Jochen Kallhardt
Tod im Tempel Carl Bernack und die Freimaurer
Vordergründig eine alte, einfache Geschichte: Am Anfang...
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Jochen Kallhardt
Tod im Tempel Carl Bernack und die Freimaurer
Vordergründig eine alte, einfache Geschichte: Am Anfang steht ein Mord und am Ende die Überführung des Täters. Aber das Verbrechen hat einen ungewöhnlichen Schauplatz, nämlich einen Freimaurer-Tempel, und das Opfer ist Mitglied einer Bremer Loge. So gerät Carl Bernack, Hauptkommissar bei der Kripo, in ein Milieu, das geheimnisumwoben ist, und ihn einerseits zwar befremdet, andererseits aber auch anzieht. Widersprüchlich ist auch der Protagonist des Romans: Er ist unnahbar, sehr schnell hochfahrend, zynisch und arrogant, also beileibe keine Lichtgestalt, sondern ein unsympathisches Ekel. Sollte man jedenfalls meinen. Aber ganz so einfach ist diese Geschichte nun doch wieder nicht... ISBN 3-928324-99-3 Herstellung: Libri Books on Demand Verlag Jochen Kallhardt Bei einem Teil der Auflage wurde bei der Umschlaggestaltung das Ölgemälde „Tod im Tempel“ von Carl Bernack verwendet
1. Kapitel Gerd Hanser stieg die Stufen zur ersten Etage des Logenhauses so schnell und geräuschlos wie möglich empor. Es war Mittwoch, der 18. November. Er hörte die Stimmen der Bridgespieler unter ihm, aber da die Tür zum großen Saal im Erdgeschoß geschlossen war, hatte ihn niemand kommen sehen. Mit ein bißchen Glück wü rde er auch unbemerkt wieder verschwinden können. Der Tempel war dunkel und menschenleer. Einerseits besorgt darüber, daß Ansberg vielleicht doch nicht auftauchen würde, andererseits erleichtert, weil er jetzt Zeit hatte, seinen Plan noch einmal mit den örtlichen Gegebenheiten abzustimmen, machte Hanser das Licht an und setzte sich auf den Stuhl des 1. Aufsehers. Er war ein eher kräftiger als korpulenter Mann, eins fünfundachtzig groß, 54 Jahre alt, trug einen tadellos sitzenden Smoking und hatte ganz beträchtliche Sorgen, denn er war hier, um einen Bruder zu ermorden. Nicht, daß ihn irgendwelche Skrupel oder ein schlechtes Gewissen belastet hätten, nein, mit moralischen Bedenken hatte er sich noch nie aufgehalten. Verbrechen zu begehen war für ihn kein ethisches Problem, sondern eine pragmatische Frage der Nutzenabwägung, eine kühle Kalkulation von Gewinn und Verlust. Er war kein Berufsverbrecher, und seine Firma arbeitete in der Regel völlig legal. Wenn ein lukratives Geschäft jedoch nicht innerhalb des gesetzlichen Rahmens abzuwickeln war, dann übertrat er diesen eben, vorausgesetzt, die damit verbundenen Risiken hielten sich in akzeptablen Grenzen. Auf diese Weise hatte Hanser es zu einem recht ansehnlichen Reichtum gebracht. Die Bluttat, die er nun allerdings plante, war von einem ganz -2-
anderen Kaliber und mit viel größeren Gefahren behaftet als die Betrügereien, die er bisher begangen hatte, und die Zeit, die er sich als sorgfältig und besonnen handelnder Mensch normalerweise für schwierige Aufgaben nahm, um alle Aspekte zu beherzigen und mögliche Hindernisse von vornherein beiseite zu räumen, die fehlte ihm jetzt. So hatte er auf die Schnelle keine Alternative zu dem beabsichtigten Mord gefunden, und es war ihm auch nicht gelungen, sich ein Alibi zurechtzulegen. Außerdem befürchtete er, in der Hektik etwas übersehen zu haben oder noch übersehen zu können. Helmut Ansberg hatte ihn vor zwei Stunden angerufen, mitgeteilt, daß er ihm auf die Schliche gekommen war, und aufgefordert, dem Meister vom Stuhl nach der heutigen Arbeit alles zu gestehen. Ansonsten würde er, Ansberg, ihn halt selbst informieren. Daß der Bruder nicht direkt zur Polizei ge gangen war, lag wahrscheinlich in der Tatsache begründet, daß es bei den von ihm entdeckten Betrügereien unter anderem auch um ehemals freimaurerische Besitztümer in den jetzt gar nicht mehr so neuen Bundesländern ging. Hanser hatte sich in der Kürze der ihm zur Verfügung stehenden Zeit den Kopf darüber zerbrochen, was er zu tun hätte, und war immer wieder zu dem Schluß gekommen, daß die einzige Chance, nicht aufzufliegen, darin bestand, den Bruder zu töten. Er kannte ihn lange genug, um zu wissen, daß der durch eine Bestechung nicht zu korrumpieren war, kaufen ließ der sich nicht. Deshalb hatte Hanser vorgeschlagen, sich zu treffen, um das `Mißverständnis´, wie er sagte, aus der Welt zu schaffen. Er wußte, daß der andere ihm als guter Freimaurer diese brüderliche Bitte gar nicht abschlagen konnte. Er seinerseits hatte aber den Treffpunkt hier im Tempel akzeptieren müssen, obwohl er viel lieber selbst den Ort festgelegt hätte. Warum eigentlich der Tempel? Warum nicht ein normales Zimmer in diesem Gebäude? Lag das an den Bridgespielern, die -3-
sich unten so breit gemacht hatten? Glaubte Ansberg, hier oben ungestört zu sein? War er so naiv, das für einen Vorteil zu halten? Fühlte er sich im Tempel vielleicht sogar beschützt? Hanser wußte es nicht, er wollte darüber aber auch nicht weiter grübeln, sondern sah es einfach als ein Glück im Unglück, denn jetzt konnte er sein Vorhaben, zumindest was die Verhältnisse im Logenhaus betraf, halbwegs abseits und daher hoffentlich ohne Zeugen durchführen. Das Ungestörtsein, so hatte er beschlossen, sollte sein eigener Vorteil werden! Es war nun zwanzig nach sechs, und er fragte sich, wie es Ansberg wohl gelungen war, von den illegalen Geschäften zu erfahren, ob er die hieb- und stichfesten Beweise, von denen er am Telefon gesprochen hatte, mitbringen würde, und wenn nicht, wie und wo sie verwahrt lagen. Wahrscheinlich im Büro des Bruders. Darum mußte er sich – gegebenenfalls - später kümmern. Jetzt galt es, den geplanten Mord vorzubereiten. Hanser sah sich um. Der Tempel war für die anstehende Trauerloge schon im wesentlichen präpariert. Die Wände waren mit schwarzen Tüchern verhängt, und in der Mitte des Raumes stand der Sarg, ebenfalls mit einem schwarzen Tuch bedeckt. Anscheinend hatte eine andere Loge gestern oder vorgestern die gleiche Arbeit durchgeführt und dann gar nicht wieder abgebaut. Hanser nahm den von zu Hause mitgebrachten Overall aus der Plastiktasche heraus und zwängte sich, ohne den Smoking auszuziehen, hinein; seine weißen Handschuhe hatte er schon beim Betreten des Grundstücks übergestreift. Er ging in das Nebenzimmer, in dem die Utensilien für die freimaurerischen Rituale deponiert waren, prüfte einige Werkzeuge in der Hand und nahm dann den Spitzhammer mit in den Tempel. Hier stellte er sich im Osten vor den Sarg, plazierte das Werkzeug griffbereit, aber vom Eingang her unsichtbar zu seinen Füßen, und wartete, mit dem Gesicht zur Tür, auf den Bruder. -4-
Nicht mehr lange, dann hörte er auch schon Schritte auf der Treppe. Hansers Körper straffte sich. „Mein Gott", sagte er leise, „wenn das jetzt aber nicht Ansberg ist?" Bevor er jedoch weitere Konsequenzen bedenken konnte, erschien schon der Mann, mit dem er sich verabredet hatte, betrat den Raum und baute sich einen Meter vor ihm auf. Ansberg war einen halben Kopf kleiner, weitaus zierlicher und gut zehn Jahre jünger; er trug ebenfalls einen Smoking. Seine ganze Mimik drückte Unverständnis aus, in den Augen lag aber auch eine gehörige Portion Mißtrauen. „Wie siehst du denn aus? Wir haben gleich eine Tempelarbeit!" Hanser verstand, worauf der andere anspielte, und erwiderte: „Ich habe mir den Overall übergezogen, weil ich schon mit dem Aufbau beginnen wollte." „Alleine? Ohne den Zeremonienmeister?" Der Zweifel in Ansbergs Stimme war unüberhörbar. In der Hoffnung, den eben angesprochenen Bruder irgendwo entdecken zu können, drehte er sich halb um und schaute in Richtung Tür. Hanser wußte, daß er jetzt nicht länger zögern durfte. Er packte den Spitzhammer, holte aus und schlug Ansberg in dem Moment ins Gesicht, als der sich ihm wieder zuwandte. Das Opfer schrie kurz auf, faßte sich an den Kopf, fiel, vom zweiten Schlag getroffen, auf den Sarg, regte sich noch einen kleinen Augenblick lang und blieb dann bewegungslos liegen. Hanser starrte auf den leblosen Körper und hieb dann, einerseits um ganz sicher zu gehen, andererseits einer plötzlichen Eingebung folgend, ein drittes Mal zu. Schwer atmend stierte er auf den verkrümmt vor ihm -5-
liegenden Bruder, auf die sich weiter ausbreitende Blutlache und die verspritzte Hirnmasse. Er spürte den Brechreiz gerade noch rechtzeitig, um nach seiner Plastiktasche zu greifen und sich dahinein zu übergeben. Hanser ärgerte sich über dieses, wie er meinte, Zeichen von Schwäche und murmelte: „Ich bin wohl doch nicht so ein harter Bursche, wie ich immer dachte." Dann sah er an sich herunter und ärgerte sich noch mehr: Sein Overall war über und über mit Blut und Hirn besudelt, was nicht weiter schlimm war, denn er hatte ihn ja nur ange zogen, um den Smoking sauber zu halten. Aber auch seine Schuhe hatten einiges abbekommen. So fluchte er denn halb laut: „Verdammte Scheiße! Warum habe ich nicht daran gedacht, mir ein zweites Paar mitzunehmen!" Kurz darauf hatte er sich aber wieder in der Gewalt. Er zog den Overall aus, wischte damit notdürftig seine Schuhe ab und steckte ihn zu dem Erbrochenen in die Plastiktasche. Ansberg war mit leeren Händen gekommen, deshalb durchsuchte Hanser den Toten, nahm ihm den Schlüsselbund ab, gab dem Bruder noch ein „viel Spaß im ewigen Osten" mit auf die Reise und verließ dann den Tempel. Im Haus und auch draußen, auf dem Weg zum Parkplatz, begegnete er keiner Menschenseele. Die nächste Verdrießlichkeit wartete aber schon auf ihn - er konnte Ansbergs Wagen nicht finden. Der mußte sein Auto, offensichtlich, weil hier alles voll gewesen war, anderswo abgestellt haben. Hanser selbst hatte es, wenn auch nicht aus dem gleichen Grunde, ja ebenfalls getan. „Diese Scheiß-Bridgeleute!" Er setzte sich auf die Motorhaube eines Audis, zog die Handschuhe aus und tat sie in die Plastiktasche, sah auf seine -6-
Armbanduhr und überlegte. Es war jetzt elf Minuten vor sieben, er mußte unbedingt in die Innenstadt und sich neue Schuhe kaufen. Außerdem wollte er noch seine besudelten Klamotten entsorgen und sich wenigstens die Hände waschen. Eigentlich hatte Hanser auch vorgehabt, Ansbergs Wagen zu suchen, um nachzusehen, ob sich darin irgend etwas Belastendes befand. Aber selbst wenn das Auto ganz in der Nähe sein sollte, wovon er ausging, würde die Zeit dazu kaum reichen, denn spätestens um zwanzig Uhr hatte er hier wieder auf der Matte zu stehen. Er kam fast immer zu den Arbeiten, seine Abwesenheit würde deshalb wohl auffallen, und alles, was ihn irgendwie verdächtig erscheinen ließ, wollte er natürlich um jeden Preis vermeiden. Das konnte ja noch eine lange Nacht werden! Erst das Schauspiel im Logenhaus mit geheuchelter Bestürzung und sicherlich einer Vernehmung, dann das Aufspüren des Wagens und schließlich, falls er darin nichts Verwertbares entdeckte, auch noch ein Abstecher in Ansbergs Büro. Aber nein, zumindest letzteres war vermutlich nicht zu schaffen, denn wenn die Polizei nur ein bißchen von ihrem Job verstand, dann würde sie bestimmt schon vor ihm dort sein. Damit sollte er jedenfalls rechnen und sich auch entsprechend vorsichtig verhalten!
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2. Kapitel
Carl Bernack lag mit einer Zigarette im Mund auf seinem Bett und sah sich im Fernsehen ein Europa-Pokalspiel an. Er war 48 Jahre alt, über eins neunzig groß, trug Jeans und Oberhemd, beides in schwarz, und das Bier in der Hand erklärte den ersten Rettungsring um seinen Bauch. Er hatte ein markant geschnittenes Gesicht, und seine Haare verlangten dringend nach einem Frisör. Aber seine Eitelkeit beschränkte sich auf intellektuelle Herausforderungen, und er hielt auch schon lange nicht mehr Ausschau nach der Frau fürs Leben. Seine Wohnung sah aufgeräumt und oberflächlich sauber aus, eben wie der Single-Haushalt von einem halbwegs ordentlichen Junggesellen. An den Wänden hingen selbstgemalte Ölbilder, in denen der Fachmann ein ziemlich großes Talent erkannt hätte, da es aber kaum Besucher gab, war die Chance für Bernack, als Künstler entdeckt zu werden, verschwindend gering. Er gehörte vom Alter her zur Generation der 68er, aber auch nur vom Alter her. Auf Grund seiner weltanschaulichen Überzeugungen hätte er damals zwar ebenfalls als Linker gegolten, mit seinen Ansichten in den Vordergrund getreten oder politisch aktiv geworden war er allerdings nie. Er hatte, irgendwann angewidert von der ewigen Diskutiererei an der Uni, sein Jura-Studium abgebrochen und war in den Staatsdienst getreten, zum einen, weil es ihm immer schon mehr Spaß machte, gegen den Strom zu schwimmen, zum anderen, weil es ihm immer schon wichtiger war, konkret etwas zu bewerkstelligen, anstatt theoretisch etwas zu verklären. Als Beamter waren ihm seine Ideale verloren gegangen, aber bereits vor so langer Zeit, daß er nicht einmal mehr wußte, sie überhaupt jemals gehabt zu haben. Er besaß kein Parteibuch und auch die Gewerkschaft hatte sich bisher vergebens bemüht, ihn -8-
als Mitglied zu gewinnen. Von daher glich die Tatsache, daß er in Bremen Hauptkommissar bei der Polizei geworden war, einem mittle ren Wunder. Bernack hätte sich das Fußballspiel auch mit ein paar Kollegen in der Kneipe anschauen können, aber zum einen haßte er unqualifizierte Kommentare, des weiteren wußte er auch genau, daß die Einladung der anderen nur eine formale Höflichkeit gewesen war. Er galt als der beste Mann der Kripo und wurde in dieser Funktion respektiert und geschätzt, richtig beliebt als Mensch war er aber eigentlich bei niemandem. Er stellte hohe Anforderungen - an sich, aber ebenso an seine Mitarbeiter. Längst nicht jeder konnte seine Folgerungen und unausgesprochenen Gedankengänge immer sofort verstehen. Und gab es dann eine für ihn überflüssige oder gar unlogische Nachfrage, reagierte er häufig gereizt, herablassend oder mit einem seiner gefürchteten Wutausbrüche. Daß er darüber hinaus auch noch für zynisch und arrogant gehalten wurde, machte ihn auch nicht sympathischer. Wegen seines rüden Umgangstones hatte der Hauptkommissar schon eine ganze Menge Ärger gehabt, zuletzt mit der Gleichstellungsbeauftragten der Behörde. Aber sein Vorgesetzter wußte genau, daß die relativ hohe Aufklärungsquote bei der Kripo in erster Linie Bernack zu verdanken war. Er hatte daher immer wieder seine schützende Hand über ihn gehalten und ihn aus der Schußlinie gezogen. Dem Hauptkommissar war sehr wohl bekannt, was man beruflich und privat über seine Person dachte. Hätten diese Einschätzungen irgendeine Relevanz für ihn gehabt, dann hätte er ihnen wahrscheinlich zugestimmt. Aber es war ihm herzlich egal, was die anderen von ihm hielten. Jeder sollte denken, was er wollte, solange man ihn dabei in Ruhe ließ. Aber genau das tat man jetzt um neunzehn Uhr achtunddreißig nicht. Das Telefon klingelte, und er griff genervt -9-
zum Hörer. Einer seiner beiden Assistenten, Ralf Neukirch, war am Apparat. „Entschuldigen Sie die Störung. Herr Hauptkommissar. Haben eben eine Meldung gekriegt. Daß im Logenhaus in der Kurfürstenallee. Eine ziemlich übel zugerichtete Leiche liegt. Spurensicherung ist bereits da. Bin selbst auch schon unterwegs." Ohne ein Wort zu erwidern, legte Bernack auf. Daß Neukirch stakkatomässig sprach, seine sehr kurzen Sätze geradezu hackte, darüber wunderte er sich schon lange nicht mehr. Wieso jedoch war der Assistent in seinen Aussagen so selten präzise? Es gab zwei Logenhäuser in der Kurfürstenallee, einander zwar direkt gegenüber gelegen, und nur deshalb hatte er ihn nicht zusammengestaucht, aber immerhin! Der Hauptkommissar war schlecht gelaunt und nicht in der Stimmung, noch zu arbeiten. Aber was blieb ihm anderes übrig. Er zog sich Stiefel und Jacke an, verließ seine Wohnung in der Mathildenstraße und fuhr mit dem Wagen zum Tatort. Bei dem relativ milden Wetter hätte er die Strecke zwar ebensogut zu Fuß zurücklegen können, aber wer wußte schon, wohin er heute noch überall mußte. Auf dem Weg über die Schwachhauser Heerstraße fragte er sich, was in den Logenhäusern wohl so ablief. Daß dort Freimaurer tagten, war ihm bekannt. Aber was machten diese Freimaurer eigentlich? Konnte man die überhaupt ernst nehmen? In der Kurfürstenallee sah Bernack schon nach wenigen Metern, wo die Polizeiautos standen, und stellte fest, daß die stadtauswärtsführende, das heißt seine Seite, die falsche war. Er parkte den Wagen so, daß er eine Spur blockierte, überquerte dann die Straße und stieg die Stufen zur Tür des Logenhauses empor. Als er das Haus betrat, kam er in eine Art Lobby und -10-
registrierte einige uniformierte Polizisten, die Personalien aufnahmen, und vielleicht fünfzehn Männer in Smoking oder schwarzen Anzügen mit weißer Krawatte oder Fliege. Ein paar von ihnen hielten außerdem noch weiße Handschuhe in den Händen. Der Hauptkommissar mußte beim Anblick dieser Aufmachung unwillkürlich an Pinguine denken und schüttelte den Kopf. Er wandte sich an den ihm am nächsten stehenden Polizisten und fragte: „Wo liegt die Leiche?" Der Beamte deutete nach oben und erwiderte: „Im sogenannten Tempel in der ersten Etage." Bernack ging die Treppe hoch und sah, daß sich Neukirch vor einer geöffneten Tür mit einem Pinguin unterhielt. Er kümmerte sich nicht um die beiden und betrat den dahinter liegenden Saal. Die Leute von der Spurensicherung waren emsig bei der Arbeit. Der Hauptkommissar entdeckte die Leiche, zog ein jetzt pietätvoll darüber gelegtes Tuch zur Seite, studierte eingehend das zermalmte Gesicht und den leblosen Körper, trat mit dem Fuß nach dem Sarg und ließ dann seine Blicke durch den Raum schweifen. Er erkannte einen Pathologen im Gespräch mit seiner zweiten Assistentin, Nicole Steter, und gesellte sich zu ihnen. „Na, Doktorchen, seid ihr neuerdings von Zink auf Eiche umgestiegen?" Der Gerichtsmediziner, mit den Späßen Bernacks wohl vertraut, zuckte nur mit den Achseln und meinte: „Das Umweltbewußtsein breitet sich auch in unserer Abteilung mehr und mehr aus, Holz ist politisch einfach korrekt. Jetzt allerdings mal ernsthaft: der Sarg war schon da, als wir angekommen sind." „Die Leiche auch. Um aber beim Thema zu bleiben: ist dieser -11-
Mord hier umweltverträglich ausgeführt worden?" „Wenn Sie nach der Todesursache fragen, würde ich meinen, eher klassisch. Der Kopf des Mannes ist von mehreren harten Schlägen zertrümmert worden. Ohne den Ermittlungen vorgreifen zu wollen, möchte ich behaupten, daß es sich bei der Tatwaffe um diesen Spitzhammer handelt." Er zeigte kurz auf das in einer Plastikfolie neben dem Sarg liegende Werkzeug und fuhr dann fort: „Wenn Sie allerdings auf das Motiv des Täters anspielen, darauf, ob das Opfer den Tod verdient hatte, also diesbezüglich halte ich mich lieber zurück, das ist Ihr Job." „Wohl wahr! Aber zu einer Aussage aus Ihrem eigene n Zuständigkeitsbereich werden Sie sich doch verleiten lassen: Wann hat dieser Mann den Spruch von der Vergänglichkeit allen Irdischens persönlich genommen? Wann hat er sich vom Acker gemacht?" „Nun, daß das seine eigene Entscheidung war, wage ich zu bezweifeln. Sein Tod wird nichtsdestotrotz ungefähr zwischen achtzehn und neunzehn Uhr eingetreten sein. Exakte Daten kriegen Sie, nachdem ich ihn mir genau zur Brust genommen habe." Der Hauptkommissar nickte und wandte sich an seine Assistentin: „Jetzt zu Ihne n, Fräulein Steter. Was wissen wir über den Ermordeten?" Die Angesprochene war 31 Jahre alt, knapp eins achtzig groß und hatte, wie Bernack fand, eine gute Figur und ein hübsches, vielleicht etwas herbes Gesicht. Aber selbst, wenn er sich privat noch für Frauen interessieren würde - nie hätte er eine Beziehung oder eine Affäre mit einer Kollegin oder Untergebenen angefangen, egal wie attraktiv sie auch war. Steter ärgerte sich jedesmal, wenn ihr Vorgesetzter sie mit -12-
`Fräulein´ anredete. Sie arbeitete noch nicht lange mit ihm zusammen, wußte jedoch schon, daß hinter solchen Äußerungen keine generelle Frauenfeindlichkeit steckte, sondern wohl eine Mischung aus Gleichgültigkeit, Distanzwahrung und Unverschämtheit. Männer bekamen ihr Fett mindestens genausogut ab. „Der Tote heißt Helmut Ansberg, ist 43 Jahre alt und Mitglied der Freimaurerloge Neptun zu den Alten Pflichten. Er hat eine Unternehmensberatungsfirma in der Martinistraße und wohnt in der Marcusallee. In seinen Taschen fanden wir eine Packung Zigaretten, ein silbernes Feuerzeug und ein Portemonnaie mit Kreditkarten und einhundertachtzig Mark. Raub scheint demnach nicht das Motiv für diesen Mord gewesen zu sein." „Fehlt da nicht noch irgend etwas?" Steter witterte die Falle, wußte aber nicht, worauf ihr Vorgesetzter anspielte, und erwiderte deshalb leicht verunsichert: „Was meinen Sie?" „Ich meine, daß Sie nichts von einem Schlüsselbund erwähnt haben. Wenn jemand seine Wohnung verläßt, dann nimmt er doch den Schlüssel mit, vor allem dann, wenn er alleinstehend ist, oder?" Die Assistentin war sich sicher, nichts über den Familienstand Ansbergs gesagt zu haben und scheute sich eigentlich nachzufragen, woher der Hauptkommissar seine Information erhalten hatte, denn das würde im günstigsten Falle eine spöttische Bemerkung nach sich ziehen. Aber was sollte sie schon anderes machen? „Wie kommen Sie darauf, daß der Tote alleinstehend war?" Ihr Chef hatte tatsächlich auf diesen Einwand gewartet, aber er antwortete jetzt weniger aggressiv, als vielmehr ungeduldig: „Hat Ihnen nie jemand beigebracht, Ihre Augen -13-
aufzumachen? Ansberg trägt einen schwarzen Smoking und blaue Socken. Das paßt nicht zusammen. Solch ein Fauxpas würde einer Frau nie passieren, und solch ein Fauxpas würde eine Frau auch bei ihrem Mann nie dulden." Steter gab insgeheim zu, daß ihr der fehlende Schlüsselbund auch hätte auffallen müssen. Aber die Geschichte mit den Socken fand sie doch ziemlich weit hergeholt. Eindeutige modische Vorschriften für die korrekte Farbkombination der Kleidung gab es schon lange nicht mehr, und selbst wenn: kein Mensch war perfekt - Bernack am allerwenigsten! Und was für ein Bild hatte ihr Sherlock Holmes denn nur von der Ehe oder einem eheähnlichen Zusammenleben? Sah er darin ein Horrorszenario, und war das der Grund, weshalb er, ebenso wie sein literarischer Vorgänger, Junggeselle geblieben war? Spielten Neukirch und sie dann etwa die Rolle des Doctor Watson? Die Assistentin wischte diese Gedanken zur Seite, denn ihr war eine neue Idee gekommen: „Wir haben Mitte November. Vielleicht hat er ja noch einen Mantel getragen?" „Dann schwirr' ab zur Garderobe, mein Täubchen, und schau nach!" Steter entfernte sich und Bernack folgte ihr zur Tür, wo sich Neukirch immer noch mit dem Pinguin unterhielt. Sein Assistent war dürr, nur ein paar Monate jünger als er und hatte eine ordentliche Einflugschneise auf dem Haupt. Er gab sich zwar redliche Mühe, diese dadurch zu verbergen, daß er seine Haare quer über den Kopf kämmte, aber das machte die Glatze nur noch auffälliger. Eine volle Lockenpracht würde es für ihn in diesem Leben nicht mehr geben. Das gleiche galt im übrigen auch für seine berufliche Beförderung, was, abgesehen von Neukirch, so ziemlich jeder wußte. Der Freimaurer hingegen war eine imposante Erscheinung. -14-
Nicht nur, daß er den Assistenten um gut zwanzig Zentimeter überragte, er hatte auch noch ein Riesenkreuz, so daß der andere neben ihm aussah wie ein unglaublich schmächtiger Hungerhaken. Neukirch machte die beiden Männer miteinander bekannt: „Darf ich vorstellen. Günter Kulenkampff. Meister vom Stuhl. Oder wie wir sagen. Vorsitzender der Freimaurerloge. Neptun zu den Alten Pflichten. Carl Bernack. Hauptkommissar der Bremer Kripo." Der Assistent ging weg, und Bernack sah sich sein Gegenüber genauer an. Der Mann war ein paar Jahre älter als er und hatte traurige, aber trotzdem sehr wache Augen. Sein Gespür sagte ihm, daß es sich bei Kulenkampff nicht nur um eine physisch ernst zu nehmende Persönlichkeit handelte, und er beschloß, den anderen ganz bewußt zu brüskieren. Die alles schluckenden Steter und Neukirch provozierte er eigentlich nur aus Gereiztheit, Langeweile oder schlicht Bosheit, aber dieser Mann erschien ihm als eine echte Herausforderung. Der Hauptkommissar wollte wissen, wie stark er wirklich war! „Sie sind also der Boß hier im Laden. Erklären Sie mir doch zunächst einmal, was sie so treiben. Was hat der Sarg zum Beispiel zu bedeuten? Werden hier schwarze Messen abgehalten?" Kulenkampff blieb ruhig und schaute dem Hauptkommissar direkt ins Gesicht als er antwortete: „Dieser Saal ist, entsprechend hergerichtet, ein FreimaurerTempel. Hier begehen wir einmal im Monat eine rituelle Arbeit. Heute stand eine Trauerloge auf dem Programm, das heißt eine Veranstaltung zum Gedenken der im letzten Jahr verstorbenen Brüder. Die schwarz verhängten Wände und der Sarg geben dem Tempel eine dem Anlaß entsprechende Würde. Satanskulte oder ähnlich obskure Dinge haben mit der Freimaurerei nicht das geringste zu tun." -15-
Bernack bohrte weiter: „Ihre Trauerloge ist ja heute aus einem bedauernswerten, irgendwie aber auch passenden Grunde ausgefallen. Ich nehme an, Sie holen das nach und nehmen sich dann etwas mehr Zeit, immerhin müssen Sie eines zusätzlich toten Bruders gedenken." „Das sollten Sie ruhig unsere Sorge sein lassen, Sie haben doch sicher andere Probleme." `Nicht schlecht´, dachte der Hauptkommissar und hakte nach: „Was glauben Sie, wer Ihren Tempel entweiht haben könnte? Vielleicht jemand aus der Loge? Hatte Ansberg hier Feinde?" „Die internationale Freimaurerei ist eine die Welt umspannende Bruderschaft, ich betone: Bruderschaft! Beantwortet das Ihre Frage?" Nein, entschied Bernack, und setzte einen drauf: „Selbst in der Bibel steht schon etwas über einen Brudermord geschrieben. Wenn ich mich recht entsinne, dann war das Kain in Babel, oder?" Kulenkampff schien einen Augenblick lang zu überlegen, aber nichts deutete darauf hin, daß er Probleme hätte, die Contenance zu verlieren. „Kann es sein, Herr Hauptkommissar, daß Sie zuviel `Columbo´ gucken? Sie sind doch wahrhaftig nicht so dumm, wie Sie sich geben!" Er machte eine kleine Pause und fuhr dann fort: „Um darauf einzugehen, was Sie wissen wollen: Daß ein Freimaurer dieser Loge einen Bruder tötet, liegt jenseits meiner Vorstellungskraft. Ich vermute, daß Sie in diese Richtung ermitteln, sogar ermitteln müssen, aber ich sträube mich noch mit jeder Faser meines Körpers gegen diesen Gedanken." „Dann fangen Sie mal langsam an, sich damit anzufreunden. Welche Angehörigen hinterläßt der Tote?" „Er hat eine Schwester, die, soviel ich weiß, in Hamburg lebt. -16-
Unser Bruder Sekretär wird Ihnen da vielleicht mehr sagen können." „Okay, nächste Frage: Ich kann mir nicht vorstellen, daß der Mörder die Tatwaffe mitgebracht hat, was also tut der Spitzhammer, mit dem Ansberg wohl erschlagen wurde, in Ihrem Tempel?" „Wir gebrauchen ihn als rituelles Werkzeug. Normalerweise wird er in einem Nebenzimmer aufbewahrt und nur zu den Arbeiten herausgeholt." „Aber jeder Ihrer Brüder weiß, wo er liegt?" „Ja." „Gut. Für den Moment ist das alles, Sie können gehen. " Kulenkampff verabschiedete sich per Handschlag, und Bernack blickte ihm nach. Es geschah nur selten, daß dem Hauptkommissar jemand Paroli bot oder nicht von ihm aus der Reserve zu locken war, und er ärgerte sich darüber, den anderen nicht härter angefaßt zu haben. Aber dazu würde er schon noch eine Gelegenheit bekommen. Steter riß ihn aus seinen Gedanken: „Kein Mantel und folglich auch kein Schlüssel in der Garderobe. Ich habe aber noch eine weitere Neuigkeit: Wie mir einer der Brüder eben erzählte, kam Ansberg jedesmal mit dem Auto in die Loge, sein Mercedes steht jedoch nicht auf dem Parkplatz hinterm Haus. In der fraglichen Zeit war der allerdings höchstwahrscheinlich von den Mitgliedern eines Bridgeclubs belegt, der den großen Saal im Erdgeschoß ge mietet hat, um hier mittwochs immer Karten zu spielen. Möglicherweise steht der Wagen also noch ganz in der Nähe". „Oder der Mörder ist mit ihm weggefahren", ergänzte Bernack. „Egal, das kriegen wir heraus. Sie beordern einen Beamten auf Autosuche und je einen weiteren vor das Haus und die Firma -17-
von Ansberg. Offensichtlich sucht der Mörder etwas, und ich möchte nicht, daß er es sich heute Nacht noch holt - falls er das nicht schon längst getan hat. Sollte irgend jemand dort sein oder hinein wollen, so erwarte ich umgehend einen Anruf. Dann besorgen Sie sich die Adresse der Schwester des Toten, erklären ihr, was vorgefallen ist, und daß sie jetzt ganz allein steht in dieser grausamen Welt. Zunächst schicken Sie mir aber den Neukirch her." Die Leute von der Spurensicherung waren immer noch bei der Arbeit, und Bernack folgte ihrem Treiben, bis sein Assistent auftauchte und Bericht erstattete: „Haben ungefähr ein Drittel der Freimaurer. Die hier sind schon vernommen. So weit ich das überblicke. Sind alle erst nach der in Frage kommenden Zeit erschienen. Ihre Aussagen bringen uns nicht weiter. Müssen aber natürlich noch überprüft werden. Habe mir schon ein Mitgliederverzeichnis. Der Loge besorgt. Kann mich also auch um die Brüder kümmern. Die heute Abend nicht anwesend sind. Das Ehepaar. Das die Gastwirtschaft im Haus betreibt. Will nichts gesehen oder gehört haben. Behaupten. Daß sie wie jeden Mittwoch Nachmittag. Ganz damit beschäftigt waren. Bridgespieler. Unten im großen Saal zu bedienen. Rufe den Vorsitzenden dieses Clubs. Gleich noch an. Die Leiter der anderen. Logen oder Vereine. Die hier sonst noch tagen auch." Der Hauptkommissar war ein wenig überrascht darüber, wie präzise Neukirch die Ergebnisse seiner Erkundigungen formuliert hatte. Sollte er wirklich dazugelernt haben? Nein, reiner Zufall, entschied Bernack und gab seine Anweisungen: „Bei den heute nicht aufgetauchten Brüdern und bei den Bridgespielern müssen wir nachhaken. Weitere Clubs sollten wir uns zur Zeit aber noch nicht aufhalsen, es gibt eh genug Leute, mit denen wir zu sprechen haben. Wenn Sie sich nach Dienstschluß allerdings ein wenig bewähren möchten, während der Arbeitszeit klappt das ja nicht so gut, meinetwegen! Für -18-
morgen früh erwarte ich aber erst einmal einen ausführlichen Bericht mit den Aussagen aller Vernommenen. Bringen Sie mich jetzt zu dem Mann, der die Leiche gefunden hat." Neukirch ging nach unten, und Bernack folgte ihm. In der Lobby wurde ihm ein älterer, untersetzter Herr als Zeremonienmeister Hans Wildung vorgestellt. Der Hauptkommissar erinnerte sich an eine Studie des BKA, in der geschrieben stand, daß die Häufigkeit dafür, daß der Täter als erster wieder am Tatort auftaucht und das Verbrechen meldet, relativ hoch ist. Bernack neigte eigentlich dazu, solche Statistiken mit Vorsicht zu genießen, trotzdem beobachtete er den Freimaurer während seiner Befragung sehr genau. „Wann haben Sie den Toten gefunden?" Wildung machte einen gebrochenen Eindruck. Er schaute den Hauptkommissar zwar geradewegs an, fixierte aber nicht dessen Augen, sondern sah quasi durch ihn durch, als wenn sich auf einer imaginären Ebene dahinter die ganze Tragödie noch einmal abspielen würde. Auch der Tonfall seiner Antwort kam wie aus einer anderen Welt: „Das muß so gegen halb acht gewesen sein." „Waren Sie allein?" „Ja, ich bin dafür zuständig, daß unser Tempel ordnungsge mäß aufgebaut wird, und komme daher immer etwas früher als die übrigen Brüder." „Und wie erklären Sie sich dann die Tatsache, daß Ansberg schon vor Ihnen da war?" Der Zeremonienmeister senkte plö tzlich den Kopf, guckte auf den Boden und erwiderte: „Das kann ich mir nicht erklären. Es gab keinen Grund für ihn, so früh schon hier zu sein." Bernack war natürlich nicht entgangen, daß Wildung seinen Blick abgewandt hatte. Er registrierte das, enthielt sich aber -19-
einer vorschnellen Deutung. Selbstverständlich vertraute er auf seinen Instinkt und seine Menschenkenntnis, aber im Gegensatz zu den `Psycho-Kommissaren´, wie er die Kollegen aus der Krimi-Literatur nannte, konnte und wollte er nicht jede Mimik und Gestik, nicht jedes kleine Flackern der Augen oder Zucken der Mundwinkel sofort interpretieren bezie hungsweise identifizieren. Er hatte schon oft genug erlebt, daß Leute während seines Verhörs nervös wurden und komisch reagierten, obwohl sie völlig unschuldig waren. Deshalb kümmerte er sich jetzt auch weniger um das Gebaren des Zeremonienmeisters, sondern antwortete mehr zu sich selbst: „Oh doch, er hatte einen Grund, so früh da zu sein! Und wenn ich den weiß, dann kenne ich auch seinen Mörder." Bernack entließ Wildung, schlenderte ein paar Minuten lang durch die Lobby und den großen Saal und beobachtete, wie die Pinguine vernommen wurden. Dann setzte er sich an einen etwas abseits gelegenen Tisch und drehte sich eine Ziga rette. Er hatte sie eben in den Mund gesteckt, als Gernot Müller, ein Reporter des `Weser-Kuriers´, sich zu ihm gesellte. Dieser Journalist berichtete hauptsächlich über Kriminalfälle, und zwar in einer auf den Tatsachen beruhenden, objektiven Weise. Das brachte es aber mit sich, daß er schon ein paar Mal ziemlich kritisch über die Untersuchungsmethoden des Hauptkommissars geschrieben hatte, weshalb dieser ihn auch nicht sonderlich gut mochte und jetzt entsprechend reagierte: „Was wollen Sie von mir, Müller? Sie wissen doch genau, daß ich Ihnen keine Informationen gebe!" „Ich dachte, unser Kriegsbeil wäre inzwischen begraben?" „Dann haben Sie eben falsch gedacht. Wenn Sie etwas wissen wollen, dann wenden Sie sich an den Polizeipräsidenten oder am besten gleich an den Innensenator!" „Die würden sich bestimmt gern mit mir unterhalten, so publicitygeil wie sie sind. Dummerweise haben sie aber -20-
überhaupt keine Ahnung, egal um welches Thema es sich handelt. Daher muß ich wohl mit Ihren Assistenten vorliebnehmen. Was dagegen?" Bernack deutete mit einer Handbewegung nur an, daß der andere verschwinden sollte. Dann fing er an, über den Fall nachzudenken. Er brauchte nicht erst das Ergebnis der gerichtsmedizinischen Analyse abzuwarten, es war offensichtlich, daß Ansberg im Tempel getötet und nicht etwa erst danach dorthin geschleppt worden war. Ein zufälliges Treffen von Täter und Opfer hielt er für eher unwahrscheinlich, und Tatort sowie Tatwaffe sprachen dafür, daß er den Mörder unter den Freimaurern zu suchen hatte, vermutlich sogar unter den Brüdern der Loge Neptun zu den Alten Pflichten. Wenn das stimmte, würde der alte Kulenkampff noch ganz schön zu knabbern haben. Aber Bernack war Profi genug, um auch die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, daß die Umstände der Tat nur geschickt arrangiert worden waren, um ihn auf die falsche Fährte zu locken, daß der Täter also auch aus einem ganz anderen Umfeld kommen konnte. Seine Gedankengänge wurden von einem Polizeibeamten unterbrochen, der ihm mitteilte, daß man Ansbergs Auto ganz in der Nähe verschlossen aufgefunden hatte. Der Hauptkommissar ordnete an, den Wagen ins Präsidium zu schleppen und schnellstens zu untersuchen. Dann fuhr er mit seinen Überlegungen fort. Die entscheidende Frage war mal wieder die nach dem Motiv. Was hatte, wußte oder wollte Ansberg, daß er dafür so brutal umgebracht worden war? Ein Raubmord schied wohl aus. Lag hier Erpressung vor? Oder Eifersucht? In einer reinen Männergesellschaft? Bernack glaubte, schon einmal gehört zu haben, daß es den -21-
Logen verboten war, Frauen aufzunehmen. Auß er einer rundlichen Erscheinung, die nur die Gastronomin gewesen sein konnte, Nicole Steter und einer Polizistin in Uniform hatte er hier auch wirklich kein weibliches Wesen gesehen, sondern nur `Menschen mit Glied´, wie er höhnisch dachte. Das hieß aber natürlich nicht, daß Frauen im Leben der Freimaurer überhaupt keine Rolle spielten, schließlich blieben diese auch als Brüder immer noch Männer. Eifersucht war deshalb sehr wohl ein mögliches Motiv. Der Hauptkommissar sinnierte noch eine geraume Zeit hin und her. Dann stand er auf, verließ den Tatort in der Kurfürstenallee, ohne sich von irgend jemandem zu verabschieden, und fuhr nach Hause. Dort zog er sich aus, putzte sich die Zähne, legte sich ins Bett, informierte sich im Videotext noch schnell über die Ergebnisse der Europa-Pokalspiele und schlief dann ein.
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3. Kapitel
Gerd Hanser hatte das Glück, das ihm, seiner Meinung nach, als Tüchtigem auch gebührte - auf dem Weg zu seinem Wagen stolperte er geradezu über den Mercedes von Ansberg. Er holte die weißen Handschuhe aus der Plastiktasche, zog sie an und schloß das Auto des Ermordeten auf. Auf dem Beifahrersitz fand Hanser, wonach er gesucht hatte eine Klarsichthülle mit einer Diskette und einer Reihe von Schriftstücken. Er nahm die Unterlagen heraus, verriegelte den Wagen wieder und begab sich, jetzt wesentlich besser gelaunt, auf die letzten Meter zu seinem BMW. Während der Fahrt in die Innenstadt warf er, so gut wie es der Verkehr erlaubte, einen Blick in die Papiere. Sie handelten in der Tat von seinen illegalen Geschäften im Osten Deutschlands. Wenn ihn der erste Augenschein nicht trog, dann hatte Ansberg alle Transaktionen von ihm zusammengefaßt, auch wenn diese als Betrügereien nicht auf Anhieb zu erkennen waren. Sich eingehend mit den Unterlagen zu beschäftigen ging nun aber nicht, er mußte andere Dinge erledigen. Also steckte er die Dokumente in den Aktenkoffer, in dem er seine freimaurerischen Accessoires verwahrte. Das Glück war ihm weiterhin hold, er fand sofort einen Parkplatz, stellte das Auto ab und marschierte schnellen Schrittes zum nächstgelegenen Schuhgeschäft. Ohne sich groß mit Auswahl oder Anprobieren aufzuhalten, erstand er ein Paar schwarze Slipper und kehrte zurück zu seinem BMW. Er setzte sich in den Wagen, wechselte die Schuhe und ließ den Motor an. Es war jetzt neunzehn Uhr einundzwanzig, es blieb ihm also noch genügend Zeit, rasch nach Hause zu fahren und zu duschen. Bisher hatte alles ganz gut geklappt, nur zur Entsorgung -23-
seiner blutbefleckten Klamotten war Hanser noch nicht gekommen. Dieses Problem schien ihm noch vor einer halben Stunde leicht lösbar zu sein, aber nun wußte er nicht so recht, wohin mit dem Zeug. Also überlegte er auf dem Heimweg, was am besten wäre. Seine Frau ging mittwochs immer ins FitnessStudio, von daher hätte er die Sachen zuerst so lange im Haus verstecken können, bis ihm etwas Vernünftiges eingefallen war. Aber wenn sie die Klamotten nun durch einen blöden Zufall entdecken sollte? Nein, dieses Risiko konnte er nicht eingehen! Vor seiner Villa in der Hollerallee angelangt steckte Hanser deshalb die Plastiktasche und die Schuhe in einen aus der Garage geholten Müllsack und verschloß diesen im Kofferraum des BMWs. Da seine Frau ihren eigenen Wagen hatte, waren sie dort zunächst einmal vor ihr sicher. Hanser ging schnell duschen und machte sich dann um neunzehn Uhr achtundvierzig auf den Weg zu seinen Brüdern. Er war davon überzeugt, daß es eine Vernehmung geben würde und wollte eine gute Antwort auf die Frage nach seinem Alibi haben. Schon seit er den Entschluß zum Mord gefaßt hatte, beschäftigte ihn dieser Gedanke - etwas Überzeugendes eingefallen war ihm aber noch nicht. Wie der Hauptkommissar, sah auch er schon von weitem die Polizeiautos vor dem Logenhaus stehen, mußte sich jedoch im Gegensatz zu Bernack nicht mit dem Spekulieren über das Geschehene beschäftigen, sondern mit der Rolle befassen, die er gleich zu spielen hatte. Sich ein gutes Alibi zurechtzule gen, war ihm aber immer noch nicht gelungen. Hanser wollte wie gewohnt bei den Freimaurern auf der anderen Seite parken, was allerdings nicht so einfach war, weil ein Auto die rechte Spur und die halbe Auffahrt blockierte. Er schimpfte auf den ihm unbekannten Fahrer, schaffte mit Ach und Krach die Kurve, stellte den Wagen ab, nahm seinen -24-
Aktenkoffer und überquerte die Straße. Noch bevor er das Logenhaus betreten konnte, kam ihm der Bruder Lohmann mit versteinertem Gesicht entgegen, und Hanser fragte: „Guten Abend, Heinz, was ist hier denn los? Was macht die Polizei bei uns?" Sein Gegenüber schluckte und suchte offensichtlich nach der geeigneten Formulierung. Schließlich hatte er die Sprache wiedergefunden und antwortete: „Ach Gerd, es ist etwas Furchtbares passiert, Bruder Ansberg ist ermordet worden." Hanser hielt einen Moment inne und gab sich stark betroffen, was ihm auch nicht schwerfiel, da er ja tatsächlich ziemlich besorgt war und sowieso schon alles andere als einen strahlenden Eindruck machte. Dann erkundigte er sich weiter: „Das kann doch gar nicht angehen! Wie und wo, vor allem, von wem soll Helmut denn ermordet worden sein?" „Ich habe keinen blassen Schimmer, wie und von wem. Ich weiß nur, daß unser Bruder Zeremonienmeister ihn gefunden hat, als er den Tempel aufbauen wollte." „Mein Gott, das ist ja schrecklich! Und die Polizei? Verdächtigt die jetzt einen von uns?" „Sie vernehmen immerhin jeden einzelnen. Ich bin selbst noch gar nicht drangekommen, kann dir also auch nicht sagen, was genau sie wollen. Ich mußte einfach an die frische Luft, drinnen war es für mich nicht mehr auszuhalten. Das ist ein einziger Alptraum, Gerd." Die letzten Worte waren bloß noch schluchzend gekommen, und so erinnerte sich Hanser daran, daß ein guter Freimaurer stets für seine Brüder da sein sollte. Er nahm Lohmann in den Arm und tröstete ihn: „Du brauchst dich deiner Tränen nicht zu schämen, Heinz. -25-
Weine nur." Es dauerte bestimmt fünf Minuten, bis der Bruder sich einigermaßen beruhigt und den Weg zum Logenhaus freigegeben hatte. Hanser betrat die Lobby, sah sich kurz um und ging dann zielstrebig zu Günter Kulenkampff, der sich im Gespräch mit ein paar Freimaurern befand. Per Handschlag und bloß einem leichten Nicken, um so seine vermeintliche Fassungslosigkeit auszudrücken, begrüßte Hanser seine Brüder und wandte sich dann nach einer, wie er hoffte, angemessenen Pause, um nach Worten zu ringen, an den Meister vom Stuhl: „Heinz hat mir eben schon kurz erzählt, was hier passiert ist. Ich kann diese furchtbare Geschichte, daß Helmut ermordet worden sein soll, kaum glauben. Und dann auch noch in unserem Tempel! Weiß man schon Genaueres?" Kulenkampff schüttelte den Kopf und erwiderte: „Nur, daß er mit dem Spitzhammer erschlagen wurde." „Und die Polizei? Hält sie einen von uns für den Täter?" „Was bleibt ihr denn sonst schon übrig? Der Hauptkommissar scheint ein intelligenter Mann zu sein, ist gleichzeitig aber auch ein unglaublicher Zyniker. Ich fürchte, er wird unserer Loge, ganz unabhängig von der Suche nach dem Mörder, noch mächtig zusetzen. Es macht ihm Spaß, andere zu kränken und zu verspotten." „Können wir uns da nicht wehren?" „Ich weiß nicht. Der Beamtenrat trifft sich nachher noch, um über diese schreckliche Situation zu sprechen. Wir müssen der Kripo helfen, so gut es geht, wir müssen aber auch versuchen, weiteren Schaden von der Loge fernzuhalten." Hanser wollte sich von Kulenkampff die Erlaubnis holen, am Treffen des Beamtenrates teilzunehmen, um möglichst nahe am Geschehen zu bleiben, wurde jetzt aber von einem Polizisten -26-
angesprochen und an einen Tisch in den großen Saal gebeten. Widerwillig folgte er dem Uniformierten und beantwortete dessen erste Fragen: „Mein Name ist Gerhard Hanser, geboren am 12. April 1944 in Bremen, wohnhaft in der Hollerallee. Von Beruf bin ich Kaufmann." Der Polizist machte sich ein paar Notizen und verlangte dann eine weitere Auskunft: „Wie gut kannten Sie den Ermordeten?" „Ich bin vor sechs Jahren in diese Loge aufgenommen worden, seitdem kenne ich Helmut. Wir haben uns hier fast jeden Mittwoch getroffen." „Hatten Sie auch privat, ich meine außerhalb der Freimaurerei, mit ihm zu tun?" „Kaum. Mein Geschäft nimmt mich sehr in Anspruch. Da bleibt nicht viel an Freizeit. Helmut geht es, ich meine: ging es ebenso." Der Uniformierte schrieb die Aussagen auf und wollte dann wissen, wo Hanser heute zwischen siebzehn Uhr dreißig und neunzehn Uhr gewesen war. Diese Frage kam nicht überraschend, aber da ihm kein hiebund stichfestes Alibi eingefallen war, hatte er beschlossen, sich so dicht wie möglich an die Wahrheit zu halten und nichts Kompliziertes zu konstruieren. „Ich habe bis etwa halb sechs im Büro zu tun gehabt, bin dann nach Hause gefahren, dort geblieben und ungefähr um fünf vor acht hierhergekommen." „Gibt es jemanden, der das bestätigen kann?" Hanser änderte nichts an seiner Strategie. Er hätte alles auf eine Karte setzen und beispielsweise seine Sekretärin als Zeugin angeben können, aber das wäre zu gefährlich gewesen. „Nein. Meine Angestellten haben das Büro vor mir verlassen, -27-
und meine Frau geht mittwochs immer zum Sport. Die Kinder sind nicht mehr im Haus." Der Polizist notierte sich das und stellte dann seine letzte Frage: „Haben Sie irgendeine Vorstellung oder irgendeinen Verdacht, was hier wohl passiert sein könnte? "Nein, tut mir leid, ich tappe da völlig im Dunkeln." „Schade. Trotzdem vielen Dank für Ihre Kooperation." Hanser stand auf und suchte nach Kulenkampff, konnte ihn auf die Schnelle jedoch nicht finden. Da er nicht mehr viel Zeit hatte, gesellte er sich kurz zu einer Gruppe von Brüdern, erklärte, daß er die Atmosphäre im Logenhaus nicht mehr ertragen könne, verabschiedete sich und ging zu seinem Auto. Der Aktenkoffer war die ganze Zeit über an seiner Seite geblieben. Der dreiste Kerl versperrte immer noch die halbe Ausfahrt, aber Hanser hatte andere Probleme. Er fuhr so schnell wie möglich Richtung Innenstadt, stellte den BMW am Altenwall ab und marschierte von dort in die Martinistraße. Als er etwa hundert Meter von Ansbergs Firma entfernt war, sah er den Polizeiwagen vor dem Gebäude. Er fluchte darüber, zu spät gekommen zu sein, beglückwünschte sich dann allerdings sofort zu der Vorsicht, sein Auto etwas abseits geparkt und den Rest der Strecke zu Fuß zurückgelegt zu haben. Gut, daß die Kripo nicht so clever war, das Büro in Zivil zu beschatten! Als er wieder bei seinem BMW war, überlegte er, ob es noch sinnvoll wäre, in die Marcusallee zu fahren, aber so viel Dummheit, das Wohnhaus des Bruders unbeobachtet zu lassen, traute er der Polizei nicht zu. Also machte er sich auf den Heimweg. Seine Frau war noch immer im Fitness-Studio oder mit ein -28-
paar Freundinnen in der Kneipe. Er duschte ein weiteres Mal, setzte sich ins Arbeitszimmer und schob die aus Ansbergs Wagen genommene Diskette in den PC. Der Getötete war sehr gewissenhaft gewesen und hatte tabellarisch alles aufgeführt, aber bloß mit dem nötigen Hintergrundwissen konnte man erkennen, daß diese nüchternen Zahlen und Daten ganz handfeste Betrügereien verbargen. Seine Erleichterung wurde noch größer, als er bemerkte, daß anstatt seines Namens immer nur die Abkürzung `B.H.´ auftauchte, was wohl Bruder Hanser bedeuten sollte. Wie und wo Ansberg diese Informationen gefunden hatte, konnte er dem Dokument nicht direkt entnehmen, sicher war aber, daß man ihn für viele Jahre ins Gefängnis schicken würde, geriete es in die falschen Hände. Das Risiko, das er mit dem Mord eingegangen war, schien ihm nun noch gerechtfertigter zu sein. Bei den ebenfalls entwendeten Schriftstücken handelte es sich bloß um Ausdrucke von der Diskette, Hanser brauchte sich damit also nicht zu beschäftigen. Deshalb versteckte er die Unterlagen im Geheimfach seines Schreibtisches und nahm sich vor, sie zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal genau durchzusehen und nachzuforschen, wie der tote Bruder ihm auf die Spur gekommen war, denn wenn der das geschafft hatte, dann konnte das einem anderen auch noch gelingen! Im Augenblick gab es für ihn Dringlicheres zu tun - er hatte über die nächsten konkreten Schritte nachzudenken. Völlig klar war, daß die besudelten Klamotten noch heute Nacht aus dem Auto verschwinden mußten. Ohne Alibi ge hörte er bestimmt zu den Tatverdächtigen, und den Müllsack weiterhin im Kofferraum spazierenzufahren, wäre ein bodenloser Leichtsinn gewesen. Eine definitive Lösung dieses Problems war ihm immer noch nicht eingefallen, aber er konnte -29-
jetzt nicht einfach hier sitzen bleiben und grübeln, sondern mußte etwas unternehmen, bevor seine Frau nach Hause kam. Also stand er auf, holte die für ihn so gefährlichen Sachen aus dem Wagen, griff sich einen Spaten und suchte sich auf seinem Grundstück eine Ecke, die auch bei Tageslicht von au-ßen her nicht einsehbar war. Er grub ein Loch von etwa acht zig Zentimeter Tiefe, warf den Müllsack hinein und buddelte das Versteck dann wieder zu. Daraufhin kehrte Hanser ins Arbeitszimmer zurück und setzte seine Überlegungen fort: Daß er nur ein Zwischenlager gefunden hatte und ein Risiko darin lag, das Zeug hier zu vergraben, war ihm sehr wohl bewußt. Aber er hatte sich nicht getraut, woanders hinzufahren, weil er befürchtete, bei seiner nächtlichen Aktion beobachtet werden zu können. Die endgültige Beseitigung der besudelten Klamotten war ein Problem, das er ganz schnell in Angriff nehmen mußte. Er hatte aber auch noch andere Schwachpunkte – Schwachpunkte, die wahrscheinlich sogar schwerer wogen. Da gab es erstens das fehlende Alibi. So lange sich keine Zeugen meldeten und die Polizei das Motiv nicht entdeckte, glaubte er zwar, in Sicherheit zu sein, denn eins von beiden brauchte man schon, um ihn zu überführen. Was aber, und hier kam er zum zweiten Punkt, wenn sich in Ansbergs Büro oder Wohnhaus weiteres belastendes Material befand? Hanser vermutete, daß es von der ihm vorliegenden Datei noch eine Version auf Festplatte gab, aber das beunruhigte ihn nicht so sehr, denn deren Kontext konnte ein Außenstehender, wenn überhaupt, dann nur unter größten Schwierigkeiten begreifen. Bedrückender war vielmehr die Ungewißheit darüber, ob noch zusätzliche Hinweise auf sein Motiv und damit seine Schuld existierten. Er hoffte inständig, daß dem nicht so war. Die Polizei hatte bei der Durchsuchung der Räumlichkeiten -30-
des ermordeten Bruders einen Vorsprung, wußte aber wohl nicht genau, wonach sie Ausschau halten sollte und kam vielleicht auch nicht so zügig voran. Daher war es für Hanser nach wie vor äußerst wichtig, so rasch wie möglich dort hineinzukommen! Unbemerkt würde ihm das sicher nicht mehr gelingen, er sah aber trotzdem einen Weg, sein Ziel zu erreichen, denn ihm war bekannt, daß Ansberg außer einer Schwester keine weiteren Angehörigen besaß. Und mit genau der würde er sich morgen in Verbindung setzen.
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4. Kapitel
Carl Bernack verzichtete am Donnerstag auf sein Frühstück, ignorierte den Weser-Kurier mit der Schlagzeile `Tod im Tempel´ und saß schon um sieben Uhr dreißig an seinem Schreibtisch im Polizeihaus. Er war so zeitig ins Büro gekommen, weil er um halb neun einen Termin im Neustädter Hafen hatte, wo er einem mutmaßlichen Erpresser auf den Fersen war und nicht wußte, wie lange er dort zu tun haben würde. Nicht zum ersten Mal beneidete der Hauptkommissar seine TV- und Film-Kollegen darum, daß sie immer nur einen Fall zur Zeit zu bearbeiten hatten. Im wahren Leben sah es leider anders aus. Er rauchte eine Zigarette und schaute sich die Protokolle der Vernehmungen an, die Neukirch offenbar noch gestern Abend an seinen Platz gelegt hatte. Neben dem Gastronomen-Ehepaar waren auch achtzehn Pinguine verhört worden. Bernack sortierte gerade die Aussagen der elf Freimaurer mit Alibi heraus, als seine Assistenten gemeinsam den Raum betraten. Unwillkürlich kam ihm der absurde Gedanke, die beiden könnten etwas miteinander haben. „Na Ra lfi, wie war die Nacht? Heiß, schwül und sexgeladen? Was ist, Nicole? Steht er noch gut?" Neukirch begriff nicht oder tat so, als verstünde er nicht, worauf sein Vorgesetzter hinaus wollte, und nuschelte bloß: „Viel Arbeit gehabt". Seine Kollegin zeigte durch einen hochroten Kopf, daß sie das Wortspiel sehr wohl verstanden hatte, verkniff sich allerdings jedweden Kommentar. Der Hauptkommissar schenkte sich weitere Demütigungen -32-
und wurde dienstlich: „Irgendwann im Laufe des Tages, wahrscheinlich gegen Mittag, sind die Experten mit der Autopsie von Ansberg und der Untersuchung seines Wagens fertig. Ich erwarte, daß Sie beide sich die Berichte darüber noch heute durchlesen. Sie, Steter, überprüfen aber als Erstes die Aussagen der Brüder mit Alibi. Dann durchstöbern Sie die Unibibliothek nach geeigneter Literatur über Freimaurerei und machen sich schlau. Haben Sie eigentlich schon mit den Beamten gesprochen, die Sie vor Ansbergs Büro und Haus postieren sollten?" Die Assistentin war froh, daß es jetzt um fachliche Angelegenheiten ging und ahnte noch nicht, daß sie sehr schnell den nächsten Niederschlag würde einstecken müssen. „Ja. Je ein Streifenwagen ist die ganze Nacht über in der Martinistraße und in der Marcusallee gewesen. Etwas Verdächtiges ist jedoch nicht beobachtet worden." Bernack glaubte, nicht richtig gehört zu haben. „Sagten Sie gerade `Streifenwagen´? Wollen Sie mir allen Ernstes erzählen, daß Sie Uniformierte in offiziellen, grünweißlackierten Autos geschickt haben, vielleicht in der Hoffnung, daß diese Farben mit Werder Bremen identifiziert werden und daher unauffällig sind? Hatten die Beamten etwa auch noch große Spruchbänder dabei, auf denen `Mörder bitte hier melden´ stand? Sind Sie wirklich so bescheuert?" Steter schwieg, um die Sache nicht zu ve rschlimmern. Der Hauptkommissar seufzte und schüttelte den Kopf. Er überlegte, ob er die beiden Räumlichkeiten jetzt gleich durchsuchen lassen sollte, und wenn ja, von wem. Seine Assistenten wollte er damit eigentlich nicht betrauen, er selbst hatte im Moment aber anderes zu tun. Deshalb entschloß er sich, diese Arbeit erst später zu erledigen. „Sorgen Sie dafür, daß alle Eingänge versiegelt werden. Wer hinein will, soll sich erst meine Zustimmung holen. Dann -33-
berufen Sie die Empfangskomitees wieder ab. Sie, Neukirch, befragen zunächst die Nachbarn, danach vernehmen Sie die Brüder, die gestern Abend nicht in der Loge waren. Schließlich knöpfen Sie sich noch die Bridgespieler vor. Tun Sie mir einen Gefallen und stellen Sie sich nicht ganz so bekloppt dabei an. " Sein Untergebener schätzte die Situation mal wieder falsch ein, dachte, Bernack hätte sich völlig auf Steter eingeschossen und wurde leichtsinnig: „Wenn Sie mich fragen. Chef. Dann..." „Habe ich das jemals getan?", brüllte der ihn an. „Raus!" Eingeschüchtert zog Neukirch sich zurück. Seine Kollegin wollte ihm folgen, aber der Hauptkommissar war mit ihr noch nicht fertig: „Was hat die Schwester des Toten erzählt?" „Sie war sehr bestürzt und sagte, sie würde heute nach Bremen kommen und uns zur Verfügung stehen." „Gut, wenn sie auftauchen sollte, kümmern Sie sich um diese Frau. Hysterische Weibsbilder kann ich im Moment überhaupt nicht gebrauchen. Und jetzt ab dafür." Allein im Büro, suchte sich Bernack die Telefonnummer von Kulenkampffs Firma heraus, griff zum Hörer und wählte. Zuerst hatte er eine Sekretärin am Apparat, dann wurde er aber zum Meister vom Stuhl durchgestellt, nannte nochmals seinen Namen und kam ohne Umschweife auf sein Anliegen zu sprechen: „Sie bezweifeln ja, daß Ansberg von einem Bruder ermordet worden ist. Demnach müssen Sie doch glauben, daß er sich mit einem Außenstehenden im Tempel verabredet hatte, oder? Paßt das denn zu dem Toten?" „Eigentlich nicht, Helmut Ansberg war durch und durch Freimaurer, einen Profanen, also einen Nicht-Freimaurer hätte -34-
er nie mit in den aufgebauten oder fast aufgebauten Tempel genommen. Seit gestern abend versuche ich mir einen Reim darauf zu machen, was vorgefallen sein könnte. Die einzige Erklärung, die ich gefunden habe, ist die, daß es ein rein zufälliges Treffen von Täter und Opfer gegeben hat." „Sich selbst können Sie so viel vormachen, wie Sie wollen, aber mich lassen Sie bitte in Frieden mit solch einem Schwachsinn! Warum war Ansberg so früh im Tempel? Wen sollte er dort getroffen, vielleicht sogar überrascht haben? Einen Dieb? Was gibt es bei Ihnen denn schon zu klauen? Jede Menge Fragen und nicht eine davon können Sie halbwegs zufriedenstellend beantworten! Nein, ein zufälliges Treffen mit seinem Mörder ist mehr als nur unwahrscheinlich! Das einzige, was Sie noch ruhig hätte schlafen lassen können, wäre die Möglichkeit gewesen, daß sich der Ermordete absichtlich mit einem Außenstehenden im Tempel getroffen hat. Aber genau das haben Sie gerade mit Nachdruck verneint. Der Täter ist Freimaurer! Deshalb noch einmal meine Frage nach Ansbergs Feinden in der Loge, und kommen Sie mir bloß nicht wieder mit dem Gesülze von einer `die Welt umspannenden Bruderschaft´!" Kulenkampff ließ sich mit seiner Antwort ein bißchen Zeit. „Ich muß Ihnen insofern recht geben, als sehr viel darauf hindeutet, daß der Mörder unter den Freimaurern zu suchen ist. Einen glasklaren Beweis für diese These sind Sie bisher jedoch noch schuldig geblieben. Ich habe selbst schon darüber gegrübelt, ob der Täter einer von uns sein kann, bin allerdings bei keinem Mann der Loge auf nur den Hauch eines Motivs gestoßen. Es gibt natürlich auch in der Freimaurerei immer wieder mal faule Eier, das heißt Männer, die nicht so nach unseren Idealen streben, wie sie sollten. Ich glaube aber, die Mitglieder von Neptun zu den Alten Pflichten ziemlich gut zu kennen. Und daß einer von ihnen der Mörder ist, kann ich mir einfach nicht vorstellen!" -35-
„Bester Meister, ich werde das Gefühl nicht los, daß Sie `mauern´, um Ihr Vokabular ein wenig zweckzuentfremden. Sollte ich auch nur den Ansatz eines Beweises finden, daß das stimmt, werde ich Sie fertigmachen, Sie und Ihre ganze verdammte Loge. Guten Tag." Bernack wartete gar nicht erst ab, daß Kulenkampff sich verabschiedete, sondern legte sofort auf. Er wußte, daß er mit einer moderateren Art, einer freundlicheren Umgangsweise häufig mehr erreichen konnte, aber wenn er schlecht gelaunt war, wenn ihm jemand vermeintlich selbstherrlich kam oder er den anderen sowieso schon auf dem Kieker hatte, wie Kulenkampff seit gestern Abend, dann waren auch noch so gute Vorsätze chancenlos. In diesem Falle hatte er mit seiner aggressiven Gesprächsführung und der Aussage, der Mörder müsse ein Freimaurer sein, den Meister vom Stuhl jedoch ganz gezielt unter Druck setzen wollen. Eine nicht sehr erfolgreiche Taktik, wie er sich nun eingestehen mußte. Der Hauptkommissar schloß nach wie vor nicht völlig aus, daß Ansberg von einem Außenstehenden erschlagen worden war. Sein vornehmliches Augenmerk richtete er allerdings eindeutig auf die Brüder oder sieben Zwerge, wie er sie in Gedanken nannte, die kein Alibi hatten. Zunächst einmal mußte er sich aber noch anderen Aufgaben widmen. Deshalb verließ er das Polizeihaus und fuhr mit dem Wagen in den Neustädter Hafen. Er hatte kein Glück. Der Hauptverdächtige in einem Erpressungsversuch gegen die Bremer Lagerhaus-Gesellschaft stellte sich gar nicht dumm an. Bernack benötigte daher mehr Zeit, um ihn in die Ecke zu treiben und zu einem Geständnis zu bewegen, als ihm lieb war. Erst um dreizehn Uhr kehrte er zurück in die Stadt. Alle weiteren noch ungelösten Fälle waren nicht so dringlich, er -36-
konnte sich jetzt ganz auf die Suche nach Ansbergs Mörder konzentrieren. Bevor er damit begann, ging er aber noch zu einem Italiener und bestellte Penne all' arrabiata. Die pasta war al dente und die salsa schön scharf, ganz so, wie er es mochte. Nach dem Mittagessen begab er sich direkt in sein Büro, wo die Ergebnisse des Gerichtsmediziners und die der Untersuchung von Ansbergs Auto schon auf ihn warteten. Wie üblich waren sie gespickt mit fachspezifischen Termini und lateinischen Vokabeln, von denen sich der Hauptkommissar aber nicht beeindrucken ließ. Ansberg war, wie vermutet, mit dem Spitzhammer getötet worden, und zwar um etwa achtzehn Uhr dreißig plus/minus zehn Minuten. Drei Schläge hatten so ziemlich alles zertrümmert, was früher einmal ein Gesicht gewesen war. Nichts deutete darauf hin, daß es einen Kampf gegeben hatte, womit die Wahrscheinlichkeit, daß das Opfer seinen Mörder kannte, noch weiter stieg. Auf Grund des Einschlagwinkels der Tatwaffe kam der Pathologe zu dem Schluß, daß der Täter erstens Rechtshänder und zweitens entweder eine ganze Ecke größer war als der Ermordete, oder erhöht gestanden hatte. Winzige Spuren einer weißen Faser konnten nicht nur am Schaft des Spitzhammers, sondern auch auf dem Beifahrersitz von Ansbergs Wagen sichergestellt werden. Am Griff der Fahrertür waren zudem Blutflecken entdeckt worden, und zwar von der Blutgruppe A Rh pos., wie der Tote sie hatte. Weitere Erkenntnisse, insbesondere verwertbare Fingerabdrücke, gab es nicht, aber Bernack zeigte sich mit der Arbeit der Experten auch so zufrieden. Er drehte sich eine Zigarette und dachte nach. Die weißen Fasern hatte er sofort mit den Handschuhen der Pinguine in Verbindung gebracht. Ein zusätzliches Indiz dafür, daß der Mörder Freimaurer war. Oder sich Mühe machte, die Ermordung Ansbergs als die Tat eines Freimaurers hinzustellen. Im Auto des Toten war nichts gefunden worden, was -37-
irgendeinen Hinweis auf das Motiv für dieses Verbrechen hätte geben können. Das bißchen, was er jetzt durch die Untersuchung über den Wagen wußte, sprach zwar dafür, daß der Täter schneller in ihm gewesen war als die Polizei, bewies es allerdings noch nicht definitiv, denn die Blutgruppe war doch ziemlich häufig anzutreffen und auch Ansberg hatte sicherlich weiße Handschuhe besessen. Bernack fiel auf, daß er in keinem Bericht etwas über diese Handschuhe gelesen hatte. Sie waren weder beim Ermordeten selbst, noch im Logenhaus, noch im Auto entdeckt worden. Wo mochten sie wohl sein? Er griff zum Telefon und rief Kulenkampff an: „Wo sind die weißen Handschuhe des Toten?" „Bei mir. Ich bin gestern Abend als letzter gegangen, und als ich das Licht ausmachen wollte, ist mir Helmuts Hutschachtel aufgefallen, die in einer Ecke der Garderobe lag. Ich habe sie mit nach Hause genommen, weil ein Teil ihres Inhalts sowieso Logeneigentum ist." „Und was wäre das genau?" „Das Bijou und der Schurz. Zylinder und Handschuhe sind, beziehungsweise waren sein privates Eigentum. " „Was verdammt nochmal ist ein Bijou, und was ein Schurz? Und warum haben Sie mir heute Morgen nichts davon erzählt? Ich hatte Sie gewarnt!" „Das Bijou ist das Logen-Erkennungszeichen, der Schurz ein Teil der freimaurerischen Bekleidung, beides wird erst unmittelbar vor Beginn einer Arbeit angelegt. Tut mir leid, daß ich vergessen habe, Ihnen davon zu erzählen. Ich hielt es aber auch für nicht so wichtig." „Die Beurteilung dessen, was wichtig ist und was nicht, überlassen Sie gefälligst mir. Befand sich außer dem freimaurerischen Gedöns sonst noch was in der Hutschachtel?" -38-
„Nein." „Egal. Ich schicke Ihnen gleich einen Beamten vorbei, um die Sachen abzuholen, und ich verlange, daß Sie ihm alles vollständig mitgeben, ob Logeneigentum oder nicht. Ist das klar?" Bernack schäumte, deshalb hatte er den letzten Satz mehr gebrüllt als gesprochen, und Kulenkampff wartete nun ein paar Augenblicke, bis er meinte, der andere hätte sich wieder etwas beruhigt. „Hören Sie, Herr Hauptkommissar, auch wenn Sie vielleicht nicht diesen Eindruck haben, mir liegt ebenso wie Ihnen sehr viel daran, daß der Mörder gefaßt wird, und ich tu alles in meiner Macht Stehende, um dabei zu helfen. Ich bitte aber um Verständnis dafür, daß ich auch an die Loge denken muß, meinen Brüdern ist schon eine ganze Menge zugemutet worden." „Und es wird ihnen noch mehr zugemutet werden, darauf können Sie Gift nehmen. Guten Tag." Bernack knallte den Hörer auf, nahm ihn wieder ab, wählte die Bereitschaft an, gab ihr den Auftrag, die Hutschachtel abzuholen und umgehend ins Labor zu bringen. Dann rief er dort an und bat um eine schnelle Untersuchung, ob die im Wagen entdeckte Faser von den Handschuhen des Ermordeten stammen könnte. Außerdem wünschte er eine baldige Information darüber, welche Firmen aus dem gefundenen Stoff Handschuhe herstellten und welche Geschäfte diese im Bremer Raum verkauften. Das nächste Telefonat führte er mit Ingeborg Westermann, der Sekretärin von Ansberg, deren Nummer er in der Akte ihres ehemaligen Chefs fand. Sie war zu Hause, arbeiten konnte sie ja auch nicht, und so verabredete er sich sofort mit ihr. Eine halbe Stunde später klingelte er bei der Frau an der Wohnungstür. Sie öffnete einen Spalt, ließ sich den -39-
Dienstausweis zeigen, bat den Hauptkommissar dann herein und im Wohnzimmer Platz zu nehmen. Sie war etwa Anfang vierzig und machte einen gefaßten, resoluten Eindruck. Bernack lehnte den angebotenen Kaffee dankend ab. Er dachte auf einmal daran, wie oft er schon in vergleichbaren Situationen gewesen war, wie oft er schon die gleichen stereotypen Fragen gestellt, und wie oft, oder wie selten, ihn das letztendlich weitergebracht hatte. Routine, nichts als Routine! Aber auch wenn ihm dieser Gedanke nicht sonderlich gut gefiel, der Anteil der rein routinemäßigen Ermittlung bei der Aufklärung eines Verbrechens, der weit mehr umfaßte als solche Besuche wie bei der Sekretärin, konnte gar nicht hoch ge nug angesiedelt werden. Also begann er das Gespräch: „Bitte schildern Sie mir den Toten in Ihren eigenen Worten. Wie war Helmut Ansberg als Mensch?" „Ich bin fast fünfzehn Jahre bei ihm angestellt gewesen und kannte ihn nur als immer korrekten und gewissenhaften Herrn. Um einem eventuellen Mißverständnis vorzubeugen, ich rede nicht von einem pedantischen Erbsenzähler. Er war stets hilfsbereit und liebenswürdig. Was ist das nur für eine Welt, in der die Besten auf eine so brutale Weise abgeschlachtet werden?" Der Hauptkommissar fragte sich, wie weit die angesprochene `Liebenswürdigkeit´ wohl konkret mit Frau Westermann gegangen war, formulierte aber ganz unverfänglich: „Wieviel wissen Sie über sein Privatleben? Er war zwar nicht verheiratet, hatte aber doch sicher eine Freundin, oder?" „Tut mir leid, ich habe mich nie in das Privatleben von Herrn Ansberg eingemischt, kann Ihnen in dieser Hinsicht also nicht dienen. Das gleiche galt übrigens auch für ihn, ich sage das nur, damit Sie nicht auf falsche Gedanken kommen." „Entschuldigen Sie vielmals, ich wollte nichts angedeutet haben. Ich versuche nur, mir ein Bild von dem Ermordeten zu -40-
machen, und Sie als seine langjährige engste Mitarbeiterin müssen doch mitgekriegt haben, ob es eine Frau in seinem Leben gab?“ „Soviel ich weiß, nicht. Aber wie bereits erwähnt, ich habe mich in das Privatleben von Herrn Ansberg nie eingemischt.“ „Wissen Sie denn irgend etwas über seine Hobbys? Wie hat er seine Freizeit gestaltet?“ „Herr Ansberg hat schwer und viel gearbeitet. Daneben hat er sich eigentlich nur noch für seine Freimaurerei und die Oper interessiert.“ Bernack sah ein, daß er hier nicht weiterkam und wechselte das Thema: „Kommen wir zu seiner beruflichen Tätigkeit. Womit genau hatte er zu tun, und wie steht es um die Ertragslage des Geschäfts, ich meine: ist die Firma wirtschaftlich gesund?" „Die Unternehmensberatungsgesellschaft von Herrn Ansberg hatte oder hat, denn rein rechtlich gesehen existiert die Firma ja noch, hauptsächlich mittelständische Industrieund Handwerksbetriebe als Klienten, und zwar nicht nur aus dem Bremer Raum, sondern in einem beträchtlichen Maße auch aus den neuen Bundesländern. Wir haben vornehmlich deren Lohnbeziehungsweise Gehaltsabrechnungen sowie die mo natlichen Buchführungsaufgaben gemacht. Und was die finanzielle Lage des Geschäfts betrifft: So weit wie ich das beurteilen kann, ist sie sogar mehr als nur gesund. Immerhin konnten wir es uns leisten, Klienten abzulehnen." „Von dieser Materie verstehe ich überhaupt nichts. Wären Sie bereit, sich morgen früh mit einem Kollegen von mir, der mehr Ahnung hat, in der Martinistraße zu treffen und ihm behilflich zu sein?" „Von mir aus gern." „Gut, dann versuche ich jetzt sofort, einen Termin -41-
abzumachen." Mit diesen Worten zog Bernack sein Handy heraus und telefonierte mit Hermann Kramnick aus der Abteilung Wirtschaftskriminalität. Dieser war einer der ganz wenigen Leute auf der Diens telle, die ihm zumindest einen Anflug von Sympathie entgegenbrachten, und so gelang es dem Hauptkommissar auch, ihn zur Mitarbeit zu bewegen. Er beendete sein Telefonat, steckte das Handy weg und wandte sich wieder an die Sekretärin: „Alles klar, der Kollege kommt um neun. Wer war der Rechtsanwalt von Herrn Ansberg? Und wissen Sie, ob er ein Testament hinterlassen hat?" „Von einem Testament ist mir nichts bekannt, aber so wie ich ihn einschätze, hat er sicherlich Vorsorge getroffen. In juristischen Dingen ließ er sich immer von Herrn Biermann vertreten, der seine Kanzlei in der Sögestraße hat und meines Erachtens ebenfalls Freimaurer ist." Bernack brauchte sich den Namen nicht zu notieren, Werner Biermann war einer der sieben Zwerge. „Zwei Fragen noch. Hatte sich der Tote durch seine berufliche Tätigkeit Feinde gemacht? Und ist er Ihnen in den vergange nen Tagen irgendwie nervös oder beunruhigt erschienen?" „Da kann ich Ihnen leider nicht helfen. Von Feinden weiß ich nichts, und daß er sich zuletzt anders beno mmen hätte, ist mir nicht aufgefallen." Der Hauptkommissar bedankte sich und verließ die Wohnung von Frau Westermann. Wie befürchtet, war er kaum einen Schritt weitergekommen, und das, obwohl er sich für seine Verhältnisse ungeheuer freundlich gezeigt hatte, wie ihm jetzt auffiel. Daß man Ansberg für einen vorbildlichen Christenmenschen hielt, das hatte er schon den schriftlich festgehaltenen Aussagen der Logenbrüder entnommen, die sich, zumindest teilweise, wie richtige Lobeshymnen lasen. Aber war -42-
der Ermordete wirklich so herzensgut, so ganz ohne Schattenseite und schwere Fehler gewesen? Bernack hatte solch einen Mann, und desgleichen solch eine Frau, noch nie kennengelernt und wollte daher auch im Falle Ansbergs nicht daran glauben. Er konnte sich einfach, wie der Sekretärin gegenüber erwähnt, noch kein rechtes Bild von dem Toten machen, hoffte darauf, daß der Kollege morgen früh in der Martinistraße in den Geschäftsunterlagen etwas Interessantes finden würde, und er selbst jemanden, der auch über Ansbergs Privatleben Näheres mitzuteilen wußte. Der Hauptkommissar hatte die Akten der sieben Zwerge in seinem Auto. Er ging sie durch und stieß dabei auf das Protokoll der Vernehmung von Joachim Glaubitz, welcher ange geben hatte, auch außerhalb der Loge einen regen freundschaftlichen Kontakt zu Ansberg gehabt zu haben. Glaubitz wohnte und arbeitete fast am anderen Ende der Stadt. Um sicher zu gehen, daß der Freimaurer auch da war, nahm Bernack sein Handy und wählte als erstes die Nummer von dessen Firma. Dort meldete sich bloß der Anrufbeant worter. Dann probierte der Hauptkommissar es zweimal mit dem privaten Anschluß, bekam aber jedes Mal nur das Besetztzeichen zu hören. Darum entschloß er sich, einfach so aufzubrechen und den Bruder zu überraschen. Das war eine Fehlentscheidung, denn als Bernack gegen siebzehn Uhr zwanzig ankam, erfuhr er von der Ehefrau, daß Glaubitz schon am Mittag auf Geschäftsreise gegangen war und erst morgen Abend zurückerwartet wurde. Er ärgerte sich über die leichtfertig vergeudete Zeit, spielte kurz mit den Gedanken, noch ins Büro zu fahren oder das Haus von Ansberg zu durchsuchen, tat dann aber weder das eine, noch das andere, weil er zu der Überzeugung gekommen war, nichts Wesentliches mehr ausrichten zu können. Außerdem hatte er -43-
heute genug geleistet und immerhin schon einen Verdächtigen überführt. Also trat er seinen Heimweg an. Der Hauptkommissar duschte, aß zu Abend und setzte sich dann vor seinen Schachcomputer. Es gelang ihm aber nicht, sich so richtig zu konzentrieren, deshalb war er auch chancenlos gegen den elektronischen Gegner, gab nach drei verlorenen Partien auf und beendete mißgestimmt seinen Tag.
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5. Kapitel
Gerd Hanser hatte keine besonders gute Nacht hinter sich, denn natürlich ließen ihn die gerade erlebten Geschehnisse nicht in Ruhe, sondern beschäftigten ihn auch weiterhin, und so war nach seinem Zubettgehen noch eine geraume Zeit verstrichen, ehe er von einer immer größer werdenden Müdigkeit endlich überwältigt wurde. Wie in der Vergangenheit schon des Öfteren, hatte er sich aber schlafend gestellt, als seine Frau nach Hause gekommen war, denn zum einen begehrte er ihren Körper nicht mehr, zum anderen verspürte er auch nicht die geringste Lust, mit ihr zu reden. Jetzt am Frühstückstisch ging aber kein Weg an einer Unterhaltung vorbei, und so berichtete er ihr in groben Zügen, daß sein Bruder ermordet worden war und was sich im Logenhaus danach abgespielt hatte. Er gab sich wieder tief geschockt, um nicht allzulange erzählen zu müssen und stand bald auf. Um acht Uhr dreißig betrat er seine Geschäftsräume, erklärte der Sekretärin, nicht gestört werden zu wollen, ging in sein Büro und rief Kulenkampff an. „Guten Morgen, Günter, hier ist Gerd. Wie geht es dir?" „Wie wohl? Und dir?" „Ich bin immer noch erschüttert und kann es nicht fassen. Hast du dich mit dem Beamtenrat zusammengesetzt?" „Zusammengesetzt haben wir uns schon, aber gebracht hat es nichts, wie sollte es auch. Wir treffen uns heute Abend noch mal." „Wenn ihr Unterstützung benötigt, bin ich selbstverständlich gern bereit, euch zu helfen." „Vielen Dank für das Angebot. Möglicherweise komme ich -45-
darauf noch zurück, im Moment glaube ich aber nicht, daß du viel tun kannst." Hanser wollte unbedingt mit der Schwester des Toten Kontakt aufnehmen und hatte gehofft, daß Kulenkampff ihn darum bitten würde. Da das jedoch nicht geschehen war, mußte er das Gespräch jetzt selbst in die gewünschte Richtung lenken, allerdings ohne zu aufdringlich oder zu interessiert zu wirken. „Hat eigentlich schon jemand bei der Schwester von Helmut angerufen? Ich meine, nicht irgendeiner von der Polizei, sondern einer aus der Loge. Es ist doch unsere Pflicht, nicht zuletzt auch Helmut gegenüber, sich um sie zu kümmern." „An die habe ich gar nicht mehr gedacht. Mein Gott, du hast natürlich recht. Könntest du das nicht übernehmen?" „Selbstverständlich. Hast du die Telefonnummer der Frau?" „Nein, aber unser Bruder Sekretär hat sie." „Gut, dann hol' ich sie mir von ihm. Tschüs Günter." „Tschüs Gerd." Hanser tat wie besprochen, rief dann Sabine Heid mühl, die Schwester des von ihm Ermordeten an und bekundete ihr sein Beileid. Sie wollte gerade nach Bremen aufbrechen und war dankbar dafür, daß sich jemand bereit erklärte, ihr zur Seite zu stehen. Die beiden verabredeten sich für elf Uhr drei-ßig in Ansbergs Haus. Nachdem Hanser aufgelegt hatte, widmete er sich dem immer noch ungeklärten Problem der Entsorgung seiner blutbefleckten Klamotten. Auf seinem Grundstück durften sie nicht bleiben, soviel war sicher. Sie zusammen mit dem normalen Ab fall in die Tonne zu tun und von der Müllabfuhr wegbringen zu lassen, war die einfachste Lösung, erschien ihm aber zu riskant. Er konnte sie natürlich auch selbst verbrennen oder woanders vergraben. Dazu mußte er sich allerdings eine einsame Stelle auf dem Lande suchen und lief trotzdem Gefahr, überrascht zu werden. -46-
Nein, diese Alternative hatte er schon letzte Nacht verworfen, sie war ebenfalls zu riskant! Hansers Verstand arbeitete logisch und präzise. Er brauchte einen Platz, wo er die Sachen loswurde, ohne sich verdächtig zu machen, und dafür fand er auch eine Möglichkeit, nämlich die Blocklanddeponie. Er mußte nur noch herausbekommen, welche Art von Müll dort hingebracht werden konnte und sich solch alten Krempel beschaffen. Also telefonierte er mit den Bremer Entsorgungsbetrieben und bekam die Information, daß er auf dem nachgefragten Gelände eigentlich fast alles völlig unproblematisch abladen durfte, nur beim Sondermüll war es etwas komplizierter. Hanser hatte in seiner Garage noch einen Rest Teppichboden und drei kleine kaputte Fenster stehen. Diesen Kram wollte er morgen wegbringen - selbstverständlich mit seinen besudelten Klamotten, die er auf der Blocklanddeponie ohne aufzufallen bestimmt irgendwo verscharren oder vernichten konnte! Noch besser wäre es gewesen, wenn er das heute schon hätte erledigen können, aber am Nachmittag gab es hier im Büro ein wichtiges geschäftliches Treffen, das sich nicht absagen ließ, und auf das er sich zudem noch vorbereiten mußte. Deshalb zwang er sich jetzt knapp anderthalb Stunden lang zur Arbeit an dieser beruflichen Aufgabe. Dann wurde der Anruf von einer Frau zu ihm durchgestellt, die außer sich war, und von der Sekretärin nicht abgewimmelt werden konnte. „Heidmühl. Guten Morgen, Herr Hanser. Ich gelange nicht in das Haus meines Bruders hinein. Ich besitze zwar einen eige nen Schlüssel, aber die Türen sind versiegelt." „Haben Sie schon mit der Polizei gesprochen?" „Die Dame von der Kripo, die mir gestern Abend die traurige Nachricht vom Tod meines Bruders übermittelt hat, ist nicht zu erreichen, und ansonsten fühlt sich niemand zuständig. Ich finde, das ist ein Skandal. Was soll ich denn jetzt machen?" -47-
„Von wo aus rufen Sie an?" „Ich stehe hier mit dem Handy vor der Villa in der Marcusallee." „Warten Sie dort. Ich bin in zehn Minuten bei Ihnen. Bis gleich." „Ja, bis gleich. Und vielen Dank." Hanser machte sich sofort auf den Weg und bedachte im Auto seine weitere Vorgehensweise. Einerseits wäre es gut, wenn er der Polizei gegenüber sehr energisch auftreten würde, um es der Frau zu ermöglichen, in das Haus ihres Bruders zu kommen, denn so konnte er bestimmt ihr Vertrauen gewinnen. Andererseits hatte er auch größtes Interesse daran, eher im Hintergrund zu bleiben und nicht aufzufallen. Er entschloß sich, zunächst einmal zurückhaltend für die Belange der Schwester einzutreten. Sabine Heidmühl war Ende dreißig und hatte viel Ähnlichkeit mit ihrem Bruder. Sie trug ein schwarzes Kostüm, war nur dezent geschminkt und wirkte auf Hanser ungemein sexy und anziehend. Ursprünglich wollte er sie nur dazu bringen, ihn den Nachlaß des Toten verwalten zu lassen, um an vielleicht noch vorhandene, ihn belastende Unterlagen zu kommen. Jetzt fragte er sich aber, ob es nicht mehr zu erringen gab - mit einer so attraktiven Frau bloß Geschäfte zu machen, wäre nämlich wirklich jammerschade gewesen. Er begrüßte sie, sprach erneut sein Beileid aus und lud sie dann in das ganz in der Nähe gelegene Café Goedeken ein, wo man sich besser unterhalten konnte als hier, auf sozusagen offener Straße. Er fuhr vorweg und die Schwester folgte ihm im eigenen Auto. Im Café setzten sie sich an einen Fensterplatz und bestellten zu trinken. Hanser eröffnete das Gespräch: „Ich kannte Ihren Bruder seit sechs Jahren. Wir hatten hauptsächlich in und wegen der Loge miteinander zu tun und -48-
erst jetzt, nach seinem tragischen Tod, ist mir bewußt geworden, wieviel uns eigentlich verbunden hat. Im Moment herrscht so etwas wie eine Leere in meinem Leben, deshalb täte es auch mir gut, wenn ich Ihnen helfen könnte... Aber verzeihen Sie, ich Narr spreche von mir, dabei muß Ihr Schmerz noch viel größer sein." „Sie brauchen sich wirklich keine Vorwürfe zu machen. Es ist sehr tröstlich für mich, mit einem Menschen zusammenzusein, dem Helmut so nahe stand." Die beiden schwiegen für längere Zeit, dann ergriff die Schwester wieder das Wort: „Bitte erzählen Sie mir alles, was Sie über den Tod meines Bruders wissen." „Da gibt es nicht viel zu berichten. Ich bin gestern Abend kurz vor acht ins Logenhaus gekommen, da wimmelte es schon von Polizisten. Wie man mir sagte, wäre Helmut im Tempel erschlagen worden. Über den Täter und sein Motiv weiß man wohl noch nichts, die Kripo scheint aber davon auszugehen, daß der Mörder unter uns Freimaurern zu suchen ist, was ich mir übrigens nicht vorstellen kann. Ich bin kurz vernommen worden und mußte die üblichen Auskünfte geben. Dann habe ich mich noch mit einigen Brüdern unterhalten, das heißt, eine Unterhaltung hat es eigentlich gar nicht gegeben. Wir waren alle viel zu bestürzt und mit unserer eigenen Betroffenheit und Trauer beschäftigt, um klare Gedanken fassen, geschweige denn aussprechen zu können. Die ganze Situation war so schrecklich, daß ich schon bald nach Hause gefahren bin." „Haben Sie einen Verdacht?" „Nein, keinen blassen Schimmer. Helmut war überall beliebt, er hatte keine Feinde." „Offensichtlich doch." Niemand wußte besser als Hanser, daß das stimmte. Aber niemand hatte auch mehr Interesse daran als Hanser, daß das ein -49-
Geheimnis blieb. Vorsichtig kam er nun auf das für ihn wichtige Thema zu sprechen: „Die Bestattung wird voraussichtlich Anfang nächster Woche sein. Ich bin mir sicher, daß es eine freimaurerische Trauerfeier geben wird, so wie Helmut es sich gewünscht hätte. Sie brauchen sich diesbezüglich also um nichts zu kümmern. Sie müßten sich allerdings langsam Gedanken darüber machen, was mit dem Haus und der Firma Ihres Bruders geschehen soll. Ich weiß, daß Ihnen das jetzt schwerfällt, aber zum einen geht doch kein Weg daran vorbei, und zum anderen hilft Ihnen diese Ablenkung vielleicht, mit dem Verlust besser fertig zu werden. Selbstverständlich stehe ich Ihnen jederzeit zur Verfügung, als Kaufmann kenne ich mich da bestens aus." „Das ist sehr freundlich, ich nehme Ihr Angebot dankend an. Wir sollten wohl nun als erstes zur Polizei fahren, um herauszukriegen, wann ich in das Haus meines Bruders kann. Dann muß ich mir ein Hotel suchen, Sie können mir doch bestimmt eins empfehlen, oder?" „Sie möchten nicht in der Marcusallee übernachten? Auch dann nicht, wenn die Polizei Sie noch heute in die Villa läßt?" „Nein. Das heißt: vorhin wollte ich es schon und war empört darüber, daß ich nicht hinein kam. Inzwischen konnte ich allerdings ein bißchen nachdenken und glaube, daß es keine so gute Idee wäre, wenn ich mich inmitten all' der Sachen bewegen müßte, die ständig an Helmut erinnern." „Sie haben wohl recht. Aber ins Hotel brauchen Sie trotzdem nicht. Sie kommen mit zu mir, Platz genug ist vorhanden." Hanser erhob sich, zahlte am Tresen, öffnete der Frau die Tür und folgte ihr nach draußen. Er war sehr einverstanden mit der Entwicklung der Dinge, denn er hatte die Schwester ge nau dorthin bekommen, wo er sie wegen der Nachlaßverwaltung haben wollte und außerdem bei sich zu Hause unter Kontrolle. -50-
Seine privaten sexuellen Ambitionen mußte er natürlich noch zurückstellen, denn wenn er zu schnell vorpreschen würde, konnte er alles gefährden. Und so attraktiv war keine Frau auf der Welt, als daß er für sie bereit gewesen wäre, für viele Jahre ins Gefängnis zu gehen. Wenn erst einmal alles durchgestanden war, blieb ihm ja auch noch ausreichend Zeit für amouröse Abenteuer. Sie fuhren zur Kripo, brachten jedoch bloß in Erfahrung, daß der Hauptkommissar Bernack die Versiegelung angeordnet hatte, und zwar nicht nur vom Haus, sondern auch von der Firma, und daß allein er sagen könnte, wie lange sie dauern würde. Da der Beamte aber weder anwesend noch über Funk oder Handy erreichbar war, hinterließ Hanser seine Telefonnummer, erklärte, daß die Schwester des Ermordeten für ein paar Tage bei ihm wohnen werde und bat um eine Benachrichtigung darüber, wann die versiegelten Räumlichkeiten denn wieder zugänglich wären. Im Anschluß daran lud er sie in ein teures Restaurant ein, um zu Mittag zu speisen. Eine richtige Unterhaltung kam dabei allerdings nicht zustande, denn jeder der beiden weilte, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, in Gedanken bei dem Toten. Nach dem Essen begaben sie sich in die Hollerallee, wo Hanser die Schwester mit seiner Frau bekannt machte, sich gleich darauf wieder in den Wagen setzte und in seine Firma fuhr. Er hatte es am Vormittag nicht geschafft, sich so gewissenhaft auf seinen um fünfzehn Uhr dreißig anstehenden Termin vorzubereiten, wie er das normalerweise tat. Doch so wichtig diese Verabredung auch sein mochte, Sabine Heidmühl war für ihn in seiner momentanen Lage noch viel wichtiger. Deshalb ärgerte er sich auch nicht über die verlorene Zeit, sondern beschäftigte sich so konzentriert wie möglich mit den -51-
Vertragsentwürfen, die gleich verhandelt werden sollten. Tatsächlich gab es dann auch kaum Probleme, und so wurde er sich mit seinen Gesprächspartnern ziemlich schnell einig. Bevor er um zwanzig vor sechs Feierabend machte, versuchte er noch mit Günter Kulenkampff zu telefonieren, der Meister vom Stuhl war aber weder unter seiner beruflichen noch unter seiner privaten Nummer an den Apparat zu bekommen. Bislang gestaltete sich der Ablauf dieser gefährlichen Geschichte für Hanser trotzdem ausgesprochen positiv. Er hatte für heute alles getan, was in seiner Macht stand, deshalb verließ er das Büro, trat seinen Heimweg an und verbrachte den Abend zusammen mit seiner Frau und der Schwester. Sie aßen erst eine Kleinigkeit und setzten sich danach ins Wohnzimmer. Die Unterhaltung wurde hauptsächlich von den beiden Frauen bestritten, drehte sich aber nur anfangs um den Toten. Als die zwei sich mehr und mehr anderen Dingen widmeten, `Weiberthemen´, wie Hanser im Stillen dachte, verabschiedete er sich innerlich, blieb allerdings höflich so lange sitzen, bis sein Gast erklärte, müde zu sein und sich zurückzog. Jetzt konnte auch er endlich ins Bett gehen.
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6. Kapitel
Carl Bernack fuhr am Freitag Morgen in seine Dienststelle, parkte den Wagen, ließ seinen Assistenten ausrichten, auf ihn zu warten und ging dann zu Fuß in die Sögestraße, um Werner Biermann in dessen Sozietät zu besuchen. Der Hauptkommissar mußte sich fünf Minuten gedulden, dann wurde er in das Zimmer des Rechtsanwaltes vorgelassen. Werner Biermann war nur gut eins sechzig groß, hatte aber einen enormen Bauch, der Wohlstand und Genußfreudigkeit anzeigte. Ursprünglich kam er aus dem Rheinland, der kaum wahrnehmbare Akzent erinnerte aber bloß noch leise daran. Die Lachfalten im Gesicht bewiesen zwar ebenso wie die Leibesfülle, daß er nach wie vor eine echte Frohnatur war, seine ernste Miene ließ jetzt jedoch nur wenig Zweifel daran, daß er heute keine Lust auf Späßchen hatte. Er begrüßte Bernack und bat ihn, Platz zu nehmen. „Ich kann mir schon denken, weshalb Sie gekommen sind. Mein Gott, Helmut Ansberg war ein so guter Mensch, ein so vornehmer Charakter, vielleicht `die´ Seele unserer Loge überhaupt. Und jetzt liegt er dahingemeuchelt irgendwo im Leichenschauhaus, ich kann es einfach nicht fassen! Helmut stand mit Rat und Tat immer zur Seite. Wenn jemand ein Problem hatte - er ging zu Helmut. Nie hätte der seine Hilfe verweigert und einen im Stich gelassen. Wer ist zu solch einer schrecklichen und sinnlosen Tat bloß fähig? Helmut hatte doch überhaupt keine Feinde. Er... " Der Rechtsanwalt redete noch eine geraume Weile in diesem Ton weiter, und Bernack unterbrach vorerst nicht, um ein genaueres Bild von ihm zu bekommen. Irgendwann wurde es dem Hauptkommissar allerdings doch zu bunt, deshalb griff er ein: -53-
„Entschuldigen Sie, aber im Gegensatz zu Ihnen bin ich Beamter, erhalte mein Geld vom Steuerzahler und habe nicht viel Zeit. Hat Helmut Ansberg ein Testament hinterlassen, und wenn ja, wer tritt nun das Erbe an?" Biermann schaute ein bißchen pikiert und antwortete: „Der Tote war Zeit seines Lebens ein äußerst gewissenhafter Mensch. Natürlich hatte er seinen Nachlaß geregelt. Eine nicht ganz unerhebliche Summe des Barvermögens geht an die Loge, den weitaus größten Teil plus Firma, plus Wohnhaus erhält allerdings seine Schwester." „Da wird sie sich aber freuen." „Das glaube ich kaum. Sabine Heidmühl ist seit über zehn Jahren mit einem schwerreichen Hamburger Reeder verheiratet." „Was überhaupt nichts bedeuten muß. Egal, lassen wir dieses Thema. Sagen Sie mir lieber genau, was Sie vorgestern Abend zwischen sechs und halb acht getan haben." „Ich war allein in meinem Büro, weil ich momentan ein paar besonders heikle Fälle bearbeite, die einiges an Überstunden erfordern, auch für meine Mitarbeiterinnen. Diese sind am Mittwoch zwar ebenfalls länger hier geblieben, aber nur bis ungefähr siebzehn Uhr." „Haben Sie in der fraglichen Zeit Anrufe bekommen oder können Sie sonst irgendwelche Zeugen für Ihre Aussage benennen?" „Tut mir leid. Das kann ich nicht." „Womit Sie dann wohl zu den Verdächtigen gehören." Biermann war so entrüstet über diese Äußerung, daß sich seine Stimme, als er zur Entgegnung ansetzte, fast überschlug: „Aber das ist doch lächerlich! Warum sollte ich Helmut denn ermordet haben?" „Warum weiß ich nicht. Aber wenn Sie es waren, finde ich es heraus." -54-
Bernack stand ganz ruhig auf, verabschiedete sich mit einer kurzen Geste und ließ einen verstörten Rechtsanwalt zurück. Er freute sich darüber, den anderen geärgert und aus der Fassung gebracht zu haben. Für den gesuchten Täter hielt er ihn aber nicht, denn auf Grund seiner Statur hätte Biermann, wenn die Analyse des Gerichtsmediziners stimmte, schon wie eine Art Rumpelstilzchen auf dem Sarg stehen müssen, um den Mord auszuführen. Darüber hinaus schätzte der Hauptkommissar ihn auch gar nicht als den Menschen ein, der fähig war, jemanden kaltblütig zu erschlagen. Er sah in ihm eine zwar nervige, letztendlich jedoch harmlose Plaudertasche, einen `Schwadlappen´, wie man in Köln wohl sagte, und glaubte, daß dessen Trauer und Empörung aufrichtig waren. Andererseits hatte Bernack zu oft Pferde vor der Apotheke kotzen gesehen, um den Rechtsanwalt schon jetzt für unschuldig zu erklären. Er beschloß daher, ihn vorerst in Ruhe zu lassen, aber noch nicht endgültig aus der Liste seiner Verdächtigen zu streichen. Der Hauptkommissar trank noch einen Kaffee in der Sögestraße und ging dann zurück ins Präsidium. Als er um neun Uhr zwanzig das Büro betrat, waren seine beiden Assistenten ins Aktenstudium vertieft. Sie erhoben sich, kamen zum Schreibtisch ihres Vorgesetzten und warteten auf Anweisung. Bernack drehte sich eine Zigarette und tat so, als müsse er sich erst noch mit anderen Dingen beschäftigen, beobachtete die zwei jedoch aus den Augenwinkeln. `Brav wie Herdentiere´, dachte er, zumindest Neukirch betreffend, `brav, aber leider nicht sehr fähig´. Auf die Idee, daß er selbst ein gerüttelt Maß zu dieser devo ten Haltung seiner Untergebenen beigetragen hatte, kam er nicht. „Nun gut, meine Lieben, dann wollen wir mal. Was haben Sie herausgefunden, Neukirch?" Der Angesprochene blickte auf den Zettel in seiner Hand und antwortete: -55-
„Neptun zu den Alten Pflichten. Hat neununddreißig Mitglieder. Davon waren achtzehn am Mittwoch Abend. In der Loge. Vier Brüder leben schon seit längerer Zeit nicht mehr. In der Nähe von Bremen. Habe unsere Kollegen an deren Wohnorten. Um Amtshilfe gebeten. Aber noch keine Nachricht gekriegt. Sechs Mitglieder sind sehr alt. Müssen gepflegt werden. Scheiden also als mögliche Täter aus. Drei weitere. Befanden sich auf Geschäftsreise. Zwei im Urlaub. Das ist nachgewiesen. Von den letzten fünf. Haben vier ein Alibi. Bleibt also einer. Übrig." Der Hauptkommissar sah sofort, daß er seinen Assistenten durch diese Zahlen in eine Falle locken konnte. Deshalb hakte er auch, gehässig wie er war, auf der Stelle nach: „Rechnen Sie das noch einmal durch." „Was?" Bernack seufzte: „Achtzehn plus vier plus sechs plus drei plus zwei plus fünf macht... Können Sie das im Kopf oder brauchen Sie einen Taschenrechner?" Neukirch fing an zu glühen, er addierte fieberhaft. „Achtunddreißig. Sie haben recht. Ein Bruder fehlt." „Wer könnte das wohl sein?" Der Hauptkommissar schaute gespannt auf seinen Untergebenen und ergänzte: „Darf ich Ihnen einen Tip geben? Der Freimaurer, den Sie suchen, hat ein fürchterlich entstelltes Gesicht." Dem Assistenten ging ein Licht auf, er strahlte: „Natürlich. Hatte Ansberg. Nicht mitgezählt." Steter verdrehte die Augen wegen dieser, wie sie fand, völlig überflüssigen Verspottung ihres Kollegen, aber Bernack grinste hämisch und entgegnete: -56-
„Schön, daß Sie das selbst geschafft haben. Was ist mit den Bridgespielern und den Nachbarn?" „Fehlanzeige. Der Bridgeclub: War vollzählig versammelt. Hatten an dem Tag nämlich ihre Vereinsmeisterschaft. Konnte noch nicht mit allen Kartenspielern sprechen. Aber die. Die ich erreicht habe. Sagen. Daß ihnen nichts Besonderes aufge fallen ist. Länger als zwei, drei Minuten. War wohl niemand weg. Zum Klo oder so. Der Gastwirt und seine Frau. Kommen ebenfalls nicht. Als Täter in Frage. Zuviel zu tun. Wurde mir jedenfalls erzählt. Und die Nachbarn. Die Mittwoch zu Hause gewesen sind. Auch von ihnen. Hat keiner etwas bemerkt." „Okay, wenn es uns gelingt, peu à peu einen Verdächtigen nach dem anderen auszuschließen, dann bleibt zum Schluß ja nur noch ein Kandidat übrig. Und der wird bestimmt sofort gestehen, nicht wahr, Neukirch? Wir sollten diesen Prozeß aber ein wenig beschleunigen. Sie kümmern sich deshalb um den abwesenden Bruder ohne Alibi und den Rest der Zockerbande, vielleicht hat doch noch einer etwas gesehen oder gehört. Jetzt zu Ihnen, Fräulein Steter. Was gibt es Neues?" „Bevor ich Sie darüber informiere, was ich in Erfahrung gebracht habe, noch eine andere Sache: Herr Hanser war gestern in Begleitung von Frau Heidmühl, der Schwester des Toten, hier. Sie bitten um einen Anruf und möchten gern wissen, wann die Dame in das Haus ihres Bruders darf." „Ist die Lady bei Hanser untergeschlüpft?" „Es sieht so aus." „Hat sie einen Schlüssel für die Villa in der Marcusallee?" „Ja. Sie erwähnte es, als ich ihr am Telefon die schreckliche Neuigkeit vom Tod ihres Bruders eröffnete." Bernack überlegte einen Moment lang. Die Durchsuchung von Ansbergs Büro lag in kompetenten Händen und das Wohnhaus wollte er sich eigentlich selbst vorknöpfen. Wenn die -57-
Schwester aber anwesend sein sollte, wäre es doch wohl besser, wenn diese Aufgabe eine Frau, also Steter übernähme. Dachte er zumindest. Tatsächlich hatte er nur keine Lust, sich neben seiner Arbeit auch noch mit einem möglicherweise `hysterischen Weibsbild´ abzugeben. Deshalb erklärte er seiner Assistentin: „Die Schwester darf nur unter der Bedingung in die Villa, daß Sie mitgehen und sie gründlich durchstöbern. Halten Sie Ausschau nach Briefen, Notizen, Akten oder Dokumenten, und falls Sie einen PC finden, machen Sie sich von allen Ihnen wichtig erscheinenden Dateien eine Kopie. Denken Sie daran, genügend Disketten einzustecken, sonst müssen Sie noch Frau Heidmühl losschicken, um welche zu kaufen, und das käme nicht so gut." „Bräuchte ich nicht einen Durchsuchungsbefehl?" „Streng rechtlich gesehen wohl. Da der Eigentümer aber nicht mehr protestieren kann und seine Schwester unbedingt in das Haus hinein will, wird sie, wie ich annehme, einverstanden sein. Ansonsten hat sie halt zu warten. Apropos Schwester, sie soll in Hamburg mit einem reichen hanseatischen Pfeffersack verheiratet sein und in Geld nur so schwimmen. Überprüfen Sie das." In diesem Moment wurde der Hauptkommissar vom Klingeln des Telefons unterbrochen. Neukirch nahm ab und gab den Hörer gleich weiter an seinen Chef. „Labor." Bernack übernahm und erfuhr, daß die im Auto gefundene Faser nicht von Ansbergs Handschuhen stammte, daß es bloß in Süddeutschland eine Firma gab, die aus diesem ziemlich hochwertigen Stoff Handschuhe herstellte, und daß nur der Herrenausstatter Zechbauer in der Hutfilterstraße hier damit beliefert wurde. Er legte auf, ohne sich zu bedanken, informierte seine Untergebenen und fuhr mit seinen Anweisungen fort: „Bevor Sie sich mit der Schwester verabreden, Steter, fahren -58-
Sie bei Zechbauer vorbei. Das ist ein edler und nicht ganz billiger Laden. Die Handschuhe des Mörders haben bestimmt Blut abbekommen, er braucht also neue, und da er augenscheinlich gewisse Ansprüche besitzt, kann es gut sein, daß er dort schon welche gekauft hat oder noch kaufen wird." Die Assistentin hatte einen Einwand: „Bei seiner Aufnahme in den Bund empfängt jeder Freimaurer zwei Paar weiße Handschuhe, eins für sich und das andere für seine Ehefrau oder Lebensgefährtin, wie ich gestern gelesen habe. Von daher könnte es schon sein, daß der Mörder noch über eine Reserve verfügt." „Das könnte in der Tat so sein, muß aber nicht. Außerdem glaube ich kaum, daß die neu aufgenommenen Brüder teure Handschuhe aus richtig gutem Material geschenkt bekommen. Und unser Mann hat offensichtlich Geschmack und den nötigen Geldbeutel dazu. Darüber hinaus sollten Sie sich den Laden schon allein deshalb einmal ansehen, um zu begreifen, weshalb Neukirch und ich immer eher wie Strauchdiebe herumlaufen." "Was ist mit der restlichen Kleidung des Mörders? Die müßte bei der Tat doch auch von einer Menge Blut besudelt worden sein?" „Wahrscheinlich ja, wir wissen aber gar nicht, was der Täter trug. Vermutlich einen Smoking oder dunklen Anzug, das sind allerdings nur Hypothesen. Einigermaßen sicher können wir uns wegen der weißen Faser am Schaft des Spitzhammers nur über die Handschuhe des Mörders sein. Und nur da können wir deshalb auch ansetzen. Jetzt erzählen Sie mir aber, was Ihre Überprüfung der Alibis ergeben hat. Danach klären Sie mich dann auf über die Geheimnisse der Freimaurerei." „Zu den Alibis gibt es nicht viel zu sagen. Sie sind alle elf hieb- und stichfest." „Das ist zwar schade, war aber zu erwarten. Machen Sie weiter." -59-
Steter schaute kurz auf den Notizblock, den sie schon die ganze Zeit in ihrer Hand hielt und hob dann an: „Die Freimaurerei ist ursprünglich wohl aus den mittelalterlichen Dombauhütten entstanden und kommt aus England. Sie existiert seit Anfang des achtzehnten Jahrhunderts. Die sogenannten Alten Pflichten, eine Art Verfassung der Freimaurerei, stammen zumindest aus dieser Zeit und gelten eigentlich noch immer, ganz viel scheint sich seitdem jedenfalls nicht geändert zu haben. Aufgenommen werden kann jeder freie Mann von gutem Ruf, unabhängig von seiner Rasse oder seinem Glauben." „Ich hatte schon einmal davon gehört, daß Frauen nicht zugelassen sind, in dieser Hinsicht ist das also ein recht sympathischer Verein. Und unser Neukirch hätte, nach dem, was Sie sagen, wohl auch keine Chance." „Darüber möchte ich mir kein Urteil erlauben." „Okay. Was ist mit mir? Würden die Freimaurer mich aufnehmen? Ich bin ein freier Mann und wenigstens als Bulle habe ich einen guten Ruf. Oder wollen Sie das bezweifeln?" „Nein, natürlich nicht." „Was heißt: `nein, natürlich nicht´?" „Das heißt, daß Sie wirklich ein erstklassiger Polizist sind." „Und Sie sich um die Beantwortung meiner Frage drücken. Möchten Sie erst einen dienstlichen Befehl?" Steter räusperte sich, holte tief Luft und erwiderte dann: „Ich denke nicht, daß Sie Mitglied einer Loge werden könnten." „Warum nicht?" Die Angesprochene nahm ihren ganzen Mut zusammen und entgegnete: „Weil Sie mit den Idealen der Freimaurerei nichts anzufangen wissen." -60-
„Welche Ideale sind das?" „In erster Linie Brüderlichkeit, Humanität und Toleranz. Die Zahl drei wird von den Freimaurern als heilig bezeichnet." „Sie halten mich demnach weder für brüderlich, noch für human, noch für tolerant." „So habe ich das nicht gesagt." „Aber gemeint." Steter senkte ihren Blick und wartete auf das Donnerwetter, von dem sie glaubte, es durch ihre Unvorsichtigkeit heraufbeschworen zu haben. Jedoch nichts dergleichen geschah. Bernack schien für ein paar Sekunden in Gedanken verloren zu sein, dann nahm er das Wort wieder auf: „Erzählen Sie weiter." „Die Freimaurer wollen nicht die Welt verbessern. Jeder Bruder soll sich aber als rauhen Stein verstehen, an dem er zu arbeiten hat. Es gibt übrigens eine ganze Menge sehr prominenter Freimaurer, zumindest gab es sie in der Vergangenheit. So gehörten unter anderem Goethe und Mozart diesem Bunde an und aus unserer Branche auch J. Edgar Hoover." „Wobei letzterer wohl nicht als Aushängeschild dienen kann." „Nein, oder vielmehr: ja." „Was treiben diese Brüder eigentlich konkret?" „Das wollte ich auch gern wissen, habe auf die Schnelle aber keine Literatur darüber gefunden und deshalb den Herrn Kulenkampff angerufen. Er sagte, daß sich die Loge Neptun zu den Alten Pflichten jeden Mittwoch trifft. Dort gibt es dann brüderliche Gespräche, Vorträge zu allen möglichen Themen, Gästeabende, um neue Männer für die Freimaurerei zu begeistern und einmal im Monat auch eine rituelle Arbeit im Tempel. Wie genau die aber abläuft, wollte er mir nicht verraten. Er sagte, daß Freimaurer darüber nicht sprechen würden, es in -61-
der Unibibliothek aber bestimmt geeignetes Material gäbe. Nur hatte ich, wie schon erwähnt, nicht genügend Zeit, um danach zu suchen. Kulenkampff meinte abschließend, daß das eben Geschilderte auf die meisten Logen Deutschlands in zumindest ähnlicher Form zuträfe. Dabei fällt mir ein, daß er mich noch danach gefragt hat, wann Ansbergs Leiche freigegeben wird. Ich erwiderte ihm, daß die Autopsie schon gemacht worden wäre und einer Freigabe demnach eigentlich nichts im Wege stünde, ich mich aber zuerst noch genau erkundigen müßte und ihn dann zurückrufen würde." Der Hauptkommissar dachte einen Moment lang nach und entgegnete dann: „Ich kann mir zwar auch nicht denken, daß es da irgendwelche Probleme gibt, klären Sie das zur Sicherheit aber noch mal mit der Staatsanwaltschaft ab. Sind Sie mit Ihrem Bericht jetzt fertig?" „Nein, zwei, drei Sachen habe ich über die Freimaurerei noch zu erzählen. Es gibt sie in allen nichttotalitären Ländern der Erde, und jeder Bruder wird in jeder Loge weltweit gern gesehen. Sie sind auch karitativ tätig, teilweise sogar in einem ganz erheblichen Umfang, hängen das, wie so vieles andere auch, aber nicht an die große Glocke, was mir, nebenbei bemerkt, besonders gefällt." „Sie scheinen sich ja richtig verliebt zu haben in diese Jungs. Schade, daß Ihnen der Zutritt für immer verwehrt bleiben wird. Oder planen Sie in nächster Zeit eine Geschlechtsumwandlung?" „Das wäre nicht nötig, es gibt ähnliche Organisationen auch für Frauen." „Genug der Lobhudelei. Halten wir fest, daß es hier einen Haufen notorischer Idealisten gibt, unter denen sich aber ein Wolf im Schafspelz versteckt hat, den wir fangen wollen. Und je eher wir unsere Hausaufgaben erledigen, desto schneller kriegen -62-
wir ihn auch. Sie wissen beide, was Sie zu tun haben. An die Arbeit." Steter und Neukirch wandten sich ab, um das Büro zu verlassen. Bernack war aber noch etwas eingefallen: „Das Wochenende steht vor der Tür. Da wir jede Menge zu tun haben, ist das für uns wahrscheinlich nicht von Belang. Trotzdem oder gerade deshalb will ich, daß Sie hier um siebzehn Uhr noch einmal erscheinen, um mich über das zu informieren, was Sie herausgefunden haben, und um eventuell neue Anweisungen entgegenzunehmen." Die beiden Assistenten nickten unisono und schwirrten ab. Der Hauptkommissar zündete sich eine Zigarette an, nahm sich die Akten der sieben Zwerge hervor, suchte die Nummer von Achim Lütt in Fischerhude heraus, rief dort an und verabredete sich mit ihm in einer dreiviertel Stunde. Er wollte eben aufbrechen, als er selbst angerufen wurde. Kulenkampff war am Apparat und bat um eine Unterredung. Sie einigten sich auf halb acht Uhr abends im Lo genhaus. `Damit habe ich ja wieder ein volles Programm´, dachte Bernack, ging zu seinem Auto und fuhr los. Lütt war, wie in seiner Akte stand, vor ein paar Jahren einmal schwer verdächtigt worden, eine Bank in Bremen ausgeraubt zu haben. Die Polizei hatte ihn damals für den Täter gehalten, es allerdings nicht geschafft, sein Alibi zu erschüttern. In diesein Fall wurde er erneut verdächtigt, besaß aber kein Alibi, und der Hauptkommissar fragte sich auf dem Weg nach Fischerhude, ob er wohl erfolgreicher sein würde als seine Kollegen. Das kleine Reetdachhäuschen des Freimaurers hatte Bernack schnell gefunden. Er klingelte, und schon nach kurzer Zeit öffnete der Hausherr die Tür und begrüßte ihn. Achim Lütt war über einen Meter neunzig groß, schlank und gut vierzig Jahre alt, trug eine Brille und rauchte. -63-
Er führte den Hauptkommissar ins Wohnzimmer und bat ihn, Platz zu nehmen. Bernack ließ sich auf dem Sofa nieder, holte Tabak und Blättchen heraus, drehte sich eine Zigarette, zündete sie an und stellte dann seine erste Frage: „Seit wann kannten Sie Helmut Ansberg?" Lütt hatte sich auf einen Stuhl gegenüber gesetzt und antwortete: „Seit ich bei den Freimaurern, also bei Neptun zu den Alten Pflichten bin, das heißt, seit etwa drei Jahren." „Gab es über das Logenleben hinaus weitere Kontakte zwischen Ihnen und dem Ermordeten?" „Ich arbeite als Fotograf und verlege Kalender. Helmut bezog für seine Firma jedes Jahr fünfzig Stück von mir, war also nicht nur mein Bruder, sondern auch mein Kunde. Ansonsten hatten wir aber bloß sehr wenig miteinander zu tun." „Ist das nicht außergewöhnlich? Immerhin gehört die brüderliche Liebe doch zu den höchsten Idealen der Freimaurerei." „Neptun zu den Alten Pflichten besteht aus ungefähr vierzig Männern, davon nimmt vielleicht die Hälfte aktiv am Logenleben teil. Wir sind keine homogene Gruppe. Wie in jedem Verein gibt es auch bei uns ganz unterschiedliche Mitglieder. Mit dem einen kann man mehr anfangen, mit dem anderen weniger." „Wenn ich Sie richtig verstanden habe, konnten Sie mit Helmut Ansberg demnach nur wenig anfangen. Sind Sie durch seinen Tod überhaupt nicht berührt worden?" „Doch, das bin ich, sehr stark sogar. Helmut war ein äußerst liebenswürdiger und hilfsbereiter Mensch, aber schon ein bißchen langweilig - wir haben weitaus interessantere Männer in der Bruderschaft, Männer, mit denen ich mich auch außerhalb der Loge treffe. Was allerdings ein Nicht-Freimaurer wohl nie -64-
verstehen wird, ist die Tatsache, daß ich Helmut trotzdem als Bruder betrachtet habe. Natürlich hat mich seine Ermordung tief erschüttert! Ich bin jedoch ein nüchterner Typ und versuche, die Dinge so zu sehen, wie sie sind. Wem würde es denn helfen, wenn ich jetzt anfinge, den Toten oder sein Leben zu verklären?" Bernack dachte einen Augenblick lang über diese Worte nach und setzte die Vernehmung dann fort: „Okay, bleiben wir bei den Fakten. Was haben Sie am vergangenen Mittwoch zwischen achtzehn und neunzehn Uhr dreißig getan?" Lütt drückte seine Zigarette im Aschenbecher aus, steckte sich sofort eine neue an und entgegnete: „Ich bin in der Bremer Innenstadt fotografieren gewesen." „War es dafür nicht schon zu dunkel?" „Nicht, wenn man mit dem Stativ arbeitet. Mir ging es um Nachtaufnahmen, beleuchtete Gebäude wie zum Beispiel das Rathaus, und Wischeffekte von sich bewegenden Personen oder Fahrzeugen." „Haben Sie irgend jemanden getroffen, der Ihre Aussage bestätigen kann?" „Nein. Sie dürfen sich zwar gerne die Fotos anschauen, wenn sie entwickelt sind, ich glaube aber nicht, daß Sie großen Wert darauf legen. Ich hätte sie ja ebensogut auch vor oder nach der Tat aufnehmen können." „Das ist mir völlig klar. Ich finde es allerdings ein klein wenig verwunderlich, daß Sie selbst mir das erzählen. Die meisten anderen in Ihrer Situation würden alles tun, um einen eventuellen Verdacht gegen sich auszuräumen. Sie offenbar nicht. Warum?" Lütt überlegte kurz und erwiderte dann: „Ich bemühe mich bloß, ehrlich zu sein. Erstens ziemt sich -65-
das für einen guten Freimaurer und zweitens möchte ich, daß Helmuts Mörder so schnell wie möglich gefaßt wird. Je eher es Ihnen gelingt, sich auf die richtige Spur zu konzentrieren, desto besser. Abgesehen davon wäre es auch dumm, Ihnen etwas vormachen zu wollen." „Die Blumen können Sie sich schenken, der Rest klingt logisch. Vielleicht versuchen Sie aber auch nur, mich zu täuschen. So nach der Devise: `Wenn ich der Täter wäre, würde ich mich doch anders verhalten´." „Vielleicht, aber aus welchem Grunde sollte ich meinen Bruder erschlagen haben?" Der Hauptkommissar lächelte. Fast die gleiche Frage war ihm bereits heute morgen gestellt worden. Er dachte daran, daß man gegen Lütt schon früher einmal ermittelt hatte und antwortete: „Möglicherweise ist Ihnen Helmut Ansberg wegen des Banküberfalls vor ein paar Jahren auf die Schliche gekommen, möglicherweise hat er Ihnen die Braut ausgespannt. Freimaurer haben so ihre Probleme mit den Frauen, denn wenn sie die nicht hätten, gäbe es neben den Brüdern doch bestimmt auch Schwestern in ihren Logen, oder?" Lütt begann ebenfalls ein wenig zu lächeln. Er griff nach der nächsten Zigarette und erklärte: „Das mit der Braut war wohl nicht so ganz ernst gemeint, und Probleme mit den Frauen haben wir doch alle. Sie etwa nicht? Was schließlich den Banküberfall anbelangt: Wenn Sie möchten, erzähle ich Ihnen gern die spannende Geschichte über meinen Doppelgänger." (*) Bernack winkte ab. „Vielleicht ein anderes Mal, jetzt hab' ich keine Zeit mehr dazu - ich muß noch weiter auf Mörderjagd." Er stand auf, verabschiedete sich und verließ das Haus, drehte sich draußen aber noch einmal um, weil er etwas vergessen -66-
hatte. „Würden Sie mir bitte Ihre weißen Handschuhe zeigen?" Lütt stand noch in der Tür und entgegnete: „Kein Problem, wenn Sie einen Moment warten?" Er machte kehrt, kam bald darauf mit recht billigen, augenscheinlich schon oft getragenen weißen Handschuhen wieder, und zeigte sie dem Hauptkommissar. Der hakte nach: „Wo befindet sich das zweite Paar, das Sie anläßlich Ihrer Aufnahme bekommen haben?" „Bei irgendeiner meiner früheren Freundinnen, ich weiß wirklich nicht mehr genau bei welcher. Wie schon erwähnt: wir haben so unsere Probleme mit den Frauen." „Das haben wir in der Tat. Aber auch darüber ein anderes Mal mehr, meinetwegen bei einem gepflegten Bier." Bernack ließ Lütt stehen, stieg ins Auto und startete. Im Wagen versuchte er, sich einen Reim auf den Fotografen zu machen. Er konnte kein Alibi vorweisen und besaß die notwendige Körpergröße, um Ansberg zu erschlagen. Außerdem hatte er während des Verhörs quasi ununterbrochen eine Zigarette im Mund oder in den Fingern gehabt, was vermutlich bedeutete, daß er nervös gewesen war. (*) Vgl.: Lütt, Achim: `Zeitgänger´, Fischerhude 1997 Aber selbst wenn das stimmte, es sich bei Lütt also nicht um einen Kettenraucher handelte, konnte es für diese Unsicherheit, neben einem eventuell schlechten Gewissen, auch noch andere Gründe geben. Der Fotograf war überdies weder durch eine erkennbare Lüge noch durch die Verstrickung in einen Widerspruch aufgefallen, sondern hatte allem Anschein nach offen und ehrlich geantwortet und einen dementsprechend aufrichtigen Eindruck -67-
gemacht. Darum neigte der Hauptkommissar dazu, ihn für unschuldig zu halten. Ihm wurde jedoch bewußt, daß er auch deshalb nicht daran glauben wollte, daß Lütt der Mörder war, weil er ihn ziemlich sympathisch fand. Das besagte aber nicht allzuviel, denn Bernack hatte schon eine ganze Reihe von Verbrechern kennengelernt, die er mochte und dennoch verhaftete. Auf dem restlichen Weg über den Hexenberg nach Borgfeld, wo Jürgen Freese, der nächste der sieben Zwerge eine zahnärztliche Praxis hatte, beschäftigte sich der Hauptkommissar mit der Freimaurerei. Wenn ein Mann wie der eben Vernommene sich in diesem Bund wohlfühlte, dann mußte der doch mehr sein als nur ein Haufen von Spinnern. Irgend etwas Faszinierendes ging von ihm aus. Bernack kam nicht dazu, diese Gedanken weiter zu vertiefen, die Fahrt war zu kurz. Er parkte vor der Praxis, betrat sie, wandte sich an die junge Frau, die in der Anmeldung saß, und zeigte ihr seinen Dienstausweis. „Ich möchte mit Herrn Freese sprechen." Die Zahnarztgehilfin stand auf, verschwand für einen kleinen Augenblick, kehrte dann wieder und erklärte: „Der Doktor behandelt gerade einen sehr komplizierten und aufwendigen Fall, Sie werden sich ein bißchen gedulden müssen. Bitte nehmen Sie doch im Wartezimmer Platz. Sobald er fertig ist, wird Ihnen Bescheid gegeben." „Überhaupt kein Problem, ganz wie Sie wünschen. Ich werde mich derweil mit den dort sitzenden Leuten unterhalten und ihnen erzählen, daß auch ich einen sehr komplizierten und aufwendigen Fall bearbeite, einen Mordfall, um genau zu sein, und daß ich Herrn Freese für den Hauptverdächtigen halte." Damit drehte er sich um und strebte in Richtung Wartezimmer. -68-
Die junge Frau rannte ihm hinterher, hielt ihn am Ärmel fest und sagte: „Einen Moment bitte. Ich rede noch mal mit dem Doktor." Bernack blieb stehen. Schneller als er dachte war die Zahnarztgehilfin zurück, führte ihn in ein Aufenthaltszimmer für die Angestellten und versprach, daß ihr Chef binnen weniger Minuten erscheinen würde. So geschah es auch. Jürgen Freese war ein stattlicher, graumelierter Mann, der die sechzig schon überschritten hatte, aber immer noch viel Dynamik und Lebenskraft besaß. Aufgebracht griff er den Hauptkommissar sofort an: „Ich finde Ihr Betragen unerhört! Nebenan sitzt ein Patient mit großen Schmerzen, und Sie halten mich durch eine Erpressung davon ab, ihn zu behandeln. Ich werde mich über Sie beschweren!" „Nach unserem Gespräch bekommen Sie von mir den Namen und die Telefonnummer meines Vorgesetzten. Ihm ge genüber können Sie richtig vom Leder ziehen, der ist so etwas schon gewohnt. Vorher beantworten Sie aber meine Fragen, und zwar präzise und umfassend, sonst nehme ich Sie nämlich mit auf das Präsidium, und der arme Wicht im anderen Zimmer wird unter seinen Zahnschmerzen noch sehr lange zu leiden haben. Bin ich deutlich genug?" Freese schluckte. Er war eigentlich ganz und gar nicht bereit, Bernacks Verhalten zu tolerieren. Da er dessen Drohung aber ernst nahm, blieb ihm nichts weiter übrig, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen. „Was möchten Sie wissen?" „Wie genau kannten Sie Helmut Ansberg?" „Helmut war Bruder in der Loge und Patient hier in der Praxis. Wir hatten außerdem ein gemeinsames Hobby, die Oper. Zusammen mit meiner Frau haben wir regelmäßig -69-
verschiedenste Aufführungen besucht, einmal sogar die `Aida´ in Verona. Ansonsten gab es, wahrscheinlich bedingt durch den Altersunterschied, nicht so viel private Kontakte." „Wo sind Sie vorgestern zwischen achtzehn und neunzehn Uhr dreißig gewesen?" „Mittwoch nachmittags ist die Praxis immer geschlossen. Ich habe um etwa halb zwei Feierabend gemacht, bin bis zwanzig vor acht zu Hause geblieben und dann in die Loge gefahren. Meine Frau war nicht da, weil sie ihre Mutter besuchte, die krank ist. Sie hat mich aber am frühen Abend in der Wohnung angerufen." „Um wieviel Uhr?" „Um achtzehn Uhr dreißig. Ich entsinne mich deshalb noch exakt an die Zeit, weil ich mich kurz hingelegt hatte, das Klingeln des Telefons meine Ruhe beendete, und ich auf die Uhr sah, bevor ich den Hörer abnahm." „Warum haben Sie das nicht schon bei Ihrer Vernehmung am Mittwoch angegeben?" „Weil ich unter Schock stand und überhaupt nicht klar denken konnte." „Sie haben für alles eine passende Erklärung, stimmt's?" „Ich weiß nicht, was Sie damit meinen, Herr Hauptkommissar." „Oh doch, das wissen Sie sehr wohl." Bernack machte eine kleine Pause und fuhr dann fort: „Die eigene Frau ist nicht unbedingt ein gutes Alibi, aber immer noch besser als gar keins. Wir werden Ihre Angaben gründlich überprüfen, mein Wort darauf. Eine letzte Frage habe ich aber noch: Gibt es irgend jemanden, den Sie verdächtigen, Ansberg erschlagen zu haben, oder können auch Sie sich nicht vorstellen, daß Ihr Bruder Feinde hatte?" „Helmut war ein Mensch, der keiner Fliege etwas zu Leide -70-
tat. Undenkbar, daß... " Der Hauptkommissar unterbrach ihn auf der Stelle: „Ich kenne diese Lobeshymnen schon zur Genüge, ersparen Sie mir den Rest. Kümmern Sie sich lieber um ihren Patienten. Es ist ein Skandal, daß nebenan ein Mann sitzt, sich vor Schmerzen krümmt und Sie hier anfangen wollen, belanglo ses Zeug zu plaudern! Guten Tag." Bernack wandte sich zur Tür, hielt dann aber inne, drehte sich um und fragte: „Haben Sie Stift und Papier? Ich wollte Ihnen doch noch den Namen und die Telefonnummer meines Vorgesetzten geben." Der Zahnarzt biß sich auf die Unterlippe und erwiderte nur: „Sie wissen ja, wo der Ausgang ist." Das wußte der Hauptkommissar in der Tat, und so saß er eine halbe Minute später wieder in seinem Auto und reflektierte über das gerade beendete Gespräch. Er mochte Freese nicht, unter anderem, weil dessen Antworten zu sauber, zu schnell und zu glatt gekommen waren. Seine Statur und seine Kraft reichten sicherlich aus, um Ansberg zu erschlagen. Dafür konnte der Zahnarzt jedoch neuerdings mit einem Alibi aufwarten - zwar nur von seiner Frau, aber immerhin. Dann das Motiv, wo war das Motiv? Schließlich und endlich: Würde ein Mörder wirklich so dumm sein und als erstes einen Kripobeamten verbal attackieren? „Wenn Freese der Täter ist", sagte der Hauptkommissar halblaut, „dann habe ich noch eine ziemlich harte Nuß zu knacken. Es wird mir aber ein Vergnügen sein." Er verspürte Hunger, ließ den Motor an und fuhr zu einem Chinesen in der Leher Heerstraße. Nach dem Essen begab er sich in den nächsten Supermarkt, denn jeden Tag ins Restaurant zu gehen, konnte er sich bei seinem schmalen Spesenkonto einfach nicht leisten, kaufte ein und machte sich im Anschluß -71-
daran auf den Weg ins Büro.
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7. Kapitel
Gerd Hanser frühstückte am Freitag Morgen zusammen mit seiner Frau und Sabine Heidmühl. Über den Toten selbst wurde nicht viel geredet, wohl aber über die Abwicklung seines Nachlasses. Die Schwester hatte beschlossen, das Haus und die Unternehmensberatungsgesellschaft zu verkaufen. Um sich vom Wert der Villa und der Firma jedoch ein Bild machen zu können, mußte man erst einmal in sie hineingelangen, auch und gerade in die Geschäftsräume in der Martinistraße. Da sich bisher allerdings noch niemand von der Polizei ge meldet hatte, ging man davon aus, daß die Türen nach wie vor versiegelt waren. Es blieb ihnen also nichts weiter übrig als abzuwarten. Unabhängig davon stand aber noch eine andere Frage zur Beantwortung an. Sie wußten nicht, ob Ansberg ein schriftliches Testament hinterlassen hatte, und wenn ja, was genau dieses enthielt. Deshalb einigte man sich darauf, nach dem Frühstück zu Werner Biermann zu fahren, von dem man vermutete, daß er der Rechtsbeistand des Toten gewesen war. Um neun Uhr fünfzehn betraten Hanser und Frau Heidmühl die Sozietät in der Sögestraße und wurden sofort in das Arbeitszimmer des Anwalts geführt. Biermann saß hinter seinem Schreibtisch und telefonierte, legte den Hörer aber auf, als er die Besucher sah. Hanser begrüßte ihn: „Guten Morgen Werner. Darf ich dir die Schwester unseres verstorbenen Bruders vorstellen: Sabine Heidmühl - Werner Biermann." Der Angesprochene hatte sich schon erhoben, kam jetzt hinter seinem Schreibtisch hervor, gab der Frau die Hand, erklärte ihr sein Beileid, klopfte Hanser auf die Schulter, deutete auf zwei Sitzgelegenheiten und nahm dann wieder Platz. -73-
„Was für eine schreckliche Geschichte. Sie verfolgt mich seit Mittwoch Abend. Vor zwanzig Minuten war ein Hauptkommissar hier und hat mich vernommen. Er ist sehr anmaßend aufgetreten und, man glaubt es kaum - er verdächtigt mich! Er verdächtigt mich doch wirklich, meinen Bruder Helmut Ansberg erschlagen zu haben! Ich bin immer noch ganz fertig. Gerade eben habe ich mit Günter telefoniert", er blickte zu der Schwester und ergänzte: „Günter Kulenkampff ist der Meister vom Stuhl unserer Loge. Also, ich habe mit Günter telefoniert und mich über diesen Herrn Bernack bitter beklagt. Er meinte, er würde mal mit ihm reden, konnte mir aber nicht versprechen, daß das was bringt. Ich selbst überlege, ob ich nicht eine Dienstaufsichtsbeschwerde gegen ihn einreichen soll. Die Sache mit Helmut ist eine Tragödie, aber was jetzt...“ Hanser kannte seinen Bruder lange genug, um zu wissen, daß er ihn unterbrechen mußte, um zu Wort zu kommen. „Ich weiß Werner, du hast völlig recht, wir brauchen uns wirklich nicht alles bieten zu lassen. Hat der Hauptkommissar erwähnt, weshalb er dich verdächtigt?" Der Anwalt begann, sich zu ereifern: „Ich bin in seine Schußlinie geraten, weil mir bedauerlicherweise das Alibi fehlt. Daß ich überhaupt kein Motiv habe, Helmut zu ermorden, schien ihn nicht im mindesten zu interessieren. Aber wer hätte schon ein Motiv gehabt für diese Tat? Helmut war eine Seele von Mensch, ohne Feinde..." „Ist schon gut Werner. Wollte der Hauptkommissar sonst noch etwas wissen?" „Ja, ob es ein Testament gibt und wer der Erbe ist." „Aus dem gleichen Grunde sind auch wir hier." Biermann verstand offensichtlich nicht, was gemeint war, also hakte Hanser nach: „Hatte Helmut seinen Nachlaß geregelt?" -74-
„Natürlich hatte er das!" Hanser wurde langsam ärgerlich, weil er dem anderen jede kleine Information aus der Nase ziehen mußte. „Und, was steht in dem Testament?" „Die Loge erhält aus dem Barvermögen 20.000 Mark, der gesamte Rest geht ebenso wie die Firma und das Haus an Frau Heidmühl." „Wann kann sie darüber verfügen?" „Das Testament muß offiziell vom Amtsgericht eröffnet werden, und die hiesigen Mühlen mahlen langsam. Ich werde zwar probieren, den schnellstmöglichen Termin zu kriegen, verbindlich zusagen kann ich Ihnen allerdings nichts." Der letzte Satz war an die Schwester gerichtet, die kurz nickte, aber ansonsten schwieg. Hanser stand auf. „Frau Heidmühl wohnt die Tage, die sie in Bremen weilt, bei mir. Gib uns bitte sofort eine Nachricht, wenn du das genaue Datum weißt." Er ging zu Biermann, verabschiedete sich, und sein Gast folgte diesem Beispiel. Dann verließen sie die Sozietät. Draußen auf der Sögestraße erklärte die Schwester, daß sie sich nicht wohlfühlen würde und bat Hanser, sie in die Hollerallee zurückzufahren. Dort angekommen fragte er seine Frau, ob es einen Anruf von der Polizei gegeben hätte. Sie verneinte, und so trug er ihr auf, ihm sofort Bescheid zu sagen, falls dies noch geschehen sollte. Daraufhin fuhr er in sein Büro und telefonierte als erstes mit Kulenkampff. „Guten Morgen Günter, hier ist Gerd. Ich bin gerade mit der Schwester von Helmut bei Bruder Biermann gewesen. Der war noch ganz aus dem Häuschen. Dieser Kripomensch muß ihm ja gewaltig eingeheizt haben. Daß er zu den Verdächtigen gehören soll, ist aber doch absurd, findest du nicht?" -75-
„Doch, finde ich auch. Bernack macht zwar nur seine Arbeit, ich denke allerdings, daß er sich die Informationen, die er benötigt, nicht auf eine so rüde Art holen darf, wie Werner es mir geschildert hat. Ich habe den Hauptkommissar schon angerufen und mich mit ihm für heute Abend verabredet, um ihm das zu erzählen. Wie geht es Frau Heidmühl?" „Sie hält sich gut. Ich habe ihr meine Hilfe bei der Abwicklung des Nachlasses angeboten, und sie hat dankbar akzeptiert. Helmuts Testament sieht übrigens 20.000 Mark für unsere Loge vor." „Es wäre mir lieber, wir hätten anstatt des Geldes Helmut weiterhin in unserer Mitte. Bevor ich es vergesse: vielen Dank, daß du dich um die Schwester kümmerst. Du nimmst mir damit eine große Bürde ab." „Das ist doch selbstverständlich. Habt ihr im Beamtenrat gestern Abend eigentlich etwas beschlossen?" „Ja. Wir haben die Trauerfeier für den kommenden Montag um elf Uhr angesetzt, und zwar im Bestattungsinstitut von Wilfried Gerling, das liegt direkt neben dem Riensberger Friedhof. Voraussetzung dafür ist, daß die Polizei die Leiche noch heute Morgen freigibt, wovon wir jedoch ausgehen." „Ich kenne den Bruder, er ist Mitglied in der Kogge. So ziemlich jede Beerdigung eines Freimaurers hier in Bremen wird von ihm durchgeführt. Da hat er sich aber einiges vorgenommen!" „Ich weiß, die Zeit ist ganz schön knapp! Ein anderer Termin kam allerdings nicht in Frage, und Bruder Gerling konnte mich davon überzeugen, daß das bis dahin auch zu schaffen ist." „Er muß es schließlich wissen!" „Ja. Benachrichtige doch bitte Frau Heidmühl. Ich bin gerade dabei, all unsere Brüder zu verständigen." „Dann will ich dich nicht länger aufhalten. Tschüs Günter." -76-
„Tschüs Gerd." Hanser suchte im Telefonbuch den Anschluß des Bestattungsinstituts heraus und rief dann seinen Gast an. Er nannte ihr den Termin der Trauerfeier, gab ihr die Nummer von Gerling und bat sie, sich mit diesem in Verbindung zu setzen. So würde sie zuverlässig erfahren, wann sie kommen könnte, um den Toten noch einmal zu sehen und von ihm Abschied zu nehmen. Die Polizei hatte sich in der Hollerallee noch nicht gemeldet. Am Nachmittag wollte Hanser seine blutbefleckten Klamotten auf der Blocklanddeponie entsorgen, im Moment gab es für ihn wegen des Ansberg-Mordes aber nichts weiter zu tun, deshalb widmete er sich bis um halb zwölf seinen normalen Geschäften. Dann wurde er von Frau Heidmühl darüber informiert, daß die Kripo angerufen hatte. Die Firmenräume in der Martinistraße waren noch nicht freigegeben worden, wohl aber das Wohnhaus in der Marcusallee, wenn auch nur unter der Bedingung, daß eine Assistentin des Hauptkommissars namens Steter die Villa zunächst gründlich durchsuchen durfte. Die Schwester hatte eingewilligt und sich für dreizehn Uhr mit der Beamtin dort verabredet. Hanser versprach mitzukommen und Frau Heidmühl rechtzeitig genug abzuholen. Diese Entwicklung der Dinge war ihm zwar nicht besonders lieb, kam jedoch keineswegs überraschend. Natürlich wäre er gern allein in das Haus gegangen, um es nach belastendem Material zu durchstöbern, aber diese Hoffnung war schon Mittwoch Nacht auf ein Minimum gesunken. Immerhin konnte er anwesend sein, wenn die Polizei sich in der Villa umsah. Wie er allerdings reagieren sollte, wenn sie Beweise gegen ihn finden würde, das wußte er noch nicht. Hanser blieb nur die Möglichkeit, auf sein Improvisationstalent zu vertrauen. Da er damit in der Vergangenheit aber meistens gut gefahren war, hielt sich seine Besorgnis jetzt auch in Grenzen, und so genehmigte er sich -77-
zunächst einmal einen ausgedehnteren Imbiß. Daran anschließend fuhr er erst nach Hause und mit seinem Gast dann in die Marcusallee, wo die Assistentin sie bereits erwartete. Nachdem Frau Heidmühl aufgeschlossen hatte, betraten sie gemeinsam das Haus. Die Kripobeamtin ließ sich von der Schwester die Raumaufteilung erklären und bat die beiden anderen danach, sie ins Arbeitszimmer zu begleiten. Dort setzte sie sich an den Schreibtisch, einen PC gab es nicht, machte die Schubladen auf und sah sich deren Inhalt an. Ein in Leder gebundenes Adressbüchlein war das einzige, was sie näher studierte. Nachdem sie mit dem Durchsehen fertig war, ließ sie ihre Blicke durch den Raum schweifen und wandte sich dann an Frau Heidmühl, die sich mit Hanser in einer Ecke niederge lassen hatte: „Wissen Sie, ob Ihr Bruder Tagebuch führte? Und wenn ja: wo, glauben Sie, könnte das wohl liegen?" „Mir gegenüber hat er nie etwas von einem Tagebuch erwähnt, und wenn Sie im Schreibtisch nichts gefunden haben, dann wird es mit ziemlicher Sicherheit auch keins geben. Ich wüßte jedenfalls nicht, wo Helmut es sonst hätte aufbewahren sollen." „Gibt es irgendwo einen Safe?" „Meine Eltern hatten keinen, das weiß ich definitiv. Aber seit ihrem Tode vor neun Jahren lebte Helmut hier quasi allein, möglicherweise ließ er nachträglich einen installieren." „Dann wollen wir uns mal auf die Suche begeben." Die Assistentin stand auf, schaute hinter alle Bilder und nahm auch vereinzelt Bücher aus dem Regal, fand jedoch nichts. Hanser und die Schwester blieben sitzen. Er hätte gern mitgeholfen, das heißt, so getan, als würde er helfen, hielt es allerdings für besser, sich zurückzuhalten. -78-
Die Kripobeamtin knöpfte sich als nächstes das Schlafzimmer vor, inspizierte den Kleiderschrank, hob Oberhemden und Unterhosen hoch, sah in das Nachtkästchen, lugte unter das Bett, lüftete die Matratze und tastete hinter den Spiegel. Aber auch hier wurde sie nicht fündig. Genauso gewissenhaft forschte sie in allen weiteren Zimmern. Ohne Erfolg. Um zwanzig nach vier gab sie auf. Hanser war ihr jedesmal gefolgt, hatte sich aber weder an der Suche beteiligt, noch viel mit ihr gesprochen. Ihm war es einfach nur wichtig, dabei zu sein, wenn sie für ihn kompromittierende Unterlagen entdecken sollte, um Bescheid zu wissen und nötigenfalls aktiv werden zu können. Das brauchte er jedoch nicht. „Schwein gehabt", murmelte er leise. „Was sagten Sie gerade?" „Pech gehabt", erwiderte er laut. „Ich hatte gehofft, Sie würden etwas finden, was Sie auf die Spur des Mörders bringt. Das war aber wohl nur mein Wunschdenken." „So sieht es leider aus." Die Schwester gesellte sich zu ihnen, und die Assistentin fragte: „Hat Ihr Bruder wirklich ganz alleine in dieser riesigen Villa gewohnt?" „Seit dem Tode meiner Eltern - ja. Das heißt, vor sechs oder sieben Jahren war er mal längere Zeit mit einer Frau zusammen, die hier auch für ein paar Monate eingezogen ist. Sie kam bei einem Autounfall ums Leben. Helmut hat sie nie vergessen. Es gab noch zwei oder drei kurze Affären danach, etwas Ernstes konnte sich aber nicht entwickeln, weil die Erinnerung an seine große Liebe jede neue Beziehung eigentlich schon im Keim erstickte. Ich sagte ihm immer wieder, daß er den Frauen eine richtige Chance geben müsse, und grundsätzlich stimmte er mir auch zu, letztendlich gelang es ihm dann allerdings doch nie, -79-
über seinen Schatten zu springen." „Aber den Haushalt wird doch jemand anderes für ihn geführt haben?" „Das stimmt. Gerda Heißenbüttel aus der Ronzelenstraße hat für ihn gekocht, gewaschen, geputzt, eben all die Dinge gemacht, die so anfielen." „Haben Sie die genaue Anschrift dieser Frau?" „Nein, es sollte für Sie jedoch kein Problem sein, die heraus zubekommen." „Da haben Sie wohl recht!" Die Kripobeamtin schrieb Namen und Straße in ihr Notizheft, griff sich dann einen Quittungsblock, füllte die erste Seite aus und riß sie heraus. „Ich möchte das Adressbüchlein Ihres Bruders mitnehmen, wir müssen die dort verzeichneten Leute überprüfen. Hier ist eine Bescheinigung darüber." Damit reichte sie das Blatt an die Schwester, verabschiedete sich und wollte das Haus verlassen. An einem Haken neben dem Ausgang entdeckte sie aber noch einen Schlüsselbund, nahm ihn herunter und probierte ihn sofort aus. Einer der sechs Schlüssel paßte in die Tür. „Geben Sie mir doch bitte die Bescheinigung wieder, damit ich den Schlüsselbund hinzufügen kann, den benötigen wir nämlich auch." Frau Heidmühl händigte der Assistentin den Quittungsbeleg aus, diese ergänzte ihre Eintragung, gab ihn zurück und ging. Hanser wandte sich an die Schwester: „Wollen Sie sich hier noch länger aufhalten, oder soll ich Sie woanders hinbringen?" „Ich denke, ich bleibe noch ein bißchen hier und bestelle mir später ein Taxi." -80-
„Wie Sie wünschen. Wenn Sie irgend etwas brauchen oder wissen möchten - ich bin bis etwa achtzehn Uhr in meiner Fir ma und danach dann zu Hause. Vielleicht rufen Sie noch mal bei der Polizei an und erkundigen sich, ob Helmuts Büroräume inzwischen freigegeben sind oder bald freigegeben werden. Ich hätte über das Wochenende Zeit, um mir seine Geschäftsunterlagen anzusehen." „Mit der Kripo kann ich doch jetzt sofort schon telefonieren. Wenn Sie einen Augenblick Geduld haben, wissen Sie Bescheid." Hanser nickte, woraufhin die Frau in das Arbeitszimmer ihres Bruders ging. Er folgte ihr, bekam mit, daß die Polizei die Versiegelung von Ansbergs Büro aufgehoben hatte, und daß die Schwester nun damit machen konnte, was sie wollte. Frau Heidmühl legte auf, und Hanser fragte: „Wie komme ich dorthinein? Haben Sie einen Schlüssel?" „Nein. Helmut hatte die ganzen Jahre über die gleiche Sekretärin, sie heißt Weltermann oder so ähnlich. Ich habe aber keine Ahnung, wo sie wohnt. Am besten rufe ich noch mal bei der Kripo an." Das tat sie auch, schrieb Namen und Anschrift auf einen Zettel und gab ihn an Hanser weiter. Der warf einen kurzen Blick darauf, steckte ihn ein, sagte auf Wiedersehen und fuhr los. Eigentlich hatte er vorgehabt, den Sack mit den besudelten Klamotten zu entsorgen, es aber versäumt, sich zu erkundigen, wie lange die Blocklanddeponie geöffnet war. Jetzt zuerst in der Hollerallee das Zeug aus graben, zusammen mit dem alten Krempel aus seiner Garage einladen und dann auf gut Glück die Müllhalde ansteuern, wollte er nicht. Die Erledigung dieses Problems mußte auf Montag verschoben werden. Nicht verschieben ließ sich dagegen die Abholung des Schlüssels, denn den des Ermordeten durfte er ja nicht so ohne -81-
weiteres benutzen, und wer wußte schon, was diese Frau Westermann, so hieß die Sekretärin des Toten nämlich wirklich, am Samstag vorhatte? Er konnte es sich nicht leisten, bei ihr vor verschlossener Tür zu stehen, denn dadurch wäre er gezwungen gewesen, auch mit der Durchsuchung von Ansbergs Geschäft noch länger zu warten. Das wollte er aber ganz schnell erledigen, denn an diesem Wochenende hatte er mit einem Verhör durch den Hauptkommissar zu rechnen. Wenn es in der Martinistraße wirklich belastendes Material geben sollte, und die Polizei das gefunden hatte, sah es schlecht für ihn aus. Wenn aber nicht sie, sondern erst er es entdeckte und sofort vernichtete, dann war er vielleicht noch nicht ganz aus dem Schneider, konnte aber zumindest beruhigter auftreten.
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8. Kapitel
Carl Bernack fragte, als er das Präsidium erreichte, gleich nach dem Kollegen Kramnick aus der Abteilung Wirtschaftskriminalität. Weil der jedoch nicht in seinem Büro war, versuchte er es mit einem Anruf in Ansbergs Firma. Und siehe da, er hatte Glück: „Hallo Kramnick. Wie kommst du voran?" „Du hast mir da ganz schön was aufgehalst! Du glaubst gar nicht, wieviel Akten und Dateien es hier gibt - unmöglich, die an einem Tag alle durchzuarbeiten. Ich habe mir einen groben Überblick verschafft, aber erst einmal nichts gefunden, was auf eine Straftat hinweist oder Ansatzpunkte dafür geben könnte, weshalb dieser Mann ermordet wurde. Jetzt bin ich dabei, von allen eventuell interessanten Vorgängen eine Kopie zu machen. Die nehme ich mir mit auf die Dienststelle und gehe sie dann nach und nach durch. Das wird allerdings eine ordentliche Zeit dauern, schließlich habe ich auch noch genügend eigene Fälle auf meinem Schreibtisch liegen." „Ich weiß, ich weiß, du bist nicht mein Hiwi. Aber das Wochenende steht vor der Tür, und bevor du dich mit deiner Frau langweilst..." „Hahaha. Nur weil du mit den Frauen nichts anfangen kannst, muß es ja nicht bei jedem anderen genauso sein." „Okay, okay, ich wollte dir nur einen freundschaftlichen Rat geben. Wie sieht es mit der Ertragslage von Ansbergs Firma aus?“ „Ich will nicht behaupten, daß sie eine Goldgrube ist, aber doch ein sehr florierender Laden.“ „Hast du außer den geschäftlichen Dingen irgend etwas Privates entdeckt, was mich weiterbringen könnte?" -83-
„Du meinst Tagebücher, Briefe, den Schlüssel für ein geheimes Liebesnest oder dergleichen? Nein - Fehlanzeige." „Schade. Trotzdem vielen Dank für die kleine Gefälligkeit." „Kleine Gefälligkeit? Du stehst tief in meiner Schuld, und das weißt du!" „Jaja, ich werde mich schon revanchieren. Aber du läßt mich doch sofort wissen, wenn du etwas herausgefunden hast, nicht wahr?" „Natürlich. Bis denn." „Bis denn." Bernack legte auf, steckte sich eine Selbstgedrehte an und nahm sich die Akten der sieben Zwerge hervor. Mit dreien hatte er schon gesprochen, und mit den anderen vier wollte er jetzt einen Termin abmachen, und zwar nach Möglichkeit für morgen, damit er wenigstens den Sonntag freibekam. Zunächst versuchte er Gerhard Hanser zu erreichen, bei dem zu Hause nahm aber niemand ab, und in dessen Firma war nur eine Angestellte. Er hinterließ keine Nachricht. Der Hauptkommissar wollte gerade wieder wählen, als er selbst angerufen wurde. Frau Heidmühl fragte nach, ob die Geschäftsräume ihres Bruders schon freigegeben wären. Weil Kramnick so gut wie fertig war, bejahte Bernack und sagte, sie könne damit nun machen, was sie wolle. Dann rief er Jens Czerny, den zweiten Freimaurer an und verabredete sich mit ihm für Samstag um elf Uhr dreißig. Er hatte gerade aufgelegt, als sein Telefon klingelte und sich erneut die Schwester meldete. Sie bat ihn um den Namen und die Adresse von Ansbergs Sekretärin. Der Hauptkommissar unterdrückte seinen Ärger - `wieso hat diese Frau nicht schon beim ersten Mal danach gefragt, wieso läßt sie mich nicht in Ruhe arbeiten?´ - suchte die gewünschten Informationen heraus und gab sie weiter. -84-
Harald Krüger, den nächsten der sieben Zwerge, erwischte Bernack in dessen Buchhandlung im Steintor. Mit ihm vereinbarte er ein Treffen für morgen früh um neun. Joachim Glaubitz kam, wie er gestern gehört hatte, erst am Abend nach Hause. Ihn wollte er später anrufen. Der Hauptkommissar nahm sich Tabak und Blättchen, rollte zwischen den Fingern eine weitere Zigarette, setzte sie in Brand und schaute auf seine Armbanduhr. Sechzehn Uhr vierundvierzig. Er war sich sicher, daß seine Assistenten, so wie er sie kannte oder besser gesagt: erzogen hatte, schon vor dem abgemachten Termin auftauchen würden, um ganz bestimmt nicht unpünktlich zu sein, denn das Risiko, den Chef sonst zu verärgern, wäre einfach zu groß. Steter trudelte auch wirklich bald darauf ein, und ihr Kollege folgte kurz danach. Als seine `Mannschaft´ vollzählig versammelt war, gab zunächst einmal Bernack einen zusammenfassenden Bericht von dem, was er in Erfahrung bringen konnte. Dann überließ er Neukirch das Wort. „Also. Die Brüder. Die nicht mehr in der Nähe von Bremen leben. Scheiden alle aus. Habe mit den Kollegen der verschiedenen Wohnorte telefoniert. Keiner der vier. Hatte eine realistische Chance. Hierher zu kommen. Ansberg zu erschlagen. Und wieder zu verschwinden." „Ist das definitiv erwiesen?" „Ja. Drei der Männer. Haben ihre Zelte in Süddeutschland aufgeschlagen. Lupenreines Alibi. Der Bruder. Der noch am dichtesten dran ist. Düsseldorf. Kann zwar keine Zeugen benennen. Für ungefähr zwei Stunden der fraglichen Zeit. Hätte aber für Anreise. Ermordung und Abreise. Wesentlich länger gebraucht." „Was ist mit dem in Bremen Ansässigen, der Mittwoch Abend nicht in der Loge war?" „Linkshänder. Sogar beim Nasebohren. Kommt nicht in -85-
Frage. Nach den Ergebnissen aus der Gerichtsmedizin." „Scheiße! Oder vielleicht auch ganz gut, der Kreis wird dadurch jedenfalls immer enger. Wir wollen nur hoffen, daß die Jungs von der Pathologie mit ihrer Behauptung nicht falsch liegen, denn sonst müssen wir wieder von vorne anfangen. Was gibt es sonst noch?" „Bridgespieler. Bin noch nicht mit allen durch. Aber die. Die ich heute gesprochen habe. Bestätigen Aussagen der anderen. Wäre aufgefallen. Wenn einer von ihnen. Den großen Saal länger verlassen hätte." Der Hauptkommissar nickte kurz, verriet aber durch keine Regung, wie erstaunt er darüber war, daß Neukirch so gut gearbeitet hatte, sondern wandte sich gleich an seine Assistentin: „Haben Sie etwas herausgefunden, was uns weiterbringt, Steter?" „Ich fürchte, nein. Die Ehe von Frau Heidmühl ist wohl intakt. Aber selbst, wenn dem nicht so wäre, würde die Dame nicht auf die Heilsarmee angewiesen sein - sie ist zu einem beträchtlichen Teil an den Firmen ihres Mannes beteiligt, und das sind ausgesprochen lukrative Unternehmen. Der Gatte weilt, nebenbei bemerkt, auf Geschäftsreise in Übersee und ist deshalb nicht mitgekommen." „Sie haben die Lady doch getroffen. Welchen Eindruck hatten Sie von ihr?" „Eine sehr attraktive Frau. Ich denke, der Tod des Bruders geht ihr wirklich nahe. Als echte Hanseatin versucht sie aber, Haltung zu zeigen, und das gelingt ihr auch. Sie war übrigens in Begleitung von diesem Gerhard Hanser. Offensichtlich hilft er ihr." „Wobei? Nachts in den Schlaf zu finden?" „Vielleicht, wer weiß? Er war die ganze Zeit über sehr zurückhaltend und hat wenig geredet, daher bin ich auf -86-
Vermutungen angewiesen. Ich schätze, daß er einerseits ihr Ansprechpartner für alle denkbar kleineren Dinge ist, denn Frau Heidmühl kennt sich in Bremen wohl nicht mehr so richtig aus. Andererseits könnte ich mir auch vorstellen, daß er die Organisation der Beerdigung übernommen hat und sie beim Verkauf von Haus und Firma berät, vorausgesetzt natürlich, sie will beides tatsächlich veräußern." „Besitzt die Lady nur Anteile an den Firmen ihres Mannes und ist damit bloß `de jure´ Geschäftsfrau, oder ist sie es auch `de facto´? Und, falls letzteres zutrifft, wozu benötigt sie dann die Hilfe von Hanser?" „Meinen Informationen zufolge ist sie wirklich Geschäftsfrau. Sie könnte Hansers Unterstützung in Anspruch genommen haben, weil der sich, wie gesagt, vor Ort bestimmt besser auskennt, und weil sie sich selbst möglicherweise nach dem Schock noch nicht wieder in der Lage fühlt, solche Transaktionen allein durchzuführen. Aber das sind, wie schon erwähnt, nur Vermutungen." „Dann lassen Sie uns über Fakten sprechen. Ich nehme an, die Untersuchung des Hauses in der Marcusallee hat nichts Verwertbares gebracht, denn sonst hätten Sie mir gleich davon erzählt. Stimmt's?" „Stimmt! Außer einem Schlüsselbund und einem Adressbüchlein habe ich nichts gefunden." Steter griff in ihre Handtasche, holte die beiden Sachen heraus und reichte sie Bernack. Der schenkte dem Schlüsselbund nur kurze Beachtung und blätterte dann im Adressbüchlein. Die Assistentin fuhr derweil fort: „Einer der Schlüssel gehört wohl zum Auto, einer paßt in die Haustür und ein weiterer in das Garagentor. Über die restlichen drei weiß ich nichts. Frau Heidmühl hat mir noch den Namen der Haushälterin ihres Bruders gegeben. Ich bin aber noch nicht dazu gekommen, mich mit ihr zu unterhalten." -87-
Der Hauptkommissar sah auf und sagte: „Das ist ja dann genau der richtige Job für Sie am Wochenende. Wenn ich mich recht entsinne, dann hatte ich Ihnen aber noch einen zusätzlichen Auftrag erteilt, oder?" „Ja, ich sollte mich bei Zechbauer nach den Handschuhen erkundigen." „Und?" „Ich war den ganzen Vormittag damit beschäftigt, mich um die finanziellen und ehelichen Verhältnisse von Frau Heidmühl zu kümmern und wollte morgen früh gleich zu Zechbauer fahren. Ich weiß sowieso nicht, was ich mit dem Wochenende anfangen soll." „Könnte es sein, daß ein leiser Anflug von Ironie in Ihrer Stimme lag?" „Nein, da müssen Sie sich täuschen." „Ja? Nun gut. Wenn Sie tatsächlich so viel Zeit haben, dann kümmern Sie sich eben auch noch um den Schlüsselbund, ich möchte wissen, welche Türen dazugehören. Daß Sie mich sofort informieren, wenn Sie etwas Wichtiges entdecken, brauche ich wohl nicht besonders zu betonen, oder?" „Nein, das hat selbst eine so unbedarfte Frau, wie ich es bin, schon kapiert." „Sie werden frech, Steter, und ich weiß wirklich nicht, warum ich das heute durchgehen lasse!" Der Assistentin lag die Entgegnung „Vielleicht liegt das am Einfluß der Freimaurerei?" auf der Zunge, sie wollte den Bo gen aber nicht überspannen und verkniff sich daher diese Bemerkung, langte nach dem Schlüsselbund, steckte ihn in ihre Handtasche und ging. Bernack war tatsächlich nicht richtig sauer und wunderte sich darüber. Auch Neukirch hatte mit einer heftigeren Reaktion seines Chefs gerechnet und befürchtete nun, er müsse als -88-
Prügelknabe herhalten. Der Hauptkommissar gab ihm aber nur das Adressbüchlein und sagte: „Sie werden sich über das Wochenende mit den Namen und Anschriften beschäftigen, die wir noch nicht kennen. Versuchen Sie herauszufinden, in welcher Beziehung der Tote zu diesen Leuten stand. Dann überprüfen Sie das Alibi von Freese, ich möchte wissen, ob seine Frau ihn wirklich am Mittwoch um achtzehn Uhr dreißig angerufen hat. Wenn Sie danach immer noch Zeit haben, befragen Sie die restlichen Bridgespieler." Der Assistent murmelte etwas Unverständliches und verließ dann schnell das Büro. Er traute dem Frieden noch nicht so ganz. Bernack folgte ihm kurz darauf, fuhr nach Hause und aß sein Abendbrot. Dann rief er bei den beiden Freimaurern Glaubitz und Hanser an und verabredete sich mit ihnen für den morgigen Nachmittag um vierzehn beziehungsweise achtzehn Uhr. Um viertel nach sieben machte er sich mit dem Auto auf den Weg ins Logenhaus. Kulenkampff erwartete ihn bereits. Er fragte den Hauptkommissar, was er zu trinken wünsche, holte zwei Flaschen Bier und zwei Gläser von der Bar und führte ihn in ein kleines Nebenzimmer. Dort nahmen die Männer Platz. Bernack zündete sich eine Zigarette an, schenkte sich das Bier ein und ergriff als erster das Wort: „Warum haben Sie um diese Unterredung gebeten?" „Aus verschiedenen Gründen. Zunächst einmal bin ich von meinen Brüdern Freese und Biermann angerufen worden, die sich beide über Sie, beziehungsweise die Art, wie sie verhört wurden, beschwert haben. Ich will Ihnen bestimmt nicht vorschreiben, wie Sie Ihre Arbeit verrichten sollten, aber ich möchte Sie doch bitten, etwas diplomatischer und zurückhaltender vorzugehen." „Was haben mir die zwei konkret vorgeworfen?" -89-
„Jürgen Freese hat sich darüber beklagt, daß Sie ihn mittels einer Erpressung daran gehindert haben, einen Patienten zu behandeln, der mit akuten Zahnschmerzen bei ihm saß, und...“ Der Hauptkommissar unterbrach den Meister vom Stuhl unwirsch: „Ich habe mit dem Doc höchstens fünf Minuten lang gesprochen, es war also wirklich bloß eine kurze Zeit, die der Patient seinen Mund länger aufsperren mußte. Andere Menschen hatten in diesem Fall schon sehr viel stärker zu leiden. Nur zur Verdeutlichung: es geht hier um die Aufklärung eines Mordes, da kann ich mich nicht mit irgendwelchen Empfindsamkeiten eines selbstgefälligen Halbgottes in Weiß beschäftigen! Dieser Kerl ist, um mich Ihrer Bildersprache zu bedienen, ein Stein, der rauher gar nicht sein könnte!" Dann, nach einer kleinen Pause: „Worüber hat Biermann sich beschwert?" „Er ist vor allem darüber entrüstet, daß er überhaupt verdächtigt wird." „Machen Sie sich doch nicht lächerlich. Wenn ich jeden, der seine Unschuld beteuert, in Frieden ließe, dann hätte ich sehr viel Freizeit, und alle Richter wären arbeitslos. Von, sagen wir mal, zehn Verdächtigen streiten auch zehn die Täterschaft ab; neun, weil sie es wirklich nicht waren, und einer, weil er nicht erwischt werden will. Ein paar der tatsächlich Unschuldigen sind so intelligent und einsichtig, daß sie verstehen, warum sie unter Verdacht geraten sind. Die meisten regen sich aber immer auf und glauben, daß ihnen eine himmelschreiende Ungerechtigkeit widerfährt. Leuten wie Biermann bin ich schon zu Hunderten begegnet. Nicht nur, daß sie mir in keinster Weise helfen, nein, sie werfen mir sogar noch Steine in den Weg. Man sollte sie... " Den Rest verschluckte er. Kulenkampff hatte Bernack die ganze Zeit über genau -90-
beobachtet. Was, so fragte er sich, mußte dieser Mann schon alles erlebt haben, daß er so hart geworden war und ein so wenig positives Menschenbild mit sich herumtrug. Er ließ nicht locker: „Wie letzten Mittwoch schon einmal erwähnt, habe ich durchaus Verständnis dafür, daß Sie Ihre Ermittlungen unter uns Freimaurern führen. Aber wie in vielen anderen Fällen, macht auch hier der Ton die Musik. In der Loge hat sich eine Stimmung von Angst und Mißtrauen breitgemacht, eine Stimmung, die durch die Art und Weise Ihrer Verhöre noch angeheizt wird. Ich bin in größter Sorge über diese Atmosphäre und befürchte, daß sie so lange bestehen bleibt, wie Ihre Untersuchung andauert. Darf ich erfahren, wie weit Sie sind?" Der Hauptkommissar hatte sich wieder etwas beruhigt. „Jeder Kriminalfall ist wie ein Puzzle, nein: wie mehrere Puzzles. Wir haben verschiedenste Mosaiksteinchen in der Hand und befassen uns im ersten Schritt damit, diese den einzelnen Bildern zuzuordnen. Im zweiten Schritt konzentrieren wir uns dann auf ein Puzzle, hoffentlich das richtige, und bemühen uns, es zu vervollständigen. Wenn uns das wenigstens annä hernd gelingt, haben wir den Täter, was aber noch nicht unbedingt heißen muß, daß er auch schon überführt ist. Hier im Fall Ansberg sind wir über den ersten Schritt leider noch nicht großartig hinausgekommen." „Wenn ich Sie richtig verstehe, dann ist jedes Puzzle gleichzusetzen mit einem Verdächtigen, und Sie haben die Anzahl der Puzzles vielleicht schon reduziert, aber noch nicht so weit, daß Sie sich auf eines konzentrieren könnten. Stimmt das?" „Naja, zu den einzelnen Puzzles gehören schon sehr viel mehr Mosaiksteinchen als nur die Verdächtigen, aber die sind natürlich so etwas wie das Salz in der Suppe, das stimmt.“ Kulenkampff machte ein unzufriedenes Gesicht. „Ich hatte eigentlich gehofft, genauere Auskünfte von Ihnen -91-
zu erhalten." „Dann muß ich Sie enttäuschen. Bei allem Respekt, aber mir ist noch nicht so ganz klar, wem Ihre Loyalität im Zweifelsfalle gilt. Daher kann ich Ihnen auch nichts Konkreteres mitteilen." Der Meister vom Stuhl schwieg einen Augenblick, dann wechselte er das Thema: „Ich habe über den Mord und die Umstände der Tat viel nachgedacht. Ein weiterer Grund, weshalb ich mich mit Ihnen treffen wollte ist der, daß mir eine neue Möglichkeit eingefallen ist, wie sich das Verbrechen zugetragen haben könnte. Vielleicht hat ein Außenstehender Helmut angerufen, sich als Bruder ausgegeben, sich mit ihm im Tempel verabredet und ihn dort ermordet, um den Verdacht so auf die Freimaurer zu lenken. Was halten Sie von dieser Hypothese?" „Ich gebe zu, daß es so gewesen sein könnte, aber allzu wahrscheinlich ist Ihre Theorie nicht. Alles, was wir wissen, ist, daß Ansberg hier im Tempel mit einem Spitzhammer durch drei starke Schläge ermordet wurde. Tatort und Tatwaffe sowie die Anzahl der tödlichen Hiebe, die identisch ist mit der heiligen Zahl der Freimaurerei, verweisen darauf, daß der Täter wirklich zu Ihrer Loge gehört." Bernack verschwieg das Indiz, welches seiner Meinung nach mit am stichhaltigsten dafür sprach, daß der Mörder in der Bruderschaft zu suchen war. Und da Kulenkampff deshalb nichts über die gefundenen weißen Fasern erfuhr, hielt er seine Hypothese weiterhin für überaus realistisch und strebte danach, sie zu untermauern: „Vielleicht weiß der Mörder über unsere Rituale nur sehr gut Bescheid und probiert, Sie auf eine falsche Fährte zu locken. Sie selbst haben sich ja auch genau informiert und wohl nicht umsonst eben den Ausdruck drei starke Schläge gebraucht." „Daß es mit diesem Ausdruck eine besondere Bewandtnis hat, wußte ich nicht. Das allerdings bloß nebenbei. Entscheidend ist, -92-
daß Sie von einem falschen Ansatz ausgehen. Sie suchen nach einem Konstrukt, welches sich mit Ihrer Überzeugung deckt, daß ein Freimaurer keinen Bruder töten kann. Die Tatsachen lassen sich aber nicht vom Tisch fegen und deuten momentan im Grunde ausnahmslos darauf hin, daß Ansberg von einem seiner Brüder erschlagen wurde. Natürlich sollten wir auch andere Theorien immer im Hinterkopf behalten, konkret um sie kümmern können wir uns aber erst, wenn die vielversprechenderen Spuren in eine Sackgasse geführt haben." Kulenkampff seufzte: „Vermutlich ist es so, wie Sie sagen. Dann steht uns noch eine harte Zeit bevor. Ich hatte gehofft, dieses Gespräch würde dazu beitragen, daß wieder ein bißchen mehr Ruhe und Normalität in die Loge einkehrt, aber offensichtlich war hier der Wunsch Vater des Gedankens. Die Trauerfeier für Bruder Ansberg findet am Montag im Bestattungsinstitut Gerling direkt am Riensberger Friedhof statt und beginnt um elf Uhr - Sie werden doch sicherlich daran teilnehmen wollen. Ich möchte Sie bitten, wenigstens in diesein Rahmen etwas Zurückhaltung zu üben. Oder ist auch das zuviel verlangt?" „Nein, ich denke, das wird mir gelingen. Vorausgesetzt natürlich, ich werde nicht provoziert." „Vielen Dank für Ihr Entgegenkommen. Möchten Sie noch ein Bier trinken oder müssen Sie jetzt gleich nach Hause?" Der Hauptkommissar überlegte kurz. Einerseits wäre er zwar froh gewesen, endlich Feierabend machen zu können, andererseits konnte es nicht schaden, etwas mehr über die Freimaurerei und die Männer von Neptun zu den Alten Pflichten zu erfahren. Da außerdem sein Ärger über Kulenkampff durch eine gewisse Achtung für diesen Mann zurückgedrängt worden war, antwortete er: „Wenn Sie mir Gesellschaft leisten und ein bißchen über Ihre -93-
Loge erzählen, dann nehme ich noch ein Bier." „Einverstanden!" Der Meister vom Stuhl erhob sich, verließ das Zimmer, kam bald darauf mit den Getränken wieder, setzte sich und fragte: „Was möchten Sie gern wissen?" Bernack hatte sich eine Zigarette angesteckt und entgegnete: „Die Freimaurerei hat eine ganze Reihe von sehr hohen Zielen beziehungsweise Ansprüchen. Vier oder fünf Brüder Ihrer Lo ge konnte ich bis jetzt etwas näher kennenlernen: Sie selbst, Lütt, Biermann, Freese und, wenn Sie so wollen, auch noch Ansberg. Bei zweien davon glaube ich, daß sie die Freimaurerei ernst nehmen und versuchen, deren Ideale zu leben. Wenn ich Ansberg hinzuzähle, dann sind es drei. Drei von fünf - das ist eigentlich nicht schlecht. Was denken Sie, wie viele Männer Ihrer Loge betrachten sich wirklich als rauhen Stein, an dem gearbeitet werden muß?" „Ich bin mir sicher, daß alle Mitglieder unserer Loge recht entschlo ssene Freimaurer sind. Es kommt natürlich immer wieder einmal vor, daß sich ein Mann als Geschäftsmaurer entpuppt, also als jemand, der zu uns stößt, weil er sich dadurch gute Kontakte und Vorteile im Beruf erhofft. Zum einen ist das aber wirklich selten, zum anderen merken wir das auch ziemlich schnell. Wir machen diesem Herrn dann klar, daß er hier fehl am Platze ist und sehen zu, daß wir uns von ihm trennen." „Meine Frage zielte nicht oder nicht nur in Richtung Mißbrauch Ihrer Ideale für Geschäftszwecke. Mich interessiert vor allem, wie viele der Männer, die einmal in der Woche die Loge besuchen, bloß deshalb erscheinen, weil sie sich dort das Feigenblatt des guten Menschen umhängen können, danach im wirklichen Leben aber wieder die Sau rauslassen. Wie viele Ihrer Brüder sind nichts weiter als Alibi-Freimaurer?" „Wenn ich Sie richtig verstanden habe, dann glauben Sie, daß Jürgen Freese und Werner Biermann zu dieser Kategorie -94-
gehören. Das sind doch die zwei, denen Sie eine mangelnde, wenn nicht gar heuchlerische Einstellung vorwerfen, oder?" „Nun ja, insbesondere Freese hat mir gegenüber auch kein freimaurerisches Gedankengut erkennen lassen!" Kulenkampff dachte einen Augenblick lang nach und sagte dann: „Ich vermute, Sie stellen zu hohe Anforderungen. Zudem gehen Sie wohl von einer falschen Erwartung aus. Freimaurer sind doch auch nur Menschen. In der Loge Neptun zu den Alten Pflichten gibt es arrogante, jähzornige, eitle, ja sogar intolerante oder genauer gesagt: nicht immer tolerante Männer - halt Männer mit allen Fehlern und Schwächen. Diesbezüglich sind wir bestimmt ein Spiegelbild der Gesellschaft. In einer Hinsicht unterscheiden wir uns jedoch von den meisten Profanen: wir bemühen uns zumindest, unsere Fehler und Schwächen abzubauen. Ich betone nochmals : wir bemühen uns! Nicht mehr, aber auch nicht weniger! Ein Freimaurer ist nicht per se ein `guter´ Mensch, er versucht allerdings, ein `immer besserer´ Mensch zu werden. Und hier schließe ich die Brüder Biermann und Freese bewußt mit ein. Über die Gewissenhaftigkeit und das Engagement, mit der der einzelne Bruder dieses Ziel verfolgt, läßt sich möglicherweise streiten. Aber auch nur darüber, jedenfalls was unsere Loge betrifft." Bernack ließ nicht locker: „Sie haben extra unterstrichen, daß sich ein Freimaurer, der seine Sache ernst nimmt, immer bemühen sollte. Dieses Bemühen ist mir jedoch weder bei Biermann, noch bei Freese aufgefallen. Der erste konnte nichts weiter als schwafeln, und der zweite hatte nichts Besseres zu tun, als mich gleich zu attackieren." „Sie haben auf diese Brüder allerdings einen ganz erheblichen Druck ausgeübt, vergessen Sie das bitte nicht!" -95-
„Schon möglich. Im Gegensatz zu den beiden arbeite ich aber auch nicht am rauhen Stein!" „Obwohl Ihnen das sicher keineswegs schaden würde!“ Der Meister vom Stuhl hatte so postwendend und offen heraus geantwortet, daß der Hauptkommissar ein bißchen verblüfft war, zum Zeichen seines Eingeständnisses die Hände hob und erklärte: „Okay, ich bin vielleicht nicht das, was man einen besonders guten Menschen nennt. Dafür bin ich jedoch ehrlich und gebe nicht vor, nach irgendwelchen Zielen zu streben, die mir in Wirklichkeit scheißegal sind!" „Reicht Ihnen das?" „Nun, das ist immerhin mehr, als viele andere Leute von sich behaupten dürfen, mehr auch, als wahrscheinlich eine ganze Reihe von Freimaurern behaupten darf!" „Womit Sie etwas unterstellen, wofür Ihnen jegliche Beweise fehlen. Gerade in Ihrem Beruf sollten Sie mit solchen Äußerungen vorsichtiger sein! Aber vermutlich können Sie als Zyniker gar nicht anders, denn Menschen, die sich an sittlichen Werten orientieren, sind Ihnen nicht ganz geheuer. Wohlgemerkt: Ich spreche nicht von den staatlichen Gesetzen oder Normen, gegen deren Verstöße Sie dienstlich vorgehen müssen, sondern von den Idealen, die eine Gesellschaft darüber hinaus noch braucht, um menschenwürdig zu sein. Ich spreche von Ethik, von Rücksichtnahme, Verständnis und Liebe, also von Begriffen, mit denen Sie, wie ich glaube, schon allein deshalb nichts anfangen können, weil eine inhaltliche Auseinandersetzung mit ihnen bedeuten würde, daß Sie sich selbst hinterfragen. Was wohl nicht Ihre große Stärke ist! Um es noch einmal klar zu formulieren: Die Brüder der Loge Neptun zu den Alten Pflichten predigen ihre sittlichen Werte nicht nur, sie versuchen auch, danach zu leben!" -96-
Die beiden Männer schwiegen. Bernack fand das eben Gehörte doch sehr dick aufgetragen, kam allerdings nicht umhin, dem Kern dessen, was Kulenkampff über ihn gesagt hatte, ein wenig recht zu geben. Er verdrängte diesen Gedanken jedoch, dachte daran, daß er zwei der fünf ihm bekannten Freimaurer für scheinheilig hielt, und daß dieses Verhältnis, hochgerechnet auf die vierzig Mit glieder der Loge, sechzehn dunkelgraue oder schwarze Schafe ergab! Aber auch wenn er gewaltig über das Ziel hinausschießen sollte, die Zahl also entschieden kleiner war: So wie der Meister vom Stuhl zu glauben, daß kein einziges schwarzes Schaf in seiner Herde existierte, das konnte der Hauptkommissar nicht, denn das widersprach quasi seinem gesamten Erfahrungsschatz. Er sah jedoch ein, daß ein weiteres Insistieren nichts brachte, daß Kulenkampff gegen jede Zahl vehement protestieren würde und erklärte deshalb versöhnlich: „Im Großen und Ganzen mögen Sie mit Ihrer Einschätzung vielleicht richtig liegen, bei einem Ihrer Brüder täuschen Sie sich aber bestimmt - und das ist der Mörder von Ansberg!" Der Meister vom Stuhl seufzte erneut: „Zu all den Fehlern und Schwächen, die ich vorhin aufgezählt habe, gehört bei mir möglicherweise auch die mangelnde Menschenkenntnis, obwohl ich aus Ihrer gerade erkennbaren Nachdenklichkeit schließe, daß ich zumindest Ihnen gegen-über nicht völlig falsch gelegen habe. Wie dem auch sei: Ich halte es immer noch für unvorstellbar, daß sich der Täter in unseren Reihen befindet." Bernack wußte nicht, ob er Kulenkampff wegen dieser Fähigkeit zu glauben und zu vertrauen, beneiden oder doch besser bemitleiden sollte. Er fragte sich, wie stark der Mann wirklich war und wie er es wohl verkraften würde, wenn man einen seiner Mitbrüder tatsächlich als Mörder verhaftete. Der Hauptkommissar hatte schon lange keinen Menschen -97-
mehr getroffen, der sich so gewissenhaft für eine Aufgabe engagierte, der so intensiv für eine Sache lebte. Er wollte noch mehr von und über den Meister vom Stuhl erfahren. Daher machte er jetzt auch ihn zum Thema des Gesprächs: „Wie sind Sie zur Freimaurerei gekommen? Und weshalb sind Sie immer noch dabei?" „Dazu gekommen bin ich über den klassischen Weg. Ein inzwischen verstorbener Bekannter, der schon Mitglied in der Loge war, hat meine Aufmerksamkeit geweckt. Das, was er über die Freimaurerei sagte, klang sehr interessant, und so habe ich darum gebeten, einmal eingeladen zu werden. Ich bin zirka ein Jahr lang mit wachsender Begeisterung zu diesen Gästeabenden gegangen und habe dann einen Aufnahmeantrag erhalten." Kulenkampff legte eine kleine Pause ein und fuhr dann fort: „Ich war schon seit längerer Zeit auf der Suche nach irgend etwas, aber erst durch die Begegnung mit den Brüdern in der Loge konnte ich halbwegs definieren, was das war. Mehr noch: Ich wußte, daß ich es bei ihnen finden würde und habe den Aufnahmeantrag deshalb sofort ausgefüllt und abgegeben. Das ist nun ungefähr zwölf Jahre her. Seitdem bin ich von der Freimaurerei infiziert." Beim letzten Satz hatte der Meister vom Stuhl gelächelt. Bernack bohrte weiter: „Könnten Sie das präzisieren?" „Das wollte ich gerade tun, denn das ist die Beantwortung Ihrer anderen Frage. Es gibt mehrere Dinge, die ich in der Loge gefunden habe, mehrere Gründe, warum ich immer noch mit Leib und Seele Freimaurer bin. Erstens treffe ich hier Männer, auf die ich sonst nie in meinem Leben gestoßen wäre, Männer, die für meine persönliche Entwicklung enorm wichtig waren und sind. Ich bin gefordert worden und werde auch künftig noch gefordert, vor allem, um an mir zu arbeiten. Zweitens kann ich mit den Brüdern über alles Mögliche reden und sicher sein, daß -98-
nichts, aber gar nichts, nach draußen getragen wird. Die Bruderschaft ist verschwiegen. Drittens, und das wird Sie vielleicht überraschen, haben wir in der Loge neben der ernsthaften Arbeit auch sehr viel Spaß. Wir sind kein stocksteifer Haufen, der nur diskutiert und Rituale herunterbetet." Kulenkampff hielt ein weiteres Mal kurz inne und fügte dann hinzu: „Ist Ihre Neugier jetzt gestillt, oder soll ich mehr erzählen?" Die Neugier des Hauptkommissars war ganz und gar nicht gestillt, er zeigte sich an vielerlei Themen interessiert, und so zog sich die Unterhaltung noch eine geraume Weile hin. Erst um zweiundzwanzig Uhr zehn verabschiedeten sich die beiden Männer und verließen das Gebäude. Bernack hatte zwar mehr getrunken als die Polizei erlaubt, er stieg aber trotzdem in sein Auto und fuhr nach Hause. Dank seines Dienstausweises, da war er sich sicher, würde er jede Kontrolle unbeschadet überstehen.
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9. Kapitel
Gerd Hanser traf Frau Westermann direkt vor ihrer Wohnungstür. Die Sekretärin war gerade aus der Martinistraße zurückgekehrt, wo sie dem Kripobeamten Hermann Kramnick beim Durchsehen der Geschäftsunterlagen geholfen hatte. Hanser stellte sich vor und kam dann auf sein Anliegen zu sprechen: „Ich bin ein Freund von Helmut Ansberg gewesen und unterstütze nun seine Schwester bei der Abwicklung des Nachlasses. Ich möchte so bald wie möglich damit beginnen, die Akten im Büro zu sichten, um den Wert der Firma einzuschätzen, sie soll nämlich verkauft werden. Würden Sie mir wohl Ihren Schlüssel geben, damit ich in die Räumlichkeiten gelange?" Frau Westermann musterte ihn und sagte: „Tut mir leid, das kann ich nicht so ohne weiteres. Es liegt mir fern, Sie beleidigen zu wollen, aber da könnte ja jeder kommen. Ich müßte schon die Erlaubnis der Polizei oder eines Angehörigen haben, bevor ich Ihnen irgend etwas aushändige." Hanser fluchte innerlich. Die Situation war absurd. Da hatte er den von Ansberg entwendeten Schlüssel in der Tasche, konnte ihn jedoch nicht benutzen und mußte deshalb sogar noch um einen zweiten betteln. Aber was sollte er machen? Er war auf die Kooperation dieser Frau angewiesen, also ent gegnete er: „Sie haben völlig recht. Sabine Heidmühl, die Schwester des Toten, befindet sich zur Zeit im Haus in der Marcusallee. Vielleicht wären Sie so freundlich, riefen dort eben an und ließen sich meine Geschichte bestätigen." Die Sekretärin zögerte kurz, erklärte sich dann allerdings doch dazu bereit: -100-
„Einverstanden. Warten Sie hier bitte einen Augenblick." Frau Westermann verschwand in ihrer Wohnung, kam nach ungefähr fünf Minuten wieder, übergab Hanser den Schlüssel und sagte: „Entschuldigen Sie nochmals, aber ich mußte mich wirklich erst absichern. Möchten Sie jetzt gleich schon ins Büro fahren, und soll ich Sie begleiten? Ich könnte Ihnen behilflich sein." „Vielen Dank, das ist sehr liebenswürdig. Ich denke jedoch, daß ich allein klar komme und Sie nicht bemühen muß. Wenn ich Probleme oder Fragen haben sollte, kann ich Sie ja immer noch anrufen." „Wie Sie wünschen. Bringen Sie mir den Schlüssel aber bitte bis spätestens Sonntag Abend wieder zurück." Hanser versprach, dies zu tun, verabschiedete sich und fuhr in die Innenstadt. Er hatte Frau Heidmühl zwar erzählt, bis achtzehn Uhr in seiner Firma erreichbar zu sein, jetzt brannte es ihm aber unter den Fingernägeln. Er wollte ganz schnell in die Martinistraße, um die Büroräume zu durchsuchen. Vor dem Hauptbahnhof geriet er allerdings in einen großen Stau - eine Demonstration Bremer Schüler und Lehrer legte den Verkehr völlig lahm. „Verdammte Scheiße, wieso rennen diese Penner auf einmal nachmittags durch die Stadt. Sonst laufen die doch immer morgens, damit der Unterricht ausfällt und ihre kostbare Freizeit nicht beeinträchtigt wird!" Aber alles Lamentieren war sinnlos, nichts ging mehr, er saß fest. Die Demonstranten kamen in einem Sternmarsch aus allen Ecken und strebten über den Herdentorsteinweg zum Marktplatz. Er konnte nicht einmal die Straße verlassen, seinen Wagen parken und zu Fuß zu Ansbergs Firma gehen. Geschlagene vierzig Minuten dauerte die Blockade, dann wurde zumindest der Strom auf dem Breitenweg ein bißchen -101-
dünner. Die ersten Autos schlichen sich stop and go vorwärts und nahmen Kurs auf den Rembertikreisel. Hanser schloß sich ihnen an. Er hätte zwar via Dobben, Sielwall und Osterdeich zur Martinistraße gelangen können, aber zum einen war er inzwischen viel zu genervt, und zum anderen mußte er auch annehmen, daß der Verkehr dort genauso katastrophal war. Deshalb entschied er sich, nach Hause zu fahren und es in ein, zwei Stunden noch einmal zu probieren. Als Hanser in der Hollerallee ankam, war die Schwester noch nicht wieder da. Seine Frau weigerte sich, ohne ihren Gast jetzt schon mit dem Abendbrot zu beginnen, und so begab er sich in sein Arbeitszimmer. Dort erreichte ihn um kurz nach sieben auch der Anruf des Hauptkommissars. Die beiden Männer verabredeten sich für den morgigen Nachmittag um achtzehn Uhr, und zwar in Hansers Firma, weil der es vorzog, bei dem Gespräch allein mit Bernack zu sein. Um halb neun wollte er einen erneuten Anlauf starten, um in die Büroräume von Ansberg zu kommen. Seine Frau war aber strikt dagegen. Erstens sei das unschicklich, er habe sich gefälligst um die arme Schwester zu kümmern, und zweitens sei am Samstag auch noch genügend Zeit dazu. Zähneknirschend gab er nach. Sabine Heidmühl traf dreißig Minuten später ein. Sie hatte Hunger und schlug vor, in ein Restaurant zu fahren. Ihre Gastgeberin war begeistert von dieser Idee, allerdings nur unter der Voraussetzung, daß sie beziehungsweise ihr Mann die Rechnung übernehmen dürfte. Hansers eigene Begeisterung hielt sich in engen Grenzen. Das Geld war ihm zwar völlig gleichgültig, aber über die verlorene Zeit ärgerte er sich sehr. Er hatte jedoch keine andere Wahl und mußte sich fügen. Seine Frau erklärte, sie wolle sich bloß noch schnell frisch machen, und da er nur zu gut wußte, wie lange das dauern -102-
würde, bat er die Schwester auf einen Drink ins Wohnzimmer. Es blieb natürlich nicht bei diesem einen Drink, und Hanser vergaß seinen Groll. Immerhin fand er Sabine Heidmühl höchst attraktiv, so attraktiv, daß sie ihm noch mehr schenken sollte als bloß das Vertrauen in geschäftlichen Dingen. Ihr Gespräch bezog sich hauptsächlich auf den toten Bruder, aber auch bei diesem ernsten Thema gab sich Hanser charmant, witzig und weltoffen. Er zeigte sich von der besten Seite, paßte allerdings auf, sein Blatt nicht zu überreizen, denn er wollte das Feld ja nur vorbereiten, um dann nach Abschluß der Ermittlungen zu ernten. Um einundzwanzig Uhr fünfzig war seine Frau schließlich fertig, und so konnten sie aufbrechen. Das Abendessen verlief harmonisch, und nicht zuletzt durch die alkoholischen Getränke wurde die Stimmung he iterer und ausgelassener, als auf Grund der Umstände zu erwarten war. Erst weit nach Mitternacht kehrte man in die Hollerallee zurück und ging schla fen. Dabei mußte Hanser das Bett aber bedauerlicherweise mit der Hausherrin teilen, obwohl er den Gast ohne Frage vorgezogen hätte. Am Samstag Morgen stand er schon um sieben Uhr auf, trank nur einen Kaffee und fuhr dann in die Martinistraße. Im Büro von Ansberg sah er sich zunächst nach einem Safe um, konnte keinen finden, setzte sich deshalb an den Schreibtisch des ermordeten Bruders und durchsuchte diesen. Er entdeckte darin jedoch nichts, was für ihn von Bedeutung gewesen wäre. Hanser schaltete den PC ein und ließ sich das Inhaltsverzeichnis der Festplatte ausdrucken. Er rief systematisch eine Datei nach der anderen auf, stieß nach zehn Minuten auf die Tabellen mit der Darstellung seiner Betrügereien, registrierte, daß diese Auflistung absolut identisch war mit derjenigen, die er schon kannte, und löschte sie. Dann schaute er weiter, fand zu seiner großen Beruhigung allerdings nur noch Zeichnungen für die Loge und Vorgänge, die -103-
ausschließlich Ansbergs Geschäfte betrafen. Als nächstes sah er die in einer Box auf dem Schreibtisch stehenden Disketten durch, sie enthielten aber nur kaufmännische Informationen über die Klientel des Toten. Gleiches galt auch für die elektronisch gespeicherten Daten am Arbeitsplatz der Sekretärin, die er sich dann vornahm. Um viertel nach zehn zog Hanser eine Zwischenbilanz. Außer der gleich zu Beginn entdeckten hatte es keine weitere, ihn gefährdende Datei gegeben, und die war inzwischen gelöscht. Er fand, daß er sich jetzt eine kurze Pause gönnen durfte, verließ die Büroräume und ging in ein Café am Marktplatz, um eine Kleinigkeit zu frühstücken. Eine gute halbe Stunde danach war er wieder in der Martinistraße und setzte seine Suche fort. Er glaubte eigentlich nicht daran, daß zusätzliche, ihn möglicherweise in Bedrängnis bringende Schriftstücke existierten, aber er wollte seiner Sache ganz sicher sein, und so durchforschte er auch noch die Aktenordner in den Regalen. Um dreizehn Uhr vierzig war Hanser damit fertig, etwas für ihn Bedrohliches hatte er nicht mehr aufgespürt. Er bemerkte seinen Hunger und begab sich zum Schüsselkorb, wo er bei Feinkost Hocke vorzüglich speiste. Während des Essens überlegte er, was jetzt zu tun wäre. Auf jeden Fall mußte er noch einmal zurück, um seine offizielle Arbeit zu erledigen. Zwar hatte er beim Fahnden nach belastendem Material schon eine grobe Taxierung des Verkaufspreises von Ansbergs Firma vorgenommen, aber das reichte noch nicht. Die Schwester kannte sich als Geschäftsfrau sicherlich gut aus und wollte bestimmt genauere Informationen haben. Kein Problem, die würde er ihr liefern. Das Problem war, daß er nicht wußte, ob er wirklich alles aus der Welt geschafft hatte, was später einmal gegen ihn verwendet werden konnte. Er dachte dabei weniger an seine besudelten -104-
Klamotten, obwohl ihm klar war, daß er die noch immer keineswegs endgültig vernichtet hatte, sondern an Dokumente oder Unterlagen, welche der Polizei nie in die Hände fallen durften. Gab es Spuren, die sein Motiv enthüllten und noch nicht verwischt waren? Befand sich die Kripo vielleicht doch schon auf seiner Fährte? Hatte sie im Büro des Ermordeten Beweise gegen ihn gefunden? Und wenn ja, welche? Eine Menge Fragen und nicht ganz einfach zu beantworten, deshalb versuchte Hanser, das Problem anders anzugehen: Wer war in der Lage, was zu finden? Abgesehen von den Zeichnungen für die Loge, handelte in der Firma des Toten alles von kaufmännischen Dingen. Das galt an und für sich auch für die gelöschte Datei. Wenn derjenige, der in diesen Räumen nachgeforscht hatte, wahrscheinlich wohl der Hauptkommissar, nichts von den Geschäften des Bruders verstand, dann war er mit der Materie überfordert und wü rde sie für böhmische Dörfer halten. Wie groß war also Bernacks ökonomische Kompetenz? Hanser glaubte, nicht sehr groß. Zumindest hoffte er das. Was folgte daraus? Daß sich der Beamte bestimmt Unterstützung besorgt hatte! Wer kam dafür am besten in Frage? Ansbergs Sekretärin! Wenn sie ihm tatsächlich behilflich gewesen war, dann wußte sie auch, was er sich angesehen und eventuell mitgenommen hatte! Hanser mußte sich deshalb mit ihr in Verbindung setzen. Er zahlte, ging zurück in die Martinistraße und rief sie an: -105-
„Entschuldigen Sie bitte die Störung in der Mittagszeit, Frau Westermann, aber ich habe ein kleines Problem. Ich nehme an, daß die Polizei schon hier im Büro war und herumgestöbert hat, um etwas zu finden, was irgendwie mit dem Mordfall zusammenhängt. Mir ist die Idee gekommen, daß Sie dabei geholfen haben könnten, und mich interessiert, ob die Beamten Akten oder Dokumente beschlagnahmt haben, ich meine wichtige Unterlagen, von denen ich wissen müßte, damit ich den Wert der Firma richtig einschätzen kann." „Ich bin tatsächlich gestern mit einem Herrn von der Polizei im Büro gewesen. Der Hauptkommissar hatte mich gebeten, einem Kollegen von ihm zur Seite zu stehen, weil ich mich in unserem Geschäft natürlich besser auskenne. Wir haben den ganzen Tag dort gearbeitet, aber eigentlich jeder für sich, denn dieser Herr wußte offensichtlich recht gut Bescheid. Er stellte jedenfalls nur wenig Fragen an mich. Originale hat er keine mitgenommen, sich aber von der ein oder anderen Unterlage Kopien gemacht." Die gute Nachricht war die, daß die Kripo nichts gefunden und konfisziert hatte, was Hanser unbekannt war und womit er hätte überrascht werden können. Die schlechte Nachricht war die, daß Bernack nicht selbst, sondern ein Experte aufgetaucht war. Wovon nur hatte dieser Mann sich Kopien gezo gen? Hanser traute sich nicht, direkt nachzuhaken, denn diese Frage ging über das, was er für seinen offiziellen Auftrag wissen mußte, erheblich hinaus, und ein unmotiviert erscheinendes Weiterbohren konnte ihn bei dieser mißtrauischen Frau verdächtig machen. Deshalb versuchte er es über einen Umweg: „Dann sieht es ja so aus, als wenn der Beamte fündig geworden wäre. Wie schön! Die Unterlagen, die ihn näher interessiert haben, müssen auf eine vielversprechende Spur hindeuten, denn sonst hätte er sie doch nicht kopiert. Er war bestimmt hochzufrieden, oder?" -106-
„Ihren Optimismus kann ich leider nicht teilen. Soweit ich das verfolgen konnte, handelt es sich bei dem, was der Herr mitgenommen hat, nur um ganz normale Geschäftsvorgänge, vielleicht etwas umfangreicher und schwieriger zu durchschauen als üblich. Ich vermute, daß er hier nicht die Zeit hatte, sich gründlich damit zu befassen und sie sich darum zu Hause oder auf seiner Dienststelle in Ruhe ansehen will. Daß dabei viel herauskommt, wage ich aber zu bezweifeln." „Dann ist meine Hoffnung nicht begründet gewesen. Schade. Trotzdem vielen Dank für Ihre Auskunft." „Gern geschehen. Wenn Sie noch zusätzliche Fragen haben ich stehe Ihnen natürlich auch weiterhin zur Verfügung. Vergessen Sie aber bitte nicht, mir den Schlüssel reinzureichen, wenn Sie fertig sind." „Keine Bange, daran denke ich schon. Auf Wiederhören." „Auf Wiederhören." Hanser legte erleichtert auf. Er hatte genau das erfahren, was er hören wollte. Die Kripo war, wenn überhaupt, nur in Besitz der von ihm gelöschten Datei, und mit der würde sie nicht viel anfangen können. Damit mußte er nun doch wirklich aus dem Schneider sein. Gut gelaunt widmete er sich jetzt dem, was er der Schwester versprochen hatte, arbeitete sehr intensiv bis siebzehn Uhr dreißig und fuhr dann in seine Firma. Der Verabredung mit dem Hauptkommissar sah er ausgesprochen zuversichtlich entgegen.
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10. Kapitel
Carl Bernack mußte am Samstag Morgen erst ein paar Mal laut klopfen, bis seine Anwesenheit registriert wurde und Harald Krüger an die Tür kam, denn sein Geschäft war um neun Uhr noch nicht geöffnet. Er sperrte auf, ließ den Hauptkommissar hinein und schloß dann wieder ab. Der Buchhändler, er mochte etwa Anfang fünfzig sein, hatte einen Haarschnitt wie Prinz Eisenherz und eine randlose Brille mit dicken Gläsern auf der Nase. Er trug eine grobe Cordhose samt Strickjacke und verkörperte zusammen mit seinem kleinen vollgepfropften Laden genau das Klischee des Büchernarren, dem die Literatur weit wichtiger ist als die gefüllte Kasse. Vor allem aber hatte er seinen rechten Arm in Gips. Krüger bat Bernack in ein Kabuff nach hinten, wo erst einmal diverse Druckwerke zur Seite geräumt werden mußten. Zwei Schemel wurden sichtbar, und die beiden Männer setzten sich darauf. Der Hauptkommissar fragte sich, warum ihm die doch ziemlich leicht erkennbare Verletzung seines Gegenübers nicht schon am Mittwoch Abend aufgefallen war, aber möglicherweise hatte es die zu dem Zeitpunkt ja noch gar nicht gegeben. Nun, das ließ sich einfach in Erfahrung bringen: „Bevor ich auf den Mord an Helmut Ansberg zu sprechen komme, was ist denn mit Ihrem Arm passiert?" „Das war ein ebenso dummer wie typischer Unfall, dumm und typisch jedenfalls für mich. Ich bin vor knapp drei Woche n von der Leiter gefallen, als ich ganz oben in einem Regal ein bestimmtes Buch gesucht und gefunden habe. Es war nur ein bißchen weit weg von mir und anstatt herunterzusteigen, und die Leiter neu aufzubauen, wollte ich mich lang machen. Das ist mir auch gelungen, allerdings auf dem Fußboden. Der Gips behindert mich doch sehr, er wird aber Gott sei Dank schon bald -108-
wieder abgenommen!" Bernack nahm sich vor, die Angaben Krügers von einem seiner Assistenten überprüfen zu lassen, glaubte jedoch nicht, daß er belogen worden war. So wie dieser Bücherwurm hier vor ihm saß, konnte er sich ihn auch ohne Gips beim besten Willen nicht als kaltblütigen Mörder vorstellen. Wahrscheinlich war er zur Tatzeit, zurückgezogen in einer stillen Ecke, in irgendeinen dicken Wälzer vertieft gewesen. Der Hauptkommissar ging daher gar nicht erst auf das fehlende Alibi des anderen ein. Am ehesten konnte er von Krüger wohl noch etwas Interessantes im Hinblick auf das Leben in der Loge oder im Zusammenhang mit seinem Beruf und seiner offensichtlichen Leidenschaft erfahren. Also fragte er: „Ansberg war, nach allem was ich bisher gehört habe, ein herzensguter Mensch. Trotzdem ist er erschlagen worden. Können Sie sich denken, wer das getan hat oder warum das getan wurde? Wissen Sie etwas von Spannungen oder Streit unter den Brüdern?" „Helmut muß einen Feind gehabt haben, soviel ist gewiß, denn sonst wäre er quicklebendig, und Sie würden hier nicht sitzen. Aber daß dieser Feind aus unserer Loge kommt, möchte ich wirklich mehr als nur bezweifeln." „Dann verlassen wir mal die reale und gehen in die literarische Welt: Gibt es dort vielleicht einen ähnlichen Fall? Sie sind doch sicher sehr belesen!" „Es gibt zugegebenermaßen eine Menge klassischer Tragödien und auch sehr gut geschriebener Krimis, mir ist jedoch nichts bekannt, was hierzu paßt. Natürlich könnte ich eine Geschichte konstruieren, mehr als ein Groschenroman käme dabei allerdings nicht heraus. Tut mir aufrichtig leid, aber ich weiß nicht, wie ich Ihnen helfen soll. Ich tappe völlig im Dunkeln." -109-
Damit hatte Bernack fast gerechnet. Er wußte nicht, wie er die Vernehmung weiterführen sollte, und überdies ödete ihn die langweilige Routine heute Morgen schrecklich an. Er schaute auf seine Armbanduhr - viertel nach neun. Mit Jens Czerny, dem nächsten der sieben Zwerge war er erst um elf Uhr dreißig verabredet, er mußte also noch mehr als zwei Stunden überbrücken. Ein wenig ratlos sah er sich um. Dann kam ihm eine Idee: „Sie haben doch bestimmt ein großes Sortiment an freimaurerischer Literatur. Dürfte ich darin mal stöbern?" „Selbstverständlich. Kommen Sie mit, ich zeige Ihnen, wo das ist." Krüger stand auf, begab sich zu einem Regal, und der Hauptkommissar folgte ihm. „Hier finden Sie so ziemlich alles, was es gibt auf dem Markt. Falls Sie etwas wissen möchten - ich bin hinten im Kabuff." Bernack bedankte sich und begann, die Bücher durchzusehen. Als es kurz nach zehn war, nahm er das seiner Meinung nach informativste Werk, bezahlte, verabschiedete sich und ging gleich nebenan in ein Café. Im Gegensatz zu den anderen Brüdern, die von ihm vernommenen worden waren, machte er sich bei Krüger gar nicht mehr die Mühe, über dessen Person nachzudenken, denn der kam für ihn als Mörder nicht in Frage. So hatte der Hauptkommissar Muße, das eben gekaufte Buc h noch einmal in aller Ruhe durchzublättern und eine Zigarette zu rauchen. Um elf Uhr zwanzig brach er auf. Da er ohne zu hetzen fuhr, erreichte er die Bremer Universität ein bißchen zu spät und benötigte dann auch noch ein paar Minuten, um das Zimmer von Jens Czerny zu finden. Der arbeitete an der Hochschule als Informatikprofessor und hatte vorgeschlagen, sich hier zu treffen. -110-
Bernack klopfte wie schon bei Krüger an die Tür, hörte nur den kurzen Befehl `Herein!´ und betrat den Raum. Czerny saß in einem Sessel vor seinem Computer, wandte den Blick aber nicht vom Monitor ab, sondern deutete mit einer Handbewegung nur auf den einzigen Stuhl, der neben einem halbhohen Schrank an der Wand stand. Der Hauptkommissar setzte sich, verzichtete nicht bloß wegen dieser überaus `freundlichen´ Begrüßung auf die Entschuldigung für seine Unpünktlichkeit und beobachtete den Mann. Der Professor war noch ziemlich jung, allerhöchstens Mitte dreißig und schätzungsweise einen Meter achtzig groß. Er trug eine flanellene Anzughose und ein hellblaues Hemd mit dunkelblauer Krawatte, das Jackett hatte er über die Lehne gehängt. Am auffälligsten waren die knallroten Hosenträger. Solch eine Aufmachung kannte Bernack nur aus Hollywoodfilmen, wo aalglatte Yuppies ein Hohelied auf ihr Ego sangen. Daß jetzt schon Hochschullehrer aus der norddeutschen Provinz dem, zumindest äußerlich, nachzueifern versuchten, ge fiel ihm überhaupt nicht. Er beschloß, den Informatiker nicht zu mögen, immerhin hatte er in der letzten Zeit schon genug Leute sympathisch gefunden, und Czerny tat ihm den Gefallen, sich weiterhin herablassend zu verhalten. Er blickte sich nur kurz um, starrte dann wieder auf seinen Bildschirm und fragte: „Können Sie sich legitimieren?" Der Hauptkommissar dachte, `das ist ja wirklich ein reizendes Bürschchen´, zückte seinen Dienstausweis, stand auf, wedelte damit direkt vor dem Monitor hin und her und entgegnete: „Können Sie lesen?" Der Professor guckte etwas verwirrt zu dem neben ihm stehenden Beamten empor und antwortete: „Was soll das? Was tun Sie da?" -111-
„Ich bin ein altmodischer Mensch, der daran gewöhnt ist, daß die Leute mich ansehen, wenn sie mit mir reden, und ich bemühe mich nur, Sie darauf aufmerksam zu machen." „So ein Quatsch. Kommen Sie lieber zur Sache. Ich gebe Ihnen genau fünf Minuten!" „Na, da schau her, unser kleiner Möchtegern-Bill-Gates hat es eilig. Er muß mit seiner Horn-Lehe-Connection nämlich noch heute das Silicon-Valley erobern!" Bei den letzten Worten packte Bernack den Sessel, drehte ihn herum und schob den verdutzten und wie gelähmt erscheinenden Czerny Richtung Schrank. Nur allzu gern hätte der Hauptkommissar auch noch an den Hosenträgern gezogen und sie auf den Bauch des anderen zurückschnellen lassen, aber unter Aufbietung all seiner Willenskraft verzichtete er dann doch darauf, setzte sich wieder in den Stuhl und sagte: „Hören Sie mir gut zu, denn ich werde es nur ein einziges Mal erklären. Sie haben exakt zwei Möglichkeiten: entweder Sie arbeiten mit mir zusammen oder Sie arbeiten gegen mich. Im ersten Fall bin ich wahrscheinlich ganz schnell verschwunden, im zweiten Fall werde ich Sie aber sogar noch nachts in Ihren Träumen verfolgen. Ist das klar?" Czerny schluckte, sah den Beamten eingeschüchtert an und erwiderte: „In Ordnung. So beruhigen Sie sich doch. Was möchten Sie denn gern wissen?" Der Hauptkommissar lächelte in sich hinein. Jedes Mal das gleiche, dachte er. Erst reißen sie ihr Maul auf und markieren den dicken Max, dann kriegen sie ein bißchen Kontra, und schon kneifen sie den Arsch zusammen. Flasche n! „Wie gut kannten Sie Helmut Ansberg?" „Ich bin noch nicht lange in Bremen und wurde erst vor ein paar Wochen von der Loge Neptun zu den Alten Pflichten -112-
angenommen, daher..." „Sie meinen: aufgenommen." „Nein: angenommen. Ich stamme aus Fulda, und dort is t meine Mutterloge. Als ich in den Norden gezogen bin, habe ich mir hier auch eine neue freimaurerische Heimat gesucht, eben Neptun zu den Alten Pflichten. Und wenn man schon Bruder ist, dann wird man von der neuen Loge nicht auf-, sondern angenommen." „Okay. Fahren Sie fort." „Also. Da ich erst seit kurzer Zeit in Bremen wohne und darüber hinaus auch beruflich eine ganze Menge um die Ohren habe, kenne ich meine Brüder noch nicht so gut. Als ich von der Ermordung Ansbergs erfuhr, wußte ich ehrlich gesagt gar nicht genau, um welchen Bruder es sich handelte und mußte mich deshalb erkundigen, wer er denn überhaupt gewesen war." „Demnach brauche ich Sie auch nicht zu fragen, ob Ansberg Ihrer Kenntnis nach Feinde gehabt hatte, oder?" „Nein, das können Sie sich wirklich schenken." „Dann machen wir anders weiter. Wo waren Sie am vergangenen Mittwoch zwischen achtzehn und neunzehn Uhr drei-ßig?" „Hier an der Uni, und zwar allein in diesem Zimmer, um schon gleich Ihre nächste Frage zu beantworten." „Das habe ich in der Tat noch wissen wollen. Für den Moment ist meine Neugier damit befriedigt. Das war doch alles gar nicht so schlimm und hat nicht einmal fünf Minuten gedauert, warum dann diese ganze Aufregung zu Beginn?" Czerny schwieg, und so erhob sich Bernack, verließ die Uni, steckte sich eine Zigarette an und fuhr nach Hause. Im Unterschied zum Buchhändler war der Informatiker ein Mann, mit dem sich der Hauptkommissar gedanklich noch beschäftigen mußte. Er hatte von Anfang an einige Vorbehalte -113-
gegen Czerny gehabt, aber das stempelte den ja nicht automatisch zum Mörder. Tatsächlich sprachen auch mindestens zwei Gründe dafür, daß er unschuldig war: zum einen sein biographischer Hintergrund, denn wenn der stimmte, dann gab es vermutlich kaum einen Berührungspunkt zwischen ihm und Ansberg, und zum anderen seine Intelligenz, denn der wahre Täter hätte sich wohl nicht so töricht und eingebildet verhalten wie er. Aber ganz sicher konnte sich Bernack seiner Sache noch keineswegs sein, deshalb strich er Czerny nur aus der ersten Reihe der Verdächtigen und setzte ihn ins hintere Glied. In seiner Wohnung angekommen, holte sich der Hauptkommissar eine Tiefkühl-Pizza aus dem Gefrierfach und steckte sie in den Herd. Er aß ohne Begeisterung und las dabei in dem gerade erstandenen Freimaurer-Buch. Um halb zwei setzte er sich erneut ins Auto und machte sich auf den Weg zu Joachim Glaubitz, dem sechsten seiner sieben Zwerge. Dessen Frau öffnete ihm, führte ihn ins Wohnzimmer, wo ihr Mann auf einem Sofa saß und die `Zeit´ studierte, machte die beiden miteinander bekannt und verließ dann den Raum. Glaubitz war mittelgroß, etwas gedrungen und mußte ungefähr zur gleichen Generation gehören wie der Tote, jedenfalls schätzte ihn Bernack, der die genauen Daten aus der Akte mal wieder vergessen hatte, auf Anfang vierzig. Der Hauptkommissar begann mit dem Gespräch: „Bei Ihrer Vernehmung am letzten Mittwoch haben Sie zu Protokoll gegeben, daß Sie zu Helmut Ansberg auch außerhalb der Loge einen regen freundschaftlichen Kontakt gepflegt hätten. Könnten Sie das präzisieren?" „Ich will es versuchen. Helmut und ich glichen uns vom Naturell her sehr stark, wir besaßen eine ähnliche Wellenlänge. Er war ein ruhiger, gewissenhafter, freundlicher, bescheidener und vor allem auch gerechtigkeitsliebender Mensch, und ich, nun ja, ich möchte mir eigentlich nicht selbst auf die Schulter -114-
klopfen, sehe mich aber in etwa genauso. Wir haben uns in der Tat nicht nur mittwochs im Logenhaus getroffen, sondern mindestens einmal die Woche auch im privaten Rahmen." „Sie hatten die gleichen Hobbys und Interessen?" „Die gleichen Interessen schon, jedenfalls wenn Sie darunter etwas eher Abstraktes oder Übergeordnetes verstehen wie Geisteshaltung oder die Herangehensweise an eine Sache. Ich weiß nicht, ob ich mich da deutlich genug ausgedrückt habe, eine bessere Formulierung fällt mir aber nicht ein. Bei den Hobbys, damit meine ich im Gegensatz zu den Interessen durchaus konkrete Dinge, sah das anders aus. Ich selbst habe eigentlich gar kein besonders ausgeprägtes Steckenpferd, und Helmut war vor allem ein großer Opernfan. Diese Leidenschaft hat ihn jedoch mehr mit dem Bruder Freese als mit mir verbunden, Sie sehen also, eineiige Zwillinge waren wir nicht." „Wenn ich Sie richtig verstanden habe, gab es aber eine relativ enge Verwandtschaft im Denken und Fühlen. Ist das korrekt?" „Ja, würde ich sagen." „Gut. Können Sie sich dann vorstellen, warum Ansberg ermordet wurde?" „Nein, tut mir leid. Das habe ich mich selbst - ergebnislos auch schon oft genug gefragt." „Okay, probieren wir es anders herum. Nach allem, was wir bisher an Informationen zusammengetragen haben, was zu meinem Bedauern noch sehr wenig ist, könnte es so gewesen sein, daß Ansberg erschlagen wurde, weil er zu viel wußte, möglicherweise über einen seiner Mitbrüder. Nehmen wir mal an, ein Freimaurer Ihrer Loge hat Dreck am Stecken, und Ansberg kommt dahinter. Wie hätte er sich Ihrer Meinung nach verhalten, oder, wenn das einfacher ist: Wie hätten Sie sich verhalten?" Glaubitz überlegte kurz und erwiderte dann: -115-
„Falls durchführbar, würde ich mich in solch einer Situation immer bemühen, das Problem logenintern zu klären. Das heißt, ich würde, bevor ich an die Öffentlichkeit gehe, entweder erst mit dem betreffenden Bruder selbst sprechen oder aber mit meinem Meister vom Stuhl. Und Helmut hätte es wohl genauso gemacht." Glaubitz dachte wieder eine kleine Weile lang nach und fuhr schließlich fort: „Wenn ich es recht bedenke, dann glaube ich, nein, dann bin ich überzeugt davon, daß Helmut zunächst mit dem betreffenden Bruder selbst gesprochen hätte, bevor er zu unserem Meister vom Stuhl gegangen wäre. Er war immer ein korrekter, manchmal sogar zu korrekter Mensch, und es fiel ihm mitunter schwer, fünfe gerade sein zu lassen. Es könnte schon sein, daß er irgend jemandem zu stark auf die Zehen getreten ist." Der Hauptkommissar zeigte sich überrascht: „Sie sind der erste, der nicht protestiert, sondern sich vorstellen kann, daß der Mörder aus der Loge kommt!" „Freimaurer sind ja auch keine Heiligen, warum sollte ich also protestieren? Aber wie bereits erwähnt, ich habe nicht die mindeste Ahnung, wer der Täter ist." „War Ansberg schwul?“ „Nein, wie kommen Sie denn darauf?“ „Ich hatte keinen besonderen Grund, diese Frage zu stellen. Ich hatte aber auch keinen Grund, diese Frage nicht zu stellen. Wie sah es denn mit seinem Liebesleben aus? Eine Freundin hat er doch nicht gehabt, oder?“ „Das stimmt schon, zumindest was die letzten Jahre betrifft.“ „Und, wie muß ich mir Ansberg nun vorstellen? Eher als Mönch oder eher als Wüstling?“ Glaubitz lachte auf: „Helmut und ein Wüstling? Nein, das paßt nun überhaupt -116-
nicht zusammen. Da ist das Bild vom Mönch schon sehr viel besser.“ Bernack räusperte sich. „Eine letzte Frage noch: wo waren Sie am vergangenen Mittwoch in der Zeit von achtzehn bis neunze hn Uhr dreißig?" „Allein in meiner Firma." „Ein fleißiges Volk, diese Freimaurer!" „Wie bitte?" „Ich sagte, ein fleißiges Volk, diese Freimaurer. Die meisten, mit denen ich bisher gesprochen habe, waren noch bei der Arbeit, als der Mord geschah." „Einer nicht." „Nein, einer nicht." Der Hauptkommissar erhob sich. „Sie haben mir sehr geholfen, besten Dank. Bleiben Sie ruhig sitzen, ich finde den Weg." Glaubitz stand aber trotzdem auf und geleitete ihn zur Haustür, wo sich die beiden Männer verabschiedeten. Be rnack stieg in seinen Wagen, nahm sich Tabak und Blättchen, drehte sich eine Zigarette, setzte sie in Brand und fuhr heim. Dabei zog er ein vorläufiges Fazit: Langsam gingen ihm die Kandidaten aus, denn bei Glaubitz handelte es sich seiner Meinung nach ebenfalls nicht um den gesuchten Mörder. Soweit er das hatte beobachten können, waren alle sechs der bisher verhörten sieben Zwerge Rechtshänder, allerdings schieden zwei vermutlich schon allein auf Grund ihrer körperlichen Defizite aus, nämlich Biermann wege n seines Zwergenwuchses und Krüger wegen seiner Verletzung. Die anderen vier brachten mehr oder weniger alle physischen Voraussetzungen mit, um Ansberg zu erschlagen, aber nur Freese konnte er sich als Täter vorstellen - und der besaß -117-
inzwischen ein Alibi! Wenn das stimmte und wenn sich nachher auch noch Hanser aus dem Kreis der Verdächtigen davonmachen sollte, dann hatte sich seine Theorie wohl als falsch erwiesen, und er mußte wieder von vorn anfangen. Er hoffte sehr, daß es so weit nicht kommen würde. Zu Hause holte der Hauptkommissar seinen Wecker aus dem Schlafzimmer, stellte ihn auf siebzehn Uhr fünfzehn, legte sich auf das Sofa und schlief sofort ein. Ein penetrantes Klingeln ließ ihn aber schon knapp anderthalb Stunden später wieder hochfahren, viel zu früh, wie er nach einem Blick auf seine Armbanduhr mißmutig dachte. Das Gebimmel kam allerdings nicht vom Wecker, sondern vom Telefon. Seine Assistentin war am Apparat und erklärte ihm, daß die Haushälterin Gerda Heißenbüttel nichts Verwertbares berichten konnte, und daß beim Herrenausstatter Zechbauer in den letzten Wochen keine weißen Handschuhe verkauft worden waren. Steter hatte den Verkäufern in diesem Laden aber eingeschärft, ihr unverzüglich Bescheid zu geben, falls noch jemand auftauchen und danach verlangen sollte. Darüber hinaus war es ihr gestern schon gelungen, zwei der restlichen drei Schlüssel zu identifizieren: einer paßte zum Gebäudeeingang und einer zur Bürotür in der Martinistraße. Jetzt blieb nur noch der sechste übrig. Als die Assistentin mit ihrem Vortrag zu Ende war, fragte sie nach neuen Anweisungen. Bernack hatte den Hörer zwischen Schulter und Ohr geklemmt und rieb sich die Augen, um langsam wach zu werden. Er nannte der Assistentin den Termin der Trauerfeier, erzählte von seinen Vernehmungen und gab ihr den Auftrag, die Aussagen von Krüger und Czerny zu überprüfen. Dann legte er auf. Er war mehr als verstimmt darüber, daß er durch Steters Anruf aus dem Schlaf gerissen worden war, seine Untergebene -118-
hatte ihm aber keinen Angriffspunkt geliefert, und daher mußte er ein anderes Opfer finden, um sich abzureagieren. Also rief er Neukirch an und erkundigte sich nach eventuell schon vorliegenden Resultaten von dessen Wochenend-Arbeit. Der Assistent teilte ihm mit, daß es sich bei den Namen und Anschriften in Ansbergs Adressbüchlein um ein paar wenige Geschäftsfreunde und ansonsten ausschließlich um Brüder aus der Loge handelte. Drei Bridgespieler hatte er noch erreicht, aber nichts von ihnen erfahren. Freese war mit seiner Frau kurzfristig verreist, um die wollte er sich deshalb erst am Montag kümmern. Die letzte Nachricht gab dem Hauptkommissar den gewünschten Vorwand: „Wieso", bellte er ins Telefon, „haben Sie sich nicht mit der Schwiegermutter in Verbindung gesetzt? Das ist doch die Frau, die Sie wegen des Alibis befragen müssen, und nicht deren Tochter! Mein Gott, sind Sie denn nicht einmal in der Lage, eine solch leichte Aufgabe zu erledigen?" Der auf diese Weise fertig gemachte Assistent schwieg, und auch Bernack ließ sich ein bißchen Ze it - der wesentliche Zweck seines Telefonats war erfüllt. Als er sich wieder beruhigt hatte, informierte er Neukirch wie zuvor schon Steter, gab ihm aber keine zusätzliche Order, weil es klar war, daß sein Untergebener so schnell wie möglich die Schwiegermutter kontaktieren würde, und weil die im Adressbüchlein notierten Geschäftsfreunde erst dann interessant wurden, wenn sich die Freimaurer-Theorie als endgültig falsch erwiesen hatte. Nach Beendigung des Gesprächs kochte sich der Hauptkommissar einen Tee, rauchte eine Zigarette und hörte sich im Radio eine Sendung über die Fußball- Bundesliga an. Seit die Fernsehübertragungsrechte an SAT 1 verkauft worden waren, begnügte er sich mit dem Rundfunk. Die vielen -119-
Werbespotunterbrechungen in der Glotze nervten ihn. Um zwanzig vor sechs setzte er sich in Bewegung und fuhr zu Hansers Firma. Der Freimaurer begrüßte ihn an der Tür, bat ihn in sein Arbeitszimmer und ergriff das Wort: „Was möchten Sie gern wissen?" „Nun, zunächst einmal beschäftigt mich die Frage nach Ihrem Verhältnis zu dem Ermordeten. Seine Schwester wohnt während der Tage, die sie sich in Bremen aufhält, bei Ihnen, und soviel ich weiß, sind Sie ihr auch darüber hinaus behilflich. Daher vermute ich, daß Ihre Beziehung zu Ansberg einigermaßen intensiv gewesen ist." „Das stimmt so nicht. Wie ich bei der ersten Vernehmung am Mittwoch schon angegeben habe, bin ich beruflich sehr stark engagiert, da bleibt nur ganz wenig Zeit für mein Privatleben. Ich hatte mit Helmut daher auch bloß in der Loge zu tun. Um seine Schwester kümmere ich mich, weil mein Meister vom Stuhl darum gebeten hat und weil ich selbst es zudem als meine brüderliche Pflicht ansehe." „Okay. Haben Sie einen Verdacht oder eine Vorstellung darüber, wie sich das Verbrechen abgespielt haben könnte?" „Ich fürchte, ich kann Ihnen da nicht helfen. Tatsächlich fällt es mir sogar schwer, überhaupt daran zu glauben, daß Helmut erschlagen wurde." Der Hauptkommissar schüttelte leicht den Kopf. „Nicht ein einziger, mit dem wir bisher gesprochen haben, hat auch nur einen blassen Schimmer von dem, was in Ihrem Tempel wohl vorgefallen ist. Zumindest behauptet jeder, völlig ahnungslos zu sein. So haben wir keine Chance, das Motiv und damit den Täter zu finden." Bernack machte eine kurze Pause, ehe er fortfuhr: „Was hat Frau Heidmühl eigentlich mit dem Erbe vor? Will -120-
sie die Firma und das Haus verkaufen?" „Ja. Das ist die in ihren Augen vernünftigste Lösung." „Und Sie unterstützen die Dame dabei?" „Ich weiß in Bremen nun mal besser Bescheid und fühle mich, wie schon erwähnt, ihr gegenüber verpflichtet." „Wie genau sieht Ihre Hilfe denn aus?" „Ich bin ihr Ansprechpartner für alles Mögliche, und wenn sie irgendwohin will, fahre ich sie mit dem Wagen, vorausgesetzt, meine Zeit läßt das zu." Hanser zögerte einen kleinen Augenblick lang und ergänzte dann: „Obendrein hat sie mich beauftragt, die Geschäftsunterlagen ihres Bruders zu sichten, um den Wert der Firma zu taxieren." „Sind Sie damit schon angefangen?" „Ja, ich war von heute Morgen bis gerade eben in der Martinistraße und bin die Akten durchgegangen. Jetzt habe ich hier noch eine Menge für meinen eigenen Betrieb zu tun." „In Ansbergs Büro ist Ihnen aber nichts Merkwürdiges oder Verdächtiges aufgefallen?" „Nein. Ich habe nur ganz normale kaufmännische Vorgänge gefunden und ein paar Zeichnungen - so nennen wir Freimaurer die Referate, die im Tempel gehalten werden." „Tja, ich gebe zu, ich hatte ein bißchen mehr von unserem Gespräch erwartet. Diese Hoffnung ist nun zerplatzt, und ich will Sie nicht weiter belästigen. Nur eines noch: wo waren Sie am Tag von Ansbergs Ermordung, und zwar abends zwischen sechs und halb acht?" „Bei mir zu Hause. Ich habe die Firma gegen siebzehn Uhr dreißig verlassen, bin dann heimgefahren und dort geblieben, bis ich wieder aufbrechen mußte, um rechtzeitig in die Loge zu kommen." -121-
„Ist Ihnen mittlerweile noch ein Zeuge dafür eingefallen?" „Nein." „Dann lasse ich Sie jetzt in Ruhe. Bemühen Sie sich nicht, ich finde allein hinaus." Aber Hanser war ebenso wie Glaubitz ein höflicher Mensch, und so kam auch er mit an die Tür und sagte auf Wiedersehen. Der Hauptkommissar zündete sich die wohlverdiente Zigarette an und blieb noch einen Moment lang draußen stehen. Im Prinzip war dies eben eine stinknormale Vernehmung gewesen, so wie er sie schon einige hundert Male erlebt hatte. Was also sollte er von Hanser halten? Von den Bedingungen her, die der Täter auf Grund der gerichtsmedizinischen Ergebnisse erfüllen mußte, kam er als Mörder in Betracht. Dann hatte er bei der Beantwortung der Frage, was er denn täte, um Frau Heidmühl zu helfen, kurz gestockt, bevor er davon erzählte, daß er die Firma des Toten unter die Lupe nahm. Vielleicht, weil er dort etwas suchte, von dem die Polizei nicht wissen durfte. Aber mußte dieses Stocken wirklich etwas bedeuten? Hatte Bernack den anderen nicht ganz einfach nur schärfer beobachtet, weil er befürchtete, die Verdächtigen könnten ihm ausgehen? War er nicht ganz einfach in die Methoden der von ihm so belächelten `Psycho-Kommissare´ zurückgefallen, weil er nicht wollte, daß sich seine Theorie als falsch erwies? Gut möglich. Außerdem: Hermann Kramnick war doch ein brauchbarer Mann. Wenn es in Ansbergs Büro etwas Interessantes gegeben hätte, dann wäre er entweder schon gestern darauf gestoßen oder würde es bei seiner Nachbearbeitung noch tun. Bernack gab sich mit dieser Erklärung zufrieden und stieg in sein Auto. Von ein paar Pausen abgesehen, war er jetzt schon -122-
seit über neun Stunden im Dienst. Einmal mußte doch damit Schluß sein, einmal mußte doch auch sein freies Wochenende beginnen!
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11. Kapitel
Gerd Hanser lehnte sich zurück. Er war froh, ja sogar glücklich! Schon vor dem Gespräch mit dem Hauptkommissar hatte er sich ziemlich sicher gefühlt, nun glaubte er, endgültig am rettenden Ufer zu sein, denn dieser Bernack wäre bestimmt anders aufgetreten, wenn er irgend etwas gegen ihn in der Hand gehabt hätte. Hanser hatte seine Strategie, so weit wie möglich bei der Wahrheit zu bleiben, beibehalten und gratulierte sich dazu. Für einen kleinen Augenblick allerdings war er schwankend gewesen, ob er dem Kripobeamten davon erzählen sollte, daß er im Auftrag der Schwester die Firma des Ermordeten begutachtete. Warum eigentlich? Warum dieses kurze Zögern? Es gab doch gewiß nichts Einfacheres für die Polizei, als herauszufinden, was er für Frau Heidmühl alles tat! `Schwamm drüber´, dachte er, `es ist ja nichts passiert!´ Er stand auf, verließ sein Büro und machte sich auf den Weg in die Hollerallee. Jetzt gab es nur noch einen Beweis für seine Schuld, der lag aber vorläufig sicher in seinem Garten vergraben und würde am Montag ein für allemal beseitigt werden. Im Grunde genommen hätte er das schon viel eher erledigen sollen, irgendwie war jedoch immer etwas dazwischen geraten. Egal, das machte nun auch nichts mehr! Zuhause angelangt, erstattete er seinem Gast einen kurzen Bericht und erklärte, daß er am Sonntag noch einmal in das Büro des Bruders müsse, um seine Arbeit abzuschließen. Nach dem Abendbrot nahm er eine Dusche und zog sich um. Seine Frau und er wollten ins Theater. Sie hatten der Schwester -124-
gestern im Restaurant vorgeschlagen mitzukommen, aber trotz der recht ausgelassenen Stimmung war sie dafür nicht zu begeistern gewesen. Also fuhren die Eheleute allein. Die Darbietung auf der Bühne am Goetheplatz gefiel Hanser ausgesproche n gut, und er wußte auch warum: zum ersten Mal seit Mittwoch Nachmittag konnte er sich wieder frei und unbeschwert verhalten, zum ersten Mal seit Mittwoch Nachmittag konnte er wieder unbekümmert lachen. Nach der Vorführung ging er mit seiner Frau in eine Bar, um ein Glas Wein zu trinken, denn ihm war noch nicht nach schlafen zumute, er wollte diesen Tag weiterhin genießen. Sie trafen ein Paar, das ganz in ihrer Nachbarschaft wohnte, mit dem Hanser bisher allerdings nie viel hatte anfangen können. Heute jedoch fand er sie richtig nett, und so wurde die Nacht sehr zu seiner Freude länger als eigentlich erwartet. Er ging spät ins Bett, schlief dafür am Sonntag aus, frühstückte erst um elf und begab sich dann in Ansbergs Büroräume, um seine dortige Tätigkeit fortzusetzen. Bestens gelaunt kam er rasch voran und beendete seine Aufgabe um siebzehn Uhr zwanzig, schrieb ein kurzes Memorandum mit den wichtigsten Erkenntnissen, verließ die Firma des von ihm erschlagenen Bruders und brachte die Schlüssel zu Frau Westermann zurück. In der Hollerallee bat er die Schwester ins Arbeitszimmer und erläuterte ihr seine Ergebnisse. Er nannte ihr den Preis, den das Geschäft seiner Meinung nach bringen müßte, wenn man bei den Verkaufsverhandlungen die Bedeutung des ursprünglichen Besitzers herunterspielte und statt dessen die erstklassige Klientel Ansbergs stärker in den Vordergrund stellte. Sein Gast konnte ihm ohne Schwierigkeiten folgen und bat ihn, seine Fühler nach möglichen Interessenten auszustrecken. Hanser war nur zu gern bereit, dies zu tun, denn da er sich wegen des verübten Mordes außer Gefahr fühlte, konnte er jetzt -125-
versuchen, sich Sabine Heidmühl privat zu nähern. Es mußte doch möglich sein, mit ihr ein Verhältnis zu beginnen! Seine Frau war wegen der vergangenen beiden Nächte noch kaputt, deshalb plante er, die Gunst der Stunde zu nutzen und den Abend allein mit der Schwester zu verbringen. Aber die ließ sich nicht dazu überreden, noch irgendwo hinzufahren, und auch die traute Zweisamkeit mit ihr im Wohnzimmer blieb ihm verwehrt, da seine bessere Hälfte trotz aller Müdigkeit den Weg ins Bett nicht fand. So mußte er denn für den Rest des Sonntags mit beiden Frauen zusammen sein und sich im Fernsehen eine Schnulze mit Überlänge anschauen. Am nächsten Morgen fuhr die Schwester schon um kurz nach neun zum Bestattungsinstitut Gerling, um erst einmal unge stört von anderen Abschied von ihrem Bruder zu nehmen. Sie hatte dort am letzten Freitag angerufen, diesen Termin vereinbart und jetzt das Angebot ihres Gastgebers, sie hinzubringen, freundlich, aber bestimmt abgelehnt. Hanser führte ein paar dringende Telefonate und legte dann in seiner Garage die alten Fenster und die Reste des Teppichbodens zum Abtransport bereit. Im Anschluß daran nahm er seinen Aktenkoffer und brach ebenfalls auf. Um zehn vor elf betrat er das Bestattungsinstitut und sah, daß sich der Vorraum schon mit gut vierzig Personen gefüllt hatte, etwa drei Viertel davon waren Freimaurer. `Soviel Brüder auf einen Haufen´, dachte er, `und letztend lich ist das alles nur mir zu verdanken. Günter Kulenkampff wäre heilfroh, wenn er an einem normalen Logenabend mal solch eine Besucherzahl hätte!´ Hanser begrüßte die ihm bekannten Gesichter, darunter auch den Hauptkommissar, und ging in die Garderobe, wo er seinen Mantel aufhängte. Dann öffnete er den Aktenkoffer, um seine freimaurerische Kleidung zu vervollständigen. Aber die weißen Handschuhe waren nicht da! -126-
„Verfluchte Scheiße!", murmelte er leise, „wo sind die denn abgeblieben?" Natürlich blutgetränkt im Müllsack, auf seinem Grundstück von ihm selbst vergraben! Warum nur hatte er vergessen, sich neue zu kaufen oder wenigstens das Ersatzpaar von seiner Frau einzustecken? Wie, verdammt noch mal, hatte ihm das bloß passieren können? Der Ärger hielt nur wenige Sekunden an, dann faßte sich Hanser wieder, und er begann klar zu denken: Der entscheidende Fehler war ihm schon am Mittwoch unterlaufen. Er hatte genau gewußt, daß an diesem Abend keine Arbeit stattfinden würde, er demnach auch keine Handschuhe benötigte. Daher war das Problem der Besorgung eines neuen Paars wahrscheinlich gar nicht erst in sein Bewußtsein gedrungen. Er hatte sich den Kopf darüber zerbrochen, ob es noch zusätzliche Beweise gegen ihn gab, und wie er sich ein Alibi beschaffen konnte, aber über diese blöden Handschuhe hatte er nicht einen Gedanken verschwendet. Was sollte er jetzt nur tun? Viel Zeit zum Überlegen blieb ihm nicht. Er schaute sich um. Auf der Fensterbank entdeckte er eine blaue Tasche, so wie Wolfgang Behnken sie zur Aufbewahrung seiner freimaurerischen Accessoires benutzte. Der war, wie ein kurzer Blick ergab, aber nicht zu sehen. Ein Griff genügte und schon hatte Hanser die Handschuhe herausgenommen. Er streifte sie schnell über, nahm seinen Zylinder und verließ die Garderobe. Wenn sein Bruder von der Toilette, oder wo sonst er sich aufhalten mochte, zurückkehren würde, wollte er ihm aus verständlichen Gründen nicht gerade hier begegnen. Er gesellte sich zu den anderen Brüdern und mischte sich für einige Minuten in deren Gespräch mit ein. Dann wurden sie in die Trauerhalle gerufen, um mit der Zeremonie anzufangen und -127-
dem Ermordeten die letzte Ehre zu erweisen. Hanser war bereit.
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12. Kapitel
Carl Bernacks freies Wochende hatte noch nicht begonnen! Er war gerade in das Auto gestiegen, als er sah, wie Hanser seine Firma verließ. `Na da schau her´, dachte der Hauptkommissar, `erst beklagt sich der Kerl darüber, daß er so viel schuften muß und dann läßt er alles stehen und liegen. Das paßt doch hinten und vorne nicht! Vielleicht war meine ursprüngliche Einschätzung des Verhörs gar nicht so ganz falsch? Was er jetzt wohl vorhat?´ Hanser setzte sich in seinen BMW, der vor dem Gebäude stand, startete den Motor und fuhr los. Bernack folgte ihm so unauffällig wie möglich. Wenn er allerdings gehofft hatte, daß diese Beschattung ihn der Lösung seines Falles näher bringen würde, dann mußte er nur ein paar Minuten später zugeben, daß das ein Irrtum gewesen war, der andere lenkte seinen Wagen nämlich schnurstracks heim. „Nun gut", sagte sich der Hauptkommissar, „es hat zwar zu nichts geführt, einen Versuch war die Sache aber wert. Und merkwürdig bleibt es allemal, daß der Kerl sein Büro so schnell wieder verlassen hat, obwohl er doch, wie er selbst erklärte, erst unmittelbar vor mir dort aufgetaucht ist und bis Oberkante Unterlippe in Arbeit stecken will!" Bernack überlegte kurz, ob es noch Sinn machte, hier länger zu verweilen, entschied sich dann dagegen und begab sich nach Hause. Er hatte eben seine Wohnung betreten, als er das Telefon klingeln hörte. Neukirch war am Apparat: „Grad mit Frau Weißhaupt geredet. Schwiegermutter von Freese. Bestätigt Anruf der Tochter. Mußte sie nicht einmal fragen." „Was heißt, Sie mußten sie nicht einmal fragen? Ist sie von -129-
sich aus gleich darauf zu sprechen gekommen?" „Korrekt." „Das ist ja interessant. Die Frau stützt also unaufgefordert das Alibi ihres Schwiegersohnes! Ich will einen Besen fressen, wenn das keine abgekartete Sache ist, wenn Freese sie nicht vorher instruiert hat. Merken Sie sich das Neukirch: Manchmal ist eine zunächst enttäuschende Antwort vielsagender als man denkt. Die Spreu trennt sich langsam vom Weizen!" Der Hauptkommissar legte auf. Sein Assistent konnte mit der letzten Bemerkung sicherlich nicht viel anfangen, Bernack wußte aber genau, wovon er sprach: aus seinen sieben Zwergen waren zwei kleine Negerlein namens Freese und Hanser geworden! Er ging zum Eisschrank, fand darin jedoch nichts, was ihn begeistert hätte, nahm deshalb eine Tüte Chips und einen Sechserpack Bier und setzte sich vor seinen Schachcomputer, es gab da noch eine Scharte, die er auswetzen mußte. Im Gegensatz zum vergangenen Donnerstag war er besser gelaunt und auch viel besser in der Lage, sich zu konzentrieren, und so gewann er ein paar Spiele und verlor erst, als der Alkohol mehr und mehr Wirkung zeigte. Am nächsten Morgen schlief der Hauptkommissar aus, frühstückte und las den `Kurier am Sonntag´. Werder war zur Abwechslung mal wieder erfolgreich gewesen, allerdings nur mit Mühe und Not. Er hatte ja gestern zu arbeiten gehabt und nicht ins Weser-Stadion gekonnt, aber dem Zeitungsartikel zufolge dort auch nichts verpaßt. Irgendwann mußte er noch seinen Abschlußbericht über die Erpressung gegen die Bremer Lagerhaus-Gesellschaft schreiben, irgendwann, aber bestimmt nicht heute. Heute wollte er malen, denn dazu war er schon seit einigen Monaten nicht mehr gekommen. Also nahm er Ölfarben und Pinsel, stellte eine große Leinwand auf die Staffelei, starrte in die weiße Fläche und -130-
wartete auf das, was ein `richtiger´ Künstler wohl `Inspiration´ genannt hätte. Bernack war dieser Ausdruck aber viel zu hochgestochen. Es dauerte nicht lange, dann hatte er eine Idee und fing an. Er malte fast ohne Unterbrechung zwei Stunden lang, trat dann etwas nach hinten, besah sich sein Werk, beziehungsweise das, was er bis zu diesem Zeitpunkt fertiggebracht hatte, schüttelte den Kopf, ging zurück zur Staffelei, zerfetzte die Leinwand, griff sich eine neue und begann von vorn. Das gleiche Spiel wiederholte sich noch einmal, aber spät am Abend hatte der Hauptkommissar es dann doch geschafft. Er betrachtete sein Bild: Es zeigte einen Zug von sieben Männern, die einen Sarg trugen. Obwohl er relativ viel helle Farbe benutzt hatte, wirkten die Gestalten doch recht düster. Bernack mußte lächeln. Aber nicht wegen des Gedank ens, daß er in seiner Freizeit offensichtlich nicht richtig abschalten konnte, sondern wegen der Anordnung der Männer auf seinem Gemälde. Fünf von ihnen schleppten links den Sarg und der Rest auf der anderen Seite. Es hatte für ihn fast den Anschein, als würden die zwei Gesichter rechts viel geplagter aussehen. `Das ist das Schöne am Malen´, dachte der Hauptkommissar, `man muß es mit der Symmetrie und der Logik nicht immer so genau nehmen.´ Er verspürte einen großen Hunger, schaute auf seine Armbanduhr - zwanzig vor elf -, ging zu einem Griechen im Viertel und aß eine Menge Gyros mit Krautsalat. Dann trank er noch etliche einsame Biere an der Theke vom `Rotkäppchen´, ignorierte die Stimme der Vernunft und schleppte sich erst in seine Wohnung zurück, als die Kneipe geschlossen wurde. Am Montag erwachte er gerädert, darüber hinaus auch längst nicht so früh wie geplant, und mußte schon viel Überzeugungsarbeit leisten, um überhaupt aufzustehen. Um -131-
kurz nach zehn betrat er das Büro im Polizeihaus. Seine Assistenten erwarteten ihn bereits. Er wußte, wie er aussah und auf seine Untergebenen wohl wirkte. Noch bevor er in den Stuhl hinter seinen Schreibtisch sackte, knurrte er deshalb: „Kein Wort über mein Äußeres. Sonst führe ich amerikanische Verhältnisse ein, und Sie finden sich schon morgen im Streifendienst wieder. War das deutlich genug?" Neukirch nickte dienstbeflissen, und Steter guckte Bernack nur sprachlos an. „Glotzen ist ebenfalls nicht gestattet!" Der Hauptkommissar ließ sich nieder, stöhnte leise, fuhr mit der Hand durch die Haare und wandte sich dann erneut an seine Assistentin: „Also gut, konnten Sie über das Wochenende noch etwas in Erfahrung bringen?" „Über das Wochenende nicht, aber heute Morgen habe ich mit Hilfe von ein paar Telefonaten die Angaben von Czerny und Krüger überprüft. Sie stimmen!" „Das dachte ich mir doch. Damit ist der Buchhändler endgültig aus dem Schneider und auch der Informatiker mehr oder weniger, unsere ganze Konzentration gilt jetzt Hanser und Freese. Es sollte schon mit dem Teufel zugehen, wenn nicht einer von ihnen unser Mann ist. Wie sieht es mit dem letzten Schlüssel aus?" Die Assistentin griff in ihre Handtasche, holte den Schlüsselbund heraus, legte ihn auf den Schreibtisch und sagte: „Ich weiß immer noch nicht, zu welcher Tür er gehört." Bernack ließ diese Sache auf sich beruhen, rieb sich die Stirn, informierte Steter über die Aussage der Schwiegermutter, denn Neukirch hatte das möglicherweise noch nicht getan, und dann beide Assistenten über sein Treffen mit Hanser. -132-
Er wußte, daß sein Verdacht auf mehr als nur wackeligen Beinen stand, es kaum eine rationale Begründung für seine Vermutung gab und er eigentlich bloß auf seine Intuition baute. Aber erstens hatte er nichts anderes in der Hand und zweitens brauchte er sich vor seinen Untergebenen auch nicht zu rechtfertigen. „Im Anschluß an die Trauerfeier werden Sie, Steter, Freese beschatten, während Sie, Neukirch, sich um Hanser kümmern. Ich würde es sehr begrüßen, wenn Sie sich dabei nicht entdecken ließen. Das wäre es für den Moment." Die Assistenten gingen, und der Hauptkommissar fragte sich, ob er an alles gedacht oder auf Grund seines schweren Katers irgend etwas vergessen hatte. Steter und Neukirch waren instruiert. Er selbst wollte sich nach seiner Rückkehr vom Riensberger Friedhof bemühen, zusätzliche Informationen über die drei Hauptpersonen zu bekommen. Er mußte einfach noch mehr Material über Ansberg, Freese und Hanser haben, denn nur so sah er eine Chance, auf das Motiv für den Mord zu stoßen. Er rekapitulierte: Nach allem, was bisher zusammengetragen werden konnte, war Ansberg ein immer korrekter, gewissenhafter und herzensguter Mensch gewesen, der niemandem auch nur ein Haar gekrümmt hatte. Trotzdem lag er jetzt im Bestattungsinstitut und würde bald beerdigt sein. In bezug auf Freese wußte Bernack gerade soviel, daß der Zahnarzt ein Opernfan war und sich das Alibi augenscheinlich durch die Lüge seiner Schwiegermutter zurechtgebastelt hatte. Hinsichtlich Hanser sah sein Kenntnisstand nur wenig besser aus. Der arbeitete als selbständiger Kaufmann, betreute die Schwester des Toten und war vor allem deshalb aufgefallen, weil er so vielbeschäftigt tat, es aber trotzdem eilig hatte, sein Büro zu verlassen. Dann gab es da noch dieses kurze Zögern, bevor der Kerl erzählte, daß er die Firma des Ermordeten unter -133-
die Lupe nahm. Außerdem fehlte ihm natürlich das Alibi. Insgesamt betrachtet waren diese Informationen ganz schön kümmerlich. Hatten er und seine Assistenten in den letzten Tagen wirklich nicht mehr herausgefunden? Der Hauptkommissar wurde das Gefühl nicht los, etwas übersehen zu haben. Aber was? Er zermarterte seinen vom Alkoholexzeß gepeinigten Schädel. Ohne Erfolg. Schließlich gab er auf und machte sich auf den Weg zum Riensberger Friedhof. Dort eingetroffen, vergeudete er keine Zeit damit, nach einem Parkplatz Ausschau zu halten, sondern stellte seinen Wagen vor das erstbeste Garagentor. Als er das Bestattungsinstitut um viertel vor elf betrat, warteten dort schon gut dreißig Personen, überwiegend Freimaurer, auf den Beginn der Trauerzeremonie. Frau Westermann stand allein in einer Ecke und wirkte dadurch ein wenig verloren. Etwas abseits von ihr sprachen Steter und Neukirch in einem gedämpften Ton miteinander. Die Pinguine waren wieder genauso angezogen wie am letzten Mittwoch, hielten obendrein aber noch einen Zylinder in der Hand. Bernack suchte nach seinen sieben Zwergen und entdeckte Krüger, Biermann und Glaubitz in verschiedenen Gruppen. Czerny, Freese und Hanser waren nicht oder noch nicht da, Lütt befand sich im Gespräch mit Kulenkampff. Er näherte sich den beiden. Der Meister vom Stuhl sah ihn entsetzt an und fragte: „Mein Gott, was haben Sie denn gemacht? Sie sehen ja schrecklich aus!" „Überstunden. Ich gehöre zu der seltenen Spezies der Beamten, die sich auch am Wochende keinen Feierabend gönnt." -134-
Lütt schaltete sich ein: „Mir scheint es eher so, als hätten Sie sich mehr als nur ein gepflegtes Bier hinter die Binde gekippt!" „Das eine spricht nicht unbedingt gegen das andere. Möglicherweise habe ich darauf gehofft, daß Ihr Doppelgänger kommt und mir bei der Klärung dieses Falles hilft." Kulenkampff blickte verständnislos und Lütt erklärte: „Ein Insiderwitz." Der Meister vom Stuhl gab sich damit zufrieden und griff das vom Hauptkommissar zuletzt Gesagte noch einmal auf: „Apropos `Klärung dieses Falles´: Machen Sie Fortschritte?" „Ich denke schon, die Anzahl der Puzzles hat sich jedenfalls weiter reduziert." „Sie suchen den Mörder allerdings immer noch unter uns Freimaurern, nicht wahr?" „Ja, das tu ich nach wie vor. Entschuldigen Sie mich jetzt aber, ich würde unsere Plauderei zwar liebendgerne fortsetzen, bin jedoch nun einmal dienstlich hier. Vielleicht haben wir später noch Gelegenheit, uns zu unterhalten. Bis denn." „Ja, bis denn." Bernack drehte sich um. Während seines Gesprächs mit den zwei Freimaurern waren neue Trauergäste erschienen, darunter auch Hanser, der jetzt auf sie zukam, erst Kulenkampff und Lütt, dann den Hauptkommissar begrüßte und anschlie-ßend in der Garderobe verschwand. Bernack schlenderte ein paar Minuten durch die Reihen, sagte kurz `hallo´ zu Glaubitz und Krüger und wollte sich gerade an seine Assistenten wenden, als Freese auftauchte. Der Zahnarzt schüttelte einigen Brüdern die Hand, warf einen schnellen Blick auf den Kripobeamten, ging aber wortlos an ihm vorbei und strebte gleichfalls in Richtung Garderobe, aus der Hanser eben wiedergekommen war. -135-
Der Hauptkommissar hatte angehalten und Freese nachge schaut. Nun winkte er seine Untergebenen herbei und fragte: „Ist Ihnen irgend etwas aufgefallen?" Neukirch guckte leicht verängstigt zur Seite, Steter verneinte und Bernack wollte die beiden schon anblaffen, weil sie nicht bemerkt hatten, daß Czerny fehlte. Dann fiel ihm aber ein, daß der Informatiker am Tatabend nur einer von vielen Freimaurern gewesen war, und seine Assistenten ihn bewußt wahrscheinlich gar nicht wahrgenommen hatten. Da Czerny außerdem bloß noch zur zweiten Garde der Verdächtigen zählte und jetzt auch Bewegung in die Menschenmenge kam, weil mit der Zeremonie begonnen werden sollte, beließ es der Hauptkommissar bei der knappen Bemerkung: „Sie wissen ja, was Sie zu tun haben." Seine Untergebenen nickten und machten sich auf. Bernack wartete, bis sich der Vorraum geleert hatte, folgte dann in die Trauerhalle und setzte sich dort ganz nach hinten. In der ersten Reihe entdeckte er eine schwarzgekleidete Frau, die er bisher noch nicht gesehen hatte, und von der er annahm, daß es sich bei ihr um die Schwester des Ermordeten, Frau Heidmühl handelte. Vorne auf dem Sarg waren außer einem Akazienzweig auch zwei Gegenstände drapiert, die der Hauptkommissar für das Bijou und den Schurz des Toten hielt. Irgend jemand im Polizeihaus mußte sie wieder herausgerückt haben, und Bernack ärgerte sich, daß ihn niemand darüber informiert hatte. Um den Sarg herum standen drei Leuchter, genauso viele Stühle, und dicht dabei auf dem Boden lag jeweils eine Rose. Die wenigen Kränze und Gestecke waren etwas abseits angeordnet. Als der Organist anfing, auf seinem Instrument zu spielen, lösten sich drei Freimaurer aus dem Hintergrund und schritten -136-
mit brennenden Kerzen feierlich zum Sarg. Kulenkampff stellte sich an das Kopfende, Glaubitz ging nach rechts und ein Bruder, den der Hauptkommissar nicht kannte, nach links. Die Musik verstummte, der Meister vom Stuhl trat zu dem Leuchter neben ihm, setzte seine Kerze darauf und sagte: „Weisheit im Leben!" Die beiden anderen Freimaurer folgten seinem Beispiel mit den Worten: „Stärke im Tod!" und „Schönheit im Licht!" Danach forderte Kulenkampff die Trauergemeinde auf, sich zu erheben. Er verlas ein kurzes Gebet, bat dann darum, wieder Platz zu nehmen und eröffnete mit seinen zwei Brüdern eine Art rituelles Gespräch. Im Anschluß daran begab sich Glaubitz hinter ein Stehpult, um den Nekrolog vorzutragen. Der Nachruf war kurz, skizzierte Ansbergs wichtigste Lebensdaten, beschrieb auch seinen freimaurerischen Werdegang, gedachte besonders der Schwester und enthielt, soweit Bernack das beurteilen konnte, keinerlei Übertreibungen. Nachdem Glaubitz mit dem Nekrolog fertig und an seinen Platz zurückgekehrt war, fuhr Kulenkampff mit der Zeremonie fort: „Der Tod gehört zum Leben wie die Geburt. Wir können den Zeitpunkt beider nicht bestimmen. Wir wollen nicht undankbar sein und mehr vom Schicksal fordern, als einem jeden von uns zugemessen ist. Wir wollen uns heute und in Zukunft dankbar der Freundschaft, der Brüderlichkeit und der Liebe erinnern, die wir durch diesen Bruder empfangen haben." Eine kleine Pause schloß sich an, dann griffen die drei Freimaurer nach ihren Rosen. Glaubitz legte seine Rose auf den Sarg und sprach: „Zu Haupt die sanft Erglühende!" -137-
Sein Gegenüber tat es ihm gleich und sagte: „Die Dunkle niederwärts!" Schließlich Kulenkampff: „Die weiße, hold Erblühende, die leg ich Dir aufs Herz!" Nach einer weiteren kurzen Pause wurde Frau Heidmühl an den Sarg gebeten. Danach wandte sich Glaubitz an die Freimaurer: „Meine Brüder, zum letzten Mal wollen wir mit unserem Bruder Helmut Ansberg in die Kette treten." Während eine neue Melodie erklang, erhoben sich die angesprochenen Männer, setzten ihre Zylinder auf, gingen gemessenen Schrittes nach vorne, stellten sich mit der Schwester in einem Kreis um den Sarg und gaben sich die Hände. Kulenkampff stand neben Frau Heidmühl. Seine rechte Hand lag auf dem Sarg, ebenso wie die linke des Bruders, der sich auf der anderen Seite von ihm befand. Der Hauptkommissar hatte mit kirchlichen oder sonstigen Riten noch nie viel am Hut gehabt und, bedingt durch seinen Beruf, ein völlig unsentimentales Verhältnis zum Tod. Aber diese Zeremonie war in ihrer schlichten Eindrücklichkeit auch für ihn ein bißchen ergreifend. Trotz alledem vergaß er nicht, weshalb er hierher gekommen war, und so beobachtete er nicht nur das direkte Geschehen, sondern auch die Personen im Randbereich sehr genau. Außer Bernack und seinen zwei Assistenten saßen nur noch wenige Menschen in der Trauerhalle. Direkt vor ihm rutschte ein Mann unruhig auf seinem Platz hin und her. Der Hauptkommissar meinte, ihn am vergangenen Mittwoch im Logenhaus schon einmal gesehen zu haben. Da dieser hier aber weder weiße Handschuhe trug noch einen Zylinder bei sich hatte, konnte es sich bei ihm wohl doch nicht um einen Freimaurer handeln. -138-
Warum allerdings war er so nervös? Bernack wurde aus seinen Gedanken gerissen, weil die Musik in diesem Moment endete, und Kulenkampff erneut zu reden begann: „Unser Bruder hat uns gelehrt, in Gelassenheit und innerer Ruhe zum endlichen Ziele zu wandern." Und, nach einer nochmaligen kleinen Pause: „Ich entlasse Dich, Bruder Helmut Ansberg, aus der Kette der Hände." Im Kreis schüttelten sich die Freimaurer und Frau Heidmühl dreimal die Hand und ließen dann los; Kulenkampff hatte mit seiner rechten Faust im gleichen Rhythmus ebensohäufig auf den Sarg geschlagen. Jetzt sprach er: „Die Kette der Herzen bleibt untrennbar." Wieder ertönte eine Melodie. Die Brüder traten zurück, und die Schwester wurde von den drei federführenden Freimaurern hinausgeleitet. Der Rest der Trauergemeinde schloß sich ihnen an. Die Zeremonie war beendet.
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13. Kapitel
Gerd Hanser verließ das Bestattungsinstitut unmittelbar nach Ende der Trauerfeier. Einerseits wollte er jetzt endlich seine blutbefleckten Klamotten definitiv aus der Welt schaffen, und andererseits dem Bruder Behnken nicht mehr über den Weg laufen. Also streifte er rasch die gestohlenen Handschuhe ab, steckte sie mit dem Zylinder in seinen Aktenkoffer, sagte nur Frau Heidmühl und ein paar Brüdern auf Wiedersehen und begab sich dann nach Haus. Hier vergewisserte er sich, daß seine Frau auch wirklich, wie am Frühstückstisch angekündigt, einkaufen gefahren war, stellte den Aktenkoffer im Schlafzimmer ab und zog sich um. Anschließend ging er daran, den Müllsack auszugraben - und bekam einen mittleren Schock, denn als er ihn freigelegt hatte, wehte ihm ein bestialischer Gestank entgegen - das Erbrochene, vermischt mit dem Blut des toten Bruders! Er nahm den Sack aus der Erde, buddelte das Loch so schnell wie möglich wieder zu, verstaute das Zeug mit dem alten Krempel aus der Garage im Kofferraum seines BMWs und fuhr dann sofort zur Blocklanddeponie. Dort angekommen mußte er sich erst einmal orientieren. Es hatte sich einiges verändert, was ihn aber nicht sonderlich überraschte, denn immerhin war er hier vor mehr als zwanzig Jahren das letzte Mal gewesen. Die Auffahrt bestand aus zwei Spuren, deren linke zu einer Fahrzeugwaage vor einem erhöhten Kassenhäuschen führte und offensichtlich für Lkws reserviert war. Er hielt sich rechts und tastete sich zögernd vorwärts, bis er einen jungen Mann in der Nähe von mehreren Containern sah, der ihn heranwinkte. Hanser lenkte auf ihn zu, machte sein Fenster auf und fragte: „Wo muß ich denn hin?" -140-
„Das hängt davon ab, was Sie loswerden möchten." „Wie meinen Sie das? Früher ist man bloß auf den Berg gefahren und hat seinen Müll irgendwo abgeladen!" Das war schon richtig. Hanser wollte sich mit dieser Aussage allerdings nicht beschweren, sondern nur eine Anekdote zum besten geben. Er war nicht so naiv, zu glauben, er könne hier heutzutage noch einfach was verbuddeln. Der Mann fühlte sich aber angegriffen und wurde sarkastisch: „Sie sprechen vom finstersten Mittelalter, nicht wahr?" Weniger bedingt durch den Inhalt, als vielmehr durch den Ton des Gesagten und die Art, wie der Bursche dabei auf ihn herabschaute, war jetzt auch Hanser gereizt und zahlte mit mehr als gleicher Münze heim: „Nein, von den siebziger Jahren, also von einer Zeit, die gar nicht so lange her ist, in der Sie aber wohl noch nicht einmal als Drohung existiert haben!" Sein Gegenüber ließ sich dadurch nicht einschüchtern und erwiderte: „Das mag schon stimmen. Es ist zumindest deutlich sichtbar, daß ich nicht zu Ihrer Generation gehöre, und wenn ich gläubig wäre, würde ich Gott jeden Tag dafür danken. Jetzt erzählen Sie mir aber, was Sie hierher bringen wollen, oder Sie verlassen unverzüglich das Gelände, andere Leute möchten ihren Kram schließlich auch noch wegschmeißen." Hanser schaute sich um. Hinter ihm standen zwei weitere Autos und warteten, erst ein silbergrauer Audi 80 und dann ein roter Ford Sierra. Er schluckte seinen Ärger herunter und antwortete: „Drei kleine Fenster, ein bißchen Teppichboden und ein paar alte Klamotten." „Das macht dann fünfzehn Mark." Hanser holte aus seinem Portemonnaie einen -141-
Zwanzigmarkschein und reichte ihn dem Mann nach draußen. Der gab ihm einen Fünfer zurück und erklärte: „Den Teppichboden werfen Sie in den zweiten Container von rechts, die Fenster in den, der direkt dahinter steht. Für die Textilien ist der letzte Container auf der linken Seite vorgesehen. Nur zu Ihrer Information: ich werde genau kontrollieren, ob Sie Ihren Müll auch tatsächlich vorschriftsgemäß beseitigen!" Hanser wäre am liebsten umgekehrt, denn ihm war klar geworden, daß er einen schweren Fehler begangen hatte - wie unglaublich dumm es doch gewesen war, sich mit einem hier Beschäftigten anzulegen! Den Plan, seine verfluchten Klamotten auf der Blocklanddeponie zu entsorgen, konnte er jedenfalls vergessen. Denn wenn der Bursche ihm, wie angedroht, wirklich nachschnüffelte, dann würde er die Sachen bestimmt entdecken, Verdacht schöpfen, und alles wäre aus! Da Hanser sich aber nun einmal auf der Blocklanddeponie befand und auch schon bezahlt hatte, wollte er sich wenigstens den Krempel aus der Garage vom Halse schaffen. Also fuhr er an, parkte zwischen den entsprechenden Containern, stieg aus und öffnete den Kofferraum. Sofort drang ihm wieder der teuflische Gestank entgegen, und deshalb beeilte er sich, Fenster als auch Teppichboden loszuwerden, den Kofferraum zu schließen und sich zurück in den Wagen zu setzen. Er mußte die neue Lage analysieren und nachdenken. Es hatte keinen Sinn, auf die Grünen, die Jugend oder wen auch immer zu schimpfen, für dieses Fiasko trug allein er die Schuld! Daß er bei seinem Telefonat mit den Bremer Entsorgungsbetrieben vergessen hatte, nach den Öffnungszeiten zu fragen, durfte er sich möglicherweise noch verzeihen. Keineswegs verzeihen durfte er sich allerdings die Tatsache, daß er so unbesonnen gewesen war, hier einen Streit vom Zaune zu brechen. -142-
Auch schon bei den Handschuhen hatte er leichtsinnig oder fahrlässig gehandelt und es versäumt, sich neue zu besorgen! Er legte doch sonst immer großen Wert darauf, gewissenhaft zu arbeiten, warum also war er in dieser gefährlichen Geschichte bereits zweimal richtig schlampig gewesen? Hatte er sich zu sicher gefühlt? Spielte ihm sein Alter vielleicht einen ersten Streich? Aber er war doch in den besten Jahren! Oder etwa nicht? Hanser scheuchte diese Gedanken beiseite. Sie waren ihm zum einen nicht ganz geheuer und brachten ihn zum anderen auch nicht weiter. Er mußte nach Lösungswegen aus der Misere suchen, und zwar auf der Stelle, um sich von seinen blutbefleckten, penetrant stinkenden Klamotten zu befreien! Sie mußten endlich und endgültig verschwinden! Aber welche Alternativen gab es dafür? Auf dem Lande vergraben oder verbrennen? Das hatte er schon verworfen! Mit einem Stein beschweren und in der Weser versenken? Vielleicht sogar bei Nacht und Nebel? Nein, eine solch dramatische Aktion lag ihm überhaupt nicht! In einem Waschsalon reinigen lassen und dann behalten? Absurd, die Phantasie ging mit ihm durch! Als Paket ohne Absender an eine nichtexistierende Adresse verschicken? Dann würde es wahrscheinlich wegen Unzustellbarkeit an das Postamt zurückkommen und geöffnet werden, was natürlich überhaupt nicht in seinem Sinne war! Und wenn er sich ziemlich weit von Bremen entfernte, um das Paket aufzugeben? -143-
Schon besser, allerdings immer noch nicht perfekt! Hanser dachte hin und her, und langsam nahm sein Plan erste Konturen an. Auf welche Weise, fragte er sich, versuchte die Polizei wohl, den Besitzer eines sichergestellten Kleidungsstückes aufzuspüren? Vermutlich dadurch, daß sie zunächst den Fabrikanten und dann den Händler dieser Textilie ausfindig machte, und sich anschließend bei letzterem erkundigte, ob der sich noch daran erinnern konnte, wer das Teil erworben hatte. Wichtigster Ansatzpunkt bei der Ermittlung des Herstellers war gewiß das Etikett oder Label. Ohne solch ein Erkennungszeichen würde die Bestimmung durch eine chemische Analyse der Fasern oder irgendeine sonstige Untersuchung im Labor wohl ebenfalls gelingen, wäre aber aufwendiger und das Ergebnis vielleicht auch nicht mehr eindeutig. Wann, wie und wo war er eigentlich in den Besitz der Sachen gekommen? Die Schuhe hatte er sich erst letztes Jahr gekauft, aber in London, und damit weit weg. Sein Overall stammte zwar von Karstadt aus Bremen, war jedoch schon ziemlich alt. Die Handschuhe schließlich hatte er von seiner Frau geschenkt gekriegt. Er glaubte daher, daß es in allen drei Fällen außerordentlich schwer war, die Spur zu ihm zurückzuverfolgen. Was gab es noch, um die Klamotten mit ihm in Verbindung zu bringen? Fingerabdrücke? War es überhaupt möglich, diese auf Kleidung zu hinterlassen und dann nachzuweisen? Wahrscheinlich auf glatten Materialien wie Leder, auf rauhen Stoffen, seiner Kenntnis nach, aber nicht! -144-
Wenn er das blutbefleckte Zeug also nun ohne Erkennungs zeichen, Stück für Stück und in einigermaßen großer Entfernung von hier, in Altkleidercontainern oder Müllkörben auf dem platten Land entsorgte, dann war die Gefahr aufzufliegen für ihn doch verschwindend gering! Aller Voraussicht nach würden die Sachen ganz normal bei einer karitativen Organisation landen, beziehungsweise auf einer Deponie oder in einer Verbrennungsanlage verschwinden. Sollte wider Erwarten jemand mißtrauisch werden, dann müßte der zunächst einmal einen Zusammenhang mit dem Mord an Ansberg herstellen, was bestimmt gar nicht so einfach war. Und selbst, wenn dies im ungünstigsten Falle doch ge lang, blieb es immer noch höchst schwierig, ihn als Besitzer der Teile zu identifizieren! Hanser registrierte mit Erleichterung, daß er jetzt wußte, was er zu unternehmen hatte, und daß sein Verstand nach wie vor präzise funktionierte, er also noch längst nicht vergreist war. Daß er sich allerdings nicht schon früher intensiv mit diesem Problem beschäftigt hatte und erst so spät auf die richtige Idee gekommen war, wurmte ihn doch. Er verdrängte seinen Ärger, stieg aus, ging nach hinten, schaute sich um, erblickte aber niemanden in der Nähe und öffnete den Kofferraum. Eine ekelhafte Arbeit mußte nun ge tan werden, aber er zögerte nicht, damit zu beginnen, holte erst die Schuhe, dann die Plastiktasche aus dem Müllsack und entleerte deren Inhalt darauf. Die Klamotten stanken so höllisch, daß er Mühe hatte, Luft zu schnappen! Er nahm die Schuhe, entfernte die Einlagen mit dem aufgedruckten Label des Herstellers, zog dann sein Taschentuch und wischte die Sohlen, Oberflächen und Innenseiten gründ lich ab. Dabei achtete er darauf, keine neuen Fingerabdrücke zu hinterlassen. Anschließend knöpfte er sich den Overall vor, riß das Etikett aus ihm heraus, steckte ihn zusammen mit den Handschuhen, an denen es nichts zu tun gab, zurück in die -145-
Plastiktasche und klappte den Kofferraum schnell wieder zu. Die Einlagen und das Etikett legte er vor den Beifahrersitz auf den Boden seines Wagens. Als das erledigt war, atmete Hanser tief durch und betrachtete seine Hände - sie sahen furchterregend dreckig aus! Er säuberte sie notdürftig mit den feuchten Halmen einiger Grasbüschel, die er neben den Containern entdeckte, setzte sich ins Auto und startete den Motor. Er fuhr auf die A 27 und am Bremer Kreuz dann weiter auf die A 1 Richtung Süden. Hinter Brinkum machte er sein Fenster auf und warf das Etikett des Overalls nach draußen. Im Rückspiegel beobachtete er, wie das kleine Rechteck aus Stoff erst durch die Luft wirbelte, dann auf der Frontscheibe eines roten Ford Sierras landete und schließlich vom Scheibenwischer weggefegt wurde. Hanser hoffte, den anderen Fahrer ein bißchen erschreckt zu haben. Kurz vor Wildeshausen riß er von einer der Einlagen ein Stück ab, schmiß es ebenfalls aus dem Fenster und beobachte im Rückspiegel erneut, was geschah. Der Fetzen kam ziemlich schnell auf dem Asphalt zu liegen und wurde zunächst von einem Golf und dann von einem Ford überrollt. `Schon wieder so ein roter Sierra´, dachte Hanser, `das scheint ja ein beliebtes Modell zu sein.´ Er wandte seinen Blick auf die Autobahn nach vorn und wollte sich auf den Verkehr konzentrieren, aber irgend etwas beunruhigte ihn! Der Sierra! Ein Auto vom gleichen Typ und in der gleichen Farbe hatte bereits auf der Blocklanddeponie hinter ihm gestanden! War das jetzt bloß ein Zufall oder war die Polizei schon auf seiner Fährte? Wurde er etwa beschattet? -146-
Aber die konnten doch gar nichts gegen ihn in der Hand haben, nein, er litt bestimmt nur unter Verfolgungswahn! Erklärlich wäre das auch allemal gewesen, immerhin hatte in den vergangenen Tagen eine große Anspannung und ein enormer Druck auf ihm gelastet! Wenn das aber nun keine zufällige Häufung von roten Sierras war, wenn er also doch nicht unter Verfolgungswahn litt? Dann hatte sich die Kripo an seine Fersen geheftet, und er mußte sie ganz schnell abschütteln! Hanser verlangsamte für ein paar Minuten sein Tempo und wollte den anderen Wagen näher aufschließen oder überholen lassen, nicht zuletzt, um das Gesicht des Fahrers zu erkennen. Aber der Ford drosselte die Geschwindigkeit genauso! Um seine restlichen Zweifel auszuräumen, gab Hanser wieder Gas. Im roten Sierra drückte ebenfalls jemand auf die Tube! Jetzt war es sicher - er wurde beschattet! Hanser wußte nicht, wie ihm die Polizei auf die Spur gekommen war, aber das interessierte ihn momentan auch noch nicht. Ihn beschäftigte nur ein Gedanke - wie er den Verfolger nämlich abhängen konnte!
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14. Kapitel
Carl Bernack wartete nach dem Ende der Zeremonie, bis alle Menschen die Trauerhalle verlassen hatten und ging dann ebenfalls. Wahrscheinlich würde nun gleich die eigentliche Beerdigung auf dem Friedhof beginnen, aber daran teilnehmen wollte er nicht mehr. Er durchquerte den Vorraum, in dem sich noch einige Pinguine unterhielten, begab sich an die frische Luft nach draußen und zündete sich eine Zigarette an. Er sah Günter Kulenkampff im Gespräch mit dem Mann, der vorhin auf seinem Sitz so nervös gewesen war, gesellte sich zu ihnen und konnte gerade noch den letzten Satz des Meisters vom Stuhl aufschnappen: „Wieso hast du mir das nicht sofort erzählt, Wolfgang?" Sein Gegenüber, offensichtlich doch ein Freimaurer, entge gnete: „Weil ich dich nicht gesehen habe und keine Zeit mehr blieb, dich zu suchen!" Der Hauptkommissar schaltete sich ein: „Probleme?" Kulenkampff antwortete: „Nein, im Grunde genommen nicht, zumindest jetzt nicht mehr. Bruder Behnken hatte seine Handschuhe vergessen und weil er sich ohne sie nicht traute, in die Kette zu gehen, hat er seinen Zylinder in der Garderobe gelassen und während der Trauerfeier so getan, als wäre er ein Profaner." Der andere widersprach: „Ich sagte nicht, ich hätte die Handschuhe vergessen, ich sagte, ich hätte sie nicht gefunden! Das ist ein Unterschied!" Bernack wurde hellhörig. -148-
„Wollen Sie damit etwa behaupten, daß man Ihnen die Handschuhe gestohlen hat?" „Ich weiß nicht. Normalerweise sind sie immer in meiner blauen Tasche, zusammen mit dem Zylinder, dem Schurz und dem Bijou. Ich nehme sie an und für sich nur zu Logenarbeiten heraus, aber heute Morgen waren sie nicht da." Der Hauptkommissar konnte seine Ungeduld kaum noch zügeln. „Wenn Sie die Handschuhe nicht aus der Tasche ge nommen haben, dann muß das doch wohl sonst jemand gewesen sein, oder?" „Ja, ich meine, es sieht so aus." „Es sieht nicht nur so aus, es ist auch so! Wann haben Sie den Diebstahl bemerkt?" „Ein paar Minuten vor elf. Ich bin vor Beginn der Trauerfeier noch schnell auf die Toilette gegangen, und als ich von dort wiederkam, waren sie weg. Aber entschuldigen Sie bitte, wer sind Sie, und warum fragen Sie mich das alles?" Der Hauptkommissar wurde laut: „Mein Name ist Bernack von der Bremer Kripo, ich bearbeite den Mord an Helmut Ansberg, und wenn Sie mir das Fehlen der Handschuhe sofort nach ihrer Entdeckung mitgeteilt hätten, dann wäre ich jetzt sehr viel weiter!" Er war kurz vorm Ausrasten und dementsprechend klang auch seine Stimme: „Was für eine verdammte Scheiße! Es gibt zwei Verdächtige und wenn Sie sich rechtzeitig gemeldet hätten, dann würde ich nun wissen, wer von den beiden der Mörder ist. Scheiße, scheiße, scheiße! Ich war so nahe dran, den Kerl zu stellen! Herr im Himmel, warum, verdammt noch mal, haben Sie nicht gleich etwas gesagt?" Kulenkampff versuchte Behnken zu verteidigen und den -149-
Hauptkommissar zu beruhigen: „Der Bruder konnte doch gar nicht wissen, wie wichtig das für Sie ist. Versetzen Sie sich doch mal in seine Lage!" In seine Lage versetzen? Ein guter Ratschlag war das letzte, was Bernack jetzt gebrauchen konnte! Wenn überhaupt, dann mußte er sich in die Lage des Mörders, also in die von Freese oder Hanser versetzen! Aber was würde das bringen? Was wußte er denn schon? Über Freese, abgesehen vom wahrscheinlich falschen Alibi, so gut wie nichts! Und über Hanser? Definitiv bloß, daß der, aus welchen Gründen auch immer, in Ansbergs Firma gewesen war! Wenn er also nur solch klägliche Informationen hatte, wie sollte er sich dann in die Lage des Mörders versetzen! Der Hauptkommissar stutzte - irgendwo in seinem Gehirn fing eine Idee an, sich langsam zu entwickeln! Er wollte diese Chance nicht ungenutzt verstreichen lassen, und so gebot er Behnken, der den Mund öffnete, um zu sprechen, durch eine schnelle Handbewegung, lieber zu schweigen. Der Freimaurer erkannte ebenso wie sein Meister vom Stuhl, daß es in Bernack arbeitete, daß er angestrengt versuchte, etwas Bestimmtes auf die Reihe zu kriegen. Gespannt beobachteten sie ihn. Der Hauptkommissar hatte die Augen geschlossen und richtete seine ganze Konzentration auf die Verknüpfung der folgenden Gedankenbruchstücke: `Hanser... Ansbergs Firma... in die Lage des Mörders versetzen´. Es gab da einen Zusammenhang, und den mußte er finden! -150-
`Hanser... Ansbergs Firma... in die Lage des Mörders versetzen´. Er wiederholte diese Assoziationen noch ein weiteres Mal, dann gelang es ihm, sie miteinander zu verketten: Vorausgesetzt, Hanser wäre der Mörder, was würde er, Bernack, in dessen Lage dann in Ansbergs Firma wohl tun? Sich natürlich nach eventuellen Beweisen für seine Schuld umschauen! Auch wenn die Polizei dort schon vor ihm nachgeforscht hatte? Auch dann, denn möglicherweise war sie nicht fündig geworden, vielleicht deshalb, weil sie nicht wußte, wonach sie suchen sollte! Und wenn er etwas fände? Dann würde er es an sich nehmen oder vernichten! Was täte demgegenüber ein halbwegs cleverer Kripobeamter, um ihm, das heißt dem Mörder, auf die Schliche zu kommen? Wenn er etwas auf dem Kasten hätte, würde er überprüfen, ob in Ansbergs Firma nun etwas fehlte oder nicht! Warum schließlich hatte der Hauptkommissar das nicht längst getan? Weil er, wie Bernack sich jetzt still beschimpfte, ein gottverdammter Idiot und Säufer war, und nicht annähernd so clever, wie er selbst und auch viele andere Menschen immer dachten! Von den blauen Socken eines Toten auf dessen Familienstand schließen, das konnte er, aber ganz simple Zusammenhänge erkennen, das bereitete ihm offenbar enorme Probleme! Er hörte auf, sich niederzumachen, schärfte Behnken ein, bloß nicht wegzulaufen, da er noch mindestens eine Frage an ihn hätte, drehte sich um, entfernte sich ein paar Schritte, holte sein Handy heraus und rief den Kollegen aus der Ab teilung -151-
Wirtschaftskriminalität an. Er hatte Glück, der gute Mann saß an seinem Platz. „Kramnick? Bernack hier. Ich benötige noch einmal deine Hilfe. Kannst du festzustellen, ob aus der Martinistraße etwas verschwunden ist, nachdem du da gewesen bist?" „Wie soll ich das verstehen?" „Einer meiner Verdächtigen war am vergangenen Samstag dort, offiziell, um im Auftrag der Schwester des Ermordeten die Firma zu begutachten. Wenn der Kerl, er heißt Hanser, aber der Mörder ist, dann hat er wahrscheinlich einen anderen Grund gehabt, um hinzugehen. Dann hat er irgendwas gesucht, vielleicht auch gefunden und mitgenommen. Hast du die Möglichkeit, das zu kontrollieren?" „Wie ich dir bereits am Freitag sagte, habe ich mir von den Akten und Dateien, die ich auf die Schnelle nicht durcharbeiten konnte, Kopien gemacht. Ich könnte nachsehen, ob sich die Originale dazu noch im Büro befinden. Außerdem habe ich mir das Inhaltsverzeichnis der Festplatte ausdrucken lassen. Wenn inzwischen etwas gelöscht wurde, kriege ich auch das heraus, mehr allerdings nicht. Zu wann brauchst du diese Informationen?" „Gestern!" „Scheiße Bernack. Hast du eine Vorstellung davon, wieviel Ordner mit ungelösten Fällen sich vor mir türmen?" „Es ist wirklich dringend. Bitte!" „Bitte? Seit wann gehört dieses Zauberwort denn zu deinem Sprachschatz?" „Kramnick!" „Okay, okay, ich laß dich doch nicht hängen. Aber denk' daran: du bist mir jetzt schon zwei, wie du es nennst, `Gefälligkeiten´ schuldig." „Nur keine Angst!" -152-
„Wenn du es sagst! Wie gelange ich in die Firma des Toten?" „Frau Westermann wird wohl nicht da sein, aber auf meinem Schreibtisch liegt ein Schlüsselbund, mit dem kommst du rein! Wir sehen uns dann in ein paar Minuten dort. Bis gleich." „Ja, bis gleich." Der Hauptkommissar steckte sein Handy weg, ging zu den zwei Freimaurern zurück und wandte sich an Behnken: „Würden Sie Ihre Handschuhe wiedererkennen?" „Natürlich! Meine Initialen sind in ihnen eingestickt!" „Wie schön für Sie." Bernack eilte, ohne sich zu verabschieden, zu seinem Auto und überlegte, ob er Steter von Freese abziehen sollte. Er entschloß sich, dies nicht zu tun, weil es dafür seiner Meinung nach noch zu früh war. Als er bei seinem Wagen ankam, baute sich ein Mann unmittelbar vor ihm auf und fragte gereizt: „Was fällt Ihnen ein, Ihre Schrottmühle direkt vor meiner Garage zu parken? Ich habe schon bei der Polizei angerufen, Ihr Kennzeichen durchgegeben und lasse Sie nicht eher fort, bis die Beamten hier sind!" Der Hauptkommissar zückte seinen Dienstausweis und entgegnete rauh: „Hören Sie auf zu heulen und machen Sie den Weg frei! Wenn Sie mich no ch länger aufhalten oder behindern, nehme ich Sie mit aufs Präsidium, und dann können Sie nur hoffen, einen guten Rechtsanwalt zu kennen! Verstanden?" Der Mann trat kommentarlos zur Seite. Bernack stieg in sein Auto und fuhr in die Martinistraße, wo er klingelte und von Kramnick hereingelassen wurde. Der Kollege führte den Hauptkommissar zum eingeschalteten PC des Toten, setzte sich vor den Monitor und sagte: -153-
„Ich bin schon auf das gestoßen, was du vermutet hast, es war gar kein Problem. Eine Datei, und nur eine, ist von der Festplatte verschwunden, offensichtlich wurde sie von Hanser gelöscht. Was du hier siehst, ist die Kopie, die ich bei meinem ersten Besuch auf Diskette gezogen habe. Es dreht sich bei diesen Tabellen wohl um die kurz und bündige Dokumentation von Immobiliengeschäften in den neuen Bundesländern. Weil das mit dem eigentlichen Broterwerb von Ansberg, also den Lohn- beziehungsweise Gehaltsabrechnungen und den monatlichen Buchführungsaufgaben im Grunde genommen nichts zu tun hat, und es im ganzen Büro auch sonst nichts in dieser Richtung gibt, ist mir die Datei am Freitag schon aufgefallen." Kramnick deutete mit seinem linken Zeigefinger auf verschiedene Punkte des Bildschirms und fuhr fort: „Interessant sind die Abkürzungen `B.H.´ in dieser Aufstellung. Heißt Hanser mit Vornamen vielleicht Bernhard, Björn, Bruno oder gar Balthasar?" „Nein, er ist auch kein verkappter Transsexueller namens Barbara, er heißt `Bruder´." „Wie bitte?" „Wie du eventuell schon erfahren hast, war Ansberg Freimaurer, und Hanser ist es noch. Diese Jungs reden sich immer mit `Bruder Soundso´ an, in diesem Falle also `Bruder Hanser´. Es sollte mich jedenfalls der Teufel holen, wenn nicht er damit gemeint ist. Was hältst du von den Immobiliengeschäften? Sind das krumme Dinge r?" „Ich weiß es nicht. Aus den abgespeicherten Informationen lassen sich noch keine Rückschlüsse auf Betrügereien ziehen. Das hier könnte alles absolut legal sein." Bernack versuchte ein gewinnendes Lächeln auf seine Lippen zu zaubern und hob an: -154-
„Würdest..." Kramnick unterbrach ihn sofort: „Nerv' mich jetzt bloß nicht mit der Bitte um noch eine kleine `Gefälligkeit´! Erledige deinen Job zur Abwechslung einfach mal selbst!" „Ich will ja gar nicht, daß du die gesamte Datei für mich durchackerst. Es würde mir völlig reichen, wenn du dich auf eines der verzeichneten Geschäfte beschränkst. Das kann doch nicht zuviel verlangt sein?" „Du hast ja überhaupt keine Ahnung! Wenn Hanser, oder wer auch immer, diese Datei nicht gelöscht hätte, wären wir nie darauf gekommen, daß sie möglicherweise, ich betone: möglicherweise höchst brisant ist. Bei dem, was ich alles zu tun habe, hätte ich auf der Dienststelle vielleicht irgendwann einmal einen kurzen Blick in die Kopie geworfen, aber wirklich nur einen kurzen Blick, ich weiß nämlich, wieviel Mühe darin steckt, den wahren Gehalt dieser Tabellen zu entschlüsseln! Dann wäre die Diskette früher oder später ins Archiv, Rubrik: ungelöste Fälle, gewandert und dort für alle Zeiten verschwunden! Ich habe die Kopie doch nicht gemacht, weil die Datei etwas augenscheinlich Verdächtiges enthält, sondern nur, weil sie eigentlich nicht hierherpaßt! Das kam mir ein bißchen komisch vor, muß aber nichts bedeuten!" „Du zwingst mich dazu, wieder das Zauberwort zu gebrauchen, und das ist unfair, Kramnick!" Der Angesprochene schaltete den PC aus, nahm die Diskette und antwortete: „Vermutlich wäre es sogar grausam! Okay, ich helfe dir noch einmal. Als Gegenleistung übernimmst du dafür aber die nächste Nacht, die ich mir sonst wegen einer Beschattung um die Ohren schlagen müßte!" -155-
„Ihr macht so etwas auch?" „Ja, wir machen so etwas auch! Also, bist du mit meinem Vorschlag einverstanden?" „Habe ich mich dann für alle Gefälligkeiten revanchiert?" „Bernack!" „Ist ja gut, einverstanden!" Der Hauptkommissar griff nach dem Schlüsselbund, der neben dem Bildschirm gelegen hatte, verließ hinter seinem Kollegen die Firmenräume und schloß dann ab. Kramnick ging zu Fuß zurück ins Polizeihaus, Bernack fuhr mit dem Auto. Um zwölf Uhr zwanzig betrat er sein Büro und nahm als erstes Kontakt mit Neukirch auf: „Wo befinden Sie sich?" „Bin grad auf die A 27 gefahren. Richtung Bremer Kreuz. Hinter Hanser her. War auf der Blocklanddeponie. Hat dort Müll weggeschmissen." „Was für Müll?" „Alte Fenster. Teppichboden." „Sonst noch was?" „Nein." Der Hauptkommissar wurde nachdrücklich: „Hanser ist unser Mann! Lassen Sie ihn also bloß nicht entwischen und geben Sie mir sofort Bescheid, wenn etwas Außergewöhnliches passieren sollte. Sie erreichen mich am besten über Handy." Er beendete das Gespräch und setzte sich dann mit Steter in Verbindung. Eigentlich hatte er vorgehabt, sie ebenfalls in die Beschattung von Hanser einzubeziehen, damit sich die Assistenten in der direkten Verfolgerrolle abwechseln konnten. Dieser Plan hätte aber, um überhaupt funktionieren zu können, schon gleich von Ansbergs Firma aus eingefädelt werden -156-
müssen. Jetzt war es zu spät - die beiden Wagen auf der Autobahn hatten einen zu großen Vorsprung. Also gab er Steter eine andere Order: „Vergessen Sie Freese, Hanser ist der Kerl, den wir jagen! Er war bis vor wenigen Minuten auf der Blocklanddeponie und hat da irgendwelchen Müll, das heißt, Fenster und Teppichboden, entsorgt. Sie fahren jetzt dorthin und hören sich um, vielleicht können Sie etwas Interessantes ausfindig machen. Danach kommen Sie wieder hierher." Bernack war felsenfest davon überzeugt, den richtigen Mann im Visier zu haben und fand es nun an der Zeit, sich bei dem näher umzusehen. Die Verdachtsmomente hatten sich in der letzten halben Stunde enorm erhärtet, waren aber immer noch nicht überwältigend. Trotzdem glaubte er, zwei Durchsuchungsbefehle erhalten zu können, einen für Hansers Wohnhaus und einen für seine Firma. Um kurz nach eins hatte der Hauptkommissar die gewünschten Papiere in der Hand - die Staatsanwältin zu überreden, war einfacher gewesen als gedacht, und der zuständige Richter hatte unterschrieben, ohne Fragen zu stellen. Auf dem Rückweg zu seinem Büro meldete sich Neukirch: „Entschuldigung. Chef. Habe ihn verloren." Bernack wußte im Grunde genommen genau, was der Assistent ihm mitteilen wollte. In der Hoffnung, er würde sich vielleicht dennoch irren, zügelte er seine Wut für einen kleinen Augenblick und fragte nach: „Wen oder was haben Sie verloren?" „Hanser. Hat mich abgeschüttelt." Mit der Selbstbeherrschung war er jetzt am Ende, und so brüllte der Hauptkommissar in das Handy: „Verfluchte Scheiße. Ich hatte Ihnen angedroht, Sie zu degradieren und in den Streifendienst zurückzuversetzen, aber -157-
offensichtlich sind Sie selbst dafür zu blöd. Wo hat Hanser Sie abgeschüttelt?" „Dreieck Ahlhorner Heide. Ist dort runter gefahren. Ich hinterher. War plötzlich verschwunden." „Großartig, ganz großartig! Ich bin mächtig stolz auf Sie!" Bernack machte eine Pause, um tief Luft zu holen, und schrie dann im gleichen Ton weiter: „Sie fahren jetzt auf der Stelle in die Hollerallee, wir werden dort eine Hausdurchsuchung machen. Parken Sie aber möglichst weit weg, immerhin kennt Hanser Ihren Wagen inzwischen aus dem Effeff! Nein, besser noch, Sie beobachten seine Firma. So sind Sie nicht in meiner Nähe, und es ist gewährleistet, daß Sie diese Geschichte wenigstens körperlich unversehrt überstehen, im Moment täte ich nämlich nichts lieber, als Sie an die Wand zu klatschen! Ich will, daß niemand Hansers Geschäftsräume betritt oder verläßt! Das ist Ihre allerletzte Chance, stellen Sie sich also bloß nicht wieder so bescheuert dabei an!" Der Hauptkommissar stopfte das Handy aufgebracht in seine Jackentasche, ging in sein Zimmer, setzte sich hinter den Schreibtisch und versuchte sich zu beruhigen. Als ihm das halbwegs gelungen war, rief er Steter an: „Neukirch hat sich abhängen lassen. Haben wenigstens Sie etwas zu berichten, was uns weiterbringt?" „Ich denke schon. Ein auf der Deponie Beschäftigter konnte mir eine ganze Menge sagen, Hanser war nämlich so dumm, sich mit ihm anzulegen. Neben dem alten Krempel, von dem Sie mir erzählten, hat unser Mann ursprünglich wohl noch vorgehabt, einige Klamotten wegzuwerfen, das aber, aus welchen Gründen auch immer, dann doch nicht getan. Er hat die Fenster und den Teppichboden ordnungsgemäß entsorgt und sich anschließend eine Zeitlang am Kofferraum seines Autos zu schaffen gemacht. Was er da aber definitiv tat, konnte mir der -158-
Blockland-Typ nicht verraten." „Und, was halten Sie von dieser Geschichte mit den Klamotten?" „Ich glaube, daß das die Sachen waren, die Hanser anhatte, als er Ansberg erschlug." „Genau das glaube ich auch. Vermutlich probiert er jetzt irgendwo auf dem Land, das Zeug loszuwerden. Um so unverzeihlicher ist es, daß Neukirch ihn verloren hat. Mit dem Kofferraum voller Beweise hätten wir es so einfach gehabt, Hanser des Mordes zu überführen, daß es eine wahre Pracht gewesen wäre! Mein Gott, solch eine günstige Gelegenheit, und nun ist sie vertan! Scheiße, scheiße, scheiße!" Bernack faßte sich an den Kopf, verstummte kurz und fragte dann: „Wo sind Sie jetzt?" „Ich bin gerade von der Deponie aufgebrochen." „Okay. Kommen Sie nicht hierher, fahren Sie direkt in die Hollerallee und warten Sie dort auf mich. Wir werden eine Hausdurchsuchung vornehmen. Stellen Sie Ihren Wagen etwas abseits ab, damit Hanser nicht mißtrauisch wird, wenn er zurückkehrt. Falls er zurückkehrt!" „In Ordnung." Der Hauptkommissar steckte sein Handy ein, verließ das Büro und machte sich auf den Weg. Er parkte seinen Wagen in der Nähe vom Stern und ging die letzte Strecke zu Fuß. Gemeinsam mit seiner Assistentin, auf die er zwanzig Meter vor dem Haus von Hanser stieß, betrat er das Grundstück und klingelte dann an der Tür. Eine Frau öffnete ihnen. „Mein Name ist Bernack von der Kripo Bremen, dies hier ist meine Mitarbeiterin Nicole Steter. Wir haben einen Durchsuchungsbefehl. Sind Sie Frau Hanser?" Die Angesprochene nickte, sah ihn irritiert an und erwiderte: -159-
„Ich verstehe nicht! Was wollen Sie denn? Wir haben doch nichts ausgefressen!" „Sie möglicherweise nicht, Ihr Mann wird aber dringend verdächtigt, Helmut Ansberg ermordet zu haben. Dürfen wir jetzt endlich reinkommen?" Die Frau war so konsterniert, daß sie ihre Sprache erst wiederfand, als sie die beiden Beamten in den Flur gelassen hatte: „Das ist doch absurd, was Sie behaupten. Gerhard wäre zu solch einer Tat überhaupt nicht fähig!" Der Hauptkommissar lächelte. „Ich finde es toll, daß Sie zu Ihrem Mann stehen, zeigt es doch, daß die deutsche Ehe viel besser ist als ihr Ruf. Unglücklicherweise habe ich keine Zeit, um mich mit Ihnen über Treue oder andere Tugenden zu unterhalten. Ist Frau Heidmühl anwesend?" „Nein." „Gibt es hier ein Arbeitszimmer?" Die Hausherrin nickte wieder, führte Bernack und seine Assistentin in den gewünschten Raum und wollte dann umkehren, wurde vom Hauptkommissar aber zurückgehalten: „Auch in Ihrem Interesse bleiben Sie besser bei uns, denn in dieser schweren Stunde brauchen Sie doch bestimmt Beistand und menschliche Nähe." Steter verdrehte die Augen und schüttelte den Kopf, wagte allerdings nicht, offen zu protestieren. Frau Hanser hingegen wollte sich über diese zynische Behandlung in ihren eigenen vier Wänden beschweren, bevor sie aber noch den Mund aufmachen konnte, erklärte ihr Bernack: „Ich möchte, daß Sie mit niemandem telefonieren. Wenn Sie selbst angerufen werden, warten Sie auf meine Anweisung, ehe Sie rangehen. Falls Sie gegen diese Vorgaben verstoßen, muß -160-
ich annehmen, daß Sie eine Komplizin Ihres Mannes sind und Sie verhaften. Alles klar?" Eingeschüchtert nickte die Frau erneut. Der Hauptkommissar wußte, daß er sich nicht korrekt verhielt, um es vorsichtig zu formulieren, denn zumindest das Telefongespräch mit einem Rechtsanwalt hätte ihr erlaubt sein müssen. Bernack wollte aber unter allen Umständen verhindern, daß Hanser über die Hausdurchsuchung in Kenntnis gesetzt wurde, und definierte daher, nicht zum ersten Mal, die Spielregeln nach persönlichem Ermessen. Er schaute sich um, gab Steter den Auftrag, sich den Inhalt von zwei Regalen näher anzusehen, und kümmerte sich selbst um den Schreibtisch, der vor einer großen Fensterfront stand. Er durchwühlte die Fächer auf der linken wie auf der rechten Seite und auch die Schublade in der Mitte, konnte aber nichts für ihn Interessantes finden. Dann trat er ein paar Schritte zurück, besah sich den Schreibtisch noch einmal ganz genau, ging wieder zu ihm hin, tastete ihn sorgfältig ab und wandte sich danach an Frau Hanser: „Hier ist ein Geheimfach. Wissen Sie, wie es zu öffnen ist?" Die Hausherrin verneinte, und so stellte er die nächste Frage: „Wo ist der Werkzeugkasten?" „Sie wollen doch wohl nicht etwa... " Der Hauptkommissar fuhr ihr grob ins Wort: „Und ob ich will! Wo ist der Werkzeugkasten?" Die Antwort kam kleinlaut: „Im Keller. Ich zeige Ihnen, wo." Die Frau drehte sich um, ging voran und Bernack folgte ihr. Fünf Minuten später kam er mit Hammer und Stemmeisen bewaffnet zurück und brach das Geheimfach mit drei starken Schlägen auf, also freimaurermäßig, wie er bemerkte. Er fand auf Anhieb die aus Ansbergs Wagen gestohlenen Unterlagen, -161-
nahm sie heraus, machte es sich im Schreibtischstuhl bequem, schaltete den PC ein, lud die Diskette, rief seine Assistentin herbei und erklärte ihr die Bedeutung dieser Entdeckung. „Damit sind wir einen Schritt weiter, allerdings nur einen. Haben Sie schon irgend etwas gefunden?" „Nein, bisher nichts." Der Hauptkommissar überlegte. „Hanser hatte heute Morgen auf der Trauerfeier einen Aktenkoffer dabei. Sehen Sie mal zu, wo der ist." Steter entfernte sich, und Bernack guckte nach, was das Geheimfach sonst noch enthielt, stieß allerdings auf nichts Relevantes mehr. Dafür gelang es seiner Assistentin innerhalb von kürzester Zeit, den Aktenkoffer aufzuspüren. Er war verschlossen. Der Hauptkommissar legte ihn auf den Boden, setzte das Stemmeisen an und griff zum Hammer. Zwei kräftige Schläge genügten, und der Deckel klappte hoch. Der Hauptkommissar langte nach den weißen Handschuhen, stülpte sie herum, erkannte die eingestickten Initialen `W.B.´, zeigte sie Steter, erläuterte ihr die Vorgeschichte und fügte hinzu: „Damit haben wir wieder einen Schritt gemacht. Unsere Karten werden immer besser!" „Was meinen Sie mit `immer besser!´? Reicht das, was wir haben, denn noch nicht aus, um Hanser festzunageln?" „Ich fürchte, nein! Der Kerl ist clever und wird sich durch unsere Funde wahrscheinlich nicht großartig beeindruckt zeigen. Wir müssen weitersuchen!" Also fuhren sie mit ihrer Arbeit fort und gingen dabei äußerst gewissenhaft zu Werke. Dementsprechend langsam kamen sie voran. Es war kurz nach sechzehn Uhr dreißig, der Hauptkommissar -162-
wollte gerade die Treppe nach oben steigen, um sich das Schlafzimmer vorzuknöpfen, als die Haustür aufgesperrt wurde und Hanser den Flur betrat. Mit einem überraschten Gesicht sprach er Bernack an: „Was machen Sie denn hier?" „Ich habe den Artikel über Ihre Villa in `Schöner Wohnen´ gelesen und da mir die Fotos gefielen, dachte ich, schau dir das Teil doch mal in natura an!" Hansers Frau mischte sich aufgeregt ein: „Gut, daß du endlich kommst! Dieser Beamte hat einen Durchsuchungsbefehl und verdächtigt dich, deinen Bruder Ansberg getötet zu haben. Sag doch was!" „Lächerlich! Hast du den Durchsuchungsbefehl gesehen?" „Nein." „Hast du wenigstens einen Rechtsanwalt angerufen?" „Das konnte ich nicht, der Hauptkommissar hat mir das Telefonieren verboten!" „Und du blöde Kuh hast dir das gefallen lassen?" „Was sollte ich denn tun? Er hat damit gedroht, mich zu verhaften! Möchtest du, daß ich mich jetzt mit Herrn Biermann in Verbindung setze?" „Nein, sprich lieber mit Ohmstedt, der ist in solchen Fällen erfahrener. Er soll auf der Stelle hier erscheinen!" Erleichtert verließ die Ehefrau den Ort ihrer erneuten Demütigung. Hanser wandte sich an Bernack: „Ihr Verhalten wird ein Nachspiel haben. Zeigen Sie mir den Durchsuchungsbefehl!" Bernack zückte die Papiere, reichte sie herüber und beobachtete, wie der andere sie aufmerksam durchlas. „Das sieht so aus, als wenn es in Ordnung wäre." -163-
„Worauf Sie sich verlassen können! Wollen Sie mich nun bitten, irgendwo Platz zu nehmen, oder legen Sie Wert darauf, daß wir die jetzt notwendige Unterhaltung im Präsidium führen?" „Kommen Sie mit." Hanser durchquerte den Flur, ging ins Wohnzimmer und ließ sich in einer Sitzecke vor einem großen Kamin nieder. Der Hauptkommissar holte erst noch die Diskette, die Computerausdrucke und die weißen Handschuhe, folgte dann zusammen mit seiner Assistentin, setzte sich ebenfalls, zündete sich eine Zigarette an und begann mit dem Verhör: „Zunächst einmal die formale Aufklärung über Ihre Rechte: Alles was Sie ab sofort sagen, kann später gegen Sie verwendet werden, Fräulein Steter wird genau protokollieren. Nun zum Inhaltlichen: Was haben Sie nach dem Ende der Trauerfeier getan?" „Die Zeremonie hat mich sehr aufgewühlt. Um etwas Ablenkung zu finden, bin ich daher zur Blocklanddeponie gefahren, um ausgedienten Krempel wegzuwerfen. Danach habe ich eine Spritztour ohne besonderes Ziel übers Land gemacht, weil ich hoffte, so mein inneres Gleichgewicht wiederzugewinnen." „Es freut mich zu sehen, daß Sie erfolgreich waren, ich also keine Skrupel haben muß, Sie mit meinen Fragen zu stark zu belasten. Gehen wir deshalb weiter: Ein auf der Deponie arbeitender Mann hat uns erzählt, daß Sie eigentlich auch alte Klamotten entsorgen wollten, das dann aber doch nicht taten. Warum?" „Ganz einfach: Ich war so durcheinander, daß ich vergessen hatte, sie einzuladen." „Klingt plausibel." Bernack dachte einen kurzen Moment lang daran, sich die Sachen zeigen zu lassen, verwarf diese Idee dann aber, wies auf -164-
die Diskette mit den Ausdrucken und fragte: „Haben Sie eine Ahnung, was das ist?" „Ja. Dokumente über, wie soll ich sagen: etwas dubiose Immobiliengeschäfte, die Helmut im Osten abgewickelt hat. Ich wußte in groben Umrissen davon, weil er sie mir gegenüber einmal erwähnte. Ich wollte nicht, daß sein guter Ruf im nachhinein noch beschädigt wird, daher habe ich diese Unterlagen vorgestern an mich genommen. Mir ist bekannt, daß das strafbar ist, aber zur Ehrenrettung meines Bruders mußte ich es tun." „Nun ja, die Zurückhaltung von Beweismitteln ist in der Tat strafbar, aber wegen solch einer Lappalie will ich Sie nicht belangen. Ich bin überzeugt davon, daß die, wie Sie meinen, etwas dubiosen Geschäfte nicht auf Ansbergs Kappe gingen, sondern von Ihnen durchgezogen wurden, wir arbeiten schon daran, das nachzuweisen. Aber auch wegen dieser Betrügereien bin ich nicht hier, wie Sie bestimmt wissen. Ich... " Die Hausherrin gesellte sich zu ihnen, unterbrach den Hauptkommissar und informierte ihren Mann: „Herr Ohmstedt ist auf dem Weg. Er wird in zehn Minuten da sein." Hanser erwiderte: „Gut. Das Ganze wird sich zwar sehr schnell als Mißverständ nis aufklären, es ist aber trotzdem besser, daß er kommt, die Bremer Polizei ist nämlich berüchtigt für allerlei Tricks. Sie steht nicht gern vor der Öffentlichkeit mit leeren Händen da und verhaftet deshalb lieber einen Unschuldigen!" Bernack grinste und deutete auf die weißen Handschuhe. „Kennen Sie die?" „Ja. Die habe ich im Bestattungsinstitut aus der Tasche von Bruder Behnken entwendet. Das war ein Vertrauensbruch und ist eigentlich unverzeihlich, aber ich hatte mein eigenes Paar -165-
irgendwo verlegt und wollte unbedingt als Freimaurer an der Trauerfeier teilnehmen. Ich werde mich heute Abend noch bei dem Bruder entschuldigen." „Vorausgesetzt, der ist bereit, Sie im Gefängnis zu besuchen!" „Was wollen Sie damit sagen?" „Das wissen Sie genau!" Der Hauptkommissar kam nicht umhin, Hanser seinen Respekt zu zollen. Der war ziemlich überraschend mit neuen Tatsachen konfrontiert worden, hatte allerdings auf jede Frage geistesgegenwärtig die passende Antwort gefunden. Bei den gestohlenen Handschuhen handelte es sich nicht einmal um Kinkerlitzchen, und die Diskette lieferte bestenfalls das Motiv, aber noch längst nicht den Beweis für den Mord. Trotzdem war Hansers Lage durch die Präsentation dieser Stücke natürlich schlechter geworden. Nur hatte er sich, scheinbar unbeeindruckt davon, weder überrumpeln noch zu einem Fehler verleiten lassen - er war also wirklich so clever wie vermutet. Bernack hatte schon befürchtet, daß das Gespräch diese Entwicklung nehmen würde und zog jetzt seinen letzten Trumpf. Er nahm einen Schlüsselbund aus seiner Jackentasche, legte ihn auf den Tisch und fuhr fort: „Was ist hiermit?" Hanser verriet mit keiner Miene, was er dachte oder fühlte, und entgegnete: „Was soll damit schon sein? Das ist ein Schlüsselbund von Helmut. Ich habe ihn am Samstag in seinem Büro entdeckt und an mich genommen. Ich wußte nicht, wie oft ich noch zurückkehren müßte, um meine Arbeit zu erledigen und wollte dieser Frau Westermann nicht ständig hinterherrennen." „Haben Sie das, Steter?" Die Assistentin blickte von ihrem Notizblock hoch und -166-
bejahte. Der Hauptkommissar atmete tief durch und holte dann aus, um Hanser den finalen Schlag zu versetzen: „Dieser Schlüsselbund gehörte dem Ermordeten, das ist richtig. Er befand sich ursprünglich aber nicht in dessen Firma, sondern im Wohnhaus in der Marcusallee, Fräulein Steter hat ihn von dort mitgebracht. Was sagt uns das? Erstens: Sie sind im Besitz eines Schlüsselbundes von Helmut Ansberg, das haben Sie uns gerade freundlicherweise bestätigt! Zweitens: Der Schlüsselbund, den Sie meinen und der von Ihnen wohl irgendwo versteckt wird, kann nicht aus dem Büro in der Martinistraße kommen, denn wenn da einer gewesen wäre, dann hätten wir ihn schon am Freitag bei unserer gründlichen Durchsuchung gefunden! Daraus ergibt sich drittens, daß Sie uns eben eine Lüge erzählten und `Ihr´ Schlüsselbund von Ansberg selbst stammen muß! In der Tat hatte der Tote im Tempel keinen mehr bei sich! Da es viertens aus diversen Gründen auszuschließen ist, daß der Bruder den Schlüssel vergaß oder verlor und Sie ihn `rein zufällig´ fanden, er ihn fünftens ganz sicher nicht freiwillig herausgerückt hat, und sechstens auch der Gedanke an eine spätere Leichenfledderei ausscheidet, sind alle Ihre Schlupflöcher geschlossen! Und das führt siebtens unweigerlich zu dem Ergebnis, daß Sie es waren, der Helmut Ansberg erschlug! Gerhard Hanser, ich nehme Sie vorläufig fest. Le gen Sie dem Mann Handschellen an, Steter, und rufen Sie dann einen Streifenwagen, der ihn wegbringt. Wir beide haben hier noch zu tun."
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Epilog Günter Kulenkampff hatte sich gerade den Pyjama angezo gen, als um dreiundzwanzig Uhr achtzehn sein Telefon klingelte. „Bernack. Entschuldigen Sie die späte Störung. Ich wollte Ihnen nur mitteilen, daß wir heute Nachmittag Gerhard Hanser verhaftet haben. Es ist so gut wie bewiesen, daß er der Mörder von Helmut Ansberg ist." Der Meister vom Stuhl brauchte ein bißchen Zeit, um zu fassen, daß seine größte Befürchtung nun eingetreten war, daß der Täter also wirklich aus der Loge kam. Dann fragte er: „Was heißt, `so gut wie bewiesen´? Ist definitiv sicher, daß er es war, der Helmut erschlug?" „Es gibt keine Zeugen, und Hanser ist auch nicht geständig, ich habe ihn eben ein paar Stunden lang vernommen. Aber wir kennen das Motiv und schon jetzt eine genügende Anzahl von Indizien. Es wird ihm nicht gelingen, sich da rauszuwinden!" „Würden Sie bitte etwas konkreter werden?" Der Hauptkommissar tat dies und erzählte die vollständige Geschichte bis zum Gespräch mit Hanser in dessen Wohnzimmer und der anschließenden Festnahme. Der fehlende Schlüsselbund war noch nicht entdeckt worden, und der Bericht der Experten, die Hansers Auto, speziell den Kofferraum, untersuchten, lag zur Stunde auch noch nicht vor. Dafür konnte ein Kollege von Bernack aber bereits herausfinden, daß sich Hanser über einen Strohmann eine ehemals freimaurerische Immobilie betrügerisch angeeignet und dann weiterveräußert hatte. Er ging davon aus, daß dies kein Einzelfall war. Kulenkampff hatte aufmerksam gelauscht und nach Spuren von rechthaberischer Genugtuung im Ton des Hauptkommissars -168-
geforscht, jedoch nichts weiter als die Stimme eines müden Mannes gehört und fragte jetzt: „Helmut ist Hanser also wegen dieser freimaurerischen Immobilie auf die Schliche gekommen, oder täusche ich mich da?" „Nun, ob dieses Objekt tatsächlich das erste war, auf das Ansberg bei seiner Recherche gestoßen ist, wissen wir nicht, er hat eine ganze Reihe von Fällen dokumentiert. Es ist auch noch nicht klar, wie es ihm überhaupt gelungen ist, Hansers Machenschaften aufzudecken. Sicher scheint aber zu sein, daß er sich als guter Freimaurer verpflichtet fühlte, zunächst mit ihm deswegen zu sprechen und deshalb erschlagen wurde. Wenn er gleich zur Polizei gegangen wäre, würde er jedenfalls noch leben." Die beiden Männer schwiegen für einen Augenblick, dann ergriff der Meister vom Stuhl wieder das Wort: „Was ist Hanser eigentlich letztendlich zum Verhängnis geworden? Der Schlüsselbund? Wenn er ihn nun weggeworfen oder bei sich gehabt hätte? Dann wäre er auf Ihren Bluff doch nicht hereingefallen, oder?" „Nein, wäre er sehr wahrscheinlich nicht. Ich hätte seinen Wagen allerdings so oder so unter die Lupe nehmen lassen, und wenn die Experten darin etwas finden, was seine Schuld beweist, spielt alles andere keine Rolle mehr. Aber gehen wir mal davon aus, daß sie nicht fündig werden: Dann hätte es Hanser auch nichts genützt, den Schlüsselbund bei sich zu tragen, weil wir ihn garantiert entdeckt hätten - er ist nach dem Verhör nämlich noch durchsucht worden. Es wäre also praktisch die gleiche Situation wie jetzt entstanden, und er hätte einen Mordprozeß am Hals. Hätte Hanser den Schlüsselbund jedoch beseitigt, hätte das, was wir in der Hand haben, nur zu einer Anklage wegen seiner Betrügereien gereicht, das heißt, er wäre relativ glimpflich -169-
davongekommen. Von daher war das Aufbewahren des Schlüsselbundes schon ein grober Fehler - er hat ihn vermutlich bloß darum nicht weggeschmissen, weil er sich nicht sicher war, ob er ihn noch einmal brauchen würde. Sein entscheidender Fehler lag aber darin, die Datei gelöscht zu haben. Hätte er das nicht getan, wäre er wohl nie richtig in unser Visier geraten. Es ist, wenn Sie so wollen, die Ironie des Schicksals, daß er einen Moment lang zu clever war." Kulenkampff hatte genug erfahren und wollte sich nicht weiter unterhalten, weder mit Bernack, noch mit sonst jemanden. Er wollte allein sein, allein mit seiner Traurigkeit und seinem Schmerz. Er glaubte, daß er diesen Gefühlen für eine gewisse Zeit ausgeliefert war, wußte allerdings auch, daß er nicht mutlos werden durfte und ganz schnell neue Kraft schöpfen mußte, um seine Aufgaben in der Loge zu bewältigen. Deshalb bemühte er sich, ein Schlußwort zu ziehen, daß schon nach Optimismus klang: „Tja, das war's dann wohl. Besser ein Ende mit Schrecken, als ein Schrecken ohne Ende! Es wird zwar noch eine Weile dauern, bis der normale Alltag in die Bruderschaft zurückgekehrt ist, das Schlimmste sollte nun jedoch überstanden sein. Vie len Dank, daß Sie mich so unverzüglich informiert haben. Gute Nacht." Der Hauptkommissar wünschte ebenfalls eine gute Nacht und legte auf. Er hatte vor diesem Gespräch daran gedacht, den Meister vom Stuhl um die Einladung zu einem Gästeabend in der Loge zu bitten, sich schließlich aber doch dagegen entschieden, weil ihm bewußt geworden war, daß es für beide Parteien besser wäre, sich etwas mehr Zeit zu lassen. Er selbst war noch längst nicht so weit, Freimaurer zu werden, würde vielleicht auch nie so weit kommen, und die andere Seite war gewiß nicht bereit, ihn jetzt schon willkommen zu heißen. -170-