufgefasst, vor dessen Versagen man Angst hat, sondern er wird durch kulturelle Aktion akzeptiert. Der charakteristische Unterschied in der Betrachtung des Körpers zwischen traditionellen und modernen Gesellschaften besteht wohl in der Dominanz der medizinisch- naturwissenschaftlichen Sichtweise (Zentralwert: Gesundheit). Die abendländisch-christliche Sorge um die Seele wurde durch die Sorge um den 28
vgl. Berichte über entsprechende utopische Vorstellungen von Moravec, Tipler und anderen bei Fröhlich (1998) und Krüger (2009).
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Körper, der freilich von modernen Menschen anders konzipiert wird als von Menschen in traditionalen Kulturen, ersetzt bzw. bereichert. Die Ziele dieser Sorge lauten:
Sich bis zum Tod möglichst gesund erhalten. Durch gesundheitsbetontes Verhalten das Leben verlängern. Gegen den Tod mit allen medizinischen Mitteln anzukämpfen, der Erhaltung des Körpers oberste Priorität im Vergleich zum Sozialteil und zur Psyche einzuräumen.
Das erste Ziel wird auf breiten Konsens stoßen, beim zweiten Ziel werden zwar die meisten zustimmen, doch eine Minderheit wird zögern, und der Anteil der Menschen, der sich gegen das dritte Ziel wendet, wird zunehmen. Die Werkzeuge des Körpers haben sich teilweise verselbständigt und sind zu einem ‚Überkörper’ geworden. Gemessen an den technisch-wissenschaftlichen Werkzeugen unserer Kultur erweist sich auch der menschliche Prothesenkörper (Bodybuilding, Doping, Enhancement etc.) als immer armseliger. Auch wird ein zunehmender Anteil der realen Körper aufgrund der medizinisch orientierten Definition des Normalen, der sich ständig wandelnden Anforderungen und der gestiegenen Lebenserwartung als hinfällig und defizient erlebt (vgl. Wulf 1982; Armstrong 1983). Der männliche Körper hat an gesellschaftlicher Bedeutung verloren. Körperkraft ist nämlich für den Kampf der Kollektive untereinander unwichtiger geworden. Die Kollektive bedrohen sich gegenseitig mit Hilfe von Apparaten, den emanzipierten Werkzeugen. Die menschlichen Körper, früher die Hauptwaffen (Männer) und Tauschmittel (Frauen) der Kollektive im Kampf, werden nebensächlich – paradoxerweise obwohl sie immer besser und raffinierter trainiert und gedopt werden müssen, um im Leistungswettbewerb zu bestehen. Diese These scheint unverträglich mit dem Körperkult zu sein. Doch die Polarisierung schreitet voran: die gestylten sündteuren Edelkörper auf der einen Seite und die Massenkörper auf der anderen Seite – von Adipositas und anderen Dämonen bedroht. Die Edelkörper werden in Mediendarstellungen immer artifizieller und die Animationen werden immer ‚natürlicher’, so dass die Ablösung von Realpersonen zu erwarten ist. Auch in den nicht-militärischen Bereichen sind Organisationen und Positionssysteme entstanden, die von dem körperlichen Einsatz konkreter Positionsinhaber und ‚Rollenspieler’ immer unabhängiger geworden sind. Körper werden wie Maschinen ausgewechselt oder wegrationalisiert. Viele Menschen werden – vor allem im beruflichen Kontext – zu Systemteilen und gemäß ihren Funktionen 27
beurteilt, so dass sie diese vorherrschende Sichtweise übernehmen. Ihre Körper werden für sie und für die Professionellen Maschinen, die immer häufiger renoviert und repariert werden müssen. Deshalb wurde eine gigantische Reparaturindustrie (Medizin) aufgebaut, der die Sorge für den Körper übertragen wurde. Der Tod wird damit zu einem nicht mehr reparaturfähigen Maschinenschaden. Dagegen war der Tod in traditionellen Kulturen kein Maschinenschaden, sondern ein durch Interaktion hergestelltes soziales Ereignis, ein Übergangsphänomen im Rahmen einer Interaktionskette, die von den Lebenden zu den Toten und zu den Göttern reichte. Aus dem Maschinengedanken ergibt sich auch eine soziale Konsequenz: Interaktionen mit sterbenden Körpern werden als nicht nutzbringend angesehen, und Interaktionen mit Toten gelten als Zeichen für Krankheit.29
29 Klass und Walter (2001, 435 ff) berichten über die reichhaltige englischsprachige wissenschaftliche Literatur, die die vielfältigen Interaktionen der Lebenden mit den Toten, vor allem der Witwen, dokumentiert. Die herrschende medizinisch-naturwissenschaftliche Aufklärungsideologie trägt dazu bei, dass diese Erfahrungen verdeckt und marginalisiert kommuniziert werden.
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Mortalität und Gesellschaft
Die Toten wurden und werden gezählt, z.B. nach Kämpfen, Kriegen oder Seuchen, Das Kollektiv wird numerisch definiert und kann ab- und zunehmen. Seine Stärke oder Schwäche kann an diesen Zahlen gemessen werden. Der Einzelne wird nur als Messungseinheit in dieser Rechnung bedeutsam. Durch die moderne Statistik und die bevölkerungswissenschaftliche Betrachtungsweise wurde die kognitive Orientierung verstärkt und Mystifizierungen scheinen an Boden zu verlieren. Doch unter der Oberfläche sind starke normative und expressive Züge erkennbar: Sterben die Deutschen aus? Die kontinuierliche Erfassung der Geburtsund Mortalitätsraten von Großkollektiven ist ein relativ junges Interessens- und Arbeitsgebiet in der Geschichte der Menschheit. Aufgrund der Entstehung moderner Großstaaten im 18. und 19. Jahrhundert wurden statistische Überlegungen immer häufiger für die politische Lenkung benötigt. Wachstum der Bevölkerung und des Territoriums waren die politischen Ziele der Staaten des 19. Jahrhunderts. Das territoriale Wachstum ist für die modernen Industriestaaten nach dem Zweiten Weltkrieg kein offizielles Ziel mehr, auch das Bevölkerungswachstum hat an Bedeutung verloren. Das ökonomische Wachstum hat die traditionellen Wachstumsziele zurückgedrängt. Doch die Bevölkerungsstruktur der Staaten ist nach wie vor ein politisch und ideologisch bedeutsames Thema. Eine häufig anzutreffende implizite Annahme besagt: Die Kollektive (Kulturen, Staaten, Völker etc.) entwickeln sich wie Lebewesen, sie werden geboren, wachsen, werden alt und sterben.30 Modelle der Kollektiventwicklung sind auch im Bewusstsein der Menschen in den Industriestaaten vorhanden. Die so genannte ‚Ausländerproblematik’ wird teilweise von solchen Denkansätzen bestimmt. Nüchterne Modelle der Kollektiventwicklung liefern Demographen. Die dreiphasige Theorie des demographischen Übergangs ist das bekannteste Modell von Fruchtbarkeit und Mortalität der Bevölkerung:
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Ein berühmtes Beispiel einer solchen „Theorie“ stellt Spenglers „Untergang des Abendlandes“ dar.
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1. Phase der traditionellen Gesellschaften: hohe Mortalität und hohe Geburtenrate, die sich langfristig in einem Gleichgewichtszustand befinden. 2. Phase des Übergangs: Durch Industrialisierung und Modernisierung ergibt sich eine dramatische Senkung der Mortalität, während vorerst die Geburtenrate hoch bleibt. Dadurch kommt es zu einem starken Bevölkerungswachstum. Das Deutschland des 19. Jahrhunderts ist ein Beispiel für diese Phase.31 3. Phase: Nach einiger Zeit beginnt auch die Geburtenrate stark zu sinken und es kommt schließlich auf einem niedrigen Niveau wieder zu einem Gleichgewichtszustand, d.h. zu einer langfristig gleich bleibenden Bevölkerungsdichte. Dieses Modell wird jedoch der Realität in vielen Gesellschaften und Staaten nicht gerecht. Zwar gilt es mit Einschränkungen für die Bevölkerungsentwicklung der europäischen Industriestaaten, doch seine universale Geltung für die Entwicklungsländer wird von vielen Experten bezweifelt. Politische, soziale und ökologische Faktoren müssen in den demographischen Theorien mehr berücksichtigt werden (Organski et al. 1984).32 Die Erzeugung, Erhaltung und Vernichtung von Leben wurde und wird in Populationen und Staaten direkt und indirekt gesteuert. In den westlichen Industriestaaten wird bisher eine im wesentlichen indirekte Steuerung als ausreichend angesehen. Eine – freilich unwahrscheinliche – beschleunigte Erhöhung der durchschnittlichen Lebensdauer33 könnte staatliche Eingriffe nach sich ziehen. Politische und wirtschaftliche Entwicklung und Mortalität beeinflussen sich wechselseitig. Der interne Kampf zwischen vielen kleinen Machtzentren in Europa vor der Ausbildung starker Staaten hat direkt und indirekt in manchen Zeiten zu einer hohen Mortalität geführt. Starke große Kollektive konnten ihre Mitglieder besser schützen als schwache Kollektive. Dass jedoch starke Staaten auch eine Gefahr für bestimmte Bevölkerungsgruppen innerhalb dieser Staaten darstellen, lässt sich für die jungen Männer in den beiden Weltkriegen belegen. Das bemerkenswerteste Faktum in der Todesproblematik in den hochindustrialisierten Staaten ist die dramatische, positive Veränderung der Mortalität seit dem 19. Jahrhundert.
31 Konkurrierende Staaten verglichen seit dem 19. Jahrhundert ihr Bevölkerungswachstum. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wuchs die deutsche Bevölkerung viel stärker als die französische, während im vergangenen Jahrzehnt die französische Bevölkerung mehr zunahm. 32 In China wurde durch politischen Zwang eine rigorose Geburtenbeschränkung durchgesetzt. 33 Dies wäre eine besonders unheilbringende Variante des modernen Wachstums- und Beschleunigungswahns (vgl. Rosa 2009).
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Früher starben vor allem junge Menschen, während in den reichen Staaten heute hauptsächlich alte Menschen sterben. Diese bedeutsame Veränderung der Mortalität in der Bevölkerung erfolgte in den meisten Ländern Europas erst in der zweiten Hälfte des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts durch Verbesserung der Ernährung und der hygienischen Verhältnisse, Verringerung der Kinderzahl in der Familie und damit verbundener intensiverer Betreuung der Kinder, ökonomischer und technischer Entwicklung, günstigeren Arbeitsbedingungen, medizinischer Versorgung und durch andere Faktoren. Die Kinder- und Müttersterblichkeit wurde auch durch eine Verringerung der schweren Arbeit, die Frauen sowohl in der Landwirtschaft als auch im industriellen Bereich leisten mussten, gesenkt (Imhof 1984). Imhof (1988) warnt jedoch vor dem Glauben an einen linearen Fortschritt in der Mortalitätsentwicklung. Seuchen, wie die Pest oder die Cholera, haben ihre Geschichte. Nachdem die Pest zwischen dem 6. und 8. Jahrhundert Europa heimgesucht hatte, tauchte sie dann erst wieder 500 Jahre später auf, um im 18. Jahrhundert wieder zu verschwinden. Niemand weiß, wie die Geschichte der Krankheiten in Zukunft verlaufen wird. Die Lebenserwartung bei der Geburt hat im 20. Jahrhundert für die gesamte menschliche Bevölkerung im Durchschnitt zugenommen: von 30 Jahren um 1900 auf über 50 Jahre. In manchen unterentwickelten Ländern ist allerdings keine Zunahme zu verzeichnen, in den hochindustrialisierten Staaten eine sehr starke Zunahme. In traditionellen Kulturen war der Tod wild und unberechenbar. Familien, ja ganze Dörfer verschwanden relativ schnell, wurden entvölkert, doch ebenso schnell konnten sie wieder wachsen, teilweise war dieses Wachstum ebenso gefährlich oder krisenfördernd wie das durch Kriege, Epidemien oder andere Katastrophen auftretende Massensterben. Die Haushaltstypen waren äußerst flexibel, vor allem was die Anzahl der Mitglieder betraf. Die Familien wurden nach Bedarf zusammengelegt, z.B. wenn in einer Nachbarfamilie die Eltern gestorben waren, wurden die Kinder als Diener in den Haushalt aufgenommen. Der frühe Tod war keineswegs generell ein Unglück für die Hinterbliebenen, sondern dies hing von den Eigentumsverhältnissen und anderen sozialen Faktoren ab. Wenn der Sohn etwa den landwirtschaftlichen Betrieb des Vaters übernehmen wollte, so war der rechtzeitige Tod des Vaters erwünscht. Ebenso konnte der Tod von Kindern bzw. Geschwistern erwünscht sein, da in manchen Gebieten das landwirtschaftliche Eigentum unter den Kindern aufgeteilt wurde 31
und dies teilweise zu Grundbesitz führte, der keine ausreichende Existenzgrundlage bot. Offiziere der englischen Flotte brachten früher ihre Wünsche durch Trinksprüche zum Ausdruck: Möge doch ein blutiger Krieg oder eine Epidemie ausbrechen. Durch solche Katastrophen war gewährleistet, dass die Karriere vieler Offiziere schneller und erfolgreicher verlief. Die Vorteile des frühzeitigen Sterbens von einzelnen oder Gruppen durch Seuchen oder Kriege ergaben sich jedoch nicht nur für Individuen oder Familien. Im 13. Jahrhundert etwa zeigten sich schon in vielen Gebieten Europas schwere ökologische Schäden, die durch das weitere Bevölkerungswachstum gravierend verstärkt wurden. Die Epidemien und Kriege des 14. Jahrhunderts, die auch in folgenden Jahrhunderten teilweise anhielten, schafften eine Entlastung für die geschädigten Ökosysteme. Leben und Tod des Kollektivs Die Lebens- und Sterbequalität von Kollektiven wird in der modernen Informationsgesellschaft immer mehr offengelegt und genauere Vergleiche und Prognosen werden möglich. Zu Recht sind die meisten skeptisch gegenüber Vorhersagen über den drohenden Untergang des deutschen Volkes, des Abendlandes oder anderer Kollektive geworden. Die meisten haben sich glücklicherweise von den naiven Annahmen, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch vorherrschten, dass Bevölkerungswachstum angestrebt werden müsse und Schrumpfung der Bevölkerung auf jeden Fall ein Übel sei, gelöst, so dass Aussagen wie die folgenden keine erhabenen Emotionen mehr erwecken: „Es handelt sich darum, in der heranwachsenden Jugend eine Gesinnung zu erwecken, die entschlossen ist, allen Schwierigkeiten und Entbehrungen zum Trotz das Leben des Volkes in einer geistig und körperlich tüchtigen Nachkommenschaft fortzusetzen, die jeden Gedanken an nationalen Selbstmord von vornherein weit von sich weist ... Der Glaube des Volkes an sich selbst muss geweckt werden. Denn erst, wenn ein Lebenswille wieder wach geworden, wird er sich behaupten und wieder durchsetzen können.“ (Keller 1926, 381)
Das Interesse am kollektiven Leben ist nicht verschwunden, doch es ist realistischer und nüchterner geworden. Der Staat in seinen verschiedenen Formen wird zwar bejaht, aber nicht mehr als ‚Großindividuum’ (Freud), sondern eher als bürokatischer Mechanismus gesehen, mit dem man sich nicht wie mit einem echten Individuum identifiziert. Zwar sind die Volks-, National-, Sprachen-, Religions-, Rassen- und Klassenideologien und -kämpfe keineswegs verschwunden, 32
doch immer mehr Personen in den hochentwickelten Staaten vermögen die Problematik zu entemotionalisieren bzw. zu kognitivieren. Todeskontrolle In früheren Zeiten war nicht nur das Durchschnittsalter viel niedriger, sondern vor allem schwankte die Mortalität lokal sehr stark. Der Tod konnte jeden jederzeit treffen und diese Erkenntnis wurde ständig durch die Erfahrung verstärkt. Heute dagegen können die meisten Menschen davon ausgehen, dass sie 60 Jahre und älter werden. Entscheidend für den Unterschied zwischen den hochindustrialisierten Staaten und traditionellen Kulturen ist die Qualität der Kontrolle der Mortalität. Selbst wenn man die beiden Weltkriege mitberücksichtigt, ist der in der westlichen Welt im 20. Jahrhundert erreichte Standard einmalig in der Geschichte der Menschheit. Zweifellos kann diese Kontrolle wieder versagen, sei es, dass Krankheiten oder ein verheerender Krieg oder ein teilweiser Zusammenbruch eines riesigen Ökosystems dies bewirken. Doch derzeit wirkt das System sehr stabil. Dass die Ursache dieses Wandels nicht nur im medizinischen Fortschritt oder in einzelnen wissenschaftlichen, technischen oder kulturellen Leistungen liegt, sondern im gesamten Gesellschaftssystem, das bis in feine Verästelungen hinein normiert, geregelt und rationalisiert ist, kann man an einem Vergleich der Industriestaaten mit Entwicklungsländern erkennen. Die Kontrolle des Todes ist also ein Ergebnis der Rationalisierung und Modernisierung, kurz gesagt der Zivilisation. Vor allem handelt es sich nicht nur um Fremdkontrolle, sondern auch um Selbstkontrolle. Wo diese Selbstkontrolle versagt, erhöht sich auch die Wahrscheinlichkeit, vorzeitig zu sterben, ob durch Unfall, Krankheit, Selbsttötung oder Mord.
Geschlechtsspezifische Unterschiede der Mortalität Noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert wurden in Europa Männer im Durchschnitt älter als Frauen. Schwangerschaft und Geburt bargen große Risiken in sich. In den Industrieländern übersteigt die Lebenserwartung von Frauen die der Männer durchschnittlich um sieben bis acht Jahre. Um 1900 betrug die Differenz zwei Jahre oder weniger. In den vergangenen Jahrzehnten haben vor allem die über 65-jährigen überdurchschnittlich an Lebenszeit gewonnen, und die Frauen mehr als die Männer (vgl. Myers 1984). Die 33
Konsequenz dieser demographischen Entwicklung wird in den Industriestaaten mit sehr geringer Geburtenrate eine dramatische Erhöhung des Anteils der über 65-jährigen Frauen an der Gesamtbevölkerung sein. Den größten Beitrag zu den geschlechtsspezifischen Mortalitätsunterschieden leisten die Herzkrankheiten (ca. 50 %), während an zweiter Stelle die Todesfälle durch Krebs ebenfalls die Männer benachteiligen (20% des Unterschieds wird dadurch erklärt, wobei Lungenkrebs dominiert)34. Es werden sowohl genetische als auch soziale Faktoren für die Erklärung von Mortalitätsunterschieden zwischen Männern und Frauen herangezogen. Als Hinweise für genetisch bedingte Mortalitätsunterschiede zwischen Frauen und Männern gelten folgende Fakten:
das X-Chromosom, das Frauen im Vergleich zu Männern haben, die hormonellen Unterschiede zwischen Frauen und Männern, die höhere Rate von angeborenen Schädigungen bei männlichen im Vergleich zu weiblichen Säuglingen, der im Durchschnitt schnellere Stoffwechsel bei Männern, der den Verbrauch an Energie, Luft, Wasser und Nahrung erhöht, was wieder zur stärkeren Aufnahme von Karzinogenen und damit zu einem höheren Krebsrisiko führen kann.
Einerseits weist die höhere Sterblichkeit von Männern bei degenerativen Krankheiten auf biologische Ursachen hin, andererseits ist der eindeutig feststellbare Trend in den letzten 100 Jahren, dass die Sterblichkeitsunterschiede bei diesen Krankheiten angewachsen sind, primär auf soziale Ursachen zurückzuführen (vgl. Freund et al. 2003, 34 ff). Vielfältig sind die zur Erklärung der geschlechtsspezifischen Unterschiede herangezogenen sozialen Faktoren: Hygiene und Gesundheitsvorsorge, Arbeitsbedingungen, Rauchen, Nahrungsgewohnheiten, Übergewicht, körperliche Betätigung und Stress. Traditionell besteht ein geschlechtsspezifischer Unterschied in den Rauchgewohnheiten, wobei allerdings in den letzten Jahrzehnten der relative Anteil der Frauen, die rauchen, zugenommen hat. Frauen achten in stärkerem Maße auf die Schönheit ihres Körpers und damit auch auf ihre Nahrungsgewohnheiten. Außerdem haben Männer in vielen Berufen gesundheitsschädliche Eß- und Trinkgewohnheiten (zu hohe Anteile an Fett und Alkohol). Nach wie vor ist in der Mehrzahl der Fälle die männliche Rolle durch starke Konkurrenzhaltung, Unabhängigkeit, Bereitschaft zur Dominanz, Härte und emotionale Unempfindlichkeit 34 Zwischen 1950 und 2000 haben allerdings die Todesfälle infolge von Lungenkrebs bei Frauen in den USA um 600 % zugenommen (Freund et al. 2003, 36).
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gekennzeichnet. Damit erhöht sich im Durchschnitt jedenfalls für Männer das Todesrisiko. Aggression und Stress kennzeichnen das Männerleben, was sich in Familie, Beruf, Sexualität, Freizeit, Sport, Verkehr und anderen Bereichen zeigt. Männer sind im Arbeitsleben gesundheitlich benachteiligt. Im Durchschnitt sind die gesundheitlichen Arbeitsbedingungen von Frauen günstiger, da sie in weniger verschmutzten, weniger gefährlichen Umwelten als Männer tätig sind. Männer begehen häufiger Suizid als Frauen und verwenden effektivere Mittel (Schusswaffen, Aufhängen etc.). Die stärkere Leistungsmotivation und Aggressivität von Männern dürfte auch bei diesen selbstzerstörerischen Aktivitäten die Unterschiede erklären. Durkheim meinte, Integration in Gruppen sei ein zentraler Faktor zur Verhinderung von Suizid (und sonstigen Todesgefahren). Frauen generell und Frauen mit Kindern im besonderen sind eher in Solidaritätsnetze und in ein Netz von Beziehungen zwischen den Generationen eingebettet, was wahrscheinlich Suizid verhindernd wirkt. In den 1980er und 1990er Jahren ist in den USA die Suizidrate der Frauen gesunken und die der Männer gestiegen. Hat die zunehmende Emanzipation und Berufstätigkeit der Frauen sich für einen Teil der Männer ungünstig ausgewirkt, d.h. ist die gestiegene Suizidrate eine ‚Folge’ männlichen Versagens? (vgl. Stack 2000, 27) Die höhere Suizidrate von alten Männern im Vergleich zu alten Frauen wird darauf zurückgeführt, dass der männliche Wunsch nach Macht, Autorität und Selbstkontrolle mit zunehmendem Alter immer weniger erfüllt werden kann und der relative Statusverlust von alten Männern im Vergleich zu alten Frauen größer ist. Obwohl Witwen im Durchschnitt ökonomisch schlechter gestellt sind als Witwer, sind ihre Überlebenswahrscheinlichkeiten günstiger. Conrad (1982, 83) meint: „Ein Leben in Abhängigkeit, Unterordnung und häuslicher Bewältigung karger Lebensbedingungen bereitete recht adäquat auf die Existenz als arme Witwe vor. Andrerseits war möglicherweise der Tod des Ehemannes nicht so einschneidend wie im umgekehrten Fall, da der Alltag sich ähnlich fortsetzte, Trost in einer sich zunehmend ‚feminisierenden’ Frömmigkeit gesucht wurde, aber auch (leichter als von alten Männern) Bindungen an die erwachsenen Kinder (besonders zur Tochter) aufrechterhalten und Kontakte im langjährigen Wohngebiet eher gepflegt wurden.“
Wesentliche Unterschiede bestehen zwischen Industriestaaten und Entwicklungsländern. Die Entwicklungsländer sind gekennzeichnet durch hohe Säuglingssterblichkeit, höhere Todesraten für Frauen im Zusammenhang mit Schwanger-
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schaft und Geburt und hohe Kindersterblichkeit aufgrund von Infektionskrankheiten. In den stark unterentwickelten Ländern ist bis zum dreißigsten Lebensjahr die Lebenserwartung der Frauen geringer als die der Männer. Vor allem im ersten Lebensjahr stirbt ein viel höherer Anteil der weiblichen Kinder im Vergleich zu den männlichen Kindern (WHO 2000). In Indien und Bangladesch haben soziale und kulturelle Muster einen entscheidenden Einfluss auf die geschlechtsspezifischen Mortalitätsraten von Kindern. Da Söhne aus verschiedenen Gründen höher geschätzt werden als Töchter, werden im Krankheitsfall und auch in sonstigen Problemfällen ökonomische und sonstige Mittel eher für die männlichen als für die weiblichen Kinder eingesetzt.
Mortalität und soziale Schicht Der wirtschaftliche Erfolg eines Staates, einer Gruppe oder eines Individuums ist ein zentraler Indikator, um die jeweilige Mortalität(srate) zu bestimmen. Die soziale Schicht- oder Klassenzugehörigkeit übt auf die Lebenserwartung und die Lebens- und Sterbequalität einen entscheidenden Einfluss aus (vgl. Goldscheider 1984; Freund et al. 2003, 39 ff). Nach einer französischen Untersuchung lebt ein Universitätsprofessor im Durchschnitt 9 Jahre länger als ein ungelernter Arbeiter (Desplanques 1983; Weber 1987, 165). In einer aus den 1990er Jahren stammenden repräsentativen englischen Untersuchung betrug der Unterschied in der Lebenserwartung zwischen der obersten und der untersten sozialen Klasse (Einteilung in 6 Klassen) 9,5 Jahre (vgl. Howarth 2007, 42). Auch in verschiedenen deutschen Untersuchungen konnten bedeutsame Unterschiede der Mortalität von Angehörigen verschiedener sozialer Schichten festgestellt werden (vgl. den Bericht bei Weber 1987, 166 f). Das Bildungsniveau hat einen bedeutsamen Einfluss auf die Lebenslänge. „Für Männer reduziert sich mit jedem zusätzlichen Schuljahr das relative Mortalitätsrisiko um 8,4 Prozent und für Frauen um 16 Prozent.“ (Becker 1998, 145)
Doch nicht nur die Lebenslänge, sondern auch das soziale und psychische Sterben werden von der sozialen Schicht wesentlich bestimmt. Leistungssportler oder Mannequins sterben sozial früher als Wissenschaftler.35 Vergleiche zwischen verschiedenen sozialen Schichten in Großbritannien zeigen, dass die klas35
Vgl. das Kapitel über das soziale Sterben.
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senspezifischen Mortalitätsunterschiede seit den dreißiger Jahren dieses Jahrhunderts zugenommen haben: es ergibt sich ein Durchschnittsunterschied der Lebensdauer von sieben Jahren zwischen der untersten und der obersten Schicht. (Wilkinson 1986) Dies ist überraschend, da viele annehmen, dass sich Unterschiede zwischen den Klassen oder sozialen Schichten verringert haben. In einer anderen Untersuchung in Großbritannien, die sich nur auf die Staatsbediensteten bezog, ergab sich ein noch größerer Mortalitätsunterschied zwischen der obersten und untersten sozialen Gruppe der Staatsbediensteten. In den USA (Freund et al. 2003, 41) und in Frankreich (Leclerc et al. 2006) haben sich die Mortalitätsunterschiede zwischen den oberen und den unteren Schichten seit 1960 vergrößert. Ein Grund für die Verstärkung der Mortalitätsdifferenz zwischen Unter- und Oberschicht liegt in den sich schichtspezifisch differenzierenden Ernährungsund Konsumgewohnheiten. Während ernährungsbedingte Herzkrankheiten vor dem Zweiten Weltkrieg stärker die oberen Schichten trafen, veränderten diese ihre Ernährungsgewohnheiten nach dem Zweiten Weltkrieg zunehmend in positiver Weise. Die unteren Schichten zeigen in der Wohlstandsgesellschaft ein weniger kontrolliertes Essverhalten und leiden somit stärker unter ernährungsbedingten Krankheiten. Außerdem veränderten sich die Rauchgewohnheiten. Während vor dem Zweiten Weltkrieg die oberen Schichten in stärkerem Maße rauchten als die unteren Schichten, hat sich in den letzten 40 Jahren das Verhältnis in zunehmendem Maße umgekehrt. Somit ergibt sich das paradoxe Faktum, dass die teilweise Entprivilegierung des Konsumverhaltens zur Verstärkung der schichtspezifischen Mortalitätsunterschiede beigetragen hat (Wilkinson 1986). Allerdings ergibt das Einbeziehen weiterer Faktoren ein differenzierteres Bild. Dies soll hier nur an einem Beispiel verdeutlicht werden. In Italien und Spanien ist der Alkoholkonsum von Männern in den unteren Schichten (geringer Bildungsstand) signifikant höher als in den oberen Schichten, dagegen konsumieren in einigen skandinavischen Staaten Männer mit hohem Bildungsstatus mehr Alkohol als Männer mit geringem Bildungsstatus. Dies führt zu entsprechend unterschiedlichen Raten von Leberkrebs und anderen Erkrankungen (Menvielle et al. 2008, 1017). Die medizinische Versorgung der Mitglieder der oberen Schichten ist qualitativ hochwertiger als die der Unterschicht. Generell sind Mitglieder der Unterschicht schlechter informiert über gesundheitsschädliches Verhalten und entsprechende Umweltbedingungen. Arbeitslosigkeit und ökonomische Schwierigkeiten treffen Angehörige der Unterschicht häufiger und gravierender. Die beiden Kriegsdekaden von 1911-1920 und 1940-1950 erbrachten in England und Wales im 20. Jahrhundert die stärksten Steigerungen der durch37
schnittlichen Lebensdauer, nämlich ca. 7 Jahre im Vergleich zu 2 1/2 bis 3 Jahren in den anderen Dekaden, und eine überdurchschnittliche Verringerung der sozialen Ungleichheit. Trotz dieser positiven Entwicklung war in England und Wales in den 80er Jahren die Säuglingssterblichkeit in Familien von ungelernten Arbeitern um 150 % höher als in Familien der „professional occupations“. Der relative Unterschied zwischen den beiden Gruppen hat sich von 1920 bis 1980 nicht verringert! (Wunsch 1981, 46). Strukturelle Lebensminderung (Lebenslänge, -qualität, Krankheit, Zufriedenheit etc.) erfolgt durch politische und ökonomische Maßnahmen, die die soziale Ungleichheit verstärken, was in den vergangenen Jahrzehnten auch in einer Reihe von hochentwickelten Staaten der Fall war (vgl. Wilkinson/ Pickett 2008). Ein Vergleich von hochindustrialisierten Staaten in bezug auf die beiden Variablen durchschnittliche Lebenserwartung und Einkommensunterschiede zeigt, dass in egalitären Staaten (Schweden, Niederlande und Norwegen) die Lebenserwartung im Durchschnitt um 3 Jahre höher ist als in Staaten mit größeren Ungleichheiten in den Einkommensstrukturen (Frankreich, Spanien und Deutschland).
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Sozialgeschichte des Todes
Vorindustrielle Kulturen Todesmythologien Der Tod wurde in vielen Kulturen nicht als selbstverständliches, unvermeidliches und universales Merkmal alles Seienden oder Lebenden angesehen. Insofern sind die in Zukunft zu erwartenden Versuche, den Tod einzelner hinauszuschieben oder zu vermeiden (Biotechnologie etc.), ideologisch schon in frühen Kulturen vorbereitet worden. In den meisten Kulturen existieren Erzählungen und Mythen, die sich auf die Entstehung des Todes und der Sterblichkeit der Menschen beziehen. In der Regel wird Sterblichkeit als Eigenschaft in einem Interaktionsgeschehen erworben, in dem sowohl göttliche als auch menschliche Wesen, Tiere, Pflanzen und andere Gegenstände eine Rolle spielen. Häufig handelt es sich um einen Verlust von Unsterblichkeit oder besser Todlosigkeit aufgrund von Täuschung, Schuld, Betrug, Dummheit, Neid und anderen Affekten und Eigenschaften. Ein Beispiel für einen entsprechenden Mythos: Bei den Toraja auf Sulawesi (früher Celebes) wird erzählt, dass Gott einen Stein vom Himmel auf die Erde warf – als Geschenk für die Menschen. Diese aber missachteten das Geschenk. Dann schenkte Gott den Menschen die Banane, worüber sie sich freuten. Doch sie hatten mit der Ablehnung des Steines als Symbol der Unsterblichkeit auch diese verloren. Die Banane gilt als Symbol der Sterblichkeit – und auch der Erneuerung des Lebens (van Baaren 1987, 256). Malinowski (1983) versuchte die These, dass die geistige Bewältigung des Todes der Ursprung der Religionen sei, durch seine interkulturellen Forschungsergebnisse zu belegen. Nach Gehlen führte der Schrecken des Todes, der Menschen beim Anblick von Leichen erfasste, zu rituellen Bewältigungsversuchen (vgl. Guttandin 1995). Die Todesrituale dienen der Reintegration der durch den Tod von Mitgliedern in ihrer Substanz getroffenen Gruppe.
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Eine andere Erklärung der rituellen Bewältigung des Todes von Gruppenangehörigen bezieht sich auf die relative Ohnmacht von vormodernen Menschen und Kulturen, das Leben und das (prämortale) Sterben zu verlängern. Das prämortale Sterben war für Menschen in einfachen und traditionellen Kulturen überwältigend, kaum steuerbar. Den Tod und die Toten dagegen konnte man bearbeiten. Das gesellschaftlich relevante Sterben fand folglich in prähistorischen Zeiten und in vielen Kulturen hauptsächlich nach dem physischen Tod des Betroffenen in der magischen Welt der Überlebenden statt (vgl. Kellehear 2007a)36. Die postmortale Todesarbeit war sozio- und psychokulturell erforderlich, weil die meisten sozial vorzeitig gestorben sind. In traditionellen Kulturen wurde der abgebrochene soziale Lebenslauf von den Überlebenden postmortal ‚vollendet’ (ebd., 36 ff). Im Zentrum des Todeskults stand der Umgang mit der Leiche und mit den animierten Toten. Aus den herrschaftlichen Toten entstanden die Supertoten, die Götter. Gewaltsamkeit des Todes In vorindustriellen Kulturen wird der Tod häufig als gewaltsames Ereignis definiert: Der Tod wird durch lebende oder tote Personen oder magische Mächte bewirkt (vgl. Barloewen 1996, 20; Counts/ Counts 1992). Die Vorstellung von der prinzipiellen Gewaltsamkeit des Todes lässt sich besonders eindrucksvoll anhand der Mythen und Verhaltensweisen von Stämmen in Patagonien (Süd-Amerika) exemplifizieren. Sie glaubten, dass der Tod durch den höchsten Gott bewirkt werde. Wenn eine Bezugsperson starb, so klagten sie den Gott des Mordes an und rächten sich an ihm, indem sie Tiere, die ihm zugeschrieben waren, töteten (van Baaren 1987, 253). In vielen traditionellen Kulturen wird zwar zwischen dem durch direkte Gewalteinwirkung verursachten Tod und dem Alterstod unterschieden, doch auch der Alterstod kann als durch soziale Gewalt bewirkt interpretiert werden. Dies lässt sich am Beispiel der Managalese (Neu-Guinea) darstellen. Sie nehmen an, dass eine Person alt geworden ist, weil sie die Attacken von Geistern und anderen gewalttätigen Mächten infolge ihrer magischen Stärke überlebt hat. Jedoch gerade ihre magische Kraft wird ihr schließlich zum Verhängnis: Zuletzt tötet sie ihren Wirt (McKellin 1985). Simmons (1970) fand heraus, dass von 47 untersuchten Kulturen nur 17 den Tod als unnatürliches Phänomen betrachteten, 4 sahen ihn eindeutig als natürlich an und 26 sahen die Natürlichkeit des Todes als eine Alternative zu einer Kon36
Dieses frühhistorische postmortale Sterben kann modern übersetzt als soziales postmortales Sterben bezeichnet werden, doch im Bewusstsein vieler damaliger Menschen war es physisches Sterben, wobei eine Falsifikation der These wohl nicht möglich ist.
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zeption des Un- oder Trans-Natürlichen an. Somit ist die These, dass fast alle Kulturen den Tod als unnatürlich oder gewaltsam definieren, nach Simmons nicht haltbar. Freilich bleibt das semantische Problem der Zuordnung von Kulturen zu den Begriffspaaren natürlich/unnatürlich und gewaltsam/nicht-gewaltsam bestehen. Angst vor den Toten Die Wiederkehr der Toten wird als eine reale Möglichkeit in vielen Kulturen angesehen. Trauerarbeit ist auch Abwehr der Toten. Deshalb werden Maßnahmen ergriffen, die den Toten den Weg zurück ins Leben erschweren sollen, indem sie z.B. nicht aus der Tür sondern durch das Dach oder mit den Füßen nach vorne aus dem Haus gebracht werden. Die Totenwache dient dazu, den Toten zu kontrollieren. Leichenfesselung, Leichenverbrennung, Einsargung und andere Bestattungsmaßnahmen haben ursprünglich die Bedeutung einer magischen Abwehr. Auch die Hinterbliebenen und ihr Haus werden häufig mit Angst und Abwehr besetzt, sie müssen sich Tabus unterwerfen, werden rituell gereinigt und erst nach all den Maßnahmen wieder voll in die Gemeinschaft aufgenommen. Freud, Malinowski und andere haben darauf hingewiesen, dass eine tiefgehende Ambivalenz der Überlebenden gegenüber den Verstorbenen vorhanden ist. Somit ist Abwehr der Toten mit Akzeptanz gekoppelt. Entwicklungsgeschichtlich ist wahrscheinlich das Hervorkehren der Abwehr, der Angst vor den Toten der Akzeptanz nach erfolgreicher Durchführung der Riten vorgeschaltet. „Aus den anfänglich gefürchteten Dämonen werden im Laufe dieses Prozesses verehrungswürdige und hilfsbereite Ahnen (Ahnenkult).“ (Stubbe 1985, 334) Manche Autoren meinen, dass die Entstehung von Göttern dadurch zu erklären ist, d.h. dass mächtige, gefürchtete Tote vergöttlicht wurden. In der modernen Gesellschaft herrscht ein naturwissenschaftliches Weltbild vor und es gilt offiziell die Norm der erfolgreichen Abwehr der Negativität des Todes und der Toten, so dass der Glaube an eine Rückkehr der Toten, z.B. Geister- oder Dämonenglaube, als rückständig oder sogar als pathologisch angesehen wird.37 Tod als Übergang ins Reich der Toten Der Totenkult dient der Erhaltung und Verstärkung der sozialen Strukturen. Durch den Totenkult werden Traditionen und Ideologien in Erinnerung gerufen und ‚realisiert’. 37 Nach repräsentativen Studien in den 80er und Anfang der 90er Jahre geben ca. 40 % der USAmerikaner an, dass sie mit Toten kommuniziert haben.
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Dass Todes- und Geburtsvorstellungen in einen zyklischen Zusammenhang gebracht werden, ergibt sich aufgrund einer naheliegenden Lebenslogik. Die Vorstellungen von einer Wiedergeburt sind weit verbreitet (Zander 1999, 15 ff). Schon die sehr früh anzutreffenden Embryostellungen der Begrabenen deuten darauf hin. Das Leben wird als Prozess mit bedeutsamen Schaltstellen gesehen, zur Bewältigung dienen Übergangsrituale (van Gennep 1986/1909). Diese rites de passage sind durch eine dreistufige Struktur gekennzeichnet:
Trennung von einem Status (Separation) Übergangszustand (Transition) Eingliederung in einen neuen Status (Inkorporation).
Im Übergangszustand befindet sich das Individuum ‚zwischen den Rollen’, gleichsam in einer Transzendenz. Typische Symbolisierungen des Übergangs in ein Jenseits sind Reisen über Wasser, Regeneration, Heilung und Wachstum. Der Übergang vom Kind zum Erwachsenen, von der Frau zur Mutter, vom Lebenden zum Toten und vom Ahnen wieder zum Kind bedarf bestimmter Rituale, da er ansonsten als nicht oder falsch vollzogen gilt. Immer erfordert der neue Zustand neue Kompetenzen und Hilfen durch die Gemeinschaft. Abbildung 6:
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Übergänge im Leben
Der Tod wird als Übergang von der Gemeinschaft der Lebenden zu der Gemeinschaft der Toten konzipiert (Fuchs 1969, Marshall 1980). Die Lebensund Todesübergänge erfolgen in der Regel von einem unteren in einen oberen (statushöheren) Zustand. Hocart (1931) meint folglich auch, dass in den meisten Kulturen die Toten einen höheren Rang besitzen als die Lebenden, zumindest die Toten, die in der Erinnerung der Lebenden bleiben. In manchen Kulturen hatten sehr alte Männer den höchsten Rang, denn sie standen den Toten und den Ahnen näher als die Jüngeren. Diese Rangvorstellung kam den Weißen zu gute, die in fremden Kulturbereichen auftraten, Spaniern bei den Azteken, aber auch noch im Zweiten Weltkrieg US-Amerikanern, die in Neu-Guinea von manchen Stämmen als Angehörige des Totenreiches und als Ahnen angesehen wurden, vor allem aufgrund ihrer Großzügigkeit beim Verteilen von Esswaren und anderen Gütern. In vielen Kulturen ist eine Verdopplung der Gesellschaft im Jenseits festzustellen. Die Fortdauer der Individuen – allerdings unter den herrschenden kulturellen Bedingungen – ist gewährleistet, sie befinden sich in einem Kreislauf zwischen dem Reich der Lebenden und dem Reich der Toten. Die Gesellschaft wird durch das ‚Weiterleben’ von Individuen im Reich der Toten verewigt. Vor allem Gottkönige und ähnliche Schlüsselpersonen dürfen nicht endgültig sterben. Durch die Koppelung des Reichs der Lebenden mit dem Reich der Toten werden die Gesellschaftsmitglieder an das unsterbliche Kollektiv gebunden. Der Tote steht in traditionellen Kulturen unter der Kontrolle der Gemeinschaft. Wenn dem Toten die Totenehren verweigert werden, so wird ihm auch der Übergang ins Totenreich versperrt. Die Toten werden als mögliche Interaktionspartner angesehen und die Gemeinschaft ist durch die Toten gefährdet, vor allem wenn die Riten nicht ordnungsgemäß erfolgen. Der Tote muss vor Unheil, bösen Geistern und ähnlichem geschützt werden – wie die Lebenden vor dem Toten geschützt werden müssen. Außerdem werden die Gefühle und Affekte dadurch in sozial kontrollierter Weise kanalisiert. Die Lücke, die der Tote hinterlässt, wird geschlossen. Die Solidarität innerhalb der Familie, Sippe, Gemeinde oder des Stammes wird verstärkt. Wenn z.B. die Mitglieder einer Familie oder Sippe anlässlich des Todesfalls zusammenkommen, so werden die Bindungen zwischen den Anwesenden ‚aktualisiert’. Die Rituale wirken entlastend und geben Sicherheit. Dass das (soziale) Sterben ein langwieriger und schwieriger Übergang ist (vgl. Moebius/ Papilloud 2007, 32 ff), kann man an dem Brauch des doppelten Begräbnisses ablesen.38 38
„Die Kota Südindiens, so berichtet Mandelbaum, vollziehen zwei Bestattungsriten, einen >grünen< und einen >trockenen< Ritus. Die >grüne< Bestattung findet kurz nach dem Tod statt und beinhaltet
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Die Leiche wird auf Zeit, d.h. von einigen Tagen bis zu Jahren, an einen vorläufigen Platz gelegt. Das verstorbene Gesellschaftsmitglied befindet sich in dieser Phase in einem Übergangszustand. Das ‚zweite Begräbnis’ wird in der Regel durchgeführt, wenn die Verwesung beendet ist und die Knochen freigelegt sind. Oft werden die Gebeine des Toten mit den Knochen der anderen verstorbenen Vorfahren vereinigt, was ein Symbol für die Einfügung in die Gemeinschaft der Toten darstellt. Erst durch das zweite Begräbnis wird das Gesellschaftsmitglied endgültig aus der Gemeinschaft der Lebenden ausgeschieden und in die Gemeinschaft der Toten eingegliedert (vgl. die Beschreibung der Riten der Berawan in Metcalf/Huntington 1991).
Geschichte des Todes im Abendland Es gibt bereits eine Reihe von historischen Untersuchungen zur Entwicklung der westlichen Todesvorstellungen (Ariès, Vovelle, Macmanners etc.). Die bekanntesten Studien stammen von dem französischen Historiker Ariès (1976, 1982a). Die frühen Christen waren in ihrem alltäglichen religiösen Kollektiv so stark verankert, dass die Vorstellungen über den Tod und ein Leben nach dem Tod völlig determiniert waren. Es herrschte eine Gewissheit vor, dass die Einbindung in das lebendige Kollektiv auch die Lösung für alle Probleme nach dem Tod mit sich bringe. Eine Angst vor der möglichen Verdammnis war kaum vorhanden und auch die Vorstellungen eines unmittelbar auf den Tod folgenden Gerichts oder des Jüngsten Gerichts spielten keine große Rolle. Die Darstellungen des Jüngsten Gerichts wurden erst ab dem 12. Jahrhundert bedeutsam. In dieser Epoche war zwar die Einordnung ins Kollektiv nach wie vor sehr stark, jedoch hatte ein Individualisierungsprozess begonnen, der die Sorge um das eigene Seelenschicksal verstärkte. Man findet in dieser Zeit einen Anstieg von Personendarstellungen auf den Grabplastiken; Testamente wurden häufiger gemacht, wobei Seelenmessen festgelegt wurden; über Bekehrungen auf dem Totenbett wurde häufiger berichtet. Die Individualisierung war mit der sozioökonomischen Entwicklung ab dem 12. Jahrhundert verbunden (Aufblühen der Städte, größere Mobilität, stärkere berufliche Differenzierung und Gründung von Universitäten).
die Kremation der Leiche. Die >trockene< Bestattung wird einmal im Jahr durchgeführt für alle bis zu diesem Zeitpunkt Verstorbenen. Erst die zweite Bestattung entlässt die Seele der Verstorbenen ins >Mutterland<, und erst dann ist die Seele gereinigt genug, >um Gott zu erreichen< (Mandelbaum 1965: 190-198).“ (Kalitzkus 2003, 67)
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Diese ideologischen Veränderungen können auch mit dem Machtkampf zwischen Kirche und weltlichen Herrschern assoziiert werden. Darauf deutet vielleicht die ab dem 12. Jahrhundert geforderte regelmäßige Beichte, welche die Kontrolle der Gläubigen durch die Kirche verstärkte (Hahn 1979, 762 f). Allerdings wurde gerade durch diese Maßnahme auch die Individualisierung vorangetrieben, die langfristig zu einer Abschwächung der Bindung an die Kirche führte. Vovelle (1983) weist im Gegensatz zu Ariès stärker auf demographische Faktoren hin, deren Einfluss auf die Gestaltung des Todesbereichs nicht vernachlässigt werden sollte. Nach den schweren Bevölkerungsverlusten im Mittelalter (Seuchen, Krieg und Hunger) ergab sich im 16. Jahrhundert eine demographische Beruhigung, die wahrscheinlich auch die Abschwächung der gravierenden Todesfixierung der früheren Jahrhunderte begünstigte. Durch die Reformation und die Gegenreformation wird der kirchliche Zugriff auf das umkämpfte Individuum verstärkt. Repressive Maßnahmen richten sich auch gegen die noch immer vorhandenen von den Kirchen abgelehnten alten (heidnischen) Bräuche. Die Rückkehr der Pest und der Dreißigjährige Krieg im 17. Jahrhundert führen gemeinsam mit der religiösen Krise zu einer prunkvollen aber auch angstverstärkenden Entfaltung des Todesbereichs. Jüngstes Gericht, Beichte und Bekehrung auf dem Totenbett reichen nicht mehr aus, um das Individuum in die kirchliche Gewalt zu bekommen. Das gesamte Leben muss nach den religiösen Richtlinien gestaltet werden. Die Möglichkeit des Todes und damit auch der Verdammnis muss jederzeit präsent sein. Der Calvinismus und andere protestantische Ideologien legten die geistigen Grundlagen für eine Mortalitätsökonomie. Jeder war Eigentum Gottes und durfte somit über das Ende seines Leben nicht selbst entscheiden. Er musste sein ganzes Leben im Dienste Gottes arbeiten und Geld, Güter und gute Werke akkumulieren, ohne je zu wissen, ob es ausreichend für das eigene Heil sei. Freilich konnte nicht verhindert werden, dass dieser Modernisierungs- und Individualisierungsprozess immer mehr Abweichungen ermöglichte, die durch die Buchdruckerkunst auch meist unauslöschbar wurden (z.B. John Donne, Montaigne, Voltaire, Montesquieu, Hume). Durch die Aufklärung, die französische Revolution und die ökonomische und soziale Entwicklung wurde zu der düsteren fanatischen protestantischen Pflichterfüllung und der entmündigenden Vertröstung auf ein Jenseits ein Gegenbild errichtet: das diesseitige Glück der Menschen wurde als wesentliches Ziel herausgestellt – für dessen kollektive Grundlegung allerdings blutige Metzeleien veranstaltet wurden (Französische Revolution und Befreiungskriege). Mitte des 18. Jahrhunderts findet eine ökonomische Veränderung der Testamente in Frankreich statt, d.h. die für die Totenmessen festgelegten Summen
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sinken und auch die Stiftungen für Arme werden geringer. Außerdem sinkt die Zahl derjenigen, die in der Kirche bestattet werden wollen. Der Friedhof wird von der Kirche abgetrennt, er wird ein eigener exklusiver Bereich der Toten. Damit wird ein weiterer Schritt zur Trennung der Gemeinschaft der Lebenden von der der Toten vollzogen. Die Skepsis gegenüber den religiösen Glaubensvorstellungen und gegenüber dem Weiterleben nach dem Tode breitet sich ab dem 18. Jahrhundert von intellektuellen Kreisen auf das Bürgertum allgemein aus. In Zedlers UniversalLexicon von 1745 ist die Konkurrenz zwischen Aufklärung (Vernunft) und Tradition (Heilige Schrift) bereits erkennbar: „Es kommen bey dem Tode des Menschen verschiedene Umstände vor, die sowohl nach den Gründen der Vernunfft als der Heil. Schrifft untersuchet werden können, obschon die Erkänntnis, die man aus der Schrifft hat, weit vollständiger ist, daraus wir sonderlich die Ursache und moralische Beschaffenheit des Todes erkennen müssen.“ (44, 623)
Sehr bedeutsam ist auch die Tatsache, dass der Tod immer stärker von dem schrittweise an Macht gewinnenden Staat verwaltet wurde. Der Übergang vom Leben in den Tod wurde staatlichen Regelungen unterworfen, wobei Medizin, Recht und andere Professionen die legitimatorischen Grundlagen lieferten. Der Staat wurde zum Schützer des Lebens der einzelnen, aber auch zur einzigen legalen Instanz, die Leben nehmen bzw. Tod geben durfte. Gegen die nüchterne und teilweise naiv fortschrittliche Haltung der Aufklärung wandten sich nicht nur traditionelle christlich eingestellte Gruppen sondern auch neue Strömungen, wie die Romantik. Sie verband sich teilweise mit dem Christentum, mit einem verklärenden Naturbegriff und auch mit nationalistischen und auf vergangene Epochen gerichteten Vorstellungen. Das Bürgertum nutzte romantisches Gedankengut, um seinen nach unseren heutigen Vorstellungen sentimentalen Totenkult auszuschmücken. Allerdings sorgten wissenschaftliche, ökonomische und technische Veränderungen dafür, dass diese romantischen Haltungen abgebaut wurden, bzw. sich nur in Nischen der Kunst – und im Rückzugsbereich der Friedhöfe – hielten. Der Umgang mit den Toten, ursprünglich eine Angelegenheit der Familie und der Gemeindemitglieder, wurde bürokratischen Regeln unterworfen und professionellen Bestattern übertragen. Sterben und Tod wurden also in den letzten beiden Jahrhunderten ebenso wie die Geburt und die Erziehung den Einflussbereichen der Familie und der Kirche teilweise entzogen.
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In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bestimmten wissenschaftliche Überlegungen immer mehr das öffentliche Leben. Der Begriff der Natürlichkeit des Todes wurde allgemein akzeptiert, ein naturwissenschaftliches Verständnis drang in das Alltagsbewusstsein ein. Parallel mit dieser Propagierung der Natürlichkeit des Todes wurde die technische Verfügbarkeit angestrebt. Angst und Schmerz konnten mit verschiedenen Mitteln reduziert werden und die Gestaltung der letzten Lebensphase wurde zu einem einträglichen Erwerbszweig. Die erfolgreiche Kontrolle des Schmerzes und der Krankheiten förderten den Glauben, dass das Sterben am besten in den Händen von Ärzten aufgehoben sei. Die Naturwissenschaft ersetzte schrittweise die ideologischen Konstrukte des Christentums bezüglich des Lebens und Sterbens durch eigene. Erwartungen auf eine ständige Verlängerung der Lebensdauer entstanden und wurden wissenschaftlich gestützt. Ariès (1976, 1982a) versuchte Ordnung in die vielfältigen abendländischen Umgangsweisen mit Tod und Sterben zu bringen und (re)konstruierte epochale Sterbekonzeptionen. Der gezähmte Tod: Die sorgfältige Ritualisierung des Todes, die kulturelle und kollektive Kontrolle in einfachen und traditionellen Gesellschaften. Der Tod des Selbst: Im frühen Mittelalter entwickelte sich nach Ariès bei einem Teil der europäischen Elite ein neuartiges Selbstbewusstsein, das auch die Einstellung zum Tod veränderte. Der ferne und doch drohende Tod: Nachdem die Zähmung des Todes nachließ, traten nach Ariès seine wilden, ‚natürlichen’ Kräfte wieder hervor, im 16. und 17. Jahrhundert, gleichzeitig mit dem Beginn der Modernisierung und Rationalisierung. Der Tod des anderen: Die zunehmende Privatisierung im Rahmen der (bürgerlichen) Familie erzeugte im 18. und 19. Jahrhundert eine neue Art von (romantischer) Sensibilität. Der Tod des geliebten Wesens führte zu starken Erschütterungen. Der unsichtbare Tod: Diese Konzeption charakterisiert die Moderne nach Ariès, das 20. Jahrhundert. Der Tod ist medikalisiert, doch er kehrt ‚auf Schleichwegen’ ins Bewusstsein der Lebenden zurück, der kulturellen Zähmung entkommen, z.B. als Horrorvorstellung des langsamen Krepierens in Intensivstationen. Es sind allerdings Zweifel an dieser historischen Epocheneinteilung des Todesverständnisses anzumelden. Die Kennzeichen, die Ariès für die Periode vor 1200, die er als Epoche des „gezähmten Todes“ bezeichnet, nämlich
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Wir müssen alle sterben! – Der Tod wird vorangekündigt. – Das Individuum kontrolliert das Todesritual. – Der Tod ist bekannt und wird als Selbstverständlichkeit hingenommen. – Der Tod weilt unter den Lebenden.
treffen auch für moderne Industriegesellschaften zu – abgesehen von der Kontrolle durch das Individuum. Außerdem ist es eher unwahrscheinlich, dass vor 1200 tatsächlich in der Mehrzahl der Fälle das Individuum seinen Tod bzw. sein Sterben weitgehend ‚kontrollierte’. In Elitefällen wurde wohl ein entsprechendes Kontrollspiel gespielt, über das dann ‚historische Quellen’ positiv verzerrend berichteten. Auch die Metapher ‚Der Tod weilt unter den Lebenden’ ist vieldeutig. Die Primärerfahrung mit dem Sterben und dem Umgang mit Toten war wohl verbreiteter, doch die vielfältigere Sekundärerfahrung, vor allem über die Massenmedien ist in der modernen Gesellschaft umfassender entwickelt. Am Beispiel der Grabinschriften lässt sich erkennen, dass die Entwicklung der Todeskonzeptionen im Abendland nicht linear erfolgte. Nachdem in der römischen Zeit Inschriften und Portraits auf den Gräbern zu finden waren, verschwanden sie etwa im 5. Jahrhundert n.Chr. Ab dem 12. Jahrhundert tauchten zuerst nur sehr reiche und mächtige Personen wieder aus der Anonymität auf, doch ab dem 14. und 15. Jahrhundert wurden immer häufiger biographische Details auf Grabsteinen eingemeißelt. Ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zeigt sich auf den Friedhöfen wieder eine Wendung zur Anonymität (vgl. Urbain 1989, 262 ff). Im Mittelalter wurde allgemein angenommen, dass die Toten im Fegefeuer bis zum Jüngsten Gericht warten müssten und dass die Lebenden durch Gebete und andere Aktivitäten die Zeit im Fegefeuer für die Toten abkürzen könnten. Dadurch erhielten Trauer- und Begräbnisrituale einen besonderen Wert. Die Überentwicklung dieser Rituale führte allerdings auch zu einer immer stärkeren Kritik an ihnen, vor allem in der Reformationszeit. Ein Teil der Reformierten glaubte an die Prädestinationslehre. Das bedeutete eine Abwertung der Begräbnisrituale, da die Lebenden gemäß dieser Lehre keinen Einfluss auf das Geschick der Toten hatten. Die Puritaner in Neuengland hatten entsprechend bescheidende und kurze Begräbnis- und Trauerrituale. Doch Mitte des 17. Jahrhunderts wurden die Totenbräuche dieser Puritaner differenzierter und prunkvoller. Die ideologischen Führer dieser Puritanergruppen waren gestorben und die Legitimation, die rigide religiöse Ideologie aufrechtzuerhalten, war brüchig geworden.
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Childe (1945) hat aufgrund seiner Studie über Begräbnisrituale unter verschiedenen kulturellen Bedingungen eine Theorie aufgestellt: Begräbnisrituale werden bescheidener, weniger aufwändig und unbedeutender, wenn eine Gesellschaft kulturell und materiell stabil und ungefährdet ist. Wenn eine Gesellschaft oder eine Gemeinschaft dagegen von außen oder innen bedroht wird, dann werden die Begräbnisrituale immer aufwendiger und gewinnen für die Mitglieder an Bedeutung. Aufgrund dieser Theorie ist erklärbar, warum die Puritaner ab der Mitte des 17. Jahrhunderts in Neuengland immer aufwändigere Begräbnisrituale entwickelten, so dass etwa in Boston Gesetze erlassen werden mussten, um diese Entwicklung einzudämmen. (Eisenbruch 1984, 322f) Im 18. Jahrhundert vollzogen sich verschiedene Änderungen in den Vorstellungen und Verhaltensweisen gegenüber dem Tod und den Toten. Hygienische Gründe wurden dominant, was zu einer Entfernung der Toten aus den Städten führte, da sich Krankheitsängste auf die Leichen und auch auf die Friedhöfe bezogen. Im 17. und 18. Jahrhundert herrschte in Europa in den meisten Fällen (abgesehen von der Oberschicht) ein Desinteresse an der Gestaltung der Grabstätten vor. Die Friedhöfe und die einzelnen Gräber waren sehr schlicht gehalten und verwahrlosten meist. Erst in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts änderte sich dieser Zustand. Begräbnissen und dem Totenkult wurde zunehmend Aufmerksamkeit gewidmet. Romantische Ideen rechtfertigten eine Hinwendung zum Tod, eine Ästhetisierung, aber auch teilweise eine idealisierende Naturalisierung. Für die Abgrenzung des aufsteigenden Bürgertums von den unteren Klassen konnten diese kostenträchtigen Begräbnisse, Rituale, Ausschmückungen, Grabstätten und Etiketten gut genutzt werden. Auch nach dem Begräbnis mussten noch längere Zeit Trauerrituale durchgeführt werden. Es gab eigens dafür hergestellte trauerunterstützende Literatur und Ikone. Dieser zumindest partiell weltliche Kult war Zeichen einer sich säkularisierenden christlichen Weltanschauung. Die bürgerliche Familie wurde zum Zentrum des Heiligen. Sie konnte durch ein üppiges Grabmal verherrlicht und dauerhaft repräsentiert werden. Die verordnete Trauer war auch ein Mittel zur Zähmung der bürgerlichen Frau. Im 19. Jahrhundert wurden viele Vorschläge für die Gestaltung von Friedhöfen erarbeitet. Meist waren Gartenanlagen und ein romantischer Naturbegriff für die Modelle bestimmend. Das Errichten von Grabmonumenten war nicht prospektiv, bildete also nicht den Toten in seiner künftigen Existenz ab, wie bei den Ägyptern, sondern war retrospektiv, d.h. wies auf den Toten in seiner gesell-
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schaftlichen Gestalt und auf die Trauernden hin. Es war also ein Erinnerungsdenkmal wie die griechischen Heroenstatuen. Warum entstand dieses starke Interesse an Gräbergestaltung, Grabsteinen, Mausoleen etc.? Die Interessenverlagerung sollte beachtet werden: In früheren Jahrhunderten und in den meisten außereuropäischen Kulturen war man mehr an den Ritualen vor dem Begräbnis und an der Leiche und deren physischer und spiritueller Veränderung interessiert. Die Interessen der Mitglieder des europäischen Bürgertums konzentrierten sich dagegen auf das Familiengrab und dessen überdauernde Gestaltung39. Diese Verschiebung deutet auf eine Säkularisierung des Todesbewusstseins. Im Gegensatz zu anderen Kulturen und Epochen wurde die Grabgestaltung ja nicht mehr mit einer vorgezeichneten Karriere des Toten im Jenseits in Verbindung gebracht. Ihre antizipatorischen Aspekte bezogen sich auf die lebenden Familienmitglieder, deren Ansehen durch ein schönes Grabmal gefördert wurde. Aufgrund dieser Annahmen ist auch der Niedergang dieser Sepulkralkultur des 19. Jahrhunderts in neuerer Zeit zu erklären: Für das Prestige einer Familie wird die Grabgestaltung immer unwichtiger. Die Individualisierung, die Mobilität und die Verfügbarkeit vieler Statusmehrungsalternativen lässt diese veraltete Möglichkeit peripher werden. Auch ist die heutige bürgerliche Familie kurzlebiger geworden (obwohl die Mitglieder der Familie länger leben!), so dass der ökonomische Aufwand für pompöse Grabstätten zum ‚Ertrag’ in keinem günstigen Verhältnis mehr steht. Andere Formen der Bewahrung der sozialen Erinnerung an Tote und der die eigene physische Existenz überdauernden Selbstdarstellung haben im 19. und 20. Jahrhundert an Bedeutung gewonnen: Fotografie, Film, Ton- und Videoaufzeichnungen.40 Die Veränderung der Todes- und Trauerrituale im 20. Jahrhundert Wenn man die Veränderung der Todes- und Trauerrituale und Vorstellungen im 20. Jahrhundert betrachtet, dann sollten verschiedene historische Ereignisse einbezogen werden. Vor allem die beiden Weltkriege haben in Europa einen entscheidenden Einfluss gehabt. Der Erste Weltkrieg hat nach einer langen Periode des relativen Friedens einen schockartigen Einschnitt dargestellt. In relativ kurzer Zeit wurde eine große Menge an Männern getötet oder schwer verwundet. Der Tod war plötzlich für die Mehrzahl der Familien in den beteiligten Nationen Realität geworden. In den letzten zwanzig Jahren vor dem Beginn des Ersten Weltkrieges hatte sich in einigen europäischen Regionen, vor allem in England, 39
„Das Interesse am Familiengrab ist etwa 200 Jahre alt.“ (Nölle 1997, 114) Eine ältere Form der schicht- und gruppenspezifischen Totenerinnerung hat sich dagegen gut gehalten: die Todesanzeige (vgl. Grümer/Helmrich 1994).
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die Lebenserwartung bereits bedeutsam erhöht, so dass in den vorherrschenden Kleinfamilien Sterbefälle bereits selten geworden waren. Um so mehr wirkte das Geschehen des Ersten Weltkrieges als Schock für einen Großteil dieser Familien. Auch sonst zeigten sich die Zeichen der Modernisierung in dieser Zeit vor dem Weltkrieg. Die pompösen viktorianischen Trauerumzüge und -rituale wurden von vielen bereits als atavistisch angesehen. Die Säkularisierung und Demokratisierung war vorangeschritten. Ökonomische und politische Verbesserungen hatten auch in Kreisen der Arbeiterschaft zu Bewusstseinsveränderungen geführt. Cannadine (1981) weist darauf hin, dass aufgrund der großen Anzahl von Toten im Ersten Weltkrieg die traditionellen Trauer- und Todesrituale als Lösungen versagten und deshalb auch teilweise aufgegeben wurden. Zur Bewältigung der kollektiven Trauer wurden Kriegsdenkmäler errichtet, während die Zunahme des Interesses an Spiritualismus und Obskurantismus in der Zwischenkriegszeit nach Cannadine auf Lösungsversuche für die individuelle Trauer hinweist. An den Ergebnissen der Untersuchung von Kephart (1950), die vor ca. 50 Jahren stattfand, lässt sich der Modernisierungstrend, der sich inzwischen weiter verstärkt hat, ablesen:
die Zunahme der Leichenverbrennungen, die Verkürzung der Zeit zwischen Tod und Begräbnis, das zunehmende Desinteresse und auch die Ablehnung, den Körper des Toten zur Besichtigung auszustellen, die Abnahme der Bereitschaft, Trauerkleider zu tragen und auch in anderer Weise öffentlich seine Trauer zu zeigen, die relative Abnahme der freiwillig übernommenen Begräbniskosten gemessen am Einkommen.
All diese Trends zeigten sich zuerst und verstärkt bei den oberen Schichten und bei den Gebildeten. Der moderne Umgang mit der Leiche In einer modernen Gesellschaft erfolgt die Diagnose des (erwarteten) Sterbens durch staatlich legitimierte Spezialisten, während in traditionellen Kulturen in der Regel der Sterbende und Bezugspersonen den Beginn und den Verlauf des Sterbens definierten und mitgestalteten.
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Rituale vor dem Tod wurden in Industriegesellschaften ersetzt durch medizinische, rechtliche und administrative Maßnahmen; das traditionelle Betreuungspersonal (Verwandte, Nachbarn, Priester) wurde teilweise aus dem Feld gedrängt oder marginalisiert. Die Feststellung des eingetretenen Todes muss von dafür vorgesehenen Spezialisten vorgenommen werden und auch die folgenden Schritte sind den Bezugspersonen weitgehend entzogen, d.h. sie dürfen nur noch Sekundärrollen übernehmen. Diese Veränderungen begünstigen bei Bezugspersonen eine Verinnerlichung, Emotionalisierung, Introversion und Privatisierung des Todes von Nahestehenden (Winkel 2002). Wer zu sehr nach außen agiert und Primärrollen in dem Prozess einzunehmen versucht, wird als kriminell (aktive Sterbehilfe), abweichend (selbst die Bestattung durchführen) oder krank (starke Trauerreaktionen) stigmatisiert. Die Bestattungsbranche ist bürokratisiert und professionalisiert. Die Gestaltung der Rituale ging damit in die Hände von Professionellen über und die Trauernden können nur zwischen den in Katalogen und Listen verzeichneten Produkten und Dienstleistungen wählen (Einbalsamierung, Sarkophage, Blumenarrangements, privilegierte Plätze für die Toten etc.), die auch Distinktions- und Statusfunktionen erfüllen (Nölle 1997). Metcalf und Huntington (1991) weisen auf das Paradox hin, dass in der pluralistischen Gesellschaft der Vereinigten Staaten (wie auch in anderen westlichen Staaten) eine starke Uniformität der Begräbnis- und Trauerrituale besteht, obwohl dahinter keineswegs eine einheitliche Ideologie zu finden ist. Aufgrund der Marktbeherrschung durch große Bestattungsunternehmen, an die sich die kleinen Bestattungsunternehmen angleichen müssen, ist nicht die Ideologie der Klienten für die Gestaltung des Begräbnisses entscheidend, sondern die durch Werbung vereinheitlichte Verkaufsstrategie der dominanten Unternehmen. Dem kommt psychologisch entgegen, dass die meisten Klienten daran interessiert sind, dass ihnen das lästige Geschäft der Sorge um die Toten abgenommen wird. Bürokratische, rechtliche, medizinische Maßnahmen dienen der Entlastung der Betroffenen. Hier wäre wieder die Theorie von Childe anzuwenden, dass in Zeiten des Wohlstands und der ökonomischen und politischen Stabilität das Interesse an Begräbnisritualen abnimmt. Metcalf und Huntington (1991, 211 ff) geben jedoch nicht nur die ökonomische Erklärung für die erstaunliche Uniformität der amerikanischen Begräbnissitten, sondern auch eine wertsystemspezifische, funktionalistische Erklärung; die ‚zivile Religion’ (Bellah 1967), die sich durch die eigenständige nationale Politik und Geschichte ergeben hat, führt auch in diesem zentralen Bereich zur Vereinheitlichung.
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Parsons und Lidz (1967, 167) schrieben einfachen Gesellschaften eine enge Verschränkung von Totenkult und Kultur zu und entwickelten Gesellschaften eine relative strukturelle Autonomie des ‚Todeskomplexes’. Fuchs (1969, 158) diagnostizierte einen cultural lag zwischen den fortschrittlichen Bereichen der modernen Gesellschaft und dem Bestattungssektor, in dem „magisch-religiöse Orientierungsmuster“ weiterwirkten. Die Verschränkung von Totenkult, Geburts- und Heiratsriten in traditionellen Kulturen ist einer Aufteilung und Differenzierung der Funktionen und Subsysteme gewichen. Der Umgang mit signifikanten Toten und der politische Totenkult Elaborierte Todesrituale und andauerndes Totengedenken waren in vielen Kulturen auf Personen mit hohem Status beschränkt, wurden also meist nur für eine Minderheit der Menschen veranstaltet. Diese Personen repräsentierten Gruppen oder Institutionen, d.h. die Rituale hatten primär die Funktion der Erhaltung und Stärkung des jeweiligen kollektiven Gebildes. Auch in der modernen Gesellschaft spielt die Erinnerung an bedeutsame Tote, die Repräsentanten für Ideen, Gegenstände oder Waren sind, z.B. Mozart als virtueller Agent von Opern- und Konzertaufführungen, Mozartkugeln etc., eine wichtige Rolle. Die Erschütterung, die in traditionellen Gesellschaften durch den Tod eines bedeutsamen Vollmitglieds entstand, wurde teilweise auch durch die Todesvorstellungen und Riten verstärkt, z.B. wenn zusätzlich andere Mitglieder der Gesellschaft (z.B. die Frauen des Toten) getötet und evtl. ein Teil seines Eigentums vernichtet werden musste. „Frazer führt das niedrige ‚kulturelle Niveau’ von einigen Gesellschaften geradezu auf die Vernichtung auch der wertvollsten Besitztümer eines Verstorbenen zurück, weil auf diese Weise jede Kumulation von materiellen Kulturgütern ausgeschlossen werde.“ (Hahn 1968, 8)
Allerdings wurde durch diese Vernichtung überschüssiger Güter auch die Entstehung sozialer Ungleichheit verhindert – eine Herstellung von materieller Solidarität über den Totenkult. In einer modernen Gesellschaft wird das Individuum in der Regel schon vor seinem physischen Tod aus dem zentralen Netz entfernt, so dass die soziale Erschütterung beim Tod verringert wird. In besonderen Fällen, etwa dem plötzlichen unerwarteten Tod eines hohen Funktionärs (z.B. John F. Kennedy's Ermordung), tritt diese Erschütterung auch in
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modernen Industriestaaten auf und wird dann durch die Massenmedien und andere rituelle Veranstaltungen bearbeitet. Außerdem werden idealtypische Ereignisse für das trotz erhöhter Lebenserwartung in großen Populationen noch immer häufig auftretende verfrühte Sterben permanent von den Massenmedien aufgegriffen (z.B. der gewaltsame Tod von Staatsbürgern im Ausland oder schwere Unfälle und andere Katastrophen), wodurch diese rituelle Verarbeitung (freilich nur als Sekundärerfahrung) ebenso wie in traditionellen Gesellschaften alltäglich wird. Kearl und Rinaldi (1983) geben Beispiele dafür, dass auch in modernen Staaten auf Tote bei verschiedenen Anlässen Bezug genommen wird, um Interessen und Ideologien zu vertreten oder zu verstärken. Da auch der moderne Staat und seine Vertreter auf langfristige Kontinuität und Legitimation Wert legen, werden signifikante Tote medienkultisch verwertet oder der Staat beweist seine Stärke, indem er den drohenden Tod von Staatsbürgern, die z.B. in Händen von Terroristen sind, mit allen verfügbaren Machtmitteln zu verhindern versucht. Wenn bei Demonstrationen oder anderen Massenveranstaltungen von der Polizei oder von anderen Staatsorganen Personen getötet werden, können diese Tötungen und das Begräbnis zu Anlässen für eine Verbindung von kollektiver Trauer und Protest gegen politische Organisationen werden. Um berühmte und anerkannte Tote entsteht Konkurrenz zwischen rivalisierenden Gruppen, z.B. konkurrierten BRD und DDR um Goethe und andere bedeutsame Deutsche. Die Totenverehrung wird gemäß den herrschenden Ideologien gestaltet, der (berühmte) Tote wird zu Gedenktagen oder -jahren dem eigenen Kollektiv immer wieder symbolisch einverleibt. Modernisierung und Individualisierung Der Tod wurde in allen Kulturen kontrolliert und gezähmt. Die magische Kontrolle in vorindustriellen Gesellschaften wurde durch eine technische, wissenschaftliche Kontrolle in modernen Industriegesellschaften abgelöst (vgl. Fuchs 1969). Toynbee (1970, 95) weist durch interkulturelle Vergleiche auf ein zentrales Todesproblem der modernen Gesellschaft hin: „In einem australischen Eingeborenenstamm von Jägern und Sammlern, der jährlich ein bestimmtes Gebiet durchzieht, sondern sich die Alten freiwillig zum Sterben ab, um dem Stamm nicht zur Last zu fallen. In der heutigen westlichen Welt ist die durchschnittliche Lebenserwartung ohne eine entsprechende Steigerung der Lebensfreude und Verminderung der Lasten angestiegen. Vielmehr hat die Lockerung der Familienbande viele alte Menschen in sozialer und seelischer Hinsicht isoliert. Wä-
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ren sie australische Eingeborene, würden sie sich erlauben zu sterben. Wären sie chinesische Bauern, gäbe es bis zu ihrem Tod im Hause ihrer Kinder und Enkel Platz für sie. Doch als Christen oder ehemalige Christen, behaftet mit der traditionellen Abneigung gegen den Selbstmord, siechen heute im Westen viele alte Menschen dahin, einsam und unglücklich, bis medizinisches Geschick nicht mehr ausreicht, sie physisch am Leben zu erhalten.“
Thomas (1975), ein französischer Soziologe, meint, dass traditionelle schwarzafrikanische Gesellschaften das Problem der Todesangst für ihre Mitglieder besser gelöst haben als die moderne Gesellschaft. Dies versucht er u.a. dadurch zu beweisen, dass alte Menschen in diesen traditionellen afrikanischen Gesellschaften in geringerem Maße den Tod fürchten als alte Menschen in französischen Großstädten.41 Zu Recht stellt Hahn (1979) die Frage, ob die religiösen und kultischen Wandlungen sich auf den Kapitalismus zurückführen ließen, wie es Thomas und auch Ziegler (1977) behaupten, oder ob es sich nicht um eine umfassende kulturelle Entwicklung handle, die auch durch eine Veränderung des ökonomischen Systems und anderer politischer und sozialer Bedingungen in der modernen Gesellschaft nicht wesentlich beeinflusst würde. Hahn erklärt den Unterschied wie Durkheim vor allem durch die zunehmende Individualisierung und die Abschwächung der traditionellen kollektiven Kräfte, die auch eine Entwertung der mythischen und religiösen Vorstellungen mit sich brachte. Die Erosion der kollektiven Traditionen wurde u.a. von Historikern wie Ariès im Detail geschildert: Die Trennung der Sterbenden und Toten von den Lebenden, die Zerstörung der Gemeinschaft der Toten, die Isolation der Kleinfamilie und das Sterben des einzelnen außerhalb der Familie. Modernisierung, Bürokratisierung und Individualisierung haben den Effekt, dass das Individuum in seiner letzten Lebensphase entwertet wird, weil sein soziales Sterben lange Zeit vor seinem physischen und psychischen Tod beginnt. Raum, Zeit und Lebenslauf Geburt und Tod wurden als unvorhersagbar erlebt, aber die Kulturen versuchten sie zu zähmen, sie raum-zeitlich und symbolisch zu verankern. Der (kulturell gezähmte) Tod hat seine Orte und seine Zeiten. Meist wurden die Siedlungen der Menschen nicht nur gegen Naturgefahren und menschliche Feinde abgesichert, sondern auch gegen den Tod, die Toten und die Dämonen. 41 Die empirische Untersuchungslage reicht nicht aus, um solche allgemeine Behauptungen zu belegen, wobei auch eine kulturübergreifende Operationalisierung von „Todesangst“ sehr schwierig sein dürfte.
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Müller (1987) nennt die gesicherte Zone die Endosphäre (z.B. das umzäunte Dorf), die ungesicherte die Exosphäre (z.B. der Wald). Diese räumliche Sicherung ist nicht als statisch zu begreifen, sondern hängt von vielen Faktoren, vor allem auch von der Zeit und kalendarischen Festlegungen ab. Es gibt in den meisten Kulturen ‚offene Zeiten’, in denen der ‚Rückfall in den chaotischen Schöpfungszustand’ droht. In diesen Zeiten gehen Tote, Hexen, Geister und Dämonen um. In diesen Zeiten kann man jedoch auch besondere Erfahrungen machen, z.B. in die Zukunft blicken. Die Zeit wurde gezähmt durch Zyklen und Phasen, freilich mit wiederkehrenden ‚Bruchstellen’ zwischen den Phasen, z.B. Nächten, Jahreszeitenwenden oder Übergängen zwischen Lebenslaufperioden. Diese Übergänge sind immer auch Krisen und bringen Gefahren, im Extremfall den Tod, mit sich. Auch wenn sich die Menschen einem natürlichen Prozess (Jahreszeiten, Geburt, Tod etc.) und dem entsprechenden Zeitverlauf unterwerfen (müssen), wird das Geschehen kulturell eingebettet und überformt; z.B. kann der Verwesungsprozess, definiert als das Abfallen des Fleisches von den Knochen, abgewartet werden, bevor Rituale, etwa das zweite Begräbnis, stattfinden dürfen. Der Prozessverlauf hängt zwar auch von klimatischen Bedingungen ab, doch ebenso von den Normen, z.B. ob der Tote eingegraben, auf einem Baum bestattet oder bestimmten Tieren, z.B. Aasgeiern, überlassen wird oder ob die Knochen nach dem Ausgraben mechanisch gereinigt werden. Kohli (1985) kennzeichnet den modernen Lebenslauf durch Verzeitlichung, Chronologisierung und Individualisierung. Die Dreiteilung des Lebenslaufs ist zum normativen Muster geworden:
die Zeit vor der Erwerbstätigkeit (bzw. Familienarbeit), die Zeit der Erwerbstätigkeit und die Zeit nach der Erwerbstätigkeit.
Man könnte diese Dreiteilung auch folgendermaßen beschreiben: die Vorbereitung auf das soziale Leben (die soziale Geburt), das (produktive) soziale Leben, zuletzt das soziale Sterben. Für traditionelle Christen war der Mensch Eigentum Gottes, folglich hatte Gott über die Lebenszeit des Menschen zu entscheiden. Moderne aufgeklärte Menschen sehen sich meist nicht als Eigentum Gottes, der Natur oder der Gesellschaft, trotzdem werden sie in der Regel vor der ‚radikalen’ Selbstbestimmung der eigenen Lebens- und Todeszeit zurückschrecken. Welche Anteile dieses Zurückschreckens dem physischen System zuzuschreiben sind, wodurch der Mensch sich als Eigentum der Natur erweisen würde, und welche dem Kulturzwang, bleibt eine offene Frage. Jedenfalls wirkt die Hemmung nicht zwangsläu-
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fig, sie wird soziokulturell beeinflusst und der Eigentümer des psychischen Systems hat zumindest bescheidene Mitbestimmungschancen.
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Todesbewusstsein und Todesideologie
In diesem Kapitel werden aus unterschiedlichen Perspektiven Bedingungen, Entwicklung und Formen des Todesbewusstseins in der modernen Gesellschaft analysiert. Gemäß der in der Einleitung vorgegebenen Differenzierung werden
normative (Verdrängung des Todes, ‚natürlicher’ Tod), instrumentelle (Lebens- und Sterbequalität, Wert des Lebens) kognitive (gruppenspezifische Entwicklung) und expressive (Ikonographie) Konzeptionen des Todesbewusstsein besprochen.
Zuerst wird ein Einblick in den sozialwissenschaftlichen Diskurs zur ‚Verdrängung des Todes’ gegeben, in dem ‚Unbehagen in der Kultur’ und Zweifel an einem gelungenen Todesmanagement zum Vorschein kommen. Hierauf wird das semantische Feld des ‚natürlichen Todes’ durchstreift. Dann wird die umstrittene Problematik der Lebens- und Sterbequalität und des Wertes des Lebens thematisiert. Im Alltagsbewusstsein und auch in der öffentlichen Kommunikation sind differenzierte Bewertungen konkreten menschlichen Lebens enthalten. Sie lassen sich aufgrund von Handlungen, Konsumpräferenzen und der auf allen Ebenen unvermeidlichen Selektion erschließen. Die real existierende Instrumentalisierung menschlichen Lebens wird in der Öffentlichkeit meist nicht diskutiert, doch wenn sie offengelegt wird, entstehen heftige Kontroversen. Weiterhin wird die Entwicklung des Todesbewusstseins im Sozialisationsprozess spezifischer Gruppen dargestellt: Kinder, Ärzte, Sterbende und Trauernde. Das traditionelle Todesbewusstsein wird meist aus den überlieferten Erzählungen und Bildern (z.B. Grabmälern) erschlossen. In der modernen Gesellschaft sind diese überkommenen Todesbilder im Vergleich zu den Manifestationen der Massenmedien in den Hintergrund gedrängt worden.
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Verdrängung des Todes Die Erosion der traditionellen Riten, die Verlagerung des Sterbens in Krankenhäuser und Heime, die Abnahme der Primärerfahrungen mit Sterbenden und Toten, die Säkularisierung und Individualisierung führten bei vielen Menschen in einem allgemein kulturkritischen Klima seit dem Ende des 19. Jahrhunderts zu einer negativen Bewertung der Gesellschaft und im speziellen des modernen Umgangs mit dem Tod, wobei Begriffe wie ‚Verdrängung’ und ‚Tabu’ verwendet werden. Doch vielleicht ist Verdrängung von Sterben und Tod nicht ein raum-zeitlich begrenztes kulturelles Ereignis sondern eine anthropologische Konstante. Auch wenn man Freud's Theorien skeptisch gegenübersteht, ist doch sein Hinweis aus dem Jahre 1915 auf die Ambivalenz, die Menschen schon immer – also nicht erst in den letzten beiden Jahrhunderten – im Verhältnis zum Tod zeigten, kaum von der Hand zu weisen. „Der Mensch konnte den Tod nicht mehr von sich fernehalten, da er ihn in dem Schmerz um den Verstorbenen verkostet hatte, aber er wollte ihn doch nicht zugestehen, da er sich selbst nicht tot vorstellen konnte. So ließ er sich auf Kompromisse ein, gab den Tod auch für sich zu, bestritt ihm aber die Bedeutung der Lebensvernichtung, wofür ihm beim Tode des Feindes jedes Motiv gefehlt hatte. An der Leiche der geliebten Person ersann er die Geister, und sein Schuldbewußtsein ob der Befriedigung, die der Trauer beigemengt war, bewirkte, daß diese erstgeschaffenen Geister böse Dämonen wurden, vor denen man sich ängstigen mußte. Die (physischen) Veränderungen des Todes legten ihm die Zerlegung des Individuums in einen Leib und in eine – ursprünglich mehrere – Seelen nahe; in solcher Weise ging sein Gedankengang dem Zersetzungsprozeß, den der Tod einleitet, parallel. Die fortdauernde Erinnerung an den Verstorbenen wurde die Grundlage der Annahme anderer Existenzformen, gab ihm die Idee eines Fortlebens nach dem anscheinenden Tode ... So frühzeitig hat die Verleugnung des Todes, die wir als konventionell-kulturell bezeichnet haben ... ihren Anfang genommen.“ (Freud 1986, 54 f)
Für traditionelle Kulturen galt und gilt: Der Tod bzw. der Tote ist eine offene Stelle im Sozialkörper. Verschiedene Gefahren können eindringen. Zersetzung, Anomie und Chaos drohen. Je höher der Status des Verstorbenen, umso größer die Gefahr für die Gemeinschaft. Die Reaktionen auf den Tod eines Königs oder Oberhaupts waren in vielen Kulturen von anarchischer Heftigkeit gekennzeichnet. Normen wurden gebrochen und Ordnung kehrte erst wieder ein, wenn ein neues Oberhaupt eingesetzt war. Die desintegrierenden Impulse der Reaktion auf den Tod einer Person
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werden nach Malinowski durch die Religion und die Riten aufgefangen und in gemeinschaftsfördernde Handlungen umgewandelt. Doch dies ist eine harmonisierende Sichtweise. Die rituelle Bewältigung ist auch immer eine Einengung der Problemlösungsmöglichkeiten, d.h. es erfolgt gerade durch die Riten häufig eine Unterdrückung persönlicher Reaktionspotentiale und teilweise eine Gewaltsteigerung. Eine bemerkenswerte Kombination von Todesverdrängung und ‚Todessehnsucht’ zeichnet die Jahrzehnte vor Beginn des ersten Weltkrieges aus. In Deutschland ergab sich eine kollektive Überschätzung durch politischen, ökonomischen, kulturellen Aufschwung und starkes Bevölkerungswachstum. Gleichzeitig wurde die Jugend ritualisiert in kriegerische Verhaltensweisen eingeübt. Die Sterbe- und Todesvorstellungen der meisten – vor allem was den Krieg betraf – waren unrealistisch. Freud meinte 1915 unter dem Eindruck des ersten Weltkriegsjahres: „Wir haben die unverkennbare Tendenz gezeigt, den Tod beiseite zu schieben, ihn aus dem Leben zu eliminieren. Wir haben versucht, ihn totzuschweigen ...“ (Freud 1986, 49)
Doch weder die anthropologische Grundproblematik noch die beiden Weltkriege und schon gar nicht eine genaue Analyse der vielfältigen Formen der modernen Todesbewältigung spielten in der soziologischen Verdrängungsdiskussion der letzten Jahrzehnte eine bedeutsame Rolle. Von welchen Gruppen oder Individuen werden welche Todesbereiche tabuisiert, verdrängt, privatisiert oder bagatellisiert? Über diese und ähnliche Fragen gibt es eine multiperspektivische Diskussion, die nun schon Jahrzehnte andauert (vgl. Nassehi/Weber 1989; Feldmann 1997, 32 ff; Schneider 1999, 33 ff; Hahn 2000, 192 ff).42 In der Verdrängungsdiskussion tauchen folgende Worte öfter auf: Sprachlosigkeit, Abschieben, Erfahrungsdefizit, Hilflosigkeit, Scheinthematisierung (durch die Medien), Sinnverlust. Doch die Vielfalt der Umgangsweisen mit Sterben und Tod erschwert eine pauschale Bewertung. Verdrängung ist folglich ein vieldeutiger Begriff. Das semantische Feld soll hier nur kurz beleuchtet werden. Wie lautet der Gegensatzbegriff von Verdrängung? Thematisierung? Akzeptanz? Zentrales Ich-Thema? Hohe Interaktionsrelevanz? Aktive Bearbeitung ist ein Gegensatz von Verdrängung und Verneinung. Wenn etwas verdrängt wurde, also innerhalb eines Systems eingekapselt oder 42 „Die Befürworter und Gegner der Verdrängungsthesen haben hier seit den sechziger Jahren ein Diskursfeld aufgebaut, das zumindest zwei negative Aspekte beinhaltet: erstens ist das Thema nicht genuin soziologisch, sondern psychologisch bzw. interdisziplinär, und zweitens lenkt die Beschäftigung damit von einer fundierten theoretischen und empirischen Arbeit eher ab.“ (Feldmann 2003, 214)
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aus dem System hinausgeworfen wurde, dann kann es wieder hereingeholt, betrachtet oder bearbeitet werden. Doch erst dann wird entschieden, wie man damit und mit seinen Teilen umgeht, was akzeptiert oder abgelehnt wird. Der Gegensatz oder die Aufhebung von Verdrängung ist im Rahmen dieser Argumentation nicht Akzeptanz, sondern Öffnung und Bearbeitung. Doch Verdrängungstheoretiker führen paradoxerweise nicht nur das Schweigen über den Tod als Beleg an, sondern auch die explizite Todesdiskussion: „Als Gegensteuerung zur Angst erfolgt die wissenschaftliche Diskussion ‚Tod’, um dadurch eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber Tod und Sterben zu erzielen. Diese Gleichgültigkeit, ein Ignorieren, wäre somit eine weitere, zusätzliche Form, den Tod nicht zu akzeptieren, eine Sonderform von Abwehr.“ (Wackerfuss 1988, 37)
Für die Verdrängungsthese werden u.a. folgende Argumente ins Feld geführt: 1.
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In traditionellen, agrarischen Gesellschaften war das Sterben eines Gemeindemitglieds eine öffentliche Angelegenheit, um die sich alle kümmerten, die den Toten gekannt hatten. Die moderne Privatsphäre umfasst nur wenige Menschen. Alle anderen sind ‚Fremde’, deren Tod keine Beachtung findet. (Privatisierung) Heute werden die meisten Menschen in ihrer letzten Lebensphase in bürokratische Organisationen ‚abgeschoben’, vor allem in Krankenhäuser und Pflegeheime, obwohl sie lieber zu Hause sterben würden. (Bürokratisierung und Segregation) Bei Todesfällen legt die Gesellschaft in der Regel „keine Pause mehr ein“. „Das Leben der Großstadt wirkt so, als ob niemand mehr stürbe.“ (Ariès 1982a, 716) In dörflichen Gemeinden waren Todesfälle dagegen gemeinschaftliche Ereignisse (Exklusion der Sterbenden und Toten). Für viele Menschen ist der Umgang mit Sterbenden und Toten peinlich, unschicklich, generell unerwünscht. Um es zu vermeiden, werden Sterbende und Tote ausgesondert und durch professionelles Personal behandelt. (Emotionale Ablehnung und Professionalisierung) Die Lebensdauer hat sich verlängert, so dass das Sterben von Bezugspersonen selten und meist erst im Erwachsenenalter erlebt wird. Es entsteht ein Erfahrungsdefizit, das im Ernstfall einer notwendigen Hilfeleistung für Sterbende oft zur Hilflosigkeit und Abwendung führt. (Verlust an Primärerfahrung) Schwerkranken und Sterbenden wird ihr wahrer Zustand teilweise verheimlicht bzw. die Probleme werden nur in der Sprache der kurativen Medizin thematisiert. (Kommunikationsdefizit)
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Die Medikalisierung, Technisierung und Bürokratisierung im Umgang mit Sterbenden führt zur Reduktion der persönlichen Zuwendung und der Selbstgestaltung des Sterbens. (Entfremdung und Depersonalisierung) Kinder werden von Sterbenden und teilweise auch von Begräbnissen ferngehalten. (Erfahrungsentzug) Da im Gegensatz zu früher hauptsächlich sehr alte Menschen sterben, werden Sterben und Tod zum Problem für die unterprivilegierte Minderheit der sehr alten Menschen erklärt. (Partikularisierung des Todes) Der medizinische und technische Fortschritt nährt die – vergebliche – Hoffnung auf ständige Lebensverlängerung, wodurch sich das Denken vom – unvermeidlichen – Tod abwendet (Unsterblichkeitsillusionen). Begräbnisse und Totenkulte sind in der modernen Gesellschaft periphere Ereignisse. (Marginalisierung der Rituale) Trauer ist privatisiert und verinnerlicht und wird, wenn sie gesetzte Standards überschreitet (Dauer, Ausdrucksformen), als krankhaft bezeichnet. (Affektkontrolle und Verinnerlichung) Traditionelle Formen der Sinngebung des Todes werden immer mehr ins Abseits gedrängt. Eine „öffentliche Sinngebung des Todes“ werde nicht zugelassen (Strukturelle Verdrängung nach Nassehi/Weber 1989).
Die Gegenthese, dass Sterben und Tod realitätsgerechter betrachtet und erfolgreicher ‚bearbeitet’ werden, als es in traditionellen Kulturen und in früheren Jahrhunderten der Fall war, wird seltener diskutiert, doch auch für sie lassen sich stichhaltige Gründe angeben: 1. 2.
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Der ‚normale’ Tod wird von den meisten Menschen als natürliches, nichttragisches Ereignis angesehen (Riley 1983). Menschen üben vermehrt Selbstkontrolle (Gesundheitsbewusstsein, Risikoabschätzung), um ihr Leben zu verlängern, sind also weniger fatalistisch eingestellt, als Menschen in traditionellen Kulturen. Die Menschen denken an die eigene Sterblichkeit und sorgen vor: Lebens- und Unfallversicherungen etc. (Lebensplanung) Mehr Menschen als früher haben den Mut, selbst zu entscheiden, wann sie ihr Leben beenden wollen: höhere Suizidraten – auch ein Zeichen von Selbstkontrolle. Untersuchungen an Schwerkranken haben gezeigt, dass bei einem Teil der Fälle eine gewisse ‚Verdrängung’ oder ein Ignorieren der Todesgewissheit
positive Konsequenzen haben kann (Lit. bei Rando 1987, 44)43 (Instrumentelle Einstellung gegenüber dem psychischen System) 5. Die Probleme der Sterbegestaltung werden offener und mit mehr Berücksichtigung der Menschenrechte diskutiert, als es in früheren Zeiten der Fall war. Die Mehrheit der Menschen in den Industriestaaten bejahen aktive Sterbehilfe.44 6. Die Bereitschaft, für das Vaterland zu sterben bzw. im Krieg sein Leben zu riskieren, hat abgenommen, d.h. das Todesrisiko wird realistischer eingeschätzt. 7. Das Interesse an pompösen Begräbnissen oder aufwendigem Totenkult hat abgenommen, weil der Tod als natürliches Ende angesehen wird und viele Menschen sich keinen Illusionen hingeben. 8. Menschen, die nahe Bezugspersonen verloren haben, sind meist von tiefer Trauer erfüllt. Vor allem trauern Eltern über den Verlust von Kindern heute wahrscheinlich intensiver als in früheren Zeiten (Trauerintensivierung). 9. Dass den Menschen Sinnfragen nicht mehr durch eine integrierte und totalisierte Kultur abgenommen werden, führt zwar zu Verunsicherung, aber andrerseits auch zur Emanzipation und zur Chance der individuellen Gestaltung des eigenen Todes. Es wird kein kollektiver Sinnzwang mehr ausgeübt, wie es für traditionelle Kulturen typisch war – was von den einen als Zeichen der (individuellen und kollektiven) Befreiung, von anderen (z.B. Nassehi und Weber 1989) als Zeichen der (strukturellen) Verdrängung gedeutet wird. (Emanzipation von erzwungenen Todesideologien) 10. Das Interesse an vergangenen Kulturen und an der Geschichte war noch nie so hoch entwickelt wie heute. Es hat das ethnozentrische und provinzielle Todesbewusstsein traditioneller Kulturen, zu denen auch die abendländische Kultur gehört, abgelöst. (Multikulturelle Ahnenschau) 11. Den Menschen in einer modernen Gesellschaft gelingt es, Leben und Tod besser als in allen bisherigen Kulturen zu kontrollieren. 12. Die Konflikte und sozialen Probleme, die sich in vielen Todesbereichen zeigen (z.B. Sterben im Krankenhaus, Euthanasie, Suizid, Krieg), sind ein Beweis für die starke Beschäftigung mit dem Thema und für die Bereitschaft zu Innovationen. (Metakognitive und soziale thanatologische Kompetenzen)
43 Eine positive teilweise illusionäre Sichtweise des Selbst und der Welt hat für das Individuum günstige Konsequenzen (Selbstwertgefühl, physische und psychische Gesundheit etc.) (Taylor/Brown 1988). 44 Diese Bejahung der aktiven Sterbehilfe wird je nach Weltanschauung als Verdrängung oder als eigenständige Bearbeitung des Sterbens bezeichnet.
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13. Ein zentrales Argument gegen die Verdrängungsthese bezieht sich auf die Medialisierung des Todes, die als Kultivierung bezeichnet werden kann, wobei freilich Konflikte mit den Hochkulturtraditionen auftreten. 14. Ein ungewöhnliches Anti-Verdrängungsthese-Argument betrifft den Umgang mit Leichen und Leichenteilen. Die Anatomie und Autopsie hat dem Umgang mit der Leiche, der in fast allen Kulturen meist religiös und rituell geregelt war, neue Möglichkeiten eröffnet.45 Für Forschung und zu Heilungszwecken werden ‚Leichenteile’ vielfältig instrumentalisiert. Diese Gegenüberstellung zeigt die perspektivische Sichtweise der Verdrängungsdiskurse. Die gleiche soziale Tatsache, z.B. Nüchternheit der Begräbnisse, kann als Verdrängung oder als aktive realitätsgerechte Bearbeitung interpretiert werden. Historische und interkulturelle Betrachtung Vor allem in der angelsächsischen Literatur wurden die sich ab dem 18. Jahrhundert verstärkenden Prozesse analysiert, die zu einer ‚Abschirmung’ der Sterbenden durch das ärztliche Wachpersonal führten. „Was den Tod eines anderen betrifft, so wird der Kulturmensch es sorgfältig vermeiden, von dieser Möglichkeit zu sprechen, wenn der zum Tode Bestimmte es hören kann. Nur Kinder setzen sich über diese Beschränkung hinweg ...“ (Freud 1986, 49)
Anweisungen, in Gegenwart von Schwerkranken und Sterbenden, nicht über den Tod zu sprechen, wurden seit Beginn des 19. Jahrhunderts immer häufiger gegeben. Diese Abschirmung der Sterbenden im 19. und 20. Jahrhundert bedarf einer genauen Analyse. Ariès (1982a) behauptet, dass sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und im 20. Jahrhundert mit zunehmender Tendenz der Tod „ins Gegenteil verkehrt“ hat. Er wählt auch eine andere Formulierung für diese Tatsache: Der Tod verbirgt sich. So wie sich der einzelne immer stärker vom Kollektiv emanzipierte, so verschwanden auch immer mehr die Riten, die die Einheit von Kollektiv und Individuum beschworen.46 Eine Erklärung des französischen Historikers für die Todesverdrängung bezieht sich auf die ‚romantische Gefühlsrevolu45 Streckeisen (2001, 289 ff) weist allerdings auch bei der Autoptik auf Handlungen und Deutungen hin, die die Leiche, den Tod und das Sterben von Personen in Distanz halten, die Gefahrenabwehr auf Apparaturen abschieben und, um die Leichenöffnung zu vermeiden, schließlich immer mehr auf virtuelle Öffnung des Körpers durch bildgebende Verfahren übergehen. 46 Eine rituelle Schwächung und Säkularisierung setzte in Frankreich schon in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein (Chaunu 1978; Hahn 2000, 143 ff).
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tion’, die zu einer übertriebenen Entwicklung zwischenmenschlicher Bindungen und Affekte geführt habe, wodurch der Tod der geliebten Person zu einem schwer erträglichen Ereignis wurde. Solche immanenten, d.h. von einer eigenständigen Entwicklung der Todesvorstellungen ausgehenden, Erklärungen sind jedoch unzureichend. Sie müssen im Rahmen gesellschaftlicher Wandlungen (z.B. Wandel der bürgerlichen Familie, Aufklärung, Säkularisierung etc.) betrachtet werden. Elias (1976) zeigt, wie sich der Zivilisationsprozess, der Aufbau von Schambarrieren und Gefühlskulturen über Jahrhunderte ausdifferenziert und in der Sozialhierarchie nach unten verbreitet hat. Ariès vernachlässigt eine solche sozialstrukturelle Analyse. Ariès (1982a) geht in seinem Versuch, die historischen Wurzeln für das ‚Verbergen’ des Todes aufzuzeigen, von einer ganzheitlichen, linearen, unsoziologischen Geschichtskonzeption aus. Der Tod, den er als kulturelle Gestalt mystifiziert, drängt sich nach seiner Ansicht in bestimmten Epochen vor (im Hochmittelalter, im 17. und im 19. Jahrhundert) und weicht in anderen zurück (in der Renaissance, im Jahrhundert der Aufklärung und in heutiger Zeit). Aufgrund der Mehrdeutigkeit der geschichtlichen ‚Fakten’und Interpretationen und der vielfältigen Datenmängel erhalten die Erklärungen des Historikers einen hohen Grad von Beliebigkeit. Ein Beispiel: Er beschreibt die zunehmende Tendenz zur Einbalsamierung in den Vereinigten Staaten seit dem Bürgerkrieg und erwähnt die Mode der Einbalsamierung in Teilen Europas im 18. Jahrhundert. Dann nimmt er sein Lieblingserklärungsmuster auf, die „Weigerung, den Tod anzuerkennen“ und beginnt nun in virtuoser Weise herumzuspekulieren. „Um den Tod verkaufen zu können, muß man ihn anziehend machen ...“ (Ariès 1976, 65). Kurz darauf spricht er vom „gegenwärtigen Verbot des Todes“(65). Er selbst ist von dieser Verschämtheit gegenüber dem Tod offensichtlich auch geprägt. Denn er beschreibt das amerikanische Bestattungswesen mit den üblichen abwertenden Stereotypisierungen des arroganten europäischen Intellektuellen: „Die Bestattungen werden nicht verschämt vollzogen, man macht kein Geheimnis aus ihnen. Mit dieser sehr bezeichnenden Mischung von Kommerz und Idealismus werden sie zum Objekt einer grellen Publizität ... Die funeral homes werden auf den Highways und Stadtstraßen von einer aufdringlichen und ‚personalisierten’ Publicity angekündigt (mit dem Porträt des Direktors).“(66) Dass es sich hierbei also nicht um ein ‚Verbot des Todes’ handeln kann, ist allzu offensichtlich. Um seine These zu retten, verwendet Ariès einen bekannten Trick, nämlich „die amerikanische Gesellschaft“ als „unvollständige“ oder abweichende „europäische Gesellschaft“ darzustellen: „Weil die amerikanische Gesellschaft das Verbot möglicherweise nicht vollständig akzeptiert hat, kann sie es leichter in Frage stellen, während es andernorts, in den alten Ländern, in denen der Totenkult gleichwohl tief verwur-
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zelt scheint, Verbreitung fand.“(67) Der Erkenntnisgewinn solcher Aussagenfolgen ist ziemlich gering. Der Niedergang des Totenkults Freilich gibt es Fakten, die einer Erklärung bedürfen, z.B. der Niedergang des bürgerlichen Totenkults des 19. Jahrhunderts, die Zunahme der Einäscherungen und das steigende Interesse an anonymer Bestattung. Da sich das Interesse auf die Zeit vor dem Tod, auf den diesseitigen Lebenslauf, verlagert hat, ist das Begräbnisritual und der Übergang in das Reich der Toten peripher geworden. Die Kritik an Begräbnisritualen hat in den vierziger und fünfziger Jahren in den Vereinigten Staaten zugenommen. Nach der wirtschaftlichen Depression und der Anfangszeit des Krieges erfolgte der Aufstieg zur militärischen und ökonomischen Weltmacht, die sich nicht mit einem veralteten bürgerlichen Totenkult abgeben sollte. Allerdings war diese Kritik an den Begräbnisritualen paradoxerweise mit dem Vorwurf einer kollektiven Verdrängung des Todes gekoppelt (z.B. Berger/Lieban 1960). Obwohl der ökonomische Aufwand für die Begräbnisse nach dem zweiten Weltkrieg zunahm, in einer kapitalistischen Gesellschaft ein untrügliches Maß für Bedeutsamkeit eines Bereichs, wurde aufgrund sogenannter ‚Analysen der Symbole’ Verdrängung und Entfremdung diagnostiziert. Ist es sinnvoll, den alten Ägyptern „Verleugnung und Verkleidung des Todes“ (229) und „Camouflage“ vorzuwerfen, nur weil sie aufwendige Balsamierung und Unsterblichkeitsideologien produziert haben, was einer modernen existentialistischen Weltsicht als Verlogenheit erscheinen muss? Wie bei vielen Verdrängungstheoretikern steht auch bei Berger und Lieban ein mangelhaft reflektiertes ‚Todesbild’ im Hintergrund ihrer Argumentation, nämlich der Tod als „Schlusstragödie“ und die „düstere Strenge calvinistischer Pietät“ (230). Der französische Soziologe Thomas (1982) spricht von einer „Desozialisierung des Todes“47, weil in der modernen Gesellschaft Leichenzüge, Totenwachen, Begräbnisrituale und andere Formen der rituellen Beschäftigung mit Sterbenden, Toten und Trauernden immer stärker zurückgedrängt wurden und werden. Er bezeichnet dies auch als „Desolidarisierung“ mit den Sterbenden und 47
Foucault (1977b, 165) spricht von „Disqualifizierung des Todes“, der zu einem schlecht bezahlten Dienstleistungsbereich in Alten- und Pflegeheimen absteigt, da „sich die Machtprozeduren von ihm abgewendet haben.“ Historisch ist die These kaum haltbar, da das Sterben der meisten Menschen in Kulturen für die ‚Kulturträger’ peripher und unbedeutsam war.
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Trauernden, die immer mehr Spezialisten und Professionellen ausgeliefert werden. Die Bezugspersonen werden nach seiner Ansicht entmündigt und passiviert. Der rituelle Verlust führe zu einer kulturellen Leere (Thomas 1987). Thomas vermengt verschiedene Aspekte, die man trennen sollte. Die Kritik an der Medikalisierung und Professionalisierung ist sicher berechtigt, doch dadurch wurden ja neue Rituale eingeführt, so dass nur perspektivisch von rituellem Verlust oder kultureller Leere gesprochen werden kann. Gegenthesen von der kulturellen Vielfalt der Rituale und Bilder des Todes, von seiner Verästelung im Alltag durch die Massenmedien, aber auch durch die Verbalisierungs- und Thematisierungssucht des modernen (gebildeten) Menschen, sind gut zu belegen. Das Interesse an der Vergangenheit, an der Geschichte und damit auch an den Toten – allerdings in ihrer vergangenen diesseitigen Existenz – ist hochentwickelt und wird durch die modernen technischen und wissenschaftlichen Möglichkeiten auch immer besser gestaltbar und ‚lebbar’. Der Museumsbesuch, das Lesen und Betrachten von Texten und Gegenständen früherer Epochen, die Reisen zu aussterbenden oder getöteten menschlichen und tierischen Kollektiven, die Rezeption des Gemenges von realem und fiktivem Vergangenen, Gegenwärtigen und Zukünftigen in den Massenmedien, können als moderne Totenkulte gedeutet werden, und immer weniger das Begräbnis oder der Besuch von Gräbern verstorbener Bezugspersonen. Auch haben die Massenmedien zu einer neuen Art von ‚pompösen Grabstätten’ geführt: Alte Filme und Sendungen, deren Heldinnen und Helden bereits tot sind, und das Internet, das verlassene Homepages, virtuelle Friedhöfe und andere Stätten der Totenverehrung und des Vergessens bietet. Der Niedergang des traditionellen Totenkults erscheint durch ‚äußere Kräfte’, wie Bürokratisierung, Modernisierung, Rationalisierung, Säkularisierung etc. bewirkt, nicht durch ‚innere Kräfte’. Doch diese Erklärung ist keineswegs zureichend. Denn die starren Riten waren jeweils kulturellen Situationen angemessen, die durch geringen sozialen Wandel, aber auch durch rigide und karge Interaktion zwischen den Menschen, die in Primärgruppen zusammenlebten, gekennzeichnet waren. Die Verfeinerung der Interaktion und die rationale, verwissenschaftlichte Betrachtung sozialer Beziehungen lässt einen ritualisierten Totenkult als äußerlich erscheinen. Die moderne Innerlichkeit ist mit den antiquierten und unangemessenen Ritualen nicht mehr kompatibel. Der Aufbau eines Erinnerungskults ist eine Privatangelegenheit, jenseits der traditionellen Todes- und Trauerriten. Somit trifft die folgende These von Schmied (1985, 183 f) immer weniger zu: „Der Friedhof ist auch das wichtigste memento mori in der heutigen Zeit des seltenen Todes. Grabbesuch und Grabpflege erinnern die Angehörigen an ihre eigene Vergänglichkeit.“
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Die Friedhöfe werden weiter gesellschaftliche Funktionen erfüllen, doch die Massenmedien, Interaktionen mit Lebenden und neue Technologien bieten wichtigere und wirksamere Anregungen für die Bildung persönlicher Konzepte von Sterben und Tod. Ein allmähliches weiteres Absterben der Friedhofskultur (des 19. und 20. Jahrhunderts) ist zu erwarten. Vergleich und Bewertung von Kulturen Oft – auch in diesem Text – werden die traditionellen Kulturen aus Gründen der Vereinfachung allzu homogen und gleichförmig dargestellt. Deshalb ist es empfehlenswert, ‚abweichende’ Kulturen näher zu betrachten. Ein Beispiel für eine Form abweichender Kulturen, die interessante Parallelen mit der modernen Gesellschaft zeigen, gibt Woodburn (1982). In vier afrikanischen Jäger-und-Sammler-Kulturen (!Kung, Pygmäen), die er untersuchte, fand er keine vorgeschriebenen Bestattungsrituale, keine klare Unterscheidung zwischen gutem und schlechtem Tod und keine Beschäftigung mit einem Leben nach dem Tode. Es handelt sich um Gesellschaften, in denen die gefundene Nahrung sofort verteilt wird, keine Akkumulation stattfindet, die Personen kooperativ und gegenwartsorientiert sind und fast keinen Besitz haben und kaum eine Differenzierung nach Positionen und Rollen vorzufinden ist. Es gibt zwar persönliche Trauer, doch ein Gestorbener muss nicht ersetzt werden, sein Besitz muss nicht verteilt werden, die Solidarität muss nicht über Totenrituale gestärkt werden. Obwohl die moderne Gesellschaftsstruktur nur mit Vorbehalt mit einfachen afrikanischen Kulturen zu vergleichen ist, ergeben sich gerade in dem Bereich der Bearbeitung der Todesproblematik Ähnlichkeiten. Die Vererbung von Besitz wird auch in modernen Industriestaaten für eine immer kleiner werdende Minorität von entscheidender Bedeutung, trotz der insgesamt steigenden Vermögen.48 Wenn nämlich die Eltern sterben, sind die Kinder bereits Erwachsene, haben selbst Familien gegründet, sind berufstätig und ökonomisch von den Eltern in der Regel unabhängig. In der Konsumgesellschaft ist die Gegenwartsorientierung dominant, d.h. eine diesseitsorientierte und hedonistische Haltung hat sich durchgesetzt. Die Solidarität ist von den Totenritualen unabhängig geworden. Die Statusdifferenzierung wurde immer mehr entmystifiziert.
48 Die soziale Ungleichheit nimmt weltweit seit Jahrzehnten zu, so dass die Vermögen, die Produktionsmittel und die Verfügungsgewalt über Ressourcen sich immer mehr in den Händen einer Minderheit sammeln – eine Konzentration der Lebensressourcen und damit eine Ungleichverteilung auch bezüglich der Chancen, sozial, psychisch und physisch zu sterben.
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Für alle, auch die höchsten, Positionen gibt es eine Überfülle an qualifizierten Kandidaten. Damit ist auch der Tod der Statushöchsten keine Erschütterung mehr für die vorhandenen Strukturen. Todesprüderie? Gorer veröffentlichte 1955 einen Aufsatz mit dem Titel „Die Pornographie des Todes“. Er verbreitete die durch sozialwissenschaftliche und historische Studien kaum gestützte These, dass der Tod in den 1950er Jahren ähnlich tabuisiert und schambesetzt sei, wie es die Sexualität in der viktorianischen Epoche war. Doch in den vergangenen 100 Jahren wurden viele Ge- und Verbote, die den Tod betreffen, abgebaut. Ob sich der Grad der Sanktionierung für abweichende Handlungen im Todesbereich in dieser Zeit erhöht oder erniedrigt hat, ist aufgrund der Vielfalt der Dimensionen kaum messbar. Dass im 19. Jahrhundert geringere Freizügigkeit und Offenheit als heute in mehreren Todesbereichen herrschte, lässt sich belegen:
Wenn jemand den Tod für das Vaterland, für den Kaiser oder für anerkannte Ideale ablehnte, musste er mit sozialer Ächtung rechnen. Wenn jemand das Recht auf Selbsttötung verteidigte, musste er mit sozialer Ächtung rechnen. Wenn jemand gegen die pompösen Begräbnisse der Mitglieder der Oberschicht Stellung nahm, musste er Schwierigkeiten in Kauf nehmen. Wenn jemand (vor allem eine Frau) vorgeschriebene Trauerbräuche nicht einhielt, musste er/sie mit Sanktionen rechnen.
Generell wurden Abweichungen von den herrschenden Normen im 19. Jahrhundert weniger geduldet als heute. Dies galt für Sexualität und Tod in gleichem Maße. Der Tod ist auf die Familie eingeschränkt Die Privatisierung, Intimisierung und die Einklammerung des Todes in die Kernfamilie ist fortgeschritten. Beileidsbesuche und Teilnahme an Begräbnissen werden teilweise abgelehnt oder minimiert. Es wird auch immer weniger erwartet, dass die Trauernden ihre Trauer öffentlich durch Kleidung oder andere Zeichen und Symbole zeigen. Ariès (1982a) meint, dass die Codes und Rituale, die früher für alle Gelegenheiten vorhanden waren, bei denen Gefühle geäußert werden
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konnten, die im allgemeinen unausgedrückt blieben, im 20. Jahrhundert verschwunden sind. Ariès behauptet, dass der Affekthaushalt des modernen Menschen im Todesbereich gefährdet ist. Implizit ist in dieser Argumentation eine nicht haltbare These verborgen: Jede Kultur muss auf einen anthropologisch konstanten Affekthaushalt der Menschen Rücksicht nehmen. Die kulturelle Transformation der Affekte wird von Ariès vernachlässigt. Primärerfahrung wird durch Sekundärerfahrung ersetzt49 Es ist sicher richtig, dass die Erfahrungen der einzelnen mit dem konkreten Sterben anderer im Laufe der letzten 200 Jahre seltener geworden sind, abgesehen von der Zeit der beiden Weltkriege. Doch es handelt sich um ein universales Charakteristikum einer modernen Gesellschaft, dass in vielen Bereichen die Möglichkeiten der meisten Menschen, Primärerfahrungen zu machen, abgenommen haben, während die Sekundärerfahrungen – vor allem über die Medien – explosiv zugenommen haben: Umgang mit Nutztieren, Erntearbeit, Naturgewalten ausgesetzt sein, Gewalt gegen andere Menschen ausüben, physischen Aggressionen ausgesetzt sein, frieren, hungern etc. Es wird jedoch bei diesen genannten Beispielen kaum von Verdrängung gesprochen. „Die modernen Medienkinder sind im Vergleich zu den Angehörigen sogenannter Primitivkulturen, die bekanntlich sehr ‚primär’ gelebt haben, ‚Realisten’. Australische Ureinwohner ohne Medien waren ‚Fantasten’, in Magie befangen. Vermittelt also Sekundärrealität ein erfolgreicheres und letztlich exakteres Wirklichkeitsbewusstsein als Befangensein in Primärrealität?“ (Feldmann 1997, 73)
Diese Frage ist nicht einfach zu beantworten. Vor allem wird durch moderne Technologien die Unterscheidung zwischen Primär- und Sekundärerfahrung selbst in Frage gestellt, man denke an hochentwickelte Waffensysteme und Simulationsprogramme oder an naturwissenschaftliche Beobachtungen mit hochkomplizierten Apparaturen und Software-Systemen. Verdrängung der Leichen50 „Sehen wir uns nun einem menschlichen Leichnam gegenüber, zergliedert, aufgeschnitten und z.B. in der Pathologie wie ausgeweidet, so brechen unsere Möglichkeiten, unser Identitätsgefühl durch Identifizierung und Abgrenzung aufrechtzuer49
Vgl. den Abschnitt „Medialisierung des Todes“ Umfassende multi- und transdisziplinäre Darstellungen des Umgangs mit dem toten Körper bieten Stefenelli (1998), Groß/ Glahn/ Tag (2010) und Groß/ Glande (2010).
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halten, zusammen. Archaische Auflösungsängste werden in uns lebendig, wir haben das Empfinden, in ein Nichts zu fallen, was sich als Schwindel oder gar als Ohnmacht äußern kann.“ (Schneider 1984, 199)
Das Zurückweichen vor der Leiche ist in vielen Kulturen in Mythen und Riten verankert, also eine Form der Anerkennung der Distanz zwischen den Lebenden und den Toten. Bei den finnisch-ugrischen Völkern waren Gegenstände, die mit dem Leichnam in Berührung gekommen waren, mit einer von ihm ausgehenden schädlichen Kraft, kalma, ausgestattet. „Der Ort, wohin das Leichenwaschwasser geschüttet worden war, mußte gemieden werden, denn der Mensch steckte sich dort leicht mit kalma an und erkrankte. Das Totenstroh mußte an einem einsamen Ort ... verbrannt werden ... Die kalmaKrankheit kann außer durch Berührung auch dadurch entstehen, daß der Mensch vor einem Leichnam erschrickt ...“ (Haussig 1973, II, 351)
Die These, daß nur moderne Gesellschaften ‚die Toten ausstoßen’, ist sicher nicht haltbar. Im Antiken Griechenland begleitete kein Priester das Begräbnis und der Tote wurde nicht an einer heiligen Stätte begraben. Der geheiligte Bezirk, also der Tempel, und das Totenreich schlossen sich aus. „Als die Insel Delos Apoll geweiht wurde, mußte sie erst von den Toten gereinigt werden, die aus den Gräbern geborgen und auf einer Nachbarinsel zweitbestattet wurden“ (Wiegels 1990, 13). Heroen und Kinder konnten innerhalb der Stadtmauern bestattet werden, Helden wegen ihrer besonderen Leistung und Kinder, weil sie noch ohne sozialen Status waren. In geheiligte Bezirke, also Tempel, wurden alle diejenigen, die mit einem Toten in Berührung standen, nicht hineingelassen. Bei vielen Völkern gab es entsprechende Tabus, die sich vor allem auf Geburt und Tod bezogen, denn der Mensch war nach Vorstellung vieler Völker in diesen Bereichen den Angriffen anderer Mächte ausgesetzt. Es war also in der Regel eine Reinigung notwendig, weil die ursprüngliche soziale Identität verlorenging oder eben noch keine neue Identität gewonnen war. Zweifellos haben in Industriegesellschaften Möglichkeit und Bereitschaft, Leichen in Augenschein zu nehmen, abgenommen. Durch bürokratische und sonstige Maßnahmen wurden die Chancen, mit der Leiche einer Bezugsperson Umgang zu pflegen, verringert. In Krankenhäusern und Pflegeheimen werden die häufig auftretenden Todesfälle ‚diskret’ behandelt, d.h. die übrigen Insassen werden von den Leichen und deren Behandlung in der Regel ferngehalten (vgl. Komaromy 2000). Manche Experten empfehlen den Bezugspersonen das Abschiednehmen vom Toten durch dessen Betrachtung. Wenn die Leiche einbalsamiert oder anderweitig behandelt wird, werden angeblich die Zeichen des Todes verwischt.
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Pine (1975) und Raphael (1983) meinen, dass es realistisch und für einen ordnungsgemäßen Trauerablauf notwendig sei, den Toten als Toten in Erinnerung zu behalten. Doch Goethe, Parsons, Lidz u.a. meinten, es sei weniger störend und den vergangenen Erinnerungen angemessener, den Toten als Lebenden in Erinnerung zu behalten. Handelt es sich um den Wunsch, in Illusionen zu leben, wenn man den toten Körper des Verstorbenen nicht betrachten will oder wenn man ihn als Quasi-Lebenden herrichtet? Die Kritik an der Weigerung der Betrachtung der Leiche geht von einem eingeengten Realitäts- und Wahrhaftigkeitsbegriff aus. Goethes Verhalten bei Todesfällen erregte bei Zeitgenossen Befremden (vgl. Göres 1978). 1795 nach dem Tod seines kurz nach der Geburt gestorbenen Kindes schrieb er an Schiller: „Man weiß in solchen Fällen nicht, ob man besser thut, sich dem Schmerz natürlich zu überlassen, oder sich durch die Beihülfen, die uns die Kultur anbietet, zusammen zu nehmen. Entschließt man sich zu dem letzten, wie ich es immer thue, so ist man dadurch nur für den Augenblick gebessert, und ich habe bemerkt, daß die Natur durch andere Krisen immer wieder ihr Recht behauptet.“ (Goethes Gespräche 1965 ff, IV, 10, 335 f)
Goethe konstruiert hier eine Dichotomie von natürlicher und kulturell vermittelter Reaktion, wobei der expressive Ausdruck des Schmerzes als natürlich angesehen wird. Goethe vermied die expressiven Formen des Weinens, Schreiens oder andere starke unmittelbare Äußerungen von Affekten, ja er sprach kaum über seine Gefühle beim Tod von Bezugspersonen. Er wollte auch in der Regel nicht, dass andere darüber mit ihm sprechen. Er vermied es, den Todeskampf von anderen mitzuerleben, die Leiche zu sehen und – soweit möglich – zu Begräbnissen zu gehen. Er war insofern ein moderner Mensch, er ‚verdrängte’ den Tod, besser die Sterbenden und (den physischen Teil der) Toten, in seinem Alltag – nicht in seiner Dichtung. „Warum soll ich mir die lieblichen Eindrücke von den Gesichtszügen meiner Freunde und Freundinnen durch die Entstellungen einer Maske zerstören lassen? Es wird ja dadurch etwas Fremdartiges, ja völlig Unwahres meiner Einbildungskraft aufgedrungen. Ich habe mich wohl in achtgenommen, weder Herder, Schiller, noch die verwitwete Frau Herzogin Amalia im Sarge zu sehen.“ (Goethes Gespräche 1965 ff, II, 768)
Die Haltung Goethes kann zur Stützung von Personen herangezogen werden, denen von Experten sogenannte natürliche oder authentische Verhaltensweisen gegenüber Sterbenden, bei Trauerfällen und generell gegenüber dem Tod emp-
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fohlen werden. Sicher können Normen, seine Gefühle für sich zu behalten, sie zu sublimieren, zu dämpfen, nur im privaten Bereich zu zeigen, die anderen nicht mit negativen Aussagen zu belästigen etc., für manche Menschen behindernd, ja vielleicht quälend oder neurotisierend wirken. Insofern sind alternative Möglichkeiten, z.B. Selbsthilfeorganisationen für Trauernde, wünschenswert, jedoch nur als Optionen. Denn diese affektkontrollierenden Verhaltensweisen können auch entlastend und leistungserhaltend wirken. Berichte aus verschiedenen Kulturen, literarische und andere künstlerische Darstellungen und Biographien eröffnen ein breites Spektrum möglicher Verhaltensweisen, Gefühlsäußerungen und Anschauungen. Die strukturelle soziale Verdrängung des Todes Verbindungen zwischen dem Tod und der Gesellschaftsstruktur haben Auguste Comte (Fuchs-Heinritz 1995), Georg Simmel (Hahn 1995), Max Weber (Seyfarth/ Schmidt 1995) und Michel Foucault (Nassehi 1995) hergestellt. Max Webers Herrschaftssoziologie kann so gedeutet werden, dass der Tod in der modernen Gesellschaft an Bedeutung verloren hat oder ‚sinnlos’ geworden ist. „Nach der Logik des Typus der rational-legalen Herrschaft schließlich würde der Tod weder dramatisiert noch ritualisiert, sondern im Prinzip wegrationalisiert.“ (Seyfarth/ Schmidt 1995, 111)
Auch Foucaults historisch hergeleitete Gesellschaftsdiagnose lässt eine ähnliche Interpretation zu: „Der Tod hat gegen die Macht des Lebens, gegen die Bio-Macht, keine eigenständige Bedeutung mehr. Er fällt aus dem herrschenden Machtdispositiv heraus.“ (Nassehi 1995, 222)
Nassehi und Weber (1989) bringen eine weitere strukturelle soziologische Variante in die Verdrängungsdiskussion, wobei sie den kulturkritischen Verdrängungsansatz explizit ablehnen. Sie orientieren sich an einer Systemtheorie Luhmann’scher Prägung und sprechen aufgrund der „strukturellen Entkoppelung personaler und systemspezifischer Perspektiven“ von einer „strukturellen sozialen Verdrängung des Todes ... als Inkompatibilität von sozialen und psychischen Systemen, d.h. als strukturelle Differenz zwischen gesellschaftlichen Sinnangeboten und -ansprüchen und individuell-existentiellen Sinnbedürfnissen“ (386). Doch m.E. handelt es sich auch bei ihrem Ansatz um eine Art von Kulturkritik, wenn sie von der „Verdrängung des Wissens um die Endlichkeit des Humanums 73
aus kollektiv zugänglichen Wissensvorräten“ sprechen (388). Aus solchen Sätzen spricht eben auch die Angst vor dem Verlust der traditionellen Kulturwelt und vor der Überlastung des Individuums und der Primärgruppen mit Todesproblemen. Nassehi und Weber behaupten, dass in der modernen Gesellschaft eine „öffentliche Sinngebung des Todes“ nicht zugelassen werde. Tatsächlich herrscht jedoch im Vergleich zu traditionellen Kulturen ein Überangebot an öffentlichen und privaten Sinngebungen jeder Art, auch bezüglich des Todes (vgl. Hahn 1991, 163). Nur sind eben in einer pluralistischen Gesellschaft keine universalen Verpflichtungen, Sinngebungsangebote zu akzeptieren, durchsetzbar – außer für Kinder in ideologisch geschlossenen Familien oder Mitglieder fundamentalistischer Gruppen. Nassehi und Weber teilen dies auch mit, dass eine „kollektive Sinngebung“ nicht mehr notwendig ist, doch die Schlüsse, die sie daraus ziehen, sind weder logisch zwingend, noch beruhen sie auf einer empirischen Grundlage (ebd. 380). Die real existierende Vielfalt von Tod und Sterben wird von Nassehi und Weber nicht berücksichtigt. Sie setzen ein festgelegtes anthropologisches Todesreaktionsmodell voraus und meinen – wie Ariès – über die Teilsysteme des homo triplex oder multiplex und ihre strukturellen Koppelungen a priori Aussagen machen zu können. Dabei werden Ad-hoc-Hypothesen konstruiert und ohne Überprüfung als wahr vorausgesetzt, z.B.: Je heftiger die Affekte beim Tod einer Bezugsperson, umso besser die Verarbeitung. Die soziologische Verdrängungsliteratur ist national eingeschränkt, die britischen, französischen und deutschen Fraktionen pflegen Inklusion und Exklusion. Die Briten Mellor und Shilling (1993) haben noch eine scheinbar neue Variante eingebracht: sequestration. Altbekannte Diskursaspekte werden überbetont. „Die Privatisierung und Intimisierung des Sterbens, die mit Bürokratisierung, Medikalisierung und Professionalisierung strukturell gekoppelt ist und von den meisten Menschen in den reichen Staaten angestrebt aber unzureichend erreicht wird, wurde von Mellor und Shilling mit spekulativen Behauptungen aufgeladen: zerbrechliche ontologische Sicherheit, Terror des absoluten Bedeutungsverlustes und Erosion des Wertekanons“ (Feldmann 2010b). Derartige Sozialphilosophien, die ‚Tabu’, ‚Sinnverlust’ und ‚Seinsvergessenheit’ beschwören, beruhen trotz universalistischen Anspruchs auf partikularistischen Annahmen. Verdrängungstheoretiker und Kulturkritiker kann man als Teilnehmer im von verschiedenen Interessengruppen geführten Kampf um Mythen und Kulte ansehen. Im Sinne einer modern verstandenen Aufklärung handelt es sich nicht um Verdrängung sondern um kulturellen Fortschritt, dass Gruppen und Individuen heute zwischen verschiedenen Mythen, Kulten, Ideologien und Wissenschaftspositionen wählen oder sich privat ihren eigenen Mythos zimmern können.
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Verdrängung des Todes und Herrschaft Interessant sind auch Überlegungen, die die Beschäftigung mit dem eigenen Tod in einen Zusammenhang mit gesellschaftlichem Wandel und der Emanzipation des Individuums stellen. Zweifellos kann die Beschäftigung mit dem eigenen Tod als mögliche Befreiung von sozialen Zwängen interpretiert werden (von Ferber 1963), denn vermittelt über Todesideologien wurde immer Herrschaft über Menschen ausgeübt. Verdrängen Menschen Gedanken an den eigenen Tod, dann sind sie möglicherweise Fremdzwängen stärker ausgeliefert.51 Doch Behauptungen, dass eine Verdrängung des (eigenen?) Todes auf jeden Fall (und offensichtlich im Gegensatz zu einer Akzeptanz des Todes) die Funktion habe, Herrschaft zu stabilisieren (von Ferber) oder im Kapitalismus das System der Ungleichheit zu verschleiern (Ziegler 1977), entbehren ernstzunehmender empirischer Bestätigung. Bewusste und unbewusste Verschleierung Im Alltagsdenken und –handeln blenden Menschen ihre eigene Sterblichkeit meist aus. Sie überschätzen ihre Chancen, alt zu werden, distanzieren sich von Sterbenden und Toten und viele glauben an ihre unsterbliche Seele. Die terror management theory hat bestätigt, dass die meisten Menschen die Erinnerung an die eigene Sterblichkeit abwehren, z.B. durch Betonung des Selbstwerts, Flucht in die Gemeinschaft und Stärkung der eigenen Weltsicht (Greenberg et al. 1990). Die unbewusste Verschleierung, die verdeckte Todesangst, ist ein psychologisches Forschungsgebiet (Hayslip 2003), wobei schwierige methodische und theoretische Probleme zu bewältigen sind. Außerdem werden Sterben und Tod bewusst und explizit verschleiert, verdeckt oder transformiert. Die Isolation von Sterbenden und die schnelle Entfernung der Toten in Krankenhäusern und anderen Organisationen sind wohl die bekanntesten Beispiele für diese Tatsache. Auch in Todesanzeigen begegnet man häufig indirekten und euphemisierenden Darstellungen (vgl. Grümer/Helmrich 199452). Ein anderes Beispiel für eine gezielte Verschleierung ist die offizielle Realitätskonstruktion des Golfkrieges (und auch der weiteren High-Tech-Kriege) 51 So könnte man auch Untersuchungsergebnisse der terror management Theorie interpretieren (Greenberg et al. 1990). 52 Allerdings können die Daten von Grümer und Helmrich auch als Widerlegung der Verdrängungsthese interpretiert werden, da bei einem Vergleich der Todesanzeigen im Kölner Stadtanzeiger von 1820 bis 1992 die Religiosität sich verstärkt hat.
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durch Vertreter der amerikanischen Regierung und der alliierten Streitkräfte und die Behinderung einer offenen Berichterstattung durch die Medien (Umberson/ Henderson 1992; Seifert u.a. 1992). Kritik der (kulturkritischen) Verdrängungsthesen Zu Recht weist Schmied (1985, 37) darauf hin, dass der Begriff Tabu in dem Zusammenhang kaum richtig gebraucht wird, da in der Regel damit die Vorstellung einer Strafe im Falle einer schwerwiegenden Normverletzung verbunden ist. Helmers (1989, 2) gibt auch zu bedenken, dass mit einem ‚Tabu’ etwas Heiliges belegt wurde. Ein weiteres Problem ergibt sich daraus, dass diese Aussagen nicht nur auf Personen, sondern auch auf Kollektive bezogen wurden. Kellehear (1984) meint, dass sich Ausdrücke wie ‚Verdrängung’ jedoch nur sinnvoll auf Individuen beziehen können, und dass es nicht zulässig ist, soziale Systeme zu personalisieren. Als Verdrängung wurden die Bräuche der US-Amerikaner bezeichnet, die – anscheinend – vor der harten Realität des Todes zurückscheuen, was durch die kosmetische Zurichtung der Leichen und die ästhetisierende, alle Scheußlichkeit des Sterbens und der Verwesung verbergende Begräbnisgestaltung ‚bewiesen’ wird. Parsons und Lidz (1967) begründen in ihrem Aufsatz dagegen eine alternative Ansicht, nämlich dass die amerikanische Gesellschaft eine stabile, dem sozialen Wandel angepasste Todesorientierung institutionalisiert habe, die nicht eine Verleugnung sondern eine Weise der Akzeptanz darstelle, die dem zentralen kulturellen Muster des instrumentellen Aktivismus angepasst sei. Fuchs (1969, 7) will das Todesthema „aus dem Zusammenhang kulturkritischen Denkens“ lösen. Allerdings ist es ihm ebenso wenig wie anderen Sozialwissenschaftlern gelungen, die (kulturkritische) Verdrängungsthese zu verdrängen. Sie hält sich. Die Gründe für ihre Beliebtheit liegen nach Fuchs darin, dass die Kritik an der modernen Kultur von verschiedenen Interessengruppen, z.B. Mitgliedern von Religionsgemeinschaften, gestützt wird. Eine originelle Anti-Verdrängungs-Variante diskutiert Hahn (2001, 136): „Verdrängung des Todes ... ist ... eher in archaischen als in modernen Gesellschaften notwendig, weil dort die faktische Allgegenwart des Todes sich aufdrängt. Für unser Alltagsleben ist es aber so, dass wir dem Tod nicht in derart massiver Häufigkeit und Aufdringlichkeit begegnen. Wir brauchen ihn deshalb nicht so intensiv zu verdrängen.“
Nassehi (2003, 301) erweist sich inzwischen als Gegner einer (welcher?) Verdrängungsthese:
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„Von einer Verdrängung des Todes kann also gar keine Rede sein, sondern von einer Verwissenschaftlichung, Politisierung, Ökonomisierung, Medikalisierung, Juridifizierung usw. des Todes in der modernen Gesellschaft.“
Abschließende Überlegungen Nach Elias (1982) kann Verdrängung auf einer individuellen und auf einer sozialen Ebene auftreten. Die ‚soziale Verdrängung’, die sich im Vergleich mit früheren Zeiten oder anderen Kulturen diagnostizieren lässt, ergibt sich nach Elias aufgrund eines „Zivilisationsschubes“, durch den „die elementaren, animalischen Aspekte des menschlichen Lebens“ eingehegt, mit Scham- und Peinlichkeitsempfindungen belegt, aus dem öffentlichen Leben teilweise ausgesondert und „hinter die Kulissen des gesellschaftlichen Lebens“ verlagert wurden (21 f). Als zweites wesentliches Moment nennt Elias einen „Informalisierungsschub“, d.h. „daß eine ganze Reihe herkömmlicher Verhaltensroutinen, darunter auch der Gebrauch ritueller Floskeln, in den großen Krisensituationen des menschlichen Lebens für viele Menschen suspekt und zum Teil peinlich geworden ist.“(45) Dadurch entstehen in Sterbe- und Trauersituationen hohe Anforderungen für die Individuen, denen sie großenteils nicht gewachsen sind, was zu Verunsicherung und Vermeidungsverhalten führt. Marshall (1980, 24) weist darauf hin, dass der Tod in der vorindustriellen Epoche von den einzelnen Menschen und auch institutionell viel weniger kontrolliert wurde, wilder, grausamer, unvorhersagbarer und unverständlicher war. Somit wird auch die vorherrschende Todeserfahrung weder für die Menschen erfreulicher noch in ihrem Bewusstsein konsistenter eingeordnet gewesen sein als es heute der Fall ist (vgl. auch Elias 1982; Hahn 2000, 194). Jedenfalls gibt es keine zureichenden wissenschaftlichen Gründe, einen ‚Verfall’ der Todesvorstellungen zu diagnostizieren. Vor allem sollte die Vielfalt und ‚Verborgenheit’ (was nicht mit Verdrängung gleichzusetzen ist!) des Todesbezuges in der modernen Gesellschaft mitbedacht werden. Der Abschluss von Lebens- und Unfallversicherungen, die alltägliche Verwendung gefährlicher Fahrzeuge und Industrieprodukte oder die ständige Vermittlung von Botschaften über tatsächlichen und fiktiven Tod in den Massenmedien seien nur genannt. Offensichtlich betrifft die Verdrängungsthese nur bestimmte Todesbereiche, vor allem die Beschäftigung mit dem eigenen Tod, den direkten Umgang mit Sterbenden und Toten und die traditionellen Riten nach dem eingetretenen Tod und in der Trauerphase. Im Anschluss an Parsons, Fuchs-Heinritz und Hahn sollte die soziologische Verdrängungsdiskussion von folgenden Thesen geleitet sein:
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1. 2. 3.
4.
Die modernen Industriegesellschaften sind von den Individuen und auch von spezifischen Wertsystemen unabhängiger geworden. Auch sind sie in ihrer Naturbeherrschung auf einen Stand gekommen, der nie vorher erreicht wurde. Die langfristige Existenz der modernen Kultur und vielleicht auch der Menschheit ist vielleicht aufgrund der ungelösten Umweltprobleme und durch die Gefahr von Atomkriegen nicht gesichert, doch kurz- und mittelfristig ist sie ultrastabil, d.h. mit einem relativ hohen ‚Unsterblichkeitsfaktor’ zu prämieren. Aufwendige Trauerrituale und Todesideologien sind in einer solchen Epoche nicht zu erwarten. Was also Verdrängung genannt wird, ist vielleicht nichts anderes als der dem kulturellen Gefüge angepasste Zustand des Umgangs mit Sterben und Tod. (Vgl. Parsons/Lidz 1967).
Bei Betrachtung verschiedener Todesbereiche kommt man zu sehr unterschiedlichen Diagnosen. Traditionelle normative Konzeptionen unterliegen Erosionsprozessen, alternative Wert- und Normvorstellungen treten zwar auf, stabilisieren sich aber nicht. Die individuellen Sinngebungsprozesse pluralisieren sich. Der instrumentelle Bereich, die Ökonomie und Technologie des Lebens und Sterbens, wird immer dominanter. Der kognitive Bereich wird durch naturwissenschaftliche Konzepte beherrscht. Der expressive Bereich leidet unter Repression infolge der Herstellung einer Selbstzwangapparatur (Elias), der übermächtigen Bürokratisierung und Professionalisierung. In diesem Feld kann am ehesten von Verdrängung gesprochen werden, wobei die Medien, Events und die Kunst für Minderheiten grenzsprengend wirken können. Folgender Schluss erscheint mir aus den Ausführungen zu folgen: Es gibt kein wie immer geartetes natürliches oder anthropologisch abgesichertes Verhalten gegenüber dem Tod. Somit gibt es auch keinen inter- oder intrakulturellen Standard, der eine verbindliche Einschätzung von Praktiken, Gefühlen und Institutionen ermöglicht. Die Funktion der Verdrängungsdiskussion im westlichen Kulturkreis bestand (und besteht?) paradoxerweise sowohl in einer Anpassung eines rückständigen Bereichs (Umgang mit Sterben und Tod) an andere fortschrittliche Bereiche (vor allem Wirtschaft, Naturwissenschaft, Technologie) als auch in einer Verhinderung dieser Anpassung. Diese zweite Funktion ist unbedeutsamer geworden, so dass die Diskussion verebbt. Konflikttheoretisch handelt es sich beim Verdrängungsdiskurs u.a. um Kämpfe der im historischen Prozess vom Sterbebett verdrängten religiösen Funktionäre und ihrer Anhänger gegen die Modernisierer, vor allem im medizi78
nischen Sektor. Der Diskurs wurde für die Institutionalisierung von Hospizen eingesetzt. Symbolisch interaktionistisch reproduziert sich die Diskussion über die Verdrängung oder besser über die Bewältigung des Todes (unabschließbar?) aus der anthropologisch vorgegebenen Angst vor dem eigenen Sterben und der Fragmentierung und Diffundierung durch ausufernde Bildung von Netzwerken, ideologische Konstruktionen, Wissenskristallisationen, technologische Umweltveränderungen und andere die Unübersichtlichkeit fördernde Differenzierungen.
Der ‚natürliche’ Tod: das moderne Todesideal? „Despite the routine disclaimers on death certificates, no one dies a ‚natural death’. As culture-bearing primates we do not have that option” (Green 2008, 31).
Ein moderner Mythos lautet: Es gibt nur zwei Tode, den natürlichen Tod und den gewaltsamen Tod. Der natürliche Tod erfolgt gemäß dieser Konzeption nach dem Ablaufen der Lebensuhr, die freilich herrschaftlich, naturwissenschaftlich und sozio-technisch gestellt wird. Ein distanzierter Beobachter könnte folgende Beschreibung liefern: Sterben und Tod werden gesellschaftlich produziert und dann mit Hilfe von rechtlich vorgeschriebenen Ritualen als natürlich oder gewaltsam eingestuft. In modernen Lexika wird der natürliche Tod als Tod aus „innerer Ursache“ gegenüber dem unnatürlichen Tod „durch äußere Einwirkung“ definiert, was kaum zur Klärung beiträgt (vgl. Zetkin/Schaldach 1999, 2013). Der Eintrag „Tod“ im Brockhaus’ Konversations-Lexikon von 1893 lässt die Konzeption gut erkennen: „Die Lebensdauer des Menschen reicht beim natürlichen Verlauf des Lebens gewöhnlich bis in die siebziger und achtziger Jahre, bisweilen auch noch etwas weiter, und der T. erfolgt hier ohne vorhergegangene Krankheit, ohne nachweisbare specielle Ursache, sanft und allmählich, oder rasch, merklich und mit Bewußtsein, oder unvermerkt im Schlafe, durch sog. Altersschwäche (Marasmus). Dieser T. ist der natürliche, normale, notwendige. Jede Todesart, die von einer andern Veranlassung als der naturgemäßen Beendigung des Lebensprozesses (Stoffwechsels) herrührt, ist unnatürlich (abnorm, zufällig, frühzeitig) und erfolgt entweder durch Krankheit (d.i. falsches Vorsichgehen des Stoffwechsels), oder gewaltsam, durch äußere mechan. und chem. Einflüsse.“
Die Natur, die diesem Begriff von natürlich zugrundegelegt wird, hat militärischen Zuschnitt, fast ist man an den preußisch-militaristischen Staat, für den
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dieses Lexikon erstellt wurde, erinnert. Nur der ordnungsgemäße Tod ist natürlich, alles andere abnorm, zufällig etc. Der Staat hat darauf zu achten, dass die Unnatürlichkeit bekämpft wird. Auch Betriebe der Agrarindustrie passen zu diesem Konzept mit militärisch ausgerichteten normierten Pflanzen, die zu festgelegter Zeit alle gleichzeitig geerntet werden. Oder: Der Einzelne hat darauf zu achten, dass seine Körpermaschine erst verschrottet wird, wenn sie bereits (sozial) abgeschrieben ist. Die normative Konzeption ist klar erkennbar: naturwissenschaftlich legitimierte Beschreibungs- und Handlungssysteme, wobei Mediziner und Juristen die Anwendung besorgen. Das Konzept des ‚natürlichen Todes’ ist auch in moderner wissenschaftlicher Literatur zu finden, d.h. ein normativer Vorschlag taucht in kognitiv-wissenschaftlichem Gewand auf. Fries und Crapo (1981) gehen davon aus, dass die Dauer des menschlichen Lebens biologisch bzw. genetisch festgelegt ist und sich somit ein natürlicher Tod objektiv ergibt. Doch selbst wenn diese ‚Festlegung’ existiert, wird der tatsächliche Tod jeweils gesellschaftlich produziert (vgl. Lindemann 2001) und außerdem sind biologische und genetische Festlegungen auch überwindbar. Die naive Konzeption von Fries und Crapo lässt sich aus folgender Formulierung erkennen: „natural death will occur at the end of natural life.“ Pflanz (1969) hat darauf hingewiesen, dass immer seltener „aufgrund natürlicher Ursachen“ gestorben wird, da die konkreten Todesfälle immer komplexer medizinisch, psychologisch etc. erklärt werden, also die Ursachen selbst einem sozialen Wandel in ihrer Konstruktion (und auch in ihrer ‚objektiven Verteilung’) unterliegen (vgl. auch van Zantwijk 2003). Der natürliche Tod wird also paradoxerweise durch den gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Fortschritt zur immer weiter entfernten Utopie (so es denn eine sein sollte!), wobei sich die rückwärtsgewandte Forderung nach Wiederherstellung einer angeblich verlorenen Natürlichkeit mit der vorwärtsstrebenden Erwartung einer künftigen hergestellten Übernatur in der Verherrlichung dieser Leerformel trifft. Der Gegensatz ‚natürlich’ und ‚nicht natürlich’ oder ‚gewaltsam’ führt zu Paradoxa und Missverständnissen. Jeder menschliche Tod ist immer gleichzeitig ‚natürlich’ (da ein ‚unnatürlicher’ Tod eines Organismus nicht möglich ist) und ‚gewaltsam’, besser ‚sozial verursacht’ (da ein nicht sozial mitverursachter Tod eines menschlichen Wesens nur als unwahrscheinlicher Grenzfall möglich ist). Bei der Diskussion des Begriffes ‚natürlicher Tod’ sollte man seine (ursprünglich!) aufklärerische Potenz nicht vernachlässigen. Er wendet sich gegen die Zuständigkeit von Religion und Metaphysik im Todesbereich und orientiert sich stattdessen an der Naturwissenschaft (vgl. Scherer 1988, 20 f). Fuchs sieht die Konzeption des natürlichen Todes als Erfolg der Aufklärung, der Demokratisierung und der Emanzipation.
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„Gegen das magisch-religiöse Todesbild gewendet besteht der Begriff des natürlichen Todes auf dem Tod als einer natürlichen, einer weltimmanenten Kategorie.“ (Fuchs 1969, 76)53
Fuchs setzt den natürlichen Tod als Norm für moderne Industriestaaten bzw. „als Bezugspunkt für Modernität“ (224) und beschwört eine eigentümliche utopische Idylle: „friedliches Verlöschen nach ungestörtem biologischen Lebensvollzug“ (227). Hier verbindet sich romantische Naturvorstellung mit Technikgläubigkeit und einer diffusen Gesellschaftsutopie.54 Freilich übt Fuchs selbst Kritik an diesem Konstrukt, indem er die Bedingungen medizinischer Praxis reflektiert: „… einerseits soll das Leben um jeden Preis und auf jeden Fall erhalten werden, andererseits verlangt der Begriff des natürlichen Todes langsames Verlöschen der Lebenskräfte an der von Natur gesetzten Marke.“ (184)
Auch wenn „die von der Natur gesetzte Marke“ wissenschaftlich bestimmbar wäre, ist ja nicht einzusehen, warum sie nicht durch wissenschaftlich-technische Manipulation verändert werden sollte. „Erst gesellschaftliche Praxis muß die Lebensspanne herstellen, die den Menschen als Spezies zukommt, die Natürlichkeit des Todes ist nur als eine sozial produzierte zu denken.“ (72)
In der Vorstellung des natürlichen Todes verbinden sich verschiedene Naturkonzeptionen: die ‚gefährliche’ Natur, der seit Beginn der Menschheitsentwicklung Terrain abgerungen wird, und die von der Wissenschaft getragene ‚objektive und wahre’ Natur, die unserer Kultur das Maß für Leben und Tod vorgibt (Feldmann 1990). Im Curriculum dieser gesellschaftlichen Praxis erscheint jedoch nicht nur die ‚gefährliche Natur’ sondern auch die ‚gefährdete Natur’. Um die Zwangsvorstellung des natürlichen Todes für ‚alle’ (Privilegierten) durchsetzen zu können, muss nämlich die Natur- und Menschenausbeutung forciert werden. Die Erfolge im Kampf gegen den frühzeitigen, vorindustriegesellschaftlichen, traditionellen Tod sind mit hohen Kosten und tierischem, pflanzlichem und letztlich menschlichem Massen- und Artentod verbunden (Imperialismus, ökologische Risiken,
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Handelt es sich nicht um eine „magische Lösung“ des Todesproblems, wenn versucht wird, mit Hilfe medizinischer Technologie den „natürlichen Tod“ zu produzieren? (vgl. Timmermans 1999, 71) 54 „Der Begriff eines gesetzmäßigen Naturablaufs ist selbst charakteristisch für eine bestimmte Stufe der Wissens- und Gesellschaftsentwicklung.“ (Elias 1982, 73)
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Bevölkerungsexplosion, Genozid, Kulturzerstörung). Die Ideale des ‚natürlichen Todes’ und der ‚Heiligkeit menschlichen Lebens’ fordern viele Todesopfer. Der Triumph des natürlichen Todes war nur durch zunehmende Naturbeherrschung und –vernichtung zu erreichen und ist damit auch zum Triumph der (potentiellen) Menschenvernichtung entartet. „Die Menschen haben es jetzt in der Beherrschung der Naturkräfte so weit gebracht, daß sie es mit deren Hilfe leicht haben, einander bis auf den letzten Mann auszurotten. Sie wissen das, daher ein gut Stück ihrer gegenwärtigen Unruhe, ihres Unglücks, ihrer Angststimmung“ (Freud 1969, 506).
Naturbeherrschung ist immer auch Menschenbeherrschung, also Vollstreckung, nicht unbedingt von Todesurteilen, aber doch von Lebensqualitäts- und -quantitätszuweisungen. Der demokratisierte natürliche Tod ist ein eminent gesellschaftliches Produkt. Die Lebensverlängerung wurde zu einem hervorragenden Herrschaftsmittel, da nur der moderne, reiche Industriestaat seinen konformen Bürgern den zeit- und habitusgemäßen natürlichen Tod garantiert. Illich (1977) hat eine vehemente Kritik der Vorstellung vom natürlichen Tode geliefert. Da im Verlauf der Egalisierung alle an diesem Fortschritt partizipieren sollten und wollten, wurden monströse medizinische Großinstitutionen zur Kontrolle des Todes – und der Menschen geschaffen. Damit habe eine professionelle Klasse die Herrschaft über Leben und Tod der anderen erhalten. Die Ideologie des natürlichen Todes fördere die Diktatur der Medizin über die Sterbenden. Der natürliche Tod werde in Krankenhäusern und anderen Organisationen unter Kontrolle von Professionellen hergestellt. Die Ideologie des natürlichen Todes, der angeblich allen zustünde, diene zur Verschleierung der tatsächlichen sozialen Ungleichheit, meint auch Ziegler. Noch radikaler und umfassender ist die Kritik von Baudrillard (1982) an den modernen Todesvorstellungen und an der modernen Gesellschaft. „Für jeden soll es möglich sein, bis zur Grenze seines biologischen Kapitals zu gelangen und sein Leben ‚bis zur Neige’ ohne Gewalt oder vorzeitigen Tod zu genießen. So als ob jeder ... einen ‚Lebens-Vertrag’ in der Tasche hätte – daher der soziale Anspruch auf eine Lebensqualität ... Jeder hat das Recht, aber gleichzeitig auch die Pflicht eines natürlichen Todes ... Jeder ist seines Todes enteignet ... Das Prinzip des natürlichen Todes entspricht einer Neutralisierung des Lebens schlechthin ... das Leben muß auf Quantität (und der Tod folglich auf ein Nichts) reduziert werden, um es der Demokratie und dem Äquivalenzgesetz anzupassen.“(256 f)
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Der heftige Streit um den natürlichen Tod (vgl. Macho 1987, 33 ff) weist auf ein soziales Problem hin, auf die erodierenden Legitimationsideologien im Interesse des modernen Staates und seiner dienstfertigen Professionen, vor allem der Juristen und Mediziner.55 „Der heute geforderte ‚natürliche Tod’ ist in Wahrheit ja der künstlichste Tod, denn er ist die Frucht der kunstvollen Selbstmanipulation des Menschen und seiner Lebensumstände.“ (Schwartländer 1976, 10)
Bei all diesen Expertendiskussionen wird freilich nicht berücksichtigt, dass für die meisten Menschen diese Todeskonzeption keine große Bedeutung hat. Die meisten Menschen wollen lange und gesund leben, gleichgültig ob dies ‚natürlich’ oder ‚nicht natürlich’ sei. Selbstverständlich ist der Ausdruck ‚natürlich’ auch im Alltagssprachgebrauch verankert. Bradbury (1999) hat in ihrer Untersuchung von Trauernden und Betreuern von Trauernden und Sterbenden drei Todestypen rekonstruiert, wobei von diesen Menschen der natürliche Tod (natural good death) als deprofessionalisiert und demedikalisiert (arzt- und krankenhausfrei) definiert wird – ähnlich der Konzeption der ‚natürlichen Geburt’. Auf diese Alltagskonzeption des natürlichen Sterbens nehmen Ärzte manchmal Rücksicht. Harvey (1997) hat darauf hingewiesen, dass Ärzte in aussichtslosen Fällen die lebenserhaltenden Maßnahmen langsam und dosiert zurücknehmen, um ein natürliches Sterben „vorzutäuschen“ (vgl. Seymour 2000)56. Vieles deutet darauf hin, dass der Begriff des natürlichen Todes, ein Konstrukt aus dem 18. und 19. Jahrhundert, heute als Herrschaftsmittel staatstragender Professionen und Gruppen dient, also seinen progressiven touch längst verloren hat. Ob der Begriff in einer neuen Definition im wissenschaftlichen Diskurs wieder an Brauchbarkeit gewinnen könnte, ist zweifelhaft. Ein Beispiel für einen solchen diffusen Definitionsversuch, der sich vom Alltagsverständnis stark abhebt: „But natural death can be understood in a broader existential sense of inevitability, as a composite of causality, autonomy and dignity, and not solely in terms of the presence or absence of human agency.“ (Ashby 2001, 81). 55 Inzwischen wird in Expertenkreisen eher der Begriff „würdiges Sterben“ anstelle „natürliches Sterben“ als Norm diskutiert. Semantik und Normierung sind heftig umstritten, man kann von einem ‚Kulturkampf’ sprechen (vgl. Timmermans 1998). 56 „.. it is time to ‘stand back and let nature take its course’ (Johnson et al. 2000, 291)” (Lock 2003, 190)
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Wert des Lebens, Lebens- und Sterbequalität Menschen können nicht nicht bewerten. Das gilt in besonderem Maße für den hochbedeutsamen Bereich Leben und Sterben (vgl. Rose 2009). Menschen bewerten Leben und Tod von einzelnen, Familien, Gruppen und anderen sozialen Gebilden sozial, ökonomisch und kulturell. Eine Geschichte dieser Bewertung wurde m.W. bisher nicht geschrieben. Es handelt sich auch um ein heikles Thema, so dass die Enthaltsamkeit der Wissenschaftler verständlich ist. Zur Einstimmung mögen einige Beispiele für solche Berechnungen und Kalkulationen dienen: A. Da immer nur begrenzte Ressourcen zur Bewahrung und Verlängerung von Leben vorhanden waren und sind, geraten Lebensretter – heute in den hochindustrialisierten Staaten in der Regel medizinisches Personal – in Entscheidungssituationen, in denen sie den Wert eines Menschen und seines Lebens mit dem eines anderen vergleichen müssen. Diese Entscheidungen vollziehen sich meist nicht in dramatischer für den oder die Entscheidenden psychisch und moralisch belastender Weise, da ökonomische, bürokratische, rechtliche und interaktive Filter- und Regelsysteme ihnen die Gnade der Verheimlichung dieser peinlichen Tatsachen erweisen (verdeckte Rationierung). Wer wird zuerst operiert? Wer wird durch den fähigeren Chirurgen operiert? Für wen wird die modernere Apparatur oder die aufwendigere Therapie verwendet? Wem wird mitgeteilt, unter welchen Bedingungen er größere Überlebenschancen hat? Wer wird in welcher Weise reanimiert? (vgl. Timmermans 1998) B. „An den Rändern ist das Leben wenig wert ...“ (Gronemeyer 1989, 61). Im westgotischen Recht aus dem 6. Jahrhundert wurden Geldbußen für den Mord an Freien festgelegt. Für Kinder und alte Männer musste man nur ein Drittel bis ein Fünftel des Preises für einen Mann zwischen 20 und 50 Jahren zahlen57. C. In allen Staaten gibt es Killer, die für die Tötung bestimmter Menschen bezahlt werden. Die Preise schwanken je nach Region, Schwierigkeit der Durchführung, Güte des Killers etc. D. In Familien – vor allem in Entwicklungsländern – wird überlegt, ob man bei bestimmten Krankheiten eines Familienmitglieds den Arzt (und welchen Arzt) rufen soll. Auch hierbei gehen Überlegungen über den Wert des Familienmitglieds (nach Geschlecht, Alter etc.) in die Entscheidung ein. 57
Die heutigen Ränder der Welt liegen im Kongo, in Ruanda, in...
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E. Beim Autokauf ‚kalkuliert’ eine Person unter Umständen, wie viel ihr das eigene Leben bzw. das anderer Mitfahrer Wert ist, und entscheidet sich für oder gegen ein Sicherheitssystem. F. Beim Abschluss von Lebens- oder Unfallversicherungen und bei Gerichtsurteilen wird ebenfalls der Wert von Menschenleben direkt oder indirekt festgelegt. G. Wenn jemand sich in einer Situation befindet, in der er unter Einsatz des eigenen Lebens andere retten kann, wird der Wert dieser anderen die Art und Weise der Reaktion bestimmen. Kriterien werden im allgemeinen Verwandtschaft, Alter, soziale Schicht, Geschlecht, ethnische oder nationale Zugehörigkeit u.a. sein. H. Wenn eine Frau ihr Kind abtreiben will, werden dessen potentielle Eigenschaften teilweise mitbestimmen, ob sie sich für die Abtreibung entscheidet, z.B. mögliche Missbildung, Erbkrankheiten, Einschätzung der Person des Vaters. I. Diffiziler ist das Problem der Selbsteinschätzung. Der junge Mann, der durch schulisches Versagen die Erwartungen seiner Eltern enttäuscht hat und durch den gesellschaftlichen Glanz des Autos geblendet wird, nun z.B. durch Fahrgeschwindigkeit und Risikofreudigkeit seinen Selbstwert aufzupolieren versucht und vielleicht gleichzeitig in seinem Inneren von seinem Versagen überzeugt ist, bewertet sein Leben geringer als andere Altersgenossen. K. Auch eine Analyse der Massenmedien zeigt, dass Menschenleben je nach Gruppenzugehörigkeit unterschiedliche Werte zugeschrieben werden. Nach Adams (1986) entspricht in den US-Medien ein toter Westeuropäer drei Osteuropäern oder 9 Lateinamerikanern oder 11 Menschen aus dem Nahen Osten oder 12 Asiaten. Würde man amerikanische Präsidenten oder Filmstars mit alten armen Frauen in Burma vergleichen, käme man auf astronomische Verhältniszahlen. Über inneramerikanische Katastrophen, die weniger als 10 Tote forderten, wurde in amerikanischen Medien ausführlicher berichtet als über das Erdbeben 1976 in China, das ca. 800.000 Tote forderte. L. Das Leben eines konkreten Menschen ist teilbar. Es kann zeitlich geteilt werden, wenn ein Mensch bereit ist, seine Restlebenszeit für einen bestimmten Betrag zu verkaufen. Die Wahrscheinlichkeit des Lebensendes und die Lebensqualität können einbezogen werden, wenn jemand einen Teil seines Körpers, etwa ein bestimmtes Organ, verkauft und damit sein Erkrankungsrisiko erhöht. Diese und andere Beispiele weisen darauf hin, dass nicht nur das Leben als Ganzes
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einen bestimmten Preis haben kann, sondern dass auch Lebenschancen und qualitäten Preise haben. Die impliziten und expliziten Bewertungen des Lebens und des (potentiellen) Todes von einzelnen oder Gruppen sind teilweise normativ geregelt, werden teilweise jedoch instrumentell, expressiv oder kognitiv gesetzt.
Dass in Indien Mädchen weniger wert sind als Jungen und somit eher von den Eltern getötet oder vernachlässigt werden, ergibt sich aus kulturellen Traditionen. Die Preise für Killer, menschliche ‚Handelsware’ oder lebensrettende Medikamente werden auf Märkten festgesetzt, somit handelt es sich um instrumentelle Regelungen. Auch die normativen Regeln, z.B. die Gesetze des jeweiligen Staates, gehen als ‚Kosten’ in die Rechnung ein. Die Selbstbewertung des jungen Mannes, der einen riskanten Fahrstil pflegt, wird teilweise durch expressive Momente bestimmt, freilich können auch die Normen seiner peer group großen Einfluss haben. Dass in den Massenmedien Menschenleben je nach Status und Gruppenzugehörigkeit verschiedene Priorität haben, ergibt sich aufgrund der Werte und Normen und der harten Konkurrenz um knappe Sendezeiten. Wenn jemand eine Patientenverfügung ausfüllt und hinterlegt, dann kann er – kognitiv, aber auch normativ – dem möglichen physischen ‚Restleben’ nach dem Unterschreiten bestimmter Schwellenwerte der Lebensqualität einen so geringen Wert zuordnen, dass er eine Aufrechterhaltung ablehnt.
Die Bewertung des Lebens von Menschen erfolgt nach Kriterien der jeweiligen Kultur, Subkultur, Familie, Gruppe etc. Diese Bewertungen haben Einfluss auf die Mortalitäts- oder Überlebenschancen. Die Selbst- und Fremdbewertung richtet sich u.a. nach den zentralen sozialen Kriterien Schicht, Alter, ethnische Zugehörigkeit und Geschlecht. Paradox erscheint es, dass in den hochentwickelten Staaten zweifellos das durchschnittliche Leben ökonomisch und sozial teurer geworden ist, andererseits jedoch die Lebensqualitätserwartungen so gestiegen sind, dass mehr Leute bereit sind, ihr teures Leben hinzuwerfen (hohe Suizidraten) als in Entwicklungsländern. In vielen Ländern der Dritten Welt sind dagegen mehr Menschen dafür zu ‚gewinnen’, für das Kollektiv bzw. für die Erhaltung des Kollektivbewusstseins zu sterben als in den hochindustrialisierten westlichen Staaten (höhere durch Kriege und Massenmord verursachte Todesraten).
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Moral und Ideologie der Bewertung Verschiedene Formen von Lebens- und Todeskalkulationen werden je nach Ideologie, religiösem oder rechtlichem System und sonstiger Weltanschauung als unmoralisch, ethisch verwerflich, religiös nicht akzeptabel, rechtlich nicht zulässig, bestimmten Gefühlen nicht entsprechend usw. beurteilt. In hochentwickelten Rechtssystemen ist es in der Regel offiziell nicht zulässig, dem menschlichen Leben allgemein oder dem Leben eines konkreten Menschen einen bestimmten Wert zuzuordnen, der etwa in Geldwert oder sonstigem Tauschwert dargestellt wird. „… das menschliche Leben“ endet „mit dem Hirntod. Vor dessen Eintritt ist – und gerade hierin liegt der Zweck des Art. 2 Abs. 2 GG – dem Staat jede Differenzierung nach dem Wert des jeweiligen Lebens ausnahmslos untersagt. Das gilt auch für jede Art biologischer Wertung, etwa dahingehend, daß das Leben eines körperlich oder geistig Kranken oder das eines Sterbenden von geringerem Wert sei als das Leben eines Gesunden bzw. das eines uneingeschränkt Lebensfähigen. Zugleich verbietet die Verfassung jede derartige Abstufung beim staatlichen Schutz des menschlichen Lebens.“ (Langer 1986, 112)
Dass sowohl staatliche als auch nicht-staatliche Instanzen sehr wohl differenzierte Abstufungen beim Schutz menschlichen Lebens praktizieren, bedarf freilich keines Beweises, weil es allzu offensichtlich ist. Die gut gemeinte Verfassungsnorm (Quasi-Tabu), dass staatlichen oder auch anderen Instanzen eine „Differenzierung nach dem Wert menschlichen Lebens“ untersagt ist, könnte faktisch dazu führen, dass die Ungleichheit in diesem Bereich eher vergrößert wird, als wenn eine solche unvermeidliche (!) Differenzierung begründet und transparent gemacht werden müsste. Es wird ständig über Leben und Tod entschieden. Wie viel Geld soll etwa in die Forschung oder in politische Maßnahmen fließen, die sich mit der Rettung von Leben allgemein oder der Verbesserung der Lebenschancen bestimmter Gruppen innerhalb der Gesellschaft befassen? Wie soll die Verteilung der Ressourcen erfolgen? Die explizite und implizite rationale Kalkulation im Bereich von Leben und Tod entspricht der ökonomischen Dominanz, der staatlichen Planung und der Technisierung in modernen Industriegesellschaften. Lebensangebote und Nachfrage nach bestimmten Lebensqualitäten werden zunehmend im Rahmen von offiziellem oder inoffiziellem Marktgeschehen abgewickelt. Bei Entscheidungen über Technologien, durch die Leben gerettet werden kann, werden Kosten-Nutzen-Überlegungen einbezogen, d.h. wie viele Ressourcen pro gerettetem Leben (der jeweiligen Staatsbürger!) aufgewendet werden müssen.
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Da die Bereitstellung von Ressourcen für die Lebenserhaltung national und international sehr ungleich erfolgt und oft für eine relativ geringe Lebensverlängerung immens hoher Aufwand betrieben werden muss, entsteht eine Diskussion über den ‚rationalen’ Einsatz der begrenzten Ressourcen (Dießenbacher 1987; Krämer 1989). Dießenbacher (1987) reduziert den Streit auf einen simplen Konfliktansatz, wobei Ökonomisten und Moralisten sich unversöhnlich gegenüberstehen, obwohl die Sachlage und damit auch das Gemenge von Interessen (vgl. Krämer 1989) zur Bewältigung komplexere Modelle benötigen. Dießenbacher zeigt sich als rigoroser Moralist, wenn er meint: „verbietet sich jede Form erzwungener Lebensverkürzung durch Vorenthalten kostspieliger medizinischer Diagnose- und Behandlungsmethoden.“(912) Dieses Verbot einer bereits geübten Praxis ist nicht durchsetzbar. Wichtiger und hilfreicher als die akademische Frage, ob ein solches Verbot ethisch, rechtlich, sozial, politisch oder nach anderen Kriterien für bestimmte Gruppen, Staaten, Epochen etc. als allgemein verbindlich gesetzt werden sollte, ist die Analyse der tatsächlichen rechtlichen, ökonomischen und sonstigen Praxis und der zu erwartenden Veränderungen58. Die Lebensdauer als universale Bewertungsdimension Die Lebensdauer spaltete sich von sozialen, psychischen und sonstigen Kontexten als eigene Dimension ab, sie wurde mathematisiert und monetarisiert. Sie wurde wahrscheinlich gerade deshalb bedeutsam, weil Qualität und Substanz des individuellen Lebens nicht allgemein verbindlich bestimmt werden können oder sollen. In der Lebensdauer dagegen liegt ein quantitativer, zum Vergleich gut geeigneter Indikator vor, sozusagen eine universale Statusdimension. Folglich ist es verständlich, dass Menschen eher bereit sind, für die Verlängerung ihres Lebens als für die Lösung von Sinnfragen zu zahlen. Doch diese durch Ideologien und Praktiken der medizinischen und sozialen Dienstleistungssysteme59 geförderte Hochschätzung der Länge des Lebens des einzelnen muss mit hohen sozialen Kosten bezahlt werden. Damit ist nicht nur die Expansion des Gesundheitssystems auf Kosten anderer sozialer Systeme gemeint, sondern auch die Zunahme der sozialen Ungleichheit. In Zukunft wird
58 Allerdings sind die meisten Wissenschaftler im Dienste privilegierter Gruppen tätig, so dass die wissenschaftlichen Erkenntnisse häufig zur Spreizung der sozialen Ungleichheit beitragen. 59 So wird nur die Lebensverkürzung verdammt, aber nicht die fremdbestimmte Lebensverlängerung. Negativ bewertet wird nur „ein direktes ökonomisches Interesse des Medizinbetriebs am schnellen Sterben von Patienten/innen“ (BIOSKOP-Autorinnenkollektiv 2002, 86), nicht am langsamen Sterben.
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das Gesetz: ‚Je reicher, mächtiger, menschenverachtender und exploitativer, umso länger das Leben!’ wahrscheinlich noch mehr zutreffen als heute. „Implizit oder explizit sind die von der Medizin angebotenen Überlebensbedingungen eine Zurückweisung der Solidarität.“ (Bauman 1994, 287 f)
Konzepte der Entwicklung des Todesbewusstseins In der thanatopsychologischen Diskussion wird meist nicht der Ausdruck Todesbewusstsein verwendet, sondern es wird von ‚Einstellungen gegenüber Sterben und Tod’ gesprochen, die dann meist auf Konzepte der ‚Angst vor dem Tod’ (death anxiety) reduziert werden (vgl. Tomer/Eliason 2003; Neimeyer et al. 2003; Neimeyer/Moser/Wittkowski 2003). In der Soziologie ist ein erweiterter und oft diffuser Begriff von Todesbewusstsein vorzufinden (vgl. Fuchs 1969; Hahn 1968; Glaser/Strauss 1974). Foucault und andere haben auf die zunehmende Kontrolle und die Normalisierungsbemühungen im Laufe der vergangenen zwei bis drei Jahrhunderte hingewiesen. Kontrollorientierung, Normalisierung, Pädagogisierung und Psychologisierung können auch an den Entwicklungskonzepten studiert werden, die sich auf das Todesbewusstsein von Kindern, angehenden Ärzten, Sterbenden und Trauernden beziehen. Diese Entwicklungsmodelle sollen folgende Fragen beantworten:
Wie begreifen Kinder, was Sterben und Tod bedeuten? Wie lernen Ärzte mit Tod und Sterben umzugehen? Wie entwickelt sich die Interaktion zwischen dem Krankenhauspersonal und den Sterbenden? Wie verändert sich das Bewusstsein im Sterbeprozess? Gibt es charakteristische Verläufe der Trauer?
Die Entwicklung des Todesbewusstseins von Kindern Verschiedene Forscher untersuchten die Entwicklung der Todesvorstellungen von Kindern im Anschluss an Piaget (vgl. Wass 2003, 88 ff). „Drei Aspekte dafür, was (im westlichen Denken) als ein reifes Verständnis des Todes angesehen wird, sind das Konzept der Universalität (alle lebenden Wesen sterben), der Irreversibilität (nach Eintritt des Todes kann der Körper nicht wieder zum Leben erweckt werden) und der Non-Funktionalität (alle lebensnotwendigen Funktionen verlöschen mit dem Eintritt des Todes).“ (Wass 2003, 89)
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Kleine Kinder sehen den Tod nicht als endgültig an. Sie nehmen an, dass Tote zurückkehren können. Bei kleinen Kindern sind Selbst und Welt noch stark verbunden, so dass sie sich ihre eigene endgültige Sterblichkeit noch nicht vorstellen können. Auch die Trennung zwischen Lebendigem und Anorganischem ist nicht klar vollzogen, die gesamte Umwelt wird als belebt angesehen. Werden und Vergehen haben dadurch nichts Endgültiges, sondern sind eher zyklische Prozesse, ähnlich dem Schlaf oder den Jahreszeiten. Mit der Stärkung und Differenzierung des Selbst bildet sich auch die Angst vor dem eigenen Tod heraus. Nach Nagy (1948) personifizieren viele Kinder in der zweiten Stufe (Alter bis etwa 9 Jahre) den Tod.60 Erst die dritte Stufe entspricht den normalen Konzepten von Erwachsenen, d.h. die meisten Kinder anerkennen, dass der Tod eine endgültige Zerstörung des Körpers bewirkt. Die Zuordnung bestimmter Altersklassen zu Entwicklungsstufen ist problematisch. Bluebond-Langner (1977) stellte bei drei- bis neunjährigen Kindern, die an Leukämie litten und im Krankenhaus waren, fest, dass sie alle über den Tod als endgültigen und irreversiblen Prozess Bescheid wussten, während Nagy (1948) in der Gruppe der Drei- bis Fünfjährigen die Annahme der Reversibilität des Todes dominant fand. Bluebond-Langner weist darauf hin, dass bei Erfahrungen von todkranken Kindern nicht primär das Alter oder der kognitive Entwicklungsstand maßgebend sind. Die Entwicklung des professionellen Bewusstseins von Ärzten Ärzte durchlaufen nach Coombs und Powers (1976) verschiedene Phasen in ihrem professionellen Entwicklungsprozess. In der ersten Phase wird die Rolle des Arztes idealisiert und der Tod als besiegbar angesehen. Die Medizinstudenten meinen, dass sie sich mit den Patienten identifizieren könnten. Heldenhaft kämpfen sie im Interesse der Klienten gegen den Tod. Diese Phase erinnert an die Annahme der Reversibilität des Todes bei Kindern. In der zweiten Phase werden die Ärzte durch die Anatomieerfahrungen und auch durch andere Erkenntnisse im Rahmen ihres Studiums desensibilisiert, d.h. es entsteht eine distanzierte wissenschaftliche Einstellung gegenüber dem Sterben. Die Anatomie- und Autopsieerfahrungen kann man als Initiationsritus bezeichnen (Parsons 1958; Streckeisen 2001, 210 ff), der Erschrecken und Identitätserschütterung auslöst. Silver und Geller (1978) nennen diese forciert entwi-
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Die Personifizierungsthese wurde durch spätere Untersuchungen falsifiziert (Wass 2003, 88).
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ckelte unpersönliche und emotionenblockende Haltung „aktive Dehumanisierung“. In der dritten Phase machen Medizinstudenten oder junge Ärzte Erfahrungen mit dem Tod von Patienten, den sie als eigenes professionelles Versagen interpretieren. Sie versuchen durch die Umdefinition der Leiche des Patienten als wissenschaftliches oder medizinisches Objekt und durch Konzentration auf Teile des Organismus (‚die Niere’) ihre emotionalen Probleme zu bewältigen. In der vierten Phase, die keineswegs alle Ärzte erreichen oder durchlaufen, wird das medizinische Modell in Frage gestellt. In dieser Phase erkennen Ärzte, dass Empathie gegenüber dem Patienten und seiner Familie wichtiger ist als der Sieg über den Tod. Die fünfte Phase entspricht wohl einer Wunschvorstellung oder einem ethischen Postulat der Autoren, da empirische Untersuchungen darauf hindeuten, dass die meisten Ärzte eine solche Phase nicht erreichen, bzw. nicht zu erreichen wünschen. In dieser Phase soll der Arzt sich mit seinen eigenen Gefühlen gegenüber Tod und Sterben auseinandersetzen, um angemessen auf die Gefühle von Patienten und vor allem von Sterbenden eingehen zu können. Das Sterben als Gegenstand der Entwicklungsforschung Eine weitere Phaseneinteilung bezieht sich auf Sterbende und ihr Bewusstsein. Frau Kübler-Ross (1969), die von der Psychoanalyse ausgeht, ist mit ihrer Einteilung des Sterbeprozesses in fünf Phasen weltberühmt geworden: 1. Nichtwahrhabenwollen: Die Diagnose ist falsch! Ich kann oder muss nicht sterben! 2. Zorn, Wut: Warum ich? Wer ist schuld? Ich hasse alle (die mich überleben)! 3. Verhandeln: Wie kann ich Zeit gewinnen? Es gibt Ärzte oder andere Experten, die werden mir helfen, etwas länger zu leben! Ich möchte nur noch einmal xxx tun. Darf ich? 4. Depression: Ich ertrage es nicht! Ich bin schon tot! 5. Akzeptieren: Ich werde die restliche Zeit, die mir bleibt, so sinnvoll, wie möglich, gestalten. Ich bin jetzt zur Ruhe gekommen. Es reicht mir. Die Phase des Verhandelns deutet auf Autoritätsabhängigkeit. Es wird versucht, von einer allmächtigen Instanz (Gott) oder von Ärzten oder anderen Personen, denen man besondere Kräfte zuschreibt, noch etwas Lebenszeit zu erhalten. Am unklarsten bleibt die Akzeptanz. Sie ist jedoch ein in Medizin- und Pflegesystemen (wie schon früher im religiösen und politischen Bereich) hoch-
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geschätztes Konzept, denn sie zeigt den Erfolg des Professionellen an, der den gesellschaftlichen Auftrag der Lebens- und Todeskontrolle erfüllt. Ariès und andere konservative Autoren verherrlichen die konformistische Akzeptanzhaltung in vergangenen Epochen der abendländischen Geschichte. Traditionell wurde es den Tapferen, Frommen, Guten, Großen, Männlichen zugeschrieben, dass sie dem Tod gefasst und ruhig entgegentreten. Man kann das Modell von Kübler-Ross nicht als eine Beschreibung der vorherrschenden Verhältnisse ansehen, da andere Untersuchungen ergaben, dass Depression und sozialer Rückzug im Sterbeprozess der meisten Menschen dominant sind und es keineswegs in der Mehrzahl der Fälle zu einer Akzeptanz des Schicksals kommt (vgl. Schulz/Aderman 1974; Schulz/Schlarb 1987-88). Nach weiteren Forschungen ist zu der Stufen-Theorie von Kübler-Ross einschränkend zu sagen: - sie kann nicht allgemeine Geltung beanspruchen, - die Reihenfolge der Phasen kann unterschiedlich verlaufen.61 Frau Kübler-Ross hat selbst darauf hingewiesen, dass es sich nicht um in der Reihenfolge festgelegte und notwendig eintretende Phasen handelt, doch die Vereinfachung und Popularisierung haben eine teilweise unkritische Übernahme und Fixierung des Modells begünstigt. Es ist zwar verständlich, dass professionelle Betreuungspersonen versuchen, Sterben zu normieren und zu normalisieren. Doch selbstbestimmtes Sterben, z.B. Suizid oder die Entscheidung, dass das Leben sich nur bei einer bestimmten Lebensqualität lohne, oder andere Formen der Sterbegestaltung, die als abweichend gelten, sollten nicht ausgeblendet werden, wenn man Erkenntnisse über den Sterbeprozess gewinnen will. Weisman und Kastenbaum (1968) versuchten durch eine Methode, die sie „psychologische Autopsie“ nannten, die Endphasen von Patienten durch interdisziplinäre Konferenzen des Betreuungspersonals zu rekonstruieren. Sie teilten nach ihren Ergebnissen die Sterbenden in zwei Gruppen: die Personen der einen Gruppe reagierten auf die Ankündigung ihres baldigen Todes durch einen Rückzug aus den normalen Tätigkeiten und durch Passivität; die andere Gruppe war sich zwar auch der Todesnähe bewusst, doch diese Personen vollführten voll Energie die täglichen Aktivitäten, soweit es ihnen möglich war, ja einige begannen neue Tätigkeiten. Diese Untersuchung zeigt, dass anstelle von Phasenmodellen eher Verzweigungssysteme der Realität angemessener wären.
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Vgl. zur Kritik an dem Modell Howe 1987, 67 ff; BIOSKOP-Autorinnenkollektiv 2002, 69 ff.
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Interaktion mit Sterbenden im Krankenhaus Glaser und Strauss (1974) unterscheiden vier Interaktions- und Bewusstseinskontexte im Sterbeprozess, die auch als historische Phasenfolge der vergangenen 100 Jahre genommen werden können: 1. Unkenntnis des bevorstehenden Todes: Das Krankenhauspersonal und die Angehörigen teilen dem Patienten nichts über seinen nahen Tod mit und er weiß darüber nicht Bescheid. 2. Argwohn: Der Patient wird argwöhnisch, aber das medizinische Personal und/oder die Angehörigen versuchen ihn zu beruhigen. 3. Wechselseitige Täuschung: Personal und Kranker wissen über die Situation Bescheid, täuschen sich aber gegenseitig, d.h. sie kommunizieren nicht über Sterben und Tod.62 4. Offenheit: Patient, Krankenhauspersonal und Angehörige sprechen offen über den bevorstehenden Tod. Die Entwicklung in Krankenhäusern ist von den ersten beiden Formen der Unkenntnis und des Argwohns immer stärker zur wechselseitigen Täuschung und schließlich zunehmend zur Offenheit übergegangen. Dafür spricht auch, dass alle Beteiligten insgesamt immer besser informiert werden und der wissenschaftliche Fortschritt auch immer genauere Voraussagen ermöglicht. Jedenfalls kam es seit den 60er Jahren zu einer kommunikativen Öffnung, d.h. zwischen Ärzten und Krankenpflegepersonal einerseits und Schwerkranken, Sterbenden und ihren Angehörigen andererseits wurden neue Kommunikationsformen erprobt.63 Die seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts geltende Verschweigepraxis gegenüber Sterbenden wurde immer mehr zu Gunsten einer Mitteilung der Diagnose und der Prognose aufgelöst (vgl. Armstrong 2002, 85 ff). Die meisten Ärzte vertreten im Gegensatz zu früher die Meinung, dass die Diagnose und der Sterbeverlauf mitgeteilt werden sollen (Seale 1998, 108 ff). Doch sie geben differenziertere Informationen häufig Bezugspersonen und oft nicht den Sterbenden.
62 Noch in einer Untersuchung von 1988 in deutschen Krankenhäusern waren über die Hälfte der Ärzte und Krankenschwestern der Meinung, dass fast alle sterbenskranken Patientenn über den wahren Krankheitsverlauf nicht informiert werden wollen und dass die Mitteilung der Prognose einen ungünstigen Einfluss auf den Krankheitsverlauf habe (George u.a. 1989, 307). 63 Eine gemeinsame rationale und soziale Entscheidungsfindung wird heute häufiger angestrebt und auch verwirklicht als in früheren Jahrzehnten (vgl. Seymour 2000).
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Sie bürden teilweise den Bezugspersonen die Kommunikationslast auf (vgl. Bowling/Cartwright 1982, 48 ff). Die offenere Kommunikation ermöglicht für Ärzte und andere Professionelle eine differenziertere Machtausübung als die geschlossene. Man kann diese neue Form des Umgehens mit dem Sterben in die Tradition der ‚emanzipatorischen Diskurse’ stellen, die von Foucault als Eindringen gesellschaftlicher Macht und Kontrolle in alle Lebensbereiche gedeutet wird64. Ausgeweitete Freiräume der Selbstdarstellung der Kranken und Sterbenden und Differenzierung der Fremdkontrolle der Patienten gehen Hand in Hand – übrigens nicht nur in Krankenhäusern, auch in Hospizen. Armstrong (2002) bezeichnet die neue Situation ab den 60er Jahren als „confessing death“, d.h. die Sterbenden werden aufgefordert, ihre inneren ‚Geheimnisse’, Gedanken und Gefühle zu äußern, die dann von Professionellen (oder auch ehrenamtlichen Helfern) bearbeitet und schließlich interaktiv gelenkt werden. Außerdem wird die offene Kommunikation in der terminalen Phase durch die zunehmenden Optionen der technisch gestützten Lebensverlängerung immer schwieriger zu handhaben. Offenheit setzt die Möglichkeit zu einer ‚ungestörten’ Kommunikation voraus, ein Ideal, das aufgrund von Multikulturalität, Sprachproblemen, Professionalisierung, Zeitmangel, Bewusstseinsverfall der Sterbenden und anderen behindernden Faktoren wohl nur in einer Minderheit der Fälle erreichbar ist. Der Verlauf der Trauer65 Eine weitere Phaseneinteilung betrifft die Trauernden. Ein bereits klassisches vierstufiges Ablaufmodell stammt von Bowlby (1969 ff) und Parkes (1987): Taubheit/Schock – Sehnen und Suchen – Desorganisation und Verzweiflung – Reorganisation (vgl. Schmied 1985, 148 ff; Parkes 2001). Beim Verlust einer zentralen Bezugsperson können in den ersten zwei bis vier Wochen nach dem Todesfall Schock, Verweigerung und teilweise Realitätsleugnung vorherrschen (Phase der Vermeidung nach Rando 2003). In der folgenden Zeit (in den meisten Fällen dauert sie ein halbes Jahr bis eineinhalb Jahre) findet eine intensive Trauerarbeit statt (ständige Gedanken über die Art des Todes, mögliche Schuld, Sinngebung, Erklärungen, Erinnerungen) (Phase der Konfrontation nach Rando). Oft wird der Tote idealisiert.66 Innerhalb 64 Diese „objektivistische“ Kritik kann mit „subjektivistischen“ Daten konfrontiert werden, die ebenfalls die euphorische Haltung gegenüber der neuen Offenheit dämpfen. Seale und Cartwright (1994, 27 f) berichten, dass ein Teil der Befragten in einer Nachfolgestudie die größere Offenheit eher negativ beurteilte. 65 Vgl. auch Small (2001, 29 ff). 66 Israelische Eltern, die ihren Sohn im Krieg verloren hatten, idealisierten ihn (Stroebe et al. 1992).
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bzw. kurz nach dieser Periode erfolgt bei den meisten Trauernden eine Wiederaufnahme des normalen Alltagslebens (Phase der Anpassung nach Rando). In dieser Phasenbeschreibung sind die Umweltfaktoren ausgeblendet, obwohl sie eine entscheidende Rolle spielen. Doch Trauer ist nicht primär ein ‚innerer Ablauf’, der von der Persönlichkeit des Trauernden abhängt, sondern ein soziokulturell gesteuertes Geschehen. Anerkannte Phasentheorien des Trauerns erhalten oft normativen Charakter (Walter 1999, 191 ff). Trauernde sollen möglichst schnell wieder normalisiert werden. Diese Normalisierung kann nach Worden (1991) dadurch bewirkt werden, dass die trauernde Person vier Entwicklungsaufgaben bewältigt: 1. 2. 3. 4.
Akzeptanz des Verlustes, Erfahrung des Trauerschmerzes, Neuanpassung an die Umwelt, emotionale Energie aus der Beziehung zur toten Person abziehen und in neue Beziehungen investieren.
Wortman und Silver (2001) haben die Mythen des Trauerverlaufs und der Trauerarbeit analysiert. Danach herrschen in der westlichen Kultur folgende normierende Annahmen über Trauer vor: Nach dem Verlust einer Bezugsperson befindet sich ein Mensch in einem Schockzustand. Wer nicht schockiert reagiert, wird verdächtigt, nicht zu trauern und evtl. den Tod der Person bewirkt zu haben oder zu begrüßen. Hierauf muss eine intensive Trauerarbeit erfolgen. Dauerhafte Bindung zu der verstorbenen Person wird als pathologisch angesehen. Nach einem Jahr oder höchstens zwei Jahren muss die Person normalisiert sein. Personen, die nach Meinung der Beobachter von diesen Erwartungen abweichen, werden mit verschiedenen Mitteln dazu gedrängt, sich konform zu verhalten, z.B. durch Bestrafung, Therapie, Isolation etc. So verdienstvoll Beschreibungen des Trauerprozesses (z.B. Raphael 1983, 44 ff) sind, so können sie zu neuen Verfestigungen führen, etwa dergestalt, dass Menschen, die alternative Trauerlösungen suchen bzw. finden, mit Skepsis oder Ablehnung betrachtet werden. Wambach (1985-86) beschreibt Normierungen in Gruppen von Witwen, die von Professionellen geleitet werden, und analysiert den Kommunikationszusammenhang und die Betreuungssituation. Die Professionellen setzen ihre sozialen Konstrukte eines gelungenen in Phasen ablaufenden Trauerprozesses in der Regel durch (häufig nach dem Modell von Kübler-Ross). Häufig ergibt sich eine 95
Diskrepanz zwischen der relativ linearen und starren Konzeption der Professionellen und der Witwen, die diese Konzeption übernehmen, einerseits und dem tatsächlichen Verlauf von Trauerprozessen andererseits, der individuell, nicht linear, teilweise regressiv verläuft und von vielen Ereignissen und Bedingungen abhängig ist. Die Gruppenmitglieder haben Hemmungen, alternative Konzepte des Trauerprozesses mitzuteilen und durchzusetzen. Die Professionellen und die ‚fortgeschrittenen Witwen’ übernehmen die Führungsrollen und geleiten die Neuankömmlinge durch das Land der Trauer. Neuankömmlinge werden ideologisch beeinflusst und passen sich in der Regel den Gruppennormen an. Die meisten möchten, dass ihr Trauerprozess ‚normal’ abläuft. Viele lesen auch empfohlene Literatur und nehmen die Anregungen zum Vorbild für ihre Selbstgestaltung. Es kommt immer wieder zu Konflikten zwischen den Gruppennormen, den vorgeschriebenen Konstruktionen des Trauerprozesses und den tatsächlichen Gefühlen und Reaktionen der Beteiligten. Wenn eine Witwe den Prozess zu schnell durchläuft, muss sie möglicherweise, um in der Gruppe weiter anerkannt zu werden, ihre Gefühle und ihren tatsächlichen Trauerzustand verbergen. Manche Witwen führen ein Tagebuch oder machen regelmäßige Aufzeichnungen. Eine Witwe schrieb im 5. Monat nach dem Tod ihres Mannes, nachdem sie ein Buch über das Trauern gelesen hatte, in ihr Tagebuch: „Ich glaube, dass ich mich jetzt von der Phase des Schocks in die des Leidens hineinbewege. Ich weiß nun, dass John für immer von mir gegangen ist, und ich hasse das Leben ohne ihn. Ich sehe keinen Sinn mehr in meinem Leben. Ich fühle mich hilflos und hoffnungslos.“ (207, Übers. K.F.)
Zusammenfassende Überlegungen zur Entwicklung des Todesbewusstseins Entwicklungsmodelle abstrahieren meist von sozialen und kulturellen Kontexten – obwohl sie innerhalb solcher Kontexte hergestellt wurden und sie sind mehrheitlich durch folgende fragwürdige Hintergrundsannahmen bestimmt: 1. Die Entwicklung vollzieht sich in festgelegten Sequenzen, Phasen oder Stufenfolgen. 2. Veränderung erfolgt nur in einer Richtung, die Phasen können nur in einer bestimmten Reihenfolge durchlaufen werden. 3. Die Unterschiede zwischen den Phasen haben qualitativen Charakter, sind nicht nur graduell oder quantitativ. 4. Das Entwicklungsmodell hat universale Geltung, bzw. eine raumzeitliche oder kulturelle Einschränkung ist nicht festgelegt.
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Warum stoßen Entwicklungs- und Stufenmodelle bei Wissenschaftlern und anderen Professionellen im Dienstleistungsbereich auf so großes Interesse? Sie geben Orientierung in der verwirrenden Vielfalt der modernen Welt und stützen herrschende Werte und Normen: Konkurrenz, Leistung, Aktivismus, Selbstverwirklichung, Statuskampf, Profitdenken, ökonomische Kalkulation. So ist es nur konsequent, dass auch beim Endspurt, also im Sterbeprozess, Leistungen erwartet werden, dass man auch da noch versagen oder gewinnen kann – übrigens keineswegs eine neue Idee, sondern im Christentum schon seit Jahrhunderten verankert. Auch wenn Entwicklungsmodelle nur hypothetischen oder deskriptiven Charakter haben, erwerben sie in der Anwendung durch Professionelle oder Laien häufig normative Funktionen – oft wird die Wirklichkeit gemäß dem Modell ‚gerichtet’. Außerdem konkurrieren verschiedene Modelle am Wissensmarkt und es gibt Marktführer und Ladenhüter. Für ihre Beliebtheit bei Praktikern ist oft nicht primär ihre empirische Gültigkeit oder Ungültigkeit entscheidend, sondern ihre Empfehlung durch opinion leaders – die ‚Spirale der Akzeptanz’ ist das Wahrheitskriterium.
Zeichen und Bilder des Todes und die Medialisierung Kulturelle Zeichen des Todes findet man nicht nur auf Grabstätten, denn ‚der Tod’ erscheint in allen gesellschaftlichen Bereichen. Der Tod war in traditionellen Kulturen ein allgegenwärtiges Geschehen, und zwar nicht nur weil die meisten von ihrer Kindheit an Bezugspersonen und Bekannte sterben sahen, sondern auch aufgrund der vorherrschenden animistischen Haltung. Handlungen, Naturvorgänge und Situationen wurden als lebenssteigernd oder -mindernd interpretiert. Die Betrachtung bestimmter Tiere, Gegenstände und Menschen konnte krank machen oder den Tod bringen. Z.B. stellte der Augenkontakt teilweise etwas Bedrohliches dar; der ‚böse Blick’ ist in vielen Kulturen bekannt. Sonnenund Mondfinsternisse, Wetterbedingungen, Sternkonstellationen und sonstige Ereignisse konnten lebensmindernd oder unheilbringend wirken. Auch die moderne Strahlungsangst hat ihr traditionelles Pendant. Negative Strahlungen und Ausdünstungen konnten von Toten, aber auch von Dämonen, Hexen und anderen gefährlichen Personen oder Gegenständen ausgehen. Die Annahme von positiven und negativen Wirkkräften, die Zeit und Raum überwinden, ist allgemein verbreitet gewesen. 97
Zeigt sich in der modernen Gesellschaft im Alltagsbereich eine Entmystifizierung? Traditionelle abergläubische Annahmen sind noch immer auffindbar, doch bedeutender sind gesundheitliche, ökologische, ökonomische, politische und soziale Risiken. Das Vermeiden von Situationen, Menschen und Räumen ist wahrscheinlich nicht seltener geworden im Vergleich zu traditionellen Kulturen. Die privilegierten Menschen werden motiviert, trotz des großen Schutzes, den sie genießen, ständig um ihre Lebensqualität und um ihr Leben zu bangen. Ihre Erwartungen sind auf ein langes Leben, ca. 80 Jahre, gerichtet und antizipierend befürchten sie einen frühzeitigen Tod, wenn sie nicht Normen, Regeln, Ge- und Verbote einhalten und sich in die Obhut der säkularen Priester (Ärzte, Pädagogen, Psychologen, Berater etc.) begeben. Der Tod ist in vielen Institutionen der modernen Kultur eingebunden, häufig in verdeckter Weise. In aufwändigen und kostspieligen Bauten, z.B. in Museen, werden tote Wesen und Gegenstände aufbewahrt, konserviert und verehrt. Die Reste der – meist von den Abendländlern – ‚getöteten’ Kulturen werden in den Völkerkundemuseen gesammelt und konsumiert. Die Museen sind Zeugen der reuigen Grabräuber, die meinen, durch ihre Reue, die mit wissenschaftlichen Weihen versehen ist, und die aufwendige Bestattung der gestohlenen Gegenstände die Legitimation für immerwährenden Raub erhalten zu haben. Ein besonders makabres Beispiel für diese Kombination von Mord und Totenverehrung stellte das 1942 von Nationalsozialisten gegründete Jüdische Zentralmuseum in Prag dar, in das aus vielen jüdischen Gemeinden, deren Mitglieder in Vernichtungslager gebracht wurden, Kultgegenstände verschleppt wurden.67 Der „Kulturweltbürger“ hat sich aus den Leichenteilen „ein neues, größeres Vaterland“ zusammengesetzt, „ein Museum, erfüllt mit allen Schätzen, welche die Künstler der Kulturmenschheit seit vielen Jahrhunderten geschaffen und hinterlassen hatten.“ (Freud 1986, 37)
Fast unsere gesamte Kultur ist durchsetzt mit Totenschau und Todesbeschäftigung, manche Autoren bescheinigen ihr sogar ‚Nekrophilie’ (Baudrillard; Macho 1987, 359 ff). Doch diese permanente Thanatovision vollzieht sich, ohne dass in der Regel eine Beziehung zum eigenen Sterben hergestellt wird. Von der Kindheit an wird das Individuum in unserer Kultur mit ‚Totem’ sozialisiert – wobei viele curriculare 67
Vgl. „Museum einer untergegangenen Rasse“, in: Spiegel Nr. 46, 1988
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Elemente in Schulen inzwischen für die Kinder und Jugendlichen noch ‚toter’ geworden sind als sie es vor einigen Jahrzehnten waren. Die Kunst, die toten Sprachen, die Religion, die Geschichte etc. dienen im Sozialisationsprozess als Einführung in das Totenreich und haben u.a. die Funktion der Legitimation von Herrschaft und sozialer Ungleichheit. Die traditionelle Hochschätzung der sozialen Herkunft wurde auch vom Bürgertum und den modernen Ober- und Mittelschichten übernommen, wobei jedoch nicht mehr die möglichst lange Reihe elitärer Ahnen, wie noch beim europäischen Adel, die zentrale Rolle spielt, sondern eine generalisierte – imperialistische – die abendländische Geschichte umfassende Bildungskette und die Akkumulation von – toten und wissenschaftlich präparierten – Kulturgütern. Der Niedergang der Sepulkralkultur Im Laufe der abendländischen Geschichte wurden die normativen Todeskonstrukte immer wieder von expressiven Symbolisierungen überlagert – ein berühmtes Beispiel sind die makabren Darstellungen verwesender Leichname im 15. Jahrhundert oder auch die kitschigen Monumente des Großbürgertums im 19. und 20. Jahrhundert. In neuerer Zeit erscheint die Ikonographie der Gräber gefährdet, da Individualisierung, Diesseitsorientierung, Instrumentalisierung und Monetarisierung die traditionellen Ausdrucksformen der Grabgestaltung und -pflege als unangemessen erscheinen lassen. Hat Ariès (1982a) recht, dass die heutzutage (angeblich!) fehlende Ikonographie des Todes ein Beweis dafür sei, dass bei der symbolischen und sozialen Verarbeitung des Sterbens schwerwiegende Probleme vorliegen? Ist die These von Fuchs (1985a) zutreffend, dass der Tod unwichtiger geworden sei und sich damit eine entsprechend aufwendige Ikonographie erübrige, „weil er nichts mehr entscheidet, das Schicksal nicht mehr bündelt, nicht mehr die dunkle Tür zum Ewigen Leben ist, sondern bloßes Auslöschen ...“(56)? Eine Kurzantwort: ‚Der Tod’ ist nicht unwichtiger geworden, er hat nur seine Erscheinungsformen verändert. Die Darstellung des Todes ist in unserer Kultur keineswegs weniger präsent als in anderen Kulturen oder historischen Epochen. Statt von ikonographischer Verkümmerung sollte man von einem Wandel der Formen sprechen. Zweifellos wird die Ikonographie auf Friedhöfen immer unwichtiger, doch die Darstellung in den Massenmedien ‚kompensiert’ diesen Mangel. Selbst eine prunkvolle Totenfeier für einen bedeutsamen Würdenträger oder Star (Kennedy, 99
Lady Diana) gewinnt erst durch die Übertragung im Fernsehen ihre letzte große Weihe. Die Massenmedien, die modernen kulturellen Foren, verschränken öffentlichen und privaten Bereich. So ergibt sich für den modernen Totenkult eine Ambivalenz oder ‚Doppelmoral’:
Einerseits akzeptieren die meisten Menschen noch immer die in ihren Bezugsgruppen vorherrschenden Todesbräuche und bürokratischen Regelungen und haben eine Scheu vor einer kreativen Gestaltung in diesem Bereich. Andererseits ist das Zeitalter der individualisierten und trotzdem kollektiv – über Massenmedien und neue Kommunikationstechnologien – gestalteten pluralistischen und modischen Ikonographie bereits seit einiger Zeit angebrochen.
Medialisierung des Todes ‚Tod und Medien’ ist inzwischen ein vielfach bearbeitetes Thema. Ursprünglich wurden einschlägige Analysen der Literatur, bildenden Kunst und Musik durchgeführt, dann wurde der Film einbezogen, schließlich das Fernsehen, vor allem seine Serien, und jetzt in zunehmenden Maße das Web 2.0 (vgl. z.B. Walter et al. 1995, Walter 1998, Seale 2002b, Weber 2007, Richard 2007, 2010; Moebius/ Weber 2008). Das Thema kann aus unterschiedlichen Medienperspektiven angegangen werden: 1. Die Medien als Spiegel, vielleicht als Zerrspiegel von gesellschaftlicher Wirklichkeit. Über die Medien erhalten Menschen Einblicke, die ihnen ansonsten verwehrt oder erschwert wären: Bürgerkriege, Intensivstationen, Hospize, Mord, Suizid, Autopsie, Bestattungsarbeit etc. Die Medien beschneiden allerdings die soziale Wirklichkeit, sie zeigen nach Medienkriterien ausgewählte und gestylte Todesbilder. 2. Die Medien als kulturelles Forum. Die Medien schaffen neue Rituale, die für Massengesellschaften geeignet sind. Die Medien liefern die Bausteine, damit jeder sich seine eigene Totenwelt, seine Unsterblichkeits- und Jenseitsvorstellungen basteln kann. 3. Die Medien als Subsystem mit eigenen Codes, Gesetzen und Mechanismen Die Medien bereiten das Thema Sterben und Tod gemäß ihren Codes und Prinzipien auf (z.B. Interaktionismus, Fragmentierung, Agenda Setting).
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4. Die Medien und ihre gesellschaftlichen Funktionen. Die Medien haben die Funktionen der Integration, der Erhaltung der Sozialstruktur, der Sozialisation und Erziehung u.a. 5. Die Medien als Austragungsort von Konflikten verschiedener Gruppen. In den Medien werden Konflikte ausgetragen (z.B. bezüglich aktiver Sterbehilfe) und soziale Probleme gepflegt und gemanagt (z.B. Terrorismus). Die Ausführungen in diesem Abschnitt werden u.a. von folgenden Thesen geleitet: 1.
2. 3.
4.
5. 6.
Sterben und Tod sind aus den Alltagsinteraktionen der meisten Menschen ausgegliedert, sind marginalisiert worden: Friedhof, Begräbnis, Sterben im Krankenhaus oder im Pflegeheim, Hospiz, Selbsttötung, Behandlung von Leichen und die Kommunikation mit Verstorbenen sind gesellschaftliche Orte für die Prüfung dieser These. Über die Medien kehren Sterben und Tod wieder ‚zu den Menschen’ zurück – freilich in einer mediatisierten Form. Die Medien zeigen Menschen, die im Bereich Sterben und Trauern verunsichert sind, Optionen und Skripte für normales und situationsangemessenes Verhalten (Walter et al. 1995). Die Medien bringen regelmäßige Erzählungen aus dem Totenreich: alte Filme und Dokumente, Berichte aus der Geschichte des Universums, des Lebens, der Menschheit. Die Vermischung der Lebenden und der Toten, die Aufhebung der Trennung des Jenseits und des Diesseits wird durch die Medien gefördert. Die Medien wählen Erzählungen aus anderen sozialen Subsystemen (Medizin, Recht etc.) aus und bearbeiten sie mit ihren Codes.68
Der Tod und vor allem die postmortalen Geschehnisse sind klassische virtuelle Bereiche, über die es viele kulturelle Erzählungen gibt. Die im Totenreich waren (Odysseus, Dante, Woody Allen etc.), berichteten darüber: über das Jenseits, die transzendente Sphäre, den Himmel, die Hölle, das Fegefeuer, den Hades, die Entstehung des Lebens, vielleicht auch über das Nichts. Doch diese Territorien haben in den modernen Gesellschaften an sozialer Bedeutung verloren, vor allem wurde ihre Verbindung mit dem Alltagsverhalten und auch der Alltagsmoral stark geschwächt. Die Erzählungen sind freilich noch immer gegenwärtig, da sie im Bildungsprozess, in den Medien und in anderen Kulturprodukten meist in segmentierter, gebrochener und trivialisierter Form weitertransportiert werden. 68
Vgl. den Bericht über „Krebserzählungen“ in den Medien von Seale (2002a, 2002b, 172 ff).
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Todesmythen werden in zunehmendem Maße durch das medizinische und das Rechtssystem beeinflusst. Man denke an die vielen Erzählungen, die sich um das Sterben an Krebs oder Aids ranken, um neue Heilungsmethoden, um Hirntote, die bei der Organentnahme den Arm heben, um die Todesstrafe, NahtodErfahrungen etc. Todeserzählungen begleiten das menschliche Leben. Vor allem die vielen Bilder und Szenen des gewaltsamen und katastrophalen Todes werden schon in der Kindheit in die Gehirne eingepflanzt. Das Sterben der nicht-gewaltsamen Art und die normale Trauer müssen heute in allen gesellschaftlichen Bereichen, vor allem aber in den Medien mit vielen anderen Themen konkurrieren. Bei Katastrophen, Kriegen und beim unerwarteten gewaltsamen Tod von VIPs ist der Tod ein Topthema, als normaler Tod muss er sich in Nischen, zu späten Sendezeiten und in Randprogrammen bescheiden. Kein neues Phänomen, denn auch in früheren Hochkulturen, im alten China, Ägypten, im Römischen Reich oder auch in Europa bis zum 19. Jahrhundert wurde das Sterben der meisten – man denke an die vielen Sklaven bzw. Leibeigenen – von den bedeutsamen internen Kulturbeobachtern kaum beachtet. Eine These, die wahrscheinlich starken Widerspruch hervorruft, lautet: Die Medien stützen Affektkontrolle, ja Affektunterdrückung (vgl. Elias 1976). Hier kann nicht auf die kontroverse Diskussion zur Wirkung von Gewalt in den Medien eingegangen werden. Doch die hochentwickelten Staaten zeigen sich insgesamt gewalt- und kriegsfeindlich, die Trauerreaktionen sind zivilisiert und schwerwiegende Katastrophen mit vielen Toten werden gesellschaftlich rational und ökonomisch behandelt. Ein weiteres interessantes Problem stellt die Tatsache dar, dass durch Film und Fernsehen Beziehungen zwischen den Personen der medialen und der ‚realen’ Wirklichkeit geschaffen werden (vielleicht ein Ersatz für die reduzierten Interaktionen zwischen den religiösen Reichen der Lebenden und der Toten). Die Theorie des Parasozialen (vgl. Wulff 1992) zeigt auf, dass viele Fernsehund Filmbetrachter soziale Beziehungen zu den fiktiven und realen Personen der Medien entwickeln, sozusagen Freundschaften oder auch Feindschaften. Sie trauern – oft auch sehr expressiv, wenn ein Serienheld oder ein Lieblingsschauspieler, oder ein sonstiger Medienstar, z.B. Elvis Presley, gestorben ist, und sie freuen sich, wenn er aufersteht, seine Filme wieder gezeigt werden etc. Kollektive Medienereignisse Eine soziologische Betrachtung signifikanter kollektiver Medienereignisse kann von folgenden Überlegungen geleitet werden: 102
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Emile Durkheim sah Ende des 19. Jahrhunderts die Schwächung des Kollektivbewusstseins in Gesellschaftssystemen als ein Problem, für das eine ‚neue Moral’ erforderlich sei. Er dachte dabei an die ihm bekannten Institutionen Schule und Betrieb bzw. Beruf. Doch im 20. Jahrhundert wurden zusätzlich die Medien für die Erfüllung dieser Funktion immer wichtiger. Die Medien erfüllen Integrationsfunktionen, in denen immer mehr Lebensbereiche und damit auch Sterben und Tod einbezogen werden. In der modernen Gesellschaft erleben Kinder und Erwachsene nur mehr selten den Tod von Bezugspersonen (Verlängerung der Lebenserwartung, Kleinfamilie), folglich ist auch intensive personale Trauer zum seltenen Ereignis geworden, das beim Auftreten zu Unsicherheit und Verhaltensproblemen führt. Es ergibt sich also antizipierend ein Interesse, Sicherheit zu erlangen. In den Medien aufbereitete Ereignisse werden hierfür genutzt (ich lerne weinen!) – ein preiswertes und zeitsparendes Verfahren. Paradoxerweise tragen die Medien auch dazu bei, aus der Medienwelt auszubrechen. Sie initiieren Megaereignisse, die Menschen motivieren, zu dem Ort der Trauer zu eilen, Trauergegenstände und Devotionalien zu kaufen, mit Fremden darüber zu sprechen etc. Das prominenteste Beispiel: Tod und Begräbnis von Lady Diana. Im Todes- und Trauerbereich erfüllen die Medien zusätzlich eine religiöse Funktion: „Durch die Massenmedien wird das Reich der Lebenden mit dem der Toten integriert.“ (Feldmann 1997, 73) Traditionelle religiöse Rituale haben für die meisten an Attraktivität verloren, doch religiöse Bedürfnisse sind geblieben, für die neue Angebote gemacht werden und neue Formen der Institutionalisierung entstehen. Dies betrifft auch die Suche nach Ekstase, die in vielen Kulturen verbunden mit religiösen Ritualen auftrat. Die in der modernen Gesellschaft verbliebenen religiösen Rituale der Amtskirchen sind zu bürokratisch, gehen gefühlsmäßig nicht tief und entsprechen nicht den dominanten Gefühlsmasken der jungen Generationen. Die Medienerzählungen und -mythen schließen an Traditionen an. Medien erzeugen neue Heiligengeschichten und eine damit verbundene Ikonologie: James Dean, Elvis Presley, Marilyn Monroe, Lady Diana. Die moderne Gesellschaft ist stratifikatorisch (Schicht, Klassen, Altersgruppen, Ethnien) und funktional (Berufe, Freizeitstile) differenziert, so dass Rituale der Vereinigung und ‚Versöhnung’ der ansonsten fremden und konkurrierenden Gruppen, Schichten, Ethnien etc. wünschenswert sind. Hierfür sind Olympische Spiele, Fußballwelt- oder -europameisterschaften, Katastrophenhilfe und auch die kollektiven Trauerfeiern geeignet.69
69 Allerdings wäre es verfehlt, daraus zu schließen, dass die Medien nur vereinigend, integrierend wirken. Die Medien stratifizieren und differenzieren funktional, was man an der selektiven Berichter-
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In der in früheren Zeiten vorherrschenden Dorfgemeinschaft nahm fast jeder beim Sterben eines anerkannten Mitglieds der Gemeinschaft und bei den Trauerfeierlichkeiten teil. In den Industriestaaten lebt nur mehr eine kleine Minderheit noch in ‚echten’ Dörfern. Die meisten erhalten die Dorfsimulation über das Fernsehen. Vor allem herausragende negative Ereignisse führen zu gemeinschaftlichen Reaktionen: In den USA etwa die Challenger-Katastrophe 1986 bzw. der 11. September 2001, in Deutschland das Unglück am Flugplatz in Ramstein Mitte der 80er Jahre oder der Amoklauf von Erfurt 2002 und in Großbritannien der Tod Lady Dianas. In diesem letzten Fall kann man von einem ‚global village’ sprechen. Das Fernsehen vermittelt bei solchen Ereignissen den Eindruck einer nationalen Gemeinschaft, die kollektiv trauert, und ermöglicht die visuelle und emotionale Teilnahme an Veranstaltungen, die sich um das Ereignis ranken, wobei das zentrale Ritual die Fernsehdarstellung als solche ist. Auch die verspätete Trauer, die sich auf das physische, soziale und psychische Töten von Millionen Menschen im Nationalsozialismus, Stalinismus und im Zweiten Weltkrieg bezog, konnte nur auf Massenmedienbasis auf breiter Front in die Bevölkerung eindringen. Für die Nachkriegsgenerationen spielten in Deutschland (und in anderen westlichen Ländern) die Massenmedien eine zentrale Rolle für das Verständnis und die sozial-emotionale Verarbeitung des Holokaust und der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie. Die meisten bedeutsamen von den Medien getragenen kollektiven Trauerereignisse haben nationalen Charakter: Deutschland: Ramstein, Eschede, Erfurt. Großbritannien: Hillsborough, Dunblane70. Drei Todesereignisse der beiden letzten Jahrzehnte hatten globalen Charakter:
der Tod von Lady Diana 1997 (3 Tote) der 11. September 2001 (WTC in New York) (3000 Tote) Tsunami 2004 (300.000 Tote).
stattung z.B. bei Katastrophen erkennen kann: nationale Zugehörigkeit und soziale Schicht des Toten sind entscheidende Kriterien für mediale Existenz oder Nicht-Existenz. 70 In Dunblane wurden 1996 von einem Täter 16 Kinder in einer Schule erschossen.
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Wenn man ein viertes ‚Megaereignis des Todes’ in diesem Zeitraum hinzufügt, den Genozid in Ruanda 1994 (Opferverhältnis zwischen Ruanda und Lady Diana: 800.000 : 3), kommt man ins Grübeln. Alle Ereignisse sind für die überwiegende Mehrzahl der Menschen in den hochentwickelten Ländern Medienereignisse, keine Primärerfahrungen. Die kollektive und gruppenspezifische ‚Gewichtung’ der hier genannten Ereignisse erfolgt durch ein Gemisch von Medienentscheidungen, nationalen und regionalen Aspekten, Herrschafts- und Habitusselektion. Das permanente durch ‚strukturelle Gewalt’ stattfindende frühzeitige Sterben bzw. Töten von Millionen findet fast keine Medienresonanz und seine matten globalen Erscheinungen erhalten in den psychischen Systemen der Hochmenschen bestenfalls eine sehr bescheidene Notunterkunft. Für die meisten Engländer führte die Lady-Diana-Episode zu stärkeren ‚Quasi-Primärerfahrungen’ als der Genozid in Ruanda. Der Tod von Lady Diana (1997) ist nach einer Umfrage 2002 für Engländer das wichtigste Ereignis des 20. Jahrhunderts. Auch wenn man das Ergebnis der Umfrage für vergänglich und langfristig unbedeutsam ansieht, so zeigen die objektiven Daten der Einschaltquoten, Spenden und Devotionalienkäufe, dass es sich sozial und ökonomisch um ein Mega-Ereignis gehandelt hat (vgl. Walter 1998). Diana kann man als hybride Integrationsgestalt sehen: Prinzessin, Medienstar und Heilige. Sie vereinte die Gegensätze fein und vulgär, Unter- und Oberschicht. Sie stammte aus einer zerbrochenen Familie, litt unter Bulimie, war geschieden und trotzdem wurde sie ‚medienmoralisch’ weit über die englische Königin, die Spitze des alten europäischen Adels, emporgehoben. Sie wurde ständig fotografiert und gefilmt, so dass ihr Gesicht in das Bewusstsein von hunderten Millionen als Ikone eingebrannt war. Millionen hatten eine parasoziale Beziehung zu ihr aufgebaut, die durch ihren plötzlichen unerwarteten Tod zusammenbrach. Die Tränen waren also ‚echt’. Der populistische Politiker Blair erkannte sofort die Gunst der Stunde und sprach von „people’s princess“, schließlich musste er sich nach 18 Jahren konservativer Herrschaft anstrengen. Die Queen dagegen konnte gelassener sein, was ihr auch Vorwürfe der Medien eintrug. Die bereits 1989 (Hillsborough) und 1996 (Dunblane) erprobten Massenrituale konnten aufgegriffen und ausgebaut werden (vgl. Mirzoeff 1999).
Man kann verschiedene Formen von Trauer bzw. von kollektiven Reaktionen diagnostizieren. 1. Der Tod einer charismatischen Figur, prototypisch Präsident Kennedy und Lady Diana, begünstigt Identifikation, Bereitschaft, seine privaten Emotionen einem öffentlichen Ereignis zur Verfügung zu stellen und sie damit vielleicht auch zu adeln.
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2. Dagegen führte der 11. September 2001 eher zu einer Mischung von Trauer, Angst und Wut, also zu einer starken Aggressionsbereitschaft, da dieses MegaEreignis wahrscheinlich die eigenen Todesängste vieler Menschen im Gegensatz zu dem Unfalltod von Diana aktivierte.71 Der 11. September hatte auch weltweit bedeutsame ökonomische und politische Wirkungen. Damit wird in den mediatisierten Schemata auch der Tod von tausenden Menschen in den beiden Türmen sekundär gegenüber anderen Konnotationen: Internationaler Terrorismus, Angriff auf Amerika – und auf die westliche Welt, islamischer Fundamentalismus, Sicherheit. Somit ist auch nicht die Trauer das überragende oder dominante Gefühl bei diesem Ereignis. Die Gefühlslage ist uneinheitlich, multidimensionaler als beim Unfalltod von Lady Diana. Alter Die heute vorherrschende Trauererfahrung, dass nämlich ein Partner, mit dem eine Person Jahrzehnte zusammengelebt hat, im Alter stirbt, wird in Film und Fernsehen fast nie gezeigt oder thematisiert. Es handelt sich um ein Problem der alten Menschen und diese Gruppe wird in den Medien generell vernachlässigt. Wenn alte Menschen gezeigt werden, dann nur in bestimmten Rollen, eher alte Männer und seltener alte Frauen, die als schrullig, abweisend, exzentrisch und zänkisch vorgeführt werden; in Werbesendungen taucht die Gruppe der aktiven unternehmungslustigen Senioren inzwischen ein wenig häufiger auf. Gerade dass alte Menschen im Fernsehen unterrepräsentiert sind72, zeigt, dass sie für die Öffentlichkeit sozial sterben. Manche Autoren sprechen von der „symbolischen Vernichtung alter Menschen durch die Massenmedien“ (Gerbner 1980). Die Verherrlichung schöner, junger, gesunder Mittel- und Oberschichtpersonen in den Medien führt zu einer Unterrepräsentation des Lebens und Sterbens aller anderen Gruppen.73
71
Die dadurch hervorgerufene Aggressionssteigerung gegen Fremdgruppen kann durch die terror management Theorie erklärt werden (vgl. Greenberg et al. 1990; Tomer/Eliason 2003, 38 ff). Vgl. Wilkinson/Ferraro 2002, 343 ff. 73 Da intensive Trauer und eine aufwendige Vorbereitung auf das Jenseits sich mit den Anforderungen der Arbeitswelt kaum vertragen, kann man die entsprechenden Lücken des Fernsehens auch als positiv funktional ansehen. 72
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Die Situation im Medienbereich ist paradox: einerseits bestärkt sie die Vorurteile über das soziale Sterben von alten Menschen, andererseits mildert sie das soziale Sterben, bzw. wirkt sogar lebensfördernd; denn alte Menschen gehören zu den stärksten Nutzern des Fernsehens, das für sie ein bedeutsameres Fenster zur Welt ist als für Jugendliche und andere Erwachsene. Gewaltsames Sterben und Risikowahrnehmung Im Alter von 16 Jahren hat ein US-Amerikaner durchschnittlich bereits 18.000 Morde im Fernsehen gesehen (Kearl 1995), wahrscheinlich jedoch kaum einen langwierigen normalen Sterbe- und Trauerprozess. Selbstverständlich kann man nicht einfach davon ausgehen, dass das Todesbewusstsein primär und ungefiltert durch diese Fernseherfahrung geprägt wird, doch ein ‚verzerrender’ Einfluss dürfte bei einem Teil der Zuschauer auftreten. Identifikation oder Mitleid mit den Mordopfern und Trauernden wird in Fernsehsendungen meist durch eine klischeehafte und sozusagen auf Jagdgefühle programmierte Dramaturgie verhindert. Kinder nehmen aufgrund der Medienerfahrungen oft an, dass der gewaltsame Tod normal und häufig auftritt. Dies ist für die meisten Bereiche der reichen Industriestaaten bekanntlich nicht der Fall. Allerdings ist z.B. für männliche farbige Unterschichtjugendliche in Teilen der USA der gewaltsame Tod tatsächlich eine dominante Realität: Unfall, Suizid und Mord gemeinsam übertreffen in dieser Gruppe Krankheiten als Todesursachen. Die normale unspektakuläre Art des Umgangs mit dem meist nicht gewaltsamem Tod in der modernen Gesellschaft wird in den Medien einer Metamorphose unterzogen, indem sie die Mythen und damit auch die alte Faszination wiederbeleben: In den Medien kehrt der gewaltsame Tod wieder, Schuldige müssen gesucht werden, Magie und Zauber – freilich meist im modernen Ritengewand der Kriminalkommissare, Geheimagenten oder Sheriffs – stehen im Zentrum des Interesses. Mord spielt im Bewusstsein der modernen Menschen eine bedeutsame Rolle, was vor allem den Massenmedien zu verdanken ist. Untersuchungen (in den USA) zeigen, dass alte Menschen besonders intensive Ängste davor haben, ermordet zu werden, die in keinem Verhältnis zu der tatsächlichen Wahrscheinlichkeit stehen, vor allem wenn man sie mit Ängsten vor Todesursachen vergleicht, die für sie viel bedeutsamer sind. Nicht nur die Vorstellungen über Mord und Gewalt werden durch die Medien produziert, sondern die allgemeine Risikowahrnehmung. Somit könnte man 107
sagen: Die Akzeptanz der Behauptung, dass die (spät)moderne Gesellschaft eine ‚Risikogesellschaft’ (Beck 1986) sei, wurde durch die Medien hergestellt, nicht durch ‚objektive’ Gegebenheiten. Denn die Risiken, frühzeitig zu sterben, waren für die einzelnen in traditionellen Kulturen eindeutig höher als in einer modernen Gesellschaft – trotz Atombomben, Umweltkrisen etc. Medien, Politik und Öffentlichkeit Bei der Herstellung und Gestaltung sozialer Probleme, auf die dann die Subsysteme Politik und Recht reagieren müssen, spielen die Medien eine führende Rolle. Im Bereich Sterben und Tod sind die sozialen Probleme Abtreibung, aktive Sterbehilfe, Hirntod, Genozid und Ökozid von den Medien mitgestaltet worden. Die Massenmedien behandeln allerdings nicht die Systemprobleme, sondern arbeiten exemplarisch mit Hilfe von skandalösen bzw. extremen Fällen. Die Hirntoddiskussion wurde z.B. durch das ‚Erlanger Baby’ 1992 in der Öffentlichkeit stark beeinflusst (eine hirntote Schwangere wurde ‚am Leben erhalten’, damit das Kind sich im Mutterleib noch weiterentwickeln konnte). Medialisierung? Kann man von einer Medialisierung des Todes sprechen? In folgendem Sinne trifft dies zu: Für Kinder, aber auch für die meisten Erwachsenen in der modernen Gesellschaft steht eine über die Medien induzierte Beschäftigung mit dem Tod (Sekundärerfahrung) mit spärlichen Primärerfahrungen in Konkurrenz. Die Vorstellungen über Gesellschaft und Tod werden von heutigen modernen Menschen weniger durch Handeln und leibhaftige Erfahrungen in ihrer Mikrowelt als durch Bilder und Erzählungen einer Medienwelt geformt. Doch die Bewertung dieser Tatsache ist nicht einfach durchzuführen. „Es kann dann nicht anders kommen, als dass wir in der Welt der Fiktion, in der Literatur, im Theater Ersatz suchen für die Einbuße des Lebens. Dort finden wir noch Menschen, die zu sterben verstehen, ja, die es auch zustande bringen, einen anderen zu töten.“ (Freud 1986, 51)
Dass der Verlust an Primärerfahrung eine Konsequenz zivilisatorischen Fortschritts darstellt, kann man an dem Beispiel des Krieges sehen, doch welche gesellschaftliche Bedeutung haben dann die umfassenden medialen Kriegserfah108
rungen der Kinder und Jugendlichen in den Industriestaaten? Sollen sie der ‚Abschreckung’ dienen wie die realen Atomwaffen der Erwachsenen? Oder handelt es sich um ‚beschnittene’ Realerfahrungen, d.h. die Lust am Töten, Quälen und am Risiko ist zumindest in abgeschwächter Form geblieben?74 Andererseits ist es auf jeden Fall weniger gefährlich und gemäß der allgemein anerkannten Moral weniger verwerflich, virtuell Gegner zu töten als sie tatsächlich umzubringen. Auch die Stärkung der durch Emanzipation und Modernisierung gefährdeten Männlichkeit erfolgt in diesen Spielen. Fragmentierung Häufig werden tatsächliche oder fiktive Ereignisse nach Medienkriterien (z.B. politische Aktualität oder Katastrophencharakter) ausgewählt, und ihre Vernetzung in regionalen und überregionalen sozialen Systemen wird ignoriert. Sie werden aus dem originalen Zusammenhang ‚herausgeschnitten’ und in einen ‚künstlichen’ Kontext eingefügt; der Betrachter erfährt in der Regel nur wenig über die ‚tatsächlichen Ereignisse’, d.h. über die (sehr unterschiedlichen) Erfahrungen der Betroffenen. Sterben und Trauern sind lebensgeschichtliche Ereignisse, persönlich und intim. Durch Fotos, Kurzinformationen, Interviewausschnitte werden diese Erfahrungen fragmentiert zu Millionen unbeteiligten Zuschauern gebracht. Totenverehrung, Erinnerung Jahrtausendelang wurden bildliche Darstellungen zur nachhaltigen Erinnerung an (bedeutsame) Verstorbene genutzt. Im 19. Jahrhundert wurde die Fotografie zum immer mehr dominierenden Mittel, um Verstorbene lebensnah ins Bewusstsein zu rufen. Porträtfotografien der gerade Verstorbenen waren sehr beliebt. Warum haben diese Leichenbilder im 20. Jahrhundert an Bedeutung verloren? Durch das Sterben im Krankenhaus und in anderen öffentlichen Einrichtungen werden die toten Angehörigen immer unsichtbarer. Der tote Körper gilt nach dem offiziellen physischen Ende immer mehr als Ding. Diese offizielle (natur)wissenschaftlich legitimierte Sichtweise prägt in zunehmendem Maße auch das Alltagsbewusstsein. So erweisen sich neben den inneren Bildern der Erfahrungen mit der lebenden Person die fotografischen, filmischen und sonstigen medialen Abbilder und Kommunikationsprodukte des Verstorbenen als Lebenden, die von den Betroffe-
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Man kann Primärerfahrung und Sekundärerfahrung auch als Kontinuum konstruieren.
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nen aufbewahrt und selektiv verwendet werden, als bleibendes Erinnerungsmaterial (vgl. Odom et al. 2010). Mediale Unsterblichkeit Das soziale Leben ohne Tod und nach dem Tod ist ein wesentlicher Aspekt der weltbildschaffenden Institutionen Film, Fernsehen und Internet.
Es werden Helden für Serien und Filme geschaffen, die den ständigen Anschlägen auf ihr Leben auf wundersame Weise entgehen. Doch auch wenn sie sterben, können sie wiederauferstehen. Die Schauspieler sind zwar physisch sterblich, doch ihre medialen sozialen Gestalten sind ‚unvergänglich’. Somit erweist sich die physische Sterblichkeit im Vergleich zur sozialen des Menschen als peripher – eine Erkenntnis vieler Kulturen, aber in modernem Gewand. Die realen Menschen sind vergänglicher als die künstlichen Heroen, Mickey Mouse, Superman oder Perry Mason. Wer in eine solche Rolle schlüpft, erlangt Unsterblichkeit, nicht als Mensch, sondern als ‚Übermensch’. Selbst wenn eine Figur aus der Mode gerät, sie kann jederzeit zum Leben erweckt werden. Besinnung auf die Endlichkeit alles Menschlichen, Verzweiflung oder selbstzerstörerische Trauer sind in diesem Kontext nicht existent bzw. nur pathologische Verirrungen. Ein manchen unheimlicher Vorgang betrifft die Verwechslung von realer und virtueller Realität: tausende Briten und andere Nicht-Deutsche halten Hitler für eine Mediengestalt wie James Bond, gleichzeitig meinen viele, dass virtuelle erfundene Gestalten wirklich gelebt haben.
In Entenhausen wird nicht gestorben, der Tod ist reversibel bzw. es wird immer wieder auferstanden. So wie der Tod dort eine Farce ist, ist es die Trauer, die z.B. Dagobert Duck ergreift, wenn er Geld verloren hat. Doch die Medien zeigen auch die traditionellen religiösen Formen des Unsterblichkeits- und Jenseitsglaubens, übertragen kirchliche Veranstaltungen, gewähren Einblicke in die Glaubensvorstellungen anderer Ethnien und Kulturen und liefern bedeutsame Beiträge zur Entstehung und Veränderung von Sekten und religiösen Gemeinschaften. Sie erleichtern es den individualisierten Menschen, ihre eigenen Jenseits- und Seelenvorstellungen zu basteln.
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Die Medien und die Realität des Krieges Der Tod des Kriegers in der Schlacht war ein traditioneller Topos, ein expressives Wunschbild des männlichen Abendlandes. Noch 1914 zogen die meisten mit völlig unrealistischen inneren Kitschbildern in den Krieg. Der Erste und der Zweite Weltkrieg, die Technisierung und Bürokratisierung des Abschlachtens, haben in Europa zu einer weitgehenden Desillusionierung in diesem Bereich beigetragen. Doch diese veränderte Wirklichkeitskonstruktion wurde nicht nur durch die Erfahrungen von Millionen sondern auch durch die Medien mitbewirkt und vor allem auf Dauer gestellt. Früher verwehten die Erfahrungen von Schlachten schnell, was blieb, waren ideologieanfällige Erzählungen und Schlachtengemälde. Doch im 20. Jahrhundert blieben die realistischen Bilder des Gemetzels durch die Medien erhalten. An sie konnten die alten Lügenerzählungen, die über Jahrhunderte tradiert wurden, nicht mehr anschließen – eine Aufklärungswirkung, die die wenigen kritischen Schriften des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts nicht geschafft hatten. Die Schrecken des Krieges werden auch den neuen kriegsunerfahrenen Generationen rechtzeitig vermittelt. Zwar ist auch heute noch Kriegsverherrlichung in den Medien anzutreffen, aber eben nur als eine Form der Stellungnahme neben anderen. Sie wird zwar von vielen praktiziert, die z.B. Waffenzeitschriften abonnieren oder Computerspiele spielen, doch eben nur als Hobby, nicht als Projekt, sich als Söldner zu verdingen, nicht als berauschender Massenwahn der Vaterlandsverteidigung, der von säkularen Hohepriestern der Politik, der Wissenschaft und der Kunst geadelt wird. Die Tatsache, dass Kriege inzwischen in den westlichen Industriestaaten Medienereignisse geworden sind, dass nur mehr wenige reale Kriegserfahrungen haben, wird unterschiedlich beurteilt. In diesem Zusammenhang ist auf den Unterschied zwischen Europa und den USA hinzuweisen. Für die meisten USAmerikaner waren die beiden Weltkriege Medienereignisse, für Russen, Deutsche, Österreicher, Polen und andere blutige Wirklichkeit des Todes. Wenn man für jede im zweiten Weltkrieg getötete Person vier bis fünf stark langfristig betroffene Personen ansetzt, dann erhält man für die USA eine Zahl unter 2 Prozent75, für Deutschland über 30 Prozent. Da die meisten US-Amerikaner Kriege seit über 100 Jahren nur mediatisiert erlebten, ist ihr Kriegsbewusstsein ein anderes als das der Deutschen, Franzosen 75
Nicht die beiden Weltkriege sondern die Influenza-Epidemien, vor allem die von 1918, haben die Todesraten der USA signifikant beeinflusst.
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und Russen. Zwar verfügen die jungen Europäer auch nur über Medienerfahrungen, doch die Sozialisation von drei traumatisierten Generationen lässt sich nicht so schnell abschütteln.
Seele und Unsterblichkeit „In dem Maße, wie physische Integrität und Unteilbarkeit des Leibes an Realität und Bedeutung verloren, gewann die individuelle Autonomie an Gewicht. Die Person als verkörpertes, unteilbares Individuum verlor an Bedeutung, die Person als selbstbestimmter Geist wurde hervorgehoben.“ (Wiesemann 2001, 550)
Diese These von Wiesemann kann man noch verstärken und spezifizieren. Durch die Hirntodkonzeption, die Transplantationsmedizin und die moderne Hirnforschung wird das moderne Menschenbild mitgeprägt: Rationalität, Selbststeuerung, Personalisierung. Soziologen vermeiden das Wort Seele und verwenden Ich, Individuum, Selbst oder personale Identität76. Da es jedoch nach wie vor für viele Menschen ein bedeutsamer Begriff ist, sollte eine sozialwissenschaftliche Diskussion nicht vermieden werden. Um die leider von den meisten Geistes- und SozialwissenschaftlerInnen missachtete Relevanz der Beschäftigung mit Seelenvorstellungen der Alltagsmenschen zu betonen, soll eine These an den Anfang der Erörterung gestellt werden: Die Seelenvorstellungen stehen im Dienste von Kompensations- und Befriedungsleistungen modernisierter Individuen, die in strukturelle Konfliktsituationen geworfen werden. Systemtheoretisch (nach Luhmann) ist ein menschliches Individuum in kein Teilsystem einer modernen Gesellschaft integrierbar, es wird durch Ausschluss aus Systemen bestimmt.77 „Das Individuum rettet sich in die Subjektheit und in die Einzigartigkeit ...“ (Luhmann 1989, S. 160)78. Die Seele, in traditionellen Kulturen ein kollektives Gut, ist privatisiert worden. Privatisierung bedeutet ‚freie Marktwirtschaft’ im Seelenbereich, das Selbstbewusstsein und die Seele sind Aspekte des Lebensstils wie die Kleidung und der Kunstkonsum. 76 In den vergangenen Jahren ist ‚Spiritualität’ zu einem modischen Wort in der Psychologie, Medizin und Pflegewissenschaft geworden. 77 Eine alternative Systemsicht des Individuums definiert es als System von Systemen, vereinfacht als ‚Kombination’ von physischen, psychischen und sozialen Teilsystemen. 78 Vgl. auch Hahn (1995, 94 f).
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Seele kann man als Selbstbewusstsein, Ich, Identität, spirituelle Einheit, ideologisches Konstrukt oder auch anders bestimmen. Doch das entscheidende Kriterium für die meisten Menschen in der westlichen Welt dürfte die Potenz der Trennung dieser ‚Substanz’ vom Körper sein. Hierbei ist die dauerhafte Trennung nach dem physischen Tod die traditionell und wahrscheinlich auch heute noch dominante Variante. Das Sterben der Seele gemeinsam mit dem Körper oder vor bzw. nach dem physischen Ende sind seltener anzutreffende Vorstellungen.79 Psychisches Sterben kann fremdbestimmt oder selbstdefiniert sein. Eine Person kann ihre eigene Psyche, ihr Selbst, ihr Ich als ‚sterbend’ oder ‚zerstört’ erleben oder bezeichnen. Diese Selbstbeurteilung kann mit ‚objektiven’ Phänomenen, z.B. Krankheiten, Gehirnveränderungen oder Verlusten, gekoppelt sein. „Sterben ist immer häufiger mit dem Zerbrechen der labilen zivilisatorischen Harmonie der drei in einem Habitus integrierten Teile, Körper, Psyche und soziale Identität, verbunden – „falling from culture“ nach Seale (1998, 149 ff). Durch Lebensrettungstechnologien und Einweisungen in Krankenhäuser oder Heime wird oft das Auseinanderfallen der Komponenten unbeabsichtigt gefördert, die Person entkontextualisiert, der Körper instrumentalisiert, soziale und psychische Identität beschädigt (Timmermans 1998; 1999; 2005)“ (Feldmann 2010a). Personale Identität und Seele sind Konstruktionen des Bewusstseins, die trotz ihrer Abhängigkeit von sozialen, kulturellen und anderen Faktoren als individuell und ‚authentisch’ erlebt werden. Die Seele wird in der modernen Gesellschaft stärker als in vielen traditionellen Kulturen als körperlos, entmaterialisiert, privatisiert und individualisiert vorgestellt. In manchen Kulturen reiste die Seele mit dem ‚Sozialteil’ und mit alten oder neukonstruierten Körperteilen, Gegenständen oder Teilen anderer Personen gemeinsam ins Jenseits. Es blieb also Teile zurück, die nicht einfach mit der modernen naturwissenschaftlichen Konzeption des toten Körpers gleichgesetzt werden können. Auch in der abendländischen Kultur gab es in dieser Hinsicht vielfältige Vorstellungen, wobei im modernen Christentum ein schlichter Seele–-Körper–Dualismus dominiert, der auch im Bewusstsein der meisten Menschen nach wie vor verankert ist. Gründe für diese Tatsache könnten neben dem Festhalten an Traditionen, die durch die religiösen Organisationen geschaffen wurden, sein:
79 In stark säkularisierten Regionen, wie in Ostdeutschland, werden solche Vorstellungen eines endgültigen psychischen Sterbens dominant sein.
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Der Körper wird zunehmend entzaubert, d.h. wissenschaftlich und technisch erkennbar und manipulierbar, und damit vergesellschaftet. Durch die Entzauberung und Instrumentalisierung wird der Körper religiös und magisch entwertet. Dadurch wird der Rückzug des religiösen oder spirituellen Bewusstseins auf die vom Körper abtrennbare Seele befördert. Das Bewusstsein wird als Produkt eines Körpers gesehen. Dieses Produkt kann theoretisch auch anders hergestellt oder betrieben werden, was an immer mehr Äußerungsformen dieses Bewusstseins exemplifiziert wird. Damit wird es prinzipiell bzw. utopisch unabhängig von dem konkreten Körper.
Um die Selbstverständlichkeit des Körper-Seele-Dualismus im Alltagsbewusstsein darzulegen, zitiere ich einige Aussagen junger Menschen aus einer Studie zur Gentechnik (Gebhard, Feldmann, Bremekamp 1994) Als Stimulus wurde vorgegeben: Welche Gedanken, Phantasien und Assoziationen haben Sie, wenn Sie folgende Aussage hören? „Jetzt können wir den Menschen definieren. Genotypisch wenigstens ist er sechs Fuß einer Reihenfolge von Kohlenstoff-, Wasserstoff-, Sauerstoff-, Stickstoff- und Phosphoratomen – die Länge von DNA, eng gewickelt in dem Kern eines sich entwickelnden Eis.“ (Nobelpreisträger J. Lederberg, 1962)
Überwiegend gaben die Befragten kritische Stellungnahmen ab:
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Ich finde Forscher, die den Menschen so einseitig betrachten, die glauben, dass das Wesen Mensch rein auf seine chemischen Bestandteile zu reduzieren sei, unverantwortlich. Zum Menschen gehört eindeutig mehr als nur ein Körper, der aufgrund chemischer Vorgänge funktioniert. Die Definition des Menschen ist falsch. Für mich gehört neben dem Körperlichen auch ein ‚Wesen’, eine Seele. Ich habe Angst vor Wissenschaftlern, die eine solch materialistische Einstellung haben und solche Spitzenforschung betreiben, scheinbar ohne Ethik. Diese Definition beschreibt lediglich den menschlichen Körper, lässt keinen Raum für die Seele, das Geheimnis des Menschen lässt sich nicht lösen, soll auch nicht gelöst werden Ich empfinde es als falsch, den Menschen ‚definieren’ zu wollen. Sicherlich ist es ein riesiger Fortschritt, ihn genotypisch zu definieren. Doch in seiner Ganzheit ist er so niemals erfassbar, da der Körper nur einen relativ geringen Teil ausmacht.
Welche Modellvorstellungen sind in diesen Aussagen festzustellen? 1.
2.
Der Mensch als Maschine, die chemisch-physikalisch-technisch beschrieben werden kann, wobei der Ausdruck ‚Körper’ im Gegensatz zu ‚Seele’ dieses Maschinenmodell charakterisiert. Der Körper wird abgewertet, um die Seele aufzuwerten. Diese Abwertung des Körpers erfolgt, wenn ein Angriff auf das dualistische Modell erfolgt, d.h. die Seele wird geschützt. Wie ist dieses Schutzinteresse erklärbar?
Wird die Seele als Repräsentant der Kultur und der Gesellschaft verstanden, während der Körper als Repräsentant der Natur, naturwissenschaftlich der genetischen Struktur, erscheint? Eine solche Interpretation ist aus den Aussagen dieser Befragung nicht zu gewinnen. Eher repräsentiert die Seele ein idealisiertes aus der Knechtschaft von Natur und Kultur befreites Selbst80, ist also Ausdruck eines „Kults des Individuums“ (Durkheim). Die Vorstellungen dieser jungen Menschen kann man mit der theoretischen Konzeption von Durkheim konfrontieren. Durkheim beschrieb den Menschen ebenfalls dualistisch: „In ihm befinden sich zwei Wesen: ein Individuelles, das seine Basis im Organismus hat und dessen Wirkungsbereich dadurch eng begrenzt ist, und ein soziales Wesen, das in uns, im intellektuellen und moralischen Bereich die höchste Wirklichkeit darstellt, die wir durch die Erfahrung erkennen können: ich meine die Gesellschaft.“ (Durkheim 1981, S. 37)
Die befragten jungen Menschen und Durkheim stehen bezüglich der inhaltlichen Bestimmung der Seele einander konträr gegenüber. Während Durkheim für das individuelle Wesen als Basis den Organismus angibt (Körpergebundenheit) und die (körpertranszendierende) Seele als gesellschaftliches Kollektivorgan identifiziert, ist sie nach Meinung dieser jungen Menschen das ‚eigentlich Individuelle’, also dem Zugriff der Natur und der Gesellschaft letztlich entzogen. In der kulturellen Evolution des Körper-Seele-Dualismus wechselte die Seele in der Tendenz vom Kollektiv (Gesellschaft) zum Individuum. Ist dies eine gesellschaftlich vermittelte Illusion? Liegt hier eine ‚echte Selbstbestimmungschance’ vor? Wahrscheinlich haben sich einfach die Möglichkeiten der psychischen Feineinstellung und die Kommunikationsoptionen der modernen Menschen erhöht, während die Trennung zwischen Fremd- und Selbstbestimmung 80 Eine ähnliche Position vertrat Georg Simmel (1957, 35): „Die Unsterblichkeit, wie sie die Sehnsucht vieler tieferen Menschen ist, hat den Sinn: dass das Ich seine Lösung von der Zufälligkeit der Inhalte ganz vollbringen könnte.“ (vgl. auch Hahn 1995)
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und die zwischen Wahrheit und Illusion für eine Erklärung weniger brauchbar sein dürfte. Seelenideologien Die Inhalte bzw. Optionen der Seelenvorstellungen werden zwar primär von ausgewählten christlichen Konzeptionen bestimmt, jedoch zunehmend durch andere kulturelle Einflüsse und vor allem durch wissenschaftliche Erkenntnisse und Technologien geformt: Nahtod-Erlebnisse, Ergebnisse der Gehirnforschung und Produkte der Massenmedien. Die selektive und kompensierende Verarbeitung von wissenschaftlichen Erkenntnissen lässt sich an Nahtod-Erfahrungen exemplifizieren (vgl. Knoblauch/ Soeffner 1999). Die Muster dieser Erfahrungen sind mit traditionellen Seelenvorstellungen kompatibel (Aus-dem-Körper-heraustreten, Lichtwesen, moralisch bewertender Rückblick auf das eigene Leben, Kommunikation mit Verstorbenen). Somit werden diese Nahtod-Erfahrungen, obwohl dies natur- und sozialwissenschaftlich nicht legitimiert werden kann, von vielen als ‚Beweise’ für ein jenseitiges Seelenleben angesehen. Die Seele wird (im Verständnis der Seelenbesitzer) in der modernen Gesellschaft zunehmend aus traditionellen, rituellen, aber auch aus naturwissenschaftlichen Kontexten herausgenommen (Giddens 1995). Der Reinkarnationsglaube ist insofern ein zeitgemäßer Mythos81 – für schätzungsweise ein Fünftel der Menschen in West- und Mitteleuropa (Hunt 2002, 99), denn die Seele wird als entkontextualisiertes Wesen definiert, das unter stark veränderten sozialen und kulturellen Bedingungen in wechselnde Körper eingebaut werden kann. Freilich muss auf diesem Wege Individualisierung umdefiniert werden. Identität wird zu einer Konstruktion, in der Psyche, Körper und Sozialteil Variablen darstellen – durchaus in Einklang mit den modernen Anforderungen. Die traditionelle christliche eher statische Identitätskonzeption und die modernen flexiblen Identitätsmodelle stehen im Widerspruch zueinander und führen zu unterschiedlichen Seelen(wanderungs)konstruktionen.
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Auch für Sachau (1996) ergibt sich der Reinkarnationsglaube als Reaktion auf Modernisierung, wobei Identitätsprobleme, die pädagogische Selbststeuerung, die Vielfalt der Lebensoptionen, das (natur)wissenschaftliche Weltbild und andere Faktoren wirksam sind.
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Abbildung 8:
Seelen(wanderungs)konstruktionen Moderne Reinkarnation Diesseits Jenseits
Traditionelles Christentum Diesseits Jenseits
Identitätserhaltung Identitätswandel
Walter (2001) unterscheidet in seiner Analyse modernen Reinkarnationsglaubens, den er „entertaining the idea of reincarnation“ nennt, drei Formen der Identitäts- oder Selbstkonstruktion: 1. 2. 3.
die (therapeutische) Suche nach der Identität, die postmoderne Dekonstruktion von Identität, die Identitätsfortsetzung in den Kindern (kin hypothesis)82.
In allen drei Formen sind Jenseits und Gott periphere Aspekte, es geht um Vorstellungen, die diesseitigen Charakter tragen, und die ‚westlich’ und modern orientiert sind, also mit traditionellen buddhistischen oder hinduistischen Religionen oder Kulturen nur oberflächliche Gemeinsamkeiten zeigen. Die Seelenvorstellungen werden zwar in den gebildeten westlichen Gruppen inhaltlich noch immer stark von traditionellen Texten aus religiösen, literarischen und sonstigen abendländischen Bereichen bestimmt, doch in zunehmendem Maße entstehen in den jüngeren Generationen Medienbilder und -mythen. Freilich haben auch sie ihre Wurzeln in den alten Mythen und Erzählungen, doch die Verbindung mit neuen Technologien und Lebensformen führt auf lange Sicht zu einem qualitativen kulturellen Wandel. Durch diese Modernisierung der Seelenvorstellungen entsteht ein Druck zur Veränderung der christlichen Mythologien. Der traditionelle christliche Jenseitspartner der Seele ist Gott. Auch die Beziehung zwischen Seele und Gott unterliegt einer Modernisierung. Das streng hierarchische autoritäre Rollenspiel wurde abgebaut. Gott verlor immer mehr seine Richterfunktionen und wurde in zunehmendem Maße entmaterialisiert, körperlos und dekontextualisiert vorgestellt. Damit kommt es freilich auch zu einer Entindividualisierung Gottes, was zu Inkonsistenzen und Kommunikationsproblemen führen kann, da von vielen die (eigene) Seele als Individuum bzw. Person vorgestellt wird.83 Andererseits hat 82
Lifton (1986) nennt dies den „biologischen Unsterblichkeitsmodus“, d.h. die Wiedergeburt in den Kindern und Kindeskindern. 83 Nur mehr ca. 30 % der Westeuropäer glauben an einen persönlichen Gott (Hunt 2002, 98f).
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das moderne Individuum lebenslang Erfahrungen mit körperlosen bürokratischen Wesen, so dass Gott auch eine solche Gestalt annehmen kann. So verblasst auch die traditionellen Modellen entsprungene Vorstellung des von einem Gottesindividuum geführten jenseitigen Seelenkollektivs. Freilich könnte es in Zukunft gottlose diesseitige Seelenkollektive geben, z.B. im Sinne der Techno-Utopien von Moravec und Tipler, elektronische bzw. postbiologische Gemeinschaften (vgl. Fröhlich 1998; Krüger 2009). Kaum verträglich mit einer entmaterialisierten, körperlosen Seele und einem entweder partnerschaftlichen oder bürokratischen, demokratischen Gottesbild ist die Höllenvorstellung84, die dementsprechend immer weniger Anhänger findet.85 Unsterblichkeit Was mit der Seele (oft auch mehreren Seelen einer ‚Person’) nach dem physischen Tod geschieht, variiert zwischen den Kulturen so stark, dass schon der gemeinsame Name, z.B. Seele, für diese ‚soziale Tatsache’ eine semantische Verführung darstellt. Die christliche Konzeption, Individualisierung und Personorientierung, ‚echte’ Unsterblichkeit, Abtrennung vom Körper (nur in einem Teil der christlichen Religionsgemeinschaften festgelegt), Jenseitsschicksal vom Urteil eines Gottes abhängig, ist eine Minderheitsposition im Konzert der Kulturen. Unsterblichkeit ist eine grobe Kennzeichnung für einen Problembereich bzw. ein semantisches Feld in der Geschichte der Menschheit:
‚Weiterleben’ nach dem Tod, Erinnerung an Verstorbene, tatsächliche oder imaginierte Objekte, die mit Toten assoziiert werden, eine jenseitige, andere Welt, ein Geschehen, in dem das Individuum eine Bedeutung hat, die nicht durch seine Lebenszeit begrenzt wird, usw.
An den Begriff Unsterblichkeit können verschiedene Fragen gestellt werden, die jeweils kulturspezifisch beantwortet wurden: 1.
Wer oder was ist unsterblich? Individuum, Teil des Individuums, Kollektiv, Teil des Kollektivs, sonstige natürliche oder soziale Gebilde.
84 Nach Hahn (2000) treten Höllenvorstellungen in Gesellschaften mit zentralen Herrschaftsinstanzen auf. Sie werden ab dem 17. Jahrhundert immer mehr angezweifelt, da neue Formen der Zivilisierung, Disziplinierung und des kritischen Denkens sich durchsetzen. 85 Ca. 20 % in Westeuropa (Hunt 2002, 99).
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2.
3.
4.
Wie lange dauert die Unsterblichkeit? Es kann ein Leben über den Tod hinaus ohne zeitliche Festlegung oder mit zeitlicher Festlegung gemeint sein. Auch bei einem Weiterleben nach dem Tod ohne zeitliche Festlegung kann eine implizite Begrenzung in der Konzeption enthalten sein. Wo findet die Unsterblichkeit statt? Es kann in dem gewohnten Lebensraum sein, in einem anderen aber nahen Raum oder in einem weit entfernten ‚ganz anderen’ Raum. Unter welchen Bedingungen tritt Unsterblichkeit ein? Die Antwortalternativen sind hier nicht aufzuführen, da zu viele Konzeptionen im Laufe der Menschheitsentwicklung aufgetreten sind. Doch ein Beispiel für die Differenzierung sei gegeben: In mehreren afrikanischen Ethnien wird ein Übeltäter ‚zur Sterblichkeit verurteilt’, indem ihm die Übergangsriten verweigert werden, die für den Eintritt in das Kollektiv der Toten (des Clans) erforderlich sind (Thiel 1978).
Das Bewusstsein des Menschen transzendiert immer schon sein gegenwärtiges, vergangenes und zukünftiges Sein. Die Gesellschaft, die Kultur, die Kollektive transzendieren immer schon – auch im Bewusstsein des Einzelnen – sein begrenztes Leben und damit seinen (antizipierten) Tod. Soziales Weiterleben (nicht Unsterblichkeit) ist somit eine anthropologische Konstante. Soziales Weiterleben wurde mit unterschiedlichen Zeitkonzeptionen verbunden. Die Zeitlosigkeit der Existenz der Toten ist im Mythos der Griechen vom Gedächtnisverlust zu finden, wenn sie das Wasser des Lethe getrunken haben. Im Jenseits vollzieht sich das Geschehen zyklisch, immer wiederkehrend. In anderen Kulturen ist das Jenseits eine mehr oder minder ähnliche Kopie des Diesseits, in dem die Zeit ebenso voranschreitet, gearbeitet wird, ja teilweise sogar der Tod existiert. Unsterblichkeit ist also dann verdoppelte Sterblichkeit (z.B. Eddystone Insel nach Rivers 1926; vgl. auch Thiel 1978). Die andere Zeit im Jenseits wird oft in Formen einer übergeordneten vom Menschen nicht beeinflussbaren Natur vorgestellt: die Zeit der Gestirne (Plato, Ägypter). Im Christentum wurde die für viele frühere Kulturen dominierende Konzeption der zyklischen Zeit durch eine lineare und irreversible Zeit ersetzt, was die jahrhundertelange Fixierung auf das Jüngste Gericht begünstigte. Die Evolution des Unsterblichkeitsglaubens ist durch eine scheinbar widersprüchliche Entwicklung gekennzeichnet: einerseits vom Magischen und Übernatürlichen zum Natürlichen, andrerseits vom Konkretistischen, Animistischen, Realistischen zum Symbolischen, Abstrakten, Rationalen. Vorstellungen von sozialem Weiterleben gehen von Menschenbildern oder -modellen aus. Vorherrschend ist für moderne Menschen das Bild des Organismus, der durch den physischen Tod endgültig zerstört wird. Daneben ist – wie
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schon ausgeführt – das dualistische Weltbild in der westlichen Kultur nach wie vor gut verankert: Körper und Seele. Zwei Weltanschauungstypen konkurrieren somit in der modernen Gesellschaft, eine ‚natürliche’ (besser: naturwissenschaftlich geformte) und eine ‚symbolische’ (durch vielfältige Kulturerfahrungen geformte). In der natürlichen Welt dominiert die Sterblichkeit, in der symbolischen, einem riesigen Imaginationsapparat, die Unsterblichkeit bzw. das ‚soziale Weiterleben’. „Auf dem Gebiet der Fiktion finden wir jene Mehrheit von Leben, deren wir bedürfen. Wir sterben in der Identifizierung mit dem einen Helden, überleben ihn aber doch und sind bereit, ebenso ungeschädigt ein zweites Mal mit einem anderen Helden zu sterben.“ (Freud 1986, 51)
Ein Menschenbild, das mit den neuen Kommunikationstechnologien korrespondiert, sei noch kurz skizziert. Ein Mensch kann als lebendiges Netzwerk beschrieben werden, als Netzwerk in Netzwerken mit ‚Orten’ und Weisen der Existenz, in unterschiedlichen Bewusstseinen ‚lokalisiert’ und ‚identifiziert’. Auch so genannte ‚tote’ Gegenstände werden durch ihn ‚verlebendigt’, ‚personalisiert’, sie leben und sterben, können seinen Organismus überleben (vgl. Feldmann 1998d, 97)86. In allen Kulturen war das Individuum in seinem individuellen Leben und Sterben dem Kollektiv untergeordnet. Das zweite Begräbnis in verschiedenen Kulturen ist als eine Art von Depersonalisierung oder Entindividualisierung zu interpretieren: Die Knochen des Verstorbenen werden mit den Gebeinen der Ahnen vereinigt; das Individuum wird nur als untrennbarer Teil des Kollektivs unsterblich. Die Situation in modernen Industriegesellschaften ist schwieriger allgemein zu beschreiben: Säkularisierte Menschen haben ihre (traditionelle, christliche) Unsterblichkeit verloren oder zumindest ist sie nicht mehr gesichert (vgl. zu modernen Unsterblichkeitsvorstellungen Walter 1996, 2001; Hiernaux et al. 2001), doch manche Kollektive (z.B. die Gesellschaft, der Staat) haben ihre relative Unsterblichkeit bzw. Langlebigkeit gefestigt, andere Kollektive freilich, z.B. die Kleinfamilie sind ‚sterblicher’ geworden. Die Erhaltung der Kontinuität, also die Verhinderung des Sterbens der Kultur und Gesellschaft, wird über ein Netzwerk von Institutionen, Positionen, Rollen und anderen strukturellen Mechanismen erreicht. Der Nachfolger in einer Position ist gleichsam der Wiedergeborene, jedenfalls was die soziale Identität betrifft. Diese Interpretation wird einsichtig, wenn man einen Lösungsversuch aus einer traditionellen Kultur heranzieht. 86 Diese Sichtweise geht von der Differenzierung in physisches, soziales und psychisches Sterben aus und ist nicht an eine religiöse oder sonstige Weltanschauung gebunden.
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Die Sakalava in Madagaskar senden nach dem Tod des Königs Boten aus, die jemanden suchen und finden müssen, der vom Geist des verstorbenen Königs besessen ist. Dieser Mann wird dann in die Hauptstadt gebracht, die als Grab des Königs angesehen wird, und erhält die Insignien des Königs, gilt als seine Reinkarnation. Wenn er stirbt, wird ein neues Medium gesucht (Bloch 1981). Somit ist die soziale Unsterblichkeit des Königs als Repräsentant der gesellschaftlichen Ordnung gewährleistet. Eine weitere interessante Parallele zwischen den Sakalava und der Moderne ist festzustellen: Da die Gesellschaft, konkret die Hauptstadt, die symbolische Grabstätte des Königs ist, wird das tatsächliche Grab des Königs, das sich außerhalb der Stadt befindet, einfach und schmucklos gehalten. Diese Vernachlässigung der Gräber der Könige im Vergleich zu anderen traditionellen Kulturen als Kulturverfall oder als Mangel zu interpretieren, wäre wohl ebenso verfehlt, wie die bürokratisierten Bestattungspraktiken und Totenrituale in modernen Staaten als Zeichen der Verdrängung, Verbergung oder ähnlich negativ zu charakterisieren. Es handelt sich vielmehr um Lösungsversuche für die Todesproblematik, die zuerst überhaupt erkannt und anerkannt werden sollten, bevor Bewertungen durchgeführt werden. Lifton (1986) hat den Versuch einer Taxonomie des sozialen Weiterlebens in Form von fünf Modi der Unsterblichkeit vorgestellt.87 „Die biologische Unsterblichkeit kommt in der Fortdauer der Familie zum Ausdruck ... mit der Vorstellung einer endlosen Kette biologischer Verknüpfung.“(31) Statt biologischer Unsterblichkeit könnte man auch sagen: Soziales Weiterleben über die Verwandtschaft und über das Bezugskollektiv. Unsterblichkeitsgewissheit ergab sich in traditionellen Kulturen durch die zentrale Bedeutung des Verwandtschaftssystems und des Herstellens von Genealogien. Freilich wurden nur die Führergestalten verewigt und die anderen Menschen innerhalb der Gesellschaft konnten durch die Anbindung an den Patriarchen, an die Sippe oder den Clan an deren Unsterblichkeit partizipieren. Zwar leben auch die meisten modernen Menschen durch ihre Kinder weiter, doch in Deutschland steigt – vor allem bei überdurchschnittlich gebildeten – Frauen der Anteil der Kinderlosen. Diese Frauen versuchen, ihre Unsterblichkeitswünsche durch andere Angebote zu befriedigen, doch sie gehen durch die Kinderlosigkeit auch größere Risiken ein, in unerwünschter Weise sozial zu sterben (vgl. Rubinstein 1996). Die Annahme eines (individuellen) Lebens nach dem Tode (theologischer Modus) ist zwar weit verbreitet, doch keineswegs in allen Kulturen anzutreffen. Art und Dauer des jenseitigen Lebens wurden äußerst variabel und widersprüchlich konzipiert. Unsterblichkeit der Luxuskategorie kennzeichnet die oberste Klasse der Götter. Wenn Menschen – wie etwa im Christentum – persönliche 87
Eine ähnliche Konzeption hat Shneidman (1995) unter dem label „postself“ vorgelegt.
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Unsterblichkeit erlangen, ist es eine sekundäre im Vergleich zu einem Gott, der zum Zeitpunkt der Geburt eines Menschen bereits unendlich lange existierte. In vielen Religionen und Mythen erringen auch nur obere Diesseitsklassen Weiterleben nach dem physischen Tod (Indien), bzw. die Schichtungssysteme von Diesseits und Jenseits ähneln sich. „Der dritte Modus von symbolischer Unsterblichkeit ist das Schöpferische ...“ (Lifton 1986, 34) Der kreative Modus wird von Lifton auf jede Art von gesellschaftlich anerkannter Arbeit und Herstellung von Produkten bezogen, die den einzelnen postmortal überdauern. Bekannter als die Künstler werden heute die Reichen und die Mächtigen, die Museen, Städte, Industriekomplexe und Konzerne hinterlassen. Auch die Massenmedien erzeugen eine in der Geschichte der Menschheit bisher einmalige kulturentranszendierende Schar von ‚Unsterblichen’. Hierbei konkurrieren ‚echte’ Tote (Marilyn Monroe) mit ‚unsterblichen’ Heroen der fiktiven Welt (Mickey Mouse). Der natürliche Modus bezieht sich auf die überdauernde Totalität der Natur, der Welt, des Kosmos, auf ‚ewige’ Gegebenheiten, in denen der Mensch eingeordnet ist, auf die Evolution. Der letzte Modus, die erfahrene Transzendenz, klassisch gesprochen die Mystik, wird auch mit körperlichen und psychischen Zuständen in Verbindung gebracht, die als Ekstase bezeichnet werden können.88 Das Zulassen und Fördern von ekstatischen Zuständen, dem Dionysischen (Nietzsche), ist abhängig von der Art der Kultur. In der westlichen Kultur, die trotz Konsumwahn und hedonistischer Jugendkultur noch immer vom protestantischen Leistungsethos und von der zivilisatorischen Zwangsapparatur (Elias 1976) geprägt ist, ist das Ressentiment gegen die Ekstase stark verankert, was sich u.a. in der Drogenpolitik und in der Behandlung von Kranken und Sterbenden manifestiert.89 Durch die kulturelle Dominanz der Wissenschaft und der Rationalität hat der Unsterblichkeitsglaube, soweit er das Individuum betrifft, eine interessante Metamorphose durchgemacht. Der christliche Glaube an eine individuelle Auferstehung wurde im Abendland als herrschende, wenn auch alternative Konzeptionen nie ganz verdrängende, Ideologie durchgesetzt. Die Naturwissenschaft konnte dieses Konzept übernehmen und modifizieren. Die Hoffnung, die Gesetze des Lebens zu entdecken und das menschliche Leben aus seiner ‚Programmierung zum Tode’ zu lösen, stellt vielleicht eine säkularisierte Form des Glaubens an ein Weiterleben dar. 88 In ekstatischen Zuständen kann die Realitätskonzeption gewechselt und damit die an den jeweiligen Lebenslauf gebundene Todes- und Zeitvorstellung außer Kraft gesetzt werden. 89 Lange Zeit wurden Schwerkranke und Sterbende gequält, z.B. starken Schmerzen ausgeliefert, weil ihnen Morphine verweigert wurden, u.a. aus dem fadenscheinigen Grund, dass sie süchtig werden könnten.
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Empirische Untersuchungen konstatieren „ein Verblassen der Strukturierungskraft des Glaubens an ein Weiterleben nach dem Tode“ (Fuchs 1985b, 289; vgl. auch Hunt 2002). Unsterblichkeitsannahmen sind Privatangelegenheit geworden, die sich im sozialen Handeln der Menschen kaum auswirken. Wenn man Industriestaaten vergleicht, dann erhält man allerdings ein heterogenes Bild der Verbreitung des Unsterblichkeitsglaubens, der in manchen Ländern von der überwiegenden Mehrzahl aufrechterhalten wird (z.B. USA) und in anderen nur von einer Minderheit (z.B. Ostdeutschland) (vgl. Walter 1996, 30 ff). Sterblichkeit von Wahrheit und Wissenschaft „Die Erkenntnis über die Endlichkeit des menschlichen Lebens führt zur Einsicht in die Begrenztheit und Endlichkeit der Erkenntnisse über den Menschen. Schließlich gehen die Humanwissenschaften ihres Erkenntnisgegenstandes verlustig: ‚Der Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand.’ (Foucault 1991, 462) In diesen beiden Büchern (Die Geburt der Klinik und Die Ordnung der Dinge, K.F.) haben wir es hauptsächlich mit dem ‚epistemologischen Tod’ zu tun.“ (Nassehi/Schroer/Weber 1996, 354)
Die epistemologischen, philosophischen und weltanschaulichen Wandlungen scheinen auf den ersten Blick wenig mit der sozialwissenschaftlichen Todesproblematik zu tun zu haben. Die absolute Wahrheit wird nicht mehr erreicht, nur relative Wahrheiten sind – wenn überhaupt Wahrheit – erreichbar. Alle Theorien bleiben hypothetisch. „der Fortschritt einer Theorie kann nur daran gemessen werden, wie viele andere Theorien sie umbringt.“ (Oeser 1988, 191 f) Auch auf Erfahrungen und Beobachtungen kann man sich nicht verlassen. Realitäten und Moralvorstellungen sind Konstruktionen. Die Sinnfrage ist ein Gegenstand konkurrierender Expertengruppen und diese stellen sie – und den Sinn – in Frage. Die nüchternen Tatsachen lauten: Aufgrund der gigantisch gewachsenen wissenschaftlichen Produktion sterben viele wissenschaftlichen Produkte schon im Kindbett, viele werden zwar veröffentlicht, doch sie sterben sozial, da sie von (fast) niemandem rezipiert werden. Auch die Minderheit der wissenschaftlichen Produkte, die einige Jahre (sozial) überleben, d.h. nicht nur in Bibliotheken oder Archiven mumifiziert werden, haben eine kürzere Halbwertzeit als noch vor 100 Jahren.
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Ende der Zeit, Omnizid Seit Jahrtausenden müssen Menschen immer wieder die grauenhafte Erfahrung machen, ihr Volk, ihren Stamm, ihre Gesellschaft, ihre Kultur sterben zu sehen.90 In vielen Mythologien traditioneller Kulturen findet man Endzeitvorstellungen. Jorgensen (1985) berichtet von den Telefol auf Neu-Guinea, die eine Entropie-Weltanschauung vertreten. Damit begründen sie auch die Existenz des Todes. Die menschliche Welt geht nach ihrer Weltsicht langsam aber unaufhörlich einem Ende zu. Ihre eigene Kultur sehen sie also als sterbend an, und zwar schon vor der Intervention durch Boten des zermalmenden abendländischen Kultursystems. Ihre Geschichtskonzeption ist konsequenterweise auch so geartet, dass in der Vergangenheit alles besser war, die Menschen (und auch die Schweine) waren größer, gesünder und lebten länger (nur die Menschen). Wenn das Land der Toten genügend Menschen aufgenommen hat, also ‚voll’ ist, dann kommt das Weltende. Auch andere Ereignisse können zum Untergang des Volkes führen. Diese Untergangsstimmung durchzieht das Denken der Telefol. Sie sehen sich in einem Zentrum, das von zerstörerischen Mächten umgeben ist. Verluste werden meist den Einwirkungen dieser Mächte, den Boten des Todes, zugeschrieben. Vielfältige Szenarien der Selbstauslöschung der Menschheit wurden in strategischen Gruppen und in den Medien bereits durchgespielt. Doch das Thema hat (fast) nie hohe Priorität. Zu abstrakt, zu wenig vorstellbar, nicht erlebbar ist etwa das Inferno eines totalen Atomkrieges oder einer globalen Ökokatastrophe. Was sich in Krankenhäusern und Pflegeheimen abspielt, ist viel bedrängender. Manche meinen, dass die Antizipation des kollektiven Sterbens einen zusätzlichen gravierenden Aspekt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erhalten hat: Die Möglichkeit der Vernichtung der Menschheit und des Ökosystems, von der ihre Existenz abhängig ist. Diese Möglichkeit der Vernichtung ist zwar prinzipiell schon durch Mythen und später durch wissenschaftliche Einsichten in den Blick gerückt, zumindest durch die Erkenntnis der Endlichkeit des Sonnensystems. Jedoch die Vervollkommnung der potentiellen Atomkriegsführung und auch das Wissen über mögliche globale Umweltkatastrophen, vor allem aber die Verbreitung dieser Erkenntnisse könnten zu Strukturveränderungen führen. Lifton (1986) meint, die Möglichkeit der totalen Vernichtung durch einen Atomkrieg oder eine Umweltkatastrophe zerstöre die Grundlagen der Unsterblichkeitsvorstellungen. Untersuchungen an den Überlebenden der Atomkatastrophe von Hiroschima weisen auf solche Bewusstseinsstörungen hin (Lifton 1967). Solche Annahmen über Bewusstseinsveränderungen sollten jedoch nicht generalisiert werden. Zwar ist ein Niedergang traditioneller Unsterblichkeitsvorstellun90
Vgl. auch den Abschnitt über Genozid.
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gen in westlichen Populationen zu diagnostizieren, doch die Zeit-, Raum- und Bewusstseinsvorstellungen haben sich differenziert und pluralisiert, haben die Enge traditioneller Kulturen verlassen. Damit wird auch der Todesbegriff verzweigt und auf verschiedenen raum-zeitlichen Ebenen angesiedelt. Darauf hat Simmel (1918, 132) hingewiesen, wobei er die Idee der Unsterblichkeit auf der höchsten Stufe durch eine metaphysische Argumentationsfigur retten wollte: „das Individuum ist sterblich, aber die Gattung nicht; weiterblickend: die einzelne Gattung ist sterblich, aber das Leben nicht; das Leben ist sterblich, aber die Materie nicht; schließlich mag die Materie als ein Sonderfall des Seins vergehen, aber das Sein nicht.“
Simmel versuchte vielleicht die durch das naturwissenschaftliche Weltbild erzeugte ‚Kränkung des Menschen’ durch diese elegante rhetorische Figur zu vermeiden. Doch die Benachteiligung des sterblichen Menschen wird ja gerade durch das naturwissenschaftliche Weltbild gegenstandslos. Nachdem der moderne, säkularisierte Mensch ‚weiß’, dass auch die Götter, die Kollektive, die Familien, die Gesellschaften, die Kulturen, die Arten, die Gene, ja vielleicht auch das Universum nicht unsterblich sind, muss er sich seiner eigenen Sterblichkeit nicht mehr schämen. Er und auch seine Vorfahren sind sicher schuldlos daran. Die Unsterblichkeit kann nicht erworben werden und folglich kann sie ihm auch nicht geraubt worden sein. Er ist befreit von der Last der Unsterblichkeit, die Swift am Beispiel der Struldbrugs in ‚Gullivers Reisen’ so treffend beschrieben hat. Ob die Ausweitung des Todesbegriffs (Tod der Kultur, der Gattung, der Ökosysteme, der Natur, des Universums) angstverstärkend wirkt, wie Thomas (1982) meint, oder vielleicht sogar angstlösend, bzw. sich je nach kognitiver Verarbeitung gefühlsmäßig unterschiedlich manifestiert, bleibt ungewiss. Gewiss ist jedenfalls: Die westliche Kultur hat sich bisher als der ‚Überleber’ schlechthin erwiesen. Eine mögliche Megakatastrophe soll damit nicht verharmlost werden, nur dürfte das Denken und Handeln der Menschen in den Industriestaaten davon bisher nicht stark beeinflusst worden sein. Das Unsterblichkeitskonzept, soweit es überhaupt als anthropologische ‚Konstante’ existiert, unterliegt kulturellen Metamorphosen. Wahrscheinlich ist es ein Teil des Versuches von Individuen und Kollektiven, sich in ein universelles System einzuordnen und somit eine überdauernde Sinnstruktur herzustellen. Die moderne Gesellschaft bietet eine Fülle von alternativen Sinnkonstruktionen und Sinnersatzmitteln, in denen sich Elemente verschiedener Epochen, Kulturen, Religionen, Wissenschafts- und Gesellschaftsbereiche verbinden (vgl. Fröhlich 1998; Lafontaine 2010).
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Das soziale Sterben
Orthodoxe Juden erklärten in früheren Zeiten Mitglieder ihrer Gemeinde, die Nicht-Juden geheiratet hatten, für tot und führten ein symbolisches Begräbnis für diese Personen durch. Schon aus den bisherigen Ausführungen ist zu erschließen, dass man in der Thanatologie nicht nur medizinische Definitionen von Sterben und Tod übernehmen oder sich auf biologische ‚Tatsachen’ beschränken sollte.91 So wie der Mensch während seines Lebens immer wieder Todesangst empfinden kann, obwohl er tatsächlich nicht stirbt, so kann er in unterschiedlicher Weise sozial oder auch psychisch sterben, obwohl er physisch weiterlebt. So wie das soziale Leben in den meisten Kulturen erst einige Zeit nach dem Beginn des physischen Lebens einsetzte92, erfolgt der soziale Tod (im Diesseits) meist vor oder nach dem physischen Tod – sowohl in traditionellen Kulturen als auch in der modernen Gesellschaft93. In den meisten Kulturen gab es zwei Hauptformen des sozialen Sterbens: einerseits prämortal die radikale Exklusion, der Ausschluss aus der Gemeinschaft, die soziale Nichtexistenz, die meist zum frühzeitigen physischen Tod führte, andererseits postmortal das normale soziale Sterben, d.h. das ritualisierte Ausdriften aus der diesseitigen Gemeinschaft, traditionell verbunden mit dem Übergang in ein Reich der Toten. Die erste Form, das ‚schlechte’ soziale Sterben, kennen in zivilisierter Form auch die Industrie- und Dienstleistungsgesellschaften (Gefängnisse, Heime, Ausweisung), während die zweite Form sich gespalten hat, in die privatisierte
91
Es besteht eine allgemeine Scheu, den Begriff „Sterben“ zu definieren, so dass auch den Versuchen der Vertreter des medizinischen Systems, ein entsprechendes Definitionsmonopol zu gewinnen, nur geringer Widerstand entgegengesetzt wird. 92 In vielen Kulturen waren Föten und Neugeborene noch keine sozial anerkannten und generell geschützten Lebewesen. Sie konnten getötet oder ausgesetzt werden. 93 Warner (1959, 304 ff) nennt den den physischen Tod überdauernden Teil „social personality“. Shneidman (1995) verwendet den Ausdruck „postself“.
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Jenseitsreise94, und das strukturelle prämortale soziale Sterben: Arbeitsplatzverlust, Rollenverlust, Ausgrenzung aus dem Zentrum der Gesellschaft, eine Minderheit endet in Heimen als sozialer und oft auch personaler Identität mehr oder minder entkleidete Klienten (Goffman 1974). Abbildung 9:
Prä- und postmortale Formen des sozialen Sterbens
Soziales Leben und Sterben
prämortal
postmortal
Selbstbestimmung
Kampf um Anerkennung, Rückzug aus der Gemeinschaft
personales soziales Weiterleben
Fremdbestimmung
Arbeitslosigkeit, Verrentung, Ausweisung, Gefängnis
Gedenkstätten und -tage, Totenmessen, Trauerarbeit
Die Industriegesellschaften sind durch eine starke Aufstiegs- und Fortschrittsorientierung gekennzeichnet. Individuen stellen höhere Ansprüche, kämpfen mehrdimensionaler um Anerkennung (Honneth 1998) als in früheren Zeiten. Damit sind jedoch Verlusterfahrungen weit verbreitet und auch der Abstieg ist vorprogrammiert. Dieser Abstiegsprozess ist weniger strukturiert, gesellschaftlich begleitet und ideologisch gestützt wie der aufsteigende Prozess. Der Begriff social death wurde zuerst von Sudnow und Glaser und Strauss in der empirischen Todesforschung der 60er Jahre verwendet. Ihr Vorschlag, den Begriff auf die letzte Phase des physischen Sterbens einzuschränken, in der andere Personen den Sterbenden bereits als tot betrachten und/oder entsprechende Vorkehrungen treffen, die normalerweise nur für Tote gelten, erscheint mir für eine sozialwissenschaftliche Betrachtung zu eingeschränkt (vgl. Schmied 1985; Mulkay/ Ernst 1991; Mulkay 1993). Durch die Institutionalisierung des Hirntodkonzeptes wurde die sozialkonstruktivistische Sichtweise des physischen Todes verstärkt. Ärzte und Ärztinnen versuchen zu vermeiden, dass das Zusammenfallen von Hirntoddiagnose und tatsächlichem physischen Tod sozial sichtbar wird. Lindemann (2001) hat in ihren qualitativen Studien festgestellt, dass Ärzte nach der Hirntoddiagnose den ‚Patienten’ noch kurze Zeit wie einen Lebenden behandeln. Hier wird von Ärzten, die in der Regel die Reflexion über soziales und psychisches Sterben ver-
94 Die Privatisierung beginnt für viele schon vor dem physischen Tod, setzt sich in der möglichst privaten Bestattung (vgl. Schulz Meinen 2009) fort und endet in den evtl. aufgezeichneten postmortalen Vorstellungen des verstorbenen Menschen und seiner Bezugspersonen.
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meiden, soziales Leben (und Sterben) instrumentell für die Lösung eines professionellen Problems eingesetzt. Das soziale Leben (und Sterben) vollzieht sich in Übergangsritualen, in Positions- und Rollenwechseln, in Statusgewinn und -verlust etc. und war in den meisten Kulturen mit dem physischen Tod keineswegs beendet. Im Christentum wie in vielen anderen Religionen wurde der physische Tod ‚überwunden’, es gibt ein postmortales soziales (ewiges) Leben im Himmel und ein postmortales soziales (ewiges) ‚Sterben’ in der Hölle. Soziales Sterben kann durch Degradierung und Exklusion eingeleitet werden, z.B. Verbannung oder Versklavung, es kann aber auch als Auserwähltsein und spirituelle Adelung auftreten. Ein Beispiel: Die radikale Askese, die in verschiedenen Religionen verherrlicht wird, fordert die geistig-soziale Abtötung vor der natürlichen physischen.
Soziales Sterben und Töten in traditionellen Kulturen Hasenfratz (1982) unterscheidet das archaische vom modernen Seinsverständnis, eine Unterscheidung ähnlich der zwischen traditionellen und modernen Kulturen. Im archaischen Seinsverständnis falle der „Persontod“ (soziale Tod) nicht mit dem „biologischen Tod“ (physischen Tod) zusammen. „Menschen können schon zu ihren Lebzeiten ‚Tote’, weil Un-Personen, sein; biologisch Tote können andrerseits noch ‚leben’, weil der persönliche Verkehr mit ihnen vital weiterläuft. Und weil nicht schon und nicht erst tot ist, wer gestorben ist, darum lebt auch nicht schon, wer geboren ist.“ (ebd., 3)
Man könnte Kulturen evtl. danach einteilen, ob sie das soziale Sterben vor oder nach den physischen Tod verlegen (vgl. Lewis 1985, 135 f). In einer traditionellen Kultur, in der der Tod nicht ein natürliches sondern ein soziales Ereignis ist, findet das normale soziale Sterben nach dem in der Regel vorzeitigen, d.h. das soziale Leben brechenden Tod statt. Wenn etwa ein zweites Begräbnis vorgeschrieben ist, so wird das soziale Sterben oft Wochen, Monate oder Jahre über den physischen Tod hinaus verlängert. Die Bezugspersonen verhalten sich dann so, als lebte das Individuum noch weiter unter ihnen. Erst nach dem zweiten Begräbnis ist der soziale Tod eingetreten, d.h. der Tote ist endgültig aus dem Reich der Lebenden in das Reich der Toten übergegangen. In manchen afrikanischen Kulturen wurde der Herrscher nicht abgesetzt, wenn er die notwendigen Funktionen nicht mehr zufriedenstellend erfüllen konn-
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te, sondern er wurde getötet oder er musste sich selbst töten (Huntington/ Metcalf 1979). Soziales Sterben bedeutete in diesen Fällen mit Notwendigkeit auch physisches Sterben. In diesen und ähnlichen Fällen anerkennt die Kultur keinen ‚natürlichen’ Tod, sondern schreibt ein Zusammenfallen von physischem und sozialem Tod vor. Schon in der Sprache kann dies erkennbar sein. Rivers (1926) berichtet, dass die Bewohner der Eddystone Insel die Worte lebendig (toa) und tot (mate) im Vergleich zu den modernen europäischen Sprachen anders voneinander abgrenzten. Mate bedeutete schwerkrank, alt und schwach und auch tot in unserem Sinn. Wurde eine Person als mate klassifiziert, so wurden in der Regel auch die Begräbniszeremonien in Gang gesetzt, auch wenn er/sie noch physisch lebte (gemäß unserer modernen Definition). Sozial induziert ist der Tod, wenn Menschen von mit geheimnisvollen Kräften versehenen Personen verflucht, verhext oder verzaubert werden. Sie sterben, ohne dass äußere Gewalteinwirkung feststellbar ist. In diesen Fällen folgt mit Notwendigkeit der physische Tod dem sozialen. Stumpfe (1986) beschreibt den psychogenen Tod, der durch Selbstaufgabe, Abschalten des Lebenswillens, Anerkennen eines sozialen Sterbebefehls oder von Zauberei eintreten kann. In abgeschwächter Form sind ‚Todes- und Lebensbefehle’ auch in der modernen Gesellschaft wirksam. Der soziale Tod ist manipulierbar, auch lange nach dem physischen Tod eines Individuums. In der Geschichte gibt es genügend Beispiele von Rehabilitationen, von Revisionen des sozialen Todes.95 Auch eine späte viele Jahre nach dem Tod erfolgende soziale Tötung ist möglich. Wenn Statuen oder Bilder von Herrschern, Politikern oder anderen Menschen entfernt oder zerstört werden, sie zu Unpersonen erklärt werden, dann werden sie lange nach ihrem physischen Tod sozial bzw. politisch getötet. In früheren Zeiten wurden in Europa teilweise die Leichen von Verbrechern, Verrätern oder verhassten Personen nach Jahren ausgegraben und schimpflich behandelt. Die Leichen von Cromwell und anderen ‚Verrätern’ wurden 1661 aus der Westminster Abbey entfernt, gehängt und dann unter den Galgen begraben.
95 Dass dies auch noch im 20. Jahrhundert in einem modernen Industriestaat stattfand, berichtet Warner (1959, 297). Aufgestiegene Familien ließen tote Familienmitglieder ausgraben und in einem statushöheren Friedhof begraben.
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Exkurs: Sklaverei Eine besondere und in der Geschichte der Menschheit sehr bedeutsame Form des sozialen Sterbens oder Todes stellt die Sklaverei dar (vgl. Patterson 1982; Hasenfratz 1982). Sklaverei ist nach Patterson eine dauerhafte gewaltsame Beherrschung und Unterdrückung von ihren Primärgruppen (natally) entfremdeten und generell entwürdigten Personen. In der Regel wurde Sklaverei als Substitut oder Äquivalent für den gewaltsamen Tod angesehen. Der Sklave wurde aus seinem ethnischen, verwandtschaftlichen und territorialen Kontext herausgerissen. Dies war eine radikale Form des sozialen Tötens. Nachdem der Sklave aus seinen Bindungen gerissen wurde, musste er in der Sklavenhaltergesellschaft eingeführt werden. Da er sozial tot war, galt er als Nicht-Mensch oder als Sozial-nicht-Geborener. Patterson unterscheidet zwei Formen des sozialen Todes: 1. Modus des Eindringens: Der Sklave wird als der ‚feindliche Fremde im Land’ definiert, der keine Verbindung mit der Kultur, den Werten, Göttern, Ahnen und anderen zentralen sozialen Funktionen und Strukturen besitzt. 2. Modus des Ausstoßens: Der Sklave ist der Ausgestoßene, der Kriminelle, der zentrale Werte und Normen verletzt hat. Er verliert seine kulturellen Rechte, wird sozial für tot erklärt. Patterson weist auf die auch im abendländischen Kulturbereich weite Verbreitung der Sklaverei von der Antike bis zum 19. Jahrhundert. Die Versklavung bezog sich nicht nur auf sogenannte Ungläubige. Auch Christen wurden in Europa von Christen versklavt. Der soziale Tod bewirkte direkt und indirekt eine Verringerung der Lebenserwartung. Allerdings führte dies nur in der Minderheit der Fälle auch zum Aussterben versklavter Populationen. Ein Beispiel bietet „der Untergang der Moriori der Chatham Inseln, die von den Maori 1835 erobert wurden: von den 2000, die sie gewesen waren, wurden sie auf 25 reduziert ... Die Maori sagten: ‚Nicht durch die Zahl derer, die wir selbst getötet haben, sind sie derart zurückgegangen. Sondern, als wir sie zu Sklaven gemacht hatten, haben wir sie sehr oft morgens in ihren Häusern tot gefunden. Der Verstoß gegen ihr eigenes tapu (die Pflicht, Handlungen vorzunehmen, die ihr tapu entweihen würden) hat sie getötet.’“(Mauss 1978, 193 f)
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Dass Versklavung eng mit Todesriten verbunden ist, lässt sich an Beispielen aus verschiedenen Kulturbereichen zeigen. Bei den kannibalistischen Tupinamba in Süd-Amerika wurden Gefangene oft viele Jahre als Sklaven gehalten, bevor sie – in der Regel – gegessen wurden. Bevor sie das Dorf betreten durften, mussten sie sich ihrer Gewänder entledigen und wurden als Tupinamba gekleidet. Dann wurden sie zu Gräbern jüngst Verstorbener geleitet und mussten dort ihre Körper reinigen. Für kurze Zeit wurden ihnen die Waffen und andere Gegenstände dieser Verstorbenen überlassen. Der Grund für diesen Brauch ist in dem Glauben zu finden, dass diese Gegenstände der Toten gefährlich seien und die Gefahr gleichsam auf die Sklaven abgeleitet werde. Da die Sklaven sozial tot sind, konnten sie diese Funktionen der Vermittlung zwischen den Toten (und ihren Besitztümern) und den Lebenden übernehmen. In afrikanischen Kulturen verließ man sich nicht auf das faktische Herausreißen des Sklaven aus seinem sozialen Kontext, sondern durch Rituale musste er aus seinem Verwandtschafts- und Ahnensystem gelöst werden und dem eigenen System – allerdings als Fremder oder Nicht-Person – angeschlossen werden. Bei den Toradja auf Celebes wurde der Sklave in das Haus seines Herrn gebracht und er erhielt ein Mahl, damit sein Lebensgeist beruhigt werde. Dann wurde ein kleiner Korb mit Esswaren über seinem Kopf geschwenkt und schließlich auf den Kopf des Sklaven gesetzt. Der Herr sprach dann folgende Beschwörungsformel: ‚Du ..., wo immer dein Lebensgeist hingegangen sein mag, zu deinen Ahnen, hier ist für dich Reis, den ich dir gebe; iss ihn, so dass er sich auf dir niederlasse und du lange leben mögest.’ Dann kam eine Priesterin und flehte um ein langes Leben für den neuen Sklaven. Der Lebensgeist, die Seele des Sklaven, ist gefährlich, sie verlässt die sozial nichtig gewordene Hülle, sie wird durch das Ritual beruhigt und schließlich in sein neues Schattenleben eingewiesen. Die Verbindung von Tod und Sklaverei spielte auch – freilich in einer eigenartigen paradoxen Wendung – in der Ideologie der weißen Sklavenhalter der amerikanischen Südstaaten eine prominente Rolle. Als zentrales Unterscheidungsmerkmal zwischen Herren und Sklaven wurde die Bereitschaft der weißen Herren angegeben, ihr Leben zu riskieren, wenn ihre Ehre oder andere zentrale Werte angegriffen wurden. Diese Todesbereitschaft wurde den schwarzen Sklaven abgesprochen und dies wurde als Legitimation der Sklaverei angesehen. (Greenberg 1986) Sklaven waren – in einem verblüffend modernem Sinn – häufig vereinzelt, individualisiert, doch dies in einer Gesellschaft mit starker Solidarbindung, in der ein vereinzeltes Wesen nicht als Vollmensch anerkannt wurde. Patterson stellt in diesem Zusammenhang die These auf, dass Freiheit, Emanzipation und Individualisierung gerade durch die Sklaverei im Laufe der Geschichte herausgebildet worden seien. Der Sklave ist danach also eine (notwendige ?) Vorstufe
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des modernen Menschen. Durch die Sklaverei haben Menschen gelernt, (sozial) zu sterben und trotzdem weiterzuleben.
Soziales Sterben in der modernen Gesellschaft In der modernen Gesellschaft existieren verschiedene Formen des Verlustes von Rollen, Positionen, Territorien, Besitz, Informationsquellen und sonstigen sozialen Partizipationschancen, die unter dem Begriff des sozialen Sterbens zusammengefasst werden können. Die mittlere produktive Lebensphase hat sich in der modernen Gesellschaft im Vergleich zu der unproduktiven ersten (Sozialisation und Lernen) und der unproduktiven dritten Phase (Ausscheiden aus dem Beruf) verkürzt. Aufgrund dieser Tatsache und des medizinisch-technischen Fortschritts ist eine in der Geschichte der Menschheit bisher einmalige Phase des langen sozialen Sterbens entstanden. Abbildung 10:
Traditioneller und moderner Lebenslauf
Ein moderner sozialwissenschaftlicher Begriff mit ähnlicher Bedeutung ist Exklusion. Exklusion wird unterschiedlich bestimmt, doch zwei Bestimmungselemente sind im wissenschaftlichen Diskurs immer wieder zu finden:
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Verlust von sozialen Teilhabechancen, Prozess der Desintegration von Personen oder Gruppen (vgl. Kronauer 2002, 44 ff).
Zu unterscheiden ist zwischen einer offiziellen Ausgrenzung oder Exklusion und einer inoffiziellen oder informellen. Offizielle, normativ vorgeschriebene Ausgrenzungen gab es höchstwahrscheinlich in allen Kulturen: sie waren in der Regel gestaffelt, d.h. von milden Formen des zeitweisen partiellen Verlusts an Teilhabechancen bis zu radikalen Formen der Tötung, Versklavung oder Vertreibung.96 In der modernen Gesellschaft treten für viele soziale Verluste auf, die teilweise mit Exklusion verbunden sind. Kamerman (1988) nennt solche soziale Sterbeerfahrungen ‚quasi-death experiences’97: Schulversagen98, Scheidung, Pensionierung, Verwitwung (Williams 1990, 134), Migration, Flucht, Dauerarbeitslosigkeit, Obdachlosigkeit, Unfälle mit bleibenden Schädigungen und ähnliche schwerwiegende Veränderungen im Leben. Soziales Sterben wird frühzeitig eingeübt durch die Schwankungen im Status innerhalb von Gruppen, den Verlust von Rollen, durch Wechsel von Orten und Organisationen und viele andere Erfahrungen von (tatsächlichem oder antizipierten) sozialem Verlust. Doch im Gegensatz zur terminalen Phase ist das soziale Sterben partiell reversibel.99 Tatsächlich können auch schwerwiegende Formen des sozialen Todes partiell rückgängig gemacht werden; ein Beispiel stellt die Entlassung eines Gefängnisinsassen nach vielen Jahren dar. Abbildung 11: Prä- und postmortales soziales Sterben prämortales soziales Sterben Diesseits Arbeitslosigkeit, Gefängnis, Randständigkeit, Isolation, Rollenverlust, Pflegeheim
postmortales soziales Leben und Sterben Diesseits Werk, Erinnerung Jenseits Hölle, Reinkarnation
Soziales Sterben wird zwar primär über Fremdbestimmung definiert, doch die Selbstbestimmung und die Interaktion zwischen Definierenden und Definierten ist mitzuberücksichtigen. Der labeling approach oder Etikettierungsansatz kann zur Erklärung herangezogen werden. Es laufen Fremd- und Selbststigmatisie96
Interessanterweise fehlen in neuen Publikationen zur Exklusion häufig die historischen und interkulturellen Bezüge und Berichte über radikale Formen der Ausgrenzung – eine Art von wissenschaftlicher Todesverdrängung. 97 Elias (1982, 98 f) verwendet den traditionellen Begriff ‚Einsamkeit’, um den Verlust der sozialen Anerkennung und das soziale Sterben zu beschreiben. 98 Im deutschen Schulsystem werden soziale Sterbeerfahrungen durch eine veraltete Struktur (frühzeitige Notengebung, Selektion nach der 4. Klasse, mehrgliedriges System, Sitzenbleiben, Hauptschulabschlussverweigerung etc.) in besonderem Maße gefördert. 99 Auch das physische Sterben wird zunehmend reversibler, man denke an Reanimation und andere medizinische Maßnahmen.
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rungsprozesse ab: man denke an die Karrieren von Alkoholikern, Drogensüchtigen, Alten- und Pflegeheiminsassen. Altern in traditionellen und modernen Gesellschaften In manchen traditionellen Kulturen ist eine positive Sichtweise und Gestaltung des Alters anzutreffen. Thiel (1978) berichtet über Völker in Bantu-Afrika: „Der Ältere steht immer über dem Jüngeren und der absolut Älteste steht an der Spitze der Gruppe ... Der Älteste der Gruppe ... ist das Bindeglied zwischen Diesseits und Jenseits.“(41)
Die (sozial angesehenen!) Alten und die Ahnen (Stammväter), auf denen die Kultur aufbaut, sind also untrennbar verwoben. Allerdings werden teilweise die sehr alten Alten, eine winzige Minderheit in traditionellen Kulturen, abgewertet, da ihr Verfall allzu merkbar ist und sie die religiösen oder sonstigen Funktionen ihrer Altersgruppe nicht mehr zufriedenstellend erfüllen können. Altern wird in diesen Kulturen als Entwicklungszustand im Rahmen einer zyklischen Erneuerung des Kollektivs gesehen, d.h. es steht nicht der Verfall des Organismus wie in einer modernen Gesellschaft im Zentrum. Der ‚negative’ Aspekt dieser Hochschätzung des Alters ist häufig eine Form von Gerontokratie, die aber auch in den säkularisierten Industriestaaten nicht vollständig gebrochen ist. Noch immer sind Führungspositionen überdurchschnittlich stark von älteren Männern besetzt. Für diese kleine Minorität erfolgt der soziale Abstieg im Alter mit starker Verzögerung. Die Vorstellungen und Bewertungen, die sich auf alte Menschen und den Alterungsprozess beziehen, sind wie alle sozialen Tatsachen Wandlungen unterworfen. Einige Autoren haben ab dem Ende des 18. Jahrhunderts „eine zunehmend negative Prägung der Leitbilder und Definitionen des Alters festgestellt“ (Conrad 1982, 85). Der normale alltägliche Alterstod wird von den meisten Überlebenden als rechtzeitig oder sogar überfällig akzeptiert, als selbstverständliches und wünschenswertes Ende eines sozial und psychisch schon weitgehend Gestorbenen dem kollektiven Entsetzen und der individuellen Auflehnung entzogen. Erikson (1973) meint, dass eine Person, die ihre letzte Identitätskrise nicht meistert, ihrem Leben nicht einen befriedigenden Sinn geben kann, in Verzweiflung enden wird – eine säkularisierte christliche Erzählung. Auch Marshall (1986) und viele andere Autoren behaupten, dass Menschen ihre Lebensgeschichte betrachten und das letzte Kapitel ihrer Autobiographie versuchen sorgfältig zu schreiben.
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Die Beschäftigung mit Vergangenem, die oft bei alten Leuten festgestellt wird, hängt wahrscheinlich weniger mit Bemühungen um ‚Evaluation’ und Identitätsfindung zusammen, als mit der Veränderung des Gehirns, dem sozialen Sterben und dem damit verbundenen zunehmenden Desinteresse an neuartigen gegenwärtigen Ereignissen. Dass Menschen an ihrer Biographie und am letzten Kapitel so interessiert sind, ergibt sich aufgrund von Exklusion, Segregation und Marginalisierung. Sie verwalten nur mehr ihre persönliche Vergangenheit, da ihnen ein aktuelles gesellschaftliches Rollenspiel verwehrt wird – abgesehen von der kleinen Gruppe der Gerontokraten. Soziales Sterben als Übergang oder Statuspassage Das soziale Sterben verläuft mit dem physischen und psychischen Sterben im Rahmen unserer Gesellschaft meist nicht synchron.100 Zu einem festgelegten Zeitpunkt, häufig unabhängig von den jeweiligen berufsrelevanten körperlichen und geistigen Abbauprozessen, erfolgt die Pensionierung oder das Ausscheiden aus dem Beruf. Das für den modernen Menschen lange vor dem physischen Ende beginnende soziale Sterben dient einer möglichst konfliktarmen Generationenfolge und der Aufrechterhaltung der Leistungsgesellschaft. Das schrittweise soziale Sterben der (angeblich oder tatsächlich) unproduktiven und weniger nützlichen Mitglieder kann als eine funktional vorteilhafte Art und Weise gedeutet werden, mit der biologischen Tatsache der Endlichkeit ihrer Mitglieder umzugehen. Es ist keineswegs eine Erfindung moderner Industriekulturen, dass Übergangsrituale oder Statuspassagen101, d.h. Formen des sozialen Todes, vor dem physischen Ende erfolgen. Freilich wurden alte Menschen aus den zentralen Institutionen und Organisationen in den meisten traditionellen Kultur nicht so rigide ausgeschieden wie in den modernen Industriestaaten, noch wurden diese sozialen Sterbensrituale so viele Jahre ja teilweise Jahrzehnte vor dem physischen Tod der Individuen durchgeführt.102
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„Somit kann jemand ein Teiltoter oder ein Teillebender sein. Einen Zeitpunkt, zu dem der „ganze Mensch“ stirbt, gibt es folglich nicht.“ (Feldmann 1998d, 98) 101 Kearl (1986) analysiert das soziale Sterben als Statuspassage oder Übergang. 102 „Es ist überdies darauf hinzuweisen, daß der Übergang in den Ruhestand in der traditionellen europäischen Volkskultur nicht vorkam. Ihr Lebenslaufschema bestand nur aus Geburt, bzw. Taufe, Heirat und Tod; das höhere Alter war keine spezielle Lebensphase, die durch entsprechende Übergangsriten oder andere Bräuche abgegrenzt war.“ (Kohli 1987, 401)
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Der Horror des Übergangs Eine gefürchtete Form des Übergangs in ein verschärftes soziales und psychisches Sterben wird in Zukunft weiter zunehmen, der Übergang in ein Alten- oder Pflegeheim. Innerhalb von Alten- und Pflegeheimen kommt es zur Klassenbildung, vor allem zur Unterscheidung der rüstigen und der hinfälligen Insassen (Hockey 1985; Salis Gross 2001). Die hinfälligen Insassen werden einem intensivierten sozialen Sterbeprozess unterworfen, während die rüstigen Personen das soziale Sterben hinauszögern können. „Wichtige Stationen der trajectories sind der Eintritt ins Heim, der Übergang von der Gruppe der Rüstigen zu jener der Abgebauten, die Definition als Todeskandidatin103, das Sterben selbst und ... jener Nullpunkt, in dem die Leiche nur noch eine Sache ist, nicht mehr Person und noch nicht imaginiertes Gegenüber, zu dem sie erst durch den ‚Austritt’ aus dem Altersheim und die weitere Bearbeitung werden kann.“ (Salis Gross 2001, 303)
Walter (1998) meint, dass die Hospizbewegung und die Right-to-die-Bewegung (in Deutschland: Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben) sich gegen den medizinischen Reduktionismus wenden und das Ziel verfolgen, das soziale mit dem physischen Sterben harmonischer zu verbinden. Die Hospizbewegung will durch eine verbesserte Betreuung und Zuwendung das soziale Sterben mit dem ‚natürlichen’ Sterben harmonisieren, während die Vertreter der aktiven Sterbehilfe für Selbstbestimmung und Beschleunigung des physischen Sterbens bei bereits weit fortgeschrittenem sozialem und/ oder psychischem Sterben eintreten (vgl. Streckeisen 2001, 46 ff). Identitätszerstörung und Lernprozess Soziales Sterben kann mit einer Zerstörung der gewohnten sozialen Identität einhergehen. Schwerwiegende Verluste von Partizipationschancen, wie Einweisung in Gefängnisse, Intensivstationen oder andere totale Institutionen, vorzeitiger Verlust der Familienrolle, erzwungene Emigration, plötzliche Arbeitslosigkeit oder unerwartete Berufsunfähigkeit können schockartig und identitätsstö103
„Unter den Bewohnerinnen des Heims bestimmen die Pflegerinnen einzelne Personen, von denen sie annehmen, dass sie als nächste sterben. ... Vorgenommen wird die Bestimmung durch ein Geflecht von Bemerkungen und Beobachtungen.... Auch Handlungen und Unterlassungen derselben tragen zur Definition einer Pensionärin als Todeskandidatin bei, indem sie den anderen im Heim anwesenden Personen den Zustand einer Pensionärin anzeigen.“ (Salis Gross 2001, 286)
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rend wirken, wobei die personale Identität meist mitbetroffen ist und psychosomatische Leiden entstehen. In den Situationen des Entzugs sozialer Stützen und Teilhabechancen kann das Individuum ‚verfallen’ und zu einer ‚Restpersönlichkeit’ retardieren. Zwettler (2001, 175) schreibt über die Bewohner von Altenheimen: „Durch die Isolation, die eingeschränkten Kontakte zur Außenwelt und den Verlust ihrer Individualität sterben sie viele soziale Tode. Was übrig bleibt ist eine institutionell angepasste Hülle ihrer Selbst.“
In totalen Institutionen erfolgt nach Goffman (1974) der ‚civil death’, eine gravierende Form des sozialen Todes: Verlust bzw. Reduktion politischer, ökonomischer und sozialer Funktionen (z.B. der Möglichkeit, über Geld zu verfügen, frei zu interagieren und zu kommunizieren, einen Beruf zu ergreifen).104 Der einzelne wird seiner Privatheit entkleidet. Der Körper des Insassen wird einer öffentlichen Kontrolle unterzogen. Zeit- und Ortseinteilung können nicht mehr von ihm bestimmt werden. Es ist eine Art von Versklavung. Solche Extremfälle von lebenden Toten waren die ‚Muselmänner’, Insassen von Konzentrationslagern, die zwar physisch schon einige Zeit in der totalen Institution überlebt hatten, aber psychisch und sozial (fast) tot waren (Bettelheim 1964). Die Beschreibung der Körpersprache dieser Fatalisten trifft auch auf viele Insassen von Pflegeheimen und Altenstationen von Krankenhäusern zu: schwerfällige Körperbewegungen, Vermeiden von Blickkontakt, Sprachlosigkeit. Zwar sind die konkreten Erfahrungen mit dem Tod von Bezugspersonen im Vergleich zu früheren Zeiten seltener geworden, doch die Erfahrungen mit fremdem und eigenem sozialen Sterben sind häufiger geworden. Der Wechsel zwischen Organisationen, Positionen, Rollen und anderen Formen sozialer Identität hat zugenommen. Folglich haben auch die Erfahrungen mit der Vergänglichkeit von sozialer Identität zugenommen. Dadurch emanzipierte sich das Individuum vom Kollektiv (doch auch das Kollektiv vom Individuum!). Autonomie und Selbstkontrolle, Ich-Stärke und Affektsteuerung, Frustrations- und Ambiguitätstoleranz sind Tugenden dieser erfolgreichen oder auch scheiternden modernen Identitätskünstler.105 Viele Menschen, vor allem Frauen, erleben heute das langsame soziale, psychische und physische Sterben des Lebenspartners. Da vor allem Frauen die 104
Schon im römischen Recht wurde eine entsprechende Rechtsdefinition gegeben, die sich z.B. als Verbannung manifestierte, und im 18. Jahrhundert als „bürgerlicher Tod“ bezeichnet wurde (vgl. Weber 1994, 54 ff). 105 Charmaz (1994) beschreibt Strategien der sozialen Identitätserhaltung von Personen, die chronisch krank oder behindert sind.
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Begleiterinnen der Sterbenden sind, ergibt sich eine Parallelität mit der ebenfalls durch Frauen durchgeführten langjährigen Hilfe bei der ‚sozialen Geburt’. Der Aufbau und der Abbau der sozialen (und personalen) Identität steht somit über viele Jahre hauptsächlich unter der sozialen Kontrolle durch Frauen. Abweichende und prekäre Formen des sozialen Sterbens Eine prekäre Verbindung von physischem und sozialem Sterben wird durch die Unterscheidung zwischen dem ‚nackten Leben’ und der ‚politischen Existenz’ (Agamben 2002) angesprochen. Agamben zeigt, dass durch den Verlust der politischen und sozialen Anerkennung Personen auf das nackte Leben reduziert werden, im Extremfall in Konzentrationslagern. Wenn eine Person verschwindet und unter einem anderen Namen in anderer Umgebung mit anderen Menschen weiterlebt, so ist sie in ihrem ursprünglichen Kontext sozial gestorben. Personen können schon antizipatorisch für sozial tot erklärt werden. Die jüdische Pianistin Alice Sommer wurde im Sommer 1943 mit ihrem Mann und ihrem kleinen Sohn von Prag in das KZ Theresienstadt deportiert. Die Familie sitzt am letzten Abend auf gepackten Koffern in ihrer abgedunkelten Wohnung. „Plötzlich geht die Etagentür auf, und nach und nach treten ‚die lieben tschechischen Nachbarn’ ein. ‚Ohne von uns überhaupt Notiz zu nehmen’, hängen sie die Bilder ab, rollen Teppiche auf, schleppen kleinere Möbelstücke raus. ‚Sie stehlen alles, was nicht niet- und nagelfest’ ist, ‚für die waren wir schon tot’.“ (Der Spiegel 52, 2003, 158)
Personen, die vermisst werden, sterben in der Regel einen langsamen sozialen Tod, unabhängig von ihrem tatsächlichen physischen Tod. Allerdings kann es Personen geben, die diesen sozialen Tod anderer nicht anerkennen, also mit der abwesenden Person ‚kommunizieren’, gleichgültig ob diese Person nun tatsächlich physisch tot ist oder nicht. In diesem Fall kann eine Person – allerdings nur in einer kleinen Nische – sozial ihren physischen Tod ‚überleben’. Wenn ein sozial Toter nach Jahren wieder auftaucht, wie es etwa nach Kriegen vorkommt, so ergeben sich notwendigerweise gravierende Interaktionsprobleme. Seine soziale Stelle, die Positionen und Rollen, die er eingenommen hat, sind besetzt oder aufgegeben. Wenn er nicht auf Personen trifft, z.B. seine Frau oder seine Mutter, die mit ihm – in einer Nische – weiterkommuniziert haben, also eine fiktive Interaktion beibehalten haben, muss er – wie ein Fremder – neu beginnen. 138
Fremdbestimmte soziale Identitätskonstruktion kann auch ein soziales Weiterleben ermöglichen, das aufgrund psychischen und physischen Verfalls sonst kaum mehr möglich wäre. An der Alzheimerschen Krankheit Leidende sterben psychisch, ihr Selbstbewusstsein wird zerstört, doch durch die pflegenden Bezugspersonen wird ein sozial konstruiertes Selbst aufrechterhalten, freilich oft verbunden mit schweren Beziehungsbelastungen für diese Bezugspersonen (vgl. Fontana/ Smith 1989). Diese Kranken sterben psychisch, während ihr soziales Sterben verzögert werden kann.
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Bürokratisierung und Professionalisierung
Das Krankenhaus ist der zentrale Ort zur Reparatur defekter Körper und auch zur endgültigen Aussonderung der nicht mehr brauchbaren Bio-Maschinen geworden. Eine Institutionalisierung des Sterbens auf Massenbasis – verbunden mit Medikalisierung, Ökonomisierung und Verrechtlichung – erfolgte im 20. Jahrhundert, d.h. spezielle Organisationen (Krankenhäuser, Alten- und Pflegeheime) und Experten übernahmen die Normierung und Gestaltung der letzten Lebensphase (Lalive d’Epinay 1996; Streckeisen 2001, 38 ff). Ab der Mitte des 20. Jahrhunderts sterben die meisten Menschen in Industriestaaten in Krankenhäusern, in neuerer Zeit in zunehmendem Maße auch in Alten- und Pflegeheimen. In Deutschland fand seit den 1950er Jahren eine starke Zunahme des Anteils der Personen, die im Krankenhaus sterben, statt, während es seit den 1990er Jahren wieder zu einem leichten Rückgang kam (1954 28 %, derzeit zwischen 50 und 55 %). Doch das Sterben in Organisationen hat sich anteilsmäßig nicht verringert, da Heime ein Wachstumsbereich sind. Wohlstand, Kranken- und Pflegeversicherung, medizinisch-technischer Fortschritt, größere Mobilität, kleinere Familien, Zunahme der Berufstätigkeit und Emanzipation von Frauen sind zentrale Gründe, dass alte oder sterbende Menschen immer seltener zu Hause sterben. Schwerkranke und sterbende Menschen werden aus ihrer Lebenswelt herausgerissen, ins Krankenhaus gebracht, häufig zur Verlängerung des physischen Sterbens, wobei das soziale und psychische Leben und Sterben missachtet und teilweise ungünstig beeinflusst werden (Lebenswelt- und Identitätsstörungen). Durch medizinische Normierung und Institutionalisierung des (physischen) Sterbens erfolgt eine Dekontextualisierung: das Individuum wird isoliert, teilweise wird sogar nur der Zustand von Teilen seines Körpers als Grundlage von Entscheidungen berücksichtigt. Die Dekontextualisierung und partielle Depersonalisierung kann von dem Individuum auch akzeptiert werden. Solche ‚paradoxen’ Phänomene sind aus anderen z.B. religiösen oder militärischen Institutionen bekannt. Der nicht dokumentierte Widerstand ist in den meisten Fällen nicht erfolgreich. Man kann sagen, dass Krankenhaus und Pflegeheim für viele
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Schwerstkranke und Sterbende totale Institutionen sind. Gerade Aussagen wie ‚Bei uns verlangt niemand nach aktiver Sterbehilfe!’ sind Zeichen für die ‚Totalität’. Die meisten Menschen wollen zu Hause sterben, für sie ist ihr Sterben etwas Privates und Intimes. Im Krankenhaus ergibt sich durch das Aufeinanderprallen der Lebenswelten und Wirklichkeitskonstruktionen der Laien und des Personals ein Dilemma: Die Bezugspersonen gehören der Intimsphäre an, und sind somit Fremdkörper im organisatorischen und professionellen Bereich. Die Professionellen sind Fremde und deshalb in der Intimsphäre fehl am Platz. Das für den Betroffenen unerwünschte Sterben im Krankenhaus oder Heim ist für die Gesellschaft, repräsentiert durch die dominanten bürokratischen Organisationen, ein ‚guter Tod’, da es nur geringe sozial-kulturelle Kosten erfordert (die von den finanziellen Kosten getrennt betrachtet werden können). Die sozial-kulturellen Kosten sind höher, wenn man die Sterbenden in Familien oder anderen Primärgruppen belässt, da Mitglieder der betreuenden Familien in ihrem produktiven Handeln und in der Aufrechterhaltung ihres säkularen, modernen Bewusstseins behindert werden. Das Sterben im Krankenhaus oder Heim kann als ein gesellschaftliches ‚Opfer’ gedeutet werden, so wie sich früher junge Männer für das Vaterland im Krieg geopfert haben, und als eine Rückführung ins Kollektiv nach einer ausschweifenden Individualisierung in der Konsumgesellschaft. Die Rekollektivierung wurde vom Jenseits ins Diesseits verlegt, „d.h. in der letzten Phase, die Tage, Wochen, Monate oder Jahre dauern kann, wird ein ‚anderer Zustand’ erzeugt, das psychische System und oft auch das physische sind stark verändert, häufig kaum mehr wiederzuerkennen, doch es wird erwartet, dass die Bezugspersonen sich in dieser ‚anderen Welt’ einrichten, in die Unterwelt hinabsteigen und Totenkultdienste verrichten. Dies ist besonders bei Patienten im Dauerkoma und bei schwerer Demenz der Fall“ (Feldmann 2008a, 181). Das Krankenhauspersonal hat ein zentrales Interesse, die soziale Kontrolle über die Patienten zu erhalten. Goodman (1990) hat in ihrer Dissertation, einer qualitativen Untersuchung des Krankenhauspersonals und der Sozialarbeiter, die sich mit sterbenden Patienten beschäftigen, eine Typologie der Patienten erstellt: der ideale, der routinemäßige und der toxische Patient. Der ideale Patient richtet sich genau nach den Erwartungen des Krankenhauspersonals, ja er übersteigt in positiver Hinsicht die Erwartungen. Der Routinepatient ist der durchschnittliche Patient, im großen und ganzen konform und unauffällig.
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Der toxische Patient gilt als abweichend, schafft Probleme, und/oder stellt die professionelle Autorität in Frage. Mertons Theorie der Anomie wurde zur Analyse herangezogen. Die Ärzte und die Krankenschwestern waren stark frustriert, wenn ihre Heilbehandlungen versagten, dagegen waren die Sozialarbeiter eher bereit, mit den sterbenden Patienten und ihren Familien zu interagieren und waren weniger betroffen, wenn die medizinischen Interventionen nicht erfolgreich waren. Sterbende werden von vielen Ärzten als Zeichen des Fehlschlagens der medizinischen Bemühungen angesehen. Der Sterbende ist abweichend, da er nicht mehr die normale Krankenrolle einnimmt (vgl. Feldmann 1995, 147). Eine interessante Frage lautet: Ist Sterben generell abweichendes Verhalten, eine Diagnose die nicht nur die Minderheitsformen des Suizides, Mordes etc. betrifft? Manche Autoren schließen aus den negativen Reaktionen und Gefühlen der Kontaktpersonen von Sterbenden und aus dem damit zusammenhängenden Vermeidungsverhalten, dass die Frage mit JA zu beantworten ist (Edgley 2003). Abweichende Personen werden entweder auf den Weg der Konformität zurückgeführt, oder – wenn dies für unmöglich gehalten wird – ausgeschlossen, teilweise marginalisiert und sozial getötet. Diese zweite Form trifft für Sterbende zu. Zu diesem Zweck verwenden die behandelnden Ärzte ‚Masken’ (Bowers et al. 1981):
professionelle Sprache Zynismus und andere Formen der mentalen Distanzierung materielle Masken (z.B. Maschinen, Untersuchungsgeräte) Verdinglichung, Objektifizierung (‚der Fall’, ‚die Niere’) Ritualisierung organisatorische Mechanismen (Routinen).
Auch aufgrund der kulturellen Tatsache, dass schwer und chronische Kranke heute oft ‚bis zuletzt’ kurativ behandelt werden, ergibt sich Sterben als abweichendes Verhalten oder abweichender Zustand, bzw. als Scheitern oder Versagen (des Arztes und evtl. auch des Patienten). Beim Sterben im Krankenhaus entstehen bei allen Beteiligten ambivalente Gefühle, Unsicherheit und Vermeidungsverhalten. „Hervorzuheben ist hier die Aufdeckung der Diskrepanz in der Beurteilung des Krankenhauses als Ort des Sterbens. Befragt nach den Kriterien einer guten Sterbebegleitung und deren Gewährleistung auf den Stationen, geben die Pflegenden, in ihrer Rolle als professionell distanzierte Mitarbeiter/-innen eine positive Bewertung für das Krankenhaus ab. Befragt nach der persönlichen Einschätzung des Krankenhauses als Ort des Sterbens wandelt sich die positive Beurteilung in eine klar negative
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Haltung. Für die meisten Pflegenden ist unter diesem Fokus Sterben im Krankenhaus ‚schlimm und schrecklich’.“ (Hoh 2002, 267)
Diese Ambivalenz überträgt sich auf den gesamten Vorgang. Eine Problemlösung heißt dann paradoxerweise: Sterben sollte möglichst vermieden werden! Selbstverständlich kann es als physisches Sterben nicht vermieden werden, doch als Interaktionssituation und als bewusstes Erlebnis kann es durch Medikamente, Informationsverzerrung und sonstige situative Manipulation minimiert werden. Die Abschaffung des Erlebens des eigenen Sterbens wird in Krankenhäusern und Heimen permanent geübt. Dem Patienten wird oft vorgetäuscht, dass durchaus noch etwas zu machen ist, dass er keineswegs aufgegeben ist, dass die allmächtigen Ärzte ihn retten können, oder er wird durch medizinische Eingriffe in ein Stadium der Halbbewusstheit oder der Bewusstlosigkeit versetzt (Sedierung). Dies ist eine Art der Erledigung des physischen und psychischen Sterbens für den Sterbenden. Es wird ihm ‚erspart’. Das Sterben in Organisationen, vor allem im Krankenhaus und Pflegeheim, hat auch in Zukunft Wachstumschancen, obwohl die meisten Personen, wenn sie gefragt werden, antworten, dass sie lieber zu Hause sterben. Wie ist dies zu erklären? Dass die soziale, familienstrukturelle und demographische Entwicklung diese Form des Sterbens nahe legt, ist bereits begründet worden. Doch wie ist die subjektive Seite zu verstehen? Warum stimmen Menschen der – subjektiv unerwünschten – Einweisung ins Krankenhaus zu? Alte kranke Menschen, sozial Sterbende, werden in medikalisierten Diskursen von den statushöheren Ärzten, die über sie entscheiden, als unwissende Laien behandelt und haben kaum Chancen, ihre – labile – Subjektivität überhaupt einzubringen. Kellehear (1984) meint, dass die Position und Rolle des Sterbenden im Vergleich zu früher an Wert verloren hat, dass der Sterbende ein Mensch zweiter Klasse ist, ähnlich Drogenabhängigen, Alkoholikern und Mitgliedern unterprivilegierter sozialer Gruppen. Den Entscheidungen der Ärzte schließen sich die verunsicherten Bezugspersonen, soweit vorhanden oder gefragt, meist an. Die Betroffenen geben sich, auch wenn es sich um sogenannte aussichtlose Fälle handelt, oft der Hoffnung hin, dass durch die moderne medizinische Technologie der Tod hinausgeschoben werden kann. Ein Teil der schwer Kranken oder Sterbenden leistet gegen die Überweisung ins Krankenhaus keinen Widerstand, weil sie der Familie oder den anderen Betreuungspersonen die Anstrengungen und Aufregungen, die mit dem Prozess der Pflege und des Sterbens verbunden sind, ersparen wollen.
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Aufgrund der Ideologie des ‚natürlichen Todes’, der Angst vor der absichtlichen Lebensverkürzung, ökonomischer Interessen und weiterer sozialer und rechtlicher Bedingungen wird heute in Krankenhäusern und Pflegeheimen das Leben vieler mit hohem Aufwand aufrechterhalten und ein langes qualvolles oder depersonalisierendes Sterben produziert106. Streckeisen (2001) hat in ihrer Untersuchung die Ängste des Krankenhauspersonals vor einer lebensverkürzenden Akteursrolle beschrieben (vgl. auch Seymour 2000, 1250). Die häufig zu einem langwierigen Sterben führenden Tumorerkrankungen werden von vielen Ärzten im Dienste des instrumentellen Aktivismus und der professionellen Karriere auch in Endstadien kurativ angegangen. Die wesentliche Bestimmung des gewaltsamen Todes besteht darin, dass das Sterben fremdbestimmt ist und Wünsche, Gefühle und Intentionen der betroffenen Person missachtet werden. Diese Definition trifft auf das Sterben in Krankenhäusern teilweise zu. Manchmal erinnert dieses Sterben an die Strafverschärfung früherer Jahrhunderte oder auch an moderne Menschenschindung, d.h. die Opfer werden nicht schnell getötetet, sondern langsam über Tage oder Wochen zu Tode gefoltert.107 Auch die Bezugspersonen können durch die Art des Sterbens im Krankenhaus geschockt oder verstört werden. Damit wird der soziale Zusammenhang, in dem die Toten eingebettet sind, geschädigt, was Rückwirkungen auf die Antizipationen der Lebenden hat, wenn sie ihren eigenen Tod bedenken. Solche Kontext- und Prozessüberlegungen werden in Krankenhäusern und Pflegeheimen vernachlässigt. Das vorherrschende medizinische Modell erweist sich als reduktionistisch, es missachtet die Komplexität des physischen, psychischen und sozialen Sterbens. Eine zentrale Frage lautet: Wer entscheidet, wann und wie ein Individuum stirbt? Nimmt man die demokratischen Werte ernst, dann müssten die Individuen zunehmend selbst steuern bzw. die Kompetenz und die Macht erhalten, zu entscheiden, in welchem Ausmaß und in welcher Weise Fremdsteuerung ihren Sterbeprozess gestalten soll. Patientenverfügungen sind Instrumente zur Stärkung des selbstbestimmten Sterbens. „In den Patientenverfügungen schaffen Menschen selbst Dokumente, die sich auf ihre persönliche ars moriendi richten. Allerdings werden sie gezwungen, die Dokumente in medizinischen und juristischen Denk- und Sprachspielen abzufassen“ (Feldmann 2010d). Schneider 106
Empirische Forschung wird vermieden. Eine australische Untersuchung weist auf die Defizite hin (McNamara/ Rosenwax 2007). 107 Eine Humanisierung der „Folter“ erfolgt heute durch eine verbesserte Schmerztherapie.
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(2007) weist darauf hin, dass das Instrument Patientenverfügung auch den Planungsdruck erhöhen kann. „Das eigene Sterben, der eigene Tod ist zu Lebzeiten im Hinblick auf seine gesellschaftliche Verpflichtung, auf seine Bedeutung für die soziale Gemeinschaft, der man angehört …, zu befragen“ (ebd., 217).
Professionalisierung und staatliches Todesmonopol Eine Profession ist eine Gruppe von Personen, die ein wichtiges Territorium sozialer Funktionen oder Tätigkeiten erobert hat und dieses mehr oder minder monopolisiert. Der Zugang zu dem Beruf ist mit Hürden versehen und wird von den Mitgliedern der Profession kontrolliert. Außerdem hat diese Gruppe ein eigenes Wert-, Normen- und Wissenssystem, das sie verwaltet und zur Legitimation ihrer Privilegien nutzt (vgl. Feldmann 2006, 215 ff). Der Konkurrenzkampf professioneller Gruppen um die Kontrolle von menschlichen Schlüsselsituationen, wie Geburt und Tod, lässt sich in verschiedenen Kulturen und Zeiten feststellen. Diese Gruppen versuchen, die jeweiligen Rituale und Ideologien, welche ihre Macht und Reputation fördern, zu verstärken und alternative, konkurrierende Gruppen und Weltanschauungen zu unterdrücken. Ein Beispiel erwähnt Max Weber (1988). Die Jahwepriester der Juden wurden vor allem durch das mächtige und in die Nachbarregionen ausstrahlende Ägypten bedroht und legten deshalb auf Abgrenzung großen Wert; sie verabscheuten einen Totenkult. „Das ganze Gebiet des Totenreichs und des Schicksals der Seele blieb der offiziellen priesterlichen und prophetischen Religion unheimlich ... Jahwe hat eben, so viel bekannt, nie und nirgends Züge eines chthonischen Gottes an sich getragen.“(III, 157f)
In der Regel war der Tod mit dem Bereich Religion gekoppelt. Doch die gesellschaftlichen Umwälzungen in Europa, Aufklärung, Industrialisierung, Modernisierung, Säkularisierung und Verwissenschaftlichung, führten zu einer Revolution in diesem Bereich, zur Verdrängung der Priester vom Sterbebett und zur Dominanz der medizinischen Profession. In dem Artikel über „Euthanasie“ aus der „Allgemeinen Encyclopädie der Wissenschaften und Künste“, die ab 1818 über Jahrzehnte in vielen Bänden erschien, ist dieser – zu dieser Zeit in Teilen Europas bereits entschiedene Kampf – sehr gut erkennbar: „Was den Zutritt von Geistlichen zum Sterbebette und deren religiöse Tröstungen betrifft, so finden die Ärzte meistens Veranlassung, sich über ein Zudrängen der Geistlichen zu beklagen und über nachtheilige Einflüsse, welche daraus hervorge-
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hen. So lange der Arzt nach seiner wissenschaftlichen Überzeugung es nur mit einem Erkrankten zu thun hat, mag er sich durch geeignete Vorstellungen über den möglichen Nachteil aussprechen, welchen die moralische und geistige Aufregung durch den geistigen Zuspruch auf den Verlauf der Krankheit haben kann; sein Standpunkt als Heilkünstler macht es ihm wohl selbst zur Pflicht, sich zu opponieren. Erkennt er aber in dem Patienten nur noch den Sterbenden an, dann muß er wol den Angehörigen und dem Sterbenden volle Freiheit lassen, in dieser Beziehung ihrer religiösen Überzeugung gemäß zu handeln ... Das aber darf er verlangen, daß nicht ohne sein Wissen, vielleicht auf den ganz unvorbereiteten Kranken, mit solchen Dingen eingestürmt werde.“
Der Arzt hat die professionelle Führung übernommen und der Geistliche – und selbstverständlich der Sterbende und die Bezugspersonen – haben sich ihm unterzuordnen. Der Arzt als gesellschaftlich und staatlich autorisierte Überwachungsperson übernimmt die Verantwortung für das Sterben und für den Sterbenden. Die Kontrolle wird als Hilfe für den Sterbenden definiert – und wird von diesem wahrscheinlich in den meisten Fällen akzeptiert. Doch gleichzeitig werden andere mögliche Bezugspersonen und Helfer ‚ausgesperrt’ und als inkompetent abgewertet. Statt die Machtübernahme nüchtern zu beschreiben, rücken Parsons, Fox und Lidz (1973) die „kulturelle Symbolisierung“, vor allem die christliche Mythologie, ins Zentrum ihrer Argumentation. Das medizinische Modell, das die Gestaltung des Sterbens in unserer Gesellschaft beherrscht, ist nach Parsons, Fox und Lidz von der christlichen Mythologie des Geschenktausches zwischen Gott und Mensch geprägt. Wie Gott dem Menschen das Leben und auch den Tod gegeben hat und Christus sein Blut und sein Leben für die Menschen geopfert hat, so ‚schenkt’ der Arzt bei erfolgreicher Behandlung dem Patienten das Leben. Der Arzt ist bei den entscheidenden Lebensübergängen beteiligt: Geburt, Eintritt in die Schule, Schwangerschaft, Menopause, Tod. Die Autoren wollen die Legitimationsgrundlagen der Medizin in der modernen Gesellschaft damit erklären, vernachlässigen jedoch die Komponenten der Macht, die Kämpfe um die Monopolisierung von Funktionen und Bereichen und die Eigendynamik der Professionalisierung und ihrer Organisationen. Der Arzt ist der privilegierte und mächtige Todespriester des modernen Staates. Die Rolle des Staates bzw. des politischen Systems im Todesspiel sollte folglich untersucht werden. Tod und Gewalt waren und sind in den meisten Kulturen verflochtene Konzepte. So ist es nicht verwunderlich, dass der moderne Staat nicht nur das Gewaltmonopol sondern auch das Todesmonopol anstrebt. Der moderne Staat hat das Erbe der traditionellen normativen Herrschaft angetreten, die in allen Kulturen immer auch von Religionen mitbestimmt wurde und wird. 146
Der moderne Staat hat über die Gestaltung des Erziehungs- und Ausbildungssystems im 18., 19. und 20. Jahrhundert Elitegruppen (Juristen, Ärzte, aber auch Vertreter anderer Wissenschaftsdisziplinen) herangezogen, die die veralteten Strukturen, z.B. Totenkulte und Aberglauben, marginalisierten und modernisierten. Damit soll nicht gesagt werden, dass diese Gruppen die Hauptursache für die Veränderung der Totenkulte und Todesbilder darstellten, da sie selbst ja im Rahmen einer sich wandelnden Kultur geformt wurden. Doch sie waren auf jeden Fall für die Legitimation dieses Wandels zuständig. Vor allem bekamen sie Kontrollautorität übertragen. Diese These lässt sich durch die Leichenkontrolle gut bestätigen. Den früher zuständigen Instanzen wurde die Betreuung und Bearbeitung der Leiche entzogen. Als Rechtfertigung diente u.a. die Möglichkeit, dass der Tote nur scheintot sein könnte. In der „Allgemeinen Encyclopädie“ (1818 ff) unter dem Stichwort „Euthanasie“ werden deshalb folgende Vorschriften genannt: „Das Wehklagen neben der Leiche, Gespräche über ihre Beerdigung sollen unterbleiben; zuverlässige Personen sollen sie bewachen oder doch zwischendurch nach ihr sehen.“ Doch auch nach dem Abtransport der Leiche ist der Arzt Beherrscher der Situation. Er hat den Trauerprozess zu überwachen. „Sobald es die Umstände nur irgend erlauben und Veranlassung dazu vorhanden ist, mag der Arzt zur Beruhigung der Angehörigen es aussprechen, daß von ihrer Seite nicht verfehlt worden sei; auch mag er aus der etwa vorgenommenen Section erlaubte Trostgründe für dieselben entlehnen.“ Es folgen dann noch Anweisungen, die ansteckende Krankheiten und Krankheitszustände infolge der Trauer betreffen.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verstärkte sich die Differenzierung der Gesellschaft. Geburt und Tod, wie alle körperlichen Ereignisse, wurden immer stärker von Spezialisten verwaltet. Doch der wissenschaftliche und technische Fortschritt führte nicht nur zur Abhängigkeit gebärender, kranker oder sterbender Menschen von Medizinern und anderen Professionellen, sondern eröffnete auch Selbstbestimmungschancen. Empfängnisverhütungsmittel, Schmerzmittel und andere Pharmaka ermöglichen die Selbstkontrolle des eigenen Körper. Diese Tendenz ist ungebrochen und wird auch die Manipulation von Sterben und Tod betreffen. Freilich stehen Selbstund Fremdsteuerung in wechselseitiger Beziehung und die Grenzen werden ständig überschritten und verändert. Der leichtere Zugang zu Kontrollmitteln garantiert keineswegs Unabhängigkeit, da der meist latente Konflikt zwischen
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der Autorität der Professionellen und der Selbstbestimmung der Klienten derzeit in der Mehrzahl der Fälle mit einem Sieg der Professionellen endet.108 Man kann die historische Entwicklung der Professionalisierung von Sterben und Tod grob in drei Phasen einteilen: 1.
2. 3.
Schwach kontrollierte Phase: Geburt und Tod, etwa an den Problemereignissen Abtreibung und Euthanasie gemessen, werden den einzelnen, bzw. lokalen Gruppen überlassen. Professionalisierung und Bürokratisierung: Geburt und Tod werden in zunehmendem Maße vor allem von Medizinern kontrolliert. Konflikt zwischen bürokratischer Fremdkontrolle und Selbstkontrolle.
Ist nicht jede Art von Professionalisierung ein Hindernis für die ‚Emanzipation der Sterbenden und Trauernden’? „Das Sterben wurde an berufsmäßige Spezialisten delegiert, dabei medikalisiert und schließlich dem Laien ganz enteignet.“ (Ridder 1983, 111). Gab es eine Zeit, in der die Laien das Sterben selbst ‚besessen’ haben? Immer handelte es sich um ein kollektiv geformtes Ereignis, das dem Individuum in seiner Gestaltung weitgehend vorgeschrieben war. Gerade in traditionellen Kulturen war dies der Fall. Hahn (1968, 78) vermutet, dass durch die Spezialisierung und Entlastung der meisten Menschen von den Aufgaben der Versorgung der Sterbenden und der Toten „der gesamte Komplex von Sterben, Tod und Bestattung dem Bewußtsein der Gesamtgesellschaft entzogen wird“ (82). Auch Gronemeyers (1985) Ablehnung der „professionellen Sterbeverwaltung“ ist von solchen Annahmen geleitet. Gronemeyer behauptet, dass die heutige Lebensgestaltung antiemanzipatorische Züge trägt, er spricht von einer „Verschulung des Lebens“ und meint, daraus würde bei entsprechender konsequenter Fortführung auch eine „Orthothanasie“, eine „Sterilisierung des Todes“, folgen. Von Ferber (1986) spricht von einem „Auseinanderfallen“ der Deutungen der Professionellen und der vom Tod Betroffenen, er behauptet, dass das Dienstleistungsgewerbe in diesem Bereich den „überkommenen sozialen Deutungen die Grundlage entzieht“ und professionelle Deutungen an deren Stelle treten. Seine Wertung ist eindeutig und massiv: „Die Betroffenen ... sehen sich professionellen Deutungen gegenüber, die ihnen letztlich nicht weiterhelfen können. Sie müssen sich angesichts der Sterbe- und To-
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Allerdings diagnostiziert Seale (2002b, 185) einen Verfall der medizinischen Expertenautorität – in den Medien.
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deserfahrungen zu neuen Gemeinschaften zusammenschließen, um ein ihnen hilfreiches Orientierungswissen zu schöpfen, auszuformulieren und zu tradieren.“(266)
Im Rahmen der Hospizbewegung entstanden solche ‚neuen Gemeinschaften’, doch auch im medizinischen System kam es zu Innovationen, z.B. in Palliativstationen. Kellehear (2007b) schlägt „compassionate cities“ vor, Modelle der Gemeinschaftsentwicklung und der Verbesserung der Teilhabechancen, neue Lebenswelten, die durch die bisherige rechtliche, medizinische, palliative und pflegewissenschaftliche Institutionalisierung zu wenig gefördert werden. Selbstbestimmung oder Fremdbestimmung Ein-Personen-Haushalte, vor allem die Anzahl alter alleinlebender Menschen, haben zugenommen. Diese Personen schätzen ihre Unabhängigkeit und ihr Selbstmanagement im Haushalt. Sie verteidigen diese Unabhängigkeit, wenn sie gefährdet ist, z.B. machen sie sich ‚unsichtbar’, damit Nachbarn und andere Personen nicht merken, dass es bei ihnen nicht mehr ‚klappt’ (vgl. Seale 1998, 156). „Howarth (2007a, 181 ff) nennt ein Kapitel „body in crisis“, im Zentrum stehen der drohende Verlust des Selbstbewusstseins und Ängste, in einem defizitären Körper gefangen zu sein (Turner 1996) oder dement zu werden“ (Feldmann 2010a). Demenz, Dauerkoma und Dahinsiechen im Heim sind schwerwiegende und gefürchtete Formen des psychischen und sozialen Sterbens, verbunden mit gravierender Persönlichkeitsveränderung, Verlust von Anerkennung, zunehmender Unfähigkeit zur Kommunikation und psychophysischer Einkerkerung (Sweeting/ Gilhooly 1997). Bei vielen Menschen kommt es zu einer Schrumpfung der Chancen zur Selbstbestimmung und -verwirklichung im Alter (prämortales soziales Sterben): Arbeitsplatzverlust, Rollenverlust (Familie, Freunde, Freizeit), Ausgrenzung aus dem Zentrum der Gesellschaft, Überweisung ins Heim als sozialer und oft auch personaler Identität mehr oder minder entkleideter Klient (Goffman 1974). Die prinzipielle Problematik, fremdbestimmt ‚gelebt’ zu werden, wird selten thematisiert. Personen, die sich offen zum Suizid bei drohendem Identitätsverlust bekennen, werden als krank und abweichend stigmatisiert und teilweise zwangsbehandelt. In einer kritischen Stellungnahme zum Umgang mit dem Tod in österreichischen Altenheimen diagnostiziert Zwettler (2001), dass nach wie vor häufig Nichtthematisierung, Abschieben, mangelhafte Betreuung von Sterbenden und Kommunikationsarmut vorherrschen, obwohl es einzelne Heime gibt, in denen ein hospizähnlicher betreuungsintensiver Umgang praktiziert wird.
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In zunehmendem Maße versuchen Menschen im Zustand der Gesundheit und der hoch entwickelten Identität die Bedingungen des eigenen Sterbens festzulegen (Patientenverfügung). Jedoch garantieren solche Festlegungen nach derzeitiger Praxis in Krankenhäusern nicht ein den Wünschen der betroffenen Person entsprechendes Verhalten des Personals. Das Ausgeliefertsein des Sterbenden an die verantwortlichen Betreuer und vor allem die disziplinierende Funktion der Antizipation dieser extremen Abhängigkeit wird durch das Brauchtum in Krankenhäusern und Heimen begünstigt. Freilich kann das Ausgeliefertsein an bürokratische Regelungen auch als eine Entlastung empfunden werden, die von einem Teil der Sterbenden (gemäß ihrer bisherigen Sozialisation!) gewünscht wird. So paradox es klingt: Individualisierung zeigt sich auch dann, wenn das Individuum bewusst auf Selbstkontrolle verzichtet und sich der Fremdkontrolle überantwortet – faktisch verfügen viele derzeit allerdings kaum über praktikable Alternativen der Selbstkontrolle. Um die Lage im Interesse der Klienten zu verbessern, wären rechtliche Schutzmaßnahmen, die Einrichtung von Beratungsstellen, eine regelmäßige und transparente Evaluation von Krankenhäusern, Alten- und Pflegeheimen und vor allem eine bessere Aufklärung, die dann zu einer sich steigernden Nachfrage auf einem neuen Markt des alternativen Sterbens führen könnte, erforderlich.
Hospizbewegung Die Rolle des Sterbenden ist nicht begehrt, sie und auch ihre Definition und Festlegung werden vermieden, und zwar nicht nur von den direkt Betroffenen, sondern auch von Ärzten und Krankenpflegepersonal. Dominant ist die Krankenrolle, die häufig die Sterberolle marginalisiert und in eine so genannte kurze terminale Phase abdrängt. Die Krankenrolle wird krampfhaft aufrecht erhalten, auch wenn ihre ursprüngliche Funktion der Rückführung in das normale Leben nicht mehr greift. Es gibt verschiedene Weisen, die Sterberolle zu vermeiden, z.B. durch forcierte medizinische Behandlung oder durch Medikamente, die das Bewusstsein des Patienten lahm legen. Diese und ähnliche strukturelle Probleme haben Widerstand und alternative Initiativen hervorgerufen. Zwischen dem privatisierten Sterben zu Hause und dem bürokratisierten Sterben im Krankenhaus wurde eine neue Institution entwickelt, die sich zuerst vor allem in den angelsächsischen Ländern ausgebreitet hat: das Hospiz (vgl. Stoddard 1987; Student 1993; Seale 1998). Als Entstehungsdatum des modernen Hospizes gilt das Jahr 1967, in dem Cicely Saunders St.
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Christopher‘s Hospice in Sydenham, London, eröffnete. In diesen Organisationen wird im Gegensatz zum Krankenhaus der Sterbende intensiv persönlich betreut (care) und die medizinisch-technische Behandlung (cure) zurückgestellt. Interdisziplinäre Teams (Brechung des medizinischen Monopols!) stellen die Befriedigung der Bedürfnisse der Sterbenden und ihrer Bezugspersonen ins Zentrum ihrer Bemühungen, nicht eine unpersönliche medizinische Therapie (Christian-Widmaier 1984, 209 ff). Die zehn Grundprinzipien eines Hospizes nach Student (1987) sind: 1.
Der Patient wird nicht isoliert oder gar als Körperteil, sondern in Zusammenhang mit seinen Angehörigen und Bezugspersonen gesehen. 2. Die Fürsorge erfolgt durch ein interdisziplinäres Team. 3. Die wichtigen Dienstleistungen müssen, wenn sie gefordert sind, immer zur Verfügung stehen. 4. Eine zentrale Aufgabe ist die Schmerzbekämpfung. 5. Freiwillige Helfer, also Laien, sind im Team vertreten. 6. Es wird versucht, Patienten unabhängig von der Kostenregelung aufzunehmen. 7. Die Betreuung endet nicht mit dem Tod des Patienten, sondern bezieht sich auch auf die Trauernden. 8. Ärzte oder Ärztinnen sind unverzichtbar, sind jedoch Teil des Teams und haben damit nicht die dominierende Rolle wie im Krankenhaus. 9. Die Kooperation mit Hausärzten, Kliniken und ambulanten Pflegediensten ist erwünscht. 10. Die Hauspflege und das Sterben in der gewohnten Umgebung wird in vielen Fällen durch stationäre Rückendeckung ermöglicht. Die Hospizbewegung hat sich verbreitet, weil die Unzufriedenheit mit dem Sterben im Krankenhaus zugenommen hat (funktionalistische Betrachtung). Konflikttheoretisch analysiert hat die Hospizbewegung Klienten vom medizinischen System abgeworben. Sie bietet andere Formen der symbolischen Interaktion an, statt Therapie eine ganzheitliche Betreuung, nicht nur der Sterbenden sondern auch der Angehörigen. Das medizinische System hat auf die Hospizbewegung durch Reformen reagiert, wobei die Palliativmedizin als eigene Institution entstanden ist. In Hospizen wurden bisher hauptsächlich Tumorkranke aufgenommen. Da ein bewusstes Sterben angestrebt wird, sind Kranke mit stark herabgesetzten Bewusstseinskompetenzen für diese Institution eher ‚ungeeignet’. Das Ziel der Gesundung wird im Hospiz ersetzt durch die Ziele der Schmerzlinderung und der persönlichen Entfaltung in der terminalen Phase. In viel stärkerem Maße, als dies
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im Krankenhaus möglich ist, wird auf die Wünsche der sterbenden Person eingegangen, wobei es eine eindeutige Grenze gibt: Wünsche nach aktiver Sterbehilfe oder Beihilfe zum Suizid werden kategorisch abgelehnt. Die Hospizbewegung ist auch als Versuch zu interpretieren, das soziale Sterben, das in der modernen Gesellschaft schon lange vor dem physischen Sterben einsetzt, aufzuhalten oder sogar ‚umzukehren’, so dass physischer und sozialer Tod zeitlich zusammenfallen.109 Außerdem können Hospize auch als Kompensationsinstitutionen für die ‚rituelle Leere’ am Ende des modernen Lebens angesehen werden, als Versuche, die in traditionellen Kulturen vorhandenen rites des passage (Übergangsrituale) in eine zeitgemäße Form zu bringen (vgl. Seale 1998, 118 f). Nach Field und Johnson (1993) sind die freiwilligen Helfer hauptsächlich durch folgende Merkmale gekennzeichnet:
religiöse Menschen, Frauen mittleren und höheren Lebensalters (hptsl. aus der Mittel- und Oberschicht), Personen mit Todes- bzw. Trauererfahrungen.
Verschiedene organisatorische Formen werden in der Hospizbewegung erprobt: 1. 2. 3. 4.
Eigene von Krankenhäusern getrennte Organisationen und Gebäude, Hospiz oder Palliativstation als Unterabteilung eines Krankenhauses, Hospizteams, also Spezialisten für die Betreuung von Sterbenden, die als mobile Einheit an verschiedenen Orten eingesetzt werden können, Betreuungspersonen für Sterbende, die in ihrer Wohnung bleiben wollen.
Wenn das Hospiz als mobiles Team arbeitet, d.h. verhindert, dass Sterbende ins Krankenhaus gebracht bzw. dort belassen werden, sie also zu Hause betreut oder in Kleingruppen unterbringt, dann trägt diese neue Institution zur Integration der Sterbenden in Familien und anderen Gemeinschaften bei. Ein Vergleich von USamerikanischen Hospizen und Krankenhäusern in den 80er Jahren erbrachte folgende Ergebnisse: 1.
109
Patienten in Hospizen wurden weniger aggressiven Diagnose- und Therapiemethoden unterworfen.
Walter (1999, 50) vermutet, dass Hospiz- und Euthanasiebewegungen darin übereinstimmen, dass das soziale Sterben möglichst mit dem physischen Sterben zeitlich zusammenfallen soll.
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2. 3. 4. 5. 6.
Die Patienten der Hospize waren mit der Behandlung zufriedener als die Patienten der Krankenhäuser. Einiges deutet darauf hin, dass die Schmerzkontrolle in den Hospizen etwas erfolgreicher durchgeführt wurde als in den Krankenhäusern. Die Familienangehörigen waren in den Fällen, in denen die sterbende Person von Teams zu Hause betreut wurde, am zufriedensten. Die Kosten waren in den Fällen, in denen die Sterbenden von Hospizteams zu Hause betreut wurden, geringer als bei der Betreuung in Krankenhäusern. Es wurden allerdings keine Unterschiede in den Auswirkungen auf die Bezugspersonen nach dem Tod des Patienten festgestellt (physische, psychische und soziale Störungen). (Schulz/ Schlarb 1987-88, 307; vgl. zur Evaluation von Hospizen auch Seale 1998, 115 ff)
In Hospizen kann man die Dialektik von Selbst- und Fremdbestimmung studieren. Einerseits ist meist eine weitgehendere individuelle Bedürfnisbefriedigung als in Krankenhäusern oder Pflegeheimen möglich, andererseits stehen die Sterbenden unter intensiver kommunikativer Kontrolle. Das Sterben wird zwar weniger technologisch und bürokratisch als im Krankenhaus oder Heim, aber dafür mehr kommunikativ gesteuert. Es wird mehr antizipatorische Trauerarbeit von den Sterbenden und den Bezugspersonen in Hospizen gefordert als in Krankenhäusern (Seale 1998, 118). Hayek (2006) schreibt der Hospizbewegung idealtypisch zu, dass sie Teil eines reflexiven Modernisierungsprozesses ist, gesellschaftliche Verhältnisse und sich selbst problematisiert. Allerdings treten die Hospizgruppen nach außen, d.h. vor allem über Medien, wie normale Organisationen auf, betreiben Werbung, Abgrenzung und Lobbyarbeit. Selbstreflexion und -problematisierung wird nur instrumentell eingesetzt. Doch entscheidender ist: Das tatsächliche Sterben in Hospizen ist für die meisten Menschen ebenso ein Black-Box-Phänomen wie das Sterben in Krankenhäusern und Heimen, d.h. die Vorstellungen haben Vorurteilscharakter.
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Der gute Tod, Euthanasie und Sterbehilfe
Der gute Tod Sein Leben für die Erhaltung der Gemeinschaft zu opfern, galt in allen Kulturen als hochwertig. Kalos thanatos war im klassischen Griechenland in der Regel der Tod eines jungen Kriegers in der Schlacht. In traditionellen Kulturen gab es teilweise rigide Regeln für das rechtzeitige Sterben: z.B. dass der Herrscher nach dem Verlust seiner Herrschaft getötet wird oder Suizid begehen muss (Huntington/Metcalf 1979). In Erzählungen aus der viktorianischen Zeit in England wird der Tod tugendhafter, unschuldiger Personen, meist von Kindern oder jungen Frauen, verherrlicht. Dies fand in einer Zeit statt, in der dieser Tod (vor allem im Bürgertum und den oberen Schichten) faktisch bereits seltener geworden war. In allen bekannten Kulturen wurden Normen für den guten und den schlechten Tod aufgestellt und Kontrollmechanismen installiert. Vollzog sich der Tod unkontrolliert, dann galt er als schlecht (vgl. Bloch/Parry 1982, 15). Auch in der modernen Gesellschaft gibt es Normierungen für das gute Sterben. Eine Reihe von internationalen Untersuchungen in reichen Ländern erbringt wenig erstaunliche Ergebnisse über die Wünsche der meisten Menschen bezüglich ihres Sterbens: 1. 2. 3. 4. 5.
110
in hohem Alter, inzwischen liegt bei vielen die Erwartung bei 80 Jahren, zu Hause110, schnell und schmerzlos111, von Bezugspersonen betreut, ‚in Würde’112.
„Im Unterschied zu den Niederlanden sterben in Deutschland immer weniger Sterbende (gegenwärtig nur noch ein Viertel) zu Hause.“ (Birnbacher 2004, 7) 111 Emnid-Umfrage 2001; Hahn/ Hoffmann 2009, 142; Wittkowski und Schröder 2008, 3 ff. 112 Dies bedeutet für viele: Kontrolle über den eigenen Körper und über das Bewusstsein (vgl. Hahn/ Hoffmann 2009, 142).
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Kellehear (1990a) befragte in Australien schwerkranke Personen mit geringer Lebenserwartung und ihre Angehörigen, um den Verlauf eines normalen guten Sterbens zu erfassen. 1. 2.
3.
4. 5.
Vorausgesetzt ist ein Erkennen und Anerkennen des Sterbens durch den Sterbenden selbst. Das Sterbebewusstsein kann zu einer Veränderung der Einstellungen und Verhaltensweisen der betroffenen Person führen. Sie versucht soziale Anpassungen und Vorbereitungen auf den Tod durchzuführen. Hierbei ist entscheidend, wie die Bezugspersonen und auch die professionellen Agenten mit dem Sterben dieser Person umgehen. Wenn eine offene Kommunikation vorhanden ist (vgl. Glaser/ Strauss 1974), dann werden Vorbereitungen auf den Tod erleichtert. Die Berufsrolle oder auch andere zentrale Leistungsrollen werden verändert, bzw. abgelegt. Es wird eine Abschiedsphase eingeplant und auch – soweit möglich – durchgeführt.
Bradbury (1999, 146 ff) konstruierte drei Typen des guten Todes: 1. 2.
3.
Der heilige oder spirituelle Tod: christliche oder andere religiöse Vorstellungen werden zur Bestimmung verwendet; Der medizinische gute Tod: die Angehörigen und/oder die sterbende Person (und das medizinische Personal) sind mit dem medizinisch gesteuerten Sterben zufrieden, wobei ein zentraler Aspekt die Schmerzkontrolle ist; Der natürliche gute Tod: Bradbury konnte in ihren Interviews eine Vielfalt von Vorstellungen über natürliches Sterben feststellen; der natürliche Tod wird meist vom medizinisch-technologischen abgegrenzt, d.h. ‚natürlich’ sterben Personen, wenn das medizinische System keine Eingriffschancen hat (plötzlicher Tod) oder die Natürlichkeit durch bewusste Abstinenz gegenüber den medizinischen Behandlungen aktiv hergestellt wird.
„Das eigene selbstbestimmte Sterben findet inzwischen stärkere rechtliche und organisatorische Anerkennung. Dies zeigt sich auch in der Thanatosoziologie, indem ähnlich wie in der Soziologie des Alters eine Wendung von einer eher passiven und negativen Sicht des Sterbens (Verdrängung, Angst) zu Aktivierung stattfand“ (Feldmann 2010b).
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Abbildung 12: Todestypologien institutionell kollektivistisch
Institution/ ‚Gestalt’ Religion Politik (Vaterland, Bewegung, Partei etc.) Medizin
individualistisch anti-institutionell
Gemeinschaft (z.B. Hospiz)113 radikale Individualisierung114
ungesellschaftlich
‚Natur’
Todestypen der heilige Tod der traditionelle heroische Tod der medizinisch korrekte Tod der gute Tod der eigene Tod/ der moderne heroische Tod115 der natürliche Tod
Obwohl repräsentative Studien über das ‚gute Sterben’ in Deutschland oder vergleichbaren Staaten nicht vorhanden sind, soll der Versuch gewagt werden, entsprechende gesellschaftliche Normierungen zu benennen:
113
Zentral für moderne normative Todeskonzeptionen ist die Vorstellung vom idealen Lebenslauf. Je nach dem Grad der Vollendung dieses Lebenslaufes wird auch der Tod in seiner Güte bestimmt. Der gute Tod findet heute in hohem Alter und unter medizinischer Überwachung statt. Wer dem medizinischen System ausweicht und sich nicht behandeln lässt oder gar Suizid begeht, wird als abweichend angesehen. Religiöse Vorbereitungen werden nur für die Gläubigen als notwendig angesehen. Wenn Selbstkontrolle und der nach Parsons vorherrschende ‚instrumentelle Aktivismus’ nicht mehr oder in nur sehr eingeschränktem Maße realisiert werden können, so wird dadurch die Güte des Sterbens sehr stark herabgemindert (vgl. Pool 2004).
Hospize können unterschiedlich organisiert werden: als die Wünsche des Individuums ins Zentrum stellende Vergemeinschaftung (meist ambulante Form), als religiöse oder als medizinische Institution. 114 Elias (1982, 81 ff) beschreibt das Zerrbild des „homo clausus“, der isoliert, gleichsam von einer Mauer umgeben lebt und stirbt. Im Fall der von der Person nicht gewünschten Isolation wird das „eigene Sterben“ faktisch aufgezwungen. 115 Seale (1995; 2002a; 2002b, 183 ff) rekonstruiert aufgrund von Interviews den Typ des „heroischen Todes“, der meist in Phasen (z.B. Modell Kübler-Ross) verläuft – jedenfalls gemäß der Erzählungen der überlebenden Begleiterinnen.
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Selbstkontrollverlust wird von den meisten Menschen gefürchtet, wobei zwei Formen zu unterscheiden sind:
Verlust der Kontrolle über den eigenen Körper, z.B. Lähmung, Verlust der Kontrolle über das eigene Bewusstsein, z.B. Demenz.
Den Verlust der Kontrolle über das Bewusstsein kann man als psychisches Sterben bestimmen. Wenn die hochentwickelte Psychostruktur erodiert und nur mehr eine ‚Residual- oder Restperson’ in der terminalen Phase vorhanden ist (z.B. hochgradige Demenz), ist der ‚Hochzeitsteil’ der Person schon gestorben, und das personale Erleben des physischen Sterbens kann vermieden werden. Dies widerspricht freilich den Identitätsvorstellungen der selbstkontrollierten Individuen bezüglich eines ‚erfüllten Lebenslaufs’, der durch Aufstieg und bewusste Gestaltung des Lebens und damit auch des Sterbens charakterisiert ist. Die Güte von Leben und Sterben bemisst sich an der Akkumulation von physischem, ökonomischem, sozialem und kulturellem Kapital. Ökonomische Vorstellungen bezüglich der Gestaltung und des Gebrauchs des Körpers haben sich verbreitet. Der Körper soll maximal genutzt werden, verbrauchte Körperteile werden ersetzt – abgesehen vom Gehirn. Ein frühzeitiges Sterben bedeutet also Verschwendung von Körperkapital. Die Normierung des guten Todes richtet sich auch nach der Situation des Bezugskollektivs, vor allem der Familie:
Im Idealfall sollte in der Generationsfolge gestorben werden: GroßelternEltern-Kinder. Außerdem sollten Personen erst sterben, wenn sie ihre Positionen und Rollen innerhalb des Kollektivs an andere übergeben haben. Das soziale Sterben sollte schon fortgeschritten sein, bevor das physische Sterben einsetzt. Das Sterben ist gut, wenn die wichtigen Bezugskollektive ungefährdet weiterexistieren, also genügend ökonomisches und soziales Kapital zur Verfügung steht.116
Der Lebenslauf ist auf die ‚Normalzeit’ hin konzipiert, so dass ein vorzeitiger Tod erschütternd wirkt (vgl. Bednarz 2003, 77 ff). Ein zu frühes Sterben (durch Unfall, Mord, Selbsttötung oder Krankheit) wird heute wahrscheinlich als abweichender und ‚ungerechter’ empfunden als früher und als in anderen Kulturen. Der negativste, gefürchteste Tod ist der Tod von Kindern und jungen Menschen. 116
Es wird von vielen Betroffenen negativ beurteilt, wenn ein zu langes physisches, soziales und psychisches Sterben, z.B. im Pflegeheim, das ökonomische und soziale Kapital der Familie zu sehr belastet.
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Dies kann man an den extremen Trauerreaktionen ablesen, der Verstörung von Eltern beim Tod ihres Kindes. Das zu späte Sterben117 erfolgt immer häufiger, nachdem das Gesellschaftsmitglied bereits viele Jahre sozialen (und teilweise auch physischen und psychischen) Sterbens durchlaufen hat. Die Problematik ergibt sich durch die Zunahme der Lebenserwartung und die damit verbundene Multimorbidität, den vom Todeszeitpunkt aus gesehen immer früher auftretenden Verlust der bedeutsamen sozialen Rollen und die Schwierigkeit, die hochentwickelte Psychostruktur im hohen Alter aufrechtzuerhalten. Das rechtzeitige Sterben ist dagegen schwieriger zu bestimmen als in traditionellen Kulturen.118 Die lineare Zeitkonzeption, die Annahme des absoluten Endes, die Individualisierung, die Übergabe der Sterbenden an das medizinische System, die Entwertung des Kampfes und des Krieges und die Schwächung traditioneller religiöser und moralischer Vorstellungen erschweren die Entwicklung von Konzeptionen des rechtzeitigen Sterbens. In einer Befragung von Studierenden (Lehramt und Diplompädagogik, Univ. Hannover, 1990) wurde folgende Frage gestellt: ‚Es wird manchmal gesagt, dass jemand „zu früh“, „rechtzeitig“ oder auch „zu spät“ gestorben ist. Was stellen Sie sich unter „rechtzeitigem Sterben“ vor?’ Die überwiegende Mehrzahl der Studentinnen bestätigte die These Max Webers, dass in der modernen Gesellschaft kein Abschluss des Lebenslaufs mehr zu bilden ist, dass man also keine positive Bestimmung des ‚rechtzeitigen Sterbens’ angeben kann. Die Studentinnen meinten, dass schwere Krankheit, starke Pflegebedürftigkeit, starke Schmerzen, Bewusstseinsverlust etc. vermieden werden sollten, bestimmten also das rechtzeitige Sterben nur negativ. Eine Minderheit gab eine positive Antwort: erfülltes Leben, hohes Alter, selbst gesetzte wichtige Ziele erreicht. Es handelt sich um eine Bestärkung des Individualismus. Wenn das Individuum sich selbst als vollendet definiert, dann kann es abtreten. Religiöse Antworten waren äußerst selten, z.B. gottgewolltes Sterben. Nur wenige lehnten den Begriff ‚rechtzeitiges Sterben’ völlig ab. Eine weitere Frage in dieser Studie lautete: ‚Welchen Tod wünschen Sie und welchen Tod fürchten oder verabscheuen Sie?’ Vorgegeben wurden folgende Todesursachen: Unfall, Suizid, Mord, Krieg, Krankheit, und drei Alternativen, die die Dauer des Sterbens betrafen (plötzlicher Tod/kurzes bewusstes Sterben/langes Sterben). Die Antworten verdeutlichen die 117
Ein zu spätes Sterben wird – von manchen – als Verschwendung von sozialem und ökonomischem Kapital angesehen. 118 „Soziale Akzeptanz scheint sich nicht mit der persönlichen Akzeptanz des Todes in Deckung bringen zu lassen.“ (Bednarz 2003, 81)
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Schwierigkeit eines ‚rationalen, modernen Umgangs’ mit dem eigenen Sterben. Von den meisten werden alle angegebenen Todesursachen als unerwünscht abgelehnt. Mögliche Interpretationen:
Die Person will nicht sterben, will ‚unsterblich’ sein. Die Person lebt in der Illusion, an einer ‚idealen Todesursache’, z.B. ‚sanftem Verlöschen’, sterben zu können.
Fast alle wünschen sich einen plötzlichen unerwarteten Tod oder ein kurzes bewusstes Sterben. Eine ‚rationale Lösung’ wäre, Unfall und/oder Suizid und/ oder (eine schnell zum Tod führende) Krankheit zu wünschen. Nur 4 Personen (von 80 Befragten), wählten eine solche ‚rationale Lösung’, zweimal Unfall, einmal Suizid und einmal Unfall und Suizid. Interessant ist auch die Tatsache, dass niemand eine entsprechende Krankheit als wünschenswerte Todesursache wählte.119
Euthanasie und Sterbehilfe Begrifflichkeit und historische Aspekte „Euthanasie (eu = gut, thanatos = Tod) begegnet schon als Begriff in der Antike, hier jedoch als Begriff der Philosophie, nicht der Medizin. Guter, ehrenvoller, zumindest nicht schändlicher Tod ist dabei gemeint, Tod in Erfüllung des Lebens, der schnell und ohne Schmerzen eintritt. Euthanasie als Lebensverkürzung soll freilich schon in der Antike geübt worden sein. Strabo berichtet von der Insel Keos, wo ein Gesetz die nicht mehr Leistungsfähigen zum Schierlingsbecher verurteilt habe, Plutarch weiß von der Auslese der schwächlichen Kleinkinder bei den Spartanern. Germanische und slawische Völker sollen Alte und Gebrechliche mit dem Kissen erstickt oder an Bäumen aufgehängt haben.“ (Winau 1984, 28)
Bei diesen und anderen Beispielen der Tötung von sterbenden, alten oder schwachen Menschen sollte freilich der kulturelle Kontext einbezogen werden, wenn eine Beurteilung durchgeführt wird. In vielen Kulturen war die Vorstellung des Übergangs vom Reich der Lebenden in das Reich der Toten verankert. Die Tötung oder die Beschleunigung des Sterbevorgangs wurde wahrscheinlich eher als Gestaltung dieses Übergangs, und nicht als Vernichtung eines Individuums im modernen säkularisierten Sinn interpretiert. 119
Diese begrenzte Rationalität wird durch Untersuchungen belegt, in denen Einstellungen und Meinungen über Lebensrisiken und Todesursachen mit objektiven Tatsachen verglichen werden (vgl. Seale 2002a, 44 ff).
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Verschiedene Ideologien und Weltanschauungen übten Einfluss auf das Euthanasieverständnis in den letzten beiden Jahrhunderten aus: 1.
2. 3. 4. 5.
Eine allgemeine, wissenschaftsgläubige Fortschrittsideologie, die zuerst eine kollektive Expansion und dann – vielleicht aufgrund des Scheiterns dieser Unternehmungen – eine permanente individuelle Lebensverlängerung anstrebte. Eine romantische Bewegung, die bestimmte Formen des Leides, aber auch partiell Selbstaufopferung und Selbsttötung glorifizierte. Der Nationalismus, der über Sprach- und Kulturregelungen ein Kollektivbewusstsein herzustellen versuchte. Der Darwinismus und die Einordnung des Menschen in einem naturwissenschaftlichen Weltbild. Verschiedene Formen des Marxismus, Kommunismus und Sozialismus, die Unterordnung der Menschen unter Klassen und später unter straff geführte Kader.
Diese Strömungen wirkten gemeinsam mit den traditionellen kulturellen Kräften, wie etwa den Kirchen, sehr unterschiedlich auf die Bildung von Einstellungen zur Euthanasie. Vom Sozial-Darwinismus gingen Befürworter bestimmter Formen der Euthanasie (z.B. Haeckel) aus, die teilweise die Tötung ‚unnützer’ oder die Gesellschaft ‚belastender’ Menschen forderten. Die romantisch-heroische Attitüde amalgamierte sich in den Nationalstaaten mit einer kriegsverherrlichenden und menschenverachtenden Haltung, die freilich im Ersten und dann endgültig im Zweiten Weltkrieg zerbrach. Die Ideologie der wissenschaftlich-technischen Lebensverlängerung hat sich gut gehalten und es werden immer wieder Siegesmeldungen durchgegeben. Freilich ist der allgemeine wissenschaftliche Fortschrittsglaube bei einem Teil der Bevölkerung einer gemäßigten Skepsis gewichen. Vor allem lässt sich immer weniger verbergen, dass die Lebensqualität in bestimmten Phasen der gewaltsamen Lebensverlängerung rapide absinkt und dies steht in einem für die meisten Bürger der Industriestaaten krassen Widerspruch zu ihrer anspruchsvollen hedonistischen Haltung. Die Veränderung des Begriffes Euthanasie lässt sich anhand der Definitionen in Lexika des 18., 19. und 20. Jahrhunderts erkennen. In „Zedlers Universal-Lexicon“ von 1734 ist folgende extrem kurze Eintragung zu finden: „Euthanasia, ein gantz leichter und geringer Tod, welcher ohne schmertzhaffte Convulsiones geschiehet.“
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Im „Großen Conversations-Lexicon für die gebildeten Stände“ von 1847 ist bereits eine lange Erörterung zu finden, aus der folgende charakteristische Abschnitte zitiert seien: „Euthanasia (v. Griech.), Euthanasie, Todeslinderung. Das aus dem Griechischen stammende, aber erst wieder von Baco von Verulam in die ärztliche Kunstsprache eingeführte Wort E. bedeutet einen sanften, ruhigen, oder sonst wohlbeschaffenen Tod ... Die Sorge für Milderung der natürlichen Bitterkeit des Todes ist eine der höchsten und edelsten Aufgaben des Arztes ...“ Der Arzt ist bereits der Leiter des Sterbeprozesses. „Demnach ist denn die euthanatische Aufgabe eine dreifache: 1) Sorge für den Todeskandidaten (den Moriturus), 2) für den Sterbenden (Agonizans) und 3) für die sogenannte Leiche, die Scheinleiche. Man kann noch ... ein 4) hinzufügen: Sorge für die Umgebungen und Hinterlassenen ...“.
In Brockhaus’ Konversations-Lexikon von 1893 ist der Begriff Euthanasie auf den Tod erleichternde Maßnahmen durch den Arzt eingeschränkt. Rechtliche Probleme werden nicht angesprochen. Interessant ist der ausdrückliche Hinweis, dass vor dem Sterbenden nicht über seinen Tod gesprochen werden soll. „Euthanasie (grch.), T o d e s l i n d e r u n g, dasjenige Verfahren, durch welches der Arzt den als unvermeidlich erkannten Tod für den Sterbenden möglichst leicht und schmerzlos zu machen sucht, besteht hauptsächlich in zweckmäßiger Lagerung, Fernhaltung aller äußeren Störungen, Linderung der Schmerzen durch anästhetische und narkotische Mittel, Sorge für frische Luft und zeitweiligem Einflößen von milden und labenden Getränken. Bei dem scharfen Gehör, welches Sterbende bis zum letzten Augenblick zu haben pflegen, ist die größte Vorsicht hinsichtlich aller Äußerungen der Umgebung geboten; auch bei scheinbar gänzlicher Teilnahmslosigkeit des Sterbenden soll man sich deshalb in seiner Gegenwart jedweder Andeutung über seinen bevorstehenden Tod enthalten.“
In der Brockhaus Enzyklopädie von 1968 ist die Trennung von Euthanasie und Sterbehilfe noch nicht endgültig vollzogen, doch der Begriff wird in sehr eingeschränkter Weise definiert: „Euthanasie (grch.), Sterbehilfe, die Erleichterung des Endes eines mit Sicherheit und auf qualvolle Weise verlöschenden Menschenlebens.“
Entscheidend in der Definition sind nicht Wünsche des Sterbenden und der Bezugspersonen, sondern objektive Bestimmungsgründe, die der vollen Kontrolle der Experten (Ärzte) unterliegen. Im Großen Universal Volkslexikon von Brockhaus 1984 werden die verschiedenen Bedeutungen von Euthanasie aufgeführt, jedoch der Begriff Sterbe-
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hilfe wird ausdrücklich ausgegliedert. Die negative Bedeutung von Euthanasie hat sich hier durchgesetzt. Im derzeitigen Sprachgebrauch sind die Worte Euthanasie, aktive Sterbehilfe, passive Sterbehilfe, Selbstmord oder Suizid, Tötung auf Verlangen, Beihilfe zum Suizid, assisted suicide usw. einerseits Expertenbegriffe, die von zuständigen Professionellen, z.B. Juristen, Medizinern, Philosophen usw., verwaltet werden, andererseits sind es ‚freie Worte’, die über die Medien und über das Bildungssystem in die Alltagssprache von Gruppen eingegangen sind und sich dort entwickeln. Von einem Konfliktansatz aus betrachtet, werden symbolische und auch materielle Machtkämpfe ausgefochten, um den öffentlichen Gebrauch dieser Worte im Interesse bestimmter Gruppen zu kontrollieren. Der Begriff Euthanasie ist besonders umkämpft. In Deutschland versuchen bestimmte Gruppen, die Stigmatisierung, die das Wort Euthanasie durch die Nazi-Verbrechen erhalten hat, im öffentlichen Bewusstsein zu erhalten. Doch der Begriff dringt durch die Nachbarsprachen ständig in der international dominierenden Bedeutung, die ungefähr dem neudeutschen Begriff aktive Sterbehilfe entspricht, in die Medien und die wissenschaftlichen Schriften ein. Bestimmte Gruppen versuchen durch diesen symbolischen Kampf die so genannte deutsche Sondersituation festzuschreiben, die sich allerdings nicht in der Meinung der Mehrzahl der deutschen Bevölkerung spiegelt, die den Einstellungen in den anderen westlichen Industrieländern ähnelt.120 Es gibt Versuche, durch Begriffsdefinitionen Abgrenzungen zwischen verschiedenen Formen der Sterbehilfe vorzunehmen. Indirekte und passive Sterbehilfe betreffen die Verabreichung (schmerzlindernder) Medikamente, die eine Lebensverkürzung bewirken können, und/oder den Verzicht auf lebenserhaltende Maßnahmen, wobei umstritten ist, wie dieser Begriff definiert werden soll. Aktive Sterbehilfe oder Euthanasie bedeutet die Herbeiführung des Todes eines Patienten, der seinen eigenen Zustand als unerträglich bezeichnet, wobei in der Regel eine andere Person einen Eingriff mit dem Ziel der Lebensbeendigung vornimmt. Wenn der Patient zwar die Mittel für die Lebensbeendigung von einem Arzt erhält, jedoch selbst die Tat durchführt, spricht man vom assisted suicide (ärztliche Beihilfe zum Suizid). § 216 StGB: »Tötung auf Verlangen (1) Ist jemand durch das ausdrückliche und ernsthafte Verlangen des Getöteten zur Tötung bestimmt worden, so ist auf eine Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren zu erkennen. (2) Der Versuch ist strafbar.« 120
In Deutschland und in den meisten anderen westlichen Industriestaaten tritt die Mehrheit der Menschen schon seit vielen Jahren für eine Legalisierung der aktiven Sterbehilfe ein (vgl. Scherer/Simon 1999, 112 ff; van den Daele 2008).
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Die Beihilfe zur Selbsttötung ist dagegen straffrei, doch sie und die passive Sterbehilfe können zum strafrechtlichen Problem werden, denn »Unterlassen« kann als ein »Tun« angesehen werden (§ 13 StGB: »Begehen durch Unterlassen«). § 323 c StGB: »Unterlassene Hilfeleistung. Wer bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr oder Not nicht Hilfe leistet, obwohl dies erforderlich und ihm den Umständen nach zuzumuten, insbesondere ohne erhebliche eigene Gefahr und ohne Verletzung anderer wichtiger Pflichten möglich ist, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft.«
Die für das Bewusstsein der meisten Menschen schwer verständlichen Denkfiguren, die hinter manchen rechtlichen und medizinisch-standesethischen Regelungen stehen, weisen Teile des Rechtssystems und der Standesethik als im schlechten Sinn autonom, d.h. von dem Denken und Handeln der betroffenen Menschen entfremdet aus.121 Nur wenige sehen es als konsistent und den realen Bedürfnissen von extrem Leidenden als angemessen an, dass zwar Beihilfe zum Suizid straffrei ist, jedoch Ärzte keine Beihilfe zum Suizid leisten dürfen. In anderen europäischen Ländern wird die Beihilfe zum Suizid sogar rechtlich unter Strafe gestellt, also gilt die einer normalen Logik absurd erscheinende Regelung, dass die Beihilfe bei einer straffreien Handlung bestraft werden soll. Es ist schwierig, die impliziten Annahmen und Interessen, die ‚hinter solchen Normierungen’ stehen, offen zu legen und zu bewerten, doch ein kleiner Versuch wird hier angeboten. 1. 2.
3.
4.
Die Annahme, dass über das Strafrecht die soziale Kontrolle am besten zu steuern ist, ist bereits häufig widerlegt worden. Die implizite Annahme oder explizite Behauptung, dass die herrschende semantische Feldgestaltung der Wirklichkeit ‚entspreche’ bzw. es keine Alternative geben darf, ist unter Ideologie und Herrschaftsdiskurs zu verbuchen. Die Annahme, dass Zielsysteme der sozialen Kontrolle durch eine Legalisierung der aktiven Sterbehilfe (Modell Niederlande) gefährdet werden könnten, ist gerade durch die niederländische Praxis falsifiziert worden. Die Annahme, dass der Erfolg sozialer Kontrolle ohne gründliche langfristige Evaluation feststellbar sei, zeugt von wissenschaftlicher Naivität und politischer Verantwortungslosigkeit.
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Wissen über Recht und Medizin wurde nicht bzw. unzureichend in den Kanon deutscher und anderer europäischer allgemeinbildender Schulen aufgenommen.
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5.
Professionelle Expertensysteme (Recht, Medizin, Theologie, Philosophie etc.) konstruieren in jeweils eigenständiger Weise soziale Wirklichkeit und versuchen, ihre Wirklichkeitskonstruktionen über Herrschaft anderen Gruppen aufzuzwingen. Die Annahme, dass diese Herrschaftsform unverzichtbar oder gar von der deutschen Verfassung legitimiert sei, ist eine Ideologie im schlechten Sinne.
Aktive Sterbehilfe in der soziologischen Diskussion122 Aktive Sterbehilfe als soziales Problem kann soziologisch im Rahmen der Modernisierung, Industrialisierung, der Stärkung des Gewaltmonopols des Staates, Verrechtlichung, Bürokratisierung und Entwicklung des medizinischen Systems gesehen werden. Populations- und Individualkontrolle haben zugenommen. Medizinisch-technische Fortschritte und der Anstieg der Lebensdauer führten zum Anwachsen von Entscheidungen über lebenserhaltende Maßnahmen. Die Emanzipationsbewegungen, die Säkularisierung und die verbesserte Ausbildung lassen die Patienten immer kritischer werden. Immer häufiger werden medizinische Entscheidungen problematisiert und in die öffentliche Diskussion getragen. Der Funktionalist Parsons hat schon auf die Schwierigkeit hingewiesen, die Rolle des Sterbenden im Krankenhaus von der Rolle des Patienten abzugrenzen (vgl. Feldmann 1995, 147). Im medizinischen System herrscht folgende Annahme vor: Sterbende, Suizidthematisierende und Personen, die ihre eigene Tötung wünschen, sind Kranke, müssen also behandelt werden. Ein selbstgesteuertes Sterben könnte bestenfalls einem Gesunden zugestanden werden, der es jedoch nach dieser medizinisch-psychologischen Ideologie definitionsgemäß nicht wünschen kann. Somit ergibt sich ein Dilemma für Personen, die sterben wollen, wenn sie im Subsystem Medizin verweilen und von dem professionellen Personal abhängig sind. Ebenfalls ein sich zuspitzendes Dilemma ergibt sich freilich für das medizinische Personal: Da sowohl die Definitionen von Leben und Tod als auch die Erhaltung und Manipulation von Körperfunktionen immer differenzierter, multidimensionaler und von Ressourcen abhängiger werden, verschwindet das ‚natürliche Sterben’. An seine Stelle tritt ein ‚sozial-technologisch produziertes Leben und Sterben’. Folglich muss durch das medizinische Personal permanent über Leben oder Tod entschieden werden, und zwar sowohl über Lebensverlängerung als auch über Lebensverkürzung (vgl. Harvey 1997). Diese Entscheidungen sind nach Anspach (1993) kollektive, nicht individuelle Handlungen, die sich aus den 122
Vgl. zur Soziologie der aktiven Sterbehilfe: Böttger 1995, 2000; Feldmann 2005; Bayatrizi 2008; Koppehele 2008.
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sozialen Strukturorten der beteiligten Personen und aus dem jeweiligen sozialen Kontext ergeben und nicht primär aufgrund einer ‚medizinischen Ethik’ oder eines ‚medizinisch-naturwissenschaftlichen-technischen Standards’. Soziale Kontextfaktoren sind: Nationalität, Religionszugehörigkeit, soziale Distanz, ökonomische Bedingungen, Professionalität etc. Zimmermann-Acklin (2004) berichtet über europäische Studien zu Therapieentscheidungen am Lebensende: „Während in den nördlichen Ländern beispielsweise häufig Entscheidungen zum Behandlungsabbruch oder –verzicht gefällt werden, wird in den südlichen Ländern unabhängig von den Folgen oftmals weiterbehandelt.“ (32)
Somit entsteht ungeplant aktive Sterbehilfe als Emergenzphänomen der gesellschaftlichen und vor allem der medizinisch-technischen Entwicklung. Allerdings versuchen die Entscheidenden, also Ärzte und Krankenpflegepersonal, vor sich und vor anderen diese Lebens- und Todesproduktion zu verschleiern, umzuinterpretieren und umzudeuten (vgl. Seymour 2000; Streckeisen 2001). Daraus folgt ein partielles Verschieben der Kommunikation auf die Hinterbühnen. Es gibt also in Krankenhäusern, Pflegeheimen und Hospizen Kommunikationsverbote, die sich vor allem auf Lebensverkürzung, Selbsttötung und aktive Sterbehilfe beziehen. In allgemeinen thanatosoziologischen Schriften werden Sterbehilfe, Euthanasie und Selbsttötung häufig ausgespart. Aktive Sterbehilfe und Suizid werden als eigene Gebiete angesehen, die von darauf spezialisierten Wissenschaftlern bearbeitet werden (vgl. Feldmann 1998c). Eine kurze Betrachtung einiger wichtiger Schriften zur Thanatosoziologie zeigt die Schwerpunktsetzungen und die Leerstellen in diesem Segment der Wissenschaft. Parsons, Fox und Lidz (1973) wiesen darauf hin, dass „der Wert des menschlichen Lebens ... im medizinischen System absolut gesetzt“ wird „und der Arzt ... verpflichtet“ ist, „es unter allen Bedingungen zu erhalten. Durch diese Rigidität gerät das medizinische System in eine zunehmende Diskrepanz zu anderen flexibleren Wertsystemen innerhalb der Gesellschaft. Diese religiös legitimierte ‚medizinische Ethik’ ist auch ein zentrales Hindernis für einen differenzierten Umgang mit dem Tod. ... Vor allem wird der Tod damit rein negativ bestimmt und eine positive Definition ist kaum möglich. Er wird vom Arzt als Niederlage empfunden. ... Außerdem wird die emotionale und soziale Situation des Sterbenden häufig ignoriert. Er wird dazu gedrängt, seinen Lebenswillen zu mobilisieren und einen bedingungslosen Kampf gegen den Tod zu akzeptieren. Die Autoren weisen darauf hin, dass die rigide Fixierung des Arztes, das Leben eines konkreten menschlichen Organismus zu erhalten, ihn für andere soziale Aspekte teilweise blind macht. Im extremen Fall wird er he-
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roisch handeln, ohne auf situative und andere soziale Bedingungen Rücksicht zu nehmen.“ (Feldmann 1995, 147f)
Als Wertgrundlage für Entscheidungen über Sterbehilfe nennt Fuchs (1969) „die Pflicht, das eigene Leben zu bewahren, und das verfassungsmäßig garantierte Recht auf Leben“ (184) zu nennen. „Als Recht der Beherrschten (auf Leben, K.F.) richtet es sich gegen staatliche Gewalt ... ist insofern defensiv konzipiert ... Er richtet sich gegen Zwangssterilisation, gegen staatlich legitimierten oder organisierten Mord, gegen medizinische Eingriffe ohne Einwilligung der Betroffenen“ (186 f).
Im Text von Fuchs erscheinen einige Dimensionen, die in diesem Zusammenhang bedeutsam sind:
Modernes Individuum vs. moderner Staat, speziell die Problematik Selbstbestimmung des eigenen Lebens vs. staatliche Regulierung menschlichen Lebens (z.B. Schutzfunktion), die Selbstbestimmung trägt ebenfalls ein Dilemma in sich: Pflicht, das eigene Leben zu bewahren (Selbstbestimmung als gelungene Sozialisation, Ausbildung einer sozialen Identität) und Recht, über das eigene Leben zu bestimmen (Selbstbestimmung als Ausbildung einer personalen Identität) ‚Natürlicher’ Tod vs. sozial erzeugter ‚unnatürlicher’ Tod.
Elias (1982) ist in seiner kleinen Schrift „Über die Einsamkeit der Sterbenden“ nicht auf aktive Sterbehilfe und Euthanasie eingegangen. Doch verschiedene Bestimmungsstücke sind bei ihm zu finden:
Individualisierung und hochentwickelte Selbstkontrolle, Integrationsprobleme in der modernen Gesellschaft, die staatliche Fremdzwangapparatur, das Gewaltmonopol und das legitimierte Töten von Menschen.
Bei diesen und anderen Schriften zur Soziologie von Sterben und Tod ist festzustellen, dass die Problematik der aktiven Sterbehilfe soziologisch nicht entfaltet wird. Zu einer solchen Entfaltung sollten weitere Bestimmungsaspekte hinzugefügt werden:
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Der Suizid ist in diesem Zusammenhang neben der Tötung ein wesentliches Moment.
Die traditionell und im gegenwärtigen Bewusstsein auffindbaren Definitionen des ‚guten Todes’ sollten einbezogen werden. Die Entwicklung und die Funktionen der definitionsmächtigen Professionen, vor allem der Medizin und des Rechts, sind zu analysieren. Die institutionelle Verarbeitung und Kodierung von Sterben und Tod durch Religion, Politik, Recht, Wirtschaft, Medien, Kunst, Erziehung und Bildung führt zu permanenten Kommunikationsproblemen. Die Identitätsproblematik und die Pluralisierung der Sinngebung sind zu berücksichtigen. Die Differenz zwischen dem physischen, psychischen und sozialen Sterben wird von den rechtlichen und medizinischen Regelungen zu wenig berücksichtigt (vgl. Feldmann 1998a).
Im medizinischen System und damit auch im herrschenden Ideologiefeld wird von Experten sozialer Druck auf Schwerkranke und Sterbende (und die Bezugspersonen) ausgeübt, das Sterben in normativ vorgesehenen Weise zu gestalten bzw. gestalten zu lassen (Walter 1994). Der soziale Druck ist im Spannungsverhältnis von Fremd- vs. Selbstbestimmung und Lebensverlängerung vs. Lebensverkürzung zu sehen. Selbstbestimmungsäußerungen, die auf Lebensverkürzung hindeuten, werden ignoriert, uminterpretiert oder anderweitig unterdrückt. In der Hospizbewegung wird versucht, eine soziale Situation herzustellen, in der Selbstbestimmung und Lebensverlängerung (allerdings unter Ausschluss aggressiver medizinischer Technologie) die normative Leitlinie darstellen. Man könnte sich eine Entwicklung vorstellen, in der sozialer Druck in Richtung Selbstbestimmung und Lebensverkürzung ausgeübt wird. Sozialer Druck in Richtung ‚Selbstbestimmung’ erscheint paradox, da sozialer Druck meist mit Fremdbestimmung verbunden gesehen wird. Doch Selbstbestimmung kann konform oder nonkonform sein und sie unterscheidet sich im beobachtbaren Verhalten der Beteiligten nicht unbedingt von Fremdbestimmung. Man sollte nicht vergessen, dass Selbst- und Fremdbestimmung und Lebensverlängerung und -verkürzung Konstrukte im Rahmen professionell überwachter semantischer Spiele und kommunikativer Herrschaftsräume sind. Eine weitere häufig vernachlässigte Dimension betrifft die Intensität bzw. Nachhaltigkeit des Todeswunsches. Auf entsprechende Feststellungen wird in der niederländischen Euthanasiepraxis großer Wert gelegt. Mit diesen beiden Dimensionen lässt sich ein einfaches Feld der aktiven Sterbehilfe bzw. des geplanten Todes darstellen.
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Abbildung 13: Feld des geplanten Todes
starker Todeswunsch kein Todeswunsch
Feld des geplanten Todes Selbsttötung Selbsttötung freiwillig Selbsttötung erzwungen
Fremdtötung aktive Sterbehilfe Mord
Es existieren fließende Übergänge zwischen aktiver und passiver bzw. indirekter Sterbehilfe und Selbsttötung. Nicht nur beim Todeswunsch (Grad der Zustimmung oder Freiwilligkeit) handelt es sich um ein Kontinuum, sondern auch bei der Selbst- oder Fremdtötung. Die beiden Dimensionen werden im Alltagsbewusstsein als so eng gekoppelt definiert, dass eine Trennung vielleicht Befremden erregt. Doch Selbst- oder Fremdtötung sind auf der Ebene des Verhaltens angesiedelt, während die Zustimmung oder Freiwilligkeit auf der Ebene der Einstellungen und Bewertungen liegen. Dass diese Einteilung sinnvoll ist, lässt sich an Extrembeispielen belegen:
Verbindung von starkem Lebenswunsch (geringem Grad an Zustimmung zur eigenen Tötung) und reiner Selbsttötung: Ein Mensch, der von einem qualvollen Foltertod bedroht ist, tötet sich trotz starker Ablehnung des Suizids. Verbindung von starkem Todeswunsch und reiner Fremdtötung: Ein Mensch, dessen körperlicher Zustand sich in extremem Verfall befindet, der von der Sinnlosigkeit seines Weiterlebens überzeugt ist und eine Bezugsperson bittet, seinem Leiden ein Ende zu bereiten.
Der Gedanke der aktiven Sterbehilfe weist auf folgendes Dilemma: Fremdtötung ist verboten, auch wenn die Selbsttötung des autonomen Individuums aufgrund von körperlichen oder psychischen Defiziten nicht erfolgen kann, aber von dem Individuum gewünscht wird. Da Menschen in einer solchen Lage aber gemäß strengen Kriterien, die dann plötzlich angelegt werden, für nicht mündig, im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte, vollverantwortlich, frei etc. gehalten werden, werden sie meist der prolongierten Fremdtötung (durch legitimiertes medizinisches Personal) unterworfen, in vielen Fällen bedeutet dies Lebensverlängerung auf qualitativ immer schlechterer Basis.123
123
Eine in den 80er Jahren in deutschen Krankenhäusern durchgeführte Befragung des Personals ergab, dass 62 % meinten, dass lebensverlängernde Maßnahmen zu häufig angewandt werden (George et al. 1989).
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Für den Idealtypus des modernen säkularisierten Menschen sind das Leben und sein Körper Instrumente für seine Zwecke, nicht mehr Eigentum Gottes, sondern persönliches Eigentum. Die selbstbestimmte Fortführung oder Beendigung des eigenen Lebens ergibt sich daraus als eine Option. Doch es gibt andere Traditionen, Einstellungen, Normen und Institutionen in der modernen Gesellschaft, die selbst- und fremdbestimmte Tötungshandlungen erschweren. 1.
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Das moderne Individuum ist affektkontrolliert und auf Sicherheit bedacht, d.h. es plant sein Leben langfristig. Diese Haltungen sind schwer verträglich mit Entscheidungen, das Leben hier und jetzt gewaltsam zu beenden. Auch ist durch Individualisierung, Demokratisierung, Bildungsexpansion, Wohlstandsvermehrung auf breiter Basis und eine schon fast zwei Generationen dauernde Friedenszeit in der westlichen Welt der Wert des einzelnen Lebens stark erhöht worden. Es sind also starke Tötungshemmungen aufgebaut worden. Ferner besitzen staatliche Organe das Tötungsmonopol, so dass ein latenter Konflikt zwischen Individuen bzw. Gruppen und dem Staat bezüglich der ‚Totalverfügung’ über den Körper besteht. Außerdem wird durch den beschleunigten medizinisch-technischen Wandel permanent die Hoffnung auf potentielle Unsterblichkeit genährt, das heißt es gibt immer mehr Behandlungsoptionen für Schwerkranke und es wird immer schwieriger, eine endgültig optionslose physische Sterbesituation zu definieren bzw. anzuerkennen.
Durch die medizinisch und juristisch gestützte Todesideologie und –praxis (Postulat: Es gibt nur das medizinisch definierte physische Sterben!) werden die kulturellen und sozialstrukturellen Formen des sozialen und psychischen Sterbens in von Ärzten kontrollierten Situationen in die Peripherie abgedrängt. Die öffentliche Diskussion um die aktive Sterbehilfe Warum gibt es beim Thema aktive Sterbehilfe vor allem in den Hochkulturmedien immer stark emotionalisierte und dramatisierende Stellungnahmen? Zu Recht werden in der deutschen Diskussion die nationalsozialistischen Euthanasieverbrechen als immerwährende Erinnerung und Warnung im Bewusstsein gehalten. Doch der Ausdruck Euthanasie täuscht eine weitgehende Strukturähn169
lichkeit zwischen dem nationalsozialistischen und einem modernen Sterbehilfekontext vor. Aktive Sterbehilfe, Selbsttötung und Abtreibung sind soziale Probleme, die von gesellschaftlichen Gruppen kontrovers beurteilt werden und deren jeweilige gesetzliche Regelungen umstritten bleiben. Interessengruppen formieren sich vor allem um die zwei Kernkonstrukte pro-life versus pro-choice:
Pro-life: Eine Koalition von traditionalistischen religiösen Gruppen (»Das Leben des Menschen ist von Gott geliehen«), Funktionären der Ärzteschaft und der Hospizbewegung, Vertretern des Rechtssystems und Politikern (Tötungsmonopol) unter der Devise »Menschliches Leben als hoher oder sogar höchster ‚unverfügbarer’ Wert« Pro-choice: Eine lose heterogene Gruppierung, die sich gegen Traditionalismen und überbordende Staatsgewalt wendet unter der Devise »Selbstbestimmung ist ein höherer Wert als Lebenserhaltung«, Organisationen (in Deutschland: Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben) – und die Mehrheit der Bevölkerung!
Die Haltung mancher politischer, kirchlicher und ärztlicher Funktionäre zur Tötung von Menschen erscheint inkonsistent. Die Tötung von Personen, die diese wünschen, wird vehement abgelehnt, dagegen wurde und wird die Tötung von Personen, die diese nicht wünschen, z.B. Hinrichtung (in den USA) oder Krieg, akzeptiert bzw. viel weniger angegriffen. Daraus ist zu schließen, dass der ideologische Kampf – wie es ja auch aus der abendländischen Geschichte zu entnehmen ist – sich vor allem gegen eine Ausweitung des Selbstbestimmungsrechts richtet.124 Durch strafandrohende Gesetze über aktive Sterbehilfe oder Beihilfe zum Suizid werden partikulare normative Sichtweisen gegenüber anderen normativen Ansichten rechtlich privilegiert. Doch es werden nicht nur Weltanschauungen gestützt, sondern es werden Lebenschancen und materielle Vorteile beeinflusst. Es ist wahrscheinlich, dass die derzeit geltenden rechtlichen Regelungen im Bereich ‚Tötung auf Verlangen’ Mittel- und Oberschichtgruppen privilegieren. Nach einer Befragung im Jahre 1996 führen auch Ärzte in Deutschland aktive Sterbehilfe durch. „Aktive Sterbehilfe wurde häufig als Privileg beschrieben, das insbe-
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„Ideologiekritisch darf man durchaus die Frage stellen, ob die schöpfungstheologisch begründete Tabuisierung der Selbsttötung in unserer Kultur nicht nur den Hintersinn hatte (oder diesem diente), die heteronome Verfügung über das individuelle Leben nach den jeweils herrschenden religiösen und politischen Prioritäten und Interessen sicherzustellen.“ (Kodalle 2003, 15 f)
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sondere persönlich bekannten Personen – wie Verwandten, Berufskollegen und Freunden – zuteil wird.“ (Lunshof/Simon 2000, 245; vgl. auch Maitra et al. 2002)125
Strikte Verbote der aktiven Sterbehilfe könnten ähnlich wie strikte Abtreibungsverbote nicht zu einer bedeutsamen Verringerung der Fälle, sondern vor allem zu sozialer Benachteiligung beitragen. Auch aus der Perspektive der Minderheitenforschung lässt sich das soziale Problem aktive Sterbehilfe betrachten. Minderheiten werden in der Regel unterdrückt, wenn sie nicht über überdurchschnittliche Macht- und Kapitalressourcen verfügen oder nach langen Kämpfen einen ausreichenden Rechtsschutz erhalten haben. Personen, die aktive Sterbehilfe in einem liberalen sozialen System erhalten, sind eine kleine Minderheit, wie die niederländische Praxis zeigt (unter 5 % der Sterbenden bzw. Schwerstkranken). Die Reaktionen von Vertretern ärztlicher, kirchlicher und staatlicher Organisationen auf die niederländische Gesetzgebung, auf Initiativen im Europarat und auf ähnliche politische Versuche zeigten, dass mit harten Widerständen gegen die von der Mehrzahl der deutschen Bevölkerung gewünschten Gesetzesund Verfahrensänderungen zu rechnen ist. Vor allem die ärztlichen Standesorganisationen sind am Machterhalt interessiert. In den Niederlanden gilt bei der aktiven Sterbehilfe der Wille des Betroffenen, der behandelnde Arzt muss sich an festgelegte Regeln halten, einen zweiten unabhängigen Arzt heranziehen, dokumentieren und der Fall wird von einer unabhängigen Kommission untersucht (Kimsma/van Leeuwen 2000). All dies ist in Deutschland nicht notwendig; die behandelnden Ärzte haben viel mehr Entscheidungsspielräume. Wenn man eine Demokratisierung des Rechts und eine Verbesserung der Lebensverhältnisse wünscht, müsste durch Umfragen und andere Untersuchungen erfasst werden, welche normativen Ansichten in verschiedenen Bevölkerungsgruppen vorherrschen, welche Formen der Sterbehilfe praktiziert werden, wie das Sterben tatsächlich gestaltet wird und welche Benachteiligungen sich für einzelne und Gruppen ergeben, um dann die Gesetzeslage und soziale Maßnahmen entsprechend flexibel zu gestalten. In der öffentlichen Diskussion über aktive Sterbehilfe und Beihilfe zum Suizid werden eine Reihe von ‚Tatsachenbehauptungen’ häufig wiederholt. Einige sollen hier besprochen werden.
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Ähnlich dem ‚Sterbehilfeprivileg’ existiert auch ein ‚Selbsttötungsprivileg’ (vgl. Erlemeier 2002, 165).
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Wenn eine gute Schmerztherapie und eine einfühlsame soziale Zuwendung erfolgt, treten keine Wünsche nach vorzeitiger Lebensbeendigung auf. Dieses Argument ist schlicht falsch, wie die niederländische Praxis aber auch der einfache Menschenverstand, der solchen reduktionistischen Behauptungen misstrauisch gegenüber steht, zeigen (vgl. Sohn 2002). Außerdem geht die Behauptung implizit von einer möglichen zukünftigen Realität aus, der gegenwärtig leidende Menschen ‚geopfert’ werden sollen. In Hospizen treten Wünsche nach aktiver Sterbehilfe nicht oder viel seltener als in Krankenhäusern auf.126 Gerade die Hospizbewegung eröffnet durch ihre Arbeit, die den Sterbenden mehr Freiräume und Kommunikationsmöglichkeiten einräumt, Chancen für Schwerstkranke, auch ihre Sterbewünsche zu äußern. Dies ist nicht nur ein theoretisch plausibler Gedanke, sondern eine englische Untersuchung konnte auch eine Bestätigung dafür erbringen. Seale und Addington-Hall (1995) haben eine empirische Studie in britischen Hospizen durchgeführt und herausgefunden, dass bei guter Schmerztherapie und sozialer Zuwendung Euthanasiewünsche sogar häufiger auftraten als bei ‚normaler’ Versorgung in Krankenhäusern (vgl. Seale 1998, 188 f). Wenn die aktive Sterbehilfe in rechtlich kontrollierter Weise (z.B. niederländisches Modell) zugelassen wird, erfolgt ein ‚Dammbruch’ im moralischen Bereich (‚slippery slope’).127 Obwohl in den Niederlanden Euthanasie schon seit mehr als 10 Jahren in kontrollierter Weise ausgeübt wird, gibt es keinerlei Anzeichen für eine negativere Entwicklung des niederländischen Gesundheitswesens oder der Gesellschaft z.B. im Vergleich zu Deutschland (vgl. Young 2007, 178 ff; Bayatrizi 2008, 146 ff). Bei fundierten empirischen Untersuchungen der Praxis und der Moral im medizinischen System würde wahrscheinlich Deutschland ‚schlechter’ abschneiden als die Niederlande – doch diese Untersuchungen werden wohlweislich vermieden.128 Es besteht ein breiter Konsens bezüglich der Ablehnung der aktiven Sterbehilfe in der deutschen bzw. westlichen ‚Elite’.
Da es in Deutschland bisher keine auch nur halbwegs repräsentativen hochwertigen sozialwissenschaftlichen Untersuchungen über Schmerztherapie, Hospize oder Palliativstationen gibt, ist die These unbewiesen. 127 Dass die Dammbruch- und slippery-slope-Argumente polemisch und diskurshemmend sind, ist mehrfach nachgewiesen worden (vgl. Fenner 2008, 76 ff; Levy 2008). 128 In dem Zusammenhang sei auf ein zum Nachdenken anregendes Faktum hingewiesen: Die Suizidrate für alte Menschen ist in Deutschland zwei- bis dreimal so hoch wie in den Niederlanden. Einen Vergleich anderer Indikatoren der Lebens- und Sterbequalität bietet Feldmann (2010c).
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Das Argument soll wohl die peinlichen Tatsachen verdecken, dass die Mehrheit der deutschen bzw. der westlichen Bevölkerung eine Veränderung der Rechtslage wünscht, und dass die Funktionäre der Ärzteschaft und der Kirchen129 unter dem universalistischen Mäntelchen und mit Unterstützung konservativer politischer Gruppen partikulare Interessen verfolgen. Internationale Untersuchungen belegen, dass auch ein großer Teil der Ärzte (über 30 %) bereit ist, selbst aktive Sterbehilfe zu leisten, und für eine Legalisierung der aktiven Sterbehilfe eintritt (Maitra et al. 2002). Repräsentative Befragungen in den USA, in Großbritannien und Deutschland ergaben, dass trotz intensiver Propaganda durch kirchliche, ärztliche und andere Gruppen jeweils die Mehrheit der Bevölkerung für die Legalisierung der aktiven Sterbehilfe130 (Tötung auf Verlangen durch einen Arzt oder Beihilfe zum Suizid bei unheilbarer schwerer Krankheit, schweren nicht behebbaren Schmerzzuständen oder in der terminalen Phase) eintritt (Monte 1991; Snyder 2001, 135 ff; DGHS 2001, 2002; Institut für Demoskopie Allensbach 2001; van den Daele 2008). Frage: Wenn ein Arzt einem todkranken Patienten auf dessen nachhaltigen Willen und Wunsch aktive Sterbehilfe leistet, dann ist das aus moralischen oder ethischen Gründen abzulehnen oder zu befürworten? Darauf antwortete nach einer für erwachsene Deutsche repräsentativen Untersuchung im Oktober 2000: 20 % mit abzulehnen und 68 % mit zu befürworten (DGHS 2001, 2). Frage: „Ein schwer kranker Patient im Krankenhaus soll das Recht haben, den Tod zu wählen und zu verlangen, dass der Arzt ihm eine Tod bringende Spritze gibt.“ „64 % der Westdeutschen und 80 % der Ostdeutschen stimmten im Februar und März“ 2001 in einer repräsentativen Umfrage zu (Institut für Demoskopie Allensbach 2001).
In vielen deutschen Zeitungsmeldungen und -kommentaren werden diese empirischen Tatsachen nicht aufgenommen oder schlicht geleugnet. Ein Beispiel: „Auch wenn das niederländische Modell bei uns überwiegend auf harsche Ablehnung stößt ...“ (Kopka/Berger 2001, 31). „Bei uns“ unterstellt einen Mehrheitskonsens der Deutschen oder es handelt sich um ein majestätisches UNS, das wohl die deutschen Meinungsmacher umfassen soll. Auch an einer weiteren 129
Nach einer Untersuchung aus den 90er Jahren in den USA treten sogar ca. 50 % der Katholiken dafür ein (Gilbert 1997). 130 Legalisierung würde in Deutschland wahrscheinlich bedeuten, dass die grundsätzliche Rechtswidrigkeit der Tötung auf Verlangen erhalten bleibt, jedoch unter stark kontrollierten Bedingungen von Strafe abgesehen wird.
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Stelle wird dieser imaginäre Mehrheitskonsens beschworen: „Auf eine eindeutig positive Regelung der Sterbehilfe drängt nur die Gesellschaft für Humanes Sterben.“ (ebd.) Die Einstellungen zu Selbsttötung und aktiver Sterbehilfe haben sich in den letzten Jahrzehnten in den westlichen Industriestaaten liberalisiert (Monte 1991; Scherer/Simon 1999; Böttger 2000; van den Daele 2008) und werden sich wohl auch weiter liberalisieren – was freilich auch die öffentlichen Auseinandersetzungen zwischen ‚Lebensschützern’ und ‚Selbstbestimmungs-Befürwortern’ verstärken wird. Von staatlichen Stellen oder Ärzteverbänden werden fundierte Untersuchungen zu der Problematik des Sterbens nicht initiiert. Die Devise der meisten staatlichen Organisationen, in deren Zuständigkeitsbereich aktive Sterbehilfe fällt, und der Ärzteverbände lautet wohl: Nicht informieren, sondern normieren! Ein Beispiel für Normierung im Mäntelchen der Informationsgewinnung stellt die 1997 im Auftrag der Deutschen Hospiz Stiftung vom Emnid-Institut durchgeführte Meinungsumfrage dar, in der sich die Befragten zwischen Palliativmedizin und aktiver Sterbehilfe ‚entscheiden’ sollten. Trotz der die Fragebogenersteller disqualifizierenden suggestiven Fragestellung traten immerhin noch 42 % der befragten Personen für aktive Sterbehilfe ein (vgl. den Bericht bei Böttger 2000). Die mangelhaften Untersuchungsergebnisse wurden dann zur Manipulation der Bevölkerung über die Medien eingesetzt (z.B. HAZ 15.4. 1997: „Sterbehilfe im Abwärtstrend“). Abschließende Überlegungen Die derzeitige deutsche Rechtsregelung des Sterbehilfebereichs wird von der Mehrzahl der deutschen Bevölkerung für unzulänglich gehalten. Dass Tötung auf Verlangen ohne Ausnahme mit einer Haftstrafe belegt wird, ist nach Hoerster (1998) ein Überbleibsel einer vergangenen autoritären Rechtsordnung. Wenn in Deutschland eine professionalisierte Institutionalisierung der aktiven Sterbehilfe stattfinden sollte, dann müsste sie durch rechtliche Rahmenbedingungen und eine empirische Evaluation wie z.B. in den Niederlanden gestützt werden. Eine unprofessionelle und ‚wilde’ Institutionalisierung der aktiven Sterbehilfe existiert in Deutschland und anderen Industriestaaten bereits. Die derzeitige deutsche Rechtsregelung des Sterbehilfebereichs bietet wahrscheinlich weniger Schutz vor Missbrauch als die niederländische. Diese These sollte jedenfalls empirisch geprüft werden. Höchstwahrscheinlich wird in Zukunft ein Kultivierungsprozess des physischen, sozialen und psychischen Sterbens stattfinden.
174
Die von Gegnern der Liberalisierung im Bereich der aktiven Sterbehilfe vorgetragenen Befürchtungen vor einer dadurch zunehmenden Dehumanisierung und Desensibilisierung gegenüber dem Leiden von Menschen und einer Ökonomisierung von Sterben und Tod vermitteln den ungeprüften und wahrscheinlich falschen Eindruck, dass diese Prozesse in der derzeitigen Situation des rigiden Verbots der aktiven Sterbehilfe im Vergleich dazu aufgehalten oder gebremst würden. Diese derzeit ebenfalls feststellbaren sozialen Prozesse131 könnten durch Liberalisierung und eine damit verbundene Evaluation sogar ‚wachstumsgedämpft’ bzw. kultiviert werden. Aufgrund der sozialen Komplexität sind alle Vorhersagen allerdings mit hoher Unsicherheit behaftet, so dass vorsichtige, gut geplante und wissenschaftlich kontrollierte Sozialexperimente empfehlenswert erscheinen, in denen auf die sehr variablen Bedürfnisse der Klienten mehr Rücksicht als bisher genommen werden sollte. Das Modell einer Regelung der aktiven Sterbehilfe müsste nicht mit dem niederländischen identisch sein. Es erscheint keineswegs notwendig, dass ein professioneller Sterbehelfer ein Arzt ist. Es könnte sich um eine Person handeln, die aufbauend auf einem gesundheits-, erziehungs- oder sozialwissenschaftlichem Studiengang eine Zusatzqualifikation erworben hat. Dies ist auch deshalb vorteilhaft, weil dadurch die Wahrscheinlichkeit erhöht wird, dass nicht nur ein enges medizinisches Modell prozessleitend ist. Ähnlich dem niederländischen Regelwerk sollte zusätzlich die Zustimmung eines unabhängigen Arztes und eine Dokumentation gefordert werden, wobei die Dokumentationen regelmäßig von einer Expertengruppe geprüft werden.
131
Amerikanische Untersuchungen zeigten, dass die Art und Intensität der Behandlung von schwerstkranken und sterbenden Patienten ziemlich unabhängig von ihren Wünschen und Präferenzen erfolgt (vgl. Scherer/ Simon 1999, 36).
175
Suizid
Der ‚typische’ Selbstmörder ist ein alter, ‚weißer’, sozial isolierter, depressiver und alkoholabhängiger Mann (vgl. Maris et al. 2000, 79). Allerdings gibt es auch viele ‚untypische’ Suizidfälle. In einem Teil der westlichen Staaten, z.B. in den USA, wurde in den vergangenen Jahrzehnten eine Zunahme der Suizide und Suizidversuche der 15- bis 24-jährigen Männer festgestellt (Cantor 2000). Der Suizid ist ein seltenes Ereignis, für Männer bedeutsamer als für Frauen. Auf das gesamte Leben umgerechnet begehen ein bis zwei Männer von hundert Männern Suizid, doch viel mehr Männer haben zeitweise suizidale Vorstellungen oder Verhaltensweisen. Und der Suizid eines Menschen schlägt Wellen, d.h. er ist für Bezugspersonen eine einschneidende Erfahrung. Der Suizid
ist eine Problemlösung und gedeiht, wenn bestimmte Kompetenzen und ein suizidakzeptierender sozialer Kontext gegeben sind.
Eine derartige nüchterne und nicht defizitorientierte Weise der Annäherung an den Suizid ist in der Fachliteratur ungewöhnlich (vgl. zum Suizid als Problemlösung Baechler 1981; Gores 1981; Schmidtke 1987). Viele Experten und interessierte Laien werden wohl auch meinen, eine solche ‚Nüchternheit’ und ‚Akzeptanz’ sei unangemessen vielleicht sogar gefährlich. Bevor diese Diskussion weitergeführt wird, versuche ich eine andere Betrachtungsweise zu realisieren, die des distanzierten Sozialwissenschaftlers, der gesellschaftliche Phänomene beobachtet und erklärt, sich also gar nicht mit den selbstzerstörerischen Handlungen direkt beschäftigt, sondern den gesellschaftlichen Umgang mit dem Suizid oder Suizidraten analysiert. Der Diskurs über Selbsttötung wird aus dem Diskurs über das ‚normale’ Sterben meist ausgegliedert. Der Selbstmord wird als besonderes Ärgernis empfunden, als wunde Stelle gerade der modernen siegesgewohnten Kultur, auch als nationale Schande, wenn die Suizidrate im Vergleich zu Staaten der eigenen sozialen ‚Schicht’ als überhöht angesehen wird. Deutschland liegt in der EU im Mittelbereich und weist eine positivere Entwicklung als eine Reihe anderer vergleichbarer Staaten auf: Die Suizidraten haben in den vergangenen 30 Jahren um 176
40 % abgenommen (von 19.000 auf 11.000). Überdurchschnittlich hohe Suizidraten findet man bei Männern in Russland und baltischen Staaten. Die Erklärung der stark differierenden Suizidraten von Staaten und unterschiedlichen Gruppen (Alter, Beruf, Ethnie etc.) ist ein eigenes Spezialgebiet. Der Suizid war im Abendland in den Jahrhunderten vor Anbruch der Moderne normativ schwer bewacht. Selbstbestimmte selbstdestruktive Aktionen von Individuen wurden unterdrückt, fremdbestimmte herrschaftsorientiert gefördert. Diese Normen sind zwar aufgeweicht worden, doch die alten Traditionen wirken – auch in neuem Gewand – weiter. Suizidenten und ihre Bezugspersonen werden nach wie vor bestraft (Heilborn-Maurer/Maurer 1991), Raucher dagegen von der Tabakindustrie ermutigt. Doch die Säkularisierung, die Individualisierung, Zivilisierung und der Fortschritt der Medizin haben die gesellschaftliche Situation so weit geändert, dass immer mehr Menschen den Suizid in ihr Problemlösungsinventar einbeziehen.132
Theorien des Suizids Definition des Suizids Scheinbar bedarf der Selbstmord keiner Definition, da es sich um einen Alltagsbegriff handelt. Doch Wahrnehmung, Definition, Beschreibung und Erklärung des Suizids sind dem historischen Wandel und den Gruppeninteressen unterworfen. So ist es nicht verwunderlich, dass sich die Experten schon über die Definition nicht einigen können (vgl. Baechler 1981; Shneidman 1985). Durkheim (1983) bestimmte ihn 1897 folgendermaßen: „Man nennt Selbstmord jeden Todesfall, der direkt oder indirekt auf eine Handlung oder Unterlassung zurückzuführen ist, die vom Opfer selbst begangen wurde, wobei es das Ergebnis seines Verhaltens im voraus kannte.“ (27)
Der Suizid ‚entsteht’ in sozio-kulturellen Feldern. Bei der Bestimmung von Suizid sollten viele Dimensionen berücksichtigt werden: der Grad der Bewusstheit, des Zwanges, der Autonomie, die zeitliche Festlegung, die Problemlage, die physische, psychische und soziale Situation usw.
132
Dieses Problemlösungsinventar gilt für die meisten nur in extremen Notfällen, so dass zwar Suizidgedanken immer wieder auftauchen, jedoch ein vollzogener Suizid sehr selten ist.
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Baechler versucht eine relativ einfache und doch umfassende Definition von Suizid zu geben: „Selbstmord bezeichnet jedes Verhalten, das die Lösung eines existenziellen Problems in einem Anschlag auf das Leben des Subjekts sucht und findet.“(22) Für ihn ist das „suizidale Verhalten ... eine Antwort auf ein Problem“(ebd.).
Nach Baechler kann der Suizid vollzogen oder symbolisch, direkt oder indirekt, aktuell oder tendenziell, absolut oder relativ, total oder partiell, beabsichtigt oder unbeabsichtigt, gezielt oder riskiert, erwählt oder erzwungen sein. Baechler hat elf Idealtypen von Selbstmorden konstruiert, die er in vier Kategorien einteilt: 1. 2. 3.
4.
Die Fluchttypen: Flucht, Trauer, Strafe oder Sühne Die Aggressionstypen: Rache, Verbrechen, Erpressung, Appell Die oblativen (‚darbringenden’) Typen (besser erscheint mir: altruistische Typen im Anschluss an Durkheim): Opfer, Passage (Übergang in einen anderen besseren Zustand) Die Spieltypen: Ordal (Gericht), Spiel.
Die rigide Zuordnung der Untertypen entspricht nicht der gesellschaftlichen und interaktiven Dynamik (Appell kann nicht nur der Aggression, sondern auch der Flucht, dem Altruismus und dem Spiel zugeordnet werden). Diese Einteilung wird zwar in der realen Suizidologie kaum berücksichtigt, doch sie liefert Erkenntnisse. Insgesamt erbringt sie Anschauungsmaterial für die These von Baechler über „die Pluralität und Heterogenität der Selbstmorde“(340)133. Bei chinesischen Frauen dürfte der Aggressions- oder Rachetyp häufiger sein als bei europäischen Frauen (Baudelot/ Establet 2008, 165 ff). Suizide von manchen alten Menschen oder von Gefängnisinsassen könnte man den Fluchttypen zuordnen: Flucht vor einem Leben, das physisch, sozial und psychisch unwürdig oder degradiert ist. Die Definitionsdiskussionen der Wissenschaftler werden in einem Sonderfeld geführt, das auf die soziale, rechtliche und medizinische Realität kaum einen Einfluss hat. Im Rahmen der modernen Gesellschaftssysteme neigen viele zu einer Definition, bei der die Freiheit des Individuums von kollektiven Zwängen oder überhaupt von Fremdzwang entscheidend ist für die Einordnung als Selbsttötung. Eine solche Grundlagenideologie für entsprechende Definitionen ist für viele Kulturen unüblich gewesen. Ob das Leben eines Menschen im Dienste allgemeiner gesellschaftlicher oder kultureller Funktionen über ein individuell 133
Diese These der Pluralität und Vielfalt des Suizids ist vor allem als Antwort auf die häufig zu hörende Behauptung zu geben, dass Suizid fast ausschließlich durch psychische Erkrankung und hier wieder vor allem durch Depression verursacht sei und sich somit eine soziologische Ursachenforschung als akademische Elfenbeinturmtätigkeit erweise.
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befreites Bewusstsein oder über ein kollektiv versklavtes Bewusstsein geopfert wird, wird von den meisten Menschen der Industriestaaten als bedeutsamer Unterschied angesehen, doch in anderen Kulturen wurden andere Prioritäten gesetzt. Dass eine differenzierte begriffliche, typologische und empirische Erfassung der Suizide vorteilhaft wäre, ist leicht einzusehen. Denn das Wort ‚Selbstmord’ und die statistische Erfassung täuschen eine Einheitlichkeit des Phänomens vor. Diese fatale Komplexitätsreduktion begünstigt Simplifizierung und Ideologisierung des Suizids, die nicht nur im Mediendiskurs sondern auch in den Schriften von Juristen, Medizinern, Theologen und Psychologen zu finden sind. Vor allem wird dadurch die Minderheit der Suizide, die eine positive Kultivierung für einen Teil der Menschen darstellen könnten, in der Mehrheit der leicht zu medikalisierenden Fälle ‚ertränkt’. Zum Nachdenken regt an, den Begriff Selbsttötung mit dem Begriff Fremdtötung zu vergleichen. Fremdtötung wird zumindest in folgende Kategorien gegliedert: Mord, Totschlag, Tötung auf Verlangen (aktive Sterbehilfe), Töten im Krieg, Todesstrafe, Notwehr. Dagegen gibt es keine verbindliche Kategorisierung des Begriffs Selbsttötung, nur verschiedene (psychiatrische) Typologieangebote (vgl. z.B. Wolfersdorf 2007). Dieser Kategorisierungsmangel hat historische und ideologische Gründe, wird jedoch in der Suizidologie nicht interdisziplinär reflektiert. Ein Effekt dieser mangelhaften Differenzierung besteht darin, dass es keinen klar abgegrenzten Bereich der positiven bzw. gesellschaftlich anerkannten Selbsttötung gibt im Gegensatz zur Fremdtötung, obwohl die Konstitution eines solchen Bereichs bei Selbsttötungen – nach Meinung vieler Menschen – ethisch und sozial eher zu rechtfertigen ist als bei Fremdtötungen, vor allem wenn sie gegen den Willen des Opfers gerichtet sind. Psychologische Theorien In diesem Zusammenhang kann auf psychologische Theorien der Selbsttötung nur kurz eingegangen werden, von denen die psychoanalytischen Erklärungen und Ringels Theorie des präsuizidalen Syndroms sehr bekannt geworden sind. Es gibt verschiedene psychoanalytische Erklärungen für Suizide. Wenn der Ärger gegen eine geliebte Person, die einen verlassen hat, nicht geäußert werden darf, wendet sich nach Freud diese negative Energie gegen sich selbst. Freud bot in späteren Schriften noch eine weitere Erklärung an, er stellte dem Lebenstrieb (Eros) den Todes- oder Aggressionstrieb gegenüber. Aggressionshemmungen treten durch die Sozialisation vor allem im Rahmen der modernen Kultur häufig auf (Elias 1976). Es wird ein Über-Ich (Gewissen) ausgebildet, das Aggressivität mit Schuldgefühlen bestraft. Die Aggression kann sich gegen das Selbst wenden,
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selbstzerstörerisch wirken. Negative Affekte gegen Liebesobjekte werden verdrängt und durch Introjektion auf das eigene Ich gelenkt. Neopsychoanalytische Erklärungen betonen narzißtische Störungen (stark verunsichertes Selbstwertgefühl) als Suizidursache, die durch schwere Kränkungen, Misserfolge und Konflikte entstehen können (Henseler 1974). Henry und Short (1954) gehen von der in den vierziger und fünfziger Jahren hochgeschätzten Aggressions-Frustrations-Theorie aus. Aufgrund permanenter Frustration bzw. Erwartungsenttäuschung erhöht sich das Aggressionspotential.134 Die Aggression wird gegen die Objekte gerichtet, die das Individuum für die Frustration als verantwortlich ansieht. Ökonomische Verluste oder Defizite werden als Quellen für Frustrationen angesehen. Wenn das Individuum sein eigenes Versagen als Hauptursache ansetzt, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit selbstdestruktiven Verhaltens, während Fremdaggression eher bei einem externen Zuschreibungsansatz auftritt.135 Lester (1978) konnte folgende Hypothese bestätigen, die sich aus dieser allgemeinen Annahme ableiten lässt: Gesellschaften mit häufigen gewalttätigen Konflikten (Bürgerkrieg, Aufstände etc.) haben ein größeres und wirksameres Angebot an äußeren Ursachen für Unglück und negative Ereignisse und haben somit eine geringere Suizid- und eine höhere Mordrate als friedliche Gesellschaften. Lerntheorien können ebenfalls herangezogen werden. Vor allem wurde die Imitation von Suiziden, über die in Massenmedien berichtet wurde, untersucht (Phillips 1974; Schmidtke/Schaller 2000), ein Phänomen, das schon früher unter dem Namen ‚Werther-Effekt’ diskutiert wurde. Die Versuche, eine spezifisch suizidale Persönlichkeit zu entdecken, haben zu keinen allgemein anerkannten Erkenntnissen geführt (vgl. Pohlmeier 1983; Wellhöfer 1981; Linehan et al. 2000) Allerdings wurden Persönlichkeitseigenschaften, wie Impulsivität, gefunden, die in Kombination mit anderen Faktoren die Suizidwahrscheinlichkeit erhöhen (Williams/Pollock 2000, 81 f). Schmidtke (1987) schlägt ein verhaltenstheoretisches Erklärungsmodell des Suizids vor. Die Person versucht, durch den Suizid die Probleme, die sie gemäß situativer Bedingungen und ihres Verhaltensrepertoires konstruiert, zu lösen. Verlust der Eltern, chronischer Liebesentzug und Persönlichkeitseigenschaften wie Depressivität, negatives Selbstkonzept und Passivität, werden mit Suizidalität in Zusammenhang gebracht. Kritische Lebensereignisse im Zusammenspiel mit Persönlichkeitseigenschaften und dem sozialen Umfeld (soziale Unterstützung) bestimmen die Wahrscheinlichkeit, Suizid zu begehen. Verschie134
Eine Reihe von Untersuchungen haben eine positiven Zusammenhang zwischen Aggressivität und selbstzerstörerischem Verhalten feststellen können (vgl. Apter/Freudenstein 2000, 267 f). 135 Ein psychoanalytischer Ansatz über den Zusammenhang zwischen Selbst- und Fremdaggression, Todes- und Tötungswünschen stammt von Menninger (1974).
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dene Studien zeigen, dass Suizidenten eine höhere Stressbelastung aufweisen als vergleichbare Gruppen, doch vor allem dass ihre Fähigkeiten zur normalen Stressverarbeitung geringer ausprägt sind136. Zusätzlich kommen oft noch Faktoren hinzu, die die Anfälligkeit gegenüber Belastungen erhöhen: hohes Alter137, Drogen- und Medikamentenmissbrauch (vgl. Amelang 1986, 381 ff). Die gesellschaftliche und professionelle Dominanz psychologischer und medizinischer Modelle der Erklärung von Suizidalität ist einseitig und ideologiefördernd, da es sich um soziale kontextabhängige multidimensionale Ereignisse handelt. Wenn z.B. in einem bestimmten Gesellschaftstyp oder Kulturbereich hauptsächlich depressive Personen Suizid begehen, kann daraus nicht geschlossen werden, dass unter allen oder den meisten soziokulturellen Bedingungen depressive Personen das Hauptkontingent unter Suizidenten stellen werden. Vor allem kann aufgrund reduktionistischer empirischer Untersuchungen nicht einfach geschlossen werden, dass Depression die Hauptursache von Suizid ist. Es können ja andere Faktoren sein, die sowohl Depressionen als auch Suizidhandlungen ‚bewirken’. In der Regel handelt es sich um ein hochkomplexes Netzwerk von wirkenden Faktoren, die zu selbstzerstörerischen Einstellungen und Handlungen führen. Soziologische Theorien Die meisten soziologischen Suizidtheorien kann man drei Typen zuordnen:
Eine makrosoziologische, meist funktionalistische oder systemtheoretische Betrachtungsweise, die von Durkheim ausgeht. Eine mikrosoziologische, in einem weiten Sinn symbolisch-interaktionistische Betrachtungsweise, z.B. Douglas 1967, Baechler 1981. Die dritte Sichtweise kann man als wissenssoziologische, ideologiekritische und wissenschaftssoziologische Perspektive bezeichnen (vgl. Feldmann 1998c).
Die Sozialwissenschaften sind in den großen europäischen Nationalstaaten entstanden, sie lösten sich schrittweise von den primär normativen und moralisierenden Betrachtungen des Suizids und wandten sich gemäß nationalistischen Interessen folgenden Fragestellungen zu: Warum sind die Suizidraten innerhalb von Staaten und anderen Großkollektiven relativ stabil und sehr unterschiedlich? 136 Erlemeier (1992) betrachtet den Suizid im Rahmen eines Stressbewältigungsmodells (CopingVerhalten). 137 Erlemeier (2002, 49) berichtet aus den Ergebnissen einer Berliner Studie: „Für 15 % der Population über 70 Jahren ist das Leben nicht mehr lebenswert und 5 % äußern den Wunsch, tot zu sein.“
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Im 19. Jahrhundert wurden vor allem folgende Ursachen genannt und geprüft: Klima, Rasse, Erbfaktoren, psychische Erkrankungen, Religionszugehörigkeit. Durkheim versuchte – wobei sein Interesse auf die Etablierung der Soziologie als Universitätswissenschaft gerichtet war – in seinem berühmten Werk „Le suicide“ (1897) die nicht-soziologischen Erklärungen zu widerlegen und die Selbstmordraten als bedeutsame Indikatoren für den Zustand einer Gesellschaft und für den sozialen Wandel herauszustellen. Die ‚Leittheorie’ von Durkheim Die nach wie vor bedeutsamste und grundlegende soziologische Theorie des Selbstmordes stammt von Durkheim (1983). Durkheim hat entscheidend dazu beigetragen, „daß der Selbstmord nicht mehr einer diabolischen Natur, einer Geisteskrankheit oder einer seelischen Schwäche zugeschrieben werden kann und daß weder Nervenschwäche noch Föhn, weder Rassenzugehörigkeit noch Nachahmung den Selbstmord verständlich machen“ (Baudry 1985b, 174).
Integration in der Gruppe oder Gesellschaft und Grad der Normierung sind die beiden wesentlichen sozialen Dimensionen, die nach Durkheim die Suizidhäufigkeit beeinflussen, wobei jeweils extreme Ausprägungen dieser Merkmale verstärkend oder auslösend wirken. Durkheim unterscheidet 4 Typen des Selbstmordes:
egoistischer Suizid: bei zu schwacher Integration (Trennung des Individuums vom Kollektiv), altruistischer Suizid: bei zu starker Integration (Selbstaufopferung für das Kollektiv) anomischer Suizid: bei Normschwäche und -labilität (mangelhafte gesellschaftliche Kontrolle der Bedürfnisse), fatalistischer Suizid: bei überstarken Normzwängen (gesellschaftliche Unterdrückung der Bedürfnisse).
Die Zunahme des egoistischen Suizids in Industriestaaten ist nach Durkheim (1983, 239) auf „das Nachlassen der sozialen Bindungen, eine Art kollektiver Asthenie, sozialen Kränkelns“ zurückzuführen. Zentral für seine Argumentation ist die Integration oder Einbindung des Individuums in die Gesellschaft, das
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Kollektiv und seine Bezugsgruppen.138 Wenn diese Integration schwach ist, dann steigt die Wahrscheinlichkeit des Suizids für das Individuum, z.B. bei Menschen, die allein leben, sich einsam fühlen und Kontaktschwierigkeiten haben (egoistischer Suizid). Wenn die Integration übermäßig stark ist (z.B. in radikalen fundamentalistischen Gruppen), dann steigt ebenfalls die Wahrscheinlichkeit des Suizids (altruistischer Suizid), der dann freilich anders bezeichnet wird, z.B. als Opfer- oder Märtyrertod oder von Gegnern als Selbstmordattentat. Integration ist hierbei vor allem an der Häufigkeit, Intensität und ideologischen Geschlossenheit der Interaktionen innerhalb von Gruppen bzw. Gemeinschaften ablesbar. Zentrale traditionelle Institutionen zur Pflege und Erhaltung der Integration sind die Familie und die Religion. Durkheim analysierte die ‚Schutzfunktion’ der Religion gegenüber Selbstdestruktion, wobei drei Faktoren unterschieden werden können: gemeinsame Werte, intensive positive Interaktion und starke soziale Bindungen. Er stellte fest, dass die Suizidraten von Katholiken und Juden (in manchen europäischen Regionen im 19. Jahrhundert) geringer waren als die von Protestanten. Als Ursache für diese Unterschiede gab Durkheim die ‚soziale Tatsache’ an, dass Katholiken stärker in die Gemeinschaft integriert sind und dass Protestanten eher religiöse Individualisten sind und die institutionelle Integration durch ihre Religionsgemeinschaft schwächer ist. Diese generalisierenden Annahmen Durkheims über die Suizidraten von Protestanten, Katholiken und Juden können aufgrund der vorliegenden Forschungsergebnisse nicht mehr aufrechterhalten werden (vgl. Bainbridge/Stack 1981; Breault 1986; Pescosolido/Georgianna 1989; Baudelot/ Establet 2008, 191 f). Day (1987) hat aufgrund einer Reanalyse versucht zu beweisen, dass die statistischen Unterschiede, die Durkheim interpretierte, sich aufgrund der stärkeren Tendenz in katholischen Gebieten, Suizidfälle unter den Kategorien ‚Unfall’, ‚plötzlicher Tod’ oder ‚Tod unbekannter Ursache’ zu verbergen, ergaben. Die neuere Forschung konzentriert sich nicht mehr wie die frühere auf die Unterschiede zwischen Religionsgemeinschaften, vor allem zwischen Katholiken, Protestanten und Juden, sondern versucht, verlässliche Indikatoren für religiöse Integration zu finden: vor allem die Mitgliedschaft in Religionsgemeinschaften, den Kirchenbesuch und die Rezeption religiöser Schriften. Eine weitere zentrale Institution stellt für Durkheim die Familie dar. Für Durkheim ist die Verkleinerung der Familie, die bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts feststellbar war, eine Gefahr. Außerdem kritisiert er die Kurzle138
Da sich die gesellschaftlichen Verhältnisse in den vergangenen hundert Jahren gravierend verändert haben, muss auch der Integrationsbegriff überdacht werden. Heute sind teilweise viele schwache Beziehungen zu Personen, die unterschiedlichen Gruppen und Räumen angehören, beruflich und privat stabilisierender als wenige starke lokale clanorientierte Beziehungen (vgl. Bille-Brahe 2000, 203).
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bigkeit der Kleinfamilie; sie erstreckt sich häufig nur mehr über eine Generation. Obwohl die Argumentation von Durkheim Schwächen zeigt, ist die grundlegende Annahme des Lebensschutzes durch integrative Familienstrukturen immer wieder durch Untersuchungen bestätigt worden (Vgl. Lester 1983, 48; Conklin/ Simpson 1987). Die in Familien stärker integrierten Mitglieder haben geringere Suizidraten als die schwächer Integrierten. Geschiedene haben die höchsten Suizidraten, gefolgt von Ledigen und Verwitweten. Verheiratete Personen mit Kindern sind nach Durkheim am besten vor Suizid geschützt und haben auch tatsächlich die niedrigsten Raten (vgl. Cantor 2000, 21f). Neuere Studien bestätigen die Annahme von Durkheim, dass die Ehe für Männer einen stärkeren Schutz vor selbstdestruktivem Verhalten bietet als für Frauen (vgl. den Bericht bei Stillion 1985, 88). Die Schwäche oder Defizienz im Wert- und Normsystem einer Gesellschaft hat Durkheim zum Anlass eines eigenen Suizidtyps genommen, des anomischen Suizids, wobei die gesellschaftliche Regellosigkeit, Normschwäche oder -inkonsistenz auf die betroffenen Individuen durchschlägt. Anomie, also Normabschwächung, bezieht sich auf Entwicklungen in der Sozialstruktur, die die Dauer und Stabilität sozialer Beziehungen stören, die zu starkem Wandel von Positionen und Rollen beitragen, in denen Ziele und Mittel, Werte und Normen umdefiniert werden. Anomie ergibt sich etwa in Zeiten politischer und wirtschaftlicher Krisen, aber auch plötzlichen wirtschaftlichen Aufschwungs, in Beschäftigungsbereichen mit hoher Fluktuationsrate, in Wohngebieten mit überdurchschnittlich vielen Zu- und Wegzügen etc. (Welz 1979). Die Basiskonzeption der Anomietheorie beruht ähnlich funktionalistischen Theorien auf der Annahme eines in einem dynamischen Gleichgewicht befindlichen Systems von Werten, Normen und Institutionen (vgl. Merton 1938). Die dahinterstehende anthropologische Konzeption sei kurz skizziert: Die Bedürfnisse der Menschen sind offen und müssen folglich gesellschaftlich geregelt werden. Wenn ein zu schneller sozialer Auf- oder Abstieg erfolgt, ergeben sich Diskrepanzen zwischen Erwartungen und realen Möglichkeiten. Die Personen versuchen, diese Diskrepanzen und psychischen Spannungen zu reduzieren, wobei Suizidhandlungen eine Problemlösung darstellen. Es ergeben sich Schwierigkeiten bei diesen Modellannahmen, z.B. ist die moderne Gesellschaft nicht mehr durch einfache konsistente Wert- und Normsysteme gekennzeichnet und verschiedene Subsysteme sind relativ autonom. Es kommt zu Rollenkonflikten, gerade wenn die Normen und Erwartungen in einem Teilsystem besonders stark geregelt sind, also wenn nach Durkheim dieses Subsystem keine anomischen Züge trägt. Durkheim (1983) meint, dass Menschen, die von der Gesellschaft weniger geformt oder sozialisiert wurden, wie etwa Kinder, auch weniger suizidgefährdet sind. Menschen, die sich im Zentrum der
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komplexen modernen Gesellschaft bewegen, sind stärker suizidgefährdet als solche an der Peripherie, für Durkheim eine Erklärung der geringeren Suizidraten von Frauen. „Da sie mehr als der Mann außerhalb des öffentlichen Lebens steht, hat sie dieses weniger durchdrungen.“ (241) Nach Durkheims Ansicht hielten Standes- oder Kastengesellschaften die Begierden der Menschen in Zaum. „In normalen Zeiten wird die Kollektivordnung von der großen Mehrheit der ihr Unterworfenen als gerecht angesehen.“ (287) Durch die Erosion der Standes- und Klassengrenzen, die zunehmende Mobilität der Bevölkerung, die Möglichkeit, Status anders als durch soziale Herkunft zu erwerben, entsteht immer häufiger ein Ungleichgewicht der sozialen Kräfte; Deklassierung, Erwartungsenttäuschung und der Statuskampf der Individuen verschärfen sich. „Alle Klassen sind dem ausgesetzt, weil es keine abgegrenzten Klassen mehr gibt.“(289) Die Anerkennung des „Dogmas vom wirtschaftlichen Materialismus“ und die Anspruchsinflation führen jedoch für viele zu Krisen und Ohnmachtsgefühlen. „... die Müdigkeit allein kann schon die Entzauberung bringen, denn auf die Dauer muß die Nutzlosigkeit dieser Jagd ohne Ende offenkundig werden.“(293)
Nach Durkheim sind es vor allem Krisen im Wirtschaftsbereich, die zu Anomie und dadurch zu selbstdestruktiven Tendenzen je nach Grad der Beteiligung an diesen Wirtschaftsprozessen führen. Die meisten Forscher in der Nachfolge von Durkheim haben sich auf den anomischen Suizid konzentriert und vor allem die im Wirtschaftssystem liegenden Ursachen untersucht. Wirtschaftswachstum und Arbeitslosigkeit sind die am häufigsten genannten Ursachen (Platt/Hawton 2000; Stack 2000, 21). Nicht nur die Unterscheidung von egoistischem und anomischem Suizid hat zu vielfältiger Kritik Anlass gegeben, sondern auch die Abgrenzung von altruistischem und egoistischem Suizid. Gerade moderne Individuen, die Individualisierung als gesellschaftlichen und persönlichen Wert anerkennen und die gelernt haben, sich zu bewerten und einzuordnen, können durchaus gleichzeitig egoistischen und altruistischen Suizid begehen, etwa wenn sie einen sozialen Abstieg durchgemacht haben, arbeitslos sind, unter Rollenverlust leiden etc. Wenn man etwa die hohe Suizidrate der Eskimos in Alaska mit Durkheimschen Typen erklären will, dann wird dies schwierig sein. Einerseits kann man von typisch anomischem Suizid sprechen, da ja die Eskimokultur in Auflösung begriffen ist. Andrerseits kann man altruistische Suizide vermuten, da aufgrund des Kulturkonflikts sozusagen von der sterbenden Kultur der Befehl an die Individuen ausgegeben wird, auch zu sterben. Doch auch egoistischer Suizid könnte dominant sein, da die durch die Industriekultur vermittelten Werte, Ziele und Mittel für die Eskimos individuell permanent zu Erwartungsenttäuschung führen. 185
Wahrscheinlich handelt es sich nicht um einander ausschließende Typen, sondern um Dimensionen, die sich teilweise überlappen. Statusinkonsistenztheorie Ebenfalls von strukturellen Ursachen geht die Statusinkonsistenztheorie in ihrer Erklärung aus (Gibbs/Martin 1964, 1981). Wie bei Durkheim wird als Grundannahme festgestellt, dass die Suizidrate von dem Grad der Integration oder Desintegration abhängt, wobei diese Theorie allerdings nur die Statusintegration berücksichtigt. Wenn Individuen unvereinbare oder nicht ranggleiche Statuspositionen einnehmen139, dann ergeben sich Rollenkonflikte aufgrund von Diskrepanzen zwischen den Erwartungen verschiedener Bezugsgruppen und -personen, die zu psychischen Spannungen und Verhaltensproblemen für die Individuen führen können. Für die sozialen Beziehungsstörungen kann als extreme Problemlösung der Suizid gewählt werden. Die Theorie kann verwendet werden, um die höheren Suizidraten von alten Männern im Vergleich zu alten Frauen zu erklären. Alte Männer erfahren relativ größere Statusverluste als alte Frauen. In der Theorie fehlt jedoch die Differenzierung zwischen objektiver Statusinkonsistenz und kontextabhängiger subjektiver Einschätzung der Statusprobleme. Theorie abweichenden Verhaltens Amelang (1986) behandelt den Suizid in seinem Buch über sozial abweichendes Verhalten. Seine Begründungen beziehen sich auf folgende ‚Tatsachen’:
Das Verhalten verstößt gegen ‚Triebe’ oder Motive zur Selbsterhaltung. Die hinterbliebenen Bezugspersonen zeigen Scham und Betroffenheit und versuchen teilweise, den Suizid zu verheimlichen.
Soziologisch betrachtet ist das erste Argument unpassend, da es ein bio-psychologisches Kriterium als Norm (wessen Norm?) setzt. Dagegen trifft das zweite Argument höchstwahrscheinlich in der Mehrzahl der Fälle zu. Übrigens reagieren die meisten Personen generell beim Sterben von Bezugspersonen, also nicht nur auf Suizid, mit Betroffenheit, Abwehr, Vermeidung und negativen Gefühlen (vgl. Edgley 2003). Zu den Gruppen, die überdurchschnittlich hohe Suizidraten aufweisen, gehören Gefängnisinsassen (Lester 1983, 44; Clamser/Cabana 2003, 489 f) psy139
Beispiel: Eine Person ist promoviert und Sozialhilfeempfänger oder Taxifahrer.
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chisch Kranke und Drogensüchtige, was die These bestätigt, dass zumindest ein Teil der Suizidfälle zum Syndrom ‚abweichendes Verhalten’ zu zählen ist. Doch nicht alle Formen der Selbstdestruktion gelten als abweichendes Verhalten. Schon Durkheim hat auf den altruistischen Suizid hingewiesen, der in der Regel innerhalb traditioneller bzw. autoritärer kultureller Systeme hochgeschätzt wurde (Selbstverbrennung von Witwen, Märtyrer, Kamikaze-Flieger). Weitere sozialwissenschaftliche Theorien Parsons und Lidz (1967) haben den Suizid im Anschluss an Durkheims Typologie erörtert. Gemäß dieser funktionalistischen Perspektive wird der Suizid von einem gesellschaftlichen Standpunkt als unnötiger, vorzeitiger und vermeidbarer Tod angesehen, d.h. es wird soziale Kontrolle zur Suizidvermeidung eingesetzt. Parsons und Lidz sprechen von einer „Tragödie“, d.h. sie weisen auf das Dilemma, dass einerseits das Selbstbestimmungsrecht des Individuums und andererseits die gegen die Selbsttötung gerichteten Werte aufeinanderstoßen.140 Gerade in einer Kultur, die in bisher einmaliger Weise eine Individualisierung auf Massenbasis nicht nur zugelassen, sondern gefördert hat, ist das Individuum auch besonders wertvoll – so wertvoll, dass die Verfügungsgewalt nicht der ‚individuellen Willkür’ überlassen werden soll (!?). Zentrale Aspekte dieses Individuums, vor allem die Verfügung über Leben und Tod, werden vom Staat ‚verwaltet’ bzw. auch von Religionsgemeinschaften: manifestiert durch die Werte ‚Heiligkeit des Lebens’ oder ‚Schutz des Lebens’ (vgl. Feldmann 1998c, 8 f). Dieser interne Kulturkonflikt in der Konstruktion von Individualität wird durch öffentliche kontroverse Diskurse über Selbsttötung oder aktive Sterbehilfe manifest. Nach Douglas (1967) ist der Suizid ein Produkt von Interaktionen und wechselseitigen Interpretationen der beteiligten Personen, eine Handlung, die der Suizident mit Sinn belegt, den der Sozialwissenschaftler rekonstruieren muss – ein symbolisch-interaktionistischer Ansatz. Douglas nennt als fundamentale Bedeutung selbstzerstörerischer Handlungen für das Individuum (das „substantielle Selbst“ wie er es nennt) die Möglichkeit der Transformation des (eigenen und/oder eines anderen) substantiellen Selbst. Nicht immer steht die eigene Transformation im Zentrum. Die Selbsttötung kann ein Mittel sein, um in anderen eine Transformation zu bewirken, z.B. Reue, Angst, Verzweiflung, Verlust 140
„The main theme of this individualism is not permissiveness for self-indulgence but a sense of mission and obligation to act with maximum responsiblity in contributing to the good society.“ (Parsons/Lidz 1967, 163)
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des Gesichts. Douglas (1967, 328) gibt als die typische allgemeine Ursache für Suizidhandlungen einen plötzlichen großen persönlichen Verlust an. Am bedeutsamsten ist der Verlust einer signifikanten Bezugsperson oder eines Teils der sozialen oder persönlichen Identität der Person. Ein Beziehungstod, realer physischer Tod, psychisches oder soziales Sterben sind also die zentralen Ursachen für selbstzerstörerisches Handeln. Baudelot und Establet (2008) haben ein interessantes Werk über den Suizid publiziert, aus dem einige wichtige Erkenntnisse hier mitgeteilt werden. Die Suizidraten in armen unterentwickelten Ländern sind niedriger als in reichen hochentwickelten Ländern. Doch Armut ‚schützt’ nicht generell! In den reichen Ländern sind die Suizidraten der ärmeren und sozial benachteiligten Gruppen eindeutig höher als die der wohlhabenden und privilegierten. Die reichen Bundesstaaten der USA haben geringere Suizidraten als die armen Bundesstaaten. Doch auch Reichtum schützt nicht. In den beiden riesigen sich ökonomisch in den letzten beiden Jahrzehnten rasant entwickelnden Staaten China und Indien sind die Suizidraten gestiegen, und vor allem in den Gruppen, die ökonomisches und kulturelles Kapital gewonnen haben141. Dies könnte als Bestätigung für Annahmen von Durkheim angesehen werden: Modernisierung und Ökonomisierung begünstigen Individualisierung und Individualisierung verstärkt Suizidalität. Doch auch diese These kann nicht aufrechterhalten werden. In den hochentwickelten Ländern sind die Suizidraten trotz ökonomischen Wachstums, verbesserter Bildung und steigendem Wohlstand der meisten Bürger im 20. Jahrhundert in der Regel gefallen. Die Individualisierung hat sich in diesem Zeitraum jedoch prächtig weiterentwickelt. Im Durchschnitt haben Staaten, in denen ‚traditionelle religiöse Werte’ eher vertreten werden als Staaten mit ‚modernen säkularen Werten’ geringere Suizidraten, doch wenn man etwa die USA, einen Staat der ‚traditionellen religiösen’ Kategorie mit Deutschland, Norwegen und Dänemark, Ländern der ‚modernen säkularen’ Kategorie, vergleicht, ist kein signifikanter Unterschied festzustellen. Trotz der Studien vieler Sozialwissenschaftler eröffnen sich bei der Analyse von Suizidraten ständig neue Probleme und Fragen. Warum sind die Suizidraten zwischen 1960 und 2000 in Frankreich zuerst gestiegen und dann wieder gefallen, jedoch höher als 1960 geblieben, während Deutschland in diesem Zeitraum einen erstaunlichen 40-prozentigen Abfall der Suizidraten erfuhr? Baudelot und Establet nennen mögliche Ursachen: bessere Übergänge zwischen Schule und Beruf, geringere Arbeitslosigkeit für junge Menschen, geringere Einkommensungleichheit. Doch all diese Argumente überzeugen nicht so richtig, da sie im Vergleich zwischen anderen Staaten sich teilweise nicht bewähren. 141
Die Suizidraten sind in China und Indien jedoch noch immer gering verglichen mit dem EUDurchschnitt oder gar Staaten wie Russland, Ungarn oder Finnland.
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Viele Daten bestätigen folgende These: Wenn bestimmte gesellschaftliche Bereiche, z.B. agrarische Tätigkeit oder Arbeit in bestimmten Industrien, entwertet werden, d.h. die Menschen arbeitslos und/ oder aus ihren Habitaten getrieben werden, dann steigt in diesen Gruppen die Suizidrate. Sozialer Aufstieg kann unter bestimmten Bedingungen die Suizidrate hochtreiben: Frauen, die über einen Hochschulabschluss eine professionelle Position erringen, denen es jedoch nicht gelingt, einen festen Partner zu gewinnen, sind gefährdet. Hierbei ist noch die Art der Position bedeutsam: Arzt- und Pflegeberufe sind besonders psychisch belastend. Bei all diesen Überlegungen ist immer zu bedenken: Selbst wenn die Suizidrate in einer Gruppe überdurchschnittlich hoch ist, bleibt die Wahrscheinlichkeit für eine einzelne Person, Suizid zu begehen, gering. Eine sozialwissenschaftliche Typologie des Suizids Zuletzt stelle ich eine eigene Typologie des Suizids vor, die als Grundlage für eine Theorie dienen könnte. Der Suizid wird fast immer von der Diskussion des ‚normalen Sterbens’ abgespalten, als wäre er ein völlig eigenständiger Bereich mit einem ‚eigenen’ Tod. Hier soll auf diese Verbindung mehr Wert gelegt werden. Für Psychiater sind suizidale Vorstellungen und Planungen Zeichen schwerwiegender psychischer Erkrankung, für viele Soziologen sind in der Nachfolge von Durkheim Suizidraten von Kollektiven Symptome gesellschaftlicher und kultureller Dysfunktion142, für die meisten Philosophen und Theologen ist die Akzeptanz von selbstbestimmter Lebensverkürzung ein Zeichen moralischen oder ethischen Verfalls (vgl. Gehring 2010)143. Während Durkheim vor allem ein Defizit an Normierung oder Integration als Ursachen des Suizids herausstellt und auch die anderen genannten Theorien eine sozial-negative Sichtweise pflegen, wird in der von mir vorgeschlagenen Kategorisierung nach positiven bzw. neutralen gesellschaftlichen Orientierungen unterschieden. Die Typologie geht mehr von einem Weber’schen und Parsons’schen (vgl. Parsons/Fox und Lidz 1973; Feldmann 1995, 147) als von einem Durkheim’schen Theoriemodell aus. In den zentralen gesellschaftlichen Subsystemen oder Institutionen können folgende Orientierungsmuster identifiziert werden:
in Politik und Religion normative Orientierungen, in Wissenschaft und Bildung kognitive Orientierungen,
142
„.. suicide is not simply … a mental disorder but is fundamentally a social disorder“ (Howarth 2006, 65). 143 Nicht ‚verfallsorientiert’ argumentieren Wittwer (2003) und Fenner (2008).
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in Wirtschaft und Technik instrumentelle Orientierungen und in Kunst und Medien expressive Orientierungen.
Entsprechend diesen grundlegenden Orientierungsmustern können Todes- und Suizidkonzeptionen konstruiert werden: 1. Der normative Suizid: Er wird häufig als altruistischer oder sozialer Suizid bezeichnet. Er kann durch einen expliziten oder impliziten sozialen Todesbefehl verursacht werden. Die betroffene Person fühlt sich gezwungen, den Suizid zu vollziehen. Für Angehörige bestimmter sozialer Gruppen in Japan, im römischen Reich und auch in der europäischen Kultur (z.B. für entdeckte Verräter in hohen Positionen) war Suizid unter bestimmten Bedingungen, z.B. Verlust der Ehre, die vorgeschriebene Norm. Das psychische System ist Teil eines Habitus und wird immer durch soziokulturelle Systeme mitgesteuert., d.h. Suizidhandlungen haben normative Anteile144. Der ökonomische und soziale Erfolg wird allgemein als notwendig angesehen. ‚Spitzenverlierer’145 erhalten implizite Selbstvernichtungsbefehle – bei gleichzeitiger Androhung von Sippenstrafe, wenn sie Suizid begehen, eine typische double-bind-Situation. Verlierer wird man durch ökonomische, berufliche, familiäre, gruppenbezogene und körperliche Verluste – und Verliererkarrieren entstehen durch die kulturelle und soziale Begünstigung des Prinzips: Winner takes all. 2. Der instrumentelle Suizid: Er dient als Mittel, um bestimmte Ziele (Rache, Aggression, ökonomische Vorteile für Familienmitglieder etc.) zu erreichen. In der modernen Gesellschaft ist er eher selten, da aufgrund des stark entwickelten Individualismus selten instrumentelle Ziele eine solche Dominanz haben können, dass das Individuum seine eigene Selbstzerstörung riskiert. Allerdings findet eine zunehmende Instrumentalisierung und Medikalisierung des Körpers statt, wodurch auch die Ich- und Seelenkonstruktionen sich verändern (vgl. Feldmann 1998b). Ein moderner instrumenteller Suizid kann die Zerstörung des eigenen Körpers anstreben, um das Ich, das ideale Selbst oder die Seele vor einer unwürdigen Existenz zu bewahren. Doch solche Konzeptionen können auch dem Typ des kognitiven oder rationalen Suizids zugeordnet werden. 3. Der kognitive oder rationale Suizid: Eine Person, die sich in einem psychischen, sozialen oder physischen Sterbeprozess befindet, setzt einen subjektiven 144
Schon Parsons und Lidz (1967, 165) haben vermutet, dass es in einem großen Teil der ‚normalen’ Todesfälle Suizidanteile gibt (vgl. Feldmann 1995, 166). 145 ‚Spitzenverluste’ sind z.B. der Tod des eigenen Kindes oder die Identifikation eines hochrangigen Bürgers als Verbrecher.
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Standard für die eigene Lebensqualität. Ein Teil der sogenannten Bilanzsuizide kann dazugezählt werden. Ein Beispiel: Ein alter Mensch, der unheilbar an Krebs oder einer gehirnzerstörenden Krankheit leidet, es mit seinen Vorstellungen von Identität und Lebensqualität nicht vereinbaren kann, dass er langsam und qualvoll zugrunde geht, bringt sich um. Um den Begriff ‚Rationalität’ wird gesellschaftlich gekämpft. Herrschaftsnahe Experten, z.B. Mediziner oder Suizidologen, verabsolutieren ihre Wirklichkeits- und Rationalitätskonstruktionen, z.B. Interpretationen von Forschungsergebnissen, und bezeichnen das eigenständige Denken und Handeln von Suizidenten als ‚irrational’ und krankhaft.146 4. Der expressive Suizid: Es handelt sich in der Regel um starke Affekte, z.B. enttäuschte Liebe, die zu Suizidhandlungen diesen Typs führt. Die Affektzähmung und der damit verbundene hohe Bildungsstand in der Bevölkerung sind freilich in der modernen Gesellschaft, wie schon gesagt, weit fortgeschritten, so dass dieser Suizidtyp wahrscheinlich anteilsmäßig abgenommen hat.147 Trotz der in der westlichen Kultur geltenden impliziten Interaktionsverbote vollziehen sich suizidale Handlungen immer in Interaktionskontexten (vgl. Feldmann 1998c, 13). Bei stark interaktiven Suiziden handelt es sich teilweise um Grenzfälle zwischen Mord bzw. Fremddestruktion und Selbsttötung. Zweifellos ist auch ein interaktiver Suizid auf Diskursbasis denkbar, bei dem gleichzeitig Selbst- und Fremdbestimmung eine Steigerung erfahren. Ein Beispiel für einen interaktiven Suizid mit (höchstwahrscheinlich) hohem Grad an Fremdbestimmung: Eine Frau war seit 20 Jahren chronisch krank und wurde von ihrem Mann gepflegt. Doch der Mann äußerte immer häufiger, dass ihm die Pflegerolle auf die Nerven ginge und beschuldigte seine Frau, dass sie sein Leben einschränke. Er kaufte ein Gewehr mit der Begründung, es hätte in der Nachbarschaft einige Einbrüche gegeben. Er ließ das geladene Gewehr immer in einem Schrank, der in Reichweite der bettlägerigen Frau stand. Nach einer heftigen Auseinandersetzung ging er zur Arbeit und die Frau erschoss sich in seiner Abwesenheit (vgl. Taylor 1982).
Der normative Suizid ist – wenn man nur die offizielle Normierung betrachtet – in der modernen Gesellschaft unbedeutsam. Doch das ‚heimliche Curriculum’ kann Sterbebefehle oder ‚Todesurteile’ aussenden. Da der normale, produktive, gesunde und selbstbewusste Mensch als Idealtyp gilt, ist bei krasser Abweichung 146
Ringel (1953), dessen Theorie lange Zeit großen Einfluß ausübte, bezeichnete Suizidenten sogar als unreif und asozial. 147 Dem widerspricht Bronisch (1995, 120): „Die empirische Forschung hat gezeigt, dass .... Suizid und Suizidversuch meist Impulshandlungen darstellen.“
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von dieser Normalität und entsprechender Stigmatisierung eine außengesteuerte ‚innere Stimme’, die die eigene Vernichtung als funktional oder wünschenswert erklärt, durchaus plausibel. „Suizidale Handlungen vollziehen sich meist so, wie sie sich vollziehen sollen. Es gibt ungeschriebene normative Skripte für solche Handlungen. Ich versuche, ein dominantes Skript zu rekonstruieren: 1. Du bist ‚schlecht’ und deshalb musst du dich schlecht fühlen. Du musst dir deine Situation als aussichtslos vorstellen. 2. Du sollst es anderen nur indirekt mitteilen, dass du demnächst das Spiel spielen wirst. 3. Die anderen dürfen nicht direkt mitspielen. Du musst es schon allein machen, sonst wirst du und wird der direkt Mitspielende bestraft. Wenn du schon den verwerflichen Akt des Suizids vollziehen willst, dann darfst du es nur als ‚homo clausus’, d.h. die Taue zu anderen sind gekappt. 4. Du kannst anderen Zufallsrollen zuweisen, d.h. du gibst ihnen und dir Chancen, dass eingegriffen wird.“ (Feldmann 1998c, 12)
Der rationale oder kognitive Suizid hat an Bedeutung gewonnen148, begünstigt durch Individualisierung, Verwissenschaftlichung, verbesserte Bildung, gestiegene Erwartungen und Rationalisierung vieler Lebensbereiche. Durch die Abnahme sozialer Kontrolle z.B. für junge Menschen, den zunehmenden Widerstand gegen die abendländische Affektzähmung und somit durch die gleichen emanzipatorischen Prozesse, die den rationalen Suizid begünstigen, werden die Chancen für expressive selbstzerstörerische Handlungen erhöht (z.B. in Zusammenhang mit Alkohol- und Drogenkonsum). Der interaktive Suizid wird zunehmend ins Blickfeld gelangen, da er mit Beihilfe zum Suizid, aktiver Sterbehilfe und auch mit der Forderung, zu Hause zu sterben, in Beziehung steht. Sozialwissenschaftliche, biologische und medizinische Theorien und die viel mächtigeren Alltagstheorien (vor allem des sozialen Kontrollpersonals) zur Erklärung des Suizids können wissenssoziologisch und ideologiekritisch analysiert werden, was im folgenden Abschnitt versucht wird. Traditionelle und moderne Selbstmordideologien „... wenn sich einer erhängt habe, entstehe ein dreitägiger Sturm ... Man gibt dem Gehängten eine Ohrfeige, bevor man ihn abschneidet, sonst dreht er einem den Hals 148
Ob sich dieser Suizidtyp quantitativ in den vergangenen Jahrzehnten verstärkt hat, lässt sich aufgrund der mangelhaften Forschungslage nicht feststellen.
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um ... Weil der Selbstmörder als Wiedergänger gefürchtet wird, werden allerlei Abwehrmittel angewandt ... In Schottland will man Epilepsie heilen, indem man aus dem Schädel eines Selbstmörders trinkt.“ (Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, zit. in Willemsen 1986, 76 ff)
Ökonomische, politische, moralische, philosophische und ästhetische Gedankensysteme wurden und werden zur Verurteilung oder Rechtfertigung des Suizids herangezogen. In manchen Religionen wurden sozial kontrollierte Formen des Sterbens als positive Möglichkeiten des Handelns anerkannt, z.B. in Religionen, die eine Trennung von Körper und Seele annahmen und den Körper als Gefängnis, Störung oder anderweitig negativ ansahen (z.B. Buddhismus). Manche griechischen und römischen Denker und Dichter rechtfertigten Formen des Suizids (Kyniker, Stoiker, Epikuräer). Im römischen Reich wurde er von vielen Mitgliedern der Oberschicht und Intellektuellen als soziale Lösung in folgenden Fällen anerkannt (vgl. Marks 2003, 310 f):
um die Ehre zu retten, um Schmerz und Schande zu vermeiden, im Zustand extremer Trauer um eine geliebte Person und als patriotische Handlung.
Dagegen dominierte in den christlichen Ländern des Mittelalters und auch der Neuzeit eine stark ablehnende Haltung gegenüber der Selbsttötung, die eine soziale und kognitive Differenzierung und Kultivierung verhinderte. Durch die Aufklärung, die Säkularisierung, Industrialisierung und Modernisierung wandelte sich dieses dogmatische kulturelle Skript. Doch die neuen Experten für den Suizid, vor allem Mediziner und Psychologen, blieben im Interesse mächtiger Gruppen bei einer verengten Sichtweise: Suizidenten wurden zu Kranken erklärt. Die zunehmende Individualisierung steht in einem Spannungsverhältnis zu den Expertenoligopolen. In Zukunft könnten einzelne und soziale Gruppen zunehmendes Interesse an neuen Formen der Institutionalisierung des Suizids gewinnen, wie es ja schon in manchen Kulturen der Fall war (vgl. Feldmann 2008a). Kurze Ideologiegeschichte des abendländischen Suizids149 Der Beginn des Christentums war durch starke Akzeptanz einer eingeschränkten Form des sozialen (normativen) Suizids gekennzeichnet. Viele Christen waren bereit, als Märtyrer zu sterben.
149
Vgl. zur Geschichte des Suizids Minois 1996; Baumann 2001.
193
Drei Arten des zumindest partiell durch eigene Entscheidungen bewirkten frühzeitigen Sterbens wurden in den ersten Jahrhunderten des Christentums akzeptiert:
Märtyrertod, frühzeitiger Tod durch extreme Askese und Suizid einer Jungfrau oder einer verheirateten Frau, um ihre Unschuld oder Reinheit zu bewahren. Diese letzte Form wurde jedoch bald als unerwünscht bezeichnet und das Überleben der Frau in einem solchen Fall dadurch gerechtfertigt, dass die Reinheit vom Körper in die Seele verlegt wurde.
Erst ab dem 4. Jahrhundert wandten sich führende Vertreter der Kirche generell gegen den Suizid, wobei sich die Ablehnung und die Androhung von Strafen für Selbstmörder in den folgenden Jahrhunderten verstärkten. Selbstmörder wurden durch verschiedene von kirchlichen und anderen Autoritäten befohlene Rituale entwürdigt: Begräbnis außerhalb der Kirche oder an eigenen Orten, schimpfliche Manipulationen an der Leiche etc. In der Renaissance und vor allem durch die Aufklärung und die schrittweise Modernisierung wurden diese extrem suizidfeindlichen Haltungen langsam aufgeweicht. Säkularisierung und Verwissenschaftlichung führten zu einer Modifikation der Ablehnungsideologien. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse im 16. und 17. Jahrhundert, die sich auf die Kosmologie (z.B. die Erde dreht sich um die Sonne) und den menschlichen Körper (z.B. das Herz ist eine Pumpe) bezogen, begünstigten in Zusammenhang mit anderen kulturellen Wandlungen auch eine zunehmend nüchterne Betrachtung und Analyse des Suizids. Das Suizidproblem wurde im 18. Jahrhundert kontrovers diskutiert. In Frankreich herrschte das Vorurteil, es handle sich um ein typisch englisches Phänomen. Die Engländer würden sich aus klimatischen oder anderen in der Landesnatur oder -kultur liegenden Gründen umbringen. Doch als immer häufiger spektakuläre Suizide und räsonierende Abschiedsbriefe in Paris bekannt wurden, wurde es auch als französisches Problem anerkannt. Manche Intellektuelle befürchteten, dass die Zunahme der Suizide als Folge der aufklärerischen und antiklerikalen Tendenzen dargestellt würde, so dass die Krankheitsthese auch im Interesse vieler Aufklärer verbreitet wurde. Der Suizid sei nicht als Verbrechen sondern als Krankheitsfolge zu interpretieren (Merian 1763), und vor allem hätte er nichts mit den Theorien der philosophes zu tun (Holbach in seinem Système de la Nature, 1770). Die Krankheitsthese wurde auch deshalb von den Aufklärern gestützt, weil sie religiöse Erklärungen ausschloss.
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Im 19. Jahrhundert entwickelten sich die Nationalstaaten und Statistiken über Todesursachen wurden erstellt, um Vergleiche zwischen Staaten und Regionen durchzuführen, die auch in der Konkurrenz zwischen diesen ‚Großindividuen’ (Freud) eingesetzt wurden. Aus dem Artikel „Suicide“ in der Encyclopedia Britannica von 1911, der im Vergleich mit entsprechenden deutschen oder französischen Lexika dieser Zeit bemerkenswert nüchtern und wissenschaftlich im modernen Sinn gestaltet ist, sei ein ideologisch interessanter Satz zitiert: „Its (suicide, K.F.) existence is looked upon, in Western civilization, as a sign of the presence of maladies in the body politic which, whether remediable or not, deserve careful examinaton.”
Die Suizidraten sind also ein Politikum, bzw. werden als Zeichen nicht nur individueller sondern auch kollektiver Krankheit angesehen. Auch heute findet man immer wieder diese Annahmen, obwohl die Beweislage sich in den letzten 100 Jahren kaum gebessert hat. Die autorisierte Beurteilung des Suizids wurde primär im Interesse des Staates und seiner Beauftragten, vor allem der Ärzte und Juristen, durchgeführt. Dies lässt sich auch im Beitrag „Suicide“ der „Grande Encyclopédie“ (1885-1902) feststellen. «Le suicide est condemnable comme un acte repréhensible chez l'individu qui, manquant de courage nécessaire pour supporter l'adversité, fait défection à ses devoirs: il l'est aussi comme étant un mal social qui enlève à la communauté une portion de sa force vive et une désertion dont l'exemple contagieux peut créer un danger public. »
Die Handlung ist tadelnswert (ein Zeichen mangelhafter staatsbürgerlicher Erziehung), feige, der Selbstmörder wird abtrünnig, er desertiert, er entreißt dem Staat einen Teil der Lebenskraft. Die Argumentation zeugt von der Treue zum militaristischen Nationalstaat. Im Nationalsozialismus wurde die politische und ideologische Einordnung des Selbstmords unmissverständlich dargestellt. Meyers Lexikon, 8. Aufl., 9. Bd., Leipzig 1942: „Selbstmord: ... geschieht der S. ... bes. aus seelisch-sittlicher Lebensschwäche ... Soziologisch-statistisch (bzw. geschichtlich) stellt sich heraus, dass S.e im Altertum immer häufiger wurden, im M.A. selten vorkamen, seit der Aufklärung an Zahl stark zunahmen, noch mehr in den wirtschaftlich-sozialen Krisen des 19. und des 20. Jh., dagegen im Weltkrieg und bes. im Neuen Deutschland seit 1933 abnahmen. ... Während die Konfessionen, bes. die röm.-kath., den S. gern auf Religionsmangel bzw. Religionslosigkeit zurückführen und das Ausharren im Jammertal des Diesseits um jeden Preis predigen,
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ist es das Ideal und das prakt. Bestreben des Nationalsozialismus, durch Gewährleistung rassischer und erbl. Gesundheit, laufende Gesundheitspflege, Erziehung zu Ehrbewußtsein und Tapferkeit, Gestaltung gesunder, von Gemeinschaft getragener Lebensverhältnisse die Gründe zum S. nach Möglichkeit zu beseitigen.“ (1514 f)
Die Abnahme der Suizidhäufigkeit wird als nationaler und staatlicher Triumph gefeiert. Der Konflikt zwischen der christlichen und der nationalsozialistischen Weltanschauung wird angesprochen, wobei die rassistische Selektion die Wahrscheinlichkeit des Suizides verringern soll. Der Kontrollaspekt zeigt sich bei der „rassischen und erblichen Gesundheit“, der Gesundheitspflege und der „Gemeinschaft“, die hierarchisch und autoritär strukturiert ist. Suizid im interkulturellen Vergleich Der Hinweis auf unterschiedliche historische und kulturelle Verhaltensweisen gegenüber dem Suizid hat u.a. die Funktion der Relativierung der jeweiligen geltenden Normen. Insofern wirkt der Wissenschaftler als Aufklärer, wobei die Auswahl der Beispiele auch eine ideologische Lenkung mit sich bringt. Zwei Extrembeispiele:
Im Athen der Antike und in manchen griechischen Kolonien wurde von den Behörden Gift in Verwahrung gehalten, das für Personen bestimmt war, die ihren Suizid beantragten. Noch 1860 wurde Suizidversuch in England unter Todesstrafe gestellt.
Diese beiden Informationen zeigen, dass kulturelle und soziale Entscheidungen die Reaktionen auf Suizid bestimmen. Fedden (1938) hat eine Untergliederung in institutionellen und persönlichen Suizid vorgenommen. Der institutionelle Suizid ist in der Regel eine von der Gemeinschaft oder einer Gruppe erwartete und ritualisierte Selbstopferung eines Mitglieds, die religiösen Zwecken oder auch dem Erfolg oder Überleben der Gemeinschaft dient (vgl. Farberow 1975). Sozialer, institutioneller oder normativer Suizid erfolgt nach Normen und Rollenanforderungen, wird also gesellschaftlich vorgeschrieben, z.B. die Selbsttötung der Witwe in manchen Kulturen (in Indien und China). Der soziale oder altruistische Suizid im Interesse der Bezugsgruppe wird verherrlicht (z.B. im ‚heiligen Krieg’ oder als Märtyrer), der individuelle oder nicht-soziale Suizid wird dagegen meist verurteilt. Das Individuum soll im Dienst am Kollektiv und an der herrschenden Ideologie sein Leben hingeben, darf dies jedoch nicht aus persönlichen oder privaten Gründen tun. Im Hinduismus trifft man auf eine ähnliche Konzeption: Wenn eine Person sich von den weltlichen Interessen und Bedürfnissen gelöst hat, wenn sie also 196
einen von der Religion verherrlichten Weg des sozialen Sterbens gegangen ist, dann darf sie durch Fasten ihr Leben radikal verkürzen. In der Maya-Kultur herrschte der Glaube vor, dass sich selbst Tötende direkt in den Himmel und unter speziellen Schutz des Gottes Ixtab kämen. Dies führte dazu, dass Mitglieder dieser Kultur sich leichten Herzens schon bei – nach unserem Ermessen – geringen Anlässen töteten. Charakteristisch für eine vorurteilsfördernde Suizidbehandlung ist häufig die stillschweigende oder auch forcierte Ausgliederung des sozialen oder altruistischen Suizids aus dem Suiziddiskurs. „Trotz Durkheim sollte die altruistische Selbsttötung aus dem Bereich des Selbstmordens heraus genommen werden. Selbsttötung muß, um Mord zu sein, neben der Selbstaggression eine egoistisch-egozentrische Motivationskomponente aufweisen“ (Mergen 1986, 57).
‚Objektiv’ gesehen ist der altruistische Suizid eher Mord als der egoistische, da er einen höheren Anteil an Fremdbestimmung aufweist. Doch subjektiv wird er von den Betroffenen wahrscheinlich meist weder als Mord noch als Suizid definiert oder empfunden. Ein selbstmörderisches Kommando im Krieg wird meist offiziell und auch inoffiziell nicht nur anders bezeichnet, sondern auch gefühlsmäßig anders eingeordnet. Der individuelle Suizid wird oft als a-sozial oder anti-sozial interpretiert. Er ist (in den meisten kulturellen Szenen) eine Teilmenge des nicht akzeptierten oder abweichenden Suizids. Abweichender Suizid kann durchaus ‚sozial’ oder kollektiv bedingt sein (Subkultur, Außenseiter etc.). Der moderne Expertendiskurs um den Suizid Welche Interessen sind im Suiziddiskurs der vergangenen Jahrzehnte dominant? Szasz (1980) spricht von einer „Medikalisierung der Moral“, doch man kann auch eine ‚Moralisierung der Medizin’ feststellen, vor allem wenn es ums Sterben geht. Im öffentlichen Suiziddiskurs treten neben Medizinern und ihren Helfern, den (klinischen) Psychologen, Juristen, Theologen und eher marginal Soziologen auf. Gesellschaftliche Aspekte werden meist nur in Form von Variabeln in empirischen Untersuchungen einbezogen. Der zwischen diesen Suizidexperten ausgehandelte Konsens lautet: Suizid ist (auf der individuellen Ebene) primär eine Wirkung von psychischer Erkrankung.
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„Es besteht nach dem heutigen Stand der Suizidologie kein Zweifel, dass der weitaus größte Teil aller Suizide und Suizidversuche seinen Ursprung in psychischem Kranksein hat“ (Hole 1974, 111).
Dies ist zwar eine Stellungnahme aus den 70er Jahren, doch sie wird auch heute von Suizidexperten vertreten. Hegerl, ein leitender Psychiater im „KompetenzNetzwerk Depression“, äußert bei seinen öffentlichen Auftritten, dass 90 Prozent derjenigen, die Suizidhandlungen durchführen, psychisch krank seien150, und „es den Freitod nur in der Belletristik gäbe“.151 Teilweise explizit und teilweise implizit vermittelt er folgende Begleithypothesen bzw. gruppenspezifische Werturteile: 1. 2. 3.
4. 5. 6.
Psychische Krankheit, vor allem Depression, ist heute heilbar, bzw. gut zu behandeln. Wer ‚psychisch krank’ ist, ist nicht ‚frei’. Die 10 Prozent, bei denen die Verhaltensursachen nicht eindeutig festgestellt werden können, sind wahrscheinlich auch psychisch krank, oder man kann sie vernachlässigen. Wer psychisch krank ist und erfolgreich behandelt wurde, hat keine Probleme mehr, die ihn zu einem Suizid motivieren könnten. Der Suizid ist in allen Fällen eine ‚schlechte Problemlösung’. Soziologische Erkenntnisse liefern bezüglich des Suizids keinen praktisch nutzbaren Erkenntnisgewinn. „Wie hoch der Anteil an psychischen Störungen de facto auch sein mag, steht damit schließlich noch lange nicht fest, wie weit die Urteilsfähigkeit und Willensfreiheit der Betroffenen durch die Störung jeweils in Mitleidenschaft gezogen wird.“ (Fenner 2008, 390)
Die Begriffe Krankheit, Freiheit und Selbstbestimmung und die damit verbundenen Hypothesen werden von vielen Suizidologen nicht problematisiert, sondern als ‚naturwissenschaftliche Tatsachen’ oder ‚Evidenzen’ angeboten (vgl. Feldmann 2006, 312 ff). Es geht hierbei jedoch nicht nur um einen innerwissenschaftlichen Streit, sondern um ein gesellschaftspolitisches und historisches Problem.
150
In einer Studie, in der alle Suizide in England und Wales, die in zwei Jahren auftraten, untersucht wurden, ergab sich, dass 24 % (und nicht 90 %) dieser Personen innerhalb eines Jahres vor der Tat Kontakt mit psychiatrischen Einrichtungen hatte (Appleby et al. 1999). 151 Vgl. http://www.heise.de/newsticker/meldung/26965; http://www.netdoktor.de/feature/web_ depression.htm; http://www.kompetenznetz-depression.de/ (2.5.2010)
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Der ‚Freitod’, eine umstrittene Wortschöpfung, wird oft mit einer ‚Gegenmoral’ assoziiert. Unterstellt wird, dass der Mensch ‚ganz frei von Beschränkungen, Zwängen, Ängsten, Krankheit und anderen Behinderungen’ in den Tod gehen müsse, soll es sich um einen ‚Freitod’ handeln. Nach Aufstellung dieser Idealkonzeption wird von den Vertretern einer solchen Weltanschauung triumphierend darauf hingewiesen, dass die überwiegende Mehrzahl der Suizidenten psychisch kranke Menschen seien. Von einem Teil der Experten, Anhängern einer Begriffs- und Theoriedogmatik, wird dieser zu medikalisierenden Gruppe schlicht die ‚Freiheit’ abgesprochen. Von anderen Experten wird allerdings für alle Menschen, auch für Suizidologen und Psychiater, Willens- und/oder Handlungsfreiheit als ‚Illusion’ entlarvt (vgl. Wuketits 2007), bzw. Personen als „selbstlose Ego-Maschinen“ (Metzinger 2009, 291) definiert. Doch in der eingeengten Weltsicht der Suizidologen wird Reflexion und Interdisziplinarität vermieden. Hole (1974) meint, „dass man den euphemistischen Begriff des ‚Freitods’ für den Suizid nicht nur als unzutreffend, sondern, psychopathologisch betrachtet, geradezu als unsinnig bezeichnen muß. Denn hier herrscht nicht innere Freiheit, sondern bedrängende, äußerste Einengung von Freiheit, mit weitgehendem Verlust der Selbstverfügung und mit Entmächtigung der integrierenden Funktionen des Ich.“ (115)
Es handelt sich um eine ziemlich unverhüllte Rechtfertigungsideologie für die Machtausübung der legitimierten ‚Helfer’. In der neueren suizidologischen Fachliteratur wird vorsichtiger als noch in den 70er Jahren argumentiert. „Schließlich ist es die Ambivalenz des Suizidgefährdeten selbst, die der Voraussetzung für einen Freitod, nämlich einer freien Entscheidung für den Tod und gegen das Leben, widerspricht.“ (Bronisch 2007, 124)
Erlemeier (2002, 19) berichtet über die Thesen des Suizidforschers Wolfersdorf (1996): „Suizidalität sei fast immer Ausdruck von Einengung durch subjektiv erlebte oder objektive Not, durch psychisch oder körperlich bedingte Befindlichkeits- und Erlebensstörungen, selten Ausdruck von Freiheit und unbeeinträchtigter Wahlmöglichkeit.“
Das Konstrukt ‚Einengung (des Bewusstseins)’ ist für eine generalisierende Beschreibung suizidaler Personen kaum geeignet, dagegen für Insassen von Pflegeheimen (vgl. Whitaker 2010). Der Psychiater Finzen (1988) zeigt durch die Schilderung der Suizidfälle in einem Landeskrankenhaus, dass die geschil-
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derte ‚Einengung’ auch institutionell erzeugt wird, in solchen Organisationen durch Kasernierung, Bespitzelung und Medikalisierung, also durch Freiheitseinschränkung, offensichtlich paradoxe Maßnahmen, da sie selbstzerstörerisches Verhalten verhindern sollen, es jedoch gleichzeitig fördern.152 Zusätzlich zu dem krankheitsbedingten Freiheitsentzug soll dem Suizidenten vom staatlich autorisierten Machthaber noch die restliche ‚Freiheit’ genommen werden, denn „im Notfall hat man ... stellvertretend für ihn Entscheidungen zu treffen wie für andere Kranke, die nicht mehr entscheidungsfähig sind.“ (Hole 1974, 124) Der Suizid einzelner Patienten kann zur Bestrafung aller Insassen einer psychiatrischen Anstalt führen – wie der Ausbruch von Gefangenen aus einem Lager (Finzen 1988). Sie werden strenger überwacht, erhalten weniger Ausgang und geraten unter sozialen Druck. Der (erfolgreiche) Suizid kann als Angriff auf die Herrschaft der Mediziner und Thanatokraten interpretiert werden. „Der Selbstmord ... entzieht ... den Tod dem medizinischen Anspruch, entmedikalisiert ihn sozusagen ...“ (Baudry 1985b, 178).
„Selbstmord ist Tod – und der ist der Feind.“ (Hillman 1966,23) Der Selbstmörder ist also ein Überläufer und muss entsprechend behandelt werden. Die in diesem Bereich traditionelle militärische Sprache verrät den gesellschaftlichen Kampf, der unter dem Mäntelchen wissenschaftlicher Objektivität tobt. Nur wer kämpft gegen wen wofür? Geht es um einen Anteil an Macht und Ressourcen, den die Mitglieder des medizinischen Komplexes verteidigen? Oder sind sie im Dienste des politisch-militärischen Komplexes tätig? Sind sie vielleicht die Hohepriester des säkularisierten Staates? (vgl. Streckeisen 2001, 139) Warum ist der Tod, ein natürliches und soziales Phänomen, „der Feind“? Die historischen Siege über den frühzeitigen Tod durch Seuchen und Krankheiten haben wahrscheinlich zu einer Generalisierung geführt. Jedenfalls steht ein beunruhigender Dogmatismus hinter diesem ‚medizinischen Denkmodell’. Es ist wie im Krieg: An der Front, z.B. in der Intensivstation oder in der geschlossenen Abteilung, ist ‚Denken’ verboten, Systeme und Reflexionen werden ausgeblendet, es gelten nur die Regeln des Kampfes. Die bisherigen Beispiele sind aus dem medizinischen, psychologischen und soziologischen Wissenschaftsbereich genommen. Wichtige Beiträge zur Gestal-
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In einer Befragungsstudie in amerikanischen Altenheimen benutzten „von denen, die unter die Gruppe der Heimbewohner mit suizidalen Tendenzen fielen (1 % der Gesamtbewohnerschaft), ... 80 % indirekte selbstschädigende Methoden wie Nahrungsverweigerung, Vernachlässigung der Medikamenteneinnahme u. a.“ (Erlemeier 2002, 53)
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tung von Suiziddiskursen und -ideologien leisten auch Philosophen und Philosophinnen. Battin (1984) weist daraufhin, dass die traditionellen moralischen Argumente über den Suizid an Wirkung verloren haben. Als eine Untersuchung, die den Suizid aus dem medizinischen Feld der pathologischen Erscheinungen herausnimmt, versteht Battin ihre Analyse der Frage: Unter welchen Umständen kann Suizid eine rationale Handlung sein? Die Beweisführung der Autorin interessiert in diesem Zusammenhang nicht, sondern nur die Tatsache, dass sie eine solche Frage einer ausführlichen Analyse für würdig hält. Die meisten Handlungstypen werden nicht nach dem Kriterium ‚rational oder nicht-rational’ von Wissenschaftlern inquisitorisch behandelt. Ja, es wird überhaupt schwierig sein, außer dem Suizid, dem Mord, der Todesstrafe, dem Kriegführen, der Folterung und anderer ‚extremer Gewaltanwendung’ Untersuchungsgebiete dieser Art zu finden. Selbsttötung befindet sich also in dieser Familie der ‚extremen Gewaltanwendung’ und unterliegt folglich den dabei üblichen Methoden der ‚Examinierung’ (vgl. Foucault 1977a). Es werden von Experten nicht folgende Fragen gestellt: Ist es ‚rational’, wenn sich jemand entschließt, Demenz bzw. einen langwierigen und teuren Sterbeprozess auf sich zu nehmen? Ist es ‚rational’, dass man als Ethikexperte nur bohrend die ‚Rationalität’ des Suizids untersucht, aber nicht die ‚Rationalität’ der Kapitalmehrungssucht von Milliardären oder der Legitimation von politischen Entscheidungen? Kamlah (1984) analysiert die philosophische Frage nach dem moralischen Recht auf den eigenen Tod und bejaht es als Recht
auf den Freitod, auf einen menschenwürdigen, sanften Tod.
Er kritisiert die „juristischen Fußangeln“, jedoch nicht die Medizin als Profession. Auch übernimmt er die herrschende medizinische Ideologie: „Freilich, der praktisch mit Suicidfällen konfrontierte Arzt hat es in der Regel mit krankhaften oder doch affektiven Fällen zu tun, in denen in der Tat die gebräuchlichen Reanimationsmaßnahmen geboten sind ...“(223)
Für einen Philosophen eine eigentümlich psychologische Hintergrundsannahme: Menschliche Freiheit wird durch Krankheit und Affekte ‚außer Kraft’ gesetzt. Dann jedoch fügt er Überlegungen ein, die durchaus die Situation der Repression, unter der vor allem alte und kranke Menschen leiden, beleuchten: „Zudem bewirken die Barrieren, die heute vor dem Freitod aufgerichtet sind, dass eine Entschlußkraft zu ihrer Durchbrechung erforderlich ist, die am ehesten der see-
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lisch Kranke oder der Verzweifelte aufbringt, kaum aber jener geschwächte alte Mensch, den wir uns als Beispiel eines möglichen, aus ruhiger Erwägung hervorgegangenen Freitods vor Augen gestellt haben.“(223)
Er bezieht emanzipatorisch Stellung: „Ob das Leben eines Menschen erfülltes, lebenswertes Leben ist oder nicht, das bemißt sich an diesem Leben selbst und wahrhaftig nicht an Beurteilungen durch die Gesellschaft oder durch den Staat oder gar durch die Partei.“(222)
Doch diese Stellungnahme bleibt abstrakt, wenn nicht die soziokulturellen Grundlagen solcher Wertungen und die vieldimensionale Unterdrückung einer emanzipatorischen Gestaltung des Sterbens und des eigenen Todes beschrieben und erklärt werden. Eine kritische und differenzierte philosophische Erörterung über Suizid und Sterbehilfe hat Kodalle (2003) geliefert. Eine weitere professionelle Gruppe, die sich mit dem Suizid beschäftigt, sind die Juristen. Auch deren Urteile und Vorurteile haben bedeutsame Konsequenzen für die allgemeine ideologische und soziale Lage. Der Jurist Langer argumentiert im Zusammenhang mit Euthanasie (aktiver Sterbehilfe) und Suizid: „Wirksamkeitsvoraussetzung jeder Einwilligung ist, dass sie im Zustand geistiger Gesundheit und Freiheit erteilt wird. Nun ist aber aus der Suizidforschung bekannt (und wegen der Ähnlichkeit des Verlangens der eigenen Tötung mit dem Suizid lassen sich jene Einsichten in vollem Umfang hierher übertragen), dass wenigstens 95% der Suizidenten diese Voraussetzungen eigenverantwortlichen Handelns nicht erfüllen, also entweder nicht zurechnungsfähig oder aber in der Freiheit ihrer Entscheidungen zumindest erheblich eingeschränkt sind. Selbst hinsichtlich der übrigen 5% der Suizidenten ist die Frage ihrer Eigenverantwortlichkeit keineswegs unstreitig, d.h. es wird mit beachtlichen Gründen die Auffassung vertreten, dass es überhaupt keine eigenverantwortliche Selbsttötung gebe; der Anwendungsbereich des § 216 StGB wäre hiernach von vornherein auf die Fälle begrenzt, in denen der Täter irrtümlich die Eigenverantwortlichkeit des seine Tötung verlangenden Opfers angenommen hätte (§ 16 As. 3 StGB).“ (Langer 1986, 118)
Hier werden Prozentangaben als Wirklichkeitsdefinition postuliert, die jeder seriösen Basis entbehren. Zuletzt soll noch ein anerkannter amerikanischer Suizidologe zu Wort kommen. Hendin (1982) weist daraufhin, dass Suizid von den Advokaten des Rechts auf Suizid – nach seiner Meinung – in unzulässig abstrakter Weise von sozialen und psychischen Bedingungen abgekoppelt als ‚Problem der persönlichen Freiheit’ betrachtet wird. Selbst wenn die Behauptungen von Hendin und
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anderen zuträfen, dass ‚Bewusstseinstrübung’, Ambivalenz bezüglich des Zieles der Selbsttötung und mangelhafte Erkenntnis der eigenen Motivationsgrundlagen bei den meisten Suizidenten feststellbar seien, ergibt sich daraus keineswegs ‚logisch’ oder mit sonstiger ‚wissenschaftlicher Zwangsläufigkeit’ die derzeitige rechtliche und medizinische Normierung. Es wird meist vergessen oder verleugnet, dass diese formellen Normierungen und Bräuche Herrschaftsprodukte, historische, nationale und regionale Sozialgebilde sind, die von Ideologen mit einem universalistischen Mäntelchen ausgestattet werden. Hendin bringt willkürlich ausgewählte Beispiele von Fällen, um seine Ansicht zu untermauern, dass professionelle Hilfe – so nennt er auch legitimierte Repressionsmaßnahmen – für Suizidgefährdete unbedingt notwendig ist. Künstler, Intellektuelle und andere gebildete Personen, die Suizid begangen haben bzw. sich der Angelegenheit nicht gemäß der von ihm vertretenen ideologischen Position annehmen, versucht er zu diffamieren. Sie seien schon deshalb pathologisch, weil sie sich längere Zeit bewusst mit dem Problem auseinandergesetzt hätten. Dass dies auch auf ihn als Suizidologen zutrifft, fällt ihm bei dieser kabarettreifen Argumentation offensichtlich nicht auf. Personen, die ihre Selbsttötung in Betracht ziehen oder planen, haben schon deshalb nach Hendin ein ‚eingeengtes Bewusstsein’, sind rigide und unfähig, alternative Lösungen anzuerkennen. Dass Menschen, die eine Identitätsvorstellung von sich entwickeln, im Extremfall Suizid begehen, um nicht einer Identitätserosion unterworfen zu sein, erscheint ihm verwerflich. Solche Menschen seien nur an ihrer ‚äußeren Erscheinung’ und Intaktheit interessiert, seien egoistisch und würden sich nicht um andere Menschen kümmern. Hendin wendet sich gegen eine differenzierte soziale Akzeptanz des Suizids. Dies würde die Rate der erzwungenen und manipulierten Suizide erhöhen. Dies ist eine spekulative und den Erfahrungen der Liberalisierung in verschiedenen Bereichen, z.B. bezüglich Abtreibung und Beihilfe zum Suizid, widersprechende Annahme.153 Der Autor kritisiert die „Omnipotenzvorstellung“, sein eigenes Sterben zu kontrollieren und zu gestalten. Er äußert sich – offensichtlich in Unkenntnis der Zivilisationstheorie von Elias – skeptisch über unsere „kontrollorientierte“ Kultur (vgl. auch Kamerman 1987) und meint, dass Kontrollorientierung antagonistisch gegenüber dem Lust- und Lebensprinzip sei.154 Hendin wirft den Befürwortern der Selbstkontrolle „Kontrollorientierung“ vor, während er seine eigene Präferenz für rigide Fremdkontrolle offensichtlich nicht so einordnet. 153
Vgl. zu einer problematischen empirischen soziologischen Prüfung des Zusammenhanges zwischen der Akzeptanz des „rationalen Suizids“ und der Akzeptanz des „nichtrationalen Suizids“ Stack 1999. 154 Die Aufrechterhaltung von Selbstkontrolle wird von vielen als zentrales Kriterium für ein „gutes“ Sterben angesehen (Pool 2004).
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Suizidologie und die Gestaltung einer humanen Gesellschaft Über die Suizidwirkungen der Wirtschafts-, Politik-, Bildungs-, Gesundheitsund Rechtssysteme findet man leider in der einschlägigen Literatur kaum fundierte Aussagen (vgl. Richter 2003, 88 ff). Sonneck und Schjerve (1986) kritisieren die „Krankheitsthese des Suizids“ und geben damit vorläufige Hinweise auf iatrogene und andere gesundheitssystembedingte Suizidförderung. Wenn jemand als suizidgefährdet bezeichnet wird, bedeutet dies für ihn eine Stigmatisierung, die vielfältige soziale Nachteile mit sich bringt. Die meisten Suizidenten sind schon im Gesundheitssystem behandelt worden, bevor sie Suizid begingen. Ein Charakteristikum des Suizidgefährdeten nach Meinung vieler Experten (z.B. Ringel) ist die ‚Einengung des Bewusstseins’, der Weltsicht, der Handlungsmöglichkeiten und der Perspektiven. Wenn man nun die normale Beratung eines potenziellen Suizidenten durch einen Arzt betrachtet, so handelt es sich um eine verblüffende Parallele zur Beschreibung der Bewusstseins- und Handlungseinengung in der Literatur. Der Patient erhält häufig Psychopharmaka, was durchaus hilfreich sein kann, und vielleicht noch ein paar unprofessionelle Ratschläge. Die Interaktion zwischen Arzt und Patient zeichnet sich in den meisten Fällen durch ‚soziale Armut’ aus, ähnlich wie die normale Interaktion zwischen Lehrer und Schüler (vgl. Feldmann 1980, 45). Diese quasi-professionelle Interaktion verstärkt – sofern sie überhaupt eine Wirkung hat – wahrscheinlich bei vielen Menschen die ‚Einengung des Bewusstseins’, vor allem wenn ein entsprechender Prozess bereits fortgeschritten ist. Prävention und Suizidverhütung Experten und wohl auch die Mehrzahl der Menschen teilen die Meinung, dass selbstzerstörerisches Verhalten in den meisten Fällen unerwünscht ist und möglichst verhindert werden soll.155 Da eine große Anzahl von Wirkfaktoren festgestellt wurden und der Suizid nur eine kleine Minderheit betrifft, sind kostenintensive Präventionsstrategien schwer zu legitimieren. Selbstzerstörerisches Verhalten kann als ein Teil des abweichenden Verhaltens gesehen werden und primäre Prävention richtet sich dann vor allem auf die frühzeitige Minimierung der psychosozialen Störungen von Kindern und Jugendlichen. Erziehungs- und Medizinsystem erweisen sich als rückständig, da sie Integrations- und Gesundheitsaufgaben nur unzureichend erfüllen und Selbst- und Fremdzerstörung fördernde Selektion und Stresserzeugung betreiben. Eine systemorientierte auf die Ent155
Die hochkomplexe Problematik der Suizidprävention kann z.B. in Hawton/ Heeringen (2000, 585 ff) studiert werden.
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wicklung von Kindern, Familien und Gemeinschaften fokussierte Prävention wird derzeit strukturell behindert. Ein weiterer Grund für Mängel der Suizidprävention liegt in der offiziellen Ablehnung und Vernachlässigung der Kultivierung des Suizids (vgl. Feldmann 2008a). Entwicklung gesellschaftlicher Regelungen des Suizids Suizid wird meist nach einem kulturellen Skript ausgeführt, das in der letzten Phase direkte Interaktion ausschließt. Hohe normative Hürden sind errichtet, damit Suizidalität stigmatisiert und nicht in den normalen Interaktionszusammenhang eingegliedert wird. Interaktionsverbote begünstigen die Isolation des Suizidenten und die Schockwirkung für die Hinterbliebenen. Den Angehörigen von Suizidenten wird oft von Nachbarn, anderen bekannten Personen und staatlichen Kontrollorganen Schuld zugeschrieben und sie schreiben sich selbst Schuld zu (vgl. Heilborn-Maurer/ Maurer 1991). Die betroffenen Bezugspersonen haben oft Angst, über ihre Erfahrungen, Gedanken und Gefühle mit anderen Personen zu sprechen, sie fürchten stigmatisiert zu werden. In einer Befragung (Range und Calhoun 1990) antworteten über 40 % der Personen, die vom Suizid eines Angehörigen betroffen waren, dass sie gegenüber anderen Leuten falsche Aussagen bezüglich der Todesursache gemacht hätten, viel häufiger als bei Todesfällen, die durch Krankheit verursacht wurden. Es handelt sich also bei Suiziden um soziale Situationen, in denen Vorurteile, Stereotypenbildung, self fulfilling prophecy und wissenschaftsferne Weltkonstruktionen gut gedeihen. Ein solches Vorurteil, das auch von Experten öffentlich verkündet wird, lautet: Ein Suizid bringt kurz- und langfristig im Vergleich zu anderen Problemlösungen eine Verschlechterung der Lebenssituation für die Bezugspersonen. Die Bezugspersonen werden angeblich durch einen Suizid nur negativ beeinflusst, verstört, stigmatisiert und dies sei unabhängig von den kulturellen und gesellschaftlichen Bedingungen. Eine der wenigen brauchbaren empirischen Studien (Barraclough/Hughes 1987), die sich mit dieser Frage beschäftigten, lässt an diesem erfahrungsgestützten Vorurteil zweifeln156. Nach dieser Untersuchung ergibt sich bezüglich der Konsequenzen für die überlebenden Bezugspersonen eine Polarisierung. Etwa die Hälfte hat langfristig insgesamt eine positive Bilanz zu verzeichnen, d.h. der Suizid hat sich günstig ausgewirkt und die andere 156
Einen Bericht über die theoretischen und methodischen Probleme von Studien über Wirkungen von Suiziden und Suizidversuchen gibt McIntosh (2003).
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Hälfte hat eine negative Bilanz zu verzeichnen. Es ist wahrscheinlich, dass das autoritäts- und traditionsgestützte Vorurteil über die negativen Konsequenzen eines Suizids auf die Bezugspersonen im Sinne einer kulturell vermittelten selffulfilling prophecy wirkt. Umso erstaunlicher ist das Ergebnis der genannten Untersuchung von Barraclough und Hughes. ‚Zieht’ man die self-fulfillingprophecy-Komponente und die sozialen Maßnahmen, die die Bezugspersonen belasten, ‚ab’, so erhält man ein ‚positives Ergebnis’ der untersuchten Suizide.157 Wenn Danto (1976, 107) behauptet: „Der Selbstmord verhängt über die Hinterbliebenen eine Strafe, nämlich ein Schuldgefühl“, dann kann man statt ‚Selbstmord’ ‚unsere Kultur’ einsetzen. Wenn man schon die umstrittene These der ‚Verdrängung’ von Aspekten des Todes in der modernen Gesellschaft verwendet, so kann man auch die rechtliche, medizinische, psychologische und allgemeine normative Haltung gegenüber dem Suizid als von Verdrängung und Ambivalenz gekennzeichnet herausstellen. Einerseits wird verschämt dem Individuum das Selbstbestimmungsrecht über sein Leben zugestanden, doch andrerseits wird ihm seine Identität akzeptierende und einfühlende Kommunikation häufig verweigert, wenn es den Suizid erwägt. Die Beratung soll den Suizidkandidaten unter allen Umständen von seinem Vorhaben abbringen. Damit handelt es sich nicht um eine offene klientenbezogene, sondern um eine auf die Interessen bestimmter Gruppen bezogene und ideologisch eingeengte Kommunikation. Dass eine solche vorurteilsbelastete und gruppenorientierte Hilfe angeboten wird, ist nicht zu verurteilen, sondern dass es verhindert oder verboten wird, damit konkurrierende offene klientenbezogene Beratungen und Unterstützungsmaßnahmen durchzuführen.158 „Mit solcher lebensorientierter Beratung und dem institutionalisierten Angebot des assistierten Suizids könnte nicht nur hochriskanten, oft fehlschlagenden solistischen Suiziden vorgebeugt, sondern vielen verzweifelten Menschen in existentiellen Krisen geholfen werden.“ (Fenner 2008, 401)
Suizid ist keineswegs mit Notwendigkeit Folge einer Krankheit, doch die Untersuchungen erhärten die Vermutung, dass in der Mehrzahl der Fälle in den hochindustrialisierten Staaten Suizidenten gemäß normierenden medizinischen Diagnosen psychisch kranke Menschen sind (vgl. Lönnqvist 2000). Wenn man von dieser Annahme ausgeht, dann ergibt sich daraus nicht, dass diese Personen zwangsweise von Ärzten oder anderem professionellem Personal behandelt wer157
In der deutschsprachigen Fachliteratur wurde diese den Vorurteilen der Experten widersprechende Untersuchung nicht rezipiert. 158 Die Entstehung und offensichtlich starke Nutzung von Suizid-Internetforen kann auch so gedeutet werden, dass im normalen von Kontrollprofessionellen beherrschten Gesellschaftsfeld zu wenig offene Kommunikation zugelassen wird..
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den müssen. Es ergibt sich nur ein Behandlungsangebot, dessen Ablehnung wahrgenommen und akzeptiert werden sollte, denn es handelt sich bei Diagnosen und Therapien um soziale Zuschreibungen, die in einer pluralistischen Gesellschaft auch abgelehnt werden können. Im Folgenden soll auf mögliche künftige Szenarien der gesellschaftlichen Gestaltung des Suizids eingegangen werden. „Der Suizid, in einer humanisierten, individualisierten und rechtlich kontrollierten Form, wird sich möglicherweise wie die Scheidung oder die Abtreibung gegen den erbitterten Widerstand von gesellschaftlichen Gruppen als Institution etablieren.“ (Feldmann 1998c, 19)
Die Chance, ‚in Würde Suizid zu begehen’, könnte durch staatliche und private Institutionen erleichtert werden. Diese Hilfe könnte den Prozess des selbstbestimmten Sterbens kultivieren und humanisieren, wie die rechtlich kontrollierte Abtreibung in ihrem Bereich humanisierend gewirkt hat (vgl. Feldmann 2008a). Der Einwand gegen eine Institutionalisierung bestimmter Formen des Suizids bezieht sich auf den möglichen Missbrauch, die prinzipielle Korrumpierbarkeit aller Institutionen und die Gefahr, dass damit die Tötung von Menschen legitimiert werden kann. Vielleicht wäre infolge einer solchen Institutionalisierung der Missbrauch und die allgemeine Fehlerhaftigkeit der Sterbeprozesse geringer als bei der derzeitigen Dominanz des ‚wilden’ Suizids. Es handelt sich um die Zähmung eines heiklen Bereichs, um einen weiteren Schritt im Prozess der Zivilisation (vgl. Elias 1976). Die Diskussion könnte sich in naher oder ferner Zukunft als peripher erweisen oder mit anderen Schwerpunkten geführt werden, weil es wahrscheinlich nicht zu verhindern sein wird, dass einfach handhabbare Mittel der Todeskontrolle (ähnlich der Geburtenkontrolle)159, unabhängig oder abhängig von gesetzlichen Regelungen, Verbreitung finden, so dass – abgesehen von Extremfällen der körperlichen oder psychischen Beeinträchtigung – jeder, der es wünscht, im Notfall ein solches Mittel zur Verfügung haben wird. Eine Sozialisation, in der der Suizid als legitime Möglichkeit der Entscheidung über das eigene Lebensende Anerkennung findet, in der aber auch eine differenzierte Selbstkontrolle von Selbstzerstörungswünschen und -impulsen gelernt wird, könnte durch innovative Technologien gefördert werden. Zwei scheinbar widersprüchliche Thesen über die künftige Entwicklung können aufgestellt werden: 159
„Was bezüglich der Geburtenkontrolle stattgefunden hat, ist gleichermaßen für die Todeskontrolle erforderlich.“ (Fletcher 1977, 352; Übersetzg. K.F.)
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1.
2.
Die medizinischen und technischen Möglichkeiten der Lebensverlängerung und die gleichzeitige Erhöhung der Erwartungen bezüglich der Lebensqualität werden immer häufiger zu psycho-sozialen Leidenssituationen führen. Die sich ständig verbessernde medizinische und ökonomische Lage vor allem der alten Menschen wird zu einer Verringerung der Suizidrate dieser Bevölkerungsgruppe führen.
Der Widerspruch lässt sich durch folgende Argumente auflösen: Erstens wird sich diese permanente Verbesserung nur für Teilgruppen durchsetzen lassen, zweitens werden sich die Erwartungs- und Sensibilitätsstrukturen ändern und drittens wird die Verfallsphase durch den medizinischen Fortschritt nur hinausgeschoben. Bei einer Liberalisierung der Suizidnormierung ist allerdings nicht zu erwarten, dass sich dadurch eine generelle positive Problemlösung für alle ergibt. Die Janusköpfigkeit bestimmter Normen und Gesetze, die zur Befreiung von Individuen und Gruppen aus gesellschaftlichen Zwängen dienen, lässt sich an den Menschenrechten und ihren Folgenormen studieren. Das Recht auf Leben wurde von Professionellen zum Anlass genommen, ihre Machtbereiche auszubauen und Menschen auch dann am Leben zu erhalten, wenn sie es nicht mehr wünschen oder nicht mehr wünschen können. In diesem Sinne kann auch bei der Liberalisierung und Kultivierung des Suizids (Feldmann 2008a) nicht erwartet werden, dass sie nur der Autonomie und Befreiung der Menschen von überflüssigen Zwängen dient, sondern es werden sich parasitäre Gruppen finden, die diesen Fortschritt für ihre Interessen nutzen. Permanente kontroverse Diskurse und eine empirische Kontrolle der tatsächlichen Praxis sind folglich unverzichtbar, um unerwünschte Veränderungen zu diagnostizieren und ihnen entgegenzusteuern. Fletcher (1976) weist auf ein mögliches zyklisches jedenfalls nicht-lineares geschichtliches Geschehen hin: Im alten Griechenland und Rom war der Suizid unter bestimmten sozialen Bedingungen freigestellt und zur Erhaltung der Würde erwünscht, dann wurde er zur Sünde, zum Verbrechen, und schließlich zum Ausdruck von Krankheit, doch die Zeichen mehren sich, dass er wieder unter bestimmten sozialen Bedingungen als Entscheidung und zur Erhaltung der Würde anerkannt wird – freilich in einer pluralistischen Gesellschaft nur von Teilen der Bevölkerung.
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Das Töten von (anderen) Menschen
Lebensminderung Lebensminderung160 kann als eine quantitative und qualitative Verringerung, Beschädigung, Verletzung oder Beeinträchtigung des physischen, psychischen oder sozialen Lebens definiert werden. Lebensverkürzung i.e.S. betrifft die Quantität des physischen Lebens, i.w.S. die Quantität des physischen, psychischen und sozialen Lebens. Vorrangig gemeint ist eine durch menschliches Handeln bewirkte Verringerung der im Durchschnitt unter ‚normalen Bedingungen’ zu erwartenden Dauer des physischen Lebens einer Person. Abbildung 14: Lebensmehrung und -minderung Lebensminderung Lebensmehrung
quantitativ Lebensverkürzung i.e.S. Lebensverlängerung i.e.S.
qualitativ Verschlechterung der Qualität des phys., psych. u. soz. Lebens Verbesserung der Qualität des phys., psych. u. soz. Lebens
Die Lebensverkürzung findet offizielle Beachtung, wenn ein einfach feststellbarer Eingriff in das physische System eines Menschen zu einem schnellen physischen Tod führt. Viel häufiger sind jedoch diffuse und nicht oder mit anderer Bedeutung dokumentierte Eingriffe in verschiedene Systeme, die nach Monaten oder Jahren zu einem ‚verfrühten’ Sterben bzw. Tod von Menschen führen. (Physisches) Töten ist eine Untermenge der Lebensminderung, die kulturell, sozial und herrschaftlich eingegrenzt wurde und wird und einen semantischen und normativen Sonderstatus erhalten hat. Sterben machen und Leben machen sind dynamisch wachsende stark segmentierte Bereiche, deren Einfluss auf die Lebensmehrung und -minderung zunehmen wird.
160
Der Ausdruck „Lebensminderung“ wird hauptsächlich in religionsbezogenen Schriften verwendet.
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Abbildung 15: Töten im Feld der Lebens- und Sterbesteuerung
Die Problematik der Lebensminderung wurde und wird teilweise mit anderer Begrifflichkeit abgehandelt: z.B. strukturelle Gewalt (Galtung). Strukturelle Gewalt betrifft die multidimensionale sozial produzierte Beeinträchtigung von Lebenschancen, die in der Regel nicht auf die Handlungen einzelner zu reduzieren ist. Rechtssysteme fokussieren auf physische quantitative Lebensminderung, und hierbei auf Tötung, also die sehr schnell erfolgende einem Täter oder einigen wenigen Tätern zuzuschreibende gewaltsame Lebensminderung. Durch diese enge Fokussierung bleiben die anderen Bereiche unterbelichtet, bzw. sie werden arbeitsteilig anderweitig behandelt – oder eben nicht behandelt. Komplexe Formen der Lebensminderung werden im Recht und in der Politik unzureichend berücksichtigt.
Der gewaltsame Tod und die Sanktionierung des Tötens Der gewaltsame Tod von Menschen (violent death) wird als eigene Kategorie in Todesstatistiken ausgewiesen. Das National Center for Health Statistics der USA definiert violent death durch fünf Unterkategorien: (1) Mord, (2) Suizid, (3) Verkehrsunfälle, (4) andere Unfälle, (5) gewaltsamer Tod unbekannter Ursache. In vielen traditionellen Gesellschaften wurden die meisten Todesfälle für ‚gewaltsam’ gehalten, obwohl sie aus heutiger Sicht ziemlich ‚natürlich’ verursacht wurden. Dagegen werden in der modernen Gesellschaft die meisten Todesfälle für ‚natürlich’ erklärt, obwohl sie ziemlich ‚künstlich’ zustande kommen.
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Für die moderne Gesellschaft gilt in zunehmendem Maße die These: Es gibt immer weniger einen natürlichen sondern immer mehr einen gesellschaftlich produzierten Tod. Der Todeszeitpunkt wird heute durch moderne medizinische Technik immer häufiger hinausgeschoben. Das Sterben wird immer mehr medizinisch gestaltet, medikalisiert. „Die ‚Vortäuschung des natürlichen Todes’ (Harvey 1997) wird immer schwieriger und angreifbarer.“ (Feldmann 1998c, 11) Trotzdem wird hartnäckig behauptet, dass die meisten eines ‚natürlichen Todes’ sterben – im Gegensatz zu der Minderheit, die eines ‚gewaltsamen Todes’ stirbt. Die Sanktionierung des Tötens von Lebewesen kann auf einem Kontinuum nach der kulturellen und sozialen Bedeutsamkeit dieser Wesen abgebildet werden.161 In manchen Kulturen wurde ein Neugeborenes, das bestimmte Merkmale hat (z.B. sichtbare Missbildungen, Zwilling), nicht als soziale Person definiert und zur Tötung freigegeben. Doch die Tötung von bestimmten Tieren wurde schwer bestraft. Die Grenze zwischen freigegebener und verbotener Tötung wurde also nicht über die biologische Zugehörigkeit zur Gattung Mensch definiert, sondern über ein komplexes sozial-kulturelles Bestimmungsgeflecht. Damit ein Lebewesen vor der Tötung geschützt ist, muss es von der Gruppe oder Gemeinschaft als soziales Wesen anerkannt sein. Ebenso muss jedoch bei Tötungsgeboten normativ ein Individuum zur Tötung bestimmt werden. Es gibt also nicht nur den Übergangsritus zur sozialen Person, in der Regel beim Säugling oder Kleinkind vollzogen, sondern auch den mit physischer oder sozialer Tötung verbundenen Übergangsritus zur Nicht-Person, z.B. bei Sklaven, schwerkranken oder abweichenden Menschen (Shalinsky/Glascock 1988). Es war in allen Kulturen geregelt, wer unter welchen Umständen getötet werden durfte oder sollte. Auch die Verletzung dieser Normen gehörte zur Erfahrung in allen Kulturen. Diese Verletzung wurde häufig selbst mit dem (physischen oder sozialen) Tod bestraft.162 Nach Elias (1976) wurde im Laufe der westlichen Zivilisation das Töten und vor allem die Lust am Töten immer mehr eingeschränkt, ‚verfeinert’ und verwandelt, es kam zu einer Pazifizierung oder Befriedung des Todes. Diese Zügelung des ‚Willens zum Töten’ bei den Einzelnen steht in einem merkwürdigen Spannungsverhältnis zu der gesteigerten Potenz der modernen Staaten zur Massentötung. Töten ist die Manipulation des Todeszeitpunktes, der Todesart und -umstände anderer Personen. In der Regel wird nur die gewaltsame Verkürzung der Lebenszeit darunter subsummiert, doch man sollte auch die gewaltsame Verlängerung der Lebenszeit unter für das Opfer entwürdigenden und qualvollen Bedingungen nicht außer Acht lassen (psychisches und soziales Töten). 161
Vgl. das Kapitel zum „Wert des Lebens“. Allerdings erfolgte häufig nach einer Tötung der Ausgleich durch die Opferung einer unschuldigen Person oder eines Tieres (vgl. Hahn 2000, 176 ff).
162
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Die in unserer Kultur wesentlichen Formen des ver- oder gebotenen Tötens von Personen sollen im folgenden Schaubild dargestellt werden, wobei die Geoder Verbotsregelungen in verschiedenen Staaten unterschiedlich sind (z.B. eingeschränkte Erlaubnis für aktive Sterbehilfe in den Niederlanden und in Belgien). Die folgende Taxonomie ist durch zwei Dimensionen charakterisiert:
Ist das Töten gesellschaftlich geboten, eingeschränkt gestattet, verboten oder nicht geregelt? Betrifft der Tod (primär) Individuen oder Kollektive?
Abbildung 16: Taxonomie der Fremdtötung Taxonomie der Fremdtötung Töten
geboten
Individuum
Todesstrafe
Kollektiv
Krieg
eingeschränkt gestattet Abtreibung aktive Sterbehilfe Krieg Vergeltungsschläge
verboten
‚ungeregelt’
Mord Totschlag
sozialstrukturelle Tötung
Revolution Bürgerkrieg
Selbstverständlich handelt es sich um Idealtypen, z.B. wird im Krieg die Grenze zwischen gebotenem und verbotenem Töten unscharf. Dass es sich hierbei um heikle emotional aufgeladene Abgrenzungen handelt, lässt sich an der Empfindlichkeit gegenüber abweichenden Aussagen und an den Konflikten bei Versuchen von Gruppen, gesetzliche Änderungen vorzuschlagen, ablesen. Es geht bei solchen öffentlichen Reaktionen um Berührungstabus in den realen Konsequenzen allzu ähnlicher Handlungsbereiche, z.B. Mord und Töten im Krieg. Dass die Wahrscheinlichkeit steigt, dass jemand zum Mörder wird, wenn er Soldat ist, und zwar in und nach Kriegen, dürfte empirisch gut abgesichert sein. Es ist bekannt, dass es in Kriegen häufiger zu nicht legitimierten Tötungshandlungen, also Totschlag oder Mord, kommt als in Friedenszeiten – was sich freilich meist nicht anhand der offiziellen Mordstatistiken beweisen lässt. Auch ist der Übergang zwischen ‚normgerechter Tötungshandlung’ und Mord im Krieg fließend (vgl. Yager 1975). Außerdem konnten Archer und Gartner (1976) in ihrer Analyse, die sich auf 110 Länder in der Zeit von 1900-1970 bezog, nachweisen, dass – vor allem blutige – Kriege einen verstärkenden Einfluss auf die Mordraten in Nachkriegszeiten haben, und zwar eher auf die Raten der Siegerstaaten als auf die der Verlierer.
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Gesellschaftliche Ursachen und Folgen des Tötens „Gerade die Betonung des Gebotes: Du sollst nicht töten, macht uns sicher, daß wir von einer unendlich langen Generationsreihe von Mördern abstammen, denen die Mordlust, wie vielleicht noch uns selbst, im Blute lag. ... Wir beseitigen in unseren unbewußten Regungen täglich und stündlich alle, die uns im Wege stehen, die uns beleidigt und geschädigt haben.“ (Freud 1986, 56 f)
Wird diese von Freud postulierte Mordlust in den Industriestaaten erfolgreich unterdrückt? Oder sind sich viele Menschen ihrer Morde, und zwar nicht nur der vorgestellten Morde, nicht bewusst? Bewusste oder unbewusste Beihilfe zum physischen, sozialen und psychischen Töten ist etwas Alltägliches: Abtreibung; Verwendung von Produkten, die das Ökosystem und die Lebensgrundlagen schädigen; Beihilfe zum Massenmord durch Unterstützung einer Regierung, die Rüstung fördert, z.B. durch Erhöhung des Verteidigungsetats usw. Die Unvermeidbarkeit der Lebensminderung und des Tötens ist offensichtlich. Worum gestritten wird (bzw. werden sollte), ist die Normierung: Wer darf wen wann töten? Wer wird von wem für welche Art von Tötung wie bestraft (oder belohnt)? Welche Formen der Lebensminderung sollen erforscht und dokumentiert werden? Mord und Totschlag erregen nachhaltige Aufmerksamkeit, zweifellos größere als die objektiv bedeutsameren Formen der Lebensminderung und des sozialen Tötens in großem Maßstab. Mord und Totschlag werden in der Mehrzahl der Fälle an Bekannten und dem Täter ähnlichen Menschen verübt. Der unbekannte fremde Mörder ist nicht so häufig anzutreffen, wie viele annehmen. Mord wird in der Mehrzahl der Fälle von (jungen) Unterschichtmännern an Unterschichtmännern begangen (Zahn/ McCall 1999). Die niedrigsten Mordraten findet man in Staaten der EU und in Japan, die höchsten in afrikanischen und lateinamerikanischen Ländern. Die USA weisen im Vergleich zu den westeuropäischen Staaten eine hohe Mordrate auf. Die USA haben im Vergleich zu den europäischen Staaten auch dann eine eindeutig höhere Mordrate, wenn man nur den weißen Bevölkerungsteil berücksichtigt. (Stillion 1985, 72 ff; Lattimore/Nahabedian 1997) Weder Verstädterung, noch Bevölkerungsdichte, noch Arbeitslosenrate stehen in einer eindeutigen Beziehung zu Mordraten (LaFree 1999). Sie steigen auch nicht linear mit Industrialisierung, Ökonomisierung und Modernisierung. Allerdings haben Untersuchungen einen Einfluss der sozialen Ungleichheit, der ökonomischen und sozialen Benachteiligung auf die Mordraten in Industriestaaten nachgewiesen (Williams/Flewelling 1988).
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Eine zentrale gut bestätigte Hypothese lautet: Je höher die soziale Ungleichheit in einem Land, um so höher die Mordrate. Schon Coser (1972) hat Mord bzw. generell die Anwendung physischer Gewalt an das Auftreten von ‚relativer Deprivation’ gebunden. Eine einfache Erklärung ist zumindest teilweise für das Steigen oder Fallen der Mordrate zutreffend: die demographische Lage, genauer, die Alterszusammensetzung der Bevölkerung. Vergrößert sich die Gruppe der jungen Männer im Vergleich zu den anderen Altersgruppen, dann steigt auch die Mordrate. Da diese Altersgruppe sich in den kommenden Jahrzehnten in den Industriestaaten im Vergleich zu den Gruppen der Älteren verringern wird, ist anzunehmen, dass auch die Mordraten sinken werden (LaFree 1999). Mord als Todesursache ist in den hochindustrialisierten Staaten für verschiedene Bevölkerungsgruppen von sehr unterschiedlicher Bedeutung. Für schwarze Männer der Altersgruppe zwischen 25 und 34 in den USA ist es die dominante Todesursache (jeder dritte Tote in dieser Gruppe wurde ermordet). Dagegen ist es für Frauen aller Altersgruppen in Griechenland, Dänemark, Norwegen oder den Niederlanden eine extrem unwahrscheinliche Todesursache. Die hohen gewaltsamen Todesraten von Männern ergeben sich u.a. durch:
Verfügbarkeit von geeigneten Mitteln (Waffen, Autos etc.), Geschlechtsrollen und -stereotype (z.B. senkt die größere Gleichstellung von Frauen in nordeuropäischen Ländern die geschlechtsspezifischen Unterschiede bei gewaltsamen Todesursachen), soziale Desorganisation (z.B. Wanderungen vom Land in die Städte in Übergangsgesellschaften, Erhöhung der Ansprüche, Statusprobleme, der Grad der Legitimation von Gewaltanwendung).
Töten wird meist nur gerahmt betrachtet: Mord, Suizid, Krieg, Unfall; dadurch werden auch die Theorien und Annahmen über Ursachen enggeführt. „Waters (2007) meint, dass die Praxis des Tötens und Minderns von Leben in Regionen und Staaten besser durch eine sozialökologische Analyse als durch Analyse der rechtlichen Normierung oder der Intentionen von Personen erklärt werden kann. Diese sozialwissenschaftliche Erkenntnis ist auch so zu interpretieren, dass die altehrwürdigen Tötungsdiskurse ideologiekritisch hinterfragt werden sollten“ (Feldmann 2010b).
In der modernen Gesellschaft wurde das physische Töten stark reduziert, doch das soziale Töten rechtlich, politisch und wirtschaftlich institutionalisiert. In einer Konkurrenzgesellschaft wird der ‚kleine soziale Mord’ des Gegners ange214
strebt, seine Überwindung und Niederwerfung gemäß den Spielregeln. Die kleinen sozialen Tode kumulieren – bei einigen – zur Lebensverkürzung oder zum ‚großen Tod’, sie oder ihr Körper, ihr Über-Ich oder andere Instanzen vollziehen dann das ‚Todesurteil’. Vor allem zeigt der Umgang der reichen Personen, Organisationen und Staaten mit den armen Gegenspielern, dass das Grundprinzip der Machtgewinnung über Lebensminderung nach wie vor in Kraft ist (strukturelle Gewalt). Mord als Interaktionsspiel Luckenbill (1977) analysierte die Mordfälle von 10 Jahren innerhalb einer Region Kaliforniens. Er stellte fest, dass es sich in der Regel um eine Interaktion zwischen dem Opfer und dem Angreifer handelt, in der beide Seiten versuchen, ihr Gesicht zu wahren. Der Anstoß zu dem tödlichen Interaktionsspiel ging in der Mehrzahl der Fälle von dem Opfer aus und wurde vom Mörder als schwere Beleidigung aufgefasst. Der Mörder antwortete mit einer Aggression. Das Opfer ging auf das Aggressionsangebot ein. In dem darauffolgenden Kampf wurde das Opfer getötet. Meist waren weitere Personen anwesend, die gemäß ihrer Beziehung zu Opfer oder Mörder unterschiedliche Rollen spielten. Manche Morde enthalten selbstdestruktive Wünsche der Opfer. Das Opfer lässt sich teilweise bewusst auf ein lebensgefährliches Spiel ein. Der Mörder anerkennt – in der Regel wahrscheinlich kaum bewusst – die Todeswünsche des Opfers. Die wichtige Erkenntnis dieser und anderer Untersuchungen besteht darin, dass die Tötung von Menschen ein Interaktionsgeschehen ist, das von verschiedenen Faktoren abhängig ist:
von der Art und Weise, in der die Identität einer Person (oder einer Gruppe) erschüttert wird, von der Bereitschaft, sich auf einen Kampf einzulassen, in dem diese Identität direkt angegriffen werden kann.
Sozialisation in gewalttätigen Subkulturen erhöht die Bereitschaft, sich in solche Auseinandersetzungen zu begeben. Strukturelle Faktoren, wie Arbeitslosigkeit, Armut, Analphabetismus, wirken wahrscheinlich verstärkend, bzw. tragen zum Entstehen solcher Subkulturen bei (Vgl. Huff-Corzine et al. 1986). Männer und Frauen Frauen morden weniger als Männer – dies entspricht auch den gängigen Vorstellungen. Doch Frauen sind auch seltener Opfer von Morden als Männer – dies ist
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schon überraschender. Je höher die Mordrate in einem Staat ist, umso höher ist der Prozentsatz der ermordeten Männer im Vergleich zu dem der Frauen. Frauen ermorden häufiger als Männer Bezugspersonen, mit denen sie in einem Haushalt leben. Da Männer öfter außer Haus und stärker im Berufsleben integriert sind als Frauen, ergeben sich schon aufgrund der Häufigkeiten der Kontakte mit Fremden oder Bezugspersonen entsprechende Mordwahrscheinlichkeiten. Die stärkere Integration der Frauen im Berufsleben verändert kaum die schon in Kindheit und Jugend stattfindende Geschlechtsrollensozialisation. Die gewaltverstärkenden Subkulturen sind nach wie vor von Männern dominiert. Auch innerhalb des Wirtschaftslebens ergeben sich Aufgabenteilungen, so dass Männer die aggressiven und dominanzfordernden Berufspositionen eher erhalten als Frauen. Eine spezielle Variante ist der Kindesmord durch Mütter. Fiala und LaFree (1988) konnten durch einen internationalen Vergleich nachweisen, dass in Ländern, in denen berufstätige Frauen ökonomisch und sozial einen geringen Status haben, folglich für sie die Doppelbelastung besonders stark mit Stress verbunden ist, die Kindestötung signifikant häufiger auftritt als in Ländern, in denen Frauen den Männern ökonomisch eher gleichgestellt sind. Politischer Mord und Terror Das Töten von politischen Gegnern ist leider eine bewährte Methode, die eigenen Interessen rücksichtslos zu verfolgen. Wenn allerdings gerade dieses Töten und die Toten von den Gegnern immer wieder zum Anlass genommen werden, zum Widerstand aufzurufen, dann wird dieser Zweck nicht erreicht. Deshalb wird teilweise das Töten verschleiert. Man lässt Personen verschwinden und leugnet, dass sie getötet wurden. Das Auffinden der Leiche ist nämlich ein wichtiger Anlass zum Widerstand. Wird diese perfide Form politischen Tötens zur Routine, dann entwickelt sie eine krebsartige Eigendynamik – wie es in einigen südamerikanischen Staaten zeitweise der Fall war. Wenn Menschen verschwinden und staatliche Stellen dies begünstigen oder jedenfalls nicht verfolgen, so entgleitet dieses Gebiet oft der Kontrolle. Dadurch wird es auch für die Herrschenden zum Problem. Es entsteht ein Legitimationsloch, das sich ausweitet, da die Unsicherheit um sich greift. Im Gegensatz zu den verschleiernden politischen Morden steht der moderne Terrorismus. Hier wird eine Medienwirksamkeit wie bei der Werbung strategisch eingeplant. Der moderne Terrorismus ist vielfältig und in vielen Fällen regional und national eingeschränkt. Doch derzeit steht eine Form im Zentrum der Aufmerksamkeit, die durch folgende Merkmale gekennzeichnet ist:
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‚religiöse’ Motivation: radikale Islamauslegung Globalisierung Kombination von Mord und Selbsttötung internationale Netzwerkstruktur Zielgruppenausweitung starke politische und wirtschaftliche Wirkungen.
Der letzte Punkt, die starken politischen und wirtschaftlichen Wirkungen, die wieder mit dem zentralen agenda setting durch die Medien zusammenhängen, erhöhen die Bedeutsamkeit dieses Terrorismus und führen zu seiner Instrumentalisierung durch politische, wirtschaftliche und andere mächtige Gruppen. Damit entsteht auch eine neue Form der globalen Institutionalisierung von Terrorismus. Funktionalistisch gesehen dient der moderne globale Terrorismus der Stärkung der Nationalstaaten, deren Strukturen partiell gefährdet sind, dient vor allem dem Ausbau des Gewaltmonopols des Staates und der Stabilisierung der Rüstungsindustrie. Politischer Mord ist auch für die ideologische Manipulation der Bevölkerung ein zentrales Konstrukt. Berichte über die gewaltsame Tötung von öffentlich bekannten Personen werden von verschiedenen Gruppen zur Durchsetzung ihrer Interessen und zur Schädigung konkurrierender oder feindlicher Gruppen eingesetzt. Dies lässt sich an den Reaktionen auf terroristische Gewalttaten studieren. Mord und Suizid Freud und auch andere meinten, dass jede Art von gewaltsamem Tod, vor allem Mord, selbstzerstörerische Tendenzen in sich trägt – wenn man die Untersuchung von Luckenbill betrachtet – nicht nur im Täter, sondern häufig auch im Opfer. Von psychoanalytischen und anderen Aggressionstheorien wird die Annahme nahegelegt, dass folgende Beziehung zwischen Mord- und Suizidraten bestehen müsste: Wenn offene Aggressionen (also Mord als extreme Form) unterdrückt werden, kann sich die Aggression nach innen wenden und Suizid häufiger auftreten.163 Um zwischen den verschiedenen Todesbereichen Verbindungen zu ziehen, will ich den Versuch unternehmen, die Taxonomie des Suizides von Durkheim (1983) auf den Mord anzuwenden. Danach könnte man bei mangelhafter gesellschaftlicher Regelung oder Normschwäche ‚anomischen’ Mord und bei überstarker Normierung ‚fatalistischen’ Mord erwarten. Bei mangelhafter Integration in 163
Holinger (1987) fand positive Korrelationen zwischen Mord- und Suizidraten, Henry und Short (1954) fanden negative.
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die Gemeinschaft, z.B. in die Familie, die peer group oder in Religionsgemeinschaften wäre der ‚egoistische’ Mord und bei überstarker Integration der ‚altruistische’ Mord häufiger anzutreffen. Dass die Scheidungsraten für Mörder signifikant höher sind als für Nicht-Mörder ist eine Bestätigung für diese Theorie (Lester 1986, 20). Drogenmorde und die meisten Raubmorde sind Beispiele für egoistische Morde. Bei Revolutionen oder beschleunigtem sozialen Wandel treten anomische Morde häufig auf. Die Unterscheidung zwischen fatalistischem und altruistischem Mord ist wahrscheinlich kaum durchzuführen, da überstarke Integration meist mit überstarker Normierung verbunden ist. Ein Beispiel ist die Ermordung eines Abtrünnigen durch Mitglieder einer Sekte oder einer Terroristengruppe. Das Gewaltmonopol des Staates und die Todesstrafe Elias, Foucault und andere haben differenzierte historische Nachweise geliefert, wie in der westlichen Welt das direkte Töten (innerhalb von Staaten) erfolgreich zurückgedrängt wurde und Legitimation von Herrschaft eher durch Versprechen der Lebensverlängerung und Lebensqualitätsverbesserung und weniger durch Tötungsdrohungen aufrecht erhalten wird. De Sade forderte eine Liberalisierung im Gewaltbereich wie Adam Smith sie im ökonomischen Bereich forderte164. Die Forderung von de Sade wurde begründet mit der Ermöglichung einer republikanischen oder demokratischen Gesellschaft. Dies ist scheinbar eine paradoxe Forderung, denn das Gewaltmonopol des Staates dient einerseits der Demokratie und dem inneren Frieden, andererseits stellt es eben, wie etwa der Nationalsozialismus oder andere totalitäre Beispiele zeigen, gerade eine besondere Gefährdung einer demokratischen und friedlichen Gesellschaft dar. Die Unterdrückung von Gewaltanwendung innerhalb eines Staates wird von den meisten Bürgern gewünscht. Man könnte allerdings argumentieren, dass dadurch die Gewalttätigkeit des Staates nach außen gefördert wird, indem nämlich die Gruppengewalt gebündelt gegen andere Staaten gewendet werden kann. Außerdem muss der soziale Wandel in diesem Bereich berücksichtigt werden: 1.
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In den hochentwickelten Staaten haben die meisten Gruppen gelernt, mit demokratischen Mitteln zu kämpfen, und die meisten Menschen verfügen über eine wirksame Selbstkontrolle, so dass eine übermäßige Unterdrückung der Gewaltbereitschaft nicht erforderlich ist.
Liberalisierung im Gewaltbereich würde von Freud als Triebdurchbruch und von Elias als Rückschritt im Zivilisationsprozess angesehen.
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2.
3.
Die modernen Staaten haben ein übergroßes Gewalt- und Tötungspotential entwickelt, so dass eine Einschränkung des Gewaltmonopols des Staates gefordert werden kann.165 Die Ausdifferenzierung der Gewalt ist ebenfalls zu bedenken, die Sublimierung der Gewalt z.B. im Rahmen der Ökonomie aber auch der Politik, der Kunst und in wissenschaftlichen und anderen Diskursen (soziales Töten).
Auch die Strukturalisierung, Ökonomisierung, Medikalisierung und Medialisierung der Gewalt ist zu berücksichtigen. Medikalisierung institutionalisiert die ständige Kontrolle des Körpers, der die individuelle Gewaltbasis darstellt. Medialisierung betrifft das Konsumieren von Gewaltdarstellungen. Strukturalisierung und Ökonomisierung dienen u.a. der Transformation von physischer Gewalt in soziale und strukturelle Gewalt. Sehr bedeutsam für die Gestaltung der Gewalt ist die Übertragung der Sterbegestaltung auf bürokratische Institutionen. Eine prinzipiell unerfüllbare Normierung besagt, dass der einzelne eigenmächtig das Leben anderer weder verkürzen noch verlängern oder sonstwie manipulieren darf, sondern dies dürfen nur vom Staat autorisierte Personen im Rahmen bestimmter Institutionen und Organisationen. Somit ergibt sich die Notwendigkeit, im Rahmen moderner Staaten, die Sterbegestaltung zu beobachten und zu evaluieren, den Professionen Grenzen zu setzen und das Selbstverfügungsrecht nicht nur formal zu verankern, sondern auch tatsächlich seine Verwirklichung zu befördern. Ein besonders umstrittener Bereich staatlicher Gewaltanwendung ist die Todesstrafe. Ein sozialwissenschaftlich unterfütterter Grund, gegen die Todesstrafe einzutreten, könnte sein, dass sie einem übermächtigen Gebilde, dem modernen Staat, zusätzliche Macht verleiht, und dass dem Staat jede direkte Verfügungsgewalt über die gewaltsame Beendigung menschlichen Lebens soweit möglich verboten werden soll, da seine indirekte Verfügungsgewalt schon sehr groß ist. Die Prüfung der Annahme, dass die Todesstrafe abschreckend auf Straftäter wirke und somit die Mordrate in dem jeweiligen Staat senken würde, erwies sich als sehr schwierig. Die Ergebnisse der bisherigen Untersuchungen, ob die Todesstrafe zu einer Senkung der Mordraten beiträgt (Abschreckungsthese) oder nicht, sind umstritten (vgl. Stark 1998, 211 ff; Bailey/Peterson 1999). Ein Teil der Gebildeten in den westlichen Staaten vertritt die Ansicht, dass für die wissenschaftliche und politische Argumentation gegen die Todesstrafe die möglichst auf allen Ebenen aufzubauende Fremdtötungshemmung und der in
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Sie erfolgte auch durch Staatenverbünde wie die EU.
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der Geschichte immer wieder nachweisbare Missbrauch der Todesstrafe bedeutsamer als Abschreckungsbeweise sind. Der physischen Tötung wird in den meisten Industriestaaten heute die soziale Tötung (lebenslange Haftstrafe) vorgezogen.166 Doch auch gegen die soziale Tötung durch strafrechtliche Maßnahmen (und das damit verbundene psychische Sterberisiko) gibt es massive Einwände, vor allem wird bemängelt, dass in so schwerwiegenden Fällen ein punktuelles Urteil und eine reine Passivität des Verurteilten, dem keine Alternativen eröffnet werden, einer modernen prozessund strukturorientierten Sichtweise nicht angemessen sind (vgl. Sheleff 1987).
Soziales Töten Physisches Töten wird in den westlichen Staaten immer mehr abgelehnt, doch Lebensminderung und soziales Töten sind gestattet, ja werden teilweise sogar staatlich gefordert und vor allem ökonomisch belohnt. „Anstelle der Drohung mit dem Mord ist es nun die Verantwortung für das Leben, die der Macht Zugang zum Körper verschafft.“ (Foucault 1977b, 170)
Foucault nennt dies „Bio-Politik“. Das vielfältige Angebot an Lebenschancen in der Konsumgesellschaft ist mit der Angst vor dem Verlust oder Nicht-Erreichen dieser Chancen verbunden. Durch Globalisierung und neue Technologien werden soziale Tötung und ihre Verschleierung ausgeweitet und differenziert. Man kann das physische und soziale Töten als Kontinuum bzw. als Feld, das durch zwei Dimensionen charakterisiert ist, darstellen.
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„Wir töten durch Internierung; wir produzieren soziale Leichen und können auf die Produktion physischer Leichen verzichten.“ (Macho 1987, 421)
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Abbildung 17: Soziales und physisches Töten
Von großer Bedeutung sind die ungeplanten sozialen Tötungsprozesse durch rechtliche, politische und ökonomische Maßnahmen der Industrieländer, die soziale Lebensverminderung für oft weit entfernte Personen und Gruppen zur Folge haben. Der Ausdruck ‚soziales Töten’ ist ungebräuchlich, während häufiger der Terminus ‚strukturelle Gewalt’ verwendet wird. Da in der modernen Gesellschaft starke innere und äußere Barrieren gegen das physische Töten errichtet wurden, doch aggressive Ziele und die Konkurrenz um knappe Ressourcen nach wie vor hohe Priorität besitzen, wurde das physische Töten in soziales Töten, bzw. die physische Gewalt in strukturelle Gewalt transformiert.
Exkurs: Sexualität und (gewaltsamer) Tod „Coitus: Das Brechen des Auges, das zuckende Sichlassen des Körpers, die aufgebrochenen Lippen, zwischen denen sich der Atem fortschleicht, dieser ganze Mimus ist verwandt mit dem der Katastrophe. das ist einer der beunruhigenden Reize des Vorgangs. Ähnlich der Veränderung wie wenn ein Mensch gesund, stark, hochmütig dasteht und im nächsten Augenblick eine Kugel im Leib hat und zum Staub gehört, in dem er sich windet.“ (Musil, Tagebücher, 1976, 408)
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Die Sexualität, der Eros wird meist als Quell des Lebens und damit als Gegensatz zum Tod angesetzt. Doch über die Sexualität haben Menschen Zugang und Zugriff auf Leben und Tod. Geburtenregelung ist ein Problem jeder Kultur gewesen und bedeutete immer Lebengeben und Töten (Harris/Ross 1987). Interkulturelle Untersuchungen zeigen, dass die Aspekte der Sexualität kulturell unterschiedlich bewertet werden. Weibliche und männliche Sexualität, Fortpflanzung, menschliche, tierische und pflanzliche Fruchtbarkeit werden innerhalb verschiedener Kulturen in variabler Weise mit dem Tod verknüpft. Weibliche Sexualität wird in manchen Kulturen mit dem Tod assoziiert (z.B. Merina auf Madagaskar), während männliche Autorität, z.B. symbolisiert durch die Gebeine der Ahnen, mit der Fruchtbarkeit der für das Überleben notwendigen Naturteile gekoppelt ist (Bloch/Parry 1982, 18 ff). Die Schwächung des Mannes durch den sexuellen Kontakt mit Frauen wurde vor allem im Zusammenhang mit kriegerischen Auseinandersetzungen als tödliche Gefahr angesehen. Diese Annahmen sind auch in der abendländischen Kultur zu finden, in religiösen und anderen Schriften, z.B. auch bei Shakespeare (Vgl. Calderwood 1987, 53 ff). Die Annahme eines geschlossenen Lebenssystems – d.h. eine Geburt kann nur erfolgen, wenn jemand gestorben ist – und die Vorstellung einer begrenzten Menge an Lebenskräften, die im männlichen Samen konzentriert sind und die durch den Geschlechtsakt verringert werden, sind ebenfalls Zeichen dafür, dass Sexualität und Tod untrennbar verknüpft sind (Counts/Counts 1985, 18). Die moderne Erkenntnis des begrenzten Ökosystems Erde lässt diese Sichtweise in neuem Gewand auftauchen. Doch nicht nur Mythen, wie z.B. das sündhafte Verhalten Evas, das der Menschheit den Tod brachte, haben die Sexualität mit dem Tod in Verbindung gebracht, sondern auch die Ausbreitung von Geschlechtskrankheiten oder die bis ins 19. Jahrhundert hineinreichende Gefahr, im Kindbett zu sterben. Inzwischen ist die Sexualität von diesen Todesgefahren weitgehend befreit worden, obwohl AIDS wieder zu einem Aufflammen der ‚Sexualtodesangst’ geführt hat. Stärker als die ‚normale Heterosexualität’ sind viele abweichende Formen der Sexualität mit dem Tod verbunden gewesen, denn sie wurden in der abendländischen Geschichte oft mit der Todesstrafe bedroht. Da die Kollektive in Konkurrenz zueinander und zur Natur stehen, ist die Quantität ihres Lebens, meist gemessen an der Anzahl ihrer Mitglieder und in neuerer Zeit auch an dem Verhältnis zwischen Geburtenrate und Sterberate, ebenfalls ein traditioneller Gegenstand, an den sich Hoffnungen, Befürchtungen, Theorien und Verbesserungsvorschläge knüpfen. Dieser ideologische Aspekt sei an einer zeitgemäßen (1933!) kulturpessimistischen Äußerung von Freud verdeutlicht:
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„Vielleicht führt er (der Prozeß der Kulturentwicklung, K.F.) zum Erlöschen der Menschenart, denn er beeinträchtigt die Sexualfunktion in mehr als einer Weise, und schon heute vermehren sich unkultivierte Rassen und zurückgebliebene Schichten der Bevölkerung stärker als hochkultivierte.“ (Freud 1986, 285)
Man erinnert sich an ähnliche Aussagen von Rassetheoretikern und faschistischen Ideologen aus dieser Zeit. Doch nicht zu leugnen ist der Selektionsprozess, der mit der natürlich und sozial gesteuerten Sexualität gekoppelt ist, wenn auch die simple Übertragung auf den Kulturprozess wissenschaftlich nicht haltbar ist. Dieser Selektionsprozess wirkt innerhalb der Kulturentwicklung in einer komplexen Weise, die sich bisher einer präzisen wissenschaftlichen Erkenntnis entzogen hat. Das lustvolle Töten Sozial und politisch weniger bedeutsam, aber das Interesse des Bildungsbürgertums und vor allem der Konsumenten von massenmedialen Produkten mehr erregend sind die Verbindung von Sexualität und gewaltsamem Tod, die Mischung von Lust und Aggression und ihre kulturellen Repräsentationen. Diese Verbindung von Sexualität und Tod wird für bestimmte Kulturepochen, gesellschaftliche Zustände und soziale Gruppen als besonders bedeutsam angesehen, z.B. für das gebildete Bürgertum der zweiten Hälfte des 19. und des Beginns des 20. Jahrhunderts (Gay 1986). Diese Zeit ist einerseits durch rapiden sozialen Wandel, ökonomische und wissenschaftliche Modernisierung und andrerseits durch eine besonders krasse Prüderie gekennzeichnet. Verdrängung sexueller Tatsachen als ‚kleines Sterben’, die Verbindung von verbotenen Sexualwünschen, Hass- und Tötungsvorstellungen gegenüber den Unterdrückern und darauffolgende Schuldgefühle führen zu Ängsten bezüglich Verstümmelung oder Vernichtung der eigenen Persönlichkeit. Diese durch die Psychoanalyse und durch die Literatur allgemein bekannt gewordenen Thesen haben den Zusammenhang von Sexualität und Tod thematisiert. Wenn man nicht fest auf dem Interpretationsboden der Psychoanalyse steht, so lassen sich Vorstellungen von Kastration, männermordenden Frauen oder frauenmordenden Männern, sado-masochistischen Praktiken, Nekrophilie etc. kaum von gemeinsamen Ursachen ableiten. Sicher kann man feststellen, dass das Interesse an diesen abweichenden Phänomenen in der genannten Zeit in Kunst und Wissenschaft zunahm. Doch viele aufgegriffene Modelle hatten bereits ein ehrwürdiges Alter: die lüsterne Salome, die Johannes den Täufer köpfen lässt; Judith, die Holofernes tötet; Delila, die Simsons Haare abschneidet; Sirenen, Sphingen, Vermischungen von Tier- und Frauenleibern, Hexen, Dämoninnen, Todesgöttinnen etc. Im 19. und 20. Jahrhundert wurden viele aus verschiedenen 223
Kulturen und Epochen stammende Mythen, Geschichten und Bilder begierig aufgegriffen und synkretistisch verarbeitet. Die Verbürgerlichung, Intimisierung und Privatisierung der Familie, die zunehmende Bildung und Individualisierung führten zu einer stärkeren und differenzierteren Innenschau. Ein wachsender Teil der Bevölkerung konnte sich – auch aufgrund der steigenden Lebenserwartung und der Verbesserung der ökonomischen Verhältnisse – den Luxus einer psychischen Innenraumgestaltung leisten. Die Verstädterung und die Entwicklung neuer Kommunikationsstrukturen und -medien führten zu einem schnelleren und sich verbreitenden Konsum auf dem Markt der Ideen und Fantasien. Dass das Aufbrechen der Tabus, die über dem sexuellen Bereich lagen, auch Gewaltvorstellungen und -handlungsmöglichkeiten freisetzte, ergibt sich aus der gesellschaftlichen Situation und wohl auch aus der anthropologisch vorgegebenen Koppelungsmöglichkeit von Aggression und Sexualität. Den Tod zu suchen und herauszufordern, kann nicht nur Angst sondern auch Lustempfinden und Neugierverhalten wecken, was gesellschaftlich und kulturell sehr unterschiedlich genutzt wird. In der modernen Gesellschaft besteht die Möglichkeit, diese Reize im Bereich des Verbrechens, des waghalsigen Bergsteigens, des Autorennens, sonstiger halsbrecherischer Leistungen, der Verdingung als Söldner in fernen Kriegen und in anderen Formen zu genießen. Lust beim Sterben? Gegen die Selbststeuerung der Sexualität und des Sterbens gab es traditionell starke Widerstände. Selbsttötung und Selbstbefriedigung wurden im christlichen Abendland als schwere Vergehen angesehen (vgl. Condrau 1984). Potenziert ist diese ‚Ungeheuerlichkeit’, wenn Masturbation und Suizid gekoppelt werden. Zuletzt noch einige Gedanken zur ‚Entsexualisierung des Sterbens’. Offiziell wird die Koppelung von Sterben und erotisch-sexuellem Erleben nach wie vor prüde abgelehnt und durch ein strenges Über-Ich (Gewissen) und durch medizinische, rechtliche und organisatorische Maßnahmen verhindert oder geächtet. „Somit erscheinen Eros und Thanatos fein säuberlich getrennt und verschiedenen Sektoren der Medizin zugeteilt.“ (Schott 1986, 85)
Die Mediziner haben diese Trennungsaufgabe von den Priestern übernommen und bisher erfolgreich erfüllt. Doch warum sollte Sterbenden oder Todgeweihten die Lust und das erotische Erleben verweigert werden, obwohl dies heute durch Medikamente, Drogen und mediale Gestaltung technisch machbar wäre? (Vgl. Grof 1984) Schott meint, dass diese Trennung ein Ergebnis des Zivilisationsprozesses sei, mit dem Zweck, diese beiden Urgewalten Eros und Thanatos zu zäh-
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men. Doch Zähmung ist nicht mit Unterdrückung gleichzusetzen, sondern bedeutet nur Verfügbarmachen, auch Instrumentalisierung (vgl. die auf Sterbezustände übertragbare Diskussion bei Metzinger 2009, 314 ff). Vielleicht ergeben sich in der Zukunft Kultivierungschancen, um Eros und Thanatos zusammenzuführen.
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Das kollektive Sterben und Töten, der Krieg
Auch Kollektive und Institutionen sterben (sozial und physisch)! „In allen Kulturen wurde das Scheitern des Individuums als von geringerer Bedeutung angesehen als das Scheitern der Sippe, des Verwandtschaftsclans oder des Bezugskollektivs. In der Regel stand die Ehre der Familie oder der Sippe über dem physischen Leben des einzelnen Mitglieds. Ausnahmen stellten bestimmte Führungsgestalten dar, Repräsentanten von Kollektiven, häufig gemäß der geltenden Wirklichkeitskonstruktionen Garanten des Lebens des Kollektivs.“ (Feldmann 2004, 52)
In der Regel sind die sozialen und kulturellen Gebilde langlebiger als die Individuen, doch konkrete Ausformungen dieser gesellschaftlichen ‚Wesen’ ‚sterben’ häufig auch zu Lebzeiten der Individuen, z.B. konkrete Familien, die von Individuen überlebt werden. Im 20. Jahrhundert wurden viele Formen des Sterbens und Tötens von menschlichen Kollektiven realisiert (Holokaust, Vertreibung, Genozide, Sterben von Sprachen und Traditionen). Das Leben und Sterben des Individuums ist also eingebettet in dieses komplexe Werden und Vergehen von Systemen und Institutionen. In der MarienthalStudie wurde der soziale Niedergang einer Gemeinde und vieler ihrer Mitglieder beschrieben, wobei ökonomische Schwierigkeiten (Arbeitslosigkeit) die zentrale Ursache des kollektiven und individuellen sozialen Sterbens darstellten (Jahoda u.a. 1975). Kollektives soziales Sterben fand auch in Russland und einigen anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion in den 90er Jahren statt, was sich in der dramatisch gesunkenen durchschnittlichen Lebensdauer der Männer manifestierte.167 Einem solchen kollektiven Sterbeprozess können sich die zugehörigen Individuen kaum entziehen. Diese Tatsache führte auch in Konzentrationslagern oder beim Massenselbstmord von Jonestown (Weightman 1983) zu dem irritierenden Mangel an Widerstand. Da der einzelne sich im Extremfall nur physisch retten könnte, sein ‚sozialer Leib’ jedoch mit dem Kollektiv unterzugehen droht, bedarf es einer fortgeschrittenen reflexiven Individualisierung, um aus dem kollektiven Todesbann bzw. der Todeszone auszubrechen und diese grundlegende ‚Schizo167
„Die kollektiven Zukunftserwartungen der Breschnew-Ära wurden zunichte gemacht.“ (Johannes Siegrist in Elschenbroich 2001, 72)
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phrenie’ zu ertragen. Individuen, die in Zwangskollektiven bzw. unter repressiven Bedingungen leben, werden jedoch so sozialisiert, dass ihre personale Identität sich nur mangelhaft entwickelt und unter Belastungen regrediert oder zusammenbricht.168 Ihre soziale Identität ist dagegen mit dem Kollektiv verschmolzen und von ihm kaum trennbar.
Der Krieg Je mehr Ressourcen und Kapital eine Kultur zur Verfügung hatte, umso kultivierter war ihre Oberschicht und umso mehr wurde Lebensmehrung und -minderung betrieben, umso mehr wurde psychisches, soziales und physisches Leben reguliert und auch vernichtet. Die römischen, britischen, deutschen, japanischen, französischen, russischen, US-amerikanischen und chinesischen Reiche haben gewaltige Tötungsmaschinen entwickelt und erprobt. Ist der Krieg der Vater aller Dinge? Zweifellos haben Kriege die Dynamik der kulturellen Entwicklung entscheidend beeinflusst (vgl. Mann 1994; Joas 1996). Sieg der abendländischen Kultur = Christentum + Staat + Krieg + Technik + Wissenschaft + Kapitalismus. Wie wird Krieg definiert? Als Krieg oder kollektives Töten (Extremfall Genozid) können absichtliche Versuche der gravierenden Verminderung der Lebenschancen von Kollektiven und sonstige schwerwiegende gewaltsame Eingriffe in das Leben fremder menschlicher Populationen bezeichnet werden. Die Diskussion soll sich mit folgenden Leitfragen beschäftigen:
Welche allgemeinen Ursachen für das kollektive Töten, für den Krieg bzw. den blutigen Kampf zwischen Gruppen und Kollektiven werden in der wissenschaftlichen Literatur angegeben? Ist das kollektive Töten nur eine Problemlösung neben anderen, die also auch durch andere ersetzt werden könnte? Wie wurde und wird der Tod im Krieg und im kollektiven Kampf von anderen Todesarten unterschieden?
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Dies ist auch in den hochentwickelten Ländern häufig der Fall, da unzureichende Unterstützung von benachteiligten Familien und Kindern und eine Ungleichheit fördernde Politik und Ökonomie solche Lebensbedingungen herstellt.
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Kriege haben sich im Evolutionsprozess der Menschheit entwickelt. Die aufwändigsten und blutigsten Kriege wurden von hochentwickelten Kulturen oder Zivilisationen durchgeführt. Die militärische Entwicklung ist immer mit der ökonomischen, politischen und ideologischen gekoppelt gewesen. Die organisierte Massentötung ist also ein integrierter Bestandteil der meisten Zivilisationen und Kulturen. Vor allem die Ausbildung von Staaten mit den Charakteristika Territorialismus, Zentralismus, Monopolisierung von Gewalt und Abgrenzung gegenüber anderen sozialen Gebilden ist mit aufwändiger Kriegführung verbunden gewesen. Es folgt eine längere Passage von Max Weber, in der in einer für unser heutiges Empfinden befremdlichen Weise traditionelles und modernes Gedankengut vermischt sind: „Der Krieg als die realisierte Gewaltandrohung schafft, gerade in den modernen politischen Gemeinschaften, ein Pathos und ein Gemeinschaftsgefühl und löst dabei eine Hingabe und bedingungslose Opfergemeinschaft der Kämpfenden und überdies eine Arbeit des Erbarmens und der alle Schranken der naturgegebenen Verbände sprengenden Liebe zum Bedürftigen als Massenerscheinung aus, welcher die Religionen im allgemeinen nur in Heroengemeinschaften der Brüderlichkeitsethik ähnliches zur Seite zu stellen haben. Und darüber hinaus leistet der Krieg dem Krieger selbst etwas, seiner konkreten Sinnhaftigkeit nach, Einzigartiges: in der Empfindung eines Sinnes und einer Weihe des Todes, die nur ihm eigen ist. Die Gemeinschaft des im Felde stehenden Heeres fühlt sich heute, wie in den Zeiten der Gefolgschaft, als eine Gemeinschaft bis zum Tode: die größte ihrer Art. Und von jenem Sterben, welches gemeines Menschenlos ist und gar nichts weiter, ein Schicksal, welches jeden ereilt, ohne daß je gesagt werden könnte, warum gerade ihn und gerade jetzt, welches ein Ende setzt, wo doch gerade mit steigender Entfaltung und Sublimierung der Kulturgüter ins Unermeßliche hinein stets nur ein Anfang sinnvoll sein zu können scheint: – von diesem lediglich unvermeidlichen Sterben scheidet sich der Tod im Felde dadurch, daß hier, und in dieser Massenhaftigkeit n u r hier, der Einzelne zu wissen g l a u b e n kann: daß er ‚für’ etwas stirbt. Das, warum und wofür er den Tod bestehen muß, kann ihm – und außer ihm nur dem, der ‚im Beruf’ umkommt – in aller Regel so zweifellos sein, daß das Problem des ‚Sinnes’ des Todes in jener allgemeinsten Bedeutung, in welchem sich die Erlösungsreligionen mit ihm zu befassen veranlaßt sind, gar keine Voraussetzungen seiner Entstehung findet. Diese Leistung einer Einstellung des Todes in die Reihe der sinnvollen und geweihten Geschehnisse liegt letztlich allen Versuchen, die Eigenwürde des politischen Gewaltsamkeitsverbandes zu stützen, zugrunde. Die Art aber, wie der Tod hier als sinnvoll erfasst werden kann, liegt nach radikal anderen Richtungen als eine Theodicee des Todes in einer Brüderlichkeitsreligiosität. Dieser muss die Brüderlichkeit der kriegsverbundenen Menschengruppe als bloßer Reflex der technisch raffinierten Brutalität des Kampfes entwertet scheinen und jene innerweltliche Weihe des Kriegstodes als Verklärung des Brudermordes. Und gerade die Außeralltäglichkeit
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der Kriegsbrüderlichkeit und des Kriegstodes, welche er mit dem heiligen Charisma und dem Erlebnis der Gottesgemeinschaft teilt, steigert die Konkurrenz auf die äußerst mögliche Höhe.“ (Weber 1988, I, 548 f)
Die Problematik des modernen Staates, dass er im Normalfall, also in Friedenszeiten, keine intensive Gemeinschaft sei oder bilden könne, ist sicher gegeben. Emotionen als Massenerscheinungen treten kaum auf, vor allem nicht Liebe. Normen zum Umgang mit Sterben und Tod sind in einer modernen Gesellschaft nicht mehr so vermittelt wie in einer traditionellen Gesellschaft.169 Max Weber rettet den Frieden, indem er das „Umkommen im Beruf“ „in die Reihe der sinnvollen und geweihten Geschehnisse“ einrückt. Den ideologischen Gegner der Kriegsverherrlichung sieht Weber in der „Brüderlichkeitsreligiosität“. Doch als heutiger Sozialwissenschaftler würde man wohl andere ideologische Gegner konstruieren, mehrere, da ein einheitliches ideologisches Bewusstsein nur mehr selten anzutreffen ist. Die Schwächung des ‚Kriegswillens’ ergibt sich wohl weniger aufgrund der Stärkung ideologischer Gegner, sondern aufgrund der allgemeinen kollektiven Normschwächung, dem Verlust der positiven Expressivität der Kriegsphantasien, der verbesserten Bildung und realistischer KostenNutzen-Schätzungen. Vaterländische Solidarität, die durch die Totenkulte gestärkt wurde und die für die kollektive Aggression eine notwendige Bedingung darstellte, wird in modernen Staaten in geringerem Maße als in früheren Zeiten aufgebaut. Die Kriegskulte waren nach dem Zweiten Weltkrieg viel schwächer als nach dem Ersten Weltkrieg. Inzwischen hat das Interesse an ihnen weiterhin stark abgenommen. Der Niedergang der Bedeutung von Kriegsdenkmälern bedeutet nach Koselleck und Jeismann (1994): Die Überlebenden weigern sich, dem soldatischen ‚Tod für das Vaterland’ noch weiter den Sinn eines Opfers zu geben, durch das sie selbst zu gleicher Hingabe verpflichtet werden. Die modernen Bürger und Staaten existieren auch ohne Sinngebung des Todes über den Krieg recht ordentlich und offensichtlich gehen den meisten derartige kollektive Gefühle und Sinnstiftungen nicht ab. Jedenfalls kann man nur wünschen, dass diejenigen, die die Hand am Drücker der Atomraketen bzw. auf der Tastatur der strategischen Computer haben, weder von der „Hingabe und bedingungslosen Opfergemeinschaft der Kämpfenden“ noch von der „Weihe des Todes“ allzu viel halten.
169
Max Weber (1988, 569) äußerte sich in dieser Hinsicht radikal skeptisch über die „Sinnlosigkeit der rein innerweltlichen Selbstverkollkommenung zum Kulturmenschen“.
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Krieg als Befreiung von kultureller Repression Freud beschreibt 1915 nüchtern und desillusioniert eine anthropologische Grundlage des Krieges: „Er (der Krieg, K.F.) streift uns die späteren Kulturauflagerungen ab und läßt den Urmenschen in uns wieder zum Vorschein kommen. Er zwingt uns wieder, Helden zu sein, die an den eigenen Tod nicht glauben können; er bezeichnet uns die Fremden als Feinde, deren Tod man herbeiführen oder herbeiwünschen soll; er rät uns, uns über den Tod geliebter Personen hinwegzusetzen.“ (Freud 1986, 59)
Der Krieg wird also als Befreiung von kultureller Repression auf Zeit beschrieben. Der Krieg wird dadurch selbst zu einer Art ‚Naturerscheinung’. Menschen treten als aggressive, ja todeswütige Wesen auf, die sich bis zur Trieberschöpfung oder bis zum Tod austoben. Freud vernachlässigt, dass der Krieg ein soziales, politisches und ökonomisches Ereignis darstellt und das Wort bzw. die institutionelle Konstruktion vortäuschen, dass es eine gemeinsame – anthropologische – Grundlage geben müsse. Außerdem vollzogen sich Kriege häufig normiert und von komplexen Interaktionsritualen und Institutionen gesteuert, also keineswegs primär als Austoben aggressiver Organismen. Es „ist schon erstaunlich, wie wenig sich Soziologen mit den Tötungspotentialen der Staaten, in denen sie gelebt haben, professionell auseinandergesetzt haben.“ (Feldmann/Fuchs-Heinritz 1995b, 15)170
Ein Charakteristikum traditioneller professioneller Literatur über den Krieg ist die Verlegung des Schwerpunktes auf den Kampf und den Erfolg oder Misserfolg von Kollektiven, wodurch der Tod der Individuen, soweit sie nicht zentrale Repräsentanten des Kollektivs sind, nebensächlich wird (vgl. Gleichmann 1992). Kulturelle Transformation der Gewalt Für das Problem der Gewalt sind verschiedene Lösungen im Laufe der Geschichte und in verschiedenen Kulturen gefunden worden. Während willkürliche schwere Verletzung oder Tötung von Gemeinschaftsmitgliedern in der Regel verboten war, gab und gibt es legitime Formen der Gewalt. Eine interessante Problemlösung stellt das Opfer dar. Da es sich in verschiedenen Gesellschaften als notwendig erwies bzw. von Werten, Normen und Zwängen her erforderlich 170
Ein früher Versuch einer „Soziologie des Krieges“ stammt von Steinmetz (1929), der allerdings heute eher als historisches Dokument, denn als wissenschaftliche Untersuchung anzusehen ist.
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war, Leben zu mindern oder zu zerstören, und da Gewalt nie verhindert werden konnte, war das Opfer eine Möglichkeit, die sozialen Reaktionen in ritualisierter und damit kontrollierter Weise durchzuführen. Das Opfer diente u.a. dazu, Gewalt zu verhindern, zu kanalisieren oder ‘auszugleichen’, vor allem wenn übermenschliche Kräfte, z.B. Götter, ‚beteiligt’ waren. Nach Turner (1992) werden Opfer zur Lösung kollektiver Probleme in ritualisierter Weise eingesetzt. Dadurch werden Spannungen abgebaut und die Gemeinschaft wird ‚gereinigt’. Auch in einer modernen Gesellschaft ist das Opfer in verschiedenster Weise zu finden. Es wird etwa von nahen Verwandten erwartet, dass sie ihre Lebenschancen vermindern, wenn es um die Lebensrettung ihrer Angehörigen geht. Dies trifft bei Organspenden171 oder Bluttransfusionen zu. Doch auch der Einsatz des Opfers im Interesse größerer Kollektive ist anzutreffen. Gefährliche berufliche Tätigkeiten, wie z.B. Entschärfen von Bomben, stellen solche Opferbereitschaft dar, wobei in der Regel ökonomische Abgeltung angestrebt wird. In Kriegsfällen wird Opferhaltung von vielen erwartet. Auch in Zukunft könnte aufgrund der relativen Zunahme der alten Menschen eine Opferhaltung nahegelegt werden, die in freiwilligem Verzicht auf lebensverlängernde Maßnahmen oder sogar im Suizid sich ausdrücken könnte. Balandier (1986) schließt an die grundsätzliche Annahme an, dass in Kulturen unmittelbare Gewalt durch symbolische Prozesse und Rituale (Religion, Opfer etc.) transformiert (zivilisiert) wird. Durch diese Transformationen wird das Töten nicht unbedingt quantitativ verringert oder weniger grausam und unmenschlich, sondern es wird an bestimmte Regeln gebunden. Es kann sogar entgegen dem Selbsterhaltungsinteresse von Individuen oder Gruppen weitergeführt werden (z.B. Blutrache oder kaum endende ‚Kettenmorde’). Allerdings kann – wie schon oben gesagt – kollektives Blutvergießen auch durch Opfer oder Rituale verhindert werden, z.B. durch den exemplarischen Zweikampf von zwei feindlichen Herrschern oder Gruppenführern. Kriege zwischen Gruppen, Stämmen, Städten oder anderen Kollektiven wurden ritualisiert, so dass nicht die totale Zerstörung oder Unterwerfung des Feindes angestrebt wurde, sondern eine geregelte Wiederherstellung einer gestörten Ordnung (z.B. bei den Bété der westlichen Elfenbeinküste). Auch von den Azteken wurden solche begrenzten Kriege geführt, wobei nach Meinung von Harris (1980) die Azteken durch diese regelmäßigen Kriege gegen benachbarte Kollektive, die man als Menschenjagd bezeichnen könnte, und den damit verbundenen Kannibalismus ihren Eiweißbedarf gedeckt haben.
171
„Das Band, welches eine dergestalt medizinisch dominierte >Transplantationsgesellschaft< zusammenhält, ist der sozialisierte Opfertod ihrer, durch die bekundete Bereitschaft zu einem spezifischen Sterben vergemeinschafteten Mitglieder.“ (Schneider 1999, 281)
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Geht man von der These aus, dass der Krieg mit dem gesamten kulturellen System verwoben ist, so ist eine ‚Befriedung’ einer Kultur immer auch eine Form von Vernichtung oder Beschneidung kultureller Identität (soziales oder kulturelles Sterben). In Gesellschaften, die von einer Kriegerkaste beherrscht wurden, war regelmäßiger Krieg zur Erhaltung und Festigung der Herrschaft notwendig. Balandier zeigt am Beispiel einer afrikanischen Kultur, die auf regelmäßiger Kriegführung aufgebaut war und dann befriedet wurde, dass dies zu einem Kulturzerfall führte. Die solidarischen, moralischen Kräfte (Durkheim) wurden durch Pazifizierung, Ökonomisierung und Modernisierung dieser Gesellschaft zerstört. Befriedung als evolutionärer Trend? Die Kulturentwicklungstheorien des 19. Jahrhunderts gingen teilweise von einer Ablösung des militärischen Gesellschaftszustandes durch einen friedlichen Zustand aus (Comte, Spencer). Haben die Kriege des 20. Jahrhunderts diese Evolutionstheorien falsifiziert? Zwar hatte innerhalb der Staaten in den vergangenen Jahrhunderten die Gewalttätigkeit abgenommen (Zivilisationsprozess nach Elias), doch zwischen den Staaten ergab sie sich aufgrund des gestiegenen Tötungspotenzials um so verheerender. Doch inzwischen ist die Ablehnung des Krieges in den Industriestaaten bereits sehr stark verankert. Ob Ökonomie und Krieg unlösbar miteinander verknüpft sind, ja ob Ökonomie nur eine andere, indirektere und effektivere Weise der Lebenssteigerung von Kollektiven auf Kosten anderer Kollektive und mit deren Lebensminderung verbunden ist, bleibt eine offene Frage. Manche meinen, die Steigerung des Lebensstandards in den Industriestaaten sei nur durch einen ‚Krieg gegen die Natur’ und die Ausbeutung der unterentwickelten Länder ermöglicht worden (soziales Töten). Allerdings ist die quantitative Lebensvermehrung auch kulturell und ökonomisch unterlegener Populationen durch die Modernisierung ebenfalls nicht zu bestreiten (Anzahl der Menschen, Durchschnittsalter auch in Entwicklungsländern, Ernährungssituation etc.). Töten lernen Das Töten wird gelernt, es wird schon frühzeitig im Sozialisationsprozess eingeübt. Da es bisher in fast allen Kulturen ein Geschäft der Männer war, auf Befehl zu töten, ist es auch im Sozialisationsprozess primär ein Spiel der männlichen Kinder. Allerdings ist durch die Emanzipation der Frauen und durch die Massenmedien eine partielle Egalisierung in diesem Bereich festzustellen. Das mani-
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fest und intentional institutionalisierte Töten lernen findet allerdings noch immer fast in allen Staaten primär für die Männer statt – in der Armee. Die Ausbildung kann mit Initiationsriten verglichen werden. Eine neue soziale Identität entsteht in Männergruppen durch institutionalisierte Brutalität, Demütigungen, Gewöhnung an Leiden, Gehorsam auch bei instrumentell sinnlosen Befehlen und Unterdrückung von Zärtlichkeit und Sensibilität. (Vgl. Shatan 1983) Doch der Widerstand gegen die totale Institution Heer hat, jedenfalls nach dem zweiten Weltkrieg, zugenommen. Die neue Art des Widerstands unterscheidet sich von früheren Formen. Bestimmend sind nicht mehr eine Ideologie, ein religiöses System oder die Interessen bestimmter Gruppen, sondern es handelt sich um die Entwicklung neuer institutioneller Formen und neuer Moralen. Allerdings sollte nicht vergessen werden, dass der Krieg immer unabhängiger vom menschlichen Körper und damit auch von den Individuen wird. Die Automatisierung der Kriegsarbeit schreitet rascher voran als die Verbreitung einer ‚neuen Moral’. Somit könnten rüstungs- und kriegsunterstützende Gruppen gelassen die unnötig gewordenen Kriegsarbeiter in den Pazifismus entlassen. Das Problematische an Armeen in Friedenszeiten ist die ständige potenzielle Bereitschaft zum Töten, die scheinbar folgenlos bleibt. Auf diese Weise wird ohne die adäquaten Affekte ein Verhalten gelernt, das unerwünschte Konsequenzen haben kann. Galtung (1978) schließt aus den Experimenten von Milgram (1974): „Man sorge für geringe Nähe (zwischen Täter und Opfer, K.F.), wenn viele zum Töten bereit sein sollen, für große Nähe, wenn es wenige sein sollen.“(102)
Durch moderne Waffen- und Kriegstechnologie lässt sich die räumliche, psychische und soziale Entfernung zwischen Täter und Opfer so weit vergrößern, dass Auftraggeber ohne Schwierigkeiten Killer finden können, selbst jedoch kaum Risiken eingehen.
Moderne Tötungssysteme Der moderne Staat hat ein gewaltiges Potential an Tötungsmitteln zur Verfügung. Zweifellos kann man von dem Potential ausgehend nicht einfach annehmen, dass es auf jeden Fall auch gebraucht wird. ‚Glücklicherweise’ werden die meisten Waffen heute viel zu teuer hergestellt, viel zu teuer gekauft, viel zu teuer gelagert und viel zu teuer verschrottet.
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Vielleicht sollte man zur Vertiefung der Diskussion etwas in die Geschichte blicken. Der moderne Krieg ist ein Kampf zwischen Großkollektiven, die sich in den letzten Jahrhunderten gebildet haben. Die Staaten haben versucht, die Gewalt zu monopolisieren und eine innere Befriedung hervorzurufen. Dies ist in den meisten Staaten gelungen. Doch im Kriegsfall zeigt sich die fatale Konsequenz. Die meisten Individuen und die Subkollektive des Staates haben kaum Chancen, erfolgreichen Widerstand gegen ihren Staat zu leisten, und vor allem sie haben kaum Strategien und Mittel zur Verfügung. Die den Staat lenkenden Oligarchien führen den Krieg gemäß ihren Interessen, doch der Krieg ‚entgleitet’ häufig diesen Gruppen und ihren Führern. Frieden durch atomare Rüstung? Die Problematik eines möglichen Krieges zwischen Staaten, die über Atomwaffen verfügen, unterscheidet sich zumindest durch zwei Faktoren von der traditionellen Kriegsführung. Erstens ist die Wahrscheinlichkeit des Sterbens nicht nur für die derzeit lebenden Mitglieder des Kollektivs sondern für das gesamte Kollektiv, also auch für seine künftigen Generationen, überdurchschnittlich hoch. Zweitens sind die Alternativen, nämlich die wichtigen Ziele über strukturelle Gewalt (vor allem über das globale ökonomische System) zu erreichen, viel weiter entwickelt, als es früher der Fall war. Diese Beurteilung der Lage führt zu einer starken Verringerung der Wahrscheinlichkeit, dass hochindustrialisierte Staaten, die über Atomwaffen verfügen, gegeneinander Krieg führen. Die Totalisierung des Krieges und der Nuklearismus Die Evolution des Krieges ist ein paradoxes Ergebnis der Modernisierung und Differenzierung der Gesellschaft. Durch die Differenzierung in Subsysteme sind manche Felder und Kräfte enttotalisiert und partiell autonomisiert worden, z.B. Religionen und herrschende Klassen. Doch die Verbindung der dominanten Subsysteme Politik und Ökonomie mit dem militärischen Subsystem fördert eine umfassendere Evolution des Krieges als es in traditionellen Kulturen der Fall war. Rüstung und Krieg differenzieren sich, werden zu komplexen Institutionen, so dass der einzelne Soldat und auch große Gruppen gemäß für sie nicht durchschaubaren Plänen eingesetzt werden. Die Arbeitsteilung und Industrialisierung des Krieges setzen viele traditionelle Normen und Werte, die im Abendland und auch in anderen Kulturen für den Krieg entwickelt wurden, außer Kraft. Damit erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass moderne Kriege anomisch und anarchisch entarten, gleichzeitig
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jedoch mit höchst rationalisierter Zerstörungskraft voranschreiten. Der totale Tod, nämlich nicht nur das Töten einzelner Menschen, sondern ganzer Gemeinschaften, ihres gesamten kulturellen Erbes und auch ihrer Ökosysteme, ist somit potenzieller Bestandteil moderner Kriegführung geworden. Geno- und Ökozid werden zwar verbal verurteilt, doch tatsächlich läuft die Rüstung auch auf das Ziel hinaus, einen möglichen Gegner in einer perfekten Weise auszuschalten, wie es bisher in der blutigen Geschichte der Menschheit nur selten erreicht wurde. Aufgrund der geringen Zeit, die etwa für Raketenangriffe erforderlich ist, entfällt auch die komplexe Rationalisierung und Ideologisierung. Der Feind muss also nicht mehr durch Politiker, Mediziner, Juristen, Theologen, Soziologen und andere Experten schrittweise dehumanisiert, viktimisiert und stigmatisiert werden. Er wird einfach ausgelöscht. Die Bürokratisierung, Technisierung und Automatisierung des Kriegshandwerks schreitet voran, so dass immer weniger Menschen immer mehr, immer schneller und sicherer töten können. Somit ist es fraglich, ob die rechtlichen, moralischen und politischen Sperren gegenüber solchen Massenmorden im Ernstfall wirksam sind. Kriegs- und Nuklearsprache Carol Cohn (1987), eine „feministische Spionin im Haus des Todes“, hat sich eine Zeit lang in der Welt der „Verteidigungs-Intellektuellen“ bewegt, der strategischen Nukleardenker. Die Sprache dieser Professionellen ist klinisch und euphemistisch: Es wird nicht von schrecklichem Leiden, Blut, zerfetzten Körpern, Verbrannten, Verstümmelten, Erstickenden, Traumatisierten etc. gesprochen, sondern von der „sauberen Bombe“, der „begleitenden Schadenszufügung“, von Waffen, die den „Schaden begrenzen“, von „Kollateralschaden“. Die Einschlagstellen der Sprengköpfe werden „Fußstapfen“, das Horrorszenario im Umkreis der einschlagenden Atombomben wird „nuclear environment“ genannt. Ein Ausdruck, der der Autorin besonders gefiel: „subholocaust engagements“!172 Die Sprache weist nicht auf das Reich der Leichen und der Trauernden, ganz im Gegenteil werden sexuelle und erotische Wendungen häufig in den superaggressiven Kontext eingebaut. Entwaffnung wird mit Entmannung gleichgesetzt, ein Raketenangriff wird mit einem Orgasmus verglichen, der Raketenpenis wird in das Loch des Feindes geschickt. Neu-Seeland, das keine nuklear bestückten Schiffe in seinen Häfen anlaufen ließ, wurde im Air Force Magazine 172
Die verdeckende Militärsprache ist selbstverständlich auch bei atomwaffenfreien Einsätzen vorherrschend: Luft-Kampagne, smart bombs, friendly fire, daisy cutter, chirurgischer Eingriff.
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verächtlich bezichtigt, seine „nukleare Jungfräulichkeit“ bewahren zu wollen, obwohl dieses Zwergenland doch schon von den Vereinigten Staaten „gekauft“ ist. Die erste Atombombe wurde als „Baby von Oppenheimer“ und die Wasserstoffbombe als „Teller’s Baby“ bezeichnet, wobei die Rollen von Vater und Mutter unklar sind. Die Hiroshima-Bombe hieß „Kleiner Junge“. Die Zeugungsund Geburtsfantasien der Männer erhoben sich schließlich zum GigantischGrotesken. General Holloway, der das Strategic Air Command von 1968-1972 leitete, beschrieb einen Atomkrieg als „großen Knall, wie die Geburt des Universums“. Die Nuklear-Elite herrschte gefühlsmäßig über Leben und Tod der Menschheit, nahm die Rolle einer Art Priesterschaft ein. Der erste Atombombentest wurde „Trinity“ genannt. Der Atombombenvater Oppenheimer zitierte die Bhagavadgita: „Ich bin der Tod, der Zertrümmerer der Welten.“ Eine weitere Art, die Faktizität vor sich und den anderen zu verbergen, ist das männliche Witzeln und Spotten, das ernsthafte analysierende Diskurse erstickt. Das Machtgefühl, einer militärischen Elite anzugehören oder zumindest ihre Sprache zu sprechen und mit ihr zu verkehren, blendet fast alle, die in den Kreis eindringen. Selbstverständlich wird in der Gruppe nicht gespart. Da man mit Milliarden jongliert, lebt man auch luxuriös. Diejenigen, die über das größte todbringende Potential verfügen, genießen eine hohe Lebensqualität. In einer solchen Umwelt, die durch ökonomische Absicherung, gute Arbeitsbedingungen, hohes Prestige und Luxus gekennzeichnet ist, gedeihen Gefühle, die angemessen wären, nämlich Todesangst und antizipierende Empathie mit den Opfern eines Krieges, sicher nicht. Doch vielleicht ist diese verdeckende, verharmlosende, machistische Sprache doch noch ‚besser’, bzw. der humanen Veränderung zugänglicher als eine wissenschaftliche, mathematisch-technische Kunstsprache, in der die Mehrdimensionalität menschlicher Kultur und natürlicher Phänomene endgültig und unwiderruflich eingeebnet ist. Dann ist nämlich der Gegner nur mehr ein technisch-militärisches System, das zerstört werden muss. Dann geht es nur mehr um den Tod von Systemen, der Tod von Menschen wird dann zur uninteressanten Begleiterscheinung. Cohn weist darauf hin, dass die Subjekte der strategischen Sprache Waffen oder Waffensysteme sind. Menschen werden nur als mehr oder minder notwendige Teile von Waffensystemen einbezogen. Andere Menschen, die getötet, verwundet oder anderweitig geschädigt werden, kommen als Menschen in dieser Sprache und damit in dem Entscheidungssystem nicht mehr vor – als wären sie bereits vernichtet.
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Die unaufhaltsame Innovation der Tötungssysteme Es besteht kein Anlass, sich zu beruhigen, weil schon so lange Frieden herrscht zwischen den Großmächten. Die indirekten und auch die unbeabsichtigten Schädigungen der Lebenschancen von Populationen könnten gerade in einer langen Friedenszeit zunehmen (Lem 1983). Diese beunruhigende Möglichkeit ergibt sich vor allem aufgrund zweier struktureller Ursachen:
der technologischen und wissenschaftlichen Entwicklung und der gesellschaftlichen Entwicklung (Bürokratisierung, Ökonomisierung, Spezialisierung, Globalisierung etc.).
Die leichte Handhabung unpersönlicher Tötungssysteme, die ohne emotionalen Aufwand und auch ohne Systemkenntnis betrieben werden kann, lässt das Instrumentarium der traditionellen Menschenformung und -kontrolle (Erziehung, Internalisierung von Werten und Normen, polizeiliche und militärische Überwachung etc.) stumpf werden. Die Systeme, die als Waffen verwendet werden können, werden immer weiter entwickelt. Dieser Prozess der technischen Vervollkommnung beschleunigt sich trotz der zumindest in den Industrieländern zunehmenden Ablehnung von Gewalt und Krieg. Die Möglichkeit der Tötung nicht nur von einzelnen, sondern von großen Gruppen, wird immer mehr erleichtert, d.h.
es können immer größere Raumeinheiten in kürzerer Zeit und mit sinkendem Personaleinsatz von Menschen ‚befreit’ werden, immer weniger mit modernen Waffen ausgerüstete Menschen können immer mehr Gegner beseitigen.
Die Unterscheidung von Krieg und Frieden wird schwieriger! Lem hat daraufhingewiesen, dass viele vielleicht in Zukunft nicht mehr genau wissen werden, ob sie schon von einem Gegner angegriffen worden sind oder nicht. Moderne chemische oder andere Waffensysteme mit kombinierter Kurz- und Langzeitwirkung könnten auch durch raffinierte permanente Untersuchungen des Gesundheitszustands der Bevölkerung und anderer strategischer Indikatoren nur schwer zu entlarven sein. Allerdings ist es aufgrund der Verbesserung der Spionage- und Kontrollmethoden und der fortschreitenden Verdatung und Vernetzung in den hochentwickelten Staaten kaum vorstellbar, dass eine solche perfide Kriegsführung auch tatsächlich geheim bleiben könnte. Doch massenpsychologisch wäre ein Zustand des allgemeinen Verfolgungswahns denkbar, der nicht unbedingt einen ausreichenden realen Hinter-
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grund benötigt. Dieser Verfolgungswahn würde vielleicht verblüffende Ähnlichkeit mit der Annahme traditioneller Kulturen haben, dass jeder Tod eines Menschen gewaltsame Ursachen habe.
Genozid und Angst vor dem Untergang des eigenen Kollektivs Der mögliche Tod der Gemeinschaft oder des Kollektivs war als ständige Drohung in vielen traditionellen Kulturen präsent. Der Bruch eines Tabus wurde mit dem Tod bedroht, weil er als Verletzung der Gemeinschaft angesehen wurde. Die Menschen trugen die Verantwortung für das Leben der Primärgruppe, des Stammes, der Kultur und des kosmischen Zusammenhanges. Wenn ein Stamm oder eine Gruppe einen angestammten Ort verließe, so etwa ein Mythos, so würde die kosmische Ordnung ins Wanken geraten, also der kollektive Tod eintreten. In einer Reihe von Kulturen, vor allem in Krisenzeiten, entstanden eschatologische Vorstellungen, Beschreibungen der Endzeit. Eine moderne Form der Angst vor dem physischen oder kulturellen Untergang des eigenen Kollektivs findet man seit dem 19. Jahrhundert, z.B. im Anschluss an Darwins Selektionstheorie. Ein Beispiel aus neuerer Zeit, das die Angst vor dem Genozid, die zum Genozid führen kann, zeigt: „Unter unnatürl. Bedingungen kommt es oft zu einem Aussterben der erblich hochwertigen Individuen ... und damit zu einer übermäßigen Vermehrung und einem Überhandnehmen des erblich untüchtigen Anteils. Solche Vorgänge spielen bevölkerungspolitisch ein große Rolle und sind in ihrer Bedeutung erst vom Nationalsozialismus voll erkannt und in Rechnung gestellt worden.“ (Meyers Lexikon 1942, Selektionstheorie, 1518 f)
Das Genozid-Problem wird in der Regel sehr eingeengt behandelt. Es wurde der historische, sozialwissenschaftliche und sozialstrukturelle Kontext meist nicht aufgearbeitet (vgl. Fein 1993). Hauptsächlich beschäftigten sich die Autoren mit einem einzigen Fall, dem Holokaust, dem Massenmord an den Juden, seltener mit dem Genozid der Türken an den Armeniern 1914-17 und mit anderen Fällen fast gar nicht. Nach Jonassohn und Chalk (1987) ist die Absicht von (führenden) Mitgliedern einer Gruppe, eine andere Gruppe physisch und/kulturell zu vernichten, ein notwendiges Element der Definition von Genozid, wobei sie folgende Motive unterscheiden: 1. 2. 238
drohende Rivalen zu eliminieren; ökonomische Vorteile zu gewinnen;
3. 4.
Angst und Schrecken zu verbreiten; eine Ideologie oder einen Glauben durchzusetzen.
Historisch sind Genozide im Kampf zwischen Reichen oder Stadtstaaten bekannt, z.B. die Assyrer waren Experten im Ausrotten von gegnerischen Gruppen. Rom hat Karthago ausgelöscht. Die Katharer in Süd-Frankreich und Italien wurden in Glaubenskriegen vernichtet. Doch die Ausrottung von Gemeinschaften, Völkern, Stämmen und Kulturen muss nicht das Ziel der Aggressoren sein. Als die Spanier Gebiete in Mittel- und Südamerika eroberten, wurden die einheimischen Gruppen teilweise durch Krankheiten, durch den Kulturschock und nur zum Teil durch direkte Gewalteinwirkung getötet. Aber auch subtilere Einflüsse können zum kulturellen Sterben, das nicht mit dem physischen Sterben der Mitglieder der Kultur gleichgesetzt werden kann, beitragen: Verbote, die zentralen Riten durchzuführen, Zerstörung oder Verschleppung bedeutsamer Kultgegenstände und Kulturgüter oder Verhinderung der gewohnten Sozialisation und Erziehung. Nach Barta (1987) ist Australien eine Nation oder ein Staat, der durch Genozid an den Ureinwohnern entstanden ist. Australien war vor seiner Kolonisation besiedelt und wurde von den Aborigenes genutzt. Diese Nutzung war unverträglich mit der Nutzung durch die Kolonisatoren. Es war wohl nicht die Absicht der britischen Regierung oder der australischen Führung, diesen Genozid an den Ureinwohnern zu begehen, doch er wurde durch die Kolonisation bewirkt. Die australischen Regierungen versuchen nun, den Nachfahren der Ureinwohner eine gewisse Wiedergutmachung durch Landzuweisung zu gewähren. Der Genozid ist jedoch nicht mehr rückgängig zu machen, weil er mit Kulturzerstörung verbunden war. Genozid verschiedenen Grades war die Folge von Kolonisation, vor allem in Nord- und Südamerika. Die Kolonisationspläne führender Nationalsozialisten waren von diesen historischen Erfahrungen geprägt. Sie wollten die Slawen ebenso behandeln, wie die Indianer behandelt worden waren, um zusätzlichen ‚Lebensraum’ für die Deutschen zu gewinnen. Rubenstein (1987) weist auf die historische Kontinuität im politischen Handeln der Europäer bzw. der ‚Zivilisierten’ hin. Die Vernichtung der Juden in Europa war im Rahmen eines abendländischen Programms geschehen. Judenprogrome waren in der gesamten europäischen Geschichte in allen Ländern aufgetreten. Die ideologische Grundlage des Genozids an den Juden wurde durch das Christentum gelegt. In der Regel traten Progrome auf, wenn die jüdische Minderheit mit Teilen der Majoritätsbevölkerung in härtere ökonomische Konkurrenz trat oder wenn innere Krisen, z.B. militärische Niederlagen oder Epidemien, das Solidaritätsbedürfnis und das Misstrauen gegenüber Gruppen, die man traditionell ablehnte, verstärkten. Juden
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übernahmen in Europa Positionen und Rollen, die von Christen bzw. der einheimischen Bevölkerung in der Regel gemieden wurden, z.B. als Wucherer, Händler etc. Wenn durch ökonomische und politische Umstrukturierung einheimische Gruppen in diese Positionen und Rollen drängten, also die Konkurrenz mit den Juden sich verstärkte, ergab sich ein sozialer Druck, die Juden zu eliminieren. Ob es zu Ausschreitungen gegen die Juden kam und wie die Staatsgewalt darauf reagierte, hing nun davon ab, ob sie von anderen Gruppen gestützt wurden oder nicht. Durch die Rationalisierung der Landwirtschaft in Russland und Polen im 19. und 20. Jahrhundert wurden viele Bauern zu einem landlosen Proletariat, das in den Städten Lohnarbeit suchte. Dort konkurrierten sie auch mit den Juden und die russische Regierung stützte sie in dem Verdrängungswettbewerb. Freilich wurden Juden nicht in Vernichtungslager gebracht, doch ein Großteil wurde aus den angestammten Positionen gedrängt, sehr viele mussten emigrieren und viele wurden auch getötet. Im nationalsozialistischen Deutschland und den von den Deutschen annektierten Gebieten wurden die Juden schrittweise eliminiert. Zuerst wurden ihre Rechte beschnitten, es wurden Terrorakte gegen einzelne oder kleine Gruppen ausgeführt, schließlich wurden sie in Lager gebracht und dann in der Phase der sich abzeichnenden totalen Niederlage des Staates und der nationalsozialistischen Kultur ausgerottet. Genozid oder Ansätze zum Genozid vollziehen sich meist nicht so radikal wie unter dem Nationalsozialismus. Doch auch in Demokratien werden inneren Feindgruppen die politischen und sozialen Lebenschancen teilweise oder auf Zeit genommen. Indianerstämmen in Südamerika werden die Lebensgrundlagen durch Kultivierung des Landes und Umsiedlung genommen. In vielen Ländern werden ethnische Gruppen vielfachen Diskrimininierungen unterworfen, ihnen z.B. Schulen verweigert, in denen ihre Kinder die Sprache und Kultur vermittelt bekommen. Ein ungelöstes Problem ist der strukturelle Genozid (soziales Töten), der durch die krebsartig wuchernde, ökonomisch-technisch dominante ‚Weltkultur’ unaufhaltsam voranschreitet. Diese moderne ‚Weltkultur’ fördert das Sterben einfacher und traditioneller Kulturen, d.h. sie werden in Elemente zerlegt (gleichsam seziert) und ins ‚imaginäre Museum’ der modernen Gesellschaft, dem luxuriösen Leichenschauhaus einbalsamierter und wissenschaftlich betreuter Kulturen, aufgenommen.
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Trauer, Erinnerung und soziale Restrukturierung173
Da in traditionellen Kulturen bzw. nicht-europäischen Ethnien in der Regel eine soziale Todesursache angenommen wurde, z.B. Behexung oder auch direkte Tötung, waren die überlebenden Bezugspersonen nach dem Tod eines Angehörigen mit Gegenreaktionen beschäftigt. Es gab keinen ‚natürlichen’ Tod im modernen Sinn und der gesellschaftlich vermittelte Tod musste aufgearbeitet werden. In unserer Gesellschaft liegt gemäß offiziell geltender doxa bei den meisten Todesfällen kein direktes ‚Fremdverschulden’ vor. Damit ergibt sich für die Bezugspersonen und für gesellschaftliche Instanzen keine Notwendigkeit, wieder Ordnung herzustellen, Rache zu nehmen oder einen Ausgleich durchzuführen. Die Todesursache wird amtlich festgestellt und damit ist der Fall meist erledigt. Gegenmagie und Gegenzauber sind nicht notwendig. Nur in einer Minderheit der Fälle, vor allem bei Mord, wobei eine bürokratische Variante des Gegenzaubers in Aktion tritt, wird sozial kontrolliert und sanktioniert. Die andere zentrale Problematik vieler Kulturen betraf den Übergang vom Reich der Lebenden in das der Toten. Die Überlebenden mussten Regeln befolgen und Riten durchführen, um diesen Übergang ordnungsgemäß zu ermöglichen. Auch dieser zweite zentrale Aspekt des Handelns nach dem physischen Tod ist in der modernen Gesellschaft unwichtig geworden, wenn man nicht die theoretische Position vertritt, dass der Übergang vorverlegt wurde, d.h. während des physischen, sozialen und psychischen Sterbens stattfindet. Was nach dem physischen Tod einer Person heute Probleme schafft, sind innerpsychische Vorgänge, vor allem Emotionen. Doch dies ist nur eine Sichtweise, soziologisch betrachtet sind noch immer traditionelle Begräbnisriten, bürokratische und professionelle Aktivitäten (Krankenhauspersonal, Bestatter etc.) und Handlungen der Bezugspersonen, die innerhalb und außerhalb dieses regelgeleiteten Geschehens stattfinden, festzustellen. Da bei den meisten Todesfällen kein signifikanter ‚Bruch’ in Makro- und Mesosystemen festzustellen ist, sind die Begräbnisriten ihrer traditionellen Funktionen beraubt. Doch im Mikrosystem der Familie oder Bezugsgruppe erfüllen sie noch die Funktionen der
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Vgl. auch den Abschnitt „Verlauf der Trauer“.
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Solidarität, der Fassadengestaltung und evtl. auch der Tröstung oder psychosozialen Normalisierung.174 Doch was ist Trauer? In der englischen Sprache gibt es drei Begriffe für Trauer mit unterschiedlichen Bedeutungen (Small 2001, 20):
grief: Gefühl, der Schmerz nach dem Verlust, mourning: die Zeit der Trauer, bereavement: der Prozess des Beziehungsverlustes oder der Beziehungsänderung.
In der deutschen Sprache wird heute im Zeitalter der Individualisierung vor allem der Gefühlsteil mit dem Wort Trauer angesprochen. Als Trauer werden Gefühlszustände und Verhaltensweisen nach einem Verlust (oder auch bei drohendem Verlust) bezeichnet. Der Verlust kann sich auf Personen oder Objekte beziehen. In der Regel wird der Verlust einer Bezugsperson als zentraler Anlass für Trauer angesehen, doch auch der Verlust eines Teils des Selbst, von Körperteilen oder Teilen der eigenen Biographie und auch anderer fiktiver oder tatsächlicher Gegenstände oder Personen kann von einer tiefen Trauer gefolgt sein. Diese Tatsache weist darauf hin, dass Todesvorstellungen und Trauergefühle nicht nur auf den physischen Tod von Menschen bezogen sind. Trauer ist eine Form von psychischem Sterben, ein tatsächlicher oder antizipierter Verlust von identitätsrelevanten Personen oder Objekten. Trauer im engeren Sinn soll hier die Gefühle, Gedanken und Verhaltensweisen von Bezugspersonen im Zusammenhang mit dem konkreten Sterben eines Menschen (auch mit dem eigenen Sterben) bezeichnen. Die Reaktionen können unterschiedlicher Art sein, z.B. Veränderungen in der Kleidung, im Habitus, im Verhalten, ökonomisch oder ästhetisch, langfristig oder kurzfristig, modern oder traditionalistisch, religiös oder nicht religiös usw. In den meisten Kulturen gab es relativ genaue Vorschriften über die Art und Zeit der Trauer, die von den Beziehungen der Überlebenden zu dem Toten abhingen. In der frühen Viktorianischen Epoche wurde als Trauerperiode für den Verlust eines Elternteils 12 Monate, des Großvaters 9 Monate und einer Tante 3 Monate angesetzt. Von Frauen wurde die Einhaltung der Trauervorschriften in der Regel in stärkerem Maße erwartet als 174
Roudaut (2003) hat eine differenzierte empirische Studie der Trauergestaltung im Mikrosystem durchgeführt.
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von Männern (vgl. Morley 1971), d.h. für sie wurde kulturell Lebensminderung bzw. soziales Sterben verordnet. Ein Bericht, der sich auf ein ländliches Gebiet in den 1940er Jahren bezieht: „Ich erinnere mich nicht mehr, ob zuerst meine Großmutter oder mein Großvater starb. Ich weiß nur noch, daß meine Mutter immer schwarze Kleidung trug seit der ersten Todesnachricht. Als nach ein paar Jahren auch die zweite eintraf, hatte sie sie noch nicht abgelegt. Jetzt mußte sie die Trauerkleider noch länger tragen.” (Wimmer 1978, 41)
Im Zuge der Modernisierung wurden die Zeitspannen verkürzt und die Art und Rigidität der Kontrolle verändert. In einer säkularisierten, verstädterten, bürokratisierten und monetarisierten Gesellschaft erwiesen sich die Bräuche, seine Trauer längere Zeit durch Kleidung und andere Zeichen zu zeigen, nicht als widerstandsfähig. Die Trauer zog sich in den privaten und intimen Bereich zurück, nachdem das Begräbnis vollzogen war. „Ursprünglich waren Trauerzeit und die Zeit, die der Verstorbene bis zur Erlangung neuen Lebens brauchte, identisch. Mit der zunehmenden Geltung des Bildes des natürlichen Todes verliert die Lösung von den Toten ihren Ablaufcharakter. Sie muß sofort geleistet werden. Der Verstorbene steht nicht länger in einem relativ dauernden Übergangsstadium, sondern ist von einem Moment zum anderen tot, nichtig. Die Beziehungen zu den Interaktionspartnern sind von einem Moment zum andern zerschnitten, und zwar irreversibel ...“ (Fuchs 1969, 166).
Die Gefühle der meisten Trauernden sind heute nicht mehr an einen rituell geregelten Übergang vom Reich der Lebenden in das Reich der Toten gebunden; doch die Verstorbenen bleiben ‚im Innern’ ihrer Bezugspersonen lebendig (vgl. Roudaut 2003; Davies 2002, 170 ff). Der Übergang vom direkten zum indirekten Interaktionspartner kann analog dem Übergang vom Reich der Lebenden in das Reich der Toten begriffen werden. Da der Übergangsprozess in das trauernde Individuum verlegt ist, wird der gesellschaftliche Lauf nicht gestört. Abbildung 18: Normierung des Trauerverhaltens
expressiv
zurückhaltend, reserviert
formal (Akzeptanz von Ritualen) Mittelmeerländer Orthodoxe Juden Moslem (Frau) konservative Schotten konservative Deutsche Moslem (Mann)
informell (Misstrauen gegenüber Ritualen) progressive, junge, gebildete Menschen in westlichen Ländern englische, kommerzielle Mittelschicht
243
Untersuchungen belegen sowohl überkulturelle Elemente als auch große kulturspezifische Unterschiede im Trauerverhalten (Stubbe 1984, 323; Rosenblatt 1993; Stroebe 1994). Selbst wenn in der Mehrzahl der Fälle Basisgefühle und vielleicht auch Basishandlungen (z.B. Mienenspiel, Weinen, Gesten, Körperhaltungen) tendenziell angelegt sein sollten, handelt es sich nur um ‚Rohmaterial’, das sozial und kulturell umgeformt wird. Schon in der westlichen Welt gibt es eine große Vielfalt des Trauerverhaltens (Stroebe et al. 2001). Walter (1999, 138 ff) hat die Normierung des Trauerverhaltens durch zwei Dimensionen, die an Elias (1976) anschließen, gekennzeichnet (siehe Abb. 18). Die Betrachtung von Totenkulten zeigt, dass Interpretation und Kontextabhängigkeit des Verlustes viele Reaktionsmöglichkeiten eröffnen. Wird der Tod als gewaltsam interpretiert, werden Schuldige gesucht, gegen die sich nun die Aggressivität des Trauernden richtet. Er kann auch sich selbst die Schuld geben und dann kann die Aggression sich gegen ihn wenden, er leidet an Schuldgefühlen, erkrankt oder begeht im Extremfall Suizid. Um die Trauer zu erleichtern, wurden und werden häufig kulturelle Rationalisierungen erfunden. Im Hinduismus wird beim Tod eines Kindes angenommen, dass es durch die schlechten Taten seines vorigen Lebens zu stark belastet war. Im traditionellen Verständnis von Chinesen wurde beim Tod eines Kindes teilweise vermutet, dass es nicht ein echtes Kind seiner Eltern sei, sondern ein böser Geist in die Familie einziehen wollte – was ihm glücklicherweise nicht gelang. Heute kann z.B. ein ‚guter Tod’ zur Erleichterung der Trauer dienen, vor allem wenn die Überlebenden sich selbst die gute Gestaltung zuschreiben. Ein Tabubereich des Trauerns ist das Auftreten unpassender Gefühle beim Tod einer Bezugsperson: Freude, Erleichterung, als angenehm erlebtes Verschwinden von Hassgefühlen, Befreiung usw. Der Tod kann als positives Ereignis für den Toten bzw. für die Überlebenden interpretiert werden, was zu positiven Gefühlen Anlass gibt. „Eine Witwe erzählte, daß ihr Mann geistig verwirrt gewesen sei, er hatte versucht, sie zu erwürgen und gedroht, sie zu vergiften. Sie sagte: ‚Lange hätte ich dieses gemeinsame Leben nicht mehr ausgehalten ... Sie können sich gar nicht vorstellen, welche Erleichterung es für mich war, als es (der Tod des Mannes) geschah.’“ (Bowling/Cartwright 1982, 164; Übers. K.F.)
War die Person der Anlass von Rollenkonflikten, Identitätsproblemen oder wurde sie als Last empfunden oder war der (antizipatorische) Trauerprozess bereits abgeschlossen, so kann Erleichterung nach dem Tod empfunden werden. Wenn dieses Gefühl als abweichend oder ungehörig bezeichnet wird, entstehen evtl.
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Schuldgefühle oder geheuchelte Reaktionen. Außerdem treten wahrscheinlich häufig Mischgefühle auf, die der Trauernde selbst interpretieren muss. Ist die trauernde Person physisch oder psychisch krank, so kann sich in der Trauerkrise diese Krankheit verschlechtern. Bei besonders gravierenden Trauerfällen, z.B. dem Tod von Kindern, ist eine psychotherapeutische Behandlung der Eltern sozusagen bereits normal, d.h. es wird eine zumindest leichte psychische Erkrankung erwartet. Trauer ist eine soziale Erscheinung, mit Rollen verbunden, ein Erwartungsprodukt. Durch die Privatisierung der Todeserfahrung ist allerdings der Erwartungsdruck abgeschwächt worden. Trotzdem entschuldigen sich Personen, die etwa beim Empfangen der Nachricht über den Tod einer Bezugsperson nicht weinen, bzw. sie fragen sich, ob mit ihnen vielleicht etwas nicht in Ordnung ist. Während der Weltkriege verloren viele Familien Angehörige. Es wurde als kollektives Schicksal begriffen, was wahrscheinlich die Akzeptanz dieser schrecklichen Ereignisse erhöht hat. Dagegen verlieren heute Familien selten frühzeitig ein Mitglied. Ein unerwarteter vorzeitiger Tod durch Unfall, Suizid, Mord oder eine andere plötzliche Todesursache wird als individuelle Katastrophe interpretiert, die oft bei den Überlebenden Schuldgefühle und soziale Verwirrung bewirkt. Die medizinische Profession hat den Bereich Sterben und Tod zunehmend besetzt und auch das Trauern wird teilweise von ihr verwaltet und normalisiert. Das bedeutet: Der Trauernde, der Hilfe sucht, wird häufig als Kranker definiert.175 Parsons (1951, 426-437) gibt folgende Rollenkomponenten für die Krankenrolle an176: 1. 2.
3.
Ausgliederung aus den normalen Rollen, aus dem Alltag. Die Erwartung, dass die kranke Person (professionelle) Hilfe benötigt, um wieder in den Stand versetzt zu werden, ihre normalen Rollen und Aufgaben zu erfüllen. Krankheit wird als unerwünscht definiert, und es wird als Pflicht des Kranken angesehen, den kranken Zustand möglichst schnell in einen gesunden umzuwandeln.
175
Alternative Rollen bieten Selbsthilfegruppen oder Bildungsveranstaltungen (Volkshochschulen, Hochschulen) an. 176 Vgl. zur Kritik an der Krankenrolle für Trauernde Bowling/Cartwright 1982, 122 ff.
245
4.
Es wird erwartet, dass der Kranke professionelle Hilfe aufsucht und im Heilungsprozess sich dem zuständigen Professionellen unterwirft.
Manchmal wird die Trauerrolle (ebenso wie teilweise die Krankenrolle) von der betroffenen Person verdeckt. Die Person schämt sich dieser Rolle, meint, dass sie nur ihrer Privatsphäre angehöre oder ist aus anderen Gründen daran interessiert, sie nicht mit ihrer Berufsrolle und sonstigen öffentlichen Rollen in eine Verbindung zu bringen. Gründe für den Abstieg der Trauerrolle in der modernen Gesellschaft liegen auch in der harten Konkurrenz zwischen den Rollen und in der Emanzipation der Frauen. Früher hatten viele bürgerliche Frauen wenig Chancen, außerhalb des Hauses soziale Rollen zu spielen. Somit hatten die Pflege von Sterbenden und die Trauerrolle gute Entwicklungschancen177. Im Zuge der Emanzipation der Frauen wurden diese Rollen unwichtiger und erwiesen sich als kontraproduktiv. Nur für alte Frauen, deren sozialer Sterbeprozess weit fortgeschritten ist, sind diese Rollen ‚akzeptabel’. Da sich in den vergangenen Jahrzehnten sowohl das physische als auch das soziale Sterben verlängert haben, beginnt die Trauer der Betroffenen (auch des sozial bzw. physisch Sterbenden selbst!) immer häufiger schon lange vor dem physischen Tod und wird in einer Minderheit der Fälle schon vor dem physischen Tod ‚beendet’ – antizipatorische Trauer. Vielleicht wird diese Antizipation der Trauerarbeit sogar einmal kulturell als Hauptform anerkannt. Im Idealfall könnten der Sterbende und der/die Trauernde(n) gemeinsam ihre Probleme bearbeiten. Die vorgezogene Trauer setzt freilich kommunikative Kompetenzen und günstige Kontextbedingungen voraus, die nur in der Minderheit der Fälle gegeben sind.
Der Tod in der modernen Familie In agrarischen Gesellschaften waren die Kinder die direkten Positionsnachfolger der Eltern. Sie übernahmen deren Rollen, wenn sie gestorben waren, setzten die Arbeit und die anderen gesellschaftlichen Tätigkeiten fort. Brüche traten freilich durch Außeneinflüsse, z.B. Naturkatastrophen, Kriege, Versklavung, Seuchen häufig auf. 177
Frauen mussten länger als Männer Trauerkleidung tragen und waren von vielen öffentlichen Veranstaltungen ausgeschlossen.
246
In der modernen Gesellschaft übernehmen die meisten Kinder nicht die Berufsrollen ihrer Eltern, weil die Produktion aus der Familie ausgelagert ist, der soziale Wandel zu einer Änderung der Positionen und Rollen führte und vertikale und horizontale Mobilität zugenommen haben. Brüche treten häufiger durch Inneneinflüsse, also individuelle Entscheidungen oder Bewertungen, auf, z.B. durch Scheidung. Die Kontinuität der Familie über mehrere Generationen ist in geringerem Maße gewährleistet. Verwandtschaftsbeziehungen sind unwichtiger geworden, wenn man von einigen mächtigen Clans und so genannten ‚rückständigen Regionen’ absieht, die auch in Industriegesellschaften existieren. Bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts war es in Europa und den Vereinigten Staaten ein normales Ereignis, dass ein Kind zu Lebzeiten der Eltern starb. Obwohl die Menschen, vor allem die Frauen, heute bedeutend älter werden, ist es nur für eine Minderheit zu erwarten, dass sie den Tod eines ihrer Kinder erleben.178 Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind, bevor es erwachsen wird, den Tod eines Elternteils erlebt, ist ebenfalls dramatisch gesunken. In früheren Jahrhunderten war es für einen Großteil der Kinder und Jugendlichen der Fall, dass ein Elternteil starb, bevor sie 18 Jahre waren. Schwere Beziehungsbrüche und verluste waren folglich in Familien früher viel häufiger als heutzutage, was freilich noch wenig über die innerpsychische Verarbeitung dieser Todesfälle sagt. Die affektive Belastung in modernen Familien im Vergleich zu anderen Kulturen und Epochen zu beurteilen, ist äußerst schwierig. Einerseits ist durch die Kleinfamilie beim – allerdings relativ seltenen – frühzeitigen Tod eines Mitglieds eine höhere emotionale Belastung zu erwarten.179 Andrerseits ist der Normalverlauf von erwarteten Biographien heute für die Mehrzahl der Menschen in den Industriestaaten gesichert, während unter früheren kulturellen Umständen unvorhersehbare Verlaufsformen häufig auftraten. Es ist anzunehmen, dass die antizipatorischen Ängste vor dem Verlust einer familiären Bezugsperson in modernen Kleinfamilien relativ stark sind. Durch soziale und rechtliche Regelungen wird versucht, die Katastrophe in Grenzen zu halten und auch bei Zerstörung der Familie den einzelnen überlebenden Mitgliedern, z.B. Waisen, möglichst gute Lebenschancen zu geben. Durch die Abtrennung der Familie von anderen Gemeinschaftsinstitutionen und die Intimisierung wurden auch die Leiden und das Sterben der Familienmitglieder privatisiert und schließlich immer individueller gestaltet. Dieser Prozess hat sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts fortgesetzt; trotz Modernisierung, Mobilität, Berufstätigkeit der Frau und Aussonderung von Kranken und 178
Für Frauen, die älter als 65 Jahre werden und einen Sohn haben, besteht eine Wahrscheinlichkeit über 20 %, dass sie den Tod ihres Sohnes erleben (Moss et al. 2001, 247). 179 Vgl. den Abschnitt „Trauer der Eltern beim Verlust eines Kindes“.
247
Sterbenden in Krankenhäusern und anderen Spezialorganisationen sind vor allem weibliche Familienmitglieder nach wie vor stark an der Betreuung Sterbender beteiligt.180 Die empirischen Ergebnisse, die sich auf Reaktionen der Bezugspersonen beim Tod eines Familienmitglieds beziehen, lassen sich vereinfacht folgendermaßen formulieren: 1. 2.
3.
4.
Je flexibler und egalitärer das Rollensystem gestaltet ist, umso leichter sind Rollenverluste durch den Tod eines Mitglieds auszugleichen. Je mehr Rollen der Verstorbene schon vor seinem Tod abgegeben oder verloren hatte, um so weniger Schwierigkeiten werden im Familiensystem auftreten. Je ungeübter die Hinterbliebenen in der Übernahme der Rollen des Verstorbenen sind, um so mehr Schwierigkeiten werden im Familiensystem auftreten. Je dominanter Rollen des Verstorbenen im Familiensystem sind, um so mehr Schwierigkeiten werden sich bei der Restrukturierung des Systems ergeben.
Man kann diese Thesen heranziehen, um folgendes Ergebnis empirischer Untersuchungen zu erklären: Jüngere Witwen haben einen problematischeren Trauerverlauf als ältere Witwen. Der verstorbene Gatte hatte meist dominante Rollen innerhalb und außerhalb der Familie, der Prozess des sozialen Sterbens hatte noch nicht eingesetzt. Vor allem sind die Kinder der jüngeren Witwen von dem Tod des Vaters schwerer getroffen, was auf die Mütter zurückwirkt. Generell nimmt die Beschäftigung mit Todesproblemen mit dem Alter zu. Antizipatorische Trauer wird eher geübt. Verluste verschiedener Art treten häufiger auf, so dass die direkte Erfahrung in diesem Bereich zunimmt. Der Tod des Partners im Alter wird als normal und gerecht angesehen, vorher als abnorm oder ungerecht (vgl. Moss et al. 2001, 246 f). Das Sterben der Eltern bringt heute andere Probleme für die Kinder als früher. Die Kinder gründen eine neue Familie, die in der Regel nicht mehr wie im dominierenden agrarischen Bereich in früheren Zeiten und Kulturen eine Fortführung der Herkunftsfamilie darstellt. Wenn ein Elternteil stirbt, haben die Kinder, die dann in der Regel zwischen 40 und 60 Jahre alt sind, bereits eigene Familien, d.h. es ist nur ihre Sekundärfamilie nicht ihre Primärfamilie betroffen.
180
In der Untersuchung von Ewers und Schäfer (2003, 27 f) waren 59 % der Hauptpflegepersonen Ehe- oder Lebenspartner, 23 % Kinder und 14 % Elternteile. Ca. 75 % der Hauptpflegepersonen waren Frauen.
248
Die Familie wurde individualisiert. Somit besteht sie zuletzt häufig nur mehr aus einer Person, der alten Frau, die schon lange allein lebt. Die zunehmende Kinderlosigkeit von Frauen in hochentwickelten Staaten ist ein thanatologisches Thema. Von den akademisch gebildeten jungen Frauen in Deutschland werden etwa ein Drittel keine Kinder gebären. Sie sind dadurch vor dem Tod eines Kindes geschützt. Doch viele von diesen Frauen werden ungewollt kinderlos bleiben. Sie trauern explizit oder implizit darüber, dass sie kein Kind haben (werden). Diese Trauer ist ein Tabuthema.181 Trauer der Eltern beim Verlust eines Kindes182 Die Intensität der Trauer um ein gestorbenes Kind, ein im Gegensatz zu früheren Zeiten und auch der Gegenwart in einem Teil der Entwicklungsländer sehr seltenes Ereignis, übertrifft wahrscheinlich alle anderen Trauertypen in einer modernen Gesellschaft (vgl. Schaefer/Moos 2001, 157; Bednarz 2003, 76 f). Das Sterben des Kindes gilt als ungerecht, abnorm und unverständlich, da Sterben nur im hohen Alter als normal angesehen wird. Eltern, die diese schmerzliche Erfahrung machen müssen, haben nun im Vergleich zu früher viel gravierendere psychische und soziale Konsequenzen zu erwarten. In dem modernen Familiensystem, das aus wenigen Mitgliedern besteht, ist der Tod eines Kindes eine schwere Störung (Rubin/Malkinson 2001; Klass/Marwit 1988/89). Die Matrix der miteinander verbundenen Rollen muss neu geordnet werden. Eltern haben in diesem Fall oft schwere Schuldgefühle, sie zweifeln an ihren grundlegenden interpersonellen Kompetenzen. Ein Vater sagte: „Man muß sein Kind vor großen Gefahren schützen können. Ich konnte es nicht davor schützen, einen schweren Fehler zu begehen und diese eine dumme Handlung kostete ihm das Leben. Ich als Vater fühle mich als Versager. Ich empfinde Hilflosigkeit.“
Die Metapher der Amputation findet man häufig in Aussagen von solchen Eltern. „Es ist so, als hätte ich meinen rechten Arm verloren, ich muß jetzt lernen als Einarmiger zu leben.“
181
Deshalb ist sie z.B. in Büchern über Familiensoziologie nicht aufzufinden. Peuckert (2002, 140) nennt in einem Bericht über eine Befragung von Frauen, die ungewollt kinderlos sind, verschiedene Gefühle, nur nicht Trauer: „Während Unsicherheit, Zweifel, Schuldgeühle, Ängste und Konflikte ihre Konfrontation mit der ungewollten Kinderlosigkeit prägen, konzentriert sich ihr Handeln auf medizinische Behandlungen.“ 182 Vgl. auch den Abschnitt „Der Tod in der modernen Familie“.
249
Im Bewusstsein vieler Eltern fährt ein leerer Zug in ihrem Lebenslauf mit. Immer wieder erinnern sie sich daran, dass jetzt ihr Kind ein bestimmtes Alter, bestimmte Erfahrungen hätte, d.h. sie gehen von einem sozial standardisierten Lebenslauf aus, der in ihrem Bewusstsein auch nach dem Tod ihres Kindes verankert ist. Die meisten Eltern, die den Verlust eines Kindes beklagen, benötigen soziale Unterstützung. Selbsthilfegruppen und auch die Unterstützung durch Professionelle haben in der Regel positive Konsequenzen auf den Trauerprozess. In Selbsthilfegruppen können familienähnliche Gemeinschaften entstehen, in denen die überschüssige Energie der Eltern in sinnvoller Weise ‚kanalisiert’ werden kann. Doch die soziale Situation von Eltern, die ein Kind verloren haben, ist als ambivalent zu beschreiben: sie erhalten nicht nur zusätzliche Zuwendung sondern sie werden auch stigmatisiert, denn ihr Schicksal ist abweichend (vgl. Northcott/Wilson 2001, 143). Dahinter steht die implizite Annahme, dass die Unglücklichen irgendwie für ihr Unglück verantwortlich sind. Viele vermeiden den Kontakt mit Unglücklichen und Trauernden, als fürchteten sie ‚Ansteckung’. Interessant ist die Beobachtung, dass eine ambivalente oder konflikthafte Beziehung der Eltern oder eines Elternteiles mit dem Kind auch mit größeren Verarbeitungsschwierigkeiten der Trauer nach dem Tod des Kindes verbunden sein kann. Eine offene Kommunikation mit dem Kind, die bereits vor seinem Tod und vor allem in der terminalen Phase stattfand, erleichtert in der Regel die Verarbeitung des Verlustes. Nach der Untersuchung von McClowry et al. (1987), in der Familien, die ein Kind verloren hatten, sieben bis acht Jahre nach dem Verlust befragt wurden, ergaben sich drei Strategien der Trauerverarbeitung: 1. 2. 3.
darüber hinweg kommen – die Trauer hinter sich lassen, die Leere füllen – meist durch ständige Aktivität, die Verbindung aufrecht erhalten – die Erinnerung an das Kind pflegen.
Small (2001, 32) meint, dass die Strategien nicht als gleichwertig angesehen werden, sondern dass Strategie 3 als die hochwertigste bezeichnet und als eine kreative und thanatologisch wertvolle Leistung anerkannt wird. Weitere Überlegungen zur Gestaltung des Trauerprozesses Durch die rege Teilnahme am sozialen Leben, durch Arbeit, aber auch durch Konsum, vermeiden Trauernde, ins Reich der Toten gezogen zu werden. Die Einbindung in ein Netz von Aktivitäten ist ein Schutz vor destruktiver Trauer.
250
Die zentrale anerkannte ‚Therapie’ für Trauer ist unserer Gesellschaft angemessen: immerwährende Aktivität (instrumenteller Aktivismus). Problemlösungen für Verluste von Bezugspersonen sollten nicht mit Maßnahmen nach dem Tod beginnen, sondern der Lebende (oder Sterbende) könnte gemeinsam mit Bezugspersonen oder Beratern schon langfristig sein Leben nach dem Tode des signifikanten Anderen planen. Meist wird jedoch nur für die materiellen, finanziellen und rechtlichen Aspekte gesorgt, die zweifellos von großer Wichtigkeit sind. In unserer Gesellschaft ist die Zweierbeziehung dominant. Die Kinderzahl nimmt ab, der Anteil der Paare ohne Kinder nimmt zu, die Menschen werden älter und damit verlängert sich die Phase, nachdem die Kinder das Elternhaus verlassen haben. In einer Zweierbeziehung ist die Abhängigkeit der Partner voneinander extrem stark. Sie kann durch die Pflege von Außenbeziehungen gemildert oder sogar zurückgedrängt werden. Doch viele alte Menschen haben Schwierigkeiten, ihre Außenbeziehungen aufrechtzuerhalten. Symbiotische Beziehungen sind also häufig anzutreffen. Der Tod eines Partners wird von dem Überlebenden unter solchen Bedingungen oft als Katastrophe empfunden. Prävention ist besser als die Einleitung von Stützungsmaßnahmen nach Eintreten der Katastrophe. Die Erfahrung des Partnerverlusts im Alter wird hauptsächlich von Frauen gemacht. Es ist nach wie vor selten und offensichtlich mit der Rolle der alten Witwe nicht gut verträglich, dass sie einen neuen Dauerpartner (Mann oder Frau) wählt. Allerdings ist es zulässig, dass ein Anschluss an andere alte Verwandte, z.B. Geschwister, durchgeführt wird. Es wäre wünschenswert, wenn Witwen sich mit anderen alleinstehenden Frauen und/oder Männern zu Lebensgemeinschaften zusammenschließen. Solche Modelle könnten in den Massenmedien häufiger gezeigt werden und Stützungsmaßnahmen für solche Gemeinschaften sollten erprobt werden.
251
Die Zukunft von Sterben und Tod
Eine interessante Basisfrage lautet: Warum funktioniert die Sache mit dem Tod eigentlich in den modernen Staaten so gut? (vgl. Fuchs-Heinritz 2007). Sie funktioniert nämlich trotz der Kritik von Experten (Sterben im Krankenhaus, Isolation, Verdrängung etc.) und der Unzufriedenheit vieler, vielleicht der meisten Menschen mit den Bedingungen des Sterbens beachtlich gut, d.h. es gibt keine politisch brisante von großen Gruppen vorgetragene Kritik. Wieso ertragen die Menschen den Gedanken an den Tod und auch das eigene Sterben ohne Aufbegehren, obwohl sie im Normalfall im Krankenhaus und in zunehmendem Maße im Pflegeheim sterben? 1.
2.
3.
4.
5. 6. 7. 8.
252
Weil sie – im Gegensatz zu früher – im Alter sterben, ihre Rollen gespielt haben, in vielfacher Hinsicht durch die Angebote der Industriegesellschaft gesättigt wurden. Weil sie aufgrund des relativ langen Lebens und des schnelleren sozialen Wandels ihre soziale Identität häufiger und gravierender verändert haben, also schon häufiger (sozial) ‚gestorben’ sind, bevor sie endgültig sterben. Weil sie in der Wohlstandsgesellschaft Hedonisten geworden sind und im Alter eine immer negativer werdende Lust-Unlust-Bilanz erfahren, also ihre Lebensqualität relativ stärker abnimmt als es in traditionellen Kulturen der Fall war. Der Tod ist dann die akzeptierte Pleite der immer weniger profitablen Lebensfirma. Weil sie sozial und psychisch langsam sterben, sich ihrem eigenen Verfall anpassen und der physische Tod in immer mehr Fällen eine Restpersönlichkeit betrifft. Weil die Sterbenden ein sehr geringes Prestige und kaum Macht haben, sich zu solidarisieren. Weil das Sterben eines Menschen nur privat, im engsten Kreis, zur Kenntnis genommen wird, so dass kaum eine größere Basisbewegung entstehen kann. Weil unter strenger sozialer Kontrolle zumeist in bürokratischen Institutionen gestorben wird. Weil über die Kommunikation mit den ‚Toten’ in der Öffentlichkeit nicht gesprochen werden darf.
In den nächsten 30 bis 50 Jahren werden allerdings die demographischen Entwicklungen in den hochindustrialisierten Staaten den sozialen Wandel stark beeinflussen. Es kann zu Generationskonflikten kommen, da die Gruppe der älteren Personen im Vergleich zu den anderen Altersgruppen besonders stark anwachsen wird und von vielen Jüngeren als eine ökonomische und soziale Belastung angesehen werden kann. Dies könnte zu einer Befürwortung der Rationierung teurer medizinischer Maßnahmen, verschiedener Praktiken des Suizides, der passiven und aktiven Sterbehilfe für alte Menschen führen. Konfliktreiche rechtliche und institutionelle Entwicklungen sind in diesem Bereich also durchaus möglich – wobei aufgrund der geltenden demokratischen Regelungen die Gruppe der jungen Menschen gegenüber den alten benachteiligt sein werden, da ein Teil nicht das Wahlrecht hat und die Gruppe anteilsmäßig schrumpft. Das Problem der steigenden Lebenserwartung Die ständig sich steigernden Erwartungen in einer Wachstumsgesellschaft wurden häufig beschrieben und kritisiert. Sie beziehen sich nicht nur auf Ökonomie, Erziehung und Politik, sondern auch auf die Länge des Lebens. Die Menschen, Berufsgruppen, andere Kollektive, Staaten etc. vergleichen sich ständig mit anderen. Die meisten Menschen orientieren sich an Bezugsgruppen. Marshall (1986) vermutet, dass sich viele Menschen an der Lebensdauer ihrer Eltern ausrichten. Da das Lebensalter im Durchschnitt zunimmt, erwarten auch alle, dass sie immer älter werden. Bisher wurden diese Erwartungen im Durchschnitt nicht enttäuscht. Umso schmerzhafter ist die Erfahrung des eigenen Sterbens oder des Todes von Bezugspersonen für diejenigen, die es für verfrüht halten. Da die durchschnittliche Lebensdauer weiter steigen wird, wird auch das Sterben sich verlängern. Die Verlängerung des Sterbens ergab und ergibt sich durch die relative Zunahme der chronischen und degenerativen Krankheiten im Alter, durch die Verbesserung der medizinischen Versorgung und der Gesundheitstechnologie. Aufgrund der weitergehenden wissenschaftlichen Forschung werden die Methoden verbessert, einerseits das Leben zu erhalten, andererseits aber auch die Sterbens- und Todeswahrscheinlichkeit exakter vorherzusagen und damit den Sterbeprozess bewusster zu gestalten. Ökonomisierung und Technisierung im Gesundheitswesen werden weiter voranschreiten und die Abhängigkeit derjenigen, die der Lebensverlängerung höchste Priorität einräumen, von dieser Gesundheitsindustrie wird sich verstär253
ken. Die Gruppe derjenigen, die unter ständiger Kontrolle von Ärzten und anderen Professionellen ihr Leben führen und verlängern, wird sich vergrößern. Die latenten und manifesten Konflikte zwischen dem Gesundheitssystem und anderen gesellschaftlichen Teilsystemen werden sich verschärfen. Spreizung der Lebensdauer Es wird für die meisten Mitglieder der oberen Klassen geltende Norm sein, das Leben mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu erhalten und in diesem Wettkampf sein Bestes zu geben. Sollte es möglich sein, mit hohem Aufwand sein Leben erstaunlich zu verlängern, so könnte es zu einer Verstärkung des Klassenbewusstseins und evtl. sogar zu neuen Klassenkämpfen kommen. Da die langlebigen Reichen jedoch international ausweichen können, ist eher Resignation und eine Glückspielhaltung zu erwarten. Es ist durchaus möglich, dass einmal eine kleine Elite der Langlebenden der großen Masse der Sterblichen oder Kurzlebenden gegenübersteht. Wahrscheinlicher ist freilich eine soziale Hierarchisierung der Lebensdauer, wie sie schon heute besteht, aber noch ausbaufähig ist. Die Lebenslänge wird vielleicht ebenso wie die Lebensproduktion (Geburtenrate) immer stärker gesellschaftlich, klassen- und habitusspezifisch geregelt werden. Ähnlich der Regelung in China bezüglich der Anzahl der Kinder könnte gesellschaftliche Unterstützung bei Überschreiten einer rechtlich festgesetzten Höchstlebenszeit oder bei Unterschreiten bestimmter Fitness-Werte verweigert oder vermindert werden. In der Fachliteratur wird die Lebensverlängerung allerdings nicht unter den hier diskutierten Aspekten behandelt, sondern teilweise als gewaltiges kulturund gesellschaftssprengendes Superprojekt beschrieben, z.B. von Céline Lafontaine (2009). Die condition humaine soll grundlegend verändert werden, eine Dekonstruktion des Todes und des Lebens wird beschworen. Lafontaine u.a. weisen auf die möglichen Nebenfolgen der technowissenschaftlichen Fortschritte hin: Veränderungen der Weltsicht, semantische Umwälzungen (Begriffe Mensch, Person etc.), neue Kontrollformen (vgl. auch Turner 2009). KnorrCetina (2005) sagt eine Biologisierung der Kultur (culture of life) voraus, eine zentrale Verschiebung des kulturellen Schwerpunkts von einer Gestaltung der Gesellschaft zu einer Gestaltung des Lebens, einen Ersatz der alten religiösen (Christentum) und säkularen (Aufklärung) Heilserwartungen durch eine neue (Lebenssteigerung, ‚Postmensch’ etc.), auch eine neue gesellschaftliche Konfliktstruktur (appropriation of life) (Lash 2003) anstelle der „alten Ausbeutung des Mehrwerts“ (vgl. auch Knorr Cetina 2007).
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Professionalisierung und Selbstbestimmung Das Bild des idealen Patienten, der sich dem medizinischen System unterwirft, wird im Rahmen des Kampfes verschiedener Interessengruppen um Machtanteile immer stärker angegriffen werden. Hier ist einerseits an traditionelle, religiöse und politische Gruppen zu denken, andererseits aber auch an neue Gruppen, die gerade durch die zunehmende soziale Ungleichheit in diesem Bereich zu Solidarisierung und Rebellion gedrängt werden. So wie bei der Empfängnisverhütung die Selbststeuerung infolge des wissenschaftlichen Fortschritts zugenommen hat und Frauen nun selbst die Empfängnis kontrollieren und bestimmen können, so werden auch im Bereich des Sterbens und des Todes der Selbstbestimmung immer mehr Möglichkeiten eröffnet werden. Die meisten Menschen in den Industriestaaten möchten alt werden und dann ohne schwere Krankheit und langes Leiden plötzlich sterben. Durch moderne biotechnische und medizinische Entwicklung könnte dieser Wunsch – für eine Minderheit – in Erfüllung gehen. Es ist denkbar, derzeit noch Science Fiction, doch in einiger Zeit konstruierbar, Messgeräte zur Kontrolle der Körperfunktionen in den Körper ‚einzubauen’, bzw. die Messdaten nach Wunsch zur Verfügung zu haben. Es können Schwellenwerte und Standards eingegeben werden, um ‚im geeigneten Moment‚ dem ‚Opfer’ (sich selbst!) einen sanften Tod zu geben. Auf jeden Fall wird sich die Verfügungsmöglichkeit über das eigene Sterben und den eigenen Tod verstärken und ausdifferenzieren. Der Umgang mit dem Sterben wird immer mehr manipulierbar. Hindernisse für weitergehende Manipulationen sind weniger technischer als kultureller, rechtlicher und sozialer Art. Doch diese Hindernisse werden teilweise abgebaut werden. Das Sterben könnte dann umdefiniert werden in andere Erlebnisstrukturen, z.B. Sterben als Rauscherlebnis, als Traum, als Kunstwerk, als Sportereignis. Kultur ist ja immer der Versuch, eine neue Welt zu konstruieren, aber auch alte Konstruktionen gegen neue zu schützen. Der Kampf der alternativen Konstruktionen ist gerade im Bereich des Todes gut zu beobachten. Freilich werden sich nicht nur die Chancen der Selbstbestimmung verstärken, sondern auch die Möglichkeiten, sich in diesem Bereich von anderen abhängig zu machen und ausgebeutet zu werden. Entbürokratisierung des Sterbens Einerseits ist bisher der Trend zum bürokratischen Sterben, vor allem im Krankenhaus, in Alten- und Pflegeheimen, ungebrochen, andererseits sind sich die meisten Experten und auch wahrscheinlich die meisten Menschen darin einig,
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dass diese Form des Sterbens viele unerwünschte Züge trägt und Alternativen, z.B. ambulante Hospizdienste, gefördert werden sollen. Experten meinen, dass sich der Trend zu einem community-kontrollierten und dezentralen Gesundheitswesen verstärken wird (Kellehear 2007b). Falls diese Vorhersage korrekt ist, so kann man auch eine Verkleinerung und Informalisierung der Institutionen erwarten, die für alte Leute und Sterbende eingerichtet werden. Außerdem ist eine Zunahme der Hospiz- und Palliativeinrichtungen und ähnlicher Organisationen zu erwarten. In diesem Zusammenhang wird auch die Professionalisierung des Personals, das sich mit der Problematik Sterbender beschäftigt, qualitativ anders erfolgen, als im traditionellen Medizinstudium. Sollten genügend ambulante Dienste und intelligentere und preiswerte Technologien zur Verfügung stehen, dann wird wieder mehr zu Hause gestorben werden. Identitätsprobleme Interessant sind Spekulationen, die sich auf die Auswirkungen von neuen Methoden der Empfängnis, der Geburt, der Organverpflanzung, evtl. der genetischen Manipulation und der Verbindung von technischen und biologischen Hilfsmitteln auf das Identitäts- und Todesbewusstsein beziehen. Die Identitätsproblematik ist in den letzten hundert Jahren ein zentrales Thema der Literatur, der Sozialwissenschaften und anderer professioneller Bereiche geworden. Dies ergab sich durch die Säkularisierung, die Modernisierung, Verwissenschaftlichung und den beschleunigten sozialen Wandel. Doch die neuen Methoden der Manipulation des Körpers und des Bewusstseins fügen Aspekte hinzu, deren Auswirkungen kaum vorhersehbar sind. Soziale und personale Identität werden jeweils gesellschaftlich, gruppenspezifisch und individuell festgelegt, sie sind nicht naturgegeben oder interkulturell objektivierbar. Theoretisch könnten also unter bestimmten kulturellen Bedingungen auch zwei oder mehr Individuen, die heute als verschieden gelten, als identisch gesetzt werden. Ähnliche Formen der Identitätsmetamorphosen und der Unsterblichkeit wurden in der fantasievollen Geschichte der Mythen und Kulturen bereits erprobt. Individuum, Identität, Organismus wären dann trennbare Einheiten, so dass der Tod eines Organismus nicht dem Tod eines Individuums und dieser nicht dem Tod einer Identität entspräche (vgl. Hofstadter/ Dennett 1981; Fröhlich 1998; Krüger 2009). „Simulations- und Phantomisierungstechniken sind in der künftigen Gesellschaft vielleicht die Strategien, die den klassischen Begriff der Identität (das Selbst) und
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des Körpers endgültig abzulösen vermögen. Die Ordnung des Lebens zwischen den Grenzakten der Geburt und des Todes läßt sich damit erstmals in der Geschichte auch praktisch aushebeln.“ (Böhme 1988, 63)
Der vorzeitige Tod und der Suizid Da in den Industriestaaten junge Menschen in den nächsten Jahrzehnten knapper werden, wird ihr allgemeiner Wert steigen. Die Bereitschaft, sie in Kriegen zu verheizen, wird sich weiter verringern. Mortalitätsfaktoren, die junge Menschen betreffen, vor allem Verkehrsunfälle und Suizid, werden noch mehr Beachtung finden. Die Verringerung der Verkehrsunfälle wird über technische Verbesserungen der Verkehrssicherheit und über gesetzliche Regelungen erreicht werden. Die Verringerung der Suizide von jungen Menschen (Männern!) wird nicht so leicht zu bewerkstelligen sein. Durch neue Sozialisations- und Erziehungsformen, die (unwahrscheinliche) Verringerung der Arbeitslosigkeit und eine Verbesserung anderer ökonomischer und sozialer Bedingungen könnte die Rate wahrscheinlich beeinflusst werden. Die absolute Zahl der Suizide von jungen Menschen wird wahrscheinlich durch die demographische Entwicklung in den kommenden 20 Jahren auch ohne Intervention sinken. In der Suizidproblematik wird eine Polarisierung eintreten: einerseits eine verbesserte Prävention des Suizids von jungen Menschen, dagegen eine Zunahme der Akzeptanz des Alterssuizids und der Beihilfe zum Suizid. Todes- und Trauerrituale In der westlichen Welt findet schon seit Jahrzehnten eine Erosion der verschiedenen Totenkulte statt. Zwar verlaufen die meisten Begräbnisse und Totenfeiern noch ziemlich standardisiert und bürokratisiert, aber diese kollektive Gestaltung entspricht immer weniger den Bedürfnissen der meisten Menschen. Schulz Meinen (2009) beschreibt die Modernisierung am Beispiel der Bestrebungen, Friedhöfe zu privatisieren. Der derzeitige Friedhof wird an Bedeutung verlieren, und zwar durch alternative Formen der Vergegenständlichung von Erinnerung (vgl. Nölle 1997, 125, 130). Bazon Brock (1977) hat auf alternative Formen hingewiesen, z.B. durch die Zunahme der Informationsverarbeitung in allen Gesellschaftsbereichen (Fotografie, Ton-, Film- und Videoaufnahmen, Internet). Es verbreiten sich posttraditionale Bestattungsformen, die Ausdruck der Pluralisierung der Lebensstile sind und der ‚biographischen Inszenierung’ dienen (vgl. Groß/ Ziefle 2010).
257
Soziale Bewegungen Das death awareness movement ist in den 60er und 70er Jahren im Zusammenhang mit anderen sozialen Bewegungen, vor allem mit der Studenten- und Frauenbewegung, entstanden und hat sich ausgeweitet, wobei die Hospizbewegung den Kernbereich darstellt (vgl. Doka 2003). Gefördert wurde und wird diese soziale Bewegung durch die demographische Entwicklung und die Professionalisierung im Gesundheits- und Pflegebereich und die zunehmende öffentliche Auseinandersetzung mit Sterbeproblemen, vor allem in den Medien. Die derzeitige vor allem in Deutschland feststellbare Polarisierung zwischen der Hospizbewegung und right-to-die-Bewegungen kann in Zukunft durch andere Formen der Kooperation und Konkurrenz ersetzt werden (vgl. Seale 2000). ars moriendi Die Vorbereitung auf das Sterben, die ars moriendi, kann auf eine ehrwürdige Tradition zurückblicken (Imhof 1991). Soziologisch sind vorerst nicht Techniken der Vorbereitung interessant, sondern die Analyse der sozialen Situation, in der eine solche ars moriendi für den modernen Menschen entsteht und angenommen wird (vgl. Feldmann 2010d). Für eine Minderheit gibt es ein direktes Training durch die Erfahrungen mit Sterbenden: Krankenpflegepersonal, Altenpfleger, freiwillige Helfer in Hospizen und Bezugspersonen im privaten Rahmen. Die Beschäftigung mit Sterben und Tod hat in den letzten Jahrzehnten, wenn man die Quantität der Publikationen und der Angebote in den Massenmedien als Maß nimmt, zugenommen. Nassehi, Brüggen und Saake (2002, 63) haben Ratgeberliteratur zum Thema Tod analysiert und sahen ihre Vermutung bestätigt, dass es in einer modernen Gesellschaft keine ars moriendi gäbe, aber „kommunikative ‚Räume’, innerhalb derer das Unsagbare sagbar gemacht werden kann.“ Nassehi und Saake fragten: „Wie konstituieren die Ratgeber diejenigen Probleme, die sie dann lösen?“ (79)183
183
Ratgeber Typ 1 legen den Schwerpunkt auf eine instrumentelle Sichtweise, Typ 2 auf eine kognitiv-normative und Typ 3 auf eine kognitiv-expressive.
258
Abbildung 19: Typen der Ratgeberliteratur zum Thema Tod (Tabelle nach Nassehi/Brüggen/Saake (2002, 79) modifiziert). Problem Lösung
Typ 1 Alltagsstörung
Typ 2 Zweifel, Ungewissheit
Techniken, Handlungsoptionen
sichere Wahrheit
Typ 3 offene Innenwelt, Individualisierung Exploration, Aufforderung zur Selbsterforschung
Eine andere Weise, die ars moriendi oder ihre Äquivalente in einer modernen Gesellschaft aufzuspüren, besteht in der Untersuchung von quasi-death experiences (Kamerman), also Formen des sozialen und psychischen Sterbens. Ist die im Vergleich zu traditionellen Kulturen häufigere Erfahrung des Wechsels und Verlustes von Bezugspersonen und Bezugsumwelten als ein Sterbetraining zu interpretieren? Das Verschwinden von Bezugspersonen wird von Kindern und Erwachsenen eingeübt. Es findet im Erwachsenenalter wahrscheinlich häufiger statt als in traditionellen Kulturen. Außerdem erfolgt durch die Mobilität ein häufiger Wechsel von Gruppen, Räumen und anderen Erfahrungskonstanten. Ein weiteres Sterbetraining findet auch durch geistige Mobilität (Konstruktivismus, Poststrukturalismus etc.) und beschleunigten sozialen Wandel statt, die Notwendigkeit, umzulernen, sich neu zu orientieren, ständig durch die Massenmedien und die Konsumsphäre vielfältige Angebote zu erhalten, zu verreisen etc. Allerdings ergibt sich dadurch auch eine prinzipielle Unabgeschlossenheit, eine Offenheit des Lebens, die einer Akzeptanz des Todes als Abschluss im Wege stehen kann. Auch die zunehmende Verwissenschaftlichung und Bürokratisierung, durch die wahrscheinlich auch das Gotteskonzept depersonalisiert wird, ist als eine Art Todestraining zu verstehen. Das Individuum wird von den ‚bürokratischen Akteuren’ in den Dienst des Allgemeinen gestellt. Seine Vergänglichkeit als Individuum wird – jedenfalls in bürokratisierten und verwissenschaftlichten Strukturen – ein peripheres Ereignis. Der gesamte Modernisierungsprozess und das vorgezogene soziale Sterben haben die antizipatorische Todessozialisation vorangetrieben. Die verschiedenen Todes- und Sterberollen, die moderne Menschen im Laufe ihres Lebens einnehmen, sind ein verschlungenes Netzwerk, das zur Bewältigung dieses grundlegenden anthropologischen Problems dient. Welche Rollen sind gemeint?
259
Rolle des (physisch und psychisch) Sterbenden (Identitätsprobleme, Selbstbestimmung, Todesangst) Rolle des (sozial) Sterbenden (und evtl. Auferstehenden) Rolle des Trauernden Rolle des mit Sterbenden oder Trauernden Kommunizierenden Rolle des professionellen Sterbeberaters und Sterbeverwalters (Bestattung, Pflege, Hospiz, Palliativstation) Rolle des Tötenden (Militär, strukturelles und virtuelles Töten) Rolle des Kämpfers gegen den Tod (z.B. Entwicklungshelfer, Umweltschützer, Ärzte in entsprechenden Situationen) Rolle des geistig-kulturellen Todes- und Totenverwalters (wird von einem großen Teil der im Kultur- und Wissenschaftsbetrieb Tätigen eingenommen) Rolle des Nachfolgers oder Stellvertreters in einer Position (häufig eine Konfrontation mit dem ‚Geist’ des sozial Gestorbenen).
Diese keineswegs vollständige Aufzählung gibt einen Einblick in das moderne Todesrollenspiel. Freilich sind die kommunikativen Zusammenhänge und die Bezüge dieser Rollenerfahrungen zum vielfältigen eigenen Sterben kaum erforscht, weshalb auch eine wissenschaftliche Stellungnahme oder gar Beratung nur sehr vorläufigen Charakter haben kann. Kultivierung der Fremd- und Selbsttötung184 Die Kultivierung der Fremd- und Selbsttötung wurde in den menschlichen Kulturen sehr unterschiedlich gestaltet. Auf einige Aspekte wurde bereits eingegangen. Hier soll das Feld nur nochmals kurz aufgespannt werden, um mögliche Entwicklungen im Blick zu haben. Kultivierung der Fremdtötung (gegen den Willen der Betroffenen) 1. Todesstrafe 2. Verbrechensbekämpfung 3. Krieg Kultivierung der Fremdtötung (nicht gegen den Willen der Betroffenen gerichtet) 1. Abtreibung 2. aktive Sterbehilfe
184
Vgl. auch den Abschnitt „Abschließende Überlegungen“ des Kapitels „Euthanasie und Sterbehilfe“.
260
Kultivierung der Selbsttötung185: 1. (egoistischer) Suizid (subjektive Einschätzung der Lebensqualität) 2. (altruistischer) Suizid im Interesse kollektiver Werte (Familie, Ehre, Kollektivbezug, religiöse Werte, Gesellschaftsentwicklung etc.) Der Widerstand gegen die traditionellen Formen der Kultivierung der Fremdtötung gegen den Willen des Opfers, vor allem gegen die Todesstrafe und gegen den Krieg, hat sich in den westlichen Staaten im 20. Jahrhundert immer mehr verstärkt. Dagegen herrscht in der westlichen Welt keine Einigkeit über eine differenzierte Normierung der Fremd- und Selbsttötung, die nicht gegen den Willen der betroffenen Person gerichtet ist, bzw. sogar explizit dem Willen dieser Person entspricht. Eine ‚wilde’ Kultivierung findet auch dann statt, wenn es strikte gesetzliche Verbote gibt, doch entspricht es den vorherrschenden Werten des Rationalismus und der gleichheitsfördernden sozialen Kontrolle, dass ein ‚heimliches Curriculum’ in eine Kultivierung in öffentlich normativ definierten Feldern und Diskursen überführt werden sollte. Und die im Dunkeln? In dieser Schrift wurde die Mehrzahl der derzeit lebenden Menschen wenig berücksichtigt, es wurde meist nur auf die Probleme der westlichen Welt Bezug genommen. Im letzten Kapitel will ich zumindest auf diesen unterprivilegierten Teil der Menschheit hinweisen. Hunderte Millionen hungern, sterben frühzeitig an Krankheit und Gewaltanwendung, werden grundlegender Lebenschancen beraubt. Zwar gab es noch nie in der Geschichte der Menschheit so viele Menschen, die die Kindheit überleben und sogar ein hohes Alter erreichen. Doch die nach wie vor wachsende Weltbevölkerung und die politische und wirtschaftliche Unterdrückung und Lebensminderung von hunderten Millionen Menschen erfordern Verbesserungen der internationalen Programme, die vor allem von den reichen Staaten getragen werden. Im Dunkeln sind auch künftige Generationen, deren Lebensgrundlagen seit dem 19. Jahrhundert mit steigender Wirksamkeit zerstört werden. Sie werden vielleich einen negativen Totenkult entwickeln: dauerhafte Hass- und Verachtungsorgien, in denen sie ihrer Ahnen des 19., 20. und 21. Jahrhunderts ‚gedenken’.
185
Vgl. auch die Ausführungen am Ende des Kapitels über den Suizid.
261
Abschließende Prognose Wenn man von der Verlängerung der bisherigen Trends ausgeht, kann man im voraus für die hoch entwickelten Staaten folgende Prognose erstellen: 1.
2.
3. 4.
5. 6.
7. 8.
262
Der Anteil der Menschen, die antizipatorisch versuchen, auf ihr physisches Sterben bzw. die terminale Phase Einfluss auszuüben, wird zunehmen (z.B. Patientenverfügung). Die derzeitigen im medizinischen System vorherrschenden Annahmen und Erwartungen über ‚natürliches’ Sterben, Lebensverlängerung und -verkürzung, werden sich in Richtung eines explizit geplanten Sterbens wandeln. Der Anteil der Menschen, die ein radikales psychisches Sterben (Demenz, Alzheimersche Krankheit) als unwürdig empfinden, wird zunehmen. Dem sozialen Sterben vor allem im Alter werden weiter die Härten genommen werden (ökonomische und soziale Absicherung, neue Formen des sozialen Lebens nach dem Verlust zentraler Rollen). Die instrumentelle Orientierung gegenüber dem physischen Sterben wird sich verstärken (Organersatz, Palliativmedizin, Bewusstseinssteuerung). Expressive Todeskonzeptionen werden nur in Nischen und nur für spezielle Gruppen Bedeutung haben, werden jedoch über die Massenmedien mehr öffentliche Aufmerksamkeit erregen. Die kognitiv-wissenschaftliche Orientierung wird in allen Bereichen an Bedeutung gewinnen. Die religiösen Vorstellungen über Gott, Jenseits, Reinkarnation etc. werden sich weiter differenzieren, individualisieren und den jeweiligen ökonomischen und technologischen Bedingungen anpassen.
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