Bernhard Stier Nikolaus Weissenrieder (Hrsg.) Jugendmedizin – Gesundheit und Gesellschaft
Bernhard Stier Nikolaus Weissenrieder (Hrsg.)
Jugendmedizin Gesundheit und Gesellschaft Mit 90 Abbildungen und 78 Tabellen
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Dr. med. Bernhard Stier Wetzlarer Str. 25 35510 Butzbach www.jugendgesundheitstag.de www.hilfe-fuer-fritz.de
Dr. med. Nikolaus Weissenrieder Ruffinistr. 2 80637 München www.praxis.quamamed.de
ISBN-10: 3-540-21483-6 Springer Medizin Verlag Heidelberg ISBN-13: 978-3-540-21483-0 Springer Medizin Verlag Heidelberg Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Springer Medizin Verlag. Ein Unternehmen von Springer Science+Business Media springer.de © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2006 Printed in Germany Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutzgesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Produkthaftung: Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag keine Gewähr übernommen werden. Derartige Angaben müssen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall anhand anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden. Planung: Renate Scheddin Projektmanagement: Sylvia Kröning/Gisela Zech Lektorat: Bettina Arndt, Weinheim Umschlaggestaltung: deblik, Berlin SPIN 10944882 Satz: Fotosatz-Service Köhler GmbH, Würzburg Druck: Stürtz GmbH, Würzburg Gedruckt auf säurefreiem Papier 2126 – 5 4 3 2 1 0
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Für Katja, Maximilian, Robin und Vincent »Wir können nicht immer die Zukunft für unsere Jugend gestalten, aber wir können immer unsere Jugend auf die Zukunft vorbereiten«. Franklin D. Roosevelt
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Geleitwort1 Die Jugendmedizin als ein spezielles Interessengebiet ist in den 1960er-Jahren auf Betreiben von Dr. Gallagher in Boston in den Vereinigten Staaten ins Leben gerufen worden. In den frühen 1980er-Jahren erfolgte die Gründung der Society for Adolescent Medicine, die für viele europäische Pioniere auf diesem Gebiet zum einen eine Ressource darstellte und zum anderen ein Ort fruchtbaren Austausches war. Im Jahr 1987 wurde in Sydney die International Association for Adolescent Health (IAAH) gegründet und seitdem sind auf der gesamten Welt viele nationale Vereinigungen entstanden [1]. In den Vereinigten Staaten wird die Jugendmedizin heutzutage als eine Subspezialität angesehen, an dem die Kinderheilkunde, Allgemeinmedizin und Innere Medizin beteiligt sind. Europa hat mehr Zeit als andere Teile der Welt (einschließlich Südamerika) benötigt, um sich dieser Entwicklung anzuschließen, wobei jedoch seit etwa 5–10 Jahren zunehmend mehr Gesundheitsfachleute erkannt haben, wie wichtig es ist, spezielle Ansätze und Strategien zu entwickeln, um junge Menschen zu erreichen und ihnen eine angemessene Gesundheitsversorgung sowie Programme zur Gesundheitsförderung bieten zu können. Erst kürzlich hat die European Confederation of Specialists in Pediatrics eine Ad-hoc-Arbeitsgruppe zur Jugendmedizin eingesetzt, die von einem deutschsprachigen Kollegen geleitet wird. Außerdem haben verschiedene europäische Länder, zu denen u. a. Österreich, Frankreich, Italien, Deutschland, Portugal, Schweden, Spanien und die Schweiz gehören, eigene Vereinigungen für Jugendmedizin bzw. Jugendgesundheit gegründet. Beim letzten internationalen Kongress der IAAH, der im Jahr 2005 in Lissabon stattfand, versammelten sich etwa 600 Fachleute, und der Umstand, dass Europa als Ort dieser großen Veranstaltung gewählt wurde, macht deutlich, dass die Entwicklung in diesem Bereich auf unserem Kontinent schnell voranschreitet. Noch ist viel Arbeit zu leisten, und die Fachleute aus den Bereichen der Gesundheitsversorgung, Prävention und Gesundheitsförderung haben sich noch einigen Herausforderungen zu stellen. In ihrem letzten Bericht zur Gesundheit von jungen Menschen in Europa [2] hat die Europäische Union festgestellt, dass sich zwar die überwiegende Mehrheit der Jugendlichen einer guten Gesundheit erfreut, jedoch ein bedeutender Prozentsatz von jungen Menschen mit einem weniger privilegierten sozioökonomischen Status unter gesundheitlichen Problemen, hier insbesondere unter psychosozialen Belastungen, leidet. Jeder 10. Jugendliche leidet an einem größeren psychischen Gesundheitsproblem (einschließlich Substanzgebrauch und sehr riskantem Verhalten). Die Situation könnte in einigen osteuropäischen Staaten, die sich gerade in einer gewaltigen wirtschaftlichen und politischen Umbruchphase befinden, sogar noch schlechter sein. Dabei haben die Fachleute aus den Ländern, die finanziell besser gestellt sind, die Verpflichtung, sich Gedanken darüber zu machen, wie sie ihre Kollegen aus den weniger entwickelten Staaten darin unterstützen können, geeignete Gesundheitsinterventionsmöglichkeiten für Jugendliche aufzubauen. Die Jugendgesundheit ist in der Tat eine Herausforderung für unsere Gesellschaft, und es gibt u. a. vier wesentliche Bereiche, in denen neue Wege zur Verbesserung der Gesundheit und des Wohlbefindens von jungen Menschen entwickelt werden sollten. 1. Vor kurzem hat die Weltgesundheitsorganisation gemeinsam mit anderen nichtstaatlichen Organisationen wie UNICEF das Konzept der »jugendfreundlichen Dienste« oder »jugendfreundlichen Gesundheitsdienste« erstellt [3]. Dabei handelt es sich um ein äußerst nützliches Konzept, das eine Vielzahl von Ideen beinhaltet, wie effektive Gesundheitsdienste für Jugendliche aufgebaut und unterhalten werden können: Das Konzept betont die Bedeutung des Ethos für alle Strukturen der Gesundheitsversorgung, die Wichtigkeit der Zusammenarbeit mit den jungen Menschen sowie die Notwendigkeit des Nachdenkens darüber, wie diejenigen erreicht werden können, die am meisten der Hilfe bedürfen. Die Privatpraxen können patientengerechter werden, ebenso die Krankenhäuser, Notaufnahmen, Familienplanungszentren oder die spezialisierten Gesundheitszentren zur Versorgung von Jugendlichen. 2. Im Bereich der Gesundheitsförderung [4, 5] verlassen sich viele Schulen und Fachleute weiterhin auf veraltete Strategien, wie beispielsweise unidirektionale Konferenzen, die Anwendung von Angst oder das Verteilen von Informationsbroschüren ohne begleitende Diskussion, und dies obwohl uns mittlerweile ausreichende Belege dafür vorliegen, dass bestimmte Vorgehensweisen effektiver sind als andere [5]. Die Informationen über effektivere Möglichkeiten, junge Menschen dabei zu unterstützen, gesund zu bleiben oder ihre Gesundheit zu verbessern, müssen besser bekannt gemacht werden. Die Fachleute in der Gesundheitsversorgung müssen über die rein medizinische Arbeit hinausgehen und sich für ein freundlicheres Umfeld einsetzen – in Bezug auf berufliche Themen,
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Übersetzung: Dr. Michael Kraft, Hamburg.
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Geleitwort
finanzielle Unterstützung und Gesetzgebung –, da dies von entscheidender Bedeutung bei der Förderung des Wohlbefindens von Jugendlichen ist [6]. 3. Mittlerweile besteht Einigkeit darüber, wie Jugendliche in geeigneter Weise gesundheitlich versorgt werden [7], indem man sich an solide Grundsätze bezüglich der Vertraulichkeit hält und eine umfassende, ganzheitliche Sichtweise in Bezug auf die Gesundheit des Patienten und die entscheidenden Beeinflussungsfaktoren einnimmt. Allerdings beruht diese Einigkeit im Wesentlichen auf den Ansichten der praktizierenden Fachleute, und es fehlen uns weiterhin gute und valide Belege für die Wirksamkeit und Effektivität eines derartigen Ansatzes. Die klinische Forschung auf dem Gebiet der Gesundheitsversorgung von Jugendlichen muss ausgedehnt werden [7‒8]. Dies gilt in großem Maße ebenso für die Beurteilung der Auswirkungen von präventiven und fördernden Interventionen [8‒9]. 4. Schließlich bilden ausgebildete und qualifizierte Fachleute die Grundlage für eine einwandfreie klinische Praxis ebenso wie für effektive Interventionen. Viele Jahre lang wurden die speziellen Fähigkeiten in Verbindung mit der Jugendmedizin und Jugendgesundheit nicht gelehrt und zwar weder während des Studiums noch im Rahmen der fachärztlichen Ausbildung oder der ärztlichen Weiterbildung. Das EuTEACH-Programm, das auf einer frei zugänglichen Website einsehbar ist, schlägt z. B. einen umfassenden Lehrplan mit Modulen vor, die unterschiedliche Bereiche der Jugendgesundheit behandeln und pädagogische Instrumente zur Verbesserung der Durchführung von derartigen Kursen enthalten [10]. Außerdem haben zahlreiche nationale Gesellschaften – zu denen die in deutschsprachigen Ländern beheimateten gehören – wissenschaftliche Tagungen eingeführt, an denen interessierte Fachleute teilnehmen, die ihre Kenntnisse und Fähigkeiten erweitern wollen und Ideen über die Vorgehensweise in bestimmten Situationen und Gebieten austauschen möchten. Es überrascht daher nicht, dass ein dringender Bedarf an spezifischen Ausbildungsinstrumenten besteht, mit deren Hilfe der neueste Stand der Jugendmedizin und die aktuellsten Informationen in diesem Bereich vermittelt werden können. Dies ist der Grund, warum ein Lehrbuch wie das vorliegende Nachschlagewerk von so großem Wert ist und sein Erscheinen zu begrüßen ist. Die Antworten auf die offenen Fragen im Bereich der Jugendgesundheit beschränken sich allerdings nicht nur auf das System der Gesundheitsversorgung. Die praktizierenden Fachleute können die Effektivität ihrer Interventionen verbessern, indem sie mit Fachleuten aus anderen Bereichen zusammenarbeiten, beispielsweise mit Sozialarbeitern, Lehrern sowie Erziehern, und indem sie Politiker und Entscheidungsträger dafür sensibilisieren, wie sich deren gesetzgeberische und umweltbezogene Entscheidungen auf die Gesundheit von Jugendlichen auswirken. Den Verfassern ist daher zu danken, dass sie sich mit ihrer Arbeit nicht nur an die Gesundheitsexperten richten, sondern auch an die zahlreichen Fachleute, die sich in der täglichen Versorgung von jungen Menschen engagieren. Prof. Dr. Pierre-André Michaud Multidisziplinäre Abteilung für die Gesundheit von Jugendlichen, Universitätsspital Lausanne, Schweiz
Literatur [1] Bennett D, Tonkin RS (2003) International developments in adolescent health care: A story of advocacy and achievement. J Adolesc Health 33: 240–251 [2] Report on the state of young people’s health in the European Union. 2000 (Zu finden unter: http://europa.eu.int/ comm/health/ph/key_doc/ke01_en.pdf ) [3] McIntyre P (2001) Adolescent friendly health services (Berichtsentwurf). Weltgesundheitsorganisation, Genf, S. 43 [4] Millstein S, Petersen A, Nightingale E (1993) Promoting the Health of Adolescents. New Directions for the TwentyFirst Century. Oxford University Press, Oxford [5] World Health Organization. Steady, Ready, Go. Genf, 2004 [6] Michaud PA (2005) Beyond the insiders’ circle: disseminating the results of adolescent health surveys. Acta Paediatrica (In Druck) [7] Elster AB, Kuznets N (1994) AMA Guidelines for Adolescent Preventive Services (GAPS). Recommendations and Rationale. BaltimoreWilliams & Wilkins [8] World Health Organization. Programming for adolescent health and development. Weltgesundheitsorganisation, Genf, 1999 [9] Speller V, Learmouth A, Harrison D (1997) The search for evidence of effective health promotion. BMJ; 315: 361–363 [10] Michaud PA, Stronski S, Fonseca H, Macfarlane A (2004) Development and pilot – testing of a training curriculum in adolescent medicine. J Adolesc Health; 35: 51–57
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Vorwort Ein Wandel der Einsichten ist ohne Visionen nicht möglich ‒ Visionen, die Brücken bauen von der Gegenwart in die Zukunft. Sie gehen über die eher eindimensionale Definition von Gesundheit hinaus und wollen unser aller Erfahrung bündeln zum Wohle der Gesundheitsbelange der Jugendlichen. In der Arbeit mit Jugendlichen stehen die eigenen Lebensentwürfe und -vorstellungen immer wieder auf dem Prüfstand. Sowohl gewohnte Entwicklungen in der Familie als auch innerhalb unserer Gesellschaft werden hinterfragt. Auf diese Weise wird ein ständiger Erneuerungsprozess im Hinblick auf die Suche nach der besten Lösung in Gang gehalten. Dieses kritische Hinterfragen trifft im Besonderen auch den Bereich Gesundheit. In der Arbeit als Ärzte, Kinder- und Jugendtherapeuten, Lehrer und Betreuer zwingt der Umgang mit Jugendlichen, hinter die Kulissen und dabei gleichzeitig über den Tellerrand hinaus zu schauen. Erweiterte Kenntnisse und Kompetenzen sind erforderlich, um den psychosozialen Kontext, in dem die präsentierten Symptome stehen, zu erkennen. Jeder Fachbereich leistet dazu seinen Beitrag, der im Zusammenspiel Teil des Ganzen wird. Vordergründig scheint es sich bei den Jugendlichen um eine sehr gesunde Bevölkerungsgruppe zu handeln. Bei genauerem Hinsehen lassen sich allerdings Defizite im Gesundheitsstatus feststellen. Aufgrund tiefreichender Veränderungen in der Identitätserfahrung und ihres hohen Konfliktpotentials muss die Jugendzeit zudem als besonders vulnerable Phase betrachtet werden. Unsere Aufgabe ist es, den Jugendlichen zu helfen, die Phase der Destabilisierung und Veränderung zu überwinden und zu einem neuen positiven Körper- und Selbstbild zu finden, und sich nicht nur auf den rein somatischen Bereich zu beschränken. Dies erfordert allerdings ein medizinisches Umdenken, das die Lebenswelt der Jugendlichen bewusst wahrnimmt und mit einbezieht. Im Jugendalter wird deutlich, dass Gesundheit nicht nur körperliches, sondern auch seelisches und soziales Wohlbefinden meint. Gesundheit steht für ein positives Konzept, das in gleicher Weise die Bedeutung sozialer und psychischer Ressourcen betont wie die körperlichen Fähigkeiten. In diesem Alter gibt es ‒ vielleicht letztmalig ‒ die Chance, Gesundheitsbewusstsein zu fördern in Richtung auf ein individuelles positives Gesundheitskonzept. Die Gesundheitsförderung zielt auf einen Prozess, den Jugendlichen ein höheres Maß an Selbstbestimmung über ihre Gesundheit zu ermöglichen und sie damit zur Stärkung ihrer Gesundheit zu befähigen. Dies geht weit über einen rein medizinischen Ansatz hinaus und bedarf des Zusammenspiels verschiedener mit Jugendlichen arbeitender Disziplinen. Dieses Handbuch richtet sich daher an alle, die professionell für und mit Jugendlichen tätig sind. So multidisziplinär, wie das jugendmedizinische Betätigungsfeld sich darstellt, so multidisziplinär ist auch das Handbuch konzipiert. Es soll die Lebenswelt der Jugendlichen erfassen und beschreiben sowie auf die vielfältigen Fragen und Problempunkte von Jugendlichen eingehen. Darüber hinaus will es diese Arbeit ganz im praktischen Sinne als Nachschlagewerk mit zahlreichen Übersichten und Tabellen unterstützen. Die Herausgeber wollen dabei die vielen Facetten des »Jugendlichseins« sowohl vom Themenspektrum (Entwicklung, der Jugendliche in der Gesellschaft, der Jugendliche in der Praxis, spezielle Jugendmedizin, jugendspezifische Probleme, problemorientierte Jugendmedizin, Netzwerk, Beratung, Unterstützung, internationale Jugendmedizin) als auch vom Spektrum der vertretenen Fachdisziplinen (Pädagogen, Soziologen, Ärzte, Kinder- und Jugendpsychotherapeuten etc.) abbilden. Damit soll die Notwendigkeit der Netzwerkbildung bei der Betreuung von Jugendlichen deutlich gemacht und unterstützt werden. Jeder, der in der Betreuung von Jugendlichen in unterschiedlicher Weise tätig ist, wird Anregungen für seine tägliche Arbeit in diesem Buch finden und gleichzeitig in Problemfelder und Betreuungsstrukturen anderer Disziplinen Einblick erhalten. So soll dieses Lehrbuch nicht nur ein Handbuch sein für den täglichen Gebrauch, sondern auch die verschiedenen Disziplinen in ihrem Bemühen um die Versorgung und Betreuung von Jugendlichen zusammenführen und zu einer Gemeinschaft werden lassen. Für die Herausgeber war es zusätzlich bedeutsam, neben der Vielfalt der Facetten in der Betreuung von Jugendlichen auch die Leistungsfähigkeit der jugendmedizinischen Versorgung, das Wissen und die Erfahrung zu dokumentieren, um eine Grundlage zu bieten, Klinikerfahrung und Praxiswissen zu vereinen ‒ zwei Seiten der gleichen Medaille. Nur wenn es gelingt, zu einer echten Kooperation in Aus-, Weiter- und Fortbildung zu kommen, wird eine suffiziente jugendmedizinische Versorgungsstruktur geschaffen werden können. Dabei braucht es unbedingt das Wissen und die Erfahrung aller, in diesem Buch vertretenen Disziplinen. An dieser Stelle ist uns wichtig, Dank zu sagen. Dank in erster Linie allen Jugendlichen, die uns auf unserem bisherigen jugendmedizinischen Weg begleitet haben. Dank, dass sie unseren Rat gesucht haben, sich uns öffneten, uns vertrauten und uns Einblicke gaben in ihre Gedanken, uns mit ihren Meinungen konfrontierten, uns provozierten und uns halfen, zu einer hinterfragten kritischen Lösung zu kommen.
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Vorwort
Wir danken allen Autorinnen und Autoren, die bereit waren, neben ihrer täglichen Arbeit ihre Erfahrungen und ihr Wissen niederzuschreiben, um Andere daran in z. T. sehr persönlichen Artikeln teilhaben zu lassen. Sie alle haben geholfen, die unterschiedlichen Facetten in der Betreuung von Jugendlichen deutlich zu machen und mit umsetzbarem Wissen zu füllen. Wir hoffen, damit das »Anderssein von Jugendlichen« deutlicher und verständlicher gemacht zu haben. Danken möchten wir auch dem Springer-Verlag, Frau Kröning, Frau Zech und Frau Scheddin, die uns sehr geholfen haben, dieses Buch zu einem guten Abschluss zu bringen. Ein weiterer Dank gilt unserer Lektorin, Frau Bettina Arndt, die mit sehr viel Gespür und Engagement uns unterstützt und beraten hat. Der Verlagsleitung danken wir, dass sie sich gegenüber unserem nimmer müden Anmahnen der Interdisziplinarität verständnisvoll zeigte. »Die stärkste Musik ist die, die man macht, weil man sie mit anderen teilen will.« Herbie Hancock Bernhard Stier, Nikolaus Weissenrieder Butzbach ‒ München, im Mai 2005
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Inhaltsverzeichnis 4.5 4.5.1 4.5.2 4.6
Entwicklung von Jugendlichen Sind Jugendliche anders? . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1 1.1 1.1.1 1.1.2 1.1.3 1.1.4 1.1.5 1.1.6 1.2 1.2.1 1.3 1.3.1 1.4
1.4.1 1.4.2 1.4.3 1.5 1.6 1.7
Körperliche Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . Hormonale Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gonadale Hormonachse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wachstumshormonachse . . . . . . . . . . . . . . . . . . Insulin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Leptin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Melatonin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pheromone . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Körperliche Entwicklung bei Jungen . . . . . . . . . . . Jungentypische Klagen und Fragen – Beispiele . . . . Körperliche Entwicklung bei Mädchen . . . . . . . . . . Mädchentypische Klagen und Fragen . . . . . . . . . . Pubertätsbedingte Veränderungen in Körpergewebszusammensetzung und Körperfunktion . . . . . . . . . Zahlen und Fakten (nach Joffe et al. 2003) . . . . . . . . Allgemein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mädchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Markante Unterschiede beider Geschlechter . . . . . . Säkulare Akzeleration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Berechnung der Zielgröße . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Internetadressen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3 5
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6 6 6 6 8 8 8 8 8 9 10 12
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13 13 13 13 14 14 14 14 15 15
2
Psychosoziale Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . 16
2.1 2.2 2.3 2.4 2.5
Entwicklungsaufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Phasen der Adoleszenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hirnorganische Veränderungen . . . . . . . . . . . . . . Normabweichungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Problempunkte und ihre Beziehung zum pubertären Entwicklungsstadium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5
4 4.1 4.2 4.3 4.4
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16 17 18 19
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Identität und Körperbild: Bedeutung und Einfluss der Kategorie Geschlecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Gesundheit und Geschlecht . . . . . . . Identität im gesellschaftlichen System der Zweigeschlechtlichkeit. . . . . . . . Der Körper als kulturelles Zeichen . . . Die Macht der Ideale . . . . . . . . . . . Ausblick in die Praxis . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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21 22 22 25 25
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Sexualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sexualität heute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jugendsexualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geschlechtsspezifische Identität – Mädchensexualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geschlechtspezifische Identität – Jungensexualität .
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4.6.1 4.6.2 4.6.3 4.6.4 4.7
Sexuelle Entwicklung und Sexualverhalten Sexuelle Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . Altersstufen der Entwicklung . . . . . . . . . Einfluss der Familie, Schule und Peergroup auf das Sexualverhalten . . . . . . . . . . . . Einfluss der Familie . . . . . . . . . . . . . . . Einfluss der Schule . . . . . . . . . . . . . . . . Rolle der Medien . . . . . . . . . . . . . . . . . Einfluss der Peergroup . . . . . . . . . . . . . Entwicklungsaufgaben im Jugendalter . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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29 29 29
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30 30 30 30 31 31 31
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Der Jugendliche in der Gesellschaft 5
Jugendliche in der Gesellschaft – Jugend und Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Eine Generation »selbstbewusster Macher« und »pragmatischer Idealisten«: Bestätigung für eine aktivierende Jugendpolitik . . . . . . . . . . Mädchen und junge Frauen haben die Nase vorn . Familie und Karriere: Die Synthese von alten und neuen Werten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aktivierung und Integration bleiben wichtige politische Ziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stärkung von Kindern und Jugendlichen – Stärkung der Erziehungsverantwortung der Eltern Verbesserung von Bildung und Betreuung – Investition in die Zukunft . . . . . . . . . . . . . . . . Jugendliche wollen sich gesellschaftlich breit engagieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Mehrzahl der Jugendlichen steht in der Mitte unserer Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Politikferne begegnen durch mehr Beteiligungsmöglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . Leitlinien der Kinder- und Jugendpolitik . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6 6.1 6.2 6.3 6.4 6.5
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35 35
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35
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35
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36
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36
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36
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37 37 37
Veränderungen der Lebensbedingungen . . . . Die »Doppelrolle« der Familie . . . . . . . . . . . . . . . Der wachsende Stellenwert der Schule . . . . . . . . . Freizeit ist Konsumzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Partnerschaften als Schritt in das Erwachsenenalter Die Jugendphase als Phase der Veränderungen . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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38 38 38 39 39 39 40
7
Problemverhalten, Entwicklungsprobleme und Gesundheitsversorgung . . . . . . . . . . . . . . . 41
7.1 7.2 7.2.1 7.2.2
Aufbau von Bewältigungsstrategien . . Bedingungen für Problembelastungen . Deviantes und kriminelles Verhalten . . Drogenkonsum . . . . . . . . . . . . . . . . Tabak und Alkohol . . . . . . . . . . . . . . Illegale Drogen . . . . . . . . . . . . . . . .
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41 41 41 42 42 43
XII
Inhaltsverzeichnis
7.3
Prävention und Gesundheitsförderung im Jugendalter . . . . . . . . . . . . . . . . Strukturen der Gesundheitsversorgung Ärzte in der Schule . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7.3.1 7.3.2
8 8.1 8.1.1 8.1.2 8.1.3
8.1.4 8.1.5 8.1.6 8.2 8.2.1 8.2.2
8.3 8.3.1 8.3.2 8.3.3 8.3.4 8.3.5 8.3.6 8.3.7 8.3.8 8.3.9 8.3.10 8.4 8.5 8.6 8.7 8.8 8.9
10.2.1 . . . .
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43 43 44 45
Medien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Medien und Mediennutzung . . . . . . . . . . . . . . . Was wollen Jugendliche vor allem sehen? . . . . . . . Fernsehkonsum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Computernutzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sozioökonomische Unterschiede in Fernsehkonsum und Computernutzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Internetnutzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Medienorte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Handy . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Medien und Risikoverhalten . . . . . . . . . . . . . . . . Grundsätzliches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Auswirkungen von Mediengebrauch auf den Organismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Haltungsschäden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Motorische Dystonie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schädigung durch Lärm . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Rolle der Medien bei Störungen . . . . . . . . . . Nervosität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wahrnehmungsstörungen, Verhaltensstörungen, AD(H)S . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kommunikationsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . Aggressionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gewalt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mediensucht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychische und physische Auswirkungen . . . . . . . Übergewicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sexualität, Geschlechterrolle, Schönheitsideal . . . . Zigaretten und Alkohol . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werbung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Medien als Chance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was ist zu tun? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tipps und Hilfen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beachtenswertes zum Internet . . . . . . . . . . . . . . Lehrer und Medien 2003 – Nutzung, Einstellung und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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48 48 49 49 50 50
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51 51 51 52 52 52
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52 52 53 53 53 54 54 54 54 54 55 55 56 56
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56 56 57
9
Jugend und Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58
9.1 9.2 9.3
Abschluss des Behandlungsvertrages . . . . . . . . . . . Einwilligungsfähigkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Besondere Behandlungssituationen . . . . . . . . . . . .
58 58 59
10
Ausländische Jugendliche . . . . . . . . . . . Probleme der Integration . . . . . . . . . . . . . Problemorientierte Geschichte der Migration nach Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die gegenwärtige Integrationsdebatte . . . . . Nation-Building und Integration . . . . . . . . . Widerstände gegen Integration . . . . . . . . . Dialog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychosoziale Probleme . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . .
60 60
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60 61 61 61 62 62 62 63
10.1 10.1.1 10.1.2 10.1.3 10.1.4 10.1.5 10.1.6 10.2
. . . . . . . .
. . . . . . . .
. . . . . . . .
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10.2.2 10.2.3
10.2.4
10.3 10.3.1
10.3.2
10.4
10.4.1 10.4.2 10.4.3 10.4.4 10.4.5 10.4.6 10.4.7 10.4.8
11 11.1 11.1.1
11.1.2 11.2 11.2.1 11.2.2 11.2.3
Psychosoziale Beurteilung . . . . . . . . . . . . . . . . Gesundheitsrelevante Faktoren . . . . . . . . . . . . Risikofaktoren für psychosozialbedingte Gesundheitsprobleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schutzfaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prävention vor möglichen Problemen . . . . . . . . Migrationsanamnese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Darstellung der Probleme anhand von Fällen . . . . Beschwerdebilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychosomatische Beschwerden . . . . . . . . . . . . Psychische Beschwerdebilder . . . . . . . . . . . . . . Suizid . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sexualverhalten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Drogenkonsum (Suchtverhalten) von Migranten-Jugendlichen . . . . . . . . . . . . . . Prävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verbesserung der Arzt-Patient-Beziehung durch interkulturelle Kompetenz . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Medizinische Probleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorgehensweise bei der Erstvorstellung . . . . . . . Anamnese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Häufig vorkommende medizinische Infektionen und Probleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Krankheitsspektrum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Importierte Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . Symptome ausgewählter Erkrankungen bei Migranten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wurminfektionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Genetische Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sexualität am Beispiel muslimischer Jugendlicher . Erfahrungen einer Berliner Praxis für Frauenheilkunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprachprobleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gründe für den Arztbesuch . . . . . . . . . . . . . . . Begleitpersonen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unwissenheit und Wunsch nach Aufklärung . . . . Wie, wann und von wem wurde aufgeklärt? . . . . Verhütung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kohabitarche (»das erste Mal«) . . . . . . . . . . . . . Sexualität und Ehre in der muslimischen Familie . Jungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mädchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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63 63
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64 64 64 64 65 66 66 67 67 67
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68 68
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71 71 72 76 76
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76 76 77 77 77 77 78 78 79 79 80 80
Behinderte Jugendliche . . . . . . . . . . . . . . . . . Probleme der Integration . . . . . . . . . . . . . . . . . Ursachen für Probleme bei der Integration . . . . . . Im Elternhaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . In der Schule. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . In der Freizeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bei der Ausbildung und am Arbeitsplatz . . . . . . . . Durch die Persönlichkeit des Jugendlichen . . . . . . Wodurch Integration erleichtert wird . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychosoziale Probleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . Behinderte Jugendliche in der Pubertät . . . . . . . . Die Pubertät bei körperbehinderten Jugendlichen: Körper – Gefühl – Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . Ablösung vom Elternhaus . . . . . . . . . . . . . . . . .
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81 81 81 82 82 82 83 83 84 84 84 84
. . . .
84 85
. . . . . . . . . .
. . . . .
XIII Inhaltsverzeichnis
11.2.4 11.3 11.3.1 11.3.2
11.3.3
11.4 11.4.1 11.4.2 11.4.3 11.4.4 11.4.5
11.5 11.5.1
11.5.2
11.5.3
Sexualität – ein Grundbedürfnis . . . . . . . . . . . . . . . 86 Medizinische Probleme am Beispiel Körperbehinderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 Definition der Körperbehinderung. . . . . . . . . . . . . . 86 Jugendalter – eine sensible Phase . . . . . . . . . . . . . . 87 Entwicklungsspezifische Komplikationen . . . . . . . . . 88 Schule und berufliche Eingliederung . . . . . . . . . . . . 89 Bildung eines Gesundheitsbewusstseins . . . . . . . . . . 91 Ärztliche Versorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 Versorgungsangebot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 Ambulante Versorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 Inhalte der ärztlichen Versorgung . . . . . . . . . . . . . . 92 Stationäre Versorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 Der behinderte Jugendliche – Medizinische Probleme am Beispiel des Down-Syndroms . . . . . . . . . . . . . . 95 Voraussetzungen für eine medizinische Betreuung . . . 96 Allgemeine medizinische Grundregeln . . . . . . . . . . . 96 Vorsorgeuntersuchungen bei Jugendlichen mit Down-Syndrom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 Kritische Übergangsphase vom Schulalter ins Berufsleben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 Sexualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 Sport und körperliche Aktivität . . . . . . . . . . . . . . . . 100 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 Nützliche Adressen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 Sexualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 Die sexuelle Entwicklung geistig behinderter Kinder und Jugendlicher. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Beziehung zu den Eltern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Körperlicher Kontakt und Kognition . . . . . . . . . . . . . 101 Sexualerziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Rahmenbedingungen für Sexualität . . . . . . . . . . . . 101 Die sexuelle Entwicklung körperlich behinderter Kinder und Jugendlicher. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 Psychomotorische Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . 102 Körperkontakt und Körperideal . . . . . . . . . . . . . . . 102 Mangelndes Wissen über sexuelle Bedürfnisse . . . . . . 102 Die sexuelle Entwicklung chronisch kranker Kinder und Jugendlicher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103
12.3.1 12.4 12.5 12.5.1 12.5.2 12.6 12.7 12.8 12.9 12.9.1 12.9.2 12.10 12.11 12.12 12.12.1 12.12.2 12.12.3 12.12.4 12.12.5
12.13
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107 107 107 107 108 108 108 108 109
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109 109 110 110 110 111 111 111 112 112 112 113 113 113 113 113 114 114 114 114 115 115 115
Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 Gesprächsführung mit Jugendlichen als originäre Aufgabe des Kinder- und Jugendarztes . . . . . . . . . . Grundlagen der Gesprächsführung mit Jugendlichen . Sender und Empfänger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Empathie, Akzeptanz und Authentizität als Bedingung für eine Gesprächsführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Selbstöffnung und Selbstauseinandersetzung als Voraussetzung für eine Gesprächsführung . . . . . . Aktives Zuhören als emphatisches Werkzeug für eine Gesprächsführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zielgruppe: Jugendliche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kurzanleitung für den Jugendarzt zur Selbstreflexion Gezielte Fragen zur Selbstreflexion . . . . . . . . . . . . . Selbstpräsentation und Selbstreflexion . . . . . . . . . . Kurzanleitung für die Gesprächsführung mit Jugendlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wirksame Bedingungen für die patientenzentrierte Gesprächsführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gesprächsbeginn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schwierige Gesprächssituation . . . . . . . . . . . . . . . . Gesprächsabschluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rahmenbedingungen für die Gesprächsführung . . . . Beziehungsdreieck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
13.2
13.3 13.4
13.5
13.6
12.1 12.1.1 12.1.2 12.1.3 12.1.4 12.1.5 12.2 12.3
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
13
Grundlagen jugendmedizinischer Tätigkeit in der Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 Organisation, Jugendsprechstunde, Tipps und Hilfen . . . . . . . . . . . . . . . . Zugangsbarrieren für den Jugendlichen . Erreichbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . Finanzierbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . Terminvergabe . . . . . . . . . . . . . . . . . Empfang/Wartebereich . . . . . . . . . . . . Der Arzt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fachliche Voraussetzungen . . . . . . . . . Anmeldung/Terminvergabe . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
13.1
Der Jugendliche in der Praxis 12
Tipps für die Arzthelferin bei der telefonischen Terminvergabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jugendsprechstunde . . . . . . . . . . . . . . . . . Praxisausstattung/Praxisräume . . . . . . . . . . . Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Untersuchungsraum . . . . . . . . . . . . . . . Der akut kranke Jugendliche . . . . . . . . . . . . Der chronisch kranke Jugendliche . . . . . . . . . Der jugendliche Patient kommt mit . . . . . . . . oder ohne Erziehungsberechtigten . . . . . . . . Die Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundsätzliches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gespräch am Ende der Untersuchung . . . . . . Der Faktor »Zeit« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beiwerk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tipps zur Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . Akzeptanz der Person . . . . . . . . . . . . . . . . . Rolle des Behandlers . . . . . . . . . . . . . . . . . Kritische Punkte der Kommunikation . . . . . . . Hilfreiche Interviewtechniken . . . . . . . . . . . . Das Gespräch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gesprächablauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Problempunkte in der Betreuung . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
14 14.1 14.2 14.3 14.4 14.5 14.6
Psychosoziale Einfühlung und Begleitung . . . . Der Jugendliche: Veränderung auf allen Ebenen . . . Normalität und Krankheit . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Symptom und die Vielfalt seiner Bedeutungen . Die Rolle der Gleichaltrigen . . . . . . . . . . . . . . . . Umgang mit der Ablösungsdynamik in der Familie . Schwierigkeiten im Zugang zum Jugendlichen. . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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116 116 116 116 116 116 117 117 117 117 117 117 117 118 119 119 119 119 120 120 120 121 122 122 123 124
XIV
Inhaltsverzeichnis
15
Der »kranke« Jugendliche . . . . . . . . Fragestellungen in der Arztpraxis . . . . . Normal oder abnormal? . . . . . . . . . . . Akute Krankheit . . . . . . . . . . . . . . . . Chronische Krankheit . . . . . . . . . . . . . Psychische Probleme . . . . . . . . . . . . . Der Untersuchungsgang . . . . . . . . . . . Die erste Begegnung mit dem Patienten im Wartezimmer . . . . . . . . . . . . . . . . Die Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . Das Gespräch mit dem Jugendlichen . . . Das Gespräch mit dem Jugendlichen und seinen Eltern . . . . . . . . . . . . . . . Abschließende Bemerkungen . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
15.1 15.1.1 15.1.2 15.1.3 15.1.4 15.2 15.2.1 15.2.2 15.2.3 15.2.4 15.3
. . . . . . .
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125 125 125 125 125 126 127
19.1.5 . . . . . . . . . 129 . . . . . . . . . 130 . . . . . . . . . 131
16
Jugendgesundheitsuntersuchung J1 . . . . . . . . . . 132 Akzeptanz der J1 bei Jugendlichen Durchführung der J1 . . . . . . . . . Beispiel für eine J1 . . . . . . . . . . . Bisherige Ergebnisse der J1 . . . . . Steigerung der Inanspruchnahme . Medienthemen bei der J1 . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . .
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19.1 19.1.1 19.1.2 19.1.3 19.1.4
. . . . . . . . . 127 . . . . . . . . . 128 . . . . . . . . . 129
16.1.1 16.1.2 16.1.3 16.1.4 16.1.5 16.2
. . . . . . .
19
. . . . . . .
. . . . . . .
. . . . . . .
. . . . . . .
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. . . . . . .
132 132 133 137 137 137 138
19.2 19.3 19.4 19.5
17
Jugendarbeitsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139
17.1
Die Bedeutung von Jugendarbeitsschutzuntersuchungen . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Jugendarbeitsschutzgesetz . . . . . . . Fragebogen Vorsorgemaßnahmen . . . . . Die Jugendarbeitsschutzuntersuchung. . . Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Berufskrankheiten . . . . . . . . . . . . . . . . Lärmschwerhörigkeit . . . . . . . . . . . . . . Atopiker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hebe- und Tragearbeiten . . . . . . . . . . . Behinderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hilfreiche Adressen . . . . . . . . . . . . . . .
17.2 17.3 17.4 17.4.1 17.4.2 17.4.3 17.4.4 17.4.5
. . . . . . . . . . . .
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139 139 140 140 141 141 142 142 142 143 143 143
19.5.1 19.6 19.6.1 19.7
20 20.1 20.2 20.3
Spezielle Jugendmedizin 18 18.1 18.2 18.3 18.3.1 18.3.2 18.3.3
18.4 18.5 18.6 18.7
Asthma bronchiale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Empfehlungen zum therapeutischen Management . Compliance? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Empowerment und Selbständigkeit . . . . . . . . . . . Motivation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapieziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Patientenschulung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Settingbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalte der Schulung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Berufsfindung und Berufswahl . . . . . . . . . . . . . . Beziehungen und Partnerschaft . . . . . . . . . . . . . Sport . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jugendtypische Risikofaktoren . . . . . . . . . . . . . . Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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. . . . . . . . . . . . . . .
147 147 147 151 151 151 152 152 152 152 153 154 154 154 154
20.3.1 20.3.2 20.3.3 20.3.4 20.3.5 20.3.6 20.4 20.4.1 20.4.2 20.4.3 20.5 20.6 20.7
Diabetologie und Schilddrüse . . . . . . . . . . . . Typ 1-Diabetes mellitus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Epidemiologie und Ätiologie . . . . . . . . . . . . . . . Serologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Genetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnose und Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Früherkennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ersteinstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Insulinsubstitution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wahl der Insulintherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zielwerte und Überwachung der Blutglukose . . . . Probleme und Anpassung der Insulintherapie in der Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unregelmäßiges Glukoseprofil und schlechte Eigenkontrolle des Blutzuckerspiegels . . . . . . . . . Ernährung und Sport . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychosoziale Umstände . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pubertät . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sexualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Adipositas als Auslöser von Stoffwechselstörungen bei Jugendlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diabetes als Polyendokrinopathie . . . . . . . . . . . . Pubertätsstruma (Adoleszentenstruma, Struma juvenilis) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unterfunktion der Schilddrüse und Hashimoto-Thyreoiditis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Überfunktion der Schilddrüse (Basedow-Hyperthyreose) . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schlussbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aktuelle Leitlinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einrichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Wachstumsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . Welche Faktoren bestimmen die Körpergröße? . Normales Wachstum und Körpergröße bei Adoleszenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Methoden zur Evaluierung des Wachstums bei Adoleszenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Körperhöhe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wachstumsgeschwindigkeit . . . . . . . . . . . . . . Körpergewicht, Körperproportionen . . . . . . . . Pubertätsentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . Knochenalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Labordiagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Normvarianten des Wachstums . . . . . . . . . . . Konstitutionelle Entwicklungsverzögerung (KEV) Familiärer Kleinwuchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konstitutioneller Großwuchs . . . . . . . . . . . . . Adipositas, Adiposogigantismus . . . . . . . . . . . Adipositas, Kleinwuchs . . . . . . . . . . . . . . . . . Anorexie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Internetadressen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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155 155 155 156 156 156 156 156 157 157 158
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159 159 160 160 160
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163 163 164 164 164 164
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166 166 166 166 166 166 167 167 167 168 168 169 169 170 170 170
21
Kardiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171
21.1
Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene mit anhaltenden oder drohenden kardialen Problemen . . 171 Anhaltende Probleme durch angeborene Herzfehler . . 171
XV Inhaltsverzeichnis
21.2
21.3
21.4
21.5 21.6 21.7
22 22.1 22.2 22.3
22.4 22.5 22.5.1
22.6 22.7
ASD (7–10%), VSD (25–30%), Pulmonalstenose (3–9%), persistierender Ductus (7–8%) . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Aortenisthmusstenose (5–8%) . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Aortenstenose (3–8%), Fibromuskuläre Subaortenstenose (1%) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Korrigierte Fallot’sche Tetralogie (5–8%) . . . . . . . . . . 172 Fehlbildungen der Atrioventrikularklappen (3–9%) . . . 172 Transposition der großen Arterien – TGA (4–6%) . . . . 173 Anhaltende Probleme durch angeborene Herzfehler . . 173 Patienten mit »Fontan-Zirkulation« . . . . . . . . . . . . . 173 Kardiomyopathien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Ebstein-Anomalie (0,4–1%) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Angeboren korrigierte Transposition der großen Arterien (1%) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Anhaltende Probleme durch Herzfehler mit Sonderstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 Patienten mit nicht behebbarer Zyanose, EisenmengerSyndrom, pulmonale arterielle Hypertonie . . . . . . . . 174 Herztransplantierte Patienten . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 Anhaltende Probleme durch erworbene Herzfehler und andere Herzerkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . 174 Entzündliche Herzerkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . 174 Herzrhythmusstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Marfan-Syndrom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Ullrich-Turner-Syndrom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Spiralen, Schirmchen, Stents . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 Vorprogrammierte Spätschäden durch Adipositas, Inaktivität und arterielle Hypertonie . . . . . . . . . . . . 176 Aspekte hinsichtlich Schule, Sport, Beruf, Schwangerschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 Sport . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 Beruf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 Familienplanung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 Internetadressen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 Hilfreiche Informationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178
Epilepsie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klinik – spezielle Krankheitsbilder . . . . . . . . . . . . . Juvenile Absence-Epilepsie . . . . . . . . . . . . . . . . . Juvenile myoklonische Epilepsie (Impulsiv-Petit-Mal, Herpin-Janz-Syndrom) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufwach-Grand-mal-Epilepsie . . . . . . . . . . . . . . . Temporallappenepilepsie . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Endokrinologische Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . Interaktion von neurogenen und endokrinen Mechanismen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hormonabhängige Schwankungen der Anfallsfrequenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fertilitätsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sicherung der oralen Kontrazeption . . . . . . . . . . . Langzeitprognose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Soziale Beratung und Betreuung . . . . . . . . . . . . . . Schule und Beruf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sport . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Führerschein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . .
179 179 179 179 179
. . . . . .
180 180 180 180 181 181
Impfungen und Reisen . . . . . . Medien . . . . . . . . . . . . . . . . Drogen . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . Bücher, Broschüren und Videos . Nützliche Adressen . . . . . . . .
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182 183 183 183 184 184
23
Onkologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185
23.1 23.1.1 23.1.2 23.2 23.2.1 23.2.2 23.2.3
Epidemiologie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Häufigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ursachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klinik der bösartigen Erkrankungen . . . . . . . Leitsymptome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anamnese und Befunderhebung . . . . . . . . Standarddiagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . Labordiagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Spezifische Techniken . . . . . . . . . . . . . . . . Operative Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . Einzelne Krankheitsbilder . . . . . . . . . . . . . Leukämien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klinik der akuten Leukämien . . . . . . . . . . . Anamnese und körperliche Untersuchung . . Diagnostik der Leukämien . . . . . . . . . . . . . Tumoren des ZNS . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klinik der ZNS-Tumoren . . . . . . . . . . . . . . Diagnostik bei ZNS-Tumoren . . . . . . . . . . . Therapie der ZNS-Tumoren . . . . . . . . . . . . Spätfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Solide Tumoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Allgemeine Aspekte bei Tumorerkrankungen Prognose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Begleittherapien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Begleitende psychosoziale Maßnahmen . . . . Schmerztherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Spätfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sterbebegleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Internetadressen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
23.3 23.3.1
23.3.2
23.3.3 23.4 23.4.1 23.4.2 23.4.3 23.4.4 23.4.5 23.4.6
24 24.1 24.1.1 24.1.2
24.2 24.2.1
. 181
24.2.2
. . . . . . . .
25.1 25.2
181 181 181 182 182 182 182 182
. . . . . .
25
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185 185 185 185 185 185 185 185 186 187 187 187 187 188 188 188 188 188 188 188 189 189 189 189 189 189 190 190 190 190 190
Bewegungsapparat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Allgemeiner Untersuchungsgang . . . . . . . . . . . . . . Anamnese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Befunderhebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Untersuchung des Bewegungsapparates . . . . . . . . . Labordiagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bildgebende Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einzelne Krankheitsbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entzündliche Erkrankungen an Knochen und Gelenken Akute hämatogene Osteomyelitis (M 86.09) . . . . . . . Akute und chronische Arthritis . . . . . . . . . . . . . . . . Orthopädische Erkrankungen nach Regionen . . . . . . Wirbelsäule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hüfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Knieschmerzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Internetadresse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
192 192 192 192 192 193 193 193 193 193 194 195 195 196 196 197 197
Rehabilitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 Wo stehe ich? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 Eine Reha muss Spaß machen – und ernsthaft sein! . . 198
XVI
Inhaltsverzeichnis
25.3 25.4
Wo steht der Anspruch auf eine Rehabilitation? . . . . Welche übergeordneten Ziele verfolgt eine Rehabilitation? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was sind die Voraussetzungen für eine Rehabilitation? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was ist die Rehabilitationsprognose? . . . . . . . . . . . Wie lange dauert eine Rehabilitation? . . . . . . . . . . Was ist mit Schule?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gibt es Berufsberatung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wie werden Rehabilitationsdiagnosen beschrieben? . Vernetzung ist wichtig! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Infos – wo? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wie und wo muss der Antrag eingereicht werden? . . Leitlinien für Experten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rückblick und Kick für »Neue«! . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Internetadressen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
28.1.4 28.1.5 28.1.6 28.1.7 28.1.8 28.1.9 28.1.10 28.2 28.2.1 28.2.2 28.2.3 28.2.4 28.2.5 28.2.6 28.2.7 28.2.8 28.2.9 28.2.10 28.3
Krankheitsverlauf . . . . . . . . . . . . . . Komorbidität . . . . . . . . . . . . . . . . Ursachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Magersüchtigen . . . . . . . . . . . . Medizinische Komplikationen . . . . . Magersüchtige in der ärztlichen Praxis Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bulimia nervosa . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . Epidemiologische Daten . . . . . . . . . Krankheitsverlauf . . . . . . . . . . . . . . Komorbidität . . . . . . . . . . . . . . . . Ursachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bulimisch Kranke . . . . . . . . . . . . . . Medizinische Komplikationen . . . . . Bulimisch Kranke in der Praxis . . . . . Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapiekonzept des TCE . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Jugendspezifische medizinische Probleme
29
26
Störungen in der Pubertät . . . . . . . . . . . . . . . . . 205
29.1 29.2 29.3
26.1 26.1.1 26.1.2 26.2 26.2.1 26.2.2 26.2.3
Psychische Veränderungen . . . . . . . . . . . . . . Pubertas praecox . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pubertas tarda . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Körperliche Veränderungen . . . . . . . . . . . . . . Abweichungen vom Pubertätsverlauf . . . . . . . Die verfrühte Pubertät . . . . . . . . . . . . . . . . . Die verspätete Pubertät . . . . . . . . . . . . . . . . Mädchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konstitutionelle Entwicklungsverzögerung (KEV) Jungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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. . . . . . . . . . .
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205 205 205 206 206 206 207 207 208 208 210
Adipositas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Definitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Adipositas als Krankheit . . . . . . . . . . . . Einschränkungen der Teilhabe am sozialen Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ätiologie und Genese . . . . . . . . . . . . . . Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Internetadressen . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kriterien der International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) .
Haut und Haare . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Akne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Atopisches Ekzem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Differenzialdiagnose Handekzem . . . . . . . . . . Atopisches Ekzem und Berufswahl . . . . . . . . . Alopecia areata . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dekorativer Körperschmuck . . . . . . . . . . . . . . Piercing . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tätowierungen, Tatoos und Permanent-Make-up Herpes simplex . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Herpes simplex recidivans . . . . . . . . . . . . . . . Hyperhidrosis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Keratosis pilaris . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nävi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Striae distensae . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Warzen, Verrucae planes iuveniles . . . . . . . . . . Warzen, Verrucae vulgares . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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211 211 212 213 213 214 214 215 215 215 216 216 216 216 217 217 217 218
Essstörungen . . . . . . Anorexia nervosa . . . . . Einleitung . . . . . . . . . Definition . . . . . . . . . Epidemiologische Daten
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219 219 219 219 220
25.5 25.6 25.7 25.8 25.9 25.10 25.11 25.12 25.13 25.14 25.15
27 27.1 27.2 27.2.1 27.2.2 27.3 27.4 27.4.1 27.4.2 27.5 27.5.1 27.6 27.7 27.8 27.9 27.10 27.11
28 28.1 28.1.1 28.1.2 28.1.3
. . . . .
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. 198 . 199 . . . . . . . . . . . . .
199 199 199 200 200 200 200 201 201 201 201 201 201
29.4 29.5 29.6 29.7 29.8
30 30.1 30.1.1 30.1.2
30.2
30.2.1
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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220 221 221 221 223 224 224 225 225 225 226 226 226 226 226 227 227 227 227 228
. . . . . . . . 230 . . . . . . . . 230 . . . . . . . . 230 . . . . . . . . .
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232 232 233 235 237 241 242 242 242
. . . . . . . . 242
Somatisierungsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 Somatisierungsstörungen und Pubertät . . . . . . . . . . 243 Somatisierungsstörungen und Lebenszyklus (Pubertäts- und Adoleszenzkrise) . . . . . . . . . . . . . . 243 Krankheit als Folge blockierter Autonomieentwicklungen – blockierte Autonomieentwicklung als Folge ungelöster familiärer Beziehungsprobleme . . 243 Von der individuum- und organorientierten zur biopsychosozialen, beziehungs- und familienorientierten Medizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 Vom Individuum zum Familiensystem . . . . . . . . . . . 244 Vom psychophysiologischen zum interpersonellen Konzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 Vom verhaltenstherapeutischen zum systemischen Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 Von der Schmerzanamnese zur Schmerzgeschichte . . 245 Wege zur Perspektivenerweiterung in der psychosomatischen Medizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 Erweiterung der Sichtweise I: Zwischen Bedingungsund Bedeutungskontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 Das Symptom als »Funktion« und Ausdruck komplexer Wechselwirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . 246 Erweiterung der Sichtweise II: Unterschiede, die einen Unterschied machen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246
XVII Inhaltsverzeichnis
30.3 30.3.1 30.3.2
30.3.3
30.3.4 30.3.5 30.4 30.4.1 30.5 30.6 30.6.1 30.7 30.7.1 30.7.2 30.8 30.8.1 30.8.2 30.8.3 30.8.4 30.8.5 30.9
31 31.1 31.1.1 31.1.2
31.1.3 31.1.4 31.1.5 31.1.6 31.1.7 31.1.8 31.2 31.2.1 31.2.2 31.3 31.3.1 31.3.2 31.3.3 31.4 31.4.1 31.4.2
Integration medizinischer, psychotherapeutischer und familientherapeutischer Erfahrungen . . . . . . . . . . . . Stellenwert der Familiendiagnostik und Familientherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Auf dem Weg zu einer Familienmedizin . . . . . . . . . . Definition der Familienmedizin . . . . . . . . . . . . . . . . Ziele einer systemischen Familienmedizin . . . . . . . . . Kooperationsmodelle zwischen Pädiatrie und Psychotherapie – von der Rollenkompetenz zur Fach- und Teamkompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . Ein psychosomatisches Modell – Integration unterschiedlicher Krankheitsmodelle . . . . . . . . . . . . Somatisierungsprozess als Wechselwirkung zwischen Patient, Familie und Expertensystem . . . . . . . . . . . . Stellenwert der Familiendiagnostik und Familientherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hypothesen über familienbedingte Einflüsse . . . . . . . Familiäre Dynamik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klinik der Somatisierungsstörungen im Jugendalter . . Neuere epidemiologische Daten . . . . . . . . . . . . . . . Leitlinien für Diagnostik und Therapie . . . . . . . . . . . Dialog über subjektive Krankheitskonzepte als idealer Einstieg in ein familienorientiertes Gespräch . . Von der medizinischen zur familiendynamischen Struktur des Erstgesprächs . . . . . . . . . . . . . . . . . . Spezifische Themen bei Somatisierungsstörungen in der Pubertät . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Autonomie des Jugendlichen und Kompetenz der Eltern als zentrale Entwicklungs- und Heilfaktoren Arzt/Therapeut als neutraler Moderator in Ablösungskrisen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fähigkeit der Eltern, dem Jugendlichen Autonomie und Selbstverantwortung zu ermöglichen . . . . . . . . Kindheit hat Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bedeutung des Vaters als »bedeutsamen Dritten« . . . . Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Jugendgynäkologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Brust . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Untersuchung der Brust . . . . . . . . . . . . . . . . . Asymmetrien der Brust . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thelarche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Asymmetrie, Mammahypoplasie, Mammahyperplasie Entwicklungsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fehlbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mastitis non puerperalis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mastodynie, Mastopathie . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mammatumoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mammapiercing . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Behaarung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verstärkte Behaarung – Hirsutismus . . . . . . . . . . . . Diagnostik und Therapie von Erkrankungen mit verstärkter Behaarung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Genitale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . FAQ’s (Häufige Fragen von Jugendlichen) . . . . . . . . Labien und Klitoris . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Veränderungen an der Vulva . . . . . . . . . . . . . . . . Der Zyklus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Oligomenorrhoe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Polymenorrhoe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . .
246 247 247 247 247
247
31.4.3 31.4.4 31.4.5 31.4.6 31.4.7 31.4.8 31.5 31.5.1 31.5.2 31.5.3
Metrorrhagien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Juvenile Blutungsstörung, Follikelpersistenz . . . Hypermenorrhoe und Hypomenorrhoe . . . . . . Dysmenorrhoe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prämenstruelles Syndrom . . . . . . . . . . . . . . . Amenorrhoe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unterbauchschmerzen . . . . . . . . . . . . . . . . . Zyklusabhängige Schmerzen . . . . . . . . . . . . . Zyklusunabhängige Schmerzen . . . . . . . . . . . Diagnostik und Therapie in der Jugendarztpraxis Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . .
263 263 263 263 264 264 266 266 266 269 269 269
32
Jungenmedizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Männlich-Sein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Körper und Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sexualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Internetadressen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Urologie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Veränderungen am Penis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Veränderungen am Skrotum und Hoden/Nebenhoden Blase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Niere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sexualfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Internetadressen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
270 270 270 271 272 273 274 275 275 276 279 279 280 280 280
Jugend und Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gewalt und Misshandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . Symptome, Hinweise, Folgen . . . . . . . . . . . . . . . Körperliche Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seelische Gewalt und Vernachlässigung . . . . . . . . Sexuelle Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausmaß und Umstände . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anamnese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Befunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prophylaxen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Intervention, Schutz und Therapie . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mobbing – Gruppenaggression im Klassenzimmer und seine Wirkung auf Kinder und Jugendliche . . . Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Dynamik von Mobbing . . . . . . . . . . . . . . . . Der Antrieb für Mobbing – aggressives Dominanzstreben der Täter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Manipulation der Gruppennorm – der Schlüssel zum Erfolg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Wirkung von Mobbing auf die Opfer . . . . . . . Die Konsequenzen von Mobbing . . . . . . . . . . . . Konsequenzen für Kinder- und Jugendärzte, Lehrer und Erzieher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gewaltprävention – Gewalt gegen und durch Jugendliche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ist Gewaltprävention im Jugendalter noch möglich? Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wann und wie sind wir in der Jugendmedizin mit Gewalt konfrontiert? . . . . . . . . . . . . . . . . . .
281 281 281 281 281 282 282 282 282 283 283 283 284
248 248 249 249 250 251 251 252 252 253
32.1 32.1.1 32.1.2 32.1.3
32.2 32.2.1 32.2.2 32.2.3 32.2.4 32.2.5
253
. . . . . . . . . . . .
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253
33 254 254 254 255 256 256
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257 257 257 257 257 258 258 258 258 258 259 259 259 259
. . . . . . . .
259 260 260 261 261 262 262 262
33.1 33.1.1 33.1.2 33.1.3 33.1.4
33.1.5 33.2 33.2.1 33.2.2
33.2.3 33.2.4 33.2.5
33.3 33.3.1 33.3.2 33.3.3
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. . 284 . . 285 . . 285 . . 285 . . 286 . . 286 . . 287 . . 287 . . 289 . . 290 . . 290 . . 290 . . 290
XVIII
Inhaltsverzeichnis
33.3.4
Kontext von Gewalt im Jugendalter . . . . . . . . . . Gewalt wird vor allem in der Familie gelernt . . . . Was bringen wir mit, um mit Gewalt umzugehen? Was kann uns helfen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wer kann uns helfen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Internetadressen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
33.3.5 33.3.6 33.3.7
34 34.1 34.1.1 34.1.2 34.1.3 34.1.4 34.1.5 34.1.6 34.1.7 34.1.8 34.1.9 34.1.10 34.2 34.2.1 34.2.2 34.2.3 34.2.4 34.2.5 34.3 34.3.1 34.3.2 34.3.3 34.3.4 34.3.5 34.3.6 34.3.7 34.3.8 34.3.9 34.3.10 34.3.11 34.3.12
34.4 34.4.1 34.4.2 34.4.3 34.4.4 34.4.5 34.4.6 34.4.7 34.4.8 34.4.9 34.4.10
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. . . . . . .
. . . . . . .
290 290 292 292 293 294 294
Verhaltensauffällige Jugendliche . . . . . . . . . . . . Jugendliche mit ADHS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Häufigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erscheinungsbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Definition/Klassifikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ursachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lebenslauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Risiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Spezielle Probleme der Diagnostik im Jugendalter . . . Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kooperation im Netzwerk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausblick und Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Akute adoleszente Entwicklungskrisen – Psychosen im Jugendalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Adoleszenz – eine normale Entwicklungskrise? . . . . . Psychotische Episoden in der Adoleszenz . . . . . . . . . Symptome der akuten Adoleszenzkrise . . . . . . . . . . Einfluss der Biographie auf die adoleszente Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Behandlungsstrategie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Suizidalität: zur Beratung und Begleitung von suizidalen Kindern, Jugendlichen und deren Eltern . . . . . . . . . . Häufigkeit von Suizidversuchen . . . . . . . . . . . . . . . Häufigkeit von vollzogenen Suiziden . . . . . . . . . . . . Hinterbliebene nach Suiziden im Umfeld . . . . . . . . . Vorgehen bei Suizidalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die fünf wesentlichen Lebensbereiche . . . . . . . . . . . Risikoeinschätzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorgehen in der Praxis – Intervention . . . . . . . . . . . . Fragen zum besseren Verständnis . . . . . . . . . . . . . . Umgang mit dem Tabuthema Selbstmord . . . . . . . . . Umgang mit häufigen Suiziddrohungen . . . . . . . . . . Grenzen der ambulanten Suizidprävention . . . . . . . . Krisenintervention – Zusammenfassung . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Internetadressen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dissozialität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Häufigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Symptomatik und diagnostische Kriterien . . . . . . . . . Entstehungsbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Differenzialdiagnose und Komorbidität . . . . . . . . . . Verlauf und Prognose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Umgang mit dissozialen Jugendlichen . . . . . . . . . . . Interventionsmöglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
295 295 295 295 298 298 298 298 299 299 300 302 302 302 302 303 303 304 305 306 306 306 307 307 307 307 307 308 310 311 311 311 311 312 312 312 312 312 312 312 313 314 314 314 315 316 317 317
Problemorientierte Jugendmedizin 35
Unfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unfälle sind keine Zufälle . . . . . . . . . . . . . 35.1 Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35.1.1 Unfallquote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35.1.2 Schülerunfallgeschehen . . . . . . . . . . . . . . 35.2 Heim- und Freizeitunfälle . . . . . . . . . . . . . 35.2.1 Unfälle beim Inlineskaten . . . . . . . . . . . . . 35.2.2 Ski- und Snowboardunfälle . . . . . . . . . . . . 35.2.3 Ertrinken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35.2.4 Verbrennungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35.2.5 Vergiftungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35.2.6 Tierunfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bissverletzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35.2.7 Reitunfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35.2.8 Geschlecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35.2.9 Kulturelle Herkunft . . . . . . . . . . . . . . . . . 35.2.10 Verletzungsart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35.3 Entwicklungspsychologische, psychische und soziale Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . Körperbeherrschung . . . . . . . . . . . . . . . . Präventionsbewusstsein . . . . . . . . . . . . . . Gedanken und Interessen . . . . . . . . . . . . . Risikoverhalten, Selbstüberschätzung . . . . . Mutproben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unfallneigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Soziale Faktoren sind vielfältig . . . . . . . . . . 35.4 Unfallprävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35.4.1 Technische Sicherheitsmaßnahmen . . . . . . . 35.4.2 Normen, Verordnungen, Sätze (Enforcement) 35.4.3 Gesetze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35.4.4 Sicherheitsaufklärung – Mobilitätserziehung . 35.4.5 Information . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
36 36.1 36.1.1 36.1.2 36.1.3 36.1.4 36.2
36.3
36.4
. . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . . . . .
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. . . . . . . . . . . . . . . . .
321 321 322 322 322 323 323 323 324 324 324 324 324 324 325 325 325
. . . . . . . . . . . . . . . .
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. . . . . . . . . . . . . . . .
325 325 326 326 326 326 326 326 327 327 327 328 328 328 328 328
Impfungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zeitabstände zwischen verschiedenen Impfungen und zu Operationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nebenwirkungen von Impfungen . . . . . . . . . . . Impfaufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verhaltensmaßnahmen nach Impfungen . . . . . . Allgemein empfohlene Impfungen (Standardimpfungen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diphtherie, Tetanus (Wundstarrkrampf ) . . . . . . . Poliomyelitis (Kinderlähmung) . . . . . . . . . . . . . Pertussis (Keuchhusten) . . . . . . . . . . . . . . . . . Hepatitis B . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Masern – Mumps – Röteln . . . . . . . . . . . . . . . . Indikationsimpfungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Influenza . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Varizellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Frühsommer-Meningo-Enzephalitis (FSME) . . . . . Reiseimpfungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hepatitis A . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Meningokokken C . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Typhus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . 330 . . . 330 . . . .
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330 330 330 330
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330 330 330 331 331 332 332 332 332 333 333 333 333 333
XIX Inhaltsverzeichnis
36.5
Was bringt die Zukunft? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334
37
Konsum, Missbrauch und Abhängigkeit von psychoaktiven Substanzen . . . . . . . . . . . . . 335
37.1 37.2
37.3 37.4 37.5 37.5.1 37.5.2 37.5.3 37.5.4 37.6 37.6.1 37.6.2 37.6.3 37.7 37.7.1 37.7.2 37.8 37.8.1 37.8.2
37.9 37.10
Mit einem Exkurs zu nichtstofflichem Suchtverhalten . Allgemeines und Definitionen . . . . . . . . . . . . . . . . Eine Gratwanderung zwischen Genuss und Abhängigkeit. Oder: Wie wird man süchtig? Und was schützt davor?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Alkohol . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tabak . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Illegale Drogen, insbesondere Cannabis, und sonstige Drogen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wie häufig wird Cannabis konsumiert? . . . . . . . . . . . Warum wird Cannabis konsumiert? . . . . . . . . . . . . . Auf welche Risiken des Cannabiskonsums muss besonders geachtet werden? . . . . . . . . . . . . . Wie sieht es mit weiteren illegalen Drogen in der kinder- und jugendmedizinischen Praxis aus? . . Medikamente, Doping, Koffein . . . . . . . . . . . . . . . . Arzneimittelmissbrauch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Methylphenidat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Doping . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wie erkennt der Kinder- und Jugendmediziner problematischen Substanzgebrauch?. . . . . . . . . . . . Die »hidden agenda« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Urintests zum Nachweis von Drogen . . . . . . . . . . . . Umgang mit Substanzproblemen in der Praxis . . . . . . Vorgehen in verschiedenen Stufen . . . . . . . . . . . . . Verwendete Verfahren und Modelle . . . . . . . . . . . . Entgiftungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beratung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Selbsthilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Last not least: die Eltern! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Spielsucht als Beispiel für nichtstoffliche Süchte Ausblick: Ein paar Gedanken zur Prävention . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
335 335 38.2.3 336 337 338 340 340 340 341 341 342 342 343 343 343 343 344 345 345 347 347 347 347 348 348 348 349 350
38
Kontrazeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352
38.1 38.1.1 38.1.2
Kontrazeption bei Jugendlichen . . . . . . . . . . . . . . . Kontrazeptions- und Sexualberatung bei Jugendlichen Hormonelle Verhütungsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . Hormonelle Kontrazeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mechanische Kontrazeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kondom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Barrieremethoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Intrauterinpessar (IUP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Chemische Kontrazeption, natürliche Kontrazeption . . Notfallkontrazeption (Pille danach) . . . . . . . . . . . . . Die Pille für den Mann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . FAQ´s (Frequently asked questions) . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kontrazeption bei behinderten und chronisch kranken Jugendlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geistige Behinderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Chronische Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Asthma bronchiale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Epilepsie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Multiple Sklerose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
38.1.3
38.1.4 38.1.5 38.1.6 38.1.7 38.2 38.2.1 38.2.2
352 352 353 354 356 356 356 356 357 357 357 357 359 359 359 360 360 360 361
Chronisch entzündliche Darmerkrankungen Herzerkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . Thromboembolische Erkrankungen . . . . . . Bluterkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . Diabetes mellitus . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rheumatische Erkrankungen . . . . . . . . . . Mukoviszidose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Chronische Niereninsuffizienz. . . . . . . . . . Körperbehinderung . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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361 361 361 362 362 362 362 362 362 362
39
Sexuell übertragbare Infektionen bei Jugendlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364
39.1 39.1.1 39.1.2 39.1.3 39.1.4 39.2 39.2.1 39.2.2 39.2.3 39.2.4 39.3 39.4 39.4.1 39.4.2 39.4.3 39.5
Bakterielle Infektionen . . . . . . . . . . . . . . . Chlamydia trachomatis . . . . . . . . . . . . . . . Gonorrhö . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Syphilis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bakterielle Vaginose . . . . . . . . . . . . . . . . . Virale Infektionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Herpes genitalis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Humane Papilloma-Viren . . . . . . . . . . . . . . Acquired Immune Deficiency Syndrom (Aids) Hepatitis B . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vulvovaginalcandidose . . . . . . . . . . . . . . . Parasiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Trichomoniasis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Phthiriasis pubis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Scabies . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
40
Konzepte der Gesundheitsvorsorge bei Jugendlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371
40.1 40.2 40.3 40.4 40.5 40.6 40.7
Entwicklung der Jugendmedizin in Deutschland . . . . Gesundheitsvorsorgeuntersuchungen für Jugendliche Warum Gesundheitsvorsorge bei Jugendlichen?. . . . . Was ist zu tun? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wo beginnt Gesundheitsvorsorge Jugendlicher? . . . . Was müssen Kinder- und Jugendärzte tun? . . . . . . . . Was muss die Politik tun?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
41
Konzepte der Gesundheitsvorsorge – Sport . . . . 374
41.1 41.1.1
Gesundheit und Sport . . . . . . . . . . . . . . . . . . Positive Effekte von Sport auf »Körperfunktionen« Herz-Kreislauf-System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Atmungssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bewegungsapparat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gehirn und Nervensystem . . . . . . . . . . . . . . . . Endokrines System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Energiestoffwechsel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Positive Auswirkungen von Sport auf die Psyche . Sport als Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sport in der Prävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die sportlichen Fertigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . Kraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beweglichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausdauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Allgemeine Koordination . . . . . . . . . . . . . . . . Schnelligkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sportartspezifische Koordination . . . . . . . . . . .
41.1.2 41.1.3 41.1.4 41.2 41.2.1 41.2.2 41.2.3 41.2.4 41.2.5 41.2.6
. . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . . . . .
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. . . . . . . . . . . . . . . . . .
365 365 366 366 366 367 367 367 367 368 368 368 368 368 368 369 369
371 371 371 372 372 372 373 373
374 374 374 374 374 374 375 375 375 376 376 376 376 376 376 378 378 378
XX
Inhaltsverzeichnis
41.2.7 41.3 41.3.1 41.3.2 41.3.3 41.3.4 41.3.5
Atmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sportartspezifisches Training . . . . . . . . . . . . . . . . Prinzipielles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die geeignete Sportart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sport in der Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Cross-Training (Ausgleichstraining) . . . . . . . . . . . . Die geeignete Sportart für eine bestimmte Konstitution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sportverletzungen und Sportschäden ausgewählter Sportarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Brustverletzungen und -beschwerden . . . . . . . . . . Amenorrhoe, Eisenmangelanämie, Anorexie, Osteoporose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Übertrainingssyndrom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Doping . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Aufbau einer Trainingseinheit/Übungsstunde . . . Ernährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prinzipielles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Flüssigkeitszufuhr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nahrungsergänzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sport bei Erkrankungen (Beispiele) . . . . . . . . . . . . Sport bei Adipositas (Fettsucht) . . . . . . . . . . . . . . Sport bei Asthma bronchiale . . . . . . . . . . . . . . . . Sport bei Einzelniere oder Einzelhoden . . . . . . . . . Die sportmedizinische Untersuchung und Beratung . Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Internetadressen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
41.3.6
41.3.7 41.3.8 41.4
41.5 41.5.1 41.5.2 41.5.3 41.6 41.7
. . . . . .
378 378 378 379 379 379
42.3.2 42.3.3 42.3.4 42.3.5 42.3.6 42.3.7 42.3.8
. 379 . 380 . 380 . . . . . . . . . . . . . . . . .
380 380 380 382 382 382 382 382 382 382 382 383 383 383 383 383 384
42.4 42.4.1 42.5 42.5.1 42.5.2
42.5.3
42
Interdisziplinäre Zusammenarbeit . . . . . . . . . . . 387
42.1
Jugendliche mit besonderen Bedürfnissen: Schritte hin zu vernetzten Visionen in der Zukunft . . . Kindernetzwerk e.V. – Ziele und Leistungsspektrum . . Wo sehen Jugendliche mit besonderen Bedürfnissen heute Versorgungsmängel? . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was sagen Jugendliche? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mehr vernetzte Optionen bei der Wahl qualifizierter Ärzte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Umgang mit Jugendlichen: Umdenken ist erforderlich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jugendliche wollen spezialisierte Ärzte in qualifizierten Zentren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vernetzung der Jugendlichen oder Netzwerke für Jugendliche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Netzwerk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jugendamt und allgemeiner Sozialdienst . . . . . . . . . Jugendzentrum/Jugendzentren der Kirchen . . . . . . . Drogen-/Sexualberatungsstellen . . . . . . . . . . . . . . . Beispiele aus der Praxis interdisziplinärer Kooperation Durch die Praxis aus der Praxis hinaus . . . . . . . . . . . Gesundheitsförderung an der Schule – Modell »Gesunde Schule« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Akzeptanz medizinischer Versorgung . . . . . . . . .
42.1.1 42.1.2 42.1.3
42.2 42.2.1 42.2.2 42.2.3 42.2.4 42.2.5 42.2.6 42.3 42.3.1
387 387
388 388
397 398 398 398 398 399 400 400 400 400 400
Der öffentliche Gesundheitsdienst als Partner im Netzwerk Jugendmedizin . . . . . . . . . . . . . . . 401
43.1
Aufgaben des öffentlichen Kinder- und Jugendgesundheitsdienstes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401 Gesetzliche Grundlagen für die öffentliche Kinderund Jugendgesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 402 Gesetze für den ÖGD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 402 SGB XII, Eingliederungshilfe für behinderte Menschen 402 Sozialgesetzbuch VIII (Kinder- und Jugendhilfe) . . . . . 403 Spektrum der Jugendmedizin im ÖGD . . . . . . . . . . . 403 Schulärztliche Begutachtung vor Aufnahme in eine Sonderschule oder integrative Einrichtung . . . 403 Schulärztliche Betreuung entwicklungsbeeinträchtigter und behinderter Jugendlicher . . . . . . . . . . . . . . . . 404 Schullaufbahnberatung, Schulleistungsstörungen, umschriebene Entwicklungsstörungen . . . . . . . . . . . 404 Schulsprechstunden, Schulprojekte, Gesundheitsförderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 404 Schulentlassuntersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405 Sonstige betriebsärztliche Tätigkeit . . . . . . . . . . . . . 405 Jugendzahnärztliche Betreuung des ÖGD . . . . . . . . . 406 Besondere Initiativen des KJGD und Möglichkeiten der Kooperation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 406 Versorgungsstrukturen in den Regionen . . . . . . . . . . 406 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 406
43.2.1 43.2.2 43.2.3 43.3 43.3.1 43.3.2 43.3.3
387 388
392 393 393 393 394 395 396 396 396 397 397 397
43
43.2
Netzwerk, Beratung und Unterstützung
Schulische Gesundheitsförderung . . . . . . . . . . . . . . Ärztliche Mitarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Problem des Vertragsrechtes . . . . . . . . . . . . . . Kooperation mit dem öffentlichen Gesundheitsdienst Die Kooperation von Lehrern und Ärzten . . . . . . . . . Betriebsarzt einer Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Konzept »Arzt und Schule« . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beratungsangebote für jugendliche Migranten . . . . . Inanspruchnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Soziale Unterstützungsangebote . . . . . . . . . . . . . . Jugendmedizin und Jugendhilfe – Schnittstellen und Berührungspunkte . . . . . . . . . . . Kinder- und Jugendhilferecht: Beratung und Unterstützung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zugang zu den Unterstützungsangeboten . . . . . . . . Angebote der Jugendarbeit und Jugendsozialarbeit . . Hilfen zur Erziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dienste und Einrichtungen: Kooperationen und Hilfen Freie Träger der Jugendhilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . Öffentliche Träger der Jugendhilfe . . . . . . . . . . . . . Kooperationsstrukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
43.3.4 43.3.5 43.3.6 43.3.7 43.4
389 43.5 389 389 390 390 390 390 390 391
44
WHO-Ressourcen bei der Jugendgesundheit und Jugendentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409
391 391
44.1 44.2
Jugendgesundheit und Jugendentwicklung . . . . . . . 409 Ressourcen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409
Internationale Jugendmedizin
XXI Inhaltsverzeichnis
44.2.1
C
Jugendspezifische Erkrankungen und Probleme . 466
44.2.3
Orientation Programme on Adolescent Health for Health-care Providers . . . . . . . . . . . . . . . . . Hintergrund und Grundprinzipien . . . . . . . . . . . Gesamtziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geplante »Nutznießer« . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erwartete Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was beinhaltet das Orientierungsprogramm? . . . Was ist verfügbar und wie kann man es bestellen? CAH-Dokumente und Instrumente zur Jugendgesundheit und Jugendentwicklung . . . . . . . . . AFHS: Eine Agenda für den Wechsel . . . . . . . . . .
. . . 411 . . . 412
D
Rehabilitation und Nachsorge . . . . . . . . . . . . . . 484
45
Blick über die Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413
E
Jugendliche in der Gesellschaft. . . . . . . . . . . . . . 498
45.1
Europäische Modelle der gesundheitlichen Versorgung Jugendlicher, IAAH-Aktivitäten, EuTEACH, MAGAM . . . Jugendgesundheit in Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Internationale Vereinigung für Jugendgesundheit (IAAH) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Europäische Initiativen zur Verbesserung der Jugendgesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . EuTEACH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . MAGAM . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Internetadressen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entwicklung der gesundheitlichen Versorgung Jugendlicher in den USA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . College-Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jugendliche: Das Alter von 12–17 Jahren . . . . . . . . . Ausbildung in der Jugendmedizin im frühen 21. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
F
Netzwerk – Aufbau und Pflege . . . . . . . . . . . . . . 516
G
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 530
H
Kontaktadressen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 532
I
Internetadressen und CD-ROMs . . . . . . . . . . . . . 534
44.2.2
45.1.1 45.1.2 45.1.3
45.2 45.2.1 45.2.2 45.2.3
. . . . . . .
. . . . . . .
. . . . . . .
409 409 409 410 410 410 410
413 413
Anhang A
Jugendmedizinische Praxis. . . . . . . . . . . . . . . . . 422
B
Wachstum und Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . 438
413 415 415 415 415 416 416 416 416 417 418
Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 539
XXIII
Autorenverzeichnis Prof. Dr. med. Dietrich Abeck
Helana Fonseca, M.D., MPH
Prof. Dr. soz. Klaus Hurrelmann
Universitätsklinik München Biedersteinerstr. 29, 80802 München
Universität Bielefeld, Zentrum für Kindheitsund Jugendforschung Postfach 100131, 33501 Bielefeld
Heiterwangerstr. 20, 81373 München
Adolescent Outpatient Clinic Pediatric Division Hospital de Santa Maria, Divison of Pediatrics Av. Prof. Egas Moniz 1, 1649-035 Lissabon Portugal
Frau Dr. rer. nat. Lale Akgün
Dr. med. Monika Gerlinghoff
Deutscher Bundestag Platz der Republik 1, 11011 Berlin
Therapiezentrums für Essstörungen (TCE) MPI München, Hanselmannstr. 20 80809 München
Ilse Achilles
Dr. Herbert Backmund Therapiezentrums für Essstörungen (TCE) MPI München Hanselmannstr. 20, 80809 München
Dr. med. Elke Jäger-Roman Praxis für Kinder- und Jugendmedizin Goebenstr.24, 10783 Berlin
Dr. med. Ute Kling-Mondon Ärztin für Frauenheilkunde und Geburtshilfe Kottbusser Str. 16, 10999 Berlin
Oliver Gießler-Fichtner, Dipl.-Psych. Fachklinik Gaißach, 83674 Gaißach
Jürgen Kraak, Dipl.-Soz. Goslarer Str.56, 70499 Stuttgart
Dr. med. Hanspeter Goldschmidt Prof. Dr. med. Carl-Peter Bauer Fachklinik Gaißach, 83674 Gaißach
Dr. med. Dr. rer. nat. Renate Blütters-Sawatzki Zentrum für Kinderheilkunde und Jugendmedizin Justus Liebig Universität, Feulgenstr. 12 35385 Gießen
medinet Spessart-Klinik Bad Orb Rehabilitationsklinik für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene Würzburger Str. 7-11, 63619 Bad Orb
Dr. med. Cornelia Langner Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin, Psychotherapie, Schwerpunkt Epileptologie Heinrichstr. 6, 36037 Fulda
Prof. Donald E. Greydanus, MD Michigan State University Kalamazoo Center for Medical Studies 1000 Oakland Drive, Kalamazoo, MI 49008-1284, USA
Dr. med. Uwe Büsching
Dr. med. habil. Eberhard Leidig Reha Katharinenhöhe, Katharinenhöhe 78141 Schönwald
Dr. med. Ursel Lindlbauer-Eisenach
Beckhausstr.171, 33611 Bielefeld
Dr. phil. Jürgen Grieser
Dr. med. Fikret Çerçi
Stiftung Wachstum Pubertät Adoleszenz Möhrlistr. 69, 8032 Zürich, Schweiz
Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin Bachstr.22, 32756 Detmold
Dr. med. Detlef Grunert
Dr. med. Birgit Delisle
Kinder- und Jugendarzt Löpsinger Str.8, 86720 Nördlingen
Universitätsklinik für Kinderheilkunde Innsbruck Anichstr.35, 6020 Innsbruck, Österreich
Frauenärztin, Fürstenriederstr. 35 80686 München
Priv.-Doz. Dr. med. K. Hartmann
Dr. phil. Jörg Maywald Deutsche Liga für das Kind Chausseestr.17, 10115 Berlin
Stiftung Wachstum Pubertät Adoleszenz Mörlistr. 69, 8006 Zürich, Schweiz
Praxis für Kinderheilkunde und pädiatrische Endokrinologie An der Schwarzbachmühle 14 60529 Frankfurt/Main
Dr. med. Manfred Endres
Dr. med. Wolfram Hartmann
Spiegelstr. 5, 81241 München
Praxis für Pädiatrie, Siegener Str. 25 57223 Kreuztal
Priv.-Doz. Dr. med. Urs Eiholzer
Kinderärztin, Betzenweg 16a 81247 München
Prof. Dr. med. Burkart Mangold
Moisl, Sibylle Spiegelstr. 5, 81241 München
Dr. phil. Gitta Mühlen Achs
Cranachweg 10, 55127 Mainz
Dr. med. Dieter Hassberg
Institut für Psychologie Ludwig-Maximilians-Universität Leopoldstr. 13, 80802 München
Jane Ferguson
Kinderkardiologische Gemeinschaftspraxis Schöttlestr. 34 c, 70597 Stuttgart
Dr. med. Harm Müller
Dr. med. J.A. Ermert
Adolescent Health and Development World Health Organization, 1211 Genf 27 Schweiz
Wetzlarerstr.25, 35510 Butzbach
Dr. med. Bernd Herrmann Kinderklinik, Klinikum Kassel Mönchebergstr. 43, 34125 Kassel
Wolf-Rüdiger Horn Igelbach Str.7, 76593 Gernsbach
Priv.-Doz. Dr. Christian Palentien Universität Bielefeld, Zentrum für Kindheitsund Jugendforschung Postfach 100131, 33501 Bielefeld
XXIV
Autorenverzeichnis
Dr. jur. Rudolf Ratzel
Dr. Gabriele Trost-Brinkhues
Königinstr.23, 80539 München
Dr. med. Klaus-Dieter Rolirad
Kinder- und Jugendärztlicher Dienst der Stadt Aachen Hackländerstraße 5, 52062 Aachen
Kinder-Jugend-Sprtmedizin Wieterallee 41, 37154 Northeim
Dr. med. Wolfgang Wahlen Talstr.49, 66424 Homburg
Michael Sanna, Dipl.-Soz. Phoenix GmbH/Konduktive Förderung der Stiftung Pfennigparade Familienberatung Oberföhringer Str.150, 81925 München
Prof. Dr. med. Dr. habil. Ernst-Rainer Weissenbacher Frauenklinik Grosshadern Marchioninistr. 15, 81377 München
Priv.-Doz. Dr. Mechthild Schäfer Department Psychologie Institut für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie Leopoldstr. 13, 80802 München
Dr. med. Nikolaus Weissenrieder Ruffinistr.2, 80637 München
Dr. Reinhard Winter SOWIT, Lorettoplatz 6, 72072 Tübingen
Dr. med. Dieter Schlamp Heckscherklinik für Kinder und Jugendliche des Bezirks Oberbayern Deisenhofenerstr.28, 81539 München
Dr. med. Sebastian Wolf Die Arche e.V., Viktoriastr.9, 80803 München
Priv.-Doz. Dr. Dr. Hartmut Wollmann Dr. med. Jürgen Schmetz Institut für Prävention und Frühintervention im Kindes- und Jugendalter Bergkoppelweg 6, 22335 Hamburg
Raimund Schmid Hanauer Str. 15, 63739 Aschaffenburg
Renate Schmidt Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Alexanderplatz 6, 10178 Berlin
Dr. med. Jörg Schriever Kinder- und Jugendarzt, St. Elisabethstr. 6-8, 53894 Mechernich
Dr. Hubertus Schröer Jugendamt München, Orleansplatz 11, 81667 München
Dr. med. Jörg Seibold Rotebühlstr. 104, 70178 Stuttgart
Dr. med. Bernd Simon Cosimastr.133, 81925 München
Dr. med. Klaus Skrodzki Gleiwitzer Str. 15, 91301 Forchheim
Dr. med. Bernhard Stier Wetzlarer Str. 25, 35510 Butzbach
Dr. med.Wolfgang Storm Kinderklinik St. Vincenz-Krankenhaus Husenerstr. 18, 33091 Paderborn
Universitäts-Kinderklinik Tübingen Hoppe-Seyler-Str. 1, 72076 Tübingen
I
Entwicklung von Jugendlichen Sind Jugendliche anders? – 3 Eine Einführung B. Stier, N. Weissenrieder
1 Körperliche Entwicklung – 6 B. Stier, N. Weissenrieder
2 Psychosoziale Entwicklung
– 16
B. Stier, N. Weissenrieder
3 Identität und Körperbild: Bedeutung und Einfluss der Kategorie Geschlecht – 21 G. Mühlen Achs
4 Sexualität – 26
3
Sind Jugendliche anders? Eine Einführung
B. Stier, N. Weissenrieder Ein Plädoyer für Jugendmedizin
Es interessiert mich nicht, was Sie sagen – ich werde der erste Elitesoldat mit einer Hüftprothese! (Zitiert nach Kristina Berg Kelly) Die Werbestrategen und Modemacher haben es längst erkannt: Jugendliche sind weder nur größer gewordene Kinder noch kleine Erwachsene. Sie haben ihre eigenen Bedürfnisse an und Vorstellungen von der Gesellschaft sowie Wünsche und Forderungen an sie. Jugendliche sind auch zu einem bedeutenden wirtschaftlichen Faktor geworden. Sie sind die Trendsetter schlechthin. Obwohl unsere Gesellschaft immer jugendlicher wird, lässt sie nicht nur Einfühlungsvermögen in die Gedankenwelt von Jugendlichen vermissen, sondern besetzt Themen und Inhalte vor allem, wenn es um kommerzielle Interessen geht. In der Bundesrepublik Deutschland leben z. Zt. ca. 7,35 Mio. Jugendliche (7.346.336, davon 3.770.290 männlich, 3.576.046 weiblich – Zensus vom 31.12.2003, Stat. Bundesamt) im Alter von 10–18 Jahren. Das entspricht etwa 9% der Bevölkerung. Im Gegensatz zu rückläufigen Geburtenzahlen werden die Jahrgänge der über 10Jährigen in den nächsten Jahren sogar noch wachsen (11. Kinder- und Jugendbericht des Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2002). Hinter diesen Zahlen verbirgt sich eine Bevölkerungsgruppe, wie sie heterogener kaum vorstellbar ist. Ist das der Grund dafür, dass die Jugendlichen in der Regel nicht als eigenständige Gruppe mit besonderen gesundheitlichen Bedürfnissen und Problemen wahrgenommen werden? Festzustellen ist, dass die Adoleszenz als eine Art Durchgangsstadium zwischen Kindheit und Erwachsensein zunehmend mehr Aufmerksamkeit seitens unterschiedlichster Berufsgruppen erfährt. Jugendliche sind die gesündeste Bevölkerungsgruppe und wir müssen für das Zukunftspotential unserer Gesellschaft alles daran setzen, dass es so bleibt. Es mehren sich aber Studien, die zunehmend Defizite im Gesundheitsstatus der Jugendlichen konstatieren. Bei der Bewertung geht es dabei vor allem um rechtzeitige Weichenstellung. »Die Analysen des Jugendgesundheitssurvey sollen auch die Grundlage für eine Gesundheitsbestimmung bilden…« (Hurrelmann et al., 2003). Dahinter steckt die Erkenntnis, dass Prävention, erfolgreich angewandt, erhebliche Auswirkungen auf den Gesundheitszustand späterer Generationen haben kann. »Jugendgesundheit« hat also erhebliche Auswirkungen auf »Erwachsenengesundheit«. Grundvoraussetzung für die Beschäftigung mit Jugendgesundheit ist die Kenntnis der medizinischen, psychologischen und soziologischen Besonderheiten dieser Lebensphase. Sie ist gekennzeichnet durch Veränderungen und Besonderheiten in: 4 Physiologie 4 Psychologie 4 Sozialem Umfeld 4 Alterspezifischen Gesundheitsproblemen
Dabei spielen zentrale medizinische Probleme eine wichtige Rolle: 4 Probleme und Fragen im Zusammenhang mit der Pubertät (Bin ich zu groß, zu klein, zu früh, zu spät, zu dick, zu dünn – Akne, Müdigkeit/Kopfschmerzen, Wachstumsbeschwerden etc.) 4 Einfluss der pubertären Entwicklung auf chronische Erkrankungen (Diabetes mellitus, Rheuma, Herzerkrankungen etc.) 4 Gesundheitsverhalten und Experimentierverhalten (Risikoverhalten) 4 Psychosomatische Beschwerden Jugendmedizin kennzeichnet, dass sie auf eine zeitlich begrenzte Entwicklungsphase und nicht primär organbezogen ist (ähnlich der Neonatologie und Geriatrie). Jugendmedizin bezieht sich auf die Entwicklung und die Entwicklungsaufgaben des Jugendlichen: 4 Suche nach neuer Beziehungsstruktur zu den Eltern und Ablösung von Bezugspersonen 4 Aufnahme neuer Beziehungen mit Integration von Sexualität 4 Aufbau eines eigenen Lebenskonzeptes mit privater, schulischer und beruflicher Orientierung
Ziel der Jugendmedizin Ziel der Jugendmedizin ist es, die persönliche Belastbarkeit, die Stabilität und die psychische Elastizität von Jugendlichen zu fördern bzw. wieder herzustellen: 4 Von Krankheit zu Wohlbefinden 4 Von Gesundheitsfürsorge zur Gesundheitsvorsorge 4 Von Hilfe zur Selbsthilfe
Jugendmedizin ist keine »Spezialisierung nebenher« und beschränkt sich nicht auf den somatischen Bereich. Sie erfordert die intensive Auseinandersetzung mit den für diesen Lebensabschnitt typischen Entwicklungsaufgaben und ihren medizinischen und sozialen Zusammenhängen. Nur so erreichen wir die notwendige Aufmerksamkeit für die Lebensphase »Jugend« und fundierte Betreuung der Jugendlichen auf dem Boden eines wissenschaftlich haltbaren Erkenntnisstandes. Ein Plädoyer für den Jugendarzt
»Ich liebe Bier, Mädels und BMX…« (Stefan Gipp/Bilder von Jugend) Am 3. März 1995 wurde in Weimar der 2. Kongress für Jugendmedizin in Deutschland eröffnet. Dieses Datum markiert den inoffiziellen Beginn jugendmedizinischen Interesses innerhalb der Pädiatrie, die damit ihre Vorreiterstellung gegenüber anderen medizinischen Fachdisziplinen begründete. Inzwischen dürfen sich alle Pädiater offiziell als Fachärzte für Kinderheilkunde und Jugendmedizin bezeichnen und so gut wie keine pädiatri-
4
Einführung
sche Klinik oder Abteilung hat es versäumt, der Umbenennung des Fachgebietes zu folgen. Nicht wenige spüren es bereits, viele ahnen es und manche sind schon mit Haut und Haaren mittendrin: Wir Kinder- und Jugendärzte sind um ein fast uferloses Betätigungsfeld reicher geworden. Wie könnte eine Stellenbeschreibung für einen Jugendmediziner lauten? Suche enthusiastische, psychisch und moralisch stabile Persönlichkeit, die bereit ist zu unkalkulierbaren Zeiten, unabhängig von Zeit und Geld, zu jedweden medizinischen, familiären, sozialen und politischen Themen Stellung zu nehmen sowie Erklärungen abzugeben gegenüber einer Person, die oftmals eine andere Sprache spricht, über ein ohnehin schon gestresstes Zeitkontingent verfügt, wenig Interesse an weitläufigen Erklärungen hat und noch weniger daran, die Konsequenzen zu befolgen. (Kurzum: Sie kommt, wann sie will, und macht, was sie nicht soll). Kenntnisse in Psychologie, Soziologie, neueste Musik- und Modekultur, Schul- und Ausbildungsstrukturen sowie einschlägige Kenntnisse bzgl. legaler und illegaler Drogen sind von großer Bedeutung. Wen wundert es da noch, dass jugendmedizinisches Fachwissen noch kaum Eingang gefunden hat in die ärztliche Aus- und Weiterbildung. »Jugendmedizin« ist bisher kein selbstständiges Fachgebiet und in der Weiterbildungsordnung nicht definitiv einem Fachbereich zugeordnet. In der Weiterbildung zum Arzt für Pädiatrie sind die Inhalte der Jugendmedizin bezüglich der Zuständigkeit nur zum Teil beschrieben »bis zum Ende der körperlichen Entwicklung«. In der Weiterbildung zum Facharzt für Allgemeinmedizin ist Jugendmedizin leider überhaupt nicht definiert. Dies trifft in gleicher Weise in der studentischen Ausbildung zu, da in den Universitätskliniken Jugendliche nur einen geringen Teil des Patientengutes darstellen und in Lehre und Forschung nur in Ansätzen behandelt werden. Das Jugendalter sollte zunehmend mehr als eigenständige Lebensphase gesehen werden, in der Gesundheitsrisiken, Krankheit und Tod besonderer Aufmerksamkeit bedürfen. Veränderung ist das Prinzip des Jugendalters – Anpassung(sversuche) an veränderte innere und äußere Zustände. Jugendliche benötigen dafür: 4 Kenntnis und Können (sie stehen noch in der Entwicklung) 4 Eine sichere und unterstützende Umwelt (sie leben in einer von Erwachsenen dominierten Welt) 4 Einen suffizienten Gesundheits- und Beratungsservice (sie brauchen ein Sicherheitsnetz) Jugendmedizin muss kurative und präventive Aspekte beinhalten. Deshalb beschreibt das vorliegende Buch die köperliche und psychosoziale Entwicklung von Jugendlichen. Es geht ein auf den Umgang mit dem Jugendlichen in der Arztpraxis und betrachtet den Jugendlichen innerhalb der Gesellschaft. Jugendspezifische medizinische Probleme werden dargestellt und Netzwerk-, Beratungs- und Unterstützungsangebot aufgezeigt. Wie die Zeit nach der »ersten« Geburt, so ist auch die Phase der »zweiten« Geburt sehr vulnerabel, eine Zeit der inneren und äußeren Destabilisierung, deren positives »Outcome« auch von einer verständnisvoll begleitenden Umgebung abhängt. ! Notwendig für ein wirksames Unterstützungsangebot:
5 Gute Anamnese (auch zwischen den Zeilen lesen!)
6
5 Aufbau positiver Beziehungsstrukturen 5 Jugendgerechtes Betreuungsangebot 5 Netzwerk der Unterstützung
Wer mit Jugendlichen arbeitet, sollte sich die nötige Kompetenz aneignen. Dazu gehört z. B. auch die Regeln zu kennen, denen der Jugendliche in den Gleichaltrigengruppen ausgesetzt ist, und zu wissen, welche Wege zur Autonomie beschritten werden. Es ist notwendig, das »Bild von Jugend« und die Themen, die Jugendlichen betreffen, in unserer Gesellschaft aufmerksam zu verfolgen. Das »Elternrecht« und -interesse darf keinesfalls außer Acht gelassen werden. Auch in einer Phase der Destabilisierung familiärer Bindungen ist die Familie als Ausgangspunkt und Grundlage weiterer Entwicklung der stärkste therapeutische Co-Faktor. Sie tritt etwas in den Hintergrund, übt aber immer noch einen starken Einfluss aus. Das zentrale Prinzip der Pubertät und Adoleszenz ist die Veränderung, die eine ständige Auseinandersetzung mit dem immer wieder Neuen erzwingt. Diese Situation der permanenten Veränderung verlangt vom Arzt, Lehrer, Sozialpädagogen etc. spezielles Wissen und spezielle Fertigkeiten. Jugendliche brauchen »Spezialisten«. »Es ist die Wahl zwischen dem Betreiben einer Ambulanz am Fuße der Klippen oder die Klippen zu besteigen und einen Zaun zu errichten, der das Herunterfallen verhindert.« (RWM Blum, 1998) Definition Jugendalter
Ab wann redet man von Jugendalter? Ist ein 10-jähriges Mädchen mit Menarche im Jugendalter und ein ebenso altes Mädchen ohne Brustentwicklung noch nicht? Ist ein 19-Jähriger mit abgeschlossener Pubertätsentwicklung noch im Jugendalter? So heterogen wie die Bevölkerungsgruppe selbst sind auch die Meinungen und Definitionen von Jugendalter. Der Zeitraum »Jugend« lässt sich biologisch, kulturell, rechtlich und chronologisch definieren. Während der 11. Kinder- und Jugendbericht das Jugendalter vom 15.–20. Lebensjahr sieht, geht die World Health Organisation (WHO) von 10–19 Jahren aus. In der Weiterbildungsordnung für Kinderheilkunde und Jugendmedizin wird das Jugendalter ohne Bezug auf ein chronologisches Alter vom Beginn der körperlichen Reifung bis zum Abschluss der körperlichen Entwicklung definiert (max. bis zum vollendeten 18. Lebensjahr). Wie ist die Meinung der Jugendlichen selbst? In einer Untersuchung von Endepohls zur biographischen Selbstverortung erfolgte eine relativ sichere Zuordnung im Altersbereich zwischen dem 14. und dem 17. Lebensjahr für das Jugendalter. Dabei spielt bei den Jugendlichen die Wahrnehmung der gesetzlichen Reglementierung bzw. damit verknüpfter Erlaubnisse und Verbote eine bedeutsame Rolle für die Selbsteinstufung in diese Lebensphase (Endepohls, 1995). Es finden sich für die 11- bis 18-Jährigen keine statistisch signifikanten Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Etwa ab dem 13. Lebensjahr entscheiden Jugendliche zunehmend selbst darüber, wann sie medizinische Hilfe in Anspruch nehmen. Es entwickelt sich bei den Jugendlichen das Bedürfnis, selbst Verantwortung für den eigenen Körper zu übernehmen, auch wenn dies nicht unbedingt in gesundheitsförderndes Verhalten umgesetzt wird. Die Altersspanne von etwa 13–18 Jahren (bei aller Variabilität) wird als eine sinnliche Einheit erfahren, und zwar nicht nur von den Jugendlichen selbst, sondern auch von Eltern und Leh-
5 Einführung
rern (Baacke, 2000). In der Psychologie wird der Eintritt in die Pubertät allgemein als Beginn des Jugendalters anerkannt (aufgrund der säkularen Akzeleration deutlich in Richtung Kindheit verschoben). Das Ende des Jugendalters ist nicht einheitlich oder eindeutig zu begrenzen – zumal in einer scheinbar »ewig« jugendlichen Gesellschaft. Ein weiterer Zugang zur Definition des Jugendalters erfolgt über die Beschreibung der Eigenschaften dieses Lebensabschnittes, die universal auftreten: 4 Einsetzen der Pubertät (biologische Veränderungen) 4 Entwicklung fortgeschrittener kognitiver Fähigkeiten (kognitive Veränderungen) 4 Selbstbild, Beziehungsaufbau (emotionale Veränderungen) 4 Übernahme und Aufnahme neuer Rollen innerhalb der Gesellschaft (soziale Veränderungen) Die meisten Autoren unterscheiden drei Phasen der pubertären Entwicklung (vgl. hierzu auch . Tab. 2.1), die im Einzelnen variieren können (mod. nach Raffauf, 2000):
Phasen der pubertären Entwicklung 1.
2.
3.
Vorpubertät: 11.–14. LJ. Einschneidende körperliche, psychische und geistig-seelische Veränderungen: – Intellektuelle Entwicklung: wirklichkeitsbezogen, egozentrisch – Autonomie: konzentriert auf pubertäre Veränderungen, zunehmend eigenständigere Interessen, festere gleichgeschlechtliche Beziehungen – Identitätsentwicklung: zunehmendes Bedürfnis nach Privatsphäre, idealisierte Zielvorstellungen, Impulsivität Eigentliche Pubertät: 14.–16. LJ. Die Heranwachsenden streifen ihre Kindheit ab und beginnen eine eigene Identität zu entwickeln: – Intellektuelle Entwicklung: wirklichkeitsbezogen, aber komplexer – Autonomie: eigene Attraktivität, Höhepunkt der Auseinandersetzung mit den Eltern, Höhepunkt der Peerbeziehungen – Identitätsentwicklung: explorative Verhaltensweisen, erste Versuche auf eigenen Füßen zu stehen, Austesten von Regeln und Werten Nachpubertät: 16.–18. LJ. Phase der Stabilisierung: – Intellektuelle Entwicklung: Abstrakte Vorstellungen und Ziele, Zukunftsvisionen – Autonomie: Selbstakzeptanz, wieder mehr Eingehen auf elterliche Unterstützung, Stabilisierung intimerer Beziehungen, »Lebens-Abschnitts-Partnerschaft« – Identitätsentwicklung: Konsolidierung sexueller Identität, Abgrenzung, Kompromissfähigkeit, Berufszielvorstellungen
Baacke formuliert als zusätzliche »neue Phase« die Postadoleszenz. Diese hängt v. a. mit der gestiegenen Verweildauer im Bildungssystem bzw. der zunehmenden Jugendarbeitslosigkeit zusammen. Diese Phase, in der junge Erwachsene in Abhängigkeit von ihren Bezugspersonen leben, wird in diesem Buch nicht behandelt. Fazit: Die Definition des Begriffes »Jugendalter« erfolgt vor dem Hintergrund unterschiedlicher Auffassungen und Perspek-
tiven. Im Buch ist in der Regel mit Jugendalter der Zeitraum vom Einsetzen der Pubertät (im Mittel ca. 10. Lebensjahr) bis zum 18. Lebensjahr gemeint, es sei denn, verwendetes Datenmaterial verlangt eine konkrete Alterseinteilung. Die Begriffe »Jugendalter« und »Adoleszenz« werden häufig synonym verwendet. Adoleszenz meint die generelle Entwicklungsstufe zwischen Kindheit und Erwachsensein. Wir sprechen von Jugendlichen und meinen dabei die Menschen dieser Entwicklungsstufe beiderlei Geschlechts. Wenn es textlich erforderlich ist, werden wir die geschlechtliche Differenzierung deutlich machen.
Literatur Baacke D (2000) Die 13- bis 18-Jährigen. Einführung in die Probleme des Jugendalters. Beltz, Weinheim und Basel Bilder von Jugend. BMW AG 1996. Projektleitung und verantw. Autorin: Moser S, Haus der Jugendarbeit/Stadtjugendamt München Blum RWM (1998) Health Youth Development as a Model for Youth Health Promotion. Journal of Adolescent Health 22: 368–375 Endepohls M (1995) Lebensphasen im Wandel. Alltagspsychologische Definitionen des Jugend- und Erwachsenenalters. Holos, Bonn Hurrelmann K, Klocke A, Melzer W und Ravens-Sieberer U (Hrsg.) (2003) Jugendgesundheitssurvey. Internationale Vergleichsstudie im Auftrag der Weltgesundheitsorganisation WHO. Juventa, Weinheim und München Raffauf E (2000) Das können doch nicht meine sein. Gelassen durch die Pubertät. Beltz, Weinheim und Basel
1
1 Körperliche Entwicklung B. Stier, N. Weissenrieder )) Die körperliche (somatische) Entwicklung in der Pubertät beschreibt die hormonalen, physiologischen und morphologischen Veränderungen, die im Dienste der Reifung des reproduktiven Systems zusammenwirken. Der Pubertätsbeginn ist kein isolierter Vorgang, sondern leitet ein »Kontinuum« zwischen Beginn des Jugendalters und Erwachsenenalter ein. Dabei ist zu beachten, dass die psychosoziale Reifung nicht parallel zur körperlichen Reifung erfolgen muss, bzw. nicht zwangsläufig nach Beendigung der körperlichen Reifung ebenfalls abgeschlossen ist.
Bis zum Beginn der Pubertät entwickeln sich Jungen und Mädchen körperlich annähernd gleich (Körperbau, Muskelmasse, Fettgewebsverteilung, Größe und Kraft). Die körperliche Reife wird in der Gesellschaft über die äußeren Körperzeichen abgeschätzt. Es ist daher verständlich, dass Modebestrebungen sich damit beschäftigen, bestimmte äußere Kennzeichen der Reife hervorzuheben. So tragen Mädchen beispielsweise gern Plateauschuhe, um mehr Körpergröße vorzutäuschen, oder wattierte BHs zur stärkeren Betonung der Brust.
1.1
Hormonale Entwicklung
Die sichtbaren Kennzeichen der Pubertät sind die Reifung der sekundären Geschlechtsmerkmale und der Wachstumsspurt. In der Entwicklung bis zur Pubertät ist die hormonale Situation, abgesehen von der frühen Kindheit, bei beiden Geschlechtern annähernd gleich. In der Pubertät ändern sich Quantitäten und Relationen der Hormone. Die Höhe des hormonalen Anstiegs unterliegt großen interindividuellen Unterschieden, die z. T. genetisch und soziokulturell sowie ethnisch bedingt sind. Die klinisch sichtbare Pubertätsentwicklung wird durch den Anstieg der Sexualhormone gesteuert (7 Kap. 26). 1.1.1 Gonadale Hormonachse Im Alter von 6–8 Jahren erfolgt als erstes Zeichen der bevorstehenden Pubertät die Adrenarche, welche zu einem kurzzeitigen Anstieg des Gonadotropin-Releasing-Hormons (GnRH) und der basalen Werte für die adrenalen Androgene führt. Dies bedeutet nur eine kurze »Testphase« des Regelmechanismus. Vermutlich abhängig von der Körperfettmasse (7 Abschn. 1.1.4 Leptin), dies ist bislang noch nicht vollständig geklärt, erniedrigt sich als Initialzündung der Pubertät die Empfindlichkeit des hypothalamischen »Gonostats« (Pulsgenerator) gegenüber den zirkulierenden Östrogenen und Androgenen. Dies initiiert die Ausschüttung von GnRH. Dadurch wird der Hypophysenvorderlappen zur Produktion der Gonadotropine – luteinisierendes Hormon (LH) und follikelstimulierendes Hormon (FSH) – angeregt. Der primäre Mechanismus, der ihre Interaktion reguliert, ist der sog.
negative Rückkopplungsmechanismus. Das bedeutet, dass eine hohe Konzentration eines Hormons im Blut die Produktion dieses Hormons reduziert. LH und FSH wirken auf die Gonaden – bei den Mädchen die Eierstöcke, bei den Jungen die Hoden. FSH stimuliert die Reifung der ovariellen Follikel und die Produktion von Estradiol. LH initiiert die Ovulation, die Ausbildung des Corpus luteum (Gelbkörper) und die Progesteronproduktion. Bei den Jungen stimuliert LH die Reifung der Leydig-Zellen und die damit verbundene Testosteronproduktion. LH und FSH zusammen wirken auf die letzten Stadien der Spermienreifung (Spermatogenese). FSH wirkt hauptsächlich in den Hoden, wo es an die Sertoli-Zellen bindet und so die Spermatogenese in den Samenkanälchen fördert. FSH kann zusätzlich die LH-Aktivität erhöhen und so die Testosteronproduktion stimulieren. Testosteron ist für die Spermatogenese notwendig. Im Allgemeinen haben Sexualhormone bei Jungen einen stärkeren Einfluss auf die Libido als bei Mädchen. Das Testosteronniveau bei Jungen beeinflusst die Häufigkeit sexueller Erregung, sexuelle Fantasien, Onanieren, sexuelles Träumen sowie sexuelle Aktivität (Flammer et al. 2002). Das erste Anzeichen beginnender Pubertät (. Abb. 1.1a,b) ist bei Jungen die Volumenzunahme des Hodens (>3 ml) und bei Mädchen die beginnende Brustentwicklung (Thelarche), seltener der Beginn der Schambehaarung1 (Pubarche). Ein weiteres sichtbares Zeichen der Östrogenisierung ist die zunehmende Pigmentierung des Brustwarzenhofes (7 Abschn. 1.2 und 1.3).
1.1.2 Wachstumshormonachse Der Anstieg der Androgene beim Jungen und der Östrogene beim Mädchen stimuliert das Wachstumshormon (STH) und den Insulin-like-growth factor 1 (IGF-1) = Somatomedin. Im Zuge des Pubertätswachstumsspurts steigt STH um das 3–4fache. Im Stadium Tanner 5 fällt die STH-Sekretion auf den 2fachen präpubertären Level ab, am Ende der Pubertät. Ähnlich verhält sich das IGF-1. Beide Hormone haben zu Beginn der Pubertät den höchsten Anstieg nachts, im mittleren Pubertätsabschnitt gleichen sich Tag- und Nachtrhythmus zunehmend an. Gemäß dem früheren Einsetzen des Pubertätswachstumsspurts bei Mädchen steigt auch der STH und IGF-1-Spiegel früher an. Seinen Höhepunkt markieren bei Mädchen Tanner-Stadium 3–4, bei Jungen Tanner-Stadium 4. Die Erwachsenengröße ist erreicht, wenn die Epiphysenfugen geschlossen sind. Die Daten der 1. Züricher Longitudinalen Wachstumsstudie von Largo und Prader werden als Maßstab für den zeitlichen Ablauf der Pubertät herangezogen (. Tab. 1.3), da keine neueren prospektiven Längsschnittuntersuchungen vorliegen. Für die Praxis müssen diese Daten aber entsprechend der säkularen Vorverlegung des Beginns der pubertären Entwicklung angepasst werden.
1
Im Folgenden häufig abgekürzt mit P oder PH für Pubesbehaarung (pubic hair).
1
7 1.1 · Hormonale Entwicklung
B1
PH 1
PH 2
PH 3
PH 4
PH 5
PH 6
B2
B3
B4
a
B5
G1
G2
PH 1
PH 2
G3
G4
PH 3
PH 4
PH 5
PH 6
b
G5
. Abb. 1.1. a,b. a) Stadien der Brustentwicklung und der Pubesbehaarung bei Mädchen; b) Stadien der Penisentwicklung und der Pubesbehaarung bei Jungen. (Aus Dörr u. Rascher, 2002; nach van Wieringen et al., 1965)
8
1
Kapitel 1 · Körperliche Entwicklung
1.1.3 Insulin Insulin steigt in der Pubertät um ca. 30% an, parallel zu einer Verminderung der Insulinsensitivität im Jugendalter. Dies scheint bedingt zu sein durch die Wachstumshormonausschüttung. Die Häufung des Typ 2-Diabetes bei adipösen und genetisch vorbelasteten Teenagern ist möglicherweise das Ergebnis einer InsulinResistenz während der Pubertät. 1.1.4 Leptin Leptin ist ein Peptidhormon im Plasma, das von den Adipozyten (Fettzellen) ausgeschüttet wird und hilft, die Körperfettmasse zu regulieren. Es hemmt die Nahrungsaufnahme und steigert den Energieverbrauch. Leptinrezeptoren befinden sich auch im Hypothalamus. Möglicherweise ist Leptin das Hormon, das bei einer definierten Körperfettmasse den Beginn der Pubertät einleitet. 1.1.5 Melatonin Melatonin ist ein in der Zirbeldrüse (Corpus pineale) gebildetes Gewebshormon. Seine Ausscheidung unterliegt einem 24-Stunden-Rhythmus mit Höchstwerten nachts. Unter anderem hat es seine Bedeutung in der Regelung des Schlaf-Wach-Rhythmus. Daher wird es vielfach auch zur »Behandlung« des Jetlags eingesetzt. Bei Pubertierenden kommt es zu einer »Phasenverzögerung«, d. h. der Peak der Melatoninsekretion verschiebt sich in die späten Abendstunden mit erhöhtem Spiegel noch bis zum nächsten Morgen. Das könnte u. a. erklären, warum es in der Pubertät zur Verschiebung des Schlafrhythmus kommt: Die Nacht wird zum Tag und der Tag zur Nacht gemacht. Bislang wurden eher psychosoziale Gründe dafür verantwortlich gemacht (Wolfson). 1.1.6 Pheromone Mit der Pubertät entwickelt sich der für jeden Menschen spezifische Duft. Die Partnerfindung hat damit zu tun, ob man jemanden »riechen« kann oder nicht. Der »passende« Partner wird anhand seines spezifischen Geruchs daraufhin analysiert, ob beide »Duftnoten« zusammenpassen. Die natürlichen Sexuallockstoffe (Pheromone) werden über die Haut abgegeben. Pheromone können manchmal schon in geringen Mengen auf andere Personen stimulierend und anziehend wirken.
Die Zuneigung, aber auch die Abneigung anderen Menschen gegenüber wird stark durch die abgegebenen Pheromone beeinflusst, die nur vom Unterbewusstsein wahrgenommen werden. Diese erotischen Lockstoffe sind ein Produkt der Schweißdrüsen der Haut und werden besonders stark von Achselhöhlen und vom Genitalbereich abgegeben. Über 50 verschiedene Pheromone wurden bislang beim Menschen entdeckt. Darunter finden sich unter anderem die Kopuline, die sich im Sekret der Scheide (Vagina) befinden und die männliche Libido anregen, sowie die Androstene, die die Gemütsverfassung wie sexuelle Bereitschaft stimulieren. Zielorgan der Pheromone ist das vomeronasale oder Jacobsonsche Organ, ein winziger, an der vorderen Nasenscheidewand gelegener Blindschlauch, der sich beim Blick ins Elektronenmikroskop als voll funktionsfähiges Sinnesorgan erweist.
1.2
Körperliche Entwicklung bei Jungen
Die Volumenzunahme des Hodens tritt vor den weiteren sekundären Geschlechtsmerkmalen auf (Schambehaarung, Peniswachstum etc.; . Tab. 1.1). ! Die Volumenzunahme des Hodens bleibt von den Jungen oft zunächst unbemerkt. Dies ist bedeutsam bei der von ihnen gestellten Frage nach einem eventuell verzögerten Pubertätseintritt.
Eine genaue körperliche Untersuchung zeigt das beginnende, bis dahin unbemerkte Hodenwachstum auf und macht damit den Pubertätseintritt deutlich. Bei den meisten Jungen hängt der linke Hoden etwas tiefer als der rechte. Etwa 6–8 Monate (bis 18 Monate!) nach Beginn des Hodenwachstums folgen der Beginn der Hodensackveränderung (Vergrößerung, verstärkte Pigmentierung, Fältelung), die Schambehaarung und das Peniswachstum, erst in der Länge, dann im Umfang (Mittelwert vor der Pubertät 6,4 +/–1,1 cm). Das größte Peniswachstum findet im Stadium P3 statt. Sein Wachstum erfolgt parallel zum Anstieg des Testosterons in der mittleren Pubertät. Die Penisendgröße wird mit ca. 16–17 Jahren (TannerStadium 5; 13–17 Jahre) erreicht (Joffe et al. 2003), unterliegt jedoch einer großen Variabilität. Die mittlere erektile Penislänge liegt bei ca. 15 cm im Tanner-Stadium 5 (5. Perzentile: 11 cm, 95. Perzentile: 18 cm). Weder Sexualfunktion noch ein erfülltes Sexualleben korrelieren direkt mit der Penislänge. Die Schambehaarung beginnt um die Peniswurzel und breitet sich zirkulär in Richtung Schambein (Symphyse) und Innenseiten der Oberschenkel sowie in Richtung Nabel aus.
. Tab. 1.1. Stadien der Genitalentwicklung und Pubesbehaarung bei Jungen. (Nach Marshall und Tanner, 1969) G1 G2 G3 G4 G5 PH1 PH2 PH3 PH4 PH5 PH6
Infantil, Hodenvolumina <3 ml Vergrößerung des Skrotums, Hodenvolumina 3–8 ml Vergrößerung des Penis in die Länge, weitere Vergrößerung von Testes und Skrotum Penis wird dicker, Entwicklung der Glans, Skrotalhaut wird dunkler, Samenerguss Genitalien ausgereift wie bei erwachsenem Mann, reife Spermien Keine Behaarung Wenige, leicht pigmentierte Haare um den Penis und am Skrotum Kräftigere, dunklere und stärkere Behaarung, die sich in der Mittellinie über der Symphyse ausbreitet Kräftige Behaarung, wie bei Erwachsenen, aber geringere Ausdehnung Behaarung des Erwachsenen mit horizontaler Begrenzung nach oben, Übergang auf die Oberschenkel Übergang der Behaarung bis zum Nabel
9 1.2 · Körperliche Entwicklung bei Jungen
! Ungefähr zwei Drittel aller Jungen haben im Verlauf der pubertären Entwicklung ein Anschwellen der Brustdrüse (Gynäkomastie). Bei ca. 20% tritt dies einseitig auf. Die Brustdrüsenschwellung bildet sich in der Regel zum Pubertätsende hin vollständig zurück.
Etwa 2–3 Jahre nach dem Beginn des Hodenwachstums, im 12.– 15. Lebensjahr, erfolgt der erste Samenerguss (Spermarche – Ejakularche; »feuchter Traum«) im Stadium G3–G4 (Joffe et al.). Das Einsetzen des Pubertätswachstumsspurts erfolgt bei Jungen in der 2. Hälfte der Pubertät (typischerweise mit ca. 13–15 Jahren). Im Höhepunkt des Pubertätswachstumsspurts (Tanner-Stadium 4) wird eine Wachstumsgeschwindigkeit von ca. 10 cm/Jahr erreicht. Um diesen Zeitpunkt herum kommt es zum Stimmbruch und einer deutlichen Zunahme der Muskelmasse. Der Stimmbruch ist eine Folge der Kehlkopfvergrößerung unter dem Einfluss des Testosterons auf die Kehlkopfknorpel. Wenn der Kehlkopf seine endgültige Größe erreicht hat, stellt sich die »neue« Stimmlage ein. Das Ende der Pubertät markiert der Wachstumsfugenschluss (Epiphysenschluss) der langen Röhrenknochen der Gliedmaßen, d. h. damit die Beendigung des Wachstums mit ca. 17 Jahren. Die endgültige Hodengröße liegt dann bei ca. 15–25 ml. ! Da die Pubertätsstadieneinteilung nach Tanner subjektiv ist, sollte zusätzlich das Orchidometer zur genaueren Bestimmung des Hodenvolumens eingesetzt werden. Bei pubertären Störungen kann die Sonographie zur genaueren Hodenvolumenbestimmung und Strukturanalyse ratsam sein.
1.2.1 Jungentypische Klagen und Fragen –
Beispiele 4 4 4 4 4
Ich bin zu klein Ich bin zu dünn, habe keine Muskeln Ich habe zu viele Pickel Ich bekomme Brüste wie ein Mädchen Ich habe einen zu kleinen Penis
Penisprobleme
»Ist mein Penis zu klein?« Erklärung: »Ich verstehe deine Sorge. Wenn ich mir deinen Penis ansehe, finde ich ihn völlig normal. Schau dir deinen Penis an, wenn er erigiert ist, wie groß er dann wird. Die Scheide einer Frau ist nicht länger als 8–10 cm. Berührt der Penis den Muttermund, kann dies eher unangenehm für ein Mädchen sein«. Von 100 Jungen haben mindestens 99 das Gefühl, dass ihr Penis nicht lang genug ist. Da die Penislänge im gesellschaftlichen Zusammenhang in enge Korrelation zu Sexualfunktion und Attraktivität gesetzt wird, kommt der »richtigen« Penislänge eine besondere Bedeutung zu. Von der Ausgangslänge eines schlaffen Penis kann man keineswegs auf seine Größe im erigierten Zustand schließen. Erst im 2. und 3. Jahr der Pubertät wachsen außerdem Hoden und Penis besonders stark. Zu beachten ist auch ein fälschlich kleiner Penis bei Adipositas. Je kleiner der Penis, desto größer ist vergleichsweise die Erektion. Es kommt besonders auf die Reibung in den ersten 2–4 cm der Scheide (bzw. die Stimulierung der Klitoris) an. 4 Die Scheide passt sich im Prinzip jeder Penisgröße an. 4 Beim Penis gilt: Dicker ist besser als länger.
1
4 Wichtig ist nicht, was man hat, sondern was man daraus macht. Vorhautprobleme
»Meine Vorhaut hängt an der Eichel fest/… ist zu eng.« Erklärung: Selten hat sich eine Vorhaut bis zur Pubertät bereits vollständig gelöst. Spätestens in der Pubertät wird sie dies tun. Eine Vorhautlösung ist nicht indiziert. Normales Hygieneverhalten fördert die Vorhautlösung und verhindert Entzündungen. Probleme mit der Körpergröße
»Bin ich zu klein?«, »Wie groß werde ich?«, »Werde ich zu groß?« (meistens gefragt von Mädchen) Erklärung: Die Berechnung der Zielgröße bzw. das Auftragen der Längenentwicklung und der Wachstumsentwicklung erfolgt auf geeigneten Kurven (7 Anhang). »Normal« kleine Eltern haben auch »normal« kleine Kinder. Geringe Körperlänge bei Geburt bedeutet häufig auch geringe Endgröße. Ein normales Wachstum entlang der entsprechenden Perzentile (Prozentsatz der Bevölkerung mit einer bestimmten Körperlänge bei einem definierten Lebensalter) ohne Perzentilensprung (Wechsel der Perzentilenkurve) zeigt, dass alles richtig läuft bzgl. des Wachstumshormons und der Sexualhormone. Übrigens: Auch klein gewachsene Jungen können gute Fußballer werden. Probleme mit der Spermienflüssigkeit (Samenflüssigkeit, Ejakulat, Sperma)
»Was ist denn da alles drin?« Erklärung: Spermienflüssigkeit setzt sich aus Spermien (ca. 5%) plus den Sekreten aus Bläschendrüsen und Prostata zusammen. Diese Sekrete sind für die Befruchtungsfähigkeit der Samenzellen notwendig. Zusammen ergeben sich ca. 2–6 ml Samenflüssigkeit. Normalerweise enthält 1 ml ca. 20–60 Mio. Spermien, aber nur ein Teil dieser Spermien ist tatsächlich fruchtbar. Die Spermienflüssigkeit ist weder giftig noch nahrhaft und bringt es auf ca. 5 kcal. Die Farbe ist weiß-grau, mit zunehmendem Alter auch leicht gelblich. Manche vergleichen den Geruch von Spermienflüssigkeit mit dem von Kastanienblüten. Nach WHO-Definition sollte die Menge nicht unter 2 ml und die Anzahl der Spermien nicht unter 20 Mio./ml liegen, um fruchtbar zu sein. 4 Entgegen der Bezeichnung Samenbläschen beinhalten die Bläschendrüsen keine Samenzellen. Ihr Sekret verleiht dem Sperma seine gallertartige Beschaffenheit (Schutzfunktion). Der in ihm enthaltene Zuckeranteil ist der hauptsächliche Energielieferant für die Spermien auf dem Weg zur Eizelle. 4 Die Prostata bildet ein leicht saures, dünnflüssiges, milchig trübes Sekret mit kastanienartigem Geruch. Dieses Sekret enthält verschiedene Enzyme und Stoffe mit Einfluss auf das Immunsystem und die Muskulatur der Gebärmutter der Frau. Bestimmte Eiweiße im Prostatasekret fördern die Beweglichkeit und Befruchtungsfähigkeit der Spermien. Das Sekret der Prostata hat die Aufgabe, das Sekret der Bläschendrüsen nach dem Samenerguss wieder zu verflüssigen. 4 Die Cowperschen Drüsen sind erbsgroß unterhalb der Prostata gelegen. Sie produzieren ein Sekret, das bei sexueller Erregung vor dem Samenerguss an der Eichel aus der Harnröhre austritt (»Freudentropfen«, »Lusttropfen«). Vermutlich dient es dazu, die Harnröhre zu desinfizieren und ein besseres Durchgleiten der Spermienflüssigkeit zu ermöglichen. Auch leistet es einen Beitrag zur Befeuchtung des Scheiden-
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1
Kapitel 1 · Körperliche Entwicklung
eingangs. Es ist sehr geschmeidig und erleichtert das Einführen des Penis in die Scheide. Diese Angaben können dazu dienen, das Thema auch auf die Ungefährlichkeit der Masturbation zu lenken. Bis zum Alter von 18 Jahren haben nahezu 100% der Jungen Erfahrung mit Masturbation. Aber noch immer ist das Erleben geprägt von schlechtem Gewissen und Angst vor Schädigungen. Probleme mit spontanen Erektionen
»Mir passiert das so oft! Ist das normal?« Erklärung: Es kommt immer wieder einmal zu spontanen Erektionen in der Pubertät, meist wenn es der Jugendliche gerade nicht brauchen kann (z. B. im Schwimmbad oder beim Vortrag vor der Klasse etc.). Gerade auch in Abhängigkeit des Erregungszustands und des Füllungszustandes der Blase kann es zu spontanen Erektionen kommen. Ein steifer Penis verhindert, dass sich der obere Ringmuskel zwischen Harnblase und Prostata entspannen kann und der Verschluss der Harnblase freigegeben wird (»Morgenlatte«). Eine Blasenentleerung bringt hier Abhilfe. Liegt die Ursache nicht in der Blasenfüllung, kann eine feste Sportunterhose und darüber dann eine weite Badehose die Erektion nach außen hin nicht sichtbar werden lassen. Probleme mit dem Brustdrüsenwachstum
»Hilfe, ich bekomme einen Busen!« Erklärung: Bei ca. 60–70% der Jungen kommt es in der Pubertät zu einem Wachstum der Brustdrüse (Dörr und Rascher). Bei ca 20% erfolgt das Wachstum z. T. seitendifferent. Nur manchmal ist die Vergrößerung so stark, dass es dem Betreffenden Probleme macht, mit nacktem Oberkörper – z. B. im Schwimmbad – herumzulaufen. Durch weite Kleidung lässt sich die Vergrößerung der Brust gut kaschieren. Bei Übergewicht erscheint die Brust vergrößert durch Ansammlung von Fettgewebe (Pseudogynäkomastie). Neben einer Gewichtsabnahme führt vor allem sportliches Training mit Stärkung der Muskulatur zur Verbesserung. Meist ist die Vergrößerung der Brustdrüse nicht sehr ausgeprägt (selten über Stadium B3) und bildet sich im Verlauf der Pubertät zurück. Wenn die Brustwarzen schmerzen (hormonelle Stimulation und Wachstum), kann man sich mit Watte, um die Brustwarze zu schützen, helfen oder mit dem Tragen eines dicken Baumwoll-T-Shirts. Probleme mit Hodenschmerzen
»Ich habe – ab und zu – Schmerzen in meinen Hoden.« Erklärung: »Ich finde es sehr gut, dass du kommst. Viele Jungen trauen sich nicht von ihren Beschwerden zu erzählen.« Wenn Schmerzen im Hoden bestehen, sollten die Hoden unbedingt untersucht werden (Gelegenheit zur Einweisung in die Selbstuntersuchung nutzen!). Meist handelt es sich nur um Spannungsschmerzen, da die Hoden in der Pubertät wachsen und auch schwerer werden. Selten können diese Schmerzen auch eine andere Ursache haben, die aber rasch erkannt werden muss, damit geholfen werden kann. Probleme mit der Hodengröße
»Bei mir sind die Hoden unterschiedlich groß! Muss ich mir Sorgen machen?« Erklärung: Das unterschiedliche Hodenwachstum, wie auch der einseitige Beginn des Hodenwachstums, ist relativ häufig. Differenzen von 2–3 ml sind tolerabel. Sollte ein deutlicher Wachs-
tumsunterschied festgestellt werden, bedarf dies jedoch unbedingt der medizinischen Abklärung, um eine mögliche Entwicklung von Hodentumoren auszuschließen. Die Größe des Hodens korreliert nicht mit der Fertilität, solange eine normale Größenentwicklung feststellbar ist. Brennen der Harnröhre kurz nach einem Samenerguss
»Ist da etwas kaputt gegangen?« Erklärung: Der Grund liegt meist darin, dass die Prostata die Harnröhre nach der Erektion noch nicht vollständig freigegeben hat. Der Urin muss sich durchpressen, und dieser Druck reizt die Harnröhre. Kommt dies jedoch häufiger vor, ist ein Besuch beim Arzt ratsam (Auftreten z. B. nach Masturbation – Angst vor Harnwegsinfekt).
1.3
Körperliche Entwicklung bei Mädchen
In der Literatur bestehen unterschiedliche Angaben über das primäre Auftreten der sekundären Geschlechtsmerkmale bei Mädchen. Von den meisten Autoren wird das Wachstum der Brustdrüse als Beginn der Pubertät definiert. Das Brustdrüsenwachstum kann dabei einseitig beginnen. Sowohl das Drüsengewebe als auch das Mantelgewebe und das Gangsystem sind hormonabhängig. Nur das interstitielle Bindegewebe unterliegt nicht dem Hormonzyklus. Es gibt dabei einzelne Hormone, die nur auf das Gangsystem bzw. nur auf das Läppchensystem wirken. Die starke Vergrößerung der Brust ist vor allem durch das Wachstum der Milchgänge verursacht. Östrogene und Progesteron sind beide für Entwicklung und Wachstum der Brustdrüse verantwortlich. Die Differenzierung des Läppchensystems und des Milchgangsystems steht vor allem unter dem Einfluss des Progesterons. Die Größe der Brust lässt sich allerdings nicht hormonell beeinflussen, sondern ist genetisch festgelegt. Das Wachstum der Schambehaarung (Pubarche) beginnt bei einigen Mädchen vor dem Wachstum der Brustdrüse (Thelarche). Der Pubertätsbeginn (B2/P2) ist gekennzeichnet durch die Entwicklung einer subareolären Brustdrüsenknospe mit resultierender Erhebung der Brust und der Brustwarze (Mamille) über das Brustkorbniveau. Die Pubarche wird ausgelöst durch eine ausgeprägte Entwicklung der Zona reticularis der Nebennierenrinde und einem resultierenden Anstieg der Plasmakonzentrationen von Dehydroepiandrosteron, -sulfat (DHEA und DHEAS); . Tab. 1.2. Die Behaarung beginnt entlang der Labia majora und breitet sich in Richtung Schamhügel (Mons pubis) aus. Am Anfang wachsen wenig gekräuselte, pigmentierte Haare. Weitere 1–2 Jahre dauert es bis zum Beginn der Axillarbehaarung. Der Pubertätsbeginn liegt bei Mädchen ca. 1–2 Jahre früher als bei Jungen (. Tab. 1.3).Der Eindruck des früheren Einsetzens wird noch dadurch verstärkt, dass bei Mädchen der Pubertätsbeginn deutlicher sichtbar ist als bei Jungen. Am markantesten zeigt sich dies bzgl. des Einsetzens des Pubertätswachstumsspurts. Dies lässt den Entwicklungsunterschied größer erscheinen als er tatsächlich ist. Der Pubertätswachstumsspurt erfolgt bei Mädchen in der 1. Hälfte der Pubertät (typischerweise mit ca. 11 Jahren – ca. ab Tanner-Stadium 2). Der Höhepunkt liegt bei Mädchen bei Tanner-Stadium 3–4. Während des Wachstumsspurts wird eine Wachstumsgeschwindigkeit von ca. 8 cm/Jahr erreicht. Im Durchschnitt beginnt mit Erreichen des Knochenalters von 10,6–10,9 Jahren die Brustentwicklung. Die Menarche tritt
11 1.3 · Körperliche Entwicklung bei Mädchen
1
. Tab. 1.2. Stadien der Brustentwicklung und Pubesbehaarung bei Mädchen. (Nach Marshall und Tanner, 1969) B1 B2 B3 B4 B5
Fehlende Brustentwicklung, kein palpabler Drüsenkörper Brustknospung. Brustdrüse und Warzenhof sind leicht erhaben Brustdrüse ist stärker vergrößert als der Warzenhof Die Drüse im Warzenhofbereich hebt sich mit einer eigenen Kontur vom übrigen Anteil der Brust ab Die Vorwölbung im Warzenhofbereich des Stadiums B4 weicht in die abgerundete Kontur der erwachsenen Brust zurück
PH1 PH2 PH3 PH4 PH5 PH6
Keine Behaarung Wenige, leicht pigmentierte Schamhaare, glatt oder leicht gekräuselt erscheinen an den Labia majora Kräftigere, dunklere und stärker gekräuselte Behaarung von umschriebener Ausdehnung Kräftige Behaarung, wie bei Erwachsenen, aber geringere Ausdehnung. Kein Übergang auf die Oberschenkel Behaarung des Erwachsenen mit horizontaler Begrenzung nach oben. Übergang auf die Oberschenkel Übergang der Behaarung entlang der Linea alba nach oben
. Tab. 1.3. Altersverteilung des Auftretens der einzelnen Pubertätsmerkmale bei Mädchen und Jungen. (Nach Largo und Prader, 1983)
Pubertätsmerkmal
Mittelwert (Jahre)
Standardabweichung (Jahr)
Mittelwert –/+2 Standardabweichungen (Jahr)
Mädchen Beginnende Schambehaarung (PH2) Beginnende Brustentwicklung (B2) 1. Regelblutung Volle Schambehaarung (PH5) Volle Brustentwicklung (B5)
10,4 10,9 13,4 14,0 14,0
1,2 1,2 1,1 1,3 1,2
8,0–12,8 8,5–13,3 11,2–15,6 11,4–16,6 11,6–16,4
Jungen Beginnende Penisentwicklung (G2) Beginnende Schambehaarung (PH2) Volle Schambehaarung (PH5) Ausgereifte Penisentwicklung (G5) Hodenvolumen >3 ml Abgeschlossenes Hodenwachstum
11,2 12,2 14,9 14,7 11,8 15,3
1,5 1,5 1,0 1,1 0,9 1,2
8,2–14,2 9,2–15,2 12,9–16,9 12,5–16,9 10,0–13,6 12,9–17,7
zwischen Knochenalter 12,7–13,3 Jahren ein (B3–4), ungefähr 1,5–3 Jahre nach Beginn der Thelarche. Etwa 6–12 Monate vor der Menarche beginnt die physiologische Leukorrhoe (Weißfluss), ein eiweißreicher, nicht riechender weißlicher Ausfluss (vgl. u. a. Joffe et al.). Dieser Ausfluss (Fluor) kann sich in der Unterwäsche bräunlich-gelblich verfärben und als pastöse Substanz dominieren. Nach erfolgter Menarche kann der Zyklus noch eine ganze Weile (d. h. bis zu 2 Jahre) irregulär mit anovulatorischen Zyklen bleiben. Mit der Menarche ist das Längenwachstum der Mädchen im Wesentlichen abgeschlossen. Das bedeutet, dass eine Behandlung von Wachstumsabweichungen vor der Menarche geschehen muss. Der Wachstumsfugenschluss (Epiphysenschluss) liegt bei ca. 15–16 Jahren. Bei Mädchen gibt es keine adäquate Beschreibung der Genitalentwicklung – Labia minora, Labia majora, Introitus vaginae, Hymen – wie etwa bei Jungen die Stadien G1–G5, in denen die Entwicklung des Penis und der Hoden deskriptiv und photographisch dokumentiert wurden. Bei dem primär nicht östrogenisierten Genitale dominieren bei der Inspektion die großen Labien, manchmal sind die kleinen Labien erst nach Spreizen des Introitus vaginae sichtbar. Als erste Veränderung nimmt der Fettanteil der Labia majora zu und die großen Schamlippen können die kleinen Labien überdecken. Mit zunehmender Entwicklung wachsen auch die Labia minora und sind in der Vulva sichtbar. Auch die Klitoris wächst mit Beginn
der Östrogenisierung. Die Beurteilung der Größe kann durch eine ausgeprägte Vorhaut (Präputium) erschwert sein. Zur Beurteilung können metrische Daten zur Klitorislänge herangezogen werden. Unter dem Östrogeneinfluss quillt das Jungfernhäutchen (Hymen) im Stadium P3 auf und wird dehnbar (wird sukkulent). Die Form des Hymens ist vielfältig. Sicher ausgeschlossen werden müssen spätestens zu diesem Zeitpunkt Abweichungen der Form des Jungfernhäutchens, welche die Benutzung von Hygieneartikeln wie Tampons und auch Geschlechtsverkehr erschweren und natürlich ein kompletter membranartiger Verschluss des Scheideneingangs (Hymenalatresie), welcher unter Umständen ein Ausbleiben der ersten Regelblutung (primäre Amenorrhoe) vortäuschen kann. In den letzten Jahren wurde vor allem in Studien aus Amerika eine Vorverlagerung des Pubertätsbeginns vor das 8. Lebensjahr – bisheriger Definition entsprechend einer zentralen Pubertas präcox <8. Lebensjahr – beschrieben. Diese »frühnormale Pubertät« und akzelerierte Pubertätsentwicklung wurde auch bei Mädchen, die aus Entwicklungsländern nach Westeuropa oder den USA adoptiert wurden, vermehrt gefunden. Die Ursache hierfür ist unbekannt. Umwelteinflüsse wie eine exogene Östrogenzufuhr über Ernährung oder Umweltgifte wurden diskutiert. Vor allem dunkelhäutige Mädchen aus afrikanischer oder hispanischer Herkunft sind von dieser frühnormalen Entwicklung betroffen.
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Kapitel 1 · Körperliche Entwicklung
1.3.1 Mädchentypische Klagen und Fragen 4 4 4 4
Ich bin zu dick Meine Brüste sind zu klein oder unterschiedlich Ich bin zu klein oder zu groß Ich bin hässlich oder nicht schön genug
Probleme mit dem Brustwachstum
»Warum wachsen meine Brüste unterschiedlich?« Erklärung: Ein einseitiges Brustdrüsenwachstum (Thelarche) ist relativ häufig. Im weiteren Verlauf der Pubertät gleichen sich die Entwicklungen beider Brüste an (meist schon innerhalb des ersten Jahres). Dezente Größenunterschiede, die kosmetisch unbedeutend sind, können bestehen bleiben. Fehlbildungen der weiblichen Brust sind selten. Probleme mit »zu kleinem« Busen
»Meine Freundin hat einen viel größeren Busen als ich.« Erklärung: Beeinflusst durch mediale Rollenvorbilder zeichnet sich in den letzten Jahren verstärkt der Wunsch nach größerer Oberweite schon bei jungen Mädchen ab. In den USA, wo solche Tendenzen gewöhnlich ein paar Jahre früher auftreten als bei uns, lassen sich inzwischen schon 15- und 16-jährige Mädchen die Brüste künstlich vergrößern. ! Um dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten, muss es Ziel sein, den Mädchen die Akzeptanz ihres eigenen Körpers zu vermitteln. Entscheidend ist das stimmige Gesamterscheinungsbild. Bei erheblichem Leidensdruck kann ein BH mit Einlagen empfohlen werden.
tungsfördernde Maßnahmen, wie Bindegewebsmassagen, können eine Verbesserung bringen. Menstruationsprobleme
»Wird das sehr wehtun?« Erklärung: Manche Mädchen fürchten nicht nur das überraschende Einsetzen der Menstruation (z. B. Sport- oder Schwimmunterricht), sondern auch die Schmerzhaftigkeit während der Regelblutung (Dysmenorrhoe), die deutlich mit dem Regelempfinden der Mutter oder Schwester korreliert. Die Erwartungen von Menstruationsproblemen werden oft sozial übertragen. Hier ist vor allem Aufklärung nötig. Von besonderer Bedeutung ist spätestens ab der Menarche eine ausreichende Hygiene mit täglichem Wechsel der Wäsche. ! Große Bedeutung muss bei der Beratung von jungen Mädchen auf eine sachgerechte Anogenitalhygiene gelegt werden. Die Analreinigung hat immer von vorne nach hinten zu erfolgen. Nach der Blasenentleerung (Miktion) soll der Schambereich (Vulvabereich) mit einem weichen Toilettenpapier trocken getupft werden. Das Tragen von kochbarer Baumwollunterwäsche ist sinnvoll.
Häufig richten sich Töchter bezüglich der Menstruationshygiene nach ihren Müttern. Leider verwenden auch heute noch viele erwachsene Frauen keine Tampons aus Angst vor Infektionen. Versichern sollte man allen Mädchen, dass ein Tampon problemlos ohne Verletzung des Hymen (Jungfernhäutchen) eingeführt werden kann, da dieses durch die Östrogenwirkung sehr geschmeidig ist (und sogar durch Geschlechtsverkehr nicht notwendigerweise verletzt wird).
Probleme mit der Körperlänge
Angst vor Schwangerschaft
»In der Klasse bin ich die Kleinste.« Erklärung: Die Körperlänge spielt bei Mädchen keine ganz so große Rolle wie bei Jungen. Kleinwuchs kann dennoch, auf Grund der Verbindung mit Unreifsein, welches gleichbedeutend ist mit einer geringeren sozialen Rangstellung, mit schlechterer Akzeptanz verbunden sein. Das Wissen um den Leidensdruck hilft bei allem objektiven »Nichtbestehen« eines Problems dennoch, mit der nötigen und zu fordernden Ernsthaftigkeit das Problem aufzunehmen, die Patientin gut zu beraten und ihr zu helfen. Anhand des Körperlängenverlaufs und der Zielgröße kann häufig eine positive Endgrößenperspektive vermittelt werden.
»Und dann ist es einfach passiert. Bin ich nun schwanger?« Erklärung: Trotz vielfach relativ guter Aufklärung existiert bei Mädchen (und auch bei Jungen) häufig eine recht abstruse Vorstellung über Empfängniszeitpunkt (Konzeptionszeitpunkt) und Verhütung (Kontrazeption) (. Abb. 1.2 und Abb. 1.3). Aufklärung wird meist nur im entwicklungsabhängigen Kontext verstanden und verarbeitet. Das führt z. B. dazu, dass bei frühreifen Mädchen das Wissen über Zyklus, Zeitpunkt des Eisprungs, Empfängnis (Konzeption) und Kontrazeption mangelhaft ist. Sie sind besonders durch Frühschwangerschaft gefährdet. Wiederholte und entwicklungsgemäß verständliche Aufklärung muss eine immer neue Aufgabe für die Eltern, den betreuenden Arzt und Pädagogen sein.
Gewichtsprobleme – Striae distensae (Brust, Oberschenkel)
»Ich traue mich deswegen gar nicht mehr ins Schwimmbad.« Erklärung: Bedingt durch die deutliche Zunahme der Körperfettmasse bei Mädchen gegenüber den Jungen in der Pubertät, die sich vorwiegend im Bereich des Beckens und der Oberschenkel abspielt (Gluteofemorales Fett = Energiereservoir für Stillzeiten!), entsteht gerade im ersten Drittel der Pubertät der Eindruck der übermäßigen Gewichtszunahme. Dies wird verstärkt, wenn der Pubertätswachstumsspurt noch nicht abgeschlossen ist. Zusätzlich erhält dieser Eindruck Nahrung durch das Frauenkörperbild in Medien und Werbung. Dies führt häufig zu einem, meist ungerechtfertigten, Diätverhalten. Eine gute Aufklärung, der Darstellung von Körperlängen- und Körpergewichtsverlauf sowie des BMI, kann hier sehr beruhigend wirken und realistische Perspektiven vermitteln. Striae distensae können im Pubertätsverlauf bei nicht adipösen Mädchen auftreten (verstärkt bei Adipositas). Eine kausale Therapie ist nicht möglich. Lokal durchblu-
Angst vor sexuell übertragbaren Erkrankungen
»Wie kann ich mich schützen?« Erklärung: Die Aids-Kampagne der BZgA hat bezüglich des Kondomgebrauchs gute Dienste geleistet. Viel zu wenig ist aber noch immer über die ebenfalls durch Geschlechtsverkehr übertragbare Hepatitis B bekannt. Heute weiß fast jeder Jugendliche, dass das Kondom hinreichend gut vor Geschlechtskrankheiten schützt. Das Kondom ist das wichtigste Verhütungsmittel zum Zeitpunkt des ersten Geschlechtsverkehrs (Kohabitarche; im Mittel bei Jungen und Mädchen zwischen dem 14.–15. Lebensjahr) und das gebräuchlichste Verhütungsmittel in diesem Pubertätsabschnitt. Notwendig sind Hinweise auf das Verfallsdatum und die Registriernummer sowie Informationen zum richtigen Gebrauch. Die Holländer sind zur Propagierung der »Double-Dutch«-Methode (Kondom und Pille) übergegangen.
1
13 1.4 · Pubertätsbedingte Veränderungen in Körpergewebszusammensetzung und Körperfunktion
. Abb. 1.2. Kenntnis vom Empfängniszeitpunkt
»Weiß die richtige Antwort« Trend 80
Mädchen 80 70
70
60
60
50
50 richtig falsch
40
30
20
20
10
10
0 1980
1994
1998
Angaben in %
richtig falsch
40
30
. Abb. 1.3. Gründe für Nicht-Verhütung beim »ersten Mal« (Auswahl)
Jungen
0 1980
2001
1994
1998
2001
BZgA/Repräsentativbefragung Köln 2001
Ergebnisse der Repräsentativbefragung aus 2001/BZgA Köln 2001 Kein Verhütungsmittel zur Hand Nicht getraute Kondome zu kaufen Nicht anzusprechen getraut Jungen Wollten aufpassen
Mädchen
Alkohol, Drogen im Spiel Wird schon nichts passieren Es kam zu spontan
0
20
40
60
80
Angaben in %
1.4
Pubertätsbedingte Veränderungen in Körpergewebszusammensetzung und Körperfunktion
Zahlen und Fakten (nach Joffe et al. 2003)
1.4.1 Allgemein 4 Ca. 33–60% der Knochenmasse des Erwachsenen werden während der Pubertät aufgebaut. 4 Der Knochenaufbau wird wesentlich beeinflusst durch die Sexualhormone, vorwiegend des Östrogens, zusätzlich aber auch Schilddrüsenhormon und Androgene. 4 Ca 20–25% der Endgröße werden durch den pubertären Wachstumsspurt bedingt. 4 Während des Wachstumsspurts wachsen die Extremitäten zuerst, gefolgt vom Rumpfwachstum. 4 Während der Pubertät werden ca. 130–150 kcal/Tag zusätzlich benötigt. Bei sportlicher Betätigung kann dies ansteigen bis auf zusätzliche 1000 kcal/Tag in Abhängigkeit der ausgeübten Sportart. 4 Jungen und Mädchen benötigen ca. 1 g/kgKG/Tag an Protein im Alter zwischen 11 und 14 Jahren. 4 Ca. 10 mg Eisen benötigen präpubertäre Mädchen und Jungen pro Tag. Während des pubertären Wachstumsspurts und
nach der Menarche steigt der Bedarf bei Mädchen um 5 mg/ Tag an. Jungen benötigen zusätzlich ca. 2 mg/Tag. 1.4.2 Mädchen 4 Ca. 25 cm Längenzunahme gewinnen Mädchen durch die Pubertät. 4 Körperfettmasse steigt von 16% auf 27% an. 4 Auf dem Höhepunkt des Wachstumsspurts verzeichnen Mädchen eine Gewichtszunahme von 8 kg/Jahr (95% Spanne 5,5–10,5 kg/Jahr). 4 Ca. 95% der Mädchen sind mit 16 Jahren ausgewachsen. 4 Schon vor dem Beginn des Brustwachstums beginnt die Vergrößerung von Uterus und Ovarien (Ultraschalluntersuchungen bei gesunden Mädchen). Uterusvolumen und Ovarvolumen nehmen während der Pubertät um das 5–7fache zu. 4 Die Corpus/Cervix Ratio verändert sich von 1,1 (+/–0,4)/1 beim Neugeborenen zu ca. 1,5–2/1 am Ende der Pubertät. 4 95% der Mädchen haben ihre Menarche zwischen 10,5– 14,5 Jahren (im Mittel bei 12,5 Jahren) zumeist (56%) im Tanner-Stadium 4. 4 Die Menarche tritt ein, wenn die Körperfettmasse ca. 17% erreicht. Zur regelmäßigen Regelblutung bedarf es einer Körperfettmasse von >22%.
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Kapitel 1 · Körperliche Entwicklung
4 Ca 50% der Zyklen im ersten Jahr nach der Menarche sind anovulatorisch. 1.4.3 Jungen 4 Die Körperkontur wird wesentlich durch die Zunahme an Muskelmasse bestimmt. Gegen Pubertätsende besteht die Körpermasse normalerweise nur zu 12% aus Fett, weniger als halb so viel wie bei Mädchen. 4 Auf dem Höhepunkt des Wachstumsspurts verzeichnen Jungen eine Gewichtszunahme von 9 kg/Jahr (95% Spanne 6–12,5 kg/Jahr). 4 Am Ende der Pubertät haben Jungen 50% mehr Knochenmasse aufgebaut als Mädchen. 4 Ca. 28 cm Längenzunahme gewinnen Jungen durch die Pubertät. 4 Ca. 95% der Jungen sind mit 18 Jahren ausgewachsen. 1.5
Markante Unterschiede beider Geschlechter
Der Unterschied in der Größenordnung der Wachstumsschübe erklärt zum größten Teil den Unterschied in der höheren Endgröße der Jungen gegenüber den Mädchen. Das Längenwachstum erfolgt bei beiden Geschlechtern nicht gleichmäßig. Zuerst betrifft der Wachstumsspurt die Gliedmaßen (Hände und Füße gefolgt von Armen und Beinen). Damit gehen die gewohnten Körperproportionen verloren. Es kommt, vor allem bei Jungen, zu einem vorübergehend schlacksigen Aussehen. Die Gestik wirkt entsprechend unbeholfen. Die von einigen Autoren postulierte vorübergehende motorische Koordinationsstörung betrifft vor allem Jungen (Patel et al.). Viele Jungen beklagen sich während dieser Phase über eine Abnahme der motorischen Leistungsfähigkeit, die jedoch einer großen Variabilität unterliegt. Durch die deutliche Zunahme der Muskelmasse im Tanner-Stadium 4 tritt spätestens ab diesem Zeitpunkt ein Ungleichgewicht der Geschlechter in sportlichen Wettkämpfen auf.
1.6
Säkulare Akzeleration
Die verfügbaren Daten beziehen sich nur auf die Menarche, da diese am augenfälligsten ist. Es bleibt daher offen, ob die übrigen pubertären Prozesse ebenfalls früher einsetzen. In Europa und den USA ist der Zeitpunkt der Menarche in den letzten 120 Jahren beständig gesunken. Im Mittel liegt er heute in Deutschland, wie in den meisten europäischen Ländern, bei 12,5 Jahren. Dabei reifen die Südeuropäerinnen etwas früher (12,5 Jahre) als die Nordeuropäerinnen (13,4 Jahre). Zur Einschätzung in der Praxis müssen daher retrospektiv erfasste Daten wie z. B. das aktuelle Menarchealter in Deutschland zur Beurteilung mit herangezogen werden. Hier wird von Largo und Prader noch 13,4 Jahre als durchschnittliches Alter angeben (7 Tab. 1.3), während aktuelle Daten von einem Menarchealter in Deutschland von 12,5 Jahren ausgehen. In Repräsentativerhebungen bei Jugendlichen in Deutschland fand Kluge (1998) für den Zeitraum von 1981 bis 1994 sogar einen Rückgang des mittleren Menarchealters um 1,3 Jahre von 13,5 auf 12,2 Jahre. Noch deutlicher fiel
dieser epochale Trend für das mittlere Alter des ersten Samenergusses (Ejakularche/Spermarche) bei Jungen aus, das sich zwischen 1981 und 1994 um 1,7 Jahre von 14,2 auf 12,5 Jahre verschob. Für diese Tendenz werden unterschiedliche Erklärungen diskutiert, darunter die Auffassung, dass durch eine Verbesserung der Ernäherungsbedingungen das kritische Körpergewicht für die Auslösung der Menstruation bzw. Ejakulation zu einem immer früheren Zeitpunkt der individuellen Entwicklung erreicht wird (Flammer et al.). Größere Unterschiede werden aus Vergleichen zwischen Mädchen aus unterschiedlichen ökonomischen Bedingungen gemeldet. In Indien beträgt beispielsweise der Menarchemittelwert reicher Inderinnen 12,8 Jahre und derjenigen armer Inderinnen 14,5 Jahre (Flammer et al.). Auch Abhängigkeiten von der Familiengröße (kinderreiche – kinderarme Familien) werden berichtet. Die generelle Ursache wird u. a. in der verbesserten Ernährungslage und der geringeren gesundheitlichen Belastung gesehen, die einen früheren Pubertätseintritt ermöglicht. Dabei ist anzunehmen, dass die reifungsbeschleunigenden Faktoren heute weitgehend ausgeschöpft sind. Auch genetische und ethnische Faktoren spielen eine Rolle. Im gleichen Zeitraum verlängerte sich die psychosoziale Entwicklungszeit, bedingt durch verlängerte Ausbildungszeiten, eine längere Phase der Abhängigkeit vom Elternhaus beträchtlich. Die reproduktive Kompetenz wird ca. 10 Jahre vor der sozialen Kompetenz erreicht. »10 Jahre in einem sexuell sehr provokativen Umfeld ist eine sehr lange Zeit, um sich nur mit kalten Duschen und extensivem Sport im Zaum zu halten.« (Hofmann et al. 1997). Es gibt keine verlässlichen Daten über den Zusammenhang von Akzeleration der körperlichen Entwicklung und einer frühzeitigeren geistigen Reifung.
1.7
Berechnung der Zielgröße
Kenntnis über die Körperhöhe der Eltern ist unbedingt erforderlich bei der Interpretation der Körperhöhe des Kindes. ! Mittlere Elterngröße +6 cm bei Jungen/–6 cm bei Mädchen = Zielgröße Die Körperhöhe wird manchmal auch in SDS (standardisierter Faktor zur Angabe der Körperhöhe) angegeben. Die Formel dazu lautet: SDS=(x–X) / SD (x = Körperhöhe in cm; X bzw. SD ist die mittlere Körperhöhe bzw Standardabweichung für das Geschlecht und Alter des Jugendlichen)
SDS bietet eine Vergleichsmöglichkeit zur Altersnorm. Ein Jugendlicher im Bereich der 97. Perzentile hat einen SDS von +2, im Bereich der 3. Perzentile von –2 und auf der 50. Perzentile von +/–0. Durch wiederholte Messungen in sinnvollem Abstand (in der Regel 0,5 Jahre) erhält man einen relativ genauen Wachstumskurvenverlauf. Wächst ein Jugendlicher entlang »seiner« Perzentile auf die Zielgröße zu, so erübrigt sich in der Regel weitere Diagnostik. Eine weitere Hilfe bietet die Berechnung der Wachstumsgeschwindigkeit. Als Intervall sollte in der Pubertät auch hierbei ein Zeitraum von 6 Monaten zwischen den Messungen vorgenommen werden.
15 Literatur
Cave Eine Größe unterhalb der 3. Perzentile kann Hinweis auf ein pathologisches Wachstum sein und bedarf dringend der weiteren Abklärung. Ebenso ist eine Wachstumsgeschwindigkeit unterhalb der 25. Perzentile auffallend und muss Grund für weitere Untersuchungen sein. Bei Wachstumshormonmangel kann eine Wachstumsgeschwindigkeit bis zur 25. Perzentile vorkommen.
Die Bestimmung des Knochenalters erfolgt durch Röntgenaufnahme der linken Hand. Nach der Greulich- und Pyle-Methode wird die Aufnahme mit Standards verglichen, die im Atlas von Greulich und Pyle abgebildet sind. Das Alter, das dem Standard im Atlas am nächsten kommt, ergibt das (ungefähre) Knochenalter des Kindes. Daneben gibt es noch die Methode nach TannerWhitehouse: Sie ist wesentlich komplexer gestaltet und beinhaltet eine Untersuchung des Reifegrades von 20 Knochen nach einem Punkteschema.
Literatur Dörr HG, Rascher W (2002) Praxisbuch Jugendmedizin. Urban & Fischer, München Flammer A, Alsaker FD (2002) Entwicklungspsychologie der Adoleszenz. Hans Huber, Bern Hofmann AD, Greydanus DE (Hrsg.) (1997) Adolescent Medicine. Third Edition. Appleton & Lange, Stamford Joffe A, Blythe MJ (Hrsg.) (2003) Handbook of Adolescent Medicine. State of the art reviews 14/2. Hanley & Belfus, Philadelphia Largo RH, Prader A (1983) pubertal development in swiss girls. Helv Pediatr Acta 38, 229–243 Largo RH, Prader A (1983) pubertal development in swiss boys. Helv Pediatr Acta 38, 211–228 Kluge N (1998) Sexualverhalten Jugendlicher heute. Ergebnisse einer repräsentativen Jugend- und Elternstudie über Verhalten und Einstellungen zur Sexualität. Juventa, Weinheim Marshall WA, Tanner JM (1969) Variations in pattern of pubertal changes in girls. Arch Dis Child 44, 291 Patel DR, Pratt HD, Greydanus DE (1998) Adolescent Growth, development, and psychosocial aspects of sports participation: an Overview. In: Greydanus DE, Patel DR, Luckstead EF (1998) Office Orthopedics and sports medicine. State of the art reviews 9/3. Hanley & Belfus, Philadelphia Wieringen JC van, Waffelbakker F, Verbrugge HP, DeHass JE (1965) Growth Diagrams. Wolter-Noordhoff, Groningen Wolfson AR, Carskadon MA (1998) Sleepschedules and daytime functioning in adolescents. Child Development 69, 875–887
n I ternetadressen http://www.willi-will-wachsen.de
1
2 Psychosoziale Entwicklung B. Stier, N. Weissenrieder
2 ))
»Früher oder später kommt jeder mal rein, in die Pubertät. Das sagen die Eltern dann mit einem vielsagenden Blick zu den Verwandten, wenn man nach einem Wutanfall aus dem Wohnzimmer gerannt ist: Jetzt ist es soweit, er/sie kommt in die Pubertät. Und nach dem Essen versucht die Mutter den Vater auf die nächsten 3–5 Jahre schonend vorzubereiten.« Zitiert aus der Jugendzeitung Zündstoff des JuZ-Butzbach, Ausgabe 2, S. 5
2.1
Entwicklungsaufgaben
In vielen Köpfen werden Jugendalter und Pubertät automatisch mit »Sturm- und Drangzeit« assoziiert. Dies soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass über 80% der Jugendlichen diese Zeit in relativer Ruhe erleben und erfolgreich abschließen. Beispiel Michael (12 Jahre) umschrieb seine Pubertät mit einem Traumerlebnis: »Manchmal träume ich, dass ich auf einer Rückbank von einem Auto sitze und es sitzt kein Fahrer im Auto und das Auto fährt schnell über eine Autobahn.«
Dieses Beispiel ist ein wunderbares Bild für Zwangsläufigkeit und Unentrinnbarkeit der pubertären Entwicklung, bei gleichzeitig deutlich eingeschränkter Beeinflussbarkeit durch den Pubertierenden selbst. Deutlich wird auch das Fortgerissenwerden durch die rasante Entwicklung, die sich während der Pubertät abspielt. Diese Entwicklung ist durch universal auftretende Eigenschaften gekennzeichnet: 4 Biologische Veränderungen 4 Kognitive (geistige) Veränderungen (Entwicklung fortgeschrittener kognitiver Fähigkeiten) 4 Emotionale Veränderungen (Selbstbild, Beziehungsaufbau) 4 Soziale Veränderungen (Übergang und Aufnahme neuer Rollen innerhalb der Gesellschaft) Sie treten in unterschiedlichen Phasen zu unterschiedlichen Zeiten auf und beeinflussen sich gegenseitig. Auch der Kontext ihres Auftretens ist individuell verschieden. Sie unterliegen, neben dem Einfluss des Geschlechts, soziokulturellen, familiären, sozialen (Peers!), ausbildungsbedingten sowie auch krankheitsbedingten (vor allem chronische Erkrankungen) Einflüssen. Die sichtbaren körperlichen Veränderungen haben einen Signalwert sowohl für die betroffenen Jugendlichen als auch für ihre Eltern und die Peergroup. Außerdem induzieren sie bestimmte Erwartungen. Die Dynamik dieser Veränderungen wird geprägt durch die Entwicklungsaufgaben (EA) im Jugendalter. Dieser Terminus (engl. developmental task) ist durch den US-amerikanischen Pädagogen Robert Havighurst 1948 etabliert worden. Aufgabe ist herauszufinden, welche EA für bestimmte Jugendliche wirklich
relevant sind. Dies hilft, diese Jugendlichen besser zu verstehen. Konzept der Entwicklungsaufgaben: 4 Es lenkt die Aufmerksamkeit auf den Umstand, dass der konkrete Verlauf der Entwicklung, insbesondere der Adoleszenz, u. a. eine Funktion sozialer und persönlicher Erwartungen und sozialer Institutionen ist. 4 Es weist darauf hin, dass die Entwicklung nicht automatisch abläuft, sondern teilweise geleistet werden muss. Jugendliche müssen Entwicklungsaufgaben erkennen, annehmen und aktiv bewältigen. Da eine Aufgabenlösung gelingen oder misslingen kann, ist Entwicklung nach diesem Verständnis abhängig von den vorausgehenden Entwicklungsleistungen (7 Tab. 2.1). Zwei Entwicklungsaufgaben stehen im Vordergrund: 1. Individualisierung: 4 Trennung von den Eltern 4 Aufbau einer Zukunftsperspektive 2. Identität: 4 Sexuelle Orientierung 4 Selbstständigkeit, Selbstsicherheit und Selbstkontrolle Die in diesem Zusammenhang gestellten Fragen lauten: 4 Wie bin ich als männliches oder weibliches Wesen in Beziehung zu anderen männlichen und weiblichen Wesen? 4 Wo ist mein Platz in der Gesellschaft, und was ist meine Aufgabe, mein Bereich? 4 Nach welchem Wertesystem soll ich mich ausrichten? In der westlichen Hemisphäre wird die Adoleszenz immer mehr zu einem nicht endenden Prozess mit zunehmend weniger Beziehung zur körperlichen Reifung, häufig sogar ohne klares Ende in einer sich zunehmend jugendlich gebenden Gesellschaft voller offener Optionen und unklarer Ziele. Dabei degenerieren die ehemals markanten Fixpunkte der Entwicklung (Konfirmation, Schulabschluss, Abschluss der Lehre etc.) oftmals zu kommerziellen Happenings. Entgegen häufiger Behauptung ist die Pubertät kein nur dem Menschen eigenes Entwicklungsstadium. Sie kommt ebenso bei Säugetieren und selbstredend bei Primaten vor. Die meisten Primaten erreichen die Pubertät im Alter von 4‒5 Jahren und ihre Geschlechtsreife mit 5‒10 Jahren. Die Bedeutung der Pubertät kann kurzgefasst damit umschrieben werden, dass in dieser Lebensphase das bis dahin Erlernte und Erfahrene auf seine Anwendbarkeit und Nützlichkeit für ein selbstständiges und eigenverantwortliches Dasein im Sinne der Artpflege und -erhaltung geprüft und gegebenenfalls manifestiert oder verworfen wird 7 Abschn. 2.3). Die lange Dauer der Kindheit bis hin zur Pubertät spiegelt den notwendigen Zeitraum wider, der erforderlich ist, um den Menschen größtmögliche Erfahrung, Kulturfertigkeiten und ein größtmögliches Wissen zu ermöglichen und ihm damit seine Vormachtstellung in der Artenhierarchie zu garantieren. Dabei gibt es mehr oder weniger starke ethnologische, soziologische und auch genetische Unterschiede bzgl. des Pubertätseintritts.
17 2.2 · Phasen der Adoleszenz
2.2
Phasen der Adoleszenz
Anders als die körperliche Reifung in der Pubertät lässt sich die psychosoziale Reifung nicht exakt zeitlich terminieren. Die drei Phasen der Adoleszenz (. Tab. 2.1) beschreiben sehr gut die zu leistenden Entwicklungsschritte. Sie lassen sich mit der biologischen Entwicklung in Beziehung setzen:
2
Diese Adoleszenzphasen sind nie scharf voneinander getrennt, sondern gehen fließend ineinander über. Dabei können einzelne Entwicklungsschritte vorauseilen (z. B. die körperliche Entwicklung der psychosozialen und geistigen Entwicklung), andere zurückbleiben. Auch ist es möglich, dass der Ablösungsprozess verspätet oder »nie« abgeschlossen wird oder nur einzelne Entwicklungsschritte nicht abgeschlossen werden, was u. U. zu
. Tab. 2.1. Drei Phasen der Adoleszenz. (Mod. nach Hofmann und Greydanus)
Frühe Adoleszenz
Mittlere Adoleszenz
Späte Adoleszenz
Altersbereich
Ca. 10–13 Jahre
Ca. 13–16 Jahre
Ca. 16–20 Jahre
Biologische Entwicklung
Entwicklung der sekundären Geschlechtsmerkmale, Wachstum und (beginnende) körperliche Veränderungen
Mehr oder weniger ausgeprägte sexuelle Geschlechtsmerkmale, beginnende Stabilisierung körperlicher Veränderungen, Abnahme des Wachstums
Körperliche und sexuelle Reifung abgeschlossen
Geistige Entwicklung
Konkret und egozentrisch orientiert
Abstraktes Denken nimmt zu, Projektionen in die Zukunft entwickeln sich, Zeit des größten Wandels
Abstraktes Denken etabliert, zukunftsausgerichtet, prozessuales Denken über längere Zeiträume
Psychosoziale Entwicklung
Eingenommen durch die körperlichen Veränderungen, Aufnahme eines neuen Körperbildes
Stabilisierung des neuen Körperbildes, langsame Inbesitznahme der neuen Fähigkeiten mit Zukunftsoptionen, Entwicklung einer Omnipotenz- und Unfehlbarkeitshaltung, Höhepunkt des Experimentierverhaltens, größte individuelle Bandbreite des Ausmaßes der Auseinandersetzung mit dem Umfeld
Emanzipation, Stabilisierung der intellektuellen und funktionalen Fähigkeiten, (beginnende) realistische Selbsteinschätzung, Grenzen setzen/Abgrenzung
Familie
Definieren von Abhängigkeit und Unabhängigkeit, (neue) Grenzziehung/Abgrenzung, keine größeren Unabhängigkeitskonflikte
Kampf um Unabhängigkeit, Höhepunkt der Auseinandersetzungen mit den Eltern, Reduktion des elterlichen Einflusses, zeitlich begrenztes elterliches »Unvermögen«, neues Rollenverhalten
Änderung der Kind-Eltern-Rolle in ein Rollenverständnis der Ebenbürtigkeit
Peergroup
Verstärkte Peerkontakte als Stütze gegenüber raschen Veränderungen, Vergleichen (abgleichen) mit Anderen, »Bin ich normal?«, Beziehungen zu Anderen im gleichen Entwicklungsstadium
Identitätsfindung als Stärkung des Selbstbildes, mit Blick auf Andere Übernahme von Verhaltenscodes während des emanzipatorischen Prozesses
Zunehmend individuelle Freundschaften, stärkere individuelle Bindungen
Sexualität
Selbsterforschung und -beurteilung, begrenzte Außenkontakte und Intimitäten, Intensivierung der Beziehungen zum gleichen Geschlecht
Mehr oder weniger zahlreiche Beziehungen meist zunehmend zum anderen Geschlecht, experimentierendes und exploratives Verhalten, Austesten eigener Attraktivität und Werte, Romantisieren
Aufnahme stabiler intimer Beziehungen, soziales Denken, Abkehr vom Narzissmus, Zukunftspläne, Ende des Experimentierverhaltens, Zunahme realistischer Einschätzung eigener Möglichkeiten
Medienverhalten
Suche nach Rollenmodellen (anders als die Eltern), Idealisierung, Sammeln von Informationen, neuen Wertevorstellungen, Verhaltensweisen
Physische Attraktivität und Popularität zählen mehr als Charakter und »innere Werte«, Ausprobieren neuer Rollenbilder, Experimentieren mit Vorbildern und Verhaltensweisen
Relativieren von medialen Vorbildern, zunehmend kritische Einstellung, Abstraktion, zunehmende Dominanz der eigenen Vorstellungen, größte individuelle Bandbreite des Ausmaßes der Auseinandersetzung mit dem Umfeld
18
2
Kapitel 2 · Psychosoziale Entwicklung
einem Problemverhalten führt. Zu beachten ist auch, dass die Alterseinteilung der einzelnen Phasen durchaus flexibel zu handhaben ist. Entscheidend ist das individuelle Entwicklungsstadium. Die beginnende Pubertätsentwicklung ist gleichzeitig eine Phase der Destabilisierung, auch familiäre Bindungen betreffend. Wenn Autonomie überhaupt möglich werden soll, ist Ablösung von der Familie zugunsten Gleichaltriger oder Gleichgesinnter gefordert, um eine kritische Betrachtung und ein Überdenken sowie selbständiges Denken und Handeln möglich zu machen. Neue Strukturen im sozialen Umfeld sind dafür Voraussetzung. Logischerweise gibt es deutliche Unterschiede in sozialen Regeln und Zusammenhängen zwischen Gleichaltrigen und Erwachsenen. Für die kritische, aber notwendige Auseinandersetzung mit familiären Strukturen ist die Konformität Jugendlicher mit anderen Gruppenmitgliedern wichtige Voraussetzung und Basis für die Aufnahme in eine Gruppe. Die Vielfältigkeit der Jugendgruppen (von Ravern bis HipHoppern) spiegelt die ganze Palette jugendlicher Entwicklungsschritte in Richtung Autonomie wider. Primär ist das Bedürfnis nach Konformität und Uniformität, oft im wahrsten Sinne des Wortes. Ohne Konformität auf der einen gibt es keine oder nur eine erschwerte Veränderung auf der anderen, der familiären Seite. Zusätzlich macht »Gleichsein« stark. Ein Abweichen von der Konformität und der sog. Norm wird zum Problem. Dabei spielt die körperliche Entwicklung eine große Rolle in Bezug auf Gruppenakzeptanz und Hierarchiebildung.
2.3
Hirnorganische Veränderungen
»Nach meiner Überzeugung kann man heute mit Sicherheit davon ausgehen, dass im Stadium der Pubertät eine umfassende Umstrukturierung der Synapsen stattfindet. Der Denkapparat wird gewissermaßen schlank und rank.« (Judith L. Rapoport ‒ NIH, zit. n. Strauch 2003) In den letzten Jahren rückt das »pubertierende« Gehirn immer mehr ins Zentrum des Interesses. Während man noch bis vor kurzem der Ansicht war, dass die Hirnreifung im Wesentlichen in der Kindheit abgeschlossen sein wird, reift inzwischen die durch neuere Forschungsergebnisse gestützte Erkenntnis, dass die graue Hirnsubstanz in der Pubertät einen zweiten entscheidenden Wachstums- und Umstrukturierungsschub erfährt. Studien von Jay Giedd und seinen Mitarbeitern vom NIH (National Institut of Health) waren dabei bahnbrechend. Sie entdeckten bei ihren Studien fortgesetztes Wachstum in Hirnarealen pubertierender Jugendlicher z. B. in: 4 Scheitellappen: zuständig für Logik und räumliches Vorstellungsvermögen 4 Schläfenlappen: zuständig für die Sprachentwicklung 4 Stirnlappen (»Headquarter«): zuständig für Planung, Impulskontrolle, übergeordnetes Kontrollzentrum Der Stirnlappen als oberste »Kontrollinstanz« reift dabei als Letztes. Inzwischen sind weitere Regionen bekannt, die einem deutlichen Umbauprozess in der Pubertät unterliegen. So z. B.: 4 Corpus callosum: verbindet linke mit rechter Hirnhälfte und ist involviert in Problemlösung und Kreativität, wird dicker und sorgt für zunehmend schnelleren Datentransfer
4 Amygdala: Instinktverhalten, Zentrum stark emotionaler Gefühle, »Angst- und Wutzentrum«, zuständig für die Deutung und Einordnung von Mimik. Wird bei Erwachsenen vom Frontalhirn kontrolliert 4 Hippocampus und Gyrus cinguli: Impulsivität und Stimmungsschwankungen, Kurzzeitgedächtnis – hier werden neue Erinnerungen eingeordnet 4 Kleinhirn: Zwischenmenschliche Beziehungen und Sozialverhalten, Körperkoordination, es reguliert gleichzeitig Denkprozesse (Feinabstimmung?) und ist sehr »umwelt-sensibel«. Das Kleinhirn unterstützt »höhere« Lern- und Denkprozesse. Die Nervenzelldichte nimmt in der Adoleszenz deutlich zu. Es wächst über das 20. Lebensjahr hinaus 4 Basalganglien: »Sekretariat« des Frontalhirns. Sie helfen, Informationen nach Bedeutung zu filtern, und reifen zur gleichen Zeit wie das Frontalhirn. Außerdem sind sie mit zuständig für Grob- und Feinmotorik; wichtig also für Fähigkeiten in Sport und Musik Nach einem anfänglichen Wachstumsschub der grauen Hirnsubstanz zum Zeitpunkt der Pubertät erfährt das Gehirn einen Schrumpfungsprozess, die Spezialisierung auf Notwendiges und Brauchbares. Dass dies nicht ohne sichtbare und spürbare Probleme abläuft, ist verständlich. Zwei Prinzipien stehen bei diesen Veränderungen im Vordergrund, die sich so beschreiben lassen: 4 Use it or loose it (auch als neuraler Darwinismus bezeichnet): Die Synapsen unterliegen sozusagen dem Praxistest: nur intensiv genutzte Kontakte bleiben erhalten und werden gefestigt. 4 Carpe diem: Entscheidend ist das Angebot (und auch die Nachfrage). Die Pubertätsphase bietet viele (vielleicht letzte) Chancen, Ressourcen zu stabilisieren. Viele Problempunkte, wie sie spezifisch in der pubertären Entwicklung auftreten, lassen sich neuerdings hierdurch gut erklären. Jay Giedd formulierte dies so: »Sie haben die Leidenschaft und die Kraft, aber die Bremse funktioniert noch nicht richtig.« So wurde z. B. durch verschiedene Studien nachgewiesen, dass Pubertierende emotionale Signale und Mimik fehldeuten (»Der Lehrer hasst mich«), was auf Umbauprozesse in den Amygdala zurückzuführen sein kann. Dieser Hirnbereich wird normalerweise vom Frontalhirn kontrolliert, das aber bei Pubertierenden zeitweilig durch Umbauprozesse anderweitig gebunden ist. Auch die plötzlich wechselnden Stimmungsschwankungen, von denen sie geplagt sind (himmelhoch jauchzend und im nächsten Moment zu Tode betrübt), lassen sich jetzt wesentlich besser erklären. Gleichzeitig scheint die Reizschwelle bei Pubertierenden deutlich heraufgesetzt zu sein, was mit dem veränderten Dopaminstoffwechsel (ein neurogener Botenstoff) zusammenhängt. Da das Frontalhirn noch nicht ausgereift ist (dies erst als letzter Schritt erfolgt), funktionieren Kurzzeitgedächtnis, Hemmungen und Impulskontrolle längere Zeit nicht optimal, was jeder bestätigen wird, der Pubertierenden mehr als eine Aufgabe zur gleichen Zeit erteilt. Bis zum ca. 12. Lebensjahr wächst das Gehirn stärker in den hinteren Regionen, die eine große Rolle beim räumlichen Vorstellungsvermögen und der Entwicklung sprachlicher Fähigkeiten spielen. Ab ca. 12 Jahren nimmt die Fähigkeit
19 2.2 · Phasen der Adoleszenz
zum Erlernen neuer Sprachen deutlich ab. Der Hirnreifungsprozess lässt sich in drei Stufen darstellen: 1. Überschuss: Aus Neuronen wuchern Fortsätze (Dendriten, Axone). Die Hirnrinde schwillt an. 2. Praxistest: Nur intensiv genutzte Kontakte bleiben erhalten. Die graue Hirnsubstanz schwindet. 3. Optimierung: Hüllen aus fetthaltigem Myelin steigern die Signalübertragung der Fasern 100fach und isolieren gleichzeitig. Das führt zur Stabilisierung der Denkbahnen. Gleichzeitig verliert das Gehirn aber auch an Flexibilität. Nicht die Menge grauer Zellen macht das Gehirn erwachsen, sondern die Qualität der Verknüpfung. Es kommt darauf an, was man bekommt und was man daraus macht! Wie gefährlich z. B. legaler und illegaler Drogengebrauch in dieser Umbauphase des Gehirns ist, lässt sich leicht ermessen. Nun sind aber Auseinandersetzung, Experiment und Provokation die Werkzeuge, um die Brauchbarkeit von bis dahin erlangten Erfahrungen zu testen. Zudem müssen Fertigkeiten entwickelt werden, um mit den Risiken und Gefahren, die eine Gesellschaft bietet, umgehen zu lernen. Dies gleicht einer Gratwanderung, bei der Pubertierende der verständnisvollen, geduldigen und von Liebe geprägten Begleitung durch die Eltern, aber auch des Rückhaltes durch die »Leidensgenossinnen und -genossen« (Peers) bedürfen. Die Begleitung durch die Eltern sollte diplomatisch, möglichst nicht konfrontativ, aber eindeutig und klar gestaltet sein. Grundvoraussetzungen für eine gesunde Hirnreifung sind: 4 Gesunde Ernährung 4 Körperliche Betätigung 4 Herausforderungen 4 Liebe Auf dem Weg zur Individualisierung erfolgt so in der Pubertät die dafür notwendige Spezialisierung über: 4 Sichtung/Testung 4 Differenziertes Wachstum 4 Orientierung 4 Ausdifferenzierung Neu erworbene Fähigkeiten stehen am Ende dieses Prozesses, z. B. abstraktes Denken, Emphase, Leidenschaft und Überschwang nach dem Motto: »Auf zu neuen Ufern«. Die Pubertät stellt eine entscheidende Entwicklungsphase dar, in der über die Programmierung und Fixierung des Gehirns entschieden wird. »Es bedeutet, dass Jugendliche z. T. direkt die Strukturierung ihres Gehirns beeinflussen können. Die Vernetzung und damit Nutzung des Gehirns in der Adoleszenz hängt sehr stark von den Tätigkeiten ab, mit denen sich Jugendliche beschäftigen, sei das nun Sport, Musik oder geistige Aktivitäten.« (Giedd, übers. durch Autor)
2.4
Normabweichungen
Frühreife Mädchen und spätentwickelnde Jungen sind eine Herausforderung für jeden Betreuer, da sie sehr leicht Probleme unterschiedlichster Art bereiten können, obwohl beide sich durchaus innerhalb der Normgrenzen befinden (+/–2 SD ‒ Standardabweichung für Geschlecht und Alter). Bei frühreifen Mädchen findet sich häufig ein Leistungsabfall in der Schule und die Auf-
2
nahme von Risikoverhaltensweisen früher als bei Altersgenossinnen. Auch die Aufnahme sexueller Aktivität tritt früher ein, bei gleichzeitig schlechterem kontrazeptivem Wissen und Schutz. Hingegen scheint kein Einfluss in Bezug auf die Anzahl der Freunde, auf die wahrgenommene Akzeptanz oder auf die tatsächliche Beliebtheit bzw. Unbeliebtheit zu bestehen (Flammer et al. 2002). Frühreife Jungen und Mädchen scheinen mehr unter somatischen Beschwerden zu leiden. Sie beschäftigen sich auch intensiver mit ihrem Körper. Sicherlich spielt hierbei auch die körperliche Pubertätsreifung eine Rolle, die an sich schon zu Gelenk-, Muskel- und Bauchschmerzen führt. Diese Ergebnisse sind möglicherweise durch den Vergleich einer Gruppe frühreifer Jugendlicher mit der altersentsprechenden Normgruppe ohne Berücksichtigung des Pubertätsstadiums zustande gekommen. Cave Körperliche Frühreife erhöht bei Mädchen die Wahrscheinlichkeit der Entwicklung von Essstörungen.
Frühreife Mädchen zeigen in mehreren Studien eine Umkehr im späteren Entwicklungsverlauf. Sie entwickeln im Erwachsenenalter ein höheres Maß an sozialer Kompetenz und zeigen eine stärkere situationsangemessene Flexibilität im Verhalten (Moore u. Rosenthal 1993). Frühreife Jungen besitzen einen höheren Status, sind sportlich erfolgreicher und werden eher mit Verantwortung betraut als ihre Altersgenossen. Insgesamt machen sie soziale Erfahrungen, die das Selbstwertgefühl stärken. Allerdings verliert sich die selbstwertfördernde Bedeutung früher sexueller Reifung bei Jungen nicht nur, sondern kehrt sich im weiteren Verlauf sogar um. Die enge Identifikation mit einem stereotypen männlichen Rollenbild, die den Statusgewinn im Jugendalter ausmacht, steht im Erwachsenenalter der Ausbildung einer flexibleren Geschlechterrollenorientierung entgegen (Moore u. Rosenthal 1993). Spätreife Mädchen zeigen keine signifikanten Unterschiede im Hinblick auf Selbstwert, depressive Verstimmungen, problematisches Essverhalten und psychosomatische Probleme. Der Substanzgebrauch scheint häufiger als in der »Normal«-Gruppe zu sein (Weichhold u. Silbereisen 1999). Spätreife Jungen gehen weniger aus. Bei Vorliegen eines Substanzgebrauchs ist dieser stärker als in der »Normal«-Gruppe. Später sind sie beruflich erfolgreicher und kompetenter, kreativer, sensibler und toleranter, haben allerdings häufig ein negatives Selbstkonzept und höhere Neurosewerte in entsprechenden Tests (u. a. Kracke 1993). Zufriedenheit mit dem eigenen Körper steht bei Jungen meist in Zusammenhang mit Körpergröße und Muskelmasse. Bei Mädchen ist die Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper häufig eine Unzufriedenheit mit Gewicht oder Aussehen. Zufriedenheit bzw. Unzufriedenheit kann vom sozialen Kontext stark beeinflusst werden, so z. B. durch den Klassen- und Schulgeist (Petersen 1985). Das eigene Erleben der Pubertät ist durch große individuelle Unterschiede geprägt. Die einen können die körperlichen Veränderungen kaum erwarten, die anderen begegnen ihnen mit äußerstem Misstrauen. Vieles hängt dabei von der Reaktion der Umwelt ab. Ganz deutlich wird dies im Erleben der Menarche, das sehr stark dem positiven oder negativen mütterlichen Einfluss unterliegt. Bei den Jungen hingegen wird der erste Samen-
20
2
Kapitel 2 · Psychosoziale Entwicklung
erguss (Ejakularche/Spermarche) meist als unangenehm erlebt. Es stellt sich die Frage, ob mangelnde Aufklärung durch die Väter hierbei eine Rolle spielt. Das Verständnis, in welchem Stadium sich der individuelle Jugendliche befindet, ist Grundvoraussetzung für entwicklungsgemäße Unterstützung und Hilfe. Es zeigt der betreuenden Person auch, wie gut oder wie kritisch die »Reise durch die Adoleszenz« verläuft. Individuelle Verschiebungen von Entwicklungsschritten in die ein oder andere Richtung sind dabei eher Regel als Ausnahme. Dies erfordert die Fokussierung auf alle Teilbereiche der einzelnen Entwicklungsstadien.
2.5
Problempunkte und ihre Beziehung zum pubertären Entwicklungsstadium
Folgende Hinweise sind als Beispiele gedacht und sollen zeigen, wie wichtig es ist, Probleme der Adoleszenz dem richtigen Entwicklungsstadium zuzuordnen: 4 In der frühen Adoleszenz ist die Ähnlichkeit mit Gleichaltrigen wichtiger als entwicklungsbedingte körperliche Vorteile. 4 Gleichgeschlechtliche Beziehungen sind in der frühen Adoleszenz nicht selten, in der späten Adoleszenz die Ausnahme. 4 Der Gebrauch von legalen und illegalen Drogen findet in der Regel im Rahmen des »normalen« Probierverhaltens und Experimentierverhaltens während der mittleren Adoleszenzphase statt. In der späten Adoleszenzphase hat dies mehr mit Manifestierung von Verhaltensweisen zu tun. 4 Redet man von Pubertät als Problemzeit, so meint dies in der Regel immer die mittlere Adoleszenz. In der frühen Adoleszenz ist die familiäre Bindung und ihr Wertesystem noch relativ ungestört und in der späten Adoleszenz aufgrund der neu etablierten Kommunikationsebene konfliktärmer. 4 Die Betreuung chronisch erkrankter Jugendlicher macht vor allem in der mittleren Adoleszenz größere Probleme, da, bedingt durch den Ablöseprozess und der Hinwendung zur Gleichaltrigengruppe, die Einflussnahme deutlich reduziert wird und eine neue »Normenwelt« existiert. 4 Probleme mit dem eigenen Körper, der Früh- oder Spätentwicklung machen hauptsächlich in der frühen und auch noch in der mittleren Adoleszenz Beschwerden. Eine Vorbereitung auf die einzelnen Entwicklungsschritte und körperlichen Veränderungen hilft, Ängste abzubauen und fördert ein positives Erleben. 4 Die sexuelle Attraktivität, das – häufig medial normgeleitete – Rollenbild spielt vor allem in der mittleren Adoleszenz eine Rolle. Hier wird auch am stärksten damit experimentiert. 4 Zukunftsweisendes Handeln, Beurteilung der eigenen Handlung auch für die Zukunft spielt erst in der späten Adoleszenz eine Rolle. Hierzu gehört eine relativ gefestigte, d. h. konsolidierte Persönlichkeit. Dies ist vor allem für das Gespräch über Risikoverhalten bedeutsam, da in der mittleren Adoleszenz per se mit verminderter Einsichtsfähigkeit gerechnet werden muss. Zu Recht hat der Gesetzgeber zwischen dem 14.‒16. Lebensjahr eine Rechtssituation formuliert, die sehr stark individueller Beurteilung unterliegt. 4 Der überwiegende Teil der Studien zum Jugendalter berücksichtigt weder die Pubertätsstadien noch die Adoleszenzphasen und ist daher wenig valide bezüglich der Datenerhebung. Meist herrscht nur eine simple Alterseinteilung vor.
Literatur Flammer A, Alsaker FD (2002) Entwicklungspsychologie der Adoleszenz. Hans Huber, Bern Giedd JN et al. (1999) Brain Development during childhood and adolescence: A longitudinal MRI study. Nature Neuroscience 2:10, S. 861– 863 Havighurst RJ (1948) Developmental tasks and education. Chicago. University of Chicago Press, Chicago Hofmann AD, Greydanus DE (Hrsg.) (1997) Adolescent Medicine. Third Edition. Appleton & Lange Kracke B (1993) Pubertät und Problemverhalten bei Jungen. Beltz, Weinheim Moore SM, Rosenthal DA (1993) Sexuality in adolescence. Routledge, London Petersen AC (1985) Pubertal development as a cause of disturbance: Myths, realities and unanswered questions. Genetic, Social and General Psychology Monographs, 11: 205–232 Strauch B (2003) Warum sie so seltsam sind. Gehirnentwicklung bei Teenagern. Berlin Verlag, Berlin Weichhold K, Silbereisen RK (1999) Biopsychosoziale Mechanismen der Entwicklung von Fehlanpassung bei Mädchen in der Pubertät und Adoleszenz. Projektbericht, Friedrich-Schiller-Universität Jena
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3
3 Identität und Körperbild: Bedeutung und Einfluss der Kategorie Geschlecht G. Mühlen Achs )) Auch die medizinische Forschung bezieht sich häufig allgemein »auf den Menschen«, ohne die vielfältigen Unterschiede zwischen den Geschlechtern wahrzunehmen oder gar systematisch zu berücksichtigen. Untersuchungen werden oft nur an einem – meist dem männlichen – Geschlecht durchgeführt, ihre Ergebnisse aber auf beide Geschlechter generalisiert. Dieser Androzentrismus wirkt sich nicht zuletzt auf die Behandlung von Frauen und Männern im medizinischen und therapeutischen Kontext in durchaus negativer Weise aus.
folge sind sogar objektiv untergewichtige Mädchen dazu bereit, gewichtsreduzierende Diäten einzuhalten oder ganz auf Essen zu verzichten: 19% der Mädchen (gegenüber 16% der Jungen) halten eine entsprechende Diät ein, ein Viertel der 15-jährigen Mädchen (gegenüber ein Fünftel der gleichaltrigen Jungen) essen kein Frühstück. ! In diesem Alter beeinträchtigen solche Essgewohnheiten die Gesundheit und die (schulische) Leistungsfähigkeit und können schwerwiegende physische, psychische und soziale Auswirkungen haben.
3.2 3.1
Identität im gesellschaftlichen System der Zweigeschlechtlichkeit
Gesundheit und Geschlecht
Wie groß die Bedeutung der Kategorie Geschlecht tatsächlich ist, zeigen die Ergebnisse des umfangreichen deutschen Jugendgesundheitssurveys (u. a. Hurrelmann 2003). Diese repräsentative Untersuchung deutscher Mädchen und Jungen im Alter zwischen 11 und 15 Jahren brachte gravierende Unterschiede hinsichtlich der körperlichen, psychischen und sozialen Gesundheit, des Gesundheitsempfindens, des Gesundheits- und Freizeitverhaltens und nicht zuletzt des Ernährungsverhaltens und Körperbewusstseins männlicher und weiblicher Jugendlicher an den Tag. So leiden beispielsweise 15-jährige Mädchen doppelt so oft wie gleichaltrige Jungen unter depressiven und psychosomatischen Störungen und beurteilen ihren Gesundheitszustand negativer als Jungen; Jungen wiederum entwickeln häufiger externalisierende (hyperkinetische und dissoziale) Störungen als Mädchen, fühlen sich subjektiv aber deutlich wohler als diese. Jungen in dieser Altersgruppe trinken häufiger regelmäßig Alkohol als Mädchen (37% gegenüber 24,6%; beim traditionellen »Männergetränk« Bier sind es gar 33,8% gegenüber 18,8%); Jungen rauchen mehr Cannabis als Mädchen, Mädchen rauchen mehr Zigaretten als Jungen. Jungen konsumieren mehr Medien als Mädchen, sind aber dennoch körperlich aktiver als jene. Ihre stärkere Neigung zu riskantem, gesundheitsschädigendem Verhalten wächst mit zunehmendem Alter. Geradezu dramatische Unterschiede zeigten sich hinsichtlich des Körperbewusstseins und Ernährungsverhaltens der Jugendlichen. Jungen sind wesentlich häufiger übergewichtig als Mädchen, Mädchen sind wesentlich häufiger untergewichtig als Jungen. Dennoch sind Mädchen mit ihrem Gewicht deutlich unzufriedener als Jungen. Beinahe die Hälfte der Mädchen ‒ sogar die objektiv untergewichtigen ‒ hält sich für zu dick. Im Gegensatz zu den untergewichtigen Jungen, die sich für ungesünder halten als normalgewichtige, halten Mädchen sich für umso gesünder, je dünner sie sind. Je weniger sie wiegen, desto höher ist ihr Selbstwertgefühl und desto seltener berichten sie über psychosomatische Beschwerden. Dieser lineare Zusammenhang wird als Auswirkung des gängigen Schlankheitsideals interpretiert. Demzu-
Persönliche Identität ist ein Konstrukt, das jedes Individuum in einem aktiven und lebenslangen Prozess der »Identitätsarbeit« (Keupp u. Höfer 1997) selbst herstellt. Geschlecht ist ein zentraler Aspekt dieses Konstrukts. Die konkrete Bedeutung von »Männlichkeit« und »Weiblichkeit« ist jedoch nicht einfach »naturgegeben«, sondern wird in vielfältiger Weise von kulturellen Vorgaben, von gesellschaftlichen Vorstellungen und Erwartungen (von Gender) beeinflusst, die uns praktisch von Geburt an zur Identifikation angeboten werden. Die individuelle Geschlechtsidentität ist letztlich das Ergebnis der Identifikation mit diesen spezifischen Erwartungen und Normen und ihrer Verinnerlichung. Die meisten der augenfälligen Unterschiede im Verhalten und in der Psychologie der Geschlechter entwickeln sich in diesem Prozess der Vergeschlechtlichung bzw. Genderisierung. Die immer noch (bzw. heute wieder heftiger) umstrittene Frage nach dem Anteil von Natur oder Kultur im Prozess der Vergeschlechtlichung von Individuen ist tatsächlich weit weniger bedeutsam als die nach seinen konkreten Folgen, die leider noch viel zu selten gestellt wird. Dies ist umso bedauerlicher, als Kenntnisse über diese Konstruktionsprozesse in der Identitätsbildung geradezu unabdingbar sind, um die zahlreichen geschlechtsbezogenen Probleme von Menschen wahrnehmen und richtig einordnen zu können, um letztlich effektive Hilfe und sinnvolle Unterstützung anbieten zu können. Geschlecht ist etwas, was wir tun! Diese griffige Formulierung bringt den Standpunkt der modernen sozialwissenschaftlichen Geschlechterforschung auf den Punkt. In unserer Kultur wird beispielsweise von einem männlichen Kind eher erwartet, dass es kräftig und stark, mutig und abenteuerlustig, emotional robust, unabhängig und durchsetzungsfähig wird und sich auch angemessen aggressiv verhalten kann. Von weiblichen Kindern wird hingegen eher erwartet, dass sie hübsch, zierlich und schlank, eher ängstlich als wagemutig, zurückhaltend, deutlich emotionaler als Jungen und vor allem beziehungsorientiert sind bzw. werden. Verhalten, das dem zuge-
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Kapitel 3 · Identität und Körperbild: Bedeutung und Einfluss der Kategorie Geschlecht
wiesenen Geschlecht und den damit verbundenen Erwartungen entspricht, wird von der Umgebung positiv verstärkt ‒ durch Lob, Bewunderung, Anerkennung. Ein kleiner, dünner, zarter, ängstlicher, emotionaler und beziehungsorientierter Junge weicht ebenso wie ein kräftiges, starkes, robustes, aggressives und emotional unabhängiges Mädchen von dieser Erwartungsnorm ab. Mädchen, die (zu) »maskulin« und vielmehr noch Jungen, die (zu) »feminin« sind, geraten durch vielfältige negative Reaktionen, Missbilligung und entsprechende Korrekturmaßnahmen ihrer Umgebung ‒ nicht zuletzt seitens der als besonders wichtig und einflussreich erachteten Peers, der Gleichaltrigen ‒ unter enormen psychischen Druck, der sich sowohl in psychischen wie physischen Symptomen niederschlagen kann. Die Integration des zugewiesenen Genders in die persönliche Identität gelingt also keineswegs immer in der erwarteten Weise. Manche Kinder oder Jugendliche verweigern nur die Übernahme bestimmter Genderaspekte, manche lehnen es sogar zur Gänze ab und identifizieren sich mit dem entgegengesetzten Gender. Als Transsexuelle bzw. Transgender-Persönlichkeiten werden sie zu gesellschaftlichen Außenseitern, sozial ausgegrenzt und pathologisiert. Unter dem enormen sozialen und kulturellen Druck identifizieren sich jedoch die meisten mit der zugewiesenen Kategorie und bemühen sich um ein Verhalten, das keine Zweifel an ihrer Geschlechtsidentität aufkommen lässt. Aber auch dieser ganz »normale« Genderisierungsprozess kann sich durchaus negativ auf das Individuum und seine Entwicklung auswirken. Die spektakulären Fälle misslungener Vergeschlechtlichungen ‒ die Transsexuellen bzw. Transgender-Persönlichkeiten, die zunehmend ins Rampenlicht gestellt werden ‒ sind sozusagen nur die Spitze des Eisbergs. Wesentlich zahlreicher und damit gewissermaßen auch gesellschaftlich bedeutsamer sind Problematiken, die im Prozess der erfolgreichen Genderisierung entstehen. Die weibliche Entwicklung ist im Hinblick auf solche Faktoren mittlerweile recht gut erforscht (vgl. Kolip 1997), während die Untersuchung von Genderisierungsauswirkungen bei Jungen leider noch in den Kinderschuhen steckt.
3.3
Der Körper als kulturelles Zeichen
Der Körper gewinnt als primäres Selbstdarstellungsmedium immer mehr an Bedeutung. Die für unser soziales Leben so bedeutende Geschlechtsidentität wird nicht durch biologische Geschlechtsmerkmale evident, sondern durch kulturelle Zeichen, die Genderinformationen transportieren ‒ z. B. die Kleidung, die Frisur, die Formung des Körpers und nicht zuletzt die Körpersprache. Die kulturellen Erwartungen, die verinnerlicht und in die Körper eingeschrieben wurden, können durch die spezifische Sprache des Körpers auf eine scheinbar vollkommen natürliche Weise zum Ausdruck gebracht werden. Alle Aspekte seiner Erscheinung, von der reinen Physis (der Körperform, Bemuskelung oder Körperbehaarung) über das Blickverhalten, die Mimik und Gestik bis hin zum räumlichen Verhalten, der Bekleidung und der äußeren Aufmachung (Styling) können dazu benutzt werden, Gender zu signalisieren (. Abb. 3.1 und 3.2). Männlichkeit wird z. B. durch stabiles, raumgreifendes, dominantes und eher abgrenzendes Verhalten zum Ausdruck gebracht, das Selbstbewusstsein und durchaus auch Aggressivität signalisiert. Weiblichkeit hingegen äußert sich in labilen, in sich verschlungenen, schmalen und räumlich anspruchslosen Haltungen und im Schieflegen des Kopfes, was Unsicherheit oder Unterwerfung
signalisiert, sowie in einer stark emotionalen Mimik (Für eine umfassendere und genauere Analyse der jeweiligen Bedeutungen einzelner körperlicher Parameter bzw. bestimmter Verhaltensweisen, die in der gebotenen Kürze hier nicht geleistet werden kann (vgl. Mühlen Achs 2003). Vorbilder für eine gendergerechte Selbstdarstellung und entsprechendes Verhalten liefern zunehmend die visuellen Massenmedien (7 Kap. 8). Sie prägen die Vorstellungen von heterosexueller Attraktivität und bewirken eine Verschiebung des Gewichts auf Äußerlichkeiten, auf die Oberfläche. Ihre Genderbotschaften wirken nicht zuletzt dadurch, dass sie in der Regel nicht bewusst wahrgenommen und daher auch nicht kritisch reflektiert werden können, denn in der rein bildhaften Wahrnehmung wird der kritische Verstand umgangen. Bilder zielen mit ihrer präsentativen Symbolik unmittelbar und unterschwellig auf die Emotionen ab (Mühlen Achs 1998, 35‒38). Aufgrund dieser besonderen Qualität entfalten sie insbesondere bei Menschen in kritischen Phasen der Identitätsentwicklung eine enorme Wirkung, die sich nicht zuletzt in einem durchaus unterschiedlichen Verhältnis zum eigenen Körper und einem unterschiedlichen Umgang mit ihm niederschlägt ‒ kurz gesagt in unterschiedlichen »somatischen Kultur« der Geschlechter (vgl. Kolip 1997).
3.4
Die Macht der Ideale
Bei Jungen verstärken die massenhaft angebotenen Bilder vom »harten«, gefühllosen action man, vom einsamen, aber unbeugsamen Weltenerretter und vom Superhelden mit unmenschlichen Körperkräften die Bereitschaft, die damit verknüpften traditionellen Männlichkeitsvorstellungen zu übernehmen, d. h. sich mit Machtstreben, Streben nach Autonomie, mit Leistungsbereitschaft, Durchsetzungsfähigkeit, Selbstkontrolle und emotionaler Unabhängigkeit zu identifizieren. Dies erfordert von ihnen zugleich aber eine starke Entemotionalisierung, eine Abpanzerung gegen eigene und fremde Gefühle und eine Unterdrückung und Abwertung von Schwächen. Aus solchen Identifikationen resultiert letztlich der weiter oben festgestellte riskante, schonungslose und gesundheitsgefährdende Umgang mit sich selbst, aber auch mit anderen Menschen. Im Zentrum solcher Identifikationen steht das männliche Körperideal, das seit der Antike nahezu unverändert durch die Parameter Größe und Stärke gekennzeichnet ist. Es ist sozusagen eine unmittelbare Darstellung der in unserer Kultur vorherrschenden Vorstellung vom erwachsenen, das heißt gesunden, autonomen, unabhängigen, starken, selbstbewussten Subjekt. Den Mädchen werden vollkommen andere Botschaften vermittelt. Das gegenwärtige Schönheitsideal erscheint als radikaler Gegenentwurf zum Bild des gesunden, kräftigen Männerkörpers, der mit der Vorstellung vom erwachsenen, autonomen Subjekt korrespondiert (. Abb. 3.3). Solche Unterschiede haben unmittelbare Auswirkungen auf das Selbstwertgefühl: während die männlichen Vorbilder eher als ein Leistungsanreiz fungieren, stellen die medialen Vorbilder von Mädchen eine Quelle ständiger Verunsicherungen dar (Flaake 2001). Wie sehr unsere Attraktivitätsvorstellungen tatsächlich kulturell geprägt sind, zeigte z. B. eine Befragung von Männern eines von der westlichen Kultur abgeschieden lebenden peruanischen Stammes. Sie hielten Frauen mit Übergewicht und voller Taille für wesentlich attraktiver als solche, die zwar dem gegenwärtigen
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. Abb. 3.1. Körpersprachliche Darstellung von Männlichkeit. (Aus: Mühlen Achs, 2003)
westlichen Schönheitsideal entsprachen, diesen Männern jedoch »krank« bzw. »halbtot« erschienen (Yu u. Sheperd 1998; in Mühlen Achs 2003). Die fremde Perspektive auf unser Weiblichkeitsideal macht deutlich, woran es ihm mangelt ‒ am Ausdruck von Gesundheit, Kraft, Selbstbewusstsein und Durchsetzungsfähigkeit. Für die Mädchen in unserer Kultur bedeutet die Identifikation mit einem solchen Vorbild zunächst und in erster Linie Verzicht: Verzicht auf Autonomie, auf selbstbewusstes, raumgreifendes Auftreten, Verzicht auf direkte Aggression gegen andere, und nicht zuletzt auch Verzicht auf Nahrung und Gesundheit. Die negativen Auswirkungen der Genderisierung zeigen sich bei Mädchen ganz unmittelbar im physischen Bereich. Im Gegensatz zum normalgewichtigen männlichen Körperideal erscheint das weibliche Ideal eindeutig untergewichtig. Da ca. 80% der weiblichen Jugendlichen diesem Idealbild (noch!) nicht entsprechen, hat die Mehrheit der Mädchen mit ihrem Körper ein Problem (Baur u. Miethling 1991, S. 179). Bereits im Jahr 2000 konstatierte die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung bei ein Drittel der 13- bis 14-jährigen Mädchen Unzufrie-
denheit mit dem eigenen Körper und bei jedem zweiten normaloder sogar untergewichtigen Mädchen unter 15 Jahren die Selbsteinschätzung als »zu dick«. Das Jugendgesundheitssurvey (u. a. Hurrelmann 2003) bestätigt diese Erkenntnisse. Zugleich stieg die Zahl junger Frauen mit Ess- und Körperstörungen ab dem 16. Jahr ins Epidemische. In dem Bemühen, ihren zwar gesunden, aber ungeliebten Körper dem kranken Ideal weitgehend anzupassen, überschreiten nicht wenige Mädchen die Grenze zur Selbstzerstörung. ! In Expertenkreisen gilt die Magersucht als prinzipiell unheilbare psychiatrische Erkrankung mit der höchsten Sterblichkeitsrate – 10% der Betroffenen verhungern oder begehen Selbstmord.
Diese Zahlen machen in erschreckender Weise deutlich, dass die Erfüllung gesellschaftlich vorgegebener Weiblichkeitsnormen für viele jungen Frauen offensichtlich einen höheren Stellenwert hat als die abstrakte Vorstellung von Gesundheit in der Zukunft. Diesen Hintergrund eines objektiv gesundheitsschädigenden Verhal-
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Kapitel 3 · Identität und Körperbild: Bedeutung und Einfluss der Kategorie Geschlecht
. Abb. 3.2. Körpersprachliche Darstellung von Weiblichkeit. (Aus: Mühlen Achs, 2003)
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. Abb. 3.3. Modernes westliches Schönheitsideal. (Aus: Mühlen Achs 2003)
tens müssen wir kennen, um in den Teufelskreis weiblicher Selbstschädigung wirksam eingreifen zu können. Nie zuvor war die Verknüpfung von Schönheit und Schlankheit so stark wie heute. Hatten amerikanische Schönheitsköniginnen in den 1920er-Jahren noch einen durchaus gesunden BMIWert (Körperfettanteil) von 20‒25, so liegt dieser Wert, Angaben
der British Medical Association zufolge, bei der Mehrheit der Models und Schauspielerinnen bei 10 und damit weit unter dem als gesund erachteten Wert von 25. Als besonders gravierend muss dabei erachtet werden, dass diese Werte unter normalen Bedingungen nicht nur unerreichbar sind, sondern dass ihre prinzipielle Unerreichbarkeit geradezu ein zentraler Aspekt dieses Ideals und damit die primäre Ursache der enormen Unsicherheit von Mädchen und Frauen in Bezug auf ihre Körper zu sein scheint. Solche kulturellen Rahmenbedingungen verhindern die Entwicklung eines stabilen Selbstbewusstseins und Selbstwertgefühls bei Mädchen und Frauen. Frigga Haug hat bereits Ende der 1980er Jahre in einer aufsehenerregenden Untersuchung aufgezeigt, dass das weibliche Körpergefühl ‒ besonders in der Pubertät ‒ von der Vorstellung gekennzeichnet ist, dass der Körper »falsch« ist, dass irgendwo immer etwas »nicht in Ordnung« ist (Haug 1988 55ff). Bis heute hat sich diesbezüglich nichts verändert: Mädchen haben ‒ unabhängig von ihrem Gewicht ‒ ein geringeres durchschnittliches Selbstwertgefühl als Jungen, bei denen selbst die Über- und Untergewichtigen gemessen am Gesamtwert ein überdurchschnittlich gutes Selbstwertgefühl besitzen (u. a. Hurrelmann 2003). Diese starke Verunsicherung in Bezug auf den eigenen Körper macht Frauen zu leichten Opfern sog. Schönheitsexperten. In den USA hat die Zahl der Schönheitsoperationen in den letzten 10 Jahren um 153% auf heute rund 7 Mio. Eingriffe jährlich zugenommen. Dabei legen sich heute nicht mehr vorrangig ältere, sondern vor allem junge Frauen und Mädchen freiwillig unters Messer. Einer Forsa-Umfrage zufolge zeigen 82% der heute 16- bis 30-Jährigen größtes Interesse und höchste Bereitschaft zu Verschönerungsoperationen. Es geht den Frauen dabei nicht ‒ wie den meisten Männern, die sich allerdings in deutlich geringerem Ausmaß solchen Eingriffen unterziehen ‒ in erster Linie darum, Zeichen des Alterns verschwinden zu lassen. Es geht darum, den Körper im Sinne der vorgegebenen Ideale »maßschneidern« zu lassen, es geht letztlich um die Herstellung heterosexueller Attraktivität zu den heute definierten Bedingungen.
25 Literatur
Ungeachtet einer gewissen Lockerung in der Wahrnehmung und Bewertung von Abweichungen insbesondere durch die Jugendlichen selbst hat im System der Zweigeschlechtlichkeit die heterosexuelle Aufeinanderbezogenheit der Geschlechter eine zentrale Bedeutung. Die gesellschaftlichen Bedeutungszuweisungen prägen nicht nur das Selbstgefühl und Selbsterleben, das Selbstbild und das Selbstbewusstsein. Sie präjudizieren auch ein bestimmtes Geschlechterverhältnis, in dem der Mann dominiert (bzw. dominieren muss), während die Rolle der Frau durch freiwillige Unterordnung gekennzeichnet ist. Während der männliche Idealkörper unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen als Ausdruck des autonomen Subjekts schlechthin angesehen werden muss, wird der weibliche Körper spezifisch »objektiviert«. Die Verkörperung femininer Gendervorstellungen bildet sozusagen die Grundlage für die Abhängigkeit der Frauen von Männern und des weiblichen Selbstbewusstseins von kulturell definierter »Schönheit«, vom Konzept der heterosexuellen Attraktivität.
3.5
Ausblick in die Praxis
Eine differenzierte Betrachtung der Identitätsentwicklungsprozesse bei Mädchen und Jungen zeigt, dass beide Geschlechter durchaus unterschiedliche Aufgaben zu bewältigen haben, wobei sich ebenso unterschiedliche Schwierigkeiten, Belastungen und Probleme ergeben. Mädchen und Jungen unterscheiden sich zum Teil gravierend hinsichtlich der ihnen verfügbaren Ressourcen, hinsichtlich des Gesundheitszustands und Körperbewusstseins, hinsichtlich des Gesundheitsverhaltens, der Bereitschaft, ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen und nicht zuletzt hinsichtlich der Sensitivität bezüglich ihres subjektiven Wohlbefindens (u. a. Hurrelmann 2003). Das Geschlecht ‒ bzw. die kulturellen Gendervorstellungen ‒ durchdringen explizit oder implizit alle Bereiche des Erlebens und Verhaltens. Da wir das bestehende System der Zweigeschlechtlichkeit aber nicht einfach verlassen können, erscheint es umso nötiger, es in seiner Bedeutung als eine zentrale Rahmenbedingung für die Entwicklung somatischer Kulturen mit all seinen Konsequenzen zu reflektieren, um den einzelnen Individuen eine Erweiterung ihrer Handlungsspielräume zu ermöglichen. Kolip (1997) schlägt dabei eine Vorgehensweise in drei Schritten vor: 1. Grundsätzliches Thematisieren der Bedeutung von Gender bzw. des Geschlechtersystems 2. Die Betrachtung gesundheitsbezogenen Risikoverhaltens im Kontext des Geschlechtersystems (die Behandlung von Themen wie Ernährung, Sucht, psychische Gesundheit und medizinische Versorgung jeweils im Zusammenhang und vor dem Hintergrund von Gender sowohl in der Therapie als auch in der medizinischen Vorsorge) 3. Die Entwicklung und Einübung von funktionalen Äquivalenten (Alternativen) zur Stärkung der Lebenskompetenzen und des Selbstwertgefühls von Kindern und Jugendlichen. (Handlungsansätze, die bei beiden Geschlechtern Erfolge erzielen wollen, müssen zum einen unterschiedlich für den Umgang mit Mädchen und Jungen entwickelt werden, zum anderen müsste die Möglichkeit geben sein, in geschlechtshomogen zusammengesetzten Arbeitsgruppen bestimmte Auseinandersetzungen offener zu führen und »Kicherhürden« zu vermeiden
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Die Aufgabe einer praktisch geschlechtsbezogenen Behandlung bzw. Gesundheitsförderung besteht letztlich darin, die Herausbildung allgemeiner Lebenskompetenzen zu fördern und zu unterstützen, um die Betroffenen in die Lage zu versetzen, ihre grundsätzlichen Probleme richtig wahrzunehmen und aktiv zu bearbeiten. In Deutschland werden geschlechtsbezogene Vorgehensweisen erst in Ansätzen betrieben. Die meisten Projekte finden sich im Rahmen der Mädchenarbeit, insbesondere im Bereich der Suchttherapie und der medizinischen Suchtvorsorge (vgl. Landeszentrale für Gesundheit in Bayern 2003 und Teil V). Dies scheint vor dem Hintergrund der erschreckenden Erkenntnisse bezüglich des Körperbilds, Körperempfindens und Essverhaltens von Mädchen durchaus als besonders notwendig und sinnvoll. Dabei sollen den Mädchen neue Kompetenzen vermittelt bzw. vorhandene Kompetenzen gestärkt werden, um sie unabhängiger von ihrem äußerlichen Erscheinungsbild zu machen. Sie sollen in die Lage versetzt werden, aus einer »kranken« Selbstkontrolle über ihren Körper herauszufinden und eine »gesunde« Form der Kontrolle über ihr eigenes Leben entwickeln zu können sowie alternative Möglichkeiten zu entdecken, die Anerkennung ihres Umfelds, insbesondere der Gleichaltrigen zu gewinnen. Eine vergleichbare spezifische Jungenarbeit wäre gerade aufgrund ihres stärkeren Alkohol- und Cannabiskonsums und ihres (anders) riskanten Umgangs mit dem eigenen Körper ebenso dringend erforderlich.
Literatur Baur J, Miethling WD (1991) Die Körperkarriere im Lebenslauf. In: Zeitschrift f. Sozialisationsforschung und Erziehungssoziologie, 2, S.165– 188 Flaake, K (2001) Körper, Sexualität und Geschlecht. Psychosozial-Verlag, Gießen Gille, G (1995) Mädchengesundheit unter Pubertätseinflüssen. In: Das Gesundheitswesen 10, S. 652–660 Haug, F (1988) Sexualisierung der Körper. Berlin/Hamburg Helfferich, C (1995) Ansätze geschlechtsbezogener Prävention und Gesundheitsförderung im Kindes- und Jugendalter. In: Kolip P, Hurrelmann K, Schnabel PE (Hrsg.) Jugend und Gesundheit. Interventionsfelder und Präventionsbereiche. Juventa, Weinheim Hurrelmann K, Klocke A, Melzer W, Ravens-Sieberer U (2003) Jugendgesundheitssurvey. Internationale Vergleichsstudie im Auftrag der Weltgesundheitsorganisation WHO. Juventa, Weinheim und München Keupp H, Höfer R (1997) Identitätsarbeit heute. Suhrkamp Taschenbuch Verlag Wissenschaft, Frankfurt am Main Kolip P (1997) Geschlecht und Gesundheit im Jugendalter. Leske & Budrich, Opladen Landeszentrale für Gesundheit in Bayern e.V. (2003) Viertes Bayerisches Forum Suchtprävention. Schwerpunktthema: Eßstörungen. Berichte und Materialien 3, München Mühlen Achs G (1998) Geschlecht bewußt gemacht. Körpersprachliche Inszenierungen – ein Bilder- und Arbeitsbuch. Verlag Frauenoffensive, München Mühlen Achs G (2003) Wer führt? Körpersprache und die Ordnung der Geschlechter. Verlag Frauenoffensive, München Schmidt B (1998) Suchtprävention bei konsumierenden Jugendlichen. Sekundäransätze in der geschlechtsbezogenen Drogenarbeit. Juventa, Weinheim Stein-Hilbers M, Becker M (1995) Wie schlank muß ich sein, um geliebt zu werden? Zur Prävention von Eßstörungen. Abschlußbericht der Begleitforschung zu einem Modellprojekt der Beratungsstelle für Alkohol, Medikamenten-, Eß- und Magersucht der AWO Märkischer Kreis
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5 Jugendliche in der Gesellschaft – Jugend und Politik R. Schmidt (Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend) )) Jede Gesellschaft trägt für Kinder und Jugendliche besondere Verantwortung – im ureigenen Interesse. Die Gesellschaft braucht die Kreativität, den Ideenreichtum, die Unbefangenheit und die Handlungsfähigkeit der Jugend. Hier sind die Politik und alle gesellschaftlichen Gruppen, aber insbesondere auch die Berufsgruppen gefragt, die täglich mit Kindern, mit Jugendlichen und den Eltern in Berührung kommen und die Weichen für das Aufwachsen stellen. Sie entscheiden auch darüber, welche Innovationskraft die Jugend in der Gesellschaft entfalten kann. Jugendpolitik ist damit unverzichtbarer Bestandteil der Modernisierungspolitik. Kinder- und Jugendstudien werden in Politik, Wissenschaft, Medien und Praxis als wichtiger Seismograph gesellschaftlichen Wandels gewertet. Ich möchte wichtige Trends der Studien aufgreifen und diese Befunde politisch bewerten.
Eine Generation »selbstbewusster Macher« und »pragmatischer Idealisten«: Bestätigung für eine aktivierende Jugendpolitik Die Ergebnisse aller Jugendstudien machen deutlich (Shell, IPOS, DJI Jugendsurvey): Die Jugend ist besser als ihr Ruf. Die Mehrzahl der Jugendlichen verfügt über eine optimistische und leistungsorientierte Zukunftseinstellung. Die jungen Frauen und Männer zeigen eine hohe Leistungsbereitschaft nach dem Motto »Aufsteigen statt aussteigen«. Die Gruppen der »selbstbewussten Macher« und »pragmatischen Idealisten« prägen das Bild und wirken als gesellschaftliche Trendsetter aus der Mitte der Gesellschaft (Shell). Die Jugendlichen wollen praktische Probleme in Angriff nehmen, die mit persönlichen Chancen verbunden sind. Sie verlassen sich nicht auf »Dritte«, sondern nehmen ihre Zukunftsplanung selbst in die Hand. Ich werte diese Ergebnisse sehr positiv. Eindeutig ist: Die Bundesregierung liegt richtig mit ihrem Leitbild einer »aktivierenden Jugendpolitik«, die die Fähigkeiten der Jugendlichen fördert aber auch dazu auffordert, die entwickelten Talente und Ideen aktiv wieder in die Gesellschaft einzubringen. Mädchen und junge Frauen haben die Nase vorn Mädchen und junge Frauen haben im Bereich der Schulbildung die Jungen längst überholt. Mädchen und junge Frauen sind ehrgeiziger geworden und nicht mehr bereit, das Feld den jungen Männern zu überlassen. »Macht«, »Einfluss« und »Karriere« sind erstrebenswerte Ziele auch für Mädchen und junge Frauen. Erfolgreiche Schul- und Ausbildungsabschlüsse geben ihnen das nötige Rüstzeug. Hier ernten wir die Früchte unserer Gleichstellungs- und Frauenförderung. So hat eines der strategischen Ziele der Bundesregierung »die gleichberechtigte Teilhabe von Mädchen und Frauen an der Entwicklung der Informationsgesellschaft« einen deutlichen Sprung nach vorn gemacht. Das Regie-
rungsprogramm »Innovation und Arbeitsplätze für die Informationsgesellschaft« zeigt ebenso deutlich Erfolge wie Kooperationsprojekte mit der deutschen Wirtschaft. Wir müssen und werden durch unsere politische Arbeit alles daran setzen, dass die guten Ausgangsvoraussetzungen und die erklärten beruflichen Ziele der Mädchen auch im weiteren beruflichen Weg umgesetzt werden. Ich arbeite auf eine Gesellschaft hin, in der Frauen ihre hervorragenden Ausbildungsvoraussetzungen umsetzen und gleichermaßen wie Männer Führungspositionen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft einnehmen. Die Ergebnisse der Jugendstudien räumen auch auf mit dem Vorurteil, wonach die Berufs- und Erfolgsorientierung zulasten von Toleranz, Emotionalität und sozialem Engagement geht. Vielmehr wird deutlich: Auch bei Jungen und jungen Männern wird die Vereinbarkeit dieser Werte zunehmend gelebt. Familie und Karriere: Die Synthese von alten und neuen Werten Mehr Jugendliche als jemals zuvor verknüpfen sog. »moderne« mit »alten« Werten und Lebensorientierungen. Fleiß und Ehrgeiz, Macht und Einfluss, Kreativität und Toleranz, Familie und Beruf fügen sich zu einem neuen Leitbild und Lebensmuster zusammen. Dieser Wertemix ist kennzeichnend für die junge Generation. Dass diese Ziele auch gleichzeitig gelebt werden können, dazu tragen unsere Reformen zur Förderung der Balance von Beruf und Familie sowie zur Flexibilisierung der Arbeitszeiten deutlich bei. Wir ermöglichen jungen Eltern die Balance von Familie und Beruf durch gleichzeitige Inanspruchnahme der Elternzeit. Wir bieten Ihnen die Möglichkeit, beruflich aktiv zu bleiben und damit persönliche Karrierewege weiter auszubauen. Aktivierung und Integration bleiben wichtige politische Ziele Politisch setzt sich die Bundesregierung aber natürlich nicht nur mit den »Gewinnern« der gesellschaftlichen Entwicklung auseinander. Wir stehen für Chancengerechtigkeit und setzen alles daran, benachteiligten Jugendlichen Qualifizierungsmöglichkeiten zu eröffnen, sie zu aktivieren und sozial besser zu integrieren. Mit der Programmplattform »Entwicklung & Chancen junger Menschen in sozialen Brennpunkten« (E&C) haben wir auf einen der großen gesellschaftlichen Missstände regiert: Immer noch sind es die sozialen und familiären Rahmenbedingungen, die über individuelle Lebenschancen, Zugänge zu Bildung, Ausbildung sowie persönlicher und beruflicher Entwicklung junger Menschen entscheiden. Dieser Befund, der für den formellen Bildungsbereich in jüngster Zeit eindrucksvoll und erschreckend durch die PISA-Studie bestätigt wurde und nun auch unter dem Stichwort der »Vererblichkeit« von Bildungszugängen in der 14. Shell-Studie wieder auftaucht, betrifft in besonderer Weise Jugendliche, die in sog. »sozialen Brennpunkten« aufwachsen. Dies sind Gebiete, in denen sich Arbeitslosigkeit, Armut und Gewalt häufen und Herausforderungen auf diese Jugendlichen zukommen, die insbesondere bei der Integration von Migrantinnen
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Kapitel 5 · Jugendliche in der Gesellschaft – Jugend und Politik
und Migranten entstehen. Ziel unserer Programmplattform E&C ist es, Mittel und Aktivitäten zu bündeln, um die Lebensbedingungen und Chancen von Kindern und Jugendlichen zu verbessern, die in diesen Stadtteilen aufwachsen. Es geht uns einerseits darum, sie in berufsvorbereitende Maßnahmen bzw. in Arbeit zu bringen und so gesellschaftlich und sozial zu integrieren. Andererseits wollen wir durch diese Investitionen den Niedergang der betroffenen Quartiere und Regionen aufhalten und nachhaltige Entwicklungen anstoßen.
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Stärkung von Kindern und Jugendlichen – Stärkung der Erziehungsverantwortung der Eltern Alle Jugendstudien bestätigen überzeugend: Eltern und andere Familienmitglieder sind die zentralen Ansprechpartner bei persönlichen Problemen. Von einer Entsolidarisierung kann nicht die Rede sein. Zudem verlassen Jugendliche sehr spät das Elternhaus im Vergleich zu früheren Kohorten. Heute haben wir es mit »Nesthockern« und nicht mit »Nestflüchtern« zu tun. Die Herausforderungen für Kinder und Eltern sind heute besonders groß, und die Notwendigkeit, ihnen Unterstützung und Hilfen anzubieten, ist unverkennbar. Wir brauchen Kinder, die stark genug sind, Gefährdungen selbst zu erkennen und ihnen aus dem Weg zu gehen. Wir brauchen Eltern, die in ihrer Erziehung ihre Kinder darin unterstützen und stärken, eigenverantwortlich mit Medien umzugehen und zu problematischen Inhalten eine kritische Distanz zu wahren. Wir brauchen Eltern, die für ihre Kinder da sind, die Zeit finden, mit ihnen gemeinsam zu überlegen, welche Medien, welche Inhalte sinnvoll sind und welche nicht. Natürlich benötigen wir Gesetze, die Gefährdungen von Kindern und Jugendlichen abwenden. Dabei geht es um das Fernsehen ebenso wie um Video und DVD, aber vor allem um die Computernutzung, um das Internet und Computerspiele. Wir wissen heute, dass gerade Jugendliche einen Hauptteil ihrer Freizeit mit diesen Kommunikationsmedien verbringen, übrigens weitestgehend unabhängig von der sozialen Lage. Ich setze darauf, dass wir Kinder und Jugendliche befähigen, mit diesen Medien verantwortungsvoll umzugehen. Gesetze sind nötig, wo der Staat eingreifen muss. Es ist uns gelungen, mit dem neuen Jugendschutzrecht, das seit dem 1. April 2003 in Kraft ist, dem Jugendmedienschutz eine gute und einheitliche Rechtsgrundlage zu geben. Daneben setze ich aber auf gesellschaftliche Initiativen, auf Medienpartnerschaften. Die Kampagne »Schau hin! Was Deine Kinder machen«, die mein Ministerium mit Fernsehanstalten und Verlagen aufs Gleis gesetzt hat, setzt genau hier an und sensibilisiert diejenigen, die mit Kindern und Jugendlichen täglich zusammen sind: Die Eltern. Verbesserung von Bildung und Betreuung – Investition in die Zukunft Bildung und Qualifizierung sind entscheidende Grundlagen für die Berufs- und Lebenschancen von Jugendlichen. Sie dienen aber auch der Persönlichkeitsbildung, der Entwicklung von Orientierungsfähigkeit und sind Voraussetzungen für gesellschaftliche Teilhabe. Alle Jugendstudien bestätigen dies. Der Ausbau – qualitativ wie quantitativ – der Bildungs- und Betreuungseinrichtungen steht deshalb weit oben auf der politischen Agenda. Nur wenn wir ein breites und qualitativ hochwertiges Bildungsangebot zur Verfügung stellen, können wir verhindern, dass nicht länger die individuellen sozialen Startvoraussetzungen in den Familien ausschlaggebend sind für Bildungs- und Zukunftschancen (Pisa, Shell-Studie).
Unser Ziel ist ein bedarfsgerechter Ausbau der Tagesbetreuung insbesondere für Kinder im Alter unter drei Jahren. Dafür soll ein vielfältiges und qualifiziertes Angebot an Tageseinrichtungen und Tagespflege bereitgestellt werden. Mit 4 Mrd. Euro fördert die Bundesregierung den Ausbau von Ganztagsangeboten für Schülerinnen und Schüler. Im Mittelpunkt steht dabei die Verbesserung des Bildungsangebots und eine deutlich bessere individuelle Förderung. Aus Sicht der Kinder- und Jugendpolitik ist von besonderer Bedeutung: Bildung ist mehr als Schule. Um tatsächlich zu besserer Qualität zu gelangen, brauchen wir die gemeinsame Verantwortung von Familien, Kinder- und Jugendhilfe, beruflicher Bildung und Schule. Ganztagsschulen müssen zu Orten des Lernens und Lebens für Kinder und Jugendliche werden. Jugendliche wollen sich gesellschaftlich breit engagieren Junge Menschen sind nach wie vor in hohem Maße bereit, sich freiwillig zu betätigen. Unsere Gesellschaft lebt von ehrenamtlichem Engagement. Dieses Engagement wird künftig durch die verbesserten Rahmenbedingungen des Freiwilligendienstes noch stärker gefördert. Wer einen gesetzlich geregelten Freiwilligendienst leisten möchte, kann dies nun nicht mehr nur im sozialen oder ökologischen Bereich tun, sondern auch u. a. im Bereich der Jugendarbeit des Sports, im kulturellen Bereich – z. B. in Bibliotheken, Museen oder Musikinitiativen – oder im Bereich der Denkmalpflege. Jetzt ist es auch möglich, den Freiwilligendienst weltweit zu absolvieren. Damit greifen wir das Interesse und die Bereitschaft junger Menschen auf, internationale Lernerfahrungen zu sammeln und diese für die Entwicklung ihrer beruflichen und persönlichen Biographien zu nutzen. Wir fördern dadurch aber nicht nur die Qualifikation junger Menschen, sondern stärken durch die Möglichkeit, Erfahrungen durch interkulturellen Austausch zu sammeln, auch ganz konkret das friedliche und demokratische Zusammenleben der Kulturen in Deutschland. Die Mehrzahl der Jugendlichen steht in der Mitte unserer Demokratie Mich freut besonders, dass die Jugendlichen eine große Zustimmung mit der bestehenden Staatsform in Deutschland zeigen. Nur 8% der Befragten in West- bzw. 17% in Ostdeutschland können der Aussage nicht zustimmen, dass die Demokratie in Deutschland eine gute Staatsform ist (14. Shell Jugendstudie). Ein solch hohes Maß an Zustimmung gab es nicht zu jeder Zeit. Die Bundesregierung hat hierzu ihren Teil beigetragen: Eine breit geförderte außerschulische Bildung, die Verstärkung des internationalen Austausches, die Eröffnung von Jugendbegegnung in Europa sind wichtige Fundamente für diesen Befund. Bei der Bekämpfung von Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus haben wir in der Jugendpolitik einen Schwerpunkt gesetzt. Mit dem Aktionsprogramm »Jugend für Toleranz und Demokratie« stärkt die Bundesregierung demokratisches Verhalten und ziviles Engagement bei Jugendlichen und fördert Toleranz und Weltoffenheit. Zum einen erfahren Jugendliche, die sich gegen Fremdenfeindlichkeit und Rassismus wenden, Unterstützung. Zum anderen sollen Jugendliche, die gefährdet sind, rechtsextreme Einstellungen oder Verhaltensweisen zu entwickeln, wieder in die Mitte der Gesellschaft zurückgeholt werden.
37 5 · Jugendliche in der Gesellschaft – Jugend und Politik
Politikferne begegnen durch mehr Beteiligungsmöglichkeiten Als Politikerin und insbesondere Jugendministerin bin ich besorgt über die klaren Befunde zum mangelnden Interesse der Jugendlichen an Politik. Wir müssen damit rechnen, dass nur gut 60% der Erstwählerinnen und Erstwähler tatsächlich zur Wahl gehen. Dass von 1991 bis heute der Anteil der politisch interessierten Jugendlichen von 57 auf 34% gesunken ist, alarmiert mich zutiefst (14. Shell-Jugendstudie). Wir müssen heute konstatieren, dass Jugendliche das Vertrauen in politische Instanzen und politische Entscheidungsträger verloren haben. Hier ist Politik aufgefordert, Vertrauen zurückzugewinnen. Politisch werden wir uns darauf konzentrieren, den Dialog zwischen Jugend und Politik wieder aufzunehmen. Nicht nur die Politikdistanz von Jugendlichen, sondern auch die Jugenddistanz von Politikerinnen und Politikern ist hier der Hemmschuh. Gemeinsam mit Partnern aus dem politischen Bereich und gemeinsam mit Jugendlichen hat die Bundesregierung eine breit angelegte Beteiligungskampagne initiiert: »Projekt P – misch Dich ein«. Es werden konkrete Beteiligungen an politischen Prozessen erprobt, in Ideenwerkstätten neue Beteiligungsmodelle erdacht, konkrete Begegnungen zwischen Jugend und Politik organisiert. Klar ist: Beteiligung braucht Freiraum für Gestaltung. Politik muss und wird sich öffnen für neue unkonventionelle Formen. Diesen Weg gehen wir weiter. Um gesellschaftliche Trends aufzunehmen und politisch zu reagieren, muss Kinder- und Jugendpolitik einen breiten Aktionsraum bedienen. Dies geht nicht in den engen Grenzen etwa eines Ministeriums. Ich möchte deshalb abschließend die Leitlinien nennen, die unserer Kinder- und Jugendpolitik zugrunde liegen. Leitlinien der Kinder- und Jugendpolitik Nachhaltigkeit. Kinder- und Jugendpolitik ist Politik im Interesse der Lebens- und Zukunftschancen der nachwachsenden Generation. Die Bundesregierung tritt dafür ein, dass die Interessen der jungen Menschen bei der Gestaltung der Politik auf allen Handlungsebenen Beachtung finden. Sie befähigt junge Menschen dazu, diese Interessen selbst zu entwickeln und zu artikulieren. Ziel ist, den jungen Menschen die für ihre Lebensplanung erforderlichen gesellschaftlichen Gestaltungsspielräume und Optionen zu eröffnen. Generationengerechtigkeit bedeutet Verständnis füreinander und einen fairen Ausgleich der Interessen zwischen den Generationen. Einmischung. Kinder- und Jugendpolitik mischt sich ein für Kin-
der, Jugendliche und ihre Familien. Dabei stehen die Bedürfnisse derjenigen im Vordergrund, die familiär und sozial benachteiligt sind. Kinder- und Jugendpolitik ergreift für sie Partei und spricht mit, wenn politische Maßnahmen, gleich in welchem Handlungsfeld, Auswirkungen auf Lebenssituation und Zukunftsoptionen der Jüngeren haben. Ziel ist, auf allen Ebenen institutionalisierte Verfahren zur Berücksichtigung ihrer Interessen zu verankern. Lebenslagenpolitik. Kinder- und Jugendpolitik nimmt individuelle Bedürfnisse in den Blick – innerhalb der Familien und im gesellschaftlichen Raum. Sie wendet sich gegen Ausgrenzungen, unterstützt dort, wo Unterstützungsbedarf besteht, und trägt durch die Modernisierung der Hilfs- und Beratungsangebote dazu bei, dass die Unterstützung nicht »von der Stange«, sondern maßgeschneidert ist. Zur Ermittlung des Modernisierungs- und
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Unterstützungsbedarfs setzt sie auf die aktive und kontinuierliche Partizipation der Zielgruppen und der Fachkräfte der sozialen Arbeit. Diesem Ziel dient auch der Nationale Aktionsplan »Für ein kindergerechtes Deutschland 2005‒2010«. Der Aktionsplan, den die Bundesregierung im Februar 2005 beschlossen hat, setzt einen Beschluss des UN-Weltkindergipfels aus dem Jahr 2002 um. Er wurde unter Beteiligung von Kindern und Jugendlichen erarbeitet und schreibt die Fortentwicklung der Rechte und Lebensbedingungen von Kindern in Deutschland fest. Er ist ein Leitfaden, um Deutschland kindergerecht zu gestalten. Der Nationale Aktionsplan führt auf, mit welchen Maßnahmen die Bundesregierung in den zurückliegenden Jahren die Lebens- und Entwicklungschancen von Kindern und ihren Familien verbessert hat und welche weiteren Initiativen die Bundesregierung anstrebt und anregt. Er wurde vom Bund unter Beteiligung von Vertreterinnen und Vertretern der Länder und Kommunen, der Kinderkommission des Deutschen Bundestages, von Nichtregierungsorganisationen und Wissenschaft sowie mit Kindern und Jugendlichen erarbeitet. Der Nationale Aktionsplan wird bei der Umsetzung durch ein Monitoringverfahren unter Einbeziehung der politischen und gesellschaftlichen Partner und von jungen Menschen flankiert. Gesellschaftliche Allianzen. Kinder- und Jugendpolitik setzt auf
gesellschaftliche Allianzen für die Jugend, auf enge und partnerschaftliche Zusammenarbeit mit haupt- und ehrenamtlichen Profis in den Jugend- und Sozialorganisationen. Sie steckt Ziele gemeinsam mit ihnen ab, fördert ihre Arbeit auf der Grundlage der Ziele und wertet mit ihnen aus, ob diese erreicht wurden.
Literatur Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.) (2001) Chancen im Wandel. Jugendpolitisches Programm der Bundesregierung. http://www.bmfsfj.de Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.) (2003) Jugendliche und junge Erwachsene in Deutschland, 2002. Jugendstudie des Instituts für praxisorientierte Sozialforschung. http:// www.bmfsfj.de Deutsche Shell AG (2002) Jugend 2002 – 14. Shell Jugendstudie. Fischer, Frankfurt am Main Gille M, Krüger W (2000) Unzufriedene Demokraten. Leske & Budrich, Opladen Regierungserklärung von Bundeskanzler Schröder am 14. März 2003 vor dem Deutschen Bundestag. http://www.bundesregierung.de Schmidt R (2002) S.O.S. Familie. Ohne Kinder sehen wir alt aus. Rowohlt, Berlin
4 Sexualität N. Weissenrieder
)) Angesichts der großen Vielfalt sexueller Erscheinungsformen gibt es heute nicht »die Sexualität«, genauso wenig wie angesichts der Pluralität jugendlicher Lebenswelten von »der Jugend« gesprochen werden kann. Aber wie auch Jugend sich nicht auflöst in zersplitterte, voneinander unabhängige Lebenswelten, Jugendkulturen und Jugendbiographien, sondern alle Jugendliche in eine gesamtgesellschaftliche Struktur und Kultur eingebunden sind, gilt auch für die Sexualität, dass sie nicht nur die Summe sexuell handelnder Individualisten ist, sondern über den Individuen als ein eigenständiges, gesellschaftlich Ganzes betrachtet werden kann.
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4.1
Sexualität heute
Sexualität erscheint heute »liberalisiert«, der Umgang mit ihr offener und freizügigers. Dies heißt nicht, dass wir ein offeneres, gar ein freies Verhältnis zur Sexualität haben. Vielmehr ist von der Scheinbefreiung, der Scheinliberalisierung, der »Ware« Liebe oder Sex die Rede. Sexualität findet ihre »perfekte« Form nicht in der Phantasie oder im Gefühl, sondern in den Medien, Funk, Fernsehen, Video oder inzwischen auch verstärkt auf dem PC und im Internet. Nach Umfragen namhafter Sexualitätsforscher in der Bundesrepublik ist der Umgang mit Sexualität freizügiger geworden, das Koitusverhalten ist weniger geschlechtstypisch als das Masturbationsverhalten, wobei die Veränderungen beim weiblichen größer als beim männlichen Geschlecht sind. Das Alter für den ersten Sexualverkehr hat sich deutlich zu niedrigeren Altersstufen verschoben. Frauen haben dabei früher sexuelle Kontakte als Männer. Klassische Gründe für »Koitusabstinenz« wie moralische Bedenken oder Angst vor Gravidität sind dem zeitweisen Fehlen eines geeigneten Partners gewichen. Offene Sexualfeindlichkeit ist seltener geworden, der Einfluss von Familie, Religion und sozialer Schichtzugehörigkeit hat abgenommen. Sexualität wird nicht nur als Ausdruck einer Liebesbeziehung erlebt, sondern findet auch als Erlebnismöglichkeit ohne weitergehende partnerschaftliche Verbindlichkeit statt. In der Werbung tritt häufig das Produkt in den Hintergrund und wird durch die werbewirksame Darstellung von Sexualität und daraus resultierende sexuelle Phantasien sowie durch die Darstellung z. T. nackter Körper ersetzt. Als Beispiel kann die Sexindustrie dienen, die heute mit ihren unzähligen umsatzträchtigen Sex- und Pornoläden, Kinos, Bars und Peepshows sowie mit etablierten Verkaufsshows und Sexualkontaktvermittlungen in den Fernsehmedien gesellschaftsfähig geworden ist. Auch die Prostitution hat den Geruch des Anstößigen verloren. Der Boom des Massensextourismus und die zahlreichen Angebote von Models, die Sex anbieten, sowie Massagesalons in Dieser Beitrag wurde in anderer Form publiziert in Weissenrieder (2003).
den Tageszeitungen und Kommunikationsmedien beweisen die gesellschaftliche Akzeptanz der neuen Sexualität. »Geschlechtsverkehr als Bestandteil des Geschäftverkehres« spiegelt eine neue Dimension der Realität. In den visuellen Medien werden vor Millionen Zuschauern ‒ Kindern und Jugendlichen ‒ Masturbationstechniken demonstriert, Orgasmusprobleme ventiliert, Partnertausch propagiert und in »Sexberatungen« auf unsinnliche Weise zur sexuellen Aktivität und Experimentierfreude animiert. Im Fernsehen ist Sex der zuverlässigste Quotenfänger, denn er wirkt wie ein Verkehrsunfall: Alle schauen hin, auch wenn sie es nicht wollen. Die Faszination Sex bleibt jedoch nicht auf die Massenmedien beschränkt: Über 16.000 Titel umfasst etwa die Bibliographie zur Geschichte der westlichen Sexualität, die der österreichische Historiker Franz X. Eder kürzlich als Datenbank ins Internet gestellt hat. Der sexuellen Revolution verdankt unsere Gesellschaft eine Sexualmoral, die in der Menschheitsgeschichte einmalig dasteht: Sie erlaubt alles, was zwei mündige Menschen aus freien Stücken miteinander tun. Die sexuelle Toleranz gegenüber Homosexualität oder Ehebruch ist ein Kennzeichen der modernen Zivilisation. Die Zeit der Tabubrüche ist vorbei, denn jedes Tabu kann nur einmal gebrochen werden.
4.2
Jugendsexualität
,Was ist das eigentlich?
Beantwortet für Jugendliche in Let’s Talk about Sex. Ein Sexheft für Jugendliche (1993): »Sexualität ist aufregend und spannend. Sie ist nicht nur rosarot oder knallbunt, sondern kann auch grau in grau bis pechschwarz sein. Da Sexualität immer auch für Überraschungen gut ist, sollte man die guten Ratschläge anderer immer mit viel eigenem Ausprobieren mischen. Die Sinne ins sexuelle Spiel zu bringen hilft herauszufinden, was gut tut: hinsehen, erschmecken, anfühlen, riechen und, natürlich, zuhören«. Sexualität ist für sich alleine immer aufregend und auch umstritten. Aussagen zur Sexualität und zum Sexualverhalten Jugendlicher werden vor allen von Erwachsenen getroffen und sind zum Teil sehr divergierend. Galt Sexualität noch bis in die 1960er-Jahre als ein für das Erwachsenenalter reservierter Lebensbereich, so gehören Jugend und Sexualität in der Öffentlichkeit und der Wissenschaft ganz selbstverständlich zusammen. Jugendsexualität hat sich als eigenständiger Behandlungs- und Normierungsbereich in den Medien ausdifferenziert. »Diese journalistischen ›Leckerbissen‹ stehen im Mittelpunkt der medialen Öffentlichkeit. Was werbewirksam verwertbar ist, steht uns alltäglich vor Augen.« (Forschung und Praxis der Sexualaufklärung und Familienplanung. Jugendliche Medienwelt, Sexualität und Pornographie, Band 10 BzgA) Was wissen wir konkret über Jugendsexualität?
Die persönliche Entwicklung des Betrachters, seine Einstellungen und Erfahrungen, prägen seine Einstellung zur Jugendsexualität.
27 4.3 · Geschlechtsspezifische Identität – Mädchensexualität
Nach dem Erleben der eigenen Jugendzeit werden heutige Erscheinungsformen der Jugend beurteilt, zum Teil nach dem Motto: »Die sollen es einmal besser haben, als ich selbst«, zum Teil wird ein Verhalten besonders hart verurteilt, weil der Betrachter sich selbst dieses Verhalten nicht leisten durfte oder auch heute noch mit größter Mühe unterdrückt.
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din wird heute in der Gruppe Gleichaltriger, die schon Erfahrung haben, völlig akzeptiert; sowohl von Jungen wie auch von Mädchen. Am wenigsten wird sein Verhalten vielleicht von seinen Eltern verstanden, die entsprechend ihrer eigenen Erfahrung an der sexuellen Abstinenz des eigenen Kindes schon verzweifeln und ihren Erziehungsstil hinterfragen.
Warum beschäftigen wir uns mit Jugendsexualität?
Durch die zunehmende Pädagogisierung der Sexualität in Schule, Familie und Umwelt oder bei uns Ärzten kann die Gesellschaft auf Jugendsexualität einwirken. In immer kürzerer Zeit ändern sich die Maßstäbe in der Arbeitswelt, in der Wohn-, Freizeit- und Medienkultur. Entsprechend müssen immer neue Antworten auf Fragen zu Liebe, Körperlichkeit und Zusammenleben gefunden werden. Zerrbilder von Jugendsexualität entstehen heute schon deshalb häufig, weil es ein Miteinander der Generationen kaum noch gibt. Es ist beschränkt auf das Leben in der Kleinfamilie, und auch hier ist die Zeit des gemeinsamen Tuns, der gemeinsamen Gespräche und des Miteinander-Erlebens auf wenige Stunden in der Woche beschränkt. Wollust und Liebe
Während die Liebesbeziehungen vieler junger Menschen oft diszipliniert und eher undramatisch ablaufen, suchen sich einige andere Aufputschbereiche bei Love-Parades und Raverpartys. Das ist ebenso schrill wie realistisch. In der alltäglichen Gesellschaft haben Jugendliche nichts zu lachen. Dort ist nur noch die Rede von Arbeitslosigkeit, Armut, sozialem Elend, Ausländerfeindlichkeit, Drogen, Gewalt oder den miserablen Ergebnisse der Pisa-Studie, wenn es um die Generation geht, die unsere Zukunft werden soll. Keiner bisherigen Generation ist so schonungslos klar gemacht worden, dass sie in großen Teilen weder kulturell noch gesellschaftlich »benötigt« wird, da die nachkommende Generation unsere Rente alleine sicher nicht mehr aufbringen kann.
4.3
Geschlechtsspezifische Identität – Mädchensexualität
In unserem kulturellen System der Zweigeschlechtlichkeit gilt die eigene Zuordnung zu einem Geschlecht als Voraussetzung zur Identitätsbildung. Diese entwickelt sich aufgrund des komplexen Zusammenwirkens von biologischen und psychischen Einflüssen ab der Geburt eines Kindes, wenn die Eltern mit ihrer Geschlechtszuweisung zumeist geschlechtsrollen-stereotyp auf ihre Kinder als Mädchen oder Jungen reagieren. Noch völlig ungeklärt ist der Einfluss der präpartalen Information der werdenden Eltern über das zu erwartende Geschlecht des ungeborenen Kindes. Diese Information auf Grund der pränatalen Geschlechtsbestimmung durch Ultraschall oder Chromosomenuntersuchung wird nach einer subjektiven Einschätzung heute bei 80‒90% der Schwangerschaften mitgeteilt. Dies bedeutet, dass die Mehrzahl der Mütter eine klare Geschlechtszugehörigkeit dem ungeborenen Kind zumindest in ihrem Unterbewusstsein schon früh in der Schwangerschaft zuordnet. Es gibt bisher keine validierten Untersuchungen der Auswirkung dieses »Wissens« auf die sich entwickelnde geschlechtsspezifische Identität. Bei den Kleinkindern ist gegen Ende des 2. Lebensjahres nach Mertens die eigene sexuelle Identität als relativ konfliktfreie Gewissheit etabliert. Die Sozialisation des Kindes ist von klein auf geschlechtsspezifisch, Mütter und Väter gehen von Geburt an jeweils unterschiedlich mit ihren Mädchen oder Jungen um. Sexualität von Geburt an
Weder enthemmt noch enthaltsam
Der Vergleich der Erfahrungen von Jungen und Mädchen im Trend von 1980 bis 2001 macht deutlich, dass seit 1994 in den Alterstufen 14‒16 Jahren eine leichte Erhöhung der Jugendlichen mit Geschlechtsverkehrserfahrung auftritt, wobei die Erfahrung der Jungen sich in den letzten Jahren der der Mädchen angeglichen hat. Auch die zentralen Wertvorstellungen haben sich nicht wesentlich verändert. Heute binden junge Männer die Sexualität sogar noch stärker an eine feste Liebesbeziehung mit Treue als vor einer Generation. Ähnlich wie vor 30 Jahren haben mit 16 oder 17 Jahren erst zwei Drittel der Jungen und Mädchen den ersten Geschlechtsverkehr erlebt. In den USA erfreuen sich mit öffentlichen Geldern geförderte Programme mit dem Ziel der sexuellen Enthaltsamkeit vor der Ehe steigernder Beliebtheit und erleiden Schiffbruch, weil trotz enormen finanziellen Aufwands das Alter für den ersten Geschlechtsverkehr bzw. Teenagerschwangerschaften nicht zurückgegangen ist. Jungen sind zwar noch nicht so romantisch wie junge Frauen, legen aber deutlich größeren Wert auf gegenseitiges Verstehen und Vertrauen. Häufiger als früher gestehen sie ihrer Freundin Gefühle, vor allem Liebe. Das hat entspannende Wirkungen. Junge Männer, die sexuell abstinent leben, können sich heute eher dazu bekennen, ohne von ihren Freunden automatisch verhöhnt zu werden. Ein junger Mann mit 16 Jahren ohne sexuelle Erfahrungen und ohne Freun-
Es ist heute dank der analytischen Technik des Babywatching unumstritten, dass menschliche Sexualität von Geburt an besteht und ihre Ausformung weitgehend von Umweltfaktoren mitgeprägt ist. Weiter ist unumstritten, dass die frühen Erfahrungen emotionaler und körperlicher Zuwendungen z. B. ob einem Mädchen das lustvolle Erfahren des Körpers durch die Eltern oder sich selbst gestattet wird, ob das Berühren der Genitalien sanktioniert, toleriert oder gefördert wird, im Wesentlichen die Einstellung des Kindes und auch des Erwachsenen zu seinem Geschlecht, seiner Sexualität und seinem Körper bestimmen. Im Säuglingsalter z. B. beobachten Kinderärzte immer wieder, dass das weibliche Genitale häufiger im Bereich der Labien schlecht gereinigt wird und Stuhlreste oder Smegma dort verbleiben als bei Jungen, bei denen Penis und Skrotum sorgfältig gesäubert werden. Auch erfahren Mädchen weniger Zuwendung bezüglich ihrer sexuellen Entwicklung. Erregungszustände bei männlichen Säuglingen mit peniler Erektion werden von Müttern und Vätern häufiger beobachtet und registriert als weibliche genitale Erregungen. Das Selbstbild von Mädchen
Mädchen erleben ihren Körper sehr früh als etwas, dem mit Vorbehalten, Einschränkungen und Nichtbeachtung begegnet wird. Selbst wenn im familiären Raum durch die Mutter dem Mädchen geschlechtsrollenunabhängige Freiräume gewährt wurden, erfährt es mit Eintritt in den Kindergarten geschlechtsspezifisch
28
Kapitel 4 · Sexualität
orientierte Erwartungen und Verhaltensanforderungen. So sind z. B. Misstrauen und Angst vor physischen Übergriffen, »Spiel doch nicht mit den Jungen, du weißt doch, dass sie dir nur weh tun«, Lernerfahrungen, die das Selbstbild von Mädchen negativ beeinflussen. Oder Mädchen werden, besonders wenn sie älter werden, von der Mutter dazu angehalten, sich in der Nähe oder gar in der Wohnung aufzuhalten, da nur dort verantwortliche Erwachsene einen Überblick über das Geschehen haben.
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! Besonders unter dem Eindruck der aktuellen Ereignisse mit sexuellem Missbrauch geraten Mädchen ganz unbeabsichtigt unter den Druck und die Kontrolle der Erwachsenen. Es behindert die weitere Ausbildung von Zutrauen zu sich selbst und von Sicherheit bezüglich der Selbstbestimmung über den eigenen Körper, wenn dem Mädchen unbewusst und stumm mitgeteilt wird, dass die Welt da draußen von diffuser Gefährlichkeit ist. Tochter und Mutter
Mit Beginn der Pubertät tritt auch eine stark ambivalente Haltung der Mutter zur beginnenden Sexualität der Tochter auf. Die Tochter ist nicht mehr vor dem Missbrauch zu schützen, sondern die Annahme der Mutter geht davon aus, dass das Mädchen selbst sexuell aktiv werden könnte. Mit Beginn der Pubertät machen Mädchen im schulischen und familiären Raum, aber auch in ihrer sozialen Umgebung Erfahrungen, in deren Zentrum ihre Sexualität steht. Das Elternhaus reagiert auf das Heranwachsen der Tochter häufig mit Verschärfung der Kontrollen und Intensivierung von Verboten und Einschränkung der Bewegungsspielräume. Häufig haben diese Einschränkungen die Gefährdung des Mädchens als sexuelles Wesen zum Inhalt. Es werden Grenzen gesetzt, die erkennbar für Jungen des gleichen Alters nicht gelten. Ein weiteres Problem liegt dabei in der starken Identifikation mit der Mutter und der Internalisierung der von der Mutter vorgelebten Mutterrolle. In dem Wunsch »nicht so zu sein wie meine Mutter« treffen sich Ablösungs- und Autonomiebestrebungen mit der Absicht, die vorgelebte Mutterrolle für sich selbst zu überwinden. Kritik an der Mutter, die sich häufig in Aggressionen ausdrückt, kann Schuldgefühle auslösen, weil sie den gleichgeschlechtlichen Teil verraten hat. Sexuelle Identität
Hier entstehen Brüche im Selbstbild des Mädchens, das einerseits sich an sexueller Enthaltsamkeit und normativen Verhaltensvorstellungen orientieren soll, andererseits, gerade um den »richtigen Mann« zu finden, das äußere Erscheinungsbild den Weiblichkeitsidealen Attraktivität, erotische Ausstrahlung und Sinnlichkeit anpassen soll. Mädchenpubertät kann nach Friedrich als Gratwanderung zwischen »sich bewahren und sich anbieten« bezeichnet werden. ! Der Bereich Sexualität wird in der Schule nahezu völlig tabuisiert und der schulische Alltag ist gekennzeichnet durch beleidigende, sexuell anzügliche Bemerkungen oder im Extremfall auch durch Gewalthandlungen.
Mädchen werden im Schulalltag der unzulässigen Reduzierung auf »Frau ist gleich Sexualobjekt« ausgesetzt. So erfahren Mädchen, dass sie durch den Einsatz »weiblicher Reize und Koketterie« ihre Ziele erreichen können. Zum Teil übernehmen sie damit eine männlich geprägte Sicht von Sexualität. Dadurch haben sie Schwierigkeiten, ihre eigenen Bedingungen für sexuelle und soziale Interaktionen zu definieren.
Neben Schule und Eltern wird für das Mädchen die Gruppe Gleichaltriger bedeutsam. Einerseits schafft sie die Möglichkeit, sich dem elterlichen Drängen nach Wahrung der Unschuld zu entziehen, andererseits ermöglicht die Gruppe, endlich sexuelles Wesen sein zu dürfen. Körperfetisch, Ästhetik des Schönseins und Schönmachens für andere, Sexualisierung als Objekt sind als gemeinsame Definition der Sexualität in der Gruppe geeignet, einen Widerstand gegen die Einschränkungen der Eltern darzustellen. Bezugspunkt der Gruppe ist eine neue Definition der Identität des Mädchens als sexueller Person. Zusammenfassend erleben Mädchen einen immer verbindlicher werdenden Anpassungsdruck in Richtung des gesellschaftlich akzeptierten Frauenbildes. Vor diesem Hintergrund wird es für Mädchen schwierig, ein positives Verhältnis zu ihrem Körper und ihrer eigenen sexuellen Identität als Frau zu entwickeln. Der Körper des Mädchens rückt ins Zentrum der Betrachtung, aber er entgleitet der Selbstbestimmung des Mädchens und wird zum Objekt der Erfüllung weiblicher Normen ‒ Gestik, Mimik, Mode, Kosmetik, Diätplan ‒, die das Mädchen verunsichern und zum Entstehen des »Defizitblicks« ‒ Beine zu dünn, Busen zu klein, Taille zu dick, Po zu flach usw. ‒ beitragen. Diese Defizite machen Mädchen für Übergriffe und Verletzungen ihrer Integrität verwundbar.
4.4
Geschlechtspezifische Identität – Jungensexualität
Junge sein heißt, erst noch ein »richtiger Mann« zu werden und sich noch sehr anstrengen zu müssen, um als ein solcher zu gelten (7 Kap. 32). Erwiesenermaßen wird Jungen viel Disziplin, Selbstkontrolle und Verzicht abverlangt, um jene Verhaltensweisen zu erlernen, die als Mädchen untypisch gelten und der Männerrolle zugeschrieben werden. Als psychischer Gewinn wird Herrschaft versprochen in Form eines sozial vererbten Sexismus, schreibt Sielert. Jungen werden überwiegend von Frauen erzogen ! Ein Junge kann seine Geschlechtsidentität nur durch die Abgrenzung von der Mutter als erster Liebesperson entwickeln, die ihm zeigt, »was er nicht sein darf, um ein Mann zu sein«. Eine misslungene Ablösung von der Mutter als gegengeschlechtlicher primärer Bezugsperson scheint auch die Bildung der Geschlechtsidentität zu gefährden.
In unserer Gesellschaft sind es überwiegend Frauen, die als Bezugspersonen auftreten. Hebammen entbinden, Kinderschwestern kümmern sich um Säuglinge und Kinder, Sozialpädagoginnen und Erzieherinnen betreuen im Kindergarten, Grundschullehrerinnen in der Grundschule, Pädagoginnen im Hort usw. Es sind überwiegend Frauen, die erziehen. Das Kleinkind lernt seine Rolle als Junge weniger durch Miterleben, da ihm männliche Beispiele zur anschaulichen Nachahmung aus der näheren Umgebung häufig fehlen, als durch abstrakte Vorstellungen weiblicher Erziehungspersonen. Jungen spüren, dass sie Männlichkeitsidealen nicht entsprechen
Die Väter leben in einer für das Kind unbegreifbaren Berufswelt, die sie von morgens bis abends »verschlingt«. Die wenigen Mo-
29 4.5 · Sexuelle Entwicklung und Sexualverhalten
mente, die der Junge mit seinem männlichen Vorbilde gemeinsam erlebt, müssen mit anderen geteilt werden. Erschwerend erleben die Jungen, dass der »Ernährer« der Familie »geschont« werden muss, damit er seine Pflichten auch weiter erfüllen kann. Das eigentliche Männerbild wird undeutlich und zunehmend gefüllt durch Phantasien und Medienvorbilder. Für Jungen liegen die Probleme, eine Geschlechtsidentität herzustellen und zu sichern, weniger darin, dass es ihnen schwer fällt zu begreifen, wie sie als Mann sein sollen, sondern mehr darin, dass sie den allseits präsenten Männlichkeitsvorstellungen real entsprechen müssen, um ein »richtiger Mann« zu werden. Jungen entwickeln häufig zwei Bilder von sich selbst, zwischen denen sie ständig hin- und herpendeln: Zum einen wollen sie gerne die Rolle des starken Mannes ausfüllen, zum anderen wird ihnen deutlich, dass sie in der Realität der Rolle nicht gerecht werden. In den letzten Jahren hat sich ein neues Bild von Männlichkeit gebildet, das sich durch Betonung von Emotionalität, Anpassungsfähigkeit und Verständnis auszeichnet. Damit wird es für Jugendliche noch schwerer, ihre Identität zu finden, da sich die Inhalte nicht miteinander vereinbaren lassen. Jungen und Mädchen, Clique
Tagtäglich kann an den Unterhaltungen von Jungen im Schulbus, an den Frotzeleien und Rempeleien gegenüber Mädchen in der Schule, an den Wettspielen um »Erfolg bei Frauen« beobachtet werden, wie sehr Männlichkeit im Jungenalter mit Potenz, Aktivität, Erfolg, Coolness, Leistung sowie Abwertung von Mädchen in Verbindung gebracht wird. Der Junge kann seine unsichere Männlichkeit, die einer ständigen Bestätigung bedarf ‒ wie sie in Familien, der Schule und Peergroups auch gewährt wird ‒, in vielfältigen Formen aggressiven Spiels in Jungenbanden erproben und darf auch Risikoerfahrungen mit dem eigenen Körper machen. Zur Zeit des Schuleintritts übernimmt die Jungenclique viele Beziehungsbedürfnisse. Erste intensive Freundschaften sind meist mit starken emotionalen, zum Teil homoerotischen Wünschen und Phantasien besetzt. Mit ansteigendem Alter werden aber Berührungen und intime Geheimnisse negativ besetzt, und die Angst vor dem Vorwurf der Homosexualität steigt. Ein anderes Klima beherrscht die Jungenclique. Es dominieren Konkurrenz und Versagensangst. Die Jungen projizieren alle ihre passiven, weichen und fürsorglichen Bedürfnisse auf Mädchen und Frauen. Mit Unverständnis und verstärkter Aggression reagieren sie auf emanzipatorische Veränderungen bei Mädchen und Frauen.
4.5
4
Sexuelle Entwicklung und Sexualverhalten
4.5.1 Sexuelle Entwicklung Sexualität Jugendlicher entwickelt sich und erreicht neue Qualität in einem Lebensabschnitt, in dem neben starken körperlichen Veränderungen, die zur Geschlechtsreife führen, auch eine tiefe Verunsicherung im Selbstbild und im Rollenverhalten erfolgen kann. Die Lebensbedingungen für Jugendliche haben sich in den letzten 20 Jahren wesentlich verändert. Dies ist nicht ohne Auswirkungen auf das Sexualverhalten geblieben. Jugend ist nicht mehr eindeutig begrenzt durch Kindheit und Erwachsensein, sondern hat sich in verschiedene Entwicklungsphasen mit fließenden Übergängen ausdifferenziert. Organische Pubertät
Im Rahmen der körperlichen Reifung realisiert sich ein körperlicher Umwandlungsprozess mit der größten Zunahme der Längenentwicklung, einer deutlichen Gewichtszunahme, einer Umwandlung des Körperbildes und der Ausbildung und Reifung der primären und sekundären Geschlechtsmerkmale. Dazu kommen die auslösenden endokrinen Veränderungen, die die Entwicklung in der Pubertät prägen, und für den generativen Abschnitt menschlichen Lebens bestehen bleiben. Aus dieser Entwicklung resultieren viele Fragen, wie z. B. »Bin ich normal?«, »Sehe ich normal aus?«, »Sind meine Genitalien normal?« (7 Kap. 1). Soziokulturelle Pubertät
Die sozialen Reaktionen und Einstellungen im Elternhaus, in der Schule, der Gruppe der Gleichaltrigen, die Art und Weise, wie die Gesellschaft den Übergang ins Erwachsenenleben sozial organisiert, beeinflussen, ob die Jugendlichen die Pubertät als lästig, unangenehm und peinlich erleben oder ob ihnen genug Zeit gelassen wird, die körperlichen, seelischen und sozialen Veränderungen zu beobachten, zu verstehen und zu verarbeiten. So konnten Bernfeld und Ewert nachweisen, dass Jugendliche in gesicherten wirtschaftlichen Verhältnissen mehr Zeit und Möglichkeiten haben, vielfältige Formen der Liebe und Partnerschaft, des Umgangs mit Sexualität zu erfahren. Sie folgern daraus eine »privilegierte, gestreckte« Pubertät. Im Gegensatz dazu steht die »verkürzte« Pubertät, die häufig Jugendliche erleben, die aus wirtschaftlichen Verhältnissen zu einer frühzeitigeren Aufnahme der Erwerbstätigkeit gezwungen werden. Sie erleben Pubertät in einer zeitlich komprimierten Form und müssen möglicherweise eher auf traditionelle Geschlechtsrollen zurückgreifen.
Jungen und Genitalität
Während Jungen ihre emotionale Beziehungsgestaltung so erschwert wird, kann ihre genitale Lust von Anfang an wachsen. Relativ selbstverständlich wird das »Schwänzchen« des Säuglings und des Kleinkindes von der Mutter akzeptiert und zur beiderseitigen Freude und Erregung »bespielt«. Der erigierte kleine Penis ist eher Anlass zur Belustigung ‒ »Ganz der Papa!« ‒ als das entsprechende Pendant bei Mädchen. Für den Jungen scheint das Ziel »sexuelle Identität« auf den ersten Blick leichter erreichbar zu sein, weil es auf das »Lernziel Koitus« verkürzt wird. Der sexuelle Auftrag ist klar: mit der Erlaubnis zum penilen Orgasmus verbindet er viele sexuelle Erfahrungen; das heißt: Mädchen zu sammeln und ein perfekter Liebhaber, das heißt: sexuell leistungsfähig, zu werden.
4.5.2 Altersstufen der Entwicklung 10- bis 14-jährige Kinder/Jugendliche sind vorwiegend mit ihren körperlichen Veränderungen konfrontiert. Mädchen erleben ihre Menarche mit 12,2‒13,1 Jahren, je nach herangezogener Untersuchung, und damit 1‒2 Jahre früher als ihre Mütter. Die Ablösung vom Kindheitsalter findet in dieser Phase statt. Die Jugendlichen erobern sich ihre eigenen Freiräume gegenüber der Familie. Wichtige Erfahrungen werden als intimes Geheimnis bewahrt und erste hetero- und homosexuelle Erfahrungen in den neu entstehenden Jugendgruppen erworben. In diesen Peergroups entwickeln sich längerfristige gleichgeschlechtliche Freundschaften und entstehen neue Normen. Dabei müssen Jugendliche ein ent-
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Kapitel 4 · Sexualität
sprechendes Sach- und Orientierungswissen erwerben, um die notwendige Entscheidungs- und Handlungskompetenz zu erreichen. Jungen und Mädchen beginnen mit ersten heterosexuellen Verabredungen und erleben die ersten Küsse. Beispiel Typische Fragen dieser Entwicklungsstufe sind: »Bin ich normal?«, »Halten mich die anderen für normal?«, »Macht Schwulsein Spaß?«, »Was ist Petting, wie geht es?«, »Ist Abtreibung Mord?« Wird man durch Onanie impotent?« usw.
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In der Altersstufe zwischen 15 und 17 Jahren dominiert das sexuelle Lernen. So liegt das durchschnittliche Alter, in dem der erste Geschlechtsverkehr erfahren wird, heute bei ca. 15 Jahren. Entsprechend werden auch andere Formen sexueller Aktivität früher erlebt. Bei beiden Geschlechtern hat die Häufigkeit der Selbstbefriedigung zugenommen, der Zeitpunkt wurde um 1‒2 Jahre vorverlegt. Sexuelle Vorerfahrungen des Partners oder der Partnerin werden toleriert oder auch positiv gewertet. Mädchen und Jungen gehen feste Beziehungen ein. Es beginnt die Pettingphase, an deren Ende der erste Koitus steht. Beispiel Typische Fragen dieser Entwicklungsstufe sind: »Was ist eigentlich Fellatio und Cunnilungus?«, »Was machen Schwule, wenn sie nicht in Hintern vögeln?«, »Sind alle Eltern in Bezug auf Sex so langweilig wie meine?«, »Soll ich meinen Freund verlassen, weil er mit einer anderen geschlafen hat?« usw.
Die Gruppe der 18- bis 21-Jährigen gehört zu den Adoleszenten oder jungen Erwachsenen. Diese sind in ihrer sexuellen Entwicklung bereits erwachsen und probieren Sexualität in ihren unterschiedlichen Erlebensweisen intensivierter und differenzierter mit ihrem Partner aus. Die elterliche Kontrolle hat abgenommen. Es bestehen häufig Beziehungen über einen längeren Zeitraum, die als Möglichkeit genutzt werden, sich der Einflussmöglichkeiten des Elternhauses zu entziehen. Junge Erwachsene tolerieren verschiedene Lebensformen. Die Mehrheit, d. h. ca. 70‒80%, hält jedoch an der monogamen Institution Ehe und Gründung einer Familie mit Kind/Kindern fest. Neue Sexualtechniken, Oralverkehr, Analverkehr, manuelle Befriedigung, werden erprobt. Ausgefallene Sexualpraktiken wie Sadomasochismus oder Sexualfetische werden in den Medien konsumiert. Erste jugendliche Beziehungen werden aufgelöst und durch neue Beziehungen mit veränderter Struktur ersetzt. Beispiel Typische Fragen dieser Entwicklungsstufe sind: »Gibt es einen analen Orgasmus?«, »Bin ich als Frau normal, wenn mich ein Pornovideo erregt?«, »Welchen Typ Mann wollen die Frauen eigentlich?«, »Warum reden Männer beim Sex eigentlich nicht?«, »Braucht man unbedingt eine »Ehe«, um miteinander zu leben?« usw.
4.6
Einfluss der Familie, Schule und Peergroup auf das Sexualverhalten
4.6.1 Einfluss der Familie Die große Bedeutung der Eltern für den sexuellen Lernprozess von Kindern und Jugendlichen kann gar nicht häufig genug he-
rausgestellt werden. Das Verhalten der Familie definiert die Erfassung, Wahrnehmung und Verarbeitung von Informationen über Sexualität von der Geburt an. In diese Informationen gehen natürlich auch Besonderheiten des Konzeptes Familie mit ein, wie z. B. alleinerziehende Familien, durch Armut oder Arbeitslosigkeit belastete Familien usw. 4.6.2 Einfluss der Schule Schulen haben seit den Empfehlungen der Kultusministerkonferenz entsprechend den Richtlinien und Lehrplänen zur Sexualerziehung den Auftrag, Sexualkunde fachübergreifend zu unterrichten. Nach wie vor beteiligen sich in den meisten Institutionen zwei Fächer an der Verbreitung der Sexualkunde, nämlich Biologie und Religion/Ethik. Biologische Sachinformationen bestimmen den Hauptteil des Sexualkundeunterrichts, der in erster Linie als Wissenschaft und abprüfbares Wissen gelehrt wird. ! Themen wie Empfängnisverhütung, Geschlechtskrankheiten, sexuelle Praktiken, Schwangerschaftsabbruch, Partnerschaft, Liebe, Verantwortung oder Sexualität und Behinderung werden nach Angaben der Jugendlichen überhaupt nicht, zu oberflächlich oder nur als Sachinformation behandelt. Wichtige Bereiche der Sexualität, mit denen Jugendliche tagtäglich konfrontiert werden, wie Sexualität und Gewalt, sexuelle Ausbeutung, Homosexualität und viele andere Bereich mehr, werden in Schulen tabuisiert.
4.6.3 Rolle der Medien Immer wieder wird die Frage gestellt, welche Rolle die Medien in der Aufklärung von Jugendlichen spielen (7 Kap. 8). Wir alle wissen, dass »Bravo« das meist gelesene Jugendmagazin in Deutschland ist. »Bravo« hat zudem noch Zuwachs in »Bravo Girl«, »Bravo Sport« und »Bravo Computer« gefunden. Daher verwundert es nicht, wenn Jugendzeitschriften, Aufklärungsbroschüren und Illustrierte von den Jugendlichen als die wichtigsten Medien, abgesehen vom Fernsehen, genannt werden. So ist etwa Bravo das am meisten verkaufte Jugendmagazin (Forschung und Praxis der Sexualaufklärung und Familienplanung. Band 10, S. 35 BzgA). Videokassetten, aber auch Computerprogramme spielen für Jugendliche keine wesentliche Rolle (Präferierte Medien im Vergleich S. 27, Ergebnisse einer Repräsentativbefragung aus 2001, BZgA). Das Internet hat in den letzten Jahren eine deutlich höhere Nutzung durch Jugendliche erfahren. Gerade Portale, die sich mit Themen der Jugendsexualität befassen, wie Vermeidung von übertragbaren Erkrankungen, Anwenden von kontrazeptiven Mitteln, körperlichen, seelischen und sozialen Problemen von Jugendlichen in der Pubertät, haben eine deutliche Verbreitung im Internet erfahren. Dies trifft nicht nur für kommerzielle Anbieter von Information wie z. B. Pharmaindustrie zu, sondern auch auf staatliche oder private Organisationen wie die BzgA (Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung) oder Pro Familia, die immer häufiger von Jugendlichen »angeklickt« werden. Kinder und Jugendliche im 21. Jahrhundert wachsen multimedial auf. Im Vorschulalter bereits dominieren Radio, Kasset-
31 Literatur
tenrecorder und CD-Spieler, Fernseher und Video/DVD-Player. Im Grundschulalter kommen spätestens das interaktive Medium Computer mit seinen multiplen elektronischen Beigeräten und das weltumspannende Internet als multimediale Kommunikations- und Informationsmedien dazu. Dies ist die neue Kontaktkultur für Jugendliche mit einem unendlichen Angebot zu sexuellen Themen jeglicher Art. Es gibt eine große Anzahl von Anbietern sexualmedizinischer Informationen ebenso wie unendliche Angebote mit erotischen, pornographischen, sadomasochistischen oder sexuell abartigen Angeboten. Es gibt nahezu keinen geschützten Bereich, in den medienerfahrene Jugendliche nicht gelangen könnten. Daneben gibt es ein unüberschaubares Angebot von Chat-Foren zu allen möglichen Themen, in denen anonym jeder teilnehmen kann. 4.6.4 Einfluss der Peergroup Dem Funktionsverlust oder Funktionswandel der klassischen Sozialisationsinstanzen Eltern und Schule entspricht ein Bedeutungszuwachs durch die Gruppe der Gleichaltrigen, bzw. der Clique. Die Peergroup tritt heute häufig an die Stelle von Interessensgemeinschaften, die früher eine Sozialisationsinstanz darstellten wie z. B. der Sportverein, Pfadfinder, Musik- oder Trachtenvereine.
4
Entwicklungsaufgaben von Jugendlichen 4 Peergroup: Aufbau eines Freundeskreis sowie neuer, vertiefter Beziehungen zu Altersgleichen; Erwerb neuer und reiferer Beziehungen zu Altersgenossen beiderlei Geschlechtes 4 Soziales Rollenverhalten: Aneignung von Verhaltensmustern, die in der gegebenen Gesellschaft immer noch von Mann oder Frau erwartet werden; Erwerb einer spezifisch männlichen oder weiblichen Rolle; Vorbereitung auf Heirat und Familie 4 Identitätsentwicklung: Entwicklung einer Rollenidentität, d. h. einer Identität die dem Jugendlichen von anderen zugeschrieben wird; Entwicklung einer Ich-Identität, d. h. Identifizierung der Person und Eigenschaften, die sich der Jugendliche selbst zuschreibt 4 Sexualität: Aufnahme intimer hetero- bzw. homosexueller Beziehungen zu Partnern oder Partnerinnen 4 Entwicklung eines Selbstkonzeptes: Wissen, wer er ist und was er will, über sich selbst im Bilde sein; freie Gewissensentscheidungen 4 Zukunftsperspektiven: Entwicklung von Vorstellungen und Strategien zur Lebensgestaltung; Erkennung alternativer Lebensformen
Gruppennormen und Sexualität
Die Gruppe unterwirft sich bestimmten, durch den Gruppenkonsens definierten Regeln. Die Gruppe wird geprägt durch einen auch nach außen vermittelten Konformitätsdruck, z. B. bestimmte Kleidungsvorschriften, markenspezifische Attribute wie Nike-Schuhe oder Fliegerjacken. Die Gruppe grenzt sich von anderen gleichgeschlechtlichen, aber noch deutlicher von gegengeschlechtlichen Gruppierungen ab. Mit großer Wahrscheinlichkeit ist anzunehmen, dass ein intensiver, prägender Einfluss der gleichaltrigen und der gleichgeschlechtlichen Freundinnen bzw. Freunde auf den sexuellen Lernprozess Jugendlicher besteht, da nach Hornstein »die soziale Normierung des Bereiches Sexualität zu einem guten Teil zunächst über die jeweils spezifische Kultur der Altersgruppe erfolgt.« In der Peergroup werden die familiären, schulischen und gesellschaftlichen Vorgaben über Sexualität sowie die medial vermittelten Bilder von Lust und Liebe geprüft, gefiltert, korrigiert, partiell realisiert.
4.7
Entwicklungsaufgaben im Jugendalter
Es gibt viele erste Male in der Sexualität: das erste Date, der erste Kuss, die erste Periode, der erste Samenerguss, das erste Verknalltsein, das erste Mal ein Brust berühren, das erste Mal einen erigierten Penis fühlen, das erste Mal einen Finger in die Scheide stecken oder ein erstes Mal miteinander schlafen. Daraus ergeben sich für Jugendliche individuelle Entwicklungsaufgaben, die in der Pubertät geleistet werden müssen:
Literatur Amendt G (1993) Das Sexbuch, Berlin Baacke D (1997) Peers Medienwelten und neue Konfigurationen, BzgA Forum 3 Braun J, Kinz D (1997) Weil wir Jungen sind. Rororo, Reinbek BzgA, Sexualforschung, BzgA Forum 1-2002 BzgA, Jugendsexualität, Wiederholungsbefragung 2001 der BzgA, 2001 BzgA, Sexual- und Verhütungsverhalten 16- bis 24-jähriger Jugendlicher und junger Erwachsenen, BzgA Bd.12, 1998 GEK (1999) Young is beautiful? Gmünder Ersatzkasse Geuter U (1994) Homosexualität in der deutschen Jugendbewegung, Suhrkamp, Frankfurt am Main Farin K (2002) Jugendkulturen heute, BzgA Forum 1 Friederich M, Trauernicht G (1991) Eindeutig-zweideutig, Votum Fritz J (1997) Was hat Sexualaufklärung mit Computerspielen zu tun, BzgA Forum 3 Hornstein W (1982) Unsere Jugend: Über Liebe, Arbeit und Politik, Beltz Hornstein W: Aufwachsen mit Widersprüchen – Jugendsituation und Schule heute, Klett Krauss Th (1987) Ausgestanzte Sexualität. In: Schuller A, Heim N: Vermessene Sexualität, Springer, Heidelberg LZG, Lets Talk about Sex, Ein Sexheft für Jugendliche Mainz, 1993 Lange C, Müller I (1997) Weil wir Mädchen sind, Rororo, Reinbek Maarburger H, Sielert U (1980) Sexualerziehung in der Jugendarbeit, Diesterweg, Braunschweig Mertens W (1993) Entwicklung der Psychosexualität Bd. I und II Neubauer G (1990) Jugendphase und Sexualität, Enke Ring G (1996) Sexualität, Schneider Buch Schmidt G (1982) Jenseits des Triebprinzips. Überlegungen zur sexuellen Motivation, Urban Schwarzenberg Schöppe A (1997) Sexualberatung im Internet, BzgA-Forum 4 Sielert U (1993) Sexualpädagogik, Beltz, Weinheim Sigusch V (2002) Von der Wollust zur Wohllust, BzgA-Forum 1 Sigusch V (1984) Sexualtheorie und Sexualpolitik, Enke Seiffge-Kranke U (1997) In Pubertät, Pädialog Stange H (1993) Jugend Identität Sexualität, Projekt
32
Kapitel 4 · Sexualität
Walter J (1986) Pubertätsprobleme bei Jugendlichen mit geistiger Behinderung. In: Geistige Behinderung 2, 26 Wanzeck-Sielert Ch (1997) Der Missbrauchsdiskurs und seine Auswirkungen auf Sexualität und Sexualerziehung, BzgA Forum 1/2 Weissenrieder N (2003) Kindheit, Jugend und Sexualität. In: Delisle B, Haselbacher G, Weissenrieder N (Hrsg) Schluss mit Lust und Liebe? Sexualität bei chronischen Krankheiten und Körperbehinderungen. Ernst Reinhardt, München Basel, S 39–64
4
III
Der Jugendliche in der Gesellschaft 5
Jugendliche in der Gesellschaft – Jugend und Politik – 35 R. Schmidt (Bundesministerin für Familie, Senioren und Jugend)
6
Veränderungen der Lebensbedingungen – 38 C. Palentien, K. Hurrelmann
7
Problemverhalten, Entwicklungsprobleme und Gesundheitsversorgung – 41 C. Palentien, K. Hurrelmann
8
Medien
– 47
B. Stier
9
Jugend und Recht – 58 R. Ratzel
10
Ausländische Jugendliche – 60 L. Akgün, C. Çerçi, U. Kling-Mondon
11
Behinderte Jugendliche – 81 I. Achilles, M. Sanna, A. Ermert, W. Storm, N. Weissenrieder
6 Veränderungen der Lebensbedingungen C. Palentien, K. Hurrelmann
)) Die Bedingungen des Aufwachsens von Kindern und Jugendlichen haben sich in den letzten Jahrzehnten gravierend verändert. So besitzen Kinder und Jugendliche heute zahlreiche Freiheiten und Freiräume: Es existieren hohe Freiheitsgrade bei der Wahl von Freunden und Bekannten, Kleidung und »Stil«, der Lebensführung, aber auch bei der räumlichen, zeitlichen und medialen Organisation außerschulischer und -beruflicher Tätigkeiten. Hinzu kommen die Wahl des Bildungs- und Ausbildungsweges, des Berufes, der religiösen Zugehörigkeit etc. Im historischen Vergleich können diese hohen Freiheitsgrade sowohl quantitativ wie auch qualitativ als neu bezeichnet werden. Jedoch sind es gleichzeitig gerade diese Freiheiten, die auch die Anforderungen an eine selbständige Lebensführung erhöhen, d. h. sich zu orientieren, einzuschätzen und abzuwägen, also letztlich zu handeln. Dieser Prozess der Verselbstständigung verläuft indes zeitlich asynchron. So ist es heute typisch für die Lebenssituation von Kindern und Jugendlichen, dass diese sowohl im Bereich des Freizeit- und Medienverhaltens wie auch hinsichtlich ihrer Teilnahme am Konsumwarenmarkt schon sehr früh in die Rolle Erwachsener einrücken können. Gemessen am Zeitpunkt der Familiengründung und Aufnahme einer Erwerbstätigkeit erreichen sie diesen Status aber erst sehr spät.
6
Im Mittelpunkt des folgenden Kapitels steht dieser Entwicklungsprozess: das Einrücken der 12- bis 18-Jährigen in zentrale gesellschaftliche Mitgliedsrollen, die schrittweise Übernahme verantwortlicher sozialer Positionen sowie die mit der frühen soziokulturellen und späten sozioökonomischen Selbständigkeit unvermeidlich verbundenen Spannungen, die den Prozess der Ablösung vom Elternhaus begleiten und von jedem Jugendlichen persönlich bewältigt werden müssen.
6.1
Die »Doppelrolle« der Familie
Charakteristisch für das Jugendalter in westlichen Industriegesellschaften ist die Ablösung vom Elternhaus. Ist eine Ablösung vollzogen, dann ist ein wichtiger Schritt in Richtung Erwachsenenalter erfolgt. Dieser Prozess findet auf psychologischer, kultureller, räumlicher und materieller Ebene statt und beinhaltet unterschiedliche Dimensionen: 4 Auf der psychologischen Ebene, indem sich die eigene Orientierung von Gefühlen und Handlungen nicht mehr vorrangig an den Eltern, sondern an anderen, meist gleichaltrigen Bezugspersonen, ausrichtet 4 Auf der kulturellen Ebene, indem ein persönlicher Lebensstil entwickelt wird, der sich von dem der Eltern unterscheiden kann 4 Auf der räumlichen Ebene, indem der Wohnstandort aus dem Elternhaus hinaus verlagert wird
4 Auf der materiellen Ebene, indem die finanzielle und wirtschaftliche Selbständigkeit erreicht und damit die finanzielle Abhängigkeit vom Elternhaus beendet wird Ausgehend vom jeweiligen Bereich finden Ablösungsprozesse zu unterschiedlichen Zeitpunkten statt. Die psychologische Ablösung erfolgt dabei meist zuerst. Sie hat sich in den vergangenen drei Jahrzehnten weiter vorverlagert und findet heute schon zwischen dem 12. und 13. Lebensjahr statt. Zeitlich vorverlagert hat sich in den letzten Jahren auch die räumliche Ablösung vom Elternhaus, die nicht mehr abrupt, sondern in verschiedenen Schritten erfolgt: Der Anteil derjenigen Jugendlichen, die aus dem Elternhaus ausziehen, vergrößert sich bis zum Ende des 3. Lebensjahrzehnts auf durchschnittlich 90% (Jugendwerk 2000). Zurückverlagert hingegen hat sich die materielle Selbstständigkeit. Sie wird teilweise erst am Ende des 3. Lebensjahrzehnts vollzogen, so z. B. von Jugendlichen, die eine Hochschulausbildung durchlaufen (Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie 1998). Diesen unterschiedlichen Zeitpunkten entsprechend doppeldeutig ist die Stellung der Familie als Sozialisationsinstanz für Jugendliche. Zwar trennen sich viele Jugendliche psychologisch und kulturell schon nach Abschluss der Kindheitsphase von ihren Eltern. Räumlich und finanziell kommt den Eltern aber bei einem wachsenden Anteil Jugendlicher noch bis weit über die Jugendzeit hinaus ein bedeutender Einfluss zu ‒ bedingt durch eine zunehmende Verschulung der Lebensphase Jugend (Palentien 2004).
6.2
Der wachsende Stellenwert der Schule
In den letzten drei Jahrzehnten hat sich in allen Industrieländern der Zeitpunkt des Eintritts in das Beschäftigungssystem für junge Menschen in höhere Altersstufen verschoben. Vor allem ein seit Mitte der 1970er Jahren einsetzendes Ungleichgewicht von Ausbildungsplatzangebot und -nachfrage hat dazu geführt, dass die Erwerbsquote der 15- bis 20-Jährigen stark gesunken ist. Parallel zu dieser Entwicklung setzte eine generelle Umwertung von Bildungsabschlüssen ein: Das seit Mitte der 1970er-Jahre bestehende Überangebot an Bewerbern hatte eine stärkere Selektion von Auszubildenden durch die Arbeitgeber und eine Begünstigung vor allem höher qualifizierter Auszubildender zur Folge. Eine Entwicklung, die sich seit ihrem Beginn kontinuierlich fortgesetzt hat. Heute stellt das Abitur, das durchschnittlich 35% aller Schüler erwerben, den am häufigsten erreichten Schulabschluss in der Gruppe der Jugendlichen dar (Mansel 1998; Palentien 1998). ! Die zunehmende Verschulung der Lebensphase Jugend hat zur Folge, dass die Erfahrung von Erwerbsarbeit und Berufstätigkeit erst sehr spät im Lebenslauf erfolgt.
Hiermit verbunden ist ein Aufschieben des Erfahrens unmittelbarer gesellschaftlicher Nützlichkeit durch eine produktive Tätig-
39 6.3 · Freizeit ist Konsumzeit
keit, ein Aufschieben des Erlebens betrieblicher Normen, ökonomischer Zweckrationalität und der Zuständigkeit für die eigene materielle Existenzsicherung. Zwar bietet die traditionelle Schule viele intellektuelle und soziale Anregungen. Gleichzeitig ist sie aber ein Verhaltensbereich, der nur wenige Verantwortungserlebnisse gestattet, wenige Solidaritätserfahrungen ermöglicht, eine stark individualistische Leistungsmoral forciert, überwiegend abstrakte Lernprozesse bevorzugt und zugleich einen hohen Grad an Fremdbestimmung aufrechterhält (Baethge 1985; Baacke 1999).
6.3
6
Zweierbeziehungen zu Partnern des anderen Geschlechts ‒ bei einem geringeren Anteil auch zu Partnern des gleichen Geschlechts ‒ werden von Jugendlichen heute früher und häufiger eingegangen als noch vor einer Generation. Historisch betrachtet kann eine altersmäßige Vorverlagerung des Eingehens partnerschaftlicher Beziehungen von Jugendlichen nachgezeichnet werden ‒ die dargestellten Tendenzen haben sich bis in die 1990er Jahre hinein gefestigt. Die Ergebnisse aktueller Jugendbefragungen (Jugendwerk 2000; Hurrelmann 2003) zeigen jedoch, dass sich die Phasen, die Jugendliche bis zum Eingehen einer Ehe durchlaufen, nur wenig verändert haben.
Freizeit ist Konsumzeit Phasen bis zu einer Eheschließung
Mit einer Veränderung des Schulbereichs ist auch eine Veränderung des Freizeitbereichs einhergegangen: Im Durchschnitt beträgt die frei gestaltbare Zeit von Kindern und Jugendlichen heute 4‒6 Stunden an Werktagen, über 8 Stunden an Samstagen und über 10 Stunden an Sonntagen (Palentien, 2004). Schüler verfügen über mehr freie Zeit als Auszubildende und Berufstätige. Geschlechtsspezifisch dominieren hierbei die Jungen: Noch immer sind es vor allem Mädchen, die im elterlichen Haushalt helfen müssen und weniger Freizeit haben (Baacke 1999). Ein großer Stellenwert kommt in der Freizeit den finanziellen Mitteln zu; sie sind im letzten Jahrzehnt größer geworden: Eine Angleichung der Situation der neuen an die der alten Bundesländer hat bislang aber noch nicht stattgefunden. Kinder und Jugendliche in den neuen Bundesländern haben weniger Geld als ihre Altersgenossen in den alten Bundesländern. Weniger Geld haben darüber hinaus die jüngeren Jugendlichen. Und: Jungen verfügen über mehr Geld als Mädchen (Krüger 1992; Thole 1992). Im Vergleich zu früheren Kinder- und Jugendgenerationen können sich zwar Kinder und Jugendliche heute mehr leisten. Fast jeder besitzt ein Fahrrad oder ein anderes Fortbewegungsmittel, einen CD-Player, ein Handy oder einen DVD-Player. Die Gründung einer selbstständigen Existenz, das Mieten einer Wohnung o. Ä. erlaubt diese finanzielle Ausstattung jedoch nicht. Ein Auszug aus dem Elternhaus hat sich heute mehr und mehr in das 3. Lebensjahrzehnt verlagert (Baacke 1998). Dass diese Verlagerung des Auszugsalters jedoch nicht heißt, dass sich für Jugendliche ‒ trotz einer eventuellen Mietersparnis ‒ die finanzielle Situation entspannt hat, zeigen die Ergebnisse zur finanziellen Ausstattung der nachwachsenden Generation: So ist der Anteil Jugendlicher, der regelmäßig in Verschuldungslagen gerät, in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen (▶ Kap. 8). Die Ergebnisse einer Untersuchung des Instituts für Jugendforschung (IJF), die im Jahre 2003 durchgeführt wurde, zeigen, dass sich sowohl in den alten als auch in den neuen Bundesländern durchschnittlich jeder neunte Jugendliche zwischen 13 und 24 Jahren in Zahlungsschwierigkeiten befindet ‒ in den neuen Bundesländern mit rund 2130 Euro, in den alten mit rund 1400 Euro (Institut für Jugendforschung 2003).
6.4
Partnerschaften als Schritt in das Erwachsenenalter
Der längeren Abhängigkeit Jugendlicher von ihren Eltern auf der materiellen Ebene steht heute eine zunehmende Selbstbestimmung im Partnerschafts- und Beziehungsbereich gegenüber:
5 Der erste Schritt ist der Einstieg in das jugendkulturelle Leben. Es findet bei der Mehrzahl der Jugendlichen im Zeitraum zwischen dem 14. und dem 16. Lebensjahr statt. 5 Der zweite Schritt umschließt die intimen, meist gegengeschlechtlichen Freundschaften, wobei eine längere Phase des Verliebtseins ohne sexuelle Kontakte für die Altersspanne zwischen dem 15. und dem 17. Lebensjahr charakteristisch ist (7 Kap. 4). 5 Der nächste Schritt stellt die räumliche Trennung von den Eltern dar. Diese Stufe mündet in das Zusammenleben mit einem Partner oder einer Partnerin, eine Art »Ehe auf Probe«. 5 Der letzte Schritt ist die Eheschließung. Sie findet bei der Mehrheit der jungen Männer im Alter von etwa 28 Jahren und bei der Mehrheit der jungen Frauen im Alter von etwa 26 Jahren statt. Die Alterswerte in Ostdeutschland liegen bis zu 4 Jahren unter denen in Westdeutschland.
6.5
Die Jugendphase als Phase der Veränderungen
Betrachtet man die Lebenssituation Jugendlicher zusammenfassend, so zeigt sich, dass es heute zu den Merkmalen dieses Lebensabschnittes gehört, mit widersprüchlichen sozialen Erwartungen umzugehen. Im Bereich des Freizeit- und Medienverhaltens wie auch hinsichtlich ihrer Teilnahme am Konsumwarenmarkt rücken Jugendliche schon sehr früh in die Rolle Erwachsener ein. Gemessen am Zeitpunkt einer Familiengründung und der Aufnahme einer Erwerbstätigkeit wird dieser Status aber erst sehr spät erreicht. Oftmals wird der ohnehin schwierige Prozess des »Einrückens« von akuten oder überdauernden Belastungssituationen im Lebensalltag begleitet, wie z. B. Beziehungsproblemen und Konflikten mit den Eltern, Anerkennungsproblemen in der Gleichaltrigengruppe, moralisch-wertmäßige Orientierungsprobleme, Zukunftsunsicherheiten und schulische Leistungsschwierigkeiten. In diesem Fall stehen Jugendliche nicht nur vor der Aufgabe, Veränderungen zu bewältigen. Vielmehr kommen Störungen tradierter und gewohnter Abläufe sowie lang bestehender sozialer Beziehungen als zusätzliche Anforderungen hinzu. ! Zahlreiche gesundheitliche Probleme, aber auch delinquente Verhaltensweisen Jugendlicher müssen als Reaktion auf diese Herausforderungen betrachtet werden.
40
Kapitel 6 · Veränderungen der Lebensbedingungen
Literatur
6
Baacke D (1998) Die 13- bis 18-jährigen. Eine Einführung in die Probleme des Jugendalters. Beltz, Weinheim Basel Baacke D (1999) Die 6- bis 12-Jährigen. Eine Einführung in die Probleme des Kindesalters. Beltz, Weinheim Basel Baethge M (1985) Individualisierung als Hoffnung und als Verhängnis. Aporien und Paradoxien der Adoleszenz in spätbürgerlichen Gesellschaften oder: die Bedrohung von Subjektivität. In: Soziale Welt, 3, S. 299–312 Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie (Hrsg.) (1998) Die wirtschaftliche und soziale Lage der Studierenden in der Bundesrepublik Deutschland. 15. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks durchgeführt durch das HIS Hochschul-Informations-System. Bonn Hurrelmann K (2003) Lebensphase Jugend. Eine Einführung in die sozialwissenschaftliche Jugendforschung. Beltz, Weinheim Basel Institut für Jugendforschung (2003) Konsumverhalten Jugendlicher. In: http://www.institut-fuer-jugendforschung.de/german/index_forschung.htm, 05.04.2003 Jugendwerk der dt Shell-AG (2000) Jugend 2000. 13. Shell-Jugendstudie. Leske & Budrich, Opladen Krüger HH, Thole W (1992) Jugend, Freizeit und Medien. In: Krüger HH (Hrsg.) Handbuch der Jugendforschung. 2. erweiterte und aktualisierte Auflage. Leske & Budrich, Opladen, S. 447–472 Mansel J, Palentien C (1998) Vererbung von Statuspositionen: Eine Legende aus vergangenen Zeiten? In: Berger PA, Vester M (Hrsg.) Alte Ungleichheiten – neue Spaltungen. Sozialstrukturanalyse Bd. 11. Leske & Budrich, Opladen. 231–253 Palentien C (2004) Kinder- und Jugendarmut in Deutschland. Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden Swoboda WH (1987) Jugend und Freizeit. Orientierungshilfen für Jugendpolitik und Jugendarbeit. Erkrath: Gesellschaft zur Förderung der Freizeitwissenschaften
41
7
7 Problemverhalten, Entwicklungsprobleme und Gesundheitsversorgung C. Palentien, K. Hurrelmann )) Jugendliche müssen in allen gesellschaftlichen Handlungssektoren psychische, soziale, motivationale und praktische Kompetenzen erwerben. Dies betrifft den familialen und partnerschaftlichen Bereich ebenso wie den schulischen und freizeitbezogenen. Probleme ergeben sich dann, wenn wegen spezifischer personaler oder sozialer Bedingungen vorübergehend oder dauerhaft in einem oder mehreren der Handlungsbereiche Jugendlicher unangemessene oder unzureichende Kompetenzen erworben und die von der sozialen Umwelt erwarteten Fertigkeiten und Fähigkeiten, Motivationen und Dispositionen nicht erbracht werden können. Die Handlungs- und Leistungskompetenzen eines Jugendlichen entsprechen in diesem Fall nicht den jeweils durch institutionelle oder Altersnormen festgelegten vorherrschenden Standards. Wird eine »Fehl-Passung« von objektiven Anforderungen und subjektiven Kompetenzen nicht durch personale oder soziale Strategien verändert oder bewältigt, dann sind erhebliche individuelle Beanspruchungen und Belastungen bei Jugendlichen zu erwarten. Im ungünstigsten Fall kann dies in einem »Problemstau« münden – eine schwerwiegende Beeinträchtigung der Bildung von Handlungskompetenzen in einzelnen Handlungsbereichen ist die Folge (Olbrich 1984).
7.1
Aufbau von Bewältigungsstrategien
Jugendliche lernen im Verlauf der Lebensphase »Jugend« bestimmte Muster der Problembewältigung und erwerben Kompetenzen, die es ihnen ermöglichen, normative Entwicklungsaufgaben und lebenslaufspezifische Belastungen sowie Krisen mehr oder weniger konstruktiv zu bewältigen. Eine wichtige grundlegende Komponente für den Aufbau von Bewältigungsstilen ist der Grad der aktiven Erschließung einer Problemkonstellation und das Ausmaß, in dem sich Jugendliche auf überlieferte Vorgaben für ihre Orientierungen und Problemlösehandlungen verlassen können. Als günstig für eine flexible Problembewältigung erweist sich eine gut strukturierte, aber flexible und eigenaktive Wahrnehmung der sozialen Realität, die für neue Eindrücke und rasche spontane Reaktionen bei neu entstehenden Konstellationen offen ist. Als ungünstig erweisen sich ausweichende und passive Strategien der Reaktion (Moriarty u. Toussieng 1980; Medrich u. a. 1982; Oerter 1989). Die unterschiedliche Ausprägung der Kompetenzen für die Bewältigung eines Problems ist ein maßgeblicher Entscheidungsfaktor dafür, ob eine Problemkonstellation in ihren Folgen und Auswirkungen zu einer Belastung wird oder nicht. Alleine die Bewältigungskompetenzen sind aber oftmals nicht ausreichend, um Problemkonstellationen zu meistern.
! Speziell solche Probleme, die nicht unmittelbar durch das eigene Handeln beeinflussbar und veränderbar sind, wie z. B. Schulversagen, Arbeitslosigkeit, Beziehungskrisen, können auch bei Jugendlichen mit hohen Bewältigungskompetenzen zu Überforderungen führen (Palentien 1997).
7.2
Bedingungen für Problembelastungen
Aus einem Missverhältnis zwischen situativen Anforderungen einerseits und eigenen Handlungskompetenzen andererseits entwickeln sich oftmals »untaugliche Lösungen«, die in ihren Erscheinungsformen und Folgen von der sozialen Umwelt als inakzeptabel bezeichnet werden. Dissozialität und Delinquenz, psychosomatische Störungen und gesundheitsgefährdende Verhaltensweisen stellen solche sozial gemiedene oder geächtete und damit für die jeweiligen Personen prekäre Strategien der Reaktion auf Problemkonstellationen dar; in diesem Sinne handelt es sich um »fehlgeleitete« Formen der Auseinandersetzung mit der eigenen Lebenslage. ! Vor allem das Auftreten devianten Verhaltens weist auf erhebliche Schwierigkeiten des persönlichen Entwicklungs- und des sozialen Eingliederungsprozesses im Jugendalter hin (Döbert u. Nunner-Winkler 1976; Bohle 1983, S. 244).
7.2.1 Deviantes und kriminelles Verhalten Deviante Formen der Problemverarbeitung sind dadurch gekennzeichnet, dass sie nicht nur gesellschaftlich unkonventionell und unerwünscht sind, sondern zugleich auch förmlich geächtet und sanktioniert werden, da sie gegen geschriebene und ungeschriebene Normen verstoßen. Während unter »sozial-abweichendem« Verhalten sämtliche normverletzenden und sozial unerwünschten Handlungsweisen ‒ unabhängig von ihrer rechtlichen Strafbarkeit ‒ zusammengefasst werden, bezeichnet »kriminelles« Verhalten nur diejenigen devianten Formen, die nach gesetzlichen Festlegungen strafbar sind (Diebstahl, Körperverletzung, Konsum illegaler Drogen usw.). Die überwiegende Form devianter Problemverarbeitung im Jugendalter ist die Kriminalität, auch wenn ihre tatsächliche Verbreitung nur äußerst schwer zu erfassen ist. Insbesondere Kriminalstatistiken der Polizei haben nur einen begrenzten Wert für die Beurteilung des Ausmaßes krimineller Handlungen, da sie stark vom Anzeigenverhalten der Bevölkerung und von der Organisation, der Kapazität, den Entscheidungsstrategien, den Zählweisen und den Definitionen der staatlichen Kontrollorgane abhängen. Trotz aller Schwierigkeiten hinsichtlich der genauen Erfassung gilt es heute aber als gesichert, dass vor allem Jugendliche aus sozial gestörten Familien sowie
42
Kapitel 7 · Problemverhalten, Entwicklungsprobleme und Gesundheitsversorgung
aus Familien mit ungünstigen materiellen und wohnlichen Bedingungen bei kriminellen Verhaltensweisen überrepräsentiert sind. Überrepräsentiert ist darüber hinaus der Anteil derjenigen, der ohne Berufsausbildung und ohne Beschäftigungsverhältnis kriminell wird: ! Kriminalität bildet vielfach den Endpunkt einer langen Kette von Belastungen durch ungünstige Sozialisationsbedingungen in der Familie, geringen Schulerfolg, fehlenden Schulabschluss, mangelhafte oder fehlende Berufsausbildung und Arbeitslosigkeit.
7
Ein Trugschluss wäre jedoch anzunehmen, dass es sich bei denjenigen Jugendlichen, die zu diesem problematischen Handlungsmuster Zuflucht nehmen, auch um solche Jugendliche handelt, die sich von den Werten, die in der Gesellschaft vorherrschen, verabschiedet haben: Wie Engel und Hurrelmann bereits 1992 in einer sozialstrukturellen Analyse nachweisen, zeigen gerade delinquent gewordene Jugendliche einen hohen Grad der Teilung des vorherrschenden Wertesystems, für das Erfolg und Überlegenheit die Ziele darstellen. An Leistungs- und Prestigeerwartungen zu scheitern, ist nur für diejenigen Personen eine schmerzhafte und enttäuschende Erfahrung, die diese Erwartungen übernommen und das »Leistungsprinzip« als Verteilungskriterium für gesellschaftliche Privilegien akzeptiert haben. 7.2.2 Drogenkonsum Unter Drogen werden alle Substanzen subsumiert, die über das Zentralnervensystem die subjektive Befindlichkeit eines Konsumenten direkt oder indirekt beeinflussen. Die Genussmittel Alkohol und Tabak zählen hierzu ebenso wie die illegalen Drogen Haschisch, Halluzinogene, Amphetamine, Opiate (vor allem Heroin) und Kokain. ! Der Einstieg in den Drogenkonsum (7 Kap. 37) erfolgt bei Kindern und Jugendlichen in der Regel über die legalen Drogen Alkohol und Tabak, zunehmend aber auch über Medikamente und Arzneimittel (Nordlohne, 1992).
Während kriminelles Verhalten in die Gruppe der konfliktorientierten, überwiegend nach »außen« gerichteten Problemverarbeitungsweisen fällt, gehört der Drogenkonsum zu den nach »innen« gerichteten, rückzugsorientierten Formen der Problemverarbeitung. Jugendliche versuchen, sich mit psychotropen Substanzen in bessere Stimmungslagen zu versetzen und ihrer alltäglichen Lebenswelt mit künstlich geschaffenen »besseren« Erlebniswelten zu entfliehen: Cave Drogenkonsum kann rasch zu einer »problematischen Form der Lebensbewältigung« werden – dann, wenn Abhängigkeit und Sucht drohen und der Konsum beginnt, eine produktive Weiterentwicklung der Persönlichkeit zu blockieren.
Das früheste Lernfeld für das Einüben des Umgangs mit Drogen ist die Familie. Erst mit steigendem Alter orientieren sich Jugendliche an Gleichaltrigengruppen (Engel u. Hurrelmann 1989, S. 157): Schon Kinder im Alter von 6‒10 Jahren entwickeln erste Vorstellungen über spezifische Charakteristika und Wirkungen
von Alkohol und Tabak und über die kulturelle und soziale Wertung dieser Drogen (Dinh, Sarason, Peterson u. Onstad 1995). Noch Jahre später beeinflussen gerade diese Vorstellungen die Initiierung eines Substanzkonsums. Tabak und Alkohol Die Zahl der Jugendlichen, die als Droge die Substanz Tabak wählen, ist in den letzten Jahrzehnten deutlich geringer geworden. Im Jahr 1997 gaben in den alten Bundesländern nur noch 26% der 12- bis 17-Jährigen und 49% der 18- bis 25-Jährigen, an, dass sie gelegentliche oder ständige Raucher seien. Festzuhalten ist allerdings auch, dass in der jüngsten Altersgruppe 1997 erstmals wieder ein Anstieg der Konsumentenquoten um 5 Prozentpunkte gegenüber dem Vergleichszeitpunkt von 1993 zu verzeichnen war (BZgA 1998; s. hierzu auch Kolip 2000; Müller 2000). Anders stellt sich die Situation in den neuen Bundesländern dar: Dort sind die Konsumquoten seit 1993 von 19% bei den 12- bis 17Jährigen auf 34% und von 42% auf 56% bei den 18- bis 25-Jährigen gestiegen ‒ einerseits sicherlich aufgrund des durchgehend niedrigeren Ausgangswertes in den neuen Bundesländern, andererseits aber auch aufgrund der sich regional unterschiedlich verteilenden Chancenstrukturen Jugendlicher: ! Noch immer sind die Möglichkeiten für Jugendliche in den neuen Bundesländern wesentlich geringer, eine Beschäftigung in ihrem Wunschberuf zu realisieren, und die Risiken höher, in Armut aufzuwachsen oder – z. B. in der Familie – mit Armut konfrontiert zu werden.
Die Initiierung des Rauchens wird wesentlich von sozialen Einflüssen geprägt, wobei sowohl das familiale Umfeld, vor allem aber die gleichaltrigen Peers eine wichtige Rolle spielen (Fuchs 2000; Jackson 1997). Ein weiterer wichtiger Einflussfaktor sind emotionale Regulationsprozesse. Auszugehen ist davon, dass der Zigarettenkonsum nicht nur von Erwachsenen, sondern bereits von Jugendlichen als Mittel zur Entspannung und Befindlichkeitsverbesserung eingesetzt wird (Byrne, Byrne u. Reinhart 1995; Willis, Duhamel u. Vaccaro 1995) – besonders dort, wo vermehrt Stressereignisse und Belastungserleben durch die Schule oder die Familie auftreten. Ein Rückgang der Konsumquoten lässt sich auch für den Alkohol konstatieren. Nach einer Studie der BzgA (1998) sind die Prävalenzraten für alle alkoholischen Getränkearten in den letzten 20 Jahren deutlich gesunken. So hat sich in den Ländern der alten Bundesrepublik der (mindestens) einmal wöchentliche Bierkonsum von 42% im Jahr 1977 auf 24% im Jahr 1997 fast halbiert, die Raten für Wein sind von 21% auf 10%, die von Spitrituosen von 17% auf 5% gesunken. In den neuen Bundesländern lagen die Raten für mindestens wöchentlichen Konsum bei 23% für Bier, 7% für Wein und 6% für Spirituosen. Inwieweit es sich bei diesem Trend lediglich um eine Konsumverlagerung von den »traditionellen« alkoholischen Getränken, wie z. B. Bier und Wein, hin zu neuen Angebotsformen, wie z. B. Alcopops, handelt, müssen Langzeitstudien zeigen. So haben gerade neue Angebotsformen alkoholischer Getränke, wie sog. Alcopops, in den letzten Jahren enorm an Zuspruch erfahren. Die aktuellsten Untersuchungen der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung aus dem Jahre 2003 (BzgA 2003) zeigen hierzu, dass rund 49% der 14- bis 29-Jährigen in den letzten 30 Tagen zum Zeitpunkt der Befragung »Alcopops« getrunken haben. In der Gruppe der 14- bis 19-Jährigen liegt dieser Wert sogar bei 59%.
43 7.3 · Prävention und Gesundheitsförderung im Jugendalter
Allerdings gibt es auch unter den jugendlichen Konsumenten »traditioneller« alkoholischer Getränke nach wie vor relevante – vor allem männliche – Subgruppen, die riskante Alkoholkonsummuster zeigen. So erwiesen sich in einer Münchener Stichprobe 8,9% der einbezogenen 16- bis 17-Jährigen als alkoholmissbrauchend, 3,9% mussten sogar als alkoholabhängig gelten (Holly, Türk, Nelson, Pfister u. Wittchen 1997). ! Die Ausgangssituation für die Aufnahme des Alkoholkonsums ist zumindest teilweise mit den Ursachen für Tabakkonsum vergleichbar. So gibt es Parallelen bezüglich der Bedeutung des elterlichen und vor allem des Peereinflusses.
Eine Rolle spielen darüber hinaus Belastungs- und Versagenserleben (Nordlohne 1992; Semmer et al. 1991). Eine genetische Komponente spielt hier wahrscheinlich eine noch größere Rolle als beim Rauchen. Elterlicher Alkoholismus ist – über den Sozialisationseffekt hinaus – offensichtlich ein wichtiger ätiologischer Faktor für die Entstehung von Alkoholmissbrauch und -abhängigkeit (Prescott u. Kendler 1999; Leppin 2000) Cave Tabak und Alkohol – so lassen sich diese Befunde zusammenfassen – sind eindeutig die verbreitetesten Drogen in unserem Kulturkreis. Obwohl sie legal sind, müssen sie daher als die gefährlichsten aller Drogen eingestuft werden: Mittel- und langfristig können sie zu Abhängigkeit führen, was vor allem im Fall des Alkoholkonsums mit psychovegetativen Störungen, Lern- und Konzentrationsproblemen und erheblichen Beeinträchtigungen und Blockierungen der weiteren Persönlichkeitsentwicklung einhergehen kann. Verantwortlich sind sie darüber hinaus langfristig – dies gilt für Rauchen und starken Alkoholkonsum – für massenhaft auftretende Gefährdungen der physischen Gesundheit wie Herz-Kreislauf-Störungen und Krebskrankheiten.
Illegale Drogen Im Gegensatz zum Tabak- und Alkoholkonsum ist ‒ nach konstanten Raten in den 1980er-Jahren ‒ in den 1990ern der Anteil der Jugendlichen mit Drogenerfahrung wieder leicht gestiegen (BzgA 1998). Eindeutig am häufigsten ist im Jugendalter die Erfahrung mit Haschisch/Marihuana. Andere Substanzen werden in weitaus geringerem Maße konsumiert. Obwohl der größte Teil der Jugendlichen, der Haschisch konsumiert, hiermit seine »Drogenkarriere« beendet (Kandel, Kessler u. Margulies 1978), setzt eine Minderheit von ihnen diese Karriere fort: Zusätzlich zum Haschisch werden von diesen Jugendlichen oftmals »harte« illegale Drogen konsumiert oder der Haschischkonsum durch diese härteren Drogen ersetzt (Bachmann, Johnston u. Malley 1990). Insgesamt kann davon ausgegangen werden, dass Erfahrungen mit einer Substanz den Konsum weiterer Substanzen begünstigen. So erhöht Rauchen die Wahrscheinlichkeit für intensiveres Alkohohltrinken, häufige Alkoholräusche wiederum machen Cannabiskonsum wahrscheinlicher (BzgA 1998; Lieb et al. 2000), der wiederum eher zum Gebrauch anderer illegaler Drogen wie Ecstasy, LSD, Kokain oder Heroin führt. Der Beginn des Konsums von Haschisch/Marihuana geschieht in vielen Fällen im Sinne eines Probier- und Experimen-
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tierverhaltens. Ob es zu regelmäßigem Konsum und dann auch zum Transfer auf »härtere« Substanzen kommt, hängt von Persönlichkeits- und Umweltfaktoren sowie biologischen und psychologischen Rahmenbedingungen für Suchtprozesse ab (Reuband 1990). Die Ausgangskonstellationen für die Aufnahme des Konsums von Haschisch ‒ wie auch anderer illegaler Drogen ‒ zeigen Parallelen zu denen des Alkoholmissbrauchs: Auch hier spielt eine familiäre Belastung mit Substanzstörungen wie der Konsum in der Peergruppe eine Rolle (Lieb et al. 2000). Unter den betroffenen Jugendlichen finden sich auch sehr häufig solche, die tiefsitzende Familienkonflikte mit schweren Störungen der zwischenmenschlichen Beziehungen erlebt haben.
7.3
Prävention und Gesundheitsförderung im Jugendalter
Eine Vielzahl der Ursachen, die heute für den Drogenkonsum im Jugendalter benannt werden, zeichnen sich zumeist durch einen lang andauernden Verlauf aus und haben ihre Wurzeln oftmals in Verhaltensdispositionen, Lebensweisen und -stilen, die teilweise bis in das Kindesalter zurückgehen. Gesellschaftliche Lebensbedingungen, gesellschaftlicher Wandel und darauf bezogene Verhaltensgewohnheiten und -optionen erweisen sich als zunehmend bedeutsam für die Gesundheitssituation Jugendlicher. Immer mehr setzt sich deshalb die Erkenntnis durch, dass sozialepidemiologische, sozialpsychologische, psychosomatische und medizinsoziologische Betrachtungsweisen nötig sind, um das rein biomedizinisch ausgerichtete Analysespektrum im Hinblick auf die Krankheitsentstehung und -vermeidung zu ergänzen (Schwarzer 1990). Diese Betrachtung muss dabei neue Strukturen präventivgesundheitsvorsorglicher Konzepte einschließen, denn der bisherigen Gesundheitserziehung mit ihren traditionellen Zugangswegen über die Vermittlung rationaler Wissensbestände und Schadenswarnungen oder moralisierenden Ermahnungen ist es ‒ wie das Beispiel der Suchtprävention zeigt ‒ nicht gelungen, stabile Vorsorgeorientierungen und gesundheitsbewusstes Verhalten in den Lebensweisen von Jugendlichen zu verankern (Leppin 2001). Mit dem Stichwort »Gesundheitsförderung« werden in der interdisziplinären Diskussion verschiedene Maßnahmen der Verbesserung der Lebens- und Umweltbedingungen Jugendlicher bezeichnet. Gesundheitsförderung ist dabei nicht ausschließlich an medizinische Dienste und Versorgungseinrichtungen gebunden, wenngleich der Versorgung ein nicht unmaßgeblicher Stellenwert im Kontext der Realisierung von Ansätzen und Maßnahmen zukommt. 7.3.1 Strukturen der Gesundheitsversorgung Ansätze und Maßnahmen, die zum Ziel haben, die individuelle und kollektive Gesundheit zu fördern, haben die sich in den Belastungen ausdrückenden psychischen, sozialen, kognitiven, biologischen und die diese Dimensionen determinierenden Bedingungen sowohl auf der informellen als auch auf der professionellen Ebene gleichermaßen zu berücksichtigen. Auf der informellen Ebene kommt vor allem der Familie und der Peergroup heute eine wichtige Bedeutung zu. Als zentrale
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Kapitel 7 · Problemverhalten, Entwicklungsprobleme und Gesundheitsversorgung
Sozialisationsinstanzen sind sie für die Grundlegungen von Verhaltensmustern in den Bereichen Hygiene, Ernährung etc. direkt oder indirekt verantwortlich. Einen Einfluss üben familiäre Gesundheitseinstellungen und -verhaltensweisen darüber hinaus auch auf den in dieser Lebensphase fast ausschließlich elterninitiierten Umgang mit Einrichtungen der medizinischen Versorgung aus. Auf der professionellen Ebene zählen zu den Institutionen und Trägern im Bereich der Gesundheitsförderung Einrichtungen des Bundes, der Länder und der Kommunen, Krankenkassen, Berufsverbände und -kammern, teilweise in freier Trägerschaft, kommerzielle Einrichtungen, Medien etc. In allen genannten Bereichen und Einrichtungen werden Ansätze der Prävention und Gesundheitsförderung auf unterschiedlichem Wege verfolgt. Im Kontext der heute als dringlich zu bezeichnenden gesundheitlichen Problemlagen im Kindes- und Jugendalter und ihrer Ursachen kommt aber vor allem der ambulanten medizinischen und psychosozialen Beratung ein großer Stellenwert zu.
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! Aktuelle Studien zeigen, dass Ansätze der Prävention und Gesundheitsförderung insbesondere dann aussichtsreich sind, wenn sie (1.) an den Erfahrungen und Erlebnissen von Kindern und Jugendlichen ansetzen, (2.) die vorherrschenden normativen und sozialstrukturellen Rahmenbedingungen berücksichtigen und den alltäglichen sowie durch (3.) soziale und kulturelle Einflüsse geprägten Lebensstil von Kindern und Jugendlichen in ihren Ansatz miteinbeziehen (Palentien 1997).
Beraterische Angebote, die einen selbstkritischen Umgang mit den eigenen gesundheitszu- bzw. -abträglichen Verhaltensweisen einschließen und nicht als ein Aufzwingen offizieller Erwachsenennormen verstanden werden können, erfüllen von ihrem theoretisch-konzeptionellen Anspruch diese Voraussetzungen am ehesten. 7.3.2 Ärzte in der Schule Neuere Modelle der Gesundheitsförderung betrachten Gesundheit als einen Gleichgewichtszustand zwischen sozial-ökologischen, körperlich-physiologischen und innerpsychischen Prozessen. Gleichermaßen werden die psychischen, sozialen, kognitiven und biologischen Bedingungen in allen für Kinder und Jugendliche relevanten Bereichen, wie z. B. den Erziehungs- und Bildungsinstitutionen, zu berücksichtigen versucht. Schulen sind nicht nur als Auslöser von Belastungen, sondern auch als Träger jeder Form von Gesundheitsförderung als besonders wichtig anzusehen. Sie sind ein zentraler Bestandteil der Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen und erreichen alle Angehörigen der nachwachsenden Generation während entscheidender Jahre der Persönlichkeitsentwicklung. Sie wirken nicht nur curricular, durch die vermittelten Wissenselemente und Unterrichtsbestandteile, sondern auch durch ihr gesamtes soziales und »ökologisches« institutionsspezifisches Angebot an Arbeitsverhalten, körperlicher Betätigung, hygienischem Verhalten, Ernährungsverhalten, Gestaltung des Tagesrhythmus usw. Schulen sind aus diesen Gründen wichtige soziale Felder für den Aufbau gesundheitsrelevanter Verhaltensweisen – auch in den Bereichen, in denen Gesundheit nicht explizit zum Thema gemacht wird.
In verschiedenen Ländern werden Überlegungen und Versuche angestellt, den besonderen Gesundheitsbedürfnissen von Kindern und Jugendlichen dadurch gerecht zu werden, dass Schulen ärztliche Beratungsstellen angegliedert werden. In diesen Einrichtungen soll sich fachlich geschultes Personal mit den Krankheitsbildern und Gesundheitsbeeinträchtigungen befassen, die charakteristischerweise in den Lebensphasen Kindheit und Jugend auftreten. ! Durch die Nähe zu Erziehungs- und Bildungseinrichtungen soll vor allem das Zugangsproblem vermindert werden, indem die sozialen, psychischen und auch räumlichen Barrieren überwunden werden, die heute bei Kindern und vor allem Jugendlichen gegenüber helfenden Institutionen zu beobachten sind.
Hierneben stehen in Schulen heute auch Programme zur Verfügung, die auf die spezifischen Belange von Kindern und Jugendlichen mit chronischen Krankheiten (Asthma, Neurodermitis, andere Allergien, Diabetes usw.) zugeschnitten sind und die ihren Schwerpunkt von präventiven auf rehabilitative Interventionsformen verlagert haben (Leppin 2000). Neben den Erziehungs- und Bildungsinstitutionen kommt heute vor allem den Einrichtungen der medizinischen und psychosozialen Versorgung ein besonderer Stellenwert für die gesundheitliche Situation von Kindern und Jugendlichen zu. Vielfach stoßen die in diesen Einrichtungen verfolgten Ansätze jedoch schon im Vorfeld an System- und Organisationsgrenzen. Untersuchungen zur Inanspruchnahme medizinischer und psychosozialer Hilfen zeigen, dass sich Jugendliche nur unzureichend an diese Einrichtungen wenden. ! Sollen bestehende Zugangsbarrieren überwunden werden, gehört es zu den wesentlichen Aufgaben aller an der Gesundheitsförderung Beteiligten, sich für eine verstärkte Kooperation verschiedener Institutionen – über die Grenzen ihrer eigenen Disziplin hinweg – einzusetzen.
Stress im Kindes- und Jugendalter ist immer eine Mischung aus den Problemen, die auf einen jungen Menschen zukommen einerseits, und die dem Einzelnen zur Verfügung stehenden Handlungskompetenzen andererseits. Ärzte in der Schule können nicht nur – als Anwalt des Kindes – versuchen, die Probleme an den entscheidenden Stellen zu thematisieren, um sie zu minimieren. Als eine zusätzliche Ansprechinstanz für das Kind oder den Jugendlichen wirken sie auch der Entstehung von Stress entgegen, also fördern die Gesundheit, und zwar zu einem Zeitpunkt, in dem Krankheiten oftmals noch nicht entstanden sind. ! Ziel aller dieser Aktivitäten muss es sein, Jugendliche »stark zu machen«. Junge Menschen müssen lernen, dass es sich lohnt, ihre vielfältigen und schwierigen Aufgaben zu lösen – und zwar ohne Rückgriff auf psychoaktive Substanzen.
Dabei hat sich in einer ganzen Reihe von Evaluationsstudien gezeigt, dass diese neueren Ansätze im Gegensatz zu den traditionellen Präventionbemühungen der 1970er- und 1980er-Jahre durchaus erfolgreich zu sein scheinen (s. z. B. Leppin, Hurrelmann u. Petermann 2000; Tobler u. Stratton 1997).
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Kapitel 7 · Problemverhalten, Entwicklungsprobleme und Gesundheitsversorgung
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8 Medien B. Stier
)) Rebecca: »Ich denke, ich könnte nicht gut ohne Fernsehen und Radio auskommen. Schon eher könnte ich auf den Computer verzichten. Ich bin mir aber ganz sicher, dass das Leben ohne Medien viel langweiliger wäre.« (Vogelgesang 2003) Ist das Anhören von Popkassetten entspannend und stimulierend oder macht es nervös? Haben aggressive Jugendliche ihre Handlungsmodelle aus den Medien? Machen Bilder neugierig, erweitert Fernsehen den geistigen Horizont oder verdrängt es das Lesen und führt zur Verdummung? Jede Menge Fragen – kennen wir die Antworten? Ein erster Schritt ist schon, genauer Bescheid zu wissen, wie die Medienwelten Jugendlicher heute aussehen.
Freizeitaktivitäten von Jugendlichen konzentrieren sich zunehmend stärker auf die Medienwelt (Richter u. Settertobulte 2003). Dabei kommen Studien, die den Zusammenhang zwischen Medienkonsum und Gesundheit zum Gegenstand haben, zu höchst unterschiedlichen Ergebnissen. Während die einen Hinweise darauf liefern, dass Personen mit einem hohen Medienkonsum körperlich aktiver und sozial besser eingebunden sind, zeigen andere Ergebnisse, dass übermäßiges Fernsehen und Computerspielen mit häufigem Konsum von zuckerhaltigen Limonaden und Verzehr von Fastfood, Süßigkeiten und Kartoffelchips einhergeht. Von »den Medien« zu sprechen ist eigentlich nicht zulässig. Die Repräsentanten im Medienbereich (z. B. Fernsehen, Computerspiele, Internet) haben ganz unterschiedlichen Einfluss und verschiedenste Auswirkungen. Und auch der Einsatz von Medien an unterschiedlichen Orten zu unterschiedlichen Zwecken führt zu sehr divergierenden Ergebnissen (z. B SMS ‒ Kommunikation als Mittel sozialer Einbindung; Chatten im Internet als Risiko sozialer Ausnutzung).
Medien und Mediennutzung
8.1
Klassische Medien 5 5 5 5 5
Bücher, Zeitungen, Zeitschriften Radio Fernsehen Video (als »zeitversetztes« Fernsehen) (Hörspiel-)Kassetten oder CDs
Moderne (interaktive) Medien 5 Computer und Internet 5 Spielekonsole und Handhelds 5 Handy
Das Fernsehen gilt allgemein als das Einstiegsmedium in die Medienwelt, obwohl Radio bzw. Kassetten bzw. CDs, insbesondere
auch Hörspiele, immer früher Einzug in das Kinderzimmer halten. Zu den audiovisuellen Medien, speziell zum Fernsehen, liegen vergleichsweise viele Untersuchungen vor, auf die sich dieser Beitrag vor allem bezieht. Führt man sich die heutige Medienlandschaft vor Augen, lässt sich ein vielfältiges Angebot beobachten: Um die 30 Fernsehkanäle, zahlreiche Radioprogramme, mehr als 300 überwiegend auf jüngere Konsumenten abzielende Stadtmagazine und rund 80 am Kiosk erhältliche Jugendzeitschriften inszenieren ein Informationsangebot rund um die Uhr. Und nicht zuletzt das Internet bzw. das sog. World Wide Web stellt eine noch nie zuvor dagewesene Informationsfülle gerade auch für Jugendliche zur Verfügung. ! Der Umgang mit Medien aller Art wird immer mehr zu einer unverzichtbaren Kulturtechnik – wie Lesen, Schreiben und Rechnen.
Auf der anderen Seite haben Medien u. a. einen starken Einfluss auf Erwerb und Modulation der Geschlechterrolle, Konfliktbewältigung, Einstellung zur Sexualität und das Sozialverhalten. Je weniger tragfähig die Werterhaltung im »realen« Umfeld ist, d. h. im Elternhaus, in der Schule und in der Peergroup, desto größeres Gewicht können Medien erlangen. Wir stehen erst am Anfang, wenn es darum geht, Kinder und Jugendliche im Umgang mit der »Kommunikationswelt« entsprechend zu schulen. Eine wichtige Voraussetzung dafür ist die Zusammenarbeit mit Medienpädagogen. Der soziale, kulturelle und Alltagshintergrund bestimmt ‒ ebenso wie das Geschlecht ‒ in entscheidendem Maß die Wünsche, Vorlieben und Bedürfnisse, die Jugendliche besonders an das Fernsehen stellen. Gleichzeitig beeinflusst er auch die Orientierung, Verarbeitungsmöglichkeiten und Entwicklungshilfen, die Jugendlichen z. B. aus dem Fernsehen und Internet vermittelt werden. Daraus folgt: Aus ihrer erlebten Alltagswelt erfahren sie Verstärkung oder Milderung der gesehenen Inhalte. Sie übernimmt demnach die Rolle des notwendigen Korrektivs der Medienwelt. Um nun soziales Wissen zu födern, ist das elterliche Vorbild eine notwendige Voraussetzung. Dies gilt bereits ab frühester Kindheit. Dabei ist es wichtig, das Verständnis im Umgang miteinander zu schulen und kritisch zu hinterfragen z. B., ob Konflikte tatsächlich immer nur mit Gewalt zu lösen sind, Männer immer stark und überlegen sein müssen und Frauen immer nur hübsch und angepasst, wie es etwa manche Filme, aber auch Werbung oder Videoclips, oftmals suggerieren möchten. Die Selbstentscheidung (Autonomie) entwickelt sich erst im späteren Jugendalter. Das heißt, dass im frühen und mittleren Jugendalter im Regelfall die moralische Instanz der Bezugsperson(en) für die Bewertung des Gesehenen und Gehörten noch maßgeblich ist. Gerade auch für das Fernsehen gilt: das Wiederholen ist eine sehr effektive Memorierstrategie. So bergen z. B. ständig tradierte Klischees die Gefahr, rasch zum »Allgemeingut« zu werden. Einer gesunden körperlichen Entwicklung abträglich ist die Tatsache, dass Medienkonsum relativ bewegungsarm abläuft.
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Kapitel 8 · Medien
Mehr körperliche Aktivität als beim Medienkonsum ist beispielsweise beim gemeinsamen Spielen (Mannschaftssport) notwendig, so dass sich ein optimales Erregungsniveau einstellen kann. Der Jugendliche erfährt hierbei seine Befriedigung in der Aktivität selbst. 8.1.1 Was wollen Jugendliche vor allem sehen? Als Favoriten können Zeichentrickfilme, Comics, Werbespots, Spielfilme, Filme um Liebe und Sexualität gelten. Bei den Vorlieben sind jedoch Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen festzustellen: 4 Jungen: Actionfilme, Sport, Western, Technik 4 Mädchen: Familienserien, Popmusik, Quiz und Shows
8
Aus den geschlechtsspezifischen Vorlieben erfolgt unbewusst eine Rollenübernahme mittels Medien, daraus entwickelt sich auch zugleich ein »Übungsfeld«, auf dem die Rezipienten das Muster der Rollenübernahme (»role-taking«) durch »para-soziale Interaktion« mit den Medienfiguren erproben können, d. h. es kommt zu einer Rollenübernahme durch die Identifikation mit einer Person im Film (mitfiebern). Jugendliche können sich zu Medienfreaks entwickeln, sie sind aber keine ferngesteuerten Medienopfer. Im positiven Fall eignen sie sich den konstruktiven Umgang mit Medien aktiv an und entwickeln Wissens- und Wahrnehmungsmuster, die sie produktiv zur personalen Identitätssicherung und jugendkulturellen Selbstverortung einsetzen. Fernsehen und Musikhören zählen zu den Spitzenreitern im jugendlichen Medienensemble. Nach den Feststellungen des Medienpädagogischen Forschungsverbundes Südwest verfügen etwa die Hälfte der 13- bis 15-Jährigen über einen Fernseher im eigenen Zimmer. Unter den 16- bis Jährigen sind es knapp 70% ‒ mit weiterhin steigender Tendenz (zit. nach: Die Zeit Nr. 39, 18.09.2003). Zu den größten Verlieren gehört das Medium Video, zum größten Gewinner das Internet, hier vor allem verstanden als Instrument für (Online-)Computerspiele (Vogelgesang 2003). 8.1.2 Fernsehkonsum Jugendliche verbringen heutzutage an Schultagen durchschnittlich 2,3 Stunden vor dem Fernseher. Jungen sehen dabei mehr fern als Mädchen. Am Wochenende steigt der Fernsehkonsum auf durchschnittlich 3,4 Stunden bei Jungen und 3 Stunden bei Mädchen an, und in der Woche verbringen 11- bis 15-Jährigen im Durchschnitt 17,5 Stunden vor dem Fernseher. In der Altersgruppe der 16- bis 19-Jährigen hält es sich annähernd auf gleichem Niveau bzw. kommt es zu einem leichten Rückgang (Richter u. Settertebulte 2003). Der leichte Rückgang kann damit zusammenhängen, dass sich die Lebenswelt in diesem Altersbereich ändert (Beruf, feste Beziehung) sowie andere kommunikative und soziale Beschäftigungen in den Vordergrund rücken (z. B. Zweisamkeit pflegen, was gemeinsam unternehmen). Durch die Verfügbarkeit eines eigenen Fernsehers erhöht sich der tägliche Fernsehkonsum werktags von 2,5 auf etwa 3,5 Stunden, an den Wochenenden von etwa 4 auf 5 Stunden (zit. nach: Die Zeit Nr. 39, 18.09.2003).
8.1.3 Computernutzung Der Computer wird zunehmend mehr zum Alltagsbegleiter von Jugendlichen. Der Anteil der Nichtnutzer von Computern hat sich seit 1998 von 20% auf 10% im Jahr 2001 halbiert, während der Anteil der intensiven Nutzer (täglich bzw. mehrfach in der Woche) im gleichen Zeitraum von 48% auf 64% gestiegen ist (Richter u. Settertebulte 2003). Auch die Ergebnisse der Studie »JIM 2003» (JIM – Jugend, Information, (Multi-)Media – http:// www.mpfs.de) zeigen, dass sich der Trend hin zur Computer- und Internetnutzung bei den 12- bis 19-Jährigen weiter gefestigt hat. Ein wichtiger Grund indes ist auch, dass Computer im Laufe der Zeit bedienerfreundlicher geworden sind. In nahezu allen Haushalten (96%) ist mindestens ein Computer vorhanden, 53% der Jugendlichen verfügen über einen eigenen PC oder ein Laptop. Die Ausstattung mit Internetzugang beträgt in den Haushalten inzwischen 85%, wobei 34% der 12- bis 19-Jährigen vom eigenen Zimmer aus im Internet surfen können. Der Anteil der Internetnutzer unter den Jugendlichen steigt von Jahr zu Jahr kontinuierlich. Insgesamt zeigt sich heute ein übergroßes Angebot an Computertechnik, zudem wird Hardware inzwischen als Massenware angeboten, sodass sich fast jeder einen Computer, Handheld (z. B. Gameboy) oder eine Konsole (z. B. Playstation) leisten kann. In immer kürzeren Zeitabständen kommen verbesserte Grafikkarten auf den Markt. Jungen der 5.–9. Klasse (1,1–1,8 Stunden an Schultagen) verbringen deutlich mehr Zeit vor dem Computerbildschirm als gleichaltrige Mädchen (0,6–0,7 Stunden an Schultagen); zum Thema Computer-(Spiele-) und Internetsucht 7 Abschn Mediensucht und 7 Kap. 37. Sozioökonomische Unterschiede in Fernsehkonsum und Computernutzung Deutliche Unterschiede zeigen sich sowohl bei der durchschnittlichen Sehdauer wie auch bei den Sender- und Programmpräferenzen, die sich offenbar an sozialen Merkmalen festmachen lassen. Je niedriger der familiäre Wohlstand, desto höher ist das Risiko der Jugendlichen, einen großen Teil ihrer Freizeit vor dem Fernseher zu verbringen. Hingegen lässt sich für die (intensive) Computernutzung an Schultagen kein signifikanter Effekt des familiären Wohlstandes nachweisen (Richter u. Settertebulte 2003). Eventuell kommt hier allerdings die Variable »Besitz eines Computers« zum Tragen. So sind immer mehr Computer in finanziell besser gestellten Haushalten anzutreffen, während es in sozial schlechter gestellten Schichten weniger Zugriffsmöglichkeiten gibt. Fernsehen hingegen ist heutzutage fast ubiquitär vorhanden. Hinzu kommt, dass Freizeit (Sport, Ausgehen etc.) Geld kostet. Sozial schlechter gestellte Jugendliche sind signifikant seltener in Sportvereinen organisiert (mehr Sport auf der Straße), da eine Vereinszugehörigkeit Geld kostet. Im Verhältnis dazu ist Fernsehen eine »preiswerte« Freizeitbeschäftigung. Damit einher geht das Vorbildverhalten der Eltern, welches weniger Alternativen aufzeigt. 8.1.4 Internetnutzung Das Internet stellt Informationen aller Art zur Verfügung. Nach Stiehler surfen 30% der jugendlichen Internetnutzer täglich oder mehrfach pro Woche im Internet nach bestimmten Themen (. Tab. 8.1).
8
49 8.1 · Medien und Mediennutzung
. Tabelle 8.1. Auswahl der Themen aus dem Internet durch Jugendliche (Angaben in %, Mehrfachnennungen möglich; aus: Stiehler, 2003)
Aktuelles aus aller Welt Mode/Klamotten Bücher Autos Politik in der (Wohn-)Gegend Politik in Berlin
Gesamt
12–13 J.
14–15 J.
16–17 J.
18–19 J.
53 47 26 28 13 9
50 50 36 23 10 10
56 55 21 25 9 5
54 46 18 30 13 8
53 36 30 33 21 14
Angesichts der Gefahren, die neben dem Informationsangebot noch im Internet lauern können, gehen Jugendliche häufig sorglos mit diesem Thema um (Studie des Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik ‒ BSI). BSI-Präsident Udo Helmbrecht formuliert es so: »Obwohl die Hälfte der 12- bis 18Jährigen das Thema Sicherheit im Internet als wichtig einschätzt, weiß laut Studie jeder dritte Jugendliche nichts über die Gefahren im Internet. 50% der Mädchen und 25% der Jungen kennen sich nicht aus. So scheinen Viren aus Sicht der Jugendlichen dazuzugehören wie eine Erkältung im Winter.« Auch die Gefahren in Chatrooms werden vielfach unterschätzt. Laut »JIM-2003« geben die Hälfte der Chatroom-Nutzer an, bereits ein- oder mehrmals auf Personen gestoßen zu sein, die belästigen, aufdringlich sind oder unangenehme Fragen stellen. Cave Gerade Mädchen können rasch in eine pornographische Falle gelockt werden. Pädosexuelle spüren häufig ihre Opfer im Internet auf. Sogar auf vielen Schulhöfen werden inzwischen Internetadressen getauscht, die eine Sammlung perverser Bilder zeigen.
Verletzungen des Urheberrechts durch illegale Downloads sowie Kopien von Film- und Musiktiteln sind ebenfalls ein kritisches Thema. Hier ist unbedingt mehr Aufklärung der Eltern und der Lehrer zu fordern, damit sie Jugendliche entsprechend medienpädagogisch begleiten können.
Gefahren im Internet Vier Arten von Gefahren lassen sich beobachten: 1. Technische Gefahr: Der Computer fängt sich durch sorglosen Gebrauch ein Virus ein 2. Gefahr für Leib und (im schlimmsten Fall) Leben: In Chatrooms lauern fragwürdige und gefährliche Kontaktmöglichkeiten für Jugendliche 3. Gefahr, (unbewusst) kriminell zu handeln: Illegale Downloads, vgl. dazu z. B. aktuelle Werbekampagne der Filmund Musikindustrie 4. Gefahr der Kaufsucht und Verschuldung: Viele Jugendliche kaufen sorglos auf Shopping-Portalen ein und sind (noch) nicht versiert im Umgang mit Online-AGBs bzw. Vertragsformeln (z. B. Ebay)
Eltern sollten sich also gerade auch mit Blick auf diese Gefahren grundsätzlich für den Mediengebrauch und die Surfgewohnheiten ihrer Kinder interessieren. Dabei ist nicht der erhobene Zei-
gefinger gefragt, sondern die Anleitung zum positiven Umgang mit diesem auch sehr nützlichen Medium. 8.1.5 Medienorte Baake (2000) führt Medienorte von Jugendlichenauf (7 Tab. 8.2): 8.1.6 Handy Etwa 14% gaben an, nur selten oder nie mit modernen Kommunikationsmedien (Handy, SMS, E-Mails) Kontakt mit ihren Freunden aufzunehmen. Hingegen telefonieren 26,8% täglich oder verschicken SMS bzw. E-Mails. Insgesamt 72 Mio. Euro monatlich geben Jugendliche unter 18 Jahren insgesamt für Handytelefonate und das Verschicken von Kurznachrichten (SMS) aus – Tendenz steigend (tecChannel.de, 03.02.2003). Das Mobiltelefon hat sich in vielen Fällen jedoch als Einstieg in die Verschuldung entpuppt. Als Grund kann mangelnde Kostentransparenz gesehen werden. Außerdem werden die Kosten für das Versenden einer SMS vielfach unterschätzt und die Handytarife variieren sehr stark. Das Versenden von Bildern kostet noch einmal deutlich mehr. Je nach Datengröße und Anbieter werden pro MMS zwischen 40 Cent und 1,40 Euro fällig! Nach einer Datenerhebung des Instituts für Jugendforschung (2003; kommerzielles Marktforschungsinstitut!) schulden bereits 6% aller 13- bis 17Jährigen anderen Leuten durchschnittlich 370 Euro. 16% der 21- bis 24-Jährigen haben bereits deutlich über 2000 Euro Schulden. Neben Markenkleidung steht dabei die Handynutzung an zweiter Stelle. Formal betrachtet laufen Mobilfunkverträge bei unter 18-Jährigen alle über die Eltern. Da die Eltern meist für die Schulden aufkommen, verlagert sich das Problem nicht auf die Handyanbieter: Der »Konflikt« findet innerhalb der Familie statt.
Tipp Der Rat von Experten der Schuldnerberatung: Spätestens nach der ersten hohen Rechnung reagieren oder gleich zu einem Mobilfunktelefon mit Karte wechseln. Viele Eltern begehen oft den Fehler, ihren Kindern die Schulden zu erlassen, und animieren sie so zum sorglosen Umgang mit diesem Thema. Ist ein Jugendlicher in die Schuldenfalle getappt, sollte unbedingt eine Schuldnerberatung angestrebt werden (7 Anhang).
50
Kapitel 8 · Medien
. Tabelle 8.2. Medienorte. (Aus: Baacke, 2000)
8
Kino
Für 1/4 der Jugendlichen der wichtigste mediale Freizeitort. In der Kult-Filmbewegung wird das Kino zum jugendkulturellen Treffpunkt
Diskotheken
Wichtigster medialer Freizeitort in der Reihenfolge nach Kino. Bei Jugendlichen über 16 Jahre sogar der wichtigste mediale Freizeitort. Diskotheken gelten als Orte, wo sich besonders gut Freundschaften ergeben können. Sie bieten zudem wichtige Angebote für jugendliche Verortungsbedürfnisse. Für die Identitätsbildung und Aufnahme erotischer Beziehungen wichtigster Medienort
Plattenläden
3
Videotheken
Knapp die Hälfte aller Jugendlichen sieht Videofilme an. Die Anzahl der Videothekenbesucher ist allerdings deutlich niedriger. Jungen interessieren sich deutlich stärker als Mädchen. Im Vordergrund stehen Kauf- und Leihwunsch aber auch gesellige Unterhaltung und Information
Spielhallen
Letzter Platz in der Reihenfolge wichtiger Freizeitorte. Häufignutzer sind ausschließlich Jungen. Gründe: Bekannte treffen (63,2%), Langeweile (32,4%), Entspannung (30,9%) und »Dampfablassen« (16,2%) stehen im Vordergrund. Für die Mehrzahl der Jugendlichen ist es jedoch kein interessanter und attraktiver Freizeitort, gleichwohl möglicherweise jugendgefährdend (»Groschengrab« – Spielsucht)
Andere Medienorte
Buchläden, Boutiquen, Musikkneipen, Kaufhäuser, Jugendzentren sind häufig aufgesuchte Orte mit Medienausstattung
/4 aller Jugendlichen besuchen Musikgeschäfte oder Plattenläden. Dabei geht es nicht nur um Kauf, sondern auch um Probehören und Sammeln von Informationen oder das Treffen mit Bekannten
Viele Handys können darüber hinaus wegen zu starker Strahlung für Jugendliche gesundheitsschädigende Auswirkungen haben (zum Thema Elektrosmog 7 Anhang).
Medien und Risikoverhalten
8.2
8.2.1 Grundsätzliches Aus der Jugendgesundheitssurvey (Hurrelmann 2003) ergibt sich das interessante Ergebnis, dass Computernutzung negativ mit
Tabakkonsum korrespondiert. Dies bezieht sich laut Studie jedoch nur auf Jungen. Bei Mädchen hingegen steht Fernsehkonsum in (schwachem) negativem, aber signifikantem Zusammenhang mit Tabakkonsum. Darüber hinaus besteht bei Jungen mit entsprechender Disposition ein signifikanter Zusammenhang zwischen Fernsehkonsum und Aggressivität bzw. Gewalt (Richter u. Settertebulte 2003). Hinzu kommen wesentliche Befunde aus dem Projekt »Jugend und Medien in Nordrhein-Westfalen« (Baacke), die von zahlreichen anderen Autoren bestätigt werden (u. a. Hurrelmann u. Vogelgesang 2003):
Aspekte zu Medien und Risikoverhalten 1. Aus sozialökologischer Perspektive ist die Region ein bedeutsamer Faktor, der die Mediensituation beeinflusst. Gerade wegen des geringeren Medienangebotes auf dem Land und des daraus resultierenden Mangels an Erfahrung im Umgang damit, sind die Gefahren, die von Medien ausgehen können, für die Entwicklung der Jugendlichen auf dem Land größer als in der Stadt. Die Medien können dort ihre Wirkung ungebremster entfalten. Hierbei spielt auch der Mangel an Alternativen eine große Rolle. 2. Mit wachsendem Alter und Bildungsniveau wird in der Regel stärker ausgewählt. Das Medienverhalten ist stärker strukturiert. 3. Musik ist das weitaus beliebteste Medium. Die Disco ist der wichtigste Medienort. Es folgen visuelle Medien (Fernsehen in erster Linie) und dann die Printmedien wie Bücher und Zeitschriften. 4. Die Medienrezeption ist in den Alltag integriert. Dabei fungieren Medien häufig als Hintergrund, der gar nicht mehr bewusst wahrgenommen wird. 5. Die Wirkung der Medien auf Jugendliche bezieht sich in geringem Maße auf die Ebene kognitiver Kompetenzen, d. h. sie spielen bei der Entwicklung der Intelligenz nicht die Rolle, die ihnen oft zugesagt wird. Medienwirkung findet in erster Linie auf der moralischen, affektiven unbewussten Handlungsebene statt. Interviews zeigten deutlich, welche Bedeutung die Medien vor allem für die Entwicklung der emotionalen Strukturen haben. 6. Alter und Geschlecht sind wichtige Variablen der Medienrezeption. Der soziale Status der Jugendlichen – Herkunft, Beruf der Eltern, Bildungsniveau, eigener Beruf, Arbeitslosigkeit usw. – prägt den Medienumgang. Jugendliche mit niedrigem Sozialstatus verhalten sich weniger selektiv und orientieren sich eher an audiovisuellen Medien. 7. Die Aussagen der Jugendlichen signalisieren, dass der Einfluss des Elternhauses, in dem fast alle Interviewten wohnten, beträchtlich ist. Die Familie prägt stark das Medienverhalten, vor allem das Wie – bei jüngeren mehr als bei älteren Jugendlichen. Die Medienverhaltensmodelle der Eltern werden vielfach übernommen.
6
51 8.2 · Medien und Risikoverhalten
8
8. Jugendliche, die aktiv Medienarbeit betreiben (z. B. Nutzung von medienpädagogischen und – praktischen Angeboten der öffentlichen Bildungs- und Jugendeinrichtungen) haben in der Regel ein relativ kritisches, selektives Verhältnis zu den Medien. Dabei zeigt sich sowohl im praktischen Verhalten als auch in ihren Deutungsmustern eine erstaunliche Differenziertheit und Reflexionsfähigkeit. 9. Organisierte Sozialisationsinstanzen – Elternhaus, Schule, Berufsbildungsstätte – geben wichtige Strukturhilfen bei der Medienorientierung. 10. Mobilität ist für Jugendliche eine wichtige Voraussetzung, um möglichst viele Medienoptionen wahrnehmen zu können. 11. Medien sind ein sehr geeignetes Instrument, Individualisierungstendenzen zum Ausdruck zu bringen (Gleichzeitig sind sie Ausdruck bestimmter Gruppenzugehörigkeit – Techno, HipHop, Heavy Metal etc. Medien sind ebenfalls Kristallisationspunkt für jugendeigene Lebenswelten und Stilsprache – Anmerkung des Autors). 12. Medien dienen oft als Kontakt- oder Kommunikationshilfen.
Fragen zur Mediennutzung sind: 4 Räumliche Platzierung von Medien 4 Wo, in welchen Räumen stehen die Geräte? 4 Sind die Geräte fest installiert? 4 Wer hat Zugang zu den Geräten? 4 Welche Regeln sind mit der Standortwahl verbunden (z. B. Verbindung mit Spielen oder Essen)? 4 Welche Sitzordnung gilt – persönliche/individuelle Raumgrenzen? 4 Welche Regeln wurden für die gemeinsame Rezeption vereinbart? 4 Besitzen Jugendliche ein eigenes Gerät? Jugendliche Mediennutzung: Haupt- oder Nebentätigkeit
Wer vor dem Fernseher sitzt, sieht meist nicht nur fern. 4 Fernsehen zur Information 4 Fernsehen zur Zerstreuung 4 Fernsehen als Traum- und Ersatzwelt 4 Fernsehen, um mitreden zu können 4 Fernsehen zur Selbst- und Statusdefinition 4 Fernsehen zur Steuerung von Peerkontakten 4 Fernsehen zur Zeitstrukturierung 4 Fernsehen zur (Weiter-)Bildung Medienumgang unter erschwerten Bedingungen
4 Arbeitslosigkeit oder fehlende Perspektive 4 Mangelnde soziale Kontrolle oder fehlende familiäre Bindungen 4 Soziale Isolation oder mangelnder Peerkontakt 4 Soziale und bildungsmäßige Chancenungleichheit 4 Fehlende Akzeptanz oder mangelndes Selbstbewusstsein 4 Fehlende Alternativen oder Mangel an altersgerechten Angeboten 4 Mangel an Engagement 8.2.2 Die Auswirkungen von Mediengebrauch
auf den Organismus Haltungsschäden Die häufigste Ursache für Haltungsschäden ist zu wenig Bewegung. Dabei spielt die »bewegungslose« Zeit vor dem Fernseher und dem Computerbildschirm eine große Rolle. Hinzu kommen eine falsche Sitzposition und schlechte Körperhaltung. Haltungsschäden bei Kindern führen im Erwachsenenalter häufig zu Rückenerkrankungen.
! Für die dramatische Zunahme der Wirbelsäulenerkrankungen bei Kindern und Jugendlichen sind u. a. die einseitige körperliche Belastung sowie der zunehmende Bewegungsmangel verantwortlich.
Langandauernde, gleichbleibende Sitzhaltungen lassen die auftretenden Kräfte einseitig auf den Organismus einwirken. Statische Haltearbeit ist schädlicher als dynamische, eintönige Bewegungen schädigen den Stützapparat mehr als vielfältige. Dies betrifft besonders das Sitzen. Eine besonders kritische Phase für den Haltungs- und Bewegungsapparat stellt der Schuleintritt sowie die Phase des pubertären Wachstumsschubs dar, der bei Mädchen im Alter von 10–12 Jahren, bei Jungen etwas später im Alter von 12–15 Jahren stattfindet. Akuter Bewegungsmangel (vor dem Computer bzw. Fernsehen etc.), einseitige Belastung durch zu vieles Sitzen und fehlende Vorbildwirkung der Eltern wirken sich sowohl auf die motorische, kognitive als auch emotionale Entwicklung des Jugendlichen negativ aus: 4 Verlust an sportlicher Kondition und Körperwahrnehmung 4 Entwicklung von muskulären Dysbalancen 4 Haltungsschwächen, Haltungsschaden, Rückenschmerzen 4 Sinkende Eigenaktivität, Verarmung der Alltagsmotorik 4 Konzentrationsschwächen, Abnahme der Stresstoleranz 4 Mangelnde Antriebskraft 4 Vermindertes Selbstwertgefühl, Aggressivität 4 Störung des Sozialverhaltens
Tipp So lassen sich Haltungsschäden vermeiden: 5 Sport (besonders Schwimmen und Radfahren) 5 Zeitbegrenzung vor Computer und Fernsehen 5 Aufrechte Sitzhaltung (nicht statisch sondern häufigere Wechsel der Sitzposition, um einer einseitigen Belastung vorzubeugen) 5 PC-Bildschirm passend zur Sitzhöhe aufstellen 5 Vermeidung von Übergewicht durch richtige Ernährung (möglichst kein Essen vor dem Fernseher) 5 Ergonomische Gestaltung des Computerarbeitsplatzes
Motorische Dystonie Das Phänomen der motorischen Dystonie beschreibt motorische Störungen, die durch eine rasche Abfolge wiederholender gleichbleibender Bewegungen zu einer Veränderung im zentralen Ner-
52
Kapitel 8 · Medien
vensystem führen sowie Bewegungsstörungen verursachen können. Aus Tierversuchen weiß man, dass die beschriebenen Bewegungsabläufe zu Veränderungen in den entsprechenden Feldern im Gehirn führen. Schädigung durch Lärm Im Gegensatz zu den Naturvölkern hört der Mensch in der westlichen Zivilisation mit zunehmendem Alter immer schlechter, da sein Gehör permanenten Geräuschbelastungen ausgesetzt ist. Die Altersschwerhörigkeit (Presbyakusis) sollte besser als Gesellschaftstaubheit (Sozioakusis) bezeichnet werden. Arbeitsmediziner stellten fest, dass die Hörfähigkeit in einem Zeitraum von 10 Jahren beim Testton von 4000 Hz um 20 dB herabgesetzt ist, wenn die Person einem Geräuschpegel um 90 dB (z. B. Auto im Straßenverkehr) über mehrere Stunden am Tag ausgesetzt ist. In der Gruppe der 11- bis 17-Jährigen stellen 10% ihre Ohrhörer auf 90‒100 dB und mehr ein. Bei den 13- bis 19-Jährigen hören 10% mit derartigen Pegeln mindestens 3 Stunden am Tag Musik. Mit niedrigem Schulstatus nimmt der Anteil sogar zu (Deutsches Ärzteblatt 96, Heft 16, 23.04.1999).
8
! Das Musikhören über Walkman kann zu einer dauerhaften Hörschädigung führen. Meist werden Walkmans auf bis zu 90 dB aufgedreht und beeinträchtigen daher in besonderem Maße die Wachstumsphase des Innenohrs. Auch hier gilt: Je jünger das Kind, desto größer ist die Gefahr einer späteren dauerhaften Hörschädigung. Diese Hörschädigung verläuft schleichend. Sie wird vom Betroffenen und seiner Umgebung erst spät bemerkt. Bei den herrschenden Musikhörgewohnheiten ist nach 10 Jahren bei etwa 10% der Jugendlichen ein nachweisbarer Hörverlust von 10 dB oder mehr im normalen Frequenzbereich von 3000 Hz zu befürchten.
8.3
Die Rolle der Medien bei Störungen
8.3.2 Wahrnehmungsstörungen,
Verhaltensstörungen, AD(H)S Einsichten und Erkenntnisse gewinnen wir zum einen durch Beobachtungen (Wahrnehmung), zum anderen durch ihre Verknüpfung mit »Erfahrungen», vor allem aber dadurch, dass wir Sachverhalte zueinander in Beziehung setzen und Rückschlüsse ziehen (schlussfolgerndes Denken). Das bezieht sich langfristig auf die, für das Zurechtkommen im Alltag, notwendigen »Verhaltensskripts«. Einerseits helfen »Skripts«, neues Wissen mit vertrauten Erfahrungen zu verbinden und damit besser zu verstehen, andererseits werden ungewöhnliche oder erwartungswidrige Erfahrungen in Richtung auf größere Stimmigkeit oder Kohärenz verzerrt. Diese Verhaltensskripts ‒ man kann auch von Verhaltensmustern sprechen ‒ helfen uns, ohne große Überlegung, in bestimmten Situationen (z. B. Zeuge eines Unfalls oder einer Auseinandersetzung, Verhalten in Krisensituationen, gesellschaftliches Auftreten etc.) erfahrungsgemäß zu handeln. Das muss nicht immer richtig sein und hängt u.a. von den jeweils unterschiedlich gemachten Erfahrungen und Vorbildern ab, die durch Medien geliefert oder beeinflusst werden. AD(H)S
Seheindrücke werden eher ungefiltert wahrgenommen. Zudem ist der Kontrast für die Reizaufnahme schlecht. Daraus folgt ein verschlechtertes Wiedererkennen. Gleiches gilt für Höreindrücke. AD(H)S-Patienten haben ein weitgehendes ungefiltertes Sehen, Hören und Fühlen. Die Masse der anfallenden Sinneseindrücke überfordert das Aufnahmesystem. Der Arbeitsspeicher ist rasch voll. Hinzu kommt, dass dieser Arbeitsspeicher des neuronalen Netzwerkes kleiner als bei Non-AD(H)S-Patienten ist. Daraus folgt eine viel raschere Erschöpfung und ein »Abstürzen«. Die Informationsverarbeitung und -abspeicherung finden nur ungenügend statt. Fernsehen ist nicht Ursache, aber Verstärker der Verarbeitungsstörung, da es auf Verarbeitungsdefizite keine Rücksicht nimmt und dadurch noch schneller zur Erschöpfung des Arbeitsspeichers führt.
8.3.1 Nervosität Tipp
Abgesehen von den Inhalten wird das Fernsehen erst dann nützlich, wenn die Inhalte in der direkten Kommunikation unter den Familienmitgliedern diskutiert werden. Der dem Menschen natürlich innewohnende Bewegungsdrang wird durch länger dauerndes Fernsehen gebremst, Bewegungszeiten gehen verloren. Ein oftmals übersteigerter, weil vorher gebremster, Bewegungsdrang ist die Folge. Zusätzlich können bestimmte Inhalte und Darstellungen des Fernsehens die innere Erregung steigern und zu Verstärkung von Nervosität führen. Dieses läuft häufig sehr unbewusst ab. Auf ausreichende Bewegungszeiten sollte unbedingt geachtet werden. Wesentlich besser ist es z. B. die Zeit vor dem Fernseher zu einem gemeinsamen (Kommunikations-)Erlebnis werden zu lassen. Erst Kommunikation über das Gesehene bringt einen Verarbeitungs- und positiven Lerneffekt. Gibt es eine Insel persönlichen Freiraums, der Ruhe und Stille außer vor dem Fernseher?
Hilfreich sind klare Absprachen, verbindliche Vorabauswahl aus der Fernsehprogrammzeitung und ein anschließendes Gespräch über das Gesehene. Ebenso nützlich sind verbindliche Absprachen, wenn es um die zeitliche Nutzung eines Computers geht.
8.3.3 Kommunikationsstörungen Wenigseher sind öfters unterwegs, führen häufiger Gespräche und lernen häufiger ein Musikinstrument oder vice versa ... ‒ und sind gerade deshalb Wenigseher, weil sie auf eine größere Angebotsvielfalt zurückgreifen können. Als besonders schwerwiegend sind die teilweise deutlichen Kommunikationsdefizite bei Vielsehern zu bewerten. In Untersuchungen zeigen Vielseher eine größere subjektive Belastung und objektive Beanspruchung bei Klassenarbeiten (Myrtek u. Schraff 1998).
53 8.3 · Die Rolle der Medien bei Störungen
8.3.4 Aggressionen Aggression ist immer ein Ausdruck von Hilflosigkeit und Ohnmacht – ein letztes Mittel, um auf sich aufmerksam zu machen, oder wenn Probleme zu groß werden. Unverarbeitet Gesehenes kann diese Tendenzen verstärken und (falsche) Vorbilder liefern für eigene Lösungsmöglichkeiten. Die Ursache von Aggression liegt (immer) im persönlichen Umfeld und der persönlichen Sozialisation. Die Medien liefern nur das »Düngemittel«, das ein Gedeihen dieser »Pflanzen« möglich macht. Eine Mehrzahl der Forscher geht heute davon aus, dass Gewalt im Fernsehen die Aggressivität von Jugendlichen erhöhen kann (Myrtek u. Schraff 1998). Dies rührt vermutlich daher, dass aufgebaute Spannungen nicht adäquat abgebaut werden können, was verdeutlicht, wie wichtig gerade dabei das Gespräch und die Aufklärung mit Hilfe der Peers oder der Eltern ist. Der Langzeiteffekt ergibt sich vermutlich eher durch Verstärkungsfaktoren innerhalb des Lebensbereiches (Resonanzeffekt = Gesehenes und Gehörtes trifft auf Gleiches oder sehr Ähnliches in der persönlichen Lebenswelt). Eine Studie der University of Michigan (L. Rowell Huesmann – mündliche Mitteilung) konnte nachweisen, dass Kinder beiderlei Geschlechts, die häufig Gewaltszenarien im Fernsehen ausgesetzt waren, im späteren Leben als Erwachsene zu aggressiverem Verhalten neigten. Dies war statistisch signifikant auch unter Berücksichtigung der Faktoren Intelligenz, Sozialstatus etc. In jungen Jahren waren Frauen viermal so häufig in handgreifliche Auseinandersetzungen verwickelt, junge Männer zeigten eine dreifach höhere Frequenz, ein Kriminaldelikt zu verüben, als das Kontrollkollektiv.
8
zeugen ein Gefühl kollektiver Bedeutsamkeit und Aufwertung. Zahlreiche Nachahmungstaten im Kontext der Gewalt an Schulen dürften ähnlich motiviert sein (Vogelgesang 2003). Die Diskussion um Gewalt und Medien, gerade auch in Bezug auf Nachahmungstaten, bezieht mittlerweile Computerspiele mit ein. Der Amoklauf eines Jugendlichen in der Erfurter Schule zeigt etwa, zu welchen Konsequenzen nicht nur dargestellte, sondern auch vorab interaktiv »praktizierte» Gewalt führen kann. Robert S. soll mutmaßlich nicht nur im Schützenverein seine »Fähigkeiten« trainiert haben, sondern auch beim Online-Spiel. ! Je vertrauter und bekannter die dargestellte Gewalt aus dem eigenen Leben ist, desto intensiver sind der Eindruck und das Erleben, vor allem auch, wenn eigene Gewalterfahrung vorhanden ist. Je mehr Ursachen, Motive und Folgen der dargestellten Gewalt erkannt werden, desto weniger ist der Zuschauer schockiert.
Abhängig vom Entwicklungsstand des Jugendlichen bedarf es dabei der mehr oder weniger ausführlichen Verarbeitungshilfe. Je größer Sympathie und Verständnis für das/die Gewaltopfer sind, desto größer ist Anteilnahme und Betroffenheit. Im Umkehrschluss gilt: Je weniger Sympathie für das Opfer vorhanden ist, desto mehr Gewalt wird toleriert. Wie bereits betont, schafft die stetige Konfrontation mit Gewalt in den Medien unterschwellig eine größere Gewaltbereitschaft und -akzeptanz. Jungen sind dabei wesentlich häufiger betroffen als Mädchen, da sie mehr als doppelt so häufig Filme mit jugendgefährdendem Inhalt konsumieren wie Mädchen (eine sehr gute Übersicht zum Thema: American Academy of Pediatrics: Media Violence. Pediatrics Vol. 108 No. 5, November 2001).
8.3.5 Gewalt ! Verstärkter Konsum von Medien, vor allem Filme mit Gewaltdarstellungen und gewaltverherrlichendem Gestus, führt zu verstärkter Akzeptanz von Gewalt als probatem Mittel, um Probleme zu lösen und gesteckte Ziele zu erreichen.
Langzeitstudien zeigen, dass aggressive Verhaltensweisen, die über Medien erlernt wurden, sich über lange Zeit hartnäckig behaupten können. Dabei kommt es sehr auf den Kontext an, in dem Gewalt dargestellt wird. Nicht unterschätzt werden sollte das Potential, das in Gewaltdarstellungen in einem z. B. spaßigen Zusammenhang steckt, da hier Verletzung mit positiven Gefühlen in Zusammenhang gebracht wird. Studien weisen darauf hin, dass aktive »Teilnahme» an Gewaltszenarien (z. B. bei Videospielen) tiefergehende Auswirkungen hat als passiver Fernsehkonsum. Nach dem Spielen von Videospielen mit gewaltsamem Inhalt zeigten die Teilnehmer eine deutlich messbare Abnahme prosozialer Verhaltensweisen und eine Zunahme aggressiven Verhaltens. Videospiele dieser Art sind eine ideale Ausgangsbasis, um aggressive Verhaltensweisen zu erlernen. Wie erwähnt, sind Medien selten Ursache, vielmehr Verstärker grundlegender Persönlichkeitstendenzen. Mediale Stereotypen wie etwa der einsame Kämpfer »Rambo» sind in aller Regel nur dann relevante Modelle, wenn sie an die Lebenssituation und Sinnwelt der Jugendlichen und ihrer Szene anschließbar sind (Vogelgesang 2003). Dabei stellen die Medien auch eine Art »Aufmerksamkeitsprämie« für Gewaltanwendung bereit und er-
8.3.6 Mediensucht Derzeit beherrscht das Reizwort »Internetsucht« die Schlagzeilen. Jemand, der Suchtstrukturen in sich trägt, kann Süchte in jedwede Richtung entwickeln, so auch z. B. eine Internetsucht (7 Kap. 37). Medien selbst sind nicht per se süchtig machend. Ein übermäßiger Mediengebrauch kann jedoch unter betimmten Umständen in die soziale Isolation führen, was wiederum einer Sucht Vortrieb leisten kann. Kontextunabhängig sei hier kurz auf die Zunahme an Sexsüchtigen (75% männlich) bedingt durch ein überreiches Internetangebot hingewiesen (2. klinische Tagung der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung 2004). An der Humboldt-Universität in Berlin werden zurzeit intensive Forschungen zum Problem der Internetabhängigkeit durchgeführt (vgl. Hahn u. Jerusalem 2001; http://www.internetsucht.de). Inzwischen wurde sogar ein Selbsttest entwickelt, der unter der Adresse http://www.onlinesucht.de durchgeführt werden kann. Diese Berliner Ergebnisse bestätigen die Hypothese, dass Internetsucht vornehmlich als Jugendproblematik zu verstehen ist. So fällt die Rate der Internetabhängigen stetig von 10,3% in der Gruppe der unter 15-Jährigen auf 2,2% in der Gruppe der 21- bis 29-Jährigen. Gleichzeitig deuten sich differenzielle Geschlechtsunterschiede innerhalb der Altersgruppen an. Unterschiedliche Ergebnisse gibt es darüber, ob die intensive Internetnutzung zu sozialer Isolation und Depression führt. (Für eine weitere Beschäftigung sei verwiesen auf: http://www.familienhandbuch.de/cmain/f_Fachbeitrag/a_Jugendforschung/s_ 1115.html)
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Kapitel 8 · Medien
Neuesten Berichten zur Folge werden Beratungsstellen zunehmend mehr mit dem krankhaften Gebrauch von Mobiltelefonen und dessen Auswirkungen konfrontiert. Von einer Sucht kann gesprochen werden, wenn zwanghaft mehr als 100 SMS (Kurznachrichten)/Tag verschickt werden. Es soll sogar, steht ein Handy nicht zur Verfügung, zu Entzugserscheinungen wie Unruhe, Depressionen oder Angstzuständen ähnlich wie bei der Internetsucht (7 Kap. 37) kommen. Die Vorstellung nicht mehr erreichbar zu sein, ist für viele Jugendliche undenkbar geworden. Das Handy in der Hand ersetzt vielfach die Zigarette. Kommt es zu erheblichen Problemen im sozialen Leben mit völliger Vernachlässigung anderer Aktivitäten und Verlust der Zeitkontrolle sollte professionelle Hilfe in Anspruch genommen werden. 8.3.7 Psychische und physische Auswirkungen
8
Fernsehen kann Lernprozesse in Gang setzen. Das Gehirn eines Vielsehers wird anders aufgebaut als das Gehirn eines Wenigsehers. Einmal geknüpfte synaptische Verbindungen bleiben bestehen, werden bei entsprechender Resonanz aus der Umgebung aktiviert, oder, fehlt diese Resonanz über einen längeren Zeitraum, im Unterbewusstsein abgelegt. Groß angelegte Untersuchungen ergaben, dass Vielseher im Vergleich zu Wenigsehern ihr Leben eher als langweilig und unglücklich beschreiben. Vielseher weisen zudem eine fatalistische Einstellung zum Leben auf (Myrtek u. Schraff 1998). Gewaltdarstellungen im Fernsehen führen zu einer Erhöhung der Hautleitfähigkeit (emotionales Schwitzen) und Pulsanstieg. Je spannender ein Film, desto stärker fallen die Reaktionen aus (Herzfrequenz). Auch die formalen Elemente eines Films beeinflussen die physiologischen Reaktionen. Filme mit emotionalen Bildern und einem dazu nicht passenden sachlichen Text rufen stärkere Reaktionen (Herz- und Atemfrequenzanstieg) hervor als Filme mit adäquatem Text. In Untersuchungen zeigte sich ein deutlicher Unterschied zwischen Wenig- und Vielsehern. Letztere zeigten signifikant niedrigere Werte. Forscher gehen von einem Gewöhnungseffekt aus. Außerdem zeigen Vielseher eine verminderte körperliche Belastbarkeit sowie verminderte körperliche Aktivität. 8.3.8 Übergewicht Mehrere Studien weisen auf den Zusammenhang zwischen erhöhtem Fernsehkonsum und Übergewicht hin. Dabei spielt einerseits die verminderte körperliche Aktivität (Bewegungsarmut), andererseits der vielfach unbewusste und unkontrollierte Konsum von Nahrungsmitteln, zumeist minderer Qualität (Wer isst schon gerne Radieschen beim Fernsehen), eine Rolle. Fernsehkonsum wird darum auch als ein wesentlicher Grund für Übergewicht angesehen. Ein fataler Kreislauf: Denn Übergewicht wiederum führt zu weniger Bewegung, diese zu mehr Bequemlichkeit. Demzufolge steigt der Fernsehkonsum. Dieser Effekt kann durch den Einfluss der Werbung, z. B. verlockend präsentierte Werbespots für Nahrungsmittel, noch verstärkt werden. Im Gefolge von Übergewicht kommt es schließlich zu einer Zunahme des Risikos für Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Stoffwechselerkrankungen (z. B. Diabetes).
8.3.9 Sexualität, Geschlechterrolle,
Schönheitsideal Studien aus den USA zeigen: 4 Das Verhütungsverhalten wird durch Medien beeinflusst. 4 Je mehr Themen mit sexuellem Hintergrund im TV angesehen werden, desto früher beginnen sexuelle Aktivitäten. Es besteht ein deutlicher Zusammenhang zwischen der Sichtweise der Geschlechterrolle und dem Fernsehkonsum. 4 Medien geben Hilfestellung bei der Identitätssuche. 4 Medien verstärken Rollenbilder durch klischeehafte Darstellung. Besonders einflussreich wird vor allem das Fernsehen dann, wenn im häuslichen Bereich eine Sexualaufklärung und die Auseinandersetzung mit dem Thema Sexualität fehlt. So ist das Fernsehen in den USA inzwischen zum führenden Sexualaufklärer geworden (Strasburger 1993). Das ist insofern problematisch, als auch bei uns nur ein Bruchteil der gezeigten Filme ein kritisches Rollenverständnis zeigen, ganz zu schweigen von der Darstellung und Auseinandersetzung mit Sexualität. Das durch Medien vermittelte Schönheitsideal erweckt den Eindruck, dass Frauen vor allem blond, schön und verführerisch, dabei noch gertenschlank sein müssen. Männer werden zumeist als dominante, klar kalkulierende, dynamisch erfolgreiche Machos dargestellt. Gerade im Fernsehen wird das Thema Sexualität in allen möglichen Schattierungen tradiert. Sexualität ist ein, wenn nicht das führende Thema, insbesondere in Werbespots oder in Musikvideos. Hier werden »Normwerte« vorgegeben und Geschlechterrollen nach traditionellem Maßstab abgebildet und definiert. 8.3.10 Zigaretten und Alkohol Nicht nur in der Werbung, sondern auch passiv in der Darstellung der Schauspieler tauchen Alkohol und Zigaretten als filmische Gestaltungsattribute auf. Manchmal stellen sie sogar direkte Persönlichkeitsattribute dar. Ziel dabei ist, die Werbewirkung zu verstärken (7 Abschn. Werbung). Aufgrund verschiedener Untersuchungen ist es erwiesen, dass Jugendliche durch Werbung im Konsum »legaler« Drogen beeinflusst werden. Die Akzeptanz von Alkohol und Nikotin korreliert mit der Häufigkeit des Konsums von Alkohol- und Nikotinwerbung. Je häufiger Jugendliche mit Alkohol- und Nikotinwerbung konfrontiert werden, desto häufiger werden sie auch von solchen Produkten Gebrauch machen. Die Beeinflussung der Jugendlichen wird zudem durch das komplexe System Familie, Peergruppe, Schule und Gesellschaft mitgesteuert.
8.4
Werbung
Studien haben einen deutlichen Einfluss der Werbung auf die Einstellung und den Konsum von Alkohol und Zigaretten bei Kindern und Jugendlichen ausgemacht. Dabei ist die Datenlage bzgl. Zigaretten deutlicher als bei Alkohol. Werbung vermittelt häufig einen unrealistischen Eindruck bezüglich des Körperideals. Im Kontrast dazu stehen die in der Werbung angepriesenen ungesunden Nahrungsmittel. Werbung weckt und fördert Bedürfnisse. Werbung ist ein Teil der Jugendkultur. Doch Werbung nur kritisch zu behandeln, hie-
55 8.6 · Was ist zu tun?
ße, Teile dieser Kultur nicht anzuerkennen ‒ auch dies erzeugt Unverständnis und Widerstände bei Jugendlichen (Lange u. Didszuweit 1997). Darum ist es ratsam, sich eine differenzierte Sichtweise anzueignen. Hilfreiche Ansätze können sein:
8.6
8
Was ist zu tun?
Gerade im Hinblick auf die Mediengewaltdiskussion ist Zurückhaltung geboten. Fraglich ist, ob verschärfte Gesetze hierbei förderlich sind. Vielmehr erscheinen längerfristige Konzepte Erfolg versprechender. Dabei sollte vor allem auch die Lebenswelt der Jugendlichen berücksichtigt werden.
Tipp 5 Förderung der Eigenkompetenz 5 Entmythologisierung der Werbewelt 5 Durchführung von kritischen Werbeanalysen im Schulunterricht
8.5
Medien als Chance
Neben den genannten negativen Auswirkungen lassen sich jedoch bezogen auf Fernsehen auch positive Aspekte feststellen: 4 Durch das Fernsehen kann das Allgemeinwissen bereichert werden. 4 Fernsehen kann auch Entwicklungen fördern , wenn es in das entsprechende Entwicklungsalter passt und durch persönlichen Kontakt bearbeitet wird (d. h. nicht als »passives Medium«). 4 Fernsehen kann den persönlichen Horizont bereichern, Rollen festigen helfen, hier wiederum auch schlechte. Ähnliches gilt für den Computer. Die Förderung von Hochbegabten beispielsweise wäre heute kaum mehr ohne den Computer vorstellbar. Mit Hilfe verschiedener Programme können sowohl die Teamfähigkeit wie auch das Selbstmanagement und das logisch-abstrakte Denken gefördert werden. Über das Internet finden Hochbegabte zudem leichter Angebote. Nicht nur Hochbegabte profitieren von den Eigenschaften eines Computers, sondern auch ganz normal begabte und sogar lernschwache Jugendliche. Denn es gibt heute Arten von Lernsoftware, um Schreib- oder Rechenschwäche (Dyskalkulie) zu therapieren. Man kann computergestützte Medien daher als immer beliebter werdendes Instrument für die Nachhilfe begreifen. Auch spielerisches Lernen kann mittels Software gefördert werden. Des Weiteren gelangen Jugendliche über moderne Kommunikationsmedien an Wissen und/oder spezielle Hilfsangebote zu ihrer Krankheit. So existiert z. B. ein Internetauftritt zum Thema Essstörungen: http://www.hungrig-online.de (7 Anhang). Inzwischen gibt es auch im Rahmen der Sprachheiltherapie eine computerunterstützte Förderung auditiver Wahrnehmungsfunktionen sowie computerunterstützte Trainingsverfahren in der Kinder- und Jugendpsychiatrie, wie z. B. bei AD(H)S. Die »Onlinemaus« ist eine Idee aus dem klinischen Alltag, die kranken Kindern und Jugendlichen helfen soll. Der PC am Krankenbett und die »Onlinemaus« im Internet wollen jene Abwechslung bieten, um die soziale Isolation ein wenig zu durchbrechen. Die »Onlinemaus« (http://www.onlinemaus.org) fördert und vernetzt die Aktivitäten kranker Kinder und Jugendlicher in den Kliniken. Sie baut Brücken zwischen den Krankenbetten, Stationen und Elternhäuser sowie den Freunden.
Verbesserungsvorschläge 5 Jugendarbeit und Jugendbildung muss das medienpädagogische Anregungspotential vielfältiger nutzen. Kinos und passende Programme sind gerade auch auf dem Land notwendig. Programme müssen mehr im Kontext der Lebenswelt der Jugendlichen stehen. Sie sollen bewusst positive Akzente setzen gegenüber einer vielfach gewaltbetonten Medienwelt. 5 Schulen haben eine große medienpädagogische Verantwortung. Das betrifft nicht nur das Vorbild in der Art der Mediennutzung, der Medienauswahl und der Arbeit mit verschiedenen Medien. Wer eine gute Schulbildung genießt ist immer im Vorteil, auch im Umgang mit den Medien. 5 Die medienpädagogische Aufgabe besteht auch darin, gerade Mädchen mehr zu aktiven, bewussten und geschulten Mediennutzer zu machen. 5 Medien sollten stärker als Chance zur Bildung genutzt werden. 5 Trotz der Allgegenwärtigkeit der Medien, sind es die sozialen Beziehungen, die Medien erst zu Lieferanten von Wissen, Erfahrungen und auch kulturellen Anregungen machen. 5 Das bestehende Jugendschutzrecht muss dringend vereinheitlicht und vereinfacht werden. Jugendschutz darf nicht zu einem reinen Kontrollinstrumentarium reduziert werden, sondern sollte aktiv Vorgaben machen. 5 Vor allem sollten taugliche Instrumente für den Umgang mit dem Internet entwickelt und eingesetzt werden, die Jugendliche vor gefährdenden Inhalten oder Aktionen schützen. Dies ist angesichts der Dynamik des Internets, seiner Produktfülle und Vertriebswege von Bedeutung. Auch Jugendschutz, Jugendarbeit und Jugendbildung sind hier gefordert.
Besser als Jugendschutzmaßnahmen greifen aktivierende und unterstützende Angebote aus dem Mediensektor. Jugendliche sollten im Umgang mit den Medien die Möglichkeit haben, ihre Faszination an und den Konsum von Medienbotschaften zu verbinden mit eigener Schaffenskraft. Jugendliche sind kreativ und haben große Lust, ihre Umgebungen so zu gestalten, dass sie sie beeinflussen können (Baacke 2000). Nicht wegsehen, sondern bewusst hinsehen ist die Devise!
56
Kapitel 8 · Medien
8.7
Tipps und Hilfen
nämlich nichts Geringeres als die Zukunft der Gesellschaft.« (Medienexperte S. J. Schmidt, 2000, zit. nach Vogelgesang, 2003)
Tipp 5 Jugendzimmer sollten über keinen Fernseher verfügen. 5 Ein gutes Angebot an Freizeitaktivitäten (Sport, Musik etc.) ist in der Regel besser als alles Fernsehen. 5 Vor jedem Einsatz von Medien steht die Frage: Warum? 5 Vorbild Eltern: Machen Sie den Fernseher nicht zum Zentrum des Familienlebens. Je bewusster und konsequenter Sie mit der Flimmerkiste umgehen, desto weniger Probleme werden durch TV-versessene Kinder entstehen. 5 Fernsehen sollte nie eine Ersatzfunktion haben. Wer Konflikte, Langeweile und Ruhebedürfnisse mit der Mattscheibe auflöst und stillt, fördert Suchtverhalten. Deshalb sollte auch das Fernsehen nie als Belohnung oder Strafe (in Form von Fernsehverbot) eingesetzt werden. 5 Gemeinsam fernsehen und darüber reden! 5 Fernsehzeiten festlegen: Bewusst keine Angabe von »Tageshöchstdosen«. Der Fernsehkonsum sollte sich nach der Sinnhaftigkeit richten. 5 Sendungen zum Thema machen: Wählen Sie Sendungen gemeinsam aus. Wichtig ist das anschließende Gespräch. Es können durchaus auch mal Sendungen ausgewählt werden, die den Eltern nicht gefallen. Über einen Film lassen sich manchmal auch persönliche Ängste und Probleme besser besprechen. 5 Die Zeitgestaltung sollte nicht von Fernsehsendungen abhängig gemacht werden.
8
8.9
Lehrer und Medien 2003 – Nutzung, Einstellung und Perspektiven
Laut Studie »Lehrer-/innen und Medien 2003»/N=2002 (http:// www.mpfs.de) stehen Lehrer den Medien Computer und Internet sehr aufgeschlossen gegenüber. Allein 67% der Befragten stimmen der Ansicht »voll und ganz» zu, Computer und Internet seien für den Unterricht bedeutsam. Daneben betonen 66% die große Bedeutung dieser Medien für den späteren Berufsalltag ihrer Schüler. Für 60% ist die Schule die Instanz, die Kindern den Umgang mit Computern vermitteln soll. Das bedeutet aber auch, dass der Schule eine höhere Kompetenz als den Eltern zugesprochen wird. Im Hinblick auf die Medienausstattung liegen Lehrerhaushalte über dem bundesdeutschen Durchschnitt. Nach eigenen Angaben nutzen 75% der Lehrer mehrmals in der Woche einen Computer. 55% surfen häufig im Internet. Nach Angaben der Lehrer stehen derzeit an deutschen Schulen im Schnitt für 92 Schüler ein Fernsehgerät bzw. ein Videorekorder zur Verfügung. Videos werden zur Zeit immer noch häufiger im Unterricht eingesetzt als Computer und Internet. Das, obwohl im Schnitt für 18 Schüler ein Computer zur Verfügung steht. Damit aber ist eine häufig notwendige individuelle Nutzung nicht möglich. Zwar legen Lehrer Wert auf eigene Fortbildungen im Multimediabereich, doch ist das diesbezügliche Angebot in Schulen noch unzureichend. Anmerkung
8.8
Beachtenswertes zum Internet
Die Definition, Wenigseher: unter 41 Minuten tägliches Fernsehen, Vielseher: mehr als 111 Minuten tägliches Fernsehen, entstammt aus: Myrtek M, Schraff Ch (1998)
Tipp 5 Sicherheitseinstellungen bei Internetoptionen aktivieren 5 Für den Zugriff geeignete Webadressen z. B. unter Favoriten oder entsprechenden Ordner speichern 5 Zeitvorgabe festlegen 5 Internetsurfen nicht als Alternative zu Spielen, Kontakt mit Freunden, Hausaufgaben, Sport oder anderen kommunikativen Interessen zulassen 5 Gezielte Internetsuche zeigen und fördern 5 Klare Regeln festlegen und besprechen 5 Interesse zeigen bzgl. der Internetaktivitäten 5 Filter in Browser einbauen, um den Zugang zu jugendgefährdenden Inhalten zu minimieren Niemals! 5 Persönliche Daten im Internet preisgeben 5 Passwörter preisgeben 5 Auf eine Nachricht antworten, von der man nicht weiß, woher sie kommt Vorsicht! 5 Bei Kontakten mit Unbekannten über das Internet In Chatrooms
»Kaum ein anderes Thema im Diskurs über Medien wird mit ähnlicher Erbitterung auf allen Seiten behandelt wie das Thema Medien und Erziehung. Zu viel steht hier offenbar auf dem Spiel,
Literatur American Academy of Pediatrics (2001) Media Violence. Pediatrics Vol. 108 No. 5, November 2001 Aust-Claus E, Hammer PM (2000) Das ADS-Buch. Neue KonzentrationsHilfen für Zappelphilippe und Träumer. Oberstebrink Baacke D, Frank G, Radde M, Schnittke M (1989) Jugendliche im Sog der Medien. Leske und Budrich, Opladen Baacke D (2000) Die 13–18-jährigen. Einführung in die Probleme des Jugendalters. Beltz, Weinheim und Basel Bohrmann Th (Hrsg.) (2000) Mediale Gewalt. Interdisziplinäre und ethische Perspektiven. Wilhelm Fink, München Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (1998) Zehnter Kinder- und Jugendbericht. Bericht über die Lebenssituation von Kindern und die Leistungen der Kinderhilfen in Deutschland Hurrelmann K, Klocke A, Melzer W und Ravens-Sieberer U (Hrsg.) (2003) Jugendgesundheitssurvey. Internationale Vergleichsstudie im Auftrag der Weltgesundheitsorganisation WHO. Juventa, Weinheim und München Lange R, Didszuweit JR (1997) Kinder, Werbung und Konsum. Theoretische Grundlagen und didaktische Anregungen. Gemeinschaftswerk der Evangelischen Publizistik, Frankfurt am Main. Jünger, Offenbach Myrtek M, Schraff Ch (1998) Fernsehen, Schule und Verhalten. Untersuchungen zur emotionalen Beanspruchung von Schülern. Hans Huber, Bern
57 Literatur
Richter M, Settertebulte W (2003) Gesundheits- und Freizeitverhalten von Jugendlichen. In: Hurrelmann K, Klocke A, Melzer W und Ravens-Sieberer Ulrike (Hrsg.) (2003) Jugendgesundheitssurvey. Internationale Vergleichsstudie im Auftrag der Weltgesundheitsorganisation WHO. Juventa, Weinheim und München Spitzer M (2005) Vorsicht Bildschirm: Elektronische Medien, Gehirnentwicklung, Gesundheit und Gesellschaft. Ernst Klett, Stuttgart Stiehler HJ (2003) http://www.ich-mache-politik.de In: Wiedemann D. und Laufer J (Hrsg.) Die medialisierte Gesellschaft. Beiträge zur Rolle der Medien in der Demokratie. Gesellschaft für Medienpädagogik und Kommunikationskultur in der Bundesrepublik Deutschland (GMK) e.V. Strasburger VC, Comstock GA (Hrsg.) (1993) adolescents and the Media. State of the Art reviews Vol 4 Nr.3, Hanley & Belfus, Philadelphia Vogelgesang W (2003) Jugendliches Medienhandeln: zwischen Normalität, Virtuosität und Abweichung. In: Wiedemann, D. und J. Laufer (Hrsg.): Die medialisierte Gesellschaft. Beiträge zur Rolle der Medien in der Demokratie. Gesellschaft für Medienpädagogik und Kommunikationskultur in der Bundesrepublik Deutschland (GMK) e.V.
Weiterführende Literatur Bauer KO, Zimmermann P (1989) Jugend, Joystick, Music-Box. Die Medienwelt Jugendlicher in Schule und Freizeit. Leske und Budrich, Opladen Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Computerspiele, Spielspaß ohne Risiko. Hinweise und Empfehlungen. Arbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz (AJS), Landesstelle Nordrhein-Westfalen e.V., Köln 1999 Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung: Wie Filme Wirkung zeigen. Köln 1999 Gottwald E, Hibbeln Regina, Lauffer J (Hrsg.) (1989) Alte Gesellschaft neue Medien. GMK Schriftenreihe. Leske und Budrich, Opladen Hessisches Kultusministerium: Computer-Ratgeber für Eltern. April 2001
8
9 Jugend und Recht R. Ratzel 9.1
9
Abschluss des Behandlungsvertrages
1. Prinzipiell setzt der Abschluss eines Behandlungsvertrages Geschäftsfähigkeit auf beiden Seiten voraus. Geschäftsfähigkeit erlangt der Jugendliche aber erst mit Vollendung des 18. Lebensjahres. Die Geschäftsfähigkeit ist daher von der Einwilligungs- und Einsichtsfähigkeit zu unterscheiden (dazu unten). Bis zur Vollendung des 7. Lebensjahres ist das Kind geschäftsunfähig, vom 7. bis zum 18. Lebensjahr beschränkt geschäftsfähig. Fehlt die Geschäftsfähigkeit, ist auf Seiten des minderjährigen Patienten für den wirksamen Abschluss eines Behandlungsvertrages die Zustimmung des gesetzlichen Vertreters erforderlich. Gesetzliche Vertreter sind in der Regel die Eltern bzw. im Falle von Trennung oder Scheidung der bzw. die Sorgeberechtigten. 2. Bei »normalen« ärztlichen Behandlungsmaßnahmen genügt die Zustimmung eines Sorgeberechtigten. Sofern dem Arzt keine besonderen Umstände bekannt sind, kann er vom Einverständnis des jeweils anderen Sorgeberechtigten ausgehen. 3. Eine Zustimmung der Sorgeberechtigten ist ausnahmsweise dann entbehrlich, wenn der beschränkt geschäftsfähige minderjährige Patient lediglich einen rechtlichen Vorteil erhält, ohne selbst Pflichten übernehmen zu müssen. Ein Beispiel hierfür ist der als Familienmitglied in der GKV versicherte 15-jährige Patient, der seit diesem Zeitpunkt eigenständig Leistungen in Anspruch nehmen darf, ohne selbst Zahlungsverpflichtungen übernehmen zu müssen. 4. Eine weitere, in der Praxis nicht sehr wichtige Ausnahme ist der so genannte »Taschengeldparagraph« (§ 110 BGB). Danach wird der Behandlungsvertrag wirksam, wenn der Minderjährige die in Anspruch genommene Leistung aus Mitteln bezahlt, die ihm zu diesem Zweck oder zur freien Verfügung überlassen worden sind. 5. Fehlt eine Zustimmung der Sorgeberechtigten, wird sie auch nicht nachträglich erteilt, und liegt keine der wenigen Ausnahmemöglichkeiten vor, kann der Arzt sein Honorar jedenfalls nicht gegenüber dem Minderjährigen liquidieren. Es fehlt an einem wirksam zustande gekommenen Vertrag. (Ausnahme s. GKV-Honorar über KV bei 15-jährigen Familienversicherten). War die Behandlung notwendig und unabweisbar, bleibt dem Arzt nur, seine Aufwendungen als Geschäftsführer ohne Auftrag gegenüber den Sorgeberechtigten geltend zu machen.
9.2
2.
3.
4.
Einwilligungsfähigkeit
1. Während die Geschäftsfähigkeit »nur« das Honorar betreffen kann, ist die Einwilligungsfähigkeit des Minderjährigen als Voraussetzung für die Zulässigkeit der Behandlung dann maßgeblich, wenn er bereits über die notwendige Einsichtsfähigkeit verfügt. Ist dies der Fall, kann eine Einwilligung seiner Sorgeberechtigten seine fehlende Einwilligung nicht mehr ersetzen (Vetomündigkeit des Minderjährigen).
5.
Umgekehrt gilt, dass die Einwilligung der Sorgeberechtigten immer dann einzuholen ist, wenn eine Einsichtsfähigkeit des Minderjährigen nicht oder nicht sicher gegeben ist. Eine starre und generelle Altersgrenze lässt sich für die Einsichtsfähigkeit von Minderjährigen nicht angeben. Die Einsichtsfähigkeit zu prüfen ist stets Aufgabe des Arztes. Es besteht allerdings weitgehend Einigkeit, dass bei unter 14Jährigen eine Einwilligungsfähigkeit in der Regel nicht gegeben ist, während sie mit nahender Vollendung des 18. Lebensjahres in vielen Fällen vorliegen wird. Die Beurteilung hängt ganz wesentlich von Art und Schwere des Eingriffs und der Verstandsreife des Minderjährigen ab. Ist die Einwilligung der Sorgeberechtigten erforderlich, ist auch die Aufklärung ihnen gegenüber vorzunehmen. Selbstverständlich wird der Arzt auch dem nichteinwilligungsfähigen Minderjährigen, soweit dies möglich ist, erklären, was mit ihm geschehen soll und welche Verhaltensmaßregeln zu beachten sind. Bei einfachen Behandlungsmaßnahmen des täglichen Lebens genügt die Einwilligung eines sorgeberechtigten Elternteils. Der Arzt kann in diesen Fällen darauf vertrauen, dass der nicht anwesende Elternteil mit der Vornahme der Maßnahme einverstanden ist, sofern ihm nicht aus anderen Umständen das Gegenteil bekannt ist. Bei mittleren Eingriffen mit nicht unbedeutenden Risiken hat der Arzt den anwesenden Elternteil nach dem Einverständnis des abwesenden Elternteils zu befragen. Auf die Richtigkeit der ihm gegebenen Auskunft darf er sich im Zweifel verlassen (Vertrauensgrundsatz). Bei schweren Eingriffen mit nicht unerheblichen Risiken (z. B. auch bei weitreichenden Behandlungsalternativen) darf sich der Arzt nicht auf das angebliche Einverständnis des nicht anwesenden Sorgeberechtigten (Elternteils) verlassen. Vielmehr muss er in diesen Fällen versuchen, das Einverständnis beider Elternteile einzuholen. Ist die Behandlung unaufschiebbar und kann das Einverständnis des nicht anwesenden Elternteils allerdings nicht eingeholt werden, ist nach dem mutmaßlichen Willen vorzugehen. Bei Uneinigkeit gemeinsam sorgeberechtigter Eltern gilt die Einwilligung als versagt. Außer in den Fällen, in denen ärztliches Handeln unaufschiebbar und dringend notwendig ist, um schwerwiegende Nachteile für den Minderjährigen abzuwenden, kann der Arzt abwarten, ob der zustimmende Elternteil wegen der Verweigerung des anderen Teiles das Familiengericht mit dem Ziel anruft, ihm die Alleinentscheidung zu übertragen (§ 1628 BGB). Verweigern beide Elternteile bzw. der alleine Sorgeberechtigte die Einwilligung, kann hierin ein Missbrauch des Sorgerechts liegen. In diesen Fällen kann das Familiengericht auf Antrag des Arztes die fehlende Zustimmung des Sorgeberechtigten ersetzen oder einen Ergänzungspfleger bestellen, der anstelle der Eltern die Entscheidung trifft. Ist die Entscheidung so dringend, dass, überspitzt ausgedrückt, keine
59 9.3 · Besondere Behandlungssituationen
Minute verloren werden darf, kann der Arzt handeln und im mutmaßlichen Interesse des Kindes die ihm notwendig erscheinenden Maßnahmen in die Wege leiten. 6. In allen Fällen, in denen Einwilligungsdefizite zu befürchten sind bzw. kein einfacher Regelfall vorliegt, ist die Prüfung der Umstände zu dokumentieren. Wenn der Arzt später anhand seiner Dokumentation nachweisen kann, dass er sich mit der Frage der Einwilligungsfähigkeit und den Zustimmungsvoraussetzungen der Sorgeberechtigten eindringlich auseinandergesetzt hat, wird man ihm in den seltensten Fällen einen Vorwurf machen können, wenn sich diese Frage nachträglich anders darstellt.
9.3
Besondere Behandlungssituationen
1. Verordnung von Kontrazeptiva Im Allgemeinen wird heute bei 16- bis 18-jährigen jungen Frauen die Einsichts- und damit auch Einwilligungsfähigkeit angenommen. Die früher auch in der verfassten Ärzteschaft geäußerten Bedenken wurden 1984 aufgegeben. Bei 14- bis 16-jährigen Mädchen kann die Einsichtsfähigkeit von Fall zu Fall gegeben sein. Sie bedarf jedoch einer individuellen Prüfung durch den Arzt und sollte genau dokumentiert werden. Bei unter 14-jährigen Mädchen (z. B. einer weit entwickelten 13-Jährigen) wird man eine Einsichtsfähigkeit nicht schlechthin verneinen können. Die Annahme der Einsichtsfähigkeit wird sich jedoch auf Ausnahmefälle beschränken. Insbesondere sollte der Arzt in einem Gespräch mit dem Mädchen klären, ob nicht doch besser die Mutter hinzugezogen werden soll. Bejaht der Arzt im übrigen die Einsichts- und damit auch Einwilligungsfähigkeit minderjähriger Patientinnen in diesen Fällen, ist er an seine Schweigepflicht – auch gegenüber den Eltern – gebunden1. 2. Offenbarungsrecht und Offenbarungspflicht gegenüber Sorgeberechtigten Wie bei Erwachsenen auch gibt es jedoch Konstellationen, in denen die Schutzwürdigkeit anderer Rechtsgüter eine Offenbarung trotz grundsätzlich bestehender Schweigepflicht bei einsichtsfähigen Jugendlichen rechtfertigen kann. Oftmals handelt es sich jedoch nur um ein Offenbarungsrecht, nicht um eine Offenbarungspflicht. Das heißt, der Arzt wird prüfen, ob er sich im wohlverstandenen Interesse des Jugendlichen über seine prinzipiell in diesen Fällen bestehende Schweigepflicht hinwegsetzt, um einer Gefährdung des Jugendlichen vorzubeugen. Das Offenbarungsrecht wird zu einer Offenbarungspflicht, wenn der ansonsten einsichtsfähige Jugendliche einen ärztlichen Rat (z. B. Krankenhausaufnahme) zur Abwehr einer gefährlichen Bedrohung missachtet. Hier müssen die Sorgeberechtigten geradezu hinzugezogen werden, um zusätzlich auf den Jugendlichen einwirken zu können. 3. Sterilisation Mit Inkrafttreten des Betreuungsgesetzes am 01.01.1992 ist die Sterilisation Minderjähriger und damit vor allem auch geistig behinderter Minderjähriger grundsätzlich unzulässig (§ 1631c BGB). Ausnahmegenehmigungen sieht das Gesetz nicht vor.
4. Schwangerschaftsabbruch Nach überwiegender Ansicht in Rechtsprechung2 und Literatur3 ist eine 16-jährige Schwangere in aller Regel in der Lage, eine eigenverantwortliche Entscheidung über Fortsetzung und Abbruch der Schwangerschaft zu treffen. Bei 14bis 16-jährigen Mädchen wird dies jedoch eher die Ausnahme sein. Wünschen die Eltern den Abbruch der Schwangerschaft, das Mädchen hingegen deren Fortsetzung, ist der Wille des Mädchens auch dann maßgeblich, wenn es im übrigen nicht als einsichtsfähig angesehen werden kann. 5. Organtransplantation Für den Fall des Todes kann bereits ein 16-jähriger potentieller Spender eine positive Verfügung treffen oder sich ab dem 14. Lebensjahr für die Widerspruchslösung entscheiden. Eine Lebensspende kommt bei Minderjährigen nicht in Betracht. Da das TPG jedoch nicht für Blut und Knochenmark gilt, können diese Materialien auch von Minderjährigen für Geschwisterkinder (dies aber nur mit Einwilligung der Sorgeberechtigten) gespendet werden. 6. Medizinische Forschung In die klinische Prüfung von Arzneimitteln dürfen Minderjährige nur einbezogen werden, wenn sie zum Erkennen oder Verhüten von Krankheiten von Minderjährigen bestimmt ist, die Prüfung an Erwachsenen keine ausreichenden Prüfungsergebnisse erwarten lässt und neben der erforderlichen Einwilligung des gesetzlichen Vertreters auch die Einwilligung des bereits einwilligungsfähigen Probanten schriftlich vorliegt. Entsprechende Regeln gelten für die Erprobung von Medizinprodukten.
2
3 1
BVerfG, DVBl. 1982, 406, mit Art. 6 Abs. 2 GG vereinbar.
9
LG München I, NJW 1980, 646; AG Schlüchtern, NJW 1998, 832; s. aber OLG Hamm, NJW 1998, 3424; bei Minderjährigen ist die Zustimmung der Sorgeberechtigten erforderlich. Eser. In: Schönke und Schröder, Kommentar zum StGB, 26. Aufl. 2001, § 218 a, Rdnr. 61.
10 Ausländische Jugendliche L. Akgün, F. Çerçi, U. Kling-Mondon
10.1
Probleme der Integration
L. Akgün ))
10
Der Begriff »Integration« ist auf das lateinische Wort integer (hier: neu) und das griechische entagros (»ganz«) zurückzuführen. Entsprechend bedeutet Integration: die »Herstellung eines Ganzen«, »alle Aspekte der Ganzheitsbildung«. Nach allgemeinem soziologischem Verständnis meint Integration den Prozess, durch den Personen oder soziale Gruppen Teil einer größeren sozialen Gruppe werden sollen, wobei ein neues Ganzes entsteht. Im Beispiel der Integration von Migranten bedeutet dies, dass diese Teil der Mehrheitsgesellschaft werden und letztere dabei verändern. Integration ist, darauf verweisen schon Wurzeln des Wortes, gleichsam ein Prozess dialektischer Aufhebung. Die »alte« Gesellschaft wird im dreifachen Sinne des Wortes aufgehoben: Wünschenswerte Elemente werden bewahrt, die »alte« Gesellschaft wird beseitigt, insofern sie durch eine neue ersetzt und idealtypischerweise auf eine höhere Stufe gehoben wird, weil die entstehende neue Gesellschaft kulturell, sozial und wirtschaftlich reicher wird als ihre Vorgängerin. Einem geflügelten Wort zufolge ist Integration »keine Einbahnstraße«: sowohl die Mehrheitsgesellschaft als auch die Menschen mit Migrationshintergrund haben Anpassungsleistungen zu erbringen, sofern Integration gelingen soll. Entsprechend lassen sich integrationshinderliche Faktoren »auf beiden Seiten« feststellen. Die Chance zur sozialen Teilhabe und der Dialog spielen bei der Verwirklichung der Integration eine herausragende Rolle.
10.1.1 Problemorientierte Geschichte
der Migration nach Deutschland Die Zuwanderung der ausländischen Arbeitskräfte (der Begriff »Gastarbeiter« ist in die soziologische Terminologie eingegangen) kam zwischen 1959 und 1965 richtig in Gang, nachdem auf dem westdeutschen Arbeitsmarkt nahezu Vollbeschäftigung erreicht war und der Mauerbau 1961 den Strom der Flüchtlinge aus der DDR beendete (7 auch für nachfolgende Ausführungen Akgün: Zuwanderung in der Bundesrepublik). In diesem Zeitraum nahm die Zahl der Arbeitsmigranten um 1 Millionen zu. An langfristige Entwicklungen mit sozialen Folgeproblemen wurde bei der Anwerbung der ‚Gastarbeiter’ nicht gedacht. Sowohl im Verständnis der Arbeitsimmigranten als auch der aufnehmenden Gesellschaft war an einen vorübergehenden Aufenthalt in Deutschland, nicht jedoch an eine Einwanderung auf Dauer gedacht. In den Worten des Schriftstellers Max Frisch: »Wir haben Arbeitskräfte gerufen, doch es kamen Menschen.«
Nach einer zweiten Anwerbewelle in den Jahren 1968 bis 1973 lebten rund 4 Millionen Ausländer in Deutschland, wobei die Türken die größte Gruppe unter den Nationalitäten stellten. Zur gleichen Zeit registrierten Unternehmern und Regierung mit Sorge die steigende Aufenthaltsdauer der ›Gastarbeiter‹, die wachsende Tendenz zum Familiennachzug und als Folge die zunehmende Zahl der nicht-erwerbstätigen Ausländer. Darin wurden Anzeichen für eine Verfestigung des Ausländeraufenthalts gesehen, die schließlich die Gefahr einer zunehmenden finanziellen Belastung für die Bundesrepublik mit sich bringen würde. Die Aussicht, dass der wirtschaftliche Nutzen der Gastarbeiter absinken könnte, löste ab 1970 eine heftige Debatte über Vor- und Nachteile der Ausländerbeschäftigung aus. Die Debatte mündete schließlich in dem Anwerbestopp für Gastarbeiter aus Nicht-EGLändern vom November 1973. Er verstärkte paradoxerweise die ohnehin bereits erkennbare Tendenz zu Daueraufenthalt und Familiennachzug. Nur langsam wuchs die Erkenntnis, dass die Anwerbung und Beschäftigung der Gastarbeiter eine Vielzahl von langfristigen und sozial brisanten Folgeproblemen nach sich zog. Die aus meiner Sicht offensichtliche Konzeptionslosigkeit der Ausländerpolitik veranlasste die Bundesregierung 1976 eine Bund-LänderKommission mit der Entwicklung eines umfassenden Konzepts zu beauftragen. Der Anfang 1977 vorgelegte Bericht der Kommission entsprach in seinen Prämissen weitgehend den bisherigen Leitlinien: Die Bundesrepublik sei kein Einwanderungsland, die Ausländer sollten im Regelfall nach einiger Zeit wieder in ihre Heimat zurückkehren, der Anwerbestopp sollte beibehalten und die Rückkehrbereitschaft verstärkt werden, Zwangsmaßnahmen sollten aber nicht zum Einsatz kommen. Gleichzeitig sollten die in der Bundesrepublik lebenden Ausländer integriert und ihr sozialer und rechtlicher Status gesichert werden. Dies bedeutete weiterhin die Nichtwahrnehmung der faktischen Einwanderungssituation. Das Memorandum des ersten »Beauftragten der Bundesregierung zur Förderung der Integration der ausländischen Arbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen« (Kühn-Memorandum) forderte eine konsequente Integrationspolitik unter Anerkennung der faktischen Einwanderung. Es schlug die Option auf Einbürgerung der in Deutschland geborenen Kinder und Jugendlichen vor (Kühn 1979). Unter der 1982 ins Amt gekommenen konservativ-liberalen Bundesregierung änderte sich das Integrationsverständnis: es wurde als ein Kulturproblem angesehen. Mit dem Rückkehrförderungsgesetz von 1983 sollte ein materieller Anreiz zur Rückkehr in die Heimatländer geschaffen werden. Ziel war es, den Akzent nun stärker in Richtung Reduzierung der Ausländerzahl zu verschieben. Für Meier-Braun beginnt mit dem Regierungswechsel 1982 eine neue Phase in der Ausländerpolitik, die er als Wechsel vom »Wettlauf um Integrationskonzepte« zum »Wettlauf um eine Begrenzungspolitik« charakterisiert (MeierBraun 1988). Die Reform des Ausländerrechts von 1990 schuf, bei Beibehaltung des Anwerbestopps, einen neuen »Gastarbeiterstatus«: es eröffnete die Möglichkeit, durch temporäre Beschäftigung von Ausländern gezielt Arbeitskräftemängel zu beheben. Diese Ge-
61 10.1 · Probleme der Integration
setzesgrundlage hat durchaus praktische Folgen gezeitigt: So sind 1992 insgesamt 312.000 Arbeitskräfte auf amtlichem Wege in die Bundesrepublik gekommen ‒ trotz offiziellem Festhalten am Anwerbestopp mehr als im Jahr des Anwerbestopps 1973. Weitere Zuwanderungswellen sind nach dem Fall der Berliner Mauer zu verzeichnen: So stieg die Zahl der Spätaussiedler sowie zunächst die Zahl der Asylbewerber drastisch an. Fazit
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass bis weit in die 1990erJahre hinein kein stringentes Konzept für die Integration von auf Dauer in Deutschland lebenden Zuwandern vorlag. Gleichwohl muss konstatiert werden: »Nach Deutschland sind in den vergangenen Jahrzehnten mehrere Millionen Ausländer und Aussiedler eingewandert. Ihre Integration verlief in vielen Fällen sehr erfolgreich.« (Bericht der Unabhängigen Kommission »Zuwanderung«, 2001, S. 12). Generell lässt sich diese Zeit als diejenige charakterisieren, die von der Kultivierung der Andersartigkeit geprägt war, in der Integration wenig thematisiert und multikulturelle Vielfalt als eigenständiger Wert gesehen wurde. 10.1.2 Die gegenwärtige Integrationsdebatte In der derzeitigen Debatte wird Integration im Wesentlichen gleichgesetzt mit dem Erwerb respektive der Vermittlung von Deutschkenntnissen. Dieser Blick scheint mir verkürzt, auch wenn hinreichende Kenntnisse der deutschen Sprache selbstredend eine notwendige, wenn auch nicht hinreichende Vorraussetzung von Integration sind. Maßgeblich ist die soziale Integration der Migranten: Ihre Chancengleichheit gilt es zu verwirklichen. Der Bericht »Zuwanderung gestalten, Integration fördern« der Unabhängigen Kommission »Zuwanderung« fasst die noch bestehenden Defizite wie folgt zusammen: »Zuwanderer sind von Bildungsdefiziten besonders betroffen. Schon in der Schule schneiden ausländische Kinder im Durchschnitt deutlich schlechter ab als einheimische.« Diese Defizite sind durch eine kompensatorische Erziehung bereits im Vorschulalter soweit wie möglich auszugleichen. Nur so lässt sich Chancengleichheit auf dem Arbeitsmarkt herstellen. Wir müssen uns der spezifisch deutschen Situation und der daraus resultierenden sozialen Situation der Migranten bewusst sein. Die erste Generation der Zuwanderer in den 1960er-Jahren stammte überwiegend aus bildungsfernen Schichten, da von der deutschen Industrie gering qualifizierte Arbeitskräfte gebraucht und angeworben wurden. In den vergangenen Jahrzehnten hat sich diese fehlende »Bildungstradition« auf die Nachkommen dieser sog. »Gastarbeitergeneration« häufig fortgesetzt, ohne dass sich meines Wissens die deutsche Mehrheitsgesellschaft und Politik um eine verstärkte Bildung speziell für diese Zielgruppe intensiv bemüht hätte. Bildung ist jedoch heute, unter den radikal veränderten Bedingungen der Arbeitswelt, die Grundvoraussetzung für berufliche Qualifizierung und damit für soziale und gesellschaftliche Teilhabe. ! Für die Erwachsenen werden daher Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen, berufliche Qualifizierung und das systematische Erlernen der deutschen Sprache zum Schlüssel, auch für die Weitergabe des Bildungsgedankens an die Jugendlichen.
10
Dies erfordert ein auf jeden Menschen individuell abgestimmtes Maßnahmenpaket, das nur durch eine koordinierte Bündelung von Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik, der Länder und Gemeinden sowie der Verbände der freien Wohlfahrtspflege erfolgreich sein kann.Unsere Gesellschaft kann auch auf die Talente der jungen Menschen mit Migrationshintergrund nicht verzichten. Der sozialdemokratischen Bildungsoffensive der 1970er-Jahre haben nicht nur viele sozialdemokratische Politiker der »Enkel-Generation« ihren sozialen Aufstieg als Arbeiterkinder zu verdanken. Es wäre deshalb sinnvoll, eine ähnliche Kraftanstrengung heute mit der Zielgruppe der Jugendlichen mit Migrationshintergrund zu wiederholen. 10.1.3 Nation-Building und Integration Der Begriff »Nation Buildung« taucht eher in Debatten um die Nachkriegsgesellschaften Afghanistans und Iraks auf. Er lässt sich meiner Ansicht nach aber auf die deutsche Integrationsdebatte übertragen. Aus dem bereits Gesagten ist ableitbar, dass wir im Prinzip ein neues Nation Building für Deutschland brauchen: So wie Bayern, Hessen, Rheinländer und, beispielsweise, die polnischen Zuwanderer im 19. Jahrhundert Teil einer gemeinsamen Nation wurden – bei gleichen Rechten und Pflichten – so müssen nun die Migranten die gleiche Chance bekommen. Das bedeutet mehr als die Verleihung der deutschen Staatsangehörigkeit. Die in unserem Beispiel wichtigste Vorraussetzung dieses Nation Building ist eine andere: die »neuen Deutschen« können nur dann von ihrer Zugehörigkeit zur Nation überzeugt sein, wenn sich diese Zugehörigkeit auch in ihrer sozialen Realität wiederfindet – durch soziale Teilhabe. Dabei müssen sie ihre bisherigen ethnischen Wurzeln nicht komplett kappen: Relevant ist, dass ihre primäre ethnische Identität sich aus der Zugehörigkeit zur deutschen Nation speist (inspiriert durch Hippler 2004). Die Bundesregierung hat mit dem neuen Staatsangehörigkeitsrecht eine wesentliche Voraussetzung dafür geschaffen. Damit wurden die völkischen Wurzeln des Staatsangehörigkeitsrechtes gekappt, die das wilhelminische Kaiserreich, die Weimarer Republik, das »Dritte Reich« und fast fünf Jahrzehnte Bundesrepublik überstanden hatten. ! Migranten müssen sich mit unserer Gesellschaft identifizieren können, weil sie ihnen Chancen gibt. Sie müssen diese Chancen aber auch nutzen. Kurzum: Aus Migranten müssen Bürger werden.
Mein Wunsch ist daher ein »Deutschland für alle« hier lebenden Menschen (7 dazu Akgün: Schwarz-Rot-Gold im Wind. In: Frankfurter Rundschau, 28.02.04). 10.1.4 Widerstände gegen Integration Gegen Integration gibt es vielerlei Widerstände: Auf Seiten der politischen Rechten, teilweise in den Reihen der Migranten selbst (Islamisten!), aber auch in der links-liberalen Community. So ist z. B., metaphorisch gesprochen, ein anti-emanzipatorischer Schutzwall entstanden, hinter dem sich autochthone Deutsche und Migranten verschanzen, die einen hüben, die anderen drüben. So relativieren einige Migranten ihren Sexismus, indem sie auf ihre »anderen Wertvorstellungen« verweisen, die es zu tolerieren gelte. Die anderen Wertvorstellungen werden daher als
62
Kapitel 10 · Ausländische Jugendliche
Argument herangezogen, um die auf patriarchalischen Strukturen fußenden Familienprobleme mit kulturellen Eigenheiten zu rechtfertigen. Und sie stoßen mit solchen Aussagen oft genug auf vermeintliche Toleranz. Dies wurde zuletzt in der Kopftuchdebatte deutlich (zur Kopftuchproblematik: http://www.laleakguen.de). Ich denke, die Gesellschaft der Bundesrepublik muss die Grenzen ihrer Toleranz erkennen. Multi-Kulti-Folklore halte ich für keinen Ersatz für eine Auseinandersetzung mit patriarchalischen und anti-aufklärerischen Tendenzen bei einem Teil der Migranten. Dabei gilt es jedoch, dem Rekurs auf die Herkunftskultur und einen streng ausgelegten Islam die Wurzeln auszureißen: Noch immer werden Migranten diskriminiert, teils subtil, teils offen, noch immer ist Rassismus in Deutschland anzutreffen. Die mangelnde Akzeptanz seitens der »Mehrheitsgesellschaft« ist für mich der wesentliche Grund für die zunehmende Tendenz zur Flucht in die ideologische (Selbst-)Ghettoisierung (vgl. Schröer 2004). 10.1.5 Dialog
10
Die in Deutschland lebenden Menschen müssen in den Dialog eintreten über einen Kern gemeinsamer Wertvorstellungen, ohne den keine Gesellschaft überleben kann. Es kann dabei nicht darum gehen, Migranten Werte zu vermitteln, wie vielfach gefordert wird. Gemeinsame Werte müssen erst (und immer wieder) gemeinsam erarbeitet werden. Natürlich braucht der Dialog »Leitplanken«: Demokratie, Toleranz und die Gleichberechtigung von Mann und Frau dürfen nicht zur Disposition gestellt werden. Wie in der Schulpraxis schon Alltag, plädiere ich für einen Religionsunterricht, der Gemeinsamkeiten in den Mittelpunkt stellt. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom September 2003 zur Kopftuchfrage war der Anstoß zum Beginn einer neuen Debatte um Säkularisierung, um Veränderung im Verhältnis von Religion und Staat. Um dem gerecht zu werden, wird sich die Politik an einer Maxime messen lassen müssen: der Islam muss so behandelt werden, dass Äquidistanz zu allen Religionen gewahrt wird, unabhängig davon, wie das Verhältnis von Religion und Staat grundsätzlich gestaltet ist. Der Islam als Faktor der Integration und Gesellschaftspolitik ist ein deutliches Beispiel dafür, dass Integration keine Einbahnstraße ist. Multi-Kulti-Folklore muss durch den Dialog mit säkularen Muslimen ersetzt werden. Sie stellen die Mehrheit der in Deutschland lebenden Muslime. Sie sind, wie andere politisch fortschrittliche Migranten, wichtige Mitstreiter im Kampf gegen reaktionäre und im Kern integrationsfeindliche Ideologien (Akgün: Frankfurter Rundschau, 28.02.04). Dieser Dialog hat durchaus realistische Chancen. So belegt eine Studie der Universität Mannheim, dass ausländische Jugendliche eine noch höhere kulturelle Offenheit aufweisen als ihre deutschen Pendants. Während jene zu 85% Zustimmung zu Aussagen zur kulturellen Offenheit signalisieren, sind es bei diesen 72% (vgl. Reinders 2003). 10.1.6 Zusammenfassung und Ausblick Die Bundesrepublik braucht in vermehrtem Maße Zuwanderung, die jedoch gesteuert sein muss, um den wohl verstandenen Inte-
ressen des Landes gerecht zu werden. Dabei dürfen sich die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen. Integration ist, wie eingangs bereits skizziert, ein dialektischer Prozess, dessen Mittel der Dialog ist, d. h. die Verständigung über gemeinsame Werte. Dabei gilt es, alte Zöpfe abzuschneiden: Multi-Kulti-Folklore und die Toleranz beispielsweise gegenüber Sexismus und religiösem Fundamentalismus ist meiner Meinung nach nicht hinnehmbar und kontraproduktiv. In anderen Worten: Die Toleranz gegenüber der Intoleranz stärkt Letztere – Toleranz schlägt also in ihr Gegenteil um. Migration kann ein Gewinn für die deutsche Gesellschaft sein. Dieser Gewinn ist jedoch nicht zum Nulltarif zu haben: Migranten müssen die Chance zur sozialen Teilhabe bekommen, damit aus Mitbürgern Bürger werden, die sich mit dem Gemeinwesen identifizieren können. Auf die Kurzformel gebracht: Soziale Teilhabe schafft Identifikation mit dem Gemeinwesen und damit die wichtigste Voraussetzung für Integration. Das ist keine abstrakte Utopie: im Ruhrgebiet sind die Nachfahren der polnischen Einwanderer des 19. Jahrhunderts als solche nur noch an den Klingelschildern ihrer Häuser zu erkennen.
Literatur Akgün L: Zuwanderung in die Bundesrepublik Deutschland seit 1955. Vortrag Akgün L (2004) Schwarz-Rot-Gold im Wind. Ein Plädoyer für einen kosmopolitischen, aufgeklärten Patriotismus. In: Frankfurter Rundschau vom 28.02.2004. URL: http://www.lale-akguen.de/popuptexte/veroeffentlichungen/schwarz_rot_gold.htm (Stand: 15.07.2004) Bundesminister des Inneren: Begründung zur Neuregelung des Ausländerrechts vom 27. Januar 1990. In: Deutscher Bundestag, Drucksache 11/6321, 39–91 Hippler J (2004) Gewaltkonflikte, Konfliktprävention und Nationenbildung – Hintergründe eines politischen Konzeptes. In: ders. (Hrsg.) NationBuilding. Ein Schlüsselkonzept für friedliche Konfliktbearbeitung? Bonn [=EINE Welt, Texte der Stiftung Entwicklung und Frieden]. S. 14–30 Kühn H (1979) Stand der Verwirklichung der Integration der ausländischen Arbeitnehmer und ihrer Familien in der Bundesrepublik Deutschland. (Kühn-Memorandum) Bonn Meier-Braun KH (1988) Integration ohne Rückkehr? Zur Ausländerpolitik des Bundes und der Länder, insbesondre Baden-Württembergs. Grünewald, Mainz Reinders H (2002) Freundschaftsbeziehungen in innerethnischen Netzwerken. Skalendokumentation der Pilotstudie 2002. Frient-Projektbericht Nr. 1, Lehrstuhl Erziehungswissenschaft II, Universität Mannheim Schröer J (2004) Mehrkulturelle Identität im Zwiespalt. In: Feld K, Freise J, Müller A (Hrsg.) (2004) Mehrkulturelle Identität im Jugendalter. LitVerlag, Münster Zuwanderung gestalten, Integration fördern. Bericht der Unabhängigen Kommission »Zuwanderung« (Zusammenfassung). Berlin 2001. URL: http://www.bmi.bund.de/downloadde/7670/Download_Zusammenfassung.pdf (Stand: 15.07.2004)
63 10.2 · Psychosoziale Probleme
10.2
Psychosoziale Probleme
F. Çerçi ))
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alen und emotionalen Faktoren berücksichtigen. Werden jedoch diese Probleme nicht erkannt und keine korrekte Diagnose gestellt, können folglich eine richtige Behandlung von ernsthaften Erkrankungen und eine Inanspruchnahme der Behandlungsangebote verhindert werden (Tan et al. 1999).
Die Herkunft der Migranten-Jugendlichen in unseren Praxen spiegelt die regional unterschiedliche Migrationsbewegung wider. Es handelt sich um eine heterogene Gruppe. Für eine angemessene jugendmedizinische Versorgung ist ein differenziertes Vorgehen erforderlich. Diese Jugendlichen sind Menschen mit Einzelschicksalen, die aus unterschiedlichen Herkunftsländern und Kulturkreisen stammen. Sie sind zu verschiedenen Zeitpunkten und mit unterschiedlichen Zuwanderungsmotiven nach Deutschland gekommen. Sie können z. B. der Nachwuchs der ehemaligen Arbeitsmigranten sein, oder auch Flüchtlinge, Asylanten oder unregistrierte bzw. unbegleitete minderjährige Adoleszenten mit häufig unsicherem Aufenthaltsstatus und Existenzangst. Zusätzlich erfahren diese Jugendlichen wegen sozialer Unterschiede, Akkulturationsproblemen, ihrer Migrationsgeschichte und der häufig niedrigen sozioökonomischen Lage ihrer Eltern eine zusätzliche Belastung. Besonders während der Pubertät kann die Kumulation mehrerer Faktoren gesundheitliche Auswirkungen haben.
Gesundheitsrelevante Faktoren Kulturspezifische Faktoren können sein: unterschiedliche Gesundheits- bzw. Krankheitskonzepte, geschlechtsspezifische Gesundheitsdefinitionen, Vorstellungen über Ursache, Behandlung und Umgang mit der Krankheit, bestimmte ungesunde (einige heimatlandtypische) Essgewohnheiten, traditionelle oder religiöse Praktiken, die einen medizinischen Aspekt haben, abweichende Erwartungen von der medizinischen Versorgung. Man sollte daran denken, dass bei der Behandlung noch unbekannte Faktoren mitwirken (z. B. Familienangehörige, heimatliche Heilverfahren, traditionelle pflanzliche Mittel, traditionelle Heiler). Organische Krankheiten können als Folge von kulturellen Verhaltensweisen oder Einstellungen entstehen, z. B. vermehrt genetisch bedingte Erkrankungen bei Verwandtenehen oder auch die traditionelle weibliche Beschneidung mit Folgebeschwerden. Auch beim Umgang mit Suchtmitteln wie z. B. Alkohol spiel ein kulturspezifisches Verhalten eine Rolle.
Gemeinsam ist dieser vielschichtigen Gruppe der Umstand der Migration in das gleiche Land, in dem sie unter vergleichbaren Akkulturationsbedingungen leben. Sie besitzen eine ausländische, zum Teil aber auch die deutsche Staatsangehörigkeit. Ein bundesweites Gesundheitsmonitoring dieser Gruppe fehlt. Vorhandene Datenquellen der amtlichen Statistiken sind nicht oder nur selten nach Herkunft und Kulturkreis differenziert. Es liegen jedoch einzelne regionale Berichte sowie Ergebnisse von Schuleingangsuntersuchungen vor, die gewisse Hinweise geben. Darüber hinaus gibt es vereinzelt aus medizinischen Praxen Erfahrungsberichte.
Wenn Patienten ärztliche Empfehlungen nicht oder anders als gemeint verstehen, ist es verständlich, dass Migranten aus Sicht deutscher Ärzte häufig schwierige Patienten und »non-compliant« sind. Das Wissen über die Lebensweise und evtl. spezifische Charakteristika der Denkweisen über Gesundheit und gesundheitsrelevante Verhaltenweisen wirkt sich positiv auf das ArztPatienten-Beziehung aus. Informationen über Netzwerke der Migranten und weitere Ressourcen geben wichtige Hinweise. Die Behandlung wird effektiver.
! Bei einem Therapieversagen sollte neben Verständnisproblemen auch an kulturbedingte Denk- und Verhaltensweisen gedacht werden.
Tipp
10.2.1 Psychosoziale Beurteilung Bei Jugendlichen, deren Eltern Anpassungsschwierigkeiten haben, wird Migration vermehrt mit Depression und aggressivem bzw. dissozialem Verhalten in Verbindung gebracht. Die Migration an sich erhöht nicht das Risiko solcher Probleme. Bei einer Betreuung müssen besonders belastende Risikofaktoren mit berücksichtigt werden. Nicht jeder Mensch reagiert auf die veränderte Situation in gleicher Weise. Cave Misslingen Verarbeitung, Neuorientierung und Integration, kann es zu einer Chronifizierung von Störungen kommen.
Es empfiehlt sich, Informationen über kulturelle und soziale Hintergründe zumindest über die in der Nähe der Praxis lebenden größten ethnischen Gruppen einzuholen.
Migrationsspezifische Faktoren. Dies können Verständigungs-
und Verständnisprobleme, mangelhafte Information über die hiesige Gesundheitsstruktur, aufenthaltsrechtliche Bedingungen sein. Verständigungsprobleme zwischen ausländischen Patienten und deutschen Ärzten führen oft zu Fehldiagnosen, teuren unnötigen Therapien und häufigen Krankenhausaufnahmen. Sie gefährden den Therapieerfolg. Kenntnisse über den Migrationprozess und die Lebenswelt des Migranten, kulturelle Ressentiments oder Fremdenfeindlichkeit sind weitere Punkte. Sozioökonomische Faktoren. Zu dieser Kategorie gehören un-
Besonders in der englischsprachigen Literatur wird in diesem Zusammenhang von einer Anpassungsstörung (adjustment disorder) gesprochen. Diese umfasst eine Vielfalt von möglichen Beschwerden, u. a. psychosomatische, emotionale Verhaltensstörungen, Zunahme von Infektionskrankheiten, Häufung von Unfällen. Daher müssen Kliniker eine Anzahl von familiären, sozi-
günstige frühere und jetzige Lebensbedingungen der jungen Migranten wie gesundheitsgefährdende Wohnverhältnisse, fehlende oder nicht ausreichende Krankenversicherung, mangelnde Möglichkeiten der sprachlichen, schulischen oder beruflichen Eingliederung. In vielen Bereichen ähneln Belastungsprofil und Gesundheitsprobleme denen der Aufnahmegesellschaft in den niedrigen sozialen Schichten.
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Kapitel 10 · Ausländische Jugendliche
Risikofaktoren für psychosozialbedingte Gesundheitsprobleme . Tabelle 10.1. Risikofaktoren für potentielle psychosoziale Probleme und Anpassungsstörungen (Mod. nach Tan et al. 1999)
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Risikofaktoren vor der Immigration
Risikofaktoren nach der Immigration
Vorbestehende psychische Erkrankung, bereits Suchterkrankung im Herkunftsland, körperliche oder andere Behinderungen
Trennung von Eltern oder Pflegepersonen
Alter bei der Migration von über 11 Jahren
Soziale Isolation
Unbegleitete Kinder und Jugendliche
Posttraumatisches Stresssyndrom bei Kind und/oder Eltern
Große kulturelle Differenzen zwischen Herkunftsland und Aufnahmeland
Rechtsunsicherheit, Ängste vor Abschiebung (Flüchtlinge, unregistrierte Migranten)
Keine oder geringe Sprachkenntnisse
Sprachbarrieren
Niedriger sozioökonomischer Status
Intrafamiliäre Konflikte in überfüllten Unterkünften, schlechte Wohnbedingungen
Analphabetismus
Verschiebung der traditionellen Autorität in der Familie Unterschiedliche Anpassung innerhalb der Familie an die neue Kultur Arbeitslosigkeit Verfolgung und Diskriminierung. Bei Flüchtlingen gehören traumatisierende Erlebnisse vor und während der Flucht dazu
Schutzfaktoren Persönliche und soziale Ressourcen haben einen unmittelbaren Einfluss auf das Verhalten der Migranten. Sie können auch Nachteile abpuffern und deswegen das Wohlbefinden indirekt beeinflussen. Für Prävention und Therapie können sie ebenfalls nützliche Dienste leisten
tibilität hängt vom Bildungsgrad der Eltern ab (Schepker 2003). Familien mit psychisch gesunden Kindern haben signifikant mehr Ressourcen bei Kindern und Eltern (ebd.). Prävention vor möglichen Problemen Tipp
Persönliche Ressourcen. Resilienz, Anpassungsfähigkeit, Ausein-
andersetzungsfähigkeit, Sprachkenntnisse, Bildungsstand, Gesundheit, Selbstwertgefühl, Schulerfolg, Freundschaften, häusliche Verantwortung, Hilfsbereitschaft, Zusammengehörigkeitsgefühl, Glauben. Integrierte Adoleszenten haben ein höheres Selbstwertgefühl als marginalisierte Jugendliche (Eyou et al. 2000). Soziale Ressourcen. Protektive Faktoren in der Familie wie Familienzusammenhalt, Großeltern, Geschwister oder andere Bezugspersonen, Bildungsstand der Eltern, kompetenter Erziehungsstil; außerdem soziale Netze wie Vereine, Kirchen oder Moscheen, soziale Unterstützungsprogramme, gute Kontakte und Freundschaften im Aufnahmeland, gerne zur Schule gehen, Lieblingslehrer, Telekommunikation, Internet, Bildungschancen, berufliche Ausbildungsmöglichkeiten. Manche der eher günstigen Faktoren können jedoch wiederum in anderen Fällen ein Risiko darstellen. Eine Großfamilie kann als Schutzfaktor angesehen werden, kann aber auch zu Konflikten zwischen den Generationen führen. Durch die Berufstätigkeit der Mutter steht mehr Geld zur Verfügung und hilft bei der Überwindung der sozialen Isolation, kann aber innerhalb der Familie zu Unruhe führen. ! Bei Entstehung von gesundheitsrelevanten Störungen ist häufig das Zusammentreffen mehrerer Faktoren wichtig: migrationsbedingte Belastung, Bewältigung, soziale Unterstützung und die Resilienz.
Soziale Gruppenidentität kann als ein Prädiktor für das psychosoziale Wohlbefinden angesehen werden (vgl. Sam 2000). Adap-
Informationen über das Gesundheitssystem sollten bei Neuankömmlingen gleich zu Beginn ihres Aufenthalts vermittelt werden. In dieser Phase sind Migranten am empfänglichsten hierfür. ÖGD, Schulen, Ärzte, aber auch Medien sollten sich mehr Sensibilität aneignen, wenn es um die psychosozialen Probleme und Gesundheitserziehung durch landessprachliche Ansprache geht. Notwendig ist ein kultursensibles Vorgehen.
Migrationsanamnese Die Migrationsanamnese beinhaltet u. a. die Dauer des Aufenthaltes in Deutschland (Hier geboren? 2.‒3. Generation? Neu eingewandert?), Migrationstatus (Asylant, Flüchtling, eingebürgert), vorsichtige Eruierung der Risikofaktoren oder sonstige Besonderheiten wie Pendelkind, Heiratsmigration. Einige Fragen müssen nach und nach ergänzt werden, da besonders schwerwiegende traumatische Erfahrungen wie eigene Gewalterfahrung, gewaltsamer Tod von Familienmitgliedern oder gar Vergewaltigung meistens nicht sofort mitgeteilt werden. Um das Krankheitskonzept der Jugendlichen zu verstehen, empfiehlt sich, je nach Situation Fragen zu formulieren. Dadurch ist herauszubekommen, wie die geäußerten Beschwerden vom Patienten, den Angehörigen oder auch im Herkunftsland gedeutet oder benannt werden. Man kann bei Bedarf fragen, welche Vorstellungen bestehen über Ursache, Schwere und Verlauf der Erkrankung, welche Krankheitsängste vorliegen, was für eine Behandlung erwartet und welche Therapie in keinem Fall akzeptiert
65 10.2 · Psychosoziale Probleme
wird. Hierdurch können wichtige Kenntnisse für eine erfolgreiche Zusammenarbeit mit dem Patienten gewonnen werden. Mit zunehmender Integration ist hier mit einer Angleichung zu rechnen. Akkulturation ist ein Prozess, in dem sich Sprache, Kultur und Wertesystem durch Interaktion mit einer anderen Sprache, Kultur und Wertesystemen ändert.
Tipp Einige nützliche Fragen zur Abschätzung des Akkulturationgrades könnten beispielsweise sein: Wie geht es dir? Wie fühlst du dich in Deutschland/in der Schule? Hast du hier viele Freunde, kommst du klar mit deinen deutschen Mitschülern? Auf häufiges Fehlen in der Schule achten! Sprachkenntnisse kann man während des Gesprächs ohne weitere Fragen eruieren.
10.2.2 Darstellung der Probleme anhand
von Fällen Fall 1 (kulturspezifisch) Beispiel Ein 12-jähriges zierliches aus der Türkei stammendes Mädchen klagt seit über 2 Wochen über unklare Bauchschmerzen. Außerdem hat sie orthostatische Beschwerden. Eine umfassende Diagnose bringt nichts; die Bauchschmerzen sind während des Fastenmonats Ramadan.
Im Fastenmonat Ramadan muss man Fasten differentialdiagnostisch in Betracht ziehen. Es beinhaltet den Verzicht auf flüssige und feste Nahrung, Rauchen und Geschlechtsverkehr von der Morgendämmerung bis zum Sonnenuntergang. Für viele Gläubige ist dann eine regelmäßige Medikation und einige medizinische Interventionen nicht möglich. Injektionen, Infusionen, Nahrungszufuhr durch künstliche Ernährung, Nasen und Ohrentropfen lehnen viele ab. Dagegen sind Zahnpflege (mit der Bürste), Blutabnahmen, Benutzung von Hautkremen und Augentropfen erlaubt. Im Koran wird allerdings ausdrücklich betont, dass Kranke von der Fastenspflicht ausgenommen sind, ohne dass jedoch Grenzen detailliert beschrieben werden (Sure 2/184‒185). In solchen Fällen können Patienten in eine Konfliktsituation geraten. Es ist dann eine medizinische Aufklärung über die Folgen der Handlung und eine religiöse Aufklärung durch kundige Vertrauenspersonen zu empfehlen. Diese sollte sachlich wie auch unparteiisch sein und nicht das Ziel haben, moslemische Patienten zu überreden (vgl. Ilkilic 2003).
Tipp Es ist empfehlenswert, sich in multikulturellen Gegenden einen »multikulturellen Kalender« anzuschaffen.
Fall 2 (migrationspezifische Komponente) Beispiel Ein 14-jähriges Mädchen, dass mit 7 Jahren gemeinsam mit den Eltern aus Russland eingewandert ist, wurde nach einem kurzen Klinikauf-
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enthalt wegen orthostatischer Dysregulation mit Synkope und Hyperventilation in der Praxis vorgestellt. Es gab keinen Hinweis auf eine organische Erkrankung und keine pathologischen Befunde. Die ängstliche Mutter, die sehr gebrochenes Deutsch spricht, gibt an, dass ihre Tochter in den letzten Monaten nach dem Sport, bei psychischen Belastungen und bei Aufregung z. B. während einer Prüfungen bereits 6-mal einfach umgekippt sei. Teilweise sei sie einfach vom Stuhl gefallen, 2-mal wurde sie mit dem Notarztwagen von der Schule in die Klinik gefahren. Nach einem längeren Gespräch gibt die Jugendliche als Grund großen Leistungsdruck an. Sie stammt aus sehr einfachen Verhältnissen, besucht die 8. Klasse eines Gymnasiums, ist sehr ehrgeizig und bringt überwiegend gute Leistungen. In dieses Gymnasium gehen mehr Kinder der höheren Schicht, kaum Immigranten. Sie fühlt sich benachteiligt. Der Wunsch und die Erwartung auf ihren Erfolg ist groß.
Mit Hilfe des einfachen »Satzergänzungstestes nach Rotter« können ihre Ängste und Befürchtungen konkretisiert werden. Nachfolgend sind einige von ihr ergänzte Sätze aufgeführt: 1. Mein Vater… konnte ich mir nicht aussuchen. Er kann auch oft ganz okay sein. 2. Ich habe Angst… vor schlechten Noten. Ich will keinen enttäuschen. (…) 7. Es ist mir peinlich… dass meine Eltern nicht so gut deutsch sprechen können und dass sie schlechte Berufe haben. 8. Es tut mir schrecklich leid… dass ich nicht »perfekt« sein kann. Dass ich oft vieles falsch mache. 9. Andere Kinder… haben es oft einfacher als ich. (…) 13. Mich ärgert es… wenn Mitschüler besser sind als ich. (…) 18. Meine Mutter… macht sich manchmal zu viele Sorgen. Sie ist oft sehr schwierig. (…) 26. Ich hasse… es nach meiner Herkunft beurteilt zu werden. Bei jugendlichen Migranten entstehen während der Pubertät zusätzliche Belastungen durch Kumulation mehrerer Faktoren. Jugendliche, die trotz aller Schwierigkeiten damit fertig werden, können sich dennoch psychisch und vom Verhalten her unauffällig entwickeln. Eine solche gesunde Entwicklung trotz hoher Belastungen wird als Resilienz (Widerstandsfähigkeit) bezeichnet. Fall 3 (Posttraumatisches Stresssyndrom) Beispiel Ein 14-jähriger blass aussehender moslemischer Roma-Junge wurde erstmals wegen Kopfschmerzen bei grippalem Infekt und orthostatischen Beschwerden vorgestellt. Er lebte mit seiner Familie als Asylbewerber seit einem Jahr in Deutschland. In den folgenden Monaten kam er häufig wegen Kopfschmerzen in die Praxis. Der Vater machte einen aggressiven und unzufriedenen Eindruck, während die Mutter meist reglos daneben stand und ins Leere schaute. Keine Behandlung schien recht zu sein, die Kopfschmerzen waren hartnäckig, weitere Diagnostik einschließlich Laborparameter, Röntgen, EKG, EEG erfolglos. Der Junge machte immer ein freudloses Gesicht, war unausgeschlafen und in der Schule unkonzentriert. Es entstand der Eindruck, dass er nicht in die Schule wollte. So ging es wochenlang weiter mit Kopfschmerzen oder anderen diffusen zusammenhangslos erscheinenden Beschwerden, bis er nach ca. 8 Monaten mit seinem Vater und einem Dolmetscher wegen panischer Angstzustände notfallmäßig in die Praxis kam. Er zitterte vor Angst, war unruhig und gab an, seit längerer Zeit nicht schlafen zu können. Er wurde in der Nacht immer wieder wach und sah »die schrecklichen Bilder«, wie er sich ausdrückte, als »Photos« vor sich. Er redete schweißgebadet von irgendwelchen Albanern, die kommen würden. Vor einer Abschiebung hatte er Todesangst. Er wolle lieber Selbstmord begehen als abgeschoben werden.
66
Kapitel 10 · Ausländische Jugendliche
Die bisher verschwiegene Vorgeschichte: Vor der Ausreise wurde die Familie mitten in der Nacht von maskierten Männern überfallen. Die Eltern wurden geschlagen und die Mutter vergewaltigt, während die Kinder im Nebenzimmer eingesperrt waren und die Hilferufe hörten. Auch die 8-jährige Schwester, vor allem aber die Mutter waren schwer traumatisiert.
Flüchtlingskinder brauchen psychologische Betreuung bei folgenden Symptomen (Tan et al., 1999: Übers. F. Çerçi): 4 Chronischen Angstzuständen 4 Depressiver Verstimmung 4 Anhänglichem und übermäßig abhängigem Verhalten 4 Schlafstörungen oder Albträumen 4 Schmerzlichen wiederkehrenden Erinnerungen von Geschehnissen 4 Rückbildung in der sozialen Entwicklung (z. B. Sprechen, Toilettetraining) 4 Verminderter Schulleistung 4 Verhaltensproblemen (z. B. Schulschwänzen oder von zu Hause weglaufen) 4 Wiederholter Zeichnungen von einem Thema (meist in dunklen Farben) oder wiederholten (häufig Gewalt-)Spielen
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Cave Diese Befunde dürfen nicht als Isolation missgedeutet werden. Die psychologische Beurteilung muss den Kontext, die Hintergrundinformation berücksichtigen und kultursensibel sein.
In schwerwiegenden Fällen ist eine fachübergreifende Zusammenarbeit, z. B. mit Psychologen, Psychotherapeuten, Sozialarbeitern, Hilfsorganisationen, notwendig. Eine vergleichende Studie zur seelischen Gesundheit der Flüchtlingskinder aus Oxford mit von Lehrern beurteilten Fragebögen zeigte, dass mehr als ein Viertel der Flüchtlingskinder signifikante psychologische Störungen hatten, mehr als in beiden Kontrollgruppen und dreimal häufiger als der nationale Durchschnitt. Diese Flüchtlingskinder zeigen besondere Probleme mit emotionalen Symptomen (Fazel 2003). Fall 4 (Drogenprobleme) Beispiel Ein türkischer Junge kommt mit 4 Jahren nach Deutschland. Seit Kleinkindesalter ist er wegen Asthma bronchiale in Behandlung. Er wirkt ruhig, still, auffällig brav und angepasst, nässt jedoch mit 13,6 Jahren noch ein. Seine Eltern sind streng religiös, die Familie scheint intakt zu sein. Die Pubertät des Jungen verläuft zunächst unauffällig und verzögert. Mit 15,5 Jahren kommt es zu einer Krankenhauseinlieferung wegen Alkoholintoxikation. Der Grund: Er wurde von Nachbarn fälschlicherweise beschuldigt, die 3-jährige Nachbarstochter vergewaltigt zu haben. Dadurch fühlte er sich erheblich in seiner Ehre gekränkt. Charakteristisch sind seine ausgeprägten Minderwertigkeitskomplexe wegen seines Kleinwuchses, eine ebenfalls ausgeprägte familiäre Problematik und eine besonders gestörte Vater-Sohn-Beziehung. Nach der Alkoholintoxikation kifft er täglich, probiert auch Kokain, Speed und Ecstasy aus. Er gerät in eine Clique, die mit Drogen zu tun hat. Zeitweise gewährt er nur noch dem Onkel und dem Kinderarzt Zugang. Mit dem Vater spricht er nicht. Mit 16,5 Jahren schließlich legt
er im Klassenraum Feuer, da er von seinen Mitschülern nicht ernst genommen und mit »Du Kleiner« gehänselt wird. Anschließend begibt er sich wegen schwerer emotionaler Störung in stationäre psychotherapeutische Behandlung. Nach wenigen Wochen kommt es wieder zu einem Rückfall: Alkohol- und Drogenkonsum, Streit zu Hause, Abbrechen der begonnenen Ausbildung. Er läuft von zu Hause weg. Nachdem ihm das Geld ausgehrt, kehrt er nach Hause zurück. Die Eltern finden sein Tagebuch, in dem er sein Drogenkonsum dokumentiert hat, und übergeben es der Polizei; dort wird er vorgeladen. Aus Wut läuft er wieder von zu Hause weg, begibt sich dann aber freiwillig in stationäre psychotherapeutische Behandlung. Erneut wird er mit Drogen erwischt und sofort aus der Klinik entlassen. Die Eltern lehnen eine Unterbringung in eine WG ab, bieten jedoch einen TR-Aufenthalt bei den Großeltern an. Nach Absprache mit Gericht, Bewährungshelfern und Jugendamt fliegt er in die Türkei. Dort soll er eine religiös geprägte Schule besucht haben. Wieder zurück in Deutschland erlernt er einen Beruf. Inzwischen hat er seinen Meister gemacht und arbeitet in einer Computerfirma. Dieser erfreuliche positive Ausgang ist eher selten. Nach solchen Heimataufenthalten kommt es nach der Rückkehr meistens zu einem Rückfall (vgl. Salman 1999).
10.2.3 Beschwerdebilder Psychosomatische Beschwerden Bei jugendlichen Migranten wird während der Pubertät durch Kumulation mehrerer Faktoren ein häufigeres Vorkommen psychosomatischer Beschwerden vielerorts beschrieben. Die körperlichen Klagen können dabei eine Art kodierte Sprache darstellen. Subjektive Einschätzung der eigenen Gesundheit
In den Niederlanden hatten bei einer Untersuchung 15-jährige türkische und surinamesische Teenager viel mehr psychosomatische Beschwerden als holländische Jugendliche (vgl. Uniken-Venema 1995). Ähnlich beantworteten Schüler aus NRW 1998 die Frage »Wie gesund bist du deiner Meinung nach?« Die Jugendlichen aus den GUS-Staaten fühlten sich offenbar am wenigsten gesund. Jungen wie Mädchen aus dieser Region gaben zu ca. 28% an, sich nicht gesund zu fühlen. Hier können migrations- und kulturspezifische Faktoren mit eine Rolle spielen (vgl. Settertobulte 2001). Eine andere Untersuchung kommt zu dem Ergebnis, dass hier lebende jugendliche Migranten polnischer Herkunft im Vergleich zu deutschen und polnischen Jugendliche in Polen selbst mehr über Körperbeschwerden klagen sowie über ein vermindertes Selbstwertgefühl und mangelnde Adaptationsfähigkeit verfügen (Mitic 1998). Eine Längsschnittstudie bei jungen Aussiedlern im Alter zwischen 10 und 16 Jahren ergab zudem, dass das Wohlbefinden der Neuangekommenen kurz nach der Einreise als relativ schlecht bezeichnet wurde, nach 2 Jahren aber die Unterschiede sowohl zur Vergleichsgruppe im Herkunftsland als auch zur Vergleichsgruppe in Deutschland abgebaut waren. Die Befindlichkeit verbesserte sich im Laufe der Zeit (vgl. Silbereisen und Schmitt-Rodermund 1999). Im Rahmen einer Befragung zu psychosomatischen Stressbeschwerden, die in Münchener Berufsschulen durchgeführt wurde, näherten sich schließlich die Angaben von Migranten und deutschen Berufsschülern an. Bei den Migranten, die in Deutschland geboren sind bzw. seit längerem hier leben, zeigt sich im Risikoverhalten und bei körperlichen Beschwerden ein Angleichungsprozess an deutsche Jugendliche. Was Familienbelastung,
67 10.2 · Psychosoziale Probleme
psychischer Stress und Risikoverhalten betrifft, können Jugendliche mit islamischer Religionszugehörigkeit als eigene Gruppe behandelt werden (vgl. Dill et al. 1999). Konversionssymptome
Über psychogene Anfälle oder Konversionsstörungen in Deutschland liegen nur einzelne Veröffentlichungen oder Beobachtungen aus den Arztpraxen vor. Eine Studie aus der Türkei gibt als häufigste Konversionsstörungen unter Adoleszenten Pseudo-Anfälle an, gefolgt von motorischen Symptomen oder Defiziten (Ercan 2003). Psychische Beschwerdebilder Depression
In der Schweiz wurden unter jungen Migranten mehr Depressionssymptome beobachtet (Ferron et al. 1997). Beim Vergleich von selbstberichteten Problemverhalten zwischen türkischen und niederländischen Adoleszenten fielen Unterschiede besonders bei zurückgezogenem und ängstlich-depressivem Verhalten auf (Murad et al. 2003). Bei depressiven Migranten-Jugendliche sind Akkulturatiosprobleme, Migrationsstress und soziale Isolation ausgeprägter als bei nicht depressiven Migranten-Jugendlichen (Haasen u. Sardashti 2000). Suizid Trotz der großen Anzahl von Jugendlichen aus der Türkei gibt es in Deutschland über das Suizidverhalten kaum systematische Untersuchungen. Stationär wird bei mediterranen weiblichen Jugendlichen über eine signifikant höhere Quote an Selbstmordversuchen berichtet als bei deutschen Mädchen (Storch u. Poustka 2000). Bei einer Befragung türkischer und schwedischer Jugendlicher wurde festgestellt, dass die türkischen ihre Suizidgedanken öfters mitteilen und nach Hilfe suchen als ihre schwedischen Altersgenossen (vgl. Eskin 2003). Psychotische Störungen
Migrantenkinder sind nicht seltener, aber auch nicht häufiger psychisch auffällig als einheimische Jugendliche. Verlaufsform und wesentliche Krankheitsinhalte der psychogenen Störungen können kulturabhängig sein. Eine ressourcenorientierte Familientherapie erscheint nach Ergebnissen von Schepker et al. (2003) als der erfolgversprechenste therapeutische Zugang. Nach einer Studie unter Aussiedlern über die Manifestation sowie den Verlauf von psychiatrischen Erkrankungen erkranken Aussiedler mit schlechten Deutschkenntnissen früher (Ersterkrankung), werden schneller stationär aufgenommen (Erstbehandlung) und haben längere Behandlungszeiten als diejenigen, die über gute Deutschkenntnisse verfügen (Rieken 2001). Sexualverhalten Sexuelles Risikoverhalten
Präventions- und Informationsprogramme benötigen Kenntnis über den Wissensstand von Jugendlichen. Es ist darum notwendig, sich einen Einblick in ihre Denkweisen, Einstellungen und Verhaltensweisen zu verschaffen, insbesondere bei Themen wie Partnerwahl, Sexualität, Empfängnisverhütung, sexuell übertragbare Krankheiten und Aids-Vorbeugung. In der Schweiz etwa war ein auffällig größeres und riskantes sexuelles Verhalten bei jungen ausländischen Jugendlichen im Vergleich zu Schweizer Jugendlichen zu beobachten (Michaud 1997).
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Die Resultate eines qualitativen Forschungsprojekts in Belgien zeigten bei marokkanischen Jugendlichen den spezifischen Einfluss von Familie, Religion und Tradition. Weibliche Jungfräulichkeit vor der Hochzeit ist ihnen selbstverständlich, das Wissen über Empfängnisverhütung, sexuell übertragbare Erkrankungen, vor allem Aids, hingegen ist begrenzt. Sie äußerten zudem keine Bedenken über mögliche Ansteckungsgefahren für ihre zukünftigen Ehepartnerinnen. Homosexualität indessen gilt als Tabuthema (Hendrickx et al. 2002). Kontrazeption
Die meisten Mädchen wünschen sich weibliche Berater. Eine sexuelle Beratung bei Mädchen sollte Themen umfassen, die in ihrem Kulturkreis eine besondere Bedeutung haben und biologische Sachinformation vermitteln. So sollte z. B. in Materialen für moslemische Mädchen über die Bedeutung des Jungfernhäutchens informiert werden (7 Abschn. Verhütung, Beitrag Kling-Mondon). Aus islamischer Sicht sind Verhütungsmethoden wie Pille, Kondome, Coitus interruptus, die eine Befruchtung der Eizelle vorübergehend verhindern, im Rahmen der Familienplanung erlaubt. Dagegen wird die Spirale von manchen moslemischen Gelehrten abgelehnt, weil sie nicht die Befruchtung, sondern die Einnistung der befruchteten Eizelle verhindert und folglich mit einer Abtreibung vergleichbar ist (Ilkilic 2003). Nicht allen islamischen Mädchen sind diese Einzelheiten bekannt. Traditionelle Beschneidung – Bedeutung und Probleme in der Praxis
Das Problem der traditionellen weiblichen Beschneidung sollten die behandelnden Jugendärzte kennen. Auf das Alter bezogen, kann der Zeitpunkt einer Beschneidung von Mädchen oder jungen Frauen variieren. Die Beschneidung kann je nach Region vom Säuglingsalter an stattfinden, vor oder während der Pubertät, bis kurz vor oder nach der Hochzeit und sogar bis nach der ersten Entbindung. ! Gehäuft kommen Beschneidungen in Äthiopien, Eritrea, Somalia, Südägypten, Sudan, teilweise Kenia und auch angrenzenden Regionen vor.
Auch Art und Ausmaß der Beschneidung variieren sehr stark. Die Ausschneidung der Klitorisvorhaut mit oder ohne ‒ teilweise oder kompletter ‒ Entfernung der Klitoris und manchmal mit teilweiser oder vollständiger Entfernung der kleinen Schamlippen sowie Mischformen machen etwa drei Viertel der Fälle aus. Die Beschwerden hängen vom Ausmaß der durchgeführten Beschneidung ab. Bei gehäuften Harnwegsentzündungen und Rückenschmerzen, aber auch bei unklaren Angstzuständen und Depressionen sollte man bei Mädchen aus den genannten Regionen deshalb auch an diese Möglichkeit denken, insbesondere da diese sich schämen und nichts sagen. Das Problem lässt sich leider nicht alleine mit Verboten lösen. Trotz beraterischer und koordinierender Funktion und psychosozialem Engagement bleibt die rituelle Beschneidung von Mädchen eine Herausforderung. Auch in Deutschland lebende junge Migranten-Mädchen, besonders aber Töchter der rituell beschnittenen Frauen aus o. g. Kulturkreisen, sind hier oder während eines Urlaubs im Herkunftsland gefährdet.
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Kapitel 10 · Ausländische Jugendliche
Drogenkonsum (Suchtverhalten) von Migranten-Jugendlichen Bezüglich der Risikoverhaltensweisen bei Alkohol- und Zigarettenkonsum spielen eher Faktoren des Elternhauses und der Schule eine Rolle, weniger der Umstand der Migration. Das relative Risiko, ein Raucher zu sein, ist alleine durch die Migration nicht erhöht Beim Alkoholkonsum gibt es kulturbedingte Trinkgewohnheiten. So trinken Jugendliche aus dem islamischen Kulturkreis weniger Alkohol. Regelmäßiger Konsum von Alkohol ist überwiegend ein männliches Verhalten. Das gilt besonders für russische und türkische Jungen. In der Fachöffentlichkeit wird seit Anfang der 1990er Jahre vermehrt über den Drogenkonsum von Migranten publiziert. Bundesweite epidemiologische Studien, die eindeutig die Entwicklung des Drogenkonsums bei dieser Personengruppe nachvollziehen, liegen jedoch nicht vor. Es gibt Berichte aus einigen Großstädten in Deutschland, dass die Anzahl drogenabhängiger Migranten viel höher ist als in der allgemeinen Bevölkerung (Salman 1999). In der Schweiz war nach einer Multicenterstudie der Konsum harter Drogen unter jungen Ausländern viel häufiger als bei Schweizer Jugendlichen. Demnach kann die Zugehörigkeit zu dieser Gruppe als Prädiktor für den Konsum harter Drogen angesehen werden (Michaud u. Narring 1997). Besorgnis lösen in letzter Zeit besonders junge Aussiedler aus. Bei Abhängigen aus dieser Gruppe wird von einer schnellen Karriere zu harten Drogen berichtet. Die Anzahl der Drogentoten liegt hier über ihrem Bevölkerungsanteil. Ein statistisch überdurchschnittlich hoher Drogenkonsum wurde bei jungen Aussiedlern jedoch nicht belegt (Strobl u. Kühnel 2000). Als Gründe werden vielerorts Sprachprobleme, geringer Informationsstand, schlechte Bildungschancen, Arbeitslosigkeit, Cliquenbildung und Perspektivlosigkeit genannt. Mit zunehmender Integration ist mit einer Angleichung zu rechnen (Chen 1999). Als besondere Risikogruppen gelten sozial schwache und weibliche Jugendliche. Obwohl die Drogenkonsumenten vorwiegend Männer sind, ist die kleine Gruppe der weiblichen Abhängigen besonders problematisch. Prävention Bei der Primär-, aber auch Sekundärprävention von konsumierenden Jugendlichen müssen verstärkt herkunftsspezifische und kulturspezifische sowie muttersprachliche Aspekte berücksichtigt werden. Krankheitskonzepte spielen dabei eine Rolle (Penka et al. 2003). Das Erklärungsmuster muss zu der Lebens- und Vorstellungswelt der Migranten passen und dabei klar und einfach verständlich sein. Bei der Herstellung von Aufklärungsplakaten oder -broschüren ist die Verwendung von in der Herkunftskultur oder -sprache bekannten Vergleichen, Sprichwörtern oder Bildern nützlich. Beratung in der Arztpraxis hat einen hohen Stellenwert. Sie hat niederschwellig, vertrauensvoll und vor allem persönlich zu sein. Dem institutionellen Angebot von Behörden oder ÖGD kann meiner Meinung nach skeptisch begegnet werden. Hingegen sollte eine Zusammenarbeit mit Eltern und Schule angestrebt werden. Besonders Informationen über Hepatitis B und C und HIV müssen den Jugendlichen vermittelt werden. Schon bei der Vorbereitung der Präventionsmaßnahmen empfiehlt sich, die Migranten mitzubeteiligen. Hier können sog. Schlüsselpersonen, die sowohl einen Zugang zur Zielgruppe als auch zu den einheimischen Institutionen haben (vgl. Salman 1999), eingesetzt werden.
Tipp Ziel ist eine Sensibilisierung und Stärkung von Selbstverantwortlichkeit sowie Selbstwirksamkeit. Ängste und Probleme erfordern während des Gesprächs besondere Aufmerksamkeit. Über Drogen sollte ohne Tabus umfassend informiert werden. Bei größeren Problemen (harte Drogen!) ist die persönliche Anbindung an das Drogenhilfesystem anzustreben. Das bedeutet: nicht nur Adresse in die Hand drücken, der Jugendarzt sollte selbst anrufen, sich nach den besten Möglichkeiten erkundigen und den jugendlichen Patienten erst dann weiterleiten. Auf jeden Fall sollte der Kontakt zu dem Jugendlichen aufrecht gehalten werden (vgl. Horn 2002). Für einen dauerhaften Erfolg der medizinischen Maßnahmen sind ein multidiziplinäres Vorgehen und die politische Einsetzung der Lösungen sehr wichtig.
10.2.4 Verbesserung der Arzt-Patient-Beziehung
durch interkulturelle Kompetenz Besonderheiten der Kommunikation beim Umgang mit jugendlichen Migranten
Verständigungsprobleme zwischen ausländischen Patienten und deutschen Ärzten führen oft zu Fehldiagnosen und teuren Therapien, häufigeren Krankenhausaufnahmen und gefährden den Therapieerfolg. Um eine angemessene Versorgung dieses Klientels zu ermöglichen, benötigen die Jugendärzte neben den üblichen Regeln der Kommunikation (7 Kap. 13) Kenntnisse über den Migrationsprozess und die Lebenswelten der Migranten. Unter Berücksichtigung unseres Wissens über andere Denk- und Verhaltensweisen können wir in vielen Fällen die Gesundheitssituation besser beurteilen. Vertrauen schafft einen besseren Zugang. Stereotypien müssen jedoch vermieden werden. Starke Emotionen können Zeit und Energie verbrauchen. Besonders beim Erstkontakt können landesübliche Begrüßungsrituale eine entscheidende Rolle spielen. Die Frage »Wie spricht man ihren Namen aus?« wird gern gehört. Fragen wie »Zu welcher Nationalität gehören Sie?« können u. U. falsch interpretiert werden. Bei der Beurteilung müssen Vorurteile und Klischees außer Acht gelassen werden. Sowohl eine Übertreibung als auch Verleugnung der Unterschiede können sich dabei ungünstig auswirken. In gleichem Maße, wie sich Unterschiede in der einheimischen Bevölkerung feststellen lassen, gibt es diese auch bei Migranten, z. B. hinsichtlich Aufenthaltsdauer, Akkulturationsgrad, Ansichten, Glauben, Herkunft, Bildung, Beschäftigung. Bei einer Verleugnung der Unterschiede profitieren Mitglieder der Mehrheitskultur und der anderen Kulturen nicht in gleicher Weise von einem »neutralen« Vorgehen, eine gleiche Behandlung bedeutet nicht automatisch »gleichwertig«. Hilfreich ist daher eine Haltung, die die Gemeinsamkeiten mitberücksichtigt bei scheinbarer Gleichberechtigung aber auch die vorhandenen Unterschiede erkennt (vgl. Fisek u. Schepker 1997). Eine Reflexion über die Einstellung zur eigener Kultur, zu Vorurteilen und zu Klischees, persönlichen Ängsten und vor allem eine Haltung, die eher von Neugier, Interesse, Empathie und Akzeptanz geprägt ist, kann entscheidend für den Vertrauensgewinn sein. Vermieden werden sollte eine negative Bewertung der Unterschiede. Auch Tabuverletzungen gilt es zu vermeiden oder
69 10.3 · Medizinische Probleme
zumindest sollte darüber hinweggesehen werden. Schließlich ist es wichtig, nach Gemeinsamkeiten zu suchen. Dabei lohnt es sich, die eigenen Gefühle und Reaktionen zu beobachten, wenn man mit Adoleszenten aus anderen Kulturkreisen zu tun hat. Denn dies erleichtert das Verständnis. ! Denken Sie über die eigene Kulturgebundenheit und Einstellungen sowie über Vorurteile und Relativität der Wertvorstellungen nach.
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10
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10.3
Medizinische Probleme
F. Çerçi )) Durch die in der täglichen Praxis im Vordergrund stehenden häufig vorkommenden Erkrankungen wie banale Virusinfektionen, Luftwegsinfekte, übliche Magen-Darm-Erkrankungen, bei Flüchtlingen Ernährungsstörungen oder auch Angstreaktionen nach traumatischen Ereignissen besteht die Gefahr, andere migrationsbedingte medizinische Probleme zu übersehen. Auf Dauer sieht man dann vermehrt die nicht-infektiösen Krankheiten, genetische Erkrankungen, Entwicklungsstörungen, psychosomatische Beschwerden. So müssen bei der Erstvorstellung je nach Vorstellungsgrund und Beschwerden auch migrationspezifische Fragen berücksichtigt werden. Sprach- und Verständigschwierigkeiten erschweren nicht selten die Arzt-Patienten-Beziehung und die Compliance.
Zu den medizinischen Problemen bei Migranten zählen importierte infektiöse Erkrankungen, aber auch nicht-infektiöse oder genetische Krankheiten, umwelt– und ernährungsbedingte Erkrankungen, Folgen inadäquater medizinischer Versorgung im Herkunftsland, Zustände nach Geburtstraumen, Unfall oder Verletzungsfolgen mit Verstümmelung. Einige Erkrankungen können teilweise erst Monate oder Jahre nach der Ankunft zum Vorschein kommen.
70
Kapitel 10 · Ausländische Jugendliche
In dieser Abhandlung sollen Unterschiede und Besonderheiten dargestellt werden, ohne jedoch die Gemeinsamkeiten der Jugendlichen aus den Augen zu verlieren. 10.3.1 Vorgehensweise bei der Erstvorstellung Anamnese Migrationsspezifische Fragen zur Anamnese können für die Orientierung notwendig sein, wenn Beschwerden und Symptomatik einen Zusammenhang mit der Migration vermuten lassen. Zu den Risikogruppen gehören vor allem Flüchtlinge aus schlechten soziökonomischen Verhältnissen, mit unzureichender medizinischer Versorgung und Fluchtbedingungen unter dürftigen hygienischen Umständen (Flüchtlingscamps o. Ä.). Bei Jugendlichen, die z. B. aus Mischehen stammen, erübrigen sich viele der zusätzlichen Fragen.
Anamneseerhebung
10
5 Ergänzung der Standardanamnese 5 Durchsicht der vorhandenen Unterlagen (evtl. Übersetzung veranlassen) 5 Kontrolle des Impfstatus (Planung des weiteren Vorgehens) 5 Verwandtenehe in der Familienanamnese 5 Herkunftsland 5 Aufenthaltsdauer (in Deutschland geboren oder wann eingereist?) 5 Migrantenstatus (Flüchtling, Asylant, eingebürgert o. Ä.) 5 Psychosoziale Faktoren 5 Umweltbelastungen (z. B. Blei) 5 Hinweis auf Vorsorgeuntersuchungen
Ethnische Faktoren können eine Rolle spielen. Als Beispiel ist bei anämischen Patienten aus dem Mittelmeerraum differentialdiagnostisch eher an eine Thalassämie, bei Patienten nordeuropäischer Herkunft eher an eine Kugelzellanämie zu denken. Hingegen sollte man bei Patienten afrikanischer Herkunft aus Afrika, den USA und der Karibik eher eine Sichelzellanämie in Betracht ziehen. Ärzte, die in den Gegenden arbeiten, in denen viele Migranten leben, sollten dementsprechend ihre Kenntnisse über Anämien auffrischen. Je nach dem Herkunftsland sollte man an bestimmte genetische Erkrankungen denken, z. B. bei in unregelmäßigen Abständen auftretendem rezidivierendem hohem Fieber an familiäres Mittelmeerfieber. Es gibt aber auch umgekehrt manche Krankheiten, die in Europa vorkommen, aber den Neuankömmlingen nicht bekannt sind wie Borreliose und FSME nach Zeckenbiss. Hier ist die prophyllaktische Aufklärung wichtig. Nach der ersten orientierende Anamnese bei akuten Beschwerden muss diese ggf. später nach und nach vervollständigt werden. Ernährungsstörungen (z. B. Unterernährung, Vitaminmangel) und Karies bei neu angekommenen Flüchtlingen gehören zu den häufigeren medizinischen Problemen. Impfstatus
Die Immunisierungsrate war bei Flüchtlingskindern bei einer vergleichenden Untersuchung in Münster niedrig. Demnach bestand eine komplette Immunisierung gegen Tetanus und Diphte-
rie und Polio nur bei 23% der Kleinkinder aus Flüchtlingsfamilien, eine Masernimpfung nur bei 29% (Gardemann 1998). Im Zusammenhang mit Schwangerschaft sollte darüber hinaus auch an Impfungen gedacht werden. Ein vollständiger Impfschutz gegen Röteln lag bei Aussiedlern seltener vor (Weiland et al., 2000). Für Aussiedler, Flüchtlinge oder Asylbewerber in Gemeinschaftsunterkünften empfiehlt die Ständige Impfkommission der Bundesrepublik Deutschland (STIKO) 2001, die Schutzimpfungen möglichst frühzeitig durch den Gesundheitsdienst oder durch vom öffentlichen Gesundheitsdienst (ÖGD) beauftragte Ärzte zumindest zu beginnen. Demnach sollte die Vervollständigung der Grundimmunisierung nach dem Verlassen der Gemeinschaftsunterkünfte durch die am späteren Aufenthaltsort niedergelassenen Ärzte oder durch den ÖGD erfolgen. Vorliegende Impfdokumentationen sollten nach Möglichkeit berücksichtigt werden; die Empfehlungen der STIKO sollten dem Vorgehen zugrunde gelegt werden. Übliche Untersuchung (Vorstellungsbeschwerden im Vordergrund): 4 Gewicht 4 Größe 4 Blutdruck 4 Puls Darüber hinaus besonders zu beachten: 4 Stimmt das angegebene Alter? (Tanner-Stadien) 4 Ernährungsstörung (Malnutrition, Anämie, Rachitis, Jodmangel, Adipositas) ‒ ggf. Ausschluss importierter infektiösen Erkrankungen 4 Missbildungen/genetische Erkrankungen, die regional häufig auftreten 4 Hinweise für körperliches und seelisches Trauma 4 Beurteilung des Zahnstatus 4 Hör- und Sehtest 4 Psychosoziale Anpassungsstörungen 4 Psychosomatische Erkrankungen (▶ Abschn. 10.2) 4 Hyperaktivität/Aufmerksamkeitsstörung 4 Psychiatrische Erkrankungen 4 Mentaler Entwicklungsstand Häufig vorkommende medizinische Infektionen und Probleme 4 Hepatitis A 4 Hepatitis B 4 Tuberkulose 4 Parasiten 4 Scabies Der Nutzen eines generellen Screenings auf ausgewählte Infektionen und Erkrankungen bei Asylsuchenden und Flüchtlingen ist umstritten. Hier ist eher eine differenzierte Betrachtungsweise, die auf Hochrisikogruppen abzielt, sinnvoll. In diesem Zusammenhang sind bei Migranten Untersuchungen auf folgende Krankheiten häufiger notwendig: 4 Tbc (GT 10) 4 Hepatitis B 4 Stuhl auf Parasiten 4 Hämoglobinelektrophorese
71 10.3 · Medizinische Probleme
10.3.2 Krankheitsspektrum Importierte Erkrankungen ! Importierte Erkrankungen können infektiös oder nichtinfektiöser Natur sein.
Infektiöse Erkrankungen können natürlich auch von Touristen mitgebracht werden. Es müssen hier allerdings folgende Unterschiede betont werden: Die Häufigkeit der importierten Erkrankungen bei jungen Migranten ist anders als bei Reisenden, z. B. die Tbc-Häufigkeit. Infektionskrankheiten nehmen teilweise bei Bewohnern endemischer Gebiete einen anderen Verlauf als bei Europäern (Teil-Immunität, asymptomatische Parasitämie, aufgrund wiederholter Infektionen ist die Zahl der Parasiten wesentlich höher). Schließlich können Krankheiten mitgebracht werden, die man bei Reisenden nicht bzw. nur extrem selten sieht. Eine Zusammenarbeit mit Tropenmedizinern ist in vielen Fällen erforderlich (Buchard, 2002). Obwohl beim internationalen Reiseverkehr Infektionen wie Gelbfieber, Denguefieber ‒ und in letzter Zeit Erkrankungen wie SARS und Vogelgrippe ‒ eine wichtige Rolle spielen, sind bei Migranten in erster Linie Hepatitis A und B, Wurmerkrankungen, Tuberkulose und Malaria von Bedeutung. In einzelnen Ländern ist die Prävalenz von Hepatitis C sehr hoch, z. B. in Ägypten bis zu 20%, sie ist in Afrika und Westpazifikregion signifikant höher als in Europa (Epid Bull 17/2004). Während Kopfläuse auch in entwickelten Ländern häufig gefunden werden, beobachten wir in der Praxis häufiger bei einigen Migrantengruppen Krätze. Die Verbreitungsgebiete einiger Erkrankungen ändern sich. Beispielsweise hat sich die japanische Encephalitis im Laufe der Zeit nach Westen bis Pakistan ausgebreitet. Die Anophelesmücke als Überträgerin der Malaria hat sich an verschmutzte Gewässer adaptiert und ist jetzt z. B. auch in indischen Großstädten oder in Bewässerungssystemen zu finden. ! Auf längere Sicht sind die infektiösen Erkrankungen von Bedeutung, deren Inkubationszeit lang ist und die nach Monaten oder sogar Jahren Beschwerden machen können.
Symptome ausgewählter Erkrankungen bei Migranten Bei der Zusammenstellung der Erkrankungen in diesem Kapitel stehen die häufigeren Erkrankungen oben und die selteneren unten (. Tab. 10.2; . Tab. 10.3). Nicht alle Migrantengruppen sind gleichmäßig betroffen. Bei einem positiven HIV-Befund ist vor einem Erstgespräch ein geeigneter Dolmetscher erforderlich. Hierbei ist zu bedenken, dass Freunde, Familienangehörige oder Landsleute wegen der hohen Stigmatisierung meist nicht geeignet sind. Darauf muss in jedem Fall vor dem Gespräch Rücksicht genommen werden. Die Zusammenarbeit mit einer spezialisierten Beratungsstelle oder dem allgemeinen Sozialdienst ist hilfreich. Die Abklärung einer begleitenden Hepatitis C ist obligatorisch. Eine Abschiebung von infizierten Flüchtlingen ist ein besonderes Problem. Dieses gilt besonders auch für HIV-Positive. Eine vermittelte Ehe ist für viele junge Frauen ein häufiger Migrationsweg. HIV-positive Frauen auf dem Eheschließungsmarkt, Zwangsprostitution und Illegalität können auch ein Problem bei Adoleszenten sein. Im Folgenden sind zwei Fälle aus der Praxis über Kala-Azar und Tuberkulose bei Kindern aufgeführt, die so ähnlich auch bei Jugendlichen vorkommen können.
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Fall 1: Kala-Azar (Leishmaniose) Beispiel Aussiedlerkind aus Georgien: Vorstellig wird es, weil das Kind seit 4 Wochen an Fieber leidet. Ferner besteht Appetitlosigkeit, Gewichtsabnahme, reduzierter Allgemeinzustand, Hepatosplenomegalie. Bisher behandelten andere Ärzte es als fieberhaften Infekt. Der Kollege überweist das Kind unter der Verdachtsdiagnose Kala-Azar ins Krankenhaus, nachdem er differentialdiagnostisch an diese Möglichkeit denkt und sich in Fachbüchern vergewissert hat, dass die Krankheit auch in dieser Gegend vorkommt. Es war tatsächlich Kala-Azar (Leishmaniose). Die Überraschung im Krankenhaus war groß. Später erzählte der Kollege bei einem persönlichen Gespräch, warum er so sensibilisiert war. Bei seinem Vater erschien vor Jahren während eines Notfalldienstes ein junger Mann, der nach einem Afrikaurlaub über Fieber klagte. Der Patient lehnte die Krankenhauseinweisung wegen Malariaverdachts ab, er starb jedoch tatsächlich einige Tage später an Malaria. So war dem Kollegen von seinem Vater schon früh eingeschärft worden, auch an »exotische Krankheiten« zu denken.
Fall 2: Tuberkulose Meningitis und Miliartuberkulose Beispiel Ein 3,5-jähriges Zwillingskind, ehemaliges Frühgeborenes: Die Eltern kommen aus Kasachstan und leben erst seit wenigen Monaten in Deutschland. Der Vater leidet an Asthma, Mutter und Zwillingsbruder sind gesund und BCG-geimpft. Die Vorstellung in der Praxis erfolgt wegen häufiger Erkältungsinfekte, meist katarrhalische Symptomatik, Lunge frei, Appetitlosigkeit, Anämie, Durchfall. Die Eltern geben erhöhte Temperaturen an, deren Dauer wegen Verständigungsschwierigkeiten nicht genauer zu eruieren war. Zwischenzeitlich waren sie mehrfach im Notfalldienst. Während des Urlaubs des behandelnden Arztes wird der Kollegin abends erzählt, dass der Junge seit 2 Wochen Fieber habe, diese empfiehlt darauf eine Krankenhausaufnahme. Am gleichen Abend sinkt er schlaff zusammen und wird daraufhin mit Notarztwagen zur Klinik gebracht. Es sind keine Krampfanfälle festzustellen. Diagnostiziert wird eine Meningoenzephalitis unklarer Genese. LP: 66/µl, EW 83 mg/dl, Laktat 36 mg/dl, Nachweis einer Schrankenstörung. Nach einwöchigem Behandlungsversuch wird das Kind wegen beginnenden Hydrocephalus occlusus in eine größere Klinik verlegt, wo es mit einer Ventrikeldrainage versorgt wird. Nach 2 Wochen Fieber und zunehmender pulmonaler Symptomatik verstarb es. Der Obduktionsbefund zeigt überraschend eine tuberkulöse Meningitis und Miliartuberkulose auf.
Wurminfektionen ! In Deutschland sehr selten vorkommende Wurmkrankheiten sind schwer zu erkennen, da einige für Mitteleuropa untypische Wurminfektionen erst Jahre später nachgewiesen werden können.
Die Zeitdauer von Wurminfektionen beträgt z. B. bei Echinokokkose >20 Jahre, Trichinose >15 Jahre, Schistosomiasis 32 Jahre, Strongyloides manchmal lebenslang. Bei unklarer Eosinophilie muss in jedem Fall differentialdiagnostisch an einen Wurmbefall gedacht werden. Von Wurmerkrankungen (. Tab. 10.4) kommt in unseren Breiten am häufigsten der Oxyurenbefall vor. In der nördlichen Hemisphäre tritt Fischbandwurmbefall auf. Wurminfektionen wie Spulwürmer-, Rinderbandwurmbefall werden gelegentlich auch in Mitteleuropa beobachtet. Sie kommen allerdings bei einigen Immigratengruppen häufiger vor. In Deutschland sehr
72
Kapitel 10 · Ausländische Jugendliche
. Tabelle 10.2. Fieber
Krankheit/Erreger
Klinische Symptomatik
Anamnese/Vorkommen
Diagnostik
Erhöhte Temperaturen, Nachtschweiß, Gewichtabnahme, meist Lungensymptomatik, Inzidenz um den Faktor 5 höher als bei Deutschen, Resistenzentwicklung
Weltweit, vorwiegend in sozioökonomisch schwachen Regionen – Tbc in der Familie oder der näheren Umgebung
Tuberkulin-Reaktion, Rö-Thorax
Malaria
Periodisch auftretendes Fieber, Schüttelfrost normozytäre Anämie: Malaria tertiana alle 48 Std., Malaria quartana alle 72 Std., Malaria tropica Fieber unregelmäßig, Gefahr einer Fehldiagnose, schwere Komplikationen, Fieber kann erst nach Jahren auftreten, wechselnde Resistenzlagen
Afrika, Südostasien, Südamerika, auch in Aserbajan, Tajikistan, Usbekistan, begrenzt in der Türkei, Tunesien
Blutausstrich, dicker Tropfen Malaria-Antikörper
Thyphus abdominalis (Salmonella typhi)
Treppenförmiger Temperaturanstieg bis 40°C, rel. Bradykardie, Leber- und Milzvergrößerung, Durchfall, später Roseolen der Haut. Bei anhaltendem hohen Fieber über 4 Tage nach Einreise aus Endemiegebieten daran denken
Weltweit, besonders Afrika, Südamerika, Südostasien indischer Subkontinent, auch Mittlerer Osten
Blutkultur Leukopenie, Eosinopenie
Bruzellose (Maltafieber) B. melitensis
Beginn grippeähnlich, wellenförmiges Fieber, Durchfall, Lymphknotenvergrößerung, Hepatosplenomegalie, Gewichtsverlust
Vermehrt Mittelmeerländer – über Milch und Milchprodukte aus nicht gekochter oder pasteurisierter Milch
Blut, mikrobiologisch, Serologie
HIV/Aids
Wiederholt Fieber >38,3°C, mehr als 4 Wochen, Gewichtsverlust, Lymphadenopathie, Durchfall, opportunistische Infektionen
Risikoanamnese, besonders häufig im südlichen Afrika
HIV-Serologie
Kala-Azar (Leishmania donovani)
Fieberschübe, Lymphknoten-, Leber und Milzvergrößerung, schlechter AZ, Gewichtverlust, sekundäre Infektionen (Pneumonie, Diarrhö) und/oder Blutungskomplikationen – Inkubationszeit: 6 Wochen –10 Monate, gelegentlich 2 Jahre
Risikogebiete Afrika, indischer Subkontinent, Pakistan, Nepal, Zentral und Süd-West-Asien, China, Naher und Mittlerer Osten, die Mittelmeerregion und Lateinamerika
Anämie, Leukopenie Serologie
Katayama-Syndrom
2–10 Wochen nach Schistosomiasis-Infektion (7 unten) serumkrankheitähnliche Erscheinungen, Fieber, Schüttelfrost, Husten, Kopfschmerzen, Lymphknoten-, Leber- Milzvergrößerung
Süßwasserkontakt, danach juckender Ausschlag
Eosinophilie/Serologie
Chagas-Krankheit (Trypanosoma cruzi)
Fieber, unilaterales Lidödem, akute Myokarditis
Ländliche Mexiko, Zentral- und Südamerika
Mononukleäre Leukozytose, Erreger im Blut,Serologie
Amöben-Leberabszess
Fieber, Schmerzen im rechten Oberbauch Leukozytose und erhöhte Entzündungsparameter (BSG oder CRP Protein)
Tropen/Subtropen (1 Woche bis Jahre nach Infektion)
BSG, CRP, Serologie, Sonographie, CT
Rezidivierende fieberhafte Bauchschmerzen, Arthralgie (Manifestationsalter in 90% der Fälle vor dem 20. Lebensjahr)
Autosomal-rezessiv- Patienten aus dem südlichen und östlichen Mittelmeerraum
Molekulargenetisch, (MEFVGen)
Fieber (infektiös) Tuberkulose
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Fieber (nichtinfektiös) Familiäres Mittelmeerfieber (FMF)
selten vorkommende Wurminfektionen können auch noch Jahre später nachgewiesen werden. Genetische Erkrankungen Durch Vererbung sind genetische Erkrankungen über Generationen hinweg bedeutsam. Eine Blutverwandtschaft der Eltern ist
ein besonderer Hinweis auf ein rezessiv erbliches Leiden. Bei heterozygoten Eltern beträgt die Erkrankungswahrscheinlichkeit 25%. Eine Heirat unter Verwandten bei Migranten türkischer Herkunft, wie z. B. unter Cousin und Cousine, ist keine Seltenheit. Die Häufigkeit solcher Ehen beträgt nach verschiedenen Studien in der Türkei durchschnittlich 20‒25% (Tuncbilek 2001).
73 10.3 · Medizinische Probleme
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. Tabelle 10.3. Organsymptomatik Gastrointestinale Symptome
Bei anhaltenden und/oder blutigen Durchfällen Diagnostik auf Giardia lamblia und Entamoeba histolytica nach Ausschluss anderer Erkrankungen wie insbesondere enterotoxigene Escherichia coli, Salmonellen, Shigellen und Campylobacter, Schistosomiasis. Wiederholt Bauchschmerzen (nichtinfektiös): Laktoseintoleranz, Obstipation, Fehlernährung, Helicobacter-pylori-Infektion, Sichelzellenkrise, Bleivergiftung
Hautbeschwerden
Am häufigsten bakterielle Mischinfektion der Haut, Scabies, selten Orientbeule, intestinale Wurminfektionen z. B. Larva migrans cutanea, Lymphogranuloma venerum, Syphilis, Lepra, Melioidose
Hämatologisch
Thalassämie, Sichelzellanämie, Glucose-6-phosphat-dehydrogenase-Mangel
Kardiale Symptome
Chagas-Krankheit
Leber/Gallenwege
Hepatitis A, B, C, biliäre Askariasis, Amöben-Leberabszess, Echinokokkose, hepatolienale Schistosomiasis (Portale Hypertension bei S. japonicum)
Lymphadenopathie
Tuberkulose, Lymphogranuloma venerum, HIV, Histoplasmose, Kala-Azar, Chagas-Krankheit, Filariose
Neurologische Symptome
Syphilis, Lepra, Moyamoya-Krankheit (Korea, Japan)
Niere, Harnwege
Malaria quartana, Schistosoma-mansoni-Infektion
Pulmonale Symptome
Tuberkulose, Würmer (Askariden, Zwergfadenwurm, Paragonimiasis), Melioidose, Histoplasmose
Nach der Literatur ist hierbei die Gefahr, Kinder mit kongenitalen Missbildungen zur Welt zu bringen, um den Faktor 2 bis 2,5 erhöht. Der Anteil der genetisch bedingten Hörstörungen in der Gruppe der ausländischen Kinder in Deutschland ist sehr hoch (Streppel 2000). Aufgrund der häufigen Heiratsmigration aus dem Herkunftsland muss man auch bei Nachfolgegenerationen mit genetischen Erkrankungen rechnen. Eine frühzeitige Aufklärung der Jugendlichen über die Risiken – die Jugendvorsorgeuntersuchung J1 ist eine Möglichkeit –, spätestens aber eine Beratung im Falle einer Schwangerschaft mit Hinweis auf diagnostische Möglichkeiten, ist eine dringende ärztliche Aufgabe. Hier sollte man bei bestimmten Migrantengruppen an die Möglichkeit der pränatalen Diagnostik denken. Die Tay-Sachs-Krankheit kommt bei osteuropäischen Juden z. B. relativ häufig vor. Unter Menschen türkischer Herkunft wird über eine größere Inzidenz der Phenylketonrurie berichtet. Im Folgenden sind Beispiele für relevante erbliche Leiden bei Migranten aufgeführt: Bei allen genetischen Erkrankungen ist die Kooperation für Diagnostik und Therapie mit einem pädiatrischen Zentrum mit Erfahrung bei genetischen Erkrankungen sinnvoll. Bluterkrankungen Wegen der Häufigkeit werden hier folgende angeborene hämolytischen Anämien besonders erwähnt:
Hämoglobinopathien
Hämoglobinopathien sind eine sehr heterogene Gruppe von angeborenen Erkrankungen, die bei verschiedenen ethnischen Gruppen vorkommen. Hier kann man zwei Gruppen unterscheiden. Die 1. Gruppe sind die Thalassämien, die wegen vererbter Defekte der quantitativen Synthese von Globulinketten des Hämoglobinmoleküls entstehen. Die 2. Gruppe entsteht durch Strukturanomalien der Globulinketten, die wichtigsten Formen der Veränderungen sind Hämoglobin S, C und E. Thalassämien. Thalassämien kommen bei Patienten aus dem
Mittelmeerraum, dem Nahen Osten und mit afrikanischer oder asiatischer Herkunft vor. Die heterozygote Form der Beta-Thalassämie ist in Deutschland besonders bei Migranten aus dem Mittelmeerraum häufig. Hier ist oft eine mikrozytäre hypochrome Anämie zu beobachten, eine weitere Diagnostik und Behandlung ist hier dann nicht notwendig. Die Inzidenz für eine heterozygote Beta-Thalassämie in Deutschland unter der türkischstämmigen Population beträgt 1,2% (Holzgreve 1990). In Südostasien kommt bei Chinesen oder Vietnamesen eher die Alpha-Thalassämie vor. Bei dieser Bevölkerungsgruppe ist eine genetische Beratung wegen der Vererbungsmöglichkeiten mit schwereren Verlaufsformen besonders wichtig. Die homozygote Form der BetaThalassämie ist die Thalassämia major. Symptome sind: schwere Anämie (Mikrozytose, Hypochromie, Targetzellen),verbreiteter Gesichtsschädel, Hepatosplenomegalie, Wachstumsverzögerung.
G6P-dehydrogenase-Mangel
Die Bedeutung des G-6-PD-Mangels (ein angeborener Enzymdefekt) liegt in der hohen Prävalenz. Es gibt viele Varianten mit unterschiedlicher Ausprägung und verläuft bei Personen afrikanischer Herkunft weniger schwer als in anderen ethnischen Gruppen. Jugendliche mit G-6-PD sind zwischen den HämolyseEpisoden asymptomatisch. Die Hämolyse wird häufig durch Infektionen, oxydativ wirkende Substanzen (wie z. B. Favabohnen, Medikamente wie Phenacitin, Sulfonamide, Malariamittel) ausgelöst.
Cave Eisengabe ist bei Thalassämie kontraindiziert.
Sichelzellanaemie. Eine Sichelzellanämie kann außer bei Ju-
gendlichen afrikanischer Herkunft auch bei Adoleszenten aus dem Mittelmeerraum, dem mittleren Osten oder indischer Herkunft vorhanden sein. Die höchste Frequenz findet man in Zentral- und Westafrika. Umschriebene Gebiete gibt es aber auch in
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Kapitel 10 · Ausländische Jugendliche
. Tabelle 10.4. In Mitteleuropa seltenere Wurmerkrankungen
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Wurm/Krankheit
Ansteckung
Symptome
Vorkommen
Diagnostik
Chinesischer Leberegel/Clonorchiasis
Oral, durch rohen Süßwasserfisch und -krebs
Bei chron. Befall rezidiv. Koliken; unter Umständen Gallengangsverschluss, Gelbsucht, sekundäre Infektion (Cholelithiasis), Zirrhose, Aszites
Ostasien, Japan, China, Korea, Taiwan
Eier im Stuhl, Immundiagnostik
Filarien/Lymphatische Filariasis, Elephantiasis
Übertragung der Larven durch Stechmücken
3 Monate – mehr als 1 Jahr nach Ansteckung, Lymphangitis, Lymphadenitis, Ödeme
Tropen, Subtropen z. B. Ägypten, Afrika, Indien, Südostasien, Südamerika, Karibik
Eosinophilie, Nachweis der Larven im Blut, Serologie
Hakenwurm/Ankylostomiasis
Larven durch die Haut
Abdominelle Beschwerden, Anämie, Gewichtsverlust,evtl. eosinophiles Lungeninfiltrat
Bevorzugt Tropen, Subtropen
Wurmeier
Hundebandwurm/Zystische Echinokokkose
Oral, Wurmeier
Beschwerden je nach Größe und Lokalisation der Zysten in verschiedenen Organen. Bei Leberbefall Oberbauchschmerzen
Mittelmeerraum, Naher Osten, Nordafrika, Südamerika, Südasien, Australien
Eosinophilie Serologie, Röntgen, CT
Lungenegel/Paragonimiasis
Oral, durch rohe Krabben, Krebse o. Ä.
Husten, Hämoptoe, ähnelt der Lungentuberkulose, entspr. Symptomatik beim ZNS-Befall
Asien, Südamerika, Afrika
Wurmeier, Rö-Thorax, ZNS-Bildgebung
Peitschenwurm/Trichuris trichiura
Oral, z. B. Eier im Rohgemüse
Dickdarmentzündung mit Durchfällen und Krämpfen bei schwerer Infektion
Feuchtwarme Gebiete
Wurmeier, Eosinophilie
S. haematobium S. mansoni, S. japonicum/Schistosomiasis, Bilharziose
Zerkarien durch die Haut
Dysurie, Erythrozyturie, Hämaturie; Koliken, Obstipation, blutig-schleimige Durchfälle; Endoskopisch chronische Entzündung
Afrika, Naher Osten, Afrika, Südamerika, Japan, China, Indonesien, Philippinen
Eosinophilie, Wurmeier in Stuhl oder Urin
Schweinebandwurm/ Zystizerkose bei Autoinfektion
Oral, Wurmeier
Nur bei schwerer Zystizerkose v. Muskeln und Gehirn, Augen, rheumat. Beschwerden, Herdsymptomatik Verkalkungsherde
Ost- und Südeuropa, Südund Mittelamerika
Wurmeier und Proglottitiden im Stuhl, AK in Serum und Liquor
Spulwürmer/Askariasis
Oral, Wurmeier
Bei starkem Befall Bauchkrämpfe, Übelkeit, Erbrechen, aber nach der Lungenpassage Atembeschwerden, blutiger Auswurf, Husten
Weltweit, in feuchten und warmen Klimazonen häufiger
Würmer im Stuhl, Wurmeier
Trichine/Trichinose
Oral, meist durch Schweinefleisch
Magen-Darm-Beschwerden, bei Muskelbefall durch Larven rheumaartige Schmerzen und Fieber, Gesichtsödem, Sprechbeschwerden, Atemstörung bei Zwerchfellbeteiligung
Infektionen in Regionen, wo Trichinenschau nicht streng gehandhabt ist
Eosinophilie/Serologie, Nachweis der Parasiten in der Muskelbiopsie
Zwergfadenwurm/ Strongyloidiasis
Wurmlarven durch die Haut
Unbemerkt oder mit leichten Magen-DarmBeschwerden
Überwiegend in warmen Ländern
Eosinophilie, Larven im Stuhl, Serologie
75 10.3 · Medizinische Probleme
Italien, Griechenland und der Türkei. Heterozygote zeigen meist keine Symptome. Unter Sauerstoffmangel können die Erythrozyten jedoch eine Sichelzellform entwickeln und Symptome verursachen. Ein ausgeprägtes Beschwerdebild sieht man bei der homozygoten Form. Dort verlegen sichelzellförmigen Erythrozyten die kleinen Blutgefäße. Diese schmerzhaften Gefäßverschlüsse und Infarkte in verschiedenen Organen verursachen neurologische, abdominelle und nephrologische Symptome. Es besteht eine Infektneigung wegen Funktionsverlust nach rezidivierenden Milzinfarkten. Schmerzhafte Schwellung der Hand- und Fußrücken bei osteomyelitischen Herden. Parvovirusinfektionen können zu aplastischen Krisen führen. Die Diagnose erfolgt durch Hämoglobin-Elektrophorese. Wichtig ist die Schmerzbekämpfung. Bei leichten Schmerzen durch Acetylsalicylsäure, bei starken Schmerzen zusätzlich durch Opiate (Leitlinien: http://www. uni-duesseldorf.de/www/awmf/ll/ponk-401.htm; 2004). Neben der heterozygoten bzw. homozygoten Form der Sichelzellerkrankung gibt es noch zahlreiche Kombinationen von HbS mit anderen anomalen Hämoglobinen sowie mit Thalassämien, z. B. Sichelzell-Hämoglobin-C-Krankheit, Sichelzell-Beta-Thalassämie. Die am schwersten verlaufenden Formen der Sichelzellerkrankung sind die homozygote Sichelzellanämie und die Sichelzell-Beta-Thalassämie. Hämoglobin C-Störung: Bei der homozygoten Form (HbCKrankheit) findet sich eine mäßige hämolytische Anämie mit Splenomegalie. Das Hauptverbreitungsgebiet liegt in Westafrika. Hämoglobin E-Störung: Sie ist weltweit die zweithäufigste Hämoglobinvariante, die besonders in Südostasien vorkommt. Durch Kombination der Heterozygotie von Hämoglobin E und Beta-Thalassämie kann die Hämoglobin E-Beta-Thalassämie entstehen. Wegen der schweren Anämie (verläuft ähnlich der Thalassämie major) hat diese Hämoglobinvariante eine Bedeutung. Heterozygote Träger von Sichelzellanämie, Thalassämie und vermutlich auch Patienten mit Glucose-6-Phosphat-Dehydrogenase-Mangel besitzen eine Teilresistenz gegen Malaria.
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zung wird in der Praxis eine zusammenfassende Beurteilung der körperlichen Untersuchung, der sexuellen Reifezeichen und möglicher altersrelevanter Entwicklungsstörungen sowie eine Erhebung des Zahnstatus empfohlen. Bei der körperlichen Untersuchung werden neben Messung der Körpermaße, Körperbautyp eine Beurteilung der erkennbaren sexuellen Reifezeichen (meistens Tanner-Stadien) durchgeführt und die Perzentilenkurven verwendet. Häufig wird zur Knochenalterbestimmung eine Röntgenuntersuchung der linken Hand benötigt. Bei Bedarf wird die Röntgenuntersuchung der Hand und ggf. Röntgen oder CT der Schlüsselbeine oder vom Gebiss hinzugezogen. (http://www. charite.de/recht.de/rechtsmedizin/agfad/index.htm). Wenn keine medizinische Indikation besteht, ist die Durchführung von Röntgenuntersuchungen allerdings nur bei Strafverfahren gerechtfertigt. Umwelt – Ernährung
Als häufigere Umweltbelastung mit Krankheitsfolgen ist Blei zu erwähnen. Hierbei verläuft die chronische Intoxikation schleichend, die Beschwerden sind uncharakteristisch wie z. B. Abgeschlagenheit, Kopfschmerzen, Appetitmangel und Reizbarkeit/ Bleinachweis im Serum, im späterem Stadium hypochrome Anämie. Diagnose und Nachweis vieler anderer Umweltbelastungen sind in der Regel schwierig. Rachitis kann in der Pubertät bei Immigranten aus Asien oder Mittelmeerraum ein Problem darstellen. Eine komplette Körperbedeckung aus Glaubensgründen stellt hier einen Risikofaktor dar. Übergewicht kommt bei Migranten und bei niedrigen sozialen Schichten häufiger vor. Die Risiken für Übergewicht oder Adipositas für nichtdeutsche Kinder sind 1,5‒2fach höher als für deutsche (Erb und Winkler, 2003). In Berlin sind die türkischen Oberschüler viel häufiger adipös als die deutschen Schüler und die Schüler anderer Nationalität (Butler 2003). Chronische Erkrankungen
Weitere häufige gesundheitsrelevante Aspekte
Eine Unterscheidung zwischen psychosozialen und rein medizinischen Problemen erfolgt eher aus systematischen Gründen Zwischen beiden gibt es enge Wechselbeziehungen. Eine häufig schlechtere sozioökonomischen Lage bei Migranten kann Differenzen im Gesundheitszustand teilweise erklären. Hier eine Aufzählung einiger für die Praxis wichtiger Probleme: Pubertät
Die Entwicklung der sekundären Geschlechtsmerkmale und der Menarche kann ethnische Differenzen zeigen (Wu et al. 2002). Eine vorzeitige Pubertät wird bei adoptierten Immigranten häufiger beobachtet (Virdis 2000): Körperliche Entwicklung: 7 Kap. 1; Störungen des Pubertätseintritts: 7 Kap. 26. Bei der Körperbehaarung gibt es regional oder genetisch bedingte Unterschiede. Altersbestimmung: Manipulationen des Alters können viele Gründe haben, wie den Wunsch den Militärdienst zu verzögern, den Wunsch Mädchen früher heiraten zu lassen oder auch den ausländerrechtlichen Bestimmungen in den Aufnahmeländern zu entsprechen. Eine Altersdiagnostik kann aus juristischen Gründen notwendig sein. Hierfür sind in Deutschland Altersgrenzen von 14, 16, 18 und 21 Jahren juristisch von Bedeutung. Zur Altersschät-
Übergewicht stellt für die Entwicklung von Typ 2-Diabetes ein Risiko dar. Bei der Pathogenese der Typ 2-Diabetes spielen genetische Faktoren sowie Umweltfaktoren eine Rolle. Bei bestimmten ethnischen Gruppen wurde ein häufigeres vorkommen von Typ 2-Diabetes beschrieben. Die Inzidenz für einen Typ 1-Diabetes für Kinder nichtdeutscher Herkunft ist nach einer Studie in Deutschland (Neu et al. 2001) mit 6,9 pro 100.000/Jahr signifikant niedriger als die Inzidenz bei deutschen Kindern (13,5 pro 100.000/Jahr). Hier spielen vorwiegend genetische Faktoren eine Rolle. Eine Schwankung zwischen einzelnen Ländern und Regionen sticht ins Auge. In Europa ist die Inzidenz besonders in Finnland hoch während in Japan der Typ 1-Diabetes eine eher seltenere Erkrankung ist. ! Während des moslemischen Fastenmonats Ramadan muss die Diabetestherapie ggf. an die Fastenzeiten angepasst werden.
Asthma-Prävalenz, Atopie und bronchiale Hyperreagibilität kommen bei türkischen Kindern in München seltener vor (Kabesch 1999). Zwischen der höheren kulturellen Anpassung und allergischer Sensibilisierung bzw. Krankheit wurde bei einer Untersuchung in Berlin eine Korrelation festgestellt (Gruber et al. 2002). Nach einer Untersuchung in Berlin kommen chronische Krankheiten bei deutschen Jugendlichen (11,5%; p <0,05) im
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Kapitel 10 · Ausländische Jugendliche
Vergleich zu türkischen Jugendlichen (1,8%) häufiger vor (Freitag et al. 2000). Der Vergleich unterschiedlicher Generationen von Einwanderern in den USA zeigte, dass spätere Generationen sowohl in Hinblick auf ihre Gesundheit wie auch auf Problemverhaltensweisen auffälliger sind als dies für die Generation der eigentlichen Einwanderer gilt (Hernandez u. Charney 1998). Migration an sich macht nicht krank. Sie kann sogar in vielen Fällen ein wichtiger Faktor zur Gesundheitserhaltung sein wie z. B. Bürgerkriegsflüchtlinge, Hungerkatastrophen o. Ä. Die Flucht ist in solchen Fällen eine präventive Maßnahme. Im Aufnahmeland können auf Dauer neue Probleme entstehen wie Fehlernährung oder Übergewicht. Nicht alle Lebensgewohnheiten in westlichen Ländern sind gesund. Bewegungsmangel, Fernsehgewohnheiten, gesellschaftliche Permissivität für Alkohol, leichterer Zugang zu Zigaretten, Alkohol oder Drogen, Individualismus mit Vernachlässigung der sozialen Netze können zu neuen gesundheitsschädlichen Problemen führen.
10.4
Sexualität am Beispiel muslimischer Jugendlicher
Erfahrungen einer Berliner Praxis für Frauenheilkunde
U. Kling-Mondon )) Seit 1991 führe ich als niedergelassene Ärztin eine Praxis für Frauenheilkunde und Geburtshilfe in Kreuzberg. Die Bezirke Kreuzberg, das im Süden angrenzende Neukölln und Wedding sind seit der ersten Gastarbeitergeneration in den 1970er Jahren »Hochburgen« für türkische Familien geworden; ca. 70% meiner Patientinnen sind türkischer Herkunft; dazu kommen ca. 10% Araberinnen. Bei den folgenden Ausführungen handelt es sich also immer um Mädchen mit muslimischem Glauben – ungeachtet der Frage, ob sie die deutsche Staatsbürgerschaft haben oder nicht.
Literatur
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Burchard GD (2003) Medizinische Probleme bei Flüchtlingen, Reisemedizin, Symposium 2002 Butler J, Jugendgesundheit in Berlin-Mitte, Beiträge zur Gesundheitsförderung und Gesundheitsberichterstattung, Bezirksamt Mitte, Band 3 Erb J, Winkler G (2003) Rolle der Nationalität bei Übergewicht und Adipositas bei Vorschulkindern, Onlinepublikation 24. Juni 2003, Monatsschrift Kinderheilkunde, Springer, Heidelberg Gardemann J, Mashkoori K (1998) Zur Gesundheitssituation der Flüchtlingskinder in Münster, Gesundheitswesen 60: 686–693 Gruber C, Illi S, Plieth A, Sommerfeld C, Wahn U (2002) Cultural adaptation is associated with atopy and wheezing among children of Turkish origin living in Germany, Clin Exp Allergy. 32(4): 526–31 Hernandez DJ, Charney E (1998) From Generation to Generation: The Health and Well-Being of Children in Immigrant Families, Washington: National Academy Press Holzgreve W, Sevinchan E, Kohne E, Sevinchan S, Miny P, Horst J (1990) Beta-thalassemia problems in the Turkish population in the F.R.G., Eur J Obstet Gynecol Reprod Biol. 34 (1-2): 137–47 Kabesch M, Schaal W, Nicolai T, von Mutius E (1999) Lower prevalence of asthma and atopy in Turkish children living in Germany, Eur Respir J 13: 577–582 Neu A, Willasch A, Ehehalt S, Kehrer M, Hub R, Ranke MB (2001) Diabetes incidence in children of different nationalities: an epidemiological approach to the pathogenesis of diabetes, Diabetologia (Germany) 44 Suppl 3 pB 21–6 Streppel M, Richling F, Walger M, von Wedel H, Eckel HE (2000) Epidemiology of hereditary hearing disorders in childhood: a retrospective study in Germany with special regard to ethnic factors, Scand Audiol 29(1): 3–9 Tuncbilek E (2001) Clinical outcomes of consanguineous marriages in Turkey, Turk J Pediatr 43(4): 277–9 Virdis R, Street ME, Terzi C, Lusolo DW, Benaglia G (2000) The pediatrician and the child in a multiethnic, Acta Biomed Ateneo Parmense 71(3–4): 71–4 Weilandt C, Huismann A, Joksimovic L et al. (2000) Gesundheit von Zuwanderern in Nordrhein-Westfalen, Sonderbericht 2000 (Hrsg.) Ministerium für Frauen, Jugend, Familie und Gesundheit des Landes Nordrhein-Westfalen Wu T, Mendola P, Buck GM (2002) Ethnic differences in the presence of secondary sex characteristics and menarche among US girls: the Third National Health and Nutrition Examination Survey, 1988–1994. Pediatrics 110(4): 752–7
Auch wenn viele schon der sog. 3. Migrantengeneration angehören und in Deutschland geboren worden und in die Schule gegangen sind, üben die kulturelle Herkunft, die Tradition und natürlich der muslimische Glaube einen großen Einfluss auf das alltägliche Leben aus, auf die Einbindung in die Familie, auf den Wissensstand, auf Vorstellungen und Wünsche der hiesigen jungen Türkinnen. Anzutreffen sind viele unterschiedliche Erscheinungsformen jugendlicher Türkinnen: die westlich orientierten Gymnasiastinnen mit Studienabsichten, die »Aggro-« (aggressiven) Türkinnen einer Mädchengang, die nach einem Tag mit Schlägereien und Diebstahl pünktlich zum heimischen Abendessen erscheinen, der Twiggy-Typ ‒ schlanke, stark geschminkte, langen Mantel und Kopftuch tragende Mädchen ‒ und die scheuen, rundlichen, den Schwiegermutterhaushalt versorgenden, eingeheirateten jungen Mädchen aus den bäuerlichen Gefilden Ost-Anatoliens sowie natürlich alle Zwischenformen. Aber hier, speziell in den genannten Bezirken Berlins, ist auch eine türkische, traditionell-betonte, z. T. islamisch-fundamentalistisch orientierte Diaspora entstanden. Nach wie vor werden junge türkische Mädchen und Frauen aus ländlichen Gebieten der Ost-Türkei nach Deutschland »eingeheiratet«, wenig gebildet und vollkommen ahnungslos, was das Leben in der Fremde für sie bedeuten wird, ohne Kenntnisse der deutschen Sprache und oft voller Angst im Umgang mit uns Deutschen: eine Reproduktion der 1. Migrantinnengeneration! Manch eine dieser jungen Frauen will den angebotenen Deutschkurs gar nicht besuchen; sie empfindet ihre Muttersprache als Trost und Verkörperung der Heimat in der Fremde. Sie erwartet von ihrem Mann, dass er das außerfamiliäre Leben für sie regelt, sie beschützt, die Verantwortung für sie übernimmt und sie zu den Arztbesuchen begleitet (und übersetzt). 10.4.1 Sprachprobleme Die deutsche Sprache wird oft gar nicht oder nur unzulänglich beherrscht. Viele Begriffe sind nicht bekannt, stattdessen wird, wenn überhaupt, oft ein türkisch-deutsches Kauderwelsch gesprochen. In der Praxis erweist sich als vorteilhaft, dass meine türkischen Arzthelferinnen nicht zu jung (nicht jünger als 18 Jah-
77 10.4 · Sexualität am Beispiel muslimischer Jugendlicher
re) und zudem die meisten verheiratet sind (d. h. sie verfügen über sexuelle Erfahrung). Dieser Umstand wird vor der Übersetzung von den Patientinnen oft abgefragt. Wissen sie doch damit, dass jene mit ihren intimen Problemen umzugehen in der Lage sein werden und es sich lohnt, vor mir davon zu sprechen! Das Dreieck Patientin, Arzthelferin und Ärztin bietet somit neben dem aus organisatorischen Gründen nicht zu ändernden Nachteil, sehr zeitintensiv zu sein, auch einen unschätzbaren Vorteil: die ratsuchende und unsichere, oft ängstliche Patientin kann sich zunächst der ihr kulturell (und sprachlich) vertrauten Arzthelferin öffnen und darauf hoffen, dass diese als Vermittlerin weiß, wie sie der Ärztin, also der älteren Fremden und Respektsperson, als Vertreterin der medizinischen Wissenschaft ihr Problem übersetzt. Andererseits lässt sich nicht ganz verhindern, dass die Arzthelferinnen manche ausgesuchte Formulierungen in die oft einfachere Sprache der Patientinnen übertragen und damit sicher auch einige Feinheiten verloren gehen. 10.4.2 Gründe für den Arztbesuch Ungeachtet der nationalen Herkunft berühren viele Themen Mädchen gleichermaßen, so etwa Unzufriedenheit mit dem Aussehen, Gewichtsprobleme, übermäßiger Haarwuchs und damit Angst vor Hormonstörungen, zu kleine Brüste, Angst vor einer Schwangerschaft, Verhütung und Schwangerschaftskonfliktberatung (deutlich seltener), körperliche Beschwerden wie Ausfluss, Zyklusstörungen, unklare Unterbauchschmerzen und Hygienefragen. Was sie voneinander unterscheidet, sind ausgeprägte Menstruationsschmerzen z. T. mit Ohnmachtsanfällen. Außerdem werden türkische Mädchen häufig vom Haus- oder Kinderarzt zur gynäkologischen Abklärung des sog. Mittelmeerschmerzes (»der ganze Bauch tut weh«) geschickt. Sie haben zudem ein ausgeprägteres Bedürfnis nach Beratung vor oder nach der Hochzeit, sind voller Sorge, keine Jungfrau (mehr) zu sein und haben Angst vor Sterilität, bzw. unerfülltem Kinderwunsch, manchmal sogar schon 3 Monate nach der Hochzeit. 10.4.3 Begleitpersonen Oft kommen die Mädchen anfangs in Begleitung einer Anverwandten, meist der Schwägerin, und im Gegensatz zu deutschen Mädchen viel seltener mit der Mutter oder einem männlichen Begleiter. Anders verhält es sich bei der Schwangerschaftskonfliktberatung. Hier wird der Partner oft als Stütze in der schwierigen Situation mitgebracht, manchmal bleibt er im Wartezimmer. Freundinnen hingegen sehe ich weniger häufig: Wer weiß, was diese und wem hinterher erzählen? Eher wagen sie sich allein in die Praxis. (Oft darf keiner aus der Familie wissen, dass sie eine Frauenärztin aufsuchen.) Es beruhigt sie, wenn ich sie über die ärztliche Schweigepflicht informiere. Die Begleitung einer übersetzenden Verwandten ist nicht immer von Nutzen; möchte die Patientin ihr intimes Problem vielleicht gerade nicht hinterher im Familienkreis erörtern. Angesichts der Tatsache, dass allein das Aufsuchen einer Frauenarztpraxis und erst recht die gynäkologische Untersuchung oft von Ängsten, Schamgefühl und Aufregung begleitet werden, gilt es, aufmerksam und empathisch-wertneutral (nicht
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etwa mitleidig) zuzuhören, ihr die gewünschte Information verständlich formuliert (ggf. übersetzt) zu liefern, wenn es sein muss, auch mehrfach wiederholend. Wichtig ist es, sie zur Eigenverantwortung zu ermuntern: nicht die Ärztin entscheidet über ihre Verhütung, ihre Impfung, ihr Leben, sie selbst ist aufgerufen. ! Unerlässlich ist eine ausreichende Kenntnis über den Einfluss des Islam auf das gesamte Leben junger Musliminnen.
10.4.4 Unwissenheit und Wunsch nach Aufklärung Fallbeispiele
Die Namen aller folgenden Jugendlichen sind frei erwählt. Beispiel Die 15-jährige Neslihan berichtet, sie müsse »öfter kotzen« und habe Angst, schwanger zu sein. Vor einigen Tagen habe sie mit ihrem kleinen Bruder zusammen in der Badewanne gebadet. Ob da seine »Dings« (sie meinte Spermien) irgendwie zu ihr schwimmen konnten…? Die 19-jährige Saniye will die Antibaby-Pille, habe aber von Freundinnen gehört, dass sie nach mehreren Einnahmejahren »nicht mehr schwanger werden« könne. Ob die Recht hätten? Die 16-jährige Zülfür beklagt immer wiederkehrenden juckenden Ausschlag im Bereich der Vulva nach Entfernung der Schamhaare. Nach mehreren Anläufen und Ratschlägen, ob Rasur oder Enthaarungscreme, stellt sie schließlich die ihr offenbar peinliche Frage, ob es medizinisch notwendig sei, die Schamhaare überhaupt zu entfernen? Sie habe von deutschen Frauen gehört, die gar nicht…
Hintergrund Behaarung
Während das Kopfhaar als Symbol der Weiblichkeit gilt und hocherotisch besetzt ist, werden die Schamhaare und die Haare in den Achselhöhlen von fast allen Muslimen als unansehnlich empfunden und abrasiert (oder anders entfernt). Frauen entfernen auch alle anderen Körperhaare, um völlig »temiz«, also »rein« (jungfräulich?) zu sein. Mit einer solchen Reinheit sind Vorstellungen sexueller Attraktivität verbunden. Außerdem sagen religiöse Muslime, die Haare würden die rituelle Reinheit verhindern, da an den behaarten Stellen kein Wasser an die Haut käme. (Aus: Muslimische Patienten ‒ Ein Leitfaden zur interkulturellen Verständigung in Krankenhaus und Praxis, S. 57; Zitat geringfügig ergänzt) So wie die Enthaarung ein Tabuthema in gemischter Gesprächsrunde darstellt, so gilt das für die monatliche Regelblutung gleichermaßen. Die Frau/das Mädchen umschreibt die Situation, behauptet sie sei krank oder müde oder habe Kopfschmerzen. ! Der Geschlechtsverkehr während der (unreinen) Regelblutung wird abgelehnt.
10.4.5 Wie, wann und von wem wurde aufgeklärt? Nach dem Zeitpunkt der ersten Aufklärung gefragt, nennen die meisten den Moment der Menarche (1. Regelblutung). Viele Mädchen berichten von ihrem Entsetzen über die für sie zunächst unerklärliche vaginale Blutung und ihre Hilflosigkeit, mit der sie zu ihrer Mutter liefen.
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Kapitel 10 · Ausländische Jugendliche
Einige wenige jedoch können auch von der Freude ihrer Mütter berichten: die Menstruation als das erhoffte Zeichen für die Fruchtbarkeit der Tochter. Viele muslimische Mütter tabuisieren das Thema heute leider noch immer und ignorieren die Not ihrer Töchter: »Sei leise, darüber redet ein anständiges Mädchen nicht ‒ hier sind Binden.« Oder: »Geh damit (und mit all den anderen unschicklichen Fragen) zu deiner (älteren) Schwester, doch nicht zu mir!« Die ältere Schwester fragt meist gar nicht erst die Mutter, sondern gleich eine entfernte Tante oder am liebsten eine fast Fremde, beispielsweise die gerade eingeheiratete Schwägerin, die jung und offener ist, was Sexualität betrifft.
10.4.6 Verhütung
! Noch heute soll in den traditionsverpflichteten Familien die Sexualaufklärung erst kurz vor der Hochzeit stattfinden. Da die Brautleute keusch in den Stand der Ehe eintreten sollen (und zwar beide!), besteht nach dieser Anschauungsweise vorher kein Aufklärungsbedarf.
! Erschreckenderweise ist unter den türkischen Jungen und auch erwachsenen Männern immer noch die irrige Vorstellung weit verbreitet, mit »Aufpassen« (Coitus interruptus) erfolgreich und auf Dauer, eine Schwangerschaft verhindern zu können! Die Kondomakzeptanz ist schlecht.
Natürlich holen sich schon viele junge Leute ihre Informationen vorab, und zu ihrem Glück gibt es den schulischen Sexualkundeunterricht. Dieser deckt auch bei den meisten muslimischen Jungen die Sexualaufklärung ab.
Nach dem Grund gefragt, antworten die meisten, ohne sei für sie am billigsten. Ich vermute jedoch auch, dass es z. T. mit dem männlichen Selbstverständnis zu tun haben könnte. Ich frage die junge Frau, ob sie wirklich darauf vertrauen möchte, dass ihr Partner in seiner Erregung auf 7‒15 Mio. Spermien aufpassen könnte, oder ob nicht doch sie zu ihrem eigenen Schutz die Verantwortung tragen und selbst verhüten möchte. Nach meiner Erfahrung wählen die jungen Türkinnen bzw. Araberinnen fast ausschließlich die Antibabypille, die manchmal vor Entdeckung durch die eigenen Familienangehörigen geschützt werden muss. Sehr viel seltener greifen sie auf manuell zu applizierende Verhütungsmethoden wie Verhütungszäpfchen, Diaphragma, Portioring oder Vaginalring zurück. Sie benutzen auch keine Tampons für die Menstruationsblutung, sondern fast nur Binden. Eigene Manipulationen im Vulva- und Vaginalbereich werden offenbar (weil tabuisiert) abgelehnt, erst recht, wenn es um das »unreine« Menstrualblut geht.
Hintergrund Aufklärung
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In der Türkei ist an den staatlichen Schulen der Sexualkundeunterricht zur Vermittlung biologischer Kenntnisse Pflicht; später übernimmt dann für junge Männer das Militär im Rahmen der Grundausbildung diese Rolle. Der Vater dagegen wird zu sehr als Respektperson begriffen, als dass sich ihm der Sohn mit Fragen nach dem Geschlechtsverkehr oder in Bezug auf Verhütungsmaßnahmen nähern würde. Eher fragt er ältere Brüder oder Freunde. Die beteiligten jungen Männer sind meist froh, wenn sie im Wartezimmer warten können oder überhaupt nicht mitkommen müssen. Ihnen ist ein Gespräch über Verhütungsmethoden auch beim Petting oder die Schmerzen der Freundin beim Verkehr sehr unangenehm; wollen sie doch nicht zugeben, dass sie oft über noch weniger fundierte Kenntnisse verfügen als sie. Ich erwähne daher immer lobend ihre Anwesenheit und ganz besonders ihr offenbar vorsichtiges und rücksichtsvolles Vorgehen beim »ersten Mal«, wenn es nicht dabei geblutet hat. Dies geschieht allerdings oft zum Schrecken beider oder, weitaus schlimmer, zu seinem Misstrauen ihr gegenüber, weil er sie nun der scheinbar nicht mehr vorhandenen Jungfräulichkeit verdächtigen könnte. Leider stecken die Auskünfte von Freundinnen und Verwandten, an denen sich die Mädchen orientieren, oft voller angsterzeugender und abschreckender Halb- und Unwahrheiten, so dass es kein Wunder ist, dass die Mädchen sich nicht gynäkologisch untersuchen lassen wollen, große Angst vor dem ersten Geschlechtsverkehr haben und später vor der ersten Entbindung. Eine türkische »Bravo« oder ein vergleichbares Journal gibt es nicht. Es gibt allerdings muslimisch-orientierte Schriften, die in Moscheen den jungen Mädchen zur Verfügung gestellt werden. Als Ansprechpartnerin in allen Fragen des alltäglichen Lebens gilt die dortige Hodca-Frau. Sie soll auch die Eltern in der Aufklärung unterstützen, wenn »es an der Zeit ist«. Nach den Vorgaben des Korans sollen allerdings die Eltern selbst die Pflicht der Aufklärung ihrer Kinder übernehmen. Viele scheuen aber davor zurück, teils aus eigener Unwissenheit, teils weil sie die Verantwortung dafür abgeben wollen.
Die 17-jährige Sevgi meint: »Beim Schmusen wird man nicht schwanger, und es ist ja nicht so ›richtig‹!« Was »richtig« ist, ist den Mädchen oft gar nicht klar. Hier sollte hartnäckig nachgefragt und darauf bestanden werden, dass die Jugendlichen sich Gedanken über Verhütung machen, auch mit Jungen darüber reden sollen, ob Kondome als Methode in Frage kommen. Die Erkenntnis, dass auch Jungfrauen schwanger werden können, schockiert sie so sehr, dass sie nun ihrerseits weiterfragen.
10.4.7 Kohabitarche (»das erste Mal«) Der erste Geschlechtsverkehr, der, obwohl verboten, natürlich auch schon vorehelich praktiziert wird, wird 1. oft ohne Verhütung und 2. seitens des Mädchens mit großen Schuldgefühlen und Schmerzen, in den allermeisten Fällen ohne große Erfüllung erlebt. Die 17-jährige Nazmiye hat Folgendes gehört: »Bei den ersten 3‒4 Malen tut es furchtbar weh, aber da muss man durch, danach wird es besser.« Hier bringe ich das Gespräch auf die Freude am Liebesspiel von Mann und Frau. Im Islam wird der Geschlechtsverkehr in der Ehe (!) zur Befriedigung beider Partner vollzogen. Sexuelle Verweigerung des einen kann für den anderen ein Scheidungsgrund darstellen. Und Emine weiß: »Wenn es beim ersten Mal nicht blutet, dann hat es entweder nicht richtig geklappt oder, was viel schlimmer ist, sie war keine Jungfrau mehr.« Diese Vorstellung hält sich hartnäckig, und sie wird bewusst genährt. Als Ärztin kann ich lediglich ein Nachdenken erreichen, indem ich provokativ frage, ob sie einen Mann aus dem Mittelalter heiraten wolle, dem es nur darum geht, von ihr Besitz zu ergreifen und der Erste sein zu wollen, oder einen verständigen Partner. Leider noch immer anzutreffen ist die Tradition, das blutige Laken nach der Hochzeitsnacht sehen zu wollen. Viele Schwiegermütter geben sich aber inzwischen auch mit der mündlichen
79 10.4 · Sexualität am Beispiel muslimischer Jugendlicher
Auskunft des Sohnes zufrieden, dass alles seine Richtigkeit gehabt habe. Die 16-jährige Songün hat große Angst, ihr Jungfernhäutchen als kleines Mädchen bei einem Sturz von der Rutschbahn (wahlweise auch im Sportunterricht beim Spagat) zerrissen zu haben, aber sie habe von einer Abhilfe gehört: »Wenn man keine Jungfrau mehr ist, kann man sich vor der Hochzeit eine Operation machen lassen (Hymenalplastik), und dann merkt der Mann nichts.« Ich informiere sie über die tatsächlich bestehende (und privat zu bezahlende) medizinische Möglichkeit und stelle zur Diskussion, ob sie eine Ehe im gegenseitigen Vertrauen schließen oder die Unwahrheit sagen wolle. Sie glaubt nicht, dass es türkische Männer gibt, die sich damit abfinden könnten, dass ihre Braut nicht mehr Jungfrau ist. Meine Frage nach einem Freund wird glaubhaft verneint; die vorsichtige Frage nach einem möglichen sexuellen Missbrauch ist mir von einem muslimischen Mädchen noch nie (!) positiv beantwortet worden. Wie immens ausgeprägt muss in diesem Fall das durch eine streng traditionell erfolgte Erziehung verinnerlichte Gefühl der eigenen Schuld hierbei sein. Gleichwohl ist davon auszugehen, dass sexueller Missbrauch in der muslimischen Gesellschaft genauso passiert wie in unserer. Als Ärztin versuche ich der Patientin zu verdeutlichen, dass es nicht zwangsläufig bluten müsse, viel hängt neben der Weite des Vaginaleingangs vor allem von der Art und Weise ab, wie der ihr angetraute junge Mann mit ihr umgeht, im besten Fall liebevoll, rücksichtsvoll und geduldig. Abschließend ermuntere ich sie, sich einem älteren weiblichen Familienmitglied (oder der Hodca-Frau) zu öffnen, um das Gefühl des Alleinseins und damit einen Großteil ihrer Angst bewältigen zu können. Sollte sich bei der Untersuchung (ausschließlich Inspektion, bzw. vorher abgesprochenes vorsichtiges Spreizen der Labien mit Daumen und Zeigefinger) herausstellen, dass das Hymen offenbar nicht mehr intakt ist, gebe ich dem Mädchen eine Formulierung, ohne lügen zu müssen, mit auf den Weg: Das Jungfernhäutchen ist noch vorhanden. Während der Untersuchung empfiehlt sich im übrigen, dem Mädchen die Einrisse oder Einkerbungen des Hymens im Handspiegel zu zeigen. ! Kulturelle Besonderheit: Wird ein schriftliches Attest gewünscht, muss es Geld kosten, sonst ist es nichts wert.
10.4.8 Sexualität und Ehre in der muslimischen
Familie Unsere christlich-abendländische Vorstellung vom Umgang der Menschen miteinander fußt auf der Gleichheit von Frauen und Männern; für uns besteht die Welt nur aus Menschen. Das sieht man im Islam anders. Die christliche Missionarin Christine Mallouhi schreibt hierzu, die islamische Welt sei »in Männer und Frauen aufgeteilt, deren Beziehungen miteinander immer eingedenk ihrer geschlechtlichen Verschiedenheiten geregelt werden. Eine (muslimische) Frau spricht nicht mit einer Person, wenn sie mit einem Mann kommuniziert, sondern mit einer männlichen Person, und ihr Verhalten ist dementsprechend. Entweder ist sie absichtlich zurückhaltend, oder sie verhält sich bewusst verführerisch. Egal, welche Position sie einnimmt, ihr Verhalten wird von einem feststehenden Sittenkodex bestimmt (…).« Diesem, so Mallouhi weiter, liege die alles beherrschende Vorstellung zu-
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grunde, nur der Gedanke an Sex könne der alleinige Grund für einen Mann und eine Frau sein, wenn sie allein sein wollen. Hintergrund Sittenkodex
Die Trennung der Geschlechter im Islam darf keineswegs als Zeichen von Prüderie verstanden werden; dahinter steht vielmehr die Erkenntnis, dass der Sexualität eine immense Macht inne wohnt. Sie besitzt das größte Potential zur Zerstörung von Familieneinheit und -harmonie! Da die Familie als stärkstes Bindeglied in der muslimischen Kultur fungiert und daher bei allen Verhaltensäußerungen oberste Priorität genießt, gilt es, die Jugendlichen gegen Sex abzuschirmen (bis sie im sicheren Hafen der Ehe verankert sind), vor allem aber die Mädchen. Traditionell wird die Familienehre an dem Verhalten der Frauen gemessen; daher obliegt es ihnen, sich den Regeln des Anstands, der schicklichen (distanzierten) Erhaltensweisen gegenüber Männern in Bezug auf Haltung, Sprechweise, Augenkontakt u. a. m. sowie der Kleiderordnung zu unterwerfen (ggf. mit Schleier oder Kopftuch, ob verordnet oder selbstbewusst und eigenverantwortlich angelegt). (Nach: Mallouhi Ch (1999) Mode, Mütter & Muslime. Mit Muslimen leben) Auch wenn viele meiner jugendlichen Patientinnen sich nicht als aktiv praktizierende Muslimin bezeichnen würden, so ist ihnen doch zeit ihres Lebens das Gefühl vermittelt worden, sie seien für die ganze Familie, deren Ruf und soziale Ehre verantwortlich, und das gilt noch heute, mitten in unserer aufgeklärten deutschen Gesellschaft. Diese töchterliche Macht, die sich nach außen hin in der besseren Ausbildung der Mädchen (im Gegensatz zu den Jungen), ihrer für die älteren Familienmitglieder wichtigen Übersetzerfunktion bei Behördengängen und später in ihrer Erwerbstätigkeit manifestiert, schlägt in Ohnmacht um, wenn diese Tochter es aus Sicht der Eltern und Geschwister wagen sollte, die traditionelle Familien- und Gesellschaftsmoral zu verletzen. Vor der Ehe ist es ihr verboten, einen Freund, demzufolge auch kein Sex zu haben. Wenn ein solcher Umstand jedoch bekannt werden sollte, und sei es nur als öffentlich geäußerte Vermutung, hat sie die Familie sozial entehrt und bekommt die Konsequenzen zu spüren, die im Familienrat zur Rehabilitation beschlossen werden. Sie wird beschuldigt, die Ehre des Vaters verletzt zu haben. Inzwischen sind mehrere Fälle bekannt, in denen die »abtrünnige« Tochter, zumeist von einem jüngeren oder älteren Bruder, aufgrund dieser Ehrverletzung sogar ermordet wurde. Ist sie tatsächlich schwanger, verheimlicht die junge, unverheiratete Türkin in ihrer Verzweiflung die Schwangerschaft bis zur Entbindung, ohne dass die Familie sie auf den zunehmenden Bauchumfang anspricht. Als vermeintlich letzten Ausweg gibt sie das Kind häufig zur Adoption frei, auch hier ohne dass je in der Familie anschließend gesprochen wird. Oder sie lässt sich in die Türkei »entführen« und sagt sich von der Familie los. Damit ermöglicht sie dem Vater, sein Gesicht zu wahren, indem er öffentlich verkündet, sie sei nicht mehr seine Tochter. Vielleicht akzeptiert er die dann in der Türkei vollzogene Hochzeit und »verzeiht« ihr, aber oft bleibt sie ausgestoßen. Jungen Ein wichtiger Eckstein im Leben eines türkischen Jungen ist die Beschneidung. Sie ist nach dem Koran nicht unbedingt Pflicht, wird aber als gesellschaftliches Ereignis angesehen. Sie markiert die Aufnahme des Jungen in die Männerwelt und wird mit einem
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Kapitel 10 · Ausländische Jugendliche
großen Fest gefeiert. Neben der Hochzeit ist dies das wichtigste persönliche Fest im Leben eines Türken. Nach der Genesung von dem chirurgischen Eingriff (schnelles Abtrennen der Vorhaut ohne Narkose) wird der Junge im Allgemeinen bis zum 14. Lebensjahr für das Fest prachtvoll gekleidet und reich beschenkt. Ein türkischer Junge wächst in der Gewissheit auf, dass er ohne eigene Verdienste die Rolle des Herrschenden, des Respekt Gebietenen spielen darf. Dementsprechend verhalten sie sich oft sogar erwachsenen Frauen, sei es Erzieherinnen, Lehrerinnen oder Ärztinnen gegenüber. Mädchen Türkische Mädchen hingegen werden nicht beschnitten. Bei arabischen Mädchen kann das schon vorkommen, in meiner Praxis habe ich es aber fast nie erlebt. Meist schämen sich die Mädchen dafür. Im Gegensatz zu den Jungen gibt es auch kein Fest. Mein Vorschlag an viele Müttern ist daher, ein Fest für ihre Tochter beim Eintreten der 1. Regelblutung zu geben. Das würde zum einen der Aufnahme des Mädchens in die Welt der Frauen entsprechen, zum anderen aber auch eine gewisse Aufwertung des Mädchens bedeuten. Berater und Netzwerk
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Meine eigenen Berater/Mein eigenes Netzwerk: 4 Hauptschullehrerin aus dem Wedding 4 Kollegin von Balance, vergleichbar mit Pro Familia 4 Pädiater aus dem Umkreis meiner Praxis 4 Türkische Lehrerinnen von AKARSU (Berliner Institution zur Integration von Migrantinnen) 4 Meine türkischen Arzthelferinnen und Azubis 4 Einzelne sehr aufgeschlossene und im Koran belesene Patientinnen; eine davon ist eine Hodca-Frau (eine analog zum männlichen Hodca in religiösen Fragen speziell geschulte Frau) aus der nächstgelegenen Moschee 4 Fortbildungen z. B. vom AKF (Aktionskreis Frauengesundheit; Sitz in Bremen)
Literatur Becker SA, Wunderer E, Schultz-Gambard J (2001) Muslimische Patienten. Ein Leitfaden zur interkulturellen Verständigung in Krankenhaus und Praxis vom W. Zuckschwerdt John B (1999) Ausländerbeauftragte der Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales Berlin. Der Islam und die Muslime. Geschichte und religiöse Traditionen Kehl K, Pfluger I: Die Ehre in der türkischen Kultur. Ein Wertesystem im Wandel. Die Ausländerbeauftragte des Senats von Berlin im Zusammenarbeit mit dem Paritätischen Bildungswerk e. V. Mallouhi Ch (1999) Mode, Mütter & Muslime. Mit Muslimen leben. Brunnen, Gießen
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11 Behinderte Jugendliche I. Achilles, M. Sanna, A. Ermert, W. Storm, N. Weissenrieder
11.1
Probleme der Integration
I. Achilles )) In der Bundesrepublik leben etwa 139.000 Kinder unter 15 Jahren mit einer Behinderung. Bei den Jugendlichen (zwischen 15 und 25 Jahre) sind es 159.000. Nur rund 7% von ihnen haben ihre Behinderung seit der Geburt. Die meisten, also über 90%, wurden durch Krankheit oder Unfall behindert. Das heißt, viele behinderte Jugendliche haben sich als »normal« erlebt und erinnern sich vielleicht daran, wie es ist, ohne Beeinträchtigungen zu sein. Als behindert gelten Menschen, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als 6 Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht und ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft dadurch beeinträchtigt ist.
Die Art der Behinderung wird in der Schwerbehindertenstatistik anhand von insgesamt 55 Kategorien erfasst. Die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft werden als Grad der Behinderung (GdB) nach Zehnergraden (20‒100) abgestuft festgestellt. Als schwerbehindert gelten Menschen, denen von den Versorgungsämtern ein GdB von 50 oder mehr zuerkannt wurde. Auf Antrag stellen ihnen die Versorgungsämter einen Schwerbehindertenausweis aus. Laut Bundessozialhilfegesetz wird unterschieden zwischen körperlicher, geistiger, seelischer oder Sinnes-Behinderung. Manche Eltern allerdings vermeiden den Begriff »Behinderung«, sprechen stattdessen von »Beeinträchtigung« von »Lernschwierigkeiten«, vom »Anders- oder Besonderssein« ihrer Tochter oder ihres Sohnes. Geht es um Schule und Ausbildung, wird auch da immer seltener von Behinderung gesprochen. Fachleute, zumeist Sonderpädagogen, reden stattdessen von »erhöhtem Förderbedarf bei der körperlichen, der geistigen oder der emotionalsozialen Entwicklung«. Blinde haben den »erhöhten Förderbedarf Sehen«. Infolge dieser Sprachregelung gehen die Kinder und Jugendlichen auch nicht mehr wie früher in »Sonderschulen«, sondern besuchen »Förderschulen« oder »Förderzentren«, an denen der Förderbedarf zumeist zusätzlich spezifiziert ist, z. B. als »Förderschule zur geistigen Entwicklung«, zur »körperlichen Entwicklung«, »zur Erziehungshilfe«. Was wie Wortkosmetik klingt und an die belächelte political correctness aus den USA der 1980er-Jahre erinnert, zeigt die aktuelle Zielsetzung in der Behindertenpolitik (so wie sie übrigens bereits seit 30 Jahren von engagierten Eltern gefordert wird): Behinderte und nichtbehinderte Kinder sollen in Regelschulen gemeinsam unterrichtet werden. So steht es nun auch in den Schulgesetzen aller Bundesländer, umgesetzt ist das allerdings erst in wenigen Städten und Gemeinden. Dort werden behinderte Kinder (wenn es ihre Behinderung zulässt) in die Regelschule aufgenommen und Assistenzlehrer im sonderpäda-
gogischen mobilen Dienst helfen ihnen stundenweise entsprechend ihrem individuellen Förderbedarf. So soll es den Kindern und später den Jugendlichen möglich sein, mit nichtbehinderten Altersgenossen zusammen zu sein, mit ihnen und dennoch im eigenen Tempo zu lernen. Für sie gilt: nicht das Erreichen des Klassenziels ist wichtig, sondern das Erreichen des individuellen Leistungsvermögens. (Das sollte eigentlich für alle Schüler gelten, nicht nur für diejenigen mit attestierter Lern- oder geistiger Behinderung!) An manchen Orten gibt es sog. Kooperationsklassen. Das sind Klassen an Regelschulen, in die behinderte Kinder aus den Förderschulen stundenweise gehen und dort mit nichtbehinderten Schüler zusammen sind. ! Trotz vieler neuer Konzepte: Die ideale Schulform – integrativ an Regelschulen, Förderzentrum, sonderpädagogische Assistenz – gibt es für die meisten behinderten Kinder und Jugendliche noch nicht.
Das Positive hinter allen Konzepten ist die Einsicht, dass ausgesonderte Hilfe vielfach zur Isolation führt. Eltern, die sich in der Bundesarbeitsgemeinschaft »Gemeinsam Leben ‒ gemeinsam Lernen« zusammengefunden haben, halten die Aussonderung behinderter Kinder für eine Menschenrechtsverletzung. Jeder habe das Recht, in seinem sozialen Umfeld zu bleiben, dort zu lernen und gefördert zu werden. Ein großer Nachteil der ausgesonderten Hilfe liegt darin, dass die nichtbehinderten Kinder und Jugendlichen den Kontakt zu ihren behinderten Altersgenossen verlieren. So entstehen Unsicherheiten und Berührungsängste bei den »Normalen«, die oft in lebenslange Vorurteile umschlagen. Es bilden sich Ghettosituationen heraus, weil die Mädchen und Jungen mit Behinderungen entsprechend der schulischen und sozialen Verhältnisse häufig »unter sich« bleiben, was ihnen die Teilhabe am öffentlichen Leben mitunter sehr erschwert. ! Ohne Segregation wäre in vielen Fällen Integration gar nicht erforderlich. Andererseits: Segregation kann durchaus ein Weg zur Integration sein. Denn wenn behinderte oder von Behinderung bedrohte Kinder sehr früh intensive Hilfe bekommen, erleichtert gerade das die spätere Eingliederung erheblich.
11.1.1 Ursachen für Probleme bei der Integration Weil der Begriff »Integration« für sensible Menschen nach Gleichmacherei klingt ‒ die Behinderten sollen so werden wie die Nichtbehinderten ‒ spricht man nun von »Teilhabe« oder »Inklusion«. Das heißt, Menschen mit Behinderung sollen ‒ so wie sie sind – »eingeschlossen« sein in die Gesellschaft, sollen teilnehmen können am öffentlichen Leben wie andere Bundesbürger auch. Kaum einer wird sich dieser Forderung verschließen: die Betroffenen nicht, deren Eltern und Angehörige nicht, die Fachleute nicht. Trotzdem gibt es kaum eine funktionierende Inklusion. Woran liegt es?
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Kapitel 11 · Behinderte Jugendliche
Im Elternhaus Die Belastung durch die Behinderung. Die meisten Kinder und
Jugendlichen mit Behinderung wachsen in ihren Familien auf, die Unterbringung in stationären Einrichtungen ist rückläufig. Ob und welche Probleme bei der Integration der Heranwachsenden entstehen, entscheidet sich bereits in den ersten Lebensjahren. Fraglos befindet sich eine Familie mit einem behinderten Kind in einer schwierigen sozialen Situation. Bedingt durch erhöhte Pflege und vermehrte Zuwendung, durch häufige Therapiefahrten und Arztbesuche bleiben für die Partnerschaft, für die Geschwister, aber auch für regelmäßige Kontakte außerhalb der Familie kaum Zeit und wenig Energie. ! Das schränkt die Entwicklung der Alltagsfähigkeiten, Interaktions- und Kommunikationsmöglichkeiten, die Gelegenheiten zu gemeinsamen Spielen und Lernen des behinderten Heranwachsenden ein und prägt fürs Leben. Überbehütung. Mütter und Väter geben sich in der Regel von
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Anfang an die größte Mühe, ihr Kind zu fördern, wo immer das möglich ist, und ihm das Leben angenehm zu machen. Sie bleiben dabei, von ihrem »Kind« zu sprechen, auch wenn Tochter oder Sohn deutlich an der Schwelle zum Erwachsensein stehen. Zum Teil mag dieses Betreben aus elterlichen Schuldgefühlen herrühren, zum Teil ist es die Reaktion auf die besondere Hilflosigkeit des »Kindes«. Ideal ist, wenn sich Tochter oder Sohn im Laufe der Jahre schrittweise aus der anfangs totalen Abhängigkeit von den Eltern lösen kann ‒ über den Kindergarten bis zur Klassenreise ‒, um schließlich als Jugendlicher so selbst bestimmt wie irgendmöglich zu leben. Erschwert wird diese »zweite Abnabelung« durch Eltern, die nicht loslassen können. Sie haben sich die Betreuung ihres behinderten »Kindes« zur Lebensaufgabe gemacht. Aus Fürsorglichkeit ist Bevormundung geworden und die steht allzu oft Integrationsbemühungen der Jugendlichen selbst und ihrer Lehrer im Wege. Abkapselung durch Selbsthilfegruppen. Die meisten Eltern
schließen sich einer Selbsthilfegruppen an. Es gibt mittlerweile für fast jede Form der Behinderung, auch für die seltenste, eine Selbsthilfegruppe. Die Arbeit dieser Gruppen kann nicht hoch genug gelobt werden. Hier finden Eltern Verständnis, werden informiert, erhalten Rechtsberatung, wenn es z. B. um Fragen der Kostenübernahme durch die Krankenkassen geht. Für Abwechslung und Unterhaltung ist gesorgt: Ausflüge, Picknicks, Flohmärkte werden gemeinsam organisiert. So segensreich diese Möglichkeiten für die Betroffenen sind, sich auszutauschen, von den Erfahrungen anderer zu profitieren, so klar ist, dass bei allen Aktivitäten immer die Behinderung im Mittelpunkt steht. Wenn Familien ihre Freizeit ausschließlich ‒ wohlgemerkt: ausschließlich! ‒ mit der Selbsthilfegruppe verbringen, kann auch das in eine Form gesellschaftlicher Isolation führen. Das muss aber nicht so sein. Wie erfolgreich die Arbeit von Selbsthilfegruppen gerade in Hinblick auf Integration ist, zeigt sich deutlich am Netzwerk Down-Syndrom. Während es Ende der 1980er Jahre kaum Selbsthilfegruppen für Eltern von Kindern mit Down-Syndrom gab, sind es heute rund 200 Gruppen. Die stark engagierte Elternarbeit hat dazu geführt, dass die Öffentlichkeit jetzt viel mehr über Menschen mit Trisomie 21 weiß, dass Eltern gleich nach der Geburt eines Babys mit Down-Syndrom Information und Hilfe bekommen, später auch Unterstützung bei der Suche nach passenden Kindergärten und Schulen und dass
das Image von Menschen mit Down-Syndrom enorm verbessert werden konnte. ! Eltern, die sich einer Selbsthilfegruppe anschließen, sollten unbedingt darauf achten, dass der Verein sich nicht abkapselt, sondern auch Kontakte zu nichtbehinderten Gruppen pflegt.
In der Schule Die falsche Wahl. Fatale Ergebnisse können beide Entscheidun-
gen haben: Fall 1: Die Eltern dringen darauf, dass ihr behindertes Kind eine Regelschule besucht. Oder Fall 2: Sie sind felsenfest davon überzeugt, dass ihre Tochter oder ihr Sohn nur in einer Förderschule gezielt die Hilfe bekommt, die sie oder er braucht. Im ersten Fall müssen sich die Eltern eventuell auf einen Streit mit den Schulbehörden gefasst machen und damit rechnen, dass ihr Kind überfordert ist und scheitert. Denn die Förderung behinderter Schüler in den Regelschulen ist in den meisten Fällen (noch) nicht optimal. Im zweiten Fall müssen sie damit rechnen, dass ihr Kind nur behinderte Spielgefährten hat und den Umgang mit »Normalen« verlernt. In beiden Fällen ist Integration erschwert. Der behütete Schulweg. Viele behinderte Kinder werden per Bus
oder Taxi in ihre Schulen gebracht. Das ist praktisch, sicher und entlastet die Eltern. Es fällt ihnen schwer, in der 5. oder 6. Klasse einem Mobilitätstraining ihrer Töchter und Söhne zuzustimmen und die Teenager allein fahren zu lassen, obwohl einige durchaus in der Lage wären, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen. Gerade das aber fördert die Selbständigkeit und das Verantwortungsgefühl und ist ein großer Schritt auf dem langen Weg zur Integration. In der Freizeit Barrieren sind immer noch überall. Rollstuhlfahrer beklagen,
dass Kinos, Theater, ja sogar Jugendclubs und integrative Discos keine Rampen haben und damit für die Jugendlichen mit Körperbehinderung unzugänglich sind. Für Sehbehinderte ist es ein Handicap, dass es erst wenige Straßenkreuzungen mit Blindenampeln gibt. Deren Ticken ist dann oft sehr leise, es wird vom Verkehrslärm übertönt, so können die Sehbehinderten die Ampeln kaum finden. Optische Hilfen in öffentlichen Verkehrsmitteln sind oft zu klein, die Durchsagen zu undeutlich. Freizeitangebote für sehbehinderte Jugendliche gibt es hauptsächlich von den Blindenverbänden. Das aber heißt: Hier sind die Sehbehinderten wieder unter sich. Gehörlose Jugendliche haben aufgrund ihrer Behinderung ein großes Informationsdefizit. Im Umgang mit Hörenden sind sie auf das Ablesen vom Mund angewiesen. Was vielen Nichtbehinderten nicht klar ist: Höchstens 30% der Lautsprache können abgelesen werden. (Mutter und Butter z. B. kann man nicht unterscheiden). Im Fernsehen gibt es zu wenige Sendungen mit Untertiteln; Gebärdensprachdolmetscher sind auf dem Bildschirm eine Seltenheit. Und was für andere Menschen entspannend wirken mag, nämlich klassische Musik, die seit einiger Zeit sogar auf manchen Bahnhöfen zu hören, ist für Hörbehinderte nur verwirrend. Barrieren gibt es aber auch nach wie vor noch in den Köpfen: »Behinderte sind doch am liebsten unter sich«, sagen Nichtbehinderte und beteiligen sich nicht an integrativen Freizeitangeboten. An den von den Behindertenverbänden veranstalteten Freizeiten nehmen nichtbehinderte Jugendliche nur bis zum Alter
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von etwa 16 Jahren teil. Danach haben viele von ihnen weder Zeit noch Interesse, mit Behinderten etwas gemeinsam zu unternehmen. Sie gehen lieber eigene Wege. Angebote, die so spannend wären, dass sie sich wieder beteiligen würden, sind extrem rar. Erst im Alter ab etwa 20 Jahren sind junge, nichtbehinderte Menschen wieder offener für den Umgang mit behinderten Altersgenossen. Menschen ohne Behinderung, die sich für vorurteilsfrei halten, überlegen: »Zum Geburtstag unserer Tochter laden wir die beiden Teenager der netten Nachbarn ein. Deren großen Jungen aber lieber nicht, der ist behindert. Der kann ja gar nicht richtig mitmachen. Und Kinder können ja sehr grausam sein, vielleicht fällt da eine geringschätzende Bemerkung… da fühlt sich das Behinderte bei uns bestimmt nicht wohl.« Und schon wird der Nachbarsjunge »zum eigenen Besten« ausgegrenzt. Beispiele aus Integrationskindergärten zeigen, dass nichtbehinderte Kinder sehr wohl und gut und gern mit behinderten Kindern spielen. »Grausam« sind sie nicht. Sie werden es erst, wenn Erwachsene sie vor Behinderten warnen (»Spiel lieber nicht mit dem, der sabbert doch so!«) und ihre Vorurteile vorleben. Doch auch in den Köpfen der Behinderten selbst gibt es Barrieren, die einer erfolgreichen Integration im Wege stehen. Viele Jugendliche mit Behinderung denken: »Die nichtbehinderten Leute hier können mich doch gar nicht mögen«, »Die haben doch nur Mitleid mit mir«, »Hinter meinem Rücken lachen die über mich.« Auch wenn sie solche Erfahrungen vielleicht gar nicht gemacht haben, gehen sie von sich aus nicht auf Nichtbehinderte zu, womit wieder Chancen der Teilhabe vertan sind. Kontakte zu Nichtbehinderten sind selten. Kinder und Jugendliche mit Behinderung besuchen Schulen, die oft mehrere Kilometer von ihrem Wohnort entfernt sind. Ihren Mitschüler geht es genau so, sie leben meist ganz woanders, so dass ein Treffen an den Nachmittagen kaum zu realisieren ist. Und Anschluss an die nichtbehinderten Cliquen in der Nachbarschaft haben sie meist auch nicht.
Bei der Ausbildung und am Arbeitsplatz Mit einem Anteil von rund 66% war im April 1999 (das ist der Termin der zuletzt veröffentlichten Erhebung) der Hauptschulabschluss der häufigste Schulabschluss bei Jugendlichen mit Behinderung. Es folgte der Realschulabschluss mit 16%; Abitur oder Fachhochschulreife hatten 10%, keinen Schulabschluss 4%. Was die Berufsausbildung betrifft: Rund die Hälfte der jungen Menschen mit Behinderung, nämlich 49%, wies als höchsten Berufsabschluss eine Lehre oder ein Praktikum auf. 28% hatten keinen Berufsabschluss, 11% einen Fachschulabschluss, 4% einen Hochschulabschluss. Die Statistik gibt weiterhin an: 46% der behinderten Männer zwischen 15 und 25 Jahren und 43% der behinderten Frauen in diesem Alter sind in irgendeiner Form erwerbstätig. Der Beginn der Berufstätigkeit ‒ egal, ob auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt, in einer Werkstatt für behinderte Menschen oder an einem Berufsbildungswerk ‒ ist eine große Chance für die Weiterentwicklung der Persönlichkeit gerade von Menschen, die mit einer Behinderung leben. Dennoch ist die Situation für viele schwierig. Der Übergang fällt ihnen schwer, denn nach dem Schulabschluss ist für die meisten Jugendlichen Schluss mit dem Maß an Integration, das sie vielleicht bis dahin erfahren haben. Gerade Jugendliche mit einer seelischen Behinderung fühlen sich jetzt »wie ausgesetzt«, denn es gibt kaum Ausbildungsplätze
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für sie. Viele greifen in ihrem Frust zu ungeeigneten Mitteln wie Drogen, Alkohol und delinquentem Verhalten. Jugendliche mit einer geistigen Behinderung besuchen nach der Werkstufe die Werkstatt für behinderte Menschen. Dort treffen sie auf Meister, Betreuer, Küchenpersonal. Kontakte zu nichtbehinderten Altersgenossen haben sie kaum. Denn viele werden auch in dieser Lebensphase mit dem Bus zur Werkstatt gefahren und von dort zurück ins Wohnheim oder nach Hause gebracht. Die Gelegenheit zu Freundschaften und Flirts am Arbeitsplatz ‒ bei Nichtbehinderten nach wie vor das größte Eheanbahnungsareal ‒ nutzen Menschen mit Behinderung auch. Doch was in der Werkstatt oder in der Firma an Zuneigung keimt, kann nach Feierabend nicht weiter wachsen, weil es kaum möglich ist, sich in der Freizeit ohne Unterstützung zu verabreden. Passende Ausbildungs- und Arbeitsplätze fehlen. Das Dilemma
mancher Behinderter ist: Sie sind zu fit für die Arbeit in der WfbM (Werkstatt für behinderte Menschen), aber nicht fit genug für den Arbeitsmarkt. Es fällt ihnen schwer, einen passenden Ausbildungs- und Arbeitsplatz zu finden. Was viele nicht wissen: Auf Antrag kann es Prüfungserleichterungen geben (z. B. Zeitverlängerung und angemessene Pausen). Blinde und Sehbehinderte brauchen ihre ganz bestimmten Ordnungssysteme, um sich zurecht zu finden. Das heißt, Assistenzkräfte müssen sie zumindest anfangs begleiten und unterstützen. Das gilt auch für körperlich behinderte Jugendliche. Staat und Arbeitgeber nehmen die angeblich leeren Kassen zum Anlass, Hilfen zu kürzen. So wurden z. B. die Förderlehrgänge auf 10 Monate geschrumpft. Dadurch haben die Jugendlichen am Ende der Maßnahme kein Recht auf Arbeitslosengeld und fallen unter die Sozialhilfe. Viele Betriebe zahlen lieber die Ausgleichsabgabe in Höhe von bis zu 260 Euro pro Monat, statt die vorgeschriebenen 5% der Firmen-Arbeitsplätzen (bei Betrieben ab 20 Mitarbeitern) mit schwerbehinderten Menschen zu besetzen. Auszug aus einem Brief an eine Psychologin: Hallo, Frau xxx! Mir geht es gut. Ich hatte xxx die Prüfung geschaft. Dann war ich ein Jahr arbeitslos und dann war ich ein Jahr bei xxx bescheftigt. Dann wollte ich das Jahr bei xxx verlängern. Ich war als Aushilfe bei xxx beschäftigt. Aber dann haben die mir die Unterlagen zugeschigt bekommen. Jezt geht es wieder los mit Bewerbung zu schreiben. Ich hatte in XXX als Zierpflanzengärtnerin gelernt. Es hat mir auch sehr viel Spaß gemacht. Aber in den Beruf finde ich noch nichts mehr. Ich möchte halt schon in den Beruf drinbleiben. Mir hat ja auch bei XXX so gut gefallen. Das erste mal 1/2 Jahr dann haben wir noch zweimal verlängert für 6 Monaten. Dann wollten die ja nicht mehr verlängern. Sonnst hätten sie mich danach vest einstellen sollen. Aber die Verantwortung waren denen so groß. So sitze ich da heim rum. Aber ich helfe meine Eltern ja daheim noch. Ich hatte meiner Freundin noch Babysider gemacht. Jezt mache ich noch bei meiner Schwester Anja Babysider. Die hat ein Bub bekommen. Aber zu früh 5 Wochen. Nochmalerweiße erst im Arbril. Abber alles zund und munder. Er hatte noch Gelbsucht gehabt und hat schlät getrungen. Aber jezt tringt er ganz gut.
Durch die Persönlichkeit des Jugendlichen Elternhaus, Kindergarten, Schule haben auf den Heranwachsenden eingewirkt. In seiner Entwicklung kann manches schief gelaufen sein, wodurch die Teilhabe am öffentlichen Leben beeinträchtigt wird.
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Kapitel 11 · Behinderte Jugendliche
Fehlende Akzeptanz der Behinderung. Häufig kommen Jugend-
liche mit der Tatsache, dass ihre Möglichkeiten eingeschränkt sind, nur schwer zurecht. Sie leugnen die Behinderung. Manche lehnen nicht nur die eigene Behinderung, sondern auch andere behinderte Menschen ab und wollen keinen Umgang mit ihnen. Paradoxerweise ist dieses Verhalten häufig bei Jugendlichen anzutreffen, die integrativ aufgewachsen sind. Sie hatten im Laufe ihres Lebens zu wenig Identifikationsmöglichkeiten mit behinderten Menschen. So leugnen sie die Zugehörigkeit zu einer Minderheitengruppe total. Das kann zu schroffem Zurückweisen aller Hilfsangebote führen, was wiederum den gutwilligen Hilfsbereiten brüskiert. Kränkung durch Mitleid. Was viele Nichtbehinderte nicht nach-
vollziehen können: Die meisten Behinderten fühlen sich in ihrem Körper zu Hause. Sie haben Kompensationsstrategien entwickelt und empfinden sich dadurch viel weniger defizitär, als ihre Eltern, Lehrer und andere Mitmenschen annehmen. Auch viele Jugendliche mit einer geistigen Behinderung erleben sich als »normal« und sie wollen so behandelt werden. Ihr Selbstkonzept ist intakt. Mitleid kränkt sie. So entstehen Missverständnisse, die die Integration erschweren.
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Erlernte Hilflosigkeit. Manche Jugendliche mit Behinderung sind gewöhnt, dass fast alles für sie erledigt wird. Eltern öffnen ihnen den Joghurtbecher und machen ihnen den Reißverschluss am Anorak zu, obwohl Sohn oder Tochter das selbst könnten, auch wenn es etwas länger dauert. Daraus entwickelt sich oft ein Rundum-Versorgungsanspruch und auch die sog. erlernte Inkompetenz: »Ich kann das nicht, ich bin ja behindert, also mach du das!« Auf diese Weise erhöht sich der Hilfebedarf ständig statt mit dem Erwachsen werden abzunehmen.
rechter Diagnostik eine umfangreiche Beratung voraus. Alle an dieser Entscheidung Beteiligten, wie z. B. Fachärzte, Schulpsychologischer Dienst, Schulbehörden, aufnehmende Schulen und insbesondere die Eltern, sollen im Rahmen eines intensiven Beratungsprozesses den für alle tragfähigen Bildungsweg suchen. Der Beratungs- und Entscheidungsprozess darf mit Beginn des Schulbesuchs nicht abgeschlossen sein. Er muss immer dann korrigiert werden, wenn der individuelle Förderbedarf des Kindes bzw. Jugendlichen dies erfordert oder ermöglicht. Unterstützung der Geschwister. Sie sind für viele behinderte Kinder und Jugendliche Spielgefährte, Freund, Vorbild, aber auch eine Art Ko-Therapeut, der Draht zur »normalen« Außenwelt und damit eine wichtige Integrationshilfe. Viele Geschwister sind durch die alltäglichen Aufgaben überfordert, zumal sie durch das Aufwachsen mit einer behinderten Schwester oder einem Bruder deutlich weniger Zugang zu den belasteten Eltern haben. Freizeiten und Seminare können die Geschwister stärken und sie Lösungsmöglichkeiten für manche ihrer Probleme finden lassenMehr attraktive Angebote für die Freizeit, Ausbildung und Arbeit. Dabei ist auch ‒ und immer mehr ‒ Privatinitiative gefragt.
Literatur Eckert A (2002) Eltern behinderter Kinder und Fachleute. Erfahrungen, Bedürfnisse und Chancen. Klinkhardt, Bad Heilbrunn/Obb. Theunissen G, Plaute W, Garlipp B, Westling D (1997) Wünsche von Eltern behinderter und entwicklungsverzögerter Kinder in den neuen Bundesländern – eine Studie aus Sachsen-Anhalt. In: Die neue Sonderschule 1997, 2, 115–129 Wilken U, Jeltsch-Schudel B (Hrsg.) (2003) Eltern behinderter Kinder. Empowerment – Kooperation – Beratung. Kohlhammer, Stuttgart
Provokantes Benehmen. Manche Jugendliche nehmen ihre Be-
hinderung als Freifahrtschein für schlechtes Benehmen. Sie provozieren durch aufsässiges Verhalten, starken Egoismus, immer neuen Forderungen. Und es gibt noch weitere Selbstschutzmechanismen dieser Art, z. B. Rückzug und Passivität ‒ alles Verhaltensformen, die der Integration im Wege stehen. 11.1.2 Wodurch Integration erleichtert wird Bessere Vernetzung aller Hilfen. Koordination und Kooperation
der möglichst ortsnahen Förderung sollten ausgebaut werden, damit bedarfsgerechte ambulante, teilstationäre und stationäre, kurzzeitige und langfristige Unterstützungsangebote zur Verfügung stehen. Je passgenauer ein Unterstützungsnetz gewebt ist, umso eher können Familien ihre Aufgaben bewältigen.
11.2
Psychosoziale Probleme
M. Sanna 11.2.1 Behinderte Jugendliche in der Pubertät In der Pubertät findet die Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper und der damit verbundenen neuen Gefühlswelt statt. Hinzu kommen das Finden der eigenen Geschlechtsidentität sowie das Erfahren gesellschaftlicher Grenzen und die Abnabelung von den Eltern. 11.2.2 Die Pubertät bei körperbehinderten
Jugendlichen: Körper – Gefühl – Grenzen
Empowerment für Eltern. Für Qualität und Erfolg der Förderung
behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder und Jugendlicher ist eine konstruktive und vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen Schule, Fachdiensten, Ärzten und Eltern von entscheidender Bedeutung. Allzu häufig werden Eltern ausgeklammert, weil sie von den Fachleuten für nicht kompetent gehalten werden. Dabei wissen gerade Eltern oft sehr gut, auf welche Weise man ihren Kindern helfen kann. Vielfältige Fördermöglichkeiten. Die Entscheidung über die individuell richtige schulische Laufbahn setzt auf der Basis fachge-
In der Pubertät haben viele Jugendliche massive Schwierigkeiten, da ihnen alleine durch die Medien ein perfektes männliches bzw. weibliches Körperbild präsentiert wird, mit dem sie nicht mithalten können. Jugendliche erleben sich als zu dick, zu wenig muskulös, zu unproportioniert usw. Ein körperbehinderter Jugendlicher wird darüber hinaus mit Therapien (Krankengymnastik, Logopädie, Ergotherapie usw.) konfrontiert, wo ihm vermittelt wird, dass sein Körper »Defizite« aufweist, an denen er arbeiten muss, demnach nicht dem Bild der »Normalität« entspricht, von der »Perfektion« ganz zu schweigen. Die Botschaft, die körperbe-
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hinderte Jugendliche erhalten, besteht darin, dass ihr Körper nicht gut genug ist, dass sie etwas verbessern müssen, dass es nicht in Ordnung ist, so wie sie sind. Es ist sehr schwer für behinderte Jugendliche mit dieser Botschaft ein entsprechendes Selbstwertgefühl und somit ihre eigene Sexualität zu entwickeln. Sie selber erleben sich selten als sexuell attraktiv, schön, begehrenswert, eher als »unattraktiv« und »defekt«, was nicht selten zu massiven Minderwertigkeitsgefühlen führt. ! Im Jugendalter verschlechtern sich viele Behinderungsbilder, was zur Folge hat, dass therapeutische Interventionen (z. B. Physiotherapie) verstärkt vorgenommen werden müssen, nicht so sehr mit dem Ziel der »Verbesserung«, sondern um den erworbenen Stand zu halten.
Der Druck von außen, meistens durch die Eltern und Therapeuten, setzt in dieser Zeit verstärkt ein. Eltern haben für die Förderung ihrer Kinder in der Regel sehr viel Zeit und Energie aufgebracht und sehen dies nun in Gefahr. Gleichzeitig sind die Jugendlichen »therapiemüde« und auch frustriert und suchen ein Stück »Normalität«. Die Folge ist, dass an dieser Stelle sehr viele Konflikte entstehen, welche aber auf der anderen Seite auch ein gutes Stück zur Behinderungsverarbeitung und zur Ablösung vom Elternhaus beitragen. Bei Behinderungsbilder, die progressiv verlaufen, wie z. B. der Muskeldystrophie, wird diese Zeit mit einer deutlichen körperlichen Verschlechterung begleitet und Themen wie Teilbeatmung, Luftröhrenschnitt und die Auseinandersetzung mit dem eigenen Tod überschatten diese Zeit – auch die bisher mögliche eigene sexuelle Befriedigung durch die Onanie ist oftmals nicht mehr gegeben. ! Jugendliche, die auf Hilfestellungen bei der Körperpflege angewiesen sind, erfahren, dass ihr Körper »öffentlich« ist.
Sie sind es gewöhnt, dass ihr Körper von anderen berührt wird, als »Materie« gesehen wird und sie nicht selbstbestimmt über den Körperkontakt entscheiden können. Demzufolge werden körperliche Veränderungen nicht nur von ihnen, sondern auch von den Pflegepersonen wahrgenommen, wobei damit sehr unterschiedlich umgegangen wird. In den meisten Fällen wird dies zwar registriert, dem aber keine große Beachtung geschenkt, d. h. es wird kein Versuch unternommen, den Intimbereich zu schützen, bzw. den Jugendlichen auch die Möglichkeit zu geben, ihn entsprechend zu entwickeln. Bei sehr vielen Behinderungsbildern wird im Jugendalter die Körperbehinderung für Außenstehende sichtbarer. Wenn ein körperbehindertes Kind im Buggy gefahren wird, nehmen Mitmenschen die Behinderung in der Form nicht wahr, Kindern gegenüber, die sich dann im Rollstuhl befinden oder in ihre Mobilität sichtbar eingeschränkt sind, wird meist mit Mitleid reagiert, wenn sich dann diese Kinder zu Jugendlichen, jungen Erwachsenen entwickeln, erfahren sie das ganze Spektrum menschlicher Reaktionen – von hilfsbereit bis hin zur absoluten Ablehnung in Form von wüster Beschimpfung. Die Behinderungsverarbeitung wird in dieser Zeit voll in Gang gesetzt. Finde ich einen Partner, eine Partnerin? Bin ich attraktiv genug? Bin ich für sie/ihn wirklich ein Mann/eine Frau? Entspreche ich eigentlich dem Bild eines Mannes/einer Frau? Was kann ich eigentlich? Wie kann mein Leben aussehen? Muss ich immer eine Person, bzw. einen Helfer um mich herum haben? Kann ich eine Familie gründen und wie sieht dann der Alltag aus? Welche beruflichen Perspektiven habe ich? Besteht mein Arbeits-
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leben daraus, in Behindertenwerkstätten tätig zu sein oder kann ich einen Beruf erlernen und finde ich dann auch einen Arbeitsplatz? Kann ich ein selbstbestimmtes Leben unabhängig von einer Institution leben? Habe ich die Möglichkeit? Wenn ja, wie sieht diese aus? Das sind die Fragen, die in dieser Zeit sehr zentral werden. In einer Zeit, wo es immer unklarere Orientierungshilfen gibt und gesellschaftliche Strukturen im Wandel sich befinden, kommen diese behinderungsbedingten Fragestellungen erschwerend hinzu. Oftmals erleben sich Jugendliche orientierungslos und maßlos überfordert. Es ist besonders wichtig sie in dieser Zeit auf ihrem Weg zu begleiten und ihnen bewusst zu machen, dass sie Fähigkeiten und Fertigkeiten besitzen, die sie liebenswert und einzigartig machen und nicht alles auf die Körperlichkeit ausgerichtet, bzw. reduziert ist. 11.2.3 Ablösung vom Elternhaus Die Zeit der Pubertät ist für Eltern und Jugendliche eine sehr schwierige Zeit. Die Jugendliche erleben sich 2 Jahre älter als sie sind, die Eltern behandeln sie in der Regel 2 Jahre jünger, demnach besteht eine Diskrepanz von 4 Jahren. Bei körperbehinderten Jugendlichen ist diese Diskrepanz, je nach Einschränkung der Selbständigkeit und Pflegeabhängigkeit noch größer. Eltern fällt es in der Regel sehr schwer anzuerkennen, dass ihre Kinder nun ins Erwachsenenalter kommen, da sie vor allem bei schwerstpflegebedürftigen Jugendlichen die volle Versorgung leisten müssen und somit die normale Ablösung in der Form gar nicht gewährleistet ist. Nichtbehinderte Jugendliche können ihren Intimbereich entwickeln, schließen sich im Bad ein, wenn sie auf die Toilette gehen oder sich im Intimbereich pflegen, einem pflegebedürftigen behinderten Menschen ist dies nicht möglich, er ist auf die Hilfe angewiesen und auch bei der körperlichen Veränderung sind die Eltern nicht abzugrenzen. Eltern haben sehr oft über die Sorge um ihr Kind eine besonders behütende und fürsorgliche Haltung eingenommen was die Abgrenzung des Jugendlichen zu den Eltern sehr erschwert. Hinzu kommt oftmals die pflegerische Abhängigkeit, die eine Ablösung auch sehr schwierig macht. ! Viele Jugendliche haben große Schwierigkeiten, in Widerstand mit ihren Eltern zu gehen, da sie befürchten, dass sich dies dann in der Pflege durch eine »unsanfte« Behandlung« widerspiegelt.
Darüber hinaus ist es ihnen auf Grund ihrer körperlichen Einschränkung oft nicht möglich, Grenzerfahrungen zu machen. Welche Möglichkeiten hat z. B. ein Jugendlicher mit dem Behinderungsbild der Zerebralparese mit Athetose in Konfliktsituationen mit den Eltern, der auf einen Rollstuhl angewiesen ist und sich nur langsam und sehr undeutlich artikulieren kann? Ein nichtbehinderter Jugendlicher erprobt das ganze Handlungsspektrum – vom argumentativen Kontern, bis hin zum Wegdrehen oder Verlassen des Zimmers, manchmal fliegt dabei sogar die Tür ins Schloss. Welche Möglichkeiten hat nun ein behinderter Jugendlicher? Bis der Jugendliche im Eifer des Gefechts einen Satz formuliert hat, haben die Eltern bereits verbal gesiegt – das Zimmer verlassen kann er nicht – er ist demnach gezwungen alles über sich ergehen zu lassen – die Möglichkeiten, die er hat, sind entweder zu schweigen und zu resignieren oder zu schreien und wild um
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Kapitel 11 · Behinderte Jugendliche
sich zu schlagen. Oft wird bei der zweitgenannten Reaktion dann seitens der Eltern das Zimmer verlassen, weil sie es nicht mehr ertragen und die Tür geschlossen ‒ für den behinderten Jugendlichen eine weitere Niederlage. Das Ausloten von Grenzen, demnach neue Erfahrungen und Handlungsspielräume zu entwickeln, ist hier nur sehr bedingt möglich. Solche Situationen wirken sich sicher nicht begünstigend auf die Entwicklung eines guten Selbstwertgefühls aus. Außerdem können behinderte Jugendliche auf Grund der ständigen Aufsicht und Anleitung der Eltern ihre eigenen Fähigkeiten und Fertigkeiten nur sehr schwer selbst erfahren und entfalten. Viele Eltern, vor allem Mütter haben im Laufe der Jahre sehr viel Sorge und Zeit für ihre Kinder aufbringen müssen und ihre eigenen Lebensentwürfe auf Grund von Klinikaufenthalte, Arztbesuche, Frühförderung, Therapien usw. zurückgestellt, was oftmals dazu führt, dass das behinderte Kind zum zentralen Lebensinhalt geworden ist. Demzufolge fällt es dann den Eltern, speziell den Müttern besonders schwer anzuerkennen, dass sich ihr Kind zum Jugendlichen entwickelt, sich loslöst und nun anfängt sein eigenes Leben zu leben. Körperbehinderte Jugendliche, die den Vergleich zu ihren nichtbehinderten Geschwistern haben, fühlen sich sehr oft benachteiligt und merken vor allem im Bereich »Eigenständiges Handeln« eine unterschiedliche Handhabe der Eltern. Sehr oft wird ihnen weniger zugetraut als ihren nichtbehinderten Geschwistern, ihnen weniger Freiräume eingeräumt, sei es z. B. das alleinige Fortbewegen oder auch das Nutzen der öffentlichen Verkehrsmittel nach einem entsprechenden Training. Die Fürsorge der Eltern kommt auch hier massiv zum Tragen. Demnach erhalten körperbehinderte Jugendliche auch im lebenspraktischen Bereich weniger Möglichkeiten, eigene Erfahrungen zu sammeln. 11.2.4 Sexualität – ein Grundbedürfnis Im Jugendalter wird auch das Verlangen nach Sexualität immer stärker. Für Eltern ist dies ebenfalls eine neue Situation, wenn sie merken, dass ihre Kinder sexuelle Bedürfnisse haben. Bei einigen Behinderungsbildern sind die Jugendlichen nicht in der Lage, eigene körperliche sexuelle Erfahrungen zu sammeln, die Onanie ist z. B. oftmals nicht möglich, da die Arme zu kurz sind oder die Bewegungen nicht gezielt ausgeführt werden können. Wenn es um das Thema Sexualität geht, stellt sich natürlich für die Jugendlichen die Frage, in welcher Form sie die Sexualität leben können. Ist es ihnen möglich, auf Grund der körperlichen Einschränkung zu onanieren bzw. mit einem anderen Menschen Sex zu haben – finden sie überhaupt jemanden? Benötigen sie Hilfe, demnach eine »Assistenz« beim Beischlaf? Ist es überhaupt möglich? Gibt es Hilfsmittel, die sie verwenden können? Können sie sich vorstellen, eine weitere Person beim Beischlaf dabei zu haben, jemand der Hilfestellung gibt, wenn es bei ihnen als Paar auf Grund der körperlichen Einschränkungen alleine nicht möglich ist? Das sind die Fragen, die sich grundsätzlich stellen, wobei bei vielen Behinderungsbildern sich die Jugendlichen erst einmal Gedanken machen müssen, wie sie jemanden außerhalb der Schule kennen lernen können – es ist nicht nur ein organisatorisches, sondern auch ein zeitliches Problem, da der Alltag von behinderten Jugendlichen in der Regel sehr strukturiert und ver-
plant ist und sich darüber hinaus dann die Frage stellt, wie sie es dann schaffen könnten, mit dem Freund, der Freundin alleine zu sein, ohne dass eine Bezugsperson präsent ist ‒ alleine zu sein, sich kennen zu lernen, sich zu berühren, zu küssen, den anderen zu erfahren.
11.3
Medizinische Probleme am Beispiel Körperbehinderung
A. Ermert 11.3.1 Definition der Körperbehinderung Unter den Begriff »Körperbehinderung« fallen alle Formen körperlicher Beeinträchtigung unterschiedlicher Organsysteme (Muskulatur, Herz, Lunge, Blutgerinnung usw.), die von der Altersnorm abweichen und deshalb aktuell, vorübergehend oder auf Dauer bestehen. Körperbehinderte »brauchen mindestens 6 Monate lang Hilfe, die sich vom Hilfsbedarf von Menschen in vergleichbarer biographischer Situation qualitativ und/oder quantitativ unterscheidet« (Schmidt-Ohlemann 1990). Im engeren Sinne werden unter dem Begriff Störungen des Stütz- und Bewegungsapparates alle Schweregrade von motorischen Teilleistungsschwächen bis hin zu tetraplegischen und apallischen Behinderungsformen zusammengefasst. Diese können mit intellektuellen Leistungseinschränkungen, Störungen der Sinnesorgane und psychischen Beeinträchtigungen verbunden sein. Die Abgrenzung der körperlichen Behinderung zur geistigen oder sprachlichen Behinderung sowie zu Normvarianten kann praktische Schwierigkeiten (z. B. bei der Schulwahl, bei der sozialrechtlichen Bewertung usw.) machen. Für die Zuordnung zu dem Personenkreis werden außerdem gesetzliche Vorschriften des Entschädigungs- und Schwerbehindertenrechts, sowie Vorschriften und Bestimmungen herangezogen, nach denen Formen des Nachteilsausgleichs definiert sind (7 Anhaltspunkte des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales 1996). Körperbehinderungen sind häufig mit einer Sekundärbehinderung verbunden. Besonders schwerwiegend wirken sich sichtbare Behinderungsmerkmale (z. B. physiognomische Andersartigkeit, abweichendes Verhalten oder Leistungsdefizite) aus, die als Stigma wirken, Vorurteile auslösen oder verstärken und so die Teilhabe am Gemeinschaftsleben erschweren oder auch unmöglich machen [1]. Die Abgrenzung einer Körperbehinderung von einer chronischen Erkrankung ist unbefriedigend, wenn festgestellt wird, dass Behinderung keine Krankheit ist (Eser 1989). Unter rehabilitativen Gesichtspunkten ist der Personenkreis an den Ursachen und Auswirkungen der vielfältigen Krankheitsformen anhand der WHO-Begriffe, konkreter zu beschreiben. Durch physiologische und/oder anatomische Schädigungen (Impairments), kommt es zur Beeinträchtigung von Funktionen und Aktivitäten (Disabilities), was für die Betroffenen mit Benachteiligungen in sozialer Interaktion im Vergleich zu Nicht-Betroffenen (Handicaps) verbunden ist.
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Häufige Ursachen (Impairments) für Körperbehinderungen 5 Zerebralparesen (nach Sauerstoffmangel, entzündlichen Gehirnerkrankungen, Schädel-Hirn-Traumen, Tumoren, zerebralen Fehlbildungssyndromen mit Mehrfachbehinderung) 5 Dysraphien (Spina bifida mit Folgezuständen) 5 Querschnittlähmungen durch Traumen, Tumoren 5 Schäden peripherer Nerven (geburtstraumatische Lähmungen, Poliomyelitis) 5 Muskeldystrophien u. a. (neuro-)muskuläre Erkrankungen 5 Entzündlich-rheumatische Erkrankungen 5 Stoffwechselkrankheiten, Blutgerinnungsstörungen mit Auswirkungen auf die Skelettmuskulatur 5 Gelenkfehlbildungen und schwere Arthrosen nach fehlgeschlagenen operativen Eingriffen 5 Amputationen 5 Fehlbildungen des Skeletts (Dysmelien, Skoliosen)
Wichtige Funktionseinschränkungen (Disabilities) durch Körperbehinderungen 5 Einschränkungen der Grobmotorik (Stehen, Gehen, Sitzen, Tragen) 5 Beschränkungen der Handfunktion und der Feinmotorik: Greifen, Fassen, Halten. Störungen der Handsensibilität, der Hand-Augen-Koordination 5 Störungen der Mund-Rachenmuskulatur: Essstörungen, Probleme mit dem Kauen und Schlucken 5 Neuropsychologische Störungen des Gedächtnisses, der Konzentration, der Motivation, des Antriebs, kognitiver Funktionen, der affektiven Resonanz, Orientierung, Einschränkungen der Fähigkeit zur Planung und des Handelns, Schwierigkeiten, sich selbst zu beschäftigen 5 Probleme der Kommunikation: Dys-/Anarthrie, Dys-/ Aphasie 5 Beeinträchtigungen durch zentrale und periphere Atemfunktionsstörungen bis hin zur respiratorischen Insuffizienz und Beatmungsindikation 5 Störungen der Darmfunktion mit gastroösophagealem Reflux (mit Aspiration, PEG-Sonde), Obstipation, Entleerungsstörungen und mangelnde Entleerungskontrolle mit Inkontinenz 5 Mangelnde Kontrolle der Urinausscheidung mit Inkontinenz, Harntransportstörungen u. U. mit künstlicher Harnableitung 5 Einschränkungen des Sexuallebens 5 Vegetative Einschränkungen: Überschießende Schweißbildung, Hypersalivation 5 Sensorische Einschränkungen: des Sehens, des Hörens, des Riechens und Tastens 5 Schmerzen oder andere körperliche Beschwerden 5 Abweichungen vom üblichen Erscheinungsbild: Entstellung der körperlichen des Gesichtes und der körperlichen Gestalt 5 Einschränkungen bei den Aktivitäten des täglichen Lebens
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5 Pflegeabhängigkeit 5 Angewiesensein auf Hilfsmittel (Orthesen, Mobilitätshilfen, Sehhilfen, Schreibhilfen) 5 Angewiesensein auf ständige ärztliche diagnostische und therapeutische Überwachung 5 Regelmäßiger z. B. medikamentöser, operativer, physiotherapeutischer, logopädischer, psychotherapeutischer Therapiebedarf 5 Schwierigkeiten bei der persönlichen Bewältigung der Behinderung
Soziale Beeinträchtigungen (Handycaps) 5 Beeinträchtigung des Orientierungsvermögens, hier: die Fähigkeit, sich in seiner unmittelbaren Umgebung zurechtzufinden 5 Beeinträchtigung der körperlichen Unabhängigkeit, hier: der Umstand, dass ein normales und effektives Leben nur durch Hilfsmittel, Vorrichtungen, Anpassung an die Umgebung und die Hilfe anderer möglich ist 5 Beeinträchtigung der Mobilität: sich in seiner Umgebung ausreichend zu bewegen 5 Beeinträchtigung der Beschäftigungsfähigkeit, d. h. die Zeit in der für das Geschlecht, Alter und Kultur üblichen Weise zu verbringen 5 Beeinträchtigung der sozialen Integration: soziale Beziehungen aufzubauen, sich an ihnen zu beteiligen und sie aufrecht zu halten 5 Beeinträchtigung der wirtschaftlichen Eigenständigkeit
! Die Rehabilitation körperbehinderter Menschen ist im Vergleich zu anderen Behinderungsformen durch eine außergewöhnlich große Zahl von unterschiedlichen, oft lebensnotwendigen Maßnahmen gekennzeichnet und deshalb als außergewöhnlich komplex zu bezeichnen. Dies gilt in besonderem Maße während der Wachstumsphase, also auch für das Jugendalter.
11.3.2 Jugendalter – eine sensible Phase Zwar werden zum Jugendalter nur wenige Jahre ‒ nämlich das Alter zwischen dem 14. und 18. Lebensjahr gezählt. Aber diese wenigen Jahre sind durch eine hohe körperliche und psychische Entwicklungsdynamik gekennzeichnet, was diesen Lebensabschnitt zu einer besonderen, einer sensiblen Entwicklungsphase macht. Sie ist sowohl durch wesentliche Entwicklungsfortschritte wie auch durch eine erhöhte Verletzlichkeit gekennzeichnet. Die normale Entwicklung kann bei körperbehinderten Jugendlichen ‒ abgesehen von den Beeinträchtigungen durch Behinderungsmerkmale ‒ zusätzlich belastet sein, 4 durch eine Vorgeschichte mit häufigen Krankenhausaufenthalten, operativen Eingriffen, Trennungen und (oft) erzwungenen Therapien. 4 durch volle Krankheitseinsicht bei vorwiegend oder ausschließlich körperlichen Behinderungsformen, was dem Jugendlichen eine zusätzliche psychische Bewältigungsarbeit auferlegt.
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Kapitel 11 · Behinderte Jugendliche
4 durch den alterstypischen, ständig wachsenden Wunsch nach persönlicher Autonomie, der oft in erheblichem Widerspruch zu realistischen mentalen und praktischen Fähigkeiten steht. Hierdurch bestehen oft altersuntypische pflegerische und persönliche Abhängigkeiten von den Eltern, was das Erreichen der persönlichen Autonomie erschwert.
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Entwicklungsspezifische Komplikationen Mit dem pubertären Wachstumsschub können körperliche Behinderungsmerkmale, z. B. kontrakte Muskel-/Sehnenverkürzungen oder Wirbelsäulenfehlstellungen wesentlich zunehmen. Deshalb sind mit Beginn des Wachstumsschubes die Kontrolluntersuchungen zu verdichten und die Hilfsmittelversorgung dem Längenwachstum regelmäßig anzupassen. Den Eltern sollte eine Wachstumskurve zur Verfügung stehen, um den Beginn des beschleunigten Wachstums an der Veränderung der Spannweite zu erkennen. Bereits vor Einsetzen der Pubertät beginnt eine (physiologische) Gewichtszunahme (präpubertäre Füllungsphase), durch die in Verbindung mit den Mobilitätsbeschränkungen und einer zusätzlichen (ebenfalls altertypischen, aber oft behinderungsbedingt verstärkten) Antriebsschwäche eine abnorme Zunahme des Körpergewichtes entstehen kann (Ermert 2003). Diese zusätzliche Gewichtszunahme kann jahrelange physiotherapeutische und orthetische Bemühungen zur Ermöglichung und Erhaltung der Mobilität zurückwerfen oder zunichte machen. Deshalb gehört die regelmäßige Kontrolle des Körpergewichtes (bzw. des BMI) zum Bestandteil jeder ärztlichen Untersuchung. Bereits erste Abweichungen von der normalen Gewichtsentwicklung erfordern unverzüglich Gegenmaßnahmen. Denn die Verminderung eines einmal entstandenen Übergewichtes ist kaum durchzusetzen und es gelingt trotz konsequenter Beachtung sinnvoller Regeln bestenfalls, 5% des Körpergewichtes auf Dauer zu vermindern. Ein realistisches Ziel ist es, das Gewicht während des Wachstums durch eine kalorische Beschränkung und regelmäßige körperliche Aktivität (Ellrott u. Pudel 1998), solange konstant zu halten, bis der Normbereich des Längen-/Gewichtsverhältnisses (bzw. des BMI) erreicht ist. Untergewicht kann vor allem als Folge einer erschwerten Nahrungsaufnahme entstehen. Eine spastische Mundmuskulatur mit verstärktem Würgreflex, aber auch bei lähmungsbedingten Schluckstörungen können die Mahlzeiten für den Betroffenen und den Betreuer zu einer erheblichen zeitlichen und emotionalen Belastung machen. Hinzu kommt die Gefährdung durch Nahrungsaspiration und hiermit verbundene Bronchitiden und Bronchopneumonien. Eine wesentliche Erleichterung ergab sich durch die Einführung der perkutanen endoskopischen Gastrostomie (PEG-Sonde). Diese Sonde ermöglicht eine ausreichende Flüssigkeitsgabe, eine kalorisch ausgeglichene Ernährung und eine wesentliche pflegerische Entspannung. Zeitliche Verschiebungen des Pubertätsverlaufes im Sinne einer Pubertas präcox oder Pubertas tarda sind besonders bei dienzephalen Störungen (z. B. bei Hydrozephalus unterschiedlicher Genese) zu beachten. Von klinischer Bedeutung ist die Pubertas präcox (Beginn der Pubertät bei Mädchen vor dem 8. Lebensjahr, bei Knaben vor dem 10. Lebensjahr), die ggf. durch eine hormonelle Therapie zu beeinflussen, d. h. zu verzögern ist. Die frühnormale oder verspätet einsetzende Pubertät hingegen ist nach einer orientierenden Diagnostik von Fehlbildungen der primären Geschlechtsorgane (Fehlbildungen der Ovarien oder des Uterus bzw. Ausschluss von hormonell bzw. operativ zu korrigie-
renden Hodendystopien) nur ausnahmsweise behandlungsbedürftig. Nicht selten löst die Sexualentwicklung ‒ vor allem bei Mädchen ‒ bei den Eltern und Betreuern Unruhe und Bedenken wegen der Gefährdung durch Missbrauch oder unerwünschte Schwangerschaft aus. Diese Befürchtungen können durch eine eingehende Beratung über die unterschiedlichen Möglichkeiten der hormonellen Kontrazeption meist beseitigt oder wenigstens so vermindert werden, das die früher häufig geforderte Sterilisation junger Frauen zu einer Ausnahmeindikation geworden ist (Eser 1989, S. 1111; 7 Abschn. 38.2). Die Sterilisation behinderter Jugendlicher ist heute gesetzlich grundsätzlich untersagt. Wichtig ist die Besprechung der sexuellen Entwicklung und der individuellen Möglichkeiten und Einschränkungen mit den Jugendlichen selbst im persönlichen Gespräch oder in kleinen Gruppen, nicht zuletzt auch zur Vermittlung einer angemessenen, bei den Betroffenen oft recht schlicht oder grob entwickelten Ausdrucksweise. Zu beachten ist, dass bei sensiblen (sakral und höher gelegenen) Störungen erhebliche Einschränkungen der sexuellen Wahrnehmung und genitalen Funktionen bestehen können. Die sich entwickelnden Vorstellungen von partnerschaftlichen Beziehungen sollten deshalb ‒ wenn sie zur Diskussion stehen ‒ rechtzeitig durch ein erweitertes Spektrum von Möglichkeiten partnerschaftlicher Zuwendung attraktiv gemacht werden. Bedauerlich ist, dass viele Jugendliche körperliche Kontakte vorwiegend (und leider häufig sogar ausschließlich) im Rahmen einer Krankengymnastik erlebt haben (Ermert 2003) und deshalb eher zurückhaltend gegenüber partnerschaftlichen Körperkontakten sind. ! Störungen der Kommunikation täuschen bei zerebralparetisch veränderter Sprachmuskulatur und eingeschränkter Gestik überdurchschnittlich häufig eine verminderte Intelligenz vor. Durch diese Fehleinschätzung vergrößert sich bei den Betroffenen die psychische Belastung bis zur Verzweiflung oder sie endet in einer resignierten Deprivation.
Bei allen Formen von Sprachbehinderung sind neben einer neuropsychologischen Diagnostik die heute zur Verfügung stehenden elektronischen Kommunikationshilfen durch eine qualifizierte Beratungsstelle für Kommunikationshilfen individuell zu ermitteln und anzupassen. Es ist oft erstaunlich, welche intellektuellen Fähigkeiten mit technischen Mitteln entdeckt und mobilisiert werden können. Die dem Jugendalter ohnehin eigene Antriebsstörung kann bei den Erschwernissen, die eine Körperbehinderung mit sich bringt, erheblich verstärkt sein und eine Intensivierung der Beaufsichtigung und Animation erforderlich machen. Selbstständigkeit: Die möglichst weitgehende Unabhängigkeit von Fremdhilfe ist eine der wichtigsten Voraussetzungen für das Erreichen eines eigenständigen Lebens. Zu bedenken ist, dass die Selbstständigkeitsentwicklung im Kleinkindalter begonnen haben muss. Die regelmäßigen orientierenden Überprüfung der Selbstständigkeitsmerkmale (z. B. mit dem DENVER-Screening) [2] deckt bereits im Kindesalter Fehlentwicklungen eindeutig auf. Zwar ist das Screening nur bis zum Abschluss des 6. Lebensjahres standardisiert, aber viele körperlich behinderte Jugendliche erreichen die im Screening vorgegebenen Entwicklungsmerkmale des 6. Lebensjahres nicht oder nur unvollkommen. Mehr beschreibende, nicht altersbezogene Skalen der »Aktivitäten des täglichen Lebens« (sog. ATL-Status) [3] erlauben eine genauere Analyse
89 11.3 · Medizinische Probleme am Beispiel Körperbehinderung
der nach Bereichen (Aus- und Anziehen, Körperpflege, Nahrungsaufnahme, Verrichten der Notdurft, Sicherung der körperlichen Bewegung) geordneten Selbstständigkeitsmerkmale, die bei speziellen Krankheitsbildern ggf. noch zu ergänzen sind [4]. Eine neuropsychologische Diagnostik gibt wichtige Hinweise auf die intellektuellen und kognitiven Ursachen von Selbstständigkeitsdefiziten und ist deshalb zur Planung einer sinnvollen Therapie eine wesentliche (eigentlich unverzichtbare) Orientierung. Wie in anderen Bereichen kommt der Therapie eine besondere Bedeutung zu. Weil die meisten Jugendlichen »naturgemäß« bei ihren Eltern leben, werden häufig die pflegerischen Elemente des Kindesalters als Pflegerituale von den Eltern und Jugendlichen unreflektiert oder auch unter beidseitigem Protest oft bis ins Erwachsenenalter beibehalten. So sind viele Jugendliche durch persönliche Hilfeleistungen direkt und durch notwendige Beaufsichtigung indirekt abhängig von Fremdhilfe ‒ also »hilflos«. Diese Hilflosigkeit steht oft in bemerkenswertem (und auch teilweise therapiebedürftigem) Widerspruch zu Fähigkeiten, die es den Betroffenen gestatten würden, sich selbst zu versorgen [5]. Bemerkenswert ist weiterhin, dass die Selbstversorgung zu Hause häufig sehr zu wünschen übrig lässt, während diese unter Fremdaufsicht (z. B. in der Schule) oder in Gruppen wesentlich besser gelingt. Was im Kindesalter versäumt wurde, lässt sich im Jugendalter meist nur unter erschwerten Bedingungen (z. B. gegen den wachsenden Widerstand des Betroffenen) durchsetzen. Mühsam erworbene Selbstständigkeit kann durch operative Eingriffe wieder verloren gehen. Oft dauert es Wochen und Monate oder länger, bis der präoperative Entwicklungsstand wieder erreicht ist. Diese Rehabilitationsphase ist deshalb bereits bei der Operationsplanung zu berücksichtigen. Selbständigkeit kann als Einzeltraining vermittelt werden. Es umfasst eine individuell angepasste physiotherapeutische und ergotherapeutische Anbahnung und Stabilisierung von Selbstständigkeitsmerkmalen einschließlich der Anleitung der betreuenden Personen und eine Hilfsmittelausstattung mit Alltagshilfen und Kommunikationshilfen [6]. Fortschritte der Selbstständigkeit sind oft wesentlich einfacher (und auch nachhhaltiger) in der Form eines Gruppentrainings z. B. während einer Wochen(end) freizeit zu erreichen. Träger dieser meist krankheitsspezifischen Freizeiten sind (Eltern-)Selbsthilfegruppen [7], die diese wichtige Maßnahme zum Erreichen der persönlichen Selbstständigkeit für Betroffene besonderer Krankheiten für Gruppen gleichen Alters bzw. mit ähnlichem Entwicklungsstand anbieten. Ablösung: Die Eltern sind mit zunehmendem Alter, durch den Verlauf der Erkrankung und das jahrelange, oft hohe Engagement bis an ihre Grenzen belastet, häufig erschöpft. Einerseits möchten sie sich zurückziehen, sehen sich aber weiter in der Pflicht, weil sie die gesundheitliche und soziale Gefährdung ihres jugendlich oder erwachsen gewordenen Kindes erkennen. Bei Formen der Körperbehinderung, die mit einer stärkeren geistigen Behinderung verbunden sind, ist deshalb die elterliche Bindung an ihr jugendliches Kind zwar vital und eng, aber der Wunsch nach Individuation ist aus der Sicht des Betroffenen gering. Mit steigender Selbstwahrnehmung kann der Drang nach Eigenständigkeit zu Konflikten führen, weil der Anspruch des Jugendlichen in einem mehr oder weniger großen Missverhältnis zu den erbrachten Eigenleistungen stehen kann. Die Eltern nehmen dann die pflegerischen Verpflichtungen weiter wahr, entweder weil sie frustranen Diskussionen ausweichen wollen oder weil sie die notwendigen Abläufe schneller beherrschen. So tragen sie
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leicht und mehr oder weniger bewusst zu einer Scheinselbstständigkeit ihres heranwachsenden Kindes bei. Verstärkt wird dieser Konflikt nicht selten durch Forderungen mitbetreuender Personen oder Einrichtungen, die eine (gewiss manchmal nicht zu leugnende) Überbehütung zu erkennen glauben. Hieraus lässt sich jedoch keinesfalls ein Vorwurf gegenüber den Eltern ableiten, die sich naturgemäß primär ihrem Kind gegenüber verpflichtet sehen. Allein um sich selbst zu entlasten, würden Eltern in der Regel ihr Kind gerne zunehmend in die Selbstständigkeit entlassen, wenn sie diese zu Hause durchsetzen könnten und wenn sie ihr Kind hierdurch nicht gefährdet sehen würden. Um diese komplexe Form beidseitiger Abhängigkeit auflösen zu können, ist zunächst eine respektvolle Berücksichtigung elterlicher Leistungen angezeigt und dann eine gemeinsame Strategie der verantwortbaren Ablösung in kleinen Schritten (oft mühsam) zu erarbeiten. Schule und berufliche Eingliederung Während die körperliche Leistungsfähigkeit in der Regel beeinträchtigt ist, entsprechen die kognitiven und emotionalen Fähigkeiten der Vielfalt menschlicher Leistungs- und Verhaltensweisen. Selbst bei schwerster motorischer Behinderung sind akademische Berufe erreichbar, berufliche Tätigkeit mit Einschränkungen genauso im Bereich des Möglichen wie eine Berufsunfähigkeit. Ziel einer beruflichen Beratung und Eingliederung ist eine schulische und berufliche Qualifizierung auf höchstmöglichem individuellem Niveau. Die tatsächliche Leistungsfähigkeit ist erst in der praktischen Erprobung zu beurteilen (Körperbehinderungen ‒ Stadler 2004). Die berufliche Orientierung (. Abb. 11.1) erfolgt in der Schule für Körperbehinderte für die Klassenstufen sieben bis neun durch spezielle didaktische Pläne und Materialien zur Schulung der Selbstständigkeit und sozialen Handlungskompetenz im Berufsleben. Betriebs- und Arbeitsplatzerkundungen sowie von Betriebspraktika geben Gelegenheit zum eigenen Handeln, zur Verbesserung der persönlichen Selbsteinschätzung und Sammeln praktischer Erfahrungen. Schulen für Körperbehinderte übernehmen zum Teil auch die medizinisch-therapeutische und die psychologische Diagnostik zur Berufseignung. Eine auf unterschiedliche Behinderungsformen spezialisierte Beratung kann zwar durch das zuständige Arbeitsamt erfolgen, wobei die Untersuchungsergebnisse mit den Erfahrungen der Eltern und Schule unbedingt abzustimmen sind. Es muss vermieden werden, dass eine einmalige Testung allein lebensbestimmend wird. Einen guten Überblick über mögliche Ausbildungsberufe bietet die Internetseite des Arbeitsamtes http://www. berufenet.de. Auch bei den lokalen Arbeitsämtern gibt es im Berufsinformationszentrum (BIZ) Unterlagen und Einzelinformationen. Die Bewerbung um einen Ausbildungsplatz, eine berufliche Ausbildung und eine berufliche Tätigkeit ist für Jugendliche mit Körperhinderung erleichtert, wenn 4 ein möglichst hoher Schulabschluss vorliegt, 4 ein einjähriges Berufsgrundbildungsjahr (BGJ) absolviert wurde. Es setzt in der Regel den Hauptschulabschluss voraus, der aber auch nachgeholt werden kann. Das BGJ ist die erste Stufe einer Berufsausbildung, durch den Besuch dieser Vollzeitschule verkürzt sich eine Berufsausbildung in der Regel. Es werden sowohl allgemeine Fächer (ohne Fremdsprache) als auch berufsbezogene Fächer unterrichtet (in den Fachrichtungen Wirtschaft und Verwaltung, Ernährung und
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Kapitel 11 · Behinderte Jugendliche
Praktika (schulisch oder in den Ferien)
erfolgreich
mind. 1,5 Jahre vor Schulende
eigene Suche
Arbeitsamt
nicht erfolgreich
Vorstellungsgespräch
evtl. weitere schulische Maßnahmne Antrag auf Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben
Abklärung der Möglichkeiten • psychologischer Test • »Vorbereitungsmaßnahmen« I + II praktisch und theoretisch durch freie Träger (mit Vertragsbindung zum Arbeitsamt) • Berufsfindung (z. B. über Berufserprobung im BBW)
Antrag auf Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben beim Arbeitsamt
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evtl. Einschaltung Integrationsfachdienst
Überbetriebliche Ausbildung z. B. • Berufsbildungswerk • DAA • Berufsförderungswerk
Vermittlung an Ausbildungsstätte
Ausbildung mit Abschluss
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. Abb. 11.1. Berufliche Ausbildung – ein Fahrplan
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Hauswirtschaft, Holztechnik, Elektrotechnik, Metalltechnik, Hotel- und Gaststättengewerbe, Bautechnik), was die persönliche Orientierung erleichtert, rechtzeitig (d. h. spätestens ein Jahr vor Schulabschluss) Bewerbungen erfolgen, wobei auch längere Bearbeitungsund Wartezeiten zu berücksichtigen sind, realistische Erwartungen, Neigungen und Fähigkeiten durch möglichst vielseitige betriebliche Praktika bereits überprüft wurden; ein Minimalprogramm reicht zur Orientierung meist nicht aus, Bewerbungsmappen und Anschreiben gut gestaltet sind! Viele Jugendliche unterschätzen die Form einer Bewerbung. Hierbei ist es unklug, eine Behinderung zu verschweigen, die Jugendlichen auf ‒ heute übliche ‒ Einstellungstests und Bewerbungsgespräche vorbereitet sind.
Integrationsfachdienste können bei der Suche nach einem Arbeitsplatz und der Ausgestaltung helfen. Sie werden auf Antrag des Arbeitsamtes tätig. Integrationsfirmen sind Unternehmen, die staatlich unterstützt Beschäftigungen für Menschen mit Behinderung anbieten. Diese Unternehmen sind auf dem freien Markt tätig und konkurrieren mit anderen Firmen, dennoch gibt es gewisse Erleichterungen für Menschen mit Behinderungen. Da die Firmen unter dem Dachbegriff ‚Integrationsfirma’ sehr unterschiedlich arbeiten, muss man sich im Einzelfall informieren. Die berufliche Eingliederung ist in mehreren Stufen und Ebenen möglich:
91 11.3 · Medizinische Probleme am Beispiel Körperbehinderung
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Stufen der beruflichen Eingliederung 5 Berufsvorbereitung in einem Berufsvorbereitungsjahr und in Förderlehrgängen. 5 Berufsausbildung in einer Firma, in anerkannten Ausbildungsberufen mit Besuch einer Berufsschule oder nach besonderen Ausbildungsregelungen für behinderte Menschen. Betriebliche Ausbildungen dauern in der Regel zwischen 2 und 3,5 Jahre und enden nach einer theoretischen und einer praktischen Prüfung mit dem Abschluss in einem bestimmten Beruf und der Anerkennung der Industrie- und Handelskammer bzw. der Handwerkskammer. Die Ausbildungsdauer kann in vielen Berufsfeldern verkürzt werden. Die Vielzahl von Ausbildungsberufen in den verschiedenen Arbeitsbereichen ist schwer zu überblicken, das reicht von bekannten Berufen wie Bäcker, Elektriker, Schreiner bis zu nur wenigen bekannten Spezialberufen wie Prozessleitelektroniker. Einen Überblick kann man sich auf den Internetseiten der Bundesagentur für Arbeit verschaffen. Beim Arbeitsamt gibt es Informationsblätter zu den einzelnen Berufen. Die Ausbildung ist der erste Schritt ins Arbeitsleben. Nach einem erfolgreichen Abschluss beginnt dann die Suche nach einer Anstellung. Glück hat, wer von einem Ausbildungsbetrieb übernommen werden kann. Ein Ausbildungsplatz ist aber keine Garantie für eine Anstellung danach. Wenn sich ein Arbeitnehmer für einen Menschen mit Behinderung entscheidet, gibt es eine Reihe von Maßnahmen und Leistungen, die eine Anstellung unterstützen. Für die behindertengerechte Ausstattung eines Arbeitsplatzes kommt das Arbeitsamt bzw. das Integrationsamt (bei Einrichtung eines ganz neuen Arbeitsplatzes) auf. Ebenso kann der Betroffene selbst Hilfen beantragen (z. B. um den Arbeitsplatz zu erreichen). Für Neueinstellungen kann es auch eine Unterstützung des Arbeitsamtes bei der Entlohnung geben. 5 Überbetriebliche Ausbildung in anerkannten Ausbildungsberufen, bei Verbänden und Organisationen, z. B. in den flächendeckend in Deutschland bestehenden Berufsbildungswerken. Nach einer Ausbildung in einer überbetrieblichen Organisation muss man in jedem Fall nach einer Anstellung suchen. In der Regel gibt es in den Häusern Ansprechpartner und Hilfestellung für ›die Zeit nach der Ausbildung‹. Überbetriebliche Ausbildungen haben Vor- und Nachteile. Ein Vorteil ist, dass die Ausstattung in diesen Einrichtungen in aller Regel dem neuesten Stand entspricht. Zudem können die Auszubildenden alle Bereiche eines Betriebes durchlaufen, was speziell bei kleineren Ausbildungsbetrieben nicht immer gegeben ist. Aber es gibt auch Nachteile. Auszubildende bewegen sich außerhalb des üblichen Betriebsklimas, lernen die Strukturen und Beziehungen, die innerhalb eines Unternehmens wichtig sind, nicht kennen. Der Termin- und Leistungsdruck in einer überbetrieblichen Einrichtung entspricht nicht dem in einem Betrieb der freien Wirtschaft. Seit einiger Zeit sinken die Vermittlungsquoten der Berufsbildungswerke und spiegeln damit die Lage auf dem Arbeitsmarkt insgesamt wider. 5 In Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM): Es handelt sich um Betriebe, in denen – wie in anderen auch – produziert wird, jedoch die Anforderungen an die Fähigkeiten und Möglichkeiten des Einzelnen angepasst werden. Die WfbM haben sich teilweise zu modernen Dienstleistungsbetrieben weiterentwickelt. Waren es früher häufig reine Verpackungsaufgaben, die in WfbM durchgeführt wurden, sind viele Werkstätten in der Zwischenzeit einen Weg in Richtung zusätzlicher Qualifizierung gegangen und bieten ihre Leistungen im Gartenbau, im Holz- und Metallbereich ebenso auf dem freien Markt an wie Dienstleitungen im EDV- oder Bürobereich. Dadurch sind die Tätigkeiten für die Beschäftigten vielfältiger und abwechslungsreicher geworden. Wichtig ist auch, dass Beschäftigte in der WfbM über die für Angestellten üblichen Sozialversicherungsformen abgesichert sind und ihnen auch eine Rente zusteht. 5 Beschäftigung ohne Erwerbstätigkeit in Fördereinrichtungen mit einer der Behinderung angepassten Struktur des Tagesablaufes und adäquaten Beschäftigungsmerkmalen. 5 Die Möglichkeiten zur beruflichen Eingliederung werden ständig den sich wandelnden Bedürfnissen und Möglichkeiten (z. B. durch Integrationsmodelle und -firmen) angepasst.
Mit großen Anstrengungen erworbene berufliche Qualifikationen geben den Betroffenen oft ein zweifellos wichtiges aber möglicherweise auch ein täuschendes Selbstbewusstsein, indem sie sich über Jahre auf dem »freien« Arbeitsmarkt um eine Arbeitsstelle bewerben. Während dieser Zeit gehen viele technische und körperliche Fähigkeiten (sicher) verloren. Die vergeblichen Bemühungen enden schließlich unbefriedigend mit einer frühzeitigen Berentung. Deshalb ist bereits in der Berufsaubildung eine Beschäftigung in einem geschützten Bereich (z. B. durch Praktika) mit anzubahnen. Bildung eines Gesundheitsbewusstseins Das Bewusstsein für den Umgang mit gesundheitlichen Fragestellungen muss sich durch regelmäßige Impulse entwickeln. Bewährt hat sich die fremdwortfreie, und wenn nötig die wiederholte und eingehende Besprechung der Lebenssituation mit der Behinderung in kleinen Gruppen in einem lockeren, geselligen Rahmen; z. B. »(Fortbildungs-)Stammtisch«. Dazu gehören ‒
aber keineswegs an erster Stelle ‒ die Erörterung und Erklärung von Krankheitsmerkmalen und der diagnostischen und rehabilitativen Möglichkeiten, wobei zu bedenken ist, dass viele Jugendliche über vielfältige, oft affektiv besetzte Erfahrungen mit ihrer Körperbehinderung verfügen (die dem Gesprächsleiter erspart geblieben sind). Die Gesprächsinhalte sind streng an den Teilnehmern zu orientieren, jede »Ausbreitung von Wissen« ist zu unterlassen. Vom Gesprächsleiter wird eine gewisse thematische Flexibilität verlangt, weil das Gespräch bei nicht unbedingt vorgesehenen Fragen vom ursprünglichen Verlauf abweichen kann. Jeder Teilnehmer muss die Möglichkeit haben, die Fortbildungsinhalte zu verstehen und diese seiner persönlichen Betroffenheit anzupassen. Formen von Fortbildungen ohne die Gelegenheit einer ausführlichen Diskussion überfordern die Teilnehmer und schaffen bzw. verstärken Unsicherheit und Angst. Ausdrücklich ist vor zu intensiven Versuchen zu warnen (Du musst!… Wenn du nicht…, dann), das Gesundheitsbewusstsein durch drastische Beschrei-
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Kapitel 11 · Behinderte Jugendliche
bung von Folgen herbeizureden, weil die Jugendlichen sich äußerlich ungerührt (»cool«) geben, aber häufig heftig emotional, sogar vegetativ, auf unerwartete oder gesundheitliche Informationen reagieren und ihre Betroffenheit nicht äußern. Betreuung: Ist erkennbar, dass eine gesundheitliche Gefährdung über das Jugendalter hinaus bestehen wird, ist eine rechtzeitige Beratung zur Beantragung einer Betreuung angezeigt. Das heute gültige Betreuungsgesetz [8] gewährleistet einen Einfluss z. B. auf gesundheitliche Entscheidungen bei volljährigen Menschen, »die aufgrund von Krankheit oder Behinderung nicht in der Lage sind, notwendige Entscheidungen zu treffen«. Diese Möglichkeit bietet dem Betroffenen einen gesundheitlichen Schutz und gibt den Eltern die Sicherheit, dass keine unbedachten Entscheidungen getroffen werden. Eine unnötige Entrechtung des Patienten ist ausgeschlossen. 11.3.3 Ärztliche Versorgung Versorgungsangebot Das Versorgungsangebot muss sich am Behinderungsumfang der jeweiligen Krankheit orientieren und die ambulante, die tagesklinische und die klinisch stationäre Versorgung umfassen (Schmidt-Ohlemann 1995).
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Ambulante Versorgung Kinder- und Jugendärzte/Allgemeinärzte Bei weitem die größte Zahl der körperbehinderten Jugendlichen wird durch Kinder- und Jugendärzte hausärztlich versorgt und gleichzeitig in sozialpädiatrische Zentren (SPZ) und/oder in Spezialambulanzen betreut. Die Kontinuität der Versorgung im Jugendalter wird wesentlich erleichtert, wenn bereits im späten Kindesalter eine Bindung an die Ärzte und Therapeuten angebahnt wird, die im Jugend- und Erwachsenenalter die Versorgung übernehmen werden. Allerdings fehlt bis heute eine dringend benötigte qualifizierte Versorgungsstruktur für erwachsene behinderte Menschen (Abendroth u. Naves 2002) [9], weshalb mit dem Übergang vom Jugend- zum Erwachsenenalter die im Kindesalter entwickelten Rehabilitationsmaßnahmen weitgehend aufgegeben werden müssen. Übergang Kind–Jugendlicher an einem sozialpädiatrischen Zentrum Die Einrichtung der Ambulanz an einem sozialpädiatrischen Zentrum oder einer Einrichtung mit einer ähnlichen Struktur erlaubt einen optimalen Übergang des chronisch-kranken Kindes in die nächste Alters- und Versorgungsstufe. Schon als Kind lernt es die Ärzte und Therapeuten kennen und kann frühzeitig mit seinen Eltern eine für eine langdauernde Betreuung über das Kindesalter hinaus so wichtige persönliche Beziehung aufbauen. Andererseits kennen Ärzte und Therapeuten den Langzeitverlauf des Kindes nur bei jahrelanger Langzeitbetreuung (»lange Zeit treu«) und es ist ihnen möglich, sich auf die besonderen Krankheitsmerkmale und die Sozialstruktur des Jugendlichen und jungen Erwachsenen langfristig einzustellen. Vorteilhaft ist es, wenn ein männlicher und ein weiblicher ärztlicher Ansprechpartner zur Verfügung stehen. Eine Ambulanz in einem sozialpädiatrischen Zentrum gestattet es, auf das bewährte Modell der Zusammenarbeit verschiedener Berufsgruppen zurückzugreifen. Die Besetzung des Rehabilitationsteams muss allerdings dem Jugendalter angepasst werden. Beson-
dere Anforderungen werden an die Mobilität des Teams gestellt, um die krankheitsbedingte Erschwerung der Mobilität und des Antriebs auszugleichen sowie die häusliche Anpassung notwendiger Therapien zu gewährleisten (Ermert u. Peters 2002, S. 126‒134). Inhalte der ärztlichen Versorgung Wichtige diagnostische und therapeutische Elemente Animation
Die überwiegende Zahl der rechtlich mündigen Jugendlichen versuchen ‒ der normalen Entwicklung folgend ‒ einen (ihren) eigenen Lebensstil durchzusetzen, wozu auch die »Selbstbestimmung« der Gesundheit gehört. Mit der medizinischen Versorgung verbinden sich für sie jedoch oft Zwänge, schmerzhafte Erlebnisse, stationäre Aufenthalte, mühsame Therapien, Widersprüche, komplizierte, teils bedrohliche Inhalte und oft eine objektiv und subjektiv fehlende Versorgungsperspektive. Dies mögen einige Gründe dafür sein, dass sich ein Teil der Jugendlichen (und jungen Erwachsenen) jeder medizinischen Versorgung entzieht. Sie werden in ihrem Bestreben, sich von der »elterlichen Aufsicht« abzusetzen und »endlich selbständig« ein »eigenverantwortliches Leben« ‒ so wird es ihnen zugesichert ‒ zu führen, von Vertretern alternativer Lebensformen gestützt. Mit Nachlassen der Aufsicht sind die Betroffenen ohne ausreichende Kenntnisse über ihren Gesundheitszustand und die notwendigen Maßnahmen zur Überwachung von Komplikationen sich selbst überlassen. Der gleiche Effekt tritt ein, wenn Jugendliche ohne Vorbereitung und ärztlich-therapeutische Assistenz eine externe Berufsfindungsmaßnahme oder Berufsausbildung antreten, also den geschützten häuslichen Bereich erstmals verlassen. Die Folge dieser veränderten Bedingungen ist, dass die Zahl der Patienten auch bei optimalen Versorgungsangeboten ab dem Jugendalter etwa um die Hälfte abnimmt, viele Krankheitsverläufe aber eine etwa gleich bleibende (medizinische und soziale) Krankheitsdynamik behalten. Hieraus ergibt sich ein hoher gesundheitlicher Gefährdungsgrad. Treten in dieser Phase der Individuation schwerwiegende Komplikationen auf (z. B. eine Hirndruckkrise, eine Verschlechterung eines Krampfleidens, Entstehung oder Zunahme einer Skoliose) oder bestehen bereits im späten Kindesalter bedrohliche Organschäden, die eine Intensivüberwachung erfordern (z. B. eine beginnende Niereninsuffizienz oder ein maligner Hochdruck), drohen schwerwiegende gesundheitliche Dauerschäden. Es besteht die Gefahr, dass ein großer Teil des erreichten Rehabilitationsstandes wieder verloren geht. Etwa die Hälfte der Betroffenen muss deshalb für die regelmäßige gesundheitliche Versorgung wiedergewonnen werden. Trotz einer nachgehenden Animation im Rahmen einer sozialen Nachsorge (7 dort) gelingt dies nur in beschränktem Umfang. Ein Teil der Jugendlichen ist über Freizeitprogramme von Selbsthilfegruppen besser zu erreichen. Hier halten Selbsthilfegruppen (erfolgreich) die Option auf eine gesundheitliche Versorgung aufrecht. Vorsorgeuntersuchungen Häufigkeit von Vorsorgeuntersuchungen
Bei den unterschiedlichen Behinderungsgraden ist zwar eine weitgehende Individuation von Vorsorge-Untersuchungsabstände erforderlich und möglich, aber unter Berücksichtigung der bisherigen Erfahrungen ist zumindest eine Jahresuntersuchung dringend anzuraten. Bei zu erwartender oder erkennbarer neu-
93 11.3 · Medizinische Probleme am Beispiel Körperbehinderung
rologischer, urologischer oder auch sozialer Dynamik, sind diese Untersuchungsabstände zu verdichten. Bei der langjährigen Versorgung von (schwerbehinderten) Jugendlichen mit Spina bifida ergibt sich, dass der Zeitabstand von 6 Monaten zwischen zwei Untersuchungen keinesfalls überschritten werden darf, damit keine (vermeidbaren) Komplikationen entstehen. Überwachung des individuellen Rehabilitationsplanes
Das Versorgungsangebot muss alle alters- und krankheitsspezifische Elemente umfassen. Diese Untersuchungen sind außergewöhnlich zeitaufwendig, verlangen viel Empathie und eine enge Zusammenarbeit zwischen allen (ärztlichen, komplementär-ärztlichen, sozialen), an der Versorgung Beteiligten. Für viele Krankheitsbilder bestehen ausgearbeitete Leitlinien und Rehabilitationspläne (Schmidt et al. 1996; http://www.awmf-online.de). Ein Vorschlag für einen Rehabilitationsplan bei Zerebralparese ist im 7 Anhang zusammengestellt. ! Ärztliche Bescheinigungen sind nicht an andere Dienste übertragbare ärztliche Leistungen und bedeuten eine besondere zeitliche Belastung.
Für den behinderten Menschen sind die ärztlichen Bescheinigungen Grundlage für sozial- und versorgungsrechtliche Ausgleichshilfen, weshalb vollständige, fachlich und juristisch richtig formulierte Texte von besonderer Bedeutung sind. Bei wachstumsbedingter Zunahme von Behinderungsmerkmalen ist der versorgungsrechtlich wichtige Verschlechterungsantrag von besonderer Bedeutung. Die in den »Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz« (Bundesinnenministerium für Arbeit und Sozialordnung 1996) vorgegeben, gut verständlichen Beurteilungskriterien der Behinderungsmerkmale müssen in dem zu verfassenden ärztlichen Bericht möglichst vollständig angegeben werden, um Nachteile für den Betroffenen, zeitaufwändige Widerspruchsverfahren oder »gutachterliche Stellungnahmen« zu vermeiden. Gerade im Blick auf die Berufswahl wünschen sich körperbehinderte Jugendliche nicht selten eine Zurückstufung des Grades der Behinderung, stellen also einen Antrag auf Verbesserung von Behinderungsmerkmalen. Begründungen zur Vorlage bei Krankenkassen, Schulen, Einrichtungen usw. ermöglichen oder vereinfachen die Abwicklung von Vorgängen. Weil sich die Inhalte der Bescheinigungen oft wiederholen, ist zu empfehlen, alle einmal ausgestellte Bescheinigungen geordnet zusammenzufassen, um sie bei ähnlichen Fragestelllungen modifiziert wieder verwenden zu können. Für körperbehinderte Menschen mit verminderter Belastbarkeit, feinmotorischen Störungen usw. bedeutet die Verlängerungen von Prüfungszeiten [10] eine Form des Ausgleichs behinderungsbedingter Nachteile und eine wesentliche persönliche Entlastung. Koordination/Abstimmung
Die Rehabilitation körperbehinderter Menschen ist im Vergleich mit anderen Behinderungsformen durch eine außergewöhnlich große Zahl von diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen aus unterschiedlichen Bereichen gekennzeichnet. Die ärztliche Versorgung ist wichtiger, aber eben nur ein Bestandteil der Gesamtversorgung. Bei den komplexen speziellen Anforderungen ist eine interdisziplinäre Zusammenarbeit die unverzichtbare Grundlage kompetenter Assistenz [11]. Aber jeder engagierte Spezialist im Team muss seinen Beitrag (eigentlich selbstver-
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ständlich) als unverzichtbaren Bestandteil zur Rehabilitation sehen. Bei komplexen Behinderungsformen können die Belastungen deshalb durch Therapien bei Betroffenen und deren Eltern an zeitliche, emotionale und soziale Grenzen stoßen. Während jedoch Eltern in der Regel vieles auf sich nehmen, um eine optimale Rehabilitation zu erreichen, ist die Belastungsgrenze bei Jugendlichen (wiederum in der Regel) deutlich geringer. Die Rehabilitation körperbehinderter Menschen ist im Vergleich mit anderen Behinderungsformen durch eine außergewöhnlich große Zahl von unterschiedlichen, oft lebensnotwendigen Maßnahmen gekennzeichnet. Es ist deshalb eine anspruchsvolle, aufwendige, ärztliche Aufgabe, 4 Prioritäten der notwendigen Therapieformen zu ordnen, 4 geringste Belastungen für den Patienten und die Familie zu ermitteln (z. B. einzeitige Operationen zu planen, die sonst nur zweizeitig ausgeführt würden), 5 widersprüchliche Auffassungen von Ärzten und Therapeuten über den Rang von Therapieformen zu koordinierten (eine für Eltern oder Patienten nicht zu lösende Aufgabe), 4 Auswirkungen der Versorgung auf die Familie zu beachten (z. B. Bedrohung des Arbeitsplatzes bei zu häufiger Vorstellung des Kindes, die Vernachlässigung der Geschwister durch die Therapiebindung der Eltern, besonders der Mutter) usw. Mobile Krankenpflege
Der außergewöhnliche Behinderungsumfang vieler Betroffener macht bei etwa der Hälfte der Jugendlichen eine nachgehende Betreuung der Patienten und deren Familien zu Hause und in Einrichtungen (z. B. in Werkstätten für Behinderte Menschen ‒ WfbM) durch ein mobiles Rehabilitationsteam [12] erforderlich. Die nachgehende Betreuung zu Hause, in K-Schulen, während des Berufsgrundschuljahres (meist in Internaten), steigert – wie alle Formen von Hausbesuchen ‒ die Effizienz der ärztlichen Tätigkeit. Oft werden erst bei regelmäßigen Hausbesuchen die häuslichen Möglichkeiten und Hindernisse, der Bedarf an Pflege, an Therapie und notwendiger sozialer Stütze erkennbar und ermöglicht [13]. Soweit erforderlich, kann notwendige Hilfe geleistet ‒ oft erst nach ausführlicher Beratung ‒ und an ambulante Pflegedienste übergeben werden. Auf diese Weise lässt sich die so wichtige Qualitätssicherung von Pflegedienstleistungen zumindest wesentlich verbessern. Aufgaben des Sozialdienstes in dieser Altersstufe sind es, die Jugendlichen 5 in persönlichen Gesprächen zu einer regelmäßigen »minimalen« ärztlichen Basisüberwachung und zum eigenverantwortlichen Umgang mit den gesundheitlichen Auswirkungen der Behinderung zu motivieren, 5 den individuell erstellten ärztlichen Vorsorgeplan und die Untersuchungstermine zu arrangieren und zu gewährleisten (Vereinbaren von Arztterminen, Organisieren der Transporte, usw.), was vielen behinderten Menschen nicht möglich ist, 5 die ärztliche Untersuchungsergebnisse und Maßnahmen verständlich zu interpretieren [14], Hilfestellung bei Klinikaufenthalten und/oder Operationen zu geben, die Betroffenen während des Klinikaufenthaltes zu begleiten, die Nachsorge nach Entlassung zu sichern u. a., 5 Überlegungen zur schulischen und/oder beruflichen Situation (Schulwahl, Schulwechsel) zu konkretisieren, verlängerte Prüfungszeiten zu erreichen,
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Kapitel 11 · Behinderte Jugendliche
4 Maßnahmen zur Berufsaus- und weiterbildung zu veranlassen und zu vermitteln, die Suche und Erhaltung einer geeigneten Arbeitsstelle zu lenken, 4 geeignete (d. h. dem Behinderungsumfang angepasste) Wohnformen zu suchen und den individuellen Bedürfnissen anzupassen, 4 eine regelmäßige Beratung zu den sozialrechtlichen Möglichkeiten anzubieten, 4 über die Möglichkeiten von Freizeitaktivitäten, wie z. B. Sport, Vereine, Selbsthilfegruppen, Wochenend-Trainingsveranstaltungen zu informieren und zur Teilnahme zu animieren, 4 Kontakte zu der örtlichen Selbsthilfegruppe und zu anderen Erwachsenen herzustellen. Elternselbsthilfe ! Viele Elemente, mit denen die Lebensqualität der Betroffenen überhaupt zu erreichen ist, sind weder rechtlich abgesichert, noch ist jemand »zuständig«.
Ein Teil der Jugendlichen (und Erwachsenen) ist davon bedroht, gesellschaftlich isoliert zu werden, sich ihrem Lebensumfeld nicht anpassen zu können, z. B. sich nicht außerhalb des geschützten Wohn- und Arbeitsbereiches zu bewegen, Schwierigkeiten mit Pflegediensten, Behörden usw. zu haben, oder Schwierigkeiten der Lebensgestaltung und Organisation ihrer medizinischen Versorgung und ihres Alltags zu haben: sie kommen einfach nicht mit ihrem Leben zurecht. Die (Eltern-)Selbsthilfe kümmert sich in ganz besonderer Weise um die Integration der Betroffenen und deren Familien und leistet hiermit (ehrenamtlich) eine besonders wichtige Art von Sozialarbeit.
Stationäre Versorgung Die stationäre Versorgung von körperbehinderten Jugendlichen ist erheblich erschwert, weil 4 den meisten Krankenhäusern der Umgang mit behinderten Menschen eher ungewohnt ist, 4 die räumlichen personellen und pflegerischen Voraussetzungen meist nicht zu gewährleisten sind oder mehr zufällig vorliegen. Deshalb sehen sich Angehörige so gut wie immer gezwungen, die Pflege in Krankenhäusern selbst zu übernehmen, um die individuellen, im Einzelfall auch sehr aufwändige Pflege zu gewährleisten. Zu empfehlen ist deshalb, dass 4 mindestens eine Abteilung in dem Krankenhaus auf körperbehinderte Menschen spezialisiert ist, d. h. in der die Versorgung nach gültigen Standards erfolgt; fehlt diese Möglichkeit vor Ort, leitet sich hieraus das Recht nach einer Einweisung in wohnortferne Spezialeinrichtung ab. 4 die Mitaufnahme einer Betreuungsperson erfolgt, die mit dem Krankheitsbild und den notwendigen Hilfeleistungen vertraut ist. 4 die Möglichkeit besteht, auf das jeweilige Krankheitsbild spezialisierte Konsiliarii hinzugezogen werden können. 4 der Übergang von der stationären Behandlung in die ambulante Nachsorge durch einen mobilen Pflege- und/oder Rehabilitationsdienst optimiert ist; wodurch die Dauer stationärer Aufenthalte wesentlich abgekürzt und die häusliche Anpassung erleichtert und damit das Ergebnis des stationären Aufenthaltes gesichert werden kann. Fazit
11 Typische Leistungen für das Jugendalter 5 Zusammenführen von Jugendlichen in regelmäßigen Treffen wie Stammtische, Freizeiten, Selbständigkeitstraining usw. 5 Gesundheitliche Ausbildung von Jugendlichen in kleinen Gruppen 5 Unterstützung beim Organisieren des Alltags durch nachgehende Einzelbetreuung 5 Training zum Bewegen in der Öffentlichkeit (Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel, Benutzen von Rolltreppen usw.) 5 Organisieren (und Finanzieren) von sportlicher Betätigung (Rollstuhlsport, externe Mobilitätskurse usw.) zusammen mit dem Behindertensportverband und dem Rollstuhlsportverband 5 Geselliges Zusammensein 5 Vertretung in der Öffentlichkeit und v. a. m.
Wegen der Wichtigkeit dieser Arbeit wäre es sehr wünschenswert, wenn die (Eltern-)Selbsthilfe – soweit dies die Selbsthilfegruppen leisten können ‒ auch räumlich in eine feste Organisationsstruktur (z. B. in eine Praxis oder eine Ambulanz) integriert wäre und sich die Betroffenen in die Gestaltung der Rehabilitation einbringen könnten. Besonders hervorgehoben werden muss, dass die Elternselbsthilfe als »demokratische Basis« die Verbesserung der Versorgung auch politisch durchzusetzen kann, was den »Fachleuten« sehr viel schwerer gelingt.
Das Jugendalter ist im curricularen Zusammenhang ein für den Betroffenen und für die medizinisch therapeutische Versorgung zwar nur ein relativ kurzes Durchgangsstadium, aber eine sensible Entwicklungsphase, weil in relativ kurzer Zeit durch Wachstum und psychische Destabilisierung wichtige Organfunktionen auf Dauer geschädigt werden können. Erschwerend kommt hinzu, dass es derzeit keine Versorgungsstruktur gibt, in der die vielfältigen ärztlichen und psychosozialen Probleme im Jugend- und auch Erwachsenenalter aufgefangen werden können. Baldmöglichst muss in enger Zusammenarbeit mit Einrichtungen der Behindertenhilfe, die ebenfalls dringend an der Verbesserung der Versorgung von erwachsen werdenden behinderten Menschen interessiert sind, ein Versorgungsnetz aufgebaut werden, das sich konzeptionell an der Arbeitsweise der Sozialpädiatrischen Zentren orientieren und in die SPZs, aber auch in spezialisierte ärztliche Praxen integriert werden könnte. Die Besetzung des Rehabilitationsteams aus Arzt, Psychologe, Rehabilitationsberater, mobiler Krankenpflege, Physiotherapeut, Elternselbsthilfe und Sozialdienst ist personell und fachlich dem Jugendalter anzupassen. Die Gewährleistung der häuslichen Nachsorge nach stationären Aufenthalten körperbehinderter Menschen, ist als besonderer Schwerpunkt zu berücksichtigen.
Literatur Abendroth M, Naves R (Diplomarbeit, 2002) Die gesundheitliche Versorgung von Menschen mit geistiger und mehrfacher Behinderung – Potentiale und Defizite in Rheinland-Pfalz. Eine empirische Studie in
95 11.4 · Der behinderte Jugendliche – Medizinische Probleme am Beispiel des Down-Syndroms
Werkstätten und Tagesförderstätten. Evangelische Fachhochschule Rheinland-Westfalen-Lippe, Bochum Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (1996) Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz, Köllen, Bonn Ellrott T, Pudel V (1998) Adipositastherapie, Aktuelle Perspektiven, 2. Auflage, Georg Thieme, Stuttgart Ermert A (2003) Sexualentwicklung Frühe Risiken, späte Auswirkungen. In: Delisle, Haselbacher, Weissenrieder (Hrsg.) Schluss mit Lust und Liebe, Sexualität bei chronischen Krankheiten und Körperbehinderungen, Ernst Reinhardt Ermert A, Peters H (2002) Mainzer Spina-bifida-Ambulanz: Ein Modell. Kinderärztliche Praxis, Nr. 2. S. 126–134 Eser A (Hrsg.) (1989) Lexikon Medizin, Ethik, Recht. Herder, Freiburg Gesamtindex der Leitlinien und Empfehlungen: http://www.awmf-online. de GKV Hilfsmittelverzeichnis, Stand: Bundesanzeiger 37, vom 24.02.2004 Schmidt-Ohlemann M (1990) Medizinisch-therapeutische Versorgungssysteme und rehabilitationsmedizinische Betreuung Körperbehinderter. In: Arnoldsheimer Texte Band 60: Soziale Netzwerke und Regionalisierung. Haag & Herchen, Frankfurt am Main Schmidt-Ohlemann M (1995) Regionalisierung und soziale Netzwerke für eine regional orientierte Differenzierung und Verstärkung wohnortnaher Hilfsangebote für Menschen mit Körperbehinderungen. Verband Evangelischer Einrichtungen für die Rehabilitation Behinderter e.V. Schmidt GM, Kammerer E, Harms E (1996) Kindheit und Jugend mit chronischer Erkrankung, Hogrefe, Göttingen Stadler H (2004) Körperbehinderungen. http://www.gewinndurcheinstellung.de/handbuch/vollversion/körperbehinderungen.php
Anmerkungen [1]
[2] [3]
[4]
[5]
[6]
Def.: vgl. Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz, S. 75 ff. Eine körperliche Entstellung kann durch ein gepflegtes Äußeres und eine ausgewählte Kleidung nicht beseitigt aber wesentlich gemildert werden. Bemerkenswert ist die meist farblose nicht zusammenpassende Kleidung vieler behinderter Menschen, wodurch die äußerliche Andersartigkeit nur noch verstärkt wird. DENVER-Entwicklungsskalen sind zu beziehen durch: IKE – Institut für Kindesentwicklung, Rothenbaumchaussee 209, 20149 Hamburg. Zusammenstellungen der »Verrichtungen des täglichen Lebens« werden in unterschiedlichen Ausführungen verwendet. Sie sind auch im Assessment des Medizinischen Dienstes enthalten, nach denen die Zuordnungen zu den Pflegestufen erfolgen. Z. B. zu den »Verrichtungen« bei Diabetes mellitus gehört die selbstständige Überwachung des Blutzuckers, oder z. B. die orientierende Urinüberwachung auf entzündliche Zeichen bei neurogener Harnblasenfunktionsstörung. Die häufig recht unterschiedliche Selbsteinschätzung und Fremdeinschätzung des Hilfebedarfs bei den immer wiederkehrenden Verrichtungen des täglichen Lebens ist besonders bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen eine der wesentlichen Ursachen für die Fehlbeurteilung des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen (MdK) bei der Festlegung der Pflegestufe. Die gesetzlich vorgeschriebene Berücksichtigung der Anleitung und Beaufsichtigung der Jugendlichen bei den »Verrichtungen« ist, wird so gut wie nie beachtet. Um Nachteile für den Betroffenen zu vermeiden, sollte immer ein Patientenvertreter bei der Beurteilung des MdK, z. B. der (Eltern-)Selbsthilfe, anwesend sein. GKV-Hilfsmittelverzeichnis, Stand: Bundesanzeiger 37, vom 24.02.2004: Für Körperbehinderungen wichtige Abschnitte: Adaptationshilfen, Badehilfen, Gehhilfen, Hilfsmittel gegen Dekubitus, Inkontinenzhilfen, Kommunikationshilfen, Lagerungshilfen, Krankenfahrzeuge, Krankenpflegemittel, Mobilitätshilfen.
[7]
11
Auskünfte zu Selbsthilfeverbänden und -einrichtungen erteilt die Bundesarbeitsgemeinschaft »Hilfe für Behinderte e.V.« Kirchfeldstr. 149, 40215 Düsseldorf, Tel.: 0211-310060. »Gesetz zur Reform des Rechts der Vormundschaft und Pflegschaft«, kurz »Betreuungsgesetz« in seiner Fassung vom 12.09.1990 hat das Ziel, Hilfen soweit wie möglich, Zwang und Einschränkung jedoch nur als Ausnahme und kontrolliert zuzulassen (zit. nach http://www. buntstifte e.V.de). Medizinische Versorgung von erwachsenen Menschen mit Behinderung. Landesverband der Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung e.V., Drechslerweg 25, 55128 Mainz. Empfehlungen des Hauptausschusses des Bundesinstituts für Berufsbildung zur Berücksichtigung besonderer Belange Behinderter bei Zwischen-, Abschluss- und Gesellenprüfungen vom 24.05.1985. Diese Empfehlungen werden meist auch bei anderen Prüfungen anerkannt. Die Verwendung des Begriffes »Hilfe« versetzt den Patienten in die Rolle des Hilfsbedürftigen in Gegensatz zu dem, der Hilfe gewährt, spiegelt also ein Gefälle wider, das in der Regel nicht Absicht des ärztlichen und therapeutischen Handelns ist bzw. nicht sein sollte. Ärztlich/therapeutisches Handeln ist besser mit dem Begriff der »Assistenz« umschrieben, bei der das spezielle ärztliche Wissen ohne jedes autoritäre Gefälle dazu beitragen soll, ein behindertes Leben zu ermöglichen und zu gestalten (Vgl hierzu auch: Lown B (2004) Die verlorene Kunst des Heilens, Suhrkamp). Der »Mobilen Rehabilitationsdienst« – eine durch die GKV abgesicherte Form der mobilen häuslichen Versorgung – umfasst ärztliche, physiotherapeutische, logopädische und soziale Dienstleistungen. Vgl hierzu: Schmidt-Ohlemann M (1995) Mobile Hilfsdienste für Menschen mit Behinderungen. In: Regionalisierung und soziale Netzwerke. Verband Evangelischer Einrichtungen für die Rehabilitation Behinderter. S. 143–153. Z. B. ist die Verordnung eines Pflegebettes wenig sinnvoll, wenn das Bett nicht in das vorgesehene Zimmer passt. Bei komplexen ärztlichen Informationen, die den behinderten Jugendlichen häufig unter Zeitdruck mit einem unverständlichen Spezialvokabular vorgetragen werden, muss eine erfahrene Vertrauensperson anwesend sein, mit der die Informationen individuell verständlich aufgearbeitet werden.
[8]
[9]
[10]
[11]
[12]
[13] [14]
11.4
Der behinderte Jugendliche – Medizinische Probleme am Beispiel des Down-Syndroms
W. Storm )) Menschen mit geistiger Behinderung leben zu über 75% bei Eltern, anderen Angehörigen oder selbständig mit ambulanter Betreuung. Der kleinere Teil wohnt in kleinen und großen, zentralen und dezentralen Einrichtungen der stationären Behindertenhilfe. Die angemessene gesundheitliche Versorgung aller Menschen mit geistiger Behinderung ist ein gemeinsames Anliegen von Angehörigen, Betreuern und Fachleuten. Angesichts der steigenden Lebenserwartungen von Menschen mit geistiger Behinderung einerseits und der Zunahme dezentraler Wohnformen andererseits nehmen die Anforderungen an Organisationen und fachlicher Qualität der gesundheitlichen Versorgung dieses Personenkreises erheblich zu.
96
Kapitel 11 · Behinderte Jugendliche
Grundsätzlich sind Menschen mit geistiger Behinderung keine Kranken. Viele von ihnen erfreuen sich sogar guter Gesundheit. Menschen mit geistiger Behinderung benötigen psychosoziale und pädagogische Hilfen sowie Unterstützung bei der Überwindung oder Milderung ihrer behinderungsbedingten Beeinträchtigungen, um am Leben in der Gemeinschaft teilnehmen und sich ihren individuellen Bedürfnissen gemäß entwickeln zu können. Gesundheit ist wesentliche Bedingung für die Entfaltung der eigenen Lebensperspektive. Wie alle Bürger haben geistig behinderte Menschen – unabhängig von der Schwere ihrer Behinderung – das Recht auf eine angemessene Gesundheitsversorgung. Die Erfüllung dieses Rechtsanspruches ist zwingende Folge des Grundgesetzes und des dort verankerten Verbotes (Art. 3 des Grundgesetzes), einen Menschen in Folge seiner Behinderung zu benachteiligen. Der Anspruch auf adäquate gesundheitliche Versorgung ist auch als Ausdruck des Respekts vor der Würde eines behinderten Menschen selbstverständlich. Auf der individuellen Ebene bestehen Ansprüche gegenüber Krankenversicherungen und gegenüber den Sozialhilfeträgern. Medizinische Behandlung und gesundheitliche Versorgung müssen sich auch für Menschen mit geistiger Behinderung daran orientieren, dass krank sein zu den Alltagserfahrungen aller Menschen zählt. Menschen mit geistiger Behinderung und – in unserem Zusammenhang – Jugendliche mit Down-Syndrom weisen häufig besondere gesundheitliche Beeinträchtigungen und Risiken sowie Besonderheiten im Krankheitsverhalten auf. 11.4.1 Voraussetzungen für eine medizinische
Betreuung
11
Zur Durchführung einer lebenslangen medizinischen Betreuung von Menschen mit Down-Syndrom müssen vor allem zwei Voraussetzungen gewährleistet sein, ohne die eine optimale Unterstützung nicht möglich ist: 1. Lebensrecht auch für Menschen mit Down-Syndrom. Auch ein Mensch mit Down-Syndrom kann einen Beitrag zur Gesellschaft leisten und kann auch von deren Möglichkeiten profitieren. Deshalb müssen die Richtlinien der Betreuung und Behandlung und alle anderen Rechte, die für »normale« Menschen gelten, auch bei Menschen mit Down-Syndrom Anwendung finden. Der Mensch mit Down-Syndrom sollte wie jeder andere auch behandelt werden. 2. Abkehr von einer Stereotypisierung der Menschen mit Down-Syndrom. Stereotype Anschauungen veranlassen dazu, Unterschiede zwischen Menschen einer bestimmten Gruppe zu übersehen und zwischen Menschen dieser Gruppe und irgendeiner anderen zu betonen. Diese stereotyp betrachtete Population wird mit vermeintlich charakteristischen Eigenschaften, Verhaltensweisen, Symptomen oder Befunden etikettiert, die einen unausweichlichen »biologischen« Determinismus zu beinhalten scheinen; Variabilität und Individualität sind in dieser Denkweise unbekannte Größen. Allgemeine medizinische Grundregeln Die Bereitschaft zur Wahrnehmung der medizinischen Komplikationen war auch ärztlicherseits in der Vergangenheit nicht immer gegeben. Zur Durchführung eines medizinischen Vorsorgeprogrammes als spezifische Begleitung bis in das Erwachsenen-
alter bedarf es der Kenntnis der medizinischen Probleme bei Menschen mit Down-Syndrom. 11.4.2 Vorsorgeuntersuchungen bei Jugendlichen
mit Down-Syndrom Ein Weg zur ärztlichen Begleitung von Jugendlichen mit DownSyndrom kann durch eine Vorsorgeambulanz speziell für diese Personen gewährleistet werden. Es handelt sich hierbei um ein medizinisches Vorsorgeprogramm, das auf diese Patientengruppe ausgerichtet ist und auf den in verschiedenen Organ- bzw. Funktionssystemen zu beobachtenden Komplikationen basiert (. Tab. 11.1).Dies ist ein Basisprogramm für alle Menschen mit Down-Syndrom, das individuell auf jeden einzelnen Patienten angewandt wird. Es handelt sich um ein diagnostisches Vorgehen, dessen therapeutische Konsequenzen auf jeden einzelnen Patienten zugeschnitten werden. Ausgangspunkt ist nicht der Standpunkt einer für alle zutreffenden gleichen Komplikationsliste (z. B. jedes Kind mit Down-Syndrom ist durch einen Vitamin B- oder -A-Mangel charakterisiert) mit der Folge einer für alle anzuwendenden gleichen Therapie (z. B. Gabe von Vitaminen), sondern im Laufe regelmäßiger Vorsorgeuntersuchungen werden Funktionen verschiedener Organsysteme kontrolliert, und bei auffälligen Befunden wird eine – soweit medizinisch heutzutage mögliche – Behandlung eingeleitet. Ärzte und Eltern sollten diese möglichen Komplikationen des Syndroms kennen und frühzeitig auf die eine medizinische Intervention erfordernden Symptome bzw. Befunde aufmerksam werden. Als Hilfe dienen in den verschiedenen Altersgruppen regelmäßig durchzuführende klinische sowie Laboruntersuchungen (. Tab. 11.2). In der Altersgruppe der Jugendlichen sind folgende Aspekte von Bedeutung: Daten der Vorgeschichte hinsichtlich der Fortschritte in den Bereichen der Grob- und Feinmotorik, Kommunikation sowie des Sozialverhaltens. Im jugendlichen Alter werden nun zunehmend Befunde erfragt, die sich auf den Übergang von der Kindheit zur Pubertät und darüber hinaus – als weitere Perspektive – auf die Vorbereitungsphase für das Erwachsenenalter beziehen. Hierbei stehen vor allem folgende Gesichtspunkte im Vordergrund: 4 Selbständigkeit im Alltag 4 Fähigkeiten der Kommunikation 4 Leistungen in der Schule 4 Soziale Aktivitäten 4 Freizeitgestaltung und Freundschaften Außerdem sind weitere Fragen zu berücksichtigen: 4 Häufigkeit und Art von Infektionen (u. a. Hepatitis B)/Impfstatus 4 Sehvermögen, Keratokonus, Katarakt Neben den Problemen einer Fehlsichtigkeit (Kurz-, Weit-, Stabsichtigkeit) ist im Rahmen augenärztlicher Untersuchungen v. a. der Keratokonus zu erwähnen. Hierunter versteht man eine kegelförmige Vorwölbung der Hornhautmitte mit Verdünnung und Trübung des spezifischen Gewebes an der Spitze des Kegels. Als Folgeerscheinung tritt häufig eine irreguläre, meist kurzsichtige Stabsichtigkeit mit einer unterschiedlich ausgeprägten Sehverminderung auf. Es handelt sich hierbei um eine Komplikation,
97 11.4 · Der behinderte Jugendliche – Medizinische Probleme am Beispiel des Down-Syndroms
11
. Tabelle 11.1. Bei Patienten mit Down-Syndrom häufig vorkommende medizinische Komplikationen
Kardiale Komplikationen
Schilddrüsen-Dysfunktion
Angeborene Herzfehler – AV-Kanal – VSD – ASD – PDA – Fallot‘sche Tetralogie
– Struma – Chronische lymphozytäre Thyreoiditis – Hyperthyreose – Hypothyreose: – Angeboren – Morphologische Wachstumsstörung der Schilddrüse – Autoimmun- Erkrankung – Resistenz der Trisomie 21- Zellen gegen Schilddrüsenhormone
Erworbene Herzerkrankungen Mitralklappenprolaps Pulmonalarterienhypertonie – Links-Rechts-Shunt – Chronische Atemwegsobstruktion durch Tonsillenhypertrophie und Adenoide – Laryngomalazie – Makroglossie/Mittelgesichtshypoplasie – Obstruktive Schlaf-Apnoen – Häufige Infektionen der oberen Luftwege – Lungenhypoplasie – Abnormale Lungengefäße – Gastroösophagealer Reflux Infektionen – Otitis media mit Erguss – Sinusitis – Bronchitis – Pneumonie Orthopädische Komplikationen – Atlanto-axiale Instabilität – Hüftgelenksluxation – Pes planus – Patella-Instabilität – Skoliose – Epiphyseolysis
Haut – Alopecia areata Gastrointestinale Komplikationen – Duodenalstenose/-atresie – Aganglionose (Hirschsprung‘sche Erkrankung); Dysganglionose – Gastroösophagealer Reflux/ Hiatushernie – Zöliakie Augenärztliche Komplikationen – Strabismus – Nystagmus – Keratokonus – Katarakte – Brechungsfehler – Blepharitis/Konjunktivitis Neurologische/Psychatrische Komplikationen – Infantile Spasmen (BNS-Krämpfe) – Alzheimer‘sche Erkrankung – Autismus – Depression – Anorexie
Hämatologische Komplikationen – Leukämoide Reaktion des Neugeborenen – Leukämie – Myelofibrose – Thrombozytopenie
die selten bei Kleinkindern und vornehmlich im Alter über 15 Lebensjahren beobachtet wird. Auch eine erworbene Linsentrübung (Katarakt = grauer Star) kann bei vielen Patienten mit Down-Syndrom nachgewiesen werden. Zusätzliche Problempunkte ergeben sich bei: 4 Hörvermögen 4 Krampfanfälle: Während in der Kindheit cerebrale Krampfanfälle auch beobachtet werden können, treten sie jedoch nicht häufiger als in der Gesamtbevölkerung auf. Mit zunehmendem Alter wird aber eine vermehrte Inzidenz deutlich 4 Adipositas 4 Symptome einer Unterfunktion der Schilddrüse (Hypothyreose), aber auch einer Überfunktion (Hyperthyreose) 4 Verhaltensauffälligkeiten
11.4.3 Kritische Übergangsphase vom Schulalter
ins Berufsleben Mit dem Ende der Teenagerjahre gilt es auch für Jugendliche mit Down-Syndrom, sich von der Welt des Kindes zu befreien und in die Verantwortlichkeiten des Erwachsenenlebens einzutreten. Wenn dieser Übergang für junge Leute ohne Behinderung eine oft kritische und komplikationsreiche Phase bedeutet, kann dies umso mehr für Jugendliche mit Down-Syndrom angenommen werden. Trotz ihrer annähernd normalen körperlichen Reife fehlt es doch häufig an intellektuellen und gestalterischen Fähigkeiten, sowohl mit den Anforderungen der sozialen Umwelt als auch mit ihrem eigenen Wunsch nach Unabhängigkeit zurecht zu kommen. Nach der relativ behüteten Kindheit gilt es nun, auf eine berufliche Kompetenz vorbereitet zu werden und soziale Fähigkeiten zu entwickeln, um in der Gesellschaft zu bestehen.
98
Kapitel 11 · Behinderte Jugendliche
. Tabelle 11.2. Routineuntersuchungen in der Adoleszenz (alle 2 Jahre)
11
Anamnestische Daten
Entwicklungsfortschritte Infektionen (v. a. Hepatitis B) Sehvermögen Krampfanfälle Adipositas Symptome einer Hypothyreose Verhaltensauffälligkeiten Sexualität Hautprobleme Gewicht, Größe, Kopfumfang
Fachärztliche Untersuchungen
Allgemeine und neurologische Untersuchung Kardiologische Untersuchung HNO- Untersuchung Augenärztliche Untersuchung Zahnärztliche Untersuchung (zweimal jährlich) Orthopädische Untersuchung
Laboruntersuchungen
Schilddrüsenhormone (TSH, FT4, Autoantikörper) Gliadin-, Endomysium-Antikörper
Empfehlungen
Zahnhygiene Überwachung der Kalorienzufuhr Körperliche Aktivitäten Sexualerziehung Kognitives Training Impfstatus
In dieser Zeit ist die psychologische Anpassung an diese Phase des Umbruchs besonders bedeutsam, bei deren Bewältigung es einer behutsamen und toleranten Unterstützung von Angehörigen, Betreuern und Therapeuten bedarf. Störungen im Ablauf dieser Übergangsphase können durch vielfältige äußere Umstände ausgelöst werden:
5 5 5 5 5 5
Essstörungen Stereotypien Zwangsvorstellungen Mutismus Autismus Depressionen
Störungen in der Übergangsphase 5 Schwierigkeiten mit dem Umstand umzugehen, wenn Geschwisterkinder das Elternhaus verlassen, Jugendliche mit Down-Syndrom aber noch längere Zeit dort bleiben (müssen) 5 Der Tod von geliebten Menschen (z. B. Großeltern) 5 Änderungen innerhalb des Schulmilieus oder der Wechsel von der Schule in eine beschützende Werkstatt 5 Unglückliche Freundschaft/Liebe/sexueller Missbrauch 5 Überforderung, aber auch Unterforderung in der Schule/ am Arbeitsplatz
Ergebnis eines gestörten Anpassungsprozesses sind häufig Verhaltensauffälligkeiten, emotionale Symptome bis hin zu ernsthaften psychiatrischen Diagnosen:
Symptome eines gestörten Anpassungsprozesses 5 Aufmerksamkeitsstörungen 5 Aggressives Verhalten 5 Angstsyndrome
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Vor allem depressive Symptome bleiben dabei häufig undiagnostiziert, können aber bedeutsame Konsequenzen haben (z. B. Einweisung in eine Institution). Es soll hier darauf hingewiesen werden, dass – eine spezifische Diagnose vorausgesetzt – psychiatrische Symptome auch bei Patienten mit Down-Syndrom häufig erfolgreich behandelt werden können. Deshalb ist eine erhöhte Aufmerksamkeit für die Schwierigkeiten psychologischer Anpassungsprozesse gerade in dieser Zeit des Übergangs vom jugendlichen zum Erwachsenenalter notwendig, um psychiatrische Komplikationen vermeiden zu helfen. Das Erkennen dieser Nöte und Schwierigkeiten ist bedeutsam, da das Auftreten psychiatrischer Symptome eine Hauptindikation für die Einweisung in eine Institution bzw. in ein Heim darstellt. Viele der psychiatrischen Probleme können aber bei rechtzeitiger und richtiger Behandlung bewältigt werden, so dass eine Einweisung bzw. Hospitalisierung unnötig ist. Die Hospitalisierung hingegen ist oft nicht in der Lage, bei den anstehenden Problemen zu helfen; sie kann sogar einige Probleme erst hervorrufen bzw. verstärken.
99 11.4 · Der behinderte Jugendliche – Medizinische Probleme am Beispiel des Down-Syndroms
11.4.4 Sexualität Fortschritte in der pädagogischen Förderung und medizinischen Betreuung haben in den vergangenen Jahren zu einer verbesserten Entwicklungsprognose und Lebenserwartung der Menschen mit Down-Syndrom geführt. Die sexuelle Entwicklung unterscheidet sich bei Menschen mit Down-Syndrom kaum bzw. nicht wesentlich von derjenigen Nichtbehinderter. Die körperliche Entwicklung verläuft in den meisten Fällen altersgemäß und unabhängig von intellektuellen Faktoren. Jugendliche und Erwachsene haben in der Regel normal entwickelte Geschlechtsorgane bei einer meist altersentsprechenden sexuellen Reife. Beobachtungen aus früheren Jahren, aber auch jüngeren Datums haben die Fertilität von weiblichen Personen mit Down-Syndrom dokumentieren können. Entgegen früheren Annahmen einer mehr oder weniger ausschließlich vorliegenden Ovarialdysfunktion scheinen viele Mädchen und Frauen eine regelrechte ovarielle Funktion (u. a. zeitgerechte Menarche; Ovulation) aufzuweisen, die auch eine Schwangerschaft zulässt. Männliche Personen mit Down-Syndrom galten bisher als steril. Im Jahr 1989 wurde jedoch ein erster Fall der Zeugung eines Kindes durch einen Mann mit Down-Syndrom veröffentlicht, so dass auch die potentiell anzunehmende Zeugungsfähigkeit beim männlichen Geschlecht Anlass zu neuen Diskussionen über die schon hervorgehobenen Phänomene der Sexualerziehung, Sterilisation und Kontrazeption gibt. »Normalisierung« im Bereich der Sexualität bei geistig behinderten Menschen ist durch folgende Punkte definiert worden:
Voraussetzungen für eine »Normalisierung« 5 Recht auf Sexualerziehung zur Förderung sozialer Kontakte mit der Gemeinschaft 5 Recht auf Kenntnisse über Sexualität, soweit sie verstanden werden können 5 Recht zu lieben bzw. vom andern Geschlecht geliebt zu werden, einschließlich der Erfüllung sexueller Bedürfnisse 5 Recht zur Möglichkeit sexuelle Empfindungen in der gleichen Form zu äußern, wie es auch für andere Mitglieder der Gemeinschaft akzeptiert wird 5 Recht auf Geburtenregelung mit besonderer Berücksichtigung der Anliegen und Besonderheiten geistig behinderter Menschen (hierzu gehört auch das grundsätzliche Verbot einer Sterilisation bei Minderjährigen und die Möglichkeit der Sterilisation bei Erwachsenen nur nach Aufklärung und Befragung des Menschen mit geistiger Behinderung) 5 Recht zu heiraten 5 Mitspracherecht bei der Entscheidung, eigene Kinder zu haben oder auf eigene Kinder zu verzichten 5 Recht auf Unterstützung bei der Lösung dieser Rechte, soweit sie angesprochen werden und durchführbar scheinen
Akzeptiert man das Recht auf Sexualität für geistig behinderte Menschen, ist es notwendig, tragbare und natürliche Konzepte für Jugendliche und Erwachsene zu entwickeln. In der Übergangsphase vom Jugend- zum Erwachsenenalter sollten Men-
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schen mit Down-Syndrom beider Geschlechter über soziale und medizinische Aspekte der Sexualität und ihr Umfeld unterrichtet werden. Derartige Diskussionen sollten Verständnis u. a. für folgende Problembereiche wecken: 4 Untersuchungen des Genitalbereiches, insbesondere die gynäkologische Untersuchung bei jüngeren Mädchen bzw. Frauen 4 Diagnose und Behandlung beispielsweise des prämenstruellen Syndroms; Dysmenorrhoe; Menstruationshygiene; regelmäßige Vorsorgeuntersuchungen (z. B. Mammae, Zytologie des Gebärmutterhalses) 4 Pollution, Masturbation 4 Kontrazeption, Ehe, Erziehung von Kindern, Sterilisation Nach ersten Erfahrungen scheint diese Aufgabenstellung lösbar zu sein, obwohl die Problembereiche v. a. der Zeugung eigener Kinder bzw. der Sterilisation längst nicht ausdiskutiert sind. ! Die Erfahrung lehrt, dass Jugendliche mit Down-Syndrom durchaus in der Lage sind, regelmäßig Kontrazeptiva einzunehmen (die Minipille ist allerdings nicht zu empfehlen).
Des Weiteren kommen zur Empfängnisverhütung z. B. auch Hormonimplantate (Implanon) oder ein Hormonpflaster in Frage (Bzgl. Aufklärung über Risiken ▶ Kap. 38). Eine Sterilisation ist per se nicht indiziert. Obwohl Sexualität bei Menschen mit Down-Syndrom individuell sehr unterschiedlich zum Ausdruck kommt, haben Untersuchungen jüngeren Datums normale sexuelle Bedürfnisse bei mehr als der Hälfte der Patienten dokumentieren können. Es ist dabei bedeutsam, den Begriff Sexualität nicht auf Aktivitäten rein sexueller Natur wie Geschlechtsverkehr oder Masturbation einzuengen, sondern auf ein Spektrum sozial-sexueller Bedürfnisse auszuweiten, das sowohl für behinderte als auch für nichtbehinderte Menschen zutrifft: 4 Ein Freund – jemand, mit dem man reden kann, mit dem man gemeinsam etwas unternehmen kann 4 Etwas Wärme – jemand, der mich berührt, der seine Hand auf meine Schulter legt und damit sagen will: »Ich hab dich gern!« 4 Anerkennung – ein Wort oder ein Hinweis von anderen, die mir sagen: »Ich mag dich so, wie du bist!« 4 Zuneigung – Liebe; das Gefühl und das Wissen, dass man geliebt wird. Dies ist nicht notwendigerweise »Sex« 4 Würde – eine Mitteilung von anderen, dass man etwas bedeutet 4 Soziale Verbindungen – um Einsamkeit zu vermeiden; Kameradschaft 4 Sexuelle Befriedigung – das rein biologische Bedürfnis nach sexueller Aktivität, das zwar ein natürliches Bedürfnis darstellt, aber im Vergleich zu den anderen erwähnten Sehnsüchten nach menschlicher Nähe eher unbedeutend ist. Sehr zu empfehlen ist in diesem Zusammenhang das Buch von Delisle et al. (2003).
100
Kapitel 11 · Behinderte Jugendliche
11.4.5 Sport und körperliche Aktivität Körperliche Aktivitäten wie auch sportliche Wettkämpfe stellen wesentliche Bausteine der physischen, geistigen und sozialen Entwicklung von Jugendlichen mit geistiger Behinderung dar. Die Vorteile dieser Tätigkeiten liegen jenseits des nur einfachen Lernens sportlicher Geschicklichkeiten, der Gesunderhaltung bzw. des Erlangens von Fitness und umfassen auch Stärkung des Selbstvertrauens sowie Förderung der gesellschaftlichen Akzeptanz. Das Spektrum sportlicher Aktivitäten reicht vom Angebot lokaler Sportvereine bis hin zur Teilnahme an »Special Olympics« bzw. der »Paralympics«. Die Teilnahme an sportlichen Wettkämpfen ist ein weiterer Mosaikstein im Bemühen um Integration, wo auch Jugendliche mit geistiger Behinderung ermutigt werden, ihren Mut und ihre Fähigkeiten zu beweisen und dabei ihre Freude auszudrücken. Leider ist das sportliche »Vorortangebot« meist sehr spärlich. Auch Behindertenwettkämpfe finden meist nur in größeren Ballungszentren statt. Demzufolge bleibt die tägliche sportliche Aktivität Behinderter häufig auf der Strecke. Hier ist unbedingt eine Bewusstseinsänderung notwendig, die versucht Behinderte auch in das Sportangebot einer Region zu integrieren. Fazit
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Viel wichtiger aber als die medizinische und pädagogische Betreuung in allen Lebensaltern ist die Akzeptanz des individuellen Menschen trotz seiner begrenzten intellektuellen Möglichkeiten. Quantitative Größen wie der Intelligenzquotient dürfen nicht den Lebensweg eines Kindes oder eines Erwachsenen mit DownSyndrom bestimmen und sie über diese Schiene auf ein Abstellgleis innerhalb der Gesellschaft bringen. Es gilt, ihre mehr qualitativen Eigenschaften wie menschliche Wärme, Mitgefühl, Geduld, Freundlichkeit und Lebensfreude zu würdigen, ihnen mit Respekt zu begegnen und sie als vollwertige Mitglieder unserer Gesellschaft anzuerkennen.
Literatur Delisle B, Haselbacher G, Weissenrieder N (Hrsg.) (2003) Schluss mit Lust und Liebe? Sexualität bei chronischen Krankheiten und Körperbehinderungen. Ernst Reinhardt, München Basel Pueschel MS, Sustrova M (Hrsg.) (2002) Thema Down-Syndrom: Erwachsen werden. Edition 21.G & S, Zirndorf Storm W (1995) Das Down-Syndrom. Medizinische Betreuung vom Kindesbis zum Erwachsenenalter. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Stuttgart Storm W (1999) Homöopathische Behandlung von behinderten Kindern am Beispiel des Down Syndroms. Sonntag, Stuttgart Wilken E (2004) Menschen mit Down Syndrom in Familie, Schule und Gesellschaft. Lebenshilfe, Marburg
Nützliche Adressen Arbeitskreis Down-Syndrom, Bielefeld, Gadderbaumerstr. 28, 33602 Bielefeld, Tel.: (05 21) 44 29 98, Fax: 94 20 04,
[email protected], http:// www.down-syndrom.org Arbeitskreis Down-Syndrom e.V. Kirchlinteln, Am Schäferhof 27, 27308 Kirchlinteln, Tel.: (0 42 36) 9 41 01, Fax: -02,
[email protected], http://www.down-syndrom.de Bundesvereinigung Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung e.V., Raiffeisenstr. 18, 35043 Marburg, Tel.: (0 64 21) 4 91-0, Fax: -167, E-mail:
[email protected], http://www.lebenshilfe.
de (Unter dieser Internetadresse finden Sie eine ganze Reihe Fachinformationen, Aktuelles aus der Sozialpolitik und weitere Hinweise auf hilfreiche Anschriften, wie z. B. örtliche Selbsthilfegruppen und Lebenshilfe-Vereinigungen in Ihrer Region.) Bundesarbeitsgemeinschaft Gemeinsam Leben - Gemeinsam lernen e.V., http://www.gemeinsamleben-gemeinsamlernen.de Deutsches Down-Syndrom InfoCenter, Hammerhöhe 3, 91207 Lauf a. d. Pegnitz, Tel.: (0 91 23) 98 21 21, Fax: -22,
[email protected], http:// www.ds-infocenter.de Down-Syndrom Österreich:
[email protected] http://www.downsyndrom.at European Down-Syndrome Association (EDSA): http://www.edsa.downsyndrome.org Familienhandbuch: http://www.familienhandbuch.de Familienratgeber: http://www.familienratgeber.de insieme – Vereinigung für Kinder mit Down-Syndrom (Schweiz), Gesellschaftsstr. 30, CH-3012 Bern, Tel.: (00 41) 3 13 05 13 13, sekretariat@ insieme.ch, http://www.downsyndrom.ch Kindernetzwerk für kranke und behinderte Kinder und Jugendliche in der Gesellschaft e.V., Hanauer Str. 15, 63739 Aschaffenburg,
[email protected], http://www.kindernetzwerk.de Lebenshilfe Österreich, Förstergasse 6, A-1020 Wien, Tel.: (01) 8 12 26 42, Fax: -85,
[email protected], http://www.lebenshilfe.at Menschen mit Down-Syndrom, Eltern & Freunde e.V., Würzburg, Spessartstr. 57, 97082 Würzburg,
[email protected], http://www.trisomie21. de Nationale Kontakt- und Informationsstelle zur Anregung und Unterstützung von Selbsthilfegruppen (NAKOS), Wilmersdorfer Str. 39, 10627 Berlin, Tel. (030) 31 01 89 60, Fax: -70,
[email protected], http:// www.nakos.de
11.5
Sexualität
N. Weissenrieder )) Die Sprachlosigkeit der professionellen Anbieter von Gesundheit im Umgang mit Behinderten wird häufig noch größer, wenn es sich nicht nur um Behinderung, sondern zusätzlich noch um einen zentralen Lebensbereich handelt, nämlich der Entwicklung von Sexualität und Pubertät. Dieser Bereich wird schon bei gesunden Menschen häufiger tabuisiert und dementsprechend bei behinderten Kindern und Jugendlichen in noch stärkerem Maße mit Nicht-Wissen, Unsicherheit und Ängsten begegnet, nach dem Motto: Auch das noch! Stellvertretend für die vielen Ängste und Sorgen, die behinderte Jugendliche im Zusammenhang mit Sexualität haben, möchte ich zwei Fragen wiedergeben: 1. »Wie würden es Eltern finden, wenn sich zwei geistig behinderte Jugendliche lieben und miteinander schlafen wollen? 2. »Kann ich jemals richtig guten Sex haben, obwohl ich doch im Unterleib nicht so viel spüre?«
Die Entwicklung der Sexualität bei sog. gesunden Kindern und Jugendlichen wird im 7 Kap. 4 dargestellt. Die theoretischen Grundlagen, Entwicklungsmerkmale und Entwicklungsziele soDieser Beitrag wurde in anderer Form publiziert in Weissenrieder (2003).
101 11.5 · Sexualität
wie verschiedene Einflussfaktoren sind bei Behinderten und Nichtbehinderten im Prinzip ähnlich. 11.5.1 Die sexuelle Entwicklung geistig
behinderter Kinder und Jugendlicher Die psychosexuelle Entwicklung von geistig behinderten Kindern, d. h. Kinder deren Handicap bereits vorgeburtlich, bei der Geburt oder kurz nach der Geburt entstanden ist, verläuft im Prinzip nach denselben Kriterien wie die Entwicklung nichtbehinderter Kinder. Entsprechend dem Phasenmodell von Freund werden die orale, anale und genitale Phase durchlaufen. In Abhängigkeit von der Art und Schwere der geistigen Behinderung können Kinder, Jugendliche, aber auch Erwachsene in einer dieser psychosexuellen Entwicklungsphase stehen bleiben und sich nicht weiter entwickeln. Dies kann neben den psychosexuellen Entwicklungsfunktionen auch normale Körperfunktionen wie fehlende Kontrolle über Kot und Urin betreffen, die ein Tragen von Inkontinenzartikeln erforderlich machen. ! In der Pubertät erleben geistig behinderte Jugendliche den gleichen körperlichen Umstrukturierungsprozess wie nichtbehinderte gleichaltrige Jugendliche. Die psychische und psychosoziale Entwicklung in der Pubertät wird allerdings durch die Ausprägung der Behinderung mitbeeinflusst.
Dabei ist die sexuelle Entwicklung abhängig von der moralischen Einstellung und der Toleranz ihrer Eltern, Bezugspersonen und Betreuern. Häufig wird den Jugendlichen in Elternhaus, Schule und Wohnstätte weniger an Eigenständigkeit zugestanden als nichtbehinderten Jugendlichen. In der Folge wird den Behinderten auch generell weniger Erfahrungsaustausch in ihrer Peergroup, d. h. mit gleich- oder gegengeschlechtlichen gleichaltrigen behinderten Jugendlichen erlaubt. Ergebnisse über die Entwicklung behinderter Jugendliche in integrativen Einrichtungen d. h. z. B. Schulklassen mit gesunden und geistig behinderten Jugendlichen, liegen bisher nur als Einzelfallberichte vor. In einigen Bereichen werden die Unterschiede besonders deutlich, in denen bei geistig behinderten Kindern und Jugendlichen differenzierte Entwicklungsprobleme bestehen als bei gesunden Kindern und Jugendlichen. Eine ausführliche Erläuterung wird in den einzelnen krankheitsspezifischen Beiträgen erfolgen. Beziehung zu den Eltern Eine besondere Situation besteht in der Beziehung zu den Eltern. Die frühkindliche Nahrungsaufnahme, die für Mutter und Kind ein lustbetonter Vorgang ist, kann durch Trinkschwäche, Hypotonie der Zungenmuskulatur, Schluckstörungen, Erbrechen oder Aspiration erschwert sein und zur täglichen Auseinandersetzung zwischen Kind und Eltern führen. Das emotionale Kontaktbedürfnis des Kleinkindes kann Einschränkungen erfahren, da auch Eltern bei eingeschränkter Reaktionsfähigkeit und Zuwendungsfähigkeit des Jugendlichen in ihrer emotionalen Reaktion gegenüber dem Kind eine eingeschränkte Zuneigung erleben können. Es bedarf einer sorgfältigen Führung und Zuwendung der Eltern, um den notwendigen emotionalen Kontakt intensiv anbieten zu können und in der schwierigen Phase der Pubertät aufrecht zu erhalten.
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Körperlicher Kontakt und Kognition Das körperliche Kontaktbedürfnis des Jugendlichen kann durch die notwendigen, aber zum Teil schmerzhaften krankengymnastischen oder ergotherapeutischen Maßnahmen als ausschließlich belastend wahrgenommen werden. Zugleich erleben die Eltern, dass trotz umfangreicher Therapie keine wesentliche Verbesserung des Gesamtzustandes oder gar eine Heilung erreicht wird. Bei vielen geistig behinderten Kindern und Jugendlichen sind die kognitiven Fähigkeiten in unterschiedlichem Maße eingeschränkt und damit auch die Selbst- und Fremdwahrnehmung gestört. Eine Belastung können Eltern auch durch die Gesellschaft erfahren, die eine infantile Regression in kindliche Erlebens- und Verhaltensweisen nicht als spezielle Reaktion des Jugendlichen akzeptiert und eine sexuelle Auffälligkeit bei gesteigertem Triebverhalten z. B. bei immer wiederkehrender Selbstbefriedigung konstatiert. Sexualerziehung Auch die Diskrepanz zwischen Sexualalter, Intelligenzalter und biologischem Alter kann für Eltern im Umgang mit gesunden Erwachsenen zu einem deutlichen Problem werden. ! Eltern wird häufig eine »normale« Sexualerziehung ihrer Kinder durch Versagensängste, Schuld- und Schamgefühle erschwert.
Diese Probleme werden mit Eintritt der Pubertät und dem ersten Samenguss bzw. Regelblutung noch deutlicher, da gerade die geschlechtsspezifische Aufklärung durch eigene Ängste besetzt ist. Liebe, Freundschaft, Heirat, Familie und Kinder sind in der sexuellen Aufklärung von behinderten Jugendlichen nur selten ein Thema, über das Eltern sprechen können. Geistig behinderte Jugendliche haben weniger Möglichkeiten, erotische Erfahrungen mit Gleichaltrigen auszutauschen, über libidinöse Bedürfnisse oder sexuelle Phantasien bestehen kaum Kommunikationsmöglichkeiten. Rahmenbedingungen für Sexualität Bei Eltern, Bezugspersonen, Heimmitarbeitern und Tagesstättenbetreuern steht gelegentlich die Angst vor Übertragung ansteckender genitaler Erkrankungen und die Angst vor einer ungewollten Schwangerschaft im Vordergrund und verhindert die sexuelle Entwicklung und die auch für Behinderte notwendige sexuelle Erfahrung. Diese sexualfeindlichen Rahmenbedingungen und Vorurteile bewirken die von Walter benannte »sekundäre soziale Behinderung« mit der daraus resultierenden »behinderten Sexualität«. Die Ablösung vom Elternhaus fällt allen Jugendlichen schwer, genauso wie auch die meisten Eltern Schwierigkeiten haben, ihre jugendlichen Kinder loszulassen. Bei Behinderten ist dabei die materielle Abhängigkeit von den Eltern besonders belastend, wenn sie über kein Taschengeld verfügen. Leider finden sich auch heute noch unterschiedliche Ausstattungen z. B. bei der Kleidung, die zu einer zusätzlichen Diskriminierung führen können. Ein weiterer Grund, der die Ablösung erschweren kann, ist das Wissen über eine erhöhte Rate an sexuellen Missbrauch bei behinderten Mädchen und Jungen. ! Intellektuelle Beeinträchtigung, Hilfsbedürftigkeit und Abhängigkeit, die Erziehung zur Anpassung und Unauffälligkeit sind ebenso belastende Faktoren wie emotionale Vernachlässigung, geringes Selbstwertgefühl und Artikulationsfähigkeit sowie geringe Glaubwürdigkeit.
102
Kapitel 11 · Behinderte Jugendliche
Statistisch berichten je nach Untersuchung und Datenlage bis zu 50% der Behinderten, dass sie als Kinder oder Jugendliche einmal sexuell missbraucht wurden. Dies betrifft Mädchen viermal häufiger als Jungen. 11.5.2 Die sexuelle Entwicklung körperlich
behinderter Kinder und Jugendlicher Bei körperlich behinderten Kindern ist die zeitliche Entstehung und die Ursache der körperlichen Behinderung von Bedeutung. Die Behinderung ist in der Regel präpartal angelegt und kommt postpartal zum Tragen. Diese Behinderung kann sich allein auf den körperlichen Bereich beschränken, häufig liegt aber auch eine körperliche und eine geistige Behinderung in unterschiedlicher Ausprägung vor. Zusätzlich kann es auch bei primär gesunden Kindern und Jugendlichen durch einen Unfall oder ein anderes Ereignis zu einer sekundären körperlichen Behinderung kommen.
11
Psychomotorische Entwicklung Die Entwicklung des körperbehinderten Kindes oder Jugendlichen ist durch die gleichen Faktoren wie eines gesunden Kindes oder Jugendlichen definiert. In Abhängigkeit vom Ausmaß der Behinderung kann die psychosexuelle Entwicklung Einschränkungen erfahren. Bei körperlich behinderten Kindern kann die orale Nahrungsaufnahme je nach Art der Behinderung erschwert sein. Die Gewichtszunahme steht häufig für Eltern und Ärzte als ein wichtiger Faktor von Normalität im Vordergrund und bedingt möglicherweise einen frühen Konflikt zwischen Mutter und Kind, wenn eine zeitlich lange andauernde und frustrierende Nahrungsmittelaufnahme zu schweren Interaktionsstörungen führt. Die psychomotorische Entwicklung von körperbehinderten Kindern kann durch Einschränkung in den motorischen und sensiblen Fähigkeiten deutlich verändert ablaufen. Auf Grund einer Behinderung in der Mobilität der Extremitäten – Arme und Hände, Beine und Füße ‒ können bestimmte erotische Erfahrungen beim natürlichen Erkunden des Körpers nicht oder nur unzulänglich gemacht werden. Dies betrifft z. B. das Betasten und Fühlen unterschiedlicher Körperregionen sowie die Durchführung von Selbstbefriedigung. Körperkontakt und Körperideal Bei körperlich behinderten Kindern wird das Problem des unerreichbaren Körperideals gerade im Vergleich zu gesunden Kindern und deren Können bereits sehr früh thematisiert. Jugendliche mit spastischen Erkrankungen erfahren bereits sehr früh durch eine intensive körperliche Zuwendung in Form von Krankengymnastik, dass körperliche und taktile Zuwendung häufig mit Schmerzen und negativen emotionalen Erlebnissen gekoppelt sein kann. Mit dem Besuch des Kindergartens, spätestens der Schule erleben körperbehinderte Kinder die erste Erkenntnis einer Behinderten Identität und können erste Identitätskrisen erleiden. Mit Eintritt in die Pubertät und der Erfahrung, dass das Körperbild, das Körperideal und die eigenen Wunschvorstellungen von der Realität abweichen, können weitere einschneidende Krisen erfolgen. Über das Erleben des ersten Samenergusses und der ersten Menstruation bei körperbehinderten Jugendlichen liegen keine wissenschaftlichen Untersuchungen vor. Selbstbefriedigung und erotische Erfahrungen mit Gleichaltrigen können völlig fehlen.
Mangelndes Wissen über sexuelle Bedürfnisse Die Unkenntnis über sexualbiologische Zusammenhänge bei Eltern, aber auch professionellen Betreuern erschwert eine notwendige Aufklärung über sexuelle Bedürfnisse und Möglichkeiten von behinderten Jugendlichen. Die Art und Weise der Identifikation der Eltern mit der körperlichen Behinderung des Kindes ist für den Jugendlichen und seine Einstellung und sein Selbstbild des eigenen Körpers prägend. ! Von besonderer Bedeutung für den Jugendlichen ist es, die »sexuelle Sprache« zu lernen, d. h. Signale der Annäherung und der Abwehr zu deuten und sich aber auch selbst als sexuell fühlender Mensch zu erleben.
In der Pubertät und der beginnenden Adoleszenz erfahren körperlich behinderte Jugendliche eine häufig über das normale Entwicklungsalter hinausgehende Beeinträchtigung der Kontrolle von Harn und Stuhlgang und die daraus eventuell resultierende Abhängigkeit von Fremdhilfe als eine neue Dimension. Erogene Zonen sind auch durch die bestehenden Inkontinenzprobleme mit Scham belegt. Die Schwierigkeiten der Loslösung vom Elternhaus sind bei behinderten Jugendlichen durch die fehlende Mobilität und die mangelnde Bereitschaft der Gesellschaft, der politischen und administrativen Verantwortlichen, jedem körperlich behinderten Menschen einen freien Zugang zu allen öffentlichen Stellen zu ermöglichen, gekennzeichnet. Sie unterscheiden sich sonst nicht von den Problemen gesunder Jugendlicher. 11.5.3 Die sexuelle Entwicklung chronisch kranker
Kinder und Jugendlicher Die psychosexuelle Entwicklung chronisch kranker Kinder und Jugendlicher hängt von der Art der Erkrankung sowie zum Zeitpunkt des Auftretens kritischer Veränderungen in der sexuellen und pubertären Entwicklung ab. Von weiterer Bedeutung ist auch die Prognose des Krankheitsbildes bezüglich des Überlebens. Die wichtigsten chronischen Erkrankungen, d. h. nicht primär geistige oder körperliche Erkrankungen, mit einem Auftreten von Handicaps in Bezug auf Sexualität sind: 4 Erkrankungen der Atemorgane wie Asthma, zystische Fibrose 4 Erkrankungen des Herzens wie angeborene oder erworbenen Herzerkrankungen 4 Erkrankungen des Stoffwechsels wie Diabetes, Pankreasinsuffizienz 4 Erkrankungen des Bewegungsapparates wie jugendliches Rheuma 4 Erkrankungen des zentralen Nervensystems wie Epilepsie 4 Erkrankungen der Niere wie z. B. terminale Niereninsuffizienz 4 Erkrankungen der Haut wie Lichtdermatosen, Sklerodermie 4 Bösartige Erkrankungen des Kindesalters wie Bluterkrankungen oder Tumoren 4 Zustand nach Transplantationen wie Herz, Lunge, Nieren Der Eintritt einer dieser Erkrankungen ist in der Regel ein akutes Ereignis, das ein Kind oder Jugendlicher in einer bestimmten Phase seiner psychosexuellen, emotionalen und psychosozialen Entwicklung trifft. Die Entwicklung war bis zu diesem Zeitpunkt der normalen Entwicklung eines gesundes Kindes oder Jugendlichen vergleichbar.
103 11.5 · Sexualität
Die Situation ist daher von Fall zu Fall und je nach Erkrankungsbild völlig unterschiedlich. Das soziale Umfeld, d. h. die Eltern und Bezugspersonen des Kindes oder des Jugendlichen sollen von Anfang an in alle Maßnahmen einbezogen werden, da ihre Ängste und ein dadurch bedingtes mögliches Fehlverhalten die Probleme des einzelnen Jugendlichen verstärken können. ! Eltern von Kindern und Jugendlichen mit chronischen Erkrankungen haben häufig Ängste vor körperlicher Schädigung und Verletzung durch vermehrte Anstrengungen bei Sexualität und Geschlechtsverkehr.
Bei Jugendlichen, deren Überlebenszeit heute noch medizinisch begrenzt ist, kommen zusätzliche Faktoren wie die Angst einer ungewollten Schwangerschaft hinzu. Das kann zu einer deutlich erschwerten Lösung vom Elternhaus führen oder Eltern sogar das Loslassen unmöglich machen. Die Entwicklung einer sexuellen Identität verläuft in Abhängigkeit vom einzelnen Erkrankungsbild und Zeitpunkt des Auftretens im Regelfall wie bei körperlich gesunden Jugendlichen.
Literatur BzgA, Sexualforschung, BzgA Forum 1–2002 Sielert U (1993) Sexualpädagogik, Beltz, Weinheim Stange H (1993) Jugend Identität Sexualität, Projekt Walter J (1986) Pubertätsprobleme bei Jugendlichen mit geistiger Behinderung. In: Geistige Behinderung 2, 26 Wanzeck-Sielert C (1997) Der Missbrauchsdiskurs und seine Auswirkungen auf Sexualität und Sexualerziehung, BzgA Forum 1/2 Weissenrieder N (2003) Kindheit, Jugend und Sexualität. In: Delisle B, Haselbacher G, Weissenrieder N (Hrsg) Schluss mit Lust und Liebe? Sexualität bei chronischen Krankheiten und Körperbehinderungen. Ernst Reinhardt, München Basel, S 39–64
11
III I
Der Jugendliche in der Praxis 12
Grundlagen jugendmedizinischer Tätigkeit in der Praxis – 107 B. Stier, N. Weissenrieder
13
Kommunikation – 116 J. Kraak
14
Psychosoziale Einführung und Begleitung – 120 J. Grieser, U. Eiholzer
15
Der »kranke« Jugendliche – 125 J. Grieser, U. Eiholzer
16
Jugendgesundheitsuntersuchung J1 – 132 N. Weissenrieder, B. Stier
17
Jugendarbeitsschutz – 139 K.-D. Rolirad
107
12
12 Grundlagen jugendmedizinischer Tätigkeit in der Praxis Organisation, Jugendsprechstunde, Tipps und Hilfen1 B. Stier, N. Weissenrieder )) »Die Erwachsenen sollten mehr auf uns eingehen und uns mehr zutrauen« (Irini D. – Bilder von Jugend 1996) Verschiedene Untersucher in internationalen Studien (Klein et al. 2002; Ackard et al. 2001) kommen zu dem Ergebnis, dass Jugendliche ein großes Bedürfnis besitzen, sich mit medizinischem Fachpersonal zu beraten. Viele der befragten Jugendlichen gaben allerdings an, dass es für sie aufgrund von Schamgefühlen schwierig sei, für sie »heikle« Themen wie körperliche Veränderungen, Verhütung, Essstörungen und Drogengebrauch beim Arzt anzusprechen. Infolgedessen wünschten sie sich Ärzte, die diese Themen von sich aus ansprechen und den Jugendlichen das Gespräch über diese Themen erleichtern.
Von besonderer Bedeutung ist die ärztliche Schweigepflicht, über die weniger als die Hälfte der Jugendlichen nach einer Befragung von Allen et al.(1998) informiert wurden. Die Jugendlichen, die ausdrücklich auf diese Vertraulichkeit hingewiesen worden waren, sprachen mit größerer Wahrscheinlichkeit ein Thema an. Ebenso ist es wichtig, Jugendlichen die Art und Weise nahe zu bringen, wie beratende und betreuende Institutionen arbeiten. Bei den meist an körperlichen Problemen orientierten Arztbesuchen findet keine umfassende Betreuung der Jugendlichen statt, die auch stärker präventive Aspekte und beratende Tätigkeiten umfassen würde. Deutsche Studien zeigen darüber hinaus, dass ein nicht unerheblicher Teil junger Patienten trotz körperlicher Probleme keine medizinische Hilfe aufsucht (Zimmer-Gembeck 1997). Jugendmedizinische Tätigkeit kann sich an nachfolgenden Grundsätzen orientieren:
12.1
Zugangsbarrieren für den Jugendlichen
Die meisten Hindernisse im Zugang zur Kinder- und Jugendarztpraxis finden sich bei den Jugendlichen selbst. Das Wissen über die Wirksamkeit ärztlicher Maßnahmen wird beeinflusst durch das individuelle Wissen über Krankheit und Gesundheitserhaltung einerseits als auch andererseits durch die Darstellung ärztlicher Betreuung in der Gesellschaft und den Medien. Die öffentliche Diskussion der letzten Jahre über Finanzierbarkeit ärztlicher Betreuung wie auch die aktuellen Maßnahmen der Gesundheitspolitik tragen sicher nicht zur besseren Akzeptanz medizinischer Hilfe bei Jugendlichen bei. Erschwert wird der Zugang durch das bereits erwähnte, schlecht ausgeprägte Bewusstsein über Erkrankung und dem verdrängten Umgang mit Erkrankung. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist das Schamgefühl der Jugendlichen in der Pubertät, das vor allem zum Zeitpunkt der körperlichen Reifung sehr ausgeprägt ist, und einem vermeintlich beschämenden Arztbesuch entgegensteht.
12.1.1
Erreichbarkeit
Ein Hindernis kann unter Umständen bereits mit der örtlichen Erreichbarkeit der Arztpraxis beginnen, wenn z. B. in ländlichen Gebieten die Arztpraxis nur mit großen Schwierigkeiten mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu erreichen ist. Aber auch in großen Städten kann die Erreichbarkeit der Praxis von der Verfügbarkeit der Erziehungsberechtigten abhängen, wenn der Anfahrtsweg mit öffentlichen Verkehrsmitteln zeitlich aufwendig ist. Dieser Zugangsweg zum Kinder- und Jugendarzt wird deutlich schwieriger, wenn beim Jugendlichen auf Grund einer chronischen Erkrankung oder eines Handicaps eine körperliche Beeinträchtigung besteht, die die Begleitung durch eine Bezugsperson erforderlich macht.
Grundsätze jugendmedizinischer Tätigkeit 5 Verfügbarkeit (Praxis, Schule, Klinik) 5 Erreichbarkeit (örtlich, zeitlich) 5 Akzeptanz (Respekt, Vertrauen, Entwicklungsstand berücksichtigen) 5 Annahme (jugendgerecht, Autonomiebestrebungen berücksichtigen) 5 Bedürfnisorientiertheit 5 Finanzierbarkeit
1
Dieses Kapitel ist eine modifizierte Fassung des Beitrags, der 2002 in Dörr/Rascher, Praxisbuch Jugendmedizin (Urban & Fischer Verlag 2002) publiziert wurde.
12.1.2
Finanzierbarkeit
Auf Grund der heutigen Finanzierungssituation ist es bei einem Arztbesuch erforderlich, dass der Jugendliche seine Versichertenkarte als Ausweis seiner Zugehörigkeit zu einer gesetzlichen Krankenkasse mit sich führt. Wenn der Jugendliche in seinen Autonomiebestrebungen bereits die alleinige Verfügbarkeit über diesen Versicherungsnachweis hat, ist ein selbständig induzierter Arztbesuch möglich. Andernfalls muss der Jugendliche vor Inanspruchnahme eines Arztes den intendierten Kontakt mit seinen Eltern/Kontaktpersonen absprechen. ! Dies kann unter Umständen den Zugangsweg Arzt deutlich belasten, da neben dem Besuchsaufwand ein deutlich höherer Organisationsaufwand erforderlich ist.
108
Kapitel 12 · Grundlagen jugendmedizinischer Tätigkeit in der Praxis
Bei Jugendlichen über dem 18. Lebensjahr wird nach dem Gesundheitsmodernisierungsgesetz die sog. Praxisgebühr vor einer ärztlichen Leistung fällig. Eine weitere finanzielle Belastung ist durch die Rezeptgebühr gegeben, die mengenabhängig auf alle Kassenrezepte erhoben wird. Erschwerend kommt für alle Jugendliche, aber besonders chronisch kranke Jugendliche hinzu, dass sog. »OTC«-Präparate (Over the counter), d. h. Medikamente, die nicht rezeptpflichtig sind und nicht mehr zu Lasten der gesetzlichen Krankenkassen rezeptiert werden dürfen, vom Jugendlichen ab dem 12. Lebensjahr beim Kauf in der Apotheke vollständig selbst bezahlt werden müssen. Dies verhindert jedoch zum einen die spontane Inanspruchnahme einer ärztlichen Leistung bei vermeintlichen Bagatellerkrankungen und führt zum anderen zu einer deutlichen finanziellen Belastung sozial schlechter gestellter Familien. Bei Jugendlichen, die einer privaten Krankenversicherung angehören, ist dieser Aufwand reduziert, wenn der Jugendliche in der aufgesuchten Praxis bereits bekannt ist. Von erheblicher Bedeutung ist aber der Umstand, dass bei Abrechnung der erbrachten Leistung durch den Arzt den Eltern/Erziehungsberechtigten der Anlass des Arztkontaktes durch Aufführen der Diagnose sowie der durchgeführten Leistungen bekannt wird. Dies kann unter Umständen auch rechtliche Probleme aufwerfen, wenn z. B. eine gestellte Diagnose nach Absprache mit dem Jugendlichen den Eltern nicht mitgeteilt werden darf.
12.1.3
12
Terminvergabe
Eine weitere Schwierigkeit liegt in der Terminvereinbarung. Dies betrifft sowohl den Zeitpunkt der Terminvereinbarung als auch den eigentlichen Arzttermin. Gelegentlich wird bereits bei der Terminvereinbarung ein Termin durch die Arzthelferin bestimmt, der die Eigenverantwortlichkeit der Jugendlichen nicht ausreichend berücksichtigt und aus verschiedenen Gründen nicht eingehalten wird, z. B. wenn ein zu großer Zeitabstand zwischen Terminvereinbarung und Termin liegt. Gerade bei Jugendlichen, die bereits in einer beruflichen Ausbildung stehen, ist die Terminvereinbarung häufig erschwert, wenn nicht genügend Abendtermine nach Beendigung der Arbeitszeit und unter Berücksichtigung des Anfahrtsweges zur Verfügung stehen.
12.1.4
Empfang/Wartebereich
Eine nächste Hürde im Zugangsweg Arzt kann am Empfang/Wartebereich liegen. Ein unfreundlicher Empfang, z. B. beim zu spät kommenden Jugendlichen, oder eine längere Wartezeit kann dazu führen, dass der »erweiterte« Kontakt beim Besuch unterbleibt oder beim nächsten Anlass ein Besuch gar nicht mehr stattfindet. Die Gestaltung des Wartezimmers oder des Behandlungsraumes stellt eine weitere Hürde dar, wenn die Einrichtung Bedürfnisse von Jugendlichen nicht erfüllt, z. B. nur ungeeignete Wartezimmerzeitungen und/oder zu kurze Behandlungsliegen vorhanden sind.
12.1.5
Der Arzt
In der Person des Arztes können Probleme zum Tragen kommen, wenn der Jugendliche sich nicht adäquat angenommen
und angesprochen fühlt. Kinder- und Jugendärzte müssen zum Teil erst ihre Kommunikationsstrukturen auf den Jugendlichen als Patienten ausrichten, da sie es überwiegend gewohnt sind, mit den Eltern von Kleinkindern zu kommunizieren. Die fachliche Kompetenz kann für den Zugangsweg von entscheidender Bedeutung sein, wenn der Jugendliche den Eindruck gewinnt, dass sein Kinder- und Jugendarzt auf eine andere Zielgruppe spezialisiert ist. ! Die Erkenntnis, dass der Patient immer vor einem liegt, sitzt oder steht, also die direkte Ansprache schon vom Säuglingsalter angegeben ist, kann hier eine entscheidende Hilfe sein.
Die Einstellung der Eltern, die den Kinder- und Jugendarzt als kompetenten Ansprechpartner ihrer Säuglinge und Kleinkinder erlebt haben und den zuständigen Hausarzt als Familienarzt ab dem 10. Lebensjahr ansehen, kann den Zugang ebenso erschweren wie der individuelle Freundeskreis, der den Kinder- und Jugendarzt nicht als zuständigen Arzt akzeptiert. Dies verdeutlicht, wie viele Schwierigkeiten auf Grund der besonderen Situation »Jugendlicher« den Zugangsweg zum Arzt belasten können. Die Umsetzung der nachfolgenden Empfehlungen ist daher für den einzelnen Arzt individuell erforderlich und soll sich immer an den persönlichen und örtlichen Besonderheiten orientieren.
12.2
Fachliche Voraussetzungen
! Jugendmedizinische Kompetenz umfasst mehrere Wissensbereiche, die sich aus medizinischem, psychosomatischem, psychischem und psychosozialem Wissen zusammensetzen.
Der Schwerpunkt medizinischen Wissens liegt im Bereich der pädiatrischen Endokrinologie, der somatischen Veränderungen in der Pubertät, der orthopädisch relevanten Entwicklung des Skeletts und ernährungsabhängigen Stoffwechselerkrankungen. Ein erweitertes Wissen über die physiologischen und pathologischen Veränderungen häufig auftretender chronischer Erkrankungen beim Übergang in die Pubertät und Adoleszenz ist ebenso Voraussetzung. Ausschlaggebend für die soziale Gesundheit Jugendlicher sind gute Kontakte in der Schule, Familie und im Freundeskreis. Grundsätzlich dürfen Aspekte der subjektiven körperlichen Gesundheit nie isoliert betrachtet werden. Alter, Geschlecht, sozioökonomischer Status, Bildungsniveau und Pubertätsstadium beeinflussen die subjektive Wahrnehmung der körperlichen Gesundheit unterschiedlich stark. Im psychosomatischen und psychischen Bereich sind spezifische Kenntnisse erforderlich, um in dieser Altersstufe zum Teil erstmals auftretende Erkrankungen aus der Kinder- und Jugendpsychiatrie zu diagnostizieren und Auswirkungen seelischer Fehlentwicklungen sowie Belastungsfaktoren einschätzen zu können. Im psychosozialen Bereich ist ein erweitertes Wissen von großer Bedeutung, um die Einflüsse gesellschaftlich relevanter Faktoren auf die Jugendlichen beurteilen zu können und im Sinne einer ganzheitlichen medizinischen Betreuung zu berücksichtigen. Eigene Schulung in der Wahrnehmung der Jugendlichen sowie »ihrer Themen« in der Gesellschaft ist dafür eine wichtige Voraussetzung.
109 12.4 · Jugendsprechstunde
Entsprechend der Entwicklungsphase ist auch ein Grundwissen im arbeitsmedizinischen Bereich sowie in der Rechtsmedizin erforderlich. Neben diesen fachlichen Voraussetzungen ist eine persönliche Empathie für Jugendliche und deren Entwicklungsabschnitt grundlegend, da das individuelle ärztliche Engagement durch immer wieder vorkommende »Rückschläge« z. B. durch die mangelnde Compliance der Jugendlichen beeinträchtigt zu werden droht.
12.3
Anmeldung/Terminvergabe
Der erste Kontakt eines Patienten findet üblicherweise im Rahmen einer Anmeldung telefonisch oder persönlich mit einer Arzthelferin statt. Daher ist es wichtig, die Mitarbeiter des Praxisteams mit den Besonderheiten der Betreuung von Jugendlichen vertraut zu machen. Besonders hilfreich ist eine gute Schulung der Arzthelferinnen in Gesprächsführung, da der erste Kontakt häufig telefonisch erfolgt. Dieser erste Kontakt ist oftmals entscheidend für den Verlauf der weiteren Kommunikation zwischen Patient und Praxisteam und sollte daher unbedingt positiv gestaltet werden. Von Bedeutung sind dabei Offenheit und ernstgemeintes Akzeptieren des Gesprächspartners sowie eine klare, eindeutige und abgesprochene Terminvergabe.
12.3.1
Tipps für die Arzthelferin bei der telefonischen Terminvergabe
12
halb ihrer Arbeitszeit legen wollen, da ihr Arbeitgeber keine Kenntnis über den Arztbesuch bekommen soll. Bei der Terminvergabe sind auch die Anfahrtszeiten zu berücksichtigen, um einen zusätzlichen Stressfaktor zu vermeiden z. B.: »Ich sehe, du hast einen weiten Weg zu unserer Praxis, soll ich dir den Termin 15 Minuten später geben?« Von wesentlicher Bedeutung ist, dass die Arzthelferin auch die Besonderheiten des jeweiligen Arztes in der Praxis berücksichtigt und eventuell zeitintensivere Patientenkontakte mit dem Arzt abspricht, um Verstimmungen zu vermeiden, die das Verhältnis zum Jugendlichen belasten können, z. B.: »Aber Sie wissen doch, am Donnerstag muss ich pünktlich aus der Praxis raus!” In jeder Praxis sollte selbstverständlich sein, dass Jugendliche mit Namen angesprochen werden. Ebenso ist es wichtig, dass die Jugendlichen wissen, wie die Mitglieder des Praxisteams heißen. Dazu ist es erforderlich, dass das Praxisteam Namensschilder trägt und somit eine Zuordnung eindeutig möglich ist. Was die Arzthelferinnen am Empfang betrifft, gibt es keine grundsätzliche Empfehlung. Die Anmeldung für eine jugendmedizinisch orientierte Praxis kann sowohl mit der erfahrensten Helferin im Team, mit einem ernsthaften-erwachsenen Umgangston, als auch mit einem jungen Teammitglied, mit einem jugendlich-lockeren Umgangston, besetzt werden. Entscheidend für den Umgang mit Jugendlichen ist die Akzeptanz und Ernsthaftigkeit, mit der dem Anliegen des Jugendlichen begegnet wird. Ein zugewandtes Lächeln, eine offene, annehmende Körperhaltung kann die sprachliche Akzeptanz deutlich verstärken.
12.4
Jugendsprechstunde
Tipp 5 Meldung mit z. B.: »Kinder- und Jugendarztpraxis Dr. Mayerbär, mein Name ist Schulz, wie kann ich Ihnen/ dir helfen?« 5 Nachfragen nach dem Namen des Jugendlichen und persönliche Ansprache mit Namen 5 Jugendliche melden sich in der Regel mit Vornamen und Nachnamen, wenn sie die Ansprache mit dem Vornamen akzeptieren 5 Einfühlsames Nachfragen nach dem Grund des Besuches, um den Zeitrahmen und damit die Terminvergabe abzuklären 5 Terminvereinbarung in eindeutiger Abstimmung mit dem Jugendlichen: »Passt der Termin für dich?« 5 Bei unklaren Inhalten des Telefongespräches z. B.: »Ich weiß gar nicht, ob es notwendig ist zu kommen?« Sachverhalt ansprechen und eventuell Ängste, offensichtliche oder verborgene Befürchtungen ansprechen und konkrete, angstabbauende Antworten anbieten
Bei der Terminvergabe ist es sehr wichtig, eine klare Vereinbarung zu treffen, die die Belange von Patient und Arzt berücksichtigt. Dies betrifft selbstverständlich nicht akute Erkrankungen, die eine sofortige Vorstellung erforderlich machen. Der Termin muss die persönliche Situation des Jugendlichen berücksichtigen. Schulpflichtige Jugendliche haben zum Teil auch nachmittags Unterricht und können daher nur zu späteren Terminen einbestellt werden wie bereits berufstätige Jugendliche, die z. B. in einem Ausbildungsverhältnis stehen und den Arzttermin außer-
Die Einrichtung einer speziellen zeitlich limitierten Jugendsprechstunde ist eine individuelle Entscheidung, die von der Ausrichtung und Auslastung der Praxis abhängt.
Vorteile einer Jugendsprechstunde 5 5 5 5
Rücksichtnahme auf Schul- und Arbeitszeiten Jugendliche treffen sich im Wartezimmer Bessere Möglichkeiten, sich auf Jugendliche einzustellen Planbarkeit
Nachteile einer Jugendsprechstunde 5 Zeitliche Festlegung/Unflexibilität 5 Blockierung von Praxiszeiten 5 Frustration bei Terminausfällen
Bei einigen Kollegen hat sich die Durchführung einer Jugendsprechstunde zur Durchführung der Jugendgesundheitsuntersuchung oder bei planbaren längeren Gesprächen bewährt. Sie bieten diese Sprechstunde z. B. jeden zweiten Samstagvormittag an. Manch Ärzte sind von der Einrichtung einer zeitlich limitierten speziellen Jugendsprechstunde wieder abgekommen, da nach ihrer Einschätzung eine größtmögliche Flexibilität den Ansprüchen der Jugendlichen am besten gerecht wird. Vielfach lassen sich Akutprobleme in kurzer Zeit im allgemeinen Praxisalltag lösen. Bei speziellen Fragestellungen und Problemen haben Jugendliche in der Regel Verständnis dafür, dass der Termin zu einem späteren Zeitpunkt stattfindet.
110
12
Kapitel 12 · Grundlagen jugendmedizinischer Tätigkeit in der Praxis
12.5
Praxisausstattung/Praxisräume
12.5.1
Allgemeines
Generell gilt, dass die Praxisausstattung zwar jugendfreundlich sein soll, aber letzlich keinen entscheidenden Einfluss auf die Akzeptanz des Jugendlichen hat. Verschiedene Ausstattungsmöglichkeiten werden von einigen Kollegen als hilfreich angesehen. Auch hier gilt wieder die Aussage, dass sich die Ausstattung und das Angebot von Praxisräumen nach der individuellen Praxisausrichtung und Struktur richten sollte. Von Jugendlichen gemalte Bilder (z. B. lohnt es sich, mit Schulen/Kunstlehrern in Kontakt zu treten, um Ausstellungen zu bestimmten Themen zu initiieren) können Jugendliche schon beim Betreten der Praxis signalisieren, dass sie hier willkommen sind und eine Identifikation mit der Praxis herstellen. Im Anmeldungsbereich kann eine Infowand für Jugendliche eingerichtet werden, auf der ein Veranstaltungskalender, Informationen zu aktuellen Themen oder wichtige Adressen für Jugendliche angebracht werden. Bewährt hat sich auch ein Faltblatt mit praxisspezifischen Informationen sowie einer aktuellen Information über Terminvereinbarungsmodalitäten, Öffnungszeiten und Notfallversorgung, das an der Anmeldung ausgelegt werden kann. Gerade bei unvorhergesehenen Wartezeiten und zur Zeitüberbrückung kann die Arzthelferin an der Anmeldung auf dieses Informationsangebot hinweisen. Bei ausreichenden Platzverhältnissen bietet es sich an, im Anmeldebereich eine Kurzwartezone für Jugendliche einzurichten. Ideal ist auch die Einrichtung eines eigenen Wartebereiches für Jugendliche, wenn genügend Raum und Patientenandrang besteht. Alternativ kann ein im allgemeinen Wartezimmer eigens für Jugendliche abgetrennter Bereich eingerichtet werden. Das Thema »jugendgerechtes Wartezimmer« ist nach unserer Erfahrung durch ein kurzes und gewinnendes Gespräch an der Anmeldung, in dem die aktuellen Probleme des Jugendlichen registriert werden, auch ohne bauliche Maßnahmen zu lösen. Persönlich haben wir den Eindruck, dass sich Jugendliche eher an einem leeren statt einem lebendigen Wartezimmer stören. Von größerer Bedeutung hingegen ist die Bereitstellung jugendspezifischer Lektüre. Dies betrifft sowohl Zeitschriften aus dem Bereichen Computer, Musik, Technik, Sport, Comic und Mode. Gerade auch die oft geschmähten Illustrierten wie Bravo oder Bravogirl werden doch von fast allen Jugendlichen altersabhängig mit Freude gelesen. Dabei sollte aber die Gelegenheit genutzt werden, sinnvoll erscheinende Alternativen bekannt zu machen (z. B. Young Miss) und nicht unbedingt auf das Informationsmaterial zurückzugreifen, was sie ohnehin kennen. Zusätzlich können im Wartezimmer fachliche Informationen zur Aufklärung, Verhütung, zur Drogen- und Suchtproblematik angeboten werden. Diese werden gelesen, wenn sie sich mit einer speziellen Problematik befassen und jugendgerecht medientechnisch aufgearbeitet sind, wie z. B. die ausgezeichneten Broschüren und Illustrationen der BZgA zur J1 (Jugendgesundheitsberatung) (7 Kap. 16). Auch über das jugendmedizinische Angebot der Praxis kann in den Wartebereichen informiert werden. Was Medien und Materialien betrifft, die Jugendlichen zur Verfügung gestellt werden können, sind der Phantasie keine Grenzen gesetzt. So wird z. B. von den im Jugendwartezimmer in einem Gefäß befindlichen Kondomen mäßiger, aber regelmäßi-
ger Gebrauch gemacht. Gerade im ländlichen Raum, wo jeder jeden kennt, ist es manchmal schwierig für Jugendliche, an entsprechende Verhütungsmaterialien heranzukommen. Bilder und Poster zu jugendrelevanten Themen, z. B. aus den Plakatserien der BZgA zu Themen wie Kondombenutzung, Drogenkonsum oder Nichtrauchen, können aufgehängt werden.
Material im Jugendwartezimmer 5 Auslage von Jugendzeitschriften (Möglichkeiten nutzen, um Alternativen aufzuzeigen!), Musik- und Sportzeitschriften sowie kostenlose Infobroschüren zu bestimmten Themen wie Ernährung, Hautpflege, Sexualität, Verhütung, Drogen 5 Auswahl an interessanten Büchern, die sich Jugendliche – z. B. anhand eines Ordners – für die Wartezeit ausleihen können 5 Kleine Literaturliste für Jugendliche zum Mitnehmen 5 Aushang von Veranstaltungskalendern und Infos vom örtlichen Jugendzentrum 5 Adressen und Telefonnummern von Beratungsstellen und Jugendhilfeeinrichtungen 5 Litfasssäule/Prickboard mit Informationen von Jugendlichen für Jugendliche (Bitte beim abendlichen Rundgang durch die Praxis kontrollieren!)
Zusätzliches Angebot und Möglichkeiten 5 Informationsangebote für Jugendliche zu speziellen Themen (Ernährungsberatung, Aknebehandlung, Stressmanagement etc.) 5 Schulung für Arzthelferinnen im Hinblick auf spezielle Problemfelder (z. B. Ernährungsberatung, Aknebehandlung, Stressmanagement, Entspannungstraining etc.) 5 Aufbau eines Netzwerkes aus lokalen Beratungsstellen (z. B. Drogenberatungsstelle und anderen Hilfeeinrichtungen) 5 Kontakte zu Schulen, Jugendeinrichtungen und Sportvereinen (eine Kinder- und Jugendarztpraxis ist dort häufig nicht als Ansprechpartner bekannt)
12.5.2
Der Untersuchungsraum
Dieser sollte auf die Besonderheiten von Jugendlichen ausgerichtet sein und einige Mindestanforderungen erfüllen: 4 Ausreichende Raumgröße, um eine erweiterte z. B. orthopädische Diagnostik durchführen zu können. 4 Eine patientengerechte Lagerung auf einer Erwachsenenliege muss ohne große Umbaumaßnahmen möglich sein. 4 Für eine Besprechung muss eine adäquate Sitzmöglichkeit für Patient und Arzt mit Möglichkeit einer Blickfixierung gegeben sein. 4 Diagnostische Untersuchungshilfen müssen altersgerecht vorhanden sein, z. B. Messeinrichtung für Größe, Gewicht oder Blutdruck. Wenn möglich, empfiehlt es sich, einen Untersuchungsraum jugendgerecht auszustatten, der aber zugleich auch für Gespräche mit Eltern genutzt werden kann.
111 12.8 · Der jugendliche Patient kommt mit oder ohne Erziehungsberechtigten
12.6
Der akut kranke Jugendliche
Aus den Untersuchungen von Settertobulte 1995 wissen wir, dass Jugendliche den Allgemein-/Kinder-und Jugendarzt am häufigsten bei grippalen Infekten und Erkältungen aufsuchen. In der Krankheitsprävalenz folgen Heuschnupfen und Allergien sowie Bronchitis, Ekzeme, Allergie und Akne, die nach Ansicht der Jugendlichen einen Arztbesuch erforderlich machen. Besorgniserregend ist dabei die Tatsache, dass ein zahlenmäßig identischer Anteil der Jugendlichen der Überzeugung ist, dass die aufgeführten Erkrankungen keinen Arztkontakt nötig machen. Entsprechend den Besonderheiten der jugendlichen Lebensphase spielt ein mangelndes Problembewusstsein sowie fehlender Leidensdruck eine wichtige Rolle. Auch Sprachprobleme sind eine Zugangsbarriere (7 Kap. 10). Mädchen haben eine deutlich niedrigere Schwelle der Wahrnehmung von körperlichen/ psychischen Symptomen und der Problemwahrnehmung als Jungen, mit deren männlichen Rollenverständnis eine größere Toleranz gegenüber Unwohlsein und eine Neigung zu ausweichendem Verhalten verbunden ist. Bei beiden Geschlechtern lassen sich aber auch Scham und Angst vor Stigmatisierung (z. B. durch Mitschüler etc.) erkennen. Um dem entgegenzuwirken, ist die Verschwiegenheit des Beraters gegenüber Eltern, Lehrern und Peers sicherzustellen. Die ärztliche Schweigepflicht kann nicht oft genug betont werden.
Tipp 5 Erkundigen Sie sich auch immer wieder nach Schule, Sport, etc. Zeigen Sie Interesse! 5 Ein akuter Infekt der oberen Luftwege kann im Nebensatz das Thema Rauchen erwähnen lassen. Betrachten Sie auch kurze Besuche z. B. wegen eines banalen Infektes als Möglichkeit, andere Themen und Inhalte von Interesse anzusprechen! 5 Denken Sie an die Impfungen!
12.7
Der chronisch kranke Jugendliche
Nicht mehr die akuten Infektionskrankheiten bestimmen das Krankheitspanorama, sondern chronische Erkrankungen, psychosomatische Krankheiten und emotionale Befindlichkeitsstörungen (Hurrelmann 2003). Durch die Weiterentwicklung der Medizin werden zunehmend Jugendliche betreut, die diese Altersstufe erst durch die konsequente Betreuung durch spezialisierte Arztgruppen erreichen konnten. Dies trifft zu bei Stoffwechselerkrankungen, bei genetischen Erkrankungen, bei malignen Erkrankungen, kardiologischen und onkologischen Erkrankungen, Zustand nach Transplantationen, aber auch bei chronisch verlaufenden schweren Allgemeinerkrankungen. Der betreuende Kinder- und Jugendarzt wird von den betroffenen chronisch kranken Jugendlichen, aber auch deren Eltern deutlich über das 18. Lebensjahr hinaus als kompetenter und vertrauter Arzt angesehen. Daraus resultiert eine wichtige Funktion als begleitender Vermittler zwischen den Ansprüchen und Bedürfnissen der Pädiatrie und der spezialisierten Organmedizin des Erwachsenenalters. Eine Weiterbetreuung dieser Patienten durch den Kinderund Jugendarzt über das 18. Lebensjahr hinaus bedarf in der Re-
12
gel (von KV-Bezirk zu KV-Bezirk unterschiedlich) der Begründung. Doch das in den Jahren aufgebaute intensive Vertrauensverhältnis kann ein guter Grund sein, weswegen eine Betreuung über das 18. Lebensjahr hinaus in der kinder- und jugendärztlichen Praxis erfolgen kann. Weitere Gründe sind Schwierigkeiten bei der Überleitung des Patienten in die Erwachsenenbetreuungsstrukturen sowie mangelnde Kenntnisse bzgl. der Erkrankung bei den Alternativen oder ein Mangel an alternativen Betreuungsangeboten vor Ort.
12.8
Der jugendliche Patient kommt mit oder ohne Erziehungsberechtigten
Bei vielen Seminaren und Vorträgen wird oftmals kontrovers diskutiert, ob der Jugendliche allein die Sprechstunde aufsuchen und alleine untersucht werden soll. Dies ist kein wesentliches Problem der jugendmedizinischen Betreuung in der Praxis. Häufig sind die Jugendlichen und deren Eltern in der Praxis aus früheren Kontakten bekannt. Auch 10-jährige Kinder können ihren Kinder- und Jugendarzt durchaus schon alleine aufsuchen, wenn die örtlichen Gegebenheiten kinder- und jugendfreundlich ausgerichtet sind. Eine Untersuchung ist in jedem Altersbereich auch ohne Anwesenheit der Eltern möglich. Bei der Durchführung von präventiven Leistungen wie z. B. Impfungen oder dem Einleiten einer Therapie ist aber eine sorgfältige Absprache mit den Eltern notwendig. Diese kann durch einen telefonischen Kontakt vor oder nach dem Termin erfolgen oder durch schriftliches Einverständnis z. B. zu Impfungen bzw. schriftliche Information über die Durchführung von Therapien. Wenn möglich empfiehlt es sich, darauf schon bei der Terminvergabe hinzuweisen. Dies betrifft vor allem Patienten bis zum 14. Lebensjahr (7 Kap. 9 und Kap. 36). Falls von dem jugendlichen Patienten persönliche Probleme angesprochen und anvertraut werden, ist es selbstverständlich, erst nach gemeinsamer Absprache den Kontakt zu den Erziehungsberechtigten herzustellen und das Arztgeheimnis im Rahmen der rechtlichen Voraussetzungen zu wahren. Andererseits ist zu bedenken, dass für bestimmte Situationen und Fragestellungen die Beobachtung der Interaktion von Jugendlichem und Eltern/ Elternteil sehr aufschlussreich sein kann und wichtige zusätzliche Informationen liefert (»empty chair« ‒ Immer einen Stuhl mehr als Teilnehmer vorsehen. Aus der freiwillig gewählten Sitzordnung ergeben sich manchmal sehr interessante Informationen). Ein bei der Terminvergabe ausgehändigter kurzer Fragebogen für die Eltern zur Familienanamnese ermöglicht es, auch Informationen von den Eltern zu bekommen, wenn diese bei der Untersuchung nicht dabei sind. Gleichzeitig verstärkt dies das gegenseitige Vertrauen. ! Auf Grund der rechtlichen Situation ändern sich die Voraussetzungen ab dem vollendeten 15. Lebensjahr bzw. ab der Aufnahme einer beruflichen Tätigkeit deutlich, da der Jugendliche selbst einen Behandlungsvertrag abschließen kann. Im Einzelfall muss geprüft werden, ob der Jugendliche eine ausreichende Einwilligungsfähigkeit hat und über die notwendige geistige und sittliche Reife verfügt, um z. B. die Schwere einer Erkrankung oder die Auswirkungen einer Therapie beurteilen zu können.
Nach unserer Erfahrung erfordert diese Entscheidung, die auch die ärztliche Schweigepflicht umfasst, eine gute Kenntnis des Ju-
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12
Kapitel 12 · Grundlagen jugendmedizinischer Tätigkeit in der Praxis
gendlichen, seiner Erziehungsberechtigten, seines sozialen Umfeldes und seiner psychosozialen Situation. Auch die fachliche Erfahrung des Arztes spielt dabei eine große Rolle, da er unterschiedlichste Bereiche abschätzen können muss, wie z. B. Drogenkonsum, Verhütungsprobleme, depressive Verstimmung mit suizidaler Komponente, Delinquenz usw. Je nach Beurteilung der Situation und der Bedeutung der einzuleitenden Maßnahmen ist es hilfreich, bezüglich der Einsichtsfähigkeit und Einwilligungsfähigkeit der Jugendlichen eine kurze schriftliche Dokumentation zu machen. Hierbei spielt u. a. eine Rolle, ob und inwieweit den Jugendlichen im täglichen Leben durch die Eltern z. B. Eigenentscheidung und Eigenverantwortung zugebilligt wird (z. B. Urlaubsplanung, Ausbildung, Partnerschaft). Häufig wird auch die geschlechtsspezifische Situation bei einer Untersuchung d. h. Patientin/Arzt bzw. Patient/Ärztin als problematisch angesehen, und die erforderliche Anwesenheit einer dritten Person, z. B. Eltern oder Arzthelferin diskutiert. Nach unserer Überzeugung ist auf Grund der Untersuchungssituation, die einer internistischen/allgemeinmedizinischen Untersuchung entspricht, keine zusätzliche Person zur Wahrung rechtlicher Interessen des Arztes notwendig. Dies wird aber von einigen Kollegen kritisch hinterfragt und sollte daher individuell entschieden werden. In einer Studie von Kapphahn (1999) wird der Frage nachgegangen, ob Jugendliche eher gleich oder eher gegengeschlechtliche Ärzte bevorzugen. Die Hälfte der weiblichen Jugendlichen bevorzugte eine Ärztin, während 48% keine Präferenz angaben. Von den Jungen hatten 65% keine Präferenz, 23% gingen lieber zu einem Arzt. 66% der Jungen gaben an, vertrauliche Dinge mit ihrem Arzt zu besprechen, während dies nur für 57% der Mädchen zutraf. Interessant war hier, dass Mädchen, die von einer Ärztin versorgt wurden, mit größerer Wahrscheinlichkeit über vertrauliche Gespräche berichteten als Mädchen, die zu einem Arzt gingen. Auffällig war auch, dass Jungen, die ethnischen Minderheiten angehörten, Ärztinnen bevorzugten.
12.9
Die Untersuchung
12.9.1
Grundsätzliches
Alle Jugendlichen sind grundsätzlich interessiert daran, mehr über ihren Körper und ihre körperliche Entwicklung zu erfahren. Es sollte unterschieden werden, ob es sich um eine Vorsorgeuntersuchung oder eine Untersuchung mit spezifischer medizinischer Fragestellung, z. B. bei einem Infekt der Atemwege, handelt. Ein solcher Infekt lässt sich z. B. problemlos beurteilen, ohne dass dabei die Jugendliche den BH ablegen muss. Hingegen ist die Inspektion der Mammae ein Teil der Vorsorgeuntersuchung. Bei Veränderungen oder Beschwerden der Brust wie z. B. Asymmetrie oder Mastodynien muss eine Palpation der Mammae erfolgen. Wie eigentlich überall im medizinischen Handeln sollte der Untersuchungsgang bezüglich der Fragestellung und der geschilderten Symptomatik plausibel sein und gegebenenfalls vorab besprochen werden. Die Untersuchung des Jugendlichen dient nicht nur zur Erhebung des Gesundheitszustandes, sondern kann gleichzeitig aufklärenden Charakter haben. Die Untersuchung der Hoden kann so z. B. nicht nur zu Bestimmung der Hodengröße dienen, sondern auch, um den Jugendlichen durch das Abtasten des Hodens in dieser Vorsorgemöglichkeit anzuleiten.
Die Abtastung des Hodens gehört zu jeder Untersuchung des Bauchraumes (z. B. bei unklaren Bauchschmerzen) dazu und sollte indikationsbezogen durchgeführt werden. Bei jeder Untersuchung sollten die Besonderheiten des Entwicklungsstandes sowie die weiteren Perspektiven berücksichtigt werden. Die Erklärungen und das Gespräch während des Untersuchungsganges helfen dabei, dies als etwas Logisches und Natürliches darzustellen. Jedoch enthebt dies den Untersuchenden nicht von der Verpflichtung, sich über die Notwendigkeit der Untersuchung z. B. der Genitalregion Rechenschaft abzulegen und im Hinblick auf die Anamnese plausibel zu machen. ! Während der Untersuchung sollte die Privatsphäre beachtet werden. Überraschungseffekte sind zu vermeiden. Genaue Angaben, was anbehalten und was ausgezogen werden soll (primäres Anbehalten der Unterhose sowie des BHs – kurzes Entkleiden erst bei Untersuchung dieser Region), sind dabei unbedingt notwendig.
Die Tür zum Untersuchungszimmer sollte während der Untersuchung geschlossen bleiben. Wenn nötig ist ein Hinweisschild (Bitte nicht stören!) an der Tür zum Untersuchungszimmer anzubringen. Genaue vorherige Angaben zum Untersuchungsgang lassen dem Jugendlichen die Möglichkeit, bestimmte Teile der Untersuchung abzulehnen. Die sich daraus u. U. ergebende Problematik für die Beurteilung des Gesundheitszustandes sollte besprochen und nach Lösungsmöglichkeiten gesucht werden. Im Rahmen der Untersuchung empfiehlt sich ein cephalocaudales (von Kopf bis Fuß) Vorgehen (Details 7 Kap. 16). Am Ende der Untersuchung sollte der Jugendliche Gelegenheit haben sich anzuziehen, bevor die Befunde besprochen werden.
12.9.2
Gespräch am Ende der Untersuchung
Eine allgemein und für den Jugendlichen verständliche Sprache ist Voraussetzung für eine gute Compliance. Vermieden werden sollten zu ausführliche, diffuse Erklärungen. Perspektiven und gegebenenfalls ein Therapieplan wird gemeinsam mit dem Jugendlichen erarbeitetet. Es ist durchaus möglich, dass der Jugendliche die vorab besprochenen Ergebnisse der Untersuchung den Eltern selbst erläutert. Bilder und Diagramme (z. B. Tanner-Stadien, Wachstum, BMI etc.) können bei der Illustration helfen. Nur in sehr begründeten Ausnahmefällen werden Informationen für den Augenblick zurückgehalten. Die Eltern werden, wenn irgendwie möglich, in das therapeutische Gespräch mit eingebunden. Dies erfolgt im Konsens mit dem Jugendlichen wie auch die Weitergabe von Informationen. So kann z. B. das Aufsuchen eines Arztes durch eine Jugendliche, die glaubt schwanger zu sein, nach dem Ausschluss einer Schwangerschaft als allgemeine körperliche Untersuchung deklariert werden, während hingegen bei Feststellung einer Schwangerschaft bei Patientinnen unter 18 Jahren immer nach einem gemeinsamen Konsens mit den Eltern gesucht werden sollte. Hierbei kann sich der behandelnde Arzt gut als Anwalt der Jugendlichen einbringen und helfen, Konflikte abzubauen oder zu vermeiden. Bei der Betreuung Jugendlicher mit chronischen Erkrankungen ist es in der Regel immer sinnvoll, die Eltern in die Betreuung mit einzubeziehen. Das Ausmaß sollte in Relation zum Pubertätsstadium stehen und keinesfalls den Eindruck einer Bevormundung beim Jugendlichen erwecken. Auch sollte man sich
113 12.12 · Tipps zur Kommunikation
davon überzeugen, dass genügend Medikamente (falls erforderlich) bis zum nächsten Untersuchungstermin vorhanden sind. Die Notwendigkeit weiterer Termine muss verständlich dargelegt werden und sollte, will man nicht umsonst warten, mit dem Jugendlichen auch entsprechend seinem Zeitplan abgesprochen werden. Flexibilität ist hierbei häufig gefragt!
12.10
Der Faktor »Zeit«
Teenager kosten Zeit – auch in der Praxis. Aber nicht nur in der Praxis, sondern auch im Leben des Jugendlichen ist die Zeit eine kritische Größe. Ein Zehn-Minuten-Termin hat 10 Minuten. Diese sollten aber den Patienten voll zur Verfügung stehen. Wenn Themen angesprochen oder Untersuchungen erforderlich sind, die mehr Zeit benötigen, ist es meist besser, im Konsens mit dem Jugendlichen einen gesonderten Termin auszumachen, als unnötige Hektik und Halbherzigkeit in der Behandlung zu riskieren. Nur bei lebensbedrohlichen Problemen (z. B. drohendem Selbstmord) muss von der Zeitschiene abgewichen werden. Die Jugendlichen haben in der Regel dafür immer Verständnis. Praxisbezogene Netzwerke/Kontakte zu anderen »Hilfeeinrichtungen« können helfen, ökonomischer mit dem Faktor »Zeit« umzugehen.
5 Denken Sie daran, dass das Vorgehen bei der körperlichen Untersuchung Jugendlicher primär von ihren Vorbehalten und Ängsten geprägt ist. Sie sollten allerdings nie gegen Ihre innere Überzeugung handeln. 5 Befragen Sie sich immer kritisch nach der medizinischen Notwendigkeit, damit Sie Ihr Vorgehen auch plausibel machen können. 5 Nutzen Sie freie Wände als Ausstellungsfläche. Bieten Sie diese z. B. den Schulen oder dem JUZ zur Präsentation ihrer Werke aus dem Kunstunterricht an. 5 Nutzen Sie das Wartezimmer, um Ihnen wichtige Informationen weiterzugeben. 5 Eine »Infowand für Jugendliche« hilft Identifikation zu schaffen. 5 Pinnwand für Jugendliche dienen der Informationsweitergabe untereinander. 5 Bieten Sie an, dass die Jugendlichen in Begleitung ihrer Freunde zur J1 (oder auch sonstigen Untersuchungen) kommen können.
12.12 12.11
Beiwerk
Bestimmte Hilfsmittel helfen, die Untersuchung plausibel zu machen und können gleichzeitig bei der Erklärung medizinischer Sachverhalte helfen. Hierzu zählen u. a.: 4 Orchidometer 4 Detaillierte Längen-, Gewichts- und Wachstumskurven u. U. mit zeitlicher Angabe der Pubertätsentwicklung der äußeren Geschlechtsmerkmale 4 Holzbrettchen mit definierter Höhe zum Höhenausgleichsbestimmen bei Beinlängendifferenz 4 Schaubilder
Tipp 5 Nutzen Sie jeden Arztbesuch, um Ihr ehrlich gemeintes Interesse für die Lebenssituation des Jugendlichen deutlich zu machen. 5 Haben Sie die innere Einstellung, mit der kostbarsten »Ware« zu handeln, die es gibt. 5 Denken Sie daran, die Schweigepflicht zu thematisieren, und wie Sie sich bei einem möglichen Anruf der Eltern verhalten sollen oder müssen. 5 Die telefonische Mitteilung von Befundergebnissen sollte, wenn irgend möglich und sinnvoll, an den Jugendlichen direkt erfolgen. 5 Legen Sie Wert auf die psychosoziale Anamnese. 5 Machen Sie Termine möglichst immer im direkten Konsens mit den Jugendlichen aus. Lassen Sie sie primär vorschlagen. 5 Klären Sie ab ca. dem 16. Lebensjahr, ob das »vertraute Du« noch erlaubt ist. Meist bietet sich das »Sie« und die Nennung des Vornamens als Alternative an.
6
12
Tipps zur Kommunikation
»Das Wunder der Kommunikation ist, dass wir uns manchmal verstehen« (Vera F. Birkenbihl)
12.12.1
Akzeptanz der Person
Jugendliche sind weder große Kinder noch kleine Erwachsene. Sie sollten als eigenständige Personen angesehen werden, die in der Regel schon ein großes Maß an Eigenverantwortlichkeit übernehmen können. Sie wollen und sollten immer ernst genommen werden mit ihrem Anliegen. Dabei ist es notwendig, sich durchaus die Dualität des Jugendlichen klar zu machen – mit einem Fuß noch in der Kindheit, mit dem anderen schon im Erwachsenenalter. Jugendgerechte Ansprache heißt in diesem Zusammenhang auch sich am Pubertätsstadium zu orientieren. Die meisten Jugendlichen sprechen positiv auf ein nicht wertendes und kooperatives Gesprächsangebot an. Dann wird man die Erfahrung machen, dass die meisten Jugendlichen kooperative, einsichtige und verständige Menschen sind.
12.12.2
Rolle des Behandlers
Für Jugendliche wird der Behandler immer auch in der Erwachsenenrolle gesehen, versehen mit einem mehr oder weniger hohen Maß an Wissen und Autorität. Keinesfalls sollten jugendliche Verhaltensweisen und sprachlicher Ausdruck übernommen werden. Direkte Wertungen sind zu vermeiden, was nicht heißen muss, mit seiner Meinung zurückzuhalten. Statt frühzeitigen Sexualverkehr abzuwerten ist es wesentlich effektiver, deutlich zu machen, mit welchen Risiken die Aufnahme von Sexualverkehr verbunden ist und sich dann gemeinsam Gedanken zu machen, welche Wege zur Risikominimierung beschritten werden können.
114
Kapitel 12 · Grundlagen jugendmedizinischer Tätigkeit in der Praxis
12.12.3
Kritische Punkte der Kommunikation
viele Jugendliche in deiner Gruppe, die rauchen...? Wie stehst du dazu?« »Was halten Jugendliche in deinem Alter von...?«
Folgende Fragen ergeben sich häufig im Gespräch mit Jugendlichen (7 Kap. 13): Typische Kommunikationsfehler Kommunikationsfragen 5 Kann der Jugendliche die Gegebenheiten des Arztbesuches selbst beurteilen und selbst entscheiden, oder braucht er – objektiv – die Unterstützung durch einen Erwachsenen? 5 Macht die Bedeutsamkeit der medizinischen Konsultation oder ihr Resultat den Beistand eines Erwachsenen erforderlich? 5 Lässt sich das Gebot der Schweigepflicht zum Wohle des jugendlichen Patienten aufrecht erhalten oder ist im Konsens die Einbeziehung anderer Personen notwendig? 5 Lässt sich ein solcher Konsens erzielen? 5 Besteht Gefahr für Leib und Leben, die ein unbedingtes Eingreifen und die Übertretung der Schweigepflicht erforderlich macht? 5 Ist der Jugendliche einsichtsfähig? 5 Wie steht es um die Selbständigkeit des Jugendlichen? 5 Ist auch im alltäglichen Leben eine weitgehende Unterstützung des Jugendlichen durch die Eltern gegeben bzw. notwendig? 5 Wie steht es um die häusliche Kommunikation? 5 Ist der Jugendliche sozial gut eingebunden?
Aus den jeweiligen Antworten zu diesen Fragen ergibt sich die Art des Gespräches und das Vorgehen bei der Untersuchung. Das Gespräch sollte gradlinig, offen und ehrlich geführt werden. Teenagerjargon ebenso wie Fachjargon sind zu vermeiden.
12
12.12.4
Hilfreiche Interviewtechniken
Zeitangaben. Besser als »Wie lange besteht...?« kann sein: »Waren die Beschwerden schon vor... oder erst nach...?« (Geburtstag, jahreszeitliches Ereignis etc.) Wenn möglich empfiehlt sich eine Aufzeichnung über einen definierten Zeitraum. Numerische Bewertung. Für Patienten, die Probleme haben den Schweregrad ihrer Beschwerden aufzuzeigen empfiehlt sich eine Skala von 1‒6 (1 = sehr wenig; 6 = heftigst). Vergleich mit Peers. »Würdest du deine Situation in der Schule
als besser, gleich oder schlechter beschreiben im Vergleich zu deinen Freunden?« Die »gute Fee« – Drei Wünsche. Z. B. allgemein: »Wenn du drei Wünsche hättest, was würdest du dir wünschen?« oder: »Du hast drei Wünsche bezüglich dir selbst, deiner Familie und deiner Schule, Ausbildung etc. frei.« Empathie zeigen. Oft kann es hilfreich sein auszudrücken, dass man in gleicher Situation ähnlich fühlen würde. Verständnis zeigen. »Viele Jugendliche in deinem Alter haben
Probleme mit... Wie stehst du dazu?” Indirekte Fragen: »Gibt es
5 5 5 5 5 5 5 5 5
Indirekte Ansprache Jugendjargon Hektik Unklare medizinische Stellungnahme Mangelnde Erklärung Desinteresse Plausibilitätsleck Fachjargon Mangelnde Konzentration/Ablenkung z. B. durch Stören des Gesprächs von außen
12.12.5
Das Gespräch
Allgemeines Gehen Sie möglichst zu Beginn der Konsultation auf die Schweigepflicht ein. Nicht selten kommen Teenager mit unspezifischen Beschwerden wie Kopfschmerzen, Gliederschmerzen oder Bauchschmerzen. Manchmal steckt dahinter ein ernstzunehmendes Problem, das erst im weiteren Verlauf zur Sprache kommt, wenn eine Vertrauensbasis hergestellt ist. Diese »hidden agenda« ist vor allem dann zu vermuten, wenn auf Fragen nur vage Antworten erfolgen. Sind Eltern bei dem Gespräch dabei, können sich Situationen ergeben, in denen es notwendig wird, mit dem Jugendlichen alleine zu sprechen. Dies betrifft z. B. Fragen zum Sexualverkehr. Viele Eltern wissen nur wenig über die sexuelle Aktivität ihres Teenagers. Man sollte sich nicht scheuen, den Eltern zu erklären, dass Sie das weitere Gespräch gerne unter vier Augen fortsetzen würden. Für die meisten Eltern ist es kein Problem, das Zimmer zu verlassen und im Wartezimmer zu warten. Dem überwiegenden Teil der Jugendlichen ist es recht, dass die Eltern danach informiert werden. Versichern Sie sich das Einverständnis auch für telefonische Nachfragen. Fragen Sie, welche Problempunkte nicht besprochen werden sollen. Manchmal kann es sogar sehr hilfreich sein, die Jugendlichen selbst alles gegenüber ihren Eltern erklären zu lassen. Dies kann z. B. erforderlich sein bei der Honeymoon Zystitis, wo es notwendig ist, auf die sexuelle Aktivität der Jugendlichen einzugehen und bestimmte Verhaltensmaßnahmen zu besprechen. Grundsätzlich kann es auch sehr hilfreich sein, Eltern zum Beginn des Gespräches dabei zu haben. Beobachten Sie die Interaktion zwischen Jugendlichen und Eltern (wer sitzt wo und wie, wer stellt Fragen und wie, wer antwortet, wie ist die Körperhaltung). Hier hat sich ein überzähliger Stuhl bewährt (»empty chair«), der die Möglichkeit bietet, sich auch etwas zu separieren. Auch wenn die Eltern dabei sind, sollte das Gespräch immer direkt mit dem Jugendlichen geführt werden. Während des Gespräches sollten keine Hilfsangebote gemacht werden, die nicht eingehalten werden können. Jeder, der mit Jugendlichen arbeitet, wird im Laufe der Zeit sicher seine eigenen Methoden finden. ! Jugendmedizin ist immer eine Gratwanderung zwischen Autonomiebestreben und Abhängigkeit. Gegebenenfalls kann eine selbst zu erstellende Broschüre für die Eltern die »neue« Kommunikationsstruktur erklären.
115 Literatur
Gesprächablauf Der Jugendliche sollte immer direkt angesprochen werden. Aufzeichnungen während des Gesprächs können sehr irritierend sein, insbesondere wenn über Sexualität, Partnerschaft oder legale und illegale Drogen gesprochen wird. Moralisieren bringt selten Erfolg. Zu Beginn des Gesprächs sollte u. U. geklärt werden, ob ein Duzen oder Siezen gewünscht wird. Es folgt die Anamneseerhebung bzw. bei der J1 eine kurze Erklärung des Ablaufs. Beim Gespräch empfiehlt es sich, offene Frageformen zu vermeiden (z. B. »Wie geht es dir in der Schule?« – besser: »Viele Jugendliche beklagen sich oder haben Probleme in der Schule. Wie geht es dir damit?«). Außerdem sollte nicht ausschließlich nach Problembereichen gefragt werden. Reden Sie über etwas, das Spaß macht (z. B. Sport). Das lockert die Atmosphäre und zeigt das allgemeine Interesse. Am Ende des Gesprächs/der Untersuchung stehen Fragen, ob es etwas gibt, was nicht mit den Eltern besprochen werden soll, welche Untersuchungsergebnisse besprochen werden sollen. Hierbei müssen wir uns vorher im Klaren sein, welche Ergebnisse weitere Konsequenzen nach sich ziehen bzw. für den weiteren Ablauf relevant sind. Diese sollten, im gemeinsamen Konsens, auf alle Fälle mit den Eltern besprochen werden. Der Jugendliche sollte zur allgemeinen abschließenden Information die Eltern, die nicht bei der Untersuchung dabei waren, selbst in das Untersuchungszimmer/Besprechungszimmer bitten, wenn eine Informationsweitergabe an die Eltern sinnvoll bzw. ratsam erscheint.
12.13
Problempunkte in der Betreuung
Problem der mangelnden Compliance
Mangelnde Compliance ergibt sich meist durch: »Einfach vergessen« (am häufigsten). Lösungsmöglichkeit: Zusammenlegung von Terminen, Verknüpfung mit Interessen des Jugendlichen kann dieses Problem lösen helfen. Unbewusstes oder bewusstes Ablehnen der Situation oder der Erkrankung
Dies findet sich häufig bei Patienten mit chronischen Erkrankungen. Vergessen dient hier als eine Art Gleichstellung mit den gesunden Freunden. Lösungsmöglichkeit: Aufklärung und Erarbeiten eines Therapieplanes mit dem Jugendlichen unter Berücksichtigung der Perspektiven. Auflehnung gegen – überfürsorgliche – Eltern/Umgebung
Lösungsmöglichkeit: Termine und Therapie primär mit Jugendlichen absprechen, Eigenverantwortlichkeit aufzeigen und stärken. Ablehnung für die eigene Person
»So etwas gilt nicht für mich!« Lösungsmöglichkeit: individuelle Behandlung des Problems, Verallgemeinerung vermeiden, eigene Konsequenzen deutlich machen.
12
Tipp 5 Jugendliche reden meist, wie ihnen der »Schnabel gewachsen ist«. Tun Sie das auch, d. h. reden Sie in Ihrer Sprache! Nur so sind Sie echt! 5 Das Besprechen der Untersuchungsergebnisse sollte am Untersuchungsende nicht vergessen werden. 5 Vorweg ausgegebene »Fragebögen« – z. B. Rotter-Satzergänzungstest, Checkliste zur Selbsteinstufung – bringen gute Informationen und sparen Zeit. Gleichzeitig überbrücken sie die Wartezeit. 5 Achten Sie darauf, den Jugendlichen immer direkt anzusprechen. 5 Lassen Sie sich möglichst nur von ihm Ihre Fragen beantworten. 5 Erwarten Sie von den Jugendlichen Vorschläge.
Literatur Ackard DM, Neumark-Sztainer D (2001) Health care information sources for adolescents: age and gender differences on use, concerns, and needs. Journal of adolescent health 29 (3), 170–176 Allen LB, Glicken AD, Beach RK, Naylor KE (1998) Adolescent health care experience of gay, lesbian, and bisexual young adults. Journal of adolescent health 23, 212–220 Bilder von Jugend. Ein Projekt des Hauses der Jugendarbeit des Stadtjugendamtes der Landeshauptstadt München in Zusammenarbeit mit der BMW AG – Projektleitung: Moser S (1996) Hurrelmann K, Klocke A, Melzer W und Ravens-Sieberer Ulrike (Hrsg.) (2003) Jugendgesundheitssurvey. Internationale Vergleichsstudie im Auftrag der Weltgesundheitsorganisation WHO. Juventa, Weinheim und München Kapphahn CJ, Wilson KM, Klein JD (1999) Adolescent girls and boys preferences for provider gender and confidentiality in their health care. Journal of adolescent health 25, 131–142 Klein JD, Wilson KM (2002) Delivering quality care: adolescents discussion of health risks with their providers. Journal of adolescent health 30 (39), 190–195 Settertobulte W, Palentien C, Hurrelmann K (1995) gesundheitsbedürfnisse, Gesundheitsförderung und Gesundheitsversorgung im Kindesund Jugendalter. In: Settertobulte W, Palentien C, Hurrelmann K (Hrsg.) Gesundheitsversorgung für Kinder und Jugendliche. R Asanger, Heidelberg Zimmer-Gembeck MJ, Alexander T, Nystrom RJ (1997) adolescents report their need for and use of health care services. Journal of adolescent health 21, 388–399
13 Kommunikation J. Kraak
))
Seitdem die J1 in den meisten deutschen Kinder- und Jugendarztpraxen Einzug genommen hat und zum Praxisalltag gehört, ist das Gesprächsgeschehen mit Jugendlichen von noch größerer Wichtigkeit geworden.
13.1
Gesprächsführung mit Jugendlichen als originäre Aufgabe des Kinderund Jugendarztes
Das Gesprächsgeschehen, die Gesprächsatmosphäre und die Gesprächsführung (Kommunikation) spielen eine entscheidende Rolle bei einer »gelungenen« Beratungssituation zwischen Arzt und Jugendlichen. Das Beratungsgespräch konfrontiert den Arzt durchaus mit komplexen und differenzierten Beratungsaufgaben. Deshalb wird ein solches Gespräch zeitlich länger dauern müssen, aber es ermöglicht den Aufbau einer unerlässlichen Vertrauensbasis. Insbesondere bei dieser Altersgruppe ist die Entwicklung einer professionellen Beziehung über das normale Arzt-Patient-Verhältnis hinaus bedeutungsvoll. Für diese spezielle Beratungstätigkeit mit Jugendlichen ist der Arzt nicht systematisch und grundlegend ausgebildet. Aus diesem Grund werden in den nachfolgenden Abhandlungen einige Grundlagen, Empfehlungen und Kurzanleitungen in Gesprächsführung wiedergegeben.
13.2
13
Grundlagen der Gesprächsführung mit Jugendlichen
Wie kommuniziere ich mit einem Jugendlichen? 4 Patientzentrierte Gesprächsführung 4 Wie öffnet sich ein Jugendlicher? 4 Warum verschließt sich ein Jugendlicher? 4 Kurzanleitungen für ein Gespräch Sender und Empfänger Jede zwischenmenschliche Kommunikation kennt einen Sender und einen Empfänger (Schulz von Thun 1998). Hier ist der Empfänger gleich Arzt oder Sender gleich Jugendlicher und umgekehrt. Der Sender teilt etwas mittels Sprache, Mimik und Gestik mit. Der Empfänger greift die Nachricht auf und versucht diese kognitiv und emotional zu verstehen. Wenn Gesendetes und Empfangenes über ein Feedback übereinstimmt, spricht man von einer gelungenen Kommunikation. Kombinieren Sie das aktive Zuhören mit dem vertieften Verstehen (Empathie), schaffen Sie die Grundvoraussetzung für eine patientzentrierte Gesprächsführung.
Empathie, Akzeptanz und Authentizität als Bedingung für eine Gesprächsführung Die Gesprächskompetenz des Arztes lässt sich mit Gesprächsbedingungen, der bedingungslosen Wertschätzung (Akzeptanz), des einfühlsamen Verstehens (Empathie) und der eigenen beruflichen-privaten Authentizität (Selbstkongruenz) erweitern (Rogers 1997). Er stellt mit diesen Elementen eine Gesprächsatmosphäre her, die Jugendliche in die Lage versetzt, sich zu öffnen und sie in ihrer Entwicklung wirksam weiterbringt. Selbstöffnung und Selbstauseinandersetzung als Voraussetzung für eine Gesprächsführung Die Jugendlichen, die sich einem Arzt öffnen, erleben dies als einen wichtigen inneren Vorgang, der sie unterstützt, begleitet und fördert. Dies führt zu einer gewissen Entlastung und zur Verbesserung der seelischen Gesundheit. Die Fähigkeit einer Person, eigene Gefühle und Gedanken auszudrücken, setzt die »Fähigkeit zur Introspektion« voraus. Damit ist gemeint, dass eine Person in der Lage ist, sich ihrem inneren Erleben zuzuwenden und es zum Gegenstand ihrer Reflexion zu machen (Erleben und Reflexion). Die Selbstöffnung gilt als Vorbedingung für die Selbstauseinandersetzung (Selbstexploration) (Tausch 1998). Ist der Arzt fähig, sich fortlaufend den geäußerten Fühlen und Gedanken des Jugendlichen verstehend zuzuwenden und das Verstandene zu äußern, beginnt der Prozess des aktiven Zuhörens und der Arzt wird der inneren Bedeutung, die sich im Jugendlichen ereignet, bewusst. Es ist so, als würde man den inneren Bezugsrahmen einer Person »betreten« und kennen lernen. Aktives Zuhören als emphatisches Werkzeug für eine Gesprächsführung Dabei sollte ein Arzt die zwölf grundlegenden Kriterien der Gesprächsführung verwirklichen.
Zwölf Kriterien der Gesprächsführung 5 Der Arzt hat von vornherein genügend Zeit für die Beratungssequenz mitgebracht. 5 Der Arzt kann offen ohne Druck, Erwartungen und Zieleinengung die Beratung beginnen, durchführen und mit positiven Aspekten beenden. 5 Der Arzt kann sich ganz und vollkommen auf den Jugendlichen konzentrieren. 5 Der Arzt stellt einen positiven Blickkontakt her. 5 Der Arzt signalisiert durch körperliche Zugewandtheit, Kopfnicken und Augenzwinkern verstehende und bejahende Haltung. 5 Der Arzt äußert sich begleitend mit »Hm« oder »Ja«. 5 Der Arzt signalisiert Anteilnahme und aufrichtiges Interesse, wie durch Äußerungen »Erzähle mal!«, »Dein Anliegen interessiert mich.«
6
117 13.5 · Kurzanleitung für die Gesprächsführung mit Jugendlichen
5 Der Arzt versucht sich in die Situation eines Jugendlichen hineinzuversetzen (bildlich: Du bist so belastet, als würdest du einen schweren Rucksack tragen). 5 Der Arzt ist unvoreingenommen und benutzt möglichst keine Bewertungen (keine Antizipationen, Belehrungen und Abwertungen). 5 Der Arzt lässt den Jugendlichen ausreden, ins »Unreine« reden. 5 Der Arzt muss Gesprächspausen aushalten lernen »Ich weiß nicht…«/»Keine Ahnung…« 5 Der Arzt lernt zu paraphrasieren und zu spiegeln (wortgetreue Wiedergabe der Aussage eines Jugendlichen).
Zum einen werden die oben aufgeführten Kriterien in den meisten Jugendumfragen (Shell-Studie 2003), Hurrelmann, Janssen u. a. als ein Mangelzustand im Elternhaus und Umfeld (Lehrer, Ausbilder, Ärzte) angegeben und erlebt, zum anderen fühlen sich über 80% der Jugendlichen, wegen mangelnder Empathie (Einfühlungsvermögen) und Zeit der Eltern, nicht verstanden und ernst genommen. Hierin liegt ein großes präventives Potenzial für alle medizinischen Fachkräfte in der Beratung mit Jugendlichen.
13.3
Zielgruppe: Jugendliche
Jugendliche sind keine »jungen Erwachsenen« oder »alten Kinder«, die nur noch einer gewissen Reife bedürfen. Die Jugendzeit ist nicht eine einfach vorübergehende Phase, die wir alle einmal mitgemacht haben (7 Kap. 2). Jugendlich leben in einer geistigen, emotionalen und biologischen Entwicklungskrise, im Zustand zwischen Ideal- und Realbild bzw. Selbst- und Fremdbild, haben Höhen und Tiefen zu durchleben, sind »weder Fisch noch Fleisch«, befinden sich in Ambivalenzen und suchen nach eigenen Ordnungen. Sie sehen es als individuell und »hausgemacht« an. Ein Arzt bzw. eine Ärztin präsentiert zugleich ein Geschlecht. Während der Beratung spielt das eine enorme Rolle, weil sie beobachtet und geprüft werden, wie »echt« sie sind, eben nicht nur »professionell«.
13.4
Kurzanleitung für den Jugendarzt zur Selbstreflexion
»Erkenne dich selbst, werde der du bist« (Inschrift in einem griechischen Tempel) 4 4 4 4
Wie stelle ich mich auf Jugendliche ein? Was war sein (ihr)Thema manifest/latent? Gesprächsbeginn und -beendigung Schwierige Gesprächssituationen
! Ein Kinder- und Jugendarzt sollte die Einflussnahme seiner eigenen Jugendzeit in die Beratungssequenz nicht unterschätzen und bereit sein, sich mit ihr auseinander zu setzen. Inwieweit möchte ich mit dieser speziellen Altersgruppe arbeiten?
13
Gezielte Fragen zur Selbstreflexion »Wer andere kennt ist klug, wer sich selbst kennt ist weise« (Lao Tse 1995) Wie habe ich selbst als Jugendlicher die Erwachsenenwelt erlebt? Hatte ich Vorbilder, Idole oder keine? War ich rebellisch oder angepasst? Wem erlaubte ich mir etwas sagen? Wann und von wem habe ich Ratschläge und Tipps angenommen? Welche Person war für mich und meine Entwicklung wichtig in diesem Zeitabschnitt? Mit welchem Menschen hätte ich gerne gesprochen? Erst, wenn ich mir selbst all diese Fragen beantwortet habe, kann ich zu Jugendlichen einen Zugang finden und vertrauensvoll mit ihnen reden. Selbstpräsentation und Selbstreflexion Die Selbstkenntnis aus der Selbstreflexion bietet eine weitere Grundlage für den zu beratenden Jugendlichen, ihre eigene Lebens- und Krisensituation zu reflektieren (Schmidt-Lachenmann 2004). Ihnen Einsicht in ihr Selbst zu verschaffen, die Licht- und Schattenseiten wahrnehmbarer zu machen, um sie kompetent zu machen, an ihrer Veränderung beizutragen. Jugendliche haben ebenso wie Kinder ein besonderes Empfinden für Authentizität. Sie lassen sich nicht gerne »zutexten« und reagieren auf gut gemeinte Ratschlägen »allergisch«: Sie wollen ihre Fragen kompetent, ehrlich und für sie verständlich beantwortet haben und dann selbst entscheiden, was zu tun ist. Sie wollen ihr Leben in der Regel selbst in die Hand nehmen und mitbestimmen dürfen.
13.5
Kurzanleitung für die Gesprächsführung mit Jugendlichen
Anleitungen haben den Vorteil, dass sie jederzeit reproduzierbar sind. Ich meine, der Kinder- und Jugendarzt sollte sich seiner verantwortungsvollen Aufgabe bewusst sein und sich in regelmäßigen Abständen in patientenzentrierter Gesprächsführung mit Jugendlichen trainieren lassen, unter dem Motto: Übung macht den Meister. Denn Gesprächsführung mit Jugendlichen ist erlernbar. Inzwischen gibt es viele aktive Fachkollegen, die an Supervision oder Balint-Gruppen teilnehmen. Sie leisten dadurch einen eigenen Beitrag zur professionellen Weiterentwicklung und -qualifizierung. Wirksame Bedingungen für die patientenzentrierte Gesprächsführung Die patientenzentrierte Gesprächsführung unter Einbeziehung der genannten wirksamen Bedingungen (Empathie, Akzeptanz und Authentizität) mit Jugendlichen ‒ Kurzanleitung mit konstruktiven Gesprächsbeispielen ‒ ist im Folgenden abgebildet: Gesprächsbeginn 4 Seien Sie sich über das anstehende Gespräch bewusst, d. h. über Gesprächsbeginn, über die Gesprächsinhalte und über den Gesprächsabschluss. Beispiel: »Ich biete Ihnen an, mit mir frei und offen über alles zu sprechen, was Sie beschäftigt und belastet. Sie bestimmen selbst, worüber Sie sprechen. Ich werde mich bemühen, Ihnen dadurch zu helfen, dass ich Ihnen immer genau sage, was ich verstanden habe aus dem, was Sie sagen. Ich werde Ihnen keine Ratschläge und Hinweise geben. Es ist unsere Erfah-
118
Kapitel 13 · Kommunikation
rung, dass man durch solche Gespräche ruhiger und entspannter wird, wenn auch nicht sofort und immer, und dass es in der Regel so ist, dass, je klarer und deutlicher Probleme werden, sich umso eher auch Möglichkeiten und Wege zu ihrer Lösung finden.« 4 Vertreten Sie sich selbst in Ihren Aussagen; sprechen Sie per Ich-Aussagen, dadurch regen Sie den Dialog über Verhalten, Wirkung, Gefühle und Wünsche an. 4 Sprechen Sie nicht per Wir-, Es- oder Man-Aussagen, sie fördern beim Jugendlichen nur Schuldgefühle, Abwertungen, Kritik und Ablehnung. Jugendliche neigen schnell dazu, in Schutz- und Abwehrmechanismen zu flüchten und zu schweigen. Schwierige Gesprächssituation 4 Körperlicher, sexueller und seelischer Missbrauch 4 Chronische Erkrankungen, z. B. Diabetes 4 Lebenskrisen 4 Borderline-Persönlichkeiten 4 Unfähigkeiten zur Exploration 4 Medikamenten- und Drogensucht 4 Adipositas 4 Bulimie 4 Depressionen 4 Verwahrlosung Jugendliche benutzen in den o. g. schwierigen Gesprächsinhalten (Cohn 1992) deutlich erkennbar die unten aufgeführten Schutzund Abwehrmechanismen, um sich der Wirklichkeit (aus dem Gespräch) zu entziehen. Sie tauchen in allen unangenehmen Gesprächsphasen auf.
Schutz- und Abwehrmechanismen
13
5 Rationalisierung (Kraak 2003): »Die Fabel drückt es anschaulich aus: Der Fuchs, dem die Trauben zu hoch hängen und der deshalb frustriert ist, tröstet sich mit der Erklärung, die Trauben seien sauer.« 5 Verdrängung und Verleugnung: »Ich handle nach dem Sprichwort: Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß«. »Ich bin 14 Jahre und 5 Wochen über die Zeit. Mein Freund hat mich im Stich gelassen.« 5 Projektion: »Was Hans über Heinz sagt, sagt mehr über Hans als über Heinz.« 5 Isolierung: »Ich kiffe, aber Gefühle habe ich dabei nicht, ich bin wie tot.« 5 Regression: »Immer wenn ich was sagen soll, rede ich wie Micky Mouse.« 5 Identifikation: »In meiner Gang bin ich zwar nicht der Chef, aber ich mache alles so wie er.« 5 Ungeschehen machen: »Nachdem ich wieder mal etwas geklaut habe, trage ich ein Kreuz und alles ist dann gut. Manchmal ritze ich mich auch. 5 Verkehrung ins Gegenteil: »Eigentlich müsste ich mich so aufregen und dann draufschlagen, aber ich bin immer freundlich zu den Menschen.«
Holen Sie den Jugendlichen da ab, wo er sich gerade innerlich (gedanklich und gefühlsmäßig) befindet, verbalisieren Sie aufrichtiges Interesse. »Wenn ich mich in deine Situation hineinversetze, dann
würde es mir… gehen«, und machen Sie das, was Sie sagen, sinnlich erfahrbar (»Wenn ich Sie so ansehe, dann habe ich den Eindruck, eine verschlossene Burg vor mir sitzen zu haben.«) Wenn Sie eine Frage stellen, sagen Sie, warum Sie fragen und was Ihre Frage für Sie bedeutet. Vermeiden Sie jedoch das »inquisitorische« Interview. Unser Informationsgewinn beruht im Wesentlichen auf der Art der Fragen, die wir den Jugendlichen stellen. Zum Thema freie Assoziation und Imagination
4 Du hast drei Wünsche frei, was würdest du dir wünschen? 4 Wenn sich heute Nacht ein Wunder ereignet und die Beschwerden nicht mehr da sind, was wird dann anders sein? 4 Was muss sich ändern, dass es weiter so gut geht? (Bezogen auf eine Ausnahme) 4 Nehmen wir an, das Problem ist gelöst, wie sieht dann ein Film über Sie aus? Zum Thema Ressourcen- und Lösungsorientierung
4 Sie haben wirklich viele Schwierigkeiten, erzählen Sie mir einmal über die Seiten Ihres Lebens, wo es Ihnen gut geht. 4 Nehmen wir an auf einer Skala wäre 1 = sehr schlecht und 10 = sehr gut. Wo stehen Sie heute? 4 Was müssten Sie machen, damit es einen Punkt besser wird? Was müsste die Umgebung dazu tun? Was glauben Sie, wird wohl der erste Schritt in die richtige Richtung sein? Wie müssten Sie das machen? Wer wird Ihnen am ehesten dabei helfen können? Zum Thema Projektion
4 4 4 4 4
Wenn ich Ihren Mann (Tochter, Mutter etc.) fragen würde...? Wie sieht das wohl aus der Perspektive von XX aus? Wenn XX anwesend sein würde, was würde der sagen? Wenn ich heimlich anwesend wäre, was würde ich sehen? Angenommen, Ihre Tochter säße jetzt hier, was würden Sie wohl dazu sagen? 4 Wie ist wohl die Meinung Ihres Mannes über Ihre Tochter? (Ansicht eines Dritten über einen Vierten). Aus der Sicht Ihres Mannes, wer hat da wohl die engere Beziehung zu Ihrer Tochter?
Tipp 5 Seien Sie authentisch und selektiv in Ihren Kommunikationen. Machen Sie sich bewusst, was Sie denken und fühlen, und wählen Sie genau aus, was Sie sagen und machen. 5 Halten Sie sich mit Interpretationen, Lösungsvorschlägen, Bagatellisierungen, Bewertungen, Verurteilungen, Analysen und Ratschlägen solange wie möglich zurück. Sprechen Sie vermehrt über ihre persönlichen Reaktionen aus. 5 Beachten Sie Signale und Impulse Ihres Körpers. Sie können Ihnen oft mehr über Sie selbst etwas aussagen, als Ihr Verstand. (Beispiel: Der Arzt tritt als die einmalige Person, die er ist, voll in Erscheinung. Er gibt von sich aus freien Einblick in seine Gefühle und Wertungen, gerade auch in der augenblicklichen beraterischen Situation, er ist somit dem Jugendlichen durchsichtig. Negative Ge-
6
119 Literatur
fühle des Arztes gegenüber dem Jugendlichen werden konstruktiv zur Klärung der beraterischen Beziehung eingesetzt.) 5 Ermuntern Sie Ihr Gegenüber zu Rückfragen. 5 Bitten Sie den Jugendlichen, wiederzugeben, wie die Information bei ihm angekommen ist. (Beispiel: »Schildern Sie mir mit Ihren Worten, was Sie verstanden haben:«)
Gesprächsabschluss Vereinbaren Sie mit dem Jugendlichen kleine Ziele zur Veränderung. Bringen Sie auf jeden Fall die Ziele mit einem Datum (bis wann) in Verbindung. Beispiel Nach meiner Meinung haben wir angestrengt gearbeitet (und Fortschritte erzielt); ich möchte weder Sie noch mich überfordern und deshalb jetzt aufhören. Ich schlage vor, dass wir beide bis zum nächsten Mal überlegen: Was war heute wichtig, und was soll nächstens drankommen? Oder: Es ist schwierig, hier aufzuhören; ich kann mit Ihnen einen neuen Termin vereinbaren; ich möchte hier abschließen, weil eine andere Aufgabe (ein anderer Patient) auf mich wartet.
13
Bedenken Sie jedoch als Arzt, dass der Jugendliche Ihr Patient ist und somit die Verschwiegenheit gegenüber den Eltern eingefordert werden oder angeboten werden kann. Sie können mehr über ihn erfahren, wenn Sie die Eltern in den Beratungsprozess miteinbeziehen. Außerdem können präventiv und heilend schnellere Erfolge erzielt werden, wenn alle am gleichen Strang ziehen. Stehen Jugendliche mit den Eltern in einem Konflikt, kann das bei einer patientenbezogenen Gesprächsführung durch das lediglich Gegenüberstellen der beiden Positionen, als »neutraler (nicht-bewertender) begleitender Vermittler« sehr zum Gelingen des Gesprächs beitragen. Hier gilt es in den vielen Ihnen gestellten Beratungssituationen abzuwägen. Mit fortschreitendem Alter werden die Jugendlichen ein immer größeres Gewicht bekommen. Das Jugendalter ist die Zeit der Ablösung und des Selbständigwerdens des Jugendlichen. Die Beziehung zwischen Eltern und Kind muss komplett umstrukturiert und auf einer anderen Ebene organisiert werden. Dies stellt stets hohe Anforderungen an beide, erfordert Loslassen auf der einen und neu wachsende Selbständigkeit und Eigenverantwortlichkeit auf der anderen Seite. Nicht selten löst das Ängste und Unsicherheiten aus. Der Arzt ist in diesem Prozess als Vertrauensperson und Fachautorität eine wertvolle Stütze. Fazit
Durch diese systematische Anleitung erzielen sie einen weiteren Effekt. Sie schaffen Vertrauen, übernehmen Verantwortung und erzeugen eine Verbindlichkeit durch Vereinbarungen. Die Trias V+V+V ist für eine erfolgreiche Beratung mit Jugendlichen das A und O.
13.6
Rahmenbedingungen für die Gesprächsführung
4 Trias »Eltern‒Jugendlicher‒Arzt« 4 Verschwiegenheit 4 Prävention Beziehungsdreieck In der Beratung kommen Sie rasch an das sog. Beziehungsdreieck »Eltern‒Jugendlicher‒Arzt«. Chancen und Grenzen gemeinsamer Beratung halten Einzug in die Überlegungen, mit wem was besprochen wird. Cave Werden Sie auf keinen Fall Bündnispartner einer Seite (Loyalitätskonflikt) und achten Sie vermehrt auf die Qualitäten und Fähigkeiten der Familien.
Gemeinsame Gespräche »Eltern‒Jugendlicher‒Arzt« sind dann möglich, wenn 4 Sie die gegenseitige Akzeptanz vorliegen haben, 4 erkennbar ein tragfähiges, belastbares Vertrauensverhältnis vorliegt, 4 Sie grundlegende Informationen weitergeben, 4 Sie Vereinbarungen treffen wollen. Eltern minderjähriger Jugendlicher sind die »Auftraggeber« für das weitere Vorgehen.
Die beschriebenen Elemente der Gesprächsführung mit Jugendlichen haben, wie man unschwer erkennen kann, einen dynamischen Prozesscharakter. Das heißt, Sie als Arzt stehen in der enormen Herausforderung, sich mit einer nicht immer leichten Materie auseinander zu setzen. Die ganze Person mit aller Fachlichkeit ist verlangt und gefragt. Ich gebe zu, dass Sie manchmal allein eine Entscheidung treffen müssen, aber die Option jederzeit frei haben, sich in schwierigen beruflichen Alltagsfragen an Kollegen oder Kollegenkreise wenden können, um Unterstützung zu bekommen (7 Teil VII).
Literatur Cohn, RC (1992) Themenzentrierte Interaktion. Die Kunst sich selbst und eine Gruppe zu leiten. Mannheim Die Weisheit des Lao-tse (1995) Fischer TB Kraak J (2003) 4. Symposium Jugendmedizin, Seminarunterlagen, Jugendliche als Patienten Kraak J, DAJ AKTUELL Spezial 2/2003, Gesprächsführung mit Jugendlichen, S 20–25 Rogers CR (1997) Entwicklung der Persönlichkeit, Klett Schmidt-Lachenmann (2004) Gesprächsführung mit Jugendlichen. Seminarreihe »Jugend in der Praxis« Stuttgart Schulz von Thun F (1998) Miteinander reden, Rororo Shell-Studie 2002 (http://www.shell-studie.de) Tausch R (1998) Gesprächspsychotherapie, Hogrefe
14 Psychosoziale Einfühlung und Begleitung J. Grieser, U. Eiholzer
Wir widmen diese Arbeit Frau Dr. med. Gisela Leyting, welche unsere Arbeit und unsere Konzepte über Jahre begleitet und mitgeprägt hat.
14.1
Der Jugendliche: Veränderung auf allen Ebenen
Der jugendliche Patient ist ein Mensch im Übergang vom Kindes- zum Erwachsenenalter; sein Leben ist geprägt durch Veränderung auf allen Ebenen: körperlich, seelisch und in seinen Beziehungen zur Umwelt bleibt nichts, wie es war.
14.2
Viel ausgeprägter als dies in anderen Lebensabschnitten der Fall ist, beschäftigt den Jugendlichen, der beim Arzt sitzt, nicht nur die Frage nach einer möglichen Krankheit. Der Krankheitsaspekt ist nur eine von drei Ebenen, die in der Beziehung zwischen Jugendlichem und Arzt eine Rolle spielen.
Beziehungsebenen Jugendlicher–Arzt 1. 2. 3.
Zentrale Entwicklungsaufgaben Zu den zentralen Entwicklungsaufgaben des Jugendalters gehört: 5 Die immer wieder neue Aneignung des sich laufend verändernden Körpers und die Integration der körperlichen Veränderungen in das Bild vom eigenen Selbst 5 Neuorganisation der Beziehungen zu den Eltern auf der einen und zu den Gleichaltrigen auf der anderen Seite 5 Übernahme der männlichen oder weiblichen Geschlechtsrolle und die Gestaltung entsprechender Beziehungen 5 Auseinandersetzung mit den schulischen Anforderungen und die Berufswahl
14
Die alterspezifischen Entwicklungsaufgaben, mit denen der Jugendliche konfrontiert wird, schließen biologische, psychische und soziale Aspekte mit ein, der Körper ist Teil der sich ändernden Identität des Jugendlichen und Werkzeug im Kontakt und Austausch mit seiner Umwelt. Das Jugendalter ist ein »Durchlauferhitzer«, der aus Kindern junge Erwachsene macht. Ein 12-jähriger Jugendlicher steht in den genannten Entwicklungsdimensionen an einem ganz anderen Punkt als ein 17-Jähriger. Dementsprechend unterschiedlich erlebt ein Jugendlicher sich und die Situation in der ärztlichen Sprechstunde, je nachdem, ob er sich am Beginn oder am Ende der Adoleszenz befindet. Ein Arzt, der Jugendliche behandelt und betreut, sollte die spezifischen Gesetzmäßigkeiten dieser speziellen Durchgangssituation kennen. Die Spielregeln dieses Lebensabschnittes unterscheiden sich grundlegend von denjenigen des Erwachsenen. Sie sind uns auch nicht so einfach zugänglich, wie die Spielregeln des Kindes, an die viele Erwachsene sich besser erinnern. Ohne entsprechende Kenntnisse fehlt dem Arzt das Koordinatensystem, um mehr leisten zu können, als nur einfache Fragen zu beurteilen wie z. B., ob er einem Jugendlichen mit einem geröteten Rachen ein Antibiotikum verschreiben soll oder nicht.
Normalität und Krankheit
Biologisch-medizinischer Aspekt mit der Frage: »Bin ich krank?« Psychologischer Aspekt mit der Frage: »Wie geht es mir?« Sozialer und entwicklungsbezogener Aspekt mit der Frage: »Bin ich normal?«
Diese drei Ebenen sind meist eng miteinander verwoben. Nicht nur der Jugendliche selbst, sondern auch viele Ärzte bekunden Mühe, krankhafte Veränderungen von normale Veränderungen, welche Teil des puberalen Entwicklungsprozesses sind, abzugrenzen. Die Kernfrage des Jugendalters ist die Frage »Wer bin ich?«, »Bin ich wie die anderen?«, »Bin ich anders als die anderen?« Alles, was im Gespräch mit dem Arzt zum Thema wird oder indirekt angesprochen wird, kann eine Bedeutung in Zusammenhang mit der Identitätsfindung des Jugendlichen haben. Krankheit und Kranksein bekommen eine Bedeutung im sich verändernden Bild des Jugendlichen von sich und seinen sich in Bewegung befindenden Grenzen zur Umwelt und den anderen Menschen. ! Krankheit, besonders chronisches Kranksein, kann zu einen Baustein in der Konstruktion der eigenen Identität werden.
Krankheit wird vom Jugendlichen als eine Störung in der Beziehung zu seinem Körper erlebt, stellt in der Beziehung zu den Gleichaltrigen eine Abweichung von der Norm dar, sie kann Schwierigkeiten im Umgang mit schulischen oder beruflichen Anforderungen mit sich bringen. Krankheit ruft die Eltern auf den Plan und läuft damit zunächst der Tendenz der Jugendlichen zu mehr Unabhängigkeit von den Eltern entgegen. Aber auch der gesündeste Jugendliche erlebt sich in der Beziehung zu seinem Körper gestört, denn im Unterschied zum kindlichen Leib, mit dem er einfach identisch war, ist alles am Körper des Jugendlichen groß, sexuell aufgeladen und geschlechtsreif geworden. Der Jugendliche erlebt mit seiner zunächst noch kindlichen Psyche diesen »adoleszenten Geschlechtskörper« als »aufdringlich veränderten Körper« (King 2002). Er hat den unhinterfragten Leib der Kindheit verloren und muss sich nun diesen neuen, ihm manchmal peinlichen Körper aneignen. Darüber hinaus fragt er sich auch immer wieder, ob diese oder jene Veränderung nun Teil des normalen Entwicklungsprozesses oder eben doch Ausdruck einer krankhaften Veränderung ist. Diese Veränderungen im Verhältnis zu seinem Körper zu be-
121 14.4 · Die Rolle der Gleichaltrigen
wältigen, stellt eine große Aufgabe für den Jugendlichen dar, und hierbei fühlt er sich auch allein gelassen und überfordert. Der Arzt ist Teil der Umwelt, in der sich die Entwicklung des Jugendlichen vollzieht. Er wird aufgesucht, wenn sich Probleme im Bereich von Gesundheit, Krankheit, normgerechtem sozialen Funktionieren oder psychischem Wohlbefinden aus der Sicht des Jugendlichen, seiner Eltern oder anderer Bezugspersonen wie Lehrer oder Lehrmeister ergeben. Im Kontakt mit dem Arzt geht es vordergründig um ein Symptom, hintergründig aber um die individuelle Bedeutung dieses Symptoms für jeden einzelnen im Gesamtkontext der Entwicklungssituation des Jugendlichen: Beispiel Georg, ein extrem müder und antriebsloser Jugendlicher: Die Mutter meldet ihren 14-jährigen Sohn Georg an; er sei »extrem müde«, »antriebslos« und es gebe »Pubertätsprobleme«. Auch habe er einen Eisenmangel gehabt, den man kontrollieren solle. Wegen Überlastung der Praxis findet der Arzttermin erst zwei Monate nach der Anmeldung statt. Zuerst spricht der Arzt mit Georg alleine und erfährt, dass dieser viele Freunde hat, mit diesen seine Freizeit verbringt, wobei auch gekifft werde, wie Georg auf Nachfrage einräumt. Vom Kiffen weiß die Mutter nichts und sie soll davon auch nichts erfahren. Mit den Freunden treibt Georg auch etwas Sport. Der Sohn gibt an, nicht so genau zu wissen, weshalb ihn die Mutter angemeldet habe. Der Arzt insistiert, es müsse doch Probleme gegeben haben, sonst würde die Mutter einen Arztbesuch nicht für notwendig halten. Erst diese Konfrontation führt das Gespräch zum Thema Lehrstellensuche – in der Wahrnehmung des Sohnes eine längst erledigte Nebensache. Der Arzt empfindet das Gespräch mit Georg als sehr nett und atmosphärisch stimmig. Im Gespräch mit Mutter und Sohn zeigt sich, dass Georg ein Einzelkind ist. Mit der »Antriebslosigkeit«, die die Mutter bei der Anmeldung erwähnte und die beim Arzt den Verdacht einer depressiven Problematik auslöste, meinte sie, dass Georg ganze zwei Bewerbungen für Lehrstellen geschrieben habe; die Mutter hatte den Eindruck, er tue viel zu wenig, andere würden Dutzende von Bewerbungen schreiben und fänden trotzdem keine Lehrstelle. Georg hingegen gibt an, er sei die ganze Zeit sicher gewesen, in seinem Traumberuf als Programmierer eine Lehrstelle zu finden, das würde schon gehen. »Und es ist ja auch gegangen!« denkt sich der Arzt. In dieser Zeit der Lehrstellensuche stand die Familie unter Druck, welcher auch zu explosiven Ausbrüchen führte, die die Mutter als »Pubertätsprobleme« bezeichnete. Mittlerweile jedoch hatte sich alles beruhigt. Dem Arzt kam die Mutter etwas überbehütend vor, bei Georg konnte er keine depressiven Symptome entdecken.
Die Mutter und ihr jugendlicher Sohn haben zwei ganz unterschiedliche Perspektiven. Die Mutter nimmt wahr, dass ihr Sohn müde ist, die Lehrstellensuche nicht so aktiv angeht, wie sie das erwartet; sie erklärt sich dieses Defizit nach dem Modell des Eisenmangels als Symptom einer Krankheit, die beim Arzt diagnostiziert und behandelt werden könnte. Für den Jugendlichen selber sieht es ganz anders aus, er verhält sich zwar gemessen an den Anforderungen der Eltern nicht normgerecht, doch für ihn zählt die Norm seiner Peergroup, und hier gibt es keinen Widerspruch, denn er bleibt ja nur cool und lässt sich von der Lehrstellenfrage nicht stressen. Er hat das Zentrum seines Daseins von den Eltern weg-, zur Peergroup hinverlegt; dem Arzt erlaubt er einen Einblick in seine neue Welt, ihm gesteht er vorübergehend den Status eines älteren Peers oder Mentors zu, die Eltern hingegen dürfen vom Kiffen
14
nichts erfahren. Von der Aktivität, die er mit den Gleichaltrigen erlebt, bekommen die Eltern wenig mit, sie erleben nur die Kehrseite, die Passivität des Jungen, der müde von Aktivitäten mit den Freunden nachhause kommt und sich hier ausruht, um seine Energie wieder von der Familie weg nach außen zu tragen. Die Eltern sehen nicht, dass ihr Sohn im Rahmen der Peergroupnnormen gut funktioniert, für sie steht im Vordergrund, dass er sich den Anforderungen der Ausbildung nicht ihren Normen entsprechend stellt. Diese Abweichung des Sohnes von den Erwartungen der Eltern mündet für die Eltern in die Phantasie, dass der Sohn krank sein könnte, die Adoleszentenentwicklung wird zu einer krankhaften Veränderung des Sohnes. In dem Moment, in dem der Jugendliche die schulischen oder beruflichen Anforderungen erfüllt, fällt der Krankheitsverdacht wieder weg. Zwischen diesen beiden Wahrnehmungen steht der Arzt als Vermittler. Eigentlich bräuchte es ihn nicht, wenn der Vater diese Rolle übernehmen und zwischen der vielleicht zu besorgten Perspektive der Mutter und der vielleicht zu unbekümmerten Perspektive des Sohnes moderierend einen dritten Standpunkt einbringen würde. Doch der Vater absentiert sich und deshalb wendet sich die Mutter auf der Suche nach einem anderen hilfreichen Dritten an den Arzt.
14.3
Das Symptom und die Vielfalt seiner Bedeutungen
Das präsentierte Symptom/Problem kann sich also je nach Perspektive der involvierten Personen sehr unterschiedlich darstellen. Geht es um Schulprobleme, so spricht der Jugendliche vielleicht von chronischen Kopfschmerzen, die Mutter befürchtet einen Hirntumor, der Vater sieht die Ursache in einem sozialen Konflikt zwischen dem Jugendlichen und seinem Lehrer und der Arzt fragt sich vielleicht, warum der Jugendliche keine bessere Bewältigungsmöglichkeiten für die Spannung findet, unter der er steht, als ein körperliches Symptom zu entwickeln. Dementsprechend erwartet der Jugendliche Tabletten, die Mutter eine eingehende körperliche Untersuchung, der Vater will, dass der Arzt als Autorität dem Lehrer die Meinung sagt und der Arzt möchte den Jugendlichen und seine Eltern für ein Gespräch über den Umgang mit Spannungen in der Familie gewinnen. So werden die biologische, die soziale und psychische Perspektive auf die verschiedenen Akteure rund um das präsentierte Symptom herum verteilt. Am Arzt liegt es, dies zu erkennen und die einzelnen Elemente zu einem Gesamtbild zusammenzufügen (. Abb. 14.1). Idealerweise kann der Arzt diese unterschiedlichen Facetten aufnehmen und im Kontakt mit dem Jugendlichen und den ElJugendlicher
Problem
Arzt
Lehrer/Lehrmeister Peergruppe
Eltern
. Abb. 14.1. Symptom-Problem-Pyramide
122
Kapitel 14 · Psychosoziale Einfühlung und Begleitung
tern integrieren; manchmal wird er aber auch mit seiner eigenen Perspektive mehr Partei als Moderator, meist weil er überzeugt davon ist, dass es dringend eine bestimmte organische Abklärung oder Behandlung braucht, oder weil er davon überzeugt ist, genau zu wissen, was für den jugendlichen Patienten oder seine Umgebung das Richtige ist.
14.4
Die Rolle der Gleichaltrigen
Der Jugendliche orientiert sich zunehmend mehr an den Normen in der Gruppe der Gleichaltrigen und weniger an den Normen seiner Familie. Sich anders als die Peers zu erleben oder zu verhalten, ist schwierig und erfordert ein hohes Maß an Unabhängigkeit und Selbstbewusstsein. Das sieht man beim Gruppendruck in Richtung Waschbrettbauch und anorektischem Essverhalten ebenso wie bei den Schwierigkeiten, medizinisch notwendige Behandlungsmaßnahmen oder Diäten auch in der Peergroup durchzuhalten, etwa bei diabeteskranken Jugendlichen in Schuloder Ferienlagern. Dem Arzt sollte bewusst sein, dass die Jugendlichen zwar in aller Regel die Notwendigkeit solcher Maßnahmen kognitiv nachvollziehen können und im Gespräch mit dem Arzt auch noch ganz überzeugt sein können, ihr Medikament auch im Klassenlager regelmäßig einzunehmen, was aber noch lange nicht heißt, dass sie dies dann auch umsetzen können. Die Gleichaltrigen können aber auch, wenn sie über genügend Informationen verfügen, durchaus unterstützend wirken und dann mehr als die Eltern in der Lage sein, die Compliance des jugendlichen Patienten zu fördern (Hagen u. Noeker 1999).
14.5
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Umgang mit der Ablösungsdynamik in der Familie
Besteht eine Entwicklungsaufgabe des Jugendlichen darin, sich vermehrt von den Eltern abzulösen und besonders auch in körperlichen Angelegenheiten autonomer zu werden, so kann ihn der Besuch beim Arzt dabei eine zweideutige Situation bringen. Meist haben die Eltern ihn angemeldet und mindestens ein Elternteil begleitet ihn zur Konsultation; in dieser Konstellation betritt der Jugendliche in der Rolle des abhängigen Kindes die Bühne der ärztlichen Konsultation. Wie hin- und hergerissen der Jugendliche zwischen Kinder- und Jugendlichenrolle ist, zeigt sich, wenn man zuerst mit dem Jugendlichen alleine spricht und dann die Eltern dazu holt. Alleine mit dem Arzt ist er ganz erwachsen und souverän, spricht kompetent über sich und seine Welt; holt man dann die Eltern dazu, wird der Jugendliche von einem Moment auf den anderen klein und unsicher, mutiert vom Subjekt zum Objekt seiner Eltern. Weil sich Jugendlicher und Eltern in verschiedenen Welten mit verschiedenen Bedürfnissen und unterschiedlichen Wahrnehmungen befinden, ist zu klären, wer der Beteiligten welches Anliegen an den Arzt hat. Decken sich die Sorgen und Vorstellungen der Eltern mit dem Auftrag des Jugendlichen selber? Da Konflikte zwischen Jugendlichen und ihren Eltern die Regel und nicht die Ausnahme sind, ist davon auszugehen, dass auch in bezug auf die Konsultation beim Arzt Konflikte bestehen oder entstehen können.
Cave Von beiden Seiten, dem Jugendlichen wie seinen Eltern, kann sich der Arzt verführen lassen, eine Koalition gegenüber dem Dritten einzugehen: mit den Eltern gegen den Jugendlichen, mit dem Jugendlichen gegen die Eltern.
Aus solchen Koalitionen gegen den Dritten entstehen in der Regel Probleme für die Behandlung. Der Arzt eines Jugendlichen kann es aber nicht vermeiden, die Eltern in die zweite Reihe zu setzen; er muss ihnen zumuten, einzusehen, dass sie nicht mehr unumschränkt die kompetentesten Auskunftspersonen in Bezug auf ihr Kind sind, und zu akzeptieren, dass Jugendliche ihren Eltern zunehmend weniger über sich mitteilen und mit den Gleichaltrigen und vielleicht dem Arzt wichtige Dinge besprechen, die den Eltern vorenthalten bleiben. Da zumeist die Mütter für die körperliche Versorgung der Kinder zuständig sind, wird durch die Krankheit in der Regel die Mutter-Kind-Beziehung verstärkt, während die Beziehung zum Vater im Hintergrund bleibt. Der Fall des von seiner Mutter als »antriebslos« erlebten Sohnes (s. Beispiel 1) illustriert, wie das Krankheitskonzept der Mutter eine Möglichkeit bietet, sich weiterhin als Mutter ihres Kindes auf einer Ebene zu betätigen, auf der sie für die körperlichen Belange (»Eisenmangel«) ihres Kindes zuständig ist, obgleich sie ja eigentlich etwas für seine Ablösung tun möchte, wenn sie seine Lehrstellensuche aktiver gestaltet sehen möchte. Dieses Wiedererstarken der Mutter-Kind-Beziehung kann der Ablösungsbewegung zuwiderlaufen, insbesondere wenn der Vater ausgeblendet bleibt und in die Behandlung nicht einbezogen wird. Eine ausführliche Untersuchung aus dem Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie bestätigt, dass die Behandlung dadurch entscheidend gefördert wird, »dass der Jugendliche sich in einer solchen Situation auf seinen Vater stützen kann, und umgekehrt werden die Bewältigungsmöglichkeiten geschwächt, wenn die Antwort auf die Frage ‒ ›Hält mein Vater in dieser kritischen Situation zu mir oder nicht?‹ ‒ negativ ausfällt« (Mattejat u. Remschmidt 1997). Verstärkt zunächst die Wahrnehmung eines Problems als mögliche Krankheit die frühere Mutter-Kind-Abhängigkeit, so liegt es beim Arzt, kompensatorisch dazu die Ablösungsbewegung zwischen Jugendlichem und Eltern zu bedenken und entsprechende Angebote zu machen. Manchmal gelingt es übermäßig an die Eltern gebundenen Kindern erst, über die Krankheit im Arzt eine Person zu finden, die ihnen eine Unterstützung in ihrer schon schwierigen oder durch die Krankheit zusätzlich erschwerten Ablösungsbewegung bieten kann. Diese Chance geht ungenutzt vorüber, wenn sich der Arzt auf das Symptom konzentriert und nur allgemein beruhigend wirken möchte, denn dann muss der Patient das nächste Symptom entwickeln, um zu seiner nächsten Chance zu kommen, in seinem Konflikt erkannt zu werden. In solchen Situationen stellt der Jugendliche in der ärztlichen Sprechstunde auch den Arzt vor einen Konflikt, in dem dieser seine Angst überwinden muss, um heikle Themen wahrnehmen und ansprechen zu können. Dann ist es auch möglich, einen Anstoß zu liefern, um eine blockierte Entwicklung voranzubringen.
123 14.6 · Schwierigkeiten im Zugang zum Jugendlichen
Beispiel Beispiel 2: Rudolf, ein Jugendlicher, der dauernd erkältet ist Rudolf, der Sohn einflussreicher Leute, fehlte immer häufiger in der Schule, seit der Vater eine neue Stelle im Ausland hatte und die Kinder ganz der Mutter überließ. Diese fühlte sich verlassen und wollte nun nicht auch noch von ihren pubertierenden Kindern verlassen werden. Beide Kinder kränkelten häufig und die Mutter bot ihnen immer schneller und bereitwilliger an, sie wegen jedem Schnupfen zuhause zu behalten und gegenüber der Schule zu entschuldigen. In der ärztlichen Sprechstunde, in der Rudolf wegen den Bagatellproblemen nie erschien, fiel dies erst auf, als anlässlich einer Impfung zur Sprache kam, dass die Versetzung des sehr intelligenten Jungen gefährdet war, weil die häufigen Abwesenheiten von der Schule zu erheblichen Wissenslücken geführt hatten. Bei Rudolf hatte nicht seine eigene Reaktion auf die Abwesenheit des Vaters und die daraus resultierenden ehelichen Probleme zu den Schulproblemen geführt; die Schwierigkeit der Mutter, nun auch noch die Kinder aus ihrer Kontrolle zu entlassen, hatte Rudolf davon abgehalten, seine Ziele in der außerfamiliären Welt erfolgreich zu verfolgen.
Hier braucht es ein Angebot sowohl an den Sohn als auch an die Mutter; dem Sohn kann über die Aussage des Arztes, er selber sei häufig mit Fieber in die Schule geschickt worden, eine alternative Sicht und Identifikationsmöglichkeit angeboten werden; der Mutter kann mit dem Hinweis auf die normalen Ablösungsschwierigkeiten der Eltern, die in ihrer Situation möglicherweise noch verschärft seien, ein Angebot für unterstützende Gespräche unterbreitet werden. Beiden gegenüber füllt der Arzt damit das Vakuum aus, das die Abwesenheit des Vaters hinterlässt.
14.6
Schwierigkeiten im Zugang zum Jugendlichen
Jugendliche können unmotivierte Patienten sein, deshalb steht der Arzt vor der Aufgabe, die Compliance des Patienten durch einen der Krankheit und den Entwicklungsaufgaben des Jugendlichen gemäßen Umgang mit dem ganzen Patientensystem zu sichern, d. h. mit dem Jugendlichen auf der einen, seinen Eltern und darüber hinaus mit möglichen weiteren Involvierten (Schule, Arbeitsstätte, Behörden) auf der anderen Seite. Nur wenn sich der Arzt in die innere Befindlichkeit des Jugendlichen in Bezug auf die ärztliche Untersuchung einfühlen kann und wenn er den Jugendlichen vor dem Hintergrund seiner aktuellen entwicklungspsychologischen Situation versteht, entsteht eine tragfähiger Kontakt zwischen Arzt und Jugendlichem. Vor allem sollte der Arzt einberechnen, dass der Jugendliche oft keine Lust hat, sich mitzuteilen; statt über sich zu sprechen, verschließt er sich. Auf Versuche, ihm näher zu kommen und ihn zu verstehen, reagiert er, indem er ausweicht, anstatt sich zu öffnen. Dieses entwicklungsspezifische Dilemma vieler Jugendlicher fasste der Kinderarzt und Psychoanalytiker D.W. Winnicott in dem Satz zusammen: »Der Jugendliche will nicht verstanden werden« (1969, zit. nach Seiffge-Krenke 1998). ! Im Vergleich zu einer Alltagssituation bringt die Konsultation beim Arzt einen Verlust an physischer und psychischer Abgrenzung mit sich, was der Entwicklungstendenz des Jugendlichen, solche Abgrenzungen gegenüber Erwachsenen zu errichten und aufrechtzuerhalten, entgegenläuft.
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Es wird über ihn gesprochen, mit ihm oder mit seinen Eltern; er fühlt sich psychisch bloßgestellt und der unangenehmen Situation ausgesetzt, sich auch körperlich entblößen zu müssen. Dabei wird in diesem Alter Nacktheit zunehmend als peinlich erlebt und vermieden, gerade auch den Eltern gegenüber (Seiffge-Krenke 1998). Der Jugendliche ist damit beschäftigt, sich den sich verändernden Körper anzueignen und in sein Bild von sich und seinem Körper zu integrieren. Der Körper, um den es beim Arzt geht, ist zwar der Körper des Biologieunterrichts, aber er ist voller sexueller Bedeutungen, Empfindungen und Regungen, die vor Erwachsenen und Fremden geheimgehalten werden. In der Sprechstunde fühlt sich auch manch erwachsener Patient beklommen, unfrei, hat Angst, was auf ihn zukommt. Der Patient hat Schwierigkeiten, dem Arzt zu erklären, um was es ihm geht, merkt, dass die Geduld zuzuhören auf Seiten des Arztes begrenzt ist. Hat er die Praxis wieder verlassen, fällt ihm dann ein, was er auch noch hatte sagen oder fragen wollen. Der Patient hört zu, was der Arzt ihm erklärt, kann aber wegen seiner Anspannung nur einen Teil davon aufnehmen und wieder erinnern, nachdem er die Praxis verließ. Diese normale Beeinträchtigung der kognitiven Funktionstüchtigkeit des Patienten ist beim Jugendlichen natürlich noch viel ausgeprägter. Er sitzt da, ist sowieso schon vom chronischen emotionalen Aufruhr in seinem Inneren beansprucht, hat vielleicht schon in der Schule Mühe, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren und nun soll er hier dem Arzt erklären, was mit ihm los ist, und aufnehmen, was der Arzt ihm erklärt. Der Informationsaustausch zwischen Arzt und Patient findet auf zwei Ebenen statt: als verbale Kommunikation und als emotionaler Informationsaustausch. Während der Arzt dem Patienten einen Sachverhalt erklärt, achtet er gleichzeitig darauf, wie es dem Jugendlichen dabei geht. ! Die emotionale Bewertung der vom Arzt vermittelten Information entscheidet darüber, ob die Information im vom Arzt gemeinten Sinn verstanden wird und umgesetzt werden kann.
Darüber hinaus kann der Arzt interessante Aufschlüsse über die psychische Situation des Jugendlichen gewinnen, wenn er darauf achtet, wie es ihm selber im Kontakt mit dem Jugendlichen und mit seinen Eltern geht. Kann sich der Arzt in den Jugendlichen und in seine Eltern einigermaßen einfühlen und gelingt es ihm dabei, einen gleichmäßigen professionellen Abstand zum Jugendlichen wie zu seinen Eltern aufrechtzuerhalten, so wird ihm der Zugang zum Jugendlichen besser gelingen, als wenn er sich einer der beiden Seiten zu nahe fühlt und sich – bewusst oder unbewusst – mit dieser verbündet. Ungünstig ist es auch, wenn er sich aus einem verkürzten Verständnis der Autonomiebedürfnisse des Jugendlichen mit diesen identifiziert und sich gegen die Eltern stellt. In einer solchen Konstellation kommt dem Arzt das historisch gewachsene Identitätsgefühl des Pädiaters in die Quere, das Berger (1997) so charakterisiert: »Überidentifikation mit dem Kind, Infantilisierungsneigung und latente Vorwurfshaltung gegenüber den Eltern, die Schwierigkeit, einmal gefasste, emotional bestimmte Einstellungen – beispielsweise zur Familiensituation – genauer zu hinterfragen bzw. zu relativieren.« Überhaupt ist darauf hinzuweisen, dass Ablösung von den Eltern nicht die Lösung der Adoleszentenprobleme ist. Manchmal wer-
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Kapitel 14 · Psychosoziale Einfühlung und Begleitung
den Jugendliche auch vorschnell in die Welt hinausgedrängt oder von ihren Eltern auf andere Art überfordert und emotional im Stich gelassen. Einem verstehenden Zugang zu den Symptomen des Jugendlichen steht auch der »Drang zum Kurieren«, die »Symptomintoleranz« des Arztes im Weg, während »nicht zu handeln« zugunsten des verstehenden Gesprächs zunächst einmal quer zum beruflichen Verantwortungsgefühl des Kinder- und Jugendarztes steht. Der Arzt muss mit dem Patienten und dessen Eltern einen Kurs segeln zwischen der Scylla des vorschnellen (Be-)Handelns und der Charybdis des vorschnellen Schönredens (ist nur psychosomatisch), um den Raum für eine Abklärung der Symptomatik zu schaffen, die nicht nur das Symptom, sondern auch den Jugendlichen als seinen Träger umfasst. Und vor allem muss er über eine breite Palette von Interventionsmöglichkeiten und Vernetzungen verfügen: somatische, psychologische, soziale, um etwa zu entscheiden, ob der Jugendliche mit Bauchschmerzen vielleicht zum Schulpsychologen gehört. Fazit
Im Kindesalter, als Körper und Psyche noch weniger gegeneinander abgegrenzt waren als im Jugend- und dann später im Erwachsenenalter, ist es ganz normal, dass seelische Spannungen als körperliche Symptome zum Ausdruck kommen. Auch bei seinen jugendlichen Patienten wird der Arzt häufig zum Schluss kommen, dass das Leiden des Jugendlichen ganz oder teilweise einen psychosomatischen Hintergrund haben könnte. Doch es lohnt sich, daran zu denken, dass, so offensichtlich dem Arzt der Zusammenhang auch zu sein scheint, der Patient diesen zunächst nicht einfach nachvollziehen wird, ist doch sein körperliches Symptom oder Leiden die beste Lösung, die er finden konnte, um eine Spannung zu bewältigen und zum Ausdruck zu bringen. Weil er keine Möglichkeit hat, seine Probleme als soziale oder psychische direkter zum Ausdruck zu bringen, muss er auf den Körper ausweichen und an dieser Möglichkeit festhalten, bis er bessere Möglichkeiten der Verarbeitung der belastenden Situationen findet. Gerade der psychosomatisch reagierende Jugendliche findet Reden oft sinnlos und macht dem Arzt die Aufgabe nicht einfach, das Symptom zurückzuübersetzen und das psychische oder soziale Anliegen des Patienten zur Sprache kommen zu lassen.
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Literatur Berger M (1997) Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit Kinderärzten. Kinderanalyse 2/97, S. 103–123 Hagen C von, Noeker M (1999) Entwicklungsergebnis bei chronischer somatischer Erkrankung im Kindes- und Jugendalter: Psychische Störung versus Kompetenzgewinn. In: Oerter R, von Hagen C, Röper G, Noam G (Hrsg.) Klinische Entwicklungspsychologie. Psychologie Verlags Union, Weinheim King V (2002) Die Entstehung des Neuen in der Adoleszenz. Leske & Budrich, Opladen Mattejat F, Remschmidt H (1997) Die Bedeutung der Familienbeziehungen für die Bewältigung von psychischen Störungen – Ergebnisse aus empirischen Untersuchungen zur Therapieprognose bei psychisch gestörten Kindern und Jugendlichen. Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 46: 371–392 Seiffge-Krenke I (1998) Adolescent’s Health. A Developmental Perspective. Lawrence Erlbaum Ass., Mahwah
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15 Der »kranke« Jugendliche J. Grieser, U. Eiholzer
15.1
Fragestellungen in der Arztpraxis
Der Arzt in der Praxis trifft bei Jugendlichen auf ein breites Spektrum von Fragestellungen. Es reicht von einfach zu beantwortenden Fragen wie »Bin ich normal groß?« über Bagatellerkrankungen wie eine kurzdauernde Grippe, für die ein Arbeitsunfähigkeitszeugnis für den Arbeitgeber ausgestellt werden soll, bis hin zur Begleitung von schwerst chronisch kranken Jugendlichen mit eingeschränkter Lebenserwartung. 15.1.1 Normal oder abnormal? Bei vielen jugendlichen Patienten zeigt sich, dass sie nicht krank sind, sondern unter dem Gefühl leiden, nicht der Norm zu entsprechen – sie erleben sich als zu groß, zu klein, zu dick, zu dünn, gehemmt, etc (7 Kap. 1). Hier genügt es schon oft, sie vor dem Hintergrund der altersgerechten Norm zu untersuchen und sie aufzuklären. Manchmal kommen aber auch hartnäckige Selbstwertprobleme zur Sprache, die dann einer psychologischen Behandlung bedürfen. Diese haben zum Teil mit der Diskrepanz zwischen gesellschaftlich vermitteltem Körperideal und dem Bild, das der Jugendliche von sich selber hat, zu tun. Das ist den Jugendlichen in der Regel bewusst, hier gibt es ihnen wenig Neues zu vermitteln. Worauf der Jugendliche aber schaut und reagiert, ist z. B. der Umgang des Arztes mit seinem eigenen Körper; d. h. der Arzt ist mit seiner Person immer auch eine mögliche Identifikationsfigur und kann als solche benutzt oder abgelehnt werden. Die Frage, woher der Jugendliche Bestätigung und Anerkennung bezieht und welche Umstände seine Selbstwertzweifel schüren und zu seinem Gefühl beitragen, welcher Norm auch immer nicht zu genügen, ist zentral für das Verständnis der Situation des Jugendlichen. 15.1.2 Akute Krankheit Die meisten Jugendlichen sieht der Arzt nur bei akuten Krankheiten, weil diese sonst keine Notwendigkeit sehen, den Arzt aufzusuchen. Deshalb ist es wichtig, sich auch in solchen Fällen kurz ein Bild über die biologische (Größe, Gewicht, Pubertätsstand) und über die psychosoziale Situation zu machen. Im kurzen Gespräch über Schule, Freunde und Hobbys erhält man einen Einblick in die psychosoziale Situation des Jugendlichen.
Tipp Wenn man auf Grund eines solchen kurzen Gespräches – für längere Gespräche fehlt in solchen Situationen ja in der Regel die Zeit – den Eindruck bekommt, irgendetwas könnte nicht in Ordnung sein, so ist es sinnvoll, dem Jugendlichen eine somatisch deklarierte Nachkontrolle anzubieten mit dem Hinweis, dass man sich dann auch mehr Zeit für ein Gespräch miteinander nehmen kann.
Lässt man den somatischen Anmeldegrund, über den der Jugendliche den Weg in die Praxis gefunden hat, allzu schnell fallen, so kann es sein, dass man den Jugendlichen nicht mehr sieht, weil er Angst hat, zu schnell mit einem aus seiner Sicht heiklen Thema konfrontiert zu werden. Deshalb muss der anzustrebende Paradigmenwechsel von einem biologischen Konsultationsgrund zu einem psychosozialen Problem mit genügend Zeit und Fingerspitzengefühl erfolgen. Jugendliche sind in der Regel im herkömmlichen Sinn selten krank und gehen nicht gerne zum Arzt. Deshalb ist vor allem dann besondere Aufmerksamkeit angebracht, wenn ein bestimmter Jugendlicher immer wieder wegen Kleinigkeiten in der Praxis erscheint, wie Rudolf, der Jugendliche, der dauernd erkältet ist; Beispiel 2, 7 Kap. 14. 15.1.3 Chronische Krankheit Im Gegensatz zum arztmeidenden Verhalten der Jugendlichen im Allgemeinen können jüngere Jugendliche mit einer chronischen Krankheit ungewöhnlich gute Beziehungen zum Arzt aufweisen; sie besprechen mit ihm teilweise mehr Probleme als mit den Eltern oder ihren Freunden. Das ergab eine Untersuchung von SeiffgeKrenke et al. (1995) mit juvenilen Diabetikern. Diese Jugendlichen stufen ihre Beziehung zum Arzt als ganz wichtig für die Bewältigung ihrer Krankheit ein. Sie fragen den Arzt nicht nur in Zusammenhang mit der Krankheit um Rat, sondern holen seine Meinung auch zu vielen anderen Fragen ein, die ihre Beziehungen zu den Eltern, Freunden oder die Schule betreffen. Die Krankheit bietet also einen Anlass, Dinge zur Sprache zu bringen, doch werden »die Defizite im sozialen Bereich und in wichtigen Beziehungsfeldern von den meisten unserer Ärzte nicht gesehen.« Werden diese chronisch kranken Jugendlichen älter, legen sie eine ähnlich arztmeidende Haltung wie ihre gesunden Altersgenossen an den Tag. Die Einstellung des Diabetes wird schwieriger, was die Ärzte enttäuscht: »Der Zucker wäre schon gut in den Griff zu bringen, wenn nicht die Patienten wären, die sich nicht in den Griff bringen lassen« (Amon 1989; zit. a.a.O.). Die Ärzte konzentrieren sich auf den Zucker und haben nicht die psychosoziale Gesamtsituation des Jugendlichen im Blick, was, so die Vermutung der Autoren, neben der alterstypischen Autonomiebewegung die Enttäuschung und Abwendung des Jugendlichen vom Arzt erklären könnte. Jugendliche Patienten mit einer chronischen Krankheit und deren Eltern haben größere Schwierigkeiten als andere Familien, den Prozess der Ablösung und Neuverhandlung der Beziehungen erfolgreich zu durchlaufen, weil der Patient wegen der mit der Krankheit verbundenen Sorgen, Pflege- oder Aufsichtsbedürftigkeit im Kinderstatus gegenüber den Eltern bleibt. ! Die Eltern haben Angst, dem nun jugendlichen Kind die Verantwortung zu übergeben, und der Jugendliche spielt ihnen gegenüber seine Macht aus, die er mit der Verbesserung oder Verschlechterung seiner Symptomatik auf das Befinden der Eltern hat.
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Kapitel 15 · Der »kranke« Jugendliche
Hier kann dem Arzt die Rolle eines Entwicklungshelfers zukommen, der diese Ablösungsschwierigkeiten erkennen und dafür sorgen kann, dass der Jugendliche mehr Verantwortung für sich selber übernimmt. Dabei muss der Arzt vorangehen und selber den Jugendlichen in die Verantwortung nehmen, wobei er damit rechnen muss, dass sowohl der Jugendliche als auch die Eltern zunächst einmal Angst davor haben werden, die Zuständigkeiten und damit die Verantwortung neu zu verteilen. Jede Veränderung löst Angst aus. Kommt es zu Problemen, muss sich der Arzt fragen, inwieweit eine unerkannte Ablösungsproblematik zwischen Eltern und jugendlichem Kind dabei eine Rolle spielt. Die soziale Integration des Jugendlichen in den verschiedenen Gruppen der Gleichaltrigen stellt einen protektiven Faktor ersten Ranges dar, deshalb lohnt es sich, das soziale Netz des Jugendlichen als Unterstützungssystem im Umgang mit der Krankheit in die Betrachtung und die Behandlung mit einzubeziehen. Zum einen gibt die Peergroup Normen für Krankheits- und Gesundheitsverhalten vor, zum anderen ist bei chronisch kranken Jugendlichen darauf zu achten, dass sie weniger oder weniger tragende Freundschaftsbeziehungen haben können als gesunde Jugendliche, was ihnen die Ablösung von den Eltern erschwert. Darüber sollte auch nicht hinwegtäuschen, dass chronisch kranke Jugendliche, die gelernt haben, ihre Krankheit selber zu handhaben, diesen unfreiwillig erworbenen Kompetenzgewinn auf andere Bereiche übertragen können und in Schule und Beruf durchaus sehr erfolgreich sein können (Hagen u. Noeker 1999). In günstigen Fällen unterstützt der Freundeskreis den Jugendlichen in der Ausführung der medizinisch notwendigen Dinge und trägt die Einschränkungen durch die Krankheit solidarisch mit. Wichtig bei der Betreuung von Jugendlichen in all diesen Fällen ist die Fähigkeit des betreuenden Arztes, die Bedeutung der Krankheit vor dem gesamten Hintergrund des biopsychosozialen Umfeldes seines Patienten beurteilen zu können.
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Beispiel Beispiel 1: Jan, ein sportlicher Jugendlicher mit Knieschmerzen Jan ist 14-jährig und ging wegen Knieschmerzen zu seinem Hausarzt, der ihn wegen eines Morbus Osgood-Schlatter vorerst einmal für einige Wochen von Turnen und Sport dispensierte. Jan sagte beim Hausarzt nicht viel. Erst als er wegen einer anderen Frage von einem anderen Arzt untersucht wurde, kam die ganze Tragweite dieser Erkrankung zum Vorschein. Der Morbus Osgood-Schlatter ist eine an sich nicht schwerwiegende Erkrankung. Überlastung und körperliche Disposition führen zu einer aseptischen Entzündung des Ansatzes der großen Sehne unter dem Knie, die den Unterschenkel über die Kniescheibe mit den Muskelpaketen des Oberschenkels verbindet. Wenn eine solche Krankheit wie bei Jan neu in das Leben eines sportlich aktiven Jugendlichen tritt, wird er sie als schwere oder schwerste Störung seiner Integrität wahrnehmen, vor allem wenn sein Arzt ihm dann noch erklärt, er müsse seine Trainingsintensität senken. Jan war ein fanatischer Eishockeyspieler. Für einen Jugendlichen, der in einer guten Eishockeymannschaft trainiert, ist weniger Training gleichbedeutend mit Zurückstufung in eine schlechtere Mannschaft und dies wiederum bedeutet, dass er seine Hoffnungen, irgendwann einmal in der Zukunft in der amerikanischen National Hockey Ligue zu spielen, vergessen muss. Natürlich war es auch ohne Osgood-Schlatter rein statistisch gesehen sehr unwahrscheinlich, dass Jan es in die NHL schaffen würde – zur Zeit trainieren 16.000 Schweizer Jugendliche in Junioren-Eishockeymannschaften. Viele von ihnen sagen, ihr Ziel sei die NHL. Zur Zeit spielen aber nur 2–3 Schweizer in der NHL. Für Jan war dieses Ziel aber
real, genau so wie wir früher Pilot oder Lokomotivführer werden wollten. Der Jugendliche mit dem Osgood-Schlatter wird damit früher als seine gleichaltrigen Kollegen mit der äußeren Realität konfrontiert und muss früher als andere von idealen Vorstellungen Abschied nehmen. Dies stellt eine plötzliche Bruchlandung mit seinem Identitätsentwurf dar anstelle einer phasengerechten allmählichen Anpassung an eine realistischere Einschätzung seiner Möglichkeiten. Dazu kommt, dass sich sein soziales Leben wegen des zeitlich intensiven Trainings bislang vor allem in seinem Club abspielt hatte, so dass jetzt nicht nur sein Ideal, sondern auch ein Teil seines sozialen Umfelds ins Wanken gerät. Vielleicht hat er dazu noch eine Tendenz zum Übergewicht – und jetzt darf er sich weniger bewegen... Eine kleine Störung bringt sein bisheriges Leben zwischen Schule und Sport ins Trudeln. Falls er nicht über gute andere persönliche und familiäre Ressourcen verfügt, wird er möglicherweise mehr als nur eine Behandlung seines Knies benötigen, um nicht depressiv auf die von dem somatischen Problem ausgelöste Entwicklung zu reagieren. Die Frage ist nur, ob der Arzt diese Entwicklung mitbekommt, wenn er sich nicht aktiv darum kümmert.
15.1.4 Psychische Probleme Der Jugendmediziner hat nicht nur mit psychosomatischen Patienten zu tun, bei denen die Spannungen aus dem biopsychosozialen Erfahrungskontinuum körperlich ausgedrückt und als körperliches Leiden präsentiert werden, sondern er hat auch mit psychischen Problemen zu tun von Schlafstörungen, Schulproblemen, Prüfungsängsten, selbstschädigendem Verhalten bis hin zu den typischen Ablösungskrisen in der Adoleszenz mit im Extremfall präpsychotischen Zustandsbildern und Gewalttätigkeit. Ist es der Mediziner bei organischen Krankheiten gewohnt, die Störung erkennen, diagnostizieren und behandeln zu wollen, so hat er bei den psychischen Problemen, die den Jugendliche in die Praxis bringen, einen relativ großen Spielraum – er sieht, was er sehen will, was er mittragen und aushalten kann. Ohne psychodiagnostische und psychotherapeutische Erfahrung erkennt er viele der mit dem präsentierten Symptom zusammenhängenden psychische Problempunkte nicht, und er wird eine entsprechende Unlust verspüren, sich in anstrengende Gespräche mit Familien hineinzubegeben, wenn er keine Erfahrung im Umgang mit einer komplizierten Familiendynamik hat. Hier hängt es sehr von der Vorerfahrung und Qualifikation des einzelnen Arztes ab (psychotherapeutische Selbsterfahrung und Ausbildung, Teilnahme an Balintgruppen etc.), wie weit er selber beratend mit dem Patienten arbeiten kann und wie erfolgreich er eine Überweisung an einen psychotherapeutischen oder psychiatrischen Kollegen vornimmt. Überweisungen bei psychischen Problemen gelingen in den meisten Fällen nur dann, wenn der überweisende Arzt mit dem Patienten und den Eltern sehr genau alle Bedenken dagegen klärt (»Ich bin doch kein Psycho!«, »Was sage ich meinen Freundinnen?«), persönlich mit dem Kollegen Kontakt aufnimmt, idealerweise telefonisch in Gegenwart des Patienten, überprüft, ob der Patient dort ankam, und, falls die Symptomatik dies weiterhin erfordert, bei zukünftigen Kontakten mit dem Patienten nachfragt, ob der Kontakt noch besteht. Dass auch der Arzt und der Psychotherapeut eine Peergroup darstellen und gelegentlich miteinander kommunizieren, fördert die Erfolgschance der Behandlung. Wichtig ist nur, dass dies nie hinter dem Rücken des Jugendlichen geschieht.
127 15.2 · Der Untersuchungsgang
! Psychopharmaka sollten als ultima ratio nach Ausschöpfung aller psychosozialen Veränderungsmöglichkeiten und nicht ohne begleitende psychologische Beratung oder Therapie verschrieben werden.
15.2
Der Untersuchungsgang
15.2.1 Die erste Begegnung mit dem Patienten
im Wartezimmer Ganz wichtig für den Verlauf der ganzen Konsultation ist der kurze Augenblick beim Abholen des Patienten im Wartezimmer. Bereits hier entscheidet sich oft, wie ergiebig die anschließende Konsultation verläuft (7 Kap. 12). Oft sitzt der Jugendliche nicht alleine im Wartezimmer, sondern wird von Vater, Mutter, manchmal auch von Geschwistern oder Freunden begleitet. Wenn er den Patienten noch nie gesehen hat, muss der Arzt in wenigen Sekunden entscheiden, ob und wie er Einfluss darauf nehmen will, wer nachher bei der Untersuchung und beim Gespräch bei ihm im Sprechzimmer sitzt. Jugendliche und junge Erwachsene verhalten sich sehr verschieden, je nachdem ob sie alleine mit einem Erwachsenen sprechen oder ob die Eltern anwesend sind. Auch anwesende Freunde und Kollegen beeinflussen das Gespräch sehr, wenn auch in eine andere Richtung. Dazu kommt, dass bestimmte Untersuchungen, wenn sie in Anwesenheit der Eltern vorgenommen werden, den Jugendlichen peinlicher erscheinen, als wenn sie mit dem Arzt alleine sind. Auf der anderen Seite gibt es immer wieder Eltern, die es als einen Affront empfinden, wenn man »ihr Kind« ohne ihre Anwesenheit untersuchen und sprechen will. Die Klärung dieser bedeutsamen Frage wird durch die anderen Patienten, die im Wartezimmer warten und interessiert zuhören, zusätzlich erschwert.
Umgang mit Jugendlichen mit Begleitung Es gibt prinzipiell drei Möglichkeiten, die je nach Situation zielgerichtet eingesetzt werden können: 1. Man bittet ins Sprechzimmer und nimmt keinen Einfluss darauf, wer mitkommt. 2. Man bittet den Jugendlichen alleine ins Sprechzimmer. Dabei erklärt man beispielsweise kurz, dass sich die Jugendlichen bei der Untersuchung ohne Eltern meist wohler fühlen und dass nachher genügend Zeit zur Verfügung steht, um Befunde, weiteres Vorgehen und Fragen gemeinsam zu besprechen, und fragt, ob dieses Vorgehen in Ordnung sei. 3. Man deutet vorsichtig an, wen man gerne im Sprechzimmer hätte und sieht zu, was geschieht.
Unabhängig davon, welches Vorgehen man wählt, erhält man in diesen wenigen Sekunden einen wichtigen Einblick in die familiäre Dynamik. In diesem Moment findet immer ein intensiver Austausch zwischen dem Patienten und den begleitenden Eltern statt – mit Blicken, Körperausdruck und kurzen Sätzen: »Mir ist es gleich!«, »Entscheide du!« oder, meist zur Mutter gewandt: »Du kannst schon mitkommen, wenn du willst«. Ganz allgemein gilt, dass Jugendliche einen gleichgeschlechtlichen Elternteil eher zur Untersuchung mitnehmen wollen als einen gegenge-
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schlechtlichen Elternteil. Weibliche Jugendliche nehmen ihre Mutter öfter ins Untersuchungszimmer mit als männliche Jugendliche. Sie scheinen sich oft sicherer zu fühlen, wenn die Mutter dabei ist. Es hat sich bewährt, jedem älteren Kind bzw. Jugendlichen – bei Mädchen ab etwa 12 Jahren, bei Knaben ab 13 Jahren – die Chance zu geben, alleine zur Untersuchung zu kommen, indem man ihn nach der Begrüßung fragt, ob sie oder er zur Untersuchung gerne alleine oder mit den Eltern kommen möchte. Damit signalisiert der Arzt, dass für ihn beide Möglichkeiten denkbar und o.k. sind. Es ist allerdings unbedingt notwendig, alle Anwesenden darüber zu informieren, dass nach der Untersuchung ein ausführliches Gespräch mit allen Beteiligten stattfinden wird, also inklusive Eltern.
Tipp Es empfiehlt sich, vor allem am Anfang der Pubertät beide Möglichkeiten in Tonfall und Wortwahl als gleichwertig anzubieten, so dass Eltern und Jugendliche merken, dass beide Möglichkeiten in Ordnung gehen und dass sich der jugendliche Patient wirklich frei entscheiden kann, ob die Untersuchung alleine oder in Begleitung stattfinden soll.
Selbstverständlich ist der Jugendliche in dieser Entscheidung nicht so frei, wie es nach außen den Anschein macht. Seine Entscheidung hängt sehr von der aktuellen Situation des Ablösungsprozesses ab. So gesehen bietet uns diese Entscheidungsfindung viele nützliche Einblicke in die aktuelle Verfassung und Entwicklungssituation der betreffenden Familie. Es hat sich auch bewährt, bei Jugendlichen etwa ab Mitte Pubertät – bei Knaben ab etwa 14 Jahren und bei Mädchen ab etwa 13 Jahren – die Meinung klarer durchscheinen zu lassen, dass es eher normal ist, wenn der Jugendliche in diesem Alter alleine zur Untersuchung kommt, insbesondere dann, wenn er vom gegengeschlechtlichen Elternteil begleitet wird. »Sie können ihre Zeitschrift ruhig weiter lesen, ich möchte ihren Sohn gerne alleine untersuchen. Das geht nicht lange und wir können nachher die Ergebnisse alle gemeinsam diskutieren, wenn es Ihnen so recht ist.« Man kann dann auch auf die Erfahrung verweisen, dass die körperliche Untersuchung eines männlichen Jugendlichen in Gegenwart der Mutter (einer weiblichen Jugendlichen in Gegenwart des Vaters) noch unangenehmer erlebt wird, als sie sowieso schon ist. Genügend selbstbewusste und abgelöste Jugendliche schicken den begleitenden Elternteil auch schon mal aus dem Untersuchungszimmer, wenn die Weichenstellung im Wartezimmer noch nicht optimal gelang. Selten einmal reagieren die Eltern etwas unwirsch, wenn man ihnen vorschlägt, die Untersuchung im Wartezimmer abzuwarten. Meistens sind sie froh, dass die Sache gerade geklärt wurde und manchmal geben auch die Jugendlichen ihrer Zufriedenheit mit diesem Vorschlag direkt Ausdruck – und manchmal begegnet man auch einem ängstlichen Blick in Bezug auf das, was nun folgen wird. Auf jeden Fall sollte in diesem Stadium der Begegnung aber vermieden werden, dass sich jemand brüskiert oder von oben herab belehrt fühlen könnte. Der Arzt sollte in diesem kurzen Moment soweit als möglich zu spüren versuchen, was die Beteiligten – vor allem der Jugendliche, also sein Patient – wünschen und brauchen.
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Kapitel 15 · Der »kranke« Jugendliche
! Vor allem bei Familien aus anderen Kulturkreisen ist deswegen besondere Vorsicht am Platz. Hier ist es bei der ersten Begegnung oft angebracht, einfach ins Sprechzimmer zu bitten und offen zu lassen, wer mitkommt.
15.2.2 Die Untersuchung (7 auch Kap. 12 und Kap. 16)
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Der Untersuchung geht ein kurzes Gespräch über den Auftrag voraus: »Was möchtest du von mir?«, »Was fehlt dir?«, »Tut dir etwas weh?« Ein ganz wichtiger Teil der gesamten Untersuchung ist die Beurteilung des persönlichen Eindrucks (Wie wirkt der Jugendliche auf mich? Wie könnten ihn seine Eltern erleben? Wie könnte er auf Gleichaltrige wirken? Ist er ein Leadertyp? Einer der geplagt wird? Ein Besserwisser?). Die Untersuchung beginnt mit Wiegen und Messen und einer kursorischen Beurteilung der körperlichen Erscheinung (müde, krank, gesund) und der Körperzusammensetzung (Fett, Muskeln, Fettverteilung, Körperproportionen). Es ist wichtig, über Inhalt und Zweck jedes einzelnen Schrittes kurz zu orientieren (in der Art laut zu denken). Vor Ende der Untersuchung wird dann noch gefragt: »Hast du sonst noch irgendwo Schmerzen oder habe ich etwas nicht angesehen, von dem du nicht sicher bist, ob es normal ist?« Eine Untersuchung von Genitale und Brust sollte soweit möglich vermieden werden. Viele Pubertierende haben vor allem zu Beginn der Pubertätsentwicklung vor solchen Untersuchungen mehr Angst als vor Blutentnahmen. Dazu kommt, dass Jugendmediziner die Wichtigkeit der Tanner-Stadien oft überschätzen. Es gibt nur wenige klinische Situationen, in welchen deren genaue Kenntnis notwendig ist. Notwendig ist die Kenntnis der Entwicklungsstadien meist nur im Rahmen von spezifischen endokrinologischen Fragestellungen, wenn es beispielsweise um die Frage geht, ob die Pubertätsentwicklung bereits eingesetzt hat oder nicht. Für eine solche Fragestellung ist es oft unumgänglich, beim Knaben das Hodenvolumen zu messen und beim Mädchen die Brust zu inspizieren und manchmal auch zu palpieren (Unterschied zwischen Stadium B1 [keine palpable Brustdrüse] und B2 [Brustdrüse als kleiner Knoten wie Haselnuss zu palpieren]). Die Kenntnis der Schambehaarung ist bei beiden Geschlechtern vergleichsweise unwichtig. Sie ist bei beiden Geschlechtern eine Folge des Anstiegs der Androgene ‒ und zwar der Androgene aus den Gonaden und/oder aus den Nebennieren. Weil die adrenale Reifung von der gonadalen Reifung weitgehend unabhängig verläuft, ist die Schambehaarung ein schlechter Parameter für die Abschätzung der Pubertätsentwicklung. Vor allem beim Mädchen kann deshalb auf den Blick in den Slip im Rahmen von Routineuntersuchungen verzichtet werden. Anders verhält sich die Situation natürlich, wenn der Grund für die Konsultation in einem zu frühen Eintreten der Schambehaarung besteht. Es ist auch daran zu denken, dass die Mütter bei Mädchen in der Regel sehr differenzierte Angaben über den Stand der Pubertätsentwicklung machen können. Im Weiteren kann man sich das Stadium der Brustentwicklung (falls deren genaue Kenntnis notwendig ist) en passant bei der Auskultation des Herzens ansehen. Eine Berührung ohne klare Notwendigkeit und entsprechende Begründung sollte unterbleiben. Auch wenn das Hodenvolumen bestimmt wird, um den Stand der Pubertätsentwicklung festzuhalten, soll der Zweck der Untersuchung und deren Notwendigkeit vorgängig erklärt werden.
Während oder auch nach der Untersuchung ergeben sich oft Fragen um die Normalität der Entwicklung: »Ist mein Penis nicht zu klein?« oder »zu krumm?« oder »Wächst er noch?« oder »Die Vorhaut ist hier angewachsen (Frenulum), ich glaube nicht, dass das normal ist«. Bei Mädchen drehen sich solche Fragen meist um die Brüste: »Wachsen meine Brüste noch?« (7 Kap. 1). Wird gefragt, ob die Brüste so bleiben wie sie sind, so weist dies auf Unzufriedenheit mit der Größe oder Form hin; das sollte durch eine Rückfrage konkretisiert werden. Viele junge Männer haben ziemlich merkwürdige Vorstellungen von einem normalen männlichen Genitale, so dass man ihnen, falls man Genitale und Hoden untersucht, auch ohne entsprechende Fragen die Normalität der Befunde erklären sollte. Jugendliche haben wenig Vergleichsmöglichkeiten und beziehen ihre Bildung betreffend der Anatomie und Funktion der Geschlechtsteile oft aus Pornobildern und -filmen, die heute ubiquitär verfügbar sind, unabhängig von der sozialen Situation und auch unabhängig davon, ob dies den Eltern passt oder nicht. Die unverlangte diagnostische Rückmeldung über die Normalität des Genitales dient also der Aufklärung und der Korrektur solcher oft belastender verzerrter Vorstellungen darüber, was normal oder wünschenswert ist und was nicht. Ähnliches gilt auch für andere Organe. So kursieren falsche Vorstellungen über eine normale Muskelentwicklung und darüber, wie sehr man diese durch Training und Medikamente beeinflussen kann. Ähnliches gilt für die Körperbehaarung bei weiblichen und männlichen Jugendlichen. Man ist oft genug erstaunt zu sehen, welche Fragen sich in der Untersuchungssituation ergeben – etwa die gleichen, die auch als Leserfragen in der Zeitschrift ›Bravo‹ gestellt werden, und doch muss man davon ausgehen, dass die Jugendlichen die bizarrsten und belastendsten Vorstellungen, die sie sich machen, selten von sich aus zur Sprache bringen können. Beispiel Beispiel 2: Carla leidet unter ihrer Körperbehaarung Die 13-jährige Carla kommt mit ihrer Mutter in die Sprechstunde. Die Mutter klagt, dass Carla an Beinen und Bauch immer mehr Haare bekomme. Carla findet ihre Behaarung übertrieben und krankhaft. Sie würde deswegen manchmal in der Schule ausgelacht, besonders seit sie nun seit einiger Zeit einige dunkle Haare über der Oberlippe aufweise: »Du hast ja einen Schnurrbart.«
Die Frage des Hirsutismus ist ein schönes Beispiel, um die Vielschichtigkeit eines Symptoms bei Jugendlichen zu illustrieren. Der Hirsutismus, d. h. die vermehrte Körperbehaarung bei der Frau, beginnt meistens im Verlauf der Pubertätsentwicklung. Unabhängig davon, ob diese vermehrte Körperbehaarung Ausdruck einer Normvariante oder eines pathologischen Geschehens ist, wird sie von der betreffenden jungen Frau als neu eingetreten und damit als zumindest erklärungsbedürftig, wenn nicht als abklärungsbedürftig empfunden (»Das ist nicht normal. Bin ich krank?«). Die Körperbehaarung stört, weil sie nicht der Norm entspricht – und zwar weder der Norm, die sich aus dem Vergleich mit den Gleichaltrigen ergibt (»Die Anderen haben nicht so viele Haare«), noch der Norm des Schönheitsideals, wie es in der Werbung für alle möglichen Konsumartikel zum Ausdruck kommt. Ärzte, die sich mit Jugendlichen beschäftigen, sollten diese Überlegungen zur Verfügung haben und in einem erklärenden Gespräch mit der Patientin zur Sprache bringen. Weil der Hirsutismus auch Ausdruck einer körperlichen Störung sein kann
129 15.2 · Der Untersuchungsgang
(z. B. adrenogenitales Syndrom, Nebennierenrinden-Adenom, polizystische Ovarien), muss eine solche abhängig vom Schweregrad der Symptomatik auch kompetent ausgeschlossen werden können. Auch wenn ein Hirsutismus Ausdruck einer Normvariante ist, kann er so störend sein, dass eine medikamentöse Behandlung (neben kosmetischen Maßnahmen) zumindest in Erwägung gezogen werden kann. 15.2.3 Das Gespräch mit dem Jugendlichen Im Allgemeinen kommt man als Arzt mit Jugendlichen am besten in Kontakt, wenn man ihnen in der Haltung eines etwas älteren Mentors gegenübertreten kann. Man biedert sich dann nicht als Möchte-Gern-Jugendlicher an, womit man sich lächerlich und unglaubwürdig macht, und ist aber auch nicht ein Erwachsener vom Typus der Eltern, sondern etwas dazwischen. Dies gelingt aber nur, wenn die Haltung, die der Arzt einnimmt, echt ist, denn auf was der Jugendliche am allermeisten schaut, ist, ob der Andere authentisch und transparent ist. Unter dieser Voraussetzung kann man dann bei der Untersuchung auch ganz locker plaudern. Das geht am besten, wenn man auch etwas von sich selbst preisgibt, wie: »Heute bin ich müde«‚ »Ist das heiß heute«, »Ich mag fast nicht arbeiten«. Das Ziel der Arzt-Patienten-Beziehung kann nicht sein, sich zum Freund des Jugendlichen zu machen. Der Jugendliche braucht ein abgegrenztes Gegenüber mit einer eigenen Identität, damit wird der Andere als Anderer interessant. Eine einseitige Identifikation mit dem Jugendlichen oder mit der Elternrolle gegen den anderen Teil rächt sich immer. Erliegt man der Versuchung, zu glauben, den Jugendlichen vor seinen Eltern schützen zu müssen, dann wird sich der Jugendliche über kurz oder lang mit den Eltern solidarisieren und der Arzt findet sich mit seinem unprofessionellen Engagement auf einmal alleine im Regen stehend wieder. Bereits während der Untersuchung kann man im lockeren Gespräch zu vielen wichtigen Informationen und Eindrücken kommen. Wichtig und unverfänglich ist die Frage nach Schule und Hobbys. Das Gespräch über Schule und Hobbys (d. h. eigentlich über Beruf und Freizeit) wird von den Jugendlichen als Interesse an ihrer Person und nicht als bedrohliches Eindringen in ihre Intimsphäre wahrgenommen; es ergibt nützliche Informationen und kann als »Screening« dafür dienen, ob eventuell ein gründlicheres Gespräch zu einem anderen Zeitpunkt angezeigt wäre, falls im Hier und Jetzt die Zeit fehlt. Die Antworten betreffend Schule und Hobbys ermöglichen wichtige Einblicke in Leistungsprobleme, die Integration in die Peergroup etc. Über die Schule plaudernd erfährt man viel über die alltägliche Realität und den täglichen Stress des Jugendlichen. Wenn man dieses Thema auf den Schulweg erweitert, erfährt man einiges über das Zusammenleben mit Gleichaltrigen. Ebenso auch wenn man sich für seine Hobbys interessiert: »Was machst du neben der Schule am liebsten/am häufigsten?« ! Ein Fußballspieler hat eine größere Wahrscheinlichkeit, gut integriert zu sein, als ein anderer, der vor allem fernsieht und am Computer sitzt.
Ein lockeres Gespräch über die Ziele (Berufsziele etc.) bietet Aufschlüsse hinsichtlich der Reife im Umgang mit der äußeren Realität. Wie konkret sind die beruflichen Vorstellungen schon?
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Handelt es sich nur um vage Ideen oder hat der Betreffende bereits eine Lehrstelle oder die Aufnahmeprüfung für die höhere Schule bestanden? Wie weit ist die Lehrstellensuche gediehen? Wie beurteilt der Jugendliche seine konkreten Aussichten selbst und welche Meinung haben dazu andere? Wie realitätsgerecht sind seine Wünsche und Ziele? Wenn Antworten zu wenig konkret sind, dann soll man insistieren, sonst ist man nicht wirklich interessiert und kein glaubwürdiger Gesprächspartner. »Was meinst du damit?« Man darf den Jugendlichen schon auf den Zahn fühlen. Nach Problemen kann man fragen, man muss nur keine Antworten erwarten, denn aus der Sicht des Jugendlichen gibt es in der Regel keine. Probleme sehen nur die Eltern – und diese erfährt der Arzt nachher im gemeinsamen Gespräch von ihnen selber. Cave Ein Anfängerfehler ist es geradezu, nach Problemen mit den Eltern zu fragen, falls solche nicht spontan angesprochen werden, denn so ein Arzt wird vom Jugendlichen von nun an als Eindringling und Spion wahrgenommen.
Beim »lockeren« Gespräch während der Untersuchung muss man aber aufpassen. Jugendliche nehmen sich oft anders wahr, als wir sie. Wenn uns jemand adipös erscheint, sollte man sich zunächst erst einmal vorsichtig danach erkundigen, was der oder die Betroffene über ihre Körperform denkt. Bei Untergewichtigen hilft die Frage: »Hast du irgendwelche Probleme mit dem Essen?« Wenn Übergewicht besteht und auch wahrgenommen wird, kann die beiläufige, lockere Feststellung, dass Übergewichtige fast immer geplagt oder ausgelacht werden, zu wertvollen Informationen führen, wie unser Patient mit seinem Übergewicht lebt und ob er Hilfe braucht oder Hilfe möchte. Die Untersuchung und das Gespräch mit dem Jugendlichen endet mit der Frage, ob es noch etwas gibt, was er dem Arzt erzählen möchte, bevor er dann seine Mutter oder seinen Vater auch ins Zimmer holt. Schaut der Jugendliche dann verständnislos drein, als ob er sich frage, was man jetzt wieder von ihm erwartet, so ist es sinnvoll zu erklären, dass es bei dieser Frage nur darum geht, sicher zu sein, dass alles Wichtige gesagt ist. Manchmal würde den Patienten dann noch etwas in den Sinn kommen, das sie vorher zu sagen oder zu fragen vergessen hätten. Vor kurzem sei beispielsweise einem Mädchen in den Sinn kommen, dass sie die wichtigste Frage ganz vergessen habe, ob sie die Pille haben könnte. Beispiel Als Reaktion auf diese Frage sprach eine 14-Jährige an, dass ihre Periode so unregelmäßig sei. Die Rückfrage ergab dann, dass sie nicht mehr genau wusste, wann sie die letzte Periode gehabt hatte. Der anschließend durchgeführte Ultraschall brachte schnell Klarheit: Sie war im 4. Monat schwanger. Gekommen war diese Patientin aber wegen Schulschwierigkeiten und allgemeiner Müdigkeit.
15.2.4 Das Gespräch mit dem Jugendlichen
und seinen Eltern Im Anschluss an die Untersuchung und das Gespräch mit dem Jugendlichen werden die Eltern ins Sprechzimmer gebeten. Es ist
130
15
Kapitel 15 · Der »kranke« Jugendliche
immer wieder beeindruckend mitzuerleben, wie schon ältere Kinder und jüngere Jugendlichen im Gespräch unter vier Augen auf einer Erwachsenenebene kommunizieren und sofort in die Kinderrolle zurückfallen, wenn die Eltern ins Zimmer kommen, und dann nur noch als Söhne, resp. Töchter funktionieren – mal folgsam, mal voller Widerspruch, der Mutter oder dem Vater jeden zweiten Satz korrigierend. Manchmal ist es auch amüsant mitzuerleben, worüber Kinder und Eltern unterschiedlicher Meinung sein können: sogar über das genaue Geburtsgewicht haben sich Eltern und Kinder beim Arzt schon gestritten. Hier kann man die unverfänglichen Themen von vorher wieder aufnehmen: »Ich habe vorhin kurz mit Ihrer Tochter über die Lehrstellensuche gesprochen, wie beurteilen Sie aus Ihrer Sicht die Situation?« »Wir haben kurz über die Schule gesprochen, sind die Lehrer mit Ihrem Sohn zufrieden?« »Das Engagement Ihres Sohnes für den Fußball hat mich beeindruckt.« Der Arzt fasst den Auftrag und die Befunde zusammen und stellt dazu seine Überlegungen an. Dabei beobachtet er die Reaktionen der Anwesenden sehr genau. Man merkt dann schnell, ob die Eltern Dinge anders sehen, ob beispielsweise ihr Auftrag anders lautet als der ihres Sohnes oder ihrer Tochter. Zwischen den Problembeschreibungen des Jugendlichen selber und denen der Eltern ergeben sich in der Regel Widersprüche bis hin zu offener Uneinigkeit über den Zweck des Besuchs beim Arzt, den Auftrag, den alle Beteiligten vielleicht gleich formuliert haben, aber nun ganz unterschiedlich verstehen und interpretieren. Deshalb geht es darum, diese Differenzen zwischen den Schilderungen des Jugendlichen, die dieser oft nur im Einzelgespräch mit dem Arzt formulieren kann, und denjenigen der Eltern zum Thema zu machen und als dritte Seite auch noch die Sicht des Arztes selber zur Verfügung zu stellen. Dabei gilt es, im Umgang mit den Informationen und Anliegen des Jugendlichen selber große Sorgfalt und ein gutes Fingerspitzengefühl walten zu lassen. Wenn man die Mitteilungen der Jugendlichen zusammenfasst, muss man acht geben, dass man die Geheimhaltungspflicht, die auch gegenüber den Eltern besteht, nicht verletzt. Der Arzt ist an das Vertrauen gebunden, das ihm der Jugendliche entgegen gebracht hat. Auch zwischen dem Jugendlichen und seinen Eltern steht die ärztliche Geheimhaltungspflicht als eine Grenze, die der Arzt zu respektieren hat. Indem er ausdrücklich auf diese Grenze verweist, macht er die Familie darauf aufmerksam, dass es Grenzen gibt und dass auch der Jugendliche ein Recht auf seinen Privatraum, wozu seine eigene Gedankenwelt gehört, hat und dass die Eltern darauf verzichten müssen, über den Arzt in die Geheimnisse des Jugendlichen eingeweiht zu werden, wenn ihr Kind dies nicht will. Mehr darüber erfahren wollen, wie es dem Kind geht, ist oft ein zentrales Anliegen, das die Eltern an den Arzt haben. Ein Satz wie: »Ihr Sohn hat aber vorher, als er mit mir alleine sprach, die Situation so und so geschildert« bedroht diese Abgrenzungen und die Vertrauensbasis zwischen Patient und Arzt und sollte deshalb nicht ohne Rücksprache mit dem Jugendlichen gesagt werden. ! Die Jugendlichen müssen sich auf die Vertraulichkeit ihrer Mitteilungen verlassen können. Im Zweifelsfall muss man sich vorher vom jugendlichen Patienten bestätigen lassen, ob man dies oder jenes auch in Anwesenheit der Eltern ansprechen soll oder darf.
Es ist aber auch wichtig, dass Widersprüche zu Tage treten können. Manche Jugendliche haben Schwierigkeiten, die Realität
wahrzunehmen; dann gibt es inhaltliche Differenzen zwischen ihren Einschätzungen und denen der Eltern, die solche Dinge oft anders wahrnehmen, mitunter auch realitätsgerechter – aber auch nicht immer. Solche Differenzen gibt es beispielsweise dann, wenn ein Jugendlicher seine schulischen oder sozialen Schwierigkeiten verleugnet: »Ich habe in der Schule keine Probleme«, »Ich habe fast (!) eine Lehrstelle«. Andererseits übertreiben überbesorgte oder übermotivierte Eltern oft die Schwierigkeiten ihrer Kinder und fürchten immer die schlimmsten Entwicklungen, etwa wenn es um den gelegentlichen Konsum von weichen Drogen geht. Das gemeinsame Gespräch mit dem Jugendlichen und seinen Eltern bringt neben vielen verbalen Aussagen auch viele averbale Informationen über die Familiendynamik. Der Arzt bemüht sich, gut zuzuhören und so viel wie möglich und so klar wie möglich zu erklären. Dabei lässt er Pausen entstehen, damit Rückfragen auftauchen können. Er versucht zu verstehen, was in den gegenübersitzenden Personen vorgehen könnte. Stimmen sie dem verbal, aber auch averbal zu, was er ihnen sagt? Ärgern sie sich? Treten unterschiedliche Reaktionen beim Jugendlichen und bei den begleitenden Eltern auf? Er sollte sich nicht scheuen, sichtbare emotionale Reaktionen der Beteiligten anzusprechen: »Ich sehe, Sie bekommen feuchte Augen.«, »Kann es sein, dass Sie sich gerade geärgert haben, als Ihr Sohn keine Antwort gab?« Der Arzt kann gegen Ende des Gespräches noch einmal auf den Anfang zurückgreifen um dem Patienten und seinen Eltern zu zeigen, was die getrennte Untersuchungs- und Gesprächssituation gebracht haben: »Als du mit alleine warst, konnte ich mit dir wie mit einem Erwachsenen sprechen. Ich fand, du hast Deine Situation sehr klar darstellen können. Interessant war für mich zu sehen, wie du dann wieder zum kleinen Kind wurdest, als deine Mutter ins Zimmer kam. Vor jeder Antwort hast du sie angeschaut, um zu sehen, ob sie mit dem einverstanden ist, was du sagst.« Diese Zusammenfassung des Arztes weist die Familie darauf hin, dass es in der heutigen Konsultation sinnvoll war, sich zu trennen, und dass es sich auch sonst lohnen kann, eigene Räume einzunehmen und manchmal auch widersprüchliche Meinungen zu vertreten. Im Weiteren zeigt sie für jedermann nachvollziehbar auf, dass dieselbe Sache von verschiedenen Blickwickeln aus betrachtet oft unterschiedlich aussieht, weshalb es auch in einer Familie ein Recht auf unterschiedliche Standpunkte gibt. Und die Mitteilung, der Jugendliche könne sich gut auf einer Erwachsenenebene darstellen, erfreut sowohl ihn als auch seine Eltern.
15.3
Abschließende Bemerkungen
Der eine oder andere Leser mag sich hier, am Ende des Kapitels, erschlagen fühlen von dem, was ein mit Jugendlichen tätiger Arzt alles wissen, wahrnehmen und machen können sollte. Einverstanden – es braucht neben einer gut fundierten Ausbildung in den mehr biologischen Aspekten der Medizin mit Kenntnissen von Wachstum und Pubertätsentwicklung auch Wissen und Erfahrung in entwicklungspsychologischen Aspekten. Es braucht im Weiteren auch Möglichkeiten zur Selbstreflektion, sei es eine psychotherapeutische Selbsterfahrung, die Unterstützung einer Balintgruppe oder der regelmäßige Besuch einer externen Supervision – und es braucht natürlich auch etwas Talent und Erfahrung. Aber es braucht gar nicht so viel Zeit, wie man vielleicht denken könnte; die geschilderten Abläufe lassen sich mit Erfah-
131 Literatur
rung in 20‒40 Minuten unterbringen. Wenn die Zeit dann nicht reicht und eine dem Jugendlichen vermittelbare Notwendigkeit dafür besteht, so kann auch ein zusätzlicher Termin vereinbart werden.
Literatur Berger M (1997) Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit Kinderärzten. Kinderanalyse 2/97, S. 103–123 Eiholzer U (1991) Über die Notwendigkeit einer speziellen Jugendmedizin. Schweizerische Ärztezeitung Nr. 72, S. 95–100 Hagen C von, Noeker M (1999) Entwicklungsergebnis bei chronischer somatischer Erkrankung im Kindes- und Jugendalter: Psychische Störung versus Kompetenzgewinn. In: Oerter R, von Hagen C, Röper G, Noam G (Hrsg.) Klinische Entwicklungspsychologie. Psychologie Verlags Union, Weinheim King V (2002) Die Entstehung des Neuen in der Adoleszenz. Leske & Budrich, Opladen Mattejat F, Remschmidt H (1997) Die Bedeutung der Familienbeziehungen für die Bewältigung von psychischen Störungen – Ergebnisse aus empirischen Untersuchungen zur Therapieprognose bei psychisch gestörten Kindern und Jugendlichen. Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 46: 371–392 Seiffge-Krenke I (1998) Adolescent’s Health. A Developmental Perspective. Lawrence Erlbaum Ass., Mahwah Seiffge-Krenke I, Boeger A et al. (1996) Chronisch kranke Jugendliche und ihre Familien: Belastung, Bewältigung und psychosoziale Folgen. Kohlhammer, Stuttgart Winnicott, DW (1969) Kind, Familie und Umwelt. Reinhardt, München
15
16 Jugendgesundheitsuntersuchung J1 N. Weissenrieder, B. Stier
)) Eine Arbeitsgruppe des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte erarbeitete zwischen 1992 und 1993 das Konzept einer Vorsorgeuntersuchung U10, die dann zunächst nur für Privatpatienten im Alter von 13–14 Jahren im Jahr 1994 eingeführt wurde. Versicherte der gesetzlichen Krankenkassen mussten bis zum 01.10.1998 warten, bis ihnen eine Jugendgesundheitsberatung/-untersuchung angeboten wurde. Vor 1996 gab es eine zweijährige Pilotphase im Rahmen einer Sondervereinbarung zwischen der Kassenärztlichen Vereinigung Hessen und den Betriebskrankenkassen, der sich nach und nach auch einzelne Krankenkassen in anderen KV-Bereichen anschlossen. Die jetzige J1 stellt einen Minimalkompromiss dar und verlangt keine besondere Qualifikation des Arztes. Sie wird zu etwa 70% von Kinderund Jugendärzten, 25% von Allgemeinärzten/prakt. Ärzten und 5% von hausärztlichen Internisten durchgeführt, aber bislang von höchstens 32% aller Jugendlichen im Alter von 12–15 Jahren in Anspruch genommen (Astor-Datenbank der KBV/2000 Altersgruppe: 13–14 Jahre).
16
Gesundheitliche Aufklärung ist zentraler Bestandteil staatlicher Gesundheitspolitik. Sie wird in Deutschland als eine übergreifende Daueraufgabe von Bund, Ländern und Kommunen durchgeführt. Sie orientiert sich an dem Begriff von Gesundheit, wie ihn die WHO definiert und an den Festlegungen der EU im Vertrag von Maastricht. Die Entschließung der 64. Gesundheitsministerkonferenz von 1991 beschreibt die Konzepte der Gesundheitsvorsorge, Früherkennung und Gesundheitsförderung auf nationaler Ebene. Für den Bund nimmt die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) diese Aufgabenstellung als Leiteinrichtung wahr. Der Familie, insbesondere den Eltern bzw. der erziehungsberechtigten Person, kommt in der Förderung der Gesundheit von Kindern und Jugendlichen eine zentrale Rolle zu. Gesundheitserziehung ist auch eine wichtige Aufgabe der Schule und wird nach dem Beschluss der KMK als »Auftrag zur Förderung einer gesundheitsdienlichen Lebensweise und Lebenswelt im Hinblick auf die physische, psychische und soziale Gesundheit« verstanden. Dem Gesundheitswesen kommt – nicht nur im Hinblick auf die Früherkennung – ebenfalls eine besondere Bedeutung zu. Seine Angebote richten sich sowohl an die Familie als auch an die Schule und haben als Beratungsleistungen einen großen Einfluss auf die Gestaltung der Gesundheitsförderung bei Kindern und Jugendlichen. Nicht zuletzt wirken die Medien an der gesundheitlichen Aufklärung von Kindern und Jugendlichen mit und beeinflussen sie in unterschiedlicher Weise, indem sie beispielsweise Vorbilder schaffen und Lebensstile für die Zielgruppen entwerfen (7 Tab. 16.1).
16.1.1 Akzeptanz der J1 bei Jugendlichen Der Wunsch. Die J1 als wesentliche Säule in der präventiven me-
dizinischen Versorgung aller Jugendlichen zu etablieren. Das Ziel. Die physische und mentale Gesundheit aller Jugendli-
chen zu fördern und protektive Ressourcen zu mobilisieren. Die Wirklichkeit. Die J1–Jugendgesundheitsuntersuchung
wird von weniger als einem Drittel der Jugendlichen bundesweit in Anspruch genommen. Seit der Einführung der J1 im Jahr 1998 hat sich diese Zahl nicht nennenswert steigern lassen. Verlässliche Zahlen zur Krankheitsprävalenz von Jugendlichen in der gesamten BRD existieren nicht oder sind veraltet (. Abb. 16.1). 16.1.2 Durchführung der J1
Bestandteile der J1 Die Jugendgesundheitsuntersuchung umfasst: 5 Familien- und Eigenanamnese einschließlich Störungen des Fettstoffwechsels 5 Impfanamnese und die Frage nach einer Jodprophylaxe 5 Fragen zu Medikamenteneinnahme (ohne ärztliche Verordnung), Alkohol-, Nikotin- und Drogenkonsum 5 Fragen zur schulischen Entwicklung 5 Fragen zu seelischer Entwicklung und Verhaltensauffälligkeiten 5 Fragen zu Essgewohnheiten 5 Fragen zur Pubertätsentwicklung und zu Sexualkontakten 5 Untersuchungen 5 der somatischen Entwicklung (Somatogramm mit BMI, Blutdruck, Pubertätsstadien nach Tanner) 5 des Skelettsystems und der Muskulatur 5 der Haut, Schleimhäute und inneren Organe, soweit sie von außen palpier- und auskultierbar sind (z. B. Struma) 5 Fakultativ: Blut- und Urinuntersuchungen, Ultraschalldiagnostik, EKG, apparative Hör- und Sehteste, die obwohl sie nicht zum Untersuchungsumfang gehören, in vielen Fällen ergänzend erforderlich sind 5 Beratung 5 zu allen relevanten oben aufgeführten Bereichen aus der Anamnese und Untersuchung, wenn ein auffälliger Befund erhoben wurde 5 zu notwendigen Impfungen 5 Vermittlung von gesundheitsbezogenem Wissen 5 Motivation zu gesundheitsförderlichem Verhalten 5 Einüben von gesundheitsgerechtem Handeln
133 16.1 · Akzeptanz der J1 bei Jugendlichen
800 000
16
Patient/Patientin wird an der Anmeldung – mit Namen! – begrüßt
700 000 600 000 500 000
Bitte nur kurze Wartezeit im Wartezimmer
400 000 300 000 200 000
… wird in ein größeres, jugendgerechtes Untersuchungszimmer gebeten
100 000 0 J1
Gesamtzahl
. Abb. 16.1. Abgerechnete J1 im Verhältnis zur Gesamtzahl der Anspruchsberechtigten zwischen 13 und 14 Jahren (Astor 2000)
Das Gespräch mit den Jugendlichen, verbunden mit dem Angebot des Arztes, Vertrauenspartner der Jugendlichen auch ohne Einbeziehung der Eltern zu sein, ist ein Baustein zur Verstärkung des notwendigen Entwicklungsprozess zur 4 Förderung der körperlichen Entwicklung 4 Förderung von Selbstwert/Selbstvertrauen 4 Förderung von Sprach-, Kontakt- und Kommunikationsfähigkeit 4 Förderung von Konfliktfähigkeit 4 Förderung der Erlebnisfähigkeit 4 Unterstützung bei der »Sinnsuche/-erfüllung« Im Gespräch kann themenspezifisches Wissen z. B. Kontrazeption vermittelt, die Bedeutung von gesundheitsgerechtem Verhalten und Verhältnissen z. B. Prävention übertragbarer Erkrankungen angesprochen, gesunde Verhaltensweisen z. B. in der Ernährung thematisiert, die Förderung des Verständnisses für den Zusammenhang zwischen der Bewältigung von Entwicklungsaufgaben und Gesundheit versucht und die Einschätzungs- und Urteilskompetenz zur Wahrnehmung von gesundheitsfördernden Angeboten gefördert werden.
Begrüßung durch Ärztin/Arzt • Erklärung des J1-Ablaufs • Ansprechen der Schweigepflicht! • Klärung von Fragen vorweg • Vorbereitung auf die nachfolgende Längen- und Gewichtskontrolle, den Sehtest und den Hörtest • Aushändigen des Satzergänzungstestes
Längen- und Gewichtskontrolle, Sehtest und Hörtest durch Arzthelferin Aushändigen der J1-Ordner
Gespräch und Untersuchung durch die Ärztin bzw. den Arzt (Beisein der Mutter/des Vaters klären!)
Abschließendes Gespräch mit Zusammenfassung der Befunde • Klärung von Fragen/Was darf den Eltern mitgeteilt werden? • Wie geht es weiter (z. B. neuer Termin zur Blutabnahme, Schilddrüsensonographie etc.) • Impfungen nicht vergessen!
16.1.3 Beispiel für eine J1 Die Patientin/der Patient holt die Mutter/den Vater zur gemeinsamen Besprechung (wie vorher mit dem Jugendlichen besprochen)
Das folgende Beispiel soll nur eine der Möglichkeiten darstellen, wie bei einer J1 vorgegangen werden kann, und wird keineswegs für jede Praxis gültig sein. Die Art der Durchführung hängt dabei ab von der individuellen Ausbildung des Arztes, seinen in der praktischen Arbeit mit Jugendlichen in der Praxis gewählten Schwerpunkten, von dem Zeitintervall, das er sich und den Jugendlichen für eine Vorsorge in Korrelation zum ökonomischen Aufwand zur Verfügung stellt und von den strukturellen Besonderheiten der Praxis (. Abb. 16.2).
. Abb. 16.2. Ablaufplan
Empfang Jugendliche im Alter zwischen 12 und 14 Jahren kommen häufig noch in Begleitung eines Elternteils – meistens der Mutter – zur J1. Beide sollten mit Namen am Empfang begrüßt werden, wobei die primäre Ansprache an den Jugendlichen gerichtet ist. Wartezeiten sind möglichst kurz zu halten. Viele Ärzte geben bereits bei der Anmeldung zur J1 Informationsmaterial und Fragebögen (7 Musterbögen Anhang) den Jugendlichen und den
Bezugspersonen mit, die vor dem Termin ausgefüllt und zurückgegeben werden. Insbesondere der vor der Untersuchung ausgefüllte Satzergänzungstest (7 Anhang) ist aufschlussreich und kann zur Anamneseerhebung hinzugezogen werden. Eine weitere Möglichkeit der Anamnese- und Informationserhebung besteht in der Durchführung des YSR-Fragebogens für Jugendliche und des CBCL für Bezugspersonen, in dem die unterschiedliche
Verabschiedung/Ausblick P.S. Bitte bedenken, dass Jugendliche durch manche verwendete Begriffe sehr irritiert sein können. So hat z.B. das Wort »nüchtern« eine ganz andere Bedeutung und bedarf der Erklärung.
134
Kapitel 16 · Jugendgesundheitsuntersuchung J1
Einschätzung sozialer und psychosozialer Parameter erfragt wird (7 Anhang). Vorbereitung Eine freundliche und Jugendlichen zugewandte Arzthelferin führt den Seh- und Hörtest sowie die Längen-, Gewichtsbestimmung, BMI, Blutdruck- und Pulsmessung durch. Wenn noch keine Informations- und Fragebögen ausgefüllt wurden, kann bis zur Untersuchung das Ausfüllen nachgeholt werden (. Abb. 16.3). Die Untersuchung Arzt-Patient-Gespräch
Vor Untersuchungsbeginn ist eine nochmalige Erläuterung des Untersuchungsgangs mit deutlicher Hervorhebung der Schweigepflicht sinnvoll (viele Jugendliche erwarten dies, sind sich aber diesbezüglich sehr unsicher). Dabei kann geklärt werden, ob Fragen oder Vorbehalte bzgl. der Untersuchung bestehen und die Begleitperson bei der Untersuchung anwesend sein soll (Bezugspersonen sollten aber besser im Wartezimmer bis zum Ende der Untersuchung warten). Dabei ist es nicht sinnvoll, die Frage an den Jugendlichen zu stellen: »Soll die Mama rausgehen?«, da z. B. die Entscheidung die Untersuchung alleine durchzuführen durch befürchtete negative Sanktionen (»... hat mir was zu verheimlichen«) belastet wird. ! Der primäre Ansprechpartner bleibt auch mit Bezugspersonen der Jugendliche.
Aufzeichnungen während des Gesprächs können irritierend sein, insbesondere, wenn über Problembereiche wie Schule, Freunde, Sexualität, Partnerschaft oder legale und illegale Drogen gesprochen wird. Keinesfalls sollten die Fragen entlang des Erhebungsbogens abgehakt werden! Als Frageformen eignen sich offene Fragen (z. B. »Wie geht es dir in der Schule?« – besser: »Viele Jugendliche beklagen sich oder haben Probleme in der Schule. Wie geht es dir damit?«). Fragen nach Bereichen die – in der Regel – Spaß machen, erleichtern die Kommunikation und schaffen eine positive Atmosphäre. Am Ende des Gesprächs/der Untersuchung stehen Fragen, deren Inhalte nicht mit den Eltern besprochen werden sollen. Hingegen sollten relevante Ergebnisse oder weitere notwendige Untersuchungen im gemeinsamen Konsens mit den Eltern besprochen werden. Für Jugendliche und Bezugspersonen ist es am Schluss wichtig, »die Normalität« des Untersuchungsergebnisses zusammenzufassen und ein positives Resümee darzustellen.
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Anamnese
In der Anamnese werden Daten erhoben, die im Einzelfall im Hinblick auf die zu bewältigenden Entwicklungsaufgaben von Relevanz sind. Dies betrifft bekannte Gesundheitsstörungen wie chronische Erkrankungen, körperliche Behinderungen und seelische Störungen, die die soziale Integration des Jugendlichen beeinträchtigen können. Dieser Teil der Anamnese wird komplettiert, indem der Impfstatus, die Iodprophyaxe sowie Hinweise auf familiäre Hypercholesterinämie erfasst werden.
Tipp Bei der Iodprophylaxe hilft die einfache Frage: »Nimmst du jeden Tag eine Tablette Jod ein?«, die problemlos auf die regelmäßige Medikamenteneinnahme überleitet. Zur Erfassung des Risikofaktors Hypercholesterinämie eignen sich Fragen wie »Ist ein naher Verwandter vor dem 55. Lebensjahr gestorben? Gibt es bei Euch in der Familie viele Herzinfarkte oder plötzliche Todesfälle?«
Diese Daten können auch vorab in einem Elternfragebogen erhoben und im J1-Dokumentationsbogen vor/nach der Untersuchung eingetragen werden. Die weitere Anamnese erfragt Angaben über die Familiensituation, die schulische Entwicklung und Gesundheitsverhalten. Die Angaben lassen sich durch einfache offene Fragen gut erheben und können sich beziehen auf: 4 Art der Schule und Klasse, Fächervorlieben, Zeugnisschnitt, Wünsche für die Ausbildung, Berufswunsch 4 Regelmäßige Ausübung von Sport 4 Integration in Vereine mit sozialen Inhalten 4 Fragen zu Hobbys 4 Offene Fragen zu Freunden, Clique, Schulkameraden, Sportkameraden Fragen zu legalen Drogen können indirekt gestellt werden: z. B. »Die Statistik sagt, dass viele Jungen und Mädchen in deinem Alter schon rauchen, was meinst du dazu?«. Oder: »Gibt es viele, die in deiner Klasse rauchen?« oder »Rauchen deine Eltern? Was meinst du dazu?« Zum Thema Alkohol: »Bei welchen Anlässen, meinst du, ist das Trinken alkoholhaltiger Getränke wichtig?« oder »Hast du schon einmal Menschen im betrunkenen Zustand erlebt? Welchen Eindruck hat das auf dich gemacht?« Wichtig ist bei diesen Fragen, sich einen Eindruck von der persönlichen Einstellung des Jugendlichen zu Nikotin und Alkohol zu verschaffen. Fragen nach illegalen Drogen und Sexualkontakten ergeben sich dem individuell aus dem Gesprächszusammenhang (in Abhängigkeit vom Pubertätsstadium und dem Alter des Jugendlichen) und sollen möglichst immer zur Prävention angesprochen werden. Auch dieser Bereich kann in Fragebögen erfasst werden, insbesondere, wenn die Fragen Jugendlichen und Eltern zur gleichen Thematik in unterschiedlichen, getrennten Fragebögen gestellt werden z. B. die Beurteilung der schulischen Leistung durch die Jugendlichen und aus der Sicht der Eltern. Motorische und visuomotorische Auffälligkeiten sind häufig assoziiert mit Lernstörungen und Verhaltensstörungen, die sich z. B. in einem ADHS (7 Kap. 34.1) im Jugendalter ausdrücken können. Ähnlich dem Bereich seelische Entwicklung und Verhalten geht in der Jugendgesundheitsuntersuchung nicht darum, eine kinder- und jugendpsychiatrische Anamnese oder gar Diagnose zu stellen, sondern Belastungen und mögliche Risikofaktoren zu erfassen und wenn nötig, adäquate Maßnahmen zu veranlassen. Dies betrifft Störungen im Sozialverhalten (7 Kap. 34.2), die sich durch Auffälligkeiten bemerkbar machen können: 4 Weglaufen von zu Hause, Schule schwänzen 4 Aggressives, verweigerndes, aufsässiges Verhalten 4 Stehlen, Lügen, tätliche Auseinadersetzungen
135 16.1 · Akzeptanz der J1 bei Jugendlichen
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Dieser Untersuchungsbogen dient der Standardisierung zu erhebender Daten. Keinesfalls sollte er zum Abfragen während der Untersuchung herangezogen werden. Die Eintragungen sind nach Beendigung der Untersuchung in Abwesenheit des Jugendlichen vorzunehmen! Die zu erhebenden Fakten sollten dem Untersucher während der Untersuchung bekannt sein.
➐
➑ ➊
Grundsätzliches zum J1-Fragebogen Es kann nicht darum gehen, exakte pädiatrische Diagnosen zu stellen. Vielmehr gilt es, Belastungen und mögliche Risikofaktoren zu erkennen und adäquate Maßnahmen zu veranlassen. Da diese Vorsorgeuntersuchung häufig nach einer längeren Beratungs- und Betreuungspause zustande kommt, ist es vor allem wichtig, das neue Beziehungsangebot deutlich zu machen, Vertrauen aufzubauen und Kompetenz für medizinische und psychosoziale Fragestellungen im Jugendalter zu zeigen. Es ist nicht erforderlich, alle Problempunkte in einem Termin »erschöpfend« zu behandeln. Das Betreuungsangebot soll deutlich werden und, wenn erforderlich, auch in Folge genutzt werden (können).
➒
➋ ➓ ➌
➍
➎
➏
➊ Auch auf Elternfragebogen zurückgreifen – Frage nach Dauertherapie. Chronische Erkrankungen, körperliche Behinderung und seelische Störungen bedürfen v. a. in der Pubertät besonderer Aufmerksamkeit. Hier droht Entgleisung. Selbstbewusstsein und Eigenverantwortlichkeit stärken. Unterstützungssysteme?! (Peers!)
wenn sie sich aus dem Gesprächskontext zwanglos ergibt. Wissen über Kontrazeption erfassen und fördern/vermitteln.
➋ Besonderes Augenmerk auf Hepatitis B Impf. / Gespräch über STD’s und Verhütung.
➒ Familienanamnese! Cave: SD-Erkrankungen sehr häufig und vielfach unbemerkt. Im Zweifelsfall mindestens Sonographie! Familienanamnese!
➌ Hier ist der Satzergänzungstest häufig sehr aufschlussreich.
➓ Beim Haltungstest nach Matthias wird der Patient aufgefordert, die
➍ Versuchen Sie die grundsätzliche Einstellung des Jugendlichen herauszubekommen. Wie verhält sich sein näheres Umfeld (Familie, Peers – (siehe Beispiel einer J1) – offene Fragen.
➎ Fragen nach soz. Kontakten, Schule, Sportverein, BMI, Satzergänzungstest! (»Hidden agenda«!) ➏ Nur sinnvoll in Abhängigkeit vom Pubertätsstadium. Fragen nach andersgeschlechtlichen Kontakten z. B. in der Peergroup. Frage nur stellen,
➐ Auf BMI und RR nie verzichten ➑ Basics für jeden Jugendarzt
Arme im Stand vorzuheben und diese Position über 30 sec zu halten. Grad 1: Aufrechthaltung wird aufgegeben, Oberkörper gerät in Rücklage (Hyperlordose). Grad 2: Aufrechterhaltung kann von Anfang an nicht eingenommen werden. SPORT! Vorbeugetest: Rumpf nach vorne beugen, Betrachtung von hinten. Dient der Erkennung evtl. fixierter Torsion der Wirbelsäule. Zusätzlich Testung der Beweglichkeit der Wirbelsäule und Finger-Boden-Abstand
. Abb. 16.3. Untersuchungsbogen zur Jugendgesundheitsuntersuchung J1
136
Kapitel 16 · Jugendgesundheitsuntersuchung J1
sowie wichtige Formen affektiver Störungen im Jugendalter (7 Kap. 34.3 und 34.4): 4 Depressive Syndrome 4 Angstsyndrome 4 Suizidales und/oder selbstverletzendes Verhalten Essstörungen finden sich vorwiegend bei jungen Mädchen und beginnen häufig in dem Altersabschnitt der Jugendgesundheitsberatung (7 Kap. 28). Zum Abschluss dieses ersten Teils der J1 könnte eine der nachfolgenden Fragen stehen: »Wie würdest du dich selbst charakterisieren?«, »Was gefällt dir an dir?«, »Stell dir vor, eine Fee steht plötzlich vor dir und du hättest drei Wünsche frei. Was würdest du dir wünschen?« Vor der nun folgenden körperlichen Untersuchung sollte geklärt werden, ob noch Fragen zum soeben Besprochenen bestehen (»Ich habe dich jetzt sehr viel gefragt. Hast du denn Fragen an mich?«). Körperliche Untersuchung
Zu Beginn der Untersuchung können sich die Jugendlichen anhand von Vorlagen der Tanner-Stadien selbst einstufen. Dies ist häufig sehr aufschlussreich und eröffnet das Gespräch über z. B. »Ich bin zu klein«, »Meine Brüste sind zu klein« etc. Die körperliche Untersuchung sollte von Erklärungen über den Untersuchungsgang begleitet sein. Die Mädchen sollten BH und Unterhose anbehalten und die Jungen die Unterhose. Die körperliche Untersuchung erfolgt nach dem Schema von Kopf bis Fuß. Im Bereich des Kopfes wird neben dem HNO-Bereich die Mundhygiene (z. B. Karies als Hinweis für Bulimie) und die Zahnstellung mitbeurteilt. Im Bereich des Halses gilt besonderes Augenmerk der Ausbildung einer Struma. Im Bereich der Brustorgane wird die Inspektion, Auskultation und Palpation durchgeführt. Bei Jungen mit Gynäkomastie ist eine aufklärende Beratung bzw. weitere Abklärung bei unklarer Ätiologie notwendig. Im Bereich des Skelettsystems konzentrieren sich die Probleme auf den pubertären Wachstumsschub. Die Haltungs- und Bewegungsorgane sind während der pubertären Wachstumsphase für die Entstehung typischer Erkrankungen und Deformitäten besonders disponiert: 4 Haltungsschwäche, Fehlhaltung 4 Morbus Scheuermann 4 Skoliose 4 Epiphyseolysis capitis femoris
16
Die Früherkennung von Haltungsschäden (z. B. Matthias-Test) ist die wichtigste Prophylaxe gegen die Entwicklung von bleibenden strukturellen Schädigungen. Beim Halteleistungstest nach Matthias wird die Haltung in Relation zum Ausgangszustand (Haltungsgesund, Haltungsschwach, Haltungsverfall) in der Aufrichtung und bei Armvorhalten beurteilt (Debrunner 1988). Der Morbus Scheuermann fällt durch eine Kyphosierung der Brust- oder Lendenwirbelsäule auf. Die Hyperkyphose ist bei Extension der Brustwirbelsäule (Vorschiebetest) nicht ausgleichbar. Die Skoliose ist eine fixierte Seitverbiegung der Wirbelsäule mit begleitender Torsion und Asymmetrie des Rückenprofils. Bei Mädchen kann sich hinter einer Brustasymmetrie auch eine Skoliose verbergen. Zum Ausschluss einer Epiphyseolysis werden Abweichungen des Vierer-Zeichens (Ferse linkes Bein auf rechtes Knie und vice versa) und das Drehmann-Zeichen überprüft. Ergänzt wird die Untersuchung durch eine Prüfung der Feinmotorik (z. B. Schriftbild), der Grobmotorik (Zehen-, Hackengang),
der Koordination (z. B. Kniebeugen) und der Kraft- sowie Ausdauerprüfung (z. B. Liegestützen). Tanner-Stadien Mädchen (7 Anhang)
Eine manuelle Untersuchung der Brust erübrigt sich, es sei denn, es werden vom Mädchen Auffälligkeiten geäußert. Der Aspekt und die subjektive Beurteilung ist entscheidend: »Viele Mädchen finden ihre Figur und ihr Aussehen schlecht. Wie ist das bei dir? Fragen zum Weißfluss bzw. zur Menstruation klären, ob Anomalien im Bereich des Introitus bzw. der Vulva bestehen. Die weibliche Jugendliche wird gebeten, die Unterhose kurz anzuheben, um das Pubesstadium festzustellen. Eine Inspektion oder Untersuchung des Genitales bei Mädchen ist nicht erforderlich. Bei auffälligen anamnestischen Befunden soll eine jugendgynäkologische Untersuchung veranlasst werden. Tanner-Stadien Jungen (7 Anhang) Bei den Jungen wird das Penis- und Pubesstadium festgestellt. Grundsätzlich kann man sich nicht auf die Informationen der Jungen bzgl. ihres Hodens verlassen. Anomalien und Problempunkte von Spermatocelen bis hin zu Schwellungen auf dem Boden eines Hodentumors werden nicht angesprochen oder erkannt. Jungen sollen in die Selbstuntersuchung des Hodens eingewiesen werden. Dabei ist die subjektive Einstellung des Jungen zu respektieren und eine Untersuchung nur in gemeinsamer Absprache durchzuführen. Untersuchungsabschluss
Nach Abschluss der Untersuchung wird der Jugendliche ‒ und nach Absprache die Bezugspersonen ‒ über das Ergebnis informiert. Noch bestehende Fragen sollten geklärt werden. Auch ein Ordner mit Informationsmaterialien zur Einsicht wie auch ein weiteres Beratungsgespräch kann angeboten werden, wenn noch weiterer Informationsbedarf besteht. Gegebenenfalls sollten Adressen von Beratungsstellen vermittelt werden. Weitere Konsequenzen aus der Untersuchung werden besprochen und ein konkreter Zeitplan in Abstimmung mit dem Jugendlichen festgelegt, falls zusätzliche Untersuchungen notwendig sind. Das Fortbestehen des Gesprächsangebots sowie ein Betreuungsangebot über die Vorsorgeuntersuchung soll deutlich gemacht werden. Ausschlaggebend für die soziale Gesundheit sind gute soziale Kontakte in der Schule, Familie und im Freundeskreis (Hurrelmann et al. 2002). Da die Jugendgesundheitsuntersuchung auf ein möglichst ganzheitliches Bild des jungen Patienten abzielt, kommt dem Gespräch mit ihm – gerade auch zu diesen Themenbereichen ‒ eine besondere Bedeutung zu. Gleichzeitig befinden sich die Jugendlichen in einer Entwicklungsphase, in der sie sich Ratschlägen und Meinungen Erwachsener meist eher verschließen.
Tipp Im Hinblick auf ein für beide Seiten fruchtbares Gespräch kann es deshalb hilfreich sein, sich mit dem Aspekt der Gesprächsführung näher zu befassen und entsprechende Fortbildungsangebote wahrzunehmen. Grundsätzlich dürfen Aspekte der subjektiven körperlichen Gesundheit nie isoliert betrachtet werden. Alter, Geschlecht, sozioökonomischer Status, Bildungsniveau und Pubertätsstadium beeinflussen die subjektive Wahrnehmung der körperlichen Gesundheit unterschiedlich stark.
137 16.2 · Medienthemen bei der J1
16
16.1.4 Bisherige Ergebnisse der J1
16.1.5 Steigerung der Inanspruchnahme
Nach nunmehr 5 Jahren zeigt sich, dass die Jugendlichen bei weitem nicht so gesund sind, wie man bislang angesichts der Anzahl der Konsultationen in den Arztpraxen glaubte. Nur ca. 30% der Untersuchungen bleiben ohne therapierelevante Befunde (Altenhofen 1998). Dabei ist zu berücksichtigen, dass wir bisher vorwiegend die Jugendlichen erreichen, die auch sonst mit akuten Beschwerden eine Arztpraxis aufsuchen. Der Anteil derer, die im letzten Jahr vor der J1 keinen Arzt aufgesucht haben, liegt nur bei etwa 15% der Untersuchten. Bei ca. 58% der Jugendlichen, die wir mit der J1 noch nicht erreichen, ist zu vermuten, dass bei ihnen zum großen Teil ebenfalls therapie- bzw. beratungsrelevante Befunde vorliegen. Erfreulich ist, dass durch die Teilnahme an der J1 viele Impflücken geschlossen werden können. Bei der Datenerhebung der Pilotphase des Kinder- und Jugendsurveys von 3/2001‒3/2002 wiesen allerdings von 1700 erfassten Jugendlichen im Alter von 12‒17 Jahren in den alten Bundesländern nur 45% und in den neuen Bundesländern nur 40% eine vollständige Grundimmunisierung gegen Hepatitis B auf.
Eine Steigerung der Inanspruchnahme lässt sich nur durch eine Kooperation aller im Gesundheitswesen tätigen Experten erreichen.
Auffällige J1-Befunde Auffällige Befunde zeigten sich besonders: 5 beim Skelettsystem 5 beim Köpergewicht (vorwiegend Übergewicht, aber auch in geringerem Maße Untergewicht) 5 bei der Schilddrüse 5 bei der Haut (insbesondere unbehandelte Akne und Pigmentanomalien) 5 beim Blutdruck (vorwiegend kontrollbedürftige Befunde) 5 bei den Essgewohnheiten 5 beim Fettstoffwechsel (obwohl die Cholesterinbestimmung nur bei positiver Familienanamnese zum Untersuchungsumfang gehört) 5 bei Schulproblemen 5 beim Konsum von Alkohol und Nikotin (Konsumenten sogenannter illegaler Drogen kommen im Allgemeinen nicht zur J1. Ausnahme: Cannabis)
16.2
Kooperation von Experten ist notwendig Dies betrifft folgende Gruppen: 5 Kinder- und Jugendärzte, Allgemeinärzte, hausärztlich tätige Internisten, Frauenärzte 5 Jugendambulanzen im ambulanten und stationären Bereich 5 Kassenärztliche Vereinigungen und Bundes-/Landesärztekammern 5 Einrichtungen der Jugendhilfe und Jugendeinrichtungen sozialer Träger 5 Öffentlichen Gesundheitsdienst mit dem Jugendgesundheitsdienst, Gesundheitsämter 5 Weiterbildende Einrichtungen wie Hauptschulen, Gesamtschulen, Realschulen, Berufsschulen und Gymnasien 5 Anbieter von Gesundheitsleistungen wie Krankenkassen und private Versicherungsträger 5 Staatliche Einrichtungen wie die Bundeszentrale für Gesundheitliche Aufklärung
Maßnahmen zur Förderung der Gesundheit von Kindern und Jugendlichen sollen zum Gelingen des Entwicklungsprozesses beitragen. Sie unterstützen und helfen bei der erforderlichen Bewältigung altersgemäßer Entwicklungsaufgaben. Die Aufklärungs- und Erziehungsmaßnahmen sollen die Gesundheitskompetenz der Kinder und Jugendlichen insgesamt wie auch in ihrem gegenwärtigen Entwicklungsstand stärken.
Medienthemen bei der J1
Siehe hierzu auch Medienanamnesebogen 7 Anhang . Tabelle 16.1. Medienthemen
Fragen
Beratung
Werden Filme zusammen angeschaut? Worin liegen die Vorlieben der Familie? Gibt es alternative Aktivitäten? Wie sind die sozialen Kontakte, die soziale Einbindung/Peers? Wie geht es in der Schule? Welche Medien werden in der Schule benutzt? Welche sportlichen Aktivitäten finden außerhalb der Schule statt? Gibt es Hobbys? Wie sieht der Tagesablauf aus? Werden seitens der Eltern Sorgen geäußert? Sind die Eltern mit der Entwicklung zufrieden? Sind die Eltern mit dem sozialen Umfeld zufrieden? Findet Gebrauch legaler Drogen statt?
Wenn möglich kein Fernsehen im Schlafzimmer Das Gespräch suchen Auf die Wünsche eingehen, aber informiert sein und wenn irgendmöglich gemeinsam Filme ansehen Fernsehen, Computer und Internet als »Gebrauchsgegenstände« deutlich machen Auf die individuellen Problempunkte eingehen, und dabei den möglichen Einfluss der Medien nicht vergessen
138
Kapitel 16 · Jugendgesundheitsuntersuchung J1
Literatur Altenhofen L (1998) Ergebnisse der Jugendgesundheitsberatung in der BRD, ZI Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland Astor-Datenbank der KBV (2000), ZI Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland Debrunner HU (1982) Orthopädisches Diagnostikum, 5. Auflage, Georg Thieme, Stuttgart Hurrelmann K, Klocke A, Melzer W, Ravens-Sieberer U (Hrsg.) (2003) Jugendgesundheitssurvey. Internationale Vergleichsstudie im Auftrag der Weltgesundheitsorganisation WHO. Juventa, Weinheim München Weissenrieder N, Stier B (2002) Der Jugendliche in der Praxis. In: Praxisbuch Jugendmedizin, Dörr-Rascher, Urban & Fischer, München Jena
16
139
17
17 Jugendarbeitsschutz K.-D. Rolirad
)) Jugendliche sind stets topfit und gesund. Sie haben Spaß am Leben und sind an Gesundheit desinteressiert. Sie fühlen sich nicht verantwortlich für gesundes Verhalten, ihr Interesse gilt vielmehr Umweltschutz, Stress und ähnlichen Anliegen. Dass frühzeitiger Nikotingenuss in späteren Jahren zum Bronchialkarzinom führen kann, ist momentan in weiter Ferne und damit »unreal«. Problematisch ist auch der Umstand zu werten, dass Ausbilder und noch weniger betroffene Jugendliche für den Gedanken der Gesundheitsförderung zu begeistern sind. Die Vorgesetzten nehmen sich nicht die Zeit bzw. nutzen nicht die Gelegenheit, über gesundheitliche Fragen zu informieren.
17.1
Die Bedeutung von Jugendarbeitsschutzuntersuchungen
Europaweit stellen Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren ca. 22% der Gesamtbevölkerung, und darunter wiederum arbeiten in Deutschland 20% der 15- bis 17-Jährigen. Jugendliche unter 18 Jahren dürfen ohne ärztliche Bescheinigung der Arbeitsfähigkeit keine Arbeit durchführen. Aufgabe des möglichst arbeitsmedizinisch erfahrenen Kinder- und Jugendarztes ist es, die gesundheitliche Eignung für einen gewählten Beruf festzustellen oder davon abzuraten. Die Einführung einer allgemeinen arbeitsmedizinischen Vorsorgeuntersuchung für Berufsanfänger ist wünschenswert. Dabei sind arbeitsmedizinisch relevante und aussagekräftige Untersuchungsmethoden anzuwenden. Aufgrund längerer Schulzeiten und fehlender Ausbildungsplätze werden immer weniger Schulabgänger erfasst, so dass von ca. 500.000 jährlichen Jugendarbeitsschutzuntersuchungen ausgegangen werden kann. Ergänzungsuntersuchungen bei anderen Fachgruppen (überwiegend Augenärzte, danach Haut- und HNO-Ärzte) werden mit 2‒4% zu wenig genutzt. Kenntnisse über die Bedingungen am Arbeitsplatz, über Verfahren und die Umgebung sind hilfreich, da eine falsche Berufswahl für den Einzelnen und die Gesellschaft schwerwiegende Folgen haben kann. Alle Maßnahmen können nur empfehlenden Charakter haben, da das Recht auf freie Berufswahl in unserem Grundgesetz verankert ist.
17.2
Das Jugendarbeitsschutzgesetz
Das Jugendarbeitsschutzgesetz ‒ datiert vom 12. April 1976 ‒ wurde im März 1984 ergänzt und zuletzt 1997 angepasst. Danach ist Jugendlicher, wer über 15 und noch nicht 18 Jahre alt ist. Aufsichtsbehörden sind die Gewerbeaufsichtsämter neben dem Amt für Arbeitsschutz und den Bergämtern. Das Gesetz hat die Aufgabe, Kinder und Jugendliche vor Überforderung, Überbeanspruchung und den Gefahren am Arbeitsplatz entsprechend ih-
rem Entwicklungsstand zu schützen, für ihre ärztliche Betreuung bei der Arbeit zu sorgen und ihnen ausreichend Freizeit zur Erholung und Entfaltung ihrer Persönlichkeit sicherzustellen. Kinderarbeit ist verboten, da sie körperliche, psychische und soziale Schäden hervorrufen kann. Insbesondere schweres Heben und Tragen, Zwangshaltung, Zeitdruck und die Angst vor Fehlern belasten Kinder viel stärker als Erwachsene. Auch Jugendliche, die die Vollschulzeit – Sekundarbereich 1 – noch nicht beendet haben, fallen unter dieses Gesetz. Ausnahmen stellen schulische Betriebspraktika dar. Kinder unter 13 Jahren dürfen mit Einwilligung ihrer Eltern leichte und für sie geeignete Arbeiten bis zu 2 Stunden täglich ausführen, wenn sie die Gesundheit und Entwicklung und den Schulbesuch nicht nachteilig beeinflussen. Über 15-Jährige dürfen bis zu 4 Wochen/Jahr in den Schulferien arbeiten. Das Gesetz regelt die Beschäftigung von über 15-Jährigen mit höchstens 8 Stunden täglich und 40 Stunden wöchentlich sowie an 5 Tagen in der Woche. ! Ausnahmen vom Arbeitsverbot an Samstagen sowie Sonn- und Feiertagen gelten in Gaststätten, der Landwirtschaft, Kranken- und Pflegeanstalten sowie bei Montagen. Dasselbe gilt für Arbeiten zwischen 20 und 6 Uhr. Ruhepausen von jeweils 15 Minuten und insgesamt von 1 Stunde bei mehr als 6 Stunden am Arbeitstag sind einzuhalten.
In unserem dualen Ausbildungssystem – also auch in Arztpraxen – gilt Berufsschulzeit über 5 Stunden als voller Arbeitstag. Vor und an Prüfungstagen hat eine Freistellung zu erfolgen. Der Urlaub beträgt 30 Werktage unter 16 Jahren, 27 unter 17 und 25 unter 18 Jahren ‒ möglichst während der Schulferien. Generelle Beschäftigungsverbote gelten für »gefährliche Arbeiten, Akkordarbeit, tempoabhängige Arbeiten und solche unter Tage«. Eingeschlossen sind ebenfalls Tätigkeiten, die die körperliche, psychische und geistige Leistungsfähigkeit übersteigen sowie solche mit erhöhten Unfallgefahren, die wegen fehlender Erfahrung nicht erkannt und damit abgewendet werden können und bei denen durch außergewöhnliche Hitze, Kälte oder Nässe die Gesundheit gefährdet wird. Des Weiteren sind schädliche Einwirkungen durch Lärm (mehr als 90 dB), Erschütterungen, die geeignet sind, gesundheitliche Schäden am Stütz- und Bewegungsapparat hervorzurufen, Strahlen gemäß Strahlenschutzund Röntgenverordnung, giftige, ätzende oder reizende Stoffe und krebserzeugende Arbeitsstoffe verboten. ! Die §§ 28 und 29 insbesondere weisen auf die menschengerechte Gestaltung der Arbeit und die Unterweisung über Gefahren hin.
In einem besonderen Abschnitt wird die gesundheitliche Betreuung geregelt. §§ 32 ff. führen Erstuntersuchung, erste Nachuntersuchung, weitere Nachuntersuchungen, außerordentliche und Ergänzungsuntersuchungen sowie Untersuchungen nach Aufforderung der Aufsichtsbehörde bei einem von ihr ermächtigten Arzt auf. Ein Jugendlicher, der ins Berufsleben eintritt, darf nur beschäftigt werden, wenn er innerhalb der letzten 14 Monate von einem Arzt untersucht worden ist und dem Arbeitgeber eine von
140
Kapitel 17 · Jugendarbeitsschutz
diesem Arzt ausgestellte Bescheinigung vorliegt. Hat der Jugendliche das 18. Lebensjahr noch nicht überschritten, ist nach einem Jahr eine Nachuntersuchung erforderlich. Die ärztlichen Untersuchungen haben sich auf den Gesundheits- und Entwicklungszustand und die körperliche Beschaffenheit, die Nachuntersuchungen auf die Auswirkungen der Beschäftigung auf Gesundheit und Entwicklung des Jugendlichen zu erstrecken. Einzelheiten regelt eine Jugendarbeitsschutzuntersuchungsverordnung (JarbSchUV): ! Untersuchungsberechtigungsscheine werden von den Gemeinden ausgegeben. Die Kosten trägt das jeweilige Bundesland. Die Liquidation ist an das Versorgungsamt zu senden.
Daneben erhält der Proband ein Merkblatt und einen Erhebungsbogen. In diesem wird nach der Familien- und Eigenanamnese gefragt sowie nach Krankheiten, Unfällen und Operationen neben Allergien, Asthma, Haut-, Augen- und Anfallsleiden sowie sonstigen Beschwerden.
17.3
Die Jugendarbeitsschutzuntersuchung
Bewährt hat sich aus meiner Sicht wie bei allen Vorsorgemaßnahmen ein selbst erstellter Fragebogen, der neben Nikotin-, Alkohol-, Drogen- und Medikamentengebrauch auch detailliert nach sportlicher Betätigung und Freizeitverhalten neben Ernährungsgewohnheiten fragt: Eine Selbsteinstufung des Jugendlichen hinsichtlich Schullaufbahn, Befindlichkeit, Stellung in Familie und Peergroup sowie Lebensperspektive bietet einen guten Einstieg in die Untersuchung und die individuelle Beratung zwecks endgültiger Be-
rufswahl und Lebensgestaltung, da nach dem Prinzip der freien Arztwahl der Arzt des Vertrauens aufgesucht wird, der günstigenfalls schon im Zusammenhang mit der J1 bei chronischen Erkrankungen die Weichen rechtzeitig gestellt hat. Wie bei jeder Konsultation bietet sich die Gelegenheit, den Impfausweis zu überprüfen und Impfungen aufzufrischen (Tetanus, Diphtherie, Polio, Pertussis, 2. Masern, Mumps, Röteln) neben Hepatitis B (u. U. erstmals) und Varizellen ‒ besonders bei Auszubildenden im medizinischen Bereich. In dem von der KV erhältlichen Untersuchungsbogen, der beim Untersucher verbleibt, wird nochmals eine ausführliche Anamnese festgehalten neben Fragen nach aktuellen Beschwerden, ärztlicher Behandlung und Medikamentengebrauch. Neben den metrischen Angaben werden der Ernährungs- und Entwicklungsstand (Tanner-Stadien für die Eigenkartei nicht vergessen!) beurteilt. Besonderer Wert sollte auf die Haut und das Bewegungssystem gelegt werden, da erfahrungsgemäß »Vorschäden« (unbewegte Kindheit neben überwiegend sitzender Freizeitbeschäftigung) noch von der J1 bekannt sind und orthopädische Erkrankungen zur frühzeitigen Berentung führen bzw. die Dermatologie die häufigsten Berufskrankheiten »liefert« und die Anerkennung einfacher zu erreichen ist. Der nunmehr folgende Lebensabschnitt im Berufsleben bedingt ein geändertes Anforderungsprofil an die physische, intellektuelle und psychische Leistungsfähigkeit. Der Charakter der Belastungen wandelt sich von einer überwiegend geistigen zu einer gemischt körperlichen und geistigen Tätigkeit. Durch anpassungsbedingte Befindlichkeitsstörungen kann es zum Berufsabbruch kommen. Einseitige Belastungen können latente Krankheitsdispositionen manifest werden lassen. Nah-, Fernvisus und Farbtüchtigkeit sind neben einem sorgfältigen Hörtest (exzessiver Walkman-Gebrauch und Discobesuch!) erforderlich. Neben
Fragebogen Vorsorgemaßnahmen
17
Informationen für Jugendliche und Fragen beim Eintritt ins Berufsleben Liebe(r) …, bald wirst du als »Azubi« deine Berufsausbildung beginnen und dein »eigenes« Geld verdienen. Darüber freuen sich mit dir deine Eltern und Freunde und natürlich auch ich als Arzt deines Vertrauens. Wie schön, dass du einen Ausbildungsplatz gefunden und erhalten hast. Meine heutige gründliche Untersuchung will klären, ob du in der Lage bist, den gewählten Beruf zu ergreifen und auch u. U. lebenslang auszuüben. Folgende Fragen, bitte ich dich, zu beantworten (schriftlich oder auch mündlich): 5 Fühlst du dich gesund oder krank? 5 Macht dir etwas Sorgen? Wie ist deine Stimmung? 5 Wie verbringst du deine Freizeit? Hobbys? 5 Bist du in einer Gruppe Gleichaltriger (Peergroup)? 5 Treibst du Sport und welchen (allein oder im Verein)? 5 Gibt es Probleme in der Schule (Mobbing oder mit Lehrern)? 5 Bist du mit deinen Leistungen zufrieden? 5 Hat dein Lieblingsfach Bezug zur Berufswahl? 5 Hast du Vorbilder in der Familie oder Gemeinde, die dich beraten haben? 5 Kannst du dich Gleichaltrigen oder Älteren anvertrauen? 5 Hast du Fragen zum Rauchen, Alkohol, Drogen oder Medikamenten? 5 Fühlst du dich in deinem Umfeld angenommen und damit wohl? 5 Was »nervt« dich besonders – was ist besonders toll? Deine Informationen bleiben unter uns. Du kannst auch selbst Fragen an mich stellen. Vor der Untersuchung und einer eventuell erforderlichen Impfung hast du sicher keine Angst. Während deiner Ausbildung kannst du dich an mich wenden, selbst wenn du dann schon über 18 Jahre alt sein solltest. Vielen Dank für deine Ausführungen, dein …
141 17.4 · Ergebnisse
einer Erhebung des Körperstatus erfolgt auch eine Urinuntersuchung. Volks- bzw. Zivilisationskrankheiten wie Diabetes, Adipositas, Hypertonie, Apoplexie, Arthrosen, Wirbelsäulenschäden usw. sind in Vorstadien und Lebensführung erkennbar und noch gut beeinflussbar zum Vorteil des uns anvertrauten Jugendlichen und auch aus sozioökonomischen Erwägungen heraus. Die Ergebnisse werden erfasst und dem Betroffenen mitgeteilt, d. h. die Eltern und der Arbeitgeber bekommen nur eine »Durchschrift«, die die Arbeiten erfasst, die erlaubt oder eingeschränkt oder gar nicht zulässig sind. Ergänzungsuntersuchungen werden auf dem mitgelieferten Überweisungsformular beim Augen-, HNO-, Haut-, Nervenarzt, Internisten und Orthopäden veranlasst. Empfehlungen erhalten auch die Erziehungsberechtigten (Zahnarzt nicht vergessen), insbesondere wenn eine außerordentliche Nachuntersuchung angeordnet werden muss. Leider werden die zur endgültigen Beurteilung erforderlichen Ergänzungsuntersuchungen (2‒4%) wenig genutzt! Neben der wünschenswerten Kenntnis von Arbeitsplätzen und ihren Auswirkungen gerade auf den Heranwachsenden ist darauf zu achten, dass einseitige Arbeiten sowie solche mit Heben und Tragen ohne mechanische Hilfsmittel für alle Menschen nicht sinnvoll sind. Auch ständige Einwirkung von Kälte, Nässe u. Ä. neben Lärm und Belastung durch Gase, Stäube usw. sind Ursachen von Berufsaufgabe bzw. -wechsel neben allgemein ungünstigen Arbeitszeiten, schlechter Bezahlung und geringen Aufstiegsmöglichkeiten. Berufsberatung durch Ärzte in Arbeitsämtern findet nur in ca. 5% der Fälle statt (Angaben der Bundesanstalt für Arbeit). Bei der nach einem Jahr erforderlichen Nachuntersuchung ist sorgfältig und detailliert nach aufgetretenen Beschwerden (Schmerzen des Bewegungsapparates, Allergien, psychische Störungen u. a.) und ärztlicher Behandlung zu fragen bzw. ob bereits ein Lehrstellen- oder Berufswechsel stattgefunden hat. Die §§ 33 und 34 beschäftigen sich mit den Auswirkungen der Beschäftigung auf Gesundheit und Entwicklung des Auszubildenden. Im Rahmen der körperlichen Untersuchung bietet sich wiederum an, auf entsprechenden Ausgleich durch Sport und Freizeitgestaltung zu achten. Arbeitsmedizinische Erkenntnisse, dass dynamische Arbeit statischer vorzuziehen ist und gerade der Bewegungsapparat Heranwachsender besonders sensibel auf Belastungen reagiert und Allergene eine zunehmende Rolle spielen, fließen ein. Im Spannungsfeld zwischen Berufswunsch und knappen Ausbildungsplätzen einerseits und der Gefährdung eines Jugendlichen andererseits, der Vorerkrankungen wie Asthma, endogenes Ekzem, Lärmschäden, Kyphoskoliosen oder Behinderungen aufweist, kommt der ärztlichen Entscheidung eine große Bedeutung zu. Rücksprachen mit dem Ausbildungsbetrieb, um einen akzeptablen und verantwortungsbewussten Kompromiss zu finden, haben sich aus meiner Sicht bewährt. Im Rahmen der Jugenduntersuchung ‒ der J1 ‒ ist eine »Berufserprobung« im Schulpraktikum zu erwägen.
17.4
Ergebnisse
Entsprechend den gemeldeten Berufskrankheiten finden sich Erkrankungen der Haut am häufigsten neben Lärmschäden und Asthma sowie Erkrankungen des Skelettsystems. 30.000 Jugendliche/Jahr brechen aus gesundheitlichen Gründen die Ausbildung
17
ab, in erster Linie im Bereich Friseur, Bäcker, Maler, Reinigung, medizinische Heil- und Pflegekräfte sowie Nahrungsmittel. Sicher spielen auch ungünstige Arbeitszeiten, schlechte Bezahlung und geringe Aufstiegsmöglichkeiten eine Rolle. 17.4.1 Berufskrankheiten Berufskrankheiten sind mit 67 Positionen in sechs Gruppen zusammengefasst (http://de.osha.eu.int/legislation/verord/bkvo.html): 1. Durch chemische Einwirkungen verursachte Krankheiten 2. Durch physikalische Einwirkungen verursachte Krankheiten 3. Durch Infektionserreger oder Parasiten verursachte Krankheiten sowie Tropenkrankheiten 4. Erkrankungen der Atemwege und der Lungen, des Rippenund Bauchfells 5. Hautkrankheiten 6. Krankheiten sonstiger Ursache Voraussetzung zur Anerkennung sind nach § 9 SGB VII Krankheiten, die Versicherte infolge einer versicherten Tätigkeit erleiden. Es handelt sich um einen juristischen Terminus, während die berufsbedingte Erkrankung jedoch eine medizinische Diagnose darstellt. Rehabilitationsmaßnahmen erfolgen überwiegend bei Haut- und allergischen Atemwegserkrankungen. Nach Angaben der Bundesanstalt für Arbeit erfolgte eine Berufsberatung durch Ärzte in Arbeitsämtern nur in 5% der Fälle. ! Chemische Gefahrstoffe, die toxisch, reizend, allergisierend, krebserzeugend, schwangerschafts- und erbgutverändernd wirken, sind nach der Höhe der Konzentration zu werten (»dosis facit venenum«). Grenzwerte werden in maximaler Arbeitsplatzkonzentration (MAK-Werte), in technischen Richtkonzentrationen (TRK-Werte) und biologischen Arbeitsstofftoleranzen (BAT-Werte) angegeben.
Im Unfallverhütungsbericht des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung für das Jahr 2000 nehmen nach den Hautkrankheiten und der Lärmschwerhörigkeit Lungen- und Pleuraerkrankungen mit 10.000 Anzeigen und Atemwegserkrankungen mit 7.000 die dritte und vierte Position ein. Präventionsmaßnahmen sind die Elimination der Exposition sowie die Reduktion begünstigender Faktoren und organisatorische und personenbezogene Schutzmaßnahmen. Betriebsärztliche Betreuung durch auch auf Noxen bezogene arbeitsmedizinische Vorsorgeuntersuchungen und Gefährdungsermittlung durch geschulte Sicherheitsfachkräfte reduzieren das individuelle Gesundheitsrisiko am Arbeitsplatz. ! Für Asthmatiker ungeeignet sind Tätigkeiten mit organischen Stäuben oder Lösungen sowie mit Tierkontakt. Da die Allergiebereitschaft erhöht wird, ist abzuraten von Berufen wie Bäcker, Koch, Maler, Friseur, medizinischer Pflegebereich und Industriearbeiter. Geeignet sind hingegen Büroberufe (Kaufmann, Journalist, Sozialarbeiter und -pädagoge, Datenverarbeitung u. Ä.).
Das Berchtesgadener Asthmazentrum (http://www.asthmazentrum.com) bietet Berufsfindungsmaßnahmen mit Verhaltenstrai-
142
Kapitel 17 · Jugendarbeitsschutz
. Tabelle 17.1. Berufsgruppen und typische Allergieauslöser
Berufsgruppen
Allergieauslöser
Bäcker
Mehlstaub, Backhefe, Gewürze, Farbstoffe, Konservierungsmittel, Aromastoffe, Antioxydantien, Bleichmittel, Schimmelpilze, Vorratsmilben
Bauwirtschaft
Chrom, Kobalt und Nickelsalze in Zement und Gips, Betonhärter, Lösungsmittel, Formaldehyd
Büro
Kleber, Markerstifte, Tinten, Pauspapiere
Chemische Industrie
Isocyanate, Schwermetalle, Terpentin, Phenol, Toluol, Anisol, Kunststoffe, Paragruppen, Enzyme (Peptide, Proteasen)
Druckindustrie
Terpentin, Anilindervate, Xylol, Chrom, Kobalt, Nickel in der Druckerschwärze, Gummi
Elektroindustrie
Epoxidharze, Härter, Formaldehyd
Fotoindustrie
Farbstoffe, Fixiersalze, Entwickler, Stabilisatoren
Friseure
Haarfärbe- und Bleichmittel, Festiger, Kosmetika
Gärtner
Pollen, Narzissen, Tulpen, Chrysanthemen, Schädlings- und Unkrautbekämpfungsmittel
Lederindustrie
Chromverbindungen für Gerber, Klebstoffe, Gummilösungen, Harze, Paragruppen
Kunststoffindustrie
Phenol, Formaldehyd, Epoxidharze, Isocyanate, Lösungsmittel, Kunststoffe
Maler/Lackierer
Farben, Lacke, Lösungsmittel, Phenol, Terpentin, Formalin, Chrom
Medizin
Desinfektionsmittel, Antibiotika, Lokalanästhetika, ätherische Öle, Gummihandschuhe
Metallindustrie
Chrom, Nickel, Kobalt, Cadmium, Reinigungs- und Lösungsmittel, Lötwasser, Kühlschmierstoffe, Schmierfette, Rostschutzmittel, Öle, Ölzusätze
Textilindustrie
Farbstoffe, Appreturen, Imprägnierungsmittel, Formaldehydharze, organische Stäube (Wolle, Seide usw.)
Zoologische Berufe
Tierfutter, Tierstäube, Federn, Haare
Nach: Allergisch? Tipps zur richtigen Berufswahl – Deutsche Angestellten Krankenkasse
ning an. Berufsfelder werden erprobt. Das Arbeitsamt finanziert diese Maßnahmen (. Tab. 17.1). 17.4.2 Lärmschwerhörigkeit
17
Lärmschwerhörigkeit ist abhängig von der Lautstärke und Einwirkzeit. Ab 85 dB sind Schallschutzmittel vom Arbeitgeber zur Verfügung zu stellen und ab 90 dB vom Versicherten auch zwingend zu benutzen. Walkman und Discotheken wirken mit 100‒ 110 dB bei den heutigen Hörgewohnheiten der Kinder und Jugendlichen über viele Stunden ein und führen zu irreversiblen Schäden der äußeren Haarzellen im Cortischen Organ des Innenohrs, die einen bleibenden Hörschaden hinterlassen. Hörverluste von 10‒20 dB im Frequenzbereich von 3‒6 kHz (c5-Senke) sind die Folge. Die Schmerzschwelle liegt bei 130 dB (Flugzeugstart 115 dB, Martinshorn ebenso, aber Knackfrösche und Kinderpistolen bis 135 dB!). ! Langsamer Abbau des Hörvermögens – vom Betroffenen lange unbemerkt – führt zu erhöhter Unfallgefahr und später wegen des gesellschaftlichen Tabus zur sozialen Isolation und Depression.
17.4.3 Atopiker Atopiker sind durch häufige und intensive Händereinigung, Feuchtigkeitsbelastung bzw. Tragen feuchtigkeitsdichter Handschuhe und Kontakte mit Allergenen sowie hautreizenden Stoffen neben Hitze besonders belastet. Zu berücksichtigen sind Berufsfelder wie Friseur, Bäcker, Floristin, Fliesenleger, Zahntechniker, Pflegekräfte im Gesundheitswesen, Mechaniker und Maler. Durch entsprechende Schutz- und Verhaltensmaßnahmen auch in der Freizeit (!) lassen sich die Risiken deutlich reduzieren. Geeignet sind auch die schon oben aufgeführten Berufe, die wenig hautbelastend sind. Der betreuende Arzt kann individuell beraten, die optimale Therapie einsetzen und einen gesundheitsfördernden Lebensstil unterstützen. 17.4.4 Hebe- und Tragearbeiten Hebe- und Tragearbeiten belasten insbesondere die Lendenwirbelsäule. Grenzwerte sind für männliche Jugendliche bei seltenem Auftreten 20 kg und bei wiederholtem Auftreten 13 kg und für weibliche Jugendliche 13 kg bzw. 9 kg. Die weniger gut versorgten Gewebe wie Knorpel, Zwischenwirbelscheiben und auch Sehnen, Bänder und Gelenkkapseln sind in den Wachstumsphasen sensibel gegen extreme Belastungen und damit anfällig für
143 Literatur
z. B. Skoliosen und aseptische Knochennekrosen. Dynamische Arbeit hat positive Langzeitwirkung auf Muskulatur, Stoffwechsel und Kreislauf und ist statischer vorzuziehen. Letztere ist bei entsprechenden Gewichten und Arbeiten über Kopf ebenso zu vermeiden wie repetitive und monotone Belastungen kleiner Muskelgruppen. 17.4.5 Behinderungen Behinderungen sind definiert als ein regelwidriger körperlicher, geistiger oder seelischer Zustand, der nicht nur vorübergehend zur Funktionsbeeinträchtigung führt. Schulabgänger haben in 5‒10% chronische Erkrankungen, Leistungsminderungen oder dispositionelle Besonderheiten, die die Berufswahl erschweren. Zu nennen sind Entwicklungsstörungen, Erkrankungen des Bewegungsapparates, Einschränkungen des Sehvermögens, Hauterkrankungen, Asthma, Allergien, Hörschäden und Folgen von chronischen Infekten oder Fehlbildungen. Lern- und geistige Behinderungen sind häufiger Grund zur Sorge. Die Bundesanstalt für Arbeit hat durch berufliche Rehabilitationsmaßnahmen für eine angemessene berufliche und soziale Integration von behinderten Jugendlichen zu sorgen. Entsprechende Beratung findet durch Selbsthilfe- und Elterngruppen so wie durch arbeitsmedizinische Fachdienste des Arbeitsamtes statt. Arbeitserprobungsteste und Berufsfindungsmaßnahmen stehen zur Verfügung. In Berufsbildungswerken wird überbetriebliche Ausbildung angeboten. Finanzhilfen sind gesetzlich verankert.
Fazit
In Kenntnis der beruflichen Anforderungen und Auswirkungen des Arbeitsplatzes und einer sorgfältig durchgeführten Untersuchung lassen sich körperliche, geistige und seelische Beeinträchtigungen von den uns anvertrauten und vertrauenden Jugendlichen abwenden.
Literatur Berufsbildungswerke (1995) BM für Arbeit und Sozialordnung Jugendarbeitsschutz (1998) Nds. Ministerium für Frauen, Arbeit und Soziales Mehr wissen über die Berufswahl – Informationen für Eltern behinderter Jugendlicher (1977) Bundesanstalt für Arbeit, Nürnberg Van Kampen et al. (2002) Handbuch Epilepsie und Arbeit Wie? So! Informationen für junge Leute (1997) BM für Arbeit und Sozialordnung Zweites Gesetz zur Änderung des Jugendarbeitsschutzgesetzes (1997) Bundesgesetzblatt Nr. 11
17
Hilfreiche Adressen BIBB – Bundesinstitut für Berufsfindung, Fehrbelliner Platz, 10707 Berlin, http://www.bmwa.bund.de Asthmazentrum Berchtesgaden: http://www.asthmazentrum.com Dtsch. Epilepsievereinigung e.V., Zillerstraße 102, 10585 Berlin Außerdem informieren: BIZ – Berufsfindungszentren in den örtlichen Arbeitsämtern Jeweilige Länderministerien für Arbeit, Gesundheit und Soziales Alle Berufsgenossenschaften Ärztekammern Handwerkskammern in Ländern bzw. Bezirken Industrie- und Handelskammern Landwirtschaftskammern
IV I
Spezielle Jugendmedizin 18
Asthma bronchiale – 147 O. A. Gießler-Fichtner, C. P. Bauer
19
Diabetologie und Schilddrüse – 155 K. Hartmann
20
Wachstumsstörungen – 165 H. A. Wollmann
21
Kardiologie – 171 D. Hassberg
22
Epilepsie – 179 C. Langner, H. Müller
23
Onkologie – 185 R. Blütters-Sawatzki
24
Bewegungsapparat – 192 E. Jäger-Roman
25
Rehabilitation – 198 E. Leidig
147
18
18 Asthma bronchiale O. A. Gießler-Fichtner, C. P. Bauer
18.1
Empfehlungen zum therapeutischen Management
»Sogar wenn es mir gut geht?!?« Asthma bronchiale ist definiert als chronisch entzündliche Erkrankung der Atemwege, charakterisiert durch eine bronchiale Hyperreagibilität und eine variable Atemwegsobstruktion. Die Pharmakotherapie des Asthma bronchiale hat deshalb als Hauptansatzpunkte die Bronchospasmolyse und die Behandlung der bronchialen Entzündung. Der Schweregrad der Erkrankung wird sowohl im Erwachsenen- wie auch im Kindes- und Jugendalter in einem 4-Stufenschema festgelegt, wobei aber die jeweiligen Stufen des Erwachsenen- und des Kinder- und Jugendschemas unterschiedliche Bezugspunkte haben. Der Übergang vom Kind- und Jugendschema zu den Erwachsenenempfehlungen ist bisher fließend und nicht eindeutig festgelegt. Sicherlich sollte jedoch spätestens ab dem 16.‒18. Lebensjahr das Erwachsenenschema Grundlage der Beurteilung des Patienten sein (. Tab. 18.1). Aufgrund der unterschiedlichen Bewertung der Schweregrade bei Kindern/Jugendlichen im Vergleich zu Erwachsenen erfolgt die antientzündliche Therapie für die Kinder- und Jugendlichengruppe früher, und es kommen als Alternative zu den inhalativen Steroiden auch nichtsteroidale Substanzen zum Einsatz. Die Therapie selbst bezieht sich analog zum Schweregrad ebenfalls auf ein 4-Stufenschema (. Abb. 18.1 und 18.2). Sowohl die antientzündliche als auch die bronchospasmolytische Therapie wird in der Regel inhalativ verabreicht. Die inhalative Applikation der Asthmatherapie kann dabei über ein MDI nach Möglichkeit mit Spacer ‒ als Pulverinhalation oder über eine Feuchtinhalation (Düsenvernebler mit Kompressor ‒ z. B. Pariboy) erfolgen. Bei der Auswahl der Therapie sollte immer darauf geachtet werden, dass die Behandlungsform vom Patienten akzeptiert wird und er somit auch bereit ist, diese durchzuführen. Gerade in der Altersgruppe der Jugendlichen spielt die Compliance (7 unten) eine besonders wichtige Rolle für den Therapieerfolg und in diesem Zusammenhang haben auch Kombinationspräparate ihre Berechtigung (Nationale Versorgungs-Leitlinie Asthma bronchiale: http://www. azg.de).
18.2
Compliance?
»Auf wen soll ich eigentlich hören?« Zu den wesentlichen Entwicklungsaufgaben (Havighurst 1982) der Adoleszenz gehört die Generierung einer adäquaten Kritikfähigkeit. Diese ermöglicht eine emotionale Unabhängigkeit von Eltern und anderen Erwachsenen, welche von Kindern in jüngerem Lebensalter oft bis zur Omnipotenz erhöht wahrgenommen werden. Dementsprechend wird dann nicht mehr der äußerst kooperative kindliche »Gehorsam« gegenüber Erwachsenen zur Leitlinie sämtlichen Handelns, sondern eine stetige Kosten-Nut-
zen-Abwägung mit den subjektiven Prüfkriterien: »Bringt es mir etwas?« und »Was bringt es mir?«/»Was habe ich davon?« Demgegenüber steht ein oft alterstypisch impulsives, unüberlegtes und manchmal objektiv riskantes Handeln ohne die Zielrichtung gelingender Coping-Strategien. Beispiel Ein 16-jähriges Mädchen hatte die subjektive Erfahrung gemacht, dass die Selbstwahrnehmung ihrer jeweils aktuellen bronchialen Situation nicht mit den gemessenen Werten ihrer täglichen Peak-FlowKontrolle korreliert. Sie fühlte sich durch die Messungen vielmehr irritiert und reagierte emotional besorgt. Ihre Schlussfolgerung aufgrund der o. g. Prüfkriterien lautete: »Ich benötige keine Peak-FlowKontrolle, da sie mir nichts Konstruktives oder Handlungsleitendes einbringt, sondern mich im Gegenteil noch verunsichert.« Dieser Logik folgend stellte sie weitere Peak-Flow-Messungen ein.
Als zusätzliche operante Verstärkung wirken zudem Ereignisse, die eher kurz- als mittel- oder langfristig bewertet und zugeschrieben und somit als Belohnung bzw. Bestätigung erlebt werden. Diese Zuschreibungen (Attributionen) bestimmen dann in der Folge das weitere Problemlöseverhalten des jugendlichen Individuums. Eine eher perspektivische Sichtweise wird durch dieses kurzfristige Verstärkungserleben zunächst erschwert bzw. gänzlich blockiert. Beispiel Ein 15-jähriger Junge mit Allergie auf Gräserpollen und einem Belastungsasthma wird von seinen Freunden während heftigen Pollenfluges zu einem Fußballspiel auf dem Bolzplatz des Stadtteils überredet. Aus Imagegründen verzichtet er auf die erforderliche Prämedikation. Während des Spieles kommt es wiederholt zu Atemnotzuständen, auf die der Fußballer mit kurzen Pausen und atemerleichternder Körperstellung kombiniert mit der Lippenbremsentechnik beim Ausatmen reagiert. Ansonsten schießt er zwei Tore und wird von seinen Mitspielern sozial wertgeschätzt. Er nimmt sich vor, das nächste Mal auf jeden Fall wieder mitzuspielen und behält als Lernerfahrung bei, auf das Spray als Prämedikation verzichten zu können.
! Lernziele: Zur Differenzierung der Problemlösefertigkeiten, insbesondere auch dissoziativer Fertigkeiten hinführen; die Entwicklung perspektivischer Sichtweisen fördern; Selbstwirksamkeitserlebnisse durch konstruktives Krankheitsmanagement ermöglichen.
Viele »Compliance«-Probleme entstehen nicht durch bösen Willen oder Desinteresse der Jugendlichen, sondern durch die Unvereinbarkeit ärztlicher Anweisungen mit dem konkreten Alltag. Jugendliche müssen sich erst ihren Platz im Leben erobern, Neues ausprobieren, Grenzen ausloten usw. Das, was sie dann tun, ist nicht immer vernünftig oder gesund, aber notwendig, um aus den vielfältigen Angeboten des Lebens ihren individuellen Weg herauszuarbeiten. Jugendliche sehen sich dabei vielen Erwartungen und oft Ablehnung gegenüber. Befürchtungen und Unsicherheit führen deshalb des öfteren zum Vertuschen oder Negieren der eigenen Schwierigkeiten (Riedinger 2004).
148
Kapitel 18 · Asthma bronchiale
. Tabelle 18.1
Klassifikation der Asthmaschweregrade Die Anwesenheit eines der Symptome reicht aus, um den Patienten in die entsprechende Kategorie einzuordnen Schweregrad Erwachsene
Kennzeichen vor der Behandlung Symptomatik
IV schwergradig persistierend
Anhaltende Symptomatik Häufige Exazerbation Häufig nächtliche Asthmasymptome Einschränkung der körperlichen Aktivität
• FEV1 ≤ 60 % des Sollwertes • oder PEF ≤ 60 % des persönlichen Bestwertes • PEF-Tagesvariabilität > 30 %
III mittelgradig persistierend
Tägliche Symptome Nächtliche Asthmasymptome > 1×/Woche Beeinträchtigung von körperlicher Aktivität und Schlaf bei Exazerbationen Täglicher Bedarf an inhalativen kurzwirksamen β2-Sympathomimetika
• FEV1 > 60 % – < 80 % des Sollwertes • PEF (60 – 80 %) des persönlichen Bestwertes • PEF-Tagesvariabilität > 30 %
II geringgradig persistierend
1×/Woche < Symptome am Tage < 1×/Tag Nächtliche Symptomatik > 2×/Monat Beeinträchtigung von körperlicher Aktivität und Schlaf bei Exazerbationen
• FEV1 ≥ 80 % des Sollwertes • PEF ≥ 80 % des persönlichen Bestwertes • PEF-Tagesvariabilität 20 – 30 %
I intermittierend
Intermittierende Symptome am Tage (< 1×/Woche) Kurze Exazerbationen (von einigen Stunden bis zu einigen Tagen) Nächtliche Asthmasymptome < 2×/Monat
• FEV1 ≥ 80 % des Sollwertes • PEF ≥ 80 % des persönlichen Bestwertes • PEF-Tagesvariabilität < 20 %
Kinder
Symptomatik
Lungenfunktion
IV schwergradig persistierend
Anhaltende tägliche Symptome, häufig auch nächtlich
FEV1 < 60 % Variabilität > 30 %
III mittelgradig persistierend
An mehreren Tagen/Woche c und auch nächtliche Symptome
Auch im Intervall obstruktiv FEV1 < 80 % und/oder MEF 25 – 75 bzw. MEF 50 < 65 % Variabilität > 30 %
II geringgradig persistierend
Intervall zwischen Episoden < 2 Monate
Nur episodisch obstruktiv, Lungenfunktion dann pathologisch: FEV1 < 80 % und/oder MEF 25 – 75 bzw. MEF 50 < 65 % Variabilität 20 – 30 % LFU im intervall meist noch ohne pathologischen Befund: FEV1 > 80 % und/oder MEF 25 – 75 bzw. MEF 50 > 65 % Variabilität < 20 %
Intermittierend Husten Leichte Atemnot Symptomfreies Intervall > 2 Monate
Nur intermittierend obstruktiv, Lungenfunktion dann oft noch normal: FEV1 > 80 % MEF 25 – 75 bzw. MEF 50 > 65 % Variabilität < 20 % Im Intervall ohne pathologischen Befund
(Episodisches Asthma)
I intermittierend (Intermittierende, rezidivierende, bronchiale Obstruktion) a
18
Lungenfunktion
a
Chronische Entzündung und Vorliegen einer Überempfindlichkeit der Bronchialschleimhaut nicht obligat. Somit definitionsgemäß dann noch kein Asthma. Z. B. Auftreten der obstruktiven Ventilationsstörung bei Säuglingen und Kleinkindern infektgetriggert vor allem in der kalten Jahreszeit und bei Schulkindern nach sporadischem Allergenkontakt (z.B. Tierhaarallergie). b Von einer bronchialen Überempfindlichkeit im auch symptomfreien Intervall ist bei den Schweregraden II, III und IV auszugehen. c Z. B. bei alltäglicher körperlicher Belastung. d Individuelle Maximalwerte sind zu berücksichtigen. Ggf. Überblähung beachten (FRC > 120% des Sollwertes). Lungenfunktion im Säuglings- und Kleinkindesalter nur in Spezialeinrichtungen messbar.
Abkürzungen: FEV1 Einsekundenkapazität, PEF Persönlicher exspiratorischer Flow, MEF Maximaler exspiratorischer Flow
149 18.2 · Compliance?
18
Medikamentöse Therapie bei Kindern (Stufentherapie) • Asthmaschweregrad und Therapiestufe müssen nicht übereinstimmen. So kann z. B. bei einem Patienten mit guter Einstellung in Therapiestufe 3 ein Schweregrad 1 vorliegen. • Bei unzureichender Kontrolle ist der Übergang auf die nächsthöhere Stufe angezeigt, bei längerer Zeit stabiler Erkrankung (z.B. 3 – 6 Monate) auf die nächsttiefere Stufe. Bei fehlender Wirkung sollte immer auch die Diagnose überdacht werden. • Die Angaben zur Dosierung inhalativer Corticosteroide (ICS) beziehen sich auf Beclometason oder Äquivalente. Orale Medikamente sind nur indiziert bei unzureichender Wirkung inhalativer Präparate bzw. wenn einem Patienten (z.B. aus technischen Gründen) eine Inhalation nicht möglich ist.
Stufe 4: schwergradig persistierend ** Bedarf Inhalatives, kurzwirksames Beta2-Sympathomimetikum*
Dauer Hohe ICS-Dosis, sonst wie in 3 (Ausnahme: *****). Zusätzlich intermittierend oder dauerhaft orale Corticosteroide
Stufe 3: mittelgradig persistierend ** Bedarf Inhalatives, kurzwirksames Beta2-Sympathomimetikum*
Dauer Mittlere ICS-Dosis, falls keine Besserung: Dosissteigerung (um 50 – 100%) bzw. add on langwirksame Beta2-Sympathomimetika**** und/oder Montelukast und/oder Theophyllin
Stufe 2: geringgradig persistierend Bedarf Inhalatives, kurzwirksames Beta2-Sympathomimetikum*
Dauer Therapie der 1. Wahl: Niedrig dosierte inhalative Corticosteroide (ICS). Evtl. Versuch mit Cromonen (DNCG oder Nedocromil) oder Montelukast ***** für 4 – 8 Wochen möglich.
Stufe 1: intermittierend Bedarf Inhalatives, kurzwirksames Beta2-Sympathomimetikum*
Dauer keine ***
* Alternative Medikationsmöglichkeit: z.B. Anticholinerika (z.B. Ipratropiumbromid), Theophyllin in Lösung. ** Vor Dosissteigerung des ICS bzw. add on-Therapie oder Gabe oraler Corticosteroide: Vorstellung in einem allergologischpneumologischen Schwerpunkt (Praxis/Zentrum). *** Eine vorübergehende anti-entzündliche inhalative Therapie z.B. bei rezidivierenden, infektgetriggerten Bronchialobstruktionen im Säuglings- oder Kleinkindesalter sowie bei kurzfristigem Allergenkontakt (z.B. Birkenpollen, sporadischer Tierkontakt) älterer Kinder ist möglich. **** Im Vorschulalter kaum Wirksamkeits- oder Sicherheitsdaten, deshalb hier nur in Ausnahmefällen. ***** Bei Belastungsasthma als Monotherapie zugelassen, für Stufe 4 nicht zugelassen.
. Abb. 18.1. Medikamentöse Therapie bei Kindern (Stufentherapie)
150
Kapitel 18 · Asthma bronchiale
Medikamentöse Therapie bei Erwachsenen (Stufentherapie) • Asthmaschweregrad und Therapiestufe müssen nicht übereinstimmen. So kann z. B. bei einem Patienten mit guter Einstellung in Therapiestufe 3 ein Schweregrad 1 vorliegen. • Bei unzureichender Kontrolle ist der Übergang auf die nächsthöhere Stufe angezeigt, bei längerer Zeit stabiler Erkrankung (z.B. 3 – 6 Monate) auf die nächsttiefere Stufe. Bei fehlender Wirkung sollte immer auch die Diagnose überdacht werden. • Die Angaben zur Dosierung inhalativer Corticosteroide (ICS) beziehen sich auf Beclometason oder Äquivalente. Orale Medikamente sind nur indiziert bei unzureichender Wirkung inhalativer Präparate bzw. wenn einem Patienten (z.B. aus technischen Gründen) eine Inhalation nicht möglich ist.
Stufe 4: schwergradig persistierend Bedarf Inhalatives, kurzwirksames Beta2-Sympathomimetikum
Dauer Inhalatives Corticosteroid in hoher Dosis plus inhalatives, langwirksames Beta2-Sympathomimetikum (ggf. als feste Kombination), ggf. Theophyllin. Systemisches Corticosteroid (intermittierend oder dauerhaft) in der niedrigsten noch effektiven Dosis.
Stufe 3: mittelgradig persistierend Bedarf Inhalatives, kurzwirksames Beta2-Sympathomimetikum
Dauer Inhalatives Corticosteroid in niedriger bis mittlerer Dosis plus inhalatives, langwirksames Beta2-Sympathomimetikum (ggf. als feste Kombination). Optionen bei nicht ausreichender Wirkung: • Steigerung der Dosis des inhalativen Glucocorticoids • Theophyllin • Montelukast
Stufe 2: geringgradig persistierend Bedarf Inhalatives, kurzwirksames Beta2-Sympathomimetikum
Dauer Inhalatives Corticosteroid in niedriger Dosis
Stufe 1: intermittierendes Asthma Bedarf Inhalatives, kurzwirksames Beta2-Sympathomimetikum
Dauer entfällt
18 . Abb. 18.2. Medikamentöse Therapie bei Erwachsenen (Stufentherapie)
151 18.3 · Empowerment und Selbständigkeit
Tipp Leitfragen zur eigenen Haltung: »Wer oder was hilft bei der Unterstützung dieser Lernziele? Was könnte gegenteilig oder hinderlich wirken und somit den Widerstand des Adoleszenten erhöhen?« Positiv wirksam können sein: Akzeptanz und Wertschätzung gegenüber der schwerer verständlich wirkenden Logik und Erlebenswelt des Jugendlichen sowie Ermöglichen von Erfahrens- und Erlebensräumen. Durch diese Grundhaltung wird dem professionellen Therapeuten eine konstruktive Begleitung des Reifungsprozesses möglich. Auch an problematischen Entscheidungspunkten (z. B. Zwickmühlen) soll es dem Jugendlichen gelingen können, letztendlich zu objektiv konstruktiven Entschlüssen, die durchaus von Compliance getragen sind, zu kommen. Deren Grundlage besteht dann allerdings in einem gelingenden Coping und einem ressourcengetragenen Selbstmanagement der Erkrankung.
Fremdkontrolle (durch wen auch immer) wird gerade in diesem Entwicklungsabschnitt oft als bedeutsam störend empfunden, weil sie eigene Erfahrungen und somit sowohl Selbstkontrollmöglichkeit als auch Selbstwirksamkeitserlebnisse vorwegnimmt, bzw. verhindert. Wirklich tragfähige Entscheidungen entstehen aus intrinsischer Motivation. Es ist also entscheidend, dem Jugendlichen Verständnis, Einsicht und Entscheidungsmöglichkeiten zugänglich zu machen. Derartige Tragfähigkeit erweist sich dann fortfolgend gegenüber mannigfaltigen adoleszenten Krisen und multiplen Peer-Einflüssen.
18.3
Empowerment und Selbständigkeit
»Mündig und aus eigener Kraft« Relevante Werte für Jugendliche können hauptsächlich sein: Leben im Aktuellen (im Hier und Jetzt), Flexibilität statt sich festzulegen, ganzheitlich leben, Neues ausprobieren, Risiken eingehen, Grenzerfahrungen machen. Diese orientierenden Werte wirken als handlungsleitende bzw. verhaltensdeterminierende Faktoren. Selbstverständlich benötigen gerade Heranwachsende auch weiterhin Tipps und Unterstützung von den Erfahreneren. Fraglich ist allerdings, inwieweit eine bestimmte Haltung effizienter ist, als ein konservatives Arzt-Patient-Gefälle mit seinen multipel beschriebenen Compliance-Problemen. Nach dem tradierten Compliance-Modell sollte der Patient sich folgsam bezüglich therapeutischer Anweisungen und Anordnungen verhalten. Der moderne, mündige Patient (dem kritischere Jugendliche übrigens schon immer recht nahe kamen!) muss hingegen Alternativen abwägen, eigene Entscheidungen treffen und mitverantworten, Ratschläge hinsichtlich ihrer individuellen Relevanz und Machbarkeit diskriminieren, Prioritäten setzen u. v. m. Dies kann insbesondere bei adoleszenten Menschen, die sich in vielen Entwicklungsbereichen durch das massive Umbruchsgeschehen neu orientieren müssen, zu Überlastungen, Zwickmühlen und in der Folge zu Entscheidungsschwierigkeiten oder -defiziten bereits im Stadium der Prioritätensetzung führen. Allerdings benötigt der Betroffene hierzu unter Umständen eine Anleitung zu einer reflektierten Haltung, um zu Erkenntnisprozessen zu gelangen, die ressourcengetragenen Ursprung haben
18
und gelingenden Selbstwirksamkeitserfahrungen nicht entgegenstehen. Daraus leitet sich über die Zeit wertvolles Erfahrungswissen ab (Hirsch 1995), das dem Expertenwissen subjektiv überlegen ist und in seinem Gefolge objektive Kompetenz zum Krankheitsmanagement nach sich zieht. In dem Maße, wie es der Profi versteht, vertrauensvoll und verständnisgetragen mit dem Spannungsfeld des betreuten Jugendlichen zwischen Fremdkontrolle und Eigenverantwortung umzugehen, wird auch eine gezielte Förderung zur Übernahme von Eigenverantwortung stattfinden können. Der Jugendliche steht bei diesem Vorgehen absolut im Mittelpunkt, es sind auch andere Sichtweisen und mögliche Fehladaptationen zugelassen. Aus dem folgsamen Patient der alten Compliance-Schule kann ein tatsächlich mündiger Patient werden. Auch objektiv als noch so unzulänglich zu bewertende Versuche einer Verhaltensanpassung von überforderten, orientierungsbedürftigen Menschen sollten von Erwachsenen/Profis keine negativen, abwertenden Bezeichnungen erhalten. Vielmehr kommt es von Seiten des Profis auf die akribische Recherche von jeder noch so kleinsten Ressource und der Förderung jeglicher positiver Motivation an, wann immer Hilfestellungen und Anleitungen zum Umgang mit belastenden oder bedrohlichen Situationen gegeben werden! Unter anderem wirkt dabei die Ressource am günstigsten, über die Erwachsene reichhaltig verfügen und die wesentlich effektiver ist als rigide Ge- oder Verbote: Humor! 18.3.1 Motivation Wie können Jugendliche für ein adäquates Krankheitsmanagement und die Teilnahme an qualifizierten Schulungen motiviert werden? Mit Sicherheit nicht durch (inadäquaten) Druck von außen! Jugendliche erwarten vielmehr Hilfe bei dem Prozess, Nutzen und Risiken gegeneinander abzuwägen und danach zu einer eigenen Entscheidung zu gelangen. Hierzu gehört die Gelegenheit, eigenes Wissen auffrischen zu dürfen, Zeit für Diskussionen, Erfahrungsaustausch und das Erleben von Auswirkungen der Erkrankung eingeräumt zu bekommen. Außerdem bedarf es der Freiheit zu Eigenständigkeit, Selbstwirksamkeitserfahrungen und abgewägter Umsetzung therapeutischer Vorgaben und Notwendigkeiten. Als besonders lerneffizient hat sich die Ermöglichung von erlebten Selbsterfahrungen (auch von kurzfristigem Missmanagement) erwiesen. Wissen kann gleichsam durch gedankliche und emotionale Auseinandersetzung erworben werden. 18.3.2 Therapieziele Durch die Vermittlung und Entwicklung neuer altersangemessener Bewältigungsformen des Asthma bronchiale wird eine Steigerung der Lebensqualität, bedingt durch eine weitgehend alterstypische Teilhabe am sozialen Alltag angestrebt. Weiter werden Perspektiven für eine befriedigende Lebensgestaltung entwickelt und ein Krankheitsmanagement in Richtung autonomen Handelns implementiert. Nicht zuletzt durch die Übernahme von Eigenverantwortung des Jugendlichen erfolgt eine weitgehende emotionale Entlastung für die Eltern. Hierbei kann die Teilnahme an strukturierten Patientenschulungen einen wesentlichen Beitrag liefern.
152
Kapitel 18 · Asthma bronchiale
18.3.3 Patientenschulung Eine effektive Patientenschulung hat zum Ziel, dem betroffenen Jugendlichen bei seinem Krankheitsmanagement die erforderlichen Hilfestellungen zu geben. Unter den mannigfaltig veränderten Bedingungen des Jugendalters ergeben sich im Vergleich zur Patientenschulung mit jüngeren Kindern grundlegende Fragen zu deren Übertragbarkeit und erforderlichen Standards für das Lebensalter der Adoleszenz. Settingbedingungen Elternunabhängig
So ist beispielsweise denkbar und ratsam, dass Freunde mit an der Schulung beteiligt werden, wenn dies der Motivation des Betroffenen einerseits und dem Support des Krankheitsmanagements andererseits dienlich scheint. Event-orientiert statt »klassischer« Schulung
Eine Schulung im klassischen Sinne wird deutlich unterlegen sein gegenüber der wesentlich motivierenderen Variante im Rahmen von Hüttenwochenenden, Sommercamps, Segelwochen mit Begleitschulung etc. Medieneinsatz
Integriert in die Schulung oder in deren Rahmen immer wieder hingewiesen werden sollte auf niedrigschwellige, jugendlichentypische Medien, insbesondere im Rahmen des Internets. So besteht z. B. für Jugendliche mit atopischer Dermatitis ein Forum bei http://www.rette-deine-haut.de. Für Asthma ist etwas Vergleichbares derzeit in Überarbeitung durch INA, Berchtesgaden. Inhalte der Schulung Diese müssen das fortgeschrittene Entwicklungsalter berücksichtigen hinsichtlich: 4 Krankheitskonzept 4 Körperschema 4 Selbstkonzept des Jugendlichen 4 Kontrollüberzeugungen (health beliefs) 4 Somatischer Befunde 4 Medikamentöser Therapie (7 oben) 4 Emotionaler Grundbefindlichkeit und emotionalem Widerstand 4 Gefühlsausdruck 4 Sich wandelnder Bedeutung des Familiensystems 4 Peergroup
18
Wenn dem Jugendlichen dabei Unterstützung zuteil werden soll, dass er auch mit Asthma bronchiale eine normale Teilhabe am Leben erfahren kann, sind folgende Schulungsinhalte obligat: 4 Wesentliche Kenntnisse über die Erkrankung und Sinnhaftigkeit der medikamentösen Therapie 4 Wahrnehmung auslösender Bedingungen und präventiver Vermeidungsstrategien 4 Fertigkeiten zum Management der asthmabezogenen emotionalen Belastungen 4 Anleitung zu einer gelingenden Akzeptanz der Erkrankung mit variablem Verlauf 4 Krankheitsmanagement innerhalb des familiären Systems 4 Übernahme von Eigenverantwortung 4 Integration der Erwartungen der Peergroup
4 Positive Erfahrungen mit dem eigenen Körper (z. B. durch täglich geübte, bewältigbare Belastungssituationen) 4 Spaß und Lust an Bewegung 4 Erkennen von Belastungsgrenzen 4 Sichere Gerätehandhabung 4 Stressmanagement 4 Krisenmanagement Für letzteres bietet die Anleitung zu einer sicheren Wahrnehmung von Prodromi einer Atemnot eine gute Voraussetzung. Wichtiges Prüfkriterium für den Nutzen aller erarbeiteten Inhalte stellt jeweils die Handlungsrelevanz für den erlebten Alltag dar. Dies bestimmt maßgeblich das Interesse, die Motivation und die Konzentrationsbereitschaft der Jugendlichen. Und zwar sowohl kurzfristig im Schulungsverlauf als auch langfristig beim Umgang mit ihrer Erkrankung. Methoden Die in Erwachsenenschulungen üblichen frontalen Vorträge mit Unterstützung aktueller Medien (Overhead, Powerpoint etc.) sind für Jugendliche nur äußerst begrenzt sinnvoll einsetzbar, zumal wenn sie den Spaßfaktor vermissen lassen. Konkretisierende Elemente aus der Kinderschulung nach dem Modell der Arbeitsgemeinschaft Asthmaschulung Osnabrück e.V. wie Handpuppe, Zauberstab und Bronchientunnel wirken ebenfalls nicht entwicklungsaltersadäquat. In der Methodenauswahl sollten vielmehr durch abstraktere Methoden wie Collagen, Quizspiele, Brainstorming, Wandzeitung, Mind Mapping, Rollenspiele mit wechselnder Rollenübernahme (z. B. Arztbesuch) und Pantomime, kreative Techniken zur anatomischen Formung, Videospot-Herstellung, Schulungs-Vernissagen oder SchulungsGazette, Talkshows und Interviewtechniken dem fortgeschrittenen Entwicklungsstand Jugendlicher Rechnung getragen werden. Psychodramatische Elemente wie stellvertretendes Aussprechen, spiegeln, doppeln, Situationen einfrieren oder leerer Stuhl können eine Ganzheitlichkeit auf allen Erlebensebenen sicherstellen. Emotionale Arbeit wird begünstigt durch den Einsatz von Malen, Musikmeditation, Fantasiereisen oder körperbezogenen Übungen wie z. B. Atemgymnastik. Interaktionsspiele nach fest vereinbarten Regeln fördern ein wertschätzendes Klima gegenseitiger Akzeptanz und ermöglichen die nachfolgenden Lernschritte. Informationsvermittlung bzw. -erarbeitung einerseits und Austausch über das emotionale Erleben andererseits fördern die ganzheitliche Auseinandersetzung mit dem bisherigen Krankheitsmanagement und seiner höherwertigen Güte im Vergleich mit den Managementansätzen der übrigen Gleichaltrigen. Unbedingt im Vordergrund sollten Gruppenkohäsion und die Förderung selbständiger Arbeitsweise stehen. Kompetitive Anforderungen, gepaart mit Spaß und Humor liefern ebenso altersangemessene Anreize wie operante Verstärker für den Gewinner der jeweiligen Spiel- oder Quizrunden. Vertiefendes Lernen durch Wiederholung der Inhalte kann Raum finden, indem eine bewertende Jury die Punktevergabe nochmals öffentlich diskutiert. Veranschaulichung erleichternde Hilfsmittel wie Kursbuch, Schulungsmappe, Pinnwände, Steckbrief, konkrete Demonstration der Asthmaauslöser und Symbolik für Medikamente finden darüber hinaus einen ebenso sinnvollen Einsatz wie auch in der Erwachsenenschulung. Im Rahmen des erforderlichen kognitiven Zugewinns durch die Schulung ist es wichtig, die kritisch hinterfragten ehemals kindlichen Attributionsmuster weiterent-
153 18.4 · Berufsfindung und Berufswahl
wickeln zu helfen in Richtung internaler Kontrollüberzeugungen auf der Basis von ganzheitlichem Selbstwirksamkeitserleben. Ein sehr wichtiger Schwerpunkt der Schulung sollte insbesondere auf dem moderierten Erfahrungsaustausch der Jugendlichen mit Asthma bronchiale liegen, etwa im Sinne eines Diskussionsforums, bei dem es sich inhaltlich viel um deren subjektives Erleben der Erkrankung und nachfolgend immer um die individuellen Managementversuche dreht. Emotionen auszudrücken wird manchmal über den Umweg einer paradoxen Methodik (z. B. Anti-Werbe-Spot für Asthmamedikamente) erleichtert. Die Kritikfähigkeit wird dadurch gefördert, dass jeder Jugendliche im Abgleich mit den anderen zu entscheiden lernt, von welchen irrigen Vorstellungen und Mythen er sich in der Folge trennen kann (insbesondere Verniedlichungen und unrichtige Kausalzusammenhänge). In der Regel entstehen durch dieses verantwortungsfordernde Vorgehen handlungsrelevante Veränderungsperspektiven für ein effektives Selbstmanagement. Auf alle Fälle sollte dabei Wert darauf gelegt werden, dass ressourcenorientiert vorgegangen wird. Die Fokussierung auf Stärken, Kenntnisse und Fähigkeiten dient der Förderung eines positiven Selbstkonzeptes der Jugendlichen. ! Auf der Ebene des subjektiven Körperempfindens muss unbedingt sichergestellt werden, dass die jugendlichen Schamgrenzen gewahrt bleiben und Jugendliche weder Gesichtsverlust noch körperlich unangenehme Situationen durch den Trainer aufoktroyiert bekommen. Kritische Punkte können (insbesondere bei koedukativen Gruppen) gegenseitiges Abhören, Körperkontakt (Lungendetektiv) auf nacktem Oberkörper bzw. Entspannungsübungen in Rückenlage oder als Partnerübung praktiziert darstellen.
18.4
Berufsfindung und Berufswahl
»Träume, Wünsche, Ideale...« Die Berufsfindung nimmt einen wesentlichen Teil der sozialmedizinischen Bedeutung des Asthma bronchiale ein. Die Bestimmungen des Jugendarbeitsschutzgesetzes sollen verhindern, dass Jugendliche durch den Eintritt ins Berufsleben Schaden erleiden. Dies wird dann bezogen auf Jugendliche mit Asthma bronchiale arbeitsmedizinisch so definiert, dass die spezifischen Risiken der in Frage kommenden Berufsausbildungen definiert werden und daraus selektiv ausschließende Empfehlungen resultieren. Diese ähneln häufig eher Verboten als akzeptableren handlungsleitenden Hinweisen. Derartige sekundär-präventive »Vorweg-Ausschlüsse« folgen einem absoluten Sicherheitsdenken, wie es ja auch im Jugendarbeitsschutzgesetz vorgesehen ist. Eine derartige Vorgehensweise entspricht jedoch keinesfalls den jugendtypischen Erfordernissen und Vorstellungen in einer Lebensphase, die eher geprägt ist vom Ausprobieren und Riskieren. Es bleiben innerhalb derartiger Axiomatik nur schlussfolgernde Empfehlungen für sog. »weiße-Kragen«-Berufe. In vielen Fällen stellt dies keinesfalls die ultima ratio dar, zumal wenn Jugendliche andere Vorstellungen und Ideale bezüglich Begrenzungen und Status sowie anderweitig gelagerte Ängste, Träume, Wünsche oder Ideale haben. Ein sinnvolleres Prozedere bietet sich daher in Form einer differenzierten Risikoeinschätzung innerhalb bestimmter Berufsfelder und anschließender Kommuni-
18
kation derselben in Richtung des betroffenen Jugendlichen. Statt einer dichotomen Unterteilung in geeignete und ungeeignete Berufe stellen sich unter Berücksichtigung individueller Faktoren drei unterscheidbare Berufsrisikogruppen dar, die jede für sich unterschiedliche Schlussfolgerungen nach sich ziehen. Es bietet sich an, im Zuge einer geeigneten Veranschaulichung, diese drei Kategorien in Analogie zur allseits bekannten Verkehrsampel in »rot, gelb und grün« einzuteilen. Völlig unbedenkliche Berufe sind in der »grünen« Kategorie zusammengefasst und entsprechen weitgehend den erwähnten »weiße-Kragen«-Berufen. Die als allergologisch besonders bedenklichen Berufe mit hohen Allergenbelastungen in der Arbeitswelt wie Bäcker, Verkäufer mit spezialisierten Belastungen oder Beschäftigter im Gesundheitsdienst erhalten die Farbe »rot« und kommen auch nicht in Frage, falls weitergehende (Schutz-)Maßnahmen ergriffen werden könnten. Hier greift also in Bezug auf die »Hochrisikoberufe« tatsächlich das selektive Prinzip. »Gelb« bedeutet hingegen, dass unter bestimmten (schützenden) Voraussetzungen der Arbeitsplatz allergen- bzw. belastungskontrolliert zur Verfügung stehen könnte. Somit gilt das vorhandene Risiko als abschätzbar. Dasselbe Prinzip gilt übrigens auch für den kognitiven Leistungsbereich: Falls Berufe aus dem »grünen« Bereich leistungsbedingt oder motivationsbedingt nicht erreichbar scheinen, können Jugendliche für ähnlich attraktive Berufe aus dem »gelben« Bereich durchaus gewonnen werden und innerhalb dieser Zielplanung auch zum Lernen für den Beruf begeistert werden, zumal wenn der »gelbe« Bereich das individuell maximal erreichbare Ziel darstellt. Grundsätzlich sollten bei der Berufswahl folgende Kriterien Beachtung finden: Der Beruf sollte abwechslungsreich sein, er sollte Beschäftigungsalternativen bieten und den Quereinstieg in andere Berufszweige ermöglichen. Dies bedeutet konkret für den Berufseinsteiger mit Asthma bronchiale, der dauerhafte Expositionen mit denselben Allergenen oder Irritantien meiden sollte, zunächst eine Suche nach Alternativen im selben Berufsfeld. Beispielsweise wären Metallbauer oder Schweißer grundsätzlich der »roten« Gruppe zuzurechnen, während andere gestalterische Berufe durchaus »gelb« oder »grün« zu bewerten sind. Weiter wäre bei auftretenden gesundheitlichen Problemen am Arbeitsplatz aufgrund nicht zu verhindernder Exposition von Allergenen oder Irritantien oftmals schon durch Wechsel des Arbeitsplatzes ein Verbleib im Beruf denkbar. Beispielsweise könnte der gelernte Metallbauer von der Produktion in die Warenendkontrolle wechseln oder die gelernte Hotelfachfrau an der Rezeption oder im Büro desselben Unternehmens weiterarbeiten. Ist ein Verbleib im ursprünglichen Beruf gesundheitlich überhaupt nicht mehr möglich, kann unter Umständen nach Erlangen einer Zusatzqualifikation in einen anderen, weniger problematischen Beruf gewechselt werden. Prozedere: Entsprechend sollte beim konkreten Prozedere der Berufs- bzw. Ausbildungswahl neben allgemein zu beachtenden Eignungskriterien wie schulischer Qualifikation oder kognitiver Entwicklungsstand auch der Atemwegserkrankung Rechnung getragen werden: Neben der generellen Eignung muss das allgemeine allergische Risiko abgeschätzt werden. Danach gilt es, innerhalb der Teilberufe zu differenzieren und im Weiteren die Einzeltätigkeiten, die möglich wären, kritisch in Hinblick auf sämtliche Gefährdungspotentiale zu betrachten. Danach gilt es bei der Klassifikation »gelb« mögliche Schutzmaßnahmen zu überprüfen. Insbesondere betrifft dies den Atemschutz, aber auch Hautschutz wird bei Asthma bronchiale empfohlen wegen
154
Kapitel 18 · Asthma bronchiale
des Risikos eines generalisierenden Ekzems. Auch mögliche Beschäftigungsalternativen sind gegebenenfalls zu erörtern. Danach sollte ein Check der konkreten Situation im angestrebten Ausbildungsbetrieb erfolgen. So liegen beispielsweise zwischen der Situation in einem modernen Kfz-Betrieb mit Abgasableitung und jener in einer Hinterhofwerkstatt oft Welten in Bezug auf die allergische Risikoeinschätzung. Bei diesen individuellen Klärungen kann auch der Reha-Berater der Arbeitsagentur vor Ort ein wichtiger Informationsgeber und Mithelfer sein. Hinsichtlich der Risikoabschätzung auf Seite des Jugendlichen ist der Schweregrad des Asthma bronchiale ebenso relevant wie bekannte Auslösefaktoren und Umgebungsbedingungen im Freizeitbereich (insbesondere Rauchen, Tierhaare etc.). Die Güte der bisherigen Bewältigungsstrategien der Erkrankung sollten ebenfalls in die Berufsentscheidung einbezogen werden. Hierbei sind als Indikatoren für das erfolgreiche Bestehen beruflicher Anforderungen besonders zu beachten die Auslöservermeidung, Selbstwahrnehmung und Compliance.
18.5
Beziehungen und Partnerschaft
»Und wer liebt mich?« Im Zuge der Auseinandersetzung mit dem näher rückenden Erwachsenenleben und Lebenszielplanungen treten auch Fragen hinsichtlich Partnerschaft und Familiengründung auf. 4 Wie, wann oder überhaupt informiere ich meinen Partner, meine Partnerin? 4 Leiden Freundschaften/Beziehungen unter der Erkrankung? 4 Attraktivität; attraktiv sein mit Asthma? 4 Selbstwirksamkeitserfahrungen? 4 Selbstbild und Krankheitsmanagement? 4 Erblichkeit des atopischen Geschehens: Darf ich Kinder haben? 4 Prognose der Erkrankung? Bei der Suche nach Antworten ist es wichtig, dass der betroffene Jugendliche von Erwachsenen nicht alleine gelassen wird, sondern vielmehr ein geduldig zuhörendes Gegenüber antrifft. Dieser sollte sich den zukunftsgewandten Problematiken mit problemlösezentrierter Hilfe bei der Suche und individuellen Ratschlägen annehmen.
18.6
Sport
»Allenfalls als Torwart...«
18
Die Zeiten, als betroffene Jugendliche mit Asthma bronchiale sich mit dem Motto konfrontiert sahen »Asthma oder Sport«, sind noch nicht ganz den nunmehr mehrfach gesicherten Erkenntnissen gewichen, dass gerade bei der Diagnose Asthma der täglichen Ausübung von körperlicher Belastung eine wichtige Bedeutung zukommt. Das Entweder–Oder schwindet allerdings zugunsten eines förderlichen Sowohl–als-auch. Davor waren Jugendliche nämlich oftmals ausgeschlossen oder durften bei den populären Ballsportarten allenfalls als Torhüter mitwirken. Manche wählten ihr Schicksal als Sportmuffel oftmals aus allerlei schlechten (meist
sozialen, seltener pulmonalen) Erfahrungen heraus und kaprizierten sich lieber als Computerfreak oder Philatelist denn als Korbjäger im Basketball. Mit der Erkenntnis der Sinnhaftigkeit von körperlichen Belastungen auch für den Jugendlichen mit Asthma bronchiale wuchs die Unsicherheit nach der geeigneten Sportart. Diese Frage ist hinreichend dahingehend beantwortet, dass sich vor allem solche Sportarten als geeignet erweisen, die dem Betroffenen Spaß versprechen und seine soziale Integration gleichermaßen begünstigen. Der Schwerpunkt bei der Auswahl liegt also weniger in Techniken, Belastungen oder andersartigen Randbedingungen.
18.7
Jugendtypische Risikofaktoren
»Zu guter Letzt« Im Jugendalter bestehen weitere Anfordernisse der Peergroup, die den Bedingungen an Allergenkarenz oder Therapiemanagement entgegen stehen können (u. a. Aktiv- und Passivrauchen). Hier gelten ganz besonders die obigen Ausführungen zur Compliance (7 Abschn. 18.2) mit der wesentlichen Ergänzung, dass die erforderliche Motivation zu einem sinnvollen Krankheitsmanagement bei mangelnder intrinsischer Motivation durch professionelle Unterstützung und unter den o. g. Bedingungen weniger ad hoc situativ als vielmehr geduldig prozessual entwickelt werden kann.
Literatur Havighurst RJ (1982) Developmental tasks and education (1st ed. 1948). Longman, New York Hirsch A (1995) Von der Compliance zum Empowerment: Entwicklungen in der Diabetesberatung. Zeitschrift für Medizinische Psychologie 3/1995 Nationale Versorgungs-Leitlinie Asthma bronchiale http://www. azg. de Riedinger N (2004) Motivation von Jugendlichen in der Asthmaschulung. Praxis Asthmaschulung Süd, 2. Jahrgang, Heft 2/2004
155
19
19 Diabetologie und Schilddrüse K. Hartmann
))
19.1
Stoffwechselerkrankungen bei Kindern und Jugendlichen werden durch unterschiedliche Faktoren ausgelöst. So können Stoffwechselveränderungen, beispielsweise durch hormonelle Umstellungen in der Pubertät oder Übergewicht, nicht nur den Verlauf bereits vorliegender Störungen und darüber hinaus das Verhalten bzw. die Compliance der Patienten beeinflussen, sondern auch die Entwicklung bestimmter Folgeschäden fördern.
Festgestellt wurde beispielsweise, dass es bei jugendlichen Diabetikern in der Pubertät zu einer beschleunigten Entwicklung von Retinopathien kam und dass bei übergewichtigen Jugendlichen das Fettgewebehormon Leptin als Botenstoff der Pubertätsentwicklung eine wesentliche Rolle spielt. Bei der pädiatrischen Behandlung und Betreuung der Patienten müssen allerdings neben den medizinischen Sachverhalten auch insbesondere die psychischen und sozialen Umstände der Kinder und Jugendlichen berücksichtigt werden. Die eingehende Kenntnis der wichtigsten Krankheitsbilder, deren Folgen und Auswirkungen auf den jugendlichen Stoffwechsel und evtl. Spätfolgen sind in der Praxis unerlässlich.
Typ 1-Diabetes mellitus
19.1.1 Epidemiologie und Ätiologie Der Typ 1-Diabetes mellitus ist verbunden mit einer irreversiblen Zerstörung der Insulin produzierenden Betazellen der Bauchspeicheldrüse und geht mit einer lebenslangen Insulinabhängigkeit einher. In Europa steigt die Inzidenz jährlich um rund 3,2% an, bei Kindern im Alter zwischen 0 und 4 Jahren sogar um rund 4,8% (Green 2001) und in den westdeutschen Bundesländern wurden zwischen 1987 und 1997 bereits 12‒14 Neuerkrankungen pro 100.000 Einwohner und Jahr registriert, verglichen mit ca. 7‒8 Neuerkrankungen pro 100.000 Einwohner/Jahr in den ostdeutschen Bundesländern (Neu 1997). Die Gründe für diesen Anstieg sind unbekannt. Es scheint allerdings einen Zusammenhang zwischen dem Wachstum in den ersten Lebensjahren und dem Auftreten von Typ 1-Diabetes zu geben, d. h. ein erhöhtes Körpergewicht und eine erhöhte Körpergröße waren mit einem erhöhten Diabetesrisiko assoziiert (Eurodias Substudy 2 Study Group, Diabetes Care 2002). Als Ursache für die Entstehung des Typ 1-Diabetes mellitus wird eine Autoimmunreaktion gegen die Insulin produzierenden Betazellen des Pankreas diskutiert. Diese beginnt lange vor Ausbruch der Erkrankung und hat zur Folge, dass zum Zeitpunkt der ersten klinischen Symptome bereits etwa 80% der Betazellen irreversibel zerstört sind. Wodurch diese Zerstörungsreaktion ausgelöst wird, ist nicht geklärt; diskutiert werden u. a. umwelt- und ernährungsbedingte Faktoren sowie bestimmte Virusinfektionen (. Abb. 19.1).
+/– Insulitis;
. Abb. 19.1. Pathogenese des Typ 1-Diabetes. (Mod. nach Atkinson 2001): Das moderne Modell der Entstehung eines Typ 1-Diabetes geht von ineinander übergehenden Pathogenese-Ereignissen aus, wobei Umweltfaktoren keine einmalige Auslöserfunktion mehr spielen, sondern
langfristig mit genetischen und immunologischen Faktoren interagieren. (IAA Insulinautoantikörper; GAD-Ab Antikörper gegen Glutamatdecarboxylase; ICA Inselzellantikörper; IVGTT Intravenöser Glukosetoleranztest)
156
Kapitel 19 · Diabetologie und Schilddrüse
19.1.2
Serologie
Der autoimmune Ursprung der Erkrankung wird serologisch durch das Vorhandensein einer Reihe von Autoantikörpern gegen Inselzellbestandteile unterstützt. Diese Autoantikörper lassen sich laborchemisch bereits lange vor der Manifestation der Erkrankung nachweisen. Von prädiktivem Wert sind vor allem Autoantikörper gegen Inselzellen (ICA), Insulin (IAA) und die Betazellenzyme Glutamatdecarboxylase (GADA) und Tyrosinphosphatase (IA2-A). Eine kombinierte Testung verschiedener Autoantikörper (GADA ± IA2-A oder GADA±IAA) kann mehr als 85% der Fälle mit zukünftigem oder neumanifestem Typ 1-Diabetes identifizieren bzw. bestätigen. Im Kindesalter gehen die Insulinautoantikörper den Antikörpern gegen GAD oder IA2-A häufig voraus bzw. stellen sogar die einzigen nachweisbaren Antikörper dar. 19.1.3 Genetik ! In Deutschland liegt das Risiko, an einem Typ 1-Diabetes mellitus zu erkranken, bei etwa 0,4%. Ist bereits ein Verwandter ersten Grades an Typ 1-Diabetes erkrankt, erhöht sich das Risiko um das 10fache.
Diabetes gilt als polygene Erkrankung. Es ist jedoch schon länger bekannt, dass Gene innerhalb des »Human Leukocyte Antigen«(HLA)-Komplexes auf Chromosom 6, im Speziellen in der Klasse-II-DR- und DQ-Subregion, Risikofaktoren für die Entwicklung von Typ 1-Diabetes darstellen. Die Gene des HLA-Komplexes machen etwa die Hälfte des genetischen Risikos für die Entwicklung eines Typ 1-Diabetes aus. Daneben gibt es mehr als 20 Genloci, die in unterschiedlichen Populationen mit der Erkrankung assoziiert worden sind. Diese Regionen befinden sich auf verschiedenen Chromosomen und werden als IDDM1– IDDM18 bezeichnet. Viele der auf diesen Loci vorhandenen Gene sind derzeit noch unbekannt und ihr Einfluss auf die Entstehung des Diabetes ist im Vergleich zum HLA als eher schwach einzustufen. 19.1.4 Diagnose und Therapie Früherkennung Durch die serologische Bestimmung von Autoantikörpern und die genetische Bestimmung des HLA-Haplotyps besteht heute die Möglichkeit einer sehr exakten Früherkennung des Erkrankungs-
risikos. Speziell bei Kindern vor dem 10. Lebensjahr sollten die Tests zur Risikoerkennung den Nachweis der sehr früh vorhandenen Insulin/Inselzellautoantikörper und der Antikörper gegen das GAD-Enzym umfassen. Die betreffenden Kinder und Jugendlichen erhalten dadurch beispielsweise die Möglichkeit, an Studien teilzunehmen, in denen Ansätze zur Prävention der Zerstörung der Betazellen getestet werden. Im Hinblick auf Spätkomplikationen sollte von Anfang an eine bestmögliche Normalisierung des Blutzuckers angestrebt und die Kinder entsprechend darauf vorbereitet werden. ! Zur Früherkennung von Kindern und Jugendlichen mit erhöhtem Diabetesrisiko sollte ein Kombinationstest von Autoantikörpern durchgeführt werden (GAD-Antikörper + Insulin/Inselzellautoantikörper oder GAD-Antikörper + IA2-Antikörper). Für Kinder wird ein Test auf Insulinautoantikörper empfohlen.
Ersteinstellung Typische Anzeichen eines Typ 1-Diabetes sind Gewichtsverlust, häufiges Harnlassen und verstärkter Durst sowie zunehmende Schwäche und Müdigkeit, die 2‒3 Wochen anhalten. Durch laborchemische Untersuchungen werden Glukosurie, Azetonurie und ein vom Zeitpunkt der letzten Nahrungsaufnahme unabhängiger Plasmaglukosespiegel über 11 mmol/l festgestellt. Bei 25‒40% der Patienten mit einer Neumanifestation des Diabetes liegt eine diabetische Ketoazidose, d. h. ein erhöhter Spiegel an Ketonen im Harn und Plasma, vor. Anzeichen dafür sind Erbrechen, Dehydrierung, Kurzatmigkeit, Bauchschmerzen oder Veränderungen des Bewusstseinszustandes. Diabetische Ketoazidose geht mit einem erhöhten Risiko für ein zerebrales Ödem einher; die Korrektur der diabetischen Ketoazidose über Zuleitung von Flüssigkeit, Natriumbikarbonat und Insulin ist daher imperativ. Bei schwerer Ketoazidose sind unter Umständen hohe Insulinsdosen zur Normalisierung des Blutzuckers erforderlich. Nach der Diagnose eines Typ 1-Diabetes erfolgt die stationäre Aufnahme in eine Klinik für Kinderheilkunde und Jugendmedizin. Während des etwa 2-wöchigen Krankenhausaufenthaltes wird der Stoffwechsel der Patienten durch tägliche Insulininjektionen, meist morgens und abends, und eine Ernährungsschulung neu eingestellt. Die Kinder und Jugendlichen werden dazu angehalten, die Wirksamkeit der Stoffwechselumstellung mehrfach täglich selbst zu kontrollieren (. Tab. 19.1). Diese Schulung schließt auch die Eltern mit ein, die nach dem Klinikaufenthalt ihres Kindes die Veränderung eines möglicherweise ungünstiges Bewegungs- und Ernährungsverhalten unterstützen sollten.
. Tabelle 19.1. Überwachung des Blutzuckerspiegels
19
Täglich
Gegebenenfalls zusätzlich
Vor dem Frühstück
Während der Nacht (Mitternacht, 3 Uhr morgens)
Vor dem Mittagessen
Postprandial (nach 2 Std.)
Vor dem Abendessen
Vor dem Einnehmen einer Zwischenmahlzeit
Vor dem Zubettgehen
Nach der Schule Bei Veränderungen der täglichen Gewohnheiten, auf Reisen, bei Krankheit mehrmals täglich Messung der Harnketone bei Krankheit, anhaltender Hyperglykämie, etc.
157 19.1 · Typ 1-Diabetes mellitus
19
. Tabelle 19.2. Verlaufsphasen und Insulinbedarf
Verlaufsphase
Dauer
Insulinbedarf pro Tag (Internationale Einheiten/kgKG)
Initialphase Remissionsphase (stabil/labil) Postremissionsphase
1–2 Wochen Bis zu 4 Jahre Lebenslang
0,5–1,5 Bis 0,8 >0,8
Anmerkung: Die angegebenen Werte sind Richtwerte, individuell kann der Insulinbedarf bei Patienten unterschiedlich hoch sein.
Erfahrungsgemäß kommt es nach der Ersteinstellung bei frisch diagnostiziertem Diabetes zu einer bis zu mehrere Jahre andauernden Remissionsphase, die in einzelnen Fällen den Insulinbedarf auf wenige Einheiten reduziert. Dies ist darauf zurückzuführen, dass sich die Betazellen des Pankreas infolge der medikamentösen Ruhigstellung wieder erholen und vorübergehend wieder Insulin produzieren. Der Autoimmunprozess als Grundlage der Erkrankung setzt sich jedoch fort, so dass es im Laufe der Zeit es zu einer fortschreitenden Degeneration der Insulin produzierenden Zellen kommt. Danach steigt auch der Insulinbedarf wieder deutlich an. Dauer der einzelnen Phasen und der jeweilige durchschnittliche Insulintagesbedarf sind in . Tab. 19.2 aufgeführt.
von Hormonen, die den Glukosespiegel ansteigen lassen. So wird beispielsweise bei katabolen Stoffwechselsituationen, wie Infektionen, Krankheiten, Operationen, Stress etc. mehr Insulin ausgeschüttet, um den Glukosegehalt im Blut stabil zu halten und den anabolen Zustand wiederherzustellen. Diesem erhöhten Bedarf muss daher durch eine kurzfristige Anpassung der Insulingabe entsprochen werden. Zur Nachahmung der Dynamik des physiologischen Insulinbedarfs stehen heute eine Reihe unterschiedlicher Insulinpräparate und Therapiemodelle zur Verfügung. Sie unterscheiden sich im Wesentlichen in der Art ihres Wirkungsverlaufs, d. h. es gibt langsam und schnell wirkende Insuline. Eine Zusammenfassung der Eigenschaften dieser Insuline enthält . Tab. 19.3.
Insulinsubstitution Die Grundlage der Therapie des Typ 1-Diabetes ist die Insulinsubstitution. Das kurzfristige Ziel einer solchen Insulinsubstitutionstherapie neben der Normalisierung des Blutzuckers ist die optimale Kontrolle der Glukoseproduktion der Leber und die Gewährleistung einer ausreichenden Verwertung der aufgenommenen Kohlenhydrate. Das langfristige Ziel ist die Prävention von Spätkomplikationen. Idealerweise würde man Insulin so substituieren, wie es der normalen täglichen Insulinausschüttung entspräche. Diese hängt primär von 3 Parametern ab, der Nahrungszufuhr, der körperlichen Aktivität und der Ausschüttung
Wahl der Insulintherapie Üblicherweise wird je nach Insulinbedarf, Tagesablauf und den individuellen Gewohnheiten der Patienten eine Behandlung mit 2‒4 Insulininjektionen pro Tag durchgeführt. Dies erfolgt in der Regel mit einer Kombination aus mahlzeitenabhängigem, schnell wirksamem Insulin und mahlzeitenunabhängigem Basalinsulin, wobei die tägliche Gesamtdosis individuell verschieden ist (zwischen 0,5 und 2 Einheiten/kg pro Tag). In der Praxis wird im Wesentlichen zwischen zwei Konzepten unterschieden: der konventionellen und der intensivierten Insulintherapie (auch Basis-Bolus-Therapie genannt).
. Tabelle 19.3. Einsetzgeschwindigkeit und Dauer der Wirkung der Insuline
Insulinpräparat
Dauer bis zum Einsetzen der Wirkung
Peak [Std.]
Wirkungsdauer [Std.]
Maximale Dauer der Wirkung [Std.]
Schnellwirkende Insulinanaloga Lispro
15–30 Min.
1–2
3–5
4–6
Aspart
15–30 Min.
1–2
3–6
5–8
Normalinsulin
30–60 Min.
2–4
3–6
6–8
NPH
2–4 Std.
8–10
10–18
14–20
Lente
2–4 Std.
8–12
12–20
14–22
6–10 Std.
10–16
18–20
20–24
1–2 Std.
Keine
19–24
24
Intermediärinsuline
Langwirkende zinkverzögerte Insuline Ultralente Basalinsulin Glargin
158
Kapitel 19 · Diabetologie und Schilddrüse
. Tabelle 19.4. Merkmale der konventionellen Insulintherapie im Vergleich zur intensivierten Insulintherapie
Merkmale
Konventionelle Insulintherapie
Intensivierte Insulintherapie
Anzahl der Injektionen pro Tag Anteil an schnell wirkendem Insulin Anteil an Basalinsulin Ernährung
1–2 30–40% 70–60% Diät
4 70–60% 30–40% Beliebig
Konventionelle Insulintherapie. Die konventionelle Insulinthe-
rapie setzt sich aus einem schnellwirkenden Insulin und einem langwirkenden Insulin zusammen, wobei das langwirkende Insulin überwiegt (. Tab. 19.4). Der Nachteil der konventionellen Therapie ist die starre Insulinwirkung, es müssen unter Umständen häufige Zwischenmahlzeiten eingenommen werden, um eine Unterzuckerung zu verhindern. Intensivierte Insulintherapie. Bei der intensivierten Insulintherapie dagegen erfolgt die Insulingabe nach Bedarf. Dabei bleibt die Dosis an Langzeitinsulin gleich und deckt den Grundbedarf an Insulin ab. Vor jedem Essen wird zur Ergänzung schnellwirksames Normalinsulin gespritzt. Es sind in der Regel keine Zwischenmahlzeiten erforderlich. Zur Vermeidung nächtlicher Hyperglykämien wird am Abend vor dem Zubettgehen ein Depotinsulin gespritzt. Die intensive Therapie senkt die Rate an mikrovaskulären Folgeschäden, z. B. an Auge (Retinopathie), und Nieren (Nephropathie) sehr deutlich. Andererseits kann sich durch das häufige Spritzen das Hypoglykämierisiko und das Gewicht erhöhen. Besondere Vorsicht ist bei Verwendung von sofort wirksamen Insulinen, z. B. Lys-Pro Insulin, geboten, da Hypoglykämien sehr schnell und ohne Vorwarnung auftreten können. Eine intensivierte Insulinbehandlung erlaubt bei Kindern und Jugendlichen größtmögliche Flexibilität im Alltag und auch in der Ernährung. Lys-Pro Insulin kann auch nach dem Essen gespritzt und damit an die tatsächlich verzehrte Kohlenhydratmenge angepasst werden. Mit dieser Maßnahme kann das Unterzuckerungsrisiko reduziert werden. ! Die Indikation für konventionelle oder intensivierte Insulintherapie ist von psychosozialen und pädagogischen Gesichtspunkten aus gegeben. Die Entscheidung darüber, welche Therapieform gewählt wird, muss von Arzt, Jugendlichen und Eltern gemeinsam getroffen werden.
Zielwerte und Überwachung der Blutglukose Alle Patienten mit Typ 1-Diabetes, vor allem solche, bei denen eine intensivierte Insulintherapie durchgeführt wird, müssen ihren Blutzuckerspiegel regelmäßig messen (. Tab. 19.1). Dies muss mehrmals täglich geschehen, gegebenenfalls auch während der Nacht. Die Häufigkeit der Messung des Blutzuckerspiegels steht in direktem Zusammenhang mit der Kontrolle des Blutzuckers und einer guten Einstellung des Diabetes. Die modernen Blutzuckermessgeräte sind klein und handlich und liefern schnelle und genaue Ergebnisse. Außerdem sind sie weniger schmerzhaft. Die gewissenhafte Anwendung der Geräte und Aufzeichnung der Ergebnisse gibt Aufschluss über das Verteilungsmuster des Blutzuckerspiegels und ermöglicht eine bessere glykämische Kontrolle. Bei der Einstellung des Blutzuckers und des Spiegels an glykosyliertem Hämoglobin (HbA1c), dem zweiten wichtigen Parameter bei der Stoffwechselkontrolle, sollte man sich an die von den Diabetesgesellschaften festgelegten Zielwerte halten (7 aktuelle DDG-Leitlinien zur Therapie des Typ 1-Diabetes und . Tab. 19.5). Bei der Anpassung bzw. Intensivierung der Insulintherapie muss das Auftreten einer schweren Hypoglykämie, d. h. einer Unterzuckerung, vermieden werden. . Tab. 19.6 enthält ein Schema zur Vorgehensweise bei der Anpassung der Insulindosis. Generell sollten Veränderung der Therapiestrategie nur langsam erfolgen. ! Das Ernährungs- und Bewegungsverhalten sollte genau hinterfragt werden. Dies schließt auch die Erfragung von außerplanmäßigen Mahlzeiten ein. Bei Jugendlichen ist hier viel Gespür erforderlich.
Die Häufigkeit der Messung des Blutzuckerspiegels steht in direktem Zusammenhang mit der Kontrolle des Blutzuckers und einer guten Einstellung des Diabetes.
Die Insulinpumpentherapie wird kaum noch angewendet und daher hier nicht weiter besprochen.
. Tabelle 19.5. Zielwerte für Blutglukose und HbA1c. (Mod. nach Kaufman 2003)
19
HbA1c [%] (wird vom Arzt bestimmt)
Vor den Mahlzeiten in mg/dl [mmol/l]
Nach den Mahlzeiten in mg/dl [mmol/l]
Säuglinge, Kleinkinder
<7,5–8,5
100–180 [5,6–10]
<200 [11,1]
Kinder im Schulalter
<8,0
70 bzw. 80–150 [3,9 bzw. 4,4–8,3]
<200 [11,1]
Jugendliche, Teenager
<7,5
70–140 bzw.150 [3,9–7,7 bzw. 8,3]
<180 [10]
159 19.1 · Typ 1-Diabetes mellitus
19
. Tabelle 19.6. Schema zur Vorgehensweise bei der Anpassung der Insulintherapie 1. Anpassung der Insulindosis zur Korrektur eines abweichenden Blutglukosespiegels: Dabei werden Ausgangsdosis und Alter des Kindes berücksichtigt
Tägliche Gesamtdosis (Internationale Einheiten)
Alter (Jahre)
Anpassung (Internationale Einheiten)
<5 5–10 10–20 >20
<5 6–9 10–12 Jugendliche >12
0,25 0,50 1 1,5–2
– Diese Werte beziehen sich auf einen Blutzuckerspiegel, der 50 mg/dl (2,8 mmol/l) über dem Zielwert liegt. Bei entsprechend höheren bzw. niedrigeren Blutzuckerwerten wird diese Menge proportional erhöht bzw. verringert – Alle angegebenen Werte sind Richtwerte, individuell kann der Insulinbedarf bei Patienten unterschiedlich hoch sein 2. Anpassung der Insulindosis bei mehr Bewegung oder Sport – Reduktion der Insulindosis oder Zufuhr von mehr Kohlehydraten – Bei längeren körperlichen Aktivitäten benötigt ein Kind alle 30–60 Min. etwa 10–15 g Kohlenhydrate – Bei wiederholter, anstrengender körperlicher Tätigkeit (z. B. regelmäßiges Ausüben von Sport) muss die Insulindosis ggf. um 10–20% reduziert werden 3. Korrektur des Stoffwechsels durch Anpassung der Kohlehydratzufuhr – Bestimmung des Verhältnisses von Insulin: Kohlehydrate, d. h. wie viel Gramm Kohlehydrate benötigt 1 Einheit Insulin
19.1.5 Probleme und Anpassung
der Insulintherapie in der Praxis Unregelmäßiges Glukoseprofil und schlechte Eigenkontrolle des Blutzuckerspiegels Bereits unmittelbar nach der Ersteinstellung bzw. Neueinstellung des Diabetes bei Jugendlichen kann eine Veränderung des Bewegungs- und Ernährungsverhaltens im Vergleich zu der Situation in der Klinik ein Anpassung der Insulintherapie erforderlich machen. Dabei kann sich das Blutzuckerprofil in beide Richtungen verändern: Nachmittags kommt es häufig zu einem Anstieg der Glukosewerte, während am späten Vormittag ein Abfall beobachtet wird. Steigt der Glukosewert am späten Nachmittag ungewöhnlich an, könnte möglicherweise die Dosis des morgendlichen langwirksamen Insulins nicht mehr ausreichen und muss daher entsprechend angepasst werden. Morgendlich hohe Glukosewerte können zwei verschiedene Ursachen haben: 1. Die abendliche Dosis des langwirksamen Insulins reicht nicht aus und muss erhöht werden. 2. Es ist in der Nacht unbemerkt zu einer Unterzuckerung gekommen, die zu einer Stresssituation geführt hat. Die dadurch verursachte, vermehrte Ausschüttung von Cortisol induziert die Freisetzung von Glukose. In solchen Fällen ist es erforderlich, in der Zeit zwischen Mitternacht und 3 Uhr morgens 1‒2 Mal den Blutzucker zu kontrollieren. Ergeben sich niedrige Werte, sollte die abendliche Dosis des Langzeitinsulins reduziert werden. Steigt der Glukosewert am späten Nachmittag ungewöhnlich an, muss möglicherweise die Dosis des morgendlichen langwirksamen Insulins angepasst werden oder auch zum Mittagessen zusätzlich ein kurzwirksames Insulin gegeben werden. Bei morgendlich hohen Blutglukosewerten muss das nächtliche Blutglukoseprofil bestimmt und gegebenenfalls die abendliche Dosis des Langzeitinsulins angepasst werden. Ein allgemeines häufiges Problem ist die lasche Handhabung der Messung des Blutzuckers. Viele Diabetiker sind nach einiger
Zeit der Ansicht, ihr Blutzuckerprofil zu kennen und verabreichen die jeweilige Insulindosis nach Gefühl. Dies kann schwerwiegende Folgen haben. Selbst gefährliche Situationen werden oft verdrängt, sogar so weit, dass es im Einzelfall zu einem hypoglykämischen Schock kommt. In einem solchen Fall ist ärztliche Hilfe lebenswichtig. Cave Zu lasche Handhabung der Blutzuckermessungen kann in schweren Fällen eine lebensbedrohliche Hypoglykämie auslösen.
Ernährung und Sport Die Ernährung sollte auf sportliche Aktivitäten, die meist am Nachmittag stattfinden, Rücksicht nehmen. Besonders bei starker Anstrengung kann der Blutzuckerwert drastisch fallen und zu einer kritischen Situation führen. Zur Vermeidung dieser Probleme empfiehlt es sich, vor dem Sport eine kleine Menge Kohlehydrate (1‒2 BE) zu essen. ! Die Ernährung sollte an den Grad der körperlichen Aktivitäten angepasst werden. Diabetische Jugendliche sollten stets Traubenzucker und eine Glucagon-Fertigspritze für den Notfall bei sich haben.
Auch Freunde oder Sporttrainer sollten darüber informiert sein und wissen, wie man im Notfall, d. h. bei einer erkennbaren Unterzuckerung, reagieren sollte: Ist der Patient bei Bewusstsein, sollte sofort Fruchtsaft oder Traubenzucker gegeben werden; ist der Patient bewusstlos, ist sofort ein Arzt zu verständigen. Aus diesem Grunde sollten Diabetiker immer eine Ampulle Glucagon zur s.c. Notfallinjektion dabei haben. Riskante Sportarten sollten möglichst vermieden werden, da es auch zu einer Gefährdung beteiligter Personen kommen kann. An den Wochenenden, bei schlechtem Wetter und im Herbst bzw. Winter ändert sich sowohl das Freizeit- und Bewegungsverhalten als auch das Essverhalten, so dass sich häufig Hyperglykämien entwickeln.
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Kapitel 19 · Diabetologie und Schilddrüse
Cave Alkohol hemmt die Glukoneogenese und kann im Speziellen bei Diabetikern eine Hypoglykämie auslösen. Fatalerweise gleicht eine akute Unterzuckerung dem Zustand der Trunkenheit und wird häufig fehlinterpretiert. Ältere Jugendliche sollten daher darauf hingewiesen werden, Alkohol nie vor oder während dem Sport und auf leeren Magen zu sich zu nehmen; außerdem ist auf ausreichende Zufuhr von Kohlenhydratkalorien zu achten.
Psychosoziale Umstände Ein wichtiges Kriterium der Einstellung ist die Situation der betroffenen Jugendlichen in der Schule. Dabei spielen das soziale Umfeld und Leistungsdruck eine wichtige Rolle. Das zweite Frühstück in der Schule wird von Jugendlichen gerne »vergessen«; entweder absichtlich, aus Zeitmangel oder aus anderen Gründen. Damit ist die Gefahr einer Hypoglykämie am späten Vormittag gegeben, da die Wirkung des morgens verabreichten, langwirksamen Insulins nicht durch eine Zwischenmahlzeit abgeschwächt wird. Unterzuckerungen können dann zunehmende Konzentrationsprobleme nach sich ziehen und so die Schulleistungen negativ beeinflussen. Auch mehrstündige Klassenarbeiten oder ein spätes Unterrichtsende nach 13 Uhr und ein spätes Einnehmen des Mittagessens können eine Hypoglykämie auslösen. Für solche Situationen sollte immer ein Stück Obst oder Traubenzucker verfügbar sein, um eine Unterzuckerung zu vermeiden. ! Lehrer sollten die Einnahme von Zwischenmahlzeiten während des Unterrichts bei diabetischen Jugendlichen unbedingt gestatten.
Auch auf längeren Schulausflügen oder Ferienfreizeiten sollte das Bewegungs- und Ernährungsmuster wenn möglich nicht verändert werden. Unregelmäßigkeiten des täglichen Ablaufs führen immer zu ungünstigen Blutzuckerprofilen. Auch hier ist es hilfreich, wenn Lehrer oder Betreuer über die Situation informiert sind und den Jugendlichen zur Einhaltung seines Therapieschemas anhalten. Gerade bei Jugendlichen sind die zunehmenden abendlichen Aktivitäten häufige Auslöser von Stoffwechselentgleisungen. Ungewöhnliche Ernährung, z. B. Pizza oder Fastfood, oder Alkoholkonsum können den Glukosestoffwechsel negativ beeinflussen und müssen daher bei der Berechnung der Insulindosis miteinbezogen werden. Die intensivierte Insulintherapie bietet die Möglichkeit der Anpassung der Insulinzufuhr an die Nahrungszufuhr. Notfallausweise oder Notfallmedikamente werden nicht immer mitgenommen. Wichtig ist auch für solche Fälle, dass Freunde/Verwandte über mögliche Vorgehensweisen bei ernsthaften Problemen informiert sind.
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! Schulische Anforderungen sowie schulbedingte Aktivitäten, z. B. Ausflüge, können wegen Nichteinhaltung der Einnahme von Zwischenmahlzeiten oder Auslassen von Insulinspritzen Stoffwechselentgleisungen auslösen. Es ist daher auf eine Beibehaltung des normalen Ernährungsund Bewegungsmusters zu achten.
Die Subkutaninjektion von Insulin ist häufig mit einem wenn auch geringen Schmerz verbunden. Diabetiker neigen dazu, immer an den gleichen Stellen zu spritzen, da dort der Schmerz
geringer ist. Die Folge ist, dass es infolge der Insulinkonzentration lokal zu einer vermehrten Ansammlung von Unterhautfettgewebe und somit die Insulinresorption sinkt. Dies täuscht einem vermehrten Insulinbedarf vor. Es ist deshalb wichtig, die Injektionsstellen regelmäßig zu inspizieren und nach jeder Injektion zu wechseln. ! Die Injektionsstelle zur Verabreichung von Insulin sollte regelmäßig gewechselt werden, um eine gleichmäßige Resorption aufrecht zu erhalten
Pubertät Beim Übergang vom Kindesalter in die Pubertät ist die Krankheitseinsicht ein häufiges Problem. Jüngere Kinder sind sehr lernund aufnahmefähig, was die Schulung im Hinblick auf neue Therapieformen betrifft. Die Einweisung in die Therapieerfordernisse und Ziele einer chronischen Erkrankung wie dem Typ 1-Diabetes sollte daher so früh wie möglich beginnen, und sowohl die Eltern als auch die Kinder miteinbeziehen. Jugendliche im Pubertätsalter sind häufig schwerer von der Bedeutung der Therapie zu überzeugen. Manchmal spielen dabei auch die Hänseleien der Peergroup eine Rolle, die diabetische Jugendliche als »Fixer« oder »Junkie« titulieren. Hier ist Aufklärung der Peergroup unbedingt erforderlich. Ein Einbeziehen der Freundin/des Freundes in die Therapie (evtl. auch des »Spritzens«) ist häufig hilfreich. Bei Jugendlichen mit Typ 1-Diabetes können bei Pubertätsbeginn aufgrund der veränderten Psyche Probleme auftreten, die sich auch in einer drastischen Veränderung des Ernährungsverhalten äußern kann. Es besteht bei Kindern mit Neigung zu Anorexia nervosa die Gefahr, dass sie die Insulindosis eigenmächtig erhöhen, um abzunehmen, was im Einzelfall zu lebensbedrohlichen Hypoglykämien und Hypokaliämien führen kann. Bei Jugendlichen mit Neigung zu Übergewicht empfiehlt sich eine engmaschige Überwachung des Body-Mass-Index (BMI) und eine Anpassung des Ess- und Bewegungsverhalten, bis die Jugendlichen das Problem im Griff haben. Idealerweise ist hier eine Unterstützung, auch in psychologischer Hinsicht, von Familie und Freunden wünschenswert. Hormonelle Veränderungen in der Pubertät können auch zu einer Veränderung der Autoimmunitätslage führen. Dies betrifft vor allem die Produktion von Insulinautoantikörpern, was zu einer Insulinresistenz führen kann. Erstes Zeichen davon sind ein deutlich erhöhter Insulinbedarf. In diesem Fall muss die Insulindosis entsprechend erhöht werden oder auf anderes Insulin, z. B. Schweine-/Pferdeinsulin, ausgewichen werden. In der Pubertät kann aufgrund von psychischen Problemen, z. B. Depressionen, und mangelndem Verständnis der Peergroup zu einer Nichteinhaltung bzw. eigenmächtigen Veränderung der Insulintherapie kommen. ! Lassen sich die Probleme nicht im häuslichen Umfeld lösen, sollte ärztliche Hilfe hinzugezogen werden. Eine übermäßig kontinuierliche Erhöhung des Insulinbedarf legt den Verdacht auf ein bestehende Insulinresistenz nahe.
Sexualität Zu den Folgeerscheinungen eines Diabetes mellitus gehören Neuropathien und Mikro- und Makroangiopathien, die beispielsweise durch Rauchen noch verstärkt werden. Treten diese
161 19.3 · Diabetes als Polyendokrinopathie
Veränderungen im Bereich des Beckens und der Geschlechtsorgane auf, können auch bei jugendlichen Patienten Störungen der Sexualfunktion, wie beispielsweise Erektionsstörungen, die Folge sein. Eine verstärkte Neigung zu Stoffwechselentgleisungen, insbesondere eine Neigung zu Unterzuckerungen bei sexueller Aktivität kann ebenfalls ein Problem darstellen. Bezogen auf den Glukosestoffwechsel ist Geschlechtsverkehr wie eine sportliche Aktivität anzusehen. Beratung und Betreuung im Hinblick auf Empfängnisverhütung und Schwangerschaft unter Berücksichtigung der speziellen Situation jugendlicher Diabetespatienten sind ab der Pubertät von zentraler Bedeutung. Cave Kommt es bei einem jungen Mädchen mit einem schlecht eingestellten Diabetes zu einer ungewollten Schwangerschaft, ist die Gefahr von erblichen Fehlbildungen, spontanem Abort, Tod des Fötus und Makrosomie/diabetische Fetopathie stark erhöht. Hier ist die Bedeutung einer guten Blutzuckerkontrolle zu betonen; die Patienten sollten ferner über das genetische Risiko aufgeklärt werden. Mädchen und junge Frauen mit Diabetes sollten sich der äußerst wichtigen Bedeutung einer geplanten Schwangerschaft bewusst sein. Schlechte Blutzuckerkontrolle während der Empfängniszeit erhöht die Prävalenz fetaler Fehlbildungen.
19.2
Adipositas als Auslöser von Stoffwechselstörungen bei Jugendlichen
Adipositas ist eine Krankheit, die auch in Europa mittlerweile bei bis zu 20% der Kinder und Jugendlichen vorkommt. Primärerkrankungen, die zu einer Adipositas führen, sind selten, viel häufiger sind psychisch bedingte Essstörungen bzw. falsche Essgewohnheiten. Endokrinologische Störungen, die durch eine Adipositas ausgelöst oder verstärkt werden, sind das polyzystische Ovarsyndrom (PCO) mit den klinischen Zeichen einer Oligooder Amenorrhoe und Hirsutismus und der Typ 2-Diabetes bzw. eine gestörte Glukosetoleranz. Der Typ 2-Diabetes wurde bislang vorwiegend als »Altersdiabetes« eingestuft, tritt aber zunehmend auch bei Kindern und Jugendlichen auf (Kaufman 2002). Übergewicht ist dabei ein wesentlicher Risikofaktor, ist aber nicht in jedem Fall vorhanden. Es gibt eine ethnische oder familiär bedingte Prädisposition. Als Diagnose- bzw. Unterscheidungshilfe gegenüber dem Typ 1-Diabetes empfehlen sich u. a. ein Glukosetoleranztest und Bestimmung von Autoantikörpern wie ICA und GAD. In vielen Fällen ist eine medikamentöse Therapie unvermeidbar. Dabei gelten im Hinblick auf die Stoffwechseleinstellung und die psychische Betreuung und die Verhinderung von Spätfolgen ähnliche Ziele wie beim Typ 1-Diabetes. Mittel der ersten Wahl bei der medikamentösen Therapie ist Metformin. ! Adipositas bei Kindern und Jugendlichen ist daher nicht alleine als Prävalenz oder Risikofaktor anzusehen, sondern stellt in gewissem Sinne eine Krankheit mit frühen metabolischen Veränderungen dar (7 Kap. 29).
19.3
19
Diabetes als Polyendokrinopathie
Der Typ 1-Diabetes tritt häufig gemeinsam mit anderen autoimmunen Endokrinopathien auf. Diese Autoimmun-Polyendokrinopathien können durch charakteristische Serumautoantikörper bestimmt werden. Dazu gehören vor allem Funktionsstörungen der Schilddrüse und der Nebenniere, Weißfleckenkrankheit (Vitiligo), kreisrunder Haarausfall (Alopecia areata), eine Unterfunktion der Nebenschilddrüsen und perniziöse Anämie. Der pathologische Zusammenhang zwischen dem Typ 1-Diabetes und den anderen Autoimmunstörungen ist nicht bekannt. Neben einer genetischen Anlage scheinen jedoch wie beim Diabetes Alter, Geschlecht, Umweltfaktoren und Viren eine Rolle zu spielen. Auch die genaue Häufigkeit dieser Erkrankungen bei diabetischen Kindern und Jugendlichen ist bislang nicht genau bestimmt worden. Bei der Überwachung des Typ 1-Diabetes sollte die Möglichkeit des Vorhandensein dieser Endokrinopathien jedoch berücksichtigt werden. Aufgrund der erhöhten Morbidität einer nicht diagnostizierten Schilddrüsenfehlfunktion und deren Einfluss auf Wachstum, Entwicklung, Herzfunktion und den Fettstoffwechsel wird von den Fachverbänden empfohlen, Typ 1-Diabetiker regelmäßig hinsichtlich einer Schilddrüsenstörung zu untersuchen.
Untersuchungen zur Diagnose von Schilddrüsenerkrankungen 5 Regelmäßige klinische Untersuchungen der Schilddrüse zur Erkennung einer Struma 5 Schilddrüsenwerte und Untersuchungen auf Schilddrüsenantikörper (relativ bald nach der Diabetesmanifestation) 5 Regelmäßige Bestimmung der Schilddrüsenwerte bei Entwicklung einer Struma, Wachstumsverzögerungen oder hohen Titern von Schilddrüsenantikörpern
Schilddrüsenhormon beeinflusst die Halbwertszeit von Insulin. Bei Hyperthyreose wird Insulin schneller verstoffwechselt und somit steigt der Insulinbedarf bei Patienten mit Hyperthyreose. Bei einer Unterfunktion der Schilddrüse muss die Insulindosis dementsprechend reduziert werden. Cave Etwa 10–15% der Kinder und Jugendlichen mit Typ 1Diabetes entwickeln autoimmune Schilddrüsenerkrankungen.
Dabei besteht meistens zuerst der Diabetes und nach einem Intervall von mehreren Jahren manifestiert sich die Schilddrüsenerkrankung. Bei zuerst bestehender Autoimmunkrankheit der Schilddrüse tritt dagegen eher selten ein Diabetes auf. Es gibt im Wesentlichen zwei Formen der autoimmunen Schilddrüsenerkrankung (. Tab. 19.7): 1. Unterfunktion der Schilddrüse; Schilddrüsenentzündungen (z. B. Hashimoto-Thyreoiditis) 2. Überfunktion der Schilddrüse (Basedow-Hyperthyreose)
162
Kapitel 19 · Diabetologie und Schilddrüse
. Tabelle 19.7. Symptome einer Überfunktion und Unterfunktion der Schilddrüse
Symptome einer Überfunktion der Schilddrüse
Symptome einer Unterfunktion der Schilddrüse
Vergrößerung der Schilddrüse (Struma) Hoher Blutdruck Herzklopfen, Herzjagen Muskelschwäche, Muskelschmerzen Zittern der Hände Schlafstörungen Nervosität, Reizbarkeit, Rastlosigkeit Schwitzen, feuchtwarme Haut Heißhunger; übermäßiger Durst Gewichtsverlust trotz gutem Appetit Weicher Stuhlgang Bei weiblichen Jugendlichen: Störungen des Menstruationszyklus
Vergrößerung der Schilddrüse (Struma) Müdigkeit, Erschöpfung Konzentrations- und Gedächtnisschwäche Hoher Blutdruck mit Puls <70 Herzstolpern Depressionen, Angst- und Panikattacken Teigige trockene Haut Trockene, glanzlose Haare, Haarausfall Verstopfung Frieren Gewichtszunahme Bei weiblichen Jugendlichen: Störungen des Menstruationszyklus Nächtliches Kribbeln und Einschlafen von Händen und Unterarmen Apathischer Gesichtsausdruck Wesensveränderungen
19.4
Pubertätsstruma (Adoleszentenstruma, Struma juvenilis)
Nach wie vor ist die Strumaprävalenz (. Tab. 19.8) in Deutschland hoch und liegt bei Mädchen und Jungen in der Pubertät bei 30‒40%. Verantwortlich dafür sind Jodmangel (bei gleichzeitig vermehrtem Jodbedarf in der Pubertät) und genetische Faktoren (familiäre Häufung!). Bei Mädchen werden auch die erhöhten Östrogene als (Mit)Ursache diskutiert. Die Diagnostik umfasst die Bestimmung des fT4 und TSH, sowie die Schilddrüsensonographie. Zur differentialdiagnostischen Abklärung empfiehlt sich die zusätzliche Bestimmmung der thyreoidalen Peroxidase Antikörper (TPO-Antikörper), der Thyreoglobulin-Antikörper (TAK) und der TSH-Rezeptor Antikörper (TRAK). Die Pubertätsstruma ist in der Regel euthyreot, allenfalls latent hypothyreot. Die häufigste Differentialdiagnose ist die Hashimoto-Thyreoiditis. Die Therapie besteht in erster Linie in der Jodsubstitution (200 µg) für längere Zeit (Monate!!) unter regelmäßiger sonographischer Kontrolle der Schilddrüse. In der Anfangsphase hat sich auch eine Kombination von Jodid und L-Thyroxin (3‒5 mg/ kgKG – einschleichen!) bewährt. Dies führt zu einem rascheren Rückgang des Schilddrüsenvolumens. Ein Auslassversuch (ausschleichen des L-Thyroxins unter Beibehaltung der Jodidgabe 200 µg!) kann bei entsprechender Normalisierung des Schild-
. Tabelle 19.8. Strumastadien nach Einteilung der WHO
19
Stadien
Kriterien
Stadium 0
Keine Struma
Stadium 1a
Palpatorisch, aber nicht sichtbare Vergrößerung
Stadium 1b
Bei max. Halsreklination sichtbare Vergrößerung
Stadium 2
Bei normaler Kopfhaltung sichtbare Schilddrüse
Stadium 3
Stark vergrößerte Schilddrüse, auf Entfernung sichtbar, ggf. mit Einflussstauung
drüsenvolumens (sonographische Kontrolle der Kontur der Schilddrüse besser geeignet!) nach ca. 2 Jahren versucht werden.
19.5
Unterfunktion der Schilddrüse und Hashimoto-Thyreoiditis
In der Frühphase fallen die Jugendlichen manchmal durch vermehrt depressive Stimmungslagen und plötzlichem Leistungsabfall in der Schule auf (in der Pubertät sowieso nicht ungewöhnlich). Weiteres Symptom kann eine langsam zunehmende Schwellung am Hals sein, die nicht schmerzhaft ist. Kinder/Jugendliche mit einer Hypothyreose wachsen auffällig langsam, kommen früher in die Pubertät und ihre Intelligenz kann vermindert sein. ! An eine Hypothyreose sollte immer gedacht werden in Zusammenhang mit: 5 Verlangsamtem Wachstum, Kleinwuchs 5 Vorzeitigem Pubertätseintritt! (allerdings verzögerte Geschlechtsreifung bei Hypothyreose in der Pubertät) 5 Menstruationsstörungen 5 Übergewicht 5 Lethargie, Aufmerksamkeitsstörungen
Allgemein sollten die Symptome der Unterfunktion (. Tab. 19.7) so früh wie möglich durch Jodgabe (nicht bei Thyreoiditis) und ggf. eine passende Schilddrüsenhormonmenge ausgeglichen werden, da sich andernfalls eine Behinderung der körperlichen Entwicklung einstellt. Die häufigste Ursache der Hypothyreose ist die Hashimoto-Thyreoiditis (juvenile chronische lymphozytäre Thyreoiditis). Als Diagnosehilfen zur Unterscheidung der Hypothyreose bei Jodmangelstruma (keine Antikörper) und Hashimoto-Thyreoiditis (TPO-Antikörper/TAK, keine oder nur sehr geringe TRAK) werden Serumautoantikörper herangezogen. ! Klinisch unterscheiden sich Hypothyreosen bei Jodmangelstrumen oder Hashimoto-Thyreoiditis nicht voneinander. Wichtig für die laborchemische Routine ist (neben TSH und fT4) vor allem die Bestimmung der Antikörper
6
163 19.6 · Überfunktion der Schilddrüse (Basedow-Hyperthyreose)
(TPO-Antikörper TAK und der TRAK). Allerdings schließt ein negativer Antikörperbefund eine chronische Schilddrüsenentzündung nicht aus, und der Nachweis von Antikörper bedeutet keine endgültige Diagnose.
Die sonographische Untersuchung der Schilddrüse ist für die Diagnostik unverzichtbar. Vor allem die sonographische Struktur und Echogenität geben wertvolle Hinweise für die Diagnose und den Verlauf unter Therapie. Cave Hashimoto-Thyreoiditis und Basedow-Hyperthyreose haben sonographisch ein sehr ähnliches Bild!
Die Volumenbestimmung dient nur zur individuellen Verlaufskontrolle, da sie mit viel zu vielen Fehlern behaftet ist und es keine exakten Normwerte gibt (von Bundesland zu Bundesland zu unterschiedlich). In Zweifelsfällen können der Ultraschallbefund (diffuse Echogenitätsverminderung) oder (sehr selten erforderlich) eine Feinadelpunktion mit einer Vermehrung von Lymphzellen und Plasmazellen weiterhelfen. Die Szintigraphie ist zumeist entbehrlich und sollte speziellen Fragestellungen vorbehalten bleiben (z. B. V. auf Autonomie, unklarer kalter Knoten). Die chronische »Schilddrüsenentzündung« tritt familiär gehäuft auf, so dass eine Untersuchung der Familienangehörigen ratsam ist. ! Eine höhere Inzidenz der Hypothyreose findet sich u. a. bei: 5 Down-Syndrom 5 Klinefelter-Syndrom 5 Turner-Syndrom 5 Thalassaemie
19.5.1 Therapie Bei der Therapie der Hashimoto-Thyreoiditis (. Tab. 19.9) werden in erster Linie die Symptome bekämpft. Das Ziel bei vorliegender Hypothyreose ist die Wiederherstellung einer euthyreoten Stoffwechsellage durch Gabe von L-Thyroxin (einschleichend!). Die selten auch bei der Hashimoto-Thyreoiditis auftretende Überfunktion der Schilddrüse (meist in der Anfangsphase) sollte
19
mit Carbimazol thyreostatisch behandelt werden. Die Schilddrüsenwerte im Serum sollten nach Beginn einer thyreostatischen Therapie zunächst alle 2‒3 Wochen kontrolliert werden, da Thyroxin eine Halbwertszeit von ca. 14 Tage im Serum hat. ! Da Carbimazol als Nebenwirkung eine Veränderung der Hämatopoese bewirken kann, sollte immer das Blutbild mit kontrolliert werden.
Bei Normalisierung der Schilddrüsenwerte sollte zusätzliche eine Substitution mit L-Thyroxin erfolgen. Dies bewirkt eine »Ruhigstellung« der Schilddrüse. Im erfolgreichen Fall kann die Gabe von Carbimazol langsam ausgeschlichen werden. Bei etwa 50% der Jugendlichen kommt der Autoimmunprozess zum Stillstand und die Antikörperspiegel fallen ab (Monate!).
19.6
Überfunktion der Schilddrüse (Basedow-Hyperthyreose)
Die Basedow-Hyperthyreose ist eine Autoimmunerkrankung, die individuell sehr unterschiedlich verläuft. Es wird vermutet, dass genetische, immunologische und Umwelteinflüsse sowie psychischer Stress bei der Entstehung der Erkrankung eine Rolle spielen. Für eine genetische Ursache des Morbus Basedow sprechen die familiäre Häufung sowie das gehäufte Auftreten der Erkrankung bei Menschen mit den Histokompatibilitäts-Antigenen HLA-B8 und HLA-DR3. Die Symptome einer Überfunktion der Schilddrüse stehen zu Beginn der Krankheit im Vordergrund. Manche Patienten beachten die Symptome nicht, bzw. halten sie fälschlicherweise für Stresssymptome. Wird der Morbus Basedow nicht erkannt, kann es jedoch zu einer lebensbedrohlichen Hormonvergiftung, der thyreotoxischen Krise, kommen. Hinweisend für die Diagnostik sind im Gegensatz zur Hashimoto-Thyreoiditis die nur geringgradige Erhöhung der TPOAntikörper bei deutlicher Erhöhung der TSH-Rezeptor Antikörper (TRAK). 19.6.1 Therapie Die medikamentöse Therapie des Morbus Basedow (. Tab. 19.9) verfolgt zum Einen das Ziel der Wiederherstellung einer Eutyhre-
. Tabelle 19.9. Therapiespiegel zur Behandlung der autoimmunen Schilddrüsenerkrankung
Diagnose
Hashimoto-Thyreoditis
Morbus Basedow
a
Medikamentöse Therapie
Operative Therapie
Euthyreose
Hypothyreose
Hyperthyreose
Keine
L-Thyroxin
Carbimazol + L-Thyroxin nach Wiederherstellung der Euthyreose
Thyreodektomie od. Radiatioa
Carbimazol + L-Thyroxin nach Wiederherstellung der Euthyreose
Thyreodektomie od. Radiatioa
Wenn nach 2–3 Jahren medikamentöser Therapie (Carbimazol + L-Thyroxin) keine Normalisierung der Antikörperspiegel und nach Ausschleichen der Carbimazolbehandlung erneutes Auftreten der Hyperthyreose.
164
Kapitel 19 · Diabetologie und Schilddrüse
ose mithilfe von Thyreostatika (z. B. Carbimazol) und zum Anderen die medikamentöse Unterstützung einer spontanen Rückbildung der Krankheit. Leider sind die Langzeitresultate der medikamentösen Therapie nicht befriedigend. Besonders bei Kindern und Jugendlichen sind die Rückfallquoten hoch (60‒80%). Probleme treten dann auf, wenn es innerhalb einer BasedowHyperthyreose zu einem Exophthalmus kommt, d. h. zu einer Autoimmunreaktion gegen die retrobulbäres Gewebe mit Beteiligung von Binde-, Fett- und Augenmuskelgewebe, die ein- oder beidseitig zu einem Hervortreten der Augäpfel führt. Die Behandlung eines Exophthalmus erfolgt primär über die Korrektur der Hyperthyreose, bei malignen Formen bieten sich gegebenenfalls Strahlentherapie oder die Verabreichung von Glukokortikoiden an. In seltenen Fällen kann eine operative Orbitadekompression erforderlich werden. Bei Therapieresistenz der Hyperthyreose kommt nur noch eine meist totale Thyreodektomie in Frage. Hier sollte man sich an einen Operateur wenden, der über viel Erfahrung bei Kindern und Jugendlichen verfügt um Komplikationen, wie Rekurrenzparese etc. zu vermeiden. Postoperativ ist unbedingt der Kalziumstoffwechsels zu kontrollieren, da immer das Risiko eines versehentlichen Entfernens der Nebenschilddrüse besteht. Die Folge davon wären Muskelkrämpfen infolge einer Hypokalzämie. Cave Bei allen Schilddrüsenerkrankungen wie Funktionsstörungen oder Vergrößerungen der Schilddrüse sollte differentialdiagnostisch immer an das Vorliegen von Schilddrüsenadenomen oder malignen Schilddrüsentumoren gedacht werden.
In diesem Fall sind neben der Ultraschalldiagnostik und Szintigraphie entsprechend Feinnadelpunktionen oder offene Biopsien zur histologischen Aufarbeitung von verdächtigem Gewebe notwendig.
19.7
Schlussbemerkung
Endokrine Erkrankungen von Jugendlichen wie Diabetes mellitus-Typ 1 oder Entzündungen der Schilddrüse sind meist immunologisch bedingt und sollten immer in einem gemeinsamen Zusammenhang gesehen werden. Das bedeutet, dass bei Jugendlichen mit einer dieser beiden Erkrankung im Verlauf auch immer an das spontane Auftreten der anderen Erkrankungen gerechnet werden muss. Deshalb sollte man alle 6 Monate die Labordiagnostik bei diesen Patienten entsprechend erweitern. Denn wie bei allen Krankheiten hat eine Früherkennung und somit rechtzeitige Therapie geringere negative Folgen für die spätere Gesundheit.
Literatur
19
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Aktuelle Leitlinien DDG-Leitlinien Therapie des Typ 1-Diabetes mellitus APE-Leitlinien Therapie endokrinologischer Erkrankungen im Kindesalter Leitlinien der Deutschen Adipositas-Gesellschaft: Adipositas im Kindesund Jugendalter
Einrichtungen Deutsche Diabetes-Gesellschaft (DDG): Geschäftsstelle der DDG: Berufsgenossenschaftliche Kliniken Bergmannsheil Universitätsklinik; Bürkle-de-la-Camp-Platz 1, 44789 Bochum, Tel.: 0234/97889–0, Fax: 0234/97889–21, E-Mail:
[email protected], Internet: http://www.deutsche-diabetes-gesellschaft.de Deutsche Gesellschaft für Kinderheilkunde und Jugendmedizin (DKGJ): Geschäftsstelle der DAKJ: Eichendorffstr. 13, 10115 Berlin, Tel: 030/4000588–0, Fax: 030/4000588–88, E-Mail:
[email protected], Internet: http://www.dakj.de Deutsche Gesellschaft für Endokrinologie (DGE): Geschäftsstelle der DGE: Herr Thomas Maas, Berufsgenossenschaftliche Kliniken Bergmannsheil, Universitätsklinik, Bürkle-de-la-Camp-Platz 1, 44789 Bochum, Tel.: 0234/97889–30, Fax: 0234/97889–31, E-Mail: dge@endokrinologie. net, Internet: http://www.endokrinologie.net
165
20
20 Wachstumsstörungen H. A. Wollmann
)) Körpergröße, Wachstum und körperliche Entwicklung sind für Jugendliche häufig ein drängendes Problem. Es gibt wohl kein Lebensalter, in dem sich der Mensch mehr mit seinem eigenen Körper und seinen Veränderungen beschäftigt. Viele Jugendliche sind verunsichert wegen der Veränderungen, die – für sie unbeeinflussbar – mit ihrem Körper passieren. Die Anpassung an den sich über Jahre hinweg ändernden Körper stellt die Psyche der Kinder vor enorme Probleme, eine gestörte Anpassung (z. B. bei der Pubertätsmagersucht) ist mit erheblichen Problemen für den Patienten und sein Umfeld verbunden.
Entsprechend stellen sich Jugendliche häufig in der Praxis mit Problemen aus diesem Bereich vor. Besorgnis über zu große oder zu geringe Körpergröße, ausbleibende oder langsame pubertäre Entwicklung (7 auch Kap. 26) sind häufig gestellte Fragen. So fragen Eltern, die ihre Jugendlichen begleiten oft: »Wie groß wird die denn noch werden, die findet ja keinen Mann mehr!« oder »Jetzt ist er schon 12 Jahre und immer noch ein Zwerg«. Die Vorstellung wegen »Kleinwüchsigkeit« erfolgt in der Regel häufiger bei den Jungen. Im Gegensatz dazu führt bei Mädchen eine zu hohe Körpergröße häufiger zur Vorstellung in der Sprechstunde: »Die ist ja riesig, die findet ja nie einen Freund! oder »Die starren mich alle an, wie ein Weltwunder, nur weil ich größer bin als sie!«
nete Effekt ist bedingt durch die vollständigere Umsetzung des genetischen Wachstumspotenzials, z. B. durch bessere Ernährung und Hygiene sowie Vermeidung von Krankheiten. In den entwickelten, westlichen Ländern ist der säkulare Trend inzwischen kleiner geworden, ist jedoch immer noch nachweisbar. Die genetische oder familiäre Zielgröße darf nicht verwechselt werden mit der prospektiven Endgröße, einer Vorhersage der zu erwartenden Endgröße basierend auf der aktuellen Körpergröße sowie des durch Röntgen der linken Hand bestimmten Knochenalters. Diese Vorhersage ist etwa ab dem Alter von 10 Jahren aussagekräftig, bedarf allerdings einer Beurteilung durch einen in dieser Technik erfahrenen Radiologen (Greulich und Pyle 1959). Modifiziert und moduliert wird die genetisch festgelegte Größe durch äußere und innere Faktoren wie Ernährung, Krankheit, Umwelt, hormonelle Einflüsse, Beginn und Dauer der Pubertät und viele andere. Diese Einflüsse können passager oder permanent sein. Entwickelt z. B. ein 12-jähriges Mädchen mit Beginn der Pubertät eine autoimmun bedingte Hypothyreose (Hashimoto Thyreoiditis), so kommt es zu einer drastischen Verlangsamung des Wachstums mit relativem Kleinwuchs. Nach Beginn der Substitutionsbehandlung mit Thyroxin wird dieser Rückstand rasch kompensiert. Im Gegensatz dazu führt z. B. eine chronisch entzündliche Erkrankung wie die juvenile rheumatoide Arthritis bei langer Dauer und schwerem Verlauf zu einer irreversiblen Wachstumshemmung (insbesondere wenn eine Glucocorticoid-Therapie erforderlich ist) mit einem Verlust an Endgröße.
20.2 20.1
Welche Faktoren bestimmen die Körpergröße?
Körpergröße und Längenwachstums sind multigenetisch festgelegt. Eine Vielzahl von Genen, zu gleichen Teilen vom Vater und der Mutter vererbt, bestimmen weitgehend die Größe bei Geburt, den Wachstumsprozess und die Endgröße. Der Begriff der Zielgröße beschreibt diese Tatsache, er gibt an, welche Endgröße ein Junge/Mädchen bei gegebener Elterngröße im Mittel erreicht. Die klassische (Faust-)Formel zur Berechnung benutzt die mittlere Elterngröße (Größe des Vaters + Größe der Mutter : 2). Für Jungen muss zur Berechnung der Zielgröße 6,5 cm addiert werden, für Mädchen werden 6,5 cm abgezogen. Diese Differenz (13 cm) beschreibt die mittlere Größendifferenz zwischen den beiden Geschlechtern. Der Vertrauensbereich wird mit +/–10 cm für Jungen und +/–8,5 cm für Mädchen angegeben, d. h. 95% aller Kinder liegen mit ihrer Endgröße in diesem Bereich. Beispiel Größe des Vaters 190 cm; Größe der Mutter 170 cm. Mittlere Elterngröße 180 cm (190 + 170 : 2). Die Zielgröße für Töchter dieser Eltern errechnet sich mit 173,5 cm, diejenige für Söhne dieser Eltern mit 186,5 cm.
Im Mittel erreichen Kinder auch heute noch eine etwas größere Körperhöhe als ihre Eltern. Dieser als säkularer Trend bezeich-
Normales Wachstum und Körpergröße bei Adoleszenten
Nach einer Phase relativ konstanten und langsamen Wachstums in der Kindheit (bei Mädchen etwa zwischen dem 5. und 10. Lebensjahr, bei Jungen um ca. 1–2 Jahre länger, durchschnittliche Wachstumsgeschwindigkeit während dieser Zeit zwischen 5 und 6 cm) kommt es mit Einsetzen der Pubertät zu einer raschen Wachstumsbeschleunigung. Die Pubertät beginnt bei Mädchen im Durchschnitt mit 11 Jahren, d. h. in diesem Alter hat die Hälfte der Mädchen bereits klinische Pubertätszeichen. In den USA liegt dieser Wert inzwischen bei 9,5‒10 Jahren. Der Normbereich beträgt +/–2 Jahre. Bei Jungen setzt die Pubertätsentwicklung im Mittel 18‒24 Monate später ein. Während der Pubertät kommt es zu einer dramatischen Beschleunigung der Wachstumsgeschwindigkeit. Bei Mädchen steigt sie schon sehr früh in der Pubertätsentwicklung auf bis zu 10 cm/Jahr an, Jungen erreichen ihr Maximum von 12 cm/Jahr später im Pubertätsverlauf bei einem mittleren Alter von 14 Jahren. Nach Überschreiten des Maximums nimmt die jährliche Wachstumsrate rasch ab, die meisten Mädchen sind im Alter von 16 Jahren ausgewachsen, bei Jungen dauert dies im Durchschnitt 2 Jahre länger. Beachtet werden muss, dass sowohl der Beginn als auch die Dauer der Pubertät einer außerordentlich breiten Streuung unterliegen. Eine echte vorzeitige Pubertät ist definiert durch das Auftreten klinischer Pubertätszeichen (Brustentwicklung beim
166
Kapitel 20 · Wachstumsstörungen
Mädchen, Hodenwachstum beim Jungen) vor dem Alter von 8 Jahren (Mädchen) bzw. 9 Jahren (Jungen). ! Von einer Pubertas tarda kann man ausgehen, wenn ein Mädchen mit 13,5 Jahren oder ein Junge mit 14 Jahren noch keine Pubertätszeichen hat.
Daraus kann man ableiten, dass ein sich früh entwickelndes Mädchen (Pubertätsbeginn mit 9 Jahren) und einer durchschnittlichen Pubertätsdauer von 2,5 Jahren mit 12 Jahren bereits ausgewachsen sein kann, während z. B. ein Junge der spät mit der Pubertät beginnt (14 Jahre) bei einem langsamen Pubertätsverlauf durchaus bis zum 20. Lebensjahr und darüber hinaus noch wachsen kann. Bei Mädchen markiert die Menarche das nahe Ende der Pubertät. Im Durchschnitt wachsen Mädchen noch 7 cm nach Eintritt der ersten Regelblutung. Die Einleitung von Maßnahmen zur Beeinflussung des Wachstums sind nach Eintreten der Menarche nicht mehr sinnvoll, und man muss sich sehr gut überlegen, ob es aus ethischen Gründen vertretbar ist für einen fraglichen Gewinn von 3‒4 cm noch eine wachstumsinduzierende Therapie zu beginnen. Dies gilt natürlich nicht für bestehende Behandlungen (z. B. Substitutionsbehandlung mit Wachstumshormon).
20.3
Methoden zur Evaluierung des Wachstums bei Adoleszenten
20.3.1 Körperhöhe Auch bei Jugendlichen muss die Messung von Körpergröße und Körpergewicht richtig und präzise erfolgen, den berichteten Werten sollte nicht vertraut werden. Im Idealfall liegt eine Wachstumskurve mit den in der früheren Kindheit gemessenen Werten vor, auch wenn der zuletzt gemessene Wert lange zurückliegt, kann er zur Beurteilung herangezogen werden. Beispiel Ein 13-jähriges Mädchen liegt mit seiner Größe knapp unter der 3. Perzentile. Die letzte Messung in der Praxis erfolgte im Alter von 6 Jahren, bereits damals lag das Mädchen im selben Bereich, ist also Perzentilenparallel gewachsen. Dieser Verlauf schließt eine hormonelle oder organische Störung mit hoher Sicherheit aus, vermutlich liegt eine konstitutionelle Entwicklungsverzögerung vor.
20.3.2 Wachstumsgeschwindigkeit Die Wachstumsdynamik wird durch die Wachstumsgeschwindigkeit beschrieben (. Abb. 20.1). Zur Berechnung sind 2 Messungen in genügend großem Abstand – abhängig von der Wachstumsgeschwindigkeit ‒ erforderlich. Da vor Pubertätsbeginn physiologisch sehr niedrige Wachstumsraten vorkommen (ca. 4 cm/Jahr) muss der Abstand zwischen 2 Messungen mindestens 9–12 Monate betragen. Ein Abstand von 6 Monaten sollte nicht unterschritten werden. Eine Wachstumsgeschwindigkeit unter der 50. Perzentile führt zur relativen Größenabnahme, bei einer Wachstumsgeschwindigkeit unter der 25. Perzentile ist detaillierte Diagnostik erforderlich. Dies schließt die gesamte Differenzialdiagnose des Kleinwuchses ein.
20
Differenzialdiagnose des Kleinwuchses Unter anderem: 5 Familiärer Kleinwuchs 5 Konstitutionelle Entwicklungsverzögerung 5 Wachstumshormonmangel 5 Hypothyreose 5 Hypothalamische Erkrankungen (z. B. Kraniopharyngeom) 5 Hypogonadismus (primär, sekundär) 5 Anorexia nervosa 5 Turner Syndrom 5 Skeletterkrankungen 5 Chronische Erkrankungen 5 Cortison Excess (Therapiebedingt oder Erkrankung)
20.3.3 Körpergewicht, Körperproportionen Das Körpergewicht ist zur Beurteilung von Wachstumsstörungen essentiell: Die Anorexia nervosa mit langsamem Wachstum und der Adiposo-Gigantismus mit relativ großer Körperhöhe als extreme Beispiele. Die Körperproportionen (z. B. Verkürzung der Oberarme und Oberschenkel bei Hypochondroplasie, was sich als eine relative Verminderung der Spannweite bei normaler Sitzhöhe auswirkt) können für die weitere Diagnostik wegweisend sein, erfordern allerdings korrekte Messverfahren und entsprechende Referenzwerte (. Abb. 20.2). 20.3.4 Pubertätsentwicklung Die korrekte Einschätzung der Pubertätsentwicklung ist gerade bei Wachstumsstörungen von Jugendlichen in ihrer Bedeutung nicht zu unterschätzen. Die Tatsache, dass gesunde Mädchen im Zusammenhang mit der Pubertät bis zu 25 cm, Jungen bis zu 35 cm wachsen, macht deutlich, wie wichtig der zeitliche Beginn, die Dauer und das Ausmaß des Wachstumsschubs für die Beurteilung einer Wachstumsstörung sind. 20.3.5 Knochenalter Die Beurteilung des Knochenalters erfolgt anhand einer Röntgenaufnahme der linken Hand (ganze Hand, plan, einschließlich Handwurzel in einer Ebene) und Vergleich mit entsprechenden Standardaufnahmen. Der Atlas nach Greulich und Pyle wird hierfür am häufigsten verwendet. Cave Das Knochenalter unterliegt einer erheblichen Streuung, die Beurteilung beinhaltet einen beträchtlichen Ermessensspielraum. Schon deshalb sollte die Wertigkeit des Knochenalters nicht zu hoch angesetzt werden.
Bei gesunden, normal wachsenden Kindern kann etwa ab dem Alter von 10 Jahren die zu erwartende Endgröße vorhergesagt werden, allerdings ist auch diese Schätzung mit einer Streuung von +/–4‒6 cm anzugeben, was erneut den Nutzen relativiert.
167 20.4 · Normvarianten des Wachstums
20
b
a
. Abb. 20.1. Perzentilenkurven für die Wachstumsgeschwindigkeit (a) für Jungen und (b) für Mädchen. (Nach Prader et al.; Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Serono GmbH)
Auch eine Verzögerung des Knochenalters, die bei kleinwüchsigen Kindern im Sinne einer noch vorhandenen Wachstumspotenz generell als günstig angesehen wird, kann bei spezifischen Kleinwuchsformen in die Irre führen: So ist bei kleinwüchsigen SGA-Kindern (small for gestational age, zu klein für das Gestationsalter) vor der Pubertät des Knochenalter in der Regel retardiert. Cave Bei diesen Kindern holt das Knochenalter ohne entsprechende Größenzunahme auf, sie erreichen also nicht die prognostizierte Größe!
Trotz dieser Einschränkungen ist die Bestimmung des Knochenalters immer noch Teil der Standarduntersuchung bei Kleinwuchs und Großwuchs, insbesondere bei der Beurteilung des Hochwuchses von großer Bedeutung. 20.3.6 Labordiagnostik Zumeist liefert eine gute Anamnese und Dokumentation des Wachstumskurvenverlaufs ausreichende Hinweise auf das Nicht-
Vorliegen oder Vorliegen einer Wachstumsstörung. Im letzteren Falle ist, neben differentialdiagnostischen Erwägungen (die eine spezielle Diagnostik erforderlich machen können – z. B. humangenetische Untersuchung bei V. auf Prader-Willi-Syndrom oder Turner-Syndrom) eine Basisdiagnostik erforderlich. ! Die Basisdiagnostik umfasst: 5 Blutbild 5 Nierenwerte /Leberwerte 5 TSH, fT4 5 Elektrolyte mit Phosphat, alkalische Phosphatase 5 IGF1, IGFBP3 5 Gonadotropine
20.4
Normvarianten des Wachstums
20.4.1 Konstitutionelle Entwicklungsverzögerung
(KEV) Zunehmend wird für diese Entität heute auch der Begriff »idiopathischer Kleinwuchs« verwendet, der zeigt, dass es sich um eine Ausschlussdiagnose handelt. Wenn die Kombination von normalen Geburtsmaßen und normalem Wachstum während der ersten beiden Lebensjahre, allmählich sich entwickelndem Kleinwuchs
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Kapitel 20 · Wachstumsstörungen
a
b
. Abb. 20.2. Perzentilenkurven für Körpergröße und Körpergewicht (a) für Jungen und (b) für Mädchen. (Nach Prader et al.; Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Serono GmbH)
in der Vorschulzeit und niedrig-normaler Wachstumsgeschwindigkeit danach bei gleichzeitiger, deutlicher Verzögerung der Knochenreifung vorliegt, so kann die Diagnose KEV vermutet werden. Meist liegt eine positive Familienanamnese vor. Tritt die Pubertät dann tatsächlich verspätet ein, kann man von der Diagnose KEV ausgehen und weitere Maßnahmen sind nicht erforderlich. In seltenen Fällen, bei sehr später Pubertät – und nur wenn ausgeprägter Leidensdruck durch Kleinwuchs und ausbleibende Pubertät besteht –, kann eine kurzzeitige Behandlung mit Estrogen oder Testosteron zur Induktion der Pubertät sinnvoll sein. Neben positiver Auswirkung auf die psychische Entwicklung kann dies auch Auswirkungen auf das Erreichen der Peak-BoneMass haben. Die Abgrenzung der KEV von pathologischen Formen des Wachstums kann manchmal schwierig sein (z. B. gering ausgeprägte Form der Hypochondroplasie, partieller WH-Mangel) und die Mitarbeit eines Kinderendokrinologen erfordern. Die konstitutionell frühe Entwicklung existiert ebenso, führt jedoch – da nicht mit Kleinwuchs assoziiert – selten zur Vorstellung beim Kinder- und Jugendarzt.
20
20.4.2 Familiärer Kleinwuchs Von einem familiären (genetischen) Kleinwuchs kann man ausgehen, wenn die Körpergröße des Kindes außerhalb der Norm für die Population liegt, jedoch innerhalb des familiären Zielbereichs. Dieser wird definiert als Zielgröße (s. oben) +/–1,3 Standardabweichungen und umfasst 90% aller Kinder. Nur wenn das Kind stärker vom familiären Zielbereich abweicht, ist weiterführende Diagnostik erforderlich. Auch Kinder mit familiärem Kleinwuchs haben in der Regel ein retardiertes Knochenalter, was die Abgrenzung von der KEV schwierig macht. Die Endgrößenprognose bei familiärem Kleinwuchs ist manchmal schlecht, kann aber therapeutisch nicht beeinflusst werden. Eine Abklärung kann sinnvoll sein, insbesondere um milde Formen der Osteochondrodysplasien auszuschließen. 20.4.3 Konstitutioneller Großwuchs Insbesondere Töchter großwüchsiger Eltern werden häufig beim Kinderendokrinologen zur Erstellung einer Endgrößenprognose und auch zur Therapie vorgestellt. Häufig ist es eher die Sorge der Eltern, als der Leidensdruck der Kinder, die zur Vorstellung führt. Auf der Basis der Endgrößenprognose und der klinischen Unter-
169 20.6 · Adipositas, Kleinwuchs
suchung kann in der Regel zugewartet werden, zumal eine Endgrößenprognose von >185 cm (Mädchen) bzw. >200 cm (Jungen) sehr selten ist. Eine erneute Untersuchung nach 6 Monaten zur Kontrolle der Wachstumsgeschwindigkeit kann sinnvoll sein. Generell sollte eine Entscheidung über ein Hochwuchstherapie bei einer Körpergröße von etwa 175 cm getroffen werden, da nur dann noch genügend Zeit für eine Intervention mit Testosteron oder Estrogen (hochdosiert) zur Verfügung steht. Die wachstumsbremsende Behandlung gesunder Kinder sollte auf extreme Situationen begrenzt werden (oder z. B. auf hochwüchsige Marfan-Syndrom Patienten, die an einer Skoliose leiden), da insbesondere Langzeitrisiken der hochdosierten Therapie noch schwer abgeschätzt werden können. Die Nebenwirkungen der Therapie können im Einzelfall erheblich sein. Bei den Mädchen kann zu Beginn Übelkeit, eine deutliche Gewichtszunahme, Ödeme, und eine Hyperpigmentierung der Mamillen auftreten. Bei den Jungen kommt es selten zur Gewichtszunahme, bei entsprechender Disposition wird die Akne verstärkt. ! Die Indikation zur Therapie muss streng nach Ausschluss potentieller Risikofaktoren wie z. B. einem erhöhten Thromboserisiko bei Mädchen gestellt werden. Die Compliance der Therapie hängt im Wesentlichen von der guten Aufklärung vor Therapiebeginn sowie einer kontinuierlichen Begleitung im medizinischen und psychischen Bereich ab. Die psychische Beeinträchtigung durch die Therapie darf nicht unterschätzt werden! Über Langzeitfolgen ist noch wenig bekannt, neue Daten zeigen jedoch, dass Mädchen nach Hochwuchstherapie im Vergleich zu unbehandelten, großwüchsigen Mädchen eine reduzierte Fertilität aufweisen.
20.5
Adipositas, Adiposogigantismus
Die Adipositas bei Jugendlichen (7 Kap. 29) ist ein bekanntes und in den entwickelten Ländern rasch zunehmendes Problem. Hier sollen nur die wachstumsrelevanten Aspekte der Adipositas diskutiert werden, auch wenn die zunehmend Häufigkeit des Typ II-Diabetes bei adipösen Jugendlichen eine der größeren Herausforderungen für die Kinderendokrinologen in der Zukunft ist. ! Frühe, übermäßige Gewichtszunahme (im Vorschul- und frühen Schulalter) führt zu einer Wachstumsbeschleunigung.
Die Kinder sind nicht nur zu dick, sondern auch – bezogen auf die familiäre Zielgröße – größer als erwartet. Es ist also in der Regel ein die Perzentilen nach oben kreuzendes Wachstum für Gewicht und Größe zu sehen, wobei die Dynamik für die Gewichtskurve deutlicher ist. Diese Situation wird auch als »Adiposogigantismus« beschrieben und ist in praktisch allen Fällen auf ein langdauerndes Missverhältnis von Kalorienzufuhr und -verbrauch verursacht. Meist ist die Entwicklung über viele Jahre hinweg zu beobachten, es besteht häufig eine positive Familienanamnese und neben der Körpergröße ist auch das Knochenalter akzeleriert. Kinder mit deutlicher Adipositas insbesondere Mädchen mit rascher Gewichtszunahme während der Pubertät können Striae an Brust und Oberschenkeln entwickeln wie z. B. Schwangere, ohne dass ein Cushing-Syndrom vorliegt. Spezifische Diagnostik ist bei sonst unauffälligem Patienten (keine Dysmorphien, normale geistige Entwicklung) nicht erfor-
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derlich. Diese Patienten sind nur im Kindesalter relativ groß, als Erwachsene erreichen sie ihre Zielgröße. ! Einzig sinnvolle Maßnahme ist die Gewichtsreduktion oder wenigstens die Verhinderung einer weiteren Gewichtszunahme, was mittelfristig meist ausreicht, die Situation zu bessern.
Die männlichen Jugendlichen werden oft nicht wegen Adipositas in der Praxis vorgestellt, sondern mit der Diagnose ›Hypogenitalismus‹ ‚›Mikropenis‹ oder Gynäkomastie. Bei den präpubertären Jungen ist der Penis durch die Fettmassen manchmal so weit verborgen, dass nur die Vorhaut zu sehen ist, das Skrotum ist flach und aufgespannt. Beim Zurückdrängen des Fetts kommt ein normal langer, präpubertärer Penis zum Vorschein, auch die Hoden sind normal tastbar. Einzige Therapie ist die Gewichtsreduktion, es sei denn es liegt zusätzlich eine Pubertas tarda mit deutlichem Leidensdruck vor (7 Kap. 26). Das Gesagte trifft für die große Mehrheit (>95%) aller adipösen Kinder zu. Endokrine und genetische Ursachen für eine Adipositas sind – entgegen der landläufigen Meinung – Raritäten.
20.6
Adipositas, Kleinwuchs
! Besteht bei einem Kind/Jugendlichen mit Adipositas gleichzeitig ein Kleinwuchs, ist immer eine detaillierte Abklärung erforderlich.
Dies gilt besonders, wenn der Patient zusätzlich Entwicklungsprobleme hat und/oder dysmorphe Stigmata aufweist. Diese Jugendlichen haben nicht nur eine sehr schlechte Endgrößenprognose, sondern auch eine deutlich erhöhtes Risiko für eine pathologische Form. Das beste Beispiel für stagnierendes Wachstum bei gleichzeitiger Gewichtszunahme aus dem endokrinologischen Bereich ist die erworbene Hypothyreose, meist durch eine AutoimmunThyreoiditis (Hashimoto Thyreoiditis). Diese Patienten weisen nach 1- bis 2-jährigem Verlauf eine extrem langsame Wachstumsgeschwindigkeit auf, gleichzeitig eine langsame Gewichtszunahme. Nach Beginn der Substitutionstherapie mit Thyroxin kommt es zu einem raschen Aufholwachstum mit normaler Endgröße. ! Eine extrem seltene endokrine Ursache für sehr langsames Wachstum mit gleichzeitiger Gewichtszunahme ist der Hypercortisolismus (Cushing-Syndrom, selten idiopathisch, häufig Nebenwirkung der Therapie einer Grundkrankheit), der auch bei Wegfall der Ursache nicht immer zu einem kompletten Aufholwachstum führt.
Die Adipositas beim Cushing-Syndrom ist immer mit anderen klinischen Zeichen assoziiert (typischer Aspekt mit Stammfettsucht, Striae, Bluthochdruck, Hyperglykämie etc). Nach Beseitung der Ursache ist das Aufholwachstum nach Hypercortisolismus meist nicht vollständig. Auch beim WH-Mangel ist im Kindes- und Jugendalter der Kleinwuchs mit einer (relativen), stammbetonten Adipositas assoziiert, allerdings ist auch der Wachstumshormonmangel als Ursache der Adipositas im Vergleich zur ernährungsbedingten Form extrem selten. Irreführend bei der Diagnostik in dieser Situation kann sein, dass adipöse Kinder per se eine reduzierte WH-Sekretion aufweisen. Ist der WH-Mangel Folge einer Stö-
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Kapitel 20 · Wachstumsstörungen
rung im Bereich des Hypothalamus (z. B. eines Kraniopharyngeoms), kann eine hypothalamische Hyperphagie die Adipositas noch deutlich verstärken. Meist tritt diese aber erst nach der Therapie (Operation, Bestrahlung) auf. Als Beispiel für eine genetisch bedingte Assoziation von Kleinwuchs und Adipositas – bei gleichzeitigem Vorliegen einer Entwicklungsretardierung/geistigen Behinderung und von dysmorphen Stigmata – ist das Prader-Willi-Syndrom zu nennen. Diese Kinder wachsen trotz rascher Gewichtszunahme im Kindesalter langsam und bleiben auch als Jugendliche – bei dann oft massiver Adipositas – und als Erwachsene zu klein. Eine ursächliche Therapie existiert nicht, jedoch kann eine Therapie mit Somatotropin den Kleinwuchs normalisieren und die Gewichtskontrolle erleichtern. 20.7
Anorexie
Genauso wie extremes Essen hat auch extremes Fasten einen Einfluss auf Wachstum und Körpergröße. Essstörungen (7 Kap. 28) im Sinne einer Anorexia nervosa nehmen – genau wie die alimentäre Adipositas – in unserer Gesellschaft immer noch an Häufigkeit zu. Mädchen sind von dieser Störung etwa 10-mal häufiger betroffen als Jungen. Eine Anorexie beeinflusst das Wachstum in zweierlei Weise: Einerseits führt extremes Fasten – wenn es noch vor Schluss der Wachstumsfugen einsetzt – zu einer Verlangsamung des Wachstums. Wenn es genügend lange besteht, wird auch die Endgröße eingeschränkt. Andererseits kommt es als Folge des Fastens auch zu einem hypothalamisch bedingten Hypogonadismus mit Stillstand der Pubertätsentwicklung. Der normale Pubertätswachstumsschub, der bei Mädchen bis 25 cm, bei Jungen bis 35 cm Zuwachs an Größe bringt, bleibt aus oder wird stark abgeschwächt. Dies bedingt ebenfalls eine Einschränkung der Endgröße. Beginnt der Jugendliche wieder normal zu essen, kommt es zu einem spontanen Aufholwachstum, das – abhängig von der Dauer der Einschränkung – auch vollständig sein kann.
Literatur Greulich WW, Pyle SI (1959) Radiographic atlas of skeletal development of the hand and wrist, Stanford University Press, Stanford, California Kruse K (Hrsg.) (1993) Pädiatrische Endokrinologie. Enke, Stuttgart Stolecke H (Hrsg.) (1997) Endokrinologie des Kindes- und Jugendalters. Springer, Heidelberg und Berlin Ranke MB (Hrsg.) (2003) Diagnostics of Endocrine Function in Children and Adolescents, 3rd ed. Karger, Basel Prader A, Largo RH, Molinari L, Issler C (1989) Physical growth of Swiss children from birth to 20 years of age. Helv. Paed. Acta suppl. 52, 1–125
Internetadressen http://www.willi-will-wachsen.de http://www.wachstum.de http://www.bkmf.de – Bundesverband kleinwüchsige Menschen und ihre Familien e.V., Hillmannplatz 6, 28195 Bremen,
[email protected]
20
179
22
22 Epilepsie C. Langner, H. Müller 22.2
Epidemiologie
)) Epilepsiekranke Jugendliche fallen in die Kompetenz- und Versorgungslücke zwischen Kinderarzt und Neurologe. Neuropädiater machen oft den Fehler, diese Patienten weiter als Kinder zu behandeln und wichtige Erwachsenenthemen wie Sexualität und Verhütung zu lange vor sich herzuschieben. Erwachsenenepileptologen behandeln die Jugendlichen als Erwachsene und vergessen dabei, dass Krankheitseinsicht und Verantwortungsgefühl noch nicht ausgereift sind.
22.1
Die Prävalenz der Epilepsien beträgt ca. 1% (USA, Europa) bis 4–5% (Afrika). Die Inzidenz der Epilepsien liegt bei 40–70 Neuerkrankungen pro 100.000 Menschen pro Jahr bis 100–190 Neuerkrankungen in den sog. Entwicklungsländern. ! Bis zum Alter von etwa 20 Jahren haben etwa 5% der Bevölkerung mindestens einen Krampfanfall.
Betrachtet man neu aufgetretene Epilepsien in der Adoleszenz (10–20 Jahre), so überwiegen generalisierte Anfälle die fokalen. Bei den generalisierten Anfällen handelt es sich vorwiegend um idiopathische Formen (unbekannter Ursache). Die Temporallappenepilepsien haben den größten Anteil an den fokalen Anfällen.
Definition 22.3
Die nahezu häufigste neurologische Störung bei Kindern und Jugendlichen ist die Epilepsie. Selbst gutartige Krankheitserscheinungen, bei denen die Anfallsaktivität in einem bestimmten Lebensalter spontan wieder sistiert, können weitreichende Auswirkungen auf das Erwachsenenleben haben. Jugendliche, die vom Kinderarzt bisher mit der Floskel »Das wächst sich aus« getröstet wurden, fühlen sich getäuscht, wenn die Anfallsaktivität in der Pubertät nicht nachlässt oder sogar zunimmt. In Diagnostik und Therapie der Epilepsien sind in den letzten Jahren ganz erhebliche Fortschritte erzielt worden. Der Begriff der Epilepsie umfasst epileptische Anfälle, die ohne erkennbaren Auslöser chronisch rezidivieren. Davon müssen Krampfanfälle als Symptom zerebraler oder systemischer Krankheiten bzw. akute provozierte Anfälle abgegrenzt werden. Für die Einteilung und Zuordnung der Epilepsien existieren zahlreiche Klassifikationsmodelle. Bei der elektroklinischen Klassifikation steht die Einordnung in: Generalisierte Krampfanfälle. Ein Krampfanfall wird als generalisiert bezeichnet, wenn die klinischen Symptome keinen Hinweis auf eine anatomische Lokalisation geben und wenn keine klinischen Zeichen eines fokalen Beginns zu erkennen sind. In der Regel tritt bei generalisierter Epilepsie eine Bewusstlosigkeit oder eine Bewusstseinsstörung auf. Fokale (partielle) Krampfanfälle. Diese sind dadurch charakterisiert, dass es Hinweise auf einen fokalen Beginn gibt, unabhängig davon, ob es zu einer Generalisierung kommt oder nicht. Die ersten Zeichen eines Anfalls, die früher als Aura bezeichnet wurden, haben einen hohen lokalisatorischen Wert und resultieren aus der anatomischen oder funktionellen neuronalen Aktivierung einer umschriebenen Hirnregion. Daher ist die Anamnese in diesem Fall besonders wichtig. Wenn das Bewusstsein beeinträchtigt ist und Amnesie oder Konfusion während oder nach dem Anfall bemerkt wird, wird der Anfall als komplex-partial klassifiziert.
Klinik – spezielle Krankheitsbilder
Diagnose und Differenzialdiagnose von Epilepsien, die erstmals in der Jugendzeit auftreten, sind nicht immer einfach. Zum einen treten in diesem Alter »Anfälle« auf, die einen völlig anderen pathophysiologischen Hintergrund haben wie z. B. vago-vasale Synkopen, dissoziative (psychogene) Anfälle oder auch Bewegungsstörungen. Ohne spezifischen neurologischen Befund können auch sog, »Partydrogen«, Alkoholabusus oder exzessiver Schlafentzug Krampfanfälle auslösen. Zum anderen beginnen die typischen juvenilen myoklonischen Epilepsien häufig sehr unspektakulär: ! Diskrete Zuckungen in den Extremitäten mit Fallenlassen z.B. der Tasse oder in größeren Abständen auftretende Absencen (Abwesenheitszustände) werden lange Zeit als Ungeschicklichkeit oder Verträumtheit interpretiert.
Typisch sind auch die juvenile Absence-Epilepsie, Epilepsie mit Aufwach-Grand mal und progrediente Myoklonusepilepsie. Aber auch mesiotemporale fokale Epilepsien können erstmals auftreten. Das EEG-Merkmal der gesteigerten Fotosensitivität hat ebenfalls einen Häufigkeitsgipfel in diesem Alter. Andererseits verschwinden während der Adoleszenz bestimmte Epilepsiesyndrome wie die kindliche Absence-Epilepsie, die benigne Epilepsie mit zentrotemporalen Spikes (Rolando-Epilepsie) und die benigne okzipitale Epilepsie. Persistierend sind dagegen das LennoxGastaut-Syndrom, symptomatische Partialepilepsien sowie symptomatische generalisierte Epilepsien. Dagegen treten die im Folgenden aufgeführten Krankheitsbilder neu auf. Juvenile Absence-Epilepsie Sie beginnt jenseits des 10. Lebensjahres und zeigt einen Altersgipfel um das 15. Lebensjahr. Häufigkeit: 10% der idiopathischen generalisierten Epilepsien im Alter zwischen 10–20 Jahren. Bei etwa 10–35% der nahen Verwandten finden sich weitere Epilepsien. Es gibt Assoziationen mit dem Genort 21q22.1 und auch zum Chromosom 8. Im Vergleich zur Absence-Epilepsie des Kindesalters ist die Anfallsfrequenz sehr viel niedriger, dafür haben etwa 75% gleichzeitig Grand-mal-Anfälle. Diese Epilepsieform
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22
Kapitel 22 · Epilepsie
kann sogar mit großen Anfällen beginnen; es können auch myoklonische Absencen auftreten. Die körperliche und geistige Entwicklung ist unauffällig. Das EEG zeigt eine altersgemäße Grundaktivität, daneben bilateral synchrone (über beiden Hirnhälften gleichzeitig) auftretende Spike-(oder Polyspike)Wave-Komplexe von 3,5–4 Hz. Die Therapie erfolgt mit Valproat, ggf. auch mit Lamotrigen. ! Wichtig bleibt die Beachtung einer regelmäßigen Lebensführung mit Vermeidung von Schlafentzug, sonst sind auch nach langer Anfallsfreiheit große Anfälle möglich.
Etwa 85% der Betroffenen werden anfallsfrei; allerdings muss auch nach 2-jähriger Anfallsfreiheit nach dem Absetzen der Medikamente bei etwa jedem Zweiten mit einem Wiederauftreten der Anfälle gerechnet werden. Juvenile myoklonische Epilepsie (Impulsiv-Petit-Mal, Herpin-Janz-Syndrom) Bei 10- bis 20-Jährigen tritt diese Epilepsie in 12% auf. Bei 25– 30% besteht eine familiäre Epilepsiebelastung, bei Eltern und Geschwistern oft auch EEG-Abnormalitäten. Die Vererbung ist polygenetisch, teilweise gekoppelt an Chromosom 6 und 15. Der Beginn der Anfälle liegt bei 12–18 Jahren; Absencen und Grand mal gehen den Anfällen in 20% voraus. Die Myoklonien (Muskelzuckungen) treten bevorzugt nach dem Wachwerden in der Armstrecker- und Schultergürtelmuskulatur ohne Bewusstseinsstörung auf. Gerade in den Händen gehaltene Gegenstände werden oft nicht festgehalten, sondern fallen gelassen oder auch weggeschleudert. Wenn ausnahmsweise die Beine betroffen sind, kann es zu einem Einknicken oder Hinstürzen kommen. Cave Die Gesichtsmuskulatur ist praktisch nie beteiligt. Die Anfälle werden oft verkannt und als Stress oder vermeintliche Angewohnheiten abgetan.
Bei 25% treten zusätzliche Absencen auf, bei über 90% kommt es innerhalb weniger Jahre auch zu generalisierten tonisch-klonischen Anfällen (Grand mal). Die Entwicklung der Jugendlichen ist normal. EEG: normale Hintergrundaktivität, Poly-Spike-Wave oder schnelle generalisierte irreguläre Spike-Waves bis zu 20 sec, durch Hyperventilation aktiviert; 30% sind fotosensibel. Therapie: Valproat in Monotherapie (76% Remission), ggf. auch Lamotrigen. Persönlichkeitsprofil: Mangel an rationaler Selbstkontrolle, negieren häufig physische Bedürfnisse, handhaben die Medikamenteneinnahme eher locker. (Bei psychologischen Tests fand sich eine subtile Beeinträchtigung frontaler Funktionen. Histologisch und kernspintomografisch ließen sich in dieser Hirnregion strukturelle Anomalien nachweisen, die man als Veränderungen interneuronaler Verbindungen interpretierte). Aufwach-Grand-mal-Epilepsie Bis zu 5% aller Epilepsien, Häufigkeitsgipfel bei 15–17 Jahren (6–24). Eine familiäre Epilepsiebelastung haben 10%, vermutlich gibt es Verbindungen zum Chromosom 8. Es treten Grand-mal-Anfälle ohne Aura auf, zu 90% in den ersten Stunden nach dem Aufwachen, selten nach Feierabend.
Den Anfällen können bilaterale Myoklonien (Muskelzuckungen) und Absencen vorausgehen. In 80% werden sie durch Schlafmangel, Alkoholabusus o. Ä. ausgelöst. Therapie: Mit Valproat werden 75–85% anfallsfrei. Die betroffenen Jugendlichen haben oft Complianceprobleme. Cave Nach dem Absetzen der Medikamente muss bis zu 90% mit einem Wiederauftreten der Anfälle gerechnet werden.
Temporallappenepilepsie Die Temporallappenepilepsie tritt am häufigsten gegen Ende der ersten oder zu Beginn der zweiten Lebensdekade auf. Im Vordergrund stehen dabei Anfälle des mesialen Temporallappens. In der Vorgeschichte finden sich gehäuft familiäre Epilepsie und komplizierte Fieberkrämpfe. In 80% der Fälle tritt eine Aura (Vorgefühl) auf, meist epigastrisch, von der Magengegend, beginnend ein aufsteigendes unbeschreibbares Gefühl mit eventuellen Angstgefühlen, geruchlichen oder geschmacklichen Halluzinationen. Die häufigste Abfolge des Anfalls beginnt dann mit einem starren Gesichtsausdruck, gefolgt von Schmatz-, Leck- oder Schluckbewegungen, Nesteln, Umherblicken, Aufstehen oder auch einer verkrampften Haltung des Armes, der dem Anfallsherd gegenüberliegt. Im Anfall nimmt der Jugendliche die Umgebung nicht wahr und kommt über eine Reorientierungsphase allmählich wieder zu sich. Ob es zu Sprachstörungen kommt, hängt von der betroffenen Seite ab. Neben Kurzzeitgedächtnisstörungen gibt es gehäuft psychiatrische Auffälligkeiten (besonders Depressionen). Im EEG findet man einseitig oder unabhängig voneinander beidseitige temporal vorn gelegene Spikes. Therapie: Etwa 30% der Betroffenen werden unter Carbamazepin oder Valproat nicht anfallsfrei. ! Es sollte unbedingt die Möglichkeit eines epilepsiechirurgischen Eingriffs geprüft werden (Erfolgsraten mit Anfallsfreiheit bis zu 80%).
22.4
Diagnostik
Nach einem ersten epileptischen Anfall ergeben sich die folgenden Fragen: 4 Erlitt der Patient einen Gelegenheitsanfall oder einen unprovozierten epileptischen Anfall? 4 Liegt bereits eine Epilepsie vor? 4 Welche Ursache hat der Anfall, und wie hoch ist das Rezidivrisiko? 4 Bedarf der Patient einer medikamentösen Dauertherapie? Entscheidend sind Anamnese (Vorgeschichte) und Anfallsbeschreibung! In der Vorgeschichte sollte nach Fieberkrämpfen und Schädel-Hirn-Traumen gefragt werden. Die Symptome müssen insbesondere bei vermuteten kleinen Anfällen aktiv erfragt werden, 50% der Auren eines Grand mal werden nicht erinnert. Auch Eltern oder Freunde, die bei dem Jugendlichen waren, sollte man genau befragen (Fremdanamnese). Was waren eventuell auslösende Faktoren (Schlafmangel, Alkoholmissbrauch, TV, Videospiele, Musik)?
181 22.5 · Therapie
! Für einen zerebralen Anfall sprechen: plötzlicher Beginn der Symptomatik, meist geöffnete Augen und starrer Blick, langsame Reorientierung. Nach Videoaufzeichnung fragen!
4 Körperliche Untersuchung: Defizite, seitlicher Zungenbiss, Petechien (punktförmige Hautblutungen) 4 Neurologische Untersuchung: Lähmungen, asymmetrische Befunde, Orientierung? 4 EEG: immer mit Hyperventilation und Fotostimulation, möglichst mit Schlafableitung, ggf. nach Schlafentzug. Postiktale EEG-Ableitungen haben die höchste Ausbeute pathologischer Befunde innerhalb der ersten 12–24 Stunden. 4 MRT: (Magnetresonanztomografie) Die strukturelle Bildgebung mit MRT sollte bei allen Patienten mit Epilepsie nach vorheriger EEG-Untersuchung durchgeführt werden, ausgenommen, wenn eine spezifische elektroklinische Diagnose einer idiopathischen generalisierten Epilepsie oder benigner Partialepilepsie des Kindesalters mit zentro-temporalen Spikes gestellt worden ist. Die MRT ist essentiell in der prächirurgischen Epilepsiediagnostik. Tipp: Empfehlungen zur Bildgebung bei Patienten mit Epilepsie: Epilepsieblätter (2000) 13: 92‒93. Weitere Untersuchungen wie fMRT (funktionelle MRT), MRS (Magnetresonanzspektroskopie), SPECT (Single Photon Emission Computer Tomography) oder PET (Positronenemissionstomographie) dienen genauerer Diagnostik vor chirurgischen Eingriffen oder wissenschaftlichen Fragestellungen. 4 Neuropsychologische Testung: Sie dient der Feststellung von z. B. Intelligenz, Sprach- und Hörvermögen, von Aufmerksamkeit u. a. vor Beginn und zur Kontrolle im Verlauf einer medikamentösen Behandlung.
22.5
Therapie
Wichtig ist, sowohl den Jugendlichen als auch seine Eltern zur Behandlung zu motivieren. Für ihn muss eine nachvollziehbare Darlegung von Sinn, Zielen und Chancen der Therapie erfolgen. Er braucht eine verständliche Information über die Risiken der Anfälle und die Krankheitsprognose. Bei regelmäßigen Untersuchungen und Gesprächen müssen Ängste und Beschwerden ernst genommen werden. Es gilt einerseits überzeugend Verständnis zu zeigen, gleichzeitig aber auch konsequent auf vernünftigen Therapiestrategien zu bestehen. Ein besonderes Konfliktpotential besteht zwischen dem, was die Eltern an krankheitsbedingten Einengungen erhalten wollen, und der typischen pubertären Rebellion. Bei den Jugendlichen hingegen gibt es zwei Extreme: Konsequentes Verdrängen der Krankheit mit provokativen Regelverstößen (Alkohol etc.) oder aber ängstlich klammerndes Binden mit fehlender Selbständigkeitsentwicklung. ! Behandlungsgrundsätze: Den Jugendlichen, nicht die Eltern ansprechen – Einzelgespräche ohne Eltern – Eltern auffordern, die Verantwortung schrittweise an den Jugendlichen zu übertragen.
Es sollten Antiepileptika mit einer möglichst geringen Wahrscheinlichkeit für Störwirkungen im kognitiven, kosmetischen
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und hormonellen Bereich bevorzugt werden. Bei der Pharmakotherapie sollten folgende Regeln beachtet werden: 4 Effekte der Pubertät auf Wachstum und Gewichtsänderung, Anpassung der Dosierung 4 Compliance (Verlässlichkeit) erhöhen durch Reduzierung auf 1–2 Dosen, Medikamentenspiegel zur Compliancekontrolle Bei medikamentöser Therapieresistenz gibt es noch weitere Optionen: 4 Epilepsiechirurgie 4 Vagusstimulation 4 Ketogene Diät 4 Selbstkontrolle 22.5.1 Endokrinologische Aspekte Interaktion von neurogenen und endokrinen Mechanismen Für das Neuauftreten einer Epilepsie bzw. die Anfallszunahme in der Pubertät ist die hormonelle Umstellung mit ausschlaggebend. Oestrogene erhöhen die neuronale Erregbarkeit, Progesteron und insbesondere sein Metabolit Allopregnanolon haben antikonvulsive Eigenschaften. Bei mehr als einem Drittel der Patientinnen liegt der Epilepsiebeginn um die Menarche herum (Klein et al. 2003). Bei Epileptikerinnen mit fokalen, besonders temporalen Anfällen findet sich eine verminderte, bei solchen mit primär generalisierten Anfällen eine verstärkte hypophysäre Aktivität. Hormonabhängige Schwankungen der Anfallsfrequenz Am auffälligsten sind Anfallsschwankungen im Rahmen des menstruellen Zyklus (katameniale Anfälle); daher ist die genaue Führung des Anfallskalenders und, je nach Alter der Jugendlichen, auch eine Zusammenarbeit mit dem Gynäkologen wichtig. Fertilitätsstörungen ! Die Fertilität der Epilepsiepatientinnen ist im Vergleich zu gesunden Frauen bis auf ein Drittel vermindert.
Es gibt öfter anovulatorische Zyklen und das Syndrom der polyzystischen Ovarien (PCO-Syndrom) bevorzugt bei Valproattherapie. Wahrscheinlich ist jedoch eher die Gewichtszunahme ausschlaggebend (7 Kap. 31). Cave Warnzeichen einer Endokrinopathie sind: 5 Übergewicht, insbesondere ein männliches Fettverteilungsmuster (Taillen-Hüft-Quotient größer als 0,8) 5 Männliches Behaarungsmuster, Akne und eine androgenetische Alopezie (Haarausfall) 5 Irreguläre menstruelle Zyklen
Sicherung der oralen Kontrazeption Eine erhöhte Versagerquote bei der oralen Kontrazeption (7 Kap. 38.1) gibt es besonders bei enzyminduzierenden Antiepileptika (Carbamazepin, Phenytoin, Barbiturate und schwächer
182
22
Kapitel 22 · Epilepsie
bei Oxcarbazepin und Topiramat). Sicherer erscheinen Ethosuximid und Benzodiazepine, am zuverlässigsten sind Valproat, Lamotrigin, Vigabatrin und Gabapentin. Generell wird die kontinuierliche Einnahme eines monophasischen Präparates ohne die sonst üblichen siebentägigen Pausen empfohlen. Cave Antiepileptika und orale hormonale Kontrazeptiva nie zur gleichen Tageszeit einnehmen, sondern möglichst um 12 Stunden versetzt!
22.6
Langzeitprognose
Wenn ein Jugendlicher mit Epilepsie 2 Jahre oder länger anfallsfrei gewesen ist, kann das Absetzen der Antiepileptika erwogen werden. Die Entscheidung, die Medikamente abzusetzen, ist abhängig von dem Risiko des Wiederauftretens von Anfällen und den möglichen physischen und psychosozialen (z. B. 6 Monate Führerscheinentzug) Auswirkungen erneuter Anfälle. Ein hohes Rezidivrisiko haben Absencen und Grand mal (65%), idiopathisches Grand mal (80%), Juvenile myoklonische Epilepsie (90%), komplex fokale Anfälle (87%) (7 Abschn. 22.3). ! Der häufigste Patientenfehler besteht darin, dass mit dem Absetzen eine anfallsfördernde Lebensweise mit zu wenig Schlaf oder Alkoholkonsum aufgenommen wird.
22.7
Soziale Beratung und Betreuung
Eine Epilepsie, auch wenn sie gut einstellbar ist, hat erhebliche Auswirkungen auf die weitere Lebensgestaltung der Jugendlichen. Außer bei sehr seltenen Anfällen besteht eine Schwerbehinderung von mindestens 50%. Dies hat Bedeutung für Kündigungsschutz, Urlaubstage und Wehrdiensttauglichkeit. Schule und Beruf Gesunde wie kranke Jugendliche haben den gleichen schweren Weg vor sich, nämlich sich vom Elternhaus zu lösen und selbstständig zu werden, um als Erwachsene schließlich eigenverantwortlich ihr Leben gestalten zu können. Die richtige Schule zu finden ist (kann) ein erster Schritt (sein), die Diagnose Epilepsie zu verarbeiten. Der Maßstab sollte das tatsächliche schulische Können der Betroffenen sein. Epilepsie bedeutet eben nicht automatisch geistige Behinderung. Doch dazu bedarf es engagierter, vor allem aber informierter Lehrer (Brandi 1998). Was die Berufsfindung angeht, so sollte man von den Berufsinteressen des Jugendlichen ausgehen. Um frühzeitig Fehlentwicklungen vorzubeugen, sollten die Stärken, aber auch die Schwächen des Jugendlichen neuropsychologisch untersucht werden. Mangelndes Selbstwertgefühl, Teilleistungsschwächen, Unselbstständigkeit oder Probleme im Sozialverhalten müssen berücksichtigt werden. Berufspraktika und Ergotherapie können bei der Berufswahl Entscheidungen erleichtern. Je nach den arbeitsmedizinischen Gefährdungskategorien O und A bis D kommen unterschiedliche Berufe in Frage, die der Epilepsiekranke ausüben kann (Wolf 2003).
! Bei jungen Erwachsenen übernimmt das Arbeitsamt bis zu 3 Monate die Kosten für Berufsfindungsmaßnahmen. Ist eine medizinische Behandlung vor Aufnahme der Berufsausbildung zur Optimierung der Anfallstherapie notwendig, so ist der Kostenträger die Krankenkasse.
Eine weitere Maßnahme kann die Teilnahme an einem Berufsvorbereitungsjahr sein, in dem meist einige Berufsfelder vorgestellt und dann eines davon im 2. Halbjahr vertieft wird. Berufsbildungswerke bieten auch Arbeitserprobungen bis zu 60 Tagen an. Diese Einrichtungen sowie ggf. Stützunterricht werden vom Arbeitsamt bezahlt. Kann ein Jugendlicher keinen qualifizierten Berufsabschluss auf Grund seiner Epilepsie oder anderer zusätzlicher Einschränkungen machen, so kann er in eine Werkstatt für Behinderte eingegliedert werden. Dies erfolgt in je einem einjährigen Grund- und Aufbaukurs. Sport ! Sport ist bei Epilepsie wie bei vielen anderen chronischen Krankheiten für die meisten Patienten zu empfehlen.
Sport fördert die allgemeine körperliche Widerstandskraft, vor allem aber können psychische Spannungen abgebaut werden (7 Kap. 41). Von Leistungssport sollte jedoch i. A. abgeraten werden. Als Informationsgrundlage kann das Merkblatt von Lipinski (2001) dienen. Bis zur Festlegung der endgültigen Diagnose und Erzielung von (möglichst) Anfallsfreiheit wird Sport zunächst nur vereinzelt erlaubt sein; während dieser Zeit kann sich der Jugendliche mit dem Thema auseinandersetzen. Die bei Sport notwendige Hyperventilation (HV) ist nicht gefährlich, da Muskelarbeit eine azidotische Stoffwechsellage hervorruft, während HV in Ruhe die anfallsfördernde Alkalose erzeugt. Besondere Vorsichtsmaßnahmen erfordern alle Wassersportarten und Radfahren. Gut geeignet sind dagegen Laufen und Ballspiele. Eine neuere Übersicht findet sich u. a. bei Wolf (2003). Führerschein Eine Anfallsfreiheit ermöglicht die Vergabe eines Führerscheins. Sie ist zugleich eine Chance, die Compliance von Jugendlichen zu verbessern. Für diese sind zunächst die Fahrzeuge der Gruppe 1 (Moped, Motorrad, PKW und ggf. Traktor) interessant. Je nach Epilepsieform muss der Patient mit oder ohne Medikamente zwischen 0,5 und 3 Jahren anfallsfrei sein. Genauere Richtlinien finden sich in den »Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahrereignung bei Anfallsleiden« (Lewrenz 2001), die zuletzt im Januar 2000 vom »Gemeinsamen Beirat für Verkehrsmedizin« veröffentlicht wurden. Der betreuende Arzt hat eine Informationspflicht gegenüber dem Patienten, allerdings keine Meldepflicht gegenüber der den Führerschein ausstellenden Behörde. ! Dem Arzt wird dringend empfohlen, sich eine schriftliche Notiz über den Inhalt der Aufklärung zu machen. Eventuell ist eine Rechtsgutabwägung zwischen Schweigepflicht und Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer notwendig.
Impfungen und Reisen Die üblichen Impfungen (7 Kap. 36) in Mitteleuropa gegen Diphtherie, Tetanus, Keuchhusten, Kinderlähmung, HIB (Hämophi-
183 Literatur
lus influencae Typ B), Hepatitis B, Masern, Mumps und Röteln können problemlos nach den allgemeinen Empfehlungen durchgeführt werden. Vor Reisen in bestimmte Gebiete müssen eventuell weitere Impfungen erfolgen. In Einzelfällen sind Anfälle bei Impfungen gegen Meningokokken, Gelbfieber und Tollwut aufgetreten. Hierbei wie insbesondere bei Impfungen gegen Cholera und parenteral gegen Typhus und Paratyphus ist die Indikation gegenüber dem Risiko genau zu beachten. Bei Reisen in Malariagebiete ist die Expositionsprophylaxe entscheidend. Während Chloroquin und Mefloquin Anfälle auslösen können, gilt dies nicht für Proguanil und Doxycyclin. Das Kombinationspräparat Atovaquon/Proguanil ist ebenfalls geeignet und hat jetzt auch die Zulassung für Kinder ab 11 kg/Körpergewicht. Dieses Medikament braucht nur 1–2 Tage vor Reiseantritt bis einschließlich 7 Tage danach eingenommen zu werden (Bauer et al. 2003). Bei Flugreisen über längere Strecken muss die Zeitverschiebung berücksichtigt werden. Matthes und Schneble (1999) empfehlen ggf. die Medikamente 1 Stunde vor Abflug einzunehmen, damit die Substanz bei eventuellem Erbrechen bereits resorbiert ist.
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sen werden, bei chronischem Gebrauch muss mit schlechter Compliance wegen zunehmender Demotivation gerechnet werden. ! Jüngste Versuche am Institut für Hirnforschung an der Uni Bremen bestätigten gerade, dass chronischer Haschischgebrauch in der Pubertät das Gehirn eindeutig schädigt. Kokain und Crack. Die zusätzliche Gefahr für jugendliche Epileptiker liegt darin, nicht genügend Schlaf zu bekommen. Allerdings können auch Anfälle nach Erstgebrauch auftreten (Zagogni u. Albano 2002). Ecstasy. Es wirkt als Amphetaminabkömmling schlafverhin-
dernd. LSD. Bei LSD wird durch Veränderung der erlebten Realität wie-
derum die Compliance schlechter. Opiate. Sie können wie Morphin oder Heroin, schnell i.v. ge-
spritzt, Krampfanfälle auslösen.
! Bei Reisen nach Westen muss je nach Tagesverlängerung eine Zusatzdosis, beim Flug nach Osten eine Verringerung der Tagesdosis eingeplant werden.
Schnüffelstoffe. Sie schädigen auf Dauer das Nervensystem irreversibel (zu Drogen 7 Kap. 37).
Eine vertraute Begleitperson, die sich mit den Anfällen des Patienten und auch mit Notfallmedikation auskennt, ist sehr zu empfehlen. Ist mit Anfällen zu rechnen, sollte eine rechtzeitige Kontaktaufnahme mit dem medizinischen Dienst der jeweiligen Fluggesellschaft aufgenommen werden, um ggf. auch rechtliche Folgekosten zu vermeiden. Hierzu sowie zu weiteren Themen findet sich eine ausführliche neuere Übersicht bei Bauer et al. (2003).
Epilepsiekranke Jugendliche zeigen altersabhängige Epilepsiesyndrome mit ganz spezifischen Problemen. Bei der Wahl des Antiepileptikums ist darauf zu achten, dass die Medikation nicht nur wirksam, sondern auch gerade im Hinblick auf die Kognition, Stimmung sowie kosmetisch und hormonell verträglich ist. Therapiefehler können in diesem Alter, in dem entscheidende Weichen für die berufliche und zwischenmenschliche Zukunft gestellt werden, fatale Folgen haben. Mit den Jugendlichen müssen ausführlich alle Aspekte der Epilepsie besprochen werden: Schullaufbahn und Beruf, Unabhängigkeit, Fahrerlaubnis und Sexualität.
Medien Fotosensible Epilepsien sind selten, so dass Computerarbeit, Fernsehen und Videospiele kaum Auslöser von Anfällen sind. Insbesondere bei einem zu erhaltenden Arbeitsplatz sollte man durch eine optimale Einstellung des Bildschirms und seiner Umgebung sowie die Handhabung dafür sorgen, dass die Potenz zur Provokation eines Anfalls gering ist. Für die Behandlung mit Valproat ist zumindest eine Supprimierung der Fotosensibilität von 75% der Betroffenen zu erwarten (zu Medien 7 Kap. 8). Drogen Nikotin. Nikotin gefährdet die Gesundheit von Epilepsiekranken
in gleicher Weise wie die aller anderen Menschen. Alkohol. In kleinen Mengen getrunken, etwa das eine Glas Bier, Wein oder Sekt, ist Alkohol (Gordon u. Devinsky 2001) praktisch ungefährlich. Vor Hochprozentigem oder gar einem Trinkgelage soll man Jugendliche warnen, da es besonders in der Abbauphase des Alkohols zu Anfällen kommen kann. Vor allem bei jungen Patienten mit Juveniler Myoklonus-Epilepsie und AufwachGrand mal werden Anfälle nach verstärktem Alkoholkonsum beschrieben. Koffein. Koffein in Kaffee, Cola, Tee oder Energy-Drinks ist ein-
zuschränken, wenn es den regelmäßigen Schlaf behindert. Cannabis. Bei Cannabisprodukten (Gordon u. Devinsky 2001)
kann keine akute Erniedrigung der Krampfschwelle nachgewie-
Fazit
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184
Kapitel 22 · Epilepsie
Wolf P (Hrsg) (2003) Praxisbuch Epilepsie, 1. Aufl. Kohlhammer, Stuttgart Zagnoni PG, Albano C (2002) Psychostimulants and Epilepsy. Epilepsia 43 (Suppl 2) 28–31
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Bücher, Broschüren und Videos Altrup U, Elger CE (2000) Epilepsie, Informationen in Texten und Bildern für Betroffene, Angehörige und Interessierte. Novartis Pharma Gehle P (2003) Jugendliche mit Epilepsie (Hrsg.) Stiftung Michael, sehr zu empfehlen für betroffene Jugendliche Krämer G (2000) Epilepsie von A–Z, Medizinische Fachwörter verstehen, 2. Aufl. Trias, Stuttgart Krämer G (2000) Epilepsie – Antworten auf die häufigsten Fragen. Trias, Stuttgart Schaudwet A (1999) Epilepsie bei Kindern und Jugendlichen in der Schule. Ein Handbuch für Pädagoginnen, Pädagogen und Eltern. Luchterhand, Neuwied Kriftel Berlin Schwager HJ et al. (2004) Pädagogischer Ratgeber bei Epilepsie mit beruflichen Perspektiven, 5. Aufl. Stiftung Michael (Hrsg.) Steinmeyer HD, Thorbecke R (2003) Rechtsfragen bei Epilepsie (Hrsg.) Stiftung Michael Stiftung Michael (Herbst 2004) in Vorbereitung: Arbeit und berufliche Rehabilitation bei Epilepsie Videofilme, an deren Gestaltung jugendliche Epilepsiekranke mitgewirkt haben (Leitung: Frau PD Schmitz, Berlin)-anzufordern bei GSK-Hotline 0800/1223355
Nützliche Adressen Asklepios Klinik Schaufling, Abteilung für Neurologische und Neuropsychologische Rehabilitation, Hausstein 30 1/2, 94571 Schaufling, Tel.: 09904/77 5571; Fax: 09904/77 5572,
[email protected], http:// www.asklepios.com/Schaufling Berufsbildungswerk Bethel, An der Rehwiese 5-63, 33617 Bielefeld, Tel.: 0521/1444182, Fax: 0521/1444079, http://www.bbw-bethel.de Deutsche Epilepsievereinigung (DE), Zillestr. 102, 10585 Berlin, Tel.: 030/3424414; Fax: 030/3424466,
[email protected], http://www.epilepsie.sh Deutsche Sektion der Internationalen Liga gegen Epilepsie, Herforder Str. 5-7, 33602 Bielefeld, Tel.: 0521/124192; Fax: 0521/124172,
[email protected], http://www.ligaepilepsie.org Epilepsie Bundeselternverband e.V., Frau Bärbel Popp, Streitbergstr. 59, 81249 München, Tel.: 089/86488823; Fax: 089/86488823,
[email protected], http://www.epilepsie-elternverband.de Informationszentrum Epilepsie (IZE), Herforder Str. 5-7, 33602 Bielefeld, Tel.: 0521/124117; Fax: 0521/124172,
[email protected], http://www. izepilepsie.de Rehabilitationsabteilung für Anfallskranke, Epilepsie Zentrum Bethel, Krankenhaus Mara gGmbH, Karl-Siebold-Weg 11, 33617 Bielefeld, Tel.: 0521/144 4590, Fax: 0521/144 6088,
[email protected], http://www. bethel.de Stiftung Michael, Münzkamp 5, 22339 Hamburg, Tel.: 040/5388540; Fax: 040/5381559,
[email protected], http://www.stiftung-michael.de
171
21
21 Kardiologie Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene mit anhaltenden oder drohenden kardialen Problemen D. Hassberg )) Das folgende Kapitel soll einen Orientierungsrahmen für nicht speziell kinderkardiologisch geschulte Ärzte und Betreuer darstellen. Detailliertes Fachwissen zu den einzelnen Abschnitten oder zu weiteren kardiologischen Themen sind entsprechenden Fachbüchern oder Standardwerken zu entnehmen (Apitz, Schmaltz, Schumacher, Walsh). Hinsichtlich kardialer Erkrankungen wird weder erwartet, dass der hausärztliche Kinder- und Jugendarzt weitergehende differenzialdiagnostische Maßnahmen durchführt, noch spezifische therapeutische Schritte einleitet (Ra-id 2004).
Aufgrund der wenigen herzkranken Kinder in einer Praxis werden hausärztlich tätige Kollegen keine Routine in der Betreuung chronisch herzkranker Patienten gewinnen können. Vielmehr ist es deren wichtige Aufgabe, die Symptome und Zeichen möglicher Herzfehler oder deren Folgeprobleme zu erkennen (zu erahnen) und die Patienten entsprechend dieser Erkenntnisse an einen Kinderkardiologen oder ein kinderkardiologisches Zentrum weiter zu leiten. Weiterhin ist der hausärztliche Kinder- und Jugendarzt die Schlüsselperson hinsichtlich auftauchender Rückfragen, erneuter Kontaktaufnahme, Therapiefortführung und Veranlassung von Kontrolluntersuchungen. Er ist zugleich erste Anlaufstelle bei familiären oder psychosozialen Problemen durch das chronisch kranke Kind oder den Jugendlichen. Hierin unterscheidet sich die Betreuung chronisch kranker Kinder und Jugendlicher sowie deren Familien im kinderkardiologischen Bereich nicht von anderen Fachbereichen mit chronischen Erkrankungen wie der Onkologie, Diabetologie, Rheumatologie, Pneumologie (Ullrich 2002). Familien mit einem chronisch kranken Kind oder Jugendlichen brauchen in jedem Fall neben der kompetenten ärztlichen Versorgung und einer adäquaten personen- und sachbezogenen Aufklärung das Gefühl der Sicherheit, in extremen Belastungssituationen aufgefangen zu werden (Ollenschläger 2004). Dies gilt in besonderem Maße für das kranke Kind und den Jugendlichen selbst. Aufgrund der schwierigen Materie muss lange Zeit ohne Einbeziehung des Kindes über Diagnose, Therapie, Verlauf und Prognose diskutiert werden. Das Kind kann erst nach und nach altersentsprechend eingebunden werden. Um eine kognitive und psychische Überforderung zu vermeiden, gilt der Grundsatz, nur so weit aufzuklären, wie das Kind dies wünscht. Spätestens im Jugendalter sollte allerdings das Ziel – die zunehmende Eigenverantwortlichkeit des Jugendlichen zu stärken ‒ anvisiert werden. Dies erfordert nicht selten besonderes Feingefühl, denn einerseits verlangen die Jugendlichen in diesem Alter, vor allem in schwierigen Lebenssituationen, noch die Stütze ihrer Eltern, die auch nicht zu früh aus ihrer Verantwortung entlassen werden dürfen, zumal bis zur Vollendung des 16. Lebensjahres für diagnostische und operative Eingriffe und einige Medikamente das schriftliche Einverständnis beider Eltern erforderlich ist. Ande-
rerseits besteht für die Jugendlichen die Gefahr einer unangemessenen Abhängigkeit von den Eltern und die permanente Einschränkung durch »Overprotection«. Sowohl »Schutz« als auch »Loslassen« müssen beachtet und beherrscht werden. Der Jugendliche sollte dabei, wenn irgend möglich, als primär anzusprechende Person eingebunden werden.
21.1
Anhaltende Probleme durch angeborene Herzfehler
Es ist selbstverständlich, dass komplexe und nicht korrigierte Herzfehler Beschwerden und Probleme nach sich ziehen. Bei operierten bzw. »korrigierten« (treffender wäre der englische Begriff »repaired«) Herzfehlern ist die Sichtweise anders. Hier wird der Satz »Operiert ist nicht geheilt!« oft vergessen. Dieser Satz trifft auf eine Reihe von Herzfehlern zu, bei denen sich im postoperativen Verlauf nahezu zwangsläufig Veränderungen einstellen, die erhebliche Probleme bereiten und auch lebensbedrohend werden können (Walsh 2001; Webb 2003). Im Folgenden sind häufigere Herzfehler aufgeführt (. Tab. 21.1). Die prozentuale Häufigkeit steht in Klammern. ASD (7–10%), VSD (25–30%), Pulmonalstenose (3–9%), persistierender Ductus (7–8%) Vorhofseptumdefekt, Ventrikelseptumdefekt, Pulmonalstenose oder persistierender Ductus sind, sofern operativ oder interventionell verschlossen, »einfache Herzfehler«, die hier nur in sofern erwähnt werden , als auch spät postoperativ Rhythmusstörungen auftreten können. Bei kleinen, nicht verschlossenen Defekten ist an die Durchführung der Endokarditisprophylaxe zu denken. Aortenisthmusstenose (5–8%) Für diesen vermeintlich simplen Herzfehler gilt der Hinweis »Operiert ist nicht geheilt« in überraschender Weise. Die Patienten sind gefährdet durch Re-Stenosierungen, erneut auftretenden brachiocephalen Hypertonus oder durch eine generelle arterielle Hypertonie (auch bei guten anatomischen Ergebnissen!), früh auftretende koronaren Herzerkrankungen (frühes Erwachsenenalter). ! Etwa 50% der Patienten weisen eine bikuspidale Aortenklappe auf – im Erwachsenenalter ist dies der häufigste Grund für einen Aortenklappenersatz! Auffällige Befunde können auch erst Jahre (!) nach dem eigentlichen Eingriff auftreten.
Aortenstenose (3–8%), Fibromuskuläre Subaortenstenose (1%) Diese Obstruktionen des linken Ventrikels sind im Hinblick auf eine Operation oder Herzkatheterintervention in der Regel erst bei höhergradiger Stenosierung (echokardiographischer Ruhegradient über 60 mmHg) bedeutsam. Für die Subaortenstenose gilt jedoch, dass sie bereits bei sehr niederen Druckgradienten zu einer zunehmenden Aortenklappeninsuffizienz führen kann
172
21
Kapitel 21 · Kardiologie
. Tabelle 21.1. Übersicht über problematische angeborene Herzfehler, besondere Risiken und beachtenswertes bezüglich Belastbarkeit bzw. Sport
Herzfehler
Besonderes Risiko
Belastbarkeit/Sport
Operierte ASD, VSD, Pulmonalstenose, Ductus
Nur bei zusätzlichen Befunden oder Rhythmusstörungen
Weitgehend normal
Aortenisthmusstenose
Rezidivgefahr; brachiocephale Hypertonie
Gering eingeschränkt bis riskant, je nach Befund
Aortenstenose, Subaortenstenose
Laufende Verschlechterung, Rezidivgefahr, Rhythmusstörungen
Gering eingeschränkt bis riskant, je nach Befund
Fallot’sche Tetralogie
Zunehmendes Pulmonalvitium, Rechtsherzinsuffizienz, Rhythmusstörungen
Deutlich eingeschränkt bis riskant, je nach Befund. Cave: Schwangerschaft
AV-Klappenfehlbildungen
Zunehmende Klappeninsuffizienz, Rhythmusstörungen
Weitgehend normal bis deutlich eingeschränkt
TGA – Z.n. Vorhofumkehr
Zunehmende Rechtsherzinsuffizienz, bradykarde und tachykarde Rhythmusstörungen
Wenig eingeschränkt bis verboten, je nach Alter und Befund. Cave: Schwangerschaft
TGA – Z.n. Switch-Op.
Im Verlauf Koronararterienprobleme?
In der Regel keine Einschränkung
Fontan-Zirkulation
Zunehmende Herzinsuffizienz, Thromboembolien, Hohlvenenstauung, Zyanose, Eiweißverlustenteropathie, Rhythmusstörungen, Antikoagulantien
Deutliche Einschränkungen bis verboten. Cave: Tauchen: Große Höhen (>2000 m); Schwangerschaft; ggf. Fliegen
Kardiomyopathien
Rhythmusstörungen, Herzinsuffizienz
Sport oft untersagt – je nach Befund Cave: Schwangerschaft
Morbus Ebstein
Rhythmusstörungen, Herzinsuffizienz, Zyanose
Oft deutlich eingeschränkt
Angeboren korrigierte TGA
Erst spät Rechtsherzinsuffizienz, AV-Block III.°, Herzschrittmacher
Einschränkung oft erst jenseits 12.–15. Lebensjahr
Pulmonale Hypertonie, Eisenmenger-Syndrom
Hochrisikopatienten! Rhythmusstörungen, Polyglobulie, Gerinnungsstörungen
Stark eingeschränkt bis verboten (7 auch Fontan-Zirkulation) Cave: Schwangerschaft vermeiden!!
Herztransplantation
Abstoßung, Immunsuppression, Folgeerkrankungen
Belastbarkeit bei guten Befunden annähernd normal
Vgl. hierzu Sticker et al. 2003.
und dann zur Operation zwingt. Mehrfache Rezidive der Subaortenstenose sind nicht ausgeschlossen. Die Gefahr eines postoperativen AV-Block III. Grades mit nachfolgender Schrittmacherpflichtigkeit ist dann hoch. Die Schwere einer Aortenklappenstenose nimmt in 50‒60% der Fälle mit dem Alter des Patienten zu. Das Endokarditisrisiko ist hoch, ein Klappenersatz im Erwachsenenalter (insbesondere bei der bikuspidalen Aortenklappe) ist häufig erforderlich. Cave Plötzliche Todesfälle werden ventrikulären Arrhythmien (meist unter oder nach körperlicher Aktivität) angelastet, die auch schon bei geringeren Druckgradienten auftreten können. Sportliche Betätigung sollte deshalb nur nach Maßgabe des Kardiologen erlaubt werden.
Korrigierte Fallot’sche Tetralogie (5–8%) Das häufigste Problem stellt die postoperative Pulmonalklappeninsuffizienz dar, die zum späteren Rechtsherzversagen führen kann. Atriale oder ventrikuläre Rhythmusstörungen, besonders unter Belastung, spiegeln häufig ein unbefriedigendes funktionelles Ergebnis wider. Zu bedenken ist auch, dass annähernd 50% der Patienten eine hemizygote chromosomale Mikrodeletion 22q11 aufweisen und dementsprechende Betreuung und Frühförderung benötigen. Immunologische Besonderheiten eines möglicherweise zusätzlich assoziierten DiGeorge-Syndroms sind zu berücksichtigen. Fehlbildungen der Atrioventrikularklappen (3–9%) Isolierte Fehlbildungen der AV-Klappen sind selten und in der Regel kombiniert mit sehr komplexen Herzfehlern (7 Abschn. Fontan-Zirkulation). Gemeint sind hier Patienten mit komplettem atrioventrikulärem Septumdefekt (kompletter AVSD ‒ früher
173 21.2 · Anhaltende Probleme durch angeborene Herzfehler
kompletter AV-Kanal). Ein hoher Prozentsatz der Patienten weist eine Trisomie 21 auf (Angaben von 25‒80%). Hauptprobleme entstehen durch die fehlgebildeten AV-Klappen und deren Rekonstruktionspflichtigkeit. ! Es verbleiben postoperativ AV-Klappeninsuffizienzen oder Stenosen, die mit dem Alter zunehmen und gelegentlich zum Klappenersatz führen. Atriale und ventrikuläre Rhythmusstörungen sind häufig. Die Behinderung durch die Trisomie 21 erschwert die Betreuung.
Transposition der großen Arterien – TGA (4–6%) Operation durch Vorhofumkehr (Senning- oder MustardKorrektur) Bis Anfang 1990 wurden Patienten mit TGA noch durch Umleitung des arteriellen und venösen Blutes auf Vorhofebene »korrigiert«. Funktionell zunächst ein sehr gutes Ergebnis ‒ auf die Dauer aber anatomisch ungünstig, da der rechte Ventrikel den Systemkreislauf aufrecht erhalten muss, hierfür aber nicht angelegt ist. Folge ist eine sich nach Jahren bis Jahrzehnten entwickelnde rechtsventrikuläre Hypertrophie und Dilatation mit konsekutiver Trikuspidalklappeninsuffizienz, zunehmender Rechtsherzinsuffizienz und häufigen atrialen wie ventrikulären Rhythmusstörungen. Cave Eine Schwangerschaft stellt ein hohes Risiko für Mutter und Kind dar, da sich die kardialen Verhältnisse gravierend verschlechtern können.
Bei fortschreitendem Rechtsherzversagen besteht für das Erwachsenenalter derzeit nur in besonderen Einzelfällen eine operative Möglichkeiten in der Rücknahme der Vorhofumkehr mit anschließender »arterieller Switch-Operation« oder durch eine Herztransplantation, beides mit hohem Risiko, letzteres mit anhaltenden Folgeproblemen. Arterielle Switch-Operation Heute ist die anatomische Korrektur einer TGA mittels »arterial switch« üblich. Bei anatomisch-funktionell guten postoperativen Verhältnissen treten bis in die Adoleszenz kaum Probleme auf, immer jedoch abhängig von möglichen zusätzlichen Fehlbildungen des Herzens. Rhythmusstörungen und Koronararterienprobleme treten eher jenseits des 18. Lebensjahres auf.
21.2
Anhaltende Probleme durch angeborene Herzfehler
Im Folgenden sind weniger häufige Herzfehler aufgeführt. Patienten mit »Fontan-Zirkulation« Diese Patientengruppe weist eine labile und pathophysiologisch äußerst ungewöhnliche Hämodynamik auf. Betroffen sind Patienten mit Formen eines anatomischen oder funktionellen univentrikulären Herzens (»single ventricle«) ‒ z. B. die Trikuspidalatresie oder das hypoplastische Linksherzsyndrom. Bei der »Fontan-Zirkulation« wird das Hohlvenenblut durch die operativ geschaffenen so genannten kavopulmonalen Anastomosen am »Systemventrikel« vorbei direkt in die Pulmonalarterie geleitet.
21
! Wichtig ist, dass die Patienten einen erhöhten Venendruck benötigen, damit das rückströmende Blut passiv in die Lungen »gedrückt« werden kann. Aszites, Ödeme und Eiweißverlust-Enteropathie sind daher häufig. Cave Ein Volumenmangel (z. B. Enteritis mit Fieber und Erbrechen) kann sich ebenso fatal auswirken wie eine Volumenüberladung (z. B. durch Infusionen). Bei der häufig erforderlichen Antikoagulation ist die Selbstkontrolle der Gerinnungswerte dringend zu empfehlen, um das Thrombose- oder Blutungsrisiko gering zu halten.
Kardiomyopathien Sowohl hypertrophe als auch dilatative und restriktive Kardiomyopathien werfen eine Vielzahl von Problemen auf, nicht zuletzt deswegen, weil sie in der Regel progredient und nicht selten auch familiär bedingt sind (Familienanamnese! ‒ Geschwisteruntersuchung!). Zwar sind die verschiedenen Formen der Kardiomyopathien insgesamt selten, machen aber einen hohen Prozentsatz an plötzlichen Todesfällen aus, insbesondere bei jungen Sportlern. Klinische Symptome sind sehr uneinheitlich und reichen von unauffällig bis schwer. Obwohl medikamentöse, chirurgische und interventionelle Therapiemöglichkeiten bestehen, sind diese doch beschränkt. In verzweifelten Situationen stellt die Herztransplantation zumindest mittelfristig eine gewisse Lösung dar. ! Die Einschätzung der körperlichen Belastbarkeit und damit die Empfehlung hinsichtlich beruflicher oder sportlicher Tätigkeit ist schwierig. Sport muss meistens untersagt werden.
Ebstein-Anomalie (0,4–1%) Diese Patienten sind zwar selten, stellen aber aufgrund der ungünstigen Anatomie der Trikuspidalklappe und des rechten Ventrikels ein großes Problem dar. Korrekturoperationen lassen sich häufig nur mit unbefriedigendem Ergebnis durchführen. Die Patienten sind deswegen durch Trikuspidalklappenstenosen oder -insuffizienzen sowie durch eine rechtsventrikuläre Dysfunktion beeinträchtigt. In Einzelfällen muss auf den rechten Ventrikel verzichtet werden und es resultiert eine »Fontan-Zirkulation« (7 21.2). Gelegentlich besteht auch postoperativ noch eine Zyanose, da ein Rechts-Links-Shunt auf Vorhofebene zur Entlastung des rechten Ventrikels bewusst belassen wird. Anhaltende atriale Rhythmusstörungen sind häufig und werden schlecht toleriert. Angeboren korrigierte Transposition der großen Arterien (1%) Die Diagnose einer angeboren korrigierten Transposition (congenitally corrected transposition ‒ CCT) wird manchmal erst im Erwachsenenalter gestellt. Ähnlich wie bei der Senning/MustardKorrektur der TGA muss hierbei der morphologisch rechte Ventrikel den Systemkreislauf aufrecht erhalten. Cave Problematisch ist daher eine zunehmende Rechtsherzund Trikuspidalklappeninsuffizienz. Diese Patienten sind durch das Auftreten eines kompletten AV-Blockes gefährdet.
174
21
Kapitel 21 · Kardiologie
Viele Patienten benötigen deswegen einen Herzschrittmacher. Operative Maßnahmen kommen im Kindesalter nur in Einzelfällen bei begleitenden Fehlbildungen in Frage. Für das Erwachsenenalter wird eine aufwändige »Double-Switch-Operation« (Vorhofumkehroperation nach Senning oder Mustard plus arterielle Switch-Operation) neben der Herztransplantation diskutiert, in Einzelfällen empfohlen.
21.3
Anhaltende Probleme durch Herzfehler mit Sonderstellung
Patienten mit nicht behebbarer Zyanose, EisenmengerSyndrom, pulmonale arterielle Hypertonie Trotz aller technischer und operativer Möglichkeiten gibt es auch heute noch Patienten, deren Herzfehler nicht operativ angehbar ist oder nur »palliativ« versorgt werden kann, und die deshalb mit einer mehr oder weniger ausgeprägten Zyanose leben müssen. Beispiele sind Patienten mit Pulmonalatresie ohne anschlussfähiges Gefäßbett, Patienten mit großem Links-RechtsShunt, bei denen der entscheidende Operationszeitpunkt verpasst wurde (Eisenmenger-Syndrom), oder Patienten mit pulmonaler arterieller Hypertonie anderer Genese (familiär, idiopathisch...). Dies sind zwar sehr unterschiedliche Krankheitsbilder, doch alle diese Patienten sind in besonderem Maße Hochrisikopatienten und in Bezug auf ihr Herz-Kreislauf-System äußerst labil. Die körperliche Belastbarkeit ist gering, der Leidensdruck aller Beteiligten ist hoch.
Besondere Risiken Folgende Punkte sind dringend zu beachten: 5 Das Risiko eines plötzlichen Herztodes ist allgegenwärtig. 5 Auch scheinbar harmlose bronchopulmonale Infekte können die Sauerstoffsättigung dramatisch verschlechtern. 5 Durch Polyglobulie, hohe Hämatokritwerte und Gerinnungsstörungen ist das Thromboembolierisiko hoch. 5 Hämoptysen sind prognostisch ungünstig einzustufen und können tödlich verlaufen.
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5 Rhythmusstörungen sind Warnsignale und häufig lebensbedrohend. 5 Jegliche chirurgische Maßnahme ist wegen des hohen Narkoserisikos sorgfältigst abzuwägen und zu planen. 5 Flugreisen können problematisch sein – Empfehlungen fallen sehr uneinheitlich aus. 5 Schwangerschaften müssen vermieden werden!
Herztransplantierte Patienten Die Herztransplantation ist immer eine therapeutische ultima ratio. Der Weg bis zu diesem Entschluss ist für die Patienten und die betreuenden Personen in der Regel lang und leidensreich. Die engmaschigen kardiologischen Kontrollen vor und nach der Transplantation sowie die Überwachung der Immunsupression bedingen eine strikte Anbindung an spezielle technische und personelle Versorgungsstrukturen. Auf weitere Einzelheiten wird deshalb hier nicht näher eingegangen.
21.4
Anhaltende Probleme durch erworbene Herzfehler und andere Herzerkrankungen
Wenngleich erworbene Herzfehler oder Herzerkrankungen (Kurzübersicht . Tab. 21.2) zahlenmäßig eine geringere Rolle spielen, sind sie dennoch bedeutsam und teilweise nicht weniger schwerwiegend als die oben erwähnten angeborenen Herzfehler. Entzündliche Herzerkrankungen Myokarditis In unseren Breiten ist eine Myokarditis meist viral bedingt. Kardiotrope Viren: Coxackie-, Echo-, Adeno-, Influenza-, Poliomyelitis-, Röteln-, Masern-, Mumps-, RS-, Herpes-, Hepatitis-, HIV-, CMV-, Mononucleose-, Parvo-Viren. Sie ist selten bakteriell, durch Protozoen, Pilze oder rheumatisch ausgelöst. Die schwierige Diagnose verlangt eine Berücksichtigung aller Teilaspekte von Krankheitsbild, EKG-Verlauf, Echokardiographie und Labor. Verläufe von blande bis schwer, mit progredienter Herzinsuffizienz und dem Endstadium einer dilatativen Kardiomyopathie sind möglich. Die Therapienmög-
. Tabelle 21.2. Übersicht über problematische erworbene Herzfehler, besondere Risiken und beachtenswertes bezüglich Belastbarkeit bzw. Sport
Herzfehler
Besondere Risiken
Belastbarkeit/Sport
Myokarditis
Herzversagen, Rhythmusstörungen
Akut: Bettruhe; ausgeheilt: gering eingeschränkt bis untersagt, je nach Befund
Kawasaki-Syndrom
Pankarditis, Koronararterienstenosen oder Aneurysmen
Gering eingeschränkt bis riskant
Endokarditis
Zunehmende Klappenzerstörung
Akut: Bettruhe; chronisch: gering bis stark ingeschränkt, je nach Befund
Rhythmusstörungen
Plötzlicher Herztod
Eingeschränkt bis verboten (insbesondere Long-QTSyndrom)
Marfan-Syndrom
Zunehmende Klappeninsuffizienzen, Aortendissektion/ Ruptur
Deutlich eingeschränkt bis untersagt Cave: Schwangerschaft
175 21.4 · Anhaltende Probleme durch erworbene Herzfehler und andere Herzerkrankungen
lichkeiten der Virusmyokarditiden sind beschränkt und konzentrieren sich auf »Bettruhe« (ein wichtiger Aspekt!) und die Behandlung der Herzinsuffizienz. Die Wertigkeit von Immunglobulinen in der Akutphase oder von Immusuppressiva bei chronischer Viruspersistenz ist immer noch nicht geklärt. In Einzelfällen kann die Herztransplantation einen Ausweg darstellen. Cave Sowohl bradykarde (AV-Block) wie tachykarde Rhythmusstörungen sind häufig.
Kawasaki-Syndrom Das Kawasaki-Syndrom ist eine hochfieberhafte Erkrankung bisher unbekannter Äthiologie. Klinisch bedeutsam ist neben allgemeinen Entzündungszeichen eine nekrotisierende Vaskulitis kleiner und größerer Arterien, die auch die Koronararterien betreffen kann und zu teilweise ausgedehnten Aneurysmen und Stenosen führt. Eine Pankarditis ist seltener. Herzinfarkte und tödliche Verläufe in der Akutphase sind möglich. Über das Ausmaß und die Bedeutung koronarer Spätschäden besteht Unklarheit. Mit zunehmendem Wissen über die Verläufe muss jedoch in vielen Fällen von koronaren und myokardialen Dauerschäden ausgegangen werden, selbst wenn zunächst kein konkreter Hinweis auf eine kardiale Beteiligung bestand! Bakterielle Endokarditis Jeder Patient mit einem angeborenen Herzfehler oder mit residuellen Befunden nach Operation bzw. Intervention hat ein erhöhtes Endokarditisrisiko (ausgenommen der Vorhofseptumdefekt). Auch heute noch weist die infektiöse Endokarditis eine hohe Morbidität und Letalität auf! Auslösend sind häufig Manipulationen oder Erkrankungen im zahnärztlichen oder HNOärztlichen Bereich. Die Empfehlungen zur Endokarditisprophylaxe sind konsequent zu beachten (abgedruckt in jedem »Herzpass« oder »Endokarditisausweis«). ! Entscheidend für die Durchführung der Endokarditisprophylaxe ist der Hinweis auf eine bakterielle Erkrankung oder eine mögliche Bakteriämie und nicht etwa die Fieberhöhe (letzteres als Begründung für die Behandlung von den Patienten oft zu hören!). Ist die Indikation zur Endokarditisprophylaxe unklar, sollte eine kurze Rücksprache mit dem Kinderkardiologen Klärung bringen.
Rheumatische Endokarditis Pathogenetisch besteht kein Zweifel mehr an immunologisch vermittelten Vorgängen durch Infektionen betahämolysierender Streptokokken der Gruppe A des Nasen-Rachen-Raumes. Frühzeitiges Erkennen eines Rheumatischen Fiebers und konsequente Behandlung (hochdosiert Acetylsalicylsäure und Antibiotika) verbessern die eher ungünstige Prognose. Die Rezidivgefahr ist hoch (50%) und sollte durch eine Penicillin-Dauerprophylaxe (über Jahre, ggf. bis zum 18.‒21. Lebensjahr, selten lebenslang) minimiert werden. Herzrhythmusstörungen Gelegentliche supraventrikuläre oder ventrikuläre Extrasystolen sind in der Entwicklungsphase sehr häufig und in der Regel vorübergehend und bedeutungslos.
21
Cave Bei Patienten mit angeborenen Herzfehlern spiegeln sie bei Neuauftreten jedoch oft einen hämodynamisch unbefriedigenden Zustand wider, sind daher ernst zu nehmen und sollten immer Anlass zur Überprüfung der kardialen Verhältnisse geben.
Lang anhaltende supraventrikuläre oder ventrikuläre Tachykardien stellen für den Kardiologen eine diagnostische und therapeutische Herausforderung, für den Patienten nicht selten eine lebenslange Beeinträchtigung dar. Wegen der oft lebensbedrohlichen ventrikulären Arrhythmien (Synkope unter Belastung oder in Stresssituationen!) sei besonders auf die Formen des LongQT-Syndroms hingewiesen. Cave Sowohl bei den angeborenen als auch bei den erworbenen Formen gilt eine Verlängerung der frequenzkorrigierten QT-Dauer = QTc-Dauer über 440 – nach der Formel von Bazett: QT (msec) QTc = 06 94 60 03 Frequenz
冑
als hochverdächtig und muss dringend abgeklärt werden. Bei den familiären Formen können mehrere Familienmitglieder betroffen sein. Sehr häufig ist die Diagnose durch ein einfaches Standard-EKG zu stellen. Die Therapie muss nach heutigen Kenntnissen lebenslang (meist mit Betablockern) erfolgen. Sport ist untersagt.
Bradykarde Rhythmusstörungen (z. B. totaler AV-Block nach Herzoperationen oder nach Myokarditis) sind durch die moderne Herzschrittmachertherapie gut zugänglich. Dennoch sind die Patienten lebenslang abhängig von der Zuverlässigkeit eines implantierten Gerätes. Hinzuweisen ist auf die zunehmend nutzbare Möglichkeit elektrophysiologischer Untersuchungen mit der Option zur Ablation von aberranten Leitungsbahnen oder Arrhythmiefoci bei Tachyarrhythmien. Marfan-Syndrom Die kardiale Beteiligung im Rahmen eines Marfan-Syndromes ist mit 80% hoch, wird aber häufig erst ab dem 16.‒20. Lebenjahr relevant. Zunehmende Aortenwurzel- und Aortenbogendilatation, Aorten- und Mitralklappeninsuffizienz sowie drohende Ruptur oder Dissektion der Aorta sind die Hauptprobleme und sollten genau verfolgt werden. Operative Maßnahmen werden geplant, wenn bestimmte Grenzwerte der Klappeninsuffizienz oder der Aortendilatation überschritten werden. Geringe körperliche Aktivität und die Therapie mit β-Blockern (Verringerung der Scherkräfte durch Minderung der Druckverhältnisse) mögen die negative Entwicklung verzögern. Ullrich-Turner-Syndrom Eine kardiale Beteiligung wird mit durchschnittlich 30% angegeben. Am häufigsten besteht eine bikuspidale Aortenklappe
176
21
Kapitel 21 · Kardiologie
(~16%) oder eine Aortenisthmusstenose (~10%). Im Rahmen dieser Herzfehler entwickelt sich häufiger als bisher angenommen eine Aortendilatation und Aortendissektion (bis zu 40%).
21.5
Spiralen, Schirmchen, Stents
Viele Herzfehler können heute »interventionell«, d. h. im Rahmen einer Herzkatheteruntersuchung behoben oder verbessert werden. Dies betrifft in erster Linie die valvuläre Pulmonalstenose, den persistierenden Ductus arteriosus Botalli und den Vorhofseptumdefekt. Aber auch Herzfehler wie Aortenisthmusstenosen, periphere Pulmonalstenosen und (noch selten) Ventrikelseptumdefekte können angegangen werden. Cave Eine fehlende Thorakotomienarbe darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass u. U. ein schwerwiegender Herzfehler vorliegt.
Häufig ist nach dem Eingriff weiterhin die Endokarditisprophylaxe erforderlich. Kurzzeitige Antikoagulation oder Thromboembolieprophylaxe (ca. 6 Monate) oder längerfristige Gerinnungshemmung muss individuell von kardiologischer Seite festgelegt werden. Spiralen, Schirmchen oder Stents spielen bei bildgebenden Verfahren (Kernspintomographie oder Computertomogramm) eine Rolle, da sie die Bildqualität beeinflussen. In der Regel sind diese Untersuchungen aber dennoch durchführbar ‒ neuere Materialien sind »MRT-kompatibel«.
21.6
Vorprogrammierte Spätschäden durch Adipositas, Inaktivität und arterielle Hypertonie
Es ist inzwischen unbestritten, dass 15‒30% der Kinder und Jugendlichen in Deutschland übergewichtig bis adipös sind ‒ Tendenz steigend. Bei der Entstehung der Adipositas spielt nicht nur die Menge der aufgenommenen Kalorien eine Rolle, sondern in zunehmendem Maße die körperliche Inaktivität (Kavey 2003). Adipöse Jugendliche weisen bereits bei der Vorsorgeuntersuchung (J1) nicht selten hypertone Blutdruckwerte auf, die sich bei der Langzeit-Blutdruckmessung bestätigen lassen. Erhöhte Cholesterinwerte und Nikotingenuss vervielfachen ein frühes Atheroskleroserisiko. Bereits in diesem Alter wird also der Grundstein für die bekannten chronischen Folgeschäden des kardiovaskulären Systems im Erwachsenenalter gelegt. Bei adipösen und inaktiven Kindern ist zudem auch die motorisch-koordinative und kognitive Entwicklung gestört. Körperliche Aktivität wirkt sich nicht nur positiv auf die Gewichtsentwicklung aus, sondern sie steigert auch die Konzentrationsfähigkeit, Koordination und Ausdauer von Kindern und Jugendlichen (Graf 2004). Im Hinblick auf das geringe Alter der Betroffenen sowie im Hinblick auf kommende Generationen sind alle erdenklichen Anstrengungen zu unternehmen, um hier eine erfolgreiche Primärprävention zu erreichen.
21.7
Aspekte hinsichtlich Schule, Sport, Beruf, Schwangerschaft
Schule Herzfehler, insbesondere komplexe Herzfehler stellen in vieler Hinsicht ein Handicap dar. Um vor allem berufliche Nachteile zu minimieren, sollten Eltern und Jugendliche (und Lehrer) immer wieder daran erinnert und dazu motiviert werden, dass ein guter Schulabschluss erreicht wird, der auch mit Herzfehler die besten Voraussetzungen für den Einstieg ins Berufsleben bietet. Alle Lehrkräfte einschließlich der Sportlehrer sollten sich um umfassende Informationen bemühen, um einen herzkranken Jugendlichen individuell fördern und fordern zu können. Dabei ist die Kontaktaufnahme zu dem behandelnden Kinderkardiologen dringend zu empfehlen. ! Ziel sollte es sein, dass der betroffene Jugendliche seine geringere Leistungsfähigkeit akzeptieren lernt und selbstbewusst damit umgeht.
Die Mitschüler müssen lernen, seine Verhaltensweisen zu verstehen und damit umzugehen. In bestimmten Situationen sollten sie eine Sonderrolle akzeptieren und unterstützen. Sport Es gibt nur wenige Herzfehler oder kardiale Erkrankungen, bei denen ein striktes Sportverbot ausgesprochen werden muss (. Tab. 21.1 und 21.2).
Striktes Sportverbot 5 Ausgeprägte Formen der Kardiomyopathien, frische Myokarditis 5 Höhergradige pulmonale Hypertonie und EisenmengerSyndrom 5 Hochgradige Aortenstenose oder Aortenisthmusstenose 5 Maligne Rhythmusstörungen unter Belastung (z. B. LongQT-Syndrom) 5 Ausgeprägtes Marfan-Syndrom
Bei den allermeisten Fragen nach Sportmöglichkeiten lässt sich an Hand von Echokardiographie, Langzeit-EKG, BelastungsEKG und ggf. Herzkatheteruntersuchung eine Sportart und eine Belastungsintensität finden, die eine weitgehend risikofreie sportliche Betätigung erlaubt. Eine absolute Sicherheit gibt es nicht. Inwieweit mit Einsicht und gesundem Menschenverstand bei »sportbesessenen« Jugendlichen zu rechnen ist, stellt ein ungelöstes Problem dar. Beruf Für den Beruf gilt Ähnliches wie für die Schule ‒ je besser der Abschluss, desto besser die beruflichen Chancen. Trotz Herzfehler sind viele Berufe möglich. Ein Grenze stellt für manche Berufe aber z. B. die körperliche Leistungsfähigkeit dar. So wird ein Patient mit pulmonaler Hypertonie nicht Pilot werden können oder jemand mit Fontan-Zirkulation nicht im körperlich schweren Hoch-und Tiefbau arbeiten können. Patienten mit Herzschrittmacher können aufgrund der starken elektromagnetischen Felder nicht im »Hochstrombereich« eingesetzt werden. Jugendliche mit Schwerbehindertenausweis können hier sowohl Vorteile als auch Nachteile bei Bewerbungen haben. Problemlö-
177 21.7 · Aspekte hinsichtlich Schule, Sport, Beruf, Schwangerschaft
sungen müssen bei den auftauchenden Schwierigkeiten »Beruf und Herzfehler« immer individuell gesucht und gefunden werden. ! Gespräche mit Berufsschullehrern und potentiellen Arbeitgebern haben manchen Ausbildungs- und Arbeitsplatz gesichert. Bitte Schweigepflicht beachten!
Familienplanung Immer mehr Kinder mit komplexen Herzfehlern haben Dank der therapeutischen (in erster Linie der operativen) Fortschritte in den letzen Jahrzehnten überlebt und somit das Adoleszentenalter bzw. Fortpflanzungsalter erreicht. Die sexuelle Entwicklung bei Jugendlichen mit einem Herzfehler sollte so normal wie möglich verlaufen. ! Bezüglich der sexuellen Aktivität sind keine Einschränkungen zu machen. Anders hingegen sieht es mit einer Schwangerschaft bzw. dem Austragen einer solchen aus. Eine Schwangerschaft stellt immer ein gewisses Risiko dar, für Frauen mit einem Herzfehler ist dieses erhöht, teilweise lebensbedrohend (für Mutter und Kind).
Verantwortlich dafür sind Mehrbelastungen und Veränderungen des Herz-Kreislauf-Systems, der Atmung und Veränderung der Gerinnung. So nimmt beispielsweise das Herzminutenvolumen ab dem 3. Trimenon um 20–40% zu! Cave Hohes mütterliches und/oder kindliches Risiko besteht z. B bei: 5 Marfan-Syndrom 5 Transposition der großen Gefäße nach Vorhofumkehroperation 5 Fontan-Zirkulation 5 Klappenprothesen Extremes Risiko besteht bei: 5 Eisenmenger-Syndrom 5 Pulmonaler arterieller Hypertonie ! Aufgrund dieser Risiken spielen Verhütung und Verhütungsmethode eine wichtige Rolle. Die Wahl der Verhütungsmethode richtet sich nach der Grunderkrankung, der Pflichtigkeit zur Endokarditisprophylaxe, dem Vorliegen von Gerinnungsstörungen und/oder dem Bestehen einer Dauermedikation und vielem mehr (7 Kap. 38).
Die Beratung und Betreuung dieser Patientinnen gehört daher am besten in die Hand eines Zentrums mit bewährter gynäkologischer, kardiologischer und perinatologischer Zusammenarbeit. Es ist sehr fraglich, ob man junge Menschen mit dem Wissen belasten soll, dass sie im Falle einer Familienplanung ein wesentlich höheres Wahrscheinlichkeitsrisiko mitbringen, dass ihre Kinder ebenfalls an einem Herzfehler leiden (das Risiko steigt von 0,4‒1% auf 4‒8%). Fraglich ist auch, ob junge Menschen davon ihre Familienplanung wirklich abhängig machen würden. Dennoch wird man nicht umhin können, auf diesen Umstand hin zu weisen. Durch eine frühzeitige und kompetente Pränataldiagnostik kann sehr vieles ausgeschlossen oder aufgedeckt werden, was entscheidenden Einfluss auf die perinatologische Planung hat (Wann?, Wie?, Wo? ‒ soll die Geburt bei herzkranker Mutter/herzkrankem Kind stattfinden?)
21
! Jeder Patient mit einem angeborenen oder erworbenen Herzfehler sollte einen entsprechenden Risikopass haben. Unterstützung bei steuerlichen Hilfen und Ansprüche beim Versorgungsamt sollte angeboten werden. Wichtig ist, zusätzliche Stigmatisierung zu vermeiden, aber die Bedeutung der Ansprüche deutlich zu machen.
So unterschiedlich die Befunde, Leiden und Probleme chronisch herzkranker Kinder und Jugendlicher (und deren Familien) auch sein mögen ‒ einige Grundsätze sind unabhängig davon immer zu beachten und aus den obigen Kapiteln abzuleiten.
Zwölf Regeln zum (Über)leben 1. Die Betreuung chronisch herzkranker Patienten erfordert Zeit. Wer keine Zeit hat, sollte keine chronisch kranken Patienten betreuen wollen. 2. Säuglinge, Kinder und Jugendliche mit bedeutsamen Residuen ihres angeborenen Herzfehlers sind immer als potentiell kritisch krank zu betrachten. 3. Jede Veränderung, die nicht als harmlos erklärt werden kann (Gewicht, Blutdruck, Herzfrequenz, Belastbarkeit, Ödeme, Zyanose), sollte Anlass zu einer kompetenten kinderkardiologischen Kontrolle sein. 4. Beobachtungen der Eltern sind ernst zu nehmen – sie erkennen Veränderungen ihres Kindes oft am besten und sie sind manchmal echte »Spezialisten« des betreffenden Herzfehlers. 5. Synkopen oder Arrhythmien sind in diesem Themenrahmen als Warnsignale zu verstehen. 6. Angemessene sportliche Aktivität ist bei vielen Herzfehlern möglich, in der Entwicklungsphase sogar erwünscht. Belastungsgrenzen oder Ausnahmen sind vom Kinderkardiologen festzulegen. 7. Eine aufrichtige und verständliche Aufklärung ist bei Jugendlichen unverzichtbar. Sie muss schrittweise und wiederholt erfolgen. 8. Therapien müssen teilweise diskutiert und verhandelt werden. Eine vereinfachte Therapie ist besser als eine optimierte, die von Jugendlichen nicht eingehalten wird. 9. Mädchen möchten und müssen wissen, ob später eine Schwangerschaft erfolgreich ausgetragen werden kann. Da gegen Ende der Schwangerschaft das Herzminutenvolumen um bis zu 40% gesteigert wird, sind Herzfehler mit bedeutsamen residuellen Befunden und alle zyanotischen Vitien als sehr kritisch einzuschätzen. 10. Eine enge Zusammenarbeit zwischen hausärztlichem Kinder- und Jugendarzt und den Kinderkardiologen ist erforderlich. Beide sind auch für psychosoziale Belange und zur Stützung des Familiensystems zuständig. Dies kann oft genauso wichtig sein wie die medizinische Versorgung. 11. Je nach Bedarf sind den Eltern oder Jugendlichen weitere Fachkräfte wie Gynäkologen, Orthopäden, Krankenschwestern, Psychologen oder Sozialarbeiter im Sinne eines Kompetenznetzes zur Seite zu stellen. 12. Bereits die Eltern sollten dazu angehalten werden, eine Patientenakte anzulegen, in die »Meilensteine« des Krankheitsverlaufes abzulegen sind (Herzkatheteruntersuchungen, Operationen, entscheidende Änderungen der Therapie oder des Verlaufes).
178
21
Kapitel 21 · Kardiologie
Literatur Apitz J (Hrsg) (2002) Pädiatrische Kardiologie. 2. Auflage. Steinkopff, Darmstadt Deutsche Gesellschaft für Pädiatrische Kardiologie (Hrsg) (2004/2005 in Druck) Leitlinien zur rationalen Diagnostik und Therapie von Erkrankungen des Herzens und des Kreislaufs bei Kindern und Jugendlichen. 2. Auflage, Steinkopff, Darmstadt Graf C, Koch B, Kretschmann-Kandel E, Falkowski G, Christ H, Coburger S, Lehmacher W, Bjarnason-Wehrens B, Platen P, Tokarski W, Predel HG, Dordel S (2004) Correlation between BMI, leisure habits and motor abilities in childhood (CHILT-project). Int J Obes Relat Metab Disord 28(1): 22–26 Kavey RWE, Daniels SR, Lauer RM, Atkins DL, Hayman LL, Taubert K (2003) American Heart Association guidelines for primary prevention of atherosclerotic cardiovascular disease beginning in childhood. Circulation 107: 1562–1566 Ollenschläger G (2004) Die Kunst, heutzutage ein guter Arzt zu sein. Ärztebl Baden-Württenberg 59(3): 111–114 Ra-id A (2004) Pediatric Cardiology for the Non-Pediatric Cardiologist. Pediatr Cardiol 25: 95–96 Schmaltz AA, Singer H (Hrsg) (1994) Herzoperierte Kinder und Jugendliche. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft mbH, Stuttgart Schumacher G, Hess J, Bühlmeyer K (Hrsg) (2001) Klinische Kinderkardiologie. 3. Auflage. Springer, Berlin-Heidelberg Sticker EJ, Leurs S, Bjarnason-Wehrens B, Dordel S, Schickedantz S (2003) Sport macht stark: Herzkranke Kinder und Jugendliche im Sportunterricht. Bundesverband Herzkranke Kinder e.V.; http://www.bvhk.de Ullrich G (2002) Chronisch kranke Jugendliche an der Schwelle zum Erwachsenenalter. Kinderärztliche Praxis 2: 105–115 Walsh CA, Doroshow RW (2001) Adolescent Cardiology. Adolescent Medicine – State of the art reviews.Vol. 12/1 Hanley and Belfus, Philadelphia Webb GD (2003) Challenges in the care of adult patients with congenital heart defects. Heart 89: 465–469
Internetadressen Bundesverband Herzkranker Kinder (BVHK): http://www.bvhk.de Jugendliche und Erwachsene mit angeborenen Herzfehlern (JEHMA e.V.): http://www.jemah.de Literatur eher für Ärzte: http:// www.achd-library.com Literatur eher für Patienten und Eltern: http://www.cachnet.org oder http://www.best-med-link.de
Hilfreiche Informationen Nicht alle Herzfehler und Probleme sind hier aufgeführt! Auf Einzelheiten, Detailfragen und exakte Maß- oder Therapieangaben wurde bewusst verzichtet, da sie für die »schnelle tägliche Praxis« nicht relevant sind und dem kinderkardiologischen Fachbereich überlassen werden sollten. Bei vertieftem Interesse oder besonderen Fragestellungen sei auf die kinderkardiologischen Standardwerke deutscher Sprache verwiesen. Schnelle und evidenzbasierte Information bieten auch die neu überarbeiteten Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für pädiatrische Kardiologie (2004/2005 – im Druck; http://www.dgk. org/leitlinien/).
Tipp Interessante und wichtige Informationen sind zusätzlich von Elternverbänden und Patientengruppen erhältlich, die über das Internet zugänglich sind. Auch Literatur zum Thema, Ergebnisse evidenzbasierter Medizin, Leitlinien anderer kardiologischer Gesellschaften und Links sind im Internet abrufbar.
185
23
23 Onkologie R. Blütters-Sawatzki
23.1
Epidemiologie
23.1.1 Häufigkeit Die Zahl der bösartigen Erkrankungen im Kindesalter wird vom Deutschen Kinderkrebsregister an der Universität Mainz erfasst. Im Jahr erkranken von 100.000 Kindern im Alter bis zu 14 Jahren 14 Kinder an Krebs. Die Zahl der Jugendlichen ist weder in Deutschland noch international genau erfasst, liegt aber etwas niedriger. In der Häufigkeit der Todesursache stehen Krebserkrankungen nach dem 5. Lebensjahr an zweiter Stelle. Etwa zwei Drittel der Erkrankten überleben rezidivfrei. Die Rangfolge der bösartigen Erkrankungen bei Kindern ist (bezogen auf 100.000 Kinder): 1. Leukämie (2,6) 2. Lymphome (2,6) 3. ZNS-Tumoren (2,2) 4. Knochentumoren (Osteosarkome, Ewing-Sarkome: 1,2) 5. Weichteilsarkome (Rhabdomyosarkome, PNET: 0,7) 23.1.2 Ursachen Erbliche Faktoren. Erbliche Erkrankungen, die die Entstehung
von bösartigen Erkrankungen begünstigen, sind das Down Syndrom, die Neurofibromatosen , das Li Fraumeni-Syndrom und solche, die mit einer erhöhten Chromosomenbrüchigkeit einhergehen, wie die Fanconi-Anämie sowie die Ataxia teleangiektatika. Außer in Familien mit MEN-Syndromen (Multiple Endokrine Neoplasien), die einem dominanten Erbgang folgen, findet man auch in ansonsten scheinbar nicht auffälligen Familien eine Häufung von typischen Krebsarten des Erwachsenenalters. Geschwister haben ein etwa zweifach erhöhtes Risiko für Malignome, außer eineiige Zwillingen, bei denen das Erkrankungsrisiko bei bis zu 50% liegt (AML bei Säuglingen). Umweltfaktoren. Eine Rolle in der Tumorentstehung ist bisher nur für wenige Umweltfaktoren nachgewiesen, wie für Nitrosoverbindungen, Benzolderivate (Teer im Tabakrauch), Aflatoxine (Schimmelpilze in der Nahrung), Chrom- und Azo-Farbstoffe, bestimmte Pestizide, Chemotherapeutika, (. Abschn. Spätfolgen), hochenergetische Strahlen wie Röntgenstrahlen, radioaktive (ionisierende) Strahlen, aber auch ultraviolette Strahlen, nicht jedoch für elektromagnetische Strahlen (Kaatsch 2002). Außer bei einer bestimmten Lymphomart (T-Zell-Lymphom nach HTLV I) konnte bisher kein sicherer Zusammenhang mit Viruserkrankungen festgestellt werden.
23.2
Klinik der bösartigen Erkrankungen
23.2.1 Leitsymptome Leitsymptome maligner Erkrankungen, die zur Vorstellung beim Arzt führen, sind in . Tab. 23.1 zusammengefasst.
23.2.2 Anamnese und Befunderhebung Cave Bei der Erhebung der Krankengeschichte müssen das erste Auftreten von Symptomen und der Verlauf genau festgehalten werden. Auf Grund eines Kausalitätsbedürfnisses bei Eltern und Patienten werden gerne Ereignisse als Ursachen für einen Befund aufgezeigt, die mit der eigentlichen Erkrankung nicht in Zusammenhang stehen, z. B. eine Verletzung bei einem Tumor an einer Extremität. Häufig wird der Gedanke an eine bösartige Erkrankung verdrängt. Die Symptome sind anfangs meistens unspezifisch und deshalb schlecht zuzuordnen.
Folgendes Vorgehen hat sich daher bewährt: 1. Sorgfältige Befunddokumentation (Größe und Beschaffenheit eines Prozesses), wenn möglich mittels sicherer Messmethoden, z. B. Ultraschall 2. Laborchemische Diagnostik, begrenzt auf für die Erkrankung und die Differentialdiagnose wichtige Befunde; Tumormarker nur, wenn zeitnah bestimmbar 3. Kontrolle durch die Eltern und Wiedervorstellung bei Progredienz und an einem festgesetzten Termin beim Arzt 4. Einleitung einer gezielten Diagnostik beim Spezialisten bei Verdacht auf eine bösartige Erkrankung, keine Therapie ohne Diagnose Die Diagnostik und Behandlung von bösartigen Erkrankungen sind durch genaue Standards der deutschen Gesellschaft für Pädiatrische Onkologie und Hämatologie (GPOH) festgelegt. Es ist nicht sinnvoll, bildgebende Verfahren von Institutionen durchführen zu lassen, die mit diesen Standards nicht vertraut sind. Das führt nur zu einer Doppelbelastung des Patienten. Bei eindeutigem klinischem Befund oder Verdacht sollte der Patient unmittelbar zum Onkologen überwiesen werden. Cave Der Zustand von Patienten mit Leukämien oder Tumoren kann sich innerhalb von Stunden, manchmal auch von Minuten verschlechtern, z. B. bei Infektion, Neutropenie, Blutung oder Einflussstauung. Die rechtzeitige Überweisung kann für den Patienten lebensrettend oder organerhaltend sein.
23.2.3 Standarddiagnostik Labordiagnostik Die Labordiagnostik ist in den Studienprotokollen vorgeschrieben, wird daher von den beteiligten Kliniken durchgeführt:
186
Kapitel 23 · Onkologie
. Tabelle 23.1. Leitsymptome bösartiger Erkrankungen
Leitsymptom
Definition
Ursache
Symptome
Anämie
Verminderung der Erythrozyten, Erniedrigung des Hb, Hkt
Blutung, Hämolyse, Blutbildungsstörung durch malige Infiltration des Knochenmarkes bei Leukämien, Tumoren
Blässe (manchmal auch Ikterus), Leistungsschwäche, Müdigkeit, Tachykardie, Kopfschmerzen
Blutungsneigung (hämorrhagische Diathese)
Vermehrtes oder verstärktes Auftreten von Blutungen
Thrombozytopenie durch Verdrängung der Blutbildung, plasmat. Gerinnungsstörungen bei Leukämien, Schädigung der Leber oder Nieren durch Tumor oder Therapie
Petechien, Purpura, Hämatome, Sugilationen, Blutung aus Schleimhäuten oder Hohlorganen
Leukopenie
Verminderung der Gesamtleukozytenzahl
Maligne Infiltration des Knochenmarkes, toxisch z. B. nach Chemotherapie, allergisch
Fieber, Schüttelfrost, Entzündungen, Kreislaufversagen bei Sepsis, Haut- und Schleimhautulzerationen
Hepatosplenomegalie
Milz- und Lebervergrößerung
Leukämien, Lebertumoren, Metastasen von soliden Tumoren, Venenverschlusskrankheit, Infektionen bei Leukopenie
Druckgefühl im Oberbauch, Spannungsschmerz
Lymphadenopathie
Vergrößerung von Lymphknoten oder Lymphknotenstationen
Leukämie, Lymphome, Metastasen solider Tumoren
Schwellung meistens schmerzlos, Lk schlecht verschieblich, lokale Symptome: Atembeschwerden (Stridor), Dyspnoe, Schluckbeschwerden, Bauchschmerzen (Ileus)
Hirndruckzeichen
Symptome, die durch Raumforderung innerhalb des Schädels entstehen
Hirntumor, Metastasen, meningealer Befall bei Leukämien, Tumoren, Blutungen
Erbrechen, v. a. nüchtern, Kopfschmerzen, Bewusstseinsstörungen, Krampfanfälle, Ausfälle von Hirnnerven
Raumfordernde Tumoren im Bereich des Abdomens: Nierentumoren, Lebertumoren, Lymphome (v. a. in der Darmwand), Weichteiltumoren
Schmerzen bei Verlegung von Hohlorganen kolikartig, Berührungsempfindlichkeit, Darmgeräusche verändert, Ileus, Resistenzen
Weichteiltumoren (Rhabdomyosarkome, primitiv Neuroektodermale T.), Knochentumoren: Osteosarkom, Ewing-Sarkom, Fibrome, Nerventumoren
Meistens derbe Schwellung, vermehrte Gefäßzeichnung, Ausfälle von Nerven, Durchblutungsstörungen
23
Bauchschmerzen
Sicht- und tastbare Tumoren
Raumforderung an verschiedenen Organen oder Körperteilen, meistens indolent
Inhalte der Labordiagnostik
Spezifische Techniken
1.
Knochenmarkpunktion
2.
3.
Vollständiges Blutbild mit Differentialblutbild, Thrombozyten, Retikulozyten; CRP, Senkung, Elektrolyte und harnpflichtige Substanzen mit Harnsäure (kann durch Tumorzellzerfall im Rahmen eines Tumorlysesyndroms erhöht sein, Risiko für Uratnephropathie); Leberwerte, Bilirubin, LDH, Gerinnung mit AT III (Gefahr der Verbrauchskoagulopathie bei Leukämien); thrombophile Faktoren, Virustiter Tumormarker in Abhängigkeit von der Verdachtsdiagnose: Katecholamine im Urin und Serum, Neuronspezifische Enolase (NSE) bei Neuroblastom, α-Fetoprotein bei Hepatoblastom und Leberzellkarzinom, Keimzelltumoren, β-HCG bei Keimzelltumoren, Steroidhormone bei Nebennieren-, Hypophysentumoren u. a. Untersuchung von speziellen Materialien wie Knochenmarkaspiraten, Liquor, Ergüssen, Tumortupfpräparaten
Bei Leukämien: Zytologie (mikroskopische Untersuchung), immunologische Marker, Zytogenetik, molekularbiologische Marker (krankheitsspezifische Genveränderungen). Bei Tumoren: Tumorzellbefall (Stadieneinteilung), molekularbiologische Marker Liquorpunktion (nach Ausschluss von Hirndruck)
Zellzahl, zytologische, immunologische Untersuchungen Punktion von Ergüssen (Pleura-, Perikarderguss, Aszites)
Zellart, alle Untersuchungen wie im Knochenmark und Liquor, Eiweißgehalt. Bei soliden Tumoren mit Knochenmarkbefall oder Ergüssen kann eine der o. g. Methoden eine operative Probeentnahme ersparen und den Patienten vor unnötigen oder lebensgefährlichen Eingriffen schützen.
187 23.3 · Einzelne Krankheitsbilder
23
Bildgebende Diagnostik
Die bildgebende Diagnostik führt zu einer genauen Stadieneinteilung der Erkrankung (Staging). Wichtig für Behandlung und Prognose ist vor allem die Unterscheidung zwischen lokalisierten Prozessen und solchen mit Fernmetastasen.
Diagnostikstandard von Tumormaterial 1. 2. 3.
Histologie Immunhistochemie Molekularbiologische Untersuchungen, Standard bei Leukämien, Lymphomen, Ewing-Sarkomen, PNET, Neuroblastomen
Inhalte der bildgebenden Diagnostik 1.
2.
3.
4. 5. 6.
Einfache Röntgenaufnahmen: v. a. bei Knochentumoren unter Einschluss der anliegenden Gelenke (Berechnung der Tumorausdehnung), Raumforderung intrathorakal (Thymusvergrößerung und Ergüsse), Lungenmetastasen Ultraschalluntersuchung mit Vermessung der Größe, Beurteilung der Durchblutung und Beziehung zur Umgebung. Notwendig zur Beurteilung des Verlaufes Kernspintomographie: Tumorausdehnung, insbesondere Beteiligung umliegender Weichteilstrukturen wie Nerven und Gefäße Computertomographie: Beurteilung von knöchernen Strukturen, Lungenmetastasen Skelettszintigraphie: Knochenmetastasen Echokardiographie: Ergüsse, Funktionsbeurteilung im Verlauf unter Chemotherapie (kardiotoxische Medikamente wie die Anthrazykline)
Operative Verfahren Tumortotalexstirpation
Tumortotalexstirpation ist nur dann sinnvoll, wenn eine vollständige, auch mikroskopisch nachweisbare Entfernung im Gesunden möglich ist (sog. R0-Resektion). Cave »Tumorverkleinerungen« sind nicht sinnvoll, weil sie zu Nachoperationen führen und die Therapie verzögern.
Biopsie
Biopsie erfolgt nach tumorchirurgischen Gesichtspunkten.
23.3
Einzelne Krankheitsbilder
23.3.1 Leukämien Die Häufigkeit verteilt sich im Jugendlichenalter wie folgt: 34% aller Krebserkrankungen, davon: Akute lymphoblastische Leukämie (ALL) ca. 80‒85%, Akute myeloblastische Leukämie (AML) ca. 15‒20%, Chronische myeloische Leukämie vom adulten Typ (CML) ca. 2%. Klinik der akuten Leukämien Die Symptome der Erkrankungen werden hervorgerufen durch die Verdrängung aller drei blutbildenden Zellreihen im Knochenmark durch den malignen Leukämiezellklon (maligne Metaplasie, . Tab. 23.1). 1. Anämie 2. Leukopenie: Fieber als häufiges Symptom kann durch die Grundkrankheit und Infektionen bedingt sein 3. Blutungsneigung: insbesondere bei bestimmten Unterformen der AML Unterformen und hoher Leukozytenzahl (Hyperleukozytose) 4. Lymphknotenvergrößerung: bei der ALL häufig ausgeprägter als bei der AML, wichtig ist die Beurteilung nach außen nicht sichtbarer Lymphknoten im Bereich des Abdomens oder des Mediastinums (bei Jugendlichen häufig Leukämie oder Lymphom vom T-Zell-Typ), die zu Notfallsituationen führen können 5. Hepatosplenomegalie 6. Maligne Ergüsse: Pleura- und Perikardergüsse können zu akuten Komplikationen führen
. Tabelle 23.2. Schmerztherapie bei Tumorschmerzen und in der Palliation
Medikament
Handelsname
Anwendungsform
Besondere Indikation
Tramadol
Tramadol, Tramal, u.a.
Tr., Kps., Supp., Brause, Retard-Kps., Inj.-Lsg.
Insuffiziente enterale Aufnahme: Supp.
Morphin
Morphin, MST, Capros u. a.
Tr., Kps., Retard-Kps., Retard-Gran., Supp., Inj.-Lsg.
Dauertropfinfusion, Schmerz-Pumpe, rektal
Hydromorphon
Dilaudid, Palladon
Tbl., Inj.-Lsg.
Leber-, Niereninsuffizienz
Oxycodon
Oxygesic
Retard-Tbl.
ZNS-NW anderer Morphine
Piritramid
Dipidolor
Inj.-Lsg.
Schmerz-Pumpe, Knochenschmerzen
Fentanyl
Fentanyl, Durogesic SMAT
Inj.-Lsg., Membranpflaster unterschiedlicher Dosis
Insuffiziente enterale Aufnahme, keine i.v.-, i.m.-Inj. möglich. Cave: Überdosierung!
Buprenorphin
Temgesic, Transtec
Sublingual-Tbl., Kps., Inj.-Lsg., Membranpflaster
Insuffiziente enterale Aufnahme, keine i.v.-, i.m.-Inj. möglich
188
Kapitel 23 · Onkologie
7. Meningismus-Zeichen, Hirndruckzeichen, Ausfall von Hirnnerven bei ZNS-Befall 8. Hodenvergrößerung bei Befall: nicht schmerzhafte Schwellung 9. Knochenschmerzen: häufiges Symptom (bei bis zu 60% der Patienten, wichtig in der Differentialdiagnose rheumatischer Erkrankungen)
23
Anamnese und körperliche Untersuchung Erfragung und Dokumentation der krankheitsspezifischen Symptome Cave Erfassung wichtiger klinischer Zeichen, die auf Notfälle hinweisen: Atemnot, Tachykardie, Einflussstauung, Bewusstseinseintrübungen, Ödeme, massive Blutungszeichen.
Diagnostik der Leukämien Falls Verdachtsdiagnose nicht eindeutig: Diff. BB, Thrombozyten, Retikulozyten; Gerinnung (bei Blutungszeichen), LDH Weiterführende Diagnostik (Klinik) 7 Abschn. Labordiagnostik
Spezielle Diagnostik Knochenmark-, Liquor- und Ergusspunktion (zur Entlastung) 1.
2.
3.
Zytologische Untersuchung mit Zytochemie: Unterscheidung von AML und ALL und Untergruppen nach morphologischen Kriterien (Bennett et al. 1976) Immunologische Markeranalyse: Subklassifizierung der Leukämien: ALL: common-, T-, B-ALL; AML: spezielle Unterformen (Bene et al. 1995) Molekularbiologische Marker: klonspezifische Veränderungen: Veränderungen (Rearrangements) in bestimmten Genen, die im Verlauf quantifiziert werden (Erfassung von minimaler Resterkrankung) (Gutjahr 2004; van Dongen et al. 1998)
Therapie der Leukämien Die Behandlung von Leukämien erfolgt nach Protokollen der GPOH. Alle Chemotherapieprotokolle sehen die Anwendung von vielen, nicht kreuzreagierenden Zytostatika vor (Schrappe 1995). Die Intensität und Dauer der Therapie unterscheiden sich für die ALL und AML. Das Prinzip besteht in der Induktion einer Remission durch eine erste intensive Phase, einer Konsolidierung und nachfolgender Reinduktion. Danach erfolgt eine orale Erhaltungstherapie. Die Gesamtdauer beträgt 2 Jahre für die ALL, für die AML 18 Monate. Außer bei den Hochrisikogruppen, die ein schlechtes Ansprechen die Chemotherapie allein oder ungünstige prognostische Parameter, z. B. bestimmte Chromosomenveränderungen aufweisen, ist eine alleinige Chemotherapie als Ersttherapie vorgesehen. Eine Bestrahlung des Zentralnervensystems, die früher prophylaktisch bei allen Patienten durchgeführt wurde, wird heute nur noch bei den Risikogruppen und bei ZNS-Befall eingesetzt. Für Patienten mit Hochrisiko und mit Rückfällen ist eine Stammzelltherapie (»Knochenmarktransplantation«) vorgese-
hen. Als Spender kommen außer Geschwistern heute auch gewebeverträgliche (HLA-identische) Fremdspender in Frage. 23.3.2 Tumoren des ZNS Die Tumoren des ZNS zeichnen sich in der Symptomatik, der Histologie und der Behandlung durch eine große Heterogenität aus. Bei Jugendlichen finden sich häufiger Tumoren, die vom Hirngewebe selbst abstammen wie Astrozytome oder Gliome. Klinik der ZNS-Tumoren Allgemeine Symptome Diese entstehen durch Erhöhung des intrakraniellen Drucks (Hirndruckzeichen, . Tab. 23.1) durch Hirnödem oder durch Verlegung der Liquorabflusswege, besonders bei Tumoren in der hinteren Schädelgrube. Dadurch kann sich der Zustand der Patienten sehr schnell verschlechtern. Spezielle Symptome Spezielle (fokale) Symptome eines Hirntumors sind durch seine Lokalisation bedingt. Bei Tumoren der vorderen Schädelgrube kann es zu Krampfanfällen oder zu lokalisierten Ausfällen kommen. Typische Zeichen von Tumoren in der hinteren Schädelgrube oder im Bereich des Hirnstamms sind Ataxie und Ausfälle der Hirnnerven, v. a. wenn sie progredient sind. Insbesondere der Nervus abducens wird häufig an der Clivus-Kante abgeklemmt. ! Jeder Patient, bei dem sekundär ein Schielen auffällt, muss einer weiteren Diagnostik zugeführt werden.
Diagnostik bei ZNS-Tumoren Spiegelung des Augenhintergrundes, Ultraschall des N. opticus, CT bzw. besser MRT des Schädels. Bei schnell zunehmender Hirndrucksymptomatik muss sofort durch eine CT geklärt werden, ob eine Liquorableitung eines Hydrozephalus erforderlich ist. Therapie der ZNS-Tumoren Die Therapie von Hirntumoren ist vom histologischen Befund abhängig, so dass zumindest eine Biopsie durchgeführt werden sollte. In Abhängigkeit von der Art, der Wachstumstendenz und der Bösartigkeit ist eine Therapie unter Einschluss einer Chemotherapie und/oder Bestrahlung erforderlich. Nur wenig bösartige Tumoren können durch Operation allein geheilt werden, wenn sie günstig lokalisiert sind. Die Prognose ist sehr unterschiedlich (HIT-Studie http://www.kinderkrebsinfo.de). Spätfolgen Bei den Hirntumoren ist die Behandlung von Spätfolgen von besonderer Bedeutung, da die meisten Patienten Schädigungen davontragen. Dabei kann es sich um spezielle Ausfälle handeln, die durch die Tumorlokalisation bedingt sind. Häufig ist jedoch eine allgemeine Schädigung in Form von intellektuellen Defiziten zu beobachten. Eine interdisziplinäre Rehabilitation (Krankengymnastik, Ergotherapie, Logopädie, Frühförderung) ist daher bei diesen Patienten möglichst frühzeitig einzuleiten.
189 23.4 · Allgemeine Aspekte bei Tumorerkrankungen
23
23.3.3 Solide Tumoren
23.4.2 Begleittherapien
Bei Jugendlichen finden sich im Vergleich zu anderen Altersgruppen häufiger Knochentumoren wie Osteosarkome und EwingSarkome, aber auch Weichteiltumoren wie Rhabdomyosarkome oder PNETs. Der klinische Verlauf, das diagnostische Vorgehen und die Therapie sind ähnlich. Tumoren, die am Körperstamm auftreten, werden meistens erst spät entdeckt und sind schlecht zu behandeln, weil sie lokalen Maßnahmen wie Operationen nur schwer zugänglich und häufig schon metastasiert sind.
Im Rahmen der Therapieprotokolle findet man Vorschläge zur Infektionsprophylaxe unter der immunsuppressiven Therapie. Ein Minimum besteht in der Prophylaxe von Infektionen mit bestimmten Erregern (Pneumcystis carinii, Pilze), die bei Abwehrgeschwächten auftreten. Die Therapie des chemotherapieinduzierten Erbrechens hat durch den Einsatz von Serotoninantagonisten, die in parenteralen und oralen Applikationsformen zur Verfügung stehen, große Fortschritte gemacht. Viele Patienten leiden trotzdem an Erbrechen und Übelkeit, auch auf Grund einer Konditionierung des Verhaltens. (Die Übelkeit beginnt vor Einsatz der Therapie, z. B. vor der Fahrt in die Klinik.) Hier kann bei vielen Patienten durch verhaltenstherapeutische Maßnahmen eine Besserung erzielt werden. Andere Begleittherapien, insbesondere alternative Therapieformen, sind nicht generell empfohlen. Diese sollten im Einzelnen mit den behandelnden Ärzten abgesprochen werden, um Wechselwirkungen mit der Chemotherapie zu vermeiden.
Klinik der soliden Tumoren
Viele Knochentumoren befallen vorzugsweise die langen Röhrenknochen. Symptome von soliden Tumoren sind in . Tab. 23.1 aufgeführt. ! Jede Schwellung, die sich nicht entzündlich oder traumatisch erklären lässt, ist verdächtig auf einen Tumor. Wenn zwischen dem Schweregrad eines Traumas und dem Auftreten einer Fraktur eine Diskrepanz herrscht, ist an eine pathologische Fraktur zu denken (14-jähriger Junge bricht sich beim Fußsprung ins tiefe Wasser den Oberschenkel). Diagnostik der soliden Tumoren
Die Bildgebung erfolgt am besten durch Spezialisten. Danach muss durch eine Probeentnahme und histologische Untersuchung die Art des Tumors bestimmt werden. Therapie der soliden Tumoren
Außer bei kleinen Tumoren, die im Gesunden ohne Verstümmelung oder Funktionseinbussen entfernt werden können, werden alle Knochentumoren und Weichteilsarkome nach dem gleichen Prinzip behandelt. Vor der endgültigen operativen Entfernung erfolgt eine Chemotherapie mit dem Ziel einer Verkleinerung des Tumors und zur Verhinderung einer Tumoraussaat. Die Lokaltherapie besteht in einer operativen Tumorentfernung, häufig in Kombination mit einer Bestrahlung. Danach erfolgt eine weitere Chemotherapie zur endgültigen Sanierung. Durch den Einsatz neuer operativer Verfahren, z. B. Einsatz von Endoprothesen, die dem Längenwachstum angepasst werden können, kann das Ausmaß der Verstümmelung und der Folgeschäden reduziert werden. Die Art und Länge der Chemotherapie und das Ausmaß der Bestrahlung sind von der Art des Tumors und seiner Ausdehnung abhängig. Spezielle Behandlungsprotokolle können der Webpage der GPOH (http://www.kinderkrebsinfo.de) entnommen werden.
23.4
Allgemeine Aspekte bei Tumorerkrankungen
23.4.1 Prognose Die Heilungsraten (5 Jahre rezidivfreies Überleben) sind von der Art der Erkrankung und dem Stadium abhängig. Die häufigste bösartige Erkrankung bei Kindern und Jugendlichen, die ALL, hat für alle Risikogruppen zusammengefasst eine Heilungsrate von 70‒80%, ohne das Vorliegen von Risikofaktoren von 90% (Kaatsch 2002). Bei M. Hodgkin liegt sie bei >90%, bei metastasierten soliden Tumoren bei 20%, insgesamt bei ca. 50%.
23.4.3
Begleitende psychosoziale Maßnahmen
Für die Patienten und deren Familien bedeutet eine bösartige Erkrankung und deren Behandlung eine permanente Bedrohung und Umstellung aller Lebensbereiche. Alle großen onkologischen Abteilungen bieten eine psychosoziale Betreuung an. Dieses Team besteht aus Psychotherapeuten für die Akutphase und die Nachbetreuung, Sozialarbeitern, die Hilfe beim Umgang mit den Behörden geben können (Beantragung von Pflegebeihilfen, Schwerbehindertenausweisen, Familienbeihilfen), Seelsorgern und Ambulanzschwestern. ! Jugendliche sollten auf Grund der Infektionsgefährdung nicht am öffentlichen Unterricht teilnehmen und haben einen Anspruch auf Unterricht in der Klinik und zu Hause. Dieser muss von den an den Kliniken tätigen Lehrern oder den Eltern bei dem betreffenden Schulamt beantragt werden.
Die sportliche Betätigung ist limitiert auf nicht verletzungsträchtige Sportarten wie Radfahren, Wandern und Gymnastik. Es besteht bei Überbelastung die Gefahr von Frakturen und aseptischen Knochennekrosen. 23.4.4 Schmerztherapie Schmerzhafte Prozeduren werden heute unter Analgesie mit Ketamin und Midazolam durchgeführt. Tumorbedingte Schmerzen erfordern meistens den Einsatz von Analgetika der Stufe II und III (WHO) häufig in Kombination mit anderen Medikamenten wie Antidepressiva. Die bei Opiaten regelmäßig auftretende Obstipation sollte prophylaktisch behandelt werden (Laktulose, Movicol); . Tab. 23.2. Ausführlich wird die Durchführung der Schmerztherapie in den Büchern von B. Zernikow und P. Gutjahr behandelt.
190
Kapitel 23 · Onkologie
23.4.5 Spätfolgen
23
Spätfolgen der Tumorerkrankung und der Therapie machen eine Nachbeobachtung über einen Zeitraum von mindestens 5 Jahren erforderlich. Neben Störungen des Allgemeinzustandes wie reduzierter Leistungsfähigkeit müssen Schäden an einzelnen Organsystemen erfasst und behandelt werden. Dazu gehören neben dem Verlust einzelner Körperfunktionen (Amputation, Operationsdefekte), Herzinsuffizienz, glomeruläre und tubuläre Nierenfunktionsstörungen, Strahlenschäden am Skelett oder Bindegewebe, Störungen des endokrinen Systems, Infektanfälligkeit. Die schwerwiegendste Nebenwirkung der Chemotherapie und Bestrahlung ist die Entstehung eines Zweitmalignoms (Gutjahr 2000). Die häufigste Form sind Hautkrebserkrankungen wie Basaliome oder Melanome, aber auch Leukämien. Bei den eher spät auftretenden lokalisierten Tumoren (Schilddrüsen-, Brustkrebs, Hauttumoren) besteht die Aussicht auf erfolgreiche Behandlung. Der Hauptansatz besteht jedoch in der Vermeidung dieser schwerwiegendsten Therapiefolge durch Reduktion der Chemo- und Strahlentherapie. Anfang der 1990er-Jahre wurde das »Late-Effect-Surveillance-System« (LESS) ins Leben gerufen. Das von Prof. Beck geleitete LESS-Studienzentrum in Erlangen sammelt und analysiert Daten über die unerwünschten Folgeerscheinungen bei Überlebenden von Krebserkrankungen im Kindes- und Jugendalter. Dies erfolgt bezogen auf die Krebsart und die angewandten therapeutischen Maßnahmen. Ziel ist es, die möglichen Spätfolgen einer erfolgreichen antineoplastischen Therapie im Rahmen der Nachsorge zu erkennen und zu beseitigen. Außerdem soll Ärzten ein Leitfaden mit konkreten Empfehlungen für die bestmögliche Nachsorge in die Hand gegeben werden (z. B. Nachsorgeplan für ALL und AML, . Anhang). Einfluss auf die Pubertätsentwicklung haben das Geschlecht, die Art der Behandlung und das Alter bei Therapiedurchführung. Die Pubertätsentwicklung ist bei Patienten gestört, die eine Bestrahlung des ZNS erhielten, da Hypothalamus und Hypophyse nicht gezielt ausgespart werden können. Die Schädigung ist am ausgeprägtesten bei jungen Patienten mit hoher Strahlendosis, wie sie heute nur noch bei der Behandlung von Hirntumoren und der Ganzkörperbestrahlung eingesetzt wird. ! Der Ablauf der Pubertät ist bei Mädchen tiefgreifender gestört, bei den knochenmarktransplantierten Patienten bis nahezu 100%. Bei diesen Patienten ist eine Hormonersatztherapie erforderlich. Ausfälle im Längenwachstum treten bei allen Patienten mit Hirntumoren auf, die eine kraniospinale Bestrahlung erhielten, seltener auch eine Hypothyreose. Diese Patienten müssen dementsprechend behandelt werden.
Die Fruchtbarkeit bleibt bei den meisten Therapieformen erhalten (>90%). Ab einer Gonadendosis von 12 Gy ist bei den Jungen mit Unfruchtbarkeit zu rechnen. Die hormonale Funktion bleibt erhalten. Bei Mädchen liegt die schädigende Gonadenwirkung bei 20 Gy. Cave Bei Einsatz des Medikamentes Procarbazin (Morbus Hodgkin in höheren Stadien) tritt bei ca. 80% der Jun-
6
gen eine Infertilität auf. Es sollte daher bei allen männlichen geschlechtsreifen Jugendlichen Sperma asserviert werden. Die Asservation und Re-Implantation von Hoden- oder Eierstockgewebe ist noch rein experimentell.
Die Rate an Malignomen bei Kindern ehemaliger Krebspatienten ist auf das 1,6-fache im Vergleich zur Normalbevölkerung erhöht, die Fehlbildungsrate liegt in demselben Bereich. Zum Thema Rehabilitation: 7 Kap. 25 23.4.6 Sterbebegleitung Etwa ein Drittel der Kinder und Jugendlichen mit bösartigen Erkrankungen kann auch heute noch nicht geheilt werden. Eine Sterbegleitung wird von den meisten pädiatrisch-onkologischen Kliniken angeboten. Der betreuende Arzt vor Ort sollte hier einbezogen werden, um vor allem eine ausreichende Schmerztherapie durchführen zu können.
Literatur Bene MC et al. (1995) Proposals or immunological classification of acute leukemias. Leukemia 9(10): 1783–1786 Bennett et al (1976) FAB cooperative group: Proposals for the classification of the acute leukemias. Brit J Haematol: 451–458 Gadner H, Gaedicke G, Niemeyer C, Ritter J (Hrsg.) (2006) Pädiatrische Hämatologie und Onkologie. Springer, Berlin Heidelberg Gutjahr P (Hrsg.) (2000) Schmerz bei Kindern. Schmerztherapie in Arztpraxis und Krankenhaus. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Stuttgart Gutjahr P (Hrsg.) (2004) Krebs bei Kindern und Jugendlichen 5. Auflage, Deutscher Ärzte Verlag, Köln Kaatsch P, Spix C: Deutsches Kinderkrebsregister, Jahresbericht 2002 Klein G et al. (2002) Risikoabschätzung für Sekundärmalignome nach Krebs im Kindesalter. Monatschr Kinderheilkd 150, 564 Schrappe M (1995) Multizentrische kooperative Therapiestudie zur Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit akuter lymphoblastischer Leukämie ALL-BFM 95, Anhang 5 Van Dongen JJ et al. (1998) Prognostic value of minimal residual disease in acute lymphoblastic leukaemia in childhood. Lancet 28;352(9142): 1731–1738 Zernikow B (Hrsg.) (2002) Schmerztherapie bei Kindern. Springer, Berlin Heidelberg
Internetadressen http://www.kinderkrebsinfo.de http://www.krebshilfe.de http://www.kinderkrebsstiftung.de http://www.kompetenznetz-leukaemie.de
Abkürzungen ALL Akute Lymphoblastische Leukämie AML Akute Myeloblastäre Leukämie CML Chronisch Myeloische Leukämie GPOH Gesellschaft für Pädiatrische Hämatologie und Onkologie Hb Hämoglobin β-HCG β-humanes Choriogonadotropes Hormon
191 Abkürzungen
HIT Hkt HLA HTLV I Lk PNET MEN ZNS
Hirntumorstudie Hämatokrit Human Lymphocyte Antigen, Gewebeverträglichkeitsmerkmale bei der Transplantation Humanes T-Zell Lymphotropes Virus Typ I Lymphknoten Primitiv Neuroektodermaler Tumor Multiple Endokrine Neoplasien Zentralnervensystem
23
24 Bewegungsapparat E. Jäger-Roman
)) Sportlich aktive Jugendliche kommen oft aus eigenem Antrieb mit Schmerzen an Gelenken, Muskeln und Sehnen in die Sprechstunde. Einige Beschwerden, die ihren Ursprung am Bewegungsapparat haben, gehören in die internistische Kompetenz des Kinder- und Jugendarztes, andere in das Gebiet der Orthopädie.
24
Am Ende von Anamnese und Befunderhebung sollte der Kinderund Jugendarzt vorsortiert haben, ob die beklagten Symptome wahrscheinlich 4 Teil einer Allgemeinerkrankung, malignomverdächtig oder ein Notfall, 4 Ausdruck eines Entzündungsprozesses an Gelenken oder Knochen sind oder zurückzuführen sind auf 4 ein mechanisches Problem durch strukturelle Veränderung am Skelettsystem oder 4 auf einen Unfall1. 24.1
Allgemeiner Untersuchungsgang
24.1.1 Anamnese
stark, ein rheumatischer Schmerz dagegen nur leicht bis mittelstark. Der sehr sportliche Jugendliche untertreibt gerne seine Schmerzen, weil er unbedingt weiter Sport betreiben möchte, während der unsportliche Typus auch einmal aggraviert, weil er sich eine Befreiung vom Schulsport erhofft. Stehen Gelenkschmerzen im Vordergrund, kann oft schon anamnestisch geklärt werden, ob es sich um einen Entzündungsoder einen mechanischen Schmerz (durch Struktur- oder Funktionsveränderung) handelt (. Tab. 24.1). Cave Einseitige lokalisierte Schmerzen an Knochen oder Gelenken, die nicht eindeutig belastungsabhängig sind, sind verdächtig auf eine Entzündung oder einen Tumor.
24.1.2 Befunderhebung Jede Befunderhebung beginnt mit einer internistischen Allgemeinuntersuchung und einer Untersuchung des gesamten Bewegungsapparates – auch wenn nur ein Kniegelenk schmerzt und geschwollen ist. Ein geschwollenes Gelenk ist oft nicht allein. Untersuchung des Bewegungsapparates Inspektion
Zu Beginn sollte geklärt werden: a) Was ist der Hauptvorstellungsanlass: Schmerzen, Fehlstellung, Bewegungseinschränkung? b) Wer macht sich Sorgen: der Jugendliche, die Eltern, der Schularzt? Der Jugendliche sollte seine Sicht des Problems ausführlich darstellen können. Die Eltern ergänzen die Anamnese, vor allem die Familienanamnese. ! Viele Erkrankungen des Bewegungsapparates kommen familiär gehäuft vor.
Wenn der Vorstellungsanlass »Schmerzen« ist, muss nach vorausgegangenen Unfällen (z. B. durch Sport) und Erkrankungen, Krankheitssymptomen außerhalb des Skelettsystems gefragt werden. Die Schmerzintensität kann ein Hinweis auf die Art der Erkrankung sein. Ein osteomyelitischer Schmerz z. B. ist eher sehr
Bevor der Ort der Hauptbeschwerde untersucht wird, wird der ganze Bewegungsapparat in anatomischer Normalstellung bei aufrechtem Stand angeschaut. Von vorne achtet man auf Proportionen, Symmetrie, Beinstellung, Muskelatrophien und lokale Konturen. Von der Seite wird die Körperhaltung registriert. Von hinten werden die Höhe der Beckenkämme, die Form der Wirbelsäule, Rippenbuckel und Lendenwulst beim Vorneigen untersucht und der Finger-Boden-Abstand gemessen. Ganganalyse
Es folgt eine Ganganalyse im normalen-, Zehenspitzen- und Hackengang, um Asymmetrien des Bewegungsablaufes und Koordinationsprobleme erkennen zu können.
. Tabelle 24.1. Anamnestische Fragen zur Abgrenzung von Entzündungs- und mechanischem Schmerz
Morgenschmerz/-steifigkeit Anlaufschmerzen Tägliche Schmerzen Gelenkschonhaltung Belastungsschmerzen Dauerschmerzen Nachtschmerzen (Tumor verdächtig!)
1
Entzündungsschmerz
Mechanischer Schmerz
++ + ++ + + (+) (+)
– – (+) – ++ – –
Das Gebiet der Traumatologie wird im Folgenden nicht beschrieben.
193 24.2 · Einzelne Krankheitsbilder
Bewegungsausmaß der Gelenke
Wichtig für die Beurteilung der Gelenke bei rheumatischen Erkrankungen ist die Bestimmung des Bewegungsausmaßes der Gelenke. Jeder kann durch übende Untersuchungen an gelenkgesunden Patienten genügend Erfahrung sammeln, um ein normales vom anormalen Bewegungsausmaß zu unterscheiden und vor allem einen Funktionsverlust zu erkennen. Die Prüfung der Gelenkmobilität und der Bandlaxität ist von besonderer Bedeutung bei den häufig vorgetragenen Knie- und Sprunggelenksschmerzen. Sie wird geprüft am Ausmaß der Mobilität der Ellenbogen-, Knie- und Sprunggelenke, anhand des Daumen-Unterarmabstandes und der Extension der Finger gegen den Unterarm. 7% der Bevölkerung haben eine Gelenk-Hypermobilität und diese ist häufig die einzige Abweichung von der Norm bei belastungsabhängigen rezidivierenden Gelenkschmerzen der unteren Extremitäten.
24
sich aus dem erwarteten Ergebnis keine therapeutischen Konsequenzen ergeben. Röntgen
Das konventionelle Röntgenbild gehört nach wie vor zur Grunddiagnostik bei allen Erkrankungen der Knochen und Gelenke. Der Ort des Röntgens muss durch den klinischen Untersuchungsbefund gut begründet sein. Hinter Knieschmerzen kann sich eine Hüfterkrankung verbergen, und Hüftschmerzen können durch eine Spondylolysis oder Spondylolisthesis der lumbalen Wirbelsäule auslöst werden. Hinter nächtlichen und nicht belastungsabhängigen anhaltenden Knieschmerzen kann sich ein Osteosarkom des distalen Femur verbergen. Da dessen zeitige diagnostische Abklärung höchste Priorität hat, gilt auch: Im Zweifelsfall lieber einmal zuviel als einmal zu wenig röntgen. Sonographie
Palpation
Sind Schmerzen die Hauptbeschwerde, so wird der Ort der Schmerzen durch Palpation untersucht: 4 Genaue Schmerzlokalisation (Bestimmung des Punctum maximum) ist der beste Test, um den anatomischen Ursprung von Schmerzen zu lokalisieren und den Ort für das Röntgen festzulegen 4 Empfindlichkeit ist bei einer Osteomyelitis der Metaphyse oder einer frischen Fraktur punktförmig und stark; bei Periostitis diffus und extrem; bei rheumatischen Gelenken diffus und mäßig 4 Wärme als Zeichen von Entzündung wird am besten im Seitenvergleich gefühlt 4 Rötung ist immer ein Zeichen von Entzündung (meist bakterieller Genese), aber kaum je ein Merkmal rheumatischer Gelenke 4 Schwellung kann als ödematöse Gewebe- oder teigige Synoviaschwellung oder als Induration getastet werden 4 Ergüsse in Gelenken ballotieren Labordiagnostik Ein Basisprogramm bei Verdacht auf entzündliche Erkrankungen (Osteomyelitis, rheumatoide Arthritis, Systemerkrankungen) sollte je nach Fragestellung beinhalten:
Kernspintomographie
Sie ist insbesondere hilfreich bei der Frühdarstellung der 4 intraossären Ödeme (Osteomyelitiden; infektiöse Spondylitis/Diszitis), 4 avaskulären Knochennekrosen (Epiphseolysis capitis femoris; Osteochondritis dissecans; Morbus Perthes des Jugendlichen), 4 Sakroileitis und der Diagnostik der Gelenkbinnenräume wie z. B. 4 Meniskusverletzungen, 4 Bänderverletzungen.
Labordiagnostik – Basisprogramm
Computertomographie
5 Entzündungsparameter: BB; BSG; CRP 5 Autoantiköper: ANA; RF (nur bei Polyarthritis) 2 5 Serologie: Borrelien-AK; event. AST; bei Verdacht auf reaktive 5 Arthritis: AK auf arthritogene Erreger (Chlamydien, Yersinien, Campylobacter, Salmonellen, Shigellen) 5 Allgemeine Chemie: GOT; GPT; γ-GT; AP; CK; LDH; Kreatinin; Elekrophorese; Immunglobuline; Urinanalyse HLA-B27
Die Computertomographie ist der weiterführenden Bildgebung vorbehalten.
Bildgebende Diagnostik Bildgebende Verfahren unterstützen die klinische Untersuchung. Auf eine bildgebende Diagnostik kann verzichtet werden, wenn 2
Die Sonographie hat ihren Platz bei 4 schmerzhaften Bewegungseinschränkungen der großen Gelenke; zur Darstellung einer verbreiterten Synovia und eines Ergusses, 4 der Verlaufskontrolle in der Rheumatologie, 4 M. Osgood-Schlatter, 4 Verdacht auf Epiphysiolysis capitis femoris und Morbus Perthes, 4 Verdacht auf Knochentumoren; fakultativ bei Frakturen (und deren Verlaufskontrollen), 4 Weichteiltraumen (z. B. Muskelfaserrisse), 4 tastbaren Weichteiltumoren (z. B. Baker-Cyste).
ANA Antinucleäre Antikörper, RF Rheumafaktor, AST Antistrepolysintiter, AK Antikörper
24.2
Einzelne Krankheitsbilder
24.2.1 Entzündliche Erkrankungen an Knochen
und Gelenken Akute hämatogene Osteomyelitis (M 86.09) Die akute Osteomyelitis ist eine bakterielle Infektion des Knochens. Der Infektionsweg ist in der Regel hämatogen über einen unbekannten Streuherd, seltener exogen nach Verletzungen und Frakturen. Staphylococcus aureus ist der Haupterreger. Am häufigsten sind die langen Röhrenknochen (80%: Femur, Tibia, Humerus) und das Becken betroffen. Die akute Osteomyelitis gehört
194
Kapitel 24 · Bewegungsapparat
zu den seltenen Erkrankungen in der Praxis des niedergelassenen Arztes (4 auf 10.000 Kinder aller Altersgruppen). ! Eine Osteomyelitis ist immer ein Notfall.
24
Das Leitsymptom der Erkrankung ist der akute (starke) lokale Schmerz. Allgemeinsymptome wie Fieber sind nicht immer zu Beginn vorhanden, auch sind in den ersten Tagen die Labor-Entzündungszeichen nicht immer wegweisend. Das MRT ist die Untersuchung der Wahl zur Frühdiagnose. Eine verspätete Diagnose bleibt für die meisten Erkrankungen des Bewegungsapparates folgenlos, nicht so für die akute Osteomyelitis. ! Jeder Verzug der Diagnose und des Behandlungsbeginns erhöht das Risiko für Spätfolgen wie rezidive, septische Metastasen, pathologische Frakturen, chronische Osteomyelitis und Defektheilungen. Der Früherkennung und Frühbehandlung der Osteomyelitis kommt höchste Priorität zu. Starke lokale Knochenschmerzen mit und ohne Entzündungszeichen sind bis zum Beweis des Gegenteils verdächtig auf eine akute hämatogene Osteomyelitis (oder einen Tumor).
Akute und chronische Arthritis Die Entzündung eines oder mehrerer Gelenke wird Arthritis genannt. Klinische Zeichen einer Arthritis sind Schmerz, Schwellung, Bewegungseinschränkung, Wärme und Rötung (7 Abschn. Befunderhebung). Nicht jedes dieser Symptome muss obligat vorhanden sein. Es gibt weit über 100 Erkrankungen, die mit einer Arthritis einhergehen können. (Cassidy u. Petty 2001; Jacobs 1993). Der Gelenkschmerz ist das Hauptsymptom, das den Jugendlichen in die Praxis bewegt. Was sollte bei der Erstvorstellung geklärt werden? 4 Handelt es wirklich um eine Arthritis? Cave: gelenknaher Tumor 4 Sind weitere Gelenke befallen? Wenn ja, ist der Gelenkbefall oligoarthritisch (bis zu 4 Gelenken) oder polyarthritisch (5 und mehr Gelenke: symmetrisch oder asymmetrisch) 4 Sind nur die Gelenke betroffen? Oder auch andere Organsysteme (Haut, Augen, lymphatisches System, Darm, Herz) bzw. ist Fieber vorhanden? 4 Handelt es sich eventuell um eine Erkrankung mit Arthritis wie z. B.: Leukämie; Haemophilie; Sichelzellkrise; Familiäres Mittelmeerfieber; Systemischer Lupus erythematodes; Schönlein-Henoch-Purpura; Antikörpermangelsyndrome; Akutes Rheumatisches Fieber; Colitis ulcerosa; Morbus Crohn? Allgemeine Behandlungsziele bei akuten und chronischen Arthritiden: 4 Kurzfristig (akute und chronische Arthritis) 5 Kontrolle des Schmerzes (NSAR; . Tab. 24.2)3 5 Kontrolle der Entzündung (NSAR; Kühlung; DMARD’s, . Tab. 24.3) 5 Funktionserhalt der Gelenke (Krankengymnastik; Ergotherapie; Funktionsschienen) 4 Langfristig (chronische Arthritis) 5 Kontrolle der Nebenwirkung von Krankheit und Langzeitmedikation 3
NSAR: nicht steroidale Antirheumatika; DMARD’s: disease modifying antirheumatic drugs
. Tabelle 24.2. Dosierung einiger gebräuchlicher nicht steroidaler Antirheumatika (NSAR)
Medikament
Dosierung
Anzahl der Gaben
Naproxen Diclofenac Ibuprofen Indomethazin
15 mg/kg/Tag 2–3 mg/kg/Tag 2–3 mg/kg/Tag 2 mg/kg/Tag
2 3 3 2–3
. Tabelle 24.3. Die am häufigsten verwendeten DMARD’s
Medikament
Dosierung
Applikation
Sulfasalazin Methotrexat (MTX)
50 mg/kg 10–15 mg/m2
in 2 Dosen täglich 1 x/Woche p.o./i.v./s.c.
5 Sicherung von normalem Wachstum und Entwicklung 5 Teilnahme am altersentspechendem sozialen Leben, einschließlich Sport 5 Normale Bildungsverläufe ! Der frühzeitige Einsatz von Krankengymnastik ist bei allen Arthritiden erforderlich, um den sich rasch entwickelnden Beugekontrakturen und Inaktivitätsmuskelatrophien vorzubeugen.
Zum Sport: Es gibt keinen Hinweis, dass normaler Sport eine Gelenkentzündung auslöst oder verschlechtert. Allerdings können betroffene Gelenke nach sportlicher Belastung schmerzen. Schwimmen und Fahrradfahren wird fast immer vertragen. Der Patient sollte im Sportunterricht selber entscheiden dürfen, welche Übungen er mitmachen kann. Akute Arthritis (M 13.99) Zu den akuten Arthritiden gehören: 4 Septische Arthritis (M 00.99) 4 Lyme Arthritis (A 69.2) 4 Reaktive Arthritis (M 02.99) 4 Akutes Rheumatisches Fieber und poststreptokokkenreaktive Arthritis (100) Lyme Arthritis (A 69.2)
Die Lyme Arthritis ist nach dem Erythema migrans die häufigste Manifestation der Lyme Borreliose. Sie entsteht durch Infektion mit der Spirochäte B. burgdorferi nach einem Zeckenbiss (Huppertz 2003). Arthralgien und Myalgien treten Tage bis Wochen nach der Infektion auf, manchmal auch zeitgleich mit dem Erythema migrans. Eine Arthritis entwickelt sich erst nach Monaten. In zwei Drittel der Fälle betrifft die Arthritis nur ein Kniegelenk. Selten sind mehrere große Gelenke (Oligoarthritis), noch seltener die kleinen Gelenke (im Verlauf einer Polyarthritis) betroffen. Charakteristischerweise ist die Arthritis zu Beginn episodisch mit relativ schmerzlosen Gelenkschwellungen, die nur einige Tage bestehen und ohne Therapie verschwinden. Die Verdachtsdiagnose wird durch die Bestimmung spezifischer Antikörper erhärtet (Suchtest mittels Enzymimmunoassay, Bestätigungstest im Westernblot). Therapie: als Therapie wird eine Behandlung mit Ceftriaxon (50 mg/kgKG) 1× täglich als 20-minütige Infusion für 14 Tage
195 24.2 · Einzelne Krankheitsbilder
empfohlen. Ob eine orale Therapie mit Amoxicillin (50 mg/ kgKG/Tag in 3 Gaben) oder Doxycyclin (200 mg/Tag/in 1 Gabe) für 4 Wochen gleichwertig ist, wird zur Zeit untersucht. Chronische Arthritis Juvenile idiopathische Arthritis (M 08.99)
Als juvenile idiopathische Arthritis (JIA) wird eine Arthritis unbekannter Ursache bezeichnet, die vor dem 16. Lebensjahr beginnt und mindestens 6 Wochen (Definition: ACR American College of Rheumatology und ILAR International League of Associations for Rheumatology) bzw. 3 Monate (EULAR European League against Rheumatism) ununterbrochen besteht (Huppertz 2002). Synonyme: juvenile rheumatoide Arthritis (JRA; ACR); juvenile chronische Arthritis (JCA; EULAR) ILAR-Kriterien zur Klassifikation der juvenilen idiopathischen Arthritiden: 4 Systemisch (M 08.29) 4 Polyartikulär RF neg. (M 13)4 4 Polyartikulär RF pos. (M 13) 4 Oligoartikulär (M 08.49) 5 Persistierend (nie mehr als 4 Gelenke) 5 Ausgedehnt (nach 6-monatigem Verlauf weiterer Gelenkbefall) 4 Psoriasisarthritis (M 07.39) 4 Arthritis mit Enthesopathie (M 46.99) 4 Andere Arthritiden Die häufigste juvenile idiopathische Oligoarthritis, die sich im Schul- oder Jugendalter manifestiert, ist die Arthritis mit Enthesopathie. Meist sind wenige große und auch kleine Gelenke der unteren Extremitäten, die Iliosakralgelenke (Rückenschmerzen!) und vor allem die Entheses (Sehnenansätze) um die Kniegelenke und die Fersen betroffen. Jungen sind 9-mal häufiger als Mädchen betroffen. Therapie: die medikamentöse Therapie (Heubner et al. 2002) beginnt mit NSAR (nicht steroidalen Antirheumatika) (. Tab. 24.2), gefolgt von intraartikulären Steroidinjektionen vor allem in die großen Gelenke. Stellt sich keine Remission nach 6‒12 Wochen ein, sollte mit einem Medikament aus der Gruppe der sog. DMARD–s (disease modifying antirheumatic drugs, krankheitsmodifizierende antirheumatische Medikamente) begonnen werden (. Tab. 24.3). Die Mitbetreuung durch einen pädiatrischen Rheumatologen ist angeraten. 24.2.2 Orthopädische Erkrankungen
nach Regionen In der Adoleszenz ist der Wachstumsknorpel die verletzlichste Gewebestruktur des Bewegungsapparates. Viele der nachfolgend aufgeführten Erkrankungen beruhen auf Störungen oder Erkrankungen dieser Zonen.
4
RF = Rheumafaktor; hervorgehoben sind die Arthritiden, die sich im Jugendalter erstmals manifestieren können.
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Wirbelsäule Rückenschmerzen Mit der Wirbelsäule verbindet sich fast automatisch der Begriff »Rückenschmerzen«. Rückenschmerzen nehmen in der Bevölkerung insgesamt, aber auch im Kindes- und Jugendalter zu. 10–30% der Jugendlichen kennen Rückenschmerzen, sie stellen sich aber meist nur mit stärkeren oder länger anhaltenden Schmerzen in der Praxis vor. Die häufigste fassbare Ursache für Rückenschmerzen sind Myegelosen (. Tab. 24.4). Für etwa 50% der Rückenschmerzen bei Jugendlichen lässt sich keine ursächliche organische Ursache finden (7 Kap. 30). Starke Rückenschmerzen sollten umgehend und leichte bis mittlere Rückenschmerzen spätestens nach 4 Wochen gezielt abgeklärt werden. Im Zuge der Abklärung können sich auch Diagnosen finden, die nicht für die Schmerzen verantwortlich sind (z. B. thorakale Skoliosen). Idiopathische Skoliose (M 41.19)
Geringfügige Rumpf- und Wirbelsäulenasymmetrien werden als Normvarianten bei 10% der Bevölkerung gesehen. Sie sollten möglichst nicht Skoliose genannt werden, um speziell Jugendliche nicht unnötig zu beunruhigen. Eine Skoliose ist eine fixierte seitliche Verkrümmung der Wirbelsäule mit Torsion. Eine Skoliose liegt vor, wenn im Vorbeugetest ein Rippenbuckel oder Lendenwulst von mehr als 5 Grad (Winkel zwischen Rückenoberfläche und Horizontale) gemessen wird oder radiologisch der sog. Skoliose- oder CobbWinkel (Cobb 1948) mehr als 10 Grad beträgt. Die häufigste Form der idiopathischen Skoliose ist die Adoleszentenskoliose (Hefti 1998), die nach dem 10. Lebensjahr bei 2‒3% der Jugendlichen während des Wachstums auftritt. Ihre Ätiologie ist definitionsgemäß unbekannt. Mädchen sind 4-mal häufiger betroffen als Jungen. ! Die klassische Adoleszentenskoliose ist thorakal lokalisiert, rechtskonvex und fast immer von einer Lordose begleitet. Sie verursacht in der Regel keine Schmerzen. 10% der Skoliosen sind S-förmig mit zwei Primärkrümmungen.
Die seltenen thorakolumbalen oder lumbalen Skoliosen entstehen oft sekundär durch ausgeprägte Beinlängendifferenzen oder durch lumbosakrale Übergangsanomalien wie der Spondylolyse.
. Tabelle 24.4. Ursachen für Rückenschmerzen nach Schmerzintensität Starke Rückenschmerzen
Frakturen Lumbaler Morbus Scheuermann Spondylodiszitis Tumoren
Leichte bis mittlere Rückenschmerzen
Idiopathische Rückenschmerzen Myegelosen Spondylolyse/Spondylolisthesis Diskushernie Sakroiliitis bei juveniler idiopathischer Arthritis Schwere lumbale Skoliose Intraspinale Anomalien Innere Erkrankungen (Nieren; weibliche Genitalorgane)
196
Kapitel 24 · Bewegungsapparat
Diese neigen zur Progression und sind häufig Ursache von tiefen Rückenschmerzen. Cave Skoliosen können progressiv sein (10%) und müssen deshalb im Auge behalten werden.
24
Die Therapie (Beobachtung, Korsettbehandlung, Operation) ist abhängig von der Progredienz der Skoliose und der Zeit bis zum abgeschlossenen Wachstum. Korsettbehandlungen (Skoliosewinkel 20‒30 Grad; Progredienz) können das Fortschreiten der Skoliose verhindern, können die Skoliose aber nicht verbessern. Operationsempfehlung: Skoliosewinkel ab 40 Grad thorakal; 50 Grad lumbal). Krankengymnastik, Elektrostimulationsverfahren und Manualtherapien haben nachweislich keinen Einfluss auf die Progression einer Skoliose. Fazit
90% aller Adoleszentenskoliosen sind leicht und bleiben stabil. Sie bedürfen keiner Behandlung. Kyphose Eine Kyphose ist eine Kurvenbildung der seitlich betrachteten Wirbelsäule nach hinten. Es gibt kein klinisches Maß, den Grad einer Kyphose zu definieren. Eine verstärkte Kyphose = Hyperkyphose in der Pubertät hat hauptsächlich zwei Ursachen: die flexible (physiologische) Haltungskyphose und der Morbus Scheuermann. Flexible Haltungskyphose (M 40.09) ! Die flexible Haltungskyphose (Rundrücken) ist nicht fixiert. Sie wird ausgeglichen beim Vorbeugen oder wenn der Patient aufgefordert wird: »Stell dich einmal gerade hin«. Sie verursacht keine Rückenschmerzen. Sie ist ein Haltungsund kosmetisches Problem.
Der Jugendliche sollte zu einem Sport, der Spaß macht, motiviert (aktiviert) werden. Mit Physiotherapie bei einem lustlosem Teilnehmer erreicht man keine Haltungsverbesserung. Adoleszentenkyphose = Morbus Scheuermann (M 42.09) Der Morbus Scheuermann (synonym: Adoleszentenkyphose) ist eine Wirbelsäulenerkrankung, die zur Kyphose führt. Sie entsteht durch eine konstitutionelle Schwäche der knorpeligen Ringapophysen der Wirbelkörper. Während des pubertären Wachstums kommt es zum Durchbrechen von Bandscheibenanteilen durch diesen Knorpel. Auf dem seitlichen Röntgenbild sieht man: 4 Deckplatteneinbrüche mit der Bildung von Schmorl-Körperchen 4 Randleistenhernien 4 Bandscheibenverschmälerungen 4 Keilwirbelbildung Wie ein Morbus Scheuermann definiert wird, wird sehr unterschiedlich gehandhabt. Im Thoraxbereich entwickelt sich eine fixierte Kyphose, thorakolumbal oder lumbal ein Flachrücken. Die thorakale Kyphose verursacht selten Schmerzen, jedoch tut dies die lumbale Erkrankung.
Die Therapie richtet sich nach dem Grad der Kyphosierung: 4 Krankengymnastik, um die Rückenmuskulatur zu stärken; Sport außer: Fahrradfahren in Rennfahrerposition, Rudern und Gewichtheben 4 Korsettbehandlung bei starker Kyphosebildung – anders als bei der Skoliose kann die Kyphose durch eine Korsettbehandlung rückgängig gemacht werden 4 Sehr selten ist eine Operation angezeigt Spondylolyse (M 43.09) und Spondylolisthesis (M 43.19)
Die Spondylolyse ist ein uni- oder bilateraler Defekt in der Pars interarticularis meist des 5. Lendenwirbels. Ursache bei Jugendlichen sind häufig Stressfrakturen durch Sportarten, bei denen die Lendenwirbelsäule viel gebeugt und überstreckt wird. Der Defekt kann zum ventralen Wirbelgleiten auf dem os sacrum führen: Spondylolisthesis. Beide Konditionen können tiefe Rückenschmerzen verursachen, insbesondere bei körperlicher Aktivität, nach langem Sitzen oder Stehen und bei Reklinationsbewegungen der Wirbelsäule. ! Die meisten Spondylolysen sind asymptomatisch.
Therapie bei symptomatischen Spondylolysen: Vermeidung von Sportarten mit lordosierenden Übungen. Bei frischen symptomatischen Spondylolysen ist manchmal eine Korsettbehandlung zur Ausheilung der Fraktur angezeigt. Eine höher gradige Spondylolisthesis kann operiert werden. Hüfte Frühsymptom einer Hüfterkrankung ist Humpeln, gefolgt von Schmerz. Gewöhnlich wird der Hüftschmerz in das Knie oder den distalen Oberschenkel (Innenseite) projiziert, kann aber auch in der Leiste, vor dem Hüftgelenk oder seitlich, nie hinten gefühlt werden. ! Bei Schmerzen im Kniegelenk oder distalen Oberschenkel muss immer das Hüftgelenk untersucht werden. Hüftschmerzen und die Unfähigkeit zu laufen sind ein orthopädischer Notfall.
Epiphysiolysis capitis femoris (M 93.0) Die Epiphysiolysis capitis femoris (ECF) ist eine nicht-traumatische Epiphysenlösung der proximalen Femurepiphyse mit Dislokation des Femurkopfes nach medial und dorsal. Sie ist die häufigste Ursache für eine akute Erkrankung des Hüftgelenkes im Jugendalter (2‒10 auf 100.000 Jugendliche unter 20 Jahren). Das Erkrankungsalter liegt zwischen 8 und 16 Jahren, Jungen sind häufiger betroffen als Mädchen. Die meisten Patienten mit ECF sind übergewichtig. Jeder 4. Patient hat eine beidseitige Erkrankung der Hüften. Die akute ECF wird operativ behandelt. Knieschmerzen Nach der Häufigkeit der Klagen über Knieschmerzen zu urteilen, scheint das Knie der Schwachpunkt des jugendlichen Bewegungsapparates zu sein. Da Knieschmerz wie kein anderer Schmerz fast immer mit Sport und Aktivität zu tun hat, trifft er einen besonders sensiblen Bereich. Es gibt eine Fülle von Differentialdiagnosen (. Tab. 24.5). Die häufigste Ursache für den belastungsabhängigen Knieschmerz in der Patellaregion ist die chronische Überlastung (mit repetitiven Mikrotraumen).
197 Literatur
24
. Tabelle 24.5. Ursachen für Knieschmerzen Chronische Überlastung (repetitiver Stress) Merke: Für diese Erkrankungen ist die Palpation die hilfreichste Untersuchung
Peripatelläres Schmerzsyndrom Hypermobile Gelenke Sinding-Larsen-Johansson-Syndrom Jumper’s knee (Tendinitis der Patellasehne) Osgood-Schlatter-Syndrom
Intraartikuläre Ursachen
Osteochondritis dissecans Meniskusläsionen Kreuzbandläsionen Scheibenmeniskus
Gelenkentzündungen
Akute und chronische Arthritiden
Cave: Tumoren
Maligne: Osteosarkom; Ewing-Sarkom Benigne: Osteochondrom; Fibrom; Osteoidosteom; Chondroblastom
Cave: Hüfterkrankungen
Epiphysiolysis capitis femoris
! Möglichst sollte kein allgemeines Sportverbot ausgesprochen werden. Für ein jahrelanges Sportverbot, wie bisweilen praktiziert, gibt es keine wissenschaftliche Begründung.
Die folgenden Erkrankungen sind prognostisch gutartig, selbst limitierend und können gut durch Palpation (Staheli 2003) des Kniegelenkes diagnostiziert werden (. Tab. 24.6) Peripatelläres Schmerzsyndrom (M 22.4) Synonyme: Chondromalacia patellae, Patellarsyndrom, femurpatelläres Schmerzsyndrom (Englisch: anterior knee pain). Schlecht lokalisierbare belastungsabhängige Schmerzen des vorderen Kniegelenkes vor allem bei adoleszenten Mädchen. Auch als »Kopfschmerz des Knies« bezeichnet. Bessert sich spontan nach einiger Zeit (Monate bis Jahre). Sinding-Larsen-Johansson-Syndrom (M 92.4) und Jumper’s knee Aseptische Knochennekrose am knorpeligen Patellasehnenansatz des unteren Patellapoles (Traktionsapophysitis). Tritt vorwiegend bei Jungen um die Pubertät herum auf und bessert sich spontan nach 6‒12 Monaten. Beim »jumper’s knee« (SpringersKnie) findet sich die gleiche Symptomatik, es handelt sich aber um eine Enthesitis der Patellasehne ohne Knochennekrose.
. Tabelle 24.6. Punktum maximum des Schmerzes bei Palpation von Kniegelenksstrukturen
Morbus Osgood-Schlatter (M 92.5) Aseptische Knochennekrose des knorpeligen Patellasehnenansatzes an der Tuberositas tibiae im Pubertätsalter. Jungen sind häufiger als Mädchen betroffen, meist einseitig. Therapieempfehlung: Diese sollte immer konservativ erfolgen wegen des gutartigen Verlaufs. Manchmal ist eine vorübergehende Sportpause angezeigt, ein anderes Mal ein Wechsel auf eine andere Sportart. Eine Kniebandage mit Pelotte um die Patella herum kann unterstützend wirken. Wichtig ist, mit dem Trainer oder Sportlehrer zu sprechen, damit er ein dosiertes sportliches Aufbautraining für den Musculus quadriceps überwacht. Cave Übertherapie/Sportverbot!
Literatur Cassidy JT, Petty RE (Hrsg.) (2001) Textbook of Pediatric Rheumatology. Saunders, Philadelphia Cobb JR (1948) Outline for the Study of Scoliosis. In: Edwards JW (Hrsg.) Instructional Course Lectures. Bd 5 Ann Arbor, Mich: American Academy of Orthopaedic Surgeons S 261–275 Hefti F (1998) Adoleszentenskoliosen. In: Hefti F Kinderorthopädie in der Praxis. Springer, Heidelberg S 71–94 Heubner G, Grosche M, Gahr M (2002) Therapie der juvenilen idiopathischen Arthritis. Monatsschr. Kinderheilkd 150: 445–451 Hupperts HI (2002) Oligoarthritis im Kindes- und Jugendalter. Monatsschr Kinderheilkd 150:437-444 Huppertz HI (2003) Lyme Arthritis. Monatsschr Kinderheilkd 151: 1156– 1162 Jacobs JC (1993) Pediatric Rheumatology for the Practitioner. Springer, New York S 1 Petty RE, Southwood TR, Baum J et al. (1998) Revision of the proposed classification criteria for juvenile idiopathic arthritis. Durban, 1997. J Rheumatol 25: 1991–1994 Staheli LT (2003) Fundamentals of Pediatric Orthopedics. Lippincott Williams & Wilkins, S 67–73
Patellaränder
Patellarsyndrom; Patella bipartita
Distaler Pol der Patella
Sinding-Larsen-Johannson-Syndrom Jumper’s knee
Medialer Gelenkspalt
Meniskusläsionen Osteochondrosis dissecans
Mediales Seitenband
Bandverletzungen
Internetadresse
Tuberositas tibiae
Morbus Osgood-Schlatter
Arbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendrheumatologie: http://www. agkjr.de
25 Rehabilitation E. Leidig
25.1
25
Wo stehe ich?
Jugendliche mit chronischen Erkrankungen oder akuten, schweren Störungen der Gesundheit, die mit einer nicht kalkulierbaren Krankheitsdauer und vielerlei Bedrohungen einhergehen, tun sich zwangsläufig schwer, den Weg ins selbständige Leben zu finden. Orientierungsprobleme sind selbst bei gesunden Jugendlichen normal. Durch körperliche Veränderungen, Leistungsschwächen, Unsicherheiten, Behinderungen, Abhängigkeiten, Gefühlschaos, Zukunftsängsten, Problemen im Freundeskreis, Schwierigkeiten mit dem anderen Geschlecht und mit der Sexualität fühlen sich Jugendliche immer wieder von ihrer eigenen Krankheit eingeholt. Wegweiser sind hier gefragt (. Abb. 25.1). 25.2
Eine Reha muss Spaß machen – und ernsthaft sein!
Eine auf die individuellen Defizite und Bedürfnisse des Patienten abgestimmte Rehabilitation ist eine gute Möglichkeit, bei bestimmten Lebensproblemen und -risiken mit der Krankheit umgehen zu lernen. Risiken und Bedrohungen können Angst machen ‒ übergeleitet in Herausforderungen können sie aber auch zu höherer Bewusstheit, zu mehr Ich-Stärke und zu einer insgesamt besseren Lebenssituation und Lebensqualität führen. Diese definieren Jugendliche überwiegend aus dem Körperbild und aus den Möglichkeiten, trotz und mit der Erkrankung in der Gruppe der gesunden Gleichaltrigen akzeptiert zu sein und sich behaupten und durchsetzen zu können (7 Kap. 3). Zu einem umfassenden, d. h. körperlichen, seelischen, fähigkeits- und neigungsbezogenen Bild von sich selbst zu gelangen, ist ein ganz wesentliches Rehabilitationsziel. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Existenz sozusagen unter den Risiko- und Krisenbedingungen einer Erkrankung ermöglicht in einem modernen Reha-Setting ein professionelles interdisziplinäres medizinisch-physiotherapeutisch-psychosoziales Team. Hierbei muss der Therapieplan einerseits sehr individuell gestaltet werden, um der momentanen Situation des Patienten Rechnung zu tragen (bedürfnisorientiert), andererseits muss die Auseinandersetzung auf verschiedenen Ebenen mit einer altersadäquaten Kleingruppe stattfinden (z. B. themenbezogene Gesprächsgruppen, Kopf und Körper trainieren, Spielen und Spaß haben, kreative Freizeit, »passive« Freizeit, regelmäßiger Besuch z. B. eines Erlebnisbades, der klinikeigenen Sauna und eines öffentlichen Fitness-Centers – auch um Hemmungen abzubauen –, Ausflüge, Disco etc.). Beratungen unter schulischen und beruflichen Aspekten haben einen hohen Stellenwert; hier müssen bedarfsweise Testungen auf Fähigkeitsstörungen erfolgen, um möglichst optimale Ergebnisse bezüglich der Motivation zu erreichen und vor allem spätere Frustrationen zu vermeiden. Nicht zuletzt besteht bei oft sehr stark nachgefragten Gesprächen über die eigene Erkrankung ein regelrechter Informationssog im Hinblick auf die Krankheitsentstehung, den Abbau von Informationsdefiziten, mögliche
. Abb. 25.1. Wo stehe ich?
neue Methoden, »alternative« oder »unterstützende« Maßnahmen, Ernährungsfragen, Auswirkungen von Alkohol, Tabakkonsum oder Drogen aber auch was eigene Versäumnisse oder Schuldfragen angeht. »Ich will alles über meine Krankheit wissen, aber ich will nicht ständig darüber reden.«
25.3
Wo steht der Anspruch auf eine Rehabilitation?
Leider »verzichten« viele Jugendliche auf ihren Anspruch auf eine stationäre Rehabilitationsmaßnahme. Dies hat vor allem damit zu tun, dass die Behandlungskonzepte vieler Reha-Kliniken somatisch kopflastig waren und wenig qualifiziert auf die psychosozialen Probleme aber auch die Interessen und Wertvorstellungen Jugendlicher eingegangen wurde.
199 25.7 · Wie lange dauert eine Rehabilitation?
25
! Für viele Eltern eines chronisch kranken Jugendlichen ist ein Rehabilitationsaufenthalt ein wichtiger Schritt ins unabhängige Leben ihres Sohnes oder ihrer Tochter, da sie oft befürchten, dass »ihr Kind« ohne ihre oder doch zumindest fremde Hilfe nicht zurechtkommen könnte.
gegeben, wenn bei Ausschöpfung der verfügbaren ambulanten Behandlungsmöglichkeiten das Therapieziel nicht erreicht werden kann, somit eine Beeinträchtigung droht oder eingetreten ist und eine günstige Beeinflussung durch die stationäre Rehabilitation zu erwarten ist.
Die Reha-Einrichtungen bieten hier in ihren Augen neben den notwendigen medizinischen Therapien, Beratungen usw. eine entsprechende Sicherheit, dazu das Zusammensein ihres heranwachsenden Kindes mit Gleichaltrigen (und Gleichbetroffenen) unter Aufsicht von fürsorglichen Betreuern.
Rehabilitationsfähigkeit
Rehabilitationsfähigkeit besteht, wenn der Patient an dem Rehabilitationssetting in Bezug auf das Erreichen seiner Rehabilitationsziele teilnehmen kann. Rehabilitationsmotivation
Rechtsgrundlagen 5 Das Recht auf Rehabilitation ergibt sich aus dem § 10 Sozialgesetzbuch (SGB) I 5 Kostenträger für die Rehabilitation können die Rentenversicherungsträger oder die Krankenversicherungen sein 5 Rentenversicherungsträger: § 31, Abs. 1, Satz 4, SGB VI 5 Krankenversicherungen: § 40, Abs. 2, SGB V
Die Motivation des Jugendlichen zur stationären Rehabilitation hängt grundsätzlich vom Entwicklungsstand ab. Der Entschluss zur Durchführung einer Maßnahme sollte im Idealfall eine gemeinsame Entscheidung des Jugendlichen, seiner Familie und des behandelnden Arztes sein. Die Motivation zur aktiven Mitarbeit des Rehabilitanden und seiner Eltern sollte gezielt gefördert werden. Rehabilitationsvorbereitung
25.4
Welche übergeordneten Ziele verfolgt eine Rehabilitation?
Die verschiedenen Zielebenen der Jugendrehabilitation können in einer Stichwortübersicht folgendermaßen dargestellt werden:
Zielebenen Unmittelbare Hauptziele 5 Akute Verbesserung von Krankheitssymptomen 5 Steigerung (eingeschränkter) physischer und psychischer Leistungsfähigkeit 5 Erlernen von Strategien zur Krankheitsbewältigung 5 Erlernen eines individuell optimalen (eigenen) Krankheitsmanagements Angestrebte Langzeitziele Bezogen auf Körperfunktionen und Strukturen: 5 Mittel- und langfristige Verbesserung des Krankheitszustandes 5 Vermeidung von sekundären Folgeerkrankungen 5 Situationsbezogen »optimale« physische, psychische und soziale Entwicklung Bezogen auf Aktivität und Teilhabe: 5 Angemessene Leistungsfähigkeit 5 Adäquate Schulbildung und Einstieg in die Berufsausbildung 5 Situationsbezogen »optimale« Lebensqualität Personenbezogen: 5 Krankheitsakzeptanz
25.5
Was sind die Voraussetzungen für eine Rehabilitation?
Rehabilitationsbedürftigkeit
Die Rehabilitationsbedürftigkeit ergibt sich aus einer zusammenfassenden Bewertung aller sozialmedizinischen Kriterien. Sie ist
Der Erfolg der Rehabilitation wird bereits durch die Rehabilitationsvorbereitung entscheidend beeinflusst: Patient, Eltern und ambulantes Behandlungsteam sollten über die Strukturen und Leistungen der stationären Rehabilitationseinrichtung informiert sein. Dabei sollte die zentrale Rolle nachhaltiger krankheitsbezogenen Verhaltensänderungen betont werden. Individuelle, realistische Ziele sollten zusammen vorbereitet werden. Vorbefunde, bisherige Therapien und vorangegangene Rehabilitationen mit den dort erarbeiteten Rehabilitationszielen sollten dem Rehabilitationsteam bereits im Vorfeld zugeschickt werden. Im Einzelfall sind Telefonate sehr hilfreich!
25.6
Was ist die Rehabilitationsprognose?
Die Rehabilitationsprognose hängt ab von Schweregrad und Stadium der Erkrankung, der oder den Komorbiditäten, der Qualität der ambulanten Vorbereitung, der Motivation des Patienten und seiner Familie, individuellen und sozialen Ressourcen. Ferner spielen Faktoren der Reha-Einrichtung wie die Qualität der Behandlungskonzepte sowie die Kompetenz des interdisziplinären Teams eine wesentliche Rolle. Primär sollte auf die Reha-Einrichtungen zurückgegriffen werden, von deren Indikationen Reha-Leitlinien existieren (s. http://www.rehakid.de). Zudem wird die Langzeitprognose von der Qualität der Kommunikation zwischen ambulanten und stationären Behandlungsteams und der Qualität der ambulanten Nachsorge beeinflusst.
25.7
Wie lange dauert eine Rehabilitation?
Die Rehabilitationsdauer beträgt in der Regel 4‒6 Wochen. Sie orientiert sich an den gesetzlichen Grundlagen, an der Indikation, am Schweregrad der Erkrankung und an den individuellen Rehabilitationszielen. Im Ausnahmefall ist eine längere Dauer grundsätzlich möglich, wenn dies zum Erreichen des Rehabilitationszieles erforderlich ist. Die Rehabilitationsdauer kann bei Wiederholungsmaßnahmen kürzer sein als bei der Erstmassnahme, jedoch nicht kürzer als 4 Wochen.
25
200
Kapitel 25 · Rehabilitation
25.8
Was ist mit Schule?
Im Rahmen einer stationären Rehabilitation für Jugendliche ist auch die Weiterführung der schulischen Ausbildung in den Kernfächern in Form eines Stützunterrichtes gewährleistet. Dazu werden die Patienten in kleinen Gruppen oder einzeln im eigenen Schulstoff unterrichtet. Der Unterricht wird in den Gesamttherapieplan eingebunden und dient in der Zusammenarbeit mit den anderen Disziplinen auch der Aufdeckung von Schulleistungsstörungen. Die Vermittlung von Lernstrategien und Lerntechniken soll diesen Beeinträchtigungen zielorientiert entgegenwirken. Schule ist Alltag für Jugendliche und ist somit auch als wünschenswerte »Belastungserprobung« während der Rehabilitation zu werten.
25.9
Gibt es Berufsberatung?
Im Rahmen der stationären Rehabilitation von Jugendlichen kann unter Berücksichtigung sozialmedizinischer Gesichtspunkte auch eine geeignete Berufsberatung angezeigt sein. Ziele dieser Berufsberatung in der Rehabilitation sind: 4 Spezifisches Problembewusstsein bezüglich der Berufswahl wecken 4 Individuelle berufliche Perspektiven nach Neigung des Jugendlichen ergründen 4 Bei Bedarf alternative Ausbildungsmöglichkeiten, orientiert an der medizinischen Eignung aufzeigen und dazu motivieren Für viele Patienten wird zudem das Beratungsangebot der Arbeitsverwaltung in Anspruch genommen. Die eigentliche Berufswahlentscheidung kann dann am Heimatort unter Kenntnis der regionalen Ausbildungsmöglichkeiten erfolgen.
25.10
Wie werden Rehabilitationsdiagnosen beschrieben?
Die ICF (International Classification of Functioning, Disability and Health) entstand in der Nachfolge der internationalen Klassifikation der Schädigungen, Fähigkeitsstörungen und Beeinträchtigungen (ICIDH) von 1980 (7 Kap. 29). Sie wurde von der Vollversammlung der WHO im Mai 2001 verabschiedet. Das bio-psycho-soziale Modell, das der ICIDH unterlag, wurde mit der ICF erheblich erweitert und damit der Lebenswirklichkeit betroffener Personen besser angepasst. Insbesondere wird nun der gesamte Lebenshintergrund der Betroffenen berücksichtigt. In Deutschland wurden mit dem neunten Gesetz des Sozialgesetzbuches (SGB IX) ‒ Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen ‒ wesentliche Aspekte der ICF aufgenommen. Die deutschsprachige Fassung der ICF lautet: Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (Veröffentlichung erfolgt durch DIMDI, http://www.dimdi.de). Die ICF stellt eine gemeinsame Sprache für die Beschreibung des Gesundheitszustandes und der mit der Gesundheit zu– sammenhängenden Zustände zur Verfügung, um die Kommunikation zwischen Fachleuten im Gesundheits- und Sozialwesen, insbesondere in der Rehabilitation, so wie den Menschen mit Beeinträchtigungen ihrer Funktionsfähigkeit zu verbessern. Sie ermöglicht Datenvergleiche zwischen Ländern, Disziplinen
im Gesundheitswesen, Gesundheitsdiensten sowie im Zeitverlauf. Die Wiederherstellung oder wesentliche Besserung der Funktionsfähigkeit insbesondere auf den Ebenen der Aktivität (Durchführung einer Aufgabe oder Handlung durch eine Person) und der Partizipation (Teilhabe: das Einbezogensein in eine Lebenssituation) einer Person, ist eine zentrale Aufgabe und Ziel der Rehabilitation. ! Ein Mensch ist funktional gesund, wenn vor seinem gesamten Lebenshintergrund 5 seine körperlichen (inklusive mentalen) Funktionen und Körperstrukturen anerkannten (statistischen) Normen entsprechen: Konzepte der Körperfunktionen und -strukturen, 5 er all das tut oder tun kann, was von einem Menschen ohne Gesundheitsproblem (im Sinne von ICD) erwartet wird: Konzept der Aktivitäten, 5 er sein Dasein in allen Lebensbereichen, die für ihn wichtig sind, in der Weise und dem Umfang entfalten kann, wie es von Menschen ohne Beeinträchtigung der Körperfunktionen oder –strukturen erwartet wird: Konzept der Teilhabe an Lebensbereichen.
Der Abbau von Hemmnissen in der Gesellschaft und materiellen Umwelt, welche die Teilhabe erschweren oder unmöglich machen und der Ausbau von unterstützenden Faktoren und Erleichterungen, welche die Partizipation trotz erheblicher gesundheitlicher Beeinträchtigung wiederherstellen oder unterstützen, sind wichtige Aufgaben der Gesundheits- und Sozialpolitik, so wie der Behinderten- und Menschenrechtspolitik. Diese sollten auch bei der Rehabilitation berücksichtigt werden.
25.11
Vernetzung ist wichtig!
Die stationäre Rehabilitation stellt eine intensive Intervention im Rahmen der Langzeitbetreuung kranker Jugendlicher dar. Damit ein langanhaltender Erfolg erreicht werden kann, ist eine gute Abstimmung zwischen den ambulanten Behandlungsinstitutionen (z. B. niedergelassene Ärzte, Fachabteilungen von Krankenhäusern, ambulanten Zentren), dem Kostenträger und der Rehabilitationseinrichtung erforderlich. Im Idealfall entsteht so eine »Rehabilitations- oder Betreuungskette« mit folgenden Beteiligten: 4 Patient (Jugendlicher) 4 Eltern 4 Behandelnde niedergelassene Kinder- und Jugendärzte, Hausärzte, Fachärzte 4 Weitere Institutionen (z. B. Spezialambulanzen, Schwerpunktpraxen, Physiotherapeuten, Psychotherapeuten, Schulen, Betriebe) 4 Kostenträger (Krankenkassen, Rentenversicherungsträger) 4 Selbsthilfeorganisationen, evtl. Jugendämter und Rehabilitationseinrichtung(en) Die Institutionen dieser Kette erfüllen im wesentlichen die Aufgaben in der Rehabilitationsvorbereitung, Rehabilitationsdurchführung und Rehabilitationsnachsorge.
201 Literatur
25.12
Infos – wo?
! Der erste Ansprechpartner für die Beantragung einer Rehabilitation ist der betreuende Arzt oder ein betreuender psychosozialer Mitarbeiter.
Beratungen über geeignete Rehakliniken können in der Regel ebenfalls vom betreuenden Arzt oder den Sozialdiensten erhalten werden. Viele Akutkliniken und niedergelassene Ärzte arbeiten mit Rehabilitationsinstitutionen eng zusammen. Auf jeden Fall sollten vorab umfassende Informationen über die in Frage kommenden Einrichtungen eingeholt werden. Dies kann heutzutage über das Internet erfolgen. Viele Jugendliche haben hierzu einen Zugang (nicht nur technisch!). Alle Einrichtungen versenden auf Anfrage weitergehende Informationen – oft als Videos, DVDs oder in Form von Flyern.
25.13
Wie und wo muss der Antrag eingereicht werden?
Der Antrag auf eine Rehabilitationsmaßnahme muss zunächst vom Arzt geschrieben bzw. gegebenenfalls auf ein Formblatt übertragen werden. Bei komplizierten Krankheitsverläufen kann die Anlage von Arztbriefen sehr hilfreich sein. Diese Unterlagen müssen dann beim Kostenträger eingereicht werden. Dies ist die Krankenkasse oder der Rentenversicherungsträger. Im Zweifelsfall sind die Rehabilitationskliniken bei der formalen Seite der Beantragung und bei der Frage »Was tun bei einer Ablehnung?« behilflich.
25.14
Leitlinien für Experten
25.15
25
Rückblick und Kick für »Neue«!
Beispiel Brief einer Jugendlichen an die Rehaklinik »Katharinenhöhe« nach onkologischer Rehabilitation: »Nein, es herrscht kein Friede-Freude-Eierkuchen auf der Katharinenhöhe. Das Leben ist sehr realistisch, man wird mit den Problemen anderer konfrontiert und lernt dabei, mit seinen eigenen umzugehen. Es entsteht ein positives Denken, ein Wir-Gefühl, man ist ganz frei. Kein Zwang zu nichts. So viele kleine positive Dinge, aus denen sich eine Freude am Leben und ein neues Lebensgefühl entwickelt, auch ohne ständige Suche nach einem Sinn. Echte, seltene Freunde, Freiheit, inniges Lachen, Zuhören, Akzeptieren und akzeptiert werden, die Fähigkeit Kreativität zu realisieren, soziale rücksichtsvolle Atmosphäre, sich selbst besser kennen zu lernen und zu verstehen – Eindrücke, die man lebte! Und jetzt? Fertiggelebt? Ich denke, es war kein unrealisierbarer Traum, sondern ein Neuanfang, der nicht eingefroren werden darf! Schade, dass der Mensch erst von einem Schicksal getroffen werden muss, um hier behandelt zu werden; um zu begreifen, was Leben heißt.«
Literatur Bundesarbeitsgem Berufsbildungswerke (1994) Rehabilitation junger Menschen mit Behinderungen Leitlinien Kinderheilk und Jugendmed (2003) Pädiatrische Rehabilitation. Urban und Fischer, München Maier S (1995) Leben will ich jeden Tag. Herder, Freiburg Basel Wien Traenckner K et al (1997) Prävention und Rehabilitation im Kindes- und Jugendalter. WVG, Stuttgart Verres R (1994) Die Kunst zu leben. Piper, München Zürich
Internetadressen Die Fachgesellschaft »Rehabilitation in der Kinder- und Jugendmedizin« wurde 2001 gegründet und versteht sich als Fachgesellschaft innerhalb der Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde und Jugendmedizin in enger Kooperation mit der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin.
Reha-Leitlinien Inzwischen wurden für folgende Fachgebiete innerhalb der Kinder- und Jugendmedizin Reha-Leitlinien erstellt: 5 Adipositas 5 Asthma bronchiale 5 Diabetes mellitus 5 Mukoviszidose 5 Neurodermitis 5 Kardiologie 5 Onkologie 5 Psychosomatik
Diese Leitlinien sind publiziert im Leitlinienband der Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde und Jugendmedizin sowie auf der Homepage der Fachgesellschaft Rehabilitation in der Kinderund Jugendmedizin unter folgender Adresse: http://www.rehakid.de.
http://www.rehakid.de http://www.agfor.de (onkologische Rehabilitation für Jugendliche – darüber Links zu verschiedenen Einrichtungen!)
VI
Jugendspezifische medizinische Probleme 26
Störungen in der Pubertät – 205 N. Weissenrieder, B. Stier
27
Haut und Haare – 211 D. Abeck
28
Essstörungen – 219 M. Gerlinghoff, H. Backmund
29
Adipositas – 230 H. Goldschmidt
30
Somatisierungsstörungen – 243 B. Mangold
31
Jugendgynäkologie – 257 N. Weissenrieder
32
Jungenmedizin – 270 R. Winter, B. Stier, J. Seibold
33
Jugend und Gewalt – 281 B. Herrmann, M. Schäfer, J. Schmetz
34
Verhaltensauffällige Jugendliche – 295 K. Skrodzki, M. Endres, S. Moisl, S. Wolf, D. Schlamp
205
26
26 Störungen in der Pubertät N. Weissenrieder, B. Stier )) In diesem Kapitel werden Pubertätsprobleme bei Jugendlichen besprochen, die in den organspezifischen Kapiteln nicht behandelt werden.
26.1
Psychische Veränderungen
In der Grundschule muss z. B. bereits die Möglichkeit bestehen, Menstruationsvorlagen sachgerecht entsorgen zu können. Besonders wichtig ist daher die Information der zuständigen Pädagogen über die frühnormale Entwicklung des Mädchens. Auch Informationen über Beziehung, Partnerschaft, Liebe und Verhütung sollen unter Berücksichtigung der frühzeitigen körperlichen Entwicklung und der diskrepanten psychischen und psychosozialen Entwicklung rechtzeitig erfolgen.
26.1.1 Pubertas praecox
26.1.2 Pubertas tarda
Die Entwicklung einer Frühpubertät ist mit Risiken im sozialen und psychosozialen Bereich assoziiert. Besonders für Jugendliche mit einem vom Durchschnitt abweichenden Entwicklungstempo können Peerbeziehungen in Risiken für eine positive Entwicklung münden. Wenn beispielsweise Frühpubertierende sich Freunde suchen und deren Normen annehmen, die dem eigenen Entwicklungsstand entsprechen (und folglich zumeist älter sind), kann es dazu kommen, dass sie sich verfrüht wie Erwachsene und damit für ihr chronologisches Alter inadäquat verhalten, so z. B. bei Substanzgebrauch (Flammer u. Alsaker 2002). Auch das Verhalten von Müttern gegenüber frühreifen Jugendlichen ist unterschiedlich. So geben diese Mütter eine geringere (leicht unterdurchschnittliche) Aufgeschlossenheit ihrer Familien für intellektuelle und kulturelle Inhalte an, verglichen mit den Müttern von Normalentwicklern. Bei frühreifen Jugendlichen werden eher materielle Belohnung und Verstärkung eingesetzt. Aber auch Bestrafung durch Entzug dieser Privilegien ist in dieser Gruppe häufiger. Die Mütter von Frühpubertierenden sollen gegenüber ihren Töchtern häufiger Ärger und Geringschätzung ausdrücken. Mädchen mit frühzeitiger körperlicher Reife sollen häufiger und intensiver sexuelle Gefühle haben, die sich in Verliebtheit äußern können. Dies resultiert zum einen aus der Reife sekundärer Geschlechtscharakteristika und zum anderen aus damit verbundenen sozialen Erfahrungen (z. B. sexuelles Verhalten einer Freundin) und Anforderungen (z. B. ein Junge äußert Interesse gegenüber dem Mädchen). Anzunehmen ist, dass Sexualität nicht nur vom Status, sondern auch vom Tempo der pubertären Entwicklung beeinflusst wird. Da die Frühentwickler zum einen auf sozialer Ebene früher mit entsprechenden Erfahrungen der Peers und Angeboten konfrontiert sind und zum einen ihr Entwicklungsstand somatisch und hormonell fortgeschrittener ist, ist anzunehmen, dass sie größeres sexuelles und romantisches Interesse haben als andere Gleichaltrige. Feste Freunde von frühpubertären Mädchen sind älter als die festen Freunde der Normalentwicklerinnen.
Mädchen und Jungen, deren Entwicklung verzögert verläuft, sind verunsichert und stellen sich bewusst und unbewusst immer wieder die Frage: »Bin ich normal? Werde ich auch einmal so wie die anderen?« Die Akzeptanz in der Peergroup ist heute nicht mehr abhängig von der frühzeitigen Aufnahme von Sexualkontakten, aber verschiedene Studien zeigen, dass frühentwickelte Jungen und Mädchen aufgrund ihrer erwachseneren Erscheinung in der Gleichaltrigengruppe einen höheren Status besitzen, sportlich erfolgreicher sind und von Erwachsenen bevorzugt mit Verantwortung betraut werden. Insgesamt machen sie soziale Erfahrungen, die das Selbstwertgefühl stärken (Moore u. Rosenthal 1993). Spätentwickler, die als weniger erwachsen erscheinen, sehen sich dagegen eher als Verlierer im Wettbewerb um soziale Anerkennung der Gleichaltrigen und Erwachsenen. Die wichtigsten Ansprechpartner in der Adoleszenz sind die Peers, die aber, v. a. bei schwerwiegenden Problemen, häufig nicht über ausreichende Kompetenz zur Hilfestellung verfügen. Während für Jungen Probleme erst dann beginnen, wenn sie zu einer funktionalen Beeinträchtigung führen, stehen bei Mädchen emotionale und psychische Belastungen im Vordergrund. Dem gesprächsorientierten Hilfeverständnis der Mädchen (wichtig ist jemand, mit dem man Probleme besprechen kann) steht das handlungsorientierte Hilfeverständnis der Jungen gegenüber, das sich an einer möglichst schnellen Wiederherstellung der alten Funktionalität orientiert. Mädchen nehmen körperliche/psychische Symptome und auch Probleme deutlich früher wahr als Jungen, mit deren männlichen Rollenverständnis eine größere Toleranz gegenüber Unwohlsein und eine Neigung zu ausweichendem Verhalten verbunden ist. Bei beiden Geschlechtern lassen sich allerdings Scham und Angst vor Stigmatisierung (z. B. durch Mitschüler etc.) erkennen. In die frühe Adoleszenz fällt die Zeit der Autonomiefindung, der Ablösung vom Elternhaus, der Berufswahl und der ersten Erfahrung mit der Sexualität. Das heißt zu den oben beschriebenen einschneidenden körperlichen und seelischen Veränderungen kommen zusätzliche soziale Stressfaktoren. Die Familie wird von der Gleichaltrigen- oder Gleichgesinntengruppe (auch Peergroup genannt) abgelöst. Dieser Umweg ist zur Autonomiefindung wichtig. Um in die Peergroup, sei es in der Schule oder im Jugendklub, aufgenommen zu werden, gilt es, deren Regeln und Hierarchien zu akzeptieren. Dies zeigt sich in der heutigen Zeit deutlich an der sog. Uniformierung (identischer Kleidungsstil und gleiche Modetrends) gewisser Jugendgruppen. Jugendliche, die aus dem Rahmen fallen, sei es durch ihr Aussehen, durch
! Für die Praxis des Jugendarztes ist es wichtig, bei frühpubertären Mädchen (Mädchen zu Jungen 5:1 – Hofmann und Greydanus) auf die körperlichen und sozialen Probleme antizipatorisch hinzuweisen. Dies betrifft zum einem eine umfassende Information der Eltern, aber auch der Schule über Hygienemaßnahmen und den Umgang mit der Menarche, die von frühpubertierenden Mädchen als Belastung erlebt wird.
206
Kapitel 26 · Störungen in der Pubertät
Verzögerung der Pubertät, Kleinwuchs, chronische Erkrankung oder die Zugehörigkeit zu einer fremden Kultur, werden schnell zu Außenseitern in der Schule und in der Freizeit.
26.2
26
Körperliche Veränderungen
Eine der Grundvoraussetzungen zur Beurteilung der Pubertätsentwicklung ist die genaue Kenntnis des Pubertätsablaufes und dessen Variationsbreite. Grundlegend für die Beurteilung ist auch heute noch die Züricher Longitudinalstudie, Wachstums-, Gewichts- und Wachstumsgeschwindigkeitskurven von Prader (7 Anhang) sowie die Tanner-Stadien (7 Kap. 1 und Anhang), die einzelne Entwicklungsstadien deskriptiv festlegen. Der Nachteil der prospektiven Züricher Longitudinalstudie (1983) ist die heute nicht mehr aktuelle Korrelation zur körperlichen Entwicklung auf Grund der säkularen Akzeleration von 4 Monaten pro Dekade. Zur Einschätzung in der Praxis müssen daher retrospektiv erfasste Daten wie z. B. das aktuelle Menarchealter in Deutschland zur Beurteilung mit herangezogen werden. Hier wird von Largo und Prader noch 13,4 Jahre als durchschnittliches Alter angeben, während aktuelle Daten von einem Menarchealter in Deutschland von 12,5 Jahren ausgehen. In Repräsentativerhebungen bei Jugendlichen in Deutschland fand Kluge (1998) für den Zeitraum von 1981 bis 1994 sogar einen Rückgang des mittleren Menarchealters um 1,3 Jahre von 13,5 auf 12,2 Jahre. Noch deutlicher fiel dieser epochale Trend für das mittlere Alter der Ejakularche/Spermarche bei Jungen aus, das sich zwischen 1981 und 1994 um 1,7 Jahre von 14,2 auf 12,5 Jahre verschob. Für diese Tendenz werden unterschiedliche Erklärungen diskutiert, darunter die Auffassung, dass durch eine Verbesserung der Ernährungsbedingungen das kritische Körpergewicht für die Auslösung der Menstruation bzw. Spermarche/Ejakularche zu einem immer früheren Zeitpunkt der individuellen Entwicklung erreicht wird. 26.2.1 Abweichungen vom Pubertätsverlauf Die Problematik für den Kinder- und Jugendarzt besteht darin, bei einer zeitlichen Abweichung der Pubertätsentwicklung zu beurteilen, ob eine Normvariante vorliegt oder ein frühes Symptom einer pathologischen Erkrankung. Als Orientierungspunkte können dabei die Meilensteine der Pubertätsentwicklung bei Mädchen und Jungen herangezogen werden, die Prader 1986 veröffentlicht hat. Der Zeitpunkt z. B. der Jugendgesundheitsuntersuchung mit 13 Jahren ist daher günstig gewählt, da mit 12,5 Jahren ca. 96% aller Mädchen das Stadium P2 der Schambehaarung,
. Tabelle 26.1. Zu welchem Zeitpunkt ist eine weiterführende Diagnostik bei Ausbleiben der Pubertätsentwicklung erforderlich?
Mädchen P2 nach B2 nach Menarche nach B5 nach P5 nach
Jungen 12,8 Jahren 13,3 Jahren 15,0 Jahren 16,4 Jahren 16,6 Jahren
P2 nach G2 nach Ejakularche G5 nach P5 nach
15,2 Jahren 14,2 Jahren 15,0 Jahren 16,9 Jahren 16,9 Jahren
mit 13,5 Jahren das Stadium B2 der Brustentwicklung, mit 13,1 Jahren eine Axillarbehaarung aufweisen. Zusammen mit der möglichen Nachuntersuchung zur J1 kann der regelrechte Pubertätsablauf dokumentiert und bei Abweichungen weitere diagnostische Maßnahmen eingeleitet werden. Für den Kinder- und Jugendarzt kann es schwierig sein, den Entwicklungsstand des jungen Mädchens z. B. bezüglich der Genitalentwicklung den korrespondierenden Tanner-Stadien zuordnen, wenn er während seiner Ausbildung im Studium, während der Facharztausbildung in der Klinik diese normalen Stadien nicht bewusst gesehen hat, da in der Klinik wenig Jugendliche behandelt wurden und eine Inspektion der Genitalregion nicht routinemäßig vorgenommen wurde. Häufig werden nur pathologische Befunde wie »intersexuelles Genitale«, »Hairless Woman«, »AGS« oder »Turner-Syndrom« gekannt. ! Es ist wichtig, primär Normalbefunde zu erkennen, um eine auffallend von den durchschnittlichen Maßen abweichende Entwicklung geschlechtsspezifischer Merkmale wie Brustentwicklung, Genitalentwicklung und Behaarung beurteilen zu können.
Jugendliche sind von tatsächlichen oder vermeintlichen Abweichungen der Norm ihrer Altersgruppe und Bezugsgruppe schnell verunsichert. Jungen sind über einen verspäteten Pubertätseintritt weit mehr irritiert als Mädchen. Nicht selten ist dies verknüpft mit Ablehnung des Körperbildes, geringem Selbstvertrauen und »Bullying«. Klinische Ursachen finden sich bei Jungen weitaus seltener als bei Mädchen. Bei der überwiegenden Mehrzahl handelt es sich um eine konstitutionelle Entwicklungsverzögerung. Daher muss bei der Beratung auf der einen Seite immer auf die Variabilität der individuellen Entwicklung hingewiesen werden, auf der anderen Seite auch bei nur subjektiver Beeinträchtigung der Jugendlichen eine weitere diagnostische Abklärung auch innerhalb dieser Grenzen erfolgen. ! Zu denken ist z. B. an Wachstumshormonmangel, Schilddrüsenunterfunktion, Morbus Crohn, Zöliakie, Sichelzellanämie, Epilepsie oder schweres Asthma.
Ein verspätetes Eintreten der Menstruation, eine zu kleine Körpergröße, eine Brustentwicklung bei Jungen, eine deutliche Adipositas in der Pubertät mit Striaes sind ebenso häufige Gründe für eine Vorstellung in der Praxis. Diese »Symptome« werden nicht nur von den betroffenen Jugendlichen als auffällig empfunden, sondern sind auch in ihrem gesellschaftlichen Umfeld in Familie, Schule und Freundesgruppe negativ belegt. 26.2.2 Die verfrühte Pubertät Von verfrühter Pubertät (Pubertas praecox) spricht man, wenn der Beginn sexueller Reifung 2,5 Standardabweichungen vor dem normalen Einsetzen der Pubertätsentwicklung beginnt, bzw. bei Mädchen vor dem 8. Lebensjahr und bei Jungen vor dem 9. Lebensjahr. Verfrühte Pubertätsentwicklung ist seltener als der verspätete Pubertätseintritt. Bei Mädchen sind 85‒90% der Fälle idiopathisch, bei Jungen ca. 40‒50%. Pubertas praecox ist kein Problem des Jugendalters, aber die betroffenen Kinder werden durch den vorzeitigen Pubertätseintritt frühzeitiger mit psychosozialen Problemen des Jugendalters konfrontiert.
207 26.2 · Körperliche Veränderungen
26.2.3 Die verspätete Pubertät Nachfolgende Übersicht und Tabellen (. Tab. 26.2–26.5) sollen Aufschluss über das Vorgehen bei einer verspäteten Entwicklung in der Praxis geben. Da die Entwicklung von Mädchen und Jungen unterschiedlich verläuft, wird das Vorgehen geschlechtsspezifisch dargestellt.
Bei der Brustentwicklung ist Folgendes zu beachten: . Tabelle 26.3. Ausbleiben des Beginns der Brustentwicklung nach dem 13,3. Lebensjahr Häufigste Diagnose
Konstitutionelle Entwicklungsverzögerung
Diagnostik
Anamnese, Klinische Untersuchung, Knochenalter, Ultraschall Genitale, Hormonwirkung (Abstrich Vagina)
Hormonparameter
(LH, FSH, TSH, Prolaktin, Estradiol)
Differenzialdiagnose
Primäre Ovarialinsuffizienz (TurnerSyndrom), Kongenitales bilaterales Fehlen der Brust, Gonadendysgenesie (SwyerSyndrom), Hypophysentumoren, Leistungssport
Erweiterte Diagnostik
Hormonparameter, GnRH-Test, CT, Chromosomenanalyse, Visus/Augenhintergrund, NMR
Verdacht auf gestörte Pubertät Der Verdacht auf eine gestörte Pubertät ergibt sich aus: 5 Pubertäre Merkmale fehlen bei einem chronologischem Alter von 5 >12 Jahren bei Mädchen 5 >14 Jahren bei Jungen 5 Pubertäre Merkmale fehlen bei entsprechendem Knochenalter und weiter fortgeschrittenem chronologischem Alter 5 Wachstumsrate erniedrigt, Längenperzentile absinkend 5 Präpubertäre Werte für Sexualsteroide, IGF1 und IGFBP3 5 Gonadotropine LH und/oder FSH präpubertär erhöht oder erniedrigt 5 Auxologisches variierendes Defizit 5 Unzureichender Entwicklungsfortschritt Tanner-Stadien 2–4, Oligo-/Amenorrhoe 5 Hodenvolumen <8 ml 5 Sexualsteroide präpubertär (Östradiol< 40 pg/ml, Testosteron <150 pg/ml
Mädchen Eine verspätete Entwicklung der Pubesbehaarung sollte weiter abgeklärt werden bei: . Tabelle 26.2. Ausbleiben des Beginns der Pubesbehaarung nach dem 12,8. Lebensjahr Häufigste Diagnose
Konstitutionelle Entwicklungsverzögerung
Diagnostik
Anamnese, Klinische Untersuchung, Knochenalter, Ultraschall Genitale, Hormonwirkung (Abstrich Vagina)
Hormonparameter
(LH, FSH, TSH, Prolaktin, Estradiol)
Differenzialdiagnose
Primäre Ovarialinsuffizienz (TurnerSyndrom), Testikuläre Feminisierung (Hairless Woman), Isolierte Nebenniereninsuffizienz, Hypophysentumoren, Leistungssport, Anorexia nervosa
Erweiterte Diagnostik
Hormonparameter, GnRH-Test, CT, Chromosomenanalyse, Visus/Augenhintergrund, NMR
26
Ein Ausbleiben der Menarche ist gekennzeichnet durch: . Tabelle 26.4. Ausbleiben der Menarche nach dem 15. Lebensjahr Häufigste Diagnose
Konstitutionelle Entwicklungsverzögerung, Anorexie, psychogene Störungen, Stress, Leistungssport
Diagnostik
Anamnese, Klinische Untersuchung, Knochenalter, Ultraschall Genitale, Hormonwirkung (Abstrich Vagina), Karies, kinderund jugendpsychiatrische Anamnese
Differenzialdiagnose
Hymenalatresie, Vaginalaplasie, Testikuläre Feminisierung, Mayer-Rokitanski-HauserKüster-Syndrom, Prolaktinom, Adrenogenitales Syndrom (Late onset AGS), UllrichTurner-Syndrom (UTS), Swyer-Syndrom, chronische Erkrankungen wie Niereninsuffizienz, Diabetes, M. Crohn, Z.n. Malignomtherapie usw.
Erweiterte Diagnostik
Hormonlabor, ACTH-Test, Chromosomenanalyse
Entsprechend den bei der Anamnese und der klinischen Untersuchung erhobenen Befunden wird eine Arbeitshypothese erstellt und durch weitere Untersuchungen ergänzt. Dabei sind die Ultraschalluntersuchung des weiblichen Genitals und die laborchemische Untersuchung der Gonadotropine und peripheren weiblichen Hormone von besonderer Bedeutung. Diese Untersuchungen können in der Kinder- und Jugendarztpraxis erbracht werden. Für weitergehende differenzialdiagnostische Untersuchungen ist die Zusammenarbeit mit verschiedenen Kooperationspartnern aus der Radiologie oder Endokrinologie notwendig.
208
Kapitel 26 · Störungen in der Pubertät
Ein Ausbleiben von B5 und P5 schließlich ist gekennzeichnet durch: . Tabelle 26.5. Ausbleiben von B5 mit 16,4 Jahren, Ausbleiben von P5 mit 16,6 Jahren (Unvollständiger pubertärer Status mit Ausbleiben der zeitgerechten Entwicklung nach begonnener Pubertätsentwicklung) Hypogonadismus – Insuffizienz auf der Ebene Hypothalamus-Hypophyse-Gonaden
26
Diagnostik
Anamnese, Klinische Untersuchung, Knochenalter, Ultraschall Genitale, Hormonwirkung (Abstrich Vagina)
Hormonlabor
FSH, LH, Estradiol, TSH, Prolaktin, DHEA, Freies Testosteron, Androstendion. SHBG
Differenzialdiagnose
PCO-Syndrom (Hyperandrogenämische Ovarialinsuffizienz), Genetische Defekte (UTS, Noonan-Syndrom, PraderLabhard-Willi-Syndrom), Gonadalhypoplasie, Z.n. Radiatio, Z.n. Trauma, Z.n. Meningitis/Encephalitis Funktionsstörungen der Schilddrüse, Diabetes, Chronische Erkrankungen nichtendokriner Genese, Drogenabusus, Medikamentenabusus, Nebennierenerkrankung, körperliche und/oder psychische Belastung
Konstitutionelle Entwicklungsverzögerung (KEV) Eine häufige Ursache der Pubertas tarda ist die konstitutionelle Entwicklungsverzögerung (KEV). Dabei handelt es sich um eine Verspätung eines physiologisch ablaufenden Reifungsprozesses mit diskordantem chronologischem und biologischem (Knochenalter) Alter. ! Die Diagnose KEV wird gestellt aus der Anamnese (familiär gehäuftes Vorkommen – Menarche der Mutter/ Spermarche des Vaters), der klinischen Untersuchung (relativer Kleinwuchs bezogen auf das chronologische Alter) und der Bestimmung des Knochenalters nach Greulich und Pyle (Röntgenaufnahme linke Hand). Die Diagnostik wird ergänzt durch laborchemische Parameter (LH, FSH, Estradiol, freies Testosteron, TSH, Prolaktin).
Das Knochenalter kann bei Mädchen bis zum 10. Lebensjahr mehr als 1,5 Jahre, danach mehr als 2 Jahre, bei Jungen bis zum 12. Lebensjahr mehr als 1,5 Jahre, danach mehr als 2 Jahre retardiert sein. Wenn das Knochenalter mehr als 3 Jahre zum chronologischen Alter differiert, ist eine weitere endokrinologische Abklärung erforderlich. Längenperzentilenrang und Wachstumsrate entsprechen dem Knochenalter und den familiären Längenmaßen. Die pubertären Merkmale beginnen bei »pubertätsreifem« Knochenalter (Mädchen 11 Jahre, Jungen 12 Jahre) mit zeitgerechtem Fortschritt und Erreichen der genetischen Zielgröße (Benutzung der Längen- und Gewichtskurven von Brandt 7 Anhang). Aus psychosozialer Indikation kann es in der Praxis, nach ausführlicher Aufklärung über die Normalität der Entwicklungsverzögerung bei deutlichem subjektivem Leidensdruck der Jugendlichen, erforderlich sein, Sexualhormone zur Einleitung der pubertären Reifung anzuwenden. Dies geschieht bei Mädchen mit niedrig dosierten Östrogenen (0,2 mg Östradiol oder Östradiolvalerat für 6 Monate im Anschluss 0,5 mg für weitere 6 Monate). Sollte die Pubertätsentwicklung in der anschließenden 6monatigen Pause nicht in Gang kommen, ist eine zyklische Östrogen/Gestagensubstitutionstherapie sinnvoll (2,0 mg Östradiol/ Östradiolvalerat und Gestagene). Diese Therapie sollte in Zusammenarbeit mit einem endokrinologisch erfahrenen Jugendgynäkologen oder einem Zentrum stattfinden. Neben dem positiven Einfluss auf die weitere psychische Entwicklung der Jugendlichen hat die Substitutionstherapie auch positive Auswirkungen zum Erreichen der »Peak-bone-mass«,
die in der Menopause einen großen Einfluss auf die Osteoporose und Frakturhäufigkeit hat. Cave Wenn eine KEV als Ursache der ausbleibenden Pubertätsentwicklung ausgeschlossen ist, müssen die in den . Tab. 26.2–26.5 aufgeführten Erkrankungsbilder differentialdiagnostisch ausgeschlossen werden.
Jungen Die Tatsache, dass Jungen in der Pubertät viel zu selten von sich aus bezüglich Penisgröße und Hodenwachstum ärztlichen Rat suchen, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass verzögertes Wachstum und verspäteter Pubertätseintritt trotzdem sehr aufmerksam und angstvoll beobachtet werden. Daher werden hier neben der konstitutionellen Entwicklungsverzögerung, die bei Jungen die häufigste Form der Entwicklungsstörung darstellt, zwei Syndrome besprochen, die häufig erst im Rahmen eines verzögerten Pubertätseintritts diagnostiziert werden (. Tab. 26.6). Das Ausbleiben der Ejakularche/Spermarche (Pollution) findet in der Literatur und als aktueller Vorstellungsgrund in der Praxis kaum Erwähnung, da die Ejakularche unter männlichen Jugendlichen, aber auch bei den professionellen Helfern kaum ein Gesprächsthema ist im Gegensatz zu der Menarche bei den Mädchen (zu Jungen: 7 Kap. 32). Gynäkomastie ! Die bei männlichen Jugendlichen häufig auftretende Vergrößerung der Brustdrüse stellt für die Jungen einen besonderen psychischen Belastungsfaktor dar.
Ein vorübergehendes Wachstum der Brustdrüse findet sich bei 65‒70% aller männlichen Jugendlichen in der Frühpubertät, das einseitig oder beidseitig auftritt und typischerweise im TannerStadium 2‒3 stehen bleibt. Es ist zurückzuführen auf eine hormonelle Imbalance zwischen erhöhtem Östrogenspiegel und relativem passagerem Testosteronmangel bei gleichzeitiger Sensitivität der Brustdrüse für Östrogene. Seltener tritt die Brustdrüsenschwellung erst im späteren Verlauf der Pubertät auf. Sie verschwindet in der Regel nach ca. 2 Jahren. Primär muss eine Pseudogynäkomastie bei Adipositas und ein Klinefelter-Syndrom ausgeschlossen werden.
209 26.2 · Körperliche Veränderungen
26
. Tabelle 26.6. Ausbleiben des Beginns der Hodenvolumenzunahme nach dem 13,6. Lebensjahr Häufigste Diagnose
Konstitutionelle Entwicklungsverzögerung (ca.63%)
Diagnostik
Anamnese, Klinische Untersuchung/Tanner-Stadien/BMI, Knochenalter, Ultraschall, Genitalstatus, Hodenvolumen
Hormonparameter
TSH, Prolaktin, LH, FSH, 24h-Urin Cortisol, Testosteron, Östradiol, evtl. Chromosomenanalyse
Differenzialdiagnose
Angeborene bzw. erworbene bilaterale Anorchie, Klinefelter-Syndrom (Prävalenz 1:750–1000!), 46,XX-Karyotyp – Translokation der Testes determinierenden (SRY-)Region des Y-Chromosoms auf ein X-Chromosom (Prävalenz 1:20.000), Prader-Willi-Syndrom, Noonan-Syndrom, Reifenstein-Syndrom, Kallmann-Syndrom, (Down-Syndrom – meist normales Einsetzen der Pubertät), Z.n. Chemotherapie oder Radiatio, Anorexia nervosa, Nebenniereninsuffizienz
Erweiterte Diagnostik
Hormonparameter, GnRH-Test, CT, Chromosomenanalyse, evtl. Cortisol-Tagesprofil – Dexamethason-Suppressionstest/CRH-Test, evtl. Visus, Augenhintergrund, NMR
Die Sonographie der Mamma bietet dabei die Möglichkeit, sicher zwischen Brustdrüsengewebe und Fettgewebe oder z. B. einem Fibroadenom zu differenzieren. Galaktorrhoe kann bei Manipulation auftreten (. Tab. 26.7).
prägung und assoziierte Fehlbildungen (Taubheit, Farbenblindheit, Nierenfehlbildungen und Skelettanormalien). Es findet sich ein verzögerter Pubertätseintritt und der Pubertätswachstumsspurt bleibt ohne Therapie aus.
! Die Pubertätsgynäkomastie bedarf zumeist keiner Therapie. Eine Regression tritt in den meisten Fällen innerhalb von 2 Jahren ein. Regelmäßige Verlaufskontrollen sind erforderlich, ebenso wie eine ausführliche Beratung, da die Jungen häufig Selbstakzeptanzprobleme oder sogar eine Identitätskrise erleben.
! Neben der oben beschriebenen Diagnostik sollte bei Vorliegen eines hypogonadotropen Hypogonadismus eine Riechprobe durchgeführt werden.
In sehr seltenen Fällen und bei starkem Leidensdruck kann eine medikamentöse Therapie z. B. mit Tamoxifen 20 mg/Tag in 2 Dosen über 3 Monate versucht werden. Nur bei sehr ausgeprägtem Befund kann eine chirurgische Intervention durch einen minimal invasiven Eingriff mit Absaugung des Fetts und der Brustdrüse erwogen werden. Kallmann-Syndrom Der isolierte Gonadotropinmangel kommt auch bei Mädchen vor. Das Kallmann-Syndrom ist die häufigste Form der sekundären testikulären Insuffizienz. Die Häufigkeit liegt bei ca. 1:10.000 Jungen. Das Kallmann-Syndrom wird autosomal dominant mit variabler Penetranz bzw. autosomal rezessiv vererbt. Typischerweise liegt zusätzlich eine Anosmie vor. Ursache ist eine erniedrigte hypothalamische GnRH-Sekretion unterschiedlicher Aus-
Die Therapie sollte zum Zeitpunkt des »normalen« Pubertätseintritts (ca. im 13. Lebensjahr) in Zusammenarbeit mit einem erfahrenen pädiatrischen Endokrinologen bzw. Zentrum begonnen werden. Zur Einleitung der Pubertät haben sich Testosteronester in Depotform bewährt (Testosterondepot: 50 mg alle 4 Wochen i.m. für 0,5 Jahre, dann alle 2 Wochen. Steigerung der Dosis in 6-monatigen Abständen um 50‒100 mg/Monat bis zur Vollsubstitutionsdosis von 200 mg alle 2 Wochen). Dadurch kann nicht nur die Ausbildung sekundärer Geschlechtsmerkmale induziert werden, sondern es kommt auch zur Spermatogenese und späteren Fertilität. Die GnRH-Therapie mit Hilfe einer Injektionspumpe pulsatil subcutan hat sich bislang nicht durchgesetzt. Im Erwachsenenalter kommen Testosteronpflaster (Androderm) oder implantierbare Testosterondepots in Frage. Klinefelter-Syndrom (47,XXY) Die Diagnose wird häufig erst in der Pubertät gestellt, wenn ein verspäteter Pubertätseintritts vorliegt. Die Häufigkeit liegt bei 1:500. Die Patienten fallen durch einen eunuchalen Habitus und
. Tabelle 26.7. Gynäkomastie Häufigste Diagnose
Idiopathische Gynäkomastie
Diagnostik
Anamnese, Familienanamnese, Medikamentenanamnese, kompletter klinischer Status mit Länge, Gewicht, RR und Tanner-Stadien/Genitalstatus, BMI
Hormonuntersuchungen
βHCG, α-Fetoprotein, Transaminasen, Östradiol, Testosteron, DHEA-S, LH, FSH, TSH
Differenzialdiagnose
Familiär, Anorchie, sek. Hodenschädigung, Prolaktinom, Kallmann-Syndrom, Klinefelter-Sydrom, M. Hodgkin, Hypophysentumor, Nebennierentumor, Östrogenproduzierende Tumoren, Schilddrüsenerkrankungen, Leberzirrhose, Chronische Glomerulonephritis, männlicher Pseudohermaphroditismus, Leukämie, Hämophilie, Drogen
Erweiterte Diagnostik
Evtl. Chromosomenanalyse, Sonographie, Hormonstimulationsteste
Medikamente
Corticosteroide, Cimetidin, Ranitidin, Digoxin, Östrogene, Insulin, Isoniazid, Marijuana, Heroin, Methadone, Benzodiazeepine, Trizyklische Antidepressiva, Spironolacton, Theophylin, Penicilamin, Ergotamine, Etomidate, Cyproteronacetat, Ketokonazol, Metronidazol, ACE-Hemmer
210
Kapitel 26 · Störungen in der Pubertät
. Tabelle 26.8. Ursachen des hypogonadotropen Hypogonadismus. (Nach Mönig u. Sippell)
Primärer hypogonadotroper Hypogonadismus
Sekundärer hypogonadotroper Hypogonadismus
Chromosomale Ursachen (z. B. Klinefelter-Syndrom)
Destruktion von Hypothalamus/Hypophyse (Tumorfolge, Bestrahlung, Infiltration)
Hodentorsionsfolge Retentio testis Traumafolge Kastration
Konstitutionelle Entwicklungsverzögerung (temporär), Pubertas tarda (passager) Idiopathisch Kallmann-Syndrom Prader-Labhart-Willi-Syndrom Laurence-Moon-Bardet-Biedl-Syndrom Hyperprolaktinom
Anorchie (z. B. durch Bestrahlung, Zytosstatika)
26
Störung in der Pubertätsentwicklung mit kleinen, festen Hoden, Gynäkomastie, hypergonadotroper Hypogonadismus und Hochwuchs auf. Die endgültige Diagnose wird durch eine Chromosomenanalyse gestellt. Als Therapie ist nach spontanem Pubertätsbeginn eine Testosteronsubstitutionstherapie (7 oben) erforderlich.
Psychosoziale Situation. Patienten empfinden das »Anderssein« und ziehen sich häufig zurück. Es kommt zu einem deutlich gehemmten Kontakt zu Mädchen und gegenüber sexuellen Erfahrungen. Eine tragfähige Arzt-Patient-Beziehung ist Conditio sine qua non, um das heikle Thema der Sexualität und der Fertilität suffizient behandeln zu können.
Hypogonadismus Die Diagnose des Hypogonadismus ist primär eine Diagnose, die in der Pubertät gestellt und behandelt werden muss. Die Folgen und Probleme beeinflussen aber das gesamte Jugendalter (. Tab. 26.8). Ursachen: 4 Primärer hypogonadotroper Hypogonadismus (LH und FSH hoch) 4 Sekundärer hypogonadotroper Hypogonadismus (LH, FSH niedrig-normal oder niedrig)
Kontrollen. Eine Kontrolle orientiert sich an den Faktoren Allgemeinbefinden, Leistungsfähigkeit, Stimmungslage, Muskelkraft, Sexualleben/Potenz, Fragen nach Spontanerektionen (»Morgenlatte«). Zeichen des Androgenmangels: 4 Hohe Stimmlage 4 Blasse, trockene Haut, keine Pubertätsakne 4 Spärlicher Bartwuchs 4 Spärliche Körperbehaarung 4 Penislänge und Hodengröße nicht altersgemäß (Cave: KEV) 4 Laborkontrollen des Testosteronspiegels
! Die Unterscheidung von KEV und idiopathischem hypogonadotropem Hypogonadismus kann im Einzelfall sehr schwierig sein. Es bedarf in solchen Fällen der sorgfältigen klinischen und endokrinologischen Verlaufsbeobachtung mit u. a. Dokumentation der Hodenentwicklung/Knochenalterbestimmung und Pubertätsentwicklung sowie der Längenentwicklung, evtl. unter Zuhilfenahme spezieller Tests (GnRH-Test).
Folgen des Hypogonadismus: 4 Beeinträchtigung der Sexualfunktion Osteoporose 4 Abbau der Muskelmasse und Zunahme der Fettmasse 4 Veränderung des Lipidstoffwechsels und Anämie 4 Nachlassen der allgemeinen Leistungsfähigkeit und kognitiven Fähigkeiten Bei primärem hypogonadotropen Hypogonadismus ist Fertilität ausgeschlossen. Bei sekundärem hypogonadotropem Hyopogonadismus ist u. U. durch Therapie mit Gonadotropinen oder GnRH Zeugungsfähigkeit erreichbar. Therapie. Eine Androgensubstitution erfolgt lebenslang und die Testosteronsubstitution durch Tabl. oder Injektionen (kein physiologischer Konzentrationsverlauf!) transdermaler Applikation oder Implantaten (Cave: Berücksichtigung der Wachstumsprognose ggf. unter Hinzuziehung der Bestimmung des Knochenalters für die Dosierung).
Literatur Dörr HG, Rascher W (2002) Praxisbuch Jugendmedizin. Urban & Fischer, München Flammer A, Alsaker FD (2002) Entwicklungspsychologie der Adoleszenz. Hans Huber, Bern Giedd JN et al. (1999) Brain Development during childhood and adolescence: A longitudinal MRI study. Nature Neuroscience 2:10, S. 861–863 Havighurst RJ (1948) Developmental tasks and education. Chicago. University of Chicago Press, Chicago Hofmann AD, Greydanus DE (Hrsg.) (1997) Adeolescent Medicine, 3rd edn. Appelton & Lange, Stamford Joffe A, Blythe MJ (Hrsg) (2003) Handbook of Adolescent Medicine. State of the art reviews 14/2. Hanley & Belfus, Philadelphia Kluge N (1998) Sexualverhalten Jugendlicher heute. Ergebnisse einer repräsentativen Jugend- und Elternstudie über Verhalten und Einstellungen zur Sexualität. Juventa, Weinheim Kracke B (1993) Pubertät und Problemverhalten bei Jungen. Beltz, Weinheim Largo RH, Prader A (1983) pubertal development in swiss girls. Helv Pediatr Acta 38, 211–243 Mönig H, Sippell W (1997) Betreuung des hypogonadalen männlichen Patienten im Übergang zum Erwachsenenalter. Kinderarzt 28: 11, 1221–1227 Moore SM, Rosenthal DA (1993) Sexuality in adolescence. Routledge, London Patel DR, Pratt HD, Greydanus DE (1998) Adolescent Growth, development, and psychosocial aspects of sports participation: an Overview. In: Greydanus DE, Patel DR, Luckstead EF (1998) Office Orthopedics and sports medicine. State of the art reviews 9/3. Hanley & Belfus, Philadelphia
211
27
27 Haut und Haare D. Abeck
27.1
Akne
Akne ist eine typische Erkrankung des Jugendalters und gibt häufig Anlass zu großer Besorgnis. Insbesondere korreliert der Schweregrad häufig nicht mit dem sehr großen individuellen Leidensdruck. Akne ist auch eine ernstzunehmende Erkrankung, bei der im Vergleich zu einer Reihe anderer chronischer Erkrankungen die psychosoziale Belastung größer ist. Patienten mit Akne weisen überdurchschnittlich häufig psychologische Auffälligkeiten auf, die u. a. Depressionen, Suizidgedanken, Ängstlichkeit, Verlegenheit und soziale Hemmung beinhalten. Ätiopathogenese. Primärfaktoren auf genetischer Basis werden von Sekundärfaktoren unterschieden, wobei weitere Faktoren wie Stress oder komedogene Kontaktstoffe individuell von Bedeutung sein können (. Abb. 27.1). Die ätiopathogenetische Bedeutung von Nahrungsmitteln konnte bislang nicht belegt werden, weshalb auch entsprechende Aknediäten keine wissenschaftliche Grundlage haben.
. Abb. 27.2. Papeln
Klinik. Das klinische Bild kann sehr vielgestaltig sein und ledig-
lich einige »Mitesser« zeigen, sog. Acne comedonica mit geschlossenen (»white heads«) und offenen (»black heads«) Komedonen. Der Nachweis von Komedonen ist auch bei der differentialdiagnostischen Abgrenzung zu anderen Erkrankungen wie z. B. der perioralen Dermatitis wichtig. Bei der Acne papulopustulosa finden sich neben den Komedonen auch entzündliche Hautveränderungen in Form entzündlicher Knoten (. Abb. 27.2) oder auch eitriger Knoten (. Abb. 27.3). Bei der Acne conglobata, der schwersten Verlaufsform der Akne, finden sich darüber hinaus stark entzündlich veränderte Knoten und flächenhafte Entzündungen der Haut, wobei die Knoten auch einschmelzen können. Therapie. Bei allen Formen der Akne ist eine frühzeitige und effek-
tive Therapie wichtig, da jede erfolgreiche Aknebehandlung mit einer Verbesserung der sozialen Wertschätzung, der sozialen
Pathogenese der Acne vulgaris
Primärfaktoren (genetische Ursachen) Neigung zu follikulären Hyperkeratosen
Stress
Reichliche Talgproduktion
Acne vulgaris
Komedogene Kontaktstoffe
Sekundärfaktoren Mikroben (Enzyme, chemotaktische Faktoren)
Perifollikuläre Entzündung, Immunreaktionen
. Abb. 27.1. Pathogenese der Acne vulgaris. (Aus Raab W: Z Dermatol 183 (1997):135–144)
. Abb. 27.3. Papulopusteln
Durchsetzungsfähigkeit, des Selbstvertrauens wie auch der Körperwahrnehmung korreliert. Die Behandlung wird überwiegend topisch geführt und basiert neben einer regelmäßig durchzuführenden Reinigung mittels Syndet und bedarfsweiser Pflege auf dem Einsatz verschiedener Substanzen, die gegen die follikuläre Verhornungsstörung, die mikrobielle Fehlbesiedelung oder die entzündlichen Veränderungen gerichtet sind (. Abb. 27.4). Zeigen die topischen Behandlungsversuche keinen Erfolg, steht mit dem aromatischen Retinoid, Isotretinoin eine sehr wirkungsvolle orale Behandlungsmöglichkeit zur Verfügung, vor deren Einsatz jedoch sehr intensiv das Nebenwirkunsgprofil (neben der teratogenen und mutagenen Wirkung der Substanz; Kontrazeptionsschutz bis 6 Wochen nach Therapieende!), auch Myalgien, Haarverlust (reversibel!) oder Depressionen (direkter Zusammenhang noch nicht abschließend geklärt), diskutiert werden muss. Frühzeitige Therapie zur Vermeidung von Narben: Eine frühzeitige und effektive Behandlung hat v. a. zum Ziel, das Auftreten
212
Kapitel 27 · Haut und Haare
. Abb. 27.4. Angriffspunkte verschiedener im Rahmen der Akne-Therapie verwendeter Wirkstoffe
Angriffspunkte verschiedener im Rahmen der Akne-Therapie verwendeter topischer Wirkstoffe
Verstärkte Seborrhoe Keine
Follikuläre Verhornungsstörung
für die Akne pathogenetisch relevante Faktoren
27
Tretinoin Isotretinoin Adapalen Tazaroten Azelainsäure Retinaldehyd
Mikrobielle Besiedelung
Entzündung
Erythromycin Azelainsäure Clindamycin BPO Tetrazykline Retinoide? Chloramphenicol
Adapalen Azelainsäure [Corticosteroide]
von stärkeren Entzündungen der Follikel zu verhindern, da jede tiefe Follikulitis eine zumeist eingezogene, seltener hypertrophe Narbe hinterlässt, deren Größe mit der Stärke der vorangegangenen Entzündung positiv korreliert. Bei schwereren Verläufen kommt es zu auffälligen, wie gestrickt aussehenden atrophen und hypertrophen (Aknekeloid) Narben, die auch im Abheilungsstadium auffällig bleiben (»pockenartig«).
27.2
Atopisches Ekzem
Im Jugendalter werden v. a. die typischen Beugenekzeme im Bereich von Knie- und Ellbeugen beobachtet (. Abb. 27.5). Darüber hinaus häufig auch Hautveränderungen im Gesicht (. Abb. 27.6) sowie den Händen (. Abb. 27.7). Ätiopathogenese. Neben einer häufig vorhandenen genetischen Disposition mit polygenen Vererbungsmechanismen liegt der Erkrankung vermutlich eine multifaktorielle Genese zugrunde. Hierzu zählen immunologische (erhöhte allergische Reaktionsbereitschaft oder zelluläre Immundefekte) wie auch nicht-immunologische Faktoren (Barrieredysfunktion, verminderte Talgdrüsenaktivität, Verringerung endogener mikrobieller Peptide mit resultierender chronischer Staphylococcus aureus-Besiedelung, abnorme Schweißreaktion). Unter den irritativen Faktoren kommt der Kleidung eine große Bedeutung zu. Naturfasern wie Baumwolle (am besten naturbelassen und naturfarben), Seide, Leinen oder ein Gemisch aus Baumwolle und Leinen (Halbleinen) werden meist als angenehm empfunden. Auch synthetische Mikrofasern, die leicht und atmungsaktiv sind, kommen als Kleidung in Betracht. Tägliches Wechseln der Kleidung mit direktem Hautkontakt ist aufgrund stärkerer Belastung durch Schuppen, Wundsekrete oder Externaverunreinigungen unbedingt zu empfehlen. Psychosomatische Faktoren beeinflussen vielfach das Krankheitsbild. Klinik. Das atopische Ekzem (Neurodermitis, endogenes Ekzem, atopische Dermatitis) ist eine häufige, insbesondere durch den quälenden Juckreiz gekennzeichnete Erkrankung, deren typisches klinisches Bild schuppende Erytheme mit zahlreichen Kratzexkoriationen darstellen.
. Abb. 27.5. Beugenekzeme
Therapie. Die adäquate »Pflege« der trockenen Haut zielt darauf
ab, die Haut geschmeidig und feucht zu halten und die angegriffene Hautbarriere zu stabilisieren. Die Auswahl der Basistherapeutika variiert hinsichtlich Lokalisation (im Gesichtsbereich lipidärmer als an Stamm und Extremitäten) oder Jahreszeit (in der kalten Jahreszeit lipidreicher) und muss auch individuelle Besonderheiten (Kontaktallergien) berücksichtigen. Kosmetik: An einem atopischen Ekzem erkrankt zu sein, bedeutet nicht, auf Kosmetika verzichten zu müssen. Kosmetika sollten jedoch nicht wasserfest sein, da ihre spätere Entfernung die empfindliche Haut zu sehr irritiert. Creme Make-ups ist gegenüber Puder Make-ups der Vorzug zu geben. Bei der Abdeckung geröteter Hautflächen empfiehlt sich der Einsatz der Komplementärfarbe grün.
213 27.2 · Atopisches Ekzem
27
cineurininhibitoren Pimecrolimus und Tacrolimus erweitert werden. Das Enzym Calcineurin ist in bestimmten Zellen des Immunsystems, wie auch den T-Zellen, lokalisiert und spielt dort eine entscheidende Vermittlerrolle bei der Auslösung von Ekzem und Juckreiz. Anders als das Kortison wirken Pimecrolimus und Tacrolimus spezifischer und beeinflussen beispielsweise nicht die für die Hautverdünnung wichtigen Bindegewebszellen. Weitere im Einzelfall zum Einsatz gelangende Therapiemöglichkeiten stellen u. a. Antihistaminika, Antibiotika oder Antiseptika dar. Auch eine UV-Bestrahlung kann in schweren Fällen indiziert sein. 27.2.1 Differenzialdiagnose Handekzem
. Abb. 27.6. Hautveränderungen im Gesicht
Handekzeme sind häufig und müssen sich nicht immer auf dem Boden einer Neurodermitis entwickeln. Differenzialdiagnostisch sind die irritative Kontaktdermatitis und eine allergische Kontaktdermatitis abzugrenzen. Besonders von Handekzemen betroffen sind Berufsgruppen mit starker Nässeexposition. Für diese Personengruppen ist die Pflege der Hände unerlässlich und muss standardisiert erfolgen.
Grundregeln für das richtige Eincremen im Handbereich
. Abb. 27.7. Hautveränderungen an den Händen
! Für das rasche Abfangen der Ekzemschübe stellt die äußerliche Anwendung von kortisonhaltigen Präparaten die zurzeit effektivste Möglichkeit dar.
Zur Vermeidung typischer Kortisonnebenwirkungen wie Hautverdünnung, Hautunreinheiten (»Kortisonakne«), Teleangiektasien wird der Einsatz von Glukokortikoiden mit einem verbesserten Nutzen-(hohe antiinflammatorische Aktivität)-Nebenwirkungs(geringes atrophogenes Potenzial)-Profil empfohlen, wobei in diesem Zusammenhang beispielhaft Prednicarbat, Methylprednisolon Acetat oder Hydrokortisonaceponat zu nennen sind. Ihr Einsatz erfolgt vorzugsweise im Rahmen der »Intervalltherapie«, die zusätzlich zur Basistherapie durchgeführt wird. Hierbei wechseln Behandlungsphasen mit Kortison mit kortisonfreien Perioden ab. Bei der beständigen Suche nach effektiven steroidfreien Behandlungsmöglickeiten konnten die zur Verfügung stehenden antiinflammatorischen Möglichkeiten unlängst um die sog. Cal-
5 Die Hände müssen sauber und trocken sein. 5 Das zur Anwendung gelangende Produkt wird auf einen Handrücken aufgetragen und mit dem anderen Handrücken gleichmäßig verteilt. 5 Anschließend wird das Produkt mit den Fingerspitzen der einen Hand in den Fingerzwischenräumen der anderen Hand verrieben. 5 Das Produkt wird nachfolgend sorgfältig auf Nagelbett, Nagelfalz, Fingerkuppen und Handgelenke verteilt. 5 Verbleibende Reste des Produkts werden in den Handinnenflächen verrieben. 5 Um auch die Haut unter den Fingernägeln zu erreichen, wird mit den Fingernägeln der einen Hand unter leichtem Druck über die Handinnenfläche der anderen Hand gerieben.
27.2.2 Atopisches Ekzem und Berufswahl Bei Vorliegen eines durch gute und regelmäßige Pflege sowie dem zeitlich befristeten Einsatz von topischen Steroiden gut beherrschbaren atopischen Ekzems kann die Berufswahl unter Berücksichtigung adäquater schützender Maßnahmen in der Regel uneingeschränkt erfolgen. Präsentiert sich die Neurodermitis jedoch als eine ständig rezidivierende Erkrankung, die auch unter Berücksichtigung der modernen therapeutischen Maßnahmen nicht oder immer nur kurzzeitig zur Abheilung gelangt, insbesondere bei ekzematösen Veränderungen im Bereich der Hände, sollten Berufe mit hohem Irritations- und Allergenisierungspotenzial gemieden werden, die im Folgenden aufgelistet sind.
214
Kapitel 27 · Haut und Haare
Berufe mit erhöhtem Irritations- und Allergenisierungspotenzial 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5
27
Friseur Bäcker und Konditor Florist Koch Krankenpflegeberufe (Krankenschwester, Altenpfleger) Körperpflegeberufe (Fußpflegerin, Kosmetikerin) Zahntechniker Fliesenleger Maler Lederverarbeitende Berufe Wäscher Reinigungsberufe
Liegt eine Neurodermitis vor oder bestehen andere Erkrankungen aus dem atopischen Formenkreis wie eine Rhinoconjunctivitis allergica oder ein allergisches Asthma bronchiale sollte vor Beginn der Berufsausübung ein Kinder- und Jugendarzt oder Hautarzt zu Rate gezogen werden.
27.3
Alopecia areata
Die Erkrankung kann die betroffenen Jugendlichen unter sehr starken bis zum Suizidversuch gehenden psychischen Druck setzen. Äthiopathogenese. Die Alopecia areata ist relativ häufig (Präva-
lenz ca. 0,1%) und hat vermutlich eine autoimmunologische Ursache, wobei gegen die Zellen des Follikelapparats gerichtete zytotoxische Lymphozyten für den Haarverlust verantwortlich zeichnen. Stress ist ein wichtiger, anamnestisch häufig zu eruierender Auslösefaktor. Klinik. Klinisch imponieren haarfreie Areale unterschiedlicher
Größe, die je nach Schwere durch Konfluieren auch größere Ausmaße aufweisen können (. Abb. 27.8). Während sich in den allermeisten Fällen nur einzelne oder mehrere alopezische Areale ausbilden, wobei auch Augenbrauen und Wimpern mitbefallen sein können, sind Verlaufsformen mit Verlust aller Herde im Bereich des Kopfes (Alopecia areata totalis) einschließlich auch der übrigen Körperhaare (Alopecia areata universalis) selten.
Wichtige Faktoren für die Diagnose Prognostisch eher günstige Faktoren für den Verlauf der Alopecia areata sind: 5 Einzelne oder wenige Herde 5 Befall des Bartbereichs 5 Langsames Wachstum 5 Kurzer Bestand 5 Beginn im Erwachsenenalter 5 Fehlen familiärer Häufung 5 Fehlen assoziierter Erkrankungen
Therapie. Kleinfleckige Formen verlaufen oft passager und bei
umschriebenen Formen ist die Spontanremission geradezu die Regel. Schwieriger und auch therapeutisch unbefriedigender
. Abb. 27.8. Alopecia areata
sieht die Situation bei klinisch ausgeprägteren und länger verlaufenden Erkrankungsfällen aus. Obwohl orale Glukokortikoide bei Verwendung hoher Dosen zu einem sofortigen Stopp des Haarausfalls führen, ist ihr Einsatz doch problematisch, da nach ihrem Absetzen der Haarverlust sofort wieder einsetzt. Therapie der Wahl bei schwereren Verläufen ist die Immunotherapie, die nach Sensibilisierung mit den obligaten, in der natürlichen Umwelt des Menschen nicht vorkommenden kontaktallergenen Diphencypron (DPCP) oder Quadratsäure in den alopezischen Arealen ein allergisches Kontaktekzem unterhält, wobei vermutet wird, dass durch die daraus resultierende Entzündungsreaktion es zu einem Verdrängen des spezifischen zytotoxischen Infiltrates kommt.
27.4
Dekorativer Körperschmuck
Das Tragen von Ringen oder Knöpfen in der Nase, den Augenbrauen, am Nabel oder an einer anderen Körperregion (Piercing) sowie das Aufbringen farbiger Zeichnungen mit aktuellen oder symbolhaften Mustern (Tätowierungen, Tatoos), die Heraushebung von Konturen wie den Augenbrauen durch PermanentMake-up stellen für viele Jugendliche Möglichkeiten dar, neben der Kleidung, der Sprache oder der Frisur Anerkennung in der Gruppe der Gleichaltrigen zu gewinnen und sich von den Erwachsenen abzugrenzen. Es handelt sich beim dekorativen Körperschmuck auch um einen wirtschaftlich sehr lukrativen Markt,
215 27.5 · Herpes simplex
dessen Angebote, insbesondere im Internet, unüberschaubar sind. So finden sich bei einem Anbieter allein über 50.000 Artikelvarianten in Sachen Piercingschmuck mit Piercings aus chirurgischem Edelstahl, Titanium, Gold oder Silber. ! Die Einwilligung der Eltern bei Jugendlichen unter 18 Jahren ist zwingend erforderlich bei Piercing, Tätowierungen und Permanent-Make-up, die rechtlich als Körperverletzung anzusehen und somit strafbar sind, wenn im Falle eines Minderjährigen die Einwilligung eines Erziehungsberechtigten nicht vorliegt.
27.4.1 Piercing Piercing, das bereits bei den Naturvölkern eine lange Tradition hatte, erfreut sich seit den letzten Jahren auch bei den Jugendlichen zunehmender Beliebtheit. Wurden anfänglich die weichen Bereiche des Gesichts mit Piercings durchstochen, so ist das Bauchnabelpiercing oder auch das Piercing im Genitalbereich schon lange keine Seltenheit mehr. Medizinische Probleme
In der Literatur gibt es zahlreiche Berichte über Komplikationen im Rahmen von Piercings, wobei insbesondere auf eine ausgeprägte Hygiene zu achten ist, da auch eine HIV-Erkrankung oder Hepatitis C durch Verunreinigung mit Blutserumbestandteilen möglich ist. Infektionen an den Einstichstellen kommen vor. Allergische Reaktionen aufgrund Nickel- oder Kobaltverunreinigungen wurden wiederholt beschrieben. Wie sieht es mit der Entfernung aus?
Eine Entfernung ist in der Regel problemlos möglich, hinterlässt jedoch in jedem Fall eine Narbe, wobei es individuell auch zum Auftreten atrophischer Veränderungen oder Keloiden kommen kann, die beide kosmetisch störend sind.
27
Ein weiteres, heute wissenschaftlich nur bedingt abschätzbares Risiko ist die Gefahr, dass die beim Tätowieren und Aufbringen von Permanent-Make-up verwendeten Farbpigmente in tiefere Hautschichten gelangen und sich über die Blutbahn im Körper verteilen könnten. Wie sieht es mit der Entfernung aus?
Obwohl Tätowierungen und Permanent-Make-up »in« sind, ist es nicht selten, dass eine Entfernung gewünscht wird, wobei die Entfernung zum einen teuer und langwierig ist, und zum anderen auch heute nicht immer erfolgreich möglich ist. Am besten sprechen auf eine Laserbehandlung blau-schwarze Tätowierungen an, die im Bereich aller Wellenlängen eine gute Absorption zeigen. Je nach Dichte und Menge des eingebrachten Pigments sind auch bei blauschwarzen Tätowierungen bis zur vollständigen oder weitgehenden Aufhellung immer mehrfache Behandlungssitzungen notwendig, wobei bei Laientätowierungen häufig 3‒6 Sitzungen, bei den dicht gestochenen professionellen Tätowierungen 10‒20 Sitzungen erforderlich sein können. Jedoch auch bei blau-schwarzen Tätowierungen ist nicht selten bei Einsatz mehrerer Lasertypen eine vollständige Entfernung nicht möglich, wobei die Situation bei der Behandlung von farbigen Läsionen noch komplizierter wird. Hierauf ist unbedingt bei der Aufklärung des Patienten einzugehen! Alternativen?
In jedem Schmuckgeschäft gibt es Schmuck zum Anklammern zu kaufen, der es nach Belieben erlaubt, das Äußere zu verändern. Zähne können mit Schmucksteinen oder hauchdünner Goldfolie durch den Zahnarzt beklebt werden und jederzeit problemlos wieder hiervon befreit werden. Henna-Tätowierungen werden auf den Körper gemalt und verblassen in der Regel nach 2 Wochen.
27.5
Herpes simplex
27.4.2 Tätowierungen, Tatoos und Permanent-
Make-up Tätowierungen erfreuen sich seit den 1990er-Jahren wieder größter Beliebtheit, insbesondere bei Jugendlichen. Während es sich bei der Tätowierung um eine Punktierung der Haut handelt, wobei gleichzeitig mit dem Durchstehen ein Farbstoff in die Haut eingebracht wird und somit eine Entfernung extrem problematisch wird, versteht man unter »Tatoo« das Aufbringen von Bildern oder Texten auf die Haut in Form von Klebebildern, die sich wieder leicht von der Haut abwaschen lassen. Fast jeder 10. Deutsche trägt Schätzungen zufolge inzwischen ein Tatoo. Auch das Aufbringen von Permanent-Make-up ist bei Jugendlichen nicht unüblich. Medizinische Probleme Cave Von Ärzten aber auch anderen Organisationen wie dem Bundesinstitut für Risikobewertung wird vor den möglichen Gefahren durch Tätowierungen, Tatoos und auch Permanent-Make-up gewarnt. Allergische Reaktionen wie z. B. durch Verunreinigung der Farbpigmente können teilweise sehr schwer verlaufen.
Ätiopathogenese. Dieser Erkrankung liegt eine Infektion mit
dem Herpes-simplex-Virus (HSV) zugrunde und kann insbesondere in Stresssituationen oder bei starker UV-Exposition (sog. »Gletscherbrand«) ausgelöst werden. Klinik. Am häufigsten ist die Infektion in der Perioralregion lokalisiert, insbesondere am Lippenrot und den angrenzenden Hautpartien. Subjektiv tritt am späteren Entstehungsort ein Spannungsgefühl auf, manchmal auch Juckreiz oder Schmerz. Es imponieren auf erythematösem Grund zunächst prall-gespannte, stecknadelkopf- bis reiskorngroße, wasserklare Bläschen, die häufig konfluieren. Im Verlauf kommt es häufig zu einer Eintrübung des Bläscheninhalts mit typischen Sekundäreffloreszenzen in Form von Krustenauflagerungen und polyzyklisch begrenzten Erosionen. Eine vollständige Abheilung tritt nach ca. 10‒14 Tagen ein. Therapie. Eine spezifische Behandlung ist häufig nicht notwendig. Um eine bakterielle Superinfektion zu vermeiden, ist eine äußerliche antiseptische Behandlung (z. B. mit Clioquinol) sinnvoll. Topisch antiviral einzusetzende Präparate auf Grundlage von Aciclovir können in der Regel den Krankheitsverlauf nur um einige wenige Tage abkürzen.
216
Kapitel 27 · Haut und Haare
27.7
Ein Problem für viele Jugendliche ist es, wenn es gehäuft zu HSVInfektionen kommt, wobei die Infektion auch vielfach stets am gleichen Ort (Herpes simplex recidivans in loco) auftritt. Kommt es zu mehr als sechs solcher Infektionen pro Jahr, kann durch eine orale Aciclovir-Suppressionsbehandlung (2-mal 200 mg/die) zumindest für die Zeit der Einnahme (über Monate) ein Wiederauftreten vermieden werden.
Ätiopathogenese. Überzufällig häufig treten die Veränderungen im Zusammenhang mit einer Neurodermitis oder Ichthyose auf. Ursächlich liegt eine im Bereich des Follikels lokalisierte, genetisch determinierte (autosomal-dominant) Hornpropfbildung zugrunde. Beide Geschlechter sind gleich häufig betroffen.
27.6
Hyperhidrosis
Ätiopathogenese. Die konstitutionell bedingte Überfunktion
27
Keratosis pilaris
27.5.1 Herpes simplex recidivans
der ekkrinen Schweißdrüsen (genuine Hyperhidrosis) wird v. a. nach emotionalen Reizen wie Lampenfieber, Angst oder Freude relevant. Während die verstärkte Schweißbildung im Bereich von Händen und Füßen (Hyperhidrosis manuum et pedum) sich bereits häufig im Kleinkindesalter manifestiert, kommt es am häufigsten während der Pubertät oder im jungen Erwachsenenalter zur verstärkten Schweißbildung im Bereich der Achseln (Hyperhidrosis axillaris). Nikotin und Koffein verstärken die Symptome, da sie zu einem erhöhten Rhythmuspotenzial der postganglionären sympathischen Nervenfasern führen. Häufig kommt es zu einem Persistieren im Erwachsenenalter.
Klinik. Die Hautveränderungen finden sich an den Streckseiten
der Arme und Beine, gelegentlich auch im seitlichen Wangenbereich. Klinisch imponieren zumeist hautfarbene, gelegentlich auch rötliche rauhe Knötchen, bei denen sich häufig die zentrale Keratose als punktförmige weißliche Schuppe gut erkennen lässt. Ganz charakteristisch ist der beim Darüberstreichen über die betroffenen Hautareale sich ergebende Reibeiseneffekt. Therapie. Die Hautveränderungen sind gewöhnlich im Winter
stärker ausgeprägt als im Sommer und zeigen im Verlauf der Adoleszenz eine spontane Besserungstendenz. Leichte Fälle lassen sich mit harnstoff- oder milchsäurehaltigen Externa günstig beeinflussen. Für ausgeprägte Fälle bietet sich die Behandlung mit Fruchtsäuren oder auch Tretinoin an.
27.8
Nävi
Klinik. Verstärktes Schwitzen im Bereich der befallenen Areale,
Ätiopathogenese. Diese Fehlbildungen lassen sich zwei großen
wodurch es sekundär zu Hautmazerationen kommt, was wiederum das Auftreten von sekundären irritativen (Intertrigo), bakteriellen (Impetigo) oder mykotischen (Tinea) Dermatosen begünstigt.
Gruppen zuordnen. Die eine Gruppe umfasst die Hamartome, die Fehlprogrammierungen im Rahmen der Ontogenese darstellen, deren Resultat ein Zuviel oder ein Zuwenig von normalen bzw. normal erscheinenden Gewebselementen ist. So ist z. B. der Naevus flammeus den teleangiektatischen Fehlbildungen zuzurechnen und durch vermehrte und erweiterte Hautkapillaren gekennzeichnet. Hyperkeratotisch-verruköse Läsionen, zumeist in streifenförmiger Anordnung, kennzeichnen den epidermalen Naevus. Während die Hamartome der Haut in aller Regel gutartige Veränderungen ohne Entartungstendenz darstellen, können die Läsionen der anderen großen Nävus-Gruppe, nämlich die sehr viel häufiger auftretenden Pigmentnävi (»Muttermäler«), die histologisch durch den Nachweis von Nävuszellen gekennzeichnet sind, in Einzelfällen durchaus maligne entarten. Im Prinzip sind sogar alle Nävuszellnävi potenzielle Vorläufer des malignen Melanoms, wobei der Übergang eines Nävuszellnävus in ein malignes Melanom in Anbetracht der Häufigkeit des Auftretens von Nävuszellnävi ein überaus seltenes Ereignis darstellt.
Therapie. Äußerliche, orale wie auch operative Therapieformen stehen zur Verfügung. Axillär wie auch palmo-plantar hat sich das Auftragen einer 15‒25%igen Aluminiumhexahydrat-Lösung bewährt, die durch den Zusatz von zumeist 1% Methylzellulose auf gelartige Konsistenz eingedickt wird. Nach Reinigung und Trocknen der zu behandelnden Areale wird die Zubereitung über nacht aufgetragen und am nächsten Morgen abgewaschen. Für die Hände und Füße ist auch die Leitungswasseriontophorese eine sehr erfolgreiche Therapieoption, wobei die Kosten für das entsprechende Gerät von den Krankenkassen übernommen werden. Für die Hyperhidrosis axillaris und auch für die Hyperhidrosis manuum et pedum kann die Schweißdrüsenproduktion für einen mehrmonatigen Zeitraum durch die intrakutane Injektion von Botulismus-Neurotoxin A (u. a. Botox) gehemmt werden. Die Wirkung setzt nach wenigen Tagen ein und hält etwa für 3‒8 Monate. Obwohl Erfahrungen an vielen tausenden Patienten vorliegen, ist das Medikament nicht für diese Indikation zugelassen. Die pharmakologische Blockierung des Neurotransmitters am Drüsenendstück mithilfe von Anticholinergika stellt v. a. bei generalisierter Hyperhidrosis eine Therapieoption dar, wobei jedoch auf die typischen anticholinergen Nebenwirkungen wie Mundtrockenheit oder Obstipation zu achten ist. Die Exzision der axillären Schweißdrüsenfelder stellt eine, auch in örtlicher Betäubung vorzunehmende Therapieoption bei der Hyperhidrosis axillaris dar.
Klinik. Bei der Diskussion über Nävi ist eine exakte Terminologie sehr wichtig, da Unterschiede bzgl. Dignität und therapeutischem Vorgehen bestehen. «Nävus« bedeutet «Mal« und meint eine angeborene, umschriebene Fehlbildung der Haut, wobei die entsprechenden Hautveränderungen selbst bei Geburt noch nicht vorliegen müssen und sich erst im Verlauf manifestieren können. Therapie. Therapie von Nävuszellnävi: Die Dignität von Nävuszellnävi lässt sich anhand klinischer Parameter unter Anwendung der ABCD-Regel (Asymmetry [Asymmetrie] ‒ Border [Begrenzung] ‒ Colour [Farbe] ‒ Diameter [Durchmesser]) in Kombination mit dem auflichtmikroskopischen Muster vom geübten Facharzt in der Regel sehr gut einschätzen. Die Exzision ist die Therapie der Wahl bei der Entfernung von Nävuszellnävi. In
217 27.11 · Warzen, Verrucae vulgares
Zweifelsfällen ist die chirurgische Exzision mit nachfolgender histopathologischer Aufbereitung angebracht. Das zunehmende Problembewusstsein der Bevölkerung bezüglich des Entartungsrisikos von Nävuszellnävi hat auch von Seiten der Patienten eine relativ wachsende Nachfrage nach der Lasertherapie von Nävuszellnävi entstehen lassen. Jedoch ist bei der Lasertherapie zu bedenken, dass 4 nicht pigmentierte Nävuszellen bzw. -zellnester mit den derzeitigen Lasertypen nicht entfernt werden können. 4 tiefergelegene Zellen, auch wenn sie pigmentiert sind, selbst durch mehrfache Therapien nicht sicher erfasst werden können. 4 die Langzeitentwicklung von nicht vollständig geschädigten (sublethalen) Nävuszellen derzeit noch nicht abgeschätzt werden kann, so dass insbesondere hier ein großes Unsicherheitspotenzial besteht. ! Somit stellt die laserchirurgische Entfernung keine Therapiealternative dar und sollte auf Ausnahmesituationen begrenzt bleiben.
27.9
Striae distensae
Die Hautveränderungen treten bevorzugt auf bei raschem Längenwachstum oder auch infolge stärkerer Gewichtsveränderungen und zeigen eine Bevorzugung des weiblichen Geschlechts. Bevorzugte Lokalisationen sind Bauch, Hüften, Oberschenkel und Mammae. Ätiopathogenese. Die pathologischen Veränderungen spielen sich im dermalen Kompartiment ab. Hier kommt es zu einer irreversiblen Konformationsänderung des Kollagenfasergeflechts, wobei hormonelle Faktoren eine ursächliche Rolle zukommt. Klinik. Klinisch imponieren die überwiegend symptomlosen
Hautveränderungen als in unterschiedlicher Zahl sich zeigende parallel verlaufende Streifen, die initial unterschiedlich stark gerötet sind und im weiteren Verlauf zunehmend abblassen.
27
sehr unterschiedlich, kann aber auch über 100 Läsionen erreichen. Ein Köbner-Phänomen kommt vor. Therapie. Ein zu aggressives Vorgehen ist zu vermeiden, um eine
weitere Ausbreitung oder auch Narbenbildung zu verhindern. Therapie der Wahl ist die milde keratolytische Behandlung mit Tretinoin (0,025%). Auch der Einsatz des Kombinationsfertigarzneimittels Tretinoin und Erythromyzin ist sinnvoll. Handelt es sich um eine begrenzte Zahl von Läsionen, ist auch das Betupfen mit dem in flüssigen Stickstoff getränkten Stiltupfer ein probates Vorgehen. In ausgeprägten Fällen, die auf eine topische Behandlung nicht ansprechen, kann die orale Gabe des Immunmodulars versucht werden.
27.11
Warzen, Verrucae vulgares
Ätiopathogenese. Bei den vulgären Warzen handelt es sich um
die häufigste Warzenform, in denen sich die HPV-Typen 1, 2, 4 oder seltener 7 nachweisen lassen. Eine Übertragung der Viruswarzen erfolgt meist über direkten Körperkontakt von Mensch zu Mensch, nicht selten aber auch durch Kontakt mit kontaminierten Gegenständen wie beispielsweise durch Barfußlaufen in Sporthallen oder Schwimmbädern. Klinik. Typische Hautveränderungen weisen eine zerklüftete, rau-
he Oberfläche auf mit klinisch sichtbaren charakteristischen schwarzen Punkten als Korrelat der virusinduzierten Papillennekrosen. Die ebenfalls zu den vulgären Warzen gehörenden Verrucae plantares (Dorn- bzw. Fußsohlenwarzen) sind aufgrund der lokalisationsbedingten Druckbelastung meist nur leicht oder nicht erhaben. Ihre Umgebung weist sehr häufig eine brettharte Schwielenbildung auf. Plantarwarzenbeete resultieren aus Konfluenz mehrerer Fußsohlenwarzen. Während bei den vulgären Warzen zumeist die kosmetische Beeinträchtigung im Vordergrund steht, ist ausgeprägter Druckschmerz und dadurch bedingte Funktionseinschränkung des betroffenen Fußes häufig Grund der Vorstellung beim Arzt. Therapie. Die Behandlung der vulgären Warzen verlangt in allen
Therapie. Die Therapie ist unbefriedigend. Ein Versuch mit topi-
scher Vitamin A-Säure (Tretinoin 0,025% in Basiscreme DAC) mit täglicher Applikation über Nacht für 3‒6 Monate kann versucht werden.
27.10
Warzen, Verrucae planes iuveniles
Für Jugendliche von Bedeutung sind v. a. die planen Warzen und Warzen im Bereich der Hände und Füße. Die überwiegend symptomlosen Hautveränderungen finden sich v. a. im Gesicht sowie im Bereich der Handrücken und können sich auch sehr rasch ausbreiten (eruptive Verrucae planae juveniles). Ätiopathologie. Erreger sind humane Papillomviren (HPV). Es handelt sich um DNS-Viren, wobei v. a. die Typen 3 und 10 aus den Läsionen isoliert werden können. Klinik. Die Warzen zeigen sich als flach-erhabene Läsionen, wo-
bei die Papeln einen rötlichen, bräunlich-rötlichen oder auch gräulichen Farbton aufweisen können. Ihre Zahl ist indivuduell
Fällen Geduld und aktive Mithilfe der Beteiligten. Ein mögliches Vorgehen ist in der folgenden Übersicht zusammengefasst. Die regelmäßige Desinfektion der befallenen Läsionen soll eine weitere Ausbreitung verhindern. Die keratolytischen Effekte, insbesondere durch topische Salizylsäure in Kombination mit dem mechanischem Abtragen tragen zur Entfernung der Warze bei. Entscheidend für den Erfolg ist jedoch die regelmäßige Durchführung der Therapiemaßnahmen. Dieses Vorgehen kann bedarfsweise kombiniert werden mit operativen Verfahren wie der Kryo- (Vereisung mit flüssigem [–196°C] Stickstoff) oder der (Farbstoff-)Lasertherapie. Bis heute konnte jedoch eine Überlegenheit einzelner Therapieverfahren, die von manchen Ärzten auch als individuelle Gesundheitsleistungen (IGeL) dem Patienten in Rechnung gestellt werden, nicht wissenschaftlich belegt werden. Mit dem Immunmodulator Imiquimod steht eine weitere, topisch applizierbare Substanz zur Verfügung, deren Einsatz in therapierefraktären Fällen überlegt werden kann, obwohl eine Zulassung bislang lediglich für die Behandlung von Condylomata acuminata vorliegt. Imiquimod generiert die Zytokinproduktion antiviral-wirksamer Zytokine wie Interleukin-2 aus Keratinozyten und führt auf diese Weise zu
218
Kapitel 27 · Haut und Haare
einer Verbesserung der zellulären Immunantwort. In der Praxis hat sich auch aus Kostengründen die Applikation über Nacht an zwei aufeinander folgenden Tagen bei Verwendung eines Sacchets bewährt, wobei die zweitägigen Therapieintervalle jeweils von einem Tag Pause gefolgt werden. Wichtig ist es auch, bestehende Provokationsfaktoren wie Akrozyanose oder Hyperhidrose (7 dort) in das Therapiemanagement zu integrieren. Bei bestehender Akrozyanose sollte auf Nikotinkonsum verzichtet werden. Die tägliche Anwendung von Wechselbädern nach Kneipp kann zu einer deutlichen Verbesserung der Durchblutungsverhältnisse führen. Hierbei werden Hände oder Füße 3- bis 5-mal für jeweils 3 Minuten in einer Schüssel mit warmem und anschließend für 15‒20 Sekunden in kaltem Wasser gebadet.
Chemisch-chirurgische Behandlung vulgärer Warzen an Händen und Füßen
27
Bei Warzen handelt es sich um Häutläsionen, die durch Viren hervorgerufen werden und sich somit auch auf andere Körperareale ausbreiten können. Die Viren überleben in den obersten Hautschichten (Stratum corneum) und vermehren sich innerhalb der Körperzellen. Deshalb zielen alle therapeutischen Bemühungen auf die möglichst vollständige Entfernung virusinfizierter Hautschichten ab. Folgendes Behandlungsprotokoll hat sich bewährt: 1. Morgens: Desinfektion der betroffenen Stellen mittels Sprühdesinfektion (z. B. cutasept) 2. Abends: Desinfektion der betroffenen Stellen mittels Sprühdesinfektion (z. B. cutasept). Pinselung mit Glutaraldehydlösung und Belassen über Nacht 3. 2-mal wöchentlich: 10-minütiges Schmierseifenbad zum Aufweichen der Haut und anschließendes Abtragen der obersten Hautschichten im Bereich der befallenen Hautstellen mittels Curette oder Skalpell (nach Verwendung immer wieder gut desinfizieren!). Anschließend Durchführen der abendlichen Behandlung 4. Etwa alle 4 Wochen: Vorstellung in der Praxis 5. Etwa 48 Stunden vor dem Vorstellungstermin: Abpflastern der Hautläsionen mittels salizylsäurehaltigem Pflaster (z. B. mit Guttaplast) Bitte nur streng auf die jeweilige Läsion auflegen, da sonst die unbefallene Haut stark gereizt wird, und eine gute Fixierung (z. B. mit Leukoplast) sicherstellen, um ein Verrutschen des Pflasters auszuschließen. In der Praxis Abtragung und Kryo- und/oder Laserbehandlung. Es ist mit einer ca. 12-wöchigen Therapiedauer zu rechnen, d. h. im Rahmen der Behandlung erfolgen ca. 3–4 Vorstellungen in der Praxis. Benötigt werden: Desinfektionsspray, Einmalskalpell/Curette, Schmierseife, salizylsäurehaltiges Pflaster (z. B. Guttaplast), Fixierpflaster (z. B. Leukoplast), Glutaraldehydlösung.
Literatur Abeck D (2005) Diagnose und Therapie der Neurodermitis. Der niedergelassene Arzt 54: 30–34 Ash K, Lord J, Zukowski M, McDaniel DH (1998) Comparison of topical therapy for striae alba (20% glycolic acid/0.05% tretinoin) versus 20% glycolic acid/10% L-ascorbic acid). Dermatol Surg 24: 849–856 Barnett J (2003) Health implications of body piercing and tattoing: a literature review. Nurs Times 99: 62–63 Bigby M, Gibbs S, Harvey I, Sterling J (2004) Warts. Clin Evid 11: 2209– 2223 Hohenleutner U, Landthaler M (1998) Lasertherapie von Nävuszellnävi. S. 588–590. In: Garbe C, Rassner G (Hrsg.) Dermatologie. Springer, Berlin Tan JK (2004) Psychosocial impact of acne vulgaris: evaluating the evidence. Skin Therapy Lett 9: 1–3 Webster GF (2003) Acne vulgaris. British Medical Journal 325: 475–479
219
28
28 Essstörungen M. Gerlinghoff, H. Backmund
)) Unter dem Begriff »Essstörungen« werden Anorexia nervosa, Bulimia nervosa und die sog. nicht näher bezeichneten Essstörungen (NNB) zusammengefasst. Essstörungen beginnen zum überwiegenden Teil im Jugendalter und gehen − dem natürlichen Krankheitsverlauf entsprechend − kontinuierlich in das Erwachsenenalter über. Viele Erkenntnisse über diese Krankheiten, Untersuchungsergebnisse oder epidemiologische Daten wurden an erwachsenen Patienten gewonnen. Auch die Beschreibung von jeweils kennzeichnenden Krankheitsmerkmalen im ICD-10 (Dilling et al. 2000) ist ebenso wie das Klassifikationsschema der American Psychiatric Association (APA 1994) in erster Linie auf das Erwachsenenalter ausgerichtet. Es drängt sich der Einruck auf, dass jugendpsychiatrische Besonderheiten im Wissensstand über Essstörungen unterrepräsentiert sind, obwohl sich in der Adoleszenz für den künftigen Verlauf der Krankheiten entscheidende Interaktionen abspielen (Johnson et al. 2002).
Publikation aus dem Jahre 1874 führt diese Bezeichnung ein. Bereits ein Zeitgenosse von Gull hatte Ende der 1880er-Jahre in einem Leserbrief Kritik an dem Namen Anorexia = Appetitlosigkeit geübt mit dem Hinweis, dass diese Patienten keineswegs appetitlos seien (Gerlinghoff et al. 1999). Mit der deutschen Bezeichnung Magersucht wird die Anorexia nervosa zu den Süchten gezählt, was nicht der Auffassung der Fachleute entspricht. Cave Der Name »Pubertätsmagersucht« wird nicht selten so interpretiert, dass das Übel am Ende der Pubertät von alleine verschwindet − ein gefährlicher Irrtum.
28.1.2
Definition
Die kennzeichnenden Merkmale der Anorexia nervosa gemäß ICD-10 sind nachfolgend aufgeführt:
F 50.0, Anorexia nervosa
Die verschiedenen Formen der Essstörungen können ineinander übergehen. Aus einer Anorexia nervosa kann sich eine Bulimia nervosa und schließlich eine Esssucht (eine nicht näher bezeichnete Essstörung) entwickeln und umgekehrt. Die Diagnose einer bestimmten Essstörung bei einem Individuum ist somit nicht selten als Querschnittsdiagnose zu verstehen, in Abhängigkeit vom Körpergewicht und dem Vorhandensein krankhafter Verhaltensweisen. Nur bei etwa der Hälfte der Magersüchtigen bleibt die Diagnose Anorexia nervosa im Krankheitsverlauf bestehen. Die Bulimie tritt aber auch als eigenständige Krankheit auf und ist nicht nur eine Station zwischen Magersucht und Übergewicht. Magersucht und Bulimie sind zwei eigenständige Krankheiten. Trotzdem werden in den meisten auf Essstörungen spezialisierten Behandlungseinheiten Patienten mit Magersucht und Bulimie erfolgreich gemeinsam behandelt. Essstörungen sind aufwendige, kostenintensive Krankheiten (Agras 2001). Ihr Verlauf ist nicht geradlinig, auch nach zunächst erfolgreichen Behandlungen können Rückfälle auftreten, und nicht selten müssen therapeutische Maßnahmen wiederholt werden. Dazu kommt, dass es in der BRD außerhalb der Ballungsräume zu wenig Behandlungsmöglichkeiten gibt; das gilt besonders für das Kindes- und Jugendalter. An geregelter, vernünftiger Nachsorge herrscht Mangel.
28.1
Anorexia nervosa
28.1.1
Einleitung
Die Magersucht, Anorexia nervosa, ist die älteste, prominenteste, am besten untersuchte, aber nicht häufigste Essstörung. Der Name Anorexia nervosa stammt aus den 1870er-Jahren, vermutlich von Sir William Gull, einem Londoner Internisten. Eine
5 Tatsächliches Körpergewicht mindestens 15% unter dem erwarteten (entweder durch Gewichtsverlust oder nie erreichtes Gewicht) oder BMI von 17,5 oder weniger. Bei Patienten in der Vorpubertät kann die erwartete Gewichtszunahme während der Wachstumsperiode ausbleiben. 5 Der Gewichtsverlust ist selbst herbeigeführt durch: 5 Vermeidung von hochkalorischen Speisen sowie eine oder mehrere der folgenden Verhaltensweisen: – selbst induziertes Erbrechen; – selbst induziertes Abführen; – übertriebene körperliche Aktivitäten; – Gebrauch von Appetitzüglern oder Diuretika. 5 Körperschema-Störung in Form einer spezifischen Störung: Die Angst, zu dick zu werden, besteht als eine tief verwurzelte, überwertige Idee; die Betroffenen legen eine sehr niedrige Gewichtsschwelle für sich selbst fest. 5 Eine endokrine Störung auf der Hypothalamus-Hypophysen-Gonaden-Achse. Sie manifestiert sich bei Frauen als Amenorrhoe und bei Männern als Libido- und Potenzverlust. (Eine Ausnahme ist das Persistieren vaginaler Blutungen bei anorektischen Frauen mit einer Hormonsubstitutionsbehandlung zur Kontrazeption.) Erhöhte Wachstumshormon- und Kortisolspiegel, Änderungen des peripheren Metabolismus von Schilddrüsenhormonen und Störungen der Insulinsekretion können gleichfalls vorliegen. 5 Bei Beginn der Erkrankung vor der Pubertät ist die Abfolge der pubertären Entwicklungsschritte verzögert oder gehemmt (Wachstumsstopp; fehlende Brustentwicklung und primäre Amenorrhoe beim Mädchen; bei Knaben bleiben die Genitalien kindlich). Nach Remission wird die
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Kapitel 28 · Essstörungen
F 50.01, Anorexie mit aktiven Maßnahmen zur Gewichtsabnahme (Erbrechen, Abführen etc.; u. U. in Verbindung mit Heißhungerattacken)
Die Frage, ob die Magersucht etwa in den letzten 50 Jahren an Häufigkeit zugenommen hat, ist aus methodischen Gründen, wie z. B. unterschiedliche diagnostische Kriterien, schwierig zu beantworten. Umfangreiche Metaanalysen (Keel u. Klump 2003) legen den Schluss nahe, dass es zu einer leichten Zunahme der Inzidenzraten gekommen ist, sicherlich aber nicht in dem Ausmaß, wie es nach Berichten in den Medien gefolgert werden könnte. Eine zunehmende Aufmerksamkeit den Essstörungen gegenüber sowohl in der Fachliteratur als auch in der Öffentlichkeit hat ohne Zweifel bewirkt, dass mehr Magersüchtige in Behandlung kommen. Fachleute sind auch der Meinung, dass ein Trend zu einem immer jüngeren Erkrankungsalter besteht (Holtkamp u. Herpertz-Dahlmann 2002).
Dazugehörige Begriffe: 5 Aktive Form der Anorexie 5 Bulimische Form der Anorexie
28.1.4
Pubertätsentwicklung häufig normal abgeschlossen, die Menarche tritt aber verspätet ein.
F 50.00, Anorexie ohne aktive Maßnahmen zur Gewichtabnahme (Erbrechen, Abführen etc.) Dazugehörige Begriffe: 5 Asketische Form der Anorexia 5 Passive Form der Anorexie 5 Restriktive Form der Anorexie
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Die jetzt gültige IV. Fassung des DSM gibt es seit 1996 in deutscher Ausgabe. Die Klassifizierung der Essstörungen entspricht im Großen und Ganzen der Version ICD-10. Ein unangemessener Einfluss des Gewichtes oder der Figur auf das Selbstwertgefühl der Betroffenen ist als Kennzeichen der Magersucht im DSM-IV aufgeführt. ! Sowohl in der Klassifikation nach ICD-10 als auch nach DSM-IV wurde − im Vergleich zu früheren Versionen − eine Spezifizierung von zwei Formen neu eingeführt, je nach dem, ob eine Gewichtsreduktion durch Hungern und übermäßige Bewegung herbeigeführt wird (restriktiver oder asketischer Typus) oder ob sog. kompensatorische Maßnahmen praktiziert werden, wie z. B. willentliches Erbrechen, Missbrauch von abführenden oder entwässernden Medikamenten (bulimischer Typus).
Diese Differenzierung ist für ätiologische Konzepte wichtig. Von praktischer Bedeutung ist die Unterscheidung zwischen asketischer und bulimischer Form der Magersucht deshalb, weil der Untersucher dadurch gehalten ist, gezielt nach kompensatorischen Maßnahmen zu fragen. Ein Teil der medizinischen Komplikationen der Magersucht wird durch den Missbrauch von Abführmitteln oder entwässernden Medikamenten etc. verursacht.
28.1.3
Epidemiologische Daten
Die Häufigkeit der Magersucht hat einen Schwerpunkt im Jugendund jungen Erwachsenenalter, etwa zwischen 12 und 30 Jahren. Für diesen Altersbereich wird die Inzidenzrate mit etwa 0,5‒1,5% angegeben. Der Gipfel des Beginns der Erkrankung liegt bei ungefähr 14 Jahren (Holtkamp u. Herpertz-Dahlmann 2002). Magersucht ist eine Krankheit von Mädchen und Frauen. Männer erkranken sehr viel seltener, etwa im Verhältnis 1:10‒1:15. Allerdings soll bei Krankheitsbeginn vor der Pubertät der Anteil von Jungen höher sein als bei späterem Krankheitsbeginn (Robin et al. 1998). ! Ein deutlich erhöhtes Risiko, an einer Magersucht zu erkranken, ist mit einigen Tätigkeiten verbunden wie z. B. Balletttanzen, Leistungssport oder Modeln.
Krankheitsverlauf
Über den natürlichen Verlauf der Magersucht ist kaum etwas bekannt. Nach wissenschaftlichen Untersuchungen aus therapeutischen Institutionen gelingt es etwa der Hälfte der Patienten, langfristig die Krankheit zu überwinden; ein Drittel bis ein Viertel bessern sich so weit, dass sie damit ein sozial angepasstes Leben führen können, und der Rest bleibt chronisch krank (Steinhausen 2002). Wird bei Nachuntersuchungen etwa 10 Jahre nach Behandlungsbeginn nur nach Symptomen der Essstörung gefragt, so finden sich oft bessere Ergebnisse. Durch die Frage nach anderen psychischen Störungen und Erkrankungen kann aber das Bild erheblich getrübt werden. Zu diesen psychischen Krankheiten gehören affektive Störungen, Zwangskrankheit, Angststörungen, somatoforme Krankheiten oder Persönlichkeitsstörungen. Zu ähnlichen Ergebnissen kommen Katamnesen von jugendlichen Patienten mit Essstörungen. Zwar erreichen mehrere Jahre nach Therapiebeginn etwa 70% eine Überwindung der Essstörung, aber nur jeder zweite Patient war zum Zeitpunkt der Nachuntersuchung ein psychisch gesunder und psychosozial gut angepasster junger Erwachsener (Herpertz-Dahlmann et al. 2001). Wir vermeiden den Begriff »Heilung« im Zusammenhang mit Essstörungen und sprechen deshalb von einer Überwindung der Krankheit. Nach unserer Beobachtung bleibt bei vielen Betroffenen eine latente Gefahr eines Rückfalles, ausgelöst auch nach vielen Jahren völliger Symptomfreiheit z. B. durch schwer belastende Lebensereignisse. Die beste Rückfallprophylaxe ist nach Literaturberichten (Strobel et al. 1997) und eigenen Erfahrungen eine langfristige Anbindung von Patienten an eine therapeutische Institution. Es genügen kurze Kontakte, etwa einmal im Jahr, Verpflichtungen zu Nachuntersuchungen oder Nachfragen von Therapeuten auch nach längerer Zeit. Am besten wird diese Art der Nachsorge bei der Entlassung fest vereinbart. Cave Die Sterblichkeitsrate an Magersucht beträgt − wieder mit großen Schwankungen − in den ersten Krankheitsjahren um 6% und ist damit die höchste unter allen psychischen Krankheiten in der hauptsächlich betroffenen Altersgruppe.
221 28.1 · Anorexia nervosa
28.1.5
Komorbidität
Begleitende psychische Störungen und Erkrankungen sind bei Anorexia nervosa häufig. An erster Stelle sind affektive Störungen zu nennen, depressive Verstimmungen treten fast ausnahmslos im Verlauf einer Magersucht auf. Sie verschwinden meist im Verlauf der Behandlung und sind als Folge des anorektischen Verhaltens aufzufassen. Depressive Störungen können aber auch die Kriterien einer eigenständigen Krankheit (major depression) erfüllen und die Symptome der Essstörung überdauern. Sehr häufig finden sich bei Magersüchtigen Symptome einer Zwangskrankheit. Nicht zuletzt Essrituale oder körperliche Aktivitäten müssen zwanghaft befolgt werden. Im Verlauf der Behandlung der Magersucht können auch diese Zwangssymptome an Bedeutung verlieren oder verschwinden; wie bei der Depression können aber auch begleitende Zwangsstörungen die diagnostischen Kriterien einer Zwangskrankheit erfüllen und somit einer komorbiden psychischen Krankheit entsprechen. Angsterkrankungen werden in der Literatur auch als häufige Begleitkrankheit in bis zu 80% der Fälle genannt (Holtkamp u. Herpertz-Dahlmann 2002).
28.1.6
Ursachen
Eine bestimmte Ursache der Anorexia nervosa − wie der Essstörungen überhaupt − ist nicht bekannt. Das gegenwärtige ätiologische Konzept beinhaltet ein Zusammenwirken verschiedener Faktoren. ! Sie werden in biologische, individuelle, familiäre und soziokulturelle Einflussgrößen aufgeteilt. Nach heutiger Vorstellung liegt der Anorexia nervosa letztlich eine Wechselwirkung zwischen biologischen, psychosozialen und soziokulturellen Risikofaktoren zugrunde.
Genetische Studien sind Erfolg versprechend (Bergen et al. 2003). Der wichtigste biologische Risikofaktor ist das weibliche Geschlecht. Neue, umfangreiche Zwillingsstudien (Bulik et al. 2000) sprechen für eine genetische Komponente. Abweichungen in der biologischen Regulation des Hunger- und Sättigungsverhaltens bei Magersucht sind denkbar. Perinatale Komplikationen spielen für die Entwicklung einer Anorexia nervosa nach neuesten Untersuchungen eine geringere Rolle als früher angenommen (Lindberg u. Hjern 2003). Zu den individuellen Risikofaktoren zählen ein deutlich vermindertes Selbstvertrauen, ein Gefühl der Ohnmacht, verbunden mit dem Drang, es allen recht machen zu müssen, sowie ein großes Bedürfnis nach Harmonie. Später Magersüchtige werden von ihren Müttern oft als angepasste Musterkinder erlebt, verständnisvoll und perfektionistisch. Nicht selten sind sie Gesprächspartner für Mütter, aber auch Väter. Sie sind Vermittler in problematischen Ehen und versuchen ihre Familien zu den idealen zu machen, wie diese oft nach außen erscheinen. Magersüchtige werden als »Eltern-Kinder« beschrieben. Es gibt viele kaum untersuchte Interaktionen zwischen den Eltern und diesen jungen Menschen, mit subtilen Grenzüberschreitungen und fehlender Wertschätzung. Diesen Familien wird neben einem großen Harmoniebedürfnis ein ausgesprochenes Leistungsstreben zugeschrieben. Im Binnenraum der Familie gibt es wenig Platz für eine indivi-
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duelle Entwicklung. Stärkere Gefühlsäußerungen werden vermieden. Es mangelt an Untersuchungen über charakteristische Persönlichkeitsstrukturen und Verhaltensweisen von Geschwistern Magersüchtiger. Der populärste Risikofaktor für die Entstehung einer Essstörung überhaupt ist das in unserer Gesellschaft seit etwa 50 Jahren vorherrschende schlanke Schönheitsideal. Personifiziert in untergewichtigen Models, richtet sich dieses Ideal als zwingende Vorgabe besonders an junge Mädchen in der Pubertät auf der Suche nach der eigenen Identität. In Verbindung mit der Propagierung von Fitness ist von dem Figurbewusstsein auch der Mann betroffen. Da nur relativ wenige Menschen in der Realität idealen Formvorstellungen entsprechen, muss durch vielerlei Maßnahmen wie Diäten, gewichtsreduzierende Nahrungsergänzungsmittel oder gesteigerte körperliche Bewegung versucht werden, immer wieder diesen Idealvorstellungen ein bisschen näher zu kommen. Das erklärte Ziel einer Magersüchtigen lautete: Dünner zu sein als das dünnste Model. Da Eltern einen prägenden Einfluss auf Ernährung und Essverhalten ihrer Kinder haben, ist es nicht weiter verwunderlich, dass auch unter Kindern das Schlankheitsideal und Figurbewusstsein zum Thema geworden ist. Aus der wissenschaftlichen Literatur und eigenen Untersuchungen wissen wir, dass etwa die Hälfte der 9- bis 13-jährigen, im Mittel knapp 11-jährigen Mädchen mit ihrer Figur nicht zufrieden sind, aber auch immerhin 30% der Jungen. Etwa ein Drittel von Jungen und Mädchen haben in dieser Altersstufe bereits Maßnahmen ergriffen, um ihr Gewicht zu reduzieren, also Diäten absolviert oder nach dem Essen willentlich erbrochen. Eine starke Beschäftigung mit der eigenen Figur und die Durchführung von Diäten gelten als die wichtigsten Risikofaktoren für die Entwicklung einer Essstörung. Dem Schlankheitsideal und seinen Folgen wird vor allem in den Medien, aber auch in der Fachpresse eine bedeutende Rolle für die Entstehung von Magersucht und Bulimie und nicht zuletzt für die Zunahme dieser Essstörungen in den letzten 50 Jahren zugeschrieben. Dieser Einfluss besteht zweifellos; andererseits ist ebenso erwiesen, dass Magersucht auch ohne diese Art des soziokulturellen Einflusses entstehen kann. Die Geschichte der Magersucht belegt, dass längst bevor das westliche Schlankheitsideal wirksam geworden ist, also etwa im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, die Anorexia nervosa eine bekannte Krankheit junger Frauen war. Transkulturelle Analysen machen außerdem deutlich, dass außerhalb des westlichen kulturellen Einflusses Magersucht ohne übertriebene Idealisierung von Schlankheit vorkommt.
28.1.7
Die Magersüchtigen
Gemeinsame Eigenschaften und Verhaltensweisen überdecken in der Krankheit individuelle Wesenszüge. Die Neigung, perfekt zu sein, wird zur zwanghaften Erfüllung von Ritualen; auch wenn der Beginn des Hungers einer schlankeren Figur galt, so verliert die modische Motivation allmählich an Bedeutung und wird ersetzt durch ein alles umfassendes Streben nach Leistung. Beispiel Dazu eine Magersüchtige: »Ein 1,0-Abitur kann jeder, ein 1,0-Abitur mit 35 kg kann nicht jeder!«
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Kapitel 28 · Essstörungen
In diesem System wird somit auch Hungern zur Leistung, die an der Waage ablesbar wird. Nicht abzunehmen bedeutet versagen und letztlich ein schlechter Mensch sein – weil nicht perfekt ‒, eine Gewichtsabnahme hingegen verschafft nur einen Augenblick ein Hochgefühl, die Gewissheit, auf dem richtigen Weg zu sein. Das Streben nach Autonomie, das zum Wesen der Anorexie gehört, muss schließlich herhalten als Begründung für das Regime, dem sie sich unterwerfen. Beispiel Eine Magersüchtige: »Mein Körper gehört mir, da kann mir niemand dreinreden, mit dem kann ich machen, was ich will.«
Der freie Wille, der nach diesem Satz unterstellt werden könnte, ist nicht vorhanden. Das Abnehmen, das einmal angestrebte Zielgewicht immer weiter nach unten zu verschieben, geschieht längst nicht mehr willentlich ‒ Magersüchtige müssen zwanghaft so handeln. Viele Patienten berichten von regelrechten Dialogen, die sich zwischen ihnen und ihrer personifizierten Magersucht abspielen, mit üblen Beschimpfungen, wenn sie einen Moment daran denken, aufzugeben.
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Beispiel Selbstgespräch einer Magersüchtigen: »Schwach schleppt sich mein Körper zum Sportunterricht. Ich spüre meine Hände und Füße nicht mehr, meine Knie zittern vor Kälte und Schwäche, doch mein krankes Denken treibt mich weiter. Schneller, du musst schneller werden, schneller sein als die anderen, zeigen was du kannst. Du bist ein so verdammtes Weichei, das einzige, was du kannst, ist essen und frieren.«
Ein Motor, weiterzumachen, ist die nicht einfühlbare, krankhaft verzerrte Wahrnehmung ihres Köpers oder einer bestimmten Körperregion, der Bauchkuhle, der Oberschenkel, der Spalt zwischen den Oberschenkeln. Diese verzerrte Wahrnehmung schließt nach unserer Überzeugung ihre ganze Persönlichkeit ein. Magersüchtige gelten als schwierig, arrogant und abweisend; das steht in krassem Gegensatz zu dem, wie sie vor der Krankheit beschrieben werden, nämlich als angepasste, Harmonie bedürftige Musterkinder. Vorhaltungen, Bitten und Flehen oder lautstarke Auseinandersetzungen haben keine Wirkung. Im Freundeskreis, in der Schule oder am Arbeitsplatz überwiegt die Scheu, sie anzusprechen. Im Krankenhaus, auch auf Intensivstationen, sind Magersüchtige unbeliebt. Sie erzeugen Misstrauen und vor allem Frustration bei denen, die helfen wollen. Denn sie wehren sich mit allen Mitteln, mit Täuschungen und Tricks, mit Händen und Füßen dagegen, etwas herzugeben, was sie − so unbegreiflich es sein mag − als ihren Lebensinhalt, als ihren Besitz verstehen, als etwas, was sie zwar quält, aber dennoch ein Teil von ihnen ist. Beispiel Aussage einer Magersüchtigen: »Hungern gab mir Halt und Sicherheit, Hungern half mir, meine Angst vor dem Leben zu bewältigen.«
Es ist zu erwarten, dass die neurobiologischen Mechanismen dieses unverständlichen Prozesses in den nächsten Jahren aufgeklärt werden. Einzelne Symptome wie z. B. die merkwürdige motorische Hyperaktivität, die schon den Ärzten Ende des 19. Jahrhunderts aufgefallen ist, sind Gegenstand aktueller Forschung (Holtkamp et al. 2003). Die einzigen, die sich mit all ihren krankhaften Ideologien und Verhaltensweisen verstehen, sind die Magersüch-
tigen untereinander. Diese Erkenntnis bietet ein großes therapeutisches Potenzial. Beispiel
Ein Tag in meiner Krankheit »7 Uhr, welcher Tag ist heute? Ich bin hin- und hergerissen, denn auf der einen Seite habe ich absolut keine Motivation, aufzustehen, und am liebsten würde ich den Tag, besser gesagt, alle Tage, verschlafen. Aber auf der anderen Seite, wenn ich nur liege, verbrenne ich keine Kalorien, und das ist ja schließlich zu meinem Lebensinhalt geworden: Kalorien und Fett verbrennen. Kaum bin ich aufgestanden, wird mir auch schon schwarz vor den Augen. Es lässt mich aber mittlerweile völlig kalt, wie alles, was um mich geschieht. Man gewöhnt sich schließlich daran. Bei dem Gedanken, jetzt was essen zu müssen, wird mir schlecht. Missmutig nehme ich ein halbes Vollkornbrot zu mir. Ich packe meine Schulsachen und fahre mit dem Fahrrad los. Ich spüre, wie sich mein Körper anstrengen muss. Ich genieße es, denn ich weiß, dass ich nun Kalorien verbrenne, und schließlich muss ja das Frühstück wieder weg. Hab dich nicht so, Körper, du hast eh schon zu viel bekommen, als dir eigentlich zusteht. Wie viele Kalorien und Fett hat ein halbes Vollkornbrot? Schließlich darf ich nicht noch mehr Fett zu mir nehmen. Das einzig Positive ist, dass meine Freundin immer Nutella-Brot zum Frühstück isst, doch trotzdem ist sie so dünn und alle sagen es ihr. Ich sitze apathisch in der Schule, Würde es eigentlich jemandem auffallen, wenn ich nicht da wäre? Wohl kaum. Alle anderen haben Röcke und T-Shirts an, ich aber friere trotz meines dicken Pullovers. Zusammengekauert vor Kälte sitze ich da. Und es geschieht wie so oft in der letzten Zeit: Zuerst vernehme ich ein Pochen in meinen Ohren, dann machen sie zu und ich höre meine Stimme dreimal so laut, und die anderen Geräusche gleichen einem dumpfen Flüstern. Als nächstes wird mein Daumen, dann die ganze Hand taub, dasselbe geschieht mit meinen Zehen und Füßen. Schließlich sind sie blau angelaufen, und ich spüre nichts mehr von ihrer Existenz. Sie gleichen einer leeren Hülle. Endlich Pause. Ich stehe auf, alles dreht sich, verschwimmt und wird schließlich schwarz. Ich taste nach dem Tisch, um nicht umzukippen. Abwesend stehe ich bei meinen Freundinnen. Essen sie auch alle etwas? Ich stehe da, tue so, als würde ich dem Gespräch folgen, doch in Wirklichkeit bin ich in meiner eigenen Welt. Der Schultag zieht an mir vorbei, und außer Kalorienzählen, Schwindel, Frieren, tauben Gliedmaßen und dumpfen Geräuschen nehme ich schon lange nichts mehr wahr. In der Mittagspause gönne ich mir einen Apfel. Ich habe ja 7. und 8. Stunde Sport, da verbrenne ich das alles schon wieder. Dann fahre ich mit dem Fahrrad nach Hause, meine Knie fühlen sich an wie Gummi und meine Waden sind taub. Zu Hause angekommen trinke ich erstmal literweise Wasser. Dann esse ich eine Drittel Gurke und zwei Tomaten. Ist das zu viel? Wieder wird mir kalt. Mein Kreislauf ist total heruntergefahren. Ich lasse mich auf den Wohnzimmerteppich fallen. Ich zittere am ganzen Körper. Meine Beine, meine Arme und mein Gesicht sind blau angelaufen. Ich spüre meinen Körper nicht mehr. Erst mal eine heiße Dusche nehmen, warm anziehen und viel Wasser trinken. Dann beginne ich zu lernen, das lenkt ab, um nicht an Essen denken zu müssen. Und außerdem muss ich schließlich Leistungen erbringen, möglichst die besten. Ich muss besser sein als alle anderen, sonst bin ich mir noch weniger wert. Dann auch noch Abendessen. Ich nehme mir 2 Esslöffel Reis und eine Paprika. Genau beobachte ich, was jeder einzelne meiner Familie isst. Ich ziehe mich mit 2 Liter Wasser und einem Kochbuch für Süßspeisen in mein Zimmer zurück und träume davon, was ich einmal essen kann, wenn ich noch mehr abgenommen habe. Und ich schmiede Pläne, wie ich meine Familie dazu bewegen könnte, die kalorien-
223 28.1 · Anorexia nervosa
reichsten Speisen zu verzehren. Meine Gedanken sind ein einziges Chaos. Wie viele Kalorien habe ich gegessen, was habe ich davon verbrannt, was wird meine Freundin heute noch gegessen haben? Sicher nichts mehr, sie ist ja nicht so gefräßig wie ich. Ich betrachte mich im Spiegel und taste meine Hüftknochen, Schultern und Schlüsselbeine ab, um zu prüfen, ob das Fett endlich weggegangen ist und die Knochen sichtbarer geworden sind. So, noch ein paar Sit-ups, das muss sein, der Bauch muss schließlich weg. Meine Wirbelsäule und Beckenknochen schmerzen bei dem Kontakt mit dem Boden, aber es gehen noch 10 und noch 10 und... Der Bauch muss schließlich weg. Die Gedanken kreisen aber weiter und wollen einfach nicht zur Ruhe kommen. Morgen werde ich weniger essen, morgen werde ich mich mehr bewegen. Du bist ein Versager. Du bist jetzt auch schon zu schwach geworden, um joggen zu gehen. Das einzige, was du kannst, ist essen, an Essen denken und frieren. Und doch habe ich Angst, einzuschlafen, einzuschlafen und nicht mehr aufzuwachen, da mein Herz einfach aufgehört hat zu schlagen. Es ist der Widerspruch in mir, der mich ebenfalls quält. Zum einen hasse ich mich so sehr und will mich bestrafen, und zum anderen habe ich dann doch Angst vor der endgültigen Bestrafung, dem Tod. Ich weiß, warum, und ich hasse mich, und ich denke, die Selbstbestrafung zu verdienen! Hilfe, ich brauche Hilfe, werde ich morgen abgenommen haben? Morgen werde ich mich auch mehr bewegen, falls es für mich ein Morgen gibt.«
28.1.8
Medizinische Komplikationen
Art und Schweregrad von medizinischen Komplikationen hängen davon ab, ob ein Patient an einer restriktiven (asketischen) Form einer Anorexia nervosa leidet oder ob ein Binge-purgingTyp, also eine bulimische Form der Anorexie, vorliegt, und welche Art von kompensatorischen Maßnahmen zur Gewichtsregulation eingesetzt werden. Die wichtigsten Bedingungen, die zum Auftreten von Komplikationen führen, sind folgende: 4 Mangel- und Unterernährung; dabei ist nicht nur die allgemeine Reduktion von Nahrungsmitteln von Bedeutung, sondern ebenso die qualitative Einschränkung, also ein Mangel an wichtigen Nährstoffen, Mineralsalzen oder Spurenelementen 4 Häufiges Erbrechen; zu bedenken ist nicht nur der Flüssigkeitsverlust, etwa bei mehrmals täglichem Erbrechen, und damit auch Verlust von Elektrolyten, sondern auch Schäden, die durch die Säure des Magensaftes hervorgerufen werden 4 Missbrauch von Medikamenten bzw. Nahrungsergänzungsmitteln 4 Übermäßige Flüssigkeitszufuhr 4 Motorische Hyperaktivität (exzessive Bewegungen) In Abhängigkeit von Dauer und Schweregrad der Anorexia nervosa sind medizinische Komplikationen unvermeidlich. Betroffen können nahezu alle Organsysteme sein, wenn auch in sehr unterschiedlicher Auswirkung. Eine rasche starke Gewichtsabnahme ist besonders bei Jugendlichen gefährlich, und eine akut bedrohliche Situation tritt ein, wenn Betroffene auch keine Flüssigkeit mehr zu sich nehmen. Cave Aber auch zu viel Flüssigkeit bringt Gefahren: Bei Konsum von mehreren Litern Wasser (bis über 10 Liter täglich trank eine 13-Jährige!) besteht die Gefahr einer Wasserintoxikation.
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Im Folgenden ist eine Auswahl von Begleiterscheinungen und Komplikationen aufgeführt. Herz-Kreislauf-System. Hypotension; Sinusbradykardie, beson-
ders nachts (z T. Werte unter 30/min; bei stark untergewichtigen Magersüchtigen ist ein Monitoring in den ersten Tagen angezeigt); Herzrhythmusstörungen in Form von Tachyarrhythmien, im EKG Verlängerung des QT-Intervalls; Mitralklappenprolaps; Perikarderguss meist mäßigen Grades. Der Herzmuskel kann sich verkleinern; Gefahr des Mitrallappenprolaps. Magen-Darm-System. Verzögerte Magenentleerung; verminder-
te Darmmotilität; Reflux-Ösophagitis; bei der bulimischen Form häufig Obstipation, eventuell auch im Zusammenhang mit einem Laxantienmissbrauch; ein solcher kann auch zu Diarrhoe führen. Sehr seltene, aber lebensbedrohliche Komplikationen sind eine Magenruptur, eventuell im Zusammenhang mit einem Syndrom der Arteria mesenterica superior. Eine wichtige Differentialdiagnose bei Störungen des Magen-Darm-Traktes sind chronisch entzündliche Darmerkrankungen, speziell Morbus Crohn. In einigen Fallberichten wird auf die zum Teil jahrelange Verzögerung der Diagnose einer entzündlichen Darmerkrankung wegen der Annahme einer Anorexia nervosa hingewiesen (Rickards et al. 1994; Blanchet u. Luton 2002). Niere. Eine hypokalämische Nephropathie kann im Zusammenhang mit dem Missbrauch von entwässernden Medikamenten auftreten. Leber. Bei starkem Untergewicht können die Transaminasen erhöht sein. Skelettsystem. Verminderung des Mineralsalzgehaltes von Kno-
chen, Gefahr der Osteoporose. Magersüchtige haben ein erhöhtes Frakturrisiko. Hautveränderungen. Trockene Haut, nicht selten Gelbverfärbung in Folge Hypercarotinämie. Lanugobehaarung. Elektrolyte. Verminderung von Natrium, Kalium, organischem
Phosphat und Calcium um Serum. Endokrine Störungen. Eine Amenorrhoe bzw. eine fehlende Me-
narche gehören zu den Leitsymptomen. Häufig bestehen ein Hyperkortisolismus und eine Schilddrüsenunterfunktion (T3 und T4 vermindert, TSH normal). Bei Beginn der Anorexie vor Einsetzen der Pubertät kann es zu einer Verzögerung bzw. zu einem Stopp des Wachstums kommen. Neurologische Störungen. Mit bildgebenden Verfahren ist eine
Erweiterung von inneren und äußeren Liquorräumen des Gehirns festzustellen. Diese als Pseudoatrophie schon lange bekannte Veränderung ist entgegen früherer Auffassung nicht voll reversibel. Kernspintomographisch lässt sich eine, wenn auch geringe, Reduktion von grauer und weißer Substanz nachweisen. Bei stark untergewichtigen Patienten ist manchmal eine Polyneuropathie mit Muskelschwäche, Reflexabschwächung oder -verlust und Sensibilitätsstörungen nachzuweisen.
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Kapitel 28 · Essstörungen
28.1.9
Magersüchtige in der ärztlichen Praxis
Patienten mit Anorexia nervosa werden von sich aus − auch im Stadium einer sichtbaren Unterernährung − niemals ihr restriktives oder bulimisches Essverhalten ansprechen. Ihren mageren Zustand verbergen sie geschickt unter weiter Kleidung. Einige kommen zu einer ärztlichen Untersuchung, weil sie wegen ihrer subjektiven Störungen Angst haben, an einer »ernsten Krankheit« zu leiden; darunter verstehen sie z. B. Krebs oder eine Entzündung. Hören sie nach einer oft nur oberflächlichen Untersuchung, es sei nichts Ernsthaftes zu finden, nehmen sie das als einen Beweis, noch ein bisschen radikaler hungern oder sich noch mehr bewegen zu können. Viele suchen ärztliche Hilfe wegen einer Reihe hauptsächlich gastrointestinaler Störungen. Sie klagen über Völlegefühl und begründen so etwa ihren schlechten Ernährungszustand, über Blähungen und nicht zuletzt Schmerzen im Bauchraum. Über Obstipation klagen manche in der Absicht, Abführmittel verschrieben zu bekommen. ! Die körperliche Untersuchung bringt oft keine richtungweisenden Befunde. Deshalb: Untersuchung ohne Kleider und mit Wiegen!
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Hat ein untersuchender Arzt in der Praxis den Verdacht, ein Patient könne an einer Magersucht leiden, dann ist es nicht ratsam, ihn daraufhin direkt anzusprechen. Fragen nach dem aktuellen Essverhalten oder nach sportlicher Betätigung oder nach den Vorstellungen einer gewünschten Figur können den Verdacht erhärten. Manchmal ist eine depressive Verstimmung nicht zu übersehen, und es wäre angebracht, danach zu fragen, wie der Betroffene mit seinem Leben zurechtkommt. Gefährdet sind auch stark untergewichtige Magersüchtige dann, wenn ihre Essstörung nicht erkannt wird. Davon betroffen sind hauptsächlich männliche Jugendliche und junge Erwachsene. Die Diagnose einer Anorexia nervosa wird erst nach manchmal aufwändigen klinischen Untersuchungen gestellt, wobei z. B. erniedrigte Schilddrüsenwerte, erhöhte Transaminasen oder endokrinologische Auffälligkeiten falsche diagnostische Wege weisen können. Ein zugegeben nicht immer verlässliches Zeichen in Richtung Essstörung kann die Diskrepanz zwischen geistiger Wachheit, Lebhaftigkeit und Eloquenz sein, die im krassen Gegensatz zu einem kachektischen Zustand steht.
28.1.10
Therapie
Wer immer die Diagnose einer Anorexia nervosa in Erwägung zieht oder stellt, muss eine pädiatrische/internistische Untersuchung durchführen oder veranlassen. Bei erheblichem Untergewicht, einer Gewichtsabnahme in kurzer Zeit, bei ungenügender Flüssigkeitszufuhr oder bei entsprechenden medizinischen Komplikationen (z. B. Elektrolytstörungen) ist eine umgehende stationäre Aufnahme der Patienten mit der Möglichkeit eines Monitoring unerlässlich. In die medizinische Diagnostik und initiale stationäre Therapie sollten, wenn immer möglich, Fachleute einbezogen werden, die mit Essstörungen, ihren Differentialdiagnosen und Komplikationen vertraut sind. Wenn erheblich untergewichtige Magersüchtige auf einer pädiatrisch-internistischen oder intensivmedizinischen Station untergebracht werden müssen, sind Beratungsgespräche mit dem behandelnden Team einschließlich der Krankenschwestern meist sehr hilfreich. Irritationen, die durch
anspruchsvolles, abweisendes oder arrogantes Verhalten und vor allem durch Täuschungen gerade bei Krankenschwestern ausgelöst werden, können auf diese Weise oft vermieden oder wenigstens abgemildert werden. Bei stark untergewichtigen Patienten ist eine anfangs vorsichtige Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr notwendig. Eine potentiell lebensbedrohliche Situation kann eintreten, wenn Magersüchtige im Stadium starker Unterernährung zu rasch aufgefüttert werden. Das durch Hyperalimentation bekannte Syndrom (RefeedingSyndrom) ist in seinem Pathomechanismus sehr komplex und in Einzelheiten noch nicht voll aufgeklärt (Crook et al. 2002; Afzal et al. 2003). Eine sehr wichtige Rolle spielt das anorganische Phosphat. Während einer chronischen Mangelernährung kommt es allmählich zu einer Entleerung der Phosphatspeicher. Wird nun plötzlich eine sehr hohe Energiemenge (parenteral, enteral oder oral) zugeführt, entsteht eine katabole Stoffwechsellage mit hohem Phosphatverbrauch, z. B. durch die Glycolyse. Unter anderem wegen eines akut auftretenden Phosphatmangels können schwerwiegende Funktionsstörungen verschiedener Organsysteme auftreten, darunter Muskelschwäche, Krämpfe, Zeichen einer akuten Enzephalopathie bis hin zum Koma; Blutungsneigung, Herzrhythmusstörungen, Elektrolytverschiebungen, Retention von Flüssigkeit mit Ödemen einschließlich Lungenödem. Bedrohlich ist ein Abfall des anorganischen Phosphats unter 1 mg/dl bzw. 0,30 mmol/l. Zu vermeiden ist das Refeeding-Syndrom durch eine initial sehr vorsichtige Zufuhr von Energie und Flüssigkeit unter Monitoring und anfangs täglicher Kontrolle des Phosphatspiegels (nicht nüchtern!). Zu empfehlen ist eine Energiezufuhr in den ersten Tagen um 20‒40 kcal pro kg Körpergewicht pro Tag. Ein schwieriges Problem ist die Ernährung über Sonde. Die Magensonde nimmt den Magersüchtigen gerade das, für was sie gehungert und sich gequält haben: die Kontrolle über ihren Körper. Bei akuter Lebensgefahr, etwa bei drohender Austrocknung oder bei einem begleitenden, gravierenden Infekt, kann eine parenterale oder enterale Flüssigkeits- und Nahrungszufuhr vorübergehend unumgänglich sein. Wir plädieren aber dafür, in jedem Fall zu versuchen, die Patienten zum Trinken in kleinen Mengen zu überreden. Wir empfehlen hochkalorische trinkbare Nahrung in regelmäßigen Zeitabständen am Tag. Wir erklären den Magersüchtigen, dass diese ausbalancierte Trinknahrung das geeignete Medikament zur Behandlung ihrer Krankheit sei. Gleichzeitig bemühen wir uns, einen möglichst konstruktiven Kontakt zu den Patienten herzustellen. Wir glauben nicht, dass eine bestimmte Gewichtsgrenze − von Extremwerten abgesehen − eine notwendige Voraussetzung für Gespräche ist. Auch in lebensbedrohlichen Situationen kann im Gespräch ein gemeinsames Bündnis gegen die Krankheit geschlossen werden. ! Von den medizinischen Komplikationen abgesehen, ist zur Behandlung der Anorexia nervosa die Psychotherapie die Methode der Wahl.
Ein Behandlungsregime mit Psychopharmaka hat sich bis jetzt nicht durchgesetzt. Bei einigen Patienten können aber z. B. Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) oder Olanzapin (Mehler et al. 2001) begleitende psychische Störungen, Angstzustände, quälende Zwangsmechanismen o. Ä. günstig beeinflusst werden. Vielfältige psychotherapeutische Methoden werden ambulant, teilstationär oder stationär angeboten. Bei Kindern und jungen Jugendlichen ist die Einbeziehung der Eltern, wo-
225 28.2 · Bulimia nervosa
möglich in Form einer Familientherapie, notwendig. Unerlässlich ist eine begleitende Ernährungsberatung bzw. Ernährungstherapie. Leitlinien zur Diagnostik und Therapie von psychischen Störungen (also auch der Essstörungen) im Säuglings-, Kindes- und Jugendalter, herausgegeben von den zugehörigen Fachgesellschaften, sind 2003 in 2. Auflage erschienen. Fazit
Voraussetzung für eine erfolgreiche Therapie ist der Wille der Betroffenen, die Magersucht, die oft über Jahre Lebensinhalt war, aufzugeben und neue Problemlösungsstrategien zu lernen.
28.2
Bulimia nervosa
28.2.1
Einleitung
Bulimie bedeutet soviel wie Stier- oder Ochsenhunger. In der Fachliteratur wird diese Essstörung als Bulimia nervosa bezeichnet; im deutschen Sprachgebrauch hat sich der Name Ess-BrechSucht durchgesetzt. Diese Bezeichnung ist deshalb nicht ganz zutreffend, weil andere zur Gewichtsregulierung eingesetzte Maßnahmen außer Erbrechen dabei vernachlässigt werden. »Ich habe keine Bulimie, weil ich nicht erbreche«, wird manchmal fälschlich argumentiert. Im Zusammenhang mit Magersucht war bulimisches Verhalten lange bekannt. Etwa die Hälfte der Magersüchtigen können ihr restriktives Essverhalten nicht aufrecht erhalten. Irgendwann geben sie einem äußeren Druck, dem »Stress in der Familie« oder dem unerträglichen Hungergefühl nach und essen eines Tages viel mehr als erlaubt und vor allem in ihren Augen verbotene Nahrungsmittel. Danach versuchen sie, zur Vermeidung einer Gewichtszunahme, das Gegessene möglichst rasch wieder loszuwerden. ! Aus der restriktiven Anorexia nervosa wird ein Binge-purging-Typ, und bei Überschreiten der BMI-Grenze von 17,5 geht die Anorexia nervosa in eine Bulimia nervosa über. Diese Form der Essstörung gibt es aber auch als eigenständige Krankheit, also ohne zeitlichen Zusammenhang mit einer Anorexia nervosa.
Aufgrund von wissenschaftlichen Untersuchungen, nicht zuletzt der Arbeit von G. Russel (1979), wurde diese Essstörung als Bulimia nervosa 1980 von der American Psychiatric Association als eigenständige diagnostische Kategorie in das DSM-III eingeführt und später auch in das internationale Krankheitsverzeichnis ICD-10 aufgenommen.
28.2.2
Definition
Im internationalen Verzeichnis der Krankheiten (ICD-10) ist die Bulimia nervosa folgendermaßen definiert:
F 50.2, Bulimia nervosa
5 Eine andauernde Beschäftigung mit Essen, eine unwiderstehliche Gier nach Nahrungsmitteln; der Patient erliegt
6
28
Essattacken, bei denen große Mengen Nahrung in sehr kurzer Zeit konsumiert werden. 5 Der Patient versucht, dem dick machenden Effekt der Nahrung durch verschiedene Verhaltensweisen entgegenzusteuern: selbstinduziertes Erbrechen, Missbrauch von Abführmitteln, zeitweilige Hungerperioden, Gebrauch von Appetitzüglern, Schilddrüsenpräparaten oder Diuretika. Wenn die Bulimie bei Diabetikern auftritt, kann es zu einer Vernachlässigung der Insulinbehandlung kommen. 5 Eine der wesentlichen psychopathologischen Auffälligkeiten besteht in der krankhaften Furcht davor, dick zu werden; der Patient setzt sich eine scharf definierte Gewichtsgrenze, deutlich unter dem prämorbiden, vom Arzt als optimal oder »gesund« betrachteten Gewicht. Häufig lässt sich in der Vorgeschichte mit einem Intervall von einigen Monaten bis zu mehreren Jahren eine Episode einer Anorexia nervosa nachweisen. Diese frühere Episode kann voll ausgeprägt gewesen sein, oder war eine verdeckte Form mit mäßigem Gewichtsverlust oder einer vorübergehenden Amenorrhoe.
Im Diagnoseverzeichnis der APA (DSM-IV) werden, wie bei der Anorexia nervosa, zwei Subtypen definiert, nämlich der purgingTyp und der non-purging-Typ, je nach dem, ob aktive Maßnahmen zur Vermeidung einer Gewichtszunahme getroffen werden. Bei der non-purging-Form der Bulimie bestehen die kompensatorischen Maßnahmen nach Heißhungerattacken in anschließendem Nahrungsverzicht und gesteigerter Bewegung (anorektischer Typ der Bulimie). Außerdem ist im DSM-IV eine zeitliche Dimension eingeführt: Die Frequenz der Heißhungerattacken und der kompensatorischen Maßnahmen müssen sich mindestens zweimal pro Woche über 3 Monate ereignen. Die ausgeprägte Abhängigkeit des Selbstwertgefühls von Körpergewicht und Figur ist im DSM-IV ein weiteres diagnostisches Merkmal für Bulimia nervosa. ! In den letzten Jahren gewinnt zunehmend eine besondere Form einer Essstörung mit bulimischem Verhalten an Bedeutung, die sog. Esssucht (Binge Eating Disorder, BED). Im Unterschied zur Bulimia nervosa unternehmen die Betroffenen nach einem Heißhungeranfall keine besonderen Maßnahmen zur Vermeidung einer Gewichtszunahme, so dass allmählich ein Übergewicht auftritt.
Im Diagnoseverzeichnis ICD-10 wird die Esssucht als Binge-Eating-Störung in der Kategorie der »Nicht näher bezeichneten Essstörungen«, (NNB, F 50.9) aufgeführt. Im DSM-IV sind für wissenschaftliche Studien Diagnosekriterien definiert; dazu gehören Ekelgefühle gegenüber sich selbst im Zusammenhang mit Essanfällen und ein deutliches Leiden unter dieser Störung. Genügende Studien zur Epidemiologie gibt es zur Esssucht noch nicht. Die Frage, ob die Binge-Eating-Disorder als eigenständige Form einer Essstörung abgegrenzt werden soll, wird noch diskutiert (Devlin et al. 2003). Aus einer neuen belgischen Studie geht hervor, dass unter übergewichtigen Kindern und Jugendlichen im Alter von 10‒16 Jahren, die zu einer gewichtsreduzierenden Behandlung kamen, nur 1% die diagnostischen Kriterien einer BED erfüllten (Decaluwe u. Braet 2003).
226
Kapitel 28 · Essstörungen
28.2.3
Epidemiologische Daten
Wie die Magersucht, ist die Bulimia nervosa eine Krankheit von heranwachsenden Mädchen und jungen Frauen. Die Prävalenz wird in der Literatur mit 1‒5% angegeben. Daten zwischen den 1970er und 1990er Jahren sprechen außerdem für eine Zunahme der Inzidenz. Im Vergleich zur Anorexia nervosa beginnt die Bulimie vermutlich etwas später; es gibt jedoch keine genügenden Untersuchungen über diese Krankheit im Kindes- und Jugendalter. Auch für die Bulimie gilt, dass die Krankheitsverzeichnisse ICD und DSM für die diagnostische Klassifikation von Kindern und Jugendlichen problematisch sein können. In den meisten Studien zu Häufigkeit und Verlauf der Bulimie sind für die Klassifikation die Merkmale nach DSM-III-R oder DSM-IV zugrunde gelegt. Seit der Einführung von DSM-III-R 1987 besteht das Kriterium der Häufigkeit von Essanfällen, und es kann vermutet werden, dass etwa im Kindesalter die geforderte Regelmäßigkeit über 3 Monate nicht gegeben ist.
Gleiches trifft auf komorbide Persönlichkeitsstörungen zu, insbesondere der emotional instabilen Persönlichkeitsstörung Borderline-Typus. Die Borderline-Störung ist nicht selten mit einer Bulimie korreliert und setzt sich wie diese in das Erwachsenenalter fort. Eine Traumatisierung in der Vorgeschichte, z. B. ein sexueller Missbrauch, der bei Borderline-Störung als besonders häufig angegeben wird, findet sich bei bulimischen Patienten nicht häufiger als bei anderen psychischen Krankheiten.Die Beachtung einer psychischen Störung oder Krankheit zusätzlich zur Bulimie − oder einer anderen Essstörung − ist deshalb besonders wichtig, weil sich unterschiedliche therapeutische Strategien, etwa Einzel- vs. Gruppentherapie ergeben können. Ein besonders schwieriges Problem ist die Entwicklung einer Bulimie bei jugendlichen Patienten mit Typ-I-Diabetes. Diese Kombination, die u. a. zu einer höheren Rate an Komplikationen des Diabetes führt, erfordert eine enge, wenn nötig auch längerfristige Zusammenarbeit zwischen Diabetologen und Essstörungsspezialisten (Olmsted et al. 2002).
28.2.6 28.2.4
28
Die Bulimie geht, wie die Anorexia nervosa, in das Erwachsenenalter über. Im Vergleich zur Magersucht gibt es für die Bulimie weniger Untersuchungen zum Krankheitsverlauf. Eingehend haben sich Quadflieg und Fichter (2003) mit diesen Problemen auseinander gesetzt. Die Rückfallquote ist offensichtlich in den ersten beiden Verlaufsjahren mit bis zu einem Drittel am höchsten und verringert sich nach 10 Jahren. Die Angaben über den Anteil chronischer Verläufe variieren zwischen 25 und 50%. Cave Die Sterblichkeit an Bulimia nervosa ist geringer als die der Magersucht und beträgt zwischen 1 und 3%.
28.2.5
Ursachen
Krankheitsverlauf
Komorbidität
Wie bei der Anorexia nervosa gibt es auch bei der Bulimie psychische Störungen wie depressive Verstimmungen, dysthyme Störungen oder Angststörungen. Nicht selten verschwinden entsprechende Symptome, wenn die Behandlung der Bulimie erfolgreich verläuft. Die genannten psychischen Störungen kann es aber auch als eigenständige Diagnosen im Sinne der Komorbidität geben; komorbide Störungen können auch unabhängig von der Essstörung beginnen oder diese überdauern. Bei etwa einem Drittel der Patienten mit einer Bulimie besteht ein Substanzmissbrauch oder eine Abhängigkeit, hauptsächlich von Alkohol und Stimulantien (DSM-IV, deutsche Ausgabe 1996). Auch diese Angaben betreffen das Erwachsenenalter. Die gegenwärtig zu beobachtende Zunahme des Konsums von Alkohol, verschiedenen Substanzen und Drogen bei Jugendlichen wird sicherlich zu Untersuchungen über die Kombination mit Essstörungen bei Jugendlichen führen. Auch wenn Studien zu dem Ergebnis kommen, dass ein komborbider Alkohol- oder Substanzmissbrauch die Prognose der Bulimie nicht negativ beeinflusst, so kann in der Praxis, etwa in einer Therapieeinheit, der vermehrte Alkohol- oder Drogenkonsum Einzelner große Probleme verursachen.
Für die Bulimia nervosa gelten grundsätzlich die gleichen ätiologischen Überlegungen wie bei der Anorexia nervosa, allerdings mit unterschiedlicher Gewichtung. Auch bei der Bulimie wurden genetische Einflüsse nachgewiesen. In den Familien finden sich häufiger als bei Magersucht andere psychische Auffälligkeiten wie affektive Erkrankungen, Alkohol- und/oder Drogenmissbrauch bzw. -abhängigkeit und andere Formen von Essstörungen. Auch bulimisch Kranken wird ein deutlich vermindertes Selbstwertgefühl zugeschrieben. Als weiteres Charakteristikum der Persönlichkeit später bulimisch Kranker gilt eine im Vergleich zu Gesunden erhöhte Neigung zu impulsiven Handlungen und zu bewusst herbeigeführten Selbstverletzungen. ! Einen wesentlich höheren Stellenwert als bei der Anorexia nervosa muss den soziokulturellen Einflüssen auf Ursache und Zunahme der Bulimia nervosa zugesprochen werden.
Das seit der Mitte des vergangenen Jahrhunderts vorherrschende Schlankheitsideal verführt diejenigen, welche der vorgegebenen Figur auf Dauer nicht durch verhaltene Nahrungszufuhr entsprechen können, zu Gegenmaßnahmen. Wie schon im Zusammenhang mit Magersucht erwähnt, sind Kinder in einem erschreckend hohen Prozentsatz mit ihrer Figur nicht zufrieden und nicht wenige unternehmen etwas dagegen. Wenn sich individuelle Eigenschaften wie niedriges Selbstwertgefühl und erhöhte Impulsivität bei einem jungen Menschen mit dieser Unzufriedenheit mit der eigenen Figur kombinieren, so ist der Weg in die Bulimie vorgezeichnet. Die Bedeutung des beherrschenden schlanken Schönheitsideals für die Entstehung der Bulimia nervosa wird durch Untersuchungsergebnisse unterstrichen, nach denen Bulimie in Ländern der Dritten Welt nur dort vorkommt, wo westliche kulturelle Einflüsse bestehen (Keel u. Klump 2003).
28.2.7
Bulimisch Kranke
Während Magersüchtige lange Zeit ihr krankhaftes Verhalten wie einen geheimen Schatz hüten, verheimlichen bulimisch Kranke
227 28.3 · Therapiekonzept des TCE
Essanfälle, Erbrechen oder sonstige Gegenmaßnahmen, weil sie sich für ihr Verhalten schämen. Es gelingt ihnen, Eltern, Freunde und sogar Partner manchmal jahrelang zu täuschen. Für das perfekte Doppelleben ist ein hoher Aufwand an täglicher Organisation notwendig, welche der nötigen Kraft für ein anorektisches Leben in nichts nachsteht. Häufen sich die Essanfälle, so wird für gewöhnlich die Beschaffung der Nahrungsmittel auch zu einem finanziellen Problem. Zunächst häufen sich häusliche Klagen über geleerte Kühlschränke, dann über Fehlbeträge in der Haushaltskasse. Entwendungen in Lebensmittelgeschäften sind keine Seltenheit. Manchmal gewinnt aber Stehlen von Gegenständen, die nichts unmittelbar mit dem Essen zu tun haben, eine andere Dimension; es kann an die Stelle eines Fressanfalles treten, quasi als Genugtuung für Kränkungen, vermeintlich erlittenes Unrecht oder aus Frustration. Eine erniedrigte Toleranz, Frustrationen zu ertragen, rechnen wir zu den Symptomen der Bulimie. Bulimische Patienten sind manchmal arrogant, häufig sehr fordernd, auch in der Therapie. ! Selbstverletzungen, Ritzen, Schneiden, sich Verbrennen, finden wir bei bulimischen Patienten − deutlich mehr als bei magersüchtigen − auch dann, wenn wir keine komorbide Borderline-Persönlichkeitsstörung diagnostizieren.
Die Selbstverletzung kann auch darin bestehen, dass die Jugendliche sich sinnlos betrinkt oder sich wahllos flüchtigen sexuellen Kontakten hingibt, für die sie sich danach verachtet. Beispiel Gedanken aus den Aufzeichnungen bulimisch Kranker: »Essen bedeutete mir alles. Essen war mein Leben, mein Halt, meine Struktur, Ersatz für Beziehungen, Freunde, Entspannung, Tröster, einfach alles.« »In wilder Gier stopfte ich alles in mich hinein, Tag für Tag, immer und immer wieder. Ich konnte und wollte die Hoffnung nicht aufgeben, doch eines Tages wohlig, befriedigt, satt und zufrieden zu sein. Aber dieser Tag kam nicht. Stattdessen wurde ich immer einsamer, lebte mein Doppelleben und hasste mich bis zum Gehtnichtmehr.« »Beim Fressen konnte ich für kurze Zeit meine Selbstkontrolle abgeben. Beim Erbrechen konnte ich meine Gefühle wegmachen.« »Ich habe gefressen und gekotzt, um nichts mehr fühlen zu müssen.« »Ich habe meinen Körper, meine Gesundheit, meine Intelligenz, alle mei ne Träume systematisch mit dieser Bulimie zerstört. Ich will nicht so weiterleben. Ich muss umkehren, aber ich weiß nicht, wie.«
28.2.8
Medizinische Komplikationen
Schweregrad und Art von medizinischen Komplikationen werden von der Frequenz der Essanfälle und der Art von kompensatorischen Maßnahmen bestimmt. Bestand in der Vorgeschichte eine anorektische Phase, so sind auch die dort beschriebenen Komplikationsmöglichkeiten zu erwägen. Im Vordergrund stehen Komplikationen von Seiten des Magen-Darm-Systems, nämlich Magenerweiterung (sehr selten Magenruptur!) und Störung der Darmmotilität. Bei häufigem Erbrechen ist eine Reflux-Ösphagitis kaum zu vermeiden. Eine große Rolle spielen Elektrolytveränderungen, vor allem im Zusammenhang mit Medikamentenmissbrauch.
28
Orofaziale Störungen
Durch die Säure des Magensaftes kommt es zu Schäden am Zahnschmelz. Eine ausgeprägte Karies bei Jugendlichen kann ein Hinweis auf eine Bulimie sein! Außerdem kommt es zu Drüsenschwellungen, besonders der Ohrspeicheldrüsen. Endokrine Störungen
Auch bei Bulimie können endokrine Störungen auftreten, meist aber in geringerem Ausmaß als bei der Anorexie. Zyklusstörungen sind auch bei Bulimie nicht selten (Bülchmann et al. 2001).
28.2.9
Bulimisch Kranke in der Praxis
Die meisten bulimischen Patienten haben ein Körpergewicht im Normbereich und die Essstörung ist ihnen nicht anzusehen. Ein Hinweis auf eine Bulimie sind die sichtbaren Schwellungen der Ohrspeicheldrüsen. Wird der Würgereflex durch »Finger-inden-Hals-Stecken« ausgelöst, finden sich manchmal Verätzungen an der Rückseite der Finger oder der Hand. Am häufigsten kommen bulimische Patienten wegen Magenund Darmbeschwerden in die Praxis. Sie klagen über Sodbrennen, manchmal Schmerzen hinter dem Brustbein, über Völlegefühl, Darmträgheit oder Verstopfung. Dabei kann das Verlangen nach der Verschreibung von Abführmitteln im Vordergrund stehen. Bei täglichen oder mehrmals täglichen Fressanfällen mit anschließendem Erbrechen können Kreislaufstörungen oder das Gefühl einer allgemeinen körperlichen Schwäche Anlass für einen Arztbesuch sein.
28.2.10
Therapie
Auch für die Behandlung der Bulimia nervosa sind psychotherapeutische Verfahren die Methode der Wahl. Allerdings wurde in einigen Studien gezeigt, dass die Gabe von Psychopharmaka, speziell Serotonin-Reuptake-Hemmern, die psychotherapeutischen Ergebnisse verbessern und Rückfallquoten verringern kann. In den meisten Ländern werden ambulante oder teilstationäre Verfahren bevorzugt. Nach den »Leitlinien« gibt es spezielle Indikationen für eine stationäre Behandlung, nämlich medizinische Komplikationen (z. B. ausgeprägte Elektrolytstörungen), eine hohe Frequenz von Essattacken oder häufiges Erbrechen und eine Kombination mit anderen Störungen der Impulskontrolle wie Selbstverletzungen, Substanzmissbrauch, Borderline-Persönlichkeitsstörung.
28.3
Therapiekonzept des TCE
Wir haben am Münchner TCE ein eigenes Therapiekonzept für Essstörungen entwickelt (Gerlinghoff u. Backmund 1995). Wir behandeln Patienten im Alter von 15‒30 Jahren mit Anorexia nervosa, Bulimia nervosa oder Esssucht (Binge-Eating-Disorder) gemeinsam. Das Therapiekonzept ist kognitiv-verhaltenstherapeutisch ausgerichtet unter Einbeziehung von Elementen des Selbstmanagements nach Kanfer (Kanfer 1996). Der Therapieplan ist inhaltlich und zeitlich strukturiert; er ist in aufeinander folgende Phasen unterteilt. Kernstück ist eine zur Zeit viermonatige tagklinische Phase, gefolgt von einer ebenfalls vier Monate
228
Kapitel 28 · Essstörungen
dauernden ambulanten Behandlungsphase. Alle therapeutischen Maßnahmen erfolgen überwiegend in der Gruppe. Im Einzelnen ist das Therapieprogramm aus folgenden Bausteinen zusammengesetzt: 4 Verhaltenstherapeutische Gruppentherapie (Psychoedukation) 4 Ernährungstraining 4 Körperwahrnehmungstraining 4 Kreative Therapie 4 Entspannungstherapie 4 Medizinisch-therapeutisches Wohnen
28
Neben der Behandlung in Gruppen haben sich unsere 1993 eingerichteten Wohnplätze als wichtigste therapeutische Maßnahme erwiesen. In vielen Fällen ist für uns die Kombination von Tagklinik mit Wohnen die bessere und kostengünstigere Alternative zu einer vollstationären Behandlung. Die Ziele unserer Behandlung sind: 4 Wiedererlernen eines normalen, nicht angstbesetzten Essverhaltens und Akzeptanz des eigenen Körpergewichts im Normbereich 4 Überwindung sonstiger krankheitsspezifischer Ideologien und Verhaltensweisen 4 Förderung der Lebenskompetenz durch Vermittlung von Strategien zur besseren Bewältigung von emotional belastenden Ereignissen Die Behandlung von Patienten mit Essstörungen in spezialisierten Einheiten hat sich nicht nur in unserem Centrum seit 1989 bewährt; sie entspricht auch internationalen Empfehlungen (Palmer u. Treasure, 1999). Wir vertreten die Meinung, dass etwa in Einrichtungen der Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie Essgestörte auf einer Station gemeinsam behandelt werden sollten, auch wenn sie ein unterschiedliches Alter haben. Das therapeutisch nutzbare Verständnis untereinander und die gegenseitige Hilfe erleben wir immer wieder als beeindruckend. Eine oft behauptete gegenseitige negative Beeinflussung Essgestörter untereinander haben wir nicht beobachtet. Wir sind der Überzeugung, dass nicht nur Magersüchtige, sondern ebenso Patienten mit einer Bulimia nervosa Essen wieder richtig lernen müssen. Bei Essen in der Gruppe ist nicht nur die Nahrungsmenge vorgegeben, sondern auch die Zeit, in der z. B. ein Mittagessen eingenommen wird. »Verschlingen« ist ein Symptom, das in der Gruppe sofort angesprochen wird. Große Hilfe bietet den bulimischen Patienten auch das Zusammenleben in einer Kleingruppe in den Wohnungen. Ein »Rückfall«, etwa Erbrechen nach dem Essen, lässt sich in einer Gruppe von »Experten« schlechter verheimlichen als in einer stationären Behandlung. Andrerseits sind Essgestörte, die in der Behandlung schon weiter fortgeschritten sind, eine große Hilfe für diejenigen, die am Anfang voller Angst vor ihrem Teller sitzen. Ein praktisches Esstraining ist in der Behandlung Essgestörter unverzichtbar. Um bei Jugendlichen mit einer Essstörung möglichst frühzeitig einen Behandlungsbeginn zu erreichen, haben wir im Juni 2002 eine Kooperation mit einer pädiatrischen Abteilung (Krankenhaus Dritter Orden München) begonnen. Magersüchtige mit einem BMI von 15 oder darunter, bulimisch Kranke mit häufigen Essattacken, Patienten mit dem dringenden Verdacht auf medizinische Komplikationen überweisen wir aus medizinischen Gründen in die Kinderklinik. Dort werden Diagnostik, Beobach-
tung oder Behandlung durchgeführt. Außerdem wird sofort mit einem speziellen Essprogramm mit hochkalorischer Trinknahrung nach Stundenplan begonnen und versucht, die Patienten zu einer anschließenden Psychotherapie, stationär, tagklinisch oder ambulant zu motivieren. Von über 30 Patienten hat sich bis jetzt noch niemand – auch nicht die Eltern – gegen eine Aufnahme in der pädiatrischen Klinik entschieden und in einem hohen Prozentsatz ist es gelungen, eine notwendige Psychotherapie zu beginnen. Die Zusammenarbeit schließt eingehende Informationen des pädiatrischen Behandlungsteams und regelmäßige Visiten und Beratungen mit ein. Wir hoffen, dass wir mit dieser Kooperation, die auch andernorts beliebig zu organisieren wäre, zur Verbesserung der Prognose beitragen können. Fazit
Unter Essstörungen versteht man die Krankheiten Magersucht (Anorexia nervosa, ICD-10: F 50.0), die Ess-Brech-Sucht (Bulimia nervosa, ICD-10: F 50.2) und die Ess-Sucht (Binge Eating Disorder, ICD-10: F 50.9). Vor allem Magersucht und Bulimie beginnen überwiegend im Jugendalter und setzen sich ins Erwachsenenalter fort. Es sind schwerwiegende Krankheiten, die das Leben der Betroffenen erheblich beeinträchtigen. Psychiatrische Begleitkrankheiten wie Depressionen, Angst- und Zwangsstörungen und vielfältige medizinische Komplikationen bestimmen jeweils den Krankheitsverlauf. Die Sterblichkeitsrate der Magersucht ist mit ungefähr 6% die höchste unter allen psychischen Krankheiten in der hauptsächlich betroffenen Altersgruppe. Die Ursache der Essstörungen ist ungeklärt. Favorisiert wird ein multifaktorielles ätiologisches Modell mit einer Mischung aus biologischen, individuellen und soziokulturellen Risikofaktoren. Nach bisherigen Erkenntnissen besteht eine genetische Krankheitsdisposition, wahrscheinlich unterschiedlich für Magersucht und Bulimie. Auch die soziokulturellen Einflüsse auf die Entstehung von Magersucht und Bulimie sind unterschiedlich stark zu bewerten. In der Therapie dominieren psychotherapeutische Verfahren verschiedener Art unter Berücksichtigung des Erkrankungsalters. Wir bevorzugen eine kognitiv-verhaltenstherapeutische Gruppentherapie in einem tagklinischen Behandlungsmodell. In diesem Konzept hat sich seit 1993 Wohnen als therapeutische Maßnahme außerordentlich bewährt.
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29 Adipositas H. Goldschmidt
29.1
Definitionen
Eine Adipositas liegt vor, wenn der Körperfettanteil an der Gesamtkörpermasse pathologisch erhöht ist. Als allgemeines Maß zur Beurteilung des relativen Gewichts hat sich der Body-MassIndex (BMI) durchgesetzt: Körpergewicht (in kg) BMI = 006 Körpergröße (in m2)
29
Die WHO hat 1997 für Erwachsene Untergewicht (BMI unter 18,5 kg/m2), Normalgewicht (BMI zwischen 18,5 und 24,9 kg/ m2) und Übergewicht (BMI von 25,0‒29,0 kg/m2) definiert. Ab einem BMI von 30 kg/m2 spricht man von Adipositas. Diese oben angeführten Werte sind für die Beurteilung des Gewichts von Kindern und Jugendlichen nicht brauchbar. Da der BMI im Kindes- und Jugendalter entsprechend den physiologischen Änderungen der prozentualen Körperfettmasse beeinflusst wird, muss man bei seiner Beurteilung alters- und geschlechts-
spezifische Besonderheiten berücksichtigen. Die Arbeitsgemeinschaft Adipositas im Kindes und Jugendalter (AGA: http://www. a-g-a.de) haben als Einteilung für das Gewicht von Kindern und Jugendlichen die von Kromeyer-Hauschild, Wabitsch, Kunze et al. 2001 veröffentlichten Perzentilenkurven für den BMI von Jungen und Mädchen empfohlen, die den Bereich von 0‒18 Jahren abdecken (. Abb. 29.1 und Abb. 29.2). Danach wurde festgelegt: Untergewicht ein Wert unter der 3. Perzentile, der Grenzbereich zum Untergewicht ein Wert zwischen der 3. und 10. Perzentile, ein Wert zwischen 10‒90. Perzentile ist das Normalgewicht, ‒ wir nennen dies auch »o.k.-Bereich« ‒, ein Wert zwischen der 90.‒97. Perzentile bedeutet Übergewicht und ein Wert oberhalb der 97. Perzentile Adipositas, oberhalb der 99,5. Perzentile extreme Adipositas.
29.2
Adipositas als Krankheit
Die AWMF-Leitlinien Adipositas im Kindes- und Jugendalter (http://www.awmf-online.de) definieren Adipositas als chronische
. Abb. 29.1. Perzentilkurven für den Body-Mass-Index von Jungen. (Abb. mit freundlicher Genehmigung von Danone und der AG Adipositas im Kinder- und Jugendalter)
231 29.2 · Adipositas als Krankheit
29
. Abb. 29.2. Perzentilkurven für den Body-Mass-Index von Mädchen. (Abb. mit freundlicher Genehmigung von Danone und der AG Adipositas im Kinder- und Jugendalter)
Krankheit und nicht als biologische Variante. Nach aktueller Sozialrechtssprechung stellt Adipositas nicht in jedem Fall eine Krankheit im sozialrechtlichen Sinn dar – insbesondere dann nicht, wenn sie lediglich durch eine statistische Normabweichung in Form eines erhöhten BMI definiert wird (Böhler u. Wabitsch 2004). Zum gegenwärtigen Zeitpunkt können zwei unterschiedliche Festlegungen des Krankheitswertes der Adipositas unterschieden werden: 1. Eine an einer statistischen Kenngröße (BMI) orientierte, wertneutrale (naturalistische) Definition der Adipositas als Krankheit, aufgestellt in den Leitlinien wissenschaftlicher Fachgesellschaften mit dem Ziel, die Handlungsfähigkeit des Arztes zu sichern (Wabitsch u. Kunze 2002). 2. Eine normative Krankheitsdefinition der Adipositas, die von den Sozialgerichten formuliert und angewandt wird mit dem Ziel, die Leistungsverpflichtung der gesetzlichen Krankenversicherung festzulegen.
Krankheitswert Der Krankheitswert der Adipositas im Kindes- und Jugendalter ergibt sich aus: 5 Funktionellen und individuellen Einschränkungen
6
5 Psychosozialen Beeinträchtigungen 5 Höherer Komorbidität im Vergleich zu Normalgewichtigen 5 Deutlich erhöhtem Morbiditäts- und Mortalitätsrisiko im Erwachsenenalter 5 Einschränkungen der Teilhabe nach ICF-Kriterien (7 Anhang)
Die gesundheitlichen Risiken der Adipositas im Erwachsenenalter sind wissenschaftlich gut belegt. Folgende aus der Erwachsenenmedizin bekannten Komplikationen finden sich bereits bei Jugendlichen:
Gesundheitliche Risiken 5 Arterielle Hypertonie 5 Hyperlipidämie 5 Insulinresistenz und Diabetes mellitus Typ 2 (Metabolisches Syndrom) 5 Schlafbezogene Apnoe und Hypoventilation 5 Orthopädische Probleme 5 Nichtalkoholische Steatosis hepatis (NASH)
6
232
Kapitel 29 · Adipositas
29.4 5 Die Adipositas bei Kindern und Jugendlichen stellt einen entscheidenden Risikofaktor für Adipositas im Erwachsenenalter dar 5 Polyzystisches Ovarsyndrom (PCOS) 5 Arteriosklerose 5 Atherosklerose 5 Hyperurikämie
Aus Sektionsbefunden und ersten Flussmessungen wissen wir, dass die Entwicklung der Arteriosklerose und der Atherosklerose bereits im Jugendalter beginnt. ! Auf ein besonderes gesundheitliches Risiko bei weiblichen Jugendlichen mit Adipositas sei hingewiesen. Besonders problematisch ist die Kombination: Adipositas, Nikotinabusus und die Einnahme der Pille. Bei diesen Patientinnen ist das Thromboserisiko sehr stark erhöht.
29
Mehrfach finden wir Patientinnen, die eine Mehrstufenembolie haben, nur mit Mühe und Not überleben, Marcumar einnehmen müssen und von ihrer mentalen Struktur her kaum bereit sind auf irgendetwas verzichten zu wollen. Alle diese Patientinnen haben einen Leidensweg hinter sich, weil man zunächst nicht an das Thromboserisiko bzw. an eine Lungenembolie denkt und viele diagnostische Umwege gemacht werden.
29.3
Einschränkungen der Teilhabe am sozialen Leben
Die ICF (International Classification of Functioning, Disability and Health) wurde von der Vollversammlung der WHO im Mai 2001 verabschiedet. Das bio-psycho-soziale Modell wurde mit der ICF erheblich erweitert und damit der Lebenswirklichkeit betroffener Personen besser angepasst. Insbesondere wird nun der gesamte Lebenshintergrund der Betroffenen berücksichtigt. Dies muss besonders bei der Adipositas der Jugendlichen beachtet werden. Adipöse Jugendliche gelten zu oft als faul, träge und krankheitsanfällig. Wenn auch in Deutschland keine Daten zu diesem Thema vorliegen, muss man davon ausgehen, dass bei der derzeitigen Lage am Arbeits- und Lehrstellenmarkt von einer deutlichen Benachteiligung ausgegangen werden kann. Wir beobachten immer wieder Jugendliche, denen man mehr oder weniger deutlich gesagt hat, dass sie für diese Lehrstelle nicht in Frage kommen. Bei mehreren Bewerbern, z. B. um eine Lehrstelle im Friseurberuf oder als Kosmetikerin oder in ähnlichen Berufen kommen adipöse Jugendliche nicht zum Zug, ebenso erleben wir oft Abiturienten, die ihre Aufnahmeprüfung bei einer Bank bestanden haben, diese Stelle erst dann bekommen, wenn sie ihr Gewicht reduziert haben. Dicke Jugendliche gehen nicht mehr ins Schwimmbad, werden im Sportverein in den Mannschaften nicht mehr aufgestellt, vom Sportunterricht befreit, solange gehänselt, bis sie sich völlig zurückziehen und dadurch in ihrem psychosozialen Zustand so reduziert werden, dass sie kaum noch Kontakte haben, es sei denn, über elektronische Medien.
Epidemiologie
Auf der Basis der aktuellen Referenzwerte der Arbeitsgemeinschaft Adipositas im Kindes- und Jugendalter (AGA: http://www. a-g-a.de) sind derzeit 10‒18% der Kinder und Jugendlichen in Deutschland übergewichtig (Definition: BMI über 90. Perzentile). Eine Adipositas liegt bei etwa 4‒8% vor (Definition: BMI über der 97. Perzentile). Das sind ungefähr zwischen 500.000‒ 1.000.000 Betroffene. In jüngeren Altersklassen sind etwa 10% übergewichtig und 4% adipös, in älteren Altersklassen 13‒18% übergewichtig und 5‒8% adipös. Jungen sind dabei zu einem beträchtlich höheren Anteil von Übergewicht und Adipositas betroffen als Mädchen (8,4% gegenüber 5%). Mädchen sind hingegen häufiger untergewichtig (BMI <10% : 15,1% gegenüber 9,9%) als Jungen (Zubrägel 2003). Es ist davon auszugehen, dass bei der Hälfte der adipösen Kinder und Jugendlichen mindestens eine Begleiterkrankung bzw. ein weiterer Risikofaktor vorliegt. Aus mehreren regionalen Untersuchungen in Deutschland wird deutlich, dass die Prävalenz von Übergewicht und Adipositas weiter im Ansteigen begriffen ist (Wabitsch et al. 2004). In den westlichen Industrienationen haben sich Übergewicht und Adipositas bei Kindern und Jugendlichen epidemisch verbreitet. Alarmierende Meldungen kommen auch aus China, vor allem aus den prosperierenden Städten wie Peking, Shanghai und Hongkong, wo die epidemische Ausbreitung vor allem durch steigenden Wohlstand, zunehmende Motorisierung und Familienplanung begünstigt wird. Die Ursachen für die rasche Zunahme von Übergewicht und Adipositas bei Kindern und Jugendlichen in den letzten 20 Jahren sind nicht eindeutig zu klären. Das Körpergewicht stellt eine komplex regulierte Größe dar, an dem genetische und Umweltfaktoren beteiligt sind. Übergewicht entwickelt sich durch ein Missverhältnis aus zu hoher Energiezufuhr aus Speisen und Getränken und zu niedrigem Energieverbrauch bei geringer körperlicher Aktivität. Der Lebensstil vieler Familien hat sich in den letzten Jahren geändert: 4 Längeres Fernsehen und Computerspielen sowie zunehmende Motorisierung verursachen Bewegungsarmut. 4 Ein nahezu unbegrenztes Angebot an geschmacklich attraktiven, aber energiedichten Lebensmitteln verändert das Essund Ernährungsverhalten. Nach Schätzungen, die vor allem auf Absatzzahlen der Lebensmittelindustrie beruhen, nahmen die US-Amerikaner in den letzten 20 Jahren kontinuierlich mehr Energie mit der Nahrung auf. Die Portionen werden immer größer, während sich die Menschen gleichzeitig immer weniger bewegen. 4 Der Wandel der Arbeit zu Beschäftigungsbedingungen mit Doppelverdienern beeinflusst Tischsitten und Esskultur. Speisen werden oft alleine und selten als Familienmahlzeit eingenommen. Aus diesen Gründen ist es sicher unwahrscheinlich, dass die deutliche Zunahme der Prävalenz von Adipositas und Übergewicht in den letzten 20 Jahren auf Veränderungen im menschlichen Genom zurückzuführen ist. Andererseits reagiert nur ein Teil der Bevölkerung unter diesen Veränderungen mit einem Anstieg des Körpergewichts. Das Niveau der 3., 10. und 50. Perzentile ändert sich kaum, wohingegen eine deutliche Zunahme bei der 90. und 97. Perzentile zu erkennen ist. Demnach werden die
29
233 29.5 · Ätiologie und Genese
schweren Kinder und Jugendliche immer schwerer, das Körpergewicht der leichten Kinder und Jugendlichen hat sich jedoch nicht verändert. Es muss also eine biologische und genetische Veranlagung prädisponieren für ein höheres Körpergewicht bei sich ändernden Umgebungsbedingungen. Ein weiterer Grund für das Ansteigen des Gewichtes scheint zu sein, dass Jugendliche erst dann zur Behandlung kommen, wenn Adipositas »weh tut«. Sie kommen dann nicht von Kinder-, Jugend- oder Hausärzten, sondern über orthopädische Fachkollegen, zu denen sie gegangen sind, weil sie Schmerzen in den Gelenken haben. Sie kommen, weil die Hänseleien zu stark geworden sind, weil sie gemobbt wurden. Sie kommen, weil ihre Leistungsfähigkeit massiv eingeschränkt wurde oder weil sie keine Lehrstelle gefunden haben. Es ist ein erstaunliches Phänomen, dass bei 16-jährigen Jugendlichen 120 kg vorher nicht bemerkt wurden, Striae am ganzen Körper oder extreme Gynäkomastie bei Jungen niemanden veranlassten, etwas dagegen zu unternehmen.
29.5
Ätiologie und Genese
! Familiäre Belastung (adipöse und übergewichtige Eltern), ethnische Zugehörigkeit (anderes Herkunftsland als Deutschland) und niedriger sozialer Status (niedriges Einkommen der Eltern, niedrige Schulbildung der Kinder und der Eltern) sind Risikofaktoren für die Entstehung einer Adipositas im Kindes- und Jugendalter.
Bei Jugendlichen mit extremer Adipositas ist von einer multikausalen Genese auszugehen. Zu nennen sind genetische, psychosoziale, familiäre und individuelle Faktoren, die sich wechselseitig beeinflussen und somit die Entstehung der extremen Adipositas begünstigen. Die Qualität und die Quantität der verursachenden Faktoren sind von Betroffenen zu Betroffenen verschieden. Während insbesondere für die Therapieplanung die Entstehungsmechanismen jeweils im Einzelfall zu analysieren sind, ist kritisch festzuhalten, dass sie nicht überinterpretiert werden sollten. Viele ätiologische Erkenntnisse zu den Entstehungsmechanismen sind vorläufiger Natur – demzufolge von gemutmaßten und nicht erwiesenen Mechanismen gesprochen werden sollte. Außerdem können im Verlauf einer Behandlung neue relevante Aspekte (z. B. ein Missbrauchserlebnis oder der nicht verarbeitete Tod des Vaters oder der Mutter) bekannt werden. Der Begriff multifaktorielle Vererbung liefert ein Modell, in das auch nicht-genetische Faktoren integriert werden können. Hiernach sind verschiedene Erbanlagen und Umweltfaktoren an der Regulation des Körpergewichtes beteiligt. Interindividuelle Variabilität der DNA-Sequenzen der entsprechenden Gene (sog. Allele) bedingt einen jeweils quantitativ unterschiedlichen Einfluss auf das Körpergewicht, wobei aufgrund der paarigen Anordnung der Genorte auf den Autosomen, rezessive, co-dominante und dominante Effekte zu unterscheiden sind. Bestimmte Allele disponieren in einem quantitativen unterschiedlichen Umfang zu Unter- bzw. Übergewicht (. Abb. 29.3). Adipositas ist in den westlichen Industrieländern, aber auch in vielen Schwellenländern zunehmend häufiger geworden. Diese Tatsache unterstreicht die Bedeutung der Umwelteinflüsse. Die Ernährungs- und Bewegungsgewohnheiten einer modernen Lebensweise treffen auf eine genetische Ausstattung des Menschen, die hierfür primär nicht geschaffen ist. Vielmehr erscheint es plausibel, anzunehmen, dass sich solche Allele, die sich zu Zeiten
Gewicht Genetik
Bewegung
Essverhalten
Befinden
ADIPOSITAS
. Abb. 29.3. Ursachen der Adipositas
knapper Futter- bzw. Nahrungsvorräte als vorteilhaft erwiesen hatten, im Verlauf der Evolution ausbreiteten. Die weite Verbreitung dieser Genvarianten bedingt nun, dass ein erheblicher Teil der Bevölkerung Übergewicht entwickelt (Hebebrand et al. 2004). 4 Individuelle Unterschiede in Art und Anzahl der zu Übergewicht prädisponierenden Allele entscheiden mit darüber, wann unter welchen Umweltbedingungen über welche Mechanismen und in welchem Umfang Adipositas resultiert. 4 Allele, die zur Adipositas prädisponieren, sind auf Molekularebene nur schwer zu identifizieren. Nichtsdestotrotz hat es in den letzten Jahren erste Durchbrüche gegeben. Es kann davon ausgegangen werden, dass sich die Identifikation relevanter Genvarianten in den nächsten Jahren erheblich beschleunigen wird. Schon jetzt erhebt sich die Frage, wie sich diese Erkenntnisse auf unser Verständnis der Adipositas, auf unseren Umgang mit übergewichtigen Individuen und auf Diagnostik und Therapie auswirken werden. Auf Organismusebene unterscheidet sich die Auswirkung spezifischer Umweltfaktoren auf das Körpergewicht in Abhängigkeit von den vorliegenden Allelen an allen relevanten Genorten. So kann sich beispielsweise ein spezifischer Umweltfaktor bei einem Individuum stark auswirken, ein zweites Individuum reagiert auf den gleichen Umweltfaktor bei anderer genetischer Ausstattung kaum oder gar nicht. Die derzeitig erhebliche Zunahme der Adipositasprävalenz muss überwiegend auf Umweltfaktoren zurückgeführt werden, obwohl durch vermehrte Partnerschaften zwischen adipösen Individuen auch eine genetische Mitbedingung möglich erscheint. Einerseits finden wir zwar vermehrt adipöse Patienten, die unverheiratet sind, andererseits kommt es im Vergleich zu früher zu vermehrten Partnerschaften unter Betroffenen, da die soziale Stigmatisierung der Adipositas stark zugenommen hat. ! Bis zu 80% der übergewichtigen Kinder haben zumeist ein übergewichtiges Elternteil. Mindestens 25% haben zwei übergewichtige Elternteile.
Jedoch kann hieraus nicht notwendigerweise auf die Wirksamkeit genetischer Faktoren geschlossen werden, da adipöse Eltern
234
29
Kapitel 29 · Adipositas
ihre Kinder auch durch ihre Ess- und Bewegungsverhalten prägen. Aufgrund der Zunahme von Partnerschaften extrem adipöser Personen tragen ihre Nachkommen aufgrund der bei beiden Eltern bestehenden genetischen Belastung und der Tradierung zu Adipositas prädisponierender Lebensweisen ein stark erhöhtes Risiko für die Entwicklung von Übergewicht und ganz besonders von extremer Adipositas mit sich. Es scheint nicht abwegig, diesen Paarungseffekt, der sich genetisch und nicht-genetisch auswirkt, für den beobachteten Prävalenzanstieg, insbesondere der ausgeprägten frühmanifesten Adipositas, mitverantwortlich zu machen. In die Erblichkeitsschätzung der Adipositas fließen also direkte und indirekte genetische Faktoren mit ein. Während gemeinsam erlebte Umweltfaktoren möglicherweise im Kindesalter noch Einfluss auf den BMI nehmen, scheinen mit zunehmendem Alter getrennt erlebte Umweltbedingungen stark an Bedeutung zu gewinnen. Der genetische Einfluss auf den BMI kann als Summe aller genetischen Einflüsse auf Stoffwechsel und Verhalten aufgefasst werden, die Energieaufnahme und -verbrauch bestimmen. Hiernach würden genetische Faktoren 50‒80% der Varianz des BMI erklären (Hebebrand et al. 2004). Die molekulargenetische Adipositasforschung ist momentan durch nur wenige »harte« Befunde gekennzeichnet. Alle bisher beim Menschen identifizierten Regelkreise, die an der Gewichtsregulation beteiligt sind, wurden zunächst bei Nagetieren entdeckt. Bei Menschen finden sich einige Genidentifikationen bei syndromalen Formen der Adipositas. Die übrigen Befunde betreffen seltene monogene Formen der Adipositas, die sich zudem von der »normalen« Adipositas durch das Vorliegen einer Reihe
. Abb. 29.4. Flussdiagramm 1: Untersuchungsplan. (Abb. Mit freundlicher Genehmigung der AG Adipositas im Kinder- und Jugendalter, http://www.a-g-a.de)
weiterer – insbesondere endokrinologischer – Auffälligkeiten unterscheiden und somit auch als syndromale Formen aufgefasst werden können (Hebebrand et al. 2004). 4 Personen mit Mutationen im Leptingen zeigen bereits im Säuglingsalter ein beständiges und ausgeprägtes Hungergefühl. 4 Bei 2,5% aller extrem adipöser Kinder und Jugendlicher in Deutschland finden sich Mutationen im Melanocortin-4-Rezeptor-Gen. Die nächsten Jahren werden eindrucksvoll darüber Aufschluss geben, welche und wie viele Erbanlagen an der Entstehung der Adipositas beteiligt sind. Dies gilt insbesondere für die extreme und frühmanifeste Adipositas. Bisher müssen wir sagen, dass die erhobenen Befunde keine Aussagen darüber rechtfertigen, wie z. B. ein normalgewichtiges Kind oder ein leicht übergewichtiges Kind später als Jugendlicher aussehen wird. Nur in Ausnahmefällen (1‒5%) ist die Adipositas das Symptom einer Primärerkrankung (Chen-Stute 2004). Seit langem bekannt sind: 4 Prader-Willi-Syndrom 4 Trisomie 21 4 Laurence-Moon-Bardet-Biedl-Syndrom 4 M. Cushing 4 Hypothyreose 4 Pseudohypoparathyreoidismus 4 Kraniopharyngiom 4 Trauma 4 Depression oder geistige Retardierung
Erstuntersuchung
Folgeuntersuchungen ausführliche Untersuchung
> 97. Perzentile Adipositas
(Flussdiagramm 2+3)
BMI
90.-97. Perzentile Übergewicht
< 90. Perzentile kein Risiko für Adipositas
Kontrolluntersuchung in einem Jahr
• • • •
Familienanamnese Blutdruck Gesamtcholesterin Gewichtsassoziierte Komorbidität • ∆ BMI groß • Besorgnis über das Gewicht
Wenn einer der Punkte auffällig ist
Wenn alle Punkte unauffällig sind
• Vermerk in der Krankenakte • Überwachung und Beratung durch den Kinder- und Jugendarzt • relatives Gewicht (BMI-SDS) halten • Nachuntersuchung in 1 Jahr
29
235 29.6 · Diagnostik
29.6
Diagnostik
Die Arbeitsgemeinschaft Adipositas im Kindes- und Jugendalter (AGA) hat nach Kriterien der Arbeitsgemeinschaft der wissenschaftlichen medizinischen Fachgesellschaft (AWMF) Leitlinien für die Adipositas im Kindes- und Jugendalter erstellt. Diese Leitlinien sind das Standardwerk für die sinnvolle Diagnostik bei Patienten für den Ausschluss anderer Primärerkrankungen und für die Diagnostik von syndromalen Formen der Adipositas. Sie hat dazu Flussdiagramme (. Abb. 29.4–29.8) aufgestellt für den Untersuchungsplan, den Ausschluss einer ursächlichen Primärerkrankung und die Ermittlung des Gesundheitsrisikos und der Komorbidität. . Abb. 29.5. Flussdiagramm 2: Ausschluss einer usächlichen Primärerkrankung. (Abb. Mit freundlicher Genehmigung der AG Adipositas im Kinder- und Jugendalter, http://www.a-g-a.de)
Ziel der Diagnostik ist: 4 Bestimmung des Ausmaßes der Adipositas 4 Ausschluss einer ursächlichen Primärerkrankung 4 Erkennung des Gesundheitsrisikos und der Komorbidität, wie z. B. endokrinologische, metabolische, orthopädische, respiratorische, dermatologische, psychiatrische Sekundärveränderungen Als Grundlage der Diagnostik sind eine ausführliche Anamneseerhebung, körperliche Untersuchungen und Labordiagnostik (Blutbild, Transaminasen, Harnsäure, TSH, Gesamt-Cholesterin, HDL-Cholesterin, LDL-Cholesterin, Triglyzeride, Blutzucker nüchtern) zunächst ausreichend, um den Grad des Übergewichtes zu bestimmen und assoziierte Erkrankungen zu erkennen.
Untersuchungsplan
Anamnese, ausführliche klinische Untersuchung
Diagnostikziel 2
Kein Anhalt für ursächliche Grunderkrankung
Chronische Krankheiten, die mit Immobilität einhergehen
Gestörtes Skelettwachstum*
Kleinwuchs oder Abweichen von der Größenperzentile nach unten
Rö linke Hand: Skelettalter:
ZNS-Ausfälle, Visusverschlechterung, Vegetative Störungen
Mentale Retardierung Dysmorphiezeichen
Medikamente, z.B.: Glukokortikoide Insulin Valproat Phenothiazine
Flussdiagramm 3 z.B.: Hypothyreose* Wachstumshormonmangel* M. Cushing*
Genetische Syndrome
Hypothalamisches Syndrom, Kraniopharyngeom weitere Diagnostik erforderlich (z.B. NMR oder CT Schädel) * für weitere Diagnostik und weiteres Vorgehen (s. auch Leitlinien der DGKJ)
236
Kapitel 29 · Adipositas
Flussdiagramm 2
kein Anhalt für ursächliche Grunderkrankung
Erkennen des Gesundheitsrisikos und der Komorbidität
immer: RR, TSH, Cholesterin, Triglyzeride, LDL-Cholesterin (nüchtern)
in Abhängigkeit von Familienanamnese und klinischem Befund
Hirsutismus
Prämature
29
Adrenarche
Ausschluss androgenisierender Tumore und AGS
Adrenale oder ovarielle Hyperandrogenämie PCOS**
Typ 2Diabetes mellitus bei 1.- oder 2.gradig Verwandten
Oraler GlucoseToleranztest ggf. Insulin
path. Glucosetoleranz, Typ 2 DM**
Hyperurikämie in der Familie
Hypercholesterinämie und/oder frühe Arteriosklerose u. Folgen bei 1.- oder 2.gradig Verwandten (Herzinfarkt oder Schlaganfall < 55 Jahre)
Harnsäure im Serum
Screening: Lipidstatus, Homozystein im Serum, Lipoprotein (a), u.a. im Serum, evtl. DNAAnalyse
SchlafApnoeScreening, Polysomnographie im Schlaf labor
Hyperurikämie
Erhöhtes Risiko für frühzeitige Arterioskleroseentwicklung und deren Folgen
Schlaf-ApnoeSyndrom, nächtliche Hypoventilation, Ronchopathie
Schnarchen, Schläfrigkeit tagsüber, Konzentrationsstörung, Enuresis nocturna
Hüft-, Kniegelenkschmerzen, Genu valgum, Knick-, Senk-, Spreizfuß, Wirbelsäulenfehlstellung
orthopädisches Konsil
z.B. Epiphyseolysis capitis femoris
** für weitere Diagnostik und weiteres Vorgehen (s. auch Leitlinien der DGKJ)
. Abb. 29.6. Flussdiagramm 3: Ermittlung des Gesundheitsrisikos und der Komorbidität. (Abb. Mit freundlicher Genehmigung der AG Adipositas im Kinder- und Jugendalter, http://www.a-g-a.de)
Eine psychosoziale Basisdiagnostik ist für das weitere therapeutische Vorgehen ebenso wichtig und sollte über die Eltern, bzw. deren Stellvertreter erhoben werden, da Kinder meistens Spiegelbilder der Familie bzw. ihres Umfeldes sind. Wenn sich bei der Erstuntersuchung Hinweise auf nichtalimentäre Adipositas ergeben und Verdacht auf eine Bulimie, Depression, endokrinologische Erkrankung oder eine genetische Ursache besteht, sind eine weiterführende Diagnostik und ggf. eine adäquate Therapie nö-
tig. Die Kooperation mit Kinder- und Jugendpsychologen sollte bei entsprechender psychologischer Grunderkrankung unbedingt angestrebt werden. Um das Risiko von sich entwickelnden Komorbiditäten im Jugend- und Erwachsenenalter beurteilen zu können, müssen bei der Anamnese neben der Dokumentation von Größe und Gewicht der Familienmitglieder auch adipositasrelevante Erkrankungen nachgefragt werden, wie Typ 2-Diabetes mellitus, Hyper-
237 29.7 · Therapie
2 bis 6 Jahre*
BMI 90. – 97. Perzentile
6 Jahre und älter
BMI > 97. Perzentile
BMI 90. – 97. Perzentile
Begleiterkrankungen
Relatives Gewicht (= BMI – SDS) halten
29
BMI > 97. Perzentile
Begleiterkrankungen
nein
ja
nein
ja
Absolutes Gewicht halten (= BMI – SDS reduzieren)
Gewicht (= BMI – SDS) abnehmen
Relatives Gewicht (= BMI – SDS) halten
Gewicht (BMI – SDS) abnehmen
Gewicht (BMI – SDS) abnehmen
* Kinder, die jünger als 2 Jahre sind, sollten an einen Spezialisten in einem pädiatrischen Zentrum zur Überprüfung der Indikation und zur Durchführung der Therapie verwiesen werden. Aufgrund des geringen langfristigen Risikos sollte bei Kindern, die jünger als 4 Jahre sind und deren Eltern nicht adipös sind, zunächst nur eine präventive Beratung durchgeführt werden.
. Abb. 29.7. Flussdiagramm 4: Vorgehensweise. (Abb. Mit freundlicher Genehmigung der AG Adipositas im Kinder- und Jugendalter, http://www.a-g-a.de)
tonie, Herzinfarkt, Schlaganfall, Arteriosklerose, Hyperurikämie. Die bei der Labordiagnostik erhobenen Werte von GesamtCholesterin, HDL-Cholesterin, LDL-Cholesterin, Triglyzeride, TSH, Harnsäure und Transaminasen korrelieren nicht unbedingt mit der Schwere der Adipositas. Sie müssen aber auch erhoben werden, um Verläufe beurteilen zu können. Pathologische Laborbefunde haben oft etwas mit dem unterschiedlichen Herkunftsland der Jugendlichen zu tun. Wir sehen sie vermehrt bei Immigranten. Eine molekulargenetische Diagnostik ist zum jetzigen Zeitpunkt, von Ausnahmen abgesehen, noch nicht sinnvoll, weil sie zum einen sehr teuer ist und zudem noch keine therapeutischen Konzepte existieren. Da die Diagnostik die Grundlage für die Therapieangebote für Kinder und Jugendliche ist, gehört es auch zur Diagnostik, sich ein Bild von den Essgewohnheiten zu machen, dazu gehören Informationen über die Steuerung des Essverhaltens, z. B. durch äußere Auslöser und über die Verhaltensmuster innerhalb der Familie. Weiter ist es wichtig zu wissen, inwieweit die Adipositas bereits zu Fähigkeitsstörungen bzw. zu Störungen der Teilhabe geführt hat.
5 5 5 5 5
Männliche Jugendliche mit ausgeprägter Adipositas zeigen häufig eine entstellende Brustentwicklung, meist als Fettbrust (Lipomastie) und seltener durch verstärkte Östrogenbildung im Fettgewebe als Gynäkomastie. Der Penis erscheint trotz normaler Größe aufgrund der Fettschürze verkleinert (Pseudomikropenis). Weibliche Jugendliche haben ein erhöhtes Risiko für eine übermäßige Bildung von männlichen Geschlechtshormonen (Hyperandrogenismus) mit vermehrter Körperbehaarung (Hirsutismus) und Zyklusstörungen bis hin zum Polyzystisches Ovarien-Syndrom (PCO-Syndrom). Letzteres ist meist kombiniert mit einer Insulinresistenz und vermehrter Insulinproduktion.
29.7 Kriterien der Diagnostik Bei Jugendlichen ist bei der Diagnostik auf folgende Dinge zu achten bzw. aus der Anamnese zu erheben (van EgmondFröhlich et al. 2004): 5 Gastroösophagialer Reflux bei extremer Adipositas 5 Asthmatische Beschwerden bei körperlicher Anstrengung und in Rückenlage
6
Anstrengunginduzierte Bronchialobstruktion Obstruktive Schlafapnoe Rötliche, später weißliche »Schwangerschaftsstreifen« Orthopädische Beschwerden Erhöhtes Risiko für das Abgleiten der Epiphyse des Hüftkopfes (Epiphysiolysis capitis femoris)
Therapie
Für die Durchführung einer Behandlung der Adipositas im Kindes- und Jugendalter gibt es zwei Voraussetzungen: 1. Die Bereitschaft bzw. die Motivationslage des betroffenen Kindes bzw. Jugendlichen und seiner Familie zur Änderung des Lebensstils – auf welcher Ebene auch immer 2. Die Therapie muss von jemandem bezahlt werden Als Ergebnis einer Konsensusrunde und unter Berücksichtigung der Urteile des Bundessozialgerichtes (Böhler 2004) können fol-
kurze Gliedmaßen
Endokrinopathien
Pseudohypoparathyreoidismus Typ Ia
Retinopathia pigmentosa
Hypospadie und/oder Skrotum bifidum
Bardet-BiedlSyndrom Mixoploidie (2n/3n)
Pigmentierungsanomalien
Campodaktylie oder Syndaktylie
Körperasymmetrie
nein
ja
Prader-WilliSyndrom
Hyperphagie
nein
Hörschwäche und/oder Sehverlust
Mutation im POMC-Gen
Alström-Syndrom
Hypogonadismus
Acanthosis nigricans und/oder Diabetes mell. (Typ II)
Offener Mund bei kurzem Philtrum, vorstehende Schneidezähne
Gonadendysgenesie (z.B. 48, XXYY) (vorw. männlich)
CohenSyndrom
Finger, Zehen lang Radioulnare Synostose
Hände, Füße schmal
Extreme Adipositas ACTH-Mangel Rothaarigkeit
Eunuchoider Habitus
(ja)
Muskelhypotonie
Mikrocephalie
Hypogonadismus
Kleinwuchs
Trinkschwäche erste Lebensmonate
nein
nein
nein
nein
nein
Geistige Entwicklungsbehinderung nein
Übergewicht
. Abb. 29.8. Flussdiagramm 5: Adipositas bei syndromalen Krankheiten. (Abb. Mit freundlicher Genehmigung der AG Adipositas im Kinder- und Jugendalter, http://www.a-g-a.de)
gedrungener Körperbau
Postaxiale Hexadaktylie
Ein Syndrom ist eher unwahrscheinlich
Extreme Adipositas hypogonadotropher Hypogonadismus
29
Mutation im Leptinoder LeptinRezeptorgen
238 Kapitel 29 · Adipositas
239 29.7 · Therapie
gende Indikationen zur Behandlung der Adipositas im Kindesalter abgeleitet werden: 4 BMI über 99,5. Perzentile (extreme Adipositas) oder BMI über 97. Perzentile und es liegen adipositasassoziierte Risikofaktoren vor, die durch Reduktion oder Stabilisierung des Körpergewichtes mit großer Wahrscheinlichkeit therapeutisch zu beeinflussen sind oder 4 BMI über 90. Perzentile und es liegen adipositasassoziierte Erkrankungen vor, die durch Reduktion oder Stabilisierung des Körpergewichtes mit großer Wahrscheinlichkeit therapeutisch zu beeinflussen sind. Als Risikofaktoren gelten die familiäre Belastung (Diabetes mellitus Typ 2 der Eltern, Herzinfarkt oder Schlaganfall vor dem vollendeten 55. Lebensjahr bei Verwandten 1. und 2. Grades) sowie der Nachweis einer Insulinresistenz oder Hypercholesterinämie. Krankheiten, für deren Behandlung eine Reduktion des erhöhten Körpergewichtes als notwendig angesehen wird, sind arterielle Hypertonie, Diabetes mellitus Typ 2, gestörte Glukosetoleranz, Syndrom der polyzystischen Ovarien und orthopädische Erkrankungen (sofern der Zusammenhang mit dem erhöhten Körpergewicht plausibel ist). Gegenwärtig bemühen sich verschiedene kompetente Gremien, wie z. B. AGA, AID (Informationsdienst für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten e.V.), KgAS (Konsensusgruppe Adipositasschulung) und die DGE (Deutsche Gesellschaft für Ernährung) um ein Stufenschema in der Therapie. Ebenso finden sich in den Leitlinien der Fachgesellschaft Rehabilitation in der Kinder- und Jugendmedizin, die von Herrn Mayer (Murnau) und Herrn Wabitsch (Ulm) herausgegebenen Leitlinien Adipositas (http://www.rehakid.de). Es gibt sehr viele Therapieangebote auf dem Markt. Viele richten sich nach den evidenzbasierten Leitlinien der AGA. Die Therapie kann sowohl ambulant als auch stationär erfolgen. Bei einer stationären Behandlung muss begründet werden, warum diese ambulant nicht möglich ist. Folgende Inhalte sind in jeder Adipositastherapie zu fordern, die in einem Konsensuspapier »Patientenschulungsprogramme für Kinder und Jugendliche mit Adipositas« dargestellt wurden:
Inhalte der Adipositastherapie 5 Ernährung (Wissensvermittlung, Beratung und praktische Übungen für Eltern und Kinder zur Ernährungsumstellung unter Berücksichtigung der DGE-Empfehlungen) 5 Bewegung (Veränderung der Verhaltens- und Lebensgewohnheiten mit vermehrter Bewegung im Alltag. Alleinige strukturierte und unter Personalaufwand vorgehaltene Trainings- und Sporteinheiten sind nicht ausreichend) 5 Verhaltenstherapeutische Elemente zur Rückfallverhütung (Beeinflussung des Ess- und Bewegungsverhaltens in Kombination mit Ernährungsumstellung und Steigerung der körperlichen Aktivität) 5 Medizin (Definition und Folgen der Adipositas, Ursachen und Interventionsmöglichkeiten) 5 Einbindung der Eltern bzw. der Bezugspersonen unter Berücksichtigung des Lebensalters des Kindes/Jugendlichen (Programme, die sich lediglich an Kinder richten
6
29
und denen die Eltern in keiner Form eingebunden sind, werden als nicht zielführend bewertet) 5 Die Schulungsgruppen sollten altershomogen, d. h. entsprechend den Altersstufen zusammengesetzt sein, der individuelle Fortschritt der Teilnehmer in Bezug auf die angestrebte Verhaltensänderung ist zu berücksichtigen. Dazu muss für jeden Teilnehmer ein individueller Interventionsplan erstellt werden, der aufzeigt, welche Effekte der Schulung bis zu welchem Zeitpunkt aufgetreten sein sollten, damit die Schulung erfolgreich abgeschlossen werden kann (Zielvereinbarung, Festlegung von Teilzielen) Vorgelegt von der Arbeitsgruppe »Präventive und therapeutische Maßnahmen für übergewichtige Kinder und Jugendliche – eine Konsensfindung« unter der Moderation des Bundesministeriums für Gesundheit und Soziale Sicherung. Erstellt von: PD Dr. Thomas Böhler, Prof. Dr. Martin Wabitsch, Dr. Ute Winkler (September 2004).
Ein Beispiel für einen Wochenplan für Jugendliche mit Adipositas gibt . Abb. 29.9 wieder. Der wichtigste Teil der Adipositasbehandlung ist die Schulung im weitesten Sinne. Am übersichtlichsten gestaltet und am besten zusammengefasst ist dies im Trainermanual »Leichter, aktiver, gesünder«, einem interdisziplinären Konzept für die Schulung übergewichtiger oder adipöser Kinder und Jugendlicher, das von der Konsensusgruppe »Adipositasschulung« (KgAS) aufgestellt und von AID (Informationsdienst für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten e.V.) herausgegeben wurde. Stachow et al. (2004) schreiben in ihrem Trainermanual über die Ziele der Adipositasschulung: Die Adipositas kann bereits im Kindes- und Jugendalter zu erheblichen körperlichen Funktionsstörungen (z. B. orthopädische Probleme, Glukose und Lipidstoffwechsel) zu der Einschränkung der körperlichen Aktivität und der Teilhabe am sozialen Leben führen. Diese Störungen und Einschränkungen werden weiterhin durch personengebundene und Umweltfaktoren beeinflusst. Das heißt, dass Adipositas nicht nur nach ICD-10-SGB V (Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme) eingestuft werden kann, sondern durch die Kriterien der ICF (International classification of functioning, disability and health) beschrieben werden müssen. Das bedeutet, bei Adipositas als chronische Erkrankung bestehen Wechselwirkungen zwischen: 4 Körperstrukturen (z. B. Körpermassenvermehrung, Gelenkschäden) 4 Körperfunktionen (z. B. Fettstoffwechselstörungen, Bewegungseinschränkungen) 4 Aktivitäten (z. B. motorische Fähigkeiten, Laufen) 4 Teilhabe am sozialen Leben (z. B. Ausschluss aus der Peergroup) Die durch diese vier Punkte gekennzeichnete funktionale Gesundheit umfasst auch Umweltbedingungen (z. B. das Vorhandensein von Sportvereinen) und personengebundene Faktoren (z. B. genetische Veranlagung). Die Zielsetzung aller therapeutischer, insbesondere aber der rehabilitativen Maßnahmen ist es, alle dargestellten Einflussfaktoren positiv zu verändern. Dieses Konzept entspricht dem Teilhabekonzept des SGB IX.
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Kapitel 29 · Adipositas
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7:00
Wecken
Wecken
Wecken
Wecken
Wecken
7:00
7:15
Hygiene
Hygiene
Hygiene
Hygiene
Hygiene
7:15 7:45
Beginn Ende
29
7:30
Wiegen
7:45
Blut/ Inhal./Medik.
Blut/ Inhal./Medik.
Blutentn./ Inhal./Medik.
Blutentn./ Inhal./Medik.
Blut/ Inhal./Medik.
Frühstück
Frühstück
Frühstück
Frühstück
Frühstück
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Beginn
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8:00
8:15
8:15
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Wecken
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Hygiene
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9:00
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13:45
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19:00
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19:30
19:45
19:45
20:00
Frühstück Schule
Schule
Schule
Schule
8:30 8:45 9:00
Schule
9:15 Ergometertr.
9:30 9:45 10:00 10:15
Sport
Schwimmen
Sport
Schwimmen
Visite Essverhaltenstraining
Essverhaltenstraining
10:30
Walking
10:45 Essverhaltenstraining
11:15 11:30
Essverhaltenstraining
Essverhaltenstraining
11:00
11:45 12:00
Mittagessen
Mittagessen
Mittagessen
Mittagessen
Mittagessen
Kochen Jugendhaus
12:15 12:30 12:45 13:00 13:15
Walking
AdipositasSchulung
13:30
Schul-AG
Ergometertr.
13:45 Elternschulung Adipositas
Ernährungsberatung
14:15 14:30 14:45
Essverhaltenstraining
15:00 AdipositasSchulung
Wandern/Ausflug
14:00
15:15 15:30
WS-Gymnastik
15:45 16:00 AT-Training
16:15
Ergometertr.
AT-Training
16:30
WS-Gymnastik
16:45 17:00
Ernährungsberatung
17:15 17:30 17:45
Abendessen
Abendessen
Abendessen
Abendessen
Abendessen
Abendessen
18:00 18:15
19:00 Jugendclub
Ausdauer-Sport
AusdauerSchwimmen
. Abb. 29.9. Wochenplan für Jugendliche mit Adipositas (Beispiel)
Jugendclub
Ausdauer-Sport
AusdauerSchwimmen
19:15 19:30 19:45
241 29.8 · Ausblick
Unter rehabilitativen Maßnahmen werden hier entsprechend SGB V § 40, 43 und SGB VI § 31 sowohl stationäre und ambulante Rehabilitationsmaßnahmen als auch ergänzende Maßnahmen zur Rehabilitation wie z. B. Patientenschulungen verstanden. Der Therapieansatz geht deshalb davon aus, dass man den Patienten unter dem Aspekt betrachten muss, nicht welche Einschränkung er hat, sondern 4 welche Fähigkeiten und Möglichkeiten er besitzt oder zu erreichen vermag. 4 wie er ein selbstbestimmtes Leben in Wertschätzung und Anerkennung führen kann. 4 wie er in verschiedene Lebensbereiche einbezogen wird. In diesem Sinne ist ein Schulungsprogramm, das ein rehabilitativer Baustein in einem Langzeitkonzept ist, ressourcenorientiert, d. h. Funktionen, Fähigkeiten, Aktivitäten des Rehabilitanden müssen unterstützt und gefördert werden. Die bisher oft übliche Ausrichtung an Störungen, Einschränkungen und Behinderungen tritt damit in den Hintergrund. Das Schulungskonzept kann deshalb auch indirekt darauf hinwirken, 4 Barrieren in der Gesellschaft und materiellen Umwelt, die die Teilhabe erschweren, abzubauen. 4 Förderfaktoren, welche die Teilhabe trotz erheblicher Beeinträchtigung wiederherstellen, zu unterstützen. In diesem Sinne ordnet sich die Schulung als wesentlicher Bestandteil einer Adipositasbehandlung den Leitzielen der Behandlung unter, so wie sie in den AGA-Leitlinien festgelegt wurden:
29
Ein Bericht der britischen Regierung kommt zu dem Schluss: Sollte die Adipositas-Epidemie fortschreiten, so wird die jüngere Generation eine kürzere Lebenserwartung haben als ihre Eltern (Hauner 2004). Man kann diesen Satz noch ergänzen, indem man sagt: Bevor sie stirbt, wird sie noch mehr Kosten verursacht haben als die jetzige. Offensichtlich dienen kostenaufwendige strukturierte Schulungs- und Behandlungsprogramme für adipöse Kinder und Jugendliche und deren Eltern nicht zur Prävention, sonst hätten die Zahlen nicht so stark zugenommen. Ein Expertenworkshop zu Perspektiven der Adipositasprävention in den USA empfahl daher die Abkehr von Präventionsstrategien, die sich an therapeutischen Modellen orientieren und die Hinwendung zu Ansätzen, die auf Erfahrungen der Raucher- und Suchtprävention und der HIV/Aids-Vorsorge aufbauen (Böhler u. Wabitsch 2004). Für mich hat die Möglichkeit einer Prävention Ähnlichkeit mit der Einführung des bleifreien Benzins. Erst nachdem Politik, Autoindustrie, Kraftstoffhersteller und der Verbraucher begriffen haben, dass ohne Blei weniger Schäden auftreten, neue und alternative Motoren entstehen, neue Modelle gebaut werden, noch schneller gefahren werden kann, das Fahren trotzdem Spaß macht und es womöglich noch weniger kostet, konnte es durchgesetzt werden. Ansätze dazu gibt es. Die Nahrungsmittelindustrie ist erfreulicherweise bereit, in Kooperation mit dem Verbraucherschutzministerium, den Kampf gegen die Kinder-Adipositas zu unterstützen und gibt sich entschlossen, einen gesünderen Lebensstil zu propagieren, zu dem auch eine veränderte Ernährung gehört. Fazit
AGA-Leitlinien 5 5 5 5
Langfristige Reduktion des Übergewichts (Struktur) Verbesserung der Lebensqualität (Aktivität und Teilhabe) Senkung der Komorbidität (Körperfunktion und Struktur) Verhinderung von psychosozialen Folgeerscheinungen (Teilhabe) 5 Motivation zur selbstständigen Lebensgestaltung (Aktivität und Teilhabe)
Es würde zu weit führen, die verschiedenen Adipositastherapien im Einzelnen aufzuführen. Alle vorgelegten Therapien sind aber an den o. g. Kriterien zu prüfen. Das gilt sowohl für die ambulanten als auch die stationären Therapien. Alle einseitigen Programme, Ernährungsprogramme (Diäten) oder Sportprogramme sind von vornherein zum Scheitern verurteilt.
29.8
Ausblick
Fast jeder Einführungsartikel über Adipositas beginnt heute mit dem Satz: »Die Adipositas nimmt weltweit, sowohl an Zahl als auch an Gewicht zu, insbesondere aber in den Industrienationen«. Für das zunehmende medizinische und ökonomische Problem der Adipositas im Kindes- und Jugendalter gibt es weder präventiv noch therapeutisch eine überzeugende Lösung. Das ökonomische Problem ergibt sich allein schon aus der Tatsache, dass die ernährungsmitbedingten Krankheiten mit weit über 71 Milliarden Euro an den Kosten des bundesrepublikanischen Gesundheitssystems beteiligt sind.
Neue Wege, die dabei beschritten werden könnten, umfassen Entwicklung günstiger Lebensmittel, wie zuckerfreie Getränke, fettarme Milchprodukte, hochwertige Öle, ballaststoffreiches Brot etc. Sie dienen einer gesünderen Ernährung und sind nicht teurer als Lebensmittel mit hohem Kaloriengehalt. Wenn die Nahrungsmittelindustrie damit werben und damit auch verdienen kann, wird sie sich auch dafür einsetzen. Gesunde Ernährung und Bewegung müssen als Maßnahmen der Gesundheitsförderung und nicht der Gewichtskontrolle gesehen werden. Die Public Health-Forschung zur Gesundheitsförderung und Risikoreduktion muss im Vordergrund stehen. Die veränderte Nahrung muss weiterhin schmecken, gut aussehen und satt machen. Bewegung muss wieder als Lebensgrundlage angesehen und als Freude und Spaß empfunden werden und nicht nur als Last, die als Leistung abgefordert wird. Dazu ist allerdings ein Netzwerk aus niedergelassenen Ärzten, öffentlichem Gesundheitsdienst und gesundheitlichem Verbraucherschutz, Jugendhilfe und Suchtprävention, Einbindung und Vernetzung mit bestehenden Präventionsstrategien (Alkohol, Rauchen, Sucht, HIV/Aids), gesetzlicher Krankenversicherung, Politik, Sportvereine, Stadtplanung, Schulen, Radwege, öffentlicher Personennahverkehr, Nahrungsmittel aus der Region, Architektur öffentlicher Schulen und öffentlicher Gebäude und Plätze notwendig. Ansätze zu solchen Netzwerken gibt es, wie z. B. das Adipositasnetzwerk Rheinland-Pfalz (http://www.adipositas-rlp.de) und das Adipositasnetzwerk Hessen e.V. (http:// www.adipositas-hessen.de). Klagen hilft nicht – Tun!
242
Kapitel 29 · Adipositas
Literatur Böhler T, Wabitsch M (2004) Adipositastherapie und Prävention im Kindesalter. Monatsschrift Kinderheilkd, 2004.152: 856–863 Egmond-Fröhlich van A et al. (2004) Kapitel Schulungsbereich Medizin in »Leichter, aktiver, gesünder« – Trainermanual interdisziplinäres Konzept für die Schulung übergewichtiger und adipöser Kinder und Jugendlicher, herausgegeben vom aid Info-Dienst (http://www.aid.de) Hauner H (2004) Bei unseren Kindern sinkt die Lebenserwartung, MMWFortsch. Nr. 41/2004 (146. Jg.) S 27–28 Hebebrand J et al. (2004) Adipositas. Genetik und Gen-Umwelt-Interaktionen der Monatsschrift Kinderheilkd, 2004.152: 870–876 Leichter, aktiver, gesünder – Trainermanual interdisziplinäres Konzept für die Schulung übergewichtiger oder adipöser Kinder und Jugendlicher, herausgegeben vom aid Infodienst 2004 (http://www.aid.de) Wabitsch M (2004) Adipositas bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Montasschrift Kinderheilkd, 2004.152: 832–833 Wabitsch M, Kunze D (2002) Leitlinien der Arbeitsgemeinschaft Adipositas im Kindes- und Jugendalter. AVMF-Leitlinienregister-Nr.050/002, Entwicklungsstufe 2 Wabitsch M, Hebebrand J, Kiess W, Zwiauer K (Hrsg) (2005) Adipositas bei Kindern und Jugendlichen. Springer, Berlin Heidelberg Zubrägel S, Settertobulte W (2003) Körpermasse und Ernährungsverhalten von Jugendlichen. In: Hurrelmann K, Klocke A, Melzer W, RavensSieberer U (Hrsg.) (2003) Jugendgesundheitssurvey. Juventa, Weinheim
29
Internetadressen AGA Arbeitsgemeinschaft Adipositas im Kindes- und Jugendalter: http:// www.a-g-a.de aid Informationsdienst für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten e.V.: http://www.aid.de AWMF-Leitlinien Adipositas im Kindes- und Jugendalter: http://www. awmf-online.de Leitlinien der Fachgesellschaft Rehabilitation in der Kinder- und Jugendmedizin: http://www.rehakid.de Hinweis: Entsprechende Perzentilkurven für Jungen und Mädchen (. Abb. 29.1. und 29.2) bis zum Alter von 18 Jahren können Sie bestellen bei Danone, die sie in Kooperation mit der Arbeitsgemeinschaft Adipositas im Kindes- und Jugendalter gedruckt haben: Tel.: 01802– 822 933. Die Flussdiagramme (. Abb. 29.4–29.8) sind über die Internetadresse http://www.a-g-a.de abzurufen.
Exkurs Kriterien der International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) Die ICF hat eine duale Struktur 4 Funktionsfähigkeit und Behinderung (Teil 1) 4 Kontextfaktoren (Teil 2) Funktionsfähigkeit, Behinderung und Kontextfaktoren als Teile der ICF 4 Funktionsfähigkeit ist ein Oberbegriff für Körperfunktionen und -strukturen, Aktivitäten und Teilhabe. Er bezeichnet die positiven Aspekte der Interaktion zwischen einer Person (mit einem bestimmten Gesundheitszustand) und deren individuellen Kontextfaktoren (umweltbezogene und personenbezogene Faktoren). 4 Behinderung ist ein Oberbegriff für Schädigungen sowie Beeinträchtigungen der Aktivität und Teilhabe. Er bezeichnet die negativen Aspekte der Interaktion zwischen einer Person (mit einem bestimmten Gesundheitszustand) und deren individuellen Kontextfaktoren.
4 Kontextfaktoren stellen den gesamten Lebenshintergrund einer Person dar. Sie umfasst zwei Komponenten: Umweltfaktoren und personenbezogene Faktoren. Diese können einen positiven oder negativen Einfluss auf die Person mit einem bestimmten Gesundheitszustand haben. Komponenten der ICF 4 Die Komponenten des 1. Teil der ICF sind zum einen Körperfunktionen und -strukturen, zum anderen Aktivitäten und Teilhabe. 4 Die Komponenten des 2. Teils sind Umweltfaktoren und personenbezogene Faktoren. 4 Umweltfaktoren bilden die materielle, soziale und einstellungsbezogene Umwelt in der Menschen leben und ihr Leben gestalten. 4 Personenbezogene Faktoren sind der spezielle Hintergrund des Lebens und der Lebensführung einer Person und umfassen Gegebenheiten der Person, die nicht Teil ihres Gesundheitsproblems oder Gesundheitszustandes sind. 5 Diese Faktoren können Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit, Alter, andere Gesundheitsprobleme, Fitness, Lebensstil, Gewohnheiten, Erziehung, Bewältigungsstil, der soziale Hintergrund, Bildung und Ausbildung, Beruf umfassen. Begriffe der ICF 4 Körperfunktionen sind die physiologischen Funktionen von Körpersystemen (einschließlich psychologischer Funktionen). 4 Körperstrukturen sind anatomische Teile des Körpers wie Organe, Gliedmaßen und ihre Bestandteile. 4 Beeinträchtigungen dieser Komponente (Körperfunktion und/oder Körperstrukturen) werden als Schädigungen bezeichnet. 4 Eine Aktivität ist die Durchführung einer Aufgabe oder einer Handlung (Aktion) durch eine Person. 4 Teilhabe ist das Einbezogensein in eine Lebenssituation. 4 Beeinträchtigungen dieser Komponenten (Aktivität und/ oder Teilhabe) werden als Beeinträchtigungen der Aktivität bzw. Teilhabe bezeichnet. Wechselwirkungen zwischen den Komponenten der ICF Wechselwirkungen Gesundheitsproblem (Gesundheitsstörung oder Krankheit)
Körperfunktionen und -strukturen
Aktivitäten
Umweltfaktoren . Abb. 29.10. Wechselwirkungen
Teilhabe
personenbezogene Faktoren
257
31
31 Jugendgynäkologie N. Weissenrieder
)) Dieses Kapitel behandelt Themen bei jungen Mädchen, die in der jugendmedizinischen Praxis relevant sind. Dies betrifft zum einen »nach außen« sichtbare Veränderungen wie auch Probleme, die im Kontext mit dem weiblichen »Zyklus« stehen. Der Beitrag soll in der Praxis helfen, Jugendliche zu beraten. Er will kein jugendgynäkologisches Standardwerk ersetzen, das in dieser Kürze nicht realisierbar ist. Der Beitrag will dazu anregen, dass sich Jugendmediziner für eine erweiterte Diagnostik und Therapie eine Kooperation mit Frauenärzten aufbauen, die in den spezifischen medizinischen, psychosozialen und sozialen Problemen der Jugendgynäkologie erfahren sind. Der Beitrag geht in der Behandlung der jugendgynäkologischen Probleme auch entsprechend der jungendspezifischen Bewertung von oben nach unten, von außen nach innen, beginnend mit den Problemen bei der Brust, über die Haut zu den Genitalien, über den Zyklus bis hin zu dem generalisierten Problembereich Unterbauchschmerzen.
31.1
Die Brust
Die Brustuntersuchung bei Jugendlichen wird in der Praxis des Jugendarztes, aber auch des Frauenarztes häufig unterlassen, mit der Begründung, dass heranwachsende Mädchen sich genieren. Das kann dem Mädchen aber signalisieren, dass die Entwicklung und die Normalität ihrer Brust von sekundärer Bedeutung ist. Dies steht im krassen Widerspruch zum »Brustkult« der heutigen Gesellschaft in allen Medien. Ein gutgeformter Busen ist der Status, der von den meisten Mädchen gewünscht wird. Brustdrüsenkorrekturen und Vergrößerungen gehören daher in der Adoleszenz zu den häufigen plastisch-chirurgischen Operationen. Das Thema »Schönheitsoperation« im Sinne von Vergrößerungen der Brust wird in den Medien häufig überbewertet und verzerrt dargestellt. Nur 1% aller in einer Studie von Kluge befragten Deutschen waren bereits einmal beim »Schönheitschirurgen«. Die Anzahl der weiblichen Jugendlichen ist verschwindend gering. 31.1.1 Die Untersuchung der Brust
Tipp Es ist sinnvoll, im Rahmen jeder Vorsorgeuntersuchung (z. B. J1 oder Kontrazeptionsvorsorge) die Untersuchung der Brust im Sinne einer präventiven Selbstvorsorge anzubieten. Mögliche Fragen: »Wie zufrieden bist du mit deinem Körper auf einer Scala von 1–10?« »Die Form des Busens ist für viele wichtig, wie ist das bei dir?« »Welche Veränderungen merkst du an deinem Busen während deines Zyklus?« »Ich würde dir gerne zeigen, wie du deinen Busen selbst abtasten kannst!«
Viele Formulierungen sind hilfreich, um zu einem gemeinsamen Gespräch über die Funktion und die Bedeutung der Brust zu kommen. Die präventive Wirkung einer frühzeitigen regelmäßigen Selbstuntersuchung der Brust bereits im Jugendalter halte ich für sehr wirksam. Dies betrifft nicht nur das Feststellen palpatorischer Auffälligkeiten wie Knoten, sondern der Entwicklung eines positiven Körperbildes und der Selbstverantwortung für Gesundheit. Die Palpation wird erleichtert, wenn der Hautwiderstand durch eine Flüssigkeit, z. B. Seife in der Dusche, herabgesetzt ist. Die Selbstuntersuchung wird im Stehen mit einem Arm hinter dem Kopf verschränkt demonstriert. Die gegenseitige Hand wird mit den Fingern flach außen auf den Brustkorb unterhalb der Höhe der Brustwarze gelegt. Mit gegen den Brustkorb pendelnden Fingerbewegungen (ähnlich wie beim Klavierspielen) wird die Hand bis zum Brustbein zurückgezogen. Dasselbe wird oberhalb der Höhe der Brustwarze noch einmal durchgeführt. Danach wird die palpierende Hand zwischen der Medioklavikularlinie und dem lateralen Thoraxbereich unterhalb der Brustdrüse bis unter die Axilla geführt. Dasselbe geschieht in dem Bereich zwischen der Medioklavikularlinie und der Mittellinie bis unter die Klavikel. Zum Abschluss wird die supraklavikuläre Grube abgetastet und die Brust zur Überprüfung einer Sekretion zur Mamille hin ausgestrichen. ! Das real gehäufte Auftreten von Mammakarzinomen (1:10 Frauen) führt auch schon bei jungen Mädchen zu Ängsten.
Es ist sinnvoll, junge Mädchen darin zu bestärken, dass der momentane, gemeinsam erhobene Befund normal ist und kein Hinweis für eine Erkrankung besteht. Der Untersucher soll sich darüber im Klaren sein, dass »Normalität« für Jugendliche und professionellen Helfern unterschiedlich definiert sein kann. Eine nicht ausreichende Beachtung kann zu gravierenden psychischen Problemen führen, wenn die als »normal« befundete Brustdeformität vor Freundinnen versteckt werden muss, Eltern nicht richtig zu reagieren wissen und der Kontakt zu Jungen völlig vermieden wird. Auch bei einem »medizinisch« unauffälligen Befund muss von ärztlicher Seite kompetent beraten werden und auf die zahlreichen Einflüsse und Variabilität hingewiesen werden, der die Form und Größe der Brust unterliegt wie dem Alter, den genetischen Anlagen sowie zyklischen und hormonellen Einflüssen. 31.1.2 Asymmetrien der Brust Thelarche Die ersten Probleme entstehen im Rahmen der Thelarche, bei der das einseitige, meistens linkseitige Wachstum Mädchen und deren Mütter beunruhigt. Zum Abschluss der Pubertät sind deutlich sichtbare Asymmetrien (Gewichtsunterschied der Mammae >50 g) selten. Die palpable Brustdrüse ist häufig derb und kleinknotig auf der Thoraxwand verschiebbar. Die Therapie besteht in dem beruhigenden Aufklärungsgespräch. Bei schmerzhafter
258
Kapitel 31 · Jugendgynäkologie
Thelarche kann ein Wattering um die Brustdrüse herumgelegt werden, der die lokale Druckbelastung mindert. Sollte bei einer Kontrolle nach 6‒12 Monaten immer noch eine deutliche Asymmetrie bestehen, ist zum Ausschluss anderer Ursachen z. B. eines Tumors eine sonographische Darstellung sinnvoll.
31
Asymmetrie, Mammahypoplasie, Mammahyperplasie Die Beratung und Behandlung von asymmetrischen, hypoplastischen (<200 gr) oder hyperplastischen Brüsten (>700 gr) ist nach Ausschluss pathologischer Ursachen (Poland-Syndrom, Fibrome, Tumoren) mit der Jugendlichen und deren Bezugspersonen individuell abzustimmen. Nicht das Ausmaß der Asymmetrie entscheidet über eine Therapie, sondern die subjektive Beurteilung der Patientin, die unter Umständen einem hohen psychischen oder somatischen Leidensdruck ausgesetzt ist. Jeder operative Eingriff sollte nach Abschluss der körperlichen Entwicklung, möglichst nicht vor dem 18. Lebensjahr, durchgeführt werden. Sinnvoll ist es, mit der Jugendlichen zu besprechen, dass sich vielleicht mit ihrer psychosozialen und emotionalen Entwicklung bis zum 20. Lebensjahr ihre individuelle Einstellung ändern kann. Primär sollten konservative Methoden zum Einsatz kommen. Bei der Asymmetrie und Hypoplasie können maßgefertigte Silikoneinlagen in BHs oder Badeanzügen, die bei entsprechender Indikation (psychische Belastung) nach voriger Absprache von den gesetzlichen Krankenkassen übernommen werden, eine Integration der Mädchen in ihre Umwelt ermöglichen. Diese müssen entwicklungsbedingt kurzfristig angepasst werden. Für Mädchen mit einer Brusthyperplasie kann das Tragen von festen BHs wie Sportbüstenhalter eine Symptomlinderung bringen. In einigen Fällen ist eine vorzeitige Operation unvermeidlich. Dies betrifft Mädchen mit einer Brusthyperplasie, die sowohl durch somatische Beschwerden (Wirbelsäulenbeschwerden, Druckstellen) als auch durch psychische Belastungen (Hänseleien, Blicke) keinen weiteren Aufschub mehr ertragen. Operative Eingriffe müssen in einer Kooperation unterschiedlicher Professionen geplant werden. Der Eingriff selbst sollte in einem Zentrum für plastisch-chirurgische Operationen stattfinden, damit sowohl Reduktionsplastiken bei Mammahyperplasie oder Asymmetrie als auch Augmentationsverfahren bei Mammahypoplasie von spezialisierten Operateuren durchgeführt werden. Bei der Planung muss bereits der weitere Verlauf angesprochen werden. Bei Augmentationen sind unter Umständen Nachoperationen zum Wechsel des Implantats bei allogenem Material erforderlich. Bei frühzeitig erfolgenden Reduktionsplastiken ist bei anschließend auftretender Größenzunahme ein weiterer Eingriff erforderlich. Vor der konkreten Planung muss die Zusage der Krankenversicherung der Jugendlichen vorliegen. Dazu ist häufig eine gemeinsame Indikationsstellung von Jugendarzt, Kinderund Jugendpsychiater und Operateur notwendig, in der speziell auf die psychische Auffälligkeiten der Jugendlichen eingegangen wird. Postoperativ ist es wichtig, das Selbstbild und das Selbstwertgefühl der Jugendlichen durch stabilisierende Maßnahmen (Kurzzeitgesprächspsychotherapie) zu stärken und auf eine Integration zu achten. Bei adipösen Mädchen oder schneller Entwicklung der Mammae können an der Brust Striae auftreten, für die keine kausale Therapie möglich ist. Die einzig mögliche Beeinflussung besteht in einer Aktivierung der Durchblutung des Unterhautfettgewebes durch Massage und der Anpassung fester BHs. Die Striae können mit zeitlicher Verzögerung aufhellen.
31.1.3 Entwicklungsstörungen Ein Ausbleiben der Brustdrüsenentwicklung sollte nach dem 13. Lebensjahr abgeklärt werden. In der Praxis ist allerdings die Pubertas tarda am häufigsten. Differentialdiagnostisch sind Ullrich-Turner-Syndrom, Kallmann-Syndrom oder Gonadendysgenesie auszuschließen. 31.1.4 Fehlbildungen Das Fehlen der Brustdrüse oder der Brustwarze ist laut Literatur selten. In der Praxis spielen Polythelien – überzählige MamillenAreola-Komplexe entlang der Milchleiste ‒ und weniger Polymastien – aberrierende oder akzessorische Mamma ‒ eine größere Rolle. ! Operative Korrekturen sind nur bei Beschwerden erforderlich. Kosmetisch-chirurgische Eingriffe sollten nach Abschluss der Gesamtreifung im 20. Lebensjahr erfolgen.
Das Poland-Syndrom ist durch eine einseitige Amastie – fakultativ mit Aplasie des M. Pectoralis major, Syndaktilien und nervale Aplasien gekennzeichnet. Bei allen Fehlbildungen muss eine weitere Diagnostik der Nieren und ableitenden Harnwege durchgeführt werden. Die tubuläre Brust (Rüsselbrust) ist eine angeborene Fehlbildung mit unterschiedlicher Ausprägung, einseitig oder beidseitig. Die Mädchen bedürfen einer sensiblen Führung. Bis zum Abschluss der körperlichen Entwicklung sollte keine operative Intervention durchgeführt werden. Der Eingriff sollte nur in Zentren durchgeführt werden, die über eine ausreichende plastischchirurgische Erfahrung mit tubulären Brüsten verfügen. Im eigenen Klientel werden 12 Mädchen im Zeitraum von 1999 bis 2004 mit tubulären Brüsten betreut. Bei stabilen Partnerschaften und gut ausgeprägtem Selbstbewusstsein haben 2 Jugendliche bisher auf einen operativen Eingriff verzichtet. Die Mädchen mit tubulären Brüsten erfahren durch die optisch sichtbare Veränderung der Brustdrüse eine besondere psychische Belastung und benötigen eine engmaschige Unterstützung. Neben konservativen Maßnahmen wie angepasste Spezialbüstenhalter ist auch eine frühzeitige chirurgische Intervention auf Grund der psychischen Belastungssituation notwendig. 31.1.5 Mastitis non puerperalis Die Mastitis im Jugendalter tritt selten auf. Sie ist gekennzeichnet durch die Symptomentrias Rötung, Schwellung und Schmerz. Die primäre Behandlung erfolgt konservativ mit Prolaktinhemmern. Zur Lokaltherapie können Kälte, Alkoholumschläge sowie eine Fixierung der Mammae in einem festen BH durchgeführt werden. Der Einsatz von Antibiotika ist nur bei Progredienz des Befundes sinnvoll. Bei Abszedierung ist eine chirurgische Intervention erforderlich. 31.1.6 Mastodynie, Mastopathie Prämenstruell auftretende Schmerzzustände mit Spannungsgefühl oder Berührungsempfindlichkeit der Brüste können häufig in Kombination mit einem prämenstruellen Syndrom auftreten
259 31.2 · Die Behaarung
31
Bei der Mastopathie liegen kleinzystische Veränderungen im Drüsengewebe vor. Als Therapiemaßnahme kommen pflanzliche Medikamente zu Regulierung der endokrinen Funktionen wie z. B. Agnus castus über einen längeren Zeitraum zum Einsatz. Bei deutlichen Beschwerden mit subjektivem Leidensdruck können zyklisch Gestagene oder bei zusätzlichem Kontrazeptionswunsch ein Östrogen-/Gestagen-haltiges Kontrazeptivum verordnet werden.
31.2.1 Verstärkte Behaarung – Hirsutismus
31.1.7 Mammatumoren
Die Entwicklung der Behaarung unterliegt genetischen und ethischen Faktoren sowie einer großen Varianz. Zusätzlich können in den Bereichen Gesicht, Brust, Rücken unterschiedliche Akneformen – Acne vulgaris, pustolosa, conglobata – und eine Seborrhoe auftreten. Ein Virilisierung liegt vor, wenn zusätzlich weitere Zeichen einer Androgenisierung wie z. B. eine Klitorishypertrophie oder Alopezie vorliegt. Die verstärkte Behaarung ist für Mädchen nicht nur ein kosmetisches Problem, das ihr Selbstwertgefühl beeinträchtigen kann, sondern u. U. ein frühes Zeichen einer beginnenden endokrinologischen Erkrankung mit hoher Morbidität (. Tab. 31.1).
Tumoren der Mamma sind im Jugendalter selten. Jede tastbare Resistenz in der Brust muss dennoch einer weiteren Diagnostik zugeführt werden. Die Mammasonographie hat zum Nachweis der Dignitität auf Grund der guten Auflösung in der Hand des geübten Untersuchers einen hohen Stellenwert. Der häufigste gutartige Tumor ist das Fibroadenom. In Abhängigkeit von der Größe ist eine operative Entfernung sinnvoll, wenn die Kontur der Brust beeinträchtigt ist.
Besonders störend erleben junge Mädchen das Wachstum von pigmentiertem Terminalhaar im Gesicht (Koteletten, Oberlippenbart, Kinnhaare), an der Brust, am Unterbauch von der Schambehaarung zum Nabel sowie an den Oberschenkeln. ! Die verstärkte Behaarung vom männlichen Behaarungstyp – Hirsutismus – ist abzugrenzen von einem verstärkten Wachstum von Haaren am ganzen Körper.
31.1.8 Mammapiercing 31.2.2 Diagnostik und Therapie von Erkrankungen Der Jugendarzt sollte junge Mädchen bei der Frage nach Körperpiercing kompetent beraten können. In dem Gespräch ist es sinnvoll, auf allgemeine Risiken wie Infektion (lokal) oder Verletzungen von Nervenbahnen oder anatomischen Strukturen hinzuweisen. In dem Gespräch kann auf die gesellschaftliche Bedeutung des Körperpiercings und den Wandel der Akzeptanz hingewiesen werden. Auch auf die Gefahr der Übertragung von Hepatitis B oder HIV bei nicht professionellen Anbietern von Piercings oder Tattoos sollte aufmerksam gemacht, der subjektive Wunsch des Mädchen jedoch respektiert werden. Es ist von Vorteil, einen medizinischen Kooperationspartner zu empfehlen, bei dem medizinische Standards eingehalten werden. Wenn Milchausführungsgänge nicht verletzt werden, ist Stillen in der Regel möglich. Bei jungen Mädchen ist neben Nase, Lippen, Zunge oder Nabel auch die Brustwarze ein beliebter Ort für ein Piercing. Bei der Durchführung muss auf sorgfältige Hygiene geachtet werden. Beim Piercing der Mammille kann im Gegensatz zum Piercing der Areola ein Ausführungsgang der Milchdrüsen verletzt werden. Das Material sollte aus Titan oder PMFK (Polymer medical flexible plastic) sein. Beide verfügen über eine relativ gute Biokompatibilität. Die Gefahr der Infektion ist vor allem in den ersten 2 Wochen nach Einlage hoch.
31.2
Die Behaarung
Neben Auffälligkeiten im Bereich der Brust sind für Mädchen »auffällige« Behaarungsmuster ein nach außen deutliches Zeichen für eine von der Norm abweichende Entwicklung. »Hairless« ist nicht nur auf den sichtbaren Körperpartien »in Mode«, sondern auch die Beschneidung oder Entfernung der Pubesbehaarung wird bei jungen Mädchen häufig aus persönlichen Schönheitsmotiven und seltener glaubensbedingten Gründen durchgeführt und kann bei unsachgemäßer Durchführung zu lokalen Infektionen führen.
mit verstärkter Behaarung Oben genannte Symptome können Hinweise für eine Hyperandrogenämie sein, die bei Mädchen diagnostisch abgeklärt werden soll. Die Basisdiagnostik umfasst anamnestische, auxiologische, hormonelle und sonographisch zu erfassende Parameter.
Basisdiagnostik 5 Anamnestische Daten: Adrenarche, Pubarche, Thelarche, Menarche, Zyklusdauer, Stoffwechselerkrankungen 5 Auxiologische Daten: Körperhöhe, Wachstumsverlauf, Körpergewicht, Gewichtsverlauf, Body-Mass-Index, SDS 5 Hormonelle Daten: Testosteron, DHEAS, Androstendion, LH, FSH, LH/FSH Quotient, SHBG, 17OH-Progesteron, Prolaktin, TSH 5 Sonographische Daten: Uterusvolumen (Länge × Höhe × Breite), Endometriumdicke, Proportion Zervix/Korpus; Ovarvolumen (Länge × Höhe × Breite × 0,5) <8 ccm, Anzahl der Follikel =<10, Anzahl der Follikel <6 mm
Die klinische Untersuchung ist eine Ganzkörperuntersuchung mit Erhebung der Tanner-Stadien und der Einteilung des Hirsutismus nach Baron (. Tab. 31.1). Nach den Ergebnissen der Basisuntersuchung kann unterschieden werden in: 4 Isolierter Hirsutismus 4 Late-Onset-AGS-Syndrom 4 PCO-Syndrom 4 Androgenproduzierende Tumoren Zusätzlich zur Hyperandrogenämie können assoziierte Symptome auftreten wie eine stammbetonte Adipositas (Taille/HüftQuotient <0,85) und eine Insulinresistenz mit Hyperinsulinismus (oraler Glukose-Toleranz-Test), die zum metabolischen Syndrom zusammengefasst werden. Als Folgeerkrankungen können Infer-
260
Kapitel 31 · Jugendgynäkologie
. Tabelle 31.1. Schweregradeinteilung des Hirsutismus. (Nach Baron 1974)
Haarverteilung auf dem Körper 1. Pigmentiertes Terminalhaar vom Pubesbereich dreieckig zum Nabel verlaufend 2. Oberlippenbart 3. Perimamilläre Behaarung 4. Behaarung am Kinn 5. Behaarung der Innenseite der Oberschenkel 6. Behaarung prästernal auf der Brust 7. Behaarung am Rücken 8. Beehaarung am Gesäß 9. Behaarung an den Schultern
tilität, Dyslipidämie, Diabetes mellitus Typ 2 und kardiovaskuläre Erkrankungen auftreten. Die weitere Diagnostik und Therapie kann entsprechend der eigenen Kenntnisse in der Jugendarztpra-
Grad 1
Grad 2
Grad 3
+ + +
+ + + + +
+ + + + + + + + +
xis, in Kooperation mit einem jugendgynäkologisch erfahrenen Frauenarzt oder einem endokrinologisch erfahrenen Zentrum durchgeführt werden.
Weitere Diagnostik und Therapie
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Sie umfasst bei 5 Isoliertem Hirsutismus: Eine antiandrogene Therapie z. B. mit Estradiol und Cyproteronacetat (CPA). Häufig müssen wesentlich höhere Dosen von CPA angewandt werden als in antiandrogenen Kontrazeptiva enthalten sind. Ein Erfolg ist erst nach langfristiger Anwendung (12 Monate) zu erwarten. Die zusätzliche dermatologische Therapie mit Epilation der Haarwurzel ist häufig notwendig. 5 Late-Onset-AGS-Syndrom: Die Diagnose wird mit dem ACTH-Test gestellt. Neben den aufgeführten Symptomen tritt bei den Mädchen häufig eine prämature Pubarche/Adrenarche (<8 Jahren) auf. Es besteht altersbezogen eine Akzeleration des Knochenalters (Röntgen Handwurzel und Beurteilung nach Greulich/Pyle) mit einer resultierenden Kleinwüchsigkeit. Nach der Menarche finden sich häufig Zyklusunregelmäßigkeiten wie Oligomenorrhoe und Amenorrhoe. Die Therapie besteht in der Anwendung von Prednisolon/Dexamethason und/oder bei Kontrazeptionswunsch gleichzeitiger Gabe von antiandrogenen Kombinationspräparaten. Bei Nachweis eines Late-Onset AGS muss eine genetische Beratung bezüglich Kinderwunsch erfolgen. 5 PCO-Syndrom: Die Diagnose PCO-HAIR(HyperAndrogenämie, InsulinResistenz)-Syndrom bezieht sich auf die messbaren Parameter sonographische Diagnose (>10 Follikel, 50% der Follikel <6 mm, Ovarvolumen vergrößert), auf die hormonellen Parameter LH/FSH Quotient >2, und Hyperandrogenämie. An Symptomen zählen zu dem Syndrom Hirsutismus, Akne, Alopezie, Seborrhoe, Adipositas, Insulinresistenz, Fettstoffwechselstörung. Entsprechend dem Produktionsort der Androgene – adrenale, ovarielle Hyperandrogenämie, Mischform – wird eine Suppression der Nebennierenrinde mit Prednisolon/Dexamethason oder der Ovarialaktivität mit antiandrogen wirkenden Gestagene wie z. B. in oralen Kontrazeptiva durchgeführt. Obwohl die Adipositas nicht mit direkt messbaren Laborwerten korreliert ist, sollten die Mädchen zu einer fettreduzierten Diät und verstärkter regelmäßiger körperlicher Betätigung angeleitet werden. Die Behandlung der Insulinresistenz und des Hyperinsulinismus mit Metformin (Insulinsensitizer) und in Studien Flutamid (Antiandrogen) scheint bei Jugendlichen eine mögliche Therapieoption. Als Risikopatientinnen gelten Mädchen mit niedrigem Geburtsgewicht, prämaturer Pubarche, verzögerter Pubertätsentwicklung und ansteigendem Gewichtsverlauf. 5 Androgenproduzierende Tumoren werden radiologisch diagnostiziert und entfernt.
Für die Praxis des Jugendarztes ist es von großer Bedeutung, junge Mädchen mit oben aufgeführten Risikofaktoren oder Symptomen aus dem dargestellten Symptomenkomplex frühzeitig zu erkennen und deren pubertäre Entwicklung von Beginn bis zum Abschluss sorgfältig zu begleiten und bei Bedarf konkrete präventive Maßnahmen zu ergreifen.
31.3
chen Genitalien – Penis und Skrotum – findet öffentlich so gut wie nie statt. Abbildungen des äußeren, sichtbaren Genitales, des Mons pubis mit der Schambehaarung dagegen häufig. Fragen zu dem eigentlichen äußeren Genitale – Labia majora und minora, Klitoris, Vestibulum, Introitus vaginae und Vagina sind in der Jugendarztpraxis eher selten. Fragen zum Hymen und Ausfluss werden häufiger gestellt.
Das Genitale 31.3.1 FAQ’s (Häufige Fragen von Jugendlichen)
Das Genitale des Mädchen ist auf Grund der anatomischen Gegebenheiten im Gegensatz zu den Jungen der direkten Inspektion verborgen. Das erleichtert die nackte Darstellung von Mädchen gegenüber Jungen z. B. in den Medien. Das Zeigen der männli-
»Ich habe immer so einen schrecklichen Ausfluss.«
Wenn der Ausfluss prämenarchal auftritt, geruchslos, weißlich, in der Unterhose pastös, gelblich ist und kein Juckreiz besteht, han-
261 31.3 · Das Genitale
delt es sich um einen physiologischen Fluor – Weißfluss – der 1‒2 Jahre vor der Periode auftritt. Er entsteht durch die Östrogenisierung des Genitales und einer zervikalen Hypersekretion. Sinnvoll ist eine Beratung über Hygiene z. B. Anwendung von Vaginaltampons und die sachgerechte Aufklärung über die Normalität des Befundes. Wenn der Ausfluss gelblich, bräunlich oder blutig ist und zusätzliche Auffälligkeiten wie scharfen Geruch, fischigen Geruch oder stinkenden Geruch und Juckreiz aufweist, ist eine diagnostische Abklärung einer Vulvovaginitis mit einer jugendgynäkologischen Untersuchung durchzuführen. »Kann ich als Jungfrau einen Tampon nehmen, ohne dass mein Häutchen einreißt?«
Mit Beginn der Östrogenisierung wird das Hymen sukkulent und dehnbar. Vaginaltampons, Spagat oder Sport, Masturbation und das Einführen eines Vaginoskops oder Fingers führen nicht zu einer Verletzung oder Einriss des Hymens. Mit der Verwendung eines geeigneten Vaginaltampons (Baumwolle, Zellwolle) steigt keinesfalls das Infektionsrisiko. Der Tampon wirkt wie eine Drainage und steht in vier unterschiedlichen Größen zur Verfügung. Die geeignete Tampongröße und die Wechselfrequenz verhindert eine Austrocknung der Scheide. Bei deutlichen Schmerzen oder Behinderung der Einführung muss eine vaginale Untersuchung zur Klärung der Ursachen (z. B. Hymen septus) durchgeführt werden. Gerade bei Fragen nach Hygiene und Zyklus ist es wichtig, die Möglichkeit zu nutzen, über Waschverhalten, Bekleidung, Intimsprays und das Verhalten bei der Periode zu sprechen. Aber auch die Beratung zur korrekten Durchführung der Analreinigung nach Stuhlgang und notwendige hygienische Maßnahmen wie Händereinigung brauchen der ständigen, bestimmten, aber nicht moralisierenden Wiederholung. Mädchen, die bestimmte Sportarten ausüben wie Reiten oder Fahrradfahren, die mit einer besonderen Druck- oder Reibebelastung einhergehen, können durch speziell wattierte Hosen im Genitalbereich geschützt werden. »Kann ich nicht blutarm werden, wenn ich immer meine Tage habe, ich fühl mich auch immer so schlapp.«
Die Menge des bei der Menstruation verlorenen Blutes beträgt ca. 30 ml (obere Norm 60‒80 ml) bei einer Gesamtblutmenge von ca. 5 Litern. Der Blutverlust bei einer normalen Regelblutung kann problemlos ersetzt werden. Bei anhaltenden Dauerblutungen z. B. Follikelpersistenz kann es zu einem behandlungsbedürftigen Blutverlust kommen. Viele Mädchen fühlen sich während der Periode unwohl. Zur Pflege des Körpers soll gerade bei der Menstruation eine sorgfältige Hygiene und Pflege des Genitalbereiches mit reichlich Wasser und eventuell ph-neutralen Seifen angewandt werden. Der »fade« Geruch lässt sich damit vermeiden. Manche Mädchen empfinden Ruhe und Wärme als angenehm, manche Mädchen bewegen sich gerne viel und bevorzugen Kälte. »Ich habe meine Periode und will keinen Sport machen, schon gleich gar nicht schwimmen gehen!«
Entsprechend den Empfehlungen des Deutschen Sportärztebundes ist bei den ersten Tagen der Menstruation vom schulischen Schwimmen nicht abzuraten (7 Exkurs: Empfehlungen Deutscher Sportärztebund). Bei Intimhygiene mit einem frischen Tampon kann es während der 1. Tragestunde kaum zu Durchblutungen kommen. Mädchen, die gerne schwimmen möchten, würde ich unter Einhaltung hygienischer Standards zum Schwimmen raten. Nur bei Vorliegen einer massiven Dysmenorrhoe, die einen Schulbesuch verbietet, ist eine Befreiung vom Sportunterricht auf
31
Dauer sinnvoll. Die subjektive Situation des einzelnen Mädchens muss berücksichtigt werden unter dem Wissen, dass Menstruation auch als Vorwand zur Nichtteilnahme am Sportunterricht verwendet wird. 31.3.2 Labien und Klitoris Veränderungen der Labia minora und majora sind selten und betreffen vorwiegend Asymmetrien. Bei den Labia minora kommt auch eine Labienhypertrophie vor, die zum einen bei Alltagssport (Fahrradfahren) hinderlich sein kann, zum anderen bei den betroffenen Mädchen Unsicherheit über die Normalität auslöst. Bei der Inspektion muss beurteilt werden, ob die Hypertrophie von der sehr variablen Bandbreite der Größe und Form der kleinen Labien abweicht. Das Wachstum von Labia majora und Labia minora in der Pubertät ist unterschiedlich. Entscheidend ist auch hier, das subjektive Empfinden und die wahrgenommene Belastung der Jugendlichen. Bei der Therapie werden konservative Maßnahmen wie speziell geformte Unterwäsche, weite Kleidung ‒ soweit akzeptiert ‒ angeboten. Nach Abschluss der körperlichen Entwicklung kann eine Resektion und Neuformierung der Labia minora operativ als plastisch-chirurgischer Eingriff durchgeführt werden. Asymmetrien der großen Labien entstehen häufig durch eine Hyperplasie des darunter liegenden Gewebes, bedingt durch ein Lipom, Lymphangiom, Fibrom oder Ähnliches. Die Therapie richtet sich nach der Größe und den subjektiven Empfinden der Patientin. Eine »echte« Klitorishypertrophie, die in der Pubertät neu auftritt, muss endokrinologisch abgeklärt werden. Die Pseudohypertrophie der Klitoris ist bedingt durch eine Hypertrophie des Präputium clitoridis und bedarf keiner Therapie. Bei der Beratung ist es sinnvoll, auf Masturbation einzugehen, die bei Mädchen mehr als bei Jungen bereits in der Kindheit tabuisiert wird. ! Regelmäßige Masturbation führt nicht zu einer Vergrößerung der Organe (Penis oder Klitoris) und auch nicht zu einer psychischen Erkrankung. Gesteigerte Masturbation bei Stresssituationen oder psychischen Belastungen ist dagegen ein Symptom für eine gestörte Konfliktbewältigung und erfordert weitere diagnostische und therapeutische Maßnahmen.
31.3.3 Veränderungen an der Vulva Veränderungen an der Vulva wie Rötung, Fluor und Juckreiz sind Symptome einer Vulvitis/Vulvovaginitis, die in Kooperation mit einem jugendgynäkologisch erfahrenen Frauenarzt weiter diagnostiziert und therapiert werden müssen. Das gleiche gilt für das Auftreten von Kondylomen (7 Kap. 39). Virale Erkrankungen wie Varizellen und Mollusca contagiosa können auch im Genitalbereich auftreten und erfordern bei Bedarf eine Lokaltherapie. Der Lichen sclerosus et atrophicans (Lichen s.e.a., Genese unsicher) mit einer pergamentartigen, weißlichen Hautveränderung im Anogenitalbereich und Atrophiezeichen, tritt primär in der Kindheit auf. Bei Mädchen in der Pubertät tritt – wahrscheinlich auf Grund der endogenen Östrogenisierung – eine deutliche Verbesserung mit Minimalresiduen auf. Der Lichen s.e.a. kann jedoch auch in der Pubertät bestehen bleiben und zu einer deut-
262
Kapitel 31 · Jugendgynäkologie
lichen Atrophisierung mit Auflösung anatomischer Strukturen führen. Mädchen mit Lichen s.e.a. sollten einer sorgfältigen Therapie (lokale Anwendung von hochpotenten Steroiden z. B. Clobetasol oder Immunmodulatoren wie z.B. Takrolimus) sowie einer extrem sorgfältigen Hygiene zur Vermeidung von Superinfektionen zugeführt werden. Der Lokalbefund wird in Abständen von ca. 6 Monaten kontrolliert. Bei Auftreten von Atrophiezeichen kann es bei Geschlechtsverkehr zu perivulvären Einrissen und resultierenden Stenosen mit Dyspareunie führen. Cave Wenn Mädchen über Beschwerden oder Auffälligkeiten an der Vulva ohne eindeutig nachweisbaren anatomischen Befund klagen, ist differenzialdiagnostisch auch an die Möglichkeit eines sexuellen Übergriffs zu denken.
31.4 Der Zyklus
31
Zum Zeitpunkt des Auftretens der Menarche – im Schnitt 12,6 Jahre +/–2,3 Jahre – sind junge Mädchen in der Regel in der Betreuung ihres Jugendarztes. Fragen zum Zyklus, diagnostische und therapeutische Verfahren bei Abweichungen vom regelrechten Zyklusgeschehen, gehören daher zum »Handwerkszeug« des Jugendarztes. Auch hier gilt wieder, dass jeder betreuende Arzt für sich entscheiden muss, an welchem Punkt seine Kompetenz endet und auf die spezialisierter Fachkollegen übergeht. Eine kompetente Beratung mit Benennung kooperierender, persönlich bekannter Kollegen ist eine sinnvolle Strategie. Das Eintreten der »Regel« stellt den Eintritt des Mädchens in die Reproduktionsphase dar. Dieser sollte möglichst zeitgerecht und problemlos erfolgen. Probleme um und mit der Periode sind für 41% der jungen Mädchen der Grund, um einen Arzt aufzusuchen (BZgA 2001). Als normal und natürlich erleben 31% der Mädchen ihre Menarche, 33% als unangenehm, 37% sind ambivalent oder können sich nicht erinnern (BzgA 1998). Probleme mit der Regel als körperlichem Funktionsvorgang sind in den ersten 3 Jahren nach der Menarche häufig. Es treten Störungen auf im zeitlichen Ablauf, d. h. Oligomenorrhoe (Zyklus >35 Tage) bis hin zur sekundären Amenorrhoe (Zyklus >6 Monate), Störungen der Blutungsdauer oder Blutungsstärke, d. h. Hypomenorrhoen oder juvenilen Dauerblutung (<10 Tagen) sowie primär oder sekundär schmerzhaften Menstruationen. Nach der Menarche bestehen überwiegend anovulatorische Zyklen (82%, Lauritzen 1983) bis bei Mädchen die sog. gynäkologisch-endokrine Reife ca. 3 Jahre nach Menarche mit 50% ovulatorischer Zyklen eintritt.
Definitionen bei Blutungsanomalien 5 Oligomenorrhoe (Zyklus mehr als 35 Tage) 5 Polymenorrhoe (Zyklus weniger als (22–)25 Tage) 5 Eumenorrhoe (reguläre Menstruationsblutung 3–6 Tage, 30 ml Blutverlust) 5 Hypomenorrhoe (Blutung <25 ml, <2 Binden/Tampon pro Tag) 5 Hypermenorrhoe (Blutung >150(–200) ml, mit mehr als 20 Binden/Tampon pro Tag, <6 Tage)
6
5 Menorrhagie (lang andauernde Menstruationsblutung >7–14 Tage, Blutung >80 ml) 5 Brachymenorrhoe (kurz andauernde Menstruationsblutung <2 Tage) 5 Metrorrhagie (längere Blutung zwischen 2 Menstruationen, >7 Tage) 5 Menometrorrhagie (Blutung >14 Tage zwischen 2 Menstruationen)
31.4.1 Oligomenorrhoe Bei vielen Mädchen ist die Menstruation nach der Menarche unregelmäßig. Die Oligomenorrhoe ist Symptom einer Regulationsstörung auf hypophysärer-hypothalamischer Ebene mit häufig anovulatorischen Zyklen und/oder einem Gestagenmangel und wird besonders häufig beim polyzystischen Ovarien-Syndrom (PCO-Syndrom) gefunden. Die Diagnose kann durch eine Basaltemperaturmessung und Hormonuntersuchung gesichert werden.
Hormonelle Basisdiagnostik 5 5 5 5 5 5
LH (luteinisierendes Hormon) FSH (follikelstimulierendes Hormon) Estradiol Androstendion Prolaktin TSH
Junge Mädchen (12‒14 Jahre) sind häufig gut zu motivieren, mehr über die Funktionsweise ihres Körpers zu erfahren. Kombiniert mit dem Erlebnis »computergestütze Baseltemperaturmessung« können sie einfachen Methoden zur Feststellung ihrer Fruchtbarkeit (Nachweis Ovulation) positive Seiten abgewinnen. Die Oligomenorrhoe erfordert primär keine Therapie, sondern eine umfassende Beratung mit Aufklärung über physiologische Abläufe. An wichtigen Symptomen muss aber der Gewichtsverlauf (Abnahme ‒ beginnende Essstörung, Zunahme ‒ Metabolisches Syndrom) sowie die Zunahme der Körperbehaarung (Zunahme ‒ Zeichen der Androgenisierung) beobachtet werden und bei Bedarf eine weitere Diagnostik durchgeführt werden. Wenn sich Mädchen durch die Unregelmäßigkeit der Menstruation subjektiv in ihrer Lebensqualität eingeschränkt fühlen, z. B. in der Planbarkeit von Urlaub, kann in der Praxis primär der Versuch einer pflanzlichen Therapie mit Agnus castus (z. B. Agnucaston 1 Tbl. morgens nüchtern für 6 Monate) unternommen werden. Hormonell kann eine zyklische Unterstützung mit einem Gestagen (z. B. Clinofem 5 mg) vom 14‒25. Zyklustag durchgeführt werden. 31.4.2 Polymenorrhoe Die Polymenorrhoe kommt bei Jugendlichen in der Praxis seltener vor. Die Mädchen sind durch die kurzen blutungsfreien Intervalle eingeschränkt, zumal wenn die Menstruationsblutung
263 31.4 · Der Zyklus
mehr als 6 Tage dauert und der Zyklus deutlich unter 12 Tagen liegt. Ätiologisch handelt es sich entweder um einen monophasischen Zyklus mit verkürzter Gestagenphase oder einer verkürzten Follikelreifungsphase. Diagnostik und Therapie sind identisch wie bei Oligomenorrhoe. 31.4.3 Metrorrhagien Regelmäßig anhaltende Zwischenblutungen und prä- oder postmenstruelle Blutungen sind im Jugendalter selten. 31.4.4 Juvenile Blutungsstörung, Follikelpersistenz Gelegentlich treten verstärkte und verlängerte Menstruationen auf, die bei subjektiver Störung des Mädchens nach erfolgter Basisdiagnostik einer pflanzlichen oder hormonellen Therapie zugeführt werden. Postmenarchal können bei Mädchen länger anhaltende Blutungen (>14 Tage) auftreten, die durch eine Follikelpersistenz bedingt sind. Auf Grund der anhaltenden Östrogenproduktion im Follikel kommt es zu einem proliferierten und hyperplastischen Endometrium, das von der produzierten Östrogenmenge nicht mehr ausreichend erhalten werden kann. Es kommt zu Durchbruchs- bzw. Abbruchblutungen. Die Diagnose wird über die Anamnese gestellt, in der bereits Hinweise für eine Regeltypus- oder Regeltempostörung vorliegen können. Ein Fremdkörper oder eine vaginale Blutungsursache soll durch einen Ultraschall, eine rectale Untersuchung oder eine Vaginoskopie ausgeschlossen werden. Therapeutisch wird über 10 Tage ein Östrogen-GestagenKombination z. B. Ethinylestradiol und Norethisteronacetat gegeben. Bei persistierenden funktionellen Blutungsstörungen ist eine kontinuierliche zyklische Hormontherapie mit Gestagenen sinnvoll. Es ist wichtig, die Mädchen und die Eltern über das Krankheitsbild eingehend zu informieren, da auf Grund der zum Teil sehr starken Blutungen gelegentlich behandlungsbedürftige (Eisensubstitution) Anämien auftreten können. 31.4.5 Hypermenorrhoe und Hypomenorrhoe Hypermenorrhoe und Hypomenorrhoe treten bei Jugendlichen selten auf. Unter oralen Kontrazeptiva z. B. der niedrigdosierten Mikropille kommt es häufig zu einer Hypomenorrhoe z. T. sogar Amenorrhoe, die junge Mädchen beunruhigt. Hier ist eine Beratung über die physiologische Wirkungsweise der Pille mit einer Downregulation der körpereigenen Östrogene und einem verminderten Aufbau des Endometriums hilfreich. Bei einer unter oralen Kontrazeptiva auftretenden Hypermenorrhoe besteht die Möglichkeit der kontinuierlichen Einnahme ohne Pillenpause. Diese Einnahme führt zu einer Verstärkung der Wirkung der Pille und zu einer kontinuierlichen Amenorrhoe. Bei einer Hypermenorrhoe im Jugendalter müssen systemische Blutungsursachen wie Störungen der Blutgerinnung, Thrombozytopenien oder Hyperfibrinolysen primär ausgeschlossen werden.
31
31.4.6 Dysmenorrhoe Die Dysmenorrhoe ‒ Schmerzen bei der Regelblutung – ist eine der häufigsten Beschwerden bei Frauen. Die Angaben über die Häufigkeit bei Jugendlichen differieren je nach Autor von 20–60%. Massive Dysmenorrhoen gehen einher mit stark eingeschränkte Aktivitäten und zeitweilig erforderlicher Bettruhe der Patientinnen und führen zu häufigen Fehlzeiten in Schule oder Arbeitsplatz. Neben seltenen Lage- oder Formanomalien des Uterus ist die lokale Erhöhung der Bildung von Prostaglandin F2α im Endometrium für die schmerzauslösenden Uteruskontraktionen verantwortlich. Zusätzlich wirken die Prostaglandine vasokonstriktorisch und können zu Ischämieschmerzen führen. Ebenso gibt es eine familiäre Häufung der Dysmenorrhoe. Es besteht eine Korrelation zum Menstruationsverhalten der älteren Schwester oder Mutter als Ausdruck einer innerfamiliären psychogenen Komponente. ! Bei der primären Dysmenorrhoe muss anamnestisch eine Abflussbehinderung des Menstrualblutes oder eine Uterusmissbildung sonographisch ausgeschlossen werden. Bei der sekundären Dysmenorrhoe, die erst Jahre nach der Menarche auftritt, müssen organische Ursachen wie Adnexitis, Divertikulitis, Appendizitis usw. (7 Abschn. Unterbauchschmerzen) ausgeschlossen werden.
Nach Diagnosestellung sollen die Jugendlichen über die Ätiologie der Erkrankung aufgeklärt und ermuntert werden, selbst Strategien zu entwickeln, die die angegebenen Beschwerden erleichtern. In der Regel haben die betroffenen Mädchen bereits Verhaltensweisen entwickelt oder von einem ebenfalls betroffenen Familienmitglied übernommen wie physikalische Maßnahmen (Ruhe, Wärme oder Entspannung). Fast alle Mädchen haben bereits Erfahrung mit schmerzlindernden Medikamenten. Nicht zu unterschätzen ist auch die Wirkung des sekundären Krankheitsgewinnes durch die Dysmenorrhoe wie z. B. Schulbefreiung, Sportbefreiung, Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, Zuwendung von Mutter, Freundin oder Freund. Bezüglich der bekannten Verhaltensweisen werden die Mädchen bestärkt, diese bereits präventiv, d. h. vor dem nach Zyklusablauf zu erwartenden Schmerzbeginn, einzusetzen. Die Bitte, dem gesamten Zyklusgeschehen und den damit verbundenen körperlichen Veränderungen mehr Aufmerksamkeit und Zuwendung zu geben, ist häufig therapeutisch wirksam. Durch die aktive Beschäftigung und dem positiv gestalteten Umgang mit dem eigenen Körper (»Ab heute lass ich es mir und meinem Körper ganz gut gehen, ich nehme mir Zeit und Muße, ich genieße die Wärme und Entspannung«) gelingt es vielen Mädchen, die Dysmenorrhoe positiv zu gestalten. Das intensive Eingehen auf die Problematik der individuellen Jugendlichen ist ein wesentlicher ärztlicher Beitrag zur Therapie der Dysmenorrhoe. In Einzelfällen ist auch eine psychotherapeutische Begleitung sinnvoll. Unterstützend hat sich die Einnahme von pflanzlichen Drogen (z. B. Agnus castus) über einen längeren Zeitraum erwiesen. Medikamentös ist bei Bedarf die Gabe von Prostaglandinsynthesehemmer (Aspirin junior, Beginn 100 mg, täglich steigernd bis zu 600 mg/Tag) bereits einige Tage vor erwartetem Beginn der Dysmenorrhoe sinnvoll. Andere Prostaglandinsynthesehemmer wie Ibuprofen oder Naproxen sind hervorragend wirksam. Die Hemmung der Ovulation und Hemmung der PG F2α-Synthese durch Gestagene beseitigt die Dysmenorrhoe in vielen Fällen. Bei
264
Kapitel 31 · Jugendgynäkologie
zusätzlichem Verhütungswunsch ist daher die Verordnung eines oralen gestagenbetontem Kontrazeptivums sinnvoll.
Ursachen und Differenzialdiagnose der Dysmenorrhoe 5 5 5 5 5 5 5 5
Erhöhte Prostaglandinsynthese Steigerung der Kontratktionen Verminderung der Durchblutung Appendizitis Divertikulitis Ovarialzysten (Torquierung) Adnexitis Endometriose
Therapie der Dysmenorrhoe 5 Wenn möglich – Beseitigung und Aufklärung der Ursachen 5 Physikalische Maßnahmen – Ruhe, Wärme 5 Entspannungstherapie, Psychotherapie, Suggestionstherapie 5 Phytotherapeutika: Agnus castus z. B. Agnolyt 5 Prostaglandinsynthesehemmer: z. B. Aspirin 100 einige Tage vor Menstruationsbeginn, Ibuprofen, Dysmenalgit 5 Hormonelle Therapie: Gestagene von 16–25. Zyklustag z. B. Orgametril 10 mg 5 Bei Kontrazeptionswunsch: Gestagenbetontes orales Kontrazeptivum z. B. Marvellon
31
Definition der Amenorrhoe 5 Primäre Amenorrhoe (Ausbleiben der Menarche bis zum vollendeten 15. Lebensjahr) 5 Sekundäre Amenorrhoe (Ausbleiben der Regel länger als 4–6 Monate oder mind. 3 Zyklusintervallen entspr. letzten Zyklen
In Abhängigkeit der gesamten pubertären Entwicklung wird sinnvoller Weise bereits ab dem 13. Lebensjahr eine Diagnostik eingeleitet, wenn noch keine pubertären Entwicklungszeichen (P2, B2, Ax 1) vorzufinden sind. Auch bei Sistieren auf einzelnen Entwicklungsstufen (>18 Monate) ist eine weitere Diagnostik sinnvoll. Die Diagnostik der primären Amenorrhoe ist komplex und kann nur in Zusammenarbeit mit einem jugendgynäkologisch erfahrenen Frauenarzt, einem endokrinologisch erfahrenen Jugendarzt, einem Genetiker und/oder einem kompetenten Zentrum durchgeführt werden. Im Folgenden werden daher keine kompletten Diagnose- und Therapieschritte beschrieben, sondern auf die in der Jugendarztpraxis wichtigen Symptome und Verfahren eingegangen. Bei Störungen der Menstruation hat sich in der Praxis ein stufenweises Vorgehen bewährt. Neben der ausführlichen Anamnese, Inspektion und der körperlichen Untersuchung sowie Inspektion des Genitales wird eine abdominelle Ultraschalluntersuchung durchgeführt. Zur Abklärung hormoneller Funktionsstörungen wird eine Basisuntersuchung durchgeführt, die je nach Bedarf um weitere Parameter erweitert werden kann.
31.4.7 Prämenstruelles Syndrom Hormonbasisuntersuchungen bei Amenorrhoe
In der zweiten Zyklushälfte (Lutealphase) auftretende, ausgeprägte körperliche und psychische Beschwerden wie Mastodynie, abdominale Beschwerden mit Völlegefühl, Übelkeit und Aufgetriebensein, Ödeme, Kopfschmerzen, Depressionen, Dysphorie, Angstzustände, Konzentrationsschwierigkeiten, Libidoveränderungen und abnormes Essverhalten werden unter dem Begriff »prämenstruelles Syndrom« zusammengefasst. Es gibt keine plausible Erklärung für die Genese der Entstehung eines PMS durch eine Corpus luteum-Insuffizienz. Es bestehen ovulatorische Zyklen ohne nachweisbare pathologische Veränderungen. Als Therapie werden moderne orale Kontrazeptiva mit einem antimineralkortikoid wirkenden Gestagen empfohlen. Bisher konnte keine Studie einen Vorteil der Hormonbehandlung gegenüber dem Placebo mit einer exzellenten Wirksamkeit (durchschnittlich 50%) bei geringer Nebenwirkungsrate nachweisen. 31.4.8 Amenorrhoe Eine primäre Amenorrhoe besteht in Anpassung an die Akzeleration der Entwicklungsdaten in den letzten zwei Dekaden, wenn bis zum vollendeten 15. Lebensjahr keine Periodenblutung aufgetreten ist.
5 5 5 5
LH, FSH, E2 Prolaktin TSH, fT4 Testosteron, DHEAS (adrenerg), Androstendion (teilweise ovariell) 5 Beta HCG bei sekundärer Amenorrhoe
Erweitertes diagnostisches Spektrum 5 5 5 5 5
Gestagen-Östrogen Test Ev. GnRH -Test Ev. ACTH-Test Chromosomenuntersuchung Laparaskopie
Primäre Amenorrhoe
In der pädiatrischen Praxis werden eher Patientinnen mit primärer Amenorrhoe vorstellig. Entsprechend den in 7 Kap. 26 (Pubertätsstörungen) aufgeführten Richtlinien ist eine sinnvolle Diagnostik entsprechend der Ausprägung der Reifezeichen und Entwicklung anhand der Tanner-Stadien möglich. Zur differenzialdiagnostischen Abklärung hat sich in der Praxis ein Flussdiagramm bewährt, das eine organspezifische Differenzialdiagnose durch Inspektion und körperliche Untersuchung erlaubt. Bei der weiteren Diagnostik kommen laborchemische Verfahren zur Bestimmung endokrinologischer Parameter, Chromosomenbestimmungen, radiologische Verfahren wie Ul-
265 31.4 · Der Zyklus
VERDACHT
Allg. DIAGNOSTIK
31
HORMONLABOR
• Organisch hypothalamischhypophysäre Störung • Psychogene Amenorrhoe (Anorexie) Pubertas tarda
• Gewicht • Knochenalter • Ultraschall • Tanner-Stadien • Rö-Sella Psychoexploration
• LH/FSH Quotient • Gn-RH-Test • Prolaktin, DHEA, E2, TSH, T3, T4
• Gonadendysgenesie • Ovarialhypoplasie • Testikuläre Feminisierung
• Größe • Knochenalter • Rö-Sella • Ultraschall • Pyelogramm (Fehlbildungen?) • Karyotyp • Chromosomenanalyse • Laparoskopie • Histologie
• LH, FSH • Gn-RH-Test • E2, STH, IGFBP3 • TSH, T3, T4
• PCO-Syndrom (Stein-Leventhal-S.) • Androblastom
• (Pyelogramm) • Ultraschall
• Testosteron, Androstendion, DHEA-S • Pregnantriol, Prolaktin • LH/FSH Quotient • ACTH,Cortison (evtl. ACTHH-, Dexamethason-HCG-Test)
• Vaginalaplasie • Gynatresie
• LH, FSH, E2 • Basaltemperatur
• Ultraschall • (Laparoskopie)
. Abb. 31.1. Differenzialdiagnostische Abklärung bei Patienten mit primärer Amenorrhoe
traschall, CT usw. und invasive diagnostische Verfahren zum Einsatz (. Abb. 31.1). Sekundäre Amenorrhoe
Die sekundäre Amenorrhoe führt meist zur Vorstellung in der gynäkologischen Praxis. Die auslösende Ursache kann hypothalamisch, hypophysär, ovariell, adrenal oder metabolisch bedingt sein. In der Praxis überwiegt die hypothalamische Amenorrhoe, die sich schleichend im Übergang der Oligomenorrhoe entwickelt. In diesen Formenkreis gehören die Störungen, die durch auffällige psychische Veränderungen der Patientin bedingt sind. Des Weiteren sind in der Gruppe Amenorrhoen zusammengefasst, die durch Essstörungen bedingt sind wie die Anorexie, Bulimie oder auch Adipositas. Auch die Sportlerinnenamenorrhoe bei Ausdauer- oder Leistungssportarten gehört zu den hypothalamisch bedingten Zyklusstörungen. Formen der Ovarialinsuffizienz. Für die weitere rationelle Diagnos-
tik in der Praxis hat sich die Einteilung nach dem zugrunde liegenden Symptom, der funktionellen Ovarialinsuffizienz bewährt.
5 Hyperprolaktinämisch 5 Mikroprolaktinom 5 Hyperandrogenämisch 5 PCO-Syndrom 5 Metabolisch-endokrin 5 Hypothyreose 5 Diabetes mellitus 5 Übergewicht 5 Untergewicht
Hyperandrogenämische Ovarialinsuffizienz. Siehe Hirsutismus/
PCO-Syndrom Hyperprolaktinämische Ovarialinsuffizienz. Bei erhöhten Pro-
laktinwerten muss berücksichtigt werden, dass es physiologische Schwankungen gibt. Differentialdiagnostisch muss eine Hypothyreose, eine adenomatöse Veränderung des Hypophysenvorderlappens oder Tumoren der Sellaregion sowie die Einnahme von Drogen abgeklärt werden. Gelegentlich finden sich Mikroprolaktinome mit mäßig erhöhten Prolaktinwerten.
Formen der Ovarialinsuffizienz 5 Hypophysen-, ZNS-Tumor 5 Hypothalamisch 5 Psychogen 5 Sportleramenorrhoe 5 Stress
6
Endokrine Störungen. Gerade in endemischen Jodmangelgebieten wie in Süddeutschland muss eine Abklärung einer Hypothyreose als Ursache einer Zyklusstörung erfolgen; zu Schilddrüsenstörungen: ▶ Kap. 19. Hypothalamische Amenorrhoe. Die hypothalamische Form der
Amenorrhoe ist in der Praxis die häufigste Form bei Jugendli-
266
Kapitel 31 · Jugendgynäkologie
chen. Als auslösende Ursache gelten auffällige psychische Veränderungen wie Depressionen, Angstzustände oder vegetative Dysfunktionen, Esstörungen wie Anorexie oder Bulimie, anhaltende Stressfaktoren und Leistungssport. Sekundäre Ovarialinsuffizienz. Im Rahmen einer bestehenden malignen Grunderkrankung kann durch die notwendige hochdosierte Chemotherapie bzw. Strahlentherapie eine sekundäre Ovarialinsuffizienz resultieren. ! Die diagnostische Abklärung sowie die Therapie jeder primären oder sekundären Amenorrhoe bei weiblichen Jugendlichen soll in Zusammenarbeit mit einem jugendgynäkologisch versierten Frauenarzt oder einem endokrinologischen Zentrum erfolgen.
31.5
Unterbauchschmerzen
Unterbauchschmerzen sind ein häufiges Symptom bei jungen Mädchen in der Praxis. Neben der Unterscheidung akute und chronische Unterbauchschmerzen ist in der Jugendgynäkologie die Unterscheidung zyklusabhängig – zyklusunabhängig von besonderer Bedeutung. Eine korrekte Erfassung der Zyklusanamnese gehört daher in der Jugendmedizin zu den »Basics«. 31.5.1 Zyklusabhängige Schmerzen
31
Bei den zyklusabhängigen Schmerzen sind Dysmenorrhoe, Prämenstruelles Syndrom, Ovulationsschmerzen, Endometriose und PCO-Syndrom zu differenzieren. Ovulationsschmerzen sind bei jungen Mädchen als mitzyklisches Schmerzereignis selten. Manche Mädchen spüren den Eisprung durch einen leichten Schmerz im Unterbauch (Mittelschmerz) auf Grund der Kapselspannung oder erfolgter akuter Einblutungen. Wenn eine Therapie erforderlich ist, werden bei zusätzlichem Verhütungswunsch orale Kontrazeptiva eingesetzt. Endometriose
Die Endometriose tritt als Dysmenorrhoe prä- und perimenstruell in Erscheinung. Es können Dyspareunie, persistierende Unterbauchschmerzen, Menorrhagie, Obstipation und Sterilität bestehen. Hormonabhängiges Endometrium kann als Endometriosis genitalis interna – im Myometrium oder Befall der Tuben, als Endometriosis genitalis externa – mit Herden an Ovarien, Vagina, Vulva, Perineum oder Douglasschem Raum, als Endometriosis extragenitalis – mit Herden im Bauchraum, Darm, Lunge, Nabel usw. auftreten. Die endgültige Diagnosesicherung erfolgt in der Regel durch eine diagnostische Laparaskopie. Bei diesem operativen Vorgehen können Endometrioseherde koaguliert, exzidiert oder gelasert werden. Die konservative Therapie besteht in der Gabe gestagenbetonter Ovulationshemmer oder Gestagenen. Danazol oder GnRH – Analoga kommen bei Jugendlichen nicht zum Einsatz. 31.5.2 Zyklusunabhängige Schmerzen Bei den zyklusunabhängigen Schmerzen können akute und chronische Unterbauchschmerzen differenziert werden.
Akute Unterbauchschmerzen
Als einseitige, beidseitige oder zentral lokalisierte zyklusunabhängige Schmerzen im Unterbauch können auftreten:
Schmerzen im Unterbauch 5 PID (Pelvic inflammatory Disease), Adnexitis, Salpingitis, Endometritis 5 Ovarialzysten, Ovarialtumoren, Myome 5 Stieldrehungen Ovar/Myom, Fehlbildungen (Hymenalatresie, Vaginalaplasie usw.) 5 Tubargravidität, Schwangerschaft 5 Harnverhaltung, Zystitis, »Honeymoon-Zystitis«, Uretherstein 5 Appendizitis, Enteritis, Enterokolitis, Divertikulitis, Meckel-Divertikel, Volvulus, mechanischer Ileus, Akuter Schub M. Crohn, Colon irritabile 5 Mesenterialvenenthrombose, Aneurysmen 5 Inguinalhernien, Beckenbodenmyalgien 5 Bandscheibenvorfall, Iliokokzygealschmerzen 5 Trauma (Schlag, Verletzung)
PID (Pelvic inflammatory Disease), Adnexitis, Salpingitis, Endometritis
Bei entzündlichen Erkrankungen im Unterbauch kann es durch eine Keimaszension durch die Vagina in die Zervix zu fortgeleiteten Infektionen der Salpingen (Salpingitis), Adnexen (Adnexitis) und im kleinen Becken (PID) kommen. Die Symptome bestehen in Unterbauchschmerzen z. T. mit Menometrorrhagie und Douglasschmerzen. Die Diagnostik umfasst eine klinische Untersuchung mit Vaginal/Zervikal-Abstrich, Entzündungsparameter im Blut sowie eine Ultraschalluntersuchung des Unterbauchs. Selten ist eine diagnostische Laparaskopie erforderlich. Die Therapie besteht in der Durchführung einer Antibiose (z. B. Doxycyclin/Metronidazol), einer symptomatischen Lokaltherapie, einer physikalischen Therapie zur Verbesserung der Durchblutung wie z. B. Mikrowelle und eventuell einer antientzündlichen systemischen Therapie. Manche Autoren verwenden zusätzlich eine enzymatische Therapie (z. B. Traumanase). Als Keimspektrum kommen STD-Erreger (Sexual trasmitted Desease) neben klassischen Geschlechtserkrankungen in Frage:
Keimspektrum 5 5 5 5 5 5
Chlamydieninfektionen Candidainfektionen Streptokokkeninfektionen (A, B) HPV (humane Papillomaviren) HSV (Herpes simplex-Viren) Aminkolpitis (Hämophilus vaginalis)
Gerade bei Jugendlichen nehmen sexuell übertragbare Erkrankungen zu. Als Risikofaktoren gelten das Sexualverhalten wie niedriges Alter beim ersten Geschlechtsverkehr, relativ hohe Anzahl der Sexualpartner, Nichtgebrauch von Kondomen, analer bzw. oraler Geschlechtsverkehr oder auch Homo- und Bisexualität. Die größte Gefährdung besteht für junge Mädchen, die einer ethnischen Minderheit angehören, bei Armut, Arbeitslosigkeit sowie Alkohol- und Drogenkonsum. Diese Gefährdung resultiert
267 31.5 · Unterbauchschmerzen
aus unzureichenden oder fehlenden Sexualerziehungsprogrammen in der Schule sowie einer inadäquaten ärztlichen Versorgung. Das Fehlen von kompetenten Gesundheitseinrichtungen und die mangelnde Akzeptanz bei den Jugendlichen kommt erschwerend hinzu. Ein generelles STD-Screening bei sexuell aktiven Jugendlichen auf Chlamydien, Gonokokken, HPV-Viren wie von der AAP (American Association for Pädiatrics) gefordert, ist auch in Deutschland wünschenswert, um den Folgen einer STD-Erkrankung wie Infizierung weiterer Partner durch asymptomatische Erkrankte, PID (Pelvic infection Disease) und einer möglicherweise resultierende tubare Sterilität vorzubeugen. Ovarialzysten, Ovarialtumoren, Myome
Akute Unterbauchschmerzen können bei Jugendlichen auch durch Ovarialtumoren oder Uterustumoren hervorgerufen werden. Am häufigsten sind dabei funktionelle Ovarialzysten (7 Abschn. Follikelpersistenz), Zystome, Endometriome, Granulosazelltumor und Teratome, die durch die klinische Untersuchung, Labor- und Hormonchemie und die Sonographie bzw. Laparoskopie diagnostiziert werden. Die Sonographie hat bei der Diagnostik einen hohen Stellenwert. Benigne Ovarialzysten sind durch eine glatte Wandung (innen/außen), fehlende oder homogene Binnenechos und fehlendem Aszites gekennzeichnet. Als Therapieoptionen kommen regelmäßige klinische, sonographische Kontrolle, Suppression durch Hormone und bei Bedarf eine operative Abklärung in Frage. Bei großen Ovarialzysten kann es zu akuten Schmerzereignissen durch eine Stieldrehung oder eine Ruptur mit Einblutungen kommen. Maligne Tumoren wie Dysgerminome, Granulosazelltumor oder Sarkome kommen in 20% der Tumoren vor (Lauritzen) und müssen differentialdiagnostisch sicher ausgeschlossen werden. Stieldrehungen Ovar/Myom, Fehlbildungen (Hymenalatresie, Vaginalaplasie)
Fehlbildungen wie Hymenalatresie oder Vaginalaplasie müssen bei jedem Mädchen in der Säuglingszeit (Vorsorgeuntersuchungen) diagnostiziert und einer Therapie spätestens mit Eintritt der Pubertät zugeführt werden. Ovarialtorsionen oder Adnextorsionen bei größeren Ovarialzysten können ebenso wie Hydatidentorsionen ein akutes Abdomen verursachen. Bei der akuten Adnextorsion ist die Reversibilität der Ischämie durch eine laparoskopische Therapie mit fixierter Retorsion hoch. Rotationsbewegungen (Schulsportbefreiung) sollen bei Nachweis persistierender Ovarialzysten vermieden werden.
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führliche Beratung mit dem Hinweis, die Blase unmittelbar vor und nach dem Sexualkontakt zu entleeren und die Trinkmenge zu steigern. Appendizitis, Enteritis, Enterokolitis, Divertikulitis, MeckelDivertikel, Volvolus, mechanischer Ileus, Akuter Schub M. Crohn, Colon irritabile
Als akute Erkrankungen aus dem Gastrointestinaltrakt treten Unterbauchschmerzen auf, die durch eine Entzündung der Darmanteile bedingt sind und differentialdiagnostisch abgeklärt werden müssen. Mesenterialvenenthrombose, Aneurysmen
Mesenterialvenenthrombosen sind extrem seltene Ereignisse, an die im Rahmen einer vorbestehenden Grunderkrankung z. B. Marfan-Syndrom gedacht werden muss. Inguinalhernien
Inguinalhernien müssen als Ursache von Unterbauchschmerzen differentialdiagnostisch ausgeschlossen werden. Bandscheibenvorfall, Iliokokzygealschmerzen
Bereits im Jugendalter sind akute Schmerzen im Bereich der Lendenwirbelsäule und des Kreuzbeins häufig. Sie können nach akuten Belastungssituationen im Sport oder als Folge spontaner Bewegungen bei schlechter motorischer Koordination und Bandoder Muskelschwächen auftreten. Trauma (Schlag, Verletzung)
Gewalt unter Jugendlichen in Form von körperlicher oder sozialer Gewalt ist ein konstantes Phänomen mit zunehmender Frequenz. Die Frage nach einer möglichen Gewalteinwirkung muss sensibel gestellt werden, da Gewalterfahrungen zum Schutz der Peergruppe, aber auch aus Eigenschutz verneint werden. Selbstverständlich muss ein Trauma z. B. durch eine Schlag in den Unterbauch ausgeschlossen werden. Uteruslageanomalien, Uterusmissbildungen
Retroflexio uteri oder Varicosis pelvis sind als Ursache juveniler Unterbauchschmerzen sehr selten. Missbildungen des Uterus können bei einer Abflussbehinderung auch zu akuten Schmerzen führen. Chronische Unterbauchschmerzen
Chronische Unterbauchschmerzen stellen in der Jugendmedizin und Jugendgynäkologie eine komplexe Problematik dar, da wie bei akuten Beschwerden unterschiedliche Organsysteme beteiligt sein können:
Tubargravidität, Schwangerschaft
Bei Jugendlichen muss bei akuten Unterbauchschmerzen eine ektope Schwangerschaft bzw. ein Frühabort differentialdiagnostisch ausgeschlossen werden. Harnverhaltung, Zystitis, »Honeymoon-Zystitis«, Uretherstein
Akute Zystitiden oder Koliken durch Uretersteine treten als urologisch bedingte Bauchschmerzen im gesamten Unterbauch auf. Harnverhaltungen können bei Überdehnung der Harnblase auftreten sowie neuromuskulären Störungen. Die »HoneymoonZystitis« findet sich gelegentlich bei Jugendlichen als Ausdruck der lokalen Druckbelastung bei seltenem, aber kurzfristig wiederholtem vaginalem Geschlechtsverkehr. Hilfreich ist eine aus-
Chronische Unterbauchschmerzen 5 Gastrointestinales Organsystem mit Magen, Ileum, Kolon 5 Urogenitales Organsystem mit Urethra, Blasen, Uretheren, Nieren 5 Knöcherne Organsysteme wie Lendenwirbelsäule, Kreuzbein, Becken 5 Muskuläre Organsysteme wie Beckenboden, M. Psoas, Fibromyalgiesyndrom 5 Venöse und arterielle Organsysteme
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268
Kapitel 31 · Jugendgynäkologie
5 Neurale Organsysteme wie Rückenmark und periphere Nerven 5 Psychisches Organsystem mit Somatisierungsbeschwerden 5 Angeborene und erworbene Erkrankungen mit Unterbauchschmerzen 5 Genitales Organsystem mit Uterus, Adnexen, Ovarien
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Angeborene und erworbene Erkrankungen mit Unterbauchschmerzen
In der Pädiatrie treten mit zunehmender Migration aus Mittelmeerländern Krankheitsbilder auf wie das familiäre Mittelmeerfieber, die mit chronischen Unterbauchschmerzen verbunden sein können. Dies trifft auch für die Porphyrie zu. Bauchschmerzen, Meteorismus und Diarrhoe sind die führenden Symptome einer Laktoseintoleranz oder einer spät auftretenden Glutenintoleranz.
Genitales Organsystem mit Uterus, Adnexen, Ovarien
Psychisches Organsystem mit Somatisierungsbeschwerden
Bei Jugendlichen müssen neben angeborenen uterinen Missbildungen wie z. B. Uterus bicornis mit Verschluss eines Hornes auch erworbene Ursachen wie z. B. eine Zervixstenose ausgeschlossen werden. Chronische Endometritiden oder Salpingitiden treten selten auf. In Verbindung mit einem liegenden Intrauterinpessar müssen sie differentialdiagostisch ausgeschlossen werden. Polypen des Endometriums oder der Cervix uteri können im Rahmen von Infektionen auftreten. Die Endometriose ist bei Jugendlichen eine häufige und unterdiagnostizierte Ursache chronischer Unterbauchschmerzen. Die relativ typische Schmerzproblematik mit zyklischen, chronischen, z. T. auch unregelmäßigen Schmerzen wird bei Jugendlichen primär nicht mit der Erkrankung »Endometriose« assoziiert. Die angegebenen Schmerzen korrelieren dabei nicht mit der Ausprägung des Krankheitsbildes. Die Diagnosesicherung kann nur durch eine invasive Methode, z. B. die Laparoskopie erfolgen. Dies kann die Ursache für die lange Latenz zwischen Auftreten des Beschwerdebildes und der Stellung der Diagnose sein. Ovarialzysten, Adnexzysten oder Peritonealzysten können Ursachen für extrauterin genitalbedingte Schmerzen sein. Die Ursache kann in dem peritonealen Dehnungsschmerz oder einer rezidivierenden subtotalen Torquierung liegen. Die häufigste Ursache sind postoperative oder postentzündliche Adhäsionen im Bauchraum. Bei Migrantinnen muss auch an sehr seltene Krankheitsbilder wie z. B. eine Genitaltuberkulose gedacht werden. Lageanomalien, wie eine ausgeprägte Retroflexio uteri, werden als seltene Ursachen chronischer Unterbauchschmerzen beschrieben (. Tab. 31.2).
Unklare, rezidivierende Unterbauchschmerzen sind ein häufiges Symptom bei Somatisierungsstörungen bei Jugendlichen; 7 Kap. 30. Neben unbewältigten Konflikten in der Ablösung von den Bezugspersonen können pubertätsspezifische Konflikte (7 Kap. 26) die Ursache sein. Gewaltanwendungen in der Kindheit und Jugend z. B. sexuelle Übergriffe können sich in Bauchschmerzen äußern. Die Übernahme der spezifisch weiblichen Rolle mit den daran gekoppelten Erwartungen der Gesellschaft, der Peergroup und der Bezugspersonen mit dem Spagat als sexuell attraktives Individuum, verantwortungsbewusste junge Frau mit Engagement in der Schule und in Zukunft werdende Mutter und Hausfrau kann sich in chronischen Schmerzen ausdrücken (7 Kap. 4). Soziale Belastungen wie Mobbing in der Schule oder der Gruppe der Peers lösen häufig Somatisierungsbeschwerden im Unterbauch aus (7 Kap. 33.2). Depressive Jugendliche geben gehäuft Unterbauchschmerzen als körperliches Symptom an. Unzufriedenheit mit dem sexuellen Erleben oder Sexualität verneinende Erziehung können sich wie auch Konflikte mit dem Freund in Unterbauchschmerzen äußern. Neurale Organsysteme wie Rückenmark und periphere Nerven
Jugendliche mit angeborenen Erkrankungen des Rückenmarks wie z. B. Spina bifida (▶ Kap. 11.3) oder erworbenen Erkrankungen wie Tumoren oder Traumen des Rückenmarks oder der Sakralnerven können unter chronischen Unterbauchschmerzen leiden. Venöse und arterielle Organsysteme
. Tabelle 31.2. Ursachen chronischer Unterbauchschmerzen bei Jugendlichen
Diagnose
Endometriose Postoperative Adhäsion Serositis Ovarialzyste Uterine Missbildungen Ohne pathologischen Befund Andere wie Ileitis, infarzierte MorgagniHydatide, Varikosis uterie
Patientinnen N
%
120 37 15 14 15 71 4
45 13 5 5 5 25 2
Postoperative Diagnosen bei 282 adoleszenten Mädchen mit chronischen Unterbauchschmerzen. Nach: Matthias et al. (1996)
Die Varicosis uteri sowie Durchblutungsstörungen im Unterbauch werden als seltene Ursachen für Unterbauchbeschwerden angegeben. Muskuläre Organsysteme wie Beckenboden, M. Psoas, Fibromyalgiesyndrom
Die Verspannung des Beckenbodens und des M. Psoas kann mit zyklischen chronischen Unterbauchschmerzen einhergehen, tritt aber bei jugendlichen Mädchen nur selten auf. Fibromyalgiesyndrome werden bei jungen Mädchen mit chronisch auftretenden Muskelschmerzen an Muskelansatzpunkten beschrieben. Knöcherne Organsysteme wie Lendenwirbelsäule, Kreuzbein, Becken
Knöcherne Organsysteme wie Lendenwirbelsäule, Kreuzbein, Becken sind häufige Auslöser von Beschwerden bei Jugendlichen. Diese resultieren aus Bewegungsmangel, Haltungsschwächen, Übergewicht und fehlender sportlicher Aktivität. Diese Schmerzen können in den Unterbauch ausstrahlen und müssen sorgfältig ausgeschlossen werden.
269 Literatur
Urogenitales Organsystem mit Urethra, Blasen, Uretheren, Nieren
Chronische Harnwegsinfekte, rezidivierende Zystitiden, Urethraldivertikel, chronische Pyelitiden können als Ursache chronischer Unterbauchschmerzen in Betracht kommen. Gastrointestinales Organsystem mit Magen, Ileum, Kolon
Die Colitis ulcerosa, der Morbus Crohn sowie eine Divertikulitis können bereits im Jugendalter als Ursache chronischer Unterbauchschmerzen auftreten. Das Reizdarm-Syndrom oder Colon irritabile ist eine häufige Diagnose bei chronischen Unterbauchschmerzen bei Frauen. Dabei treten gehäufte oder verminderte Defäkationen mit wechselnder oder konstanter Diarrhoe mit gesteigerter Flatulenz auf. Die Ätiologie ist ungeklärt, eine mögliche Ursache ist die Laktoseintoleranz. Bei jungen Mädchen können Unterbauchschmerzen sowohl als Folge einer chronischen Obstipation als auch einer chronischen Diarrhoe entstehen. Der Missbrauch von Laxantien zur Gewichtsreduktion ist dabei abzuklären. Gelegentlich werden auch Nahrungsmittelunverträglichkeiten wie Glutenintoleranz erst im Jugendalter diagnostiziert. 31.5.3 Diagnostik und Therapie
in der Jugendarztpraxis Häufig ist die Diagnose von Bauchschmerzen in der Praxis eindeutig und schnell gestellt. Die aufgeführten Differentialdiagnosen bei akuten und chronischen Erkrankungen müssen aber bei der Abklärung sorgfältig berücksichtigt werden. Die Instrumente der medizinischen Diagnose sind eine sorgfältige Anamnese mit ev. Schmerztagebuch, die komplette körperliche Untersuchung im Sinne eines Ganzkörperstatus sowie eine Ultraschalluntersuchung des Abdomens. Ergänzend können je nach Indikation laborchemische Verfahren sowie weitere invasive Verfahren wie Endoskopien erforderlich sein. Die Instrumente der psychologischen Diagnose sind eine erweiterte kinderund jugendpsychiatrische Anamnese und psychometrische Fragebögen. Bei organischen Erkrankungen erfolgt eine dem Jugendalter adaptierte spezifische Therapie der einzelnen Grunderkrankung mit medikamentöser oder operativer Therapie. Im Vordergrund der Bemühungen des Jugendarztes kann aber auch die Symptomkontrolle stehen, das Erarbeiten von Behandlungskonzepten und Behandlungsplänen sowie notwendige Kriseninterventionen. Bei psychischen Erkrankungen erfolgt die Intervention durch eine kurzfristige stabilisierende Gesprächstherapie, die bei Notwendigkeit eine längerfristige Psychotherapie nach sich zieht. Von besonderer Bedeutung für die Praxis ist die Prävention medizinischer und psychischer Störungen, eine Verbesserung der Selbstakzeptanz und der Verhinderung einer ökonomischen und sozialen Isolation.
Literatur Howard FM (2003) Chronic pelvic pain. Obstet.Gynecology 101: 594–611 Janssen OE, Öffner A, Schopohl J, Brabant G (2000) Das metabolische Syndrom bei polyzystischen Ovarien: Ätiologie, Diagnose und Therapie im Überblick. Klinikarzt Jul;6(31): 163–166. Review Lauritzen C (1999) Möglichkeiten der Vorbeugung in der Kinder- und Jugendgynäkologie. Korasion 4/14. H.U.F.
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Lauritzen C (1987) Gynäkologische Endokrinologie. Klinik der Frauenheilkunde und Geburtshilfe. Urban & Schwarzenberg Matthias SD, Kuppermann M, Libermann RF et al. (1996) Chronic pelvic pain: Prevalence, health related quality of life and economic correlates. Obstet, Gynecol 87, 321–327 Sanfillipo JS (2003) Adolescent pelvic pain. Best practise Res. clin. obstet. Gynaecol 17. 93–101 Roth C (2003/2004) Hormonelle Kontrolle der Pubertät. Pädiatrische Praxis 64. Marseille. 221–233 Weissenrieder N (2001) Jugendgynäkologie in der Praxis umsetzen, Gynäkologie und Geburtshilfe 5, Urban & Vogel Weissenrieder N (2002/2003) Kinder- und Jugendgynäkologie in der Praxis, Pädiatrische Praxis, Marseille Wolf, AS (1994) Genitaltumore in Kinder-und Jugendgynäkologie in Sprechstunde und Klinik, Heinz M: Deutscher Ärzte Verlag
Exkurs
Teilnahme am Schulsport während der Menstruation (Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Sportmedizin und Prävention e. V. [Deutscher Sportärztebund], Stand: 24.02.2004) Die Empfehlungen sollen die Fragen von Schülerinnen, Eltern und Lehrkräften über das Verhalten beim Schulsport während der Menstruation klären: 1. Die Menstruation ist ein natürlicher Vorgang im weiblichen Körper, die Schülerinnen müssen ihren gewohnten Tagesablauf nicht ändern. Die Teilnahme am Schulsport sollte daher selbstverständlich sein. 2. Jede Sportart kann prinzipiell auch während der Regelblutung betrieben werden. Die sportliche Leistungsfähigkeit muss nicht beeinträchtigt sein. Individuell kann es zu Leistungsverschlechterungen, aber auch zu Leistungsverbesserungen kommen. Gegebenenfalls sollten daher für Sportprüfungen zwei Termine angeboten werden. 3. Wissen über die anatomischen und physiologischen Zusammenhänge der Menstruation und eine entsprechend fachlich qualifizierte Aufklärung helfen den Mädchen, mögliche Ängste abzubauen und vermitteln Sicherheit in diesen Tagen. 4. In den ersten zwei bis drei Jahren nach der Menarche (= erste Regelblutung) kommen Unregelmäßigkeiten des Zyklus häufig vor. Sie sind im Allgemeinen bedeutungslos und kein Grund, auf die Teilnahme am Schulsport zu verzichten. 5. Ungewöhnlich starke Blutungen oder Schmerzen während der Regel sollten Anlass sein, einen Arzt oder eine Ärztin aufzusuchen 6. Sportliche Bewegung kann in vielen Fällen Menstruationsbeschwerden lindern, denn sie fördert die Durchblutung, löst Verkrampfungen der Muskulatur und entspannt. 7. Hygieneprobleme lassen sich durch Verwendung von Tampons vermeiden. Die Tamponbenutzung ist von der ersten Menstruation an gesundheitlich unbedenklich. Damit sind Mädchen auch beim Schwimmen sicher geschützt. 8. Wenn der behandelnde Arzt/die behandelnde Ärztin in Ausnahmefällen die Freistellung vom Schulsport während der Menstruation empfiehlt, sollten die Mädchen dennoch während des Sportunterrichts anwesend sein und die Übungen verfolgen.
243
30
30 Somatisierungsstörungen B. Mangold gen, die bei nicht vorhandenen Lösungsstrategien und einer Neigung zum Internalisieren – »Schlucken« – der Probleme zu Somatisierungsstörungen führen können.
)) Krankheit im Zusammenhang mit einer lebenszyklischen Entwicklungsphase und damit im Kontext von persönlichen, familiären und gesellschaftlichen Entwicklungsprozessen zu sehen, ist eine Sichtweise, die meinem Verständnis und meiner Erfahrung als systemischer Familientherapeut sehr nahe kommt. Besonders bei Somatisierungsstörungen, deren Genese aus einem komplexen Wechselspiel bio-psychosozialer Faktoren bestimmt wird, muss jeder einseitige Zugang zu einem Verständnis der Erkrankung oder auch zu einer adäquaten Therapie erfolglos bleiben.
In unserer Kopfschmerzstudie sind Jugendliche im Durchschnitt über zwei Jahre in medizinischer Betreuung, bis sie einer umfassenden ›psychosomatischen‹ Betreuung zugeführt werden. Dies ist unseres Erachtens als Hinweis auf eine iatrogene Chronifizierung zu bewerten. Entsprechende Sensibilität und Wissen um die Prozesse, die zu einer Somatisierung führen, können im Vorfeld der Psychotherapie den Krankheitsprozess positiv verändern. 30.1.1 Somatisierungsstörungen und Lebenszyklus
(Pubertäts- und Adoleszenzkrise) Eine systemische Perspektive
30.1
Somatisierungsstörungen und Pubertät
Die Jugendmedizin ist heute ein noch wenig bearbeitetes Fachgebiet – vernachlässigt einerseits durch die Pädiatrie, vernachlässigt auch durch die Erwachsenenmedizin. Dies mag einen Grund haben in der Komplexität und Problematik dieser Entwicklungsphase beim Jugendlichen selbst, aber auch darin, dass wir den Jugendlichen einerseits als nach Autonomie und Selbstbestimmung ringende Person, aber gleichzeitig von der Familie und Gesellschaft in Abhängigkeit befindliche Person erleben. Somatisierungsstörungen sind in vielfältiger Weise Ausdruck dieser Entwicklungsphase, die gekennzeichnet ist von einer Ambivalenz zwischen Abhängigkeit und dem Wunsch nach Selbstbestimmung. Dementsprechend kann eine Jugendmedizin nur in einem »familienmedizinischen Kontext« adäquate Diagnose- und Therapiekonzepte entwickeln. Die Integration der Erfahrungen aus der systemischen Familientherapie können sowohl aus dem vorhandenen theoretischen Background sowie auch den praktischen Erfahrungen der Familientherapie mit großer Effizienz in eine familienorientierte Jugendmedizin integriert werden. Es ist mir ein Anliegen, in diesem Beitrag die Erfahrungen aus der systemischen Familientherapie, die Erfahrungen aus einer interdisziplinären Kooperation zwischen Therapeuten, Kinderpsychiater und Kinder- und Jugendarzt in der Arbeit mit Jugendlichen darzustellen. Ein wesentlicher prophylaktischer Ansatz zur Vermeidung von Somatisierungsstörungen ist das führzeitige Erkennen »funktioneller Symptome«, wie z. B. klinisch nicht erklärbare Störungen, vor allem im vegetativ gesteuerten Organsystemen (Gastrointestinaltrakt, Kreislaufsystem). Somit sind Allgemeinmediziner, Kinder- und Jugendärzte, Gynäkologen, aber auch Mitarbeiter in psychosozialen Einrichtungen, die Kinder und Jugendliche mit chronisch psychosozialen und familiären Belastungen betreuen, besonders angesprochen. Als »Gate keeper« haben sie Somatisierungsstörungen frühzeitig zu erkennen und entsprechende Hilfestellungen zu vermitteln. ! Auch allgemeine Müdigkeit, Leistungsabfall in der Schule, sozialer Rückzug sind Hinweise auf chronische Belastun-
6
Die spezifische Lebensphase der Pubertät ist gekennzeichnet durch den Prozess der Autonomieentwicklung beim Jugendlichen sowie durch den Prozess des »Loslassens« aus der elterlichen Obhut. Beide Prozesse – die individuelle Entwicklung wie auch die interpersonellen (familiären) Beziehungsprozesse – können nicht getrennt voneinander gesehen und auch nicht getrennt interpretiert werden. Eine Optimierung dieser zentralen Prozesse der Autonomieentwicklung erfordert auf der professionellen Seite Verständnis und Unterstützung für den Jugendlichen sowie gleichzeitig Verständnis und Unterstützung für die Blockaden im notwendigen Ablösungsprozess, die nur auf dem Hintergrund des Wissens um die Familiendynamik richtig interpretiert und therapeutisch unterstützt werden können. Auf der Basis dieses »systemischen Verständnisses« für Beziehungsprozesse können auch die Möglichkeiten, aber auch die Schwierigkeiten für den Arzt, Therapeuten beschrieben werden. Das systemische Konzept der lebenszyklischen Krise erlaubt es uns, Somatisierungsstörungen und auch andere klinische Probleme, die während der Pubertät in Erscheinung treten, auf dem Hintergrund notwendiger Veränderungen, sowohl in der persönlichen Entwicklung wie auch in der Familienentwicklung zu sehen. Vielen Familien gelingt es, nach einer Zeit der Konfusion und der Beziehungsprobleme, die Regeln und Grenzen familiären Zusammenlebens im Rahmen der Pubertätsentwicklung so zu ändern, dass die Beziehungsmuster reorganisiert werden können. Dies macht es Jugendlichen möglich, mehr Autonomie und Unabhängigkeit zu erwerben, die als die Basis einer gesunden körperlichen und emotionalen Entwicklung gesehen werden kann. 30.1.2 Krankheit als Folge blockierter Autonomie-
entwicklungen – blockierte Autonomieentwicklung als Folge ungelöster familiärer Beziehungsprobleme Es gibt eine Reihe von »Stolpersteinen«, die diese Autonomieentwicklung blockieren können. Diese zeigen sich in familiären Dysfunktionen (Beziehungsebene) und klinischen Symptomen (Somatisierungsstörungen, kinderpsychiatrische Symptome). Beide
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30
Kapitel 30 · Somatisierungsstörungen
Dysfunktionen sind nicht unbedingt als Pathologie oder individuelle Problematik eines Jugendlichen oder unfähiger Eltern zu sehen, sondern eine Störung in der Entwicklung notwendiger Veränderungen in einer dysfunktionalen Interaktion im lebenszyklischen Veränderungsprozess der Pubertät. Es ist auch in den wenigsten Fällen eine Problematik auf der dyadischen Beziehungsebene, wie es oft am Anfang scheinen möchte. Somatisierungen können somit nicht als Problem zwischen dem Adoleszenten und der Mutter oder dem Adoleszenten und dem Vater oder einem Geschwisterteil gesehen werden. Pubertäre Probleme sind in der Regel komplexer und können nur auf der triadischen Ebene analysiert und behandelt werden. Hier wird deutlich, dass eine Betreuung eines kranken Jugendlichen in einer Einzeltherapie oder in der gemeinsamen Betreuung mit einem Elternteil zu kurz greifen muss. Die Beziehungsstrukturen sind nur erkennbar und in der Regel auch nur veränderbar, wenn der »bedeutsame Dritte«, der oft fehlende Vater mit in den Prozess einbezogen wird (Konzept der Triangulation w. unten). Drei-Generationen-Perspektive: Gleichzeitig wird auch deutlich, dass im Rahmen einer Adoleszenzkrise sich familiäre Muster zeigen, die sich bereits in den Familien der Eltern als Problem herausgestellt haben. Die Analyse der familiären Entwicklungsdynamik zeigt regelhaft die Wiederholung eigener elterlicher pubertärer Ablösungsprozesse. Das Erkennen dieser generationenübergreifenden Verhaltensmuster macht es im Sinne einer Drei-Generationen-Perspektive möglich, das derzeitige Ereignis nicht nur als Folge eines Entwicklungsproblems des Jugendlichen aber auch nicht nur als Folge des familiären Entwicklungsprozesses, sondern als Folge einer über die Generationen fortgesetzten Familienmusters zu sehen. Durch das Erkennen dieser familiären Beziehungsmuster entsteht Verständnis für den Prozess beim Jugendlichen, weil die Eltern auch gleichzeitig diesen Prozess auf dem Hintergrund der Erfahrungen aus ihrer eigenen Lebensgeschichte erkennen können. Gleichzeitig fällt die Ablösungsproblematik des Jugendlichen sehr oft zusammen mit notwendigen Veränderungen in der Partnerschaft. Die Eltern befinden sich meist in einer eigenen lebenszyklischen Krise, die als »Midlife crisis« bekannt ist. Wenn es dem Arzt und Therapeuten gelingt, den »Ablösungsprozess« gleichzeitig auf allen Ebenen zu sehen, entsteht in der Regel nicht nur Verständnis und Lösungsstrategien für die Entwicklung des Jugendlichen, sondern auch für die Probleme in der Partnerschaft. Die familiäre Veränderungskapazität wird vor allem dadurch motiviert, dass alle Beteiligten spüren, dass sie selbst in einem notwendigen Veränderungsprozess stehen, in dem sie eigene Schritte zur größeren Autonomie erfahren können. Die größten Chancen für eine Veränderung in einer Familie sind dann gegeben, wenn alle Beteiligten zu Gewinnern werden. Nicht wenige Eltern sagen nach einer vom Jugendlichen quasi aufgezwungenen Phase der Neuorientierung: »Es war keine einfache Zeit, sie hat uns aber alle weitergebracht und wir müssen unserer/ unserem Tochter/Sohn dankbar sein, dass sie/er den Mut hatte, ihre/seine persönliche Entwicklung zur Unabhängigkeit mit allen Mitteln – auch mit Krankheitssymptomen – durchzusetzen.«
Auch wenn man glauben könnte, dass Eltern aus ihren eigenen Erfahrungen klüger geworden sind, sieht man doch auch oft, dass sie bei ihren Kindern dieselben Probleme nicht vermeiden können. Eltern können solchen Veränderungen gegenüber mit extremer Konfusion, Ärger oder anderen nicht sehr lösungsorientierten Strategien reagieren und damit zu einem wesentlichen Teil die Problematik aufrechterhalten. Es entstehen somit reziproke Kettenreaktionen. Bei einem geschickten Umgang mit der Ablösungsproblematik durch den Arzt/Therapeut kann dieser Prozess um eine Generation zurückverlagert werden. Die Eltern können dann im Erinnern ihrer eigenen Ablösungskonflikte auf ihre noch nicht erledigten Aufgaben fokussiert und damit neue Freiräume für die eigene Lebensplanung erkennen und erwerben. Die Problematik wird dadurch nicht mehr allein auf den Jugendlichen projiziert. Gelingt es den Eltern, diese Prozesse zu erkennen und zu verändern, haben sie die größte Chance, dieses Wissen auch ihren eigenen Kindern zu teil werden zu lassen. Damit kann ein solcher Prozess alle beteiligten Familienmitglieder zu neuer Autonomie führen.
! Jugendliche können damit durch ihre Probleme Katalysatoren in der Reaktivierung und damit auch zur Lösung alter Familienkonflikte werden. Sie setzen problematische Triangulationen aus früheren Lebensphasen in Bewegung, sie bringen oft ungelöste Konflikte zwischen Eltern und Großeltern an die Oberfläche.
macht es erst möglich, völlig unterschiedliche Reaktionen bei gleichem Schmerz verstehen zu können. Der interpersonelle Kontext sowie das Erkennen der Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Betrachtungsebenen wurde von uns zunehmend als die wesentliche Variable in der Beeinflussung des chronischen Schmerzes wahrgenommen.
30.2
Von der individuum- und organorientierten zur biopsychosozialen, beziehungs- und familienorientierten Medizin
Im Folgenden wird der Paradigmenwechsel am Beispiel unserer interdisziplinären Schmerzambulanz für Kinder und Jugendliche dargestellt. Vom Individuum zum Familiensystem Die Arbeit mit chronisch schmerzkranken Jugendlichen auf der medizinische Ebene ist auf den heutigen Stand des Wissens ungenügend und für Patient, Familie und Ärzte gleichermaßen frustrierend. Es ist allen Kollegen, die sich ernsthaft mit der Thematik chronischer Schmerz befassen, klar, dass in diesem Bereich eine Perspektivenerweiterung auf die psychologische und familiendynamische Ebene notwendig ist. Der erste Schritt in der Perspektivenerweiterung ist das Wahrnehmen von Wechselbeziehungen unterschiedlicher Betrachtungsebenen. In der psychosomatischen Forschung wurden vor allem die Wechselwirkung folgender Betrachtungsebenen als diagnostisch relevant herausgearbeitet. Vom psychophysiologischen zum interpersonellen Konzept Eine systemische Evaluation des interpersonellen Kontextes sowie das Erkennen der Rückbezüglichkeit zwischen 4 Prädisposition (medizinische, psychische Prädisposition) 4 Auslösende Faktoren (verhaltensmedizinische Ebene) 4 Krankheitsaufrechterhaltende Faktoren (beziehungs-/familiendynamische Ebene) 4 Protektive Faktoren (familiendynamische und sozialpsychologische Ebene)
245 30.2 · Von der individuum- und organorientierten zur biopsychosozialen, . . .
Es gibt eine Fülle von bekannten Prädispositionen auf der medizinisch, psychologischen, familiendynamischen Ebene, die in der Diagnostik von Somatisierungsstörungen fundiertes Wissen darstellen. Wir werden auf diese Prädiktoren im Rahmen dieser Arbeit Bezug nehmen (z. B. belastende Interaktionsstörungen in der früheren Kindheit, Traumatisierungsstörungen, chronische familiäre Konflikte etc.). Eine Erweiterung im diagnostischen und therapeutischen Bereich entsteht im Erkennen der Wechselbeziehungen der Symptomatik zu auslösenden Faktoren – wiederum im medizinischen, psychologischen und sozialen Bereich. Eine ganz wesentliche Erweiterung der Dimension in der Diagnostik ist der Schritt von der linear-kausalen Denkweise (Symptom ↔ Auslöser) – »Denken im Bedingungskontext« – zur zirkulären systemischen Sichtweise, die auf die Beziehungsebene fokussiert »Denken im Bedeutungskontext«. Krankheitsaufrechterhaltende Faktoren können nur auf der Beziehungsebene erkannt und richtig interpretiert werden. Eine objektive Darstellung oder Diagnose von chronischen Schmerzen würde sich jeder wünschen, ist jedoch eine Illusion. Dies wird einprägsam belegt, durch die Psychosomatikforschung, in jüngerer Zeit vor allem auch durch die moderne Hirnforschung, die darauf hinweist, dass das Schmerzverhalten auch in der komplexen Vernetzungsstruktur des ZNS »eingeprägt« ist. Vom verhaltenstherapeutischen zum systemischen Kontext 4 Verhaltenstherapeutisch-verhaltensmedizinische Ansatz: Orientiert sich vordergründig am Symptom und an den Folgen der Symptomatik und ihrer Rückbezüglichkeit auf die Beziehungen innerhalb des familiären und außerfamiliären Systems. »Orientierung am Bedingungskontext« der linearnaturwissenschaftlichen Theorie nahestehend (Sprache der Mediziner) 4 Ansatz der systemischen Familientherapie: Orientiert sich vordergründig an der Familiendynamik und der Beziehungsebene und versucht die Bedeutung der Symptomatik im familiären Kontext zu erkennen. Hierbei werden vor allem folgende Fragen fokussiert: 5 Rolle der Familie in der Entstehung von Schmerzen 5 Rolle der Familie in der Aufrechterhaltung von Schmerzen 5 Auswirkung chronischer Schmerzen auf die Familie 4 »Orientierung am subjektiven Bedeutungskontext«: Der circulär-systemischen Theorie nahestehend. »Relevanz entsteht erst in der Beziehung« (Therapeut wird zum Teil des Systems) Die Behandlung chronischer Schmerzen bei Erwachsenen wird im wesentlichen auf der Ebene eines individuum- und symptomorientierten verhaltenstherapeutischen Ansatzes aufgebaut (Entspannung, kognitive Psychotherapie, Selbständigkeitstraining, physikalische Therapie, Hypnotherapie etc.). Eine Behandlung chronischer Schmerzen bei Kindern und Jugendlichen ist ohne die Einbeziehung der Familie aus unserer Erfahrung nicht denkbar, da das Verständnis für chronische Schmerzen ohne den Beziehungskontext der Familie nicht möglich ist, andererseits die wichtigsten Bezugspersonen (in der Regel die Eltern) die wesentlichsten Faktoren sind, die einerseits die chronische Schmerzen aufrechterhalten (krankheitsaufrechterhaltende Beziehungsmus-
30
ter), andererseits genau so bedeutend in der Lösung dieser Beziehungsmuster zur Aufhebung der Schmerzen den wesentlichsten Beitrag leisten können. Von der Schmerzanamnese zur Schmerzgeschichte ! Nicht die Frage der Ätiologie, sondern die Orientierung an der individuellen Aufmerksamkeit Schmerzgeschichte sowie am Prozess, am Krankheitsverlauf müssen den Fokus der bilden. (Erfassen protektiver, krankheitslimitierender und lösender Faktoren sind ebenso wichtig wie die Erfassung krankheitsaufrechterhaltender Prozesse.)
Diese Bedeutung der Ressourcenaktivierung ‒ früher bezeichnet als unspezifische Wirkmechanismen ‒ dürfte den wesentlichsten Teil der Effektivität der Therapie bedingen (Grawe 1998). 4 Übergang von einer Datenerfassung ‒ vom Fragebogen zum Dialog (intersubjektive Datenerfassung) 4 Bedeutung des Erstkontaktes als wichtigster Faktor im Übergang von einem medizinischen und biologischen Verständnis zu einem ganzheitlichen biopsychosozialen Verständnis von Krankheit 4 Erfassen des psychosozialen Kontextes mit Belastungen und Ressourcen 4 Erfassen des familiären Kontextes mit Belastungen und Ressourcen 4 Erfassen entwicklungspsychologischer Faktoren (z. B. Bedeutung der akademischen Kompetenz/Schulleistungsstörungen in Korrelation zum chronischen Schmerz) Als Mediziner sind wir geschult, symptomorientiert zu denken und Informationen zu erheben. Dieser Ansatz greift bei chro-nischen Schmerzen zu kurz. Aus der Erfassung der Symptomatik und eventuell der auslösenden Faktoren lässt sich kein Zugang zur Erklärung der chronischen Schmerzen finden. Chronische Schmerzen sind nicht objektivierbar, sie sind nur im subjektiven Kontext des Patienten und in der subjektiven Familiengeschichte erfassbar. Dementsprechend müssen wie auch einen anderen Zugang finden (s. Leitlinien für das Erstgespräch). Ein anderer ganz ungewohnter Zugang zur Schmerzgeschichte ist die Orientierung an den Beziehungen, wie auch die Orientierung an den Ressourcen unserer jugendlicher Patienten und ihren Familien. 30.2.1 Wege zur Perspektivenerweiterung
in der psychosomatischen Medizin Um die Funktion und die subjektive Bedeutung chronischer Schmerzen zu erfassen, müssen wir das in der somatischen Medizin übliche Denken in einem Bedingungskontext (linear-kausales Ursache-Wirkungs-Denken) durch ein Denken in einem Bedeutungskontext erweitern. Dadurch wird das Stress- und/ oder Vulnerabilitätskonzept durch das Beziehungskonzept (chronischer Schmerz als Ausdruck von Beziehungsproblemen) erweitert.
246
Kapitel 30 · Somatisierungsstörungen
Erweiterung der Sichtweise I: Zwischen Bedingungs- und Bedeutungskontext
Chronische Schmerzen 5 Als Folge einer nicht gelingenden Auseinandersetzung mit aktuell notwendigen Entwicklungsschritten 5 Individuelle Entwicklungsprozesse im emotionalen, kognitiven und kommunikativen Bereich 5 Als ineffizienter Lösungsversuch bestehender Probleme mit komplexen Wechselwirkungen zwischen Patienten, Familie und sozialem Umfeld 5 Familiäre Entwicklungsprozesse (symptomreduzierende, -aufrechterhaltende Verhaltensmuster)
Damit kann der Zusammenhang (Wechselwirkung) zwischen den chronischen Schmerzen und den individuellen Entwicklungsaufgaben und Entwicklungsproblemen wie auch der Zusammenhang der Symptome im familiären Beziehungsnetz erfasst werden.
30
Das Symptom als »Funktion« und Ausdruck komplexer Wechselwirkungen Für die Arbeit mit Jugendlichen ist die Bedeutung des Symptoms als »Beziehungsregulator« für systemisch orientierte Therapeuten eine der zentralen diagnostischen und therapeutischen Zugänge zum Phänomen der Somatisierungsstörungen. Es ist sozusagen die »Eintrittspforte« in das komplexe interpersonelle System zwischen Patient, Familie und Helfersystem.
Funktion der Symptomatik im Bedeutungskontext 5 Kommunikationsmittel (Hilflosigkeit, Angst, Wut) 5 Beziehungsregulator 5 Hinweis auf chronische Belastungen im individuellen oder familiären Bereich
Das Symptom wird somit zum Signal für dahinterliegende Probleme, ist aber gleichzeitig auch ein Kommunikationsmittel, wenn eine adäquate Mitteilung emotionaler Inhalte und der Dialog über Beziehungsprobleme nicht mehr möglich ist. Diese »Kommunikationsblockaden« sind ein charakteristisches Merkmal für Somatisierungsstörungen. Die moderne Säuglings- und Bindungsforschung lässt immer deutlicher den Zusammenhang früher Eltern-Kind-Interaktionen und späterer Somatisierungsstörungen erkennen. Die Prägung solcher Verhaltensmuster in komplexen Vernetzungssystem des ZNS sind auch zentrale Themen in der modernen Hirnforschung. Erweiterung der Sichtweise II: Unterschiede, die einen Unterschied machen Eine Erweiterung unseres Blickwinkels vom medizinischen Bedingungskontext zum psychotherapeutischen Bedeutungskontext hat Auswirkungen auf die Erwartungshaltungen und den durch den Arzt/Therapeut initiierten Behandlungsprozess.
Zwischen Bedingungs- und Bedeutungskontext 5 Fokussierung auf Bedingungskontext 5 Negative Wirkung prognostisch ungünstiger Erwartungshaltungen »mit chronischen Schmerzen muss man lernen zu leben...« 5 Gefahr der Definition einer Psychopathologie, eines Familienproblems 5 Behandlung des Symptoms 5 Einseitige Orientierung am Behandlungskonzept 5 Fokussierung auf Bedeutungskontext 5 Therapien werden flexibler, prozessorientierter, »maßgeschneidert«, persönlicher 5 Reduktion belastender »Schuldzuweisungen« und Symptombekämpfungen 5 Erkennen der hinter dem Symptom liegenden Blockaden (Unterscheidung zwischen primären Problemen, die zum Symptom führen, und symptombedingten Beziehungsproblemen) 5 Arbeit an Beziehungen 5 Umschreiben von Krankheitsgeschichten in Lebensgeschichten »Symptom als Signal zur notwendigen Veränderung bei »blockierten Entwicklungs- und Beziehungsproblemen«
Durch die Orientierung am Bedeutungskontext bekommt die Individualität des Patienten und seiner Familie, ihre subjektiven Lebens- und Entwicklungsgeschichten, ihre Belastungen aber auch ihre Ressourcen einen neuen Stellenwert, der für das Erkennen der Probleme aber auch für die Entwicklung von Lösungsstrategien unabdingbar ist. Der Patient aber auch seine Familie wird herausgefordert, ihre eigenen Potentiale zu entfalten (Selbstheilungsprozesse). Die Spirale der Hilflosigkeit und der zunehmenden Abhängigkeit – eine wesentliche Ursache von Chronifizierungsprozessen –wird unterbunden und in Lösungsprozesse und Selbstwirksamkeit umgepolt.
30.3
Integration medizinischer, psychotherapeutischer und familientherapeutischer Erfahrungen
Eine systemische Perspektive
Es ist kein Zufall, dass das systemische Denken und die systemische Therapie in unserer psychosomatischen Abteilung zur Basisdiagnostik und -therapie bei Somatisierungsstörungen wurden. Im konkreten Spannungsfeld zwischen naturwissenschaftlicher und psychosozialer Medizin stehend, bot sich uns die systemische Therapie mit ihrem integrativen, interdisziplinären, ganzheitlichen Verständnis fast selbstverständlich dazu an, eine Leitlinie für den Aufbau und die Integration der Psychotherapie im medizinischen Kontext zu werden. Heute bildet die systemische Theorie auch die Basis eines Verständnisses für Organisationsentwicklungen, die in einem immer komplexer werdenden Organisationsnetz einer Klinik bzw. des Gesundheitssystems eine fast ebenso große Bedeutung wie die Therapie selbst bekommen hat. Das systemische Denken stellt damit auch einen guten Hintergrund für die Umsetzung einer adäquaten Kooperationsqualität in der interprofessionellen Teamarbeit dar.
247 30.3 · Integration medizinischer, psychotherapeutischer und familientherapeutischer Erfahrungen
30.3.1 Stellenwert der Familiendiagnostik und
Familientherapie In der Psychosomatik ist der Dialog des Arztes/Therapeuten mit Patienten und deren Familien für den Verlauf und die Behandlung von psychosomatischen Erkrankungen ein wesentlicher Faktor, der die Behandlungsqualität und den Behandlungserfolg maßgeblich beeinflusst. Familienmedizinische Perspektiven werden für das medizinische Versorgungssystem in Hinblick auf die zunehmende Spezialisierung, die Grenzen des Machbaren, die Grenzen des Bezahlbaren und die Grenzen des Zumutbaren immer wichtiger. Kosten-Nutzen-Analysen machen deutlich, dass eine ganzheitliche, interdisziplinäre und psychosoziale Medizin für eine Neustrukturierung der Versorgung maßgebliche Vorteile bringt. Eine Verbesserung der Kooperationsqualität zwischen medizinischen, psychotherapeutischen und psychosozialen Professionen ist eine wesentliche Voraussetzung für die Verbesserung der Behandlung. Gut strukturierte und gelebte Kooperationsformen zwischen somatischer und psychotherapeutischer Medizin führen zu einer deutlichen Verbesserung der Behandlungseffizienz, zu einer größeren Zufriedenheit für Patienten, Familien und dem Behandler und sind gleichzeitig kostenreduzierend, da nicht notwendige und oft sinnlos wiederholte medizinische Abklärungen vermieden werden können.
30
4 Vermeidung von chronifizierenden und belastenden krankheitsaufrechtherhaltenden Verarbeitungs- und Bewältigungsstrategien 4 Optimaler Einsatz von den Ressourcen aller Beteiligten 4 Eine Erstellung eines ganzheitlichen Diagnose- und Therapieplanes, die mit der geringst aufwändigen und belastenden Intervention mit Ausnützen der vorhandenen Ressourcen, sowohl beim Patienten als auch bei seiner Familie die optimale Stabilisierung und Gesundung ermöglichen 4 Erkennen von Hintergrundsproblemen, die eine Problemlösung im Beziehungsnetz des Patienten notwendig erscheinen lassen (Partnertherapie, Familienberatung, Familientherapie, Einzeltherapie bei einem belasteten Elternteil) Die Familienmedizin ist damit die Basis für eine psychosomatische Grundversorgung. Sie ist ein niederschwelliges Angebot, das die Gefahr einer Psychologisierung oder Psychiatrisierung niedrig hält und damit gerade für Patienten im Rahmen der psychosomatischen Grundversorgung gerecht wird. 30.3.3 Kooperationsmodelle zwischen Pädiatrie
und Psychotherapie – von der Rollenkompetenz zur Fach- und Teamkompetenz Eine interdisziplinäre Teamarbeit
30.3.2 Auf dem Weg zu einer Familienmedizin Die Familienmedizin greift bewährte Methoden der systemischen Familientherapie auf und wendet sie im medizinischen Bereich, insbesondere bei chronischen Erkrankungen und Somatisierungsstörungen an. Sie erforscht die Bedeutung von Krankheit in der Familie, die Wirkung auf die einzelnen Familienmitglieder und aktiviert Ressourcen und Erfahrungen der Familie im Umgang mit der Erkrankung. Sie beobachtet und koordiniert die Ressourcen der einzelnen Fachgebiete im Medizinsystem, beobachtet und steuert die Interaktionen zwischen Helfersystem und Problemsystem (Patient/Familie). Die Faszination der Familienmedizin liegt im integrativen, interdisziplinären Charakter eines systemischen – bio-psycho-sozialen ‒ Krankheitskonzeptes. Definition der Familienmedizin Die Familienmedizin ist gekennzeichnet durch die Integration familientherapeutischer Erfahrungen in den medizinischen Kontext. 4 Sie verbindet das systemische Paradigma der Familientherapie mit den biopsychosozialen Modellen der Medizin. 4 Sie untersucht die Zusammenhänge zwischen Familiendynamik und der Erkrankung. 4 Sie berücksichtigt die Tatsache, dass Krankheit in einem Kontext auftritt, der den Patienten, die Familie, das Behandlungssystem als sich gegenseitig beeinflussendes System wahrnimmt. 4 Sie ist stärker interpersonell und systemisch als die traditionelle biopsychosoziale Medizin und sie ist stärker biologisch als die traditionelle Familientherapie orientiert. Ziele einer systemischen Familienmedizin 4 Reduktion von medizinischer, nichtindizierter, kostspieliger, sinnlos wiederholter apparativer Diagnostik nach der Devise »first rule out organic disease syndrom«
Die Frage der Qualität und Effektivität der Therapie bei Somatisierungsstörungen hängt in einem hohen Maße von der Transparenz und Kooperationsqualität der interdisziplinären Behandlungskonzepte ab. Die Eintrittspforte und damit die Rollenkompetenz bei diesen Erkrankungen liegt aufgrund der medizinischen Symptomatik bei Kinder- und Jugendarzt sowie Hausärzten. Die Frage der kommunikativen Kompetenz und der Fachkompetenz ist stark von der Motivation, der Zusatzausbildung und den lokalen klinischen Kontexten abhängig. Ganz global könnte man aus der Sichtweise dieser unterschiedlichen Kompetenzen eine allgemeine »Kompetenzhierarchie« ableiten (. Tab. 30.1). Die Rollenfunktion des Arztes hängt somit sehr vom Arbeitskontext, seiner persönlichen Entwicklung von seiner Motivation und seiner Weiterbildung sowie von den Möglichkeiten einer interdisziplinären Kooperation mit psychosomatisch ausgebildeten Ärzten und Psychotherapeuten ab (Mangold 2001). Real ist jedoch immer die bedeutsame Funktion als erster Ansprechpartner (Gate keeper-Funktion) und seine Fähigkeit »die richtige Weichenstel-
. Tabelle 30.1. Kompetenzhierarchie bei Somatisierungsstörungen Rollenkompetenz des Arztes
Erster Ansprechpartner/Vertrauensperson Biopsychosoziales Krankheitskonzept Schaffung eines guten Überweisungskontextes
Kommunikative Kompetenz des Arztes
In der Persönlichkeit des Arztes: Erworben (Zusatzausbildungen) Gepflegt in kooperativen Strukturen
Fachkompetenz des Psychotherapeuten
Psychotherapieausbildung Kooperationsfähigkeit und Bereitschaft
248
Kapitel 30 · Somatisierungsstörungen
lung« zu treffen, um unnötige Chronifizierungsprozesse – auch im Sinne einer iatrogenen Chronifizierung – zu vermeiden. Die Psychosomatik sollte ein integrativer Bestandteil der Medizin bleiben. Neben der Schaffung von Psychosomatik-Kompetenz-Teams in medizinischen Abteilungen und Psychosomatikschwerpunkten in Kliniken, darf auch die ambulante Versorgungsstruktur nicht übersehen werden. Im ambulanten Bereich wäre die Installation von Qualitätszirkeln, in denen Ärzte und Psychosomatiker/Psychotherapeuten gemeinsame Strategien entwickeln, eine Zukunftsperspektive. Eine zentrale Frage eines solchen Qualitätszirkels ist die Frage einer rechtzeitigen Indikationsstellung. Diese sollte sinnvollerweise bereits dann gestellt werden, wenn die Problematik erkennbar wird, nicht erst dann, wenn der Patient zum zehntenmal »abgeklärt« wird und die Arzt-Patient-Beziehung bereits hochgradig problematisch wird. Die Indikation orientiert sich am Verlauf der Symptomatik, aber auch an den vorhandenen oder nicht vorhandenen Ressourcen der Familie bezüglich ihrer Problemlösungsfähigkeiten. Ein Stufenplan für verschiedene Behandlungskonzepte wird von Pfeiffer (2001) in Form von zunehmend differenzierteren Behandlungsschritten empfohlen.
. Abb. 30.1. Ein systemisches Modell bei Somatisierungsstörungen
FA MILIENDYNAMISCHE EBENE
Die Einbeziehung des Psychotherapeuten sollten Teil eines professionell geplanten Vorgehens bereits nach einer sorgsamen medizinischen Anamnese sein. Die Tatsache, dass nur ein kleiner Prozentsatz dieser Störungen frühzeitig erkannt oder daran gedacht wird, sollte eine Aufforderung für jeden Kinder- und Jugendarzt und Hausarzt sein, sein Wissen über Somatisierungsstörungen zu erweitern.
INDIVIDUELLE EBENE
30
! Diese Empfehlungen können eine Entweder-OderHaltung bzw. eine »Medikalisierung« oder »Psychologisierung« einer Somatisierungsstörung reduzieren. Eine solche Kooperation wird verhindern, dass auch heute noch in vielen Fällen der Psychotherapeut erst hinzu gezogen wird, wenn die Medizin mit ihren Untersuchungen »am Ende« ist.
30.3.4 Ein psychosomatisches Modell – Integration
unterschiedlicher Krankheitsmodelle Eine psychosomatische Forschung sowie ein psychosomatisches Behandlungsmodell muss die Wechselwirkung biologischer Faktoren (Krankheitsaktivität), familiärer Beziehungsstrukturen (z. B. Triangulation des Kindes im Familiensystem) wie eine mögliche familiäre Dysfunktion (Partnerprobleme) gleichzeitig und gleichwertig berücksichtigen. Es muss eine Verbindung, ein »Brückenschlag« zwischen der familiendynamischen Ebene und einer Individuum orientierten Sichtweise gefunden werden (Wood 1993). Es sollten der Prozess der Krankheitsentwicklung, der Krankheitsdynamik, Wechselspiel zwischen Symptom und den Bezugspersonen des Jugendlichen in die Diagnostik einbezogen werden (. Abb. 30.1). 30.3.5 Somatisierungsprozess als
Wechselwirkung zwischen Patient, Familie und Expertensystem Aus den bisherigen Ausführungen wird deutlich, dass der Prozess der Somatisierung von mehreren Systemen und auf mehreren in sich autonomen Prozessebenen entscheidend mitgesteuert wird: 4 Ebene des Individuums (genetisch-biologisch-physiologischemotionale Regelkreise) 4 Ebene der Familie (Beziehungsmuster/Verhaltensmuster) 4 Ebene der Experten (unterschiedliche Krankheitskonzepte und Behandlungsstrategien) Dementsprechend ist die »Interaktion an den Schnittstellen« von großer Bedeutung, da jedes System eine entscheidende Rolle in der Entstehung und Aufrechterhaltung, aber auch zur Lösung und Gesundung der Symptome beiträgt. Durch diese vernetzte Sichtweise können komplexere Abläufe erkannt und unterschiedliche therapeutische Interventionen auf mehrere Prozessebenen zum Einsatz kommen.
Nähe-/DistanzRegulierung
Generationenhierarchie
Reaktion Familienmitglieder aufeinander
Psychophysische Reaktionsbereitschaft des Kindes
Krankheitsprozess
Negative elterliche Beziehung
Triangulierung
249 30.4 · Stellenwert der Familiendiagnostik und Familientherapie
Das Symptom ist das Endprodukt eines Prozesses, der von vielen Ebenen mitgesteuert und auf verschiedene Ebenen definiert werden kann:
Prozess der Somatisierung Physiologie ↔ Psychologie ↔ Familiendynamik ↔ ArztPatient-Beziehung 5 Das Versagen der individuellen Balance zwischen Physiologie, Emotion, Beziehungsfähigkeit, Handlungsfähigkeit = Blockade autonomer Funktionen auf verschiedenen Levels (intrapersoneller Kreislauf ) 5 Das Versagen der Balance im familiären Interaktionsnetz – Entwicklung symptomaufrechterhaltender Verhaltensweisen in beiden Richtungen – Beziehungsprobleme führen zu Symptomeskalation, diese wieder verstärkt Beziehungsprobleme (interpersoneller – familiärer – Kreislauf ) 5 Das Versagen im Helfersystems, wenn diese Prozesse nur einseitig gesehen werden – sei es eine nicht adäquate »Medizinalisierung« (= Reduktion auf die körperliche Symptomatik) oder »Psychologierung« (it‘s only in your head) oder Pathologisierung der Familie
In Anlehnung an diesen Somatisierungsprozess sind auch die Behandlungsmöglichkeiten auf allen drei Ebenen möglich.
Behandlungsziele 1.
2.
3.
Förderung der individuellen Balance 5 Entspannungstechniken 5 Kognitive Psychotherapie 5 Autonomieförderung Förderung der Balance auf der familiären Ebene (Beziehung) 5 Familienberatung 5 Familientherapie 5 Einzel- oder Partnertherapie Förderung der Balance im Helfersystem 5 Experten-Glaubenssysteme im Dialog 5 Kooperationsqualität 5 Hellhörigkeit auf die Wechselbeziehung zwischen den einzelnen Therapieprozessen (Prozessorientierung – Jour Fixe als lernende Organisation)
Generell sind diese beschriebenen drei Ebenen, auf denen sich eine Somatisierungsstörung entwickeln kann, in unterschiedlichem Maße am Beginn einer Somatisierung beteiligt. Bei chronischen Verläufen ist dies oft nicht mehr erkennbar, da die Eigendynamik der Somatisierungsstörung alle Ebenen in einer ausgeprägten Wechselwirkung »verstrickt«. Zu diesem Zeitpunkt ist eine therapeutische Intervention auf allen Ebenen wichtig: 4 Einzeltherapie (individuelle Balance und Problemlösung) 4 Familienberatung/-therapie, um die negativen krankheitsaufrechterhaltenden Beziehungsmuster zu erkennen und zu durchbrechen 4 Eine entsprechende interdisziplinäre Kooperation im Helfersystem
30
Am Beginn einer Somatisierung können die direkten Probleme deutlicher erkannt und leichter auf einer Ebene gelöst werden (z. B. Beruhigung der Familie, Hilfestellung in der Erklärung und der Lösung der momentanen Probleme, Hilfe bei individuellen familiären Entwicklungsproblemen). Insofern hat der Kinderund Jugendarzt, der in der Regel erster Ansprechpartner und Vertrauensperson ist, eine zentrale Funktion. Er ist Gate keeper und primär derjenige, der die »richtigen Weichen zur richtigen Zeit« stellen sollte. Er hat somit die Rollenkompetenz als Systempartner; inwieweit er die Rollenkompetenz auch in der Therapie übernehmen kann, hängt von seiner Erfahrung, seiner Ausbildung, seiner Motivation aber auch von der Organisation des Gesundheitsnetzes, in welchem er integriert ist, ab.
30.4
Stellenwert der Familiendiagnostik und Familientherapie
Die Familientherapie und Familiendiagnostik ist ein zentraler integraler Teil unserer Arbeit bei Somatisierungsstörungen. In der praktischen Arbeit genügt es, über die Fragen »Was macht das Symptom mit den anderen Familienmitgliedern?« – »Was machen die Bezugspersonen mit dem Symptom?« in das Interaktionsgeschehen einzutreten. Es wird in der Regel sehr rasch ein Dialog über die familiäre Beziehungsdynamik möglich, ohne auf eine Psychopathologie des Jugendlichen oder eine Familienpathologie fokussieren zu müssen. Dies verhindert die Gefahr einer Psychologisierung oder Psychiatrisierung und schafft im Dialog eine Atmosphäre des Vertrauens und gleichzeitig der Sicherheit des professionellen Umgangs mit der Symptomatik. 30.4.1 Hypothesen über familienbedingte Einflüsse
Diagnostische und therapeutische Ziele Diagnostische Ziele: 5 Erkennen belastender Faktoren in der Beziehung des Patienten zur Familie, aber auch der Eltern zueinander und die Beziehung zu den Ursprungsfamilien (Drei-Generationen-Perspektive) 5 Aufdecken dieser verdeckten Konflikte. Lösen dieser Konflikte führt häufig »automatisch« zur Symptomreduktion beim Kind durch Wegfall einer Belastung sowie durch Wegfall von Rollenfunktionen des Kindes 5 Das Erkennen der Somatisierungsstörung als äquilibrierendes Phänomen in einer familiären Dysfunktion (positive Konnotation des Symptoms als Teil einer »wenn auch nicht mehr funktionsfähigen« Lösungsstrategie – die so lange Bedeutung hat, bis adäquatere Lösungsstrategien und Ziele definiert werden können) 5 Erkennen und Verändern familiärer Interaktionen, die das Symptom verstärken oder Unsicherheit und Hilflosigkeit auslösen (gemeinsames Erarbeiten von besseren »Lösungsstrategien«, die für alle Familienmitglieder mehr Autonomie, mehr Selbstwert bringen) Therapeutische Ziele: 5 Abbau von Verhaltensweisen, die Symptome auslösen und aufrechterhalten (Symptom als Beziehungsregulator
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Kapitel 30 · Somatisierungsstörungen
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30.5
zu erkennen schafft die Vorrausetzung, neue Verhaltensweisen zu kreieren und auszuforschen) Verstärkung gesunder Verhaltensweisen (den Problemkontext in einen Lösungskontext »umwandeln«) Aufbau eigener und familiärer protektiver Faktoren und Ressourcen Reduktion von Symptomen und symptombezogenen Interaktionen (ohne zufriedenstellende Veränderung der Symptomatik ist der »krankmachende Kreislauf« schwer zu durchbrechen) Wiederherstellung funktioneller Beziehungsstrukturen Wiederherstellung der individuellen Leistungsbereitschaft und Wiederaufnahme der normalen Funktionen im familiären und außerfamiliären Bezugsfeld In der Folge Reduktion von Medikamenten und Arztbesuchen sowie die Reduktion immer wieder auf das Neue durchgeführter »Abklärungsrituale« im organischen Bereich
Familiäre Dynamik
Eine Fallvignette
30
In der Symptomatik eines Jugendlichen spiegelt sich die Entwicklungsgeschichte sowie die Entwicklungsblockaden einer Familie. Gelingt es uns, hellhörig zu werden, so können wir aus diesen Geschichten den »Sinn einer Erkrankung« erkennen und werden dadurch befähigt, mit dem Jugendlichen und den Eltern gemeinsam Lösungsstrategien zu entwickeln, die zu einer neuen Lebensqualität des Jugendlichen und auch seiner Familie werden kann. Beispiel Auswirkungen auf die eigene Entwicklungs- und Familiengeschichte aus der subjektiven Erfahrung einer Mutter: »Immer wenn ich an der Klinik vorbeigehe, erfüllt mich ein Gefühl der Dankbarkeit. Ich schaue hinauf zu den Fenstern der Abteilung für Kinder- und Jugendneuropsychiatrie, aus denen mir meine Tochter immer zugewunken hat. Meine Erinnerungen gehen elf Jahre zurück, zu dem Zeitpunkt, als meine damals 12-jährige Tochter Katharina wegen schweren Gangstörungen für neun Wochen stationär in der Klinik aufgenommen wurde. Hätte mir damals jemand gesagt, dass dies der positive Wendepunkt in meinem Leben sein wird, hätte ich diese Person für verrückt erklärt. Als mich mein Therapeut am Tag der Aufnahme gefragt hat, ob es mir möglich sei, die Erkrankung meiner Tochter als Chance zu sehen, dachte ich mir im Stillen, es stimmt also doch, dass jeder Psychiater selbst verrückt ist. Doch schon bald bemerkte ich, dass die Erkrankung meiner Tochter, der Klinikaufenthalt und die damit verbundenen Therapiegespräche wirklich das Leben unserer ganzen Familie zu verändern begannen. Zum Zeitpunkt der Aufnahme hatten wir bereits einen langen Leidensweg hinter uns. Zu Krankheitsbeginn klagte Katharina öfters über Schmerzen im rechten Bein. Ich dachte mir, dass ist sicher nichts Schlimmes, vielleicht sind es Wachstumsstörungen und ich rieb Katharina mit einer passenden Creme ein. Doch es wurde nicht besser, ganz im Gegenteil, die Schmerzen wurden schlimmer. Langsam wurde ich nervös und ging mit Katharina zum Kinderarzt. Er untersuchte sie gründlich und nahm ihr Blut ab. Der Arzt konnte jedoch nichts feststellen. Beruhigt ging ich nach Hause. Doch schon bald fing Katharina an, stundenlang vor Schmerzen zu schreien. Ich
meiner Verzweiflung suchten wir erneut einen Arzt auf, aber auch dieser konnte nichts feststellen und schickte uns zum Orthopäden. Damit begann unser Weg von einem Arzt zum anderen. Wir wurden zum Röntgen geschickt, im Spital wurden diverse Untersuchungen durchgeführt, es wurde versucht, Katharina die Schmerzen mit Massage und Bädern zu lindern und auch Heilgymnastik wurde uns empfohlen. Doch der erwartete Erfolg blieb aus. Bei manchen Untersuchungen fielen Worten wie Knochenkrebs, Tumor oder Lähmung – es wurde jedoch nichts Konkretes festgestellt. In meiner Not ging ich dann zum Heilpraktiker, Zaubermännlein und Handaufleger. Doch es nützte alles nichts. Katharina konnte nur noch ganz langsam und unter großen Schmerzen laufen – manchmal konnte sie überhaupt nicht mehr aufstehen. Es gab Tage, an denen ich mein Kind über die Treppen des Schulhauses in ihr Klassenzimmer getragen habe, weil ihr das Treppensteigen so schwer fiel und des Öfteren überhaupt nicht möglich war. Auch das lange Sitzen während des Unterrichtes fiel ihr schwer. In den Pausen konnte sie nicht mehr mit den anderen Kindern im Schulhof spielen. Am Beginn ihrer Krankheit kümmerten sich die Mitschüler noch liebevoll um Katharina, doch das ließ allmählich nach – bald war niemand mehr da und sie wurde immer einsamer. Manchmal bekam ich eine richtige Wut auf meine Tochter, weil sie sich zu einem kleinen Tyrannen entwickelte. Sie schickte und jagte mich durchs ganze Haus, sie hatte immer Wünsche und Befehle. Dann lag sie wieder stundenlang in ihrem Bettchen und schaute zur Decke, war leise und ruhig. Alles drehte sich um Katharina. Aber da war auch noch meine zweite Tochter Andrea, sie war damals noch nicht einmal acht Jahre alt. Andrea musste immer Rücksicht nehmen, oft bat ich sie zu Hause zu bleiben, damit Katharina nicht so einsam war. Meine Halbtagsstelle habe ich aufgegeben – ich war rund um die Uhr für Katharina da. Heute weiß ich, dass ich zwar anwesend war, aber Katharina eher belastet habe. Meistens war ich überfürsorglich, ließ sie keinen Augenblick alleine und las ihr alle Wünsche von den Augen ab. Dann überkam mich wieder die blanke Wut und ich schrie Katharina ohne ersichtlichen Grund an. Ich konnte meinen Kindern keinen Halt geben – ich hätte selbst dringend Hilfe notwendig gehabt. Doch von meinem Mann konnte ich keine erwarten. Er war irgendwie nicht greifbar, er arbeitete viel und war wenig zu Hause. Oft hat er mir Vorwürfe gemacht, dass ich Schuld an allem sei – an was und wieso hat er mir jedoch nie gesagt. Mein Mann war sich jedoch sicher, selbst nichts falsch zu machen – er stellte sich und sein Verhalten niemals in Frage. Seine dauernde Abwesenheit und seine Vorwürfe belasteten mich zusätzlich. Ich war am Ende. Als sich nach einem Jahr die Knochen und Muskeln von Katharina wegen Bewegungsmangel zu verändern begannen, wurden wir in die Innsbrucker Klinik eingewiesen. Noch in der Ambulanz wurden einige Untersuchungen vorgenommen und wieder fielen Aussagen wie Knochenkrebs und Tumor. Ich war verzweifelt und gerade in diesem Moment fiel mit der Vortrag eines Arztes ein, den ich ungefähr zwei Monate vorher gehört hatte. Der Vortrag handelte über psychosomatische Erkrankungen bei Kindern und war sehr interessant. Ich fing an zu überlegen, ob bei Katharina vielleicht auch seelische Ursachen mitspielen könnten. Ich besprach meine Vermutung mit meinem Vater und mit meiner Mutter. Mein Vater fing sofort an zu schimpfen und fragte mich, ob ich jetzt total übergeschnappt sei, so etwas könne unmöglich psychische Ursachen haben. Meine Mutter war still wie immer und sagte kein Wort. Durch die Reaktion meiner Eltern wurde ich verunsichert und schob meinen Gedanken zur Seite. Ganz ähnlich wie mein Vater reagierte die untersuchende Ärztin in der Ambulanz, als ich sie bat, mich auf der Psychosomatischen Station der Kinderklinik anzumelden, da ich mir vorstellen könne, dass
251 30.6 · Klinik der Somatisierungsstörungen im Jugendalter
die Erkrankung von Katharina seelisch bedingt sei. Sie sagte mir, ich sei eine verantwortungslose Mutter, wenn ich auch nur einen Gedanken in eine solche Richtung verschwende. Aber ich blieb dabei, ich wollte mit einem Psychotherapeuten sprechen. Woher ich auf einmal soviel Kraft hatte, Widerstand zu leisten, weiß ich nicht mehr. Dr. X. kam unserer Bitte, ein Gespräch mit uns zu führen, nach. Er sah sich unsere mitgebrachten Röntgenbilder und Untersuchungsbefunde an und fragte mich noch einige Dinge über den Krankheitsverlauf. Dann erklärte er sich bereit, Katharina stationär auf der Psychosomatischen Station aufzunehmen. Er teilte uns auch mit, dass neben der psychotherapeutischen Behandlung alle notwendigen medizinischen Untersuchungen durchgeführt werden, damit mit Sicherheit ausgeschlossen werden könne, dass eine organische Krankheit vorliege. Ich hatte sofort großes Vertrauen und spürte, dass ich jetzt einen Teil meiner Verantwortung abgeben konnte und endlich die erhoffte und lange gesuchte Hilfe erhalten würde. Sogar mein Mann war begeistert, der bis zu diesem Zeitpunkt mit diesem »Seelenzeug« nichts anfangen konnte. Die Trennung von Katharina fiel mir sehr schwer. Bevor ich meine Therapie begann war mir überhaupt nicht bewusst, wie sehr ich in meiner eigenen Lebensgeschichte gefangen war. Während der Therapie setzte ich mich mit allen meinen Ängsten, Verwirrungen und unguten Gefühlen auseinander, die solange zu mir gehörten und die nicht nur mein Leben bestimmten, sondern auch das meiner Kinder. Als ich mir Fotos von früher ansah, lachte mir eine Bilderbuchfamilie entgegen, die seelischen Verletzungen meiner Kindern blieben unsichtbar. Auch meine Ursprungsfamilie schien von außen eine Bilderbuchfamilie zu sein – hätte jemand gewagt dies zu bezweifeln, hätte ich dieser Person ordentlich die Meinung gesagt. Lange habe ich mich dagegen gewehrt, dass meine tolle Ursprungsfamilie doch nicht so toll war, wie es von außen den Anschein hatte. Ich will meine Eltern nicht verurteilen oder anklagen – sie haben es einfach nicht besser gekonnt. Ich will ihnen auch nicht unterstellen, dass sie sich über die Tragweite meiner seelischen Verletzungen bewusst waren. Ich habe selbst nicht für möglich gehalten, wie groß der Einfluss meiner Erziehung und meiner Kindheitserlebnisse auf mein Leben als erwachsene Frau sind, wie sehr meine Denkweise, meine Gefühle und mein Verhalten, ja sogar mein Körpergefühl davon geprägt wurden und wie viel ich unbewusst an meine Kinder weitergab. Durch die Therapiegespräche wurde mir klar, dass meine Eltern wenig Streitkultur besaßen, mit Konflikten schlecht umgehen konnten, Probleme unter den Tisch kehrten und ihre Bedürfnisse nicht ausdrücken konnten. Dadurch hatte ich sehr früh gelernt, still, ruhig und brav zu sein, für Gefühle wie Wut oder Aggressionen wurde ich bestraft. Genau das gleiche Verhalten verlangte ich von meinen Kindern – sie mussten still, ruhig und brav sein. Wut, Zorn und Aggressionen habe ich ihnen strengstens verboten. Doch mit Hilfe meines Therapeuten wagte ich es, mich selbst wieder zu entdecken und zu meiner Empfindsamkeit und Verletzlichkeit zurück zu finden. Dadurch wurde es mir möglich, die Grenzen meiner Kinder zu spüren und zu akzeptieren, ihre Bedürfnisse wahrzunehmen und liebevoller mit ihnen umzugehen. Nach sechs Monaten war Katharina gesund. Sie konnte wieder ganz normal laufen. Ich war überglücklich und dankbar. Und wenn ich meine Tochter heute anschaue, spüre ich, dass auch sehr viele ihrer seelischen Verletzungen geheilt sind.«
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Symptom↔Verhaltensstörung↔Beziehungskrise... – wo auch immer das Problem seinen Ausgang nimmt, es entwickelt sich eine belastende Eigendynamik. Unser Verhalten als Ärzte/ Therapeuten, das Verhalten wichtiger Bezugspersonen des Kindes werden zu wichtigen Mitgestaltern des Krankheits- oder Heilungsprozesses. Ab diesem Zeitpunkt sind wir in einem Krankheits- oder Gesundheitsprozess persönlich einbezogen. Die Beziehung wird zu einem zentralen Faktor des weiteren Prozesses. Eine notwendige Konfrontation mit fehlgelaufenen Prozessen, mit verdrängten Erinnerungen kann sehr schmerzhaft sein. Nur das sichere Wissen um die Notwendigkeit dieser Kooperation als Chance »die Geschichte neu zu schreiben oder umzuschreiben« lässt Therapeut, Patient und Familie diesen Weg gehen. Das Symptom wird zum Initiator einer Neustrukturierung. Nicht Professionalität allein, sondern die Bereitschaft, den Patienten und seine Familie auf seiner Reise, in seine Geschichte zu begleiten und mit ihm gemeinsam eine neue Geschichte zu entwickeln, kann Heilungskräfte entfalten.
30.6
Klinik der Somatisierungsstörungen im Jugendalter
Definition: Hauptcharakteristikum ist die wiederholte Darbietung körperlicher Symptome in Verbindung mit hartnäckigen Forderungen nach medizinischen Untersuchungen trotz wiederholter negativer Ergebnisse und Versicherung der Ärzte, dass die Symptome nicht körperliche begründbar sind. Bei Kindern und Jugendlichen werden diese Forderungen zunächst von den Eltern, im weiteren Entwicklungsverlauf aber auch zunehmend von den Patienten selbst vorgetragen. Trotz anamnestisch belegter enger Beziehung zu belastenden Lebensereignissen, Schwierigkeiten oder Konflikten sind sich alle Beteiligten gewöhnlich einig im Widerstand gegen eine psychische Erklärungsursache. Mit immer neuen Hinweisen auf erlebte Missverständnisse wird immer neue Aufmerksamkeit und Zuwendung durch Ärzte gesucht. ! Somatisierungsstörungen beginnen oft im Kindesalter – Inzidenz und Ausprägung verstärken sich in der Adoleszenz.
Es besteht eine hohe Tendenz sich ins Erwachsenenalter fortzusetzen (z. B. bei chronischem Schmerz). Zusammenhänge zwischen Somatisierungsstörungen und demographischen Variablen sind ungenügend untersucht. Zusammenhänge mit der Familiendynamik (Eheprobleme, Familienkonflikte, psychosoziale Belastungen) sind evident. Gleichzeitiges Vorhandensein kinderund jugendpsychiatrischer Symptome (Angst, Schul-, Verhaltens-, Beziehungsprobleme) sind die Regel (primär oder sekundär), sodass eine Koordination und Kooperation medizinischer, psychosomatischer, psychologischer und familiärer Diagnoseund Therapiekonzepte notwendig ist. Somatisierungsstörungen stellen eine High-risk-Gruppe der primär pädiatrischen Versorgung dar. 30.6.1 Neuere epidemiologische Daten
Was können oder was sollten wir aus dieser Geschichte erkennen? ‒ Nichtwissen oder Ignoranz von Ärzten in Hinblick auf psychische, psychosoziale und psychosomatische Erkrankungen dürfte es eigentlich nicht mehr geben.
Mit einer Prävalenz von fast 10% bei 14- bis 17-jährigen Jugendlichen zählen somatoforme Störungen zu den häufigsten Erkrankungen überhaupt.
252
Kapitel 30 · Somatisierungsstörungen
4 Chronische Schmerzen bei Kindern und Jugendlichen; deutliche Zunahme der Inzidenz ab der Pubertät 4 Gastrointestinale Symptome (Nausea/Erbrechen) 4 Kardiovaskuläre Symptome (Kollaps/Ohnmachtsanfälle) 4 Allgemeine Müdigkeit 4 Konversionsneurotische Störungen (»psychogene Anfälle«, Gangstörungen) Chronische Kopfschmerzen, rezidivierende Bauchkoliken, chronische Schmerzen des Muskel- und Skelettsystems (Fibromyalgie-Syndrom) sind Symptome, denen der Kinder- und Jugendarzt täglich begegnet. Er hat in seiner Rollenkompetenz wahrzunehmen, wie »ernst« er diese Beschwerden nehmen muss. Eine »Bagatellisierung« (chronische Erkrankung, mit der man leben muss) ist zu vermeiden. Eine ganz wesentliche Chance für den Kinder- und Jugendarzt, eine richtige Entscheidung zu treffen, ist einerseits eine umfassende biopsychosoziale Anamnese zu erheben und andererseits sich am Krankheitsprozess zu orientieren. Dies würde aber auf jeden Fall eine längere Betreuung (Beobachtung des Krankheitsverlaufes) erfordern. Eine wichtige Orientierung ist: 4 Erkennen emotionaler Störungen (Angst, Depression, Rückzug) 4 Erkennen von Verhaltensstörungen in der Gruppe der Gleichaltrigen sowie das Erkennen von familiären Belastungssituationen und familiären Dysfunktionen
30
Die Ergebnisse großer Studien (n=21065) bei pädiatrischen Patienten der Primärversorgung zwischen 4 und 15 Jahren (Campo 1999) zeigt deutlich, dass Somatisierungsstörungen eine hohe Komorbidität haben. Sie zeigen häufiger: 4 Emotionale Störungen oder Verhaltensstörungen 4 Kinderpsychiatrische Störungen 4 »Dysfunktionale Familien« und Partnerkonflikte Diese Untersuchung zeigt auf, dass bei schweren Somatisierungsstörungen die Komorbidität 50% häufiger, bei leichteren Somatisierungsstörungen 20% häufiger sind als in der Kontrollgruppe (1%). Die Begleitforschung in unserer eigenen interdisziplinären Schwerpunktarbeitsgruppe für chronische Schmerzen bei Kindern und Jugendlichen (Mangold 2002) zeigt ebenso eindeutig den Zusammenhang zwischen kinderpsychiatrischen Symptomen mit Behandlungsbedürftigkeit gemessen am CBCL (ChildBehavior-Check-List) sowie das fast regelmäßige Vorliegen belastender familiärer Beziehungen. Elternberatung oder Familientherapie ist ein zentraler Bereich unseres Behandlungsangeboten.
30.7
Leitlinien für Diagnostik und Therapie
Bezugnehmend auf den Abschnitt Kooperationsmodelle zwischen Pädiatrie und Psychotherapie, möchte ich im Folgenden die wichtige Rollenkompetenz des Hausarztes bzw. Kinder- und Jugendarzts als Gate keeper, als Weichensteller für Diagnostik und Therapieplanung, aber vor allem als wichtiger »Ansprechpartner« für den Jugendlichen und seine Familie ansprechen. Vom gelingenden Dialog des Arztes wird der weitere Verlauf entscheidend mitgeprägt – er ist im Wesentlichen auch für die
Motivation des Patienten und für die Qualität des »Überweisungsmodus« verantwortlich. Sein fächerübergreifendes Wissen und seine Haltung anderen Fachdisziplinen gegenüber wird wesentlich zur Reduktion, kann aber bei einseitiger Sichtweise auch zur Verstärkung von Chronifizierungsprozessen beitragen (»iatrogene Chronifizierung«). Der entscheidende Schritt zur Perspektivenverweiterung, zu neuen relevanten diagnostischen und therapeutischen Perspektiven ist die Fähigkeit, im Gespräch von der Symptomebene auf die Beziehungsebene zu gelangen. Dieser Schritt ist in der Regel sowohl für die Familie wie auch den Arzt ungewohnt und verunsichernd. Es geht im Wesentlichen darum, den entscheidenden Schritt von der Organmedizin zu einer Familienmedizin zu vollziehen. Dieser Schritt wird davon abhängig sein, wie sehr man vom Denken in Bedingungskontexten (Ursache-Wirkung) zum Denken in Bedeutungskontexten (Symptom als Signal und subjektive Mitteilung – Symptom als Beziehungsregulator) überwechseln kann. Diese entscheidende Schnittstelle haben wir in unserer Schwerpunktarbeitsgruppe strukturell so gelöst, dass das Erstgespräch von einem Arzt mit Psychotherapieausbildung geführt wird. Damit ist in der Regel eine Ausweitung des medizinischen Kontextes auf einen psychotherapeutischen Kontext möglich. 30.7.1 Dialog über subjektive Krankheits-
konzepte als idealer Einstieg in ein familienorientiertes Gespräch In der klinischen Arbeit reagieren Patienten und Angehörige auf beziehungs- und konfliktorientierte Familiendiagnostik oft mit Abwehr und Unverständnis ‒ dies kann unter Umständen den therapeutischen Prozess negativ beeinflussen (Kommunikationsqualität und Fähigkeit zum systemischen Denken und Handeln wäre die Antwort des Arztes auf diesen sensiblen Übergangsbereich vom medizinischen zum beziehungsorientierten Kontext). Dieser Übergang kann nur optimal entwickelt werden (Arzt-Patient-Beziehungsprozess) wenn der Patient/die Familie dort abgeholt wird, wo sie gerade mit ihren Problemen und Erwartungen stehen. Dies wird in der Regel leicht möglich, wenn die bestehenden unterschiedlichen Krankheitskonzepte einer Familie miteinander in einen Dialog gebracht werden. Das Krankheitskonzept des Arztes (als Professioneller und Neutraler) kann dann in der Regel leicht in die bestehenden Vorstellungen integriert werden. Die »Passung« zwischen therapeutischem System und Familiensystem ist stimmiger, wenn der diagnostische Zugang über die aktuellen Probleme, Behandlungserwartungen und Erfahrungen, die mit dem Krankheitsbild und den Symptomen des Patienten verknüpft sind, gewählt wird. Hinter diesen Erfahrungen der Familie steckt ein enormes Wissenspotential, das richtig erkannt und geleitet ein hohes Selbstheilungspotential in sich birgt (ressourcenorientiertes Vorgehen). Es kann vermutet werden, dass besonders bei chronischen Krankheitsverläufen die Art und Weise wie in der Familie über Krankheit gesprochen wird und welche Ursachenzuschreibung die einzelnen Familienmitglieder finden, ganz wesentliche Auswirkungen auf die Krankheitsbewältigung haben (Erweiterung der Freiheitsgrade ‒ der Alternativen ‒ im Umgang mit einer Erkrankung/Erkennen und Nutzen von natürlichen Entwicklungsund Veränderungsprozessen/Nutzung vorhandener Ressourcen beim Patienten und seiner Familie...).
253 30.8 · Spezifische Themen bei Somatisierungsstörungen in der Pubertät
30.7.2
Von der medizinischen zur familiendynamischen Struktur des Erstgesprächs
Üblicherweise hat der Kinder- und Jugendarzt in seiner Ausbildung und seiner Praxis gelernt, die Symptome in einer kausalen Beziehung zur körperlichen Pathologie zu sehen, im Weiteren wird er auch nach möglichen exogenen »Auslösern/Belastungen« fragen (Stresskonzept). Die Frage nach Auslösern durch körperliche oder psychosoziale Belastungen wird in der Regel sowohl von den Patienten wie auch von den Familien eher verneint (Angst vor Schuldzuweisungen). Dementsprechend ist die Frage nach dem Krankheitskonzept der einzelnen Familienmitglieder der bessere Weg, um aus einer kausal-orientierten Fragetechnik in einen Dialog zu kommen, bei dem mehrere Ursachen und Vorstellungen möglich sind. Damit kann eine wesentlich breitere Hypothesengenerierung ermöglicht werden, in welcher die Eltern als wichtige Partner in der Entwicklung von Lösungsstrategien miteinbezogen werden. Gleichzeitig wird klar, dass es unterschiedliche Sichtweisen gibt, dass relativ rasch die Frage auftaucht, welche Sichtweise richtig ist und wer richtig damit umgeht. Damit kommt das Gespräch sehr rasch von der Symptom- auf die Beziehungsebene und man erkennt auch rasch, dass alle Symptome in einem hohen Maße zu »Beziehungsregulatoren« geworden sind. Dann ist die Frage der kausalen Ursache nicht mehr so wichtig, anstelle dieser Frage ergibt sich eine Fülle von beschreibbaren Zusammenhängen zwischen Symptom und Familiendynamik. Es stellt sich dann die Frage, welche Verhaltensweisen und Interventionen der wichtigsten Bezugspersonen (Eltern, Geschwister, Freunde...) aber auch des Helfersystems (Ärzte, Psychotherapeuten, Lehrer...) verringern die Symptomatik und welche lassen sie eskalieren (Krankheit aufrechterhaltende Verhaltensweisen). Diese Form des Vorgehens ermöglicht es den Eltern ihre Kompetenz zu erweitern, Zusammenhänge mit familiären Beziehungen zu erkennen und ihre Ressourcen zur Lösung der Probleme wahrzunehmen. In diesen Leitlinien wird deutlich, dass die medizinische Anamnese in einen Dialog, die Symptomorientiertheit in eine Beziehungsorientierung übergeführt werden sollte, um einen effektiven diagnostischen und therapeutischen Prozess in Gang zu setzen. Es geht somit um eine Übersetzung der Sprache des Körpers in einen Dialog über Beziehungen, in einen Dialog zwischen Arzt und Familie. Der Arzt wird damit zum Kommunikationspartner für den Patienten und die Familie. Seine Fähigkeit neutral zu bleiben und neue Perspektiven einzubringen werden wesentlich dazu beitragen, einen Heilungsprozess in Gang zu setzten. Der Arzt/Therapeut wird dadurch zum bedeutsamen Dritten der festgefahrene Beziehungen neu strukturieren und neu beleben kann. In der klinischen Arbeit heißt dies in der Regel Einzelpsychotherapie (zur Entwicklung von Autonomie) und Familienberatung/Familientherapie zur Bearbeitung von meist vorhandenen Ablösungsproblemen (Hauptmanifestation von Somatisierungsstörungen im Pubertätsalter).
30.8
Spezifische Themen bei Somatisierungsstörungen in der Pubertät
Aus einer systemischen Perspektive gibt es zwei zentrale Themen: 1. Die Unterstützung der Autonomieentwicklung beim Jugendlichen
30
2. Die Unterstützung des Ablösungs-(»Loslösungs-«)Prozesses bei den Eltern Die Persönlichkeitsentwicklung des Jugendlichen und die Weiterentwicklung bzw. notwendige phasenspezifische Veränderung der Familienstruktur sind untrennbar miteinander verbunden. Die Unfähigkeit sich auf diese notwendigen Veränderungsprozesse einzulassen (Rigidität der Beziehungsmuster/Enmeshment = festgefahrene Rollenfunktionen) ist unseres Erachtens eine der wesentlichen Gründe von Somatisierungsstörungen und Pubertätskrisen. Die Behandlung wird sich dementsprechend an der Unterstützung dieser beiden Prozesse orientieren. 30.8.1 Autonomie des Jugendlichen und
Kompetenz der Eltern als zentrale Entwicklungs- und Heilfaktoren Im Umgang mit Jugendlichen ist wie kaum in einer anderen Lebensphase die Wertschätzung der Autonomiebedürfnisse und der Selbstbestimmung ein zentraler Faktor, der es ermöglicht, eine Beziehung zu ihnen aufzubauen. Diese ist wiederum die Voraussetzung einer Induktion von Autonomie und Selbstbestimmung. Somatisierungsstörungen blockieren diese Autonomieund Selbstentwicklung, da damit die Jugendlichen in eine größere Abhängigkeit kommen und nicht adäquate Abhängigkeits-Beziehungsmuster aufrechterhalten bzw. diese verstärkt werden. Gleichzeitig weist die Symptomatik auch darauf hin, dass sie mittels ihrer Symptome im familiären System auch sehr mächtig werden können. Diese Form der Macht mittels des Symptoms ist jedoch letzten Endes für den Jugendlichen eine Ohnmacht. Der Arzt/Therapeut ist somit in einer Situation, in der er ähnlich wie die Eltern nicht dem Jugendlichen vorzeigen kann, wo es langgeht, sondern mit ihm die eigene innere Kompetenz und seine Ressourcen sucht, die es ihm ermöglichen, mehr Autonomie und Selbständigkeit zu entwickeln. Diese Unterstützung des Arztes für den Jugendlichen darf jedoch nicht in eine Abwertung der Eltern einmünden, da nur starke und kompetente Eltern die Fähigkeit haben, einen Jugendlichen loszulassen. Der Arzt ist in einer Position, in der er diesen Prozess zwischen den Eltern und dem Jugendlichen behutsam steuern sollte. Wie viel therapeutische Hilfe die Eltern, wie viel therapeutische Hilfe der Jugendliche braucht, kann sehr unterschiedlich sein und erfordert die diagnostische Qualität des Arztes/Therapeuten, so wie die Orientierung an familiären Interaktionsprozessen. Unsere Interventionen werden sich auch daran zu orientieren haben, welche Mitspieler in diesem Interaktionsprozess am ehestens die Bereitschaft und die Fähigkeit haben, blockierende Beziehungsprozesse wieder in Gang zu setzen. Bei komplizierten Beziehungsstrukturen in der Pubertät ist es oft kaum möglich, eine neutrale Haltung zwischen den Eltern und Jugendlichen einzunehmen, zumal die Interpretation von der subjektiven Wahrnehmung der Familienmitglieder abhängt. Aus diesem Grunde hat sich in unserem Team ein Vorgehen entwickelt, dass die Therapie in der Regel mit zwei Therapeuten geführt wird. Der Einzeltherapeut fühlt sich den Bedürfnissen des Jugendlichen verpflichtet und unterstützt ihn in seiner Autonomieentwicklung. Der Familientherapeut fühlt sich dem familiären Beziehungsgleichgewicht verpflichtet und kann die Problemmuster definieren und verändern, welche Entwicklungsprozesse für Eltern und Jugendlichen ermöglichen.
254
Kapitel 30 · Somatisierungsstörungen
30.8.2 Arzt/Therapeut als neutraler Moderator
in Ablösungskrisen Auf dem Hintergrund dieser systemischen, familientherapeutischen Erfahrung im Umgang mit Ablösungskrisen wird deutlich: 4 Der Arzt/Therapeut muss vorsichtig sein, sich nicht als Koalitionspartner der Eltern oder des Jugendlichen instrumentieren zu lassen – dann wäre er rasch in derselben Hilflosigkeitsposition wie die Familienmitglieder und würde die Problematik nur verstärken. 4 Er sollte die Entwicklungsthematik des Jugendlichen auf dem Hintergrund einer familiären Entwicklungsphase sehen und den Mut haben, »Familiengespräche« zu führen. 4 Er sollte prinzipiell davon ausgehen, dass er als »Nicht-Mitglied« der Familie in einer neutralen Position Prozesse initiieren und begleiten kann und damit die Nutzung freiwerdender emotionaler Energie in den Autonomieprozess und damit in den Heilungsprozess umwandeln kann.
30
Wenn man weiß, dass mit zunehmender Dauer von Somatisierungsstörungen (Eigendynamik des Krankheitsprozesses) die Belastung für Patienten und Familien aber auch der therapeutische Aufwand sich enorm verstärkt, kann man darin unschwer die Bedeutung der Rollenkompetenz des Kinder- und Jugendarzts und des praktischen Arztes in der frühzeitigen Erkennung von Somatisierungsstörungen sehen. Die Kinder- und Jugendarzt sind aufgerufen, iatrogene Chronifizierungen zu verhindern oder zumindest zu minimieren, in dem sie die »Gate keeper-Funktion« wahrnehmen. 30.8.3 Fähigkeit der Eltern, dem Jugendlichen
Autonomie und Selbstverantwortung zu ermöglichen Die Familiendynamik von Jugendlichen mit Somatisierungsstörungen ist charakterisiert durch eine in der Regel nicht mehr altersadäquate Abhängigkeit vom Familiensystem. Weiters zeigt sich in vielen Fällen eine sehr starke Abhängigkeit oder Beziehungskonflikt mit der Mutter, während in der Regel die Väter in ihrer Beziehungs- und Kommunikationspräsenz sich verabschiedet haben und eher an der Peripherie der familiären Interaktionen stehen. Es ist nun unübersehbar, dass diese Entwicklungen – die sich oft in der Pubertät manifestieren – oft langjährige Beziehungsmuster darstellen, die durch die notwendige Autonomieentwicklung zu Entwicklungsblockaden, zur Beziehungsproblematik und bei fehlenden Lösungsstrategien zur Somatisierung führen können. Das Erkennen dieser »entwicklungsblockierenden« familiären Beziehungsmuster über die gesamte Entwicklungszeit kann Zusammenhänge deutlich machen, welche auch die entsprechenden »Lösungsstrategien« in der derzeitigen Beziehungsproblematik erkennen lassen. Charakteristische Entwicklungsthemen sind: 4 Enge »symbiotische« Beziehungsmuster zwischen Müttern und Jugendlichen, oft als Folge nicht altersentsprechender Entwicklungsschritte beim Kind oder als Folge ängstlicher, overprotektiver Verhaltensweisen der Mütter oder als Folge einer fehlenden Präsenz des Vaters 4 Hinweise auf eine frühe Eltern-Kind-Interaktionsstörung (es bestehen zunehmend Hinweise aus der Bindungsforschung,
dass sog. unsichere oder chaotische Bindungsmuster zu späteren Somatisierungsstörungen führen können) 4 Traumatisierende Erlebnisse, die nicht adäquat verarbeit werden konnten und damit nicht altersadäquate Abhängigkeiten entstehen ließen (Missbrauchserlebnisse, Verlust wichtiger Bezugspersonen...) 30.8.4 Kindheit hat Folgen Die Bedeutung der familiären Entwicklungsgeschichte
Gerade bei Somatisierungsstörungen wissen wir, dass die Kindheitsgeschichte unserer Patienten von emotionaler Vernachlässigung, Überforderung der Eltern bis zu Missbrauchserlebnissen und chronischen Traumatisierungen gekennzeichnet sind. In den Adverse Childhood Experiences (ACE) Studien sind ausführliche Verlaufsuntersuchungen bei über 17.000 erwachsenen USAmerikanern durchgeführt worden, die den aktuellen Gesundheitszustand zu belastenden Kindheitsfaktoren in Beziehung setzen (Fellitti 2002). Das wichtigste Ergebnis dieser Untersuchungen ist, dass belastende Kindheitserfahrungen tiefgreifende Folgen für spätere Erkrankungen haben. Diese belastenden Kindheitserlebnisse sind eine wesentliche Determinante der Gesundheit und des psychischen Wohlbefindens. Diese Ergebnisse zeigen klar: Kindheit hat Folgen! Die Entwicklungsphase der Adoleszenz ist entscheidend für die Weichenstellung ins Erwachsenenleben, da in dieser Entwicklungsphase trotz belastender Kindheit neue Weichen gestellt werden können. Kleinkinder, die diese emotionale Sicherheit – als »sicher gebundene Kinder« – nicht erleben, lernen mit ihren Körpern zu reagieren, da sie keine adäquate Feinfühligkeit (Empathie) erleben und noch nicht fähig sind, ihre Affekte emotional zum Ausdruck zu bringen. In diesen frühen Beziehungsszenarien wird uns deutlich, wie sehr den Kindern nur noch der Körper als Ausdrucksgeschehen für Unsicherheit und Angst zur Verfügung steht. ! Symptome werden zu Signalen für psychische Belastungen, aber auch zu »Machtinstrumenten«, um auf die persönliche Not aufmerksam zu machen und Erwachsene zum Handeln zu zwingen.
Dieser oft als »manipulativ« empfundene Aspekt der Symptomatik führt in der Regel oft wieder in die Macht-Ohnmacht-Spirale zurück, sowohl primär in der Familie wie auch später im Medizinsystem. Der einzig sinnvolle Ausweg ist, den Sinn dieses Verhaltens zu verstehen und den Jugendlichen adäquate Lösungsstrategien anzubieten. Diese gehen zuerst über den Aufbau von Beziehungsqualität und Vertrauen, dann über die Fähigkeit, unterschiedliche Bedürfnisse in einen Dialog überzuführen. Familiäre Dysfunktionen (chronische Konflikte auf der Partnerebene) fixieren Jugendliche in bestimmten »Rollenfunktionen«. Diese Rollenfunktionen, z. B. als »Koalitionspartner« für einen Elternteil oder »Konfliktumleiter« haben die Funktion, das Familiensystem zu äquilibrieren. Dies sind nur einige Beispiele, die aufzeigen können, warum Eltern ihre Jugendlichen nicht loslassen können bzw. warum Jugendliche sich so verhalten, dass sie mittels ihrer Symptomatik die »nicht altersgemäße abhängige Beziehung« aufrechterhalten.
255 30.8 · Spezifische Themen bei Somatisierungsstörungen in der Pubertät
30.8.5 Bedeutung des Vaters als »bedeutsamen
Dritten« Konzept der Triangulation am Beispiel von Familien mit chronischen Schmerzen
Somatisierungsstörungen sind primär oder sekundär durch Beziehungsstörungen begleitet. Auch die Aufrechterhaltung von Somatisierungsstörungen (speziell auch bei chronischen Schmerzen) wird im wesentlichen durch die interpersonelle Interaktion geprägt. Der häufigste »Verstärker« chronischer Schmerzen sind die wichtigsten Bezugspersonen. Die Reduktion des Distresses der wichtigsten Bezugspersonen führt alleine bereits zu einer Reduktion der Schmerzen beim Jugendlichen. Dies ist eine häufige Erfahrung in einem familienorientierten Therapiesetting. Somit ist deutlich, dass einerseits Beziehungsprobleme wesentlich zur Aufrechterhaltung von chronischen Schmerzen führen, die Lösung von Beziehungsproblemen andererseits die größte therapeutische Effektivität ermöglichen. Schwierigkeiten im Umgang mit Somatisierungsstörungen bei den Bezugspersonen sind verständlich. Sie ergeben sich aus einem fehlenden Verständnis für die Ursache (fehlende Kausalität) aus der eigenen Hilflosigkeit im Umgang mit dem chronischen Schmerz und damit einer extremen Einengung des eigenen Interaktionsraumes. Je weniger die Eltern Erklärungsstrategien und Verständnis für die Entstehung der chronischen Schmerzen haben, umso kleiner ist ihre Wirkeffizienz und unsicherer der Umgang mit dem Schmerz. Die Reaktion der Bezugspersonen ist weiterhin sehr geprägt durch die eigene Lebensgeschichte (ca. 70% der Eltern chronisch schmerzkranker Jugendlicher haben selbst Erfahrung mit chronischen Schmerzen). Es ist somit weniger wichtig zu beobachten, wie Bezugspersonen auf chronischen Schmerz reagieren, sondern warum sie so und nicht anders reagieren (familiäre Schmerzgeschichte). Auf dem Hintergrund dieser Beobachtungen wird auch erklärbar, warum sich fast regelmäßig zwischen einem Elternteil und dem Jugendlichen eine »belastende Beziehungskrise« entwickelt. Sehr häufig werden Mütter in diese Beziehungskrise verwickelt und auch »alleingelassen«. Hilflosigkeit und Schuldgefühle, Schuldzuweisungen sind die Folge. Hier stellt sich die zentrale Frage nach dem bedeutsamen Dritten, der die Interaktionsschleife unterbrechen kann. Wenn man im klinisch-therapeutischen Kontext die »Abwesenheit des Vaters« genauer analysiert, so erkennt man sehr rasch, dass dies eine entscheidende Bedeutung für die gesamte Familiendynamik hat. Mit anderen Worten formuliert: Je mehr man den Vater in die Diagnostik und in die Therapieplanung einbeziehen kann, umso effektiver die therapeutische Wirkung: 4 Im Sinne einer Nutzung der persönlichen Ressourcen beider Eltern 4 Im Sinne eines Abbaues von Überlastungen eines Elternteils 4 Im Sinne von mehr Lösungsstrategien 4 Im Sinne einer Optimierung elterlicher Kompetenz 4 Im Sinne eines Abbaues elterlicher Dysfunktion (Schuldzuweisungen) 4 Im Sinne einer Auflösung pathologischer Triaden Von der Dyade zur Triade
Um in belastenden Zweierbeziehungen eine Stabilität zu erreichen, ist das Einbeziehen eines »Dritten« eine zentrale Strategie. Dieses Prozess wird als Triangulation bezeichnet. Triangulation
30
ist ein häufig vorkommendes Verhaltensmuster in menschlichen Beziehungen. Eine Triangulation kann den »Dritten« ausschließen (»pushed out«) oder einschließen (»pulled in«): 4 »Pushed out«: Verlagerung des Partnerkonfliktes auf das Kind ‒ Sündenbockmuster 4 »Pulled in«: der Jugendliche als Mediator (cross-generational coalition) ‒ »go between«-Muster Familiäre Triangulierungsmuster können positive und negative Folgen haben: 4 Einerseits stabilisieren sie das Familiensystem. 4 Andererseits können sie notwendige Problemlösungen in Dyaden verhindern. 4 Problem der »gespaltenen Loyalität«: Die Energie des Jugendlichen, die er für die Familienstabilität aufbringt, geht ihm für seine eigenen Entwicklung (Autonomie) verloren (geringes Selbstwertgefühl, Identitätsproblem...). 4 Jungen sind häufiger in der »pushed-out«-Position. 4 Mädchen sind häufiger in der »pulled-in«-Position. Sie übernehmen oft die Rolle des Mediators. 4 Sind nur Mädchen in der Familie, können auch sie in die »pushed out«-Position kommen. 4 Jugendliche, die in der Familie in der Sündenbockfunktion sind, sind oft auch in anderen sozialen Netzwerken in dieser Position und dadurch »eingeengt und verletzbar«. Es können folgende Typen von Triangulationen beschrieben werden: 4 Balanciertes Muster: Die Konflikte können auf den dyadischen Ebenen fair gelöst werden. 4 Sündenbockmuster: Das Problem des Jugendlichen (Krankheit, spezifische Verhaltensweisen...) erlaubt es Eltern, ihre eigenen Konflikte zu vermeiden. Die Partnerdyade fokussiert auf einen Dritten (pushed out), um sich selbst zu schützen. 4 Mediatormuster: Der Jugendliche ist mehr in die Eltern involviert als die Eltern untereinander. Der Jugendliche steht »zwischen« den Eltern. Bei Somatisierungsstörungen ist in der Regel das Mediatormuster vorherrschend. Der Jugendliche scheint mit seiner Symptomatik das Familiensystem zu stabilisieren. Triangulationen werden dann pathologisch wirksam, wenn sie in die Familiendynamik »eingemeißelt« werden, d. h. sie werden zu einer »Rollenfunktion«, die man kaum mehr verlassen kann. ! Die Einbeziehung des Vaters ist eine zentrale therapeutische Intervention, um ein balanciertes Triangulationsmuster wiederherzustellen.
Familiendynamisch gesehen sind solche Triangulationsmuster oft Wiederholungen aus der familiären Vorgeschichte. Sie können in der Regel über das Erkennen der Beziehungsmuster der Eltern in ihrer Ursprungsfamilien (Drei-Generationen-Perspektive) begriffen und damit auch aufgelöst werden. Die Einbeziehung der Väter in die Therapie bei Somatisierungsstörungen bei Jugendlichen erscheint mir unverzichtbar. Wenn diese »familiäre Reorganisation« gelingt, ist sowohl die Chance einer Entlastung für alle Familienmitglieder, die Chance für Symptomreduktion als auch die Chance weiterer Autonomieentwicklung für alle Beteiligten sehr groß.
256
Kapitel 30 · Somatisierungsstörungen
Ist die Einbeziehung des Vaters nicht möglich, kann diese Funktion des »bedeutsamen Dritten« zumindest als Übergangslösung vom Arzt/Therapeuten übernommen werden.
30.9
30
Zusammenfassung
Die Adoleszenz ist die Lebensphase, in der viele Eltern therapeutische/medizinische Hilfe in Anspruch nehmen. Die Eltern fühlen sich überfordert, verwirrt, ärgerlich, wenn sie die Kontrolle über die Jugendlichen verlieren. Dysfunktionale Beziehungsmuster verstärken sich, Lösungsstrategien sind immer schwieriger zu finden, häufig treten psychosomatische Störungsbilder als Ausdruck der Beziehungsblockade auf. Hauptziel ist das Verhindern bzw. Auflösen symmetrischer Eskalationen der gegenseitigen Hilflosigkeit oder der gegenseitigen Machtexzesse. Anstelle dysfunktionaler Verhaltensmuster und dysfunktionaler Lösungsstrategien (Krankheit oder eskalierender Machtkampf) muss wieder Dialogfähigkeit aufgebaut werden. Definition der Erkrankung als »Entwicklungs- und Ablösungskrise« hilft uns aus einer Pathologisierung in eine Lösungsstrategie überzuwechseln. Das Symptom wird zum Signal einer notwendigen Veränderung in der Persönlichkeitsentwicklung und der familiären Entwicklung umgedeutet. Orientierung an einer lebenszyklischen Entwicklungsphase im individuellen und familiären Bereich unterbricht den Prozess der Pathologisierung und Abhängigkeit. Das Erkennen des Problems als Ausdruck eines familiären Musters befreit von Schuldzuweisungen und gegenseitigen Abwertungen und ermöglicht das Finden selbstwertfördernder Bewältigungsstrategien. Wenn dieser dialogische Prozess in Gang kommt, ist es in der Regel nicht schwer, die ungelösten Konflikte zu erkennen und entsprechend befreiende Lösungsstrategien zu entwickeln. Allein die Fokussierung auf die Ablösungsprozesse der Eltern lassen oft rasch erkennen, wie die Lösungsstrategien der Eltern von ihren eigenen Erfahrungen geprägt sind und wie durch die Ablösungskrise ihrer Jugendlichen alte ungelöste Probleme zu ihren eigenen Eltern ans Tageslicht kommen. Die Weiterentwicklung der eigenen Autonomie der Eltern ist die beste Voraussetzung ihren Kindern den Weg in ihre Zukunft freizumachen. Eine differenzierte Einschätzung einer Somatisierungsstörung im Jugendlichenalter mit den entsprechenden Hintergründen ist somit ohne »Familiendiagnostik« nicht möglich. Veränderungen sind ohne Einbeziehung der Familie äußerst schwierig. Eine einseitige Beschäftigung mit dem Symptomträger verhindert eine ganzheitliche systemische Sichtweise und verhindert vor allem die dringend notwendige Neutralität des Arztes/Therapeuten. Jede einseitige Koalition mit einem Familienmitglied – bewusst oder unbewusst – kann zu einer Fixierung der Problematik führen – der Arzt/Psychotherapeut wird zum Mitspieler familiärer Triangulationen. Er kann dies selbst sehr rasch spüren, wenn jede Intervention seinerseits zu einer Ablehnung seitens der Eltern oder einer Ablehnung seitens des Jugendlichen führt. Die Chance des Arztes/Therapeuten ist es, eine »neutrale Haltung« zu wahren, um gleichzeitig die Autonomieentwicklung der Jugendlichen zu fördern und die Kompetenz der Eltern zu unterstützen, die ihren Jugendlichen letztes Endes den Weg in die Autonomie ermöglichen.
Fazit
In unserer therapeutischen Arbeit mit Familien steht die Arbeit mit dem Jugendlichen und den Eltern, d. h. dem Familiensystem, im Vordergrund. Trotzdem muss auch bei Jugendlichen immer daran gedacht werden, dass eine Autonomieentwicklung nur möglich ist, wenn eine Brücke in das außerfamiliäre Beziehungsfeld bzw. zu neuen außerfamiliären Bindungen hergestellt werden kann. Es müssen oft entsprechende Weichen gestellt bzw. Unterstützungen zur Verfügung gestellt werden, die es dem Jugendlichen ermöglichen, in außerfamiliären Beziehungsnetzen ihren Platz zu finden. Hier beginnt die wichtige Netzwerkarbeit mit Schulen, psychosozialen Einrichtungen sowie Unterstützungen, um in der Arbeitswelt Fußfassen zu können. Netzwerkarbeit, Vernetzungsgespräche, Einbeziehung wichtiger Personen aus dem außerfamiliären Bezugsfeld sind ein wesentlicher Beitrag, um eine Brücke zur Selbständigkeit des Jugendlichen zu bauen.
Literatur Bell M, Linda G (2001) Triangulation and adolescent development in the U.S. and Japan. Family Process 40. Issue 2. 173–186 Campo J et al. (1999) Somatization in Pediatric Primary Care: Association with Psychopathology, Functional Impairment and Use of Services. Journal of the American Academy of Child and Adolescent Psychiatry. 38. 1093–1101 Felliti V (2002) The relationship of adverse childhood experiences to adult helath: Turning gold into bead. Psychosom Med Psychoth 48. 359– 369 Grawe K (1998) Psychologische Therapie. Hogrefe, Göttingen Mangold B (2001) Qualitätsmanagement in der psychosomatischen und psychotherapeutischen Medizin – Oder: Die Kunst der komplexitätserhaltenden Komplexitätsreduktion. Psychosomatische Grundversorgung bei Kindern und Jugendlichen. Kooperationsmodelle zwischen Pädiatrie und Kinder- und Jugendpsychiatrie. Hrsg. Frank & Mangold. Kohlhammer. 214–225 Mangold B, Gomig I (2002) Chronische Schmerzen bei Kindern und Jugendlichen. Ein systemisches »psychosomatisches« Modell von Diagnostik und Therapie. Chronischer Schmerz bei Kindern und Jugendlichen. Hrsg. Frank R. Marseille, München. 81–100 Pfeiffer E (2001) Somatoforme Störungen – eine Herausforderung im Grenzbereich zwischen Kinder- und Jugendpsychiatrie und Pädiatrie. Psychosomatische Grundversorgung. Hrsg. Frank & Mangold. Kohlhammer. 68–74 Waller E, Schmidt CE (2002) Somatoforme Störungen und Bindungstheorie. Psychotherapeut 2002. 47. 157–164 Wood BL (1993) Psychosomatic Family: A Biobehavioral Family Model of Pediatric illness. Family Process. 32. 261–279 Wood BL et al. (2000) Evolving the Biobehavioral Family Model: The Fit of Attachment. Family Process 39. 319–344
32 Jungenmedizin R. Winter, B. Stier, J. Seibold
32.1
Jungen (7 auch Kap. 3)
R. Winter )) Wenn es um Geschlechterfragen ging, blieben Jungen »als Jungen« mit ihrem eigenen Geschlechterbezug lange Zeit unsichtbar. Jungen galten als das Allgemeine, Mädchen als das Besondere; Probleme hatten Mädchen, Probleme machten ihnen Jungen. Die feministische Perspektive löste Mädchen aus dem Allgemeinen heraus. Jungen wurden erst allmählich in den vergangenen drei Jahrzehnten »entdeckt« und selbst zum Thema gemacht (z. B. bei Schnack u. Neutzling 1990); auch fachlich wurden Jungen bemerkt, z. B. indem in einer problemorientierten Sichtweise der Frage nach einer »männlichen Sozialisation« nachgegangen wurde (Böhnisch u. Winter 1993). Dieser Prozess fand seinen vorläufigen End- und Höhepunkt in der breiten Debatte in den Medien zum Thema benachteiligte, »arme« Jungen (Rose u. Schmauch 2005). Die fachliche Geschlechterdiskussion ist heute bei einer einfachen Differenzierung angelangt: Mädchen sind etwas Besonderes und Jungen sind etwas Besonderes.
32
Wird nach diesem Besonderen der Jungen gefragt, werden meist Verhaltensweisen benannt, die mit traditionellen Männlichkeitsvorstellungen in Verbindung stehen; oder es werden Merkmale angeführt, die Jungen anscheinend von Mädchen unterscheiden. Dies ist ein alltagsorientierter, gleichsam »gefilterter« Blick Erwachsener auf Jungen (Winter u. Neubauer 1999). Sich fachlich mit Jungen zu beschäftigen erfordert es dagegen, die Perspektive zu weiten und Jungen in ihrer Vielfalt wahrzunehmen: körperlich, menschlich, von ihren Potenzialen, ihren Problemen und ihren Lebensäußerungen her usw. Dazu ist es hilfreich, bei der Grundfrage zu beginnen: Was sind überhaupt Jungen? Jungen sind erstens Menschen; zweitens haben sie ein männliches Geschlecht; und Jungen befinden sich drittens in einer spezifischen Lebensphase: zwischen einer geschlechterbezogenen Definition (vor oder unmittelbar nach der Geburt) bis zum Ende der Adoleszenz. Der Begriff »Junge« beinhaltet neben einer universellen (menschlich) und einer geschlechtlichen (männlich) auch eine lebensphasenbezogene Dimension (Kind, Jugendlicher). Dieser Aspekt betont, dass Jungen nicht »fertige« männliche Menschen sind; sie sind jeweils altersbezogen in Entwicklung begriffen und dabei selbst aktiv Gestaltende ihrer Jugendphase und Adoleszenz. Mit der Perspektive auf »männliche Sozialisation« bleibt die Seite des aktiven Gestaltens tendenziell genauso verdeckt, wie die Vielfalt des gelebten Jungeund Mannseins oder die Frage nach dem gelingenden Jungesein und Mannwerden (Winter u. Neubauer 2001). Deshalb ist es heute interessanter zu fragen, wie Jungen ihr Jungesein »tun«, wie sie es »machen« (vgl. Butler 1991).
! Wer von »Jungen« spricht, läuft Gefahr, Komplexes zu vereinfachen und zu vereinheitlichen. Wegen des breit angelegten, damit relativ unpräzisen Begriffs »Junge« muss deshalb möglichst genau differenziert werden.
Wichtig sind insbesondere altersspezifische Differenzierungen, aber auch bezogen auf den kulturellen, religiösen oder schichtbezogenen Hintergrund, regionale genauso wie lebenslagen- oder bewältigungsbezogene Differenzierungen. Es ist deshalb besser, nicht über die Jungen zu sprechen, sondern von denen, die in dieser oder jener Hinsicht gemeint sind oder auffallen, also z. B. genauer von »6-jährigen Jungen im Kindergarten« oder von »männlichen Jugendlichen über 16 Jahren mit Migrationshintergrund, die ohne Vater aufwachsen«. Ohne solche Differenzierungen schleichen sich leicht unrealistische Pauschalisierungen ein, welche die Wahrnehmung auf Jungen verzerren (können). 32.1.1 Männlich-Sein Das »Männliche« bei Jungen wird durch körperliche, habituelle oder verhaltensbezogene Attribute erkannt. Die körperliche Kategorie, das Körpergeschlecht (engl.: sex) scheint dabei relativ einfach zu bestimmen: hier wird das Jungesein durch männliche primäre und sekundäre Geschlechtsmerkmale oder durch den spezifischen Chromosomensatz (XY-Chromosom) identifiziert. Allerdings: Bereits hier gibt es relativ viele Abweichungen und Grauzonen (Kolip, 1997). In den anderen, habituellen oder verhaltensbezogenen Bereichen (soziales Geschlecht; engl.: gender) verbieten sich enge Definitionen noch deutlicher; die Bandbreiten unter den Jungen sind meist größer als zwischen Mädchen und Jungen bzw. unter Erwachsenen und Jungen. Je genauer hingesehen wird, desto eher kommt man zum Ergebnis: Jungen sind von Fall zu Fall verschieden. Jungen sind zwar etwas Besonderes, unterscheiden sich aber oft erheblich. Bei Pauschalisierungen (»die« Jungen sind immer...) ist in der Praxis höchste Vorsicht angebracht. Wenn das Männlich-Sein nicht eindeutig ist, liegt eine Frage nahe: Was ist überhaupt (noch) »männlich«? Sie wird in der Tat immer wieder gestellt und verweist auf Orientierungsprobleme in der Moderne. Ein verbreiteter Mythos besagt, dass es einen Kern des Männlichen gebe, der allen Wandel überdauert, etwas »Ur-Männliches«, das aus dem Rauschen der Wirklichkeit herausdestilliert werden könne. Dieses Extrakt, wonach hier gesucht wird, gibt es aber nicht, auch wenn das immer wieder zu verkaufen versucht wird; wer es sucht, findet allenfalls kulturelle Phantome. Diese Suche selbst ist Ausdruck einer Sehnsucht danach, etwas Fließendes, Vielfältiges, Komplexes und Changierendes festzuhalten. Der Erfolg populärwissenschaftlicher Bücher zur Geschlechtsorientierung (z. B. Pease u. Pease 2001) verweist ebenfalls auf Verunsicherungen darüber, was »männlich« ist. Ein Abgleichen- und Vergewissern-Müssen deutet auf Irritationen, aber auch Bestimmungszwänge hin. Dies betrifft Jungen in ihrer Geschlechtsorientierung »als Jungen« besonders; eine wichtige Entwicklungsaufgabe in der Jugendphase lautet ja, eine stabile Ge-
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schlechtsidentität zu entwickeln. Jungen orientieren sich dabei an dem Material, das sie vorfinden. Das sind neben lebendigen Männern vor allem kulturelle männliche Figuren und Strukturen, gleichsam die Grammatiken des Männlichen. Jungen sind häufig auch deshalb darauf verwiesen, weil in kindlichen Lebenswelten Männer oft rar sind. Gleichzeitig können Jungen sehr wohl unterscheiden zwischen gelebtem Mannsein und – vor allem medialen – Bildern von Männlichkeit. Die meisten Jungen lehnen auf einer bewussten Ebene enge, revisionistische und traditionelle Männlichkeitsformen als Orientierung oder Identifikationsform für sich selbst ab. Als Chiffre für ein Extrakt herkömmlicher Männlichkeitsbilder dient ihnen der Begriff »Macho«. Allerdings wird durch die Ablehnung des Konstrukts »Macho« ein Defizit, ein sozialer Hohlraum deutlich: mit dem Schwinden oder Verteufeln traditioneller Bilder von Männlichkeit sind noch lange keine modernen Vorstellungen greifbar. Wenn nicht Macho – was dann? Jungen, die mediengeprägte oder reduzierte traditionelle Männlichkeitsmuster zeigen, sind primär nicht defizitär, sondern auf der Suche und meist bedürftig nach Beziehungen mit echten, lebendigen Männern. In der Arbeit mit Jungen sind deshalb Männer besonders gefragt – und gefordert. Dabei ist es wichtig, dass Männer sich ihres Mannseins bewusst sind, dass sie reflektieren, was und wie sie »als Männer« sind und dies auch zeigen, dass sie eine gewisse männliche Klarheit an den Tag legen (können). Gerade dies scheuen aber viele Männer im psychosozialen Bereich: wegen diffusen Gefühlen dem eigenen Mannsein gegenüber, aus Angst vor latent schwelender feministischer Kritik oder davor, angreifbar zu werden. Jungen hilft männliche Schwammigkeit allerdings wenig. Diese Frage bleibt bei vielen Jungen (und Männern) offen: Jenseits der negativen Klischees fehlt es heute an positiven und kommunizierbaren Vorstellungen des Mannseins. In einem Interview brachte es ein Junge auf den Punkt: »Dieses Macho-Gehabe und so, also, das sollte man nicht haben. Was man jetzt unbedingt haben sollte – ähm – weiß ich nicht.« Jungen erfahren und wissen oft auch moralisch viel darüber, wie sie nicht sein sollen. Wie sie aber als Jungen oder Männer sein sollen und dürfen, das bleibt oft unklar. Mit dieser Frage einer positiven Bestimmung des Männlichen in der Moderne lassen Erwachsene und Gesellschaft die Jungen bislang weitgehend alleine. Das bedeutet für die entwicklungsbezogene Arbeit mit Jungen im gesamten psychosozialen und Bildungsbereich: Vorstellungen darüber zu entwickeln und zu kommunizieren, wie gutes oder gelingendes Jungesein zu verstehen und zu beschreiben ist (Winter u. Neubauer 2001). Jenseits der defizitbezogenen Negationen (Jungen sind dann in Ordnung, wenn sie nicht...) kommt es auf positive Entwürfe an: Was macht »gutes« Jungesein aus? Wie können wir Jungen geschlechtsbezogen bilden? Wie sind sie dann, wenn unsere Arbeit mit ihnen funktioniert (hat)? Was gefällt uns, welche geschlechterbezogenen Potenziale leben (welche) Jungen bereits? Welche Potenziale können sie – zusammen mit uns – noch weiter entwickeln? 32.1.2 Körper und Gesundheit Für Jugendliche – Mädchen wie Jungen – ist der Körper ein wesentlicher Raum der Suche nach geschlechtlichen Identitäten (Helfferich 1994; Kolip 1997). Dementsprechend ist den meisten
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Jungen ihr Körper wichtig, auch ohne dies ständig zu reflektieren oder zu kommunizieren. Unter ästhetischen, leistungsbezogenen oder medizinischen Blickwinkeln widmen sie ihm Aufmerksamkeit: Vor dem Spiegel, im Schwimmbad, auf dem Sportplatz oder im Fitness-Studio, mit Pillen, Salben und Verbänden, beim Skaten, Snowboarden, im Sportunterricht, auf dem Rad oder Kickboard, im Fußballverein usw. Viele Jungen wissen oder spüren, was ihnen gut tut und was für ihren Körper gesund ist (bzw. wäre). Vor allem ab der Jugendphase haben sie die entsprechenden Körpernormen übernommen und versuchen, sie auch mehr oder weniger zu erfüllen: gut aussehen, Muskeln, WaschbrettBauch usw. Dabei gilt es, eine Balance zu halten, um »normal« zu bleiben, um sich nicht allzu sehr abzuheben von den anderen (Winter u. Neubauer 1998), eine Gratwanderung zwischen gut, aber nicht zu gut: Muskulös, aber nicht zu viele Muskeln (sonst ist man ein »Muskelprotz«), gut aussehen, aber nicht zu hübsch, kein »Schönling« sein; nicht dick, aber auch nicht zu schmächtig usw. Ein weiterer Grund für die hohe Bedeutung ihres Körpers für viele Jungen liegt darin, dass der Körper für Jungen eine der wenigen Möglichkeiten ist, sich zu zeigen, sich zu präsentieren – auch im Männlich-Sein. Solange andere Symbolebenen verwehrt sind (durch Status, Konsum: Handy, Auto, tolle Reisen, aber auch durch Berufsarbeit) ist der Körper – neben der Sprache – die wichtigste Ressource der Selbstdarstellung. Dass dies ganz besonders für ärmere Jungen gilt, ist einleuchtend: ökonomische Armut wirft sie auf den Körper zurück und kann die symbolische Bedeutung ihres Körpers erhöhen. Für die meisten Jungen ist es auf der Einstellungsebene einleuchtend und selbstverständlich, auch etwas für den Körper zu tun. Hierzu gehören Sport und Körperpflege, gesunde Ernährung, das Beschränken oder Vermeiden von typischen Risiken wie Rauchen oder Alkoholkonsum. Die Gesundheitsmoral – was sie alles in Bezug auf ihren Körper tun und nicht tun sollen – können Jungen meist ohne weiteres wiedergeben. Ob sie sich auch dementsprechend verhalten, ist allerdings eine ganz andere Frage. Mit zunehmendem Alter lässt bei vielen Jungen der verantwortliche Umgang mit dem Körper nach. Nur: Es ist überflüssig, noch mehr Moral zu vermitteln, z. B. über Präventionskampagnen; das erhöht allenfalls das schlechte Gewissen. Viele Jungen haben ein anderes Körper- und Gesundheitsverständnis, bei dem wieder eine funktionale Balance gehalten werden muss: wenn sie dem Körper auf der einen Seite etwas zumuten, möchten (oder sollten) sie ihm als Ausgleich auf der anderen Seite etwas Gutes tun (z. B. Rauchen – Vitamine essen; falsches Essen – Sport treiben). ! Dieses Balance-Verständnis erhält durch die totale Präventionsmoral keine Resonanz, sondern wird entwertet.
Natürlich ist es auch erforderlich, Jungen zu vermitteln, was gut und gesund für sie, für ihren Körper ist und was nicht. Umgekehrt ist es in der Arbeit mit Jungen wichtig zu sehen, was sie bereits für ihre Gesundheit tun und was an bzw. bei ihnen gesund ist – und ihnen das immer wieder rückzumelden. Methodisch machen wir das z. B. in der Praxis durch einfache Sammelfragen (auf Moderationskarten oder einem Plakat): Was hält dich gesund? Was tust du für deine Gesundheit? Durch das Zusammentragen der Antworten in Gruppen sehen Jungen, dass es andere Jungen auch tun, dass es also nichts individuell Besonderes und nicht nur etwas Erwachsenes ist, etwas für die Gesundheit zu tun.
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Kapitel 32 · Jungenmedizin
Jungen sind in Bezug auf ihre Gesundheit nicht so eindimensional strukturiert, wie es viele Erwachsene annehmen. Dass sie im Allgemeinen für Gesundheitsthemen offen sind, zeigen auch ihre Sorgen um ihre Gesundheit, vor allem in Bezug auf Rauchen, Alkohol oder die Ernährung. Dennoch sind Jungen ihr Jugendstatus und der Bezug auf Gleichaltrige meist wichtiger als ständig gesundes, vorbildliches Verhalten, gilt das Jetzt mehr als die Prävention möglicher Folgen im Später. So sind ihre oft als »ungesund« interpretierte Lebensweisen auch eine Form der Ablösung von der Herkunftsfamilie und Erwachsenenkultur und ein jugendkultureller Ausdruck des Eigenen. Aktives Gesundheitsverhalten – vor allem Bewegung und Sport – wird dagegen von Jungen ebenfalls als jugendkulturell wichtig eingeschätzt, aber nicht zur Abgrenzung herangezogen. Das eingeschränkte Verständnis Erwachsener darüber, wie Sport stattzufinden hat (regelmäßig, verbindlich, im Verein, traditionelle Sportarten) verschließt dabei oft potenzielle Gesundheitsräume für Jungen.
Tipp Statt »totale Gesundheit« zu verlangen, ist es in der Praxis wichtiger, sich auf die Ressourcen der Jungen einzustellen: Was ist ihnen wichtig? Wie wollen sie ihre Gesundheitsbalance halten? Darüber hinaus ist es in der Praxis sinnvoll, Körperund Gesundheitsthemen in den Alltag zu integrieren, etwa durch Übungen, in denen Energie aufgebaut, gehalten und wieder abgebaut wird, wo es also ruhig auch laut, energisch und turbulent zugehen darf. So verbindet sich Gesundheit leichter mit Lebendigkeit (und weniger mit asketischer Erwachsenenmoral). Eine integrierende Perspektive, die Gesundheitsthemen dort platziert, wo Jungen sind, vermeidet auch das Dilemma der Komm-Struktur vieler gesundheitsbezogener Angebote, wo beklagt wird, dass Jungen z. B. die schönen Beratungsangebote ja nicht aufsuchen.
32 Insgesamt wird Gesundsein von Jungen meistens als »normal« wahrgenommen und erhält deshalb nicht so starke Bedeutung in ihrer Lebensgestaltung. Und in der Tat sind ja die meisten Jungen (zumindest relativ) gesund. Erwachsene, die mit Jungen zu tun haben, nehmen es oft nicht wahr, dass Jungen durchaus ein positives Verständnis von Gesundheit und Gesundsein haben. Sicher: Es gibt auch Jungen, die sich exzessiv ungesund verhalten – meist Ausdruck für tieferliegende Probleme oder kindliche Traumata; auch solche Jungen, die von ihrem Körper distanziert sind gibt es oder solche, denen es schwer fällt, ihre Körperempfindungen zu formulieren. Im allgemeinen Durchschnitt gilt Gesundheit aber als wichtig und (dennoch) »normal«. Explizit ungesundes männliches Verhalten scheint derzeit sogar ziemlich out zu sein, im Gegenteil: es bestehen deutliche Erwartungen, oft fast schon ein Druck, gesund zu sein und sich als gesund zu präsentieren. »Fit« und gesund zu sein ist ein Muss; moderne Leistungs- und Männlichkeitsnormen sind hier im Verhältnis von Jungen zu ihrem Körper wiederzuerkennen.
Tipp Wenn Jungen in der Praxis diesen Aspekt unbedingter Fitness (zu) stark präsentieren, lautet eine wichtige Information: Es ist
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zwar normal, gesund zu sein, aber es ist auch gesund, mal krank zu sein. Hier machen wir Jungen z. B. auf Kinderkrankheiten aufmerksam, durch die Entwicklungsprozesse vollzogen werden (woran sich viele Jungen auch erinnern). Ebenso wichtig ist die Botschaft, dass Leistung, etwas zu schaffen, das Erreichen von Zielen befriedigt und beglückt, dass aber ständige, ununterbrochene Fitness und der Maßstab grenzenloser Leistungsfähigkeit unmenschlich sind und Jungen wie Männer krank machen.
32.1.3 Sexualität Genital sexuell zu werden, sich Sexualität als Handlungsfeld und Erlebnisraum zu erschließen und sich das Sexuelle anzueignen ist für Jungen nach wie vor ein schwieriges, komplexes und bisweilen überforderndes Gebiet. Daran hat sich durch Sexualaufklärung und weniger rigide Sexualmoral zwar einiges geändert; Sexualität bleibt aber Entwicklungsaufgabe, die von Jugendlichen aktiv und vor allem individuell erledigt werden muss. Dennoch finden wir bei den meisten männlichen Jugendlichen in ihrer Sexualität nur wenig Dramatisches, Verzweifeltes oder extrem Spannungs- oder Konfliktreiches. So wirkt das Thema Sexualität für Jungen insgesamt zwar nicht problemfrei, aber weitgehend entspannt. Viele Erwachsene sehen das allerdings ganz anders: Sie verstehen Sexualität vor allem als präventionsbedürftigen Risikobereich und wittern überall Gefahren – für die Jungen selbst, besonders aber in Bezug auf das, was Jungen mit Mädchen tun. Sie finden bei Jungen vor allem riskante Verhaltensweisen und kommunikative Defizite: In sexueller Hinsicht gelten Jungen als sprachlos – aber für viele Erwachsene gilt die Sprache als das wichtigste Sexualorgan, nicht zuletzt wegen der wichtigen Verhandlungsmoral: Sexuell ist alles erlaubt, wenn es vorher ausgehandelt wurde, und das funktioniert eben nur sprachlich. Das vorhandene Bewältigungsrepertoire von Jungen, etwa in Form von Witzen, Sprüchen, Anspielungen, Sexualisierungen, aber auch in ihren sicher bisweilen unbeholfenen Kommunikationsversuchen, werten Erwachsene ab. Umgekehrt präsentieren sie sich als Kompetenzschatz mit einer Haltung, die von der weitgehenden Inkompetenz der Jungen ausgeht: »Du kannst mich alles fragen...«. Jungen müssen aber gar nicht alles fragen, sie wollen sich selbst nicht als inkompetent sehen, im Gegenteil. Je nach Alter unterschiedlich verstehen sie sich eher als »Sexualexperte«, der sich auskennt, der weiß oder zumindest ahnt, was Mädchen wollen und wie sie zu bedienen sind. Mit dieser Vorstellung sind sie entsprechend beschäftigt: mit Aufgaben der sexuellen Annäherung und Beziehungsanbahnung, mit dem Thema »Wie geht Beziehung?« und mit Fragen intimer Kommunikation. Oft halten Jungen Sexualität für ein eher privates Thema, das sie geschützt und oft gerade nicht mit Erwachsenen besprechen wollen. Ihr Wunsch und Auftrag an Erwachsene lautet meist, sie zuerst in ihrer Kompetenz wahr- und ernst zu nehmen – erst danach oder dahinter können sie ihre Unsicherheiten zeigen, ihre Fragen anbringen. Deshalb ist es bedeutsam, in Bildung und Beratung von Jungen immer auch Möglichkeiten für ihre »Kompetenzpräsentation« anzubieten ‒ Was weißt du alles schon? Wo kennt ihr euch
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gut aus? – und Jungen ihren kompetenten Status auch zu spiegeln: »Prima, dass du das schon kennst«; »Ihr wisst ja wirklich schon gut Bescheid« ‒ So fällt es Jungen leichter, auch ihre verborgenen Themen und Fragen zu benennen. Wegen ihres kompetenten Status können Jungen häufig auch nicht direkt fragen; sie erzählen dann z. B. indirekt von einem Freund, einem Bruder, einem Klassenkameraden, der ein Problem hat. Diese Strategie ist eine kreative Lösung des Kompetenzdilemmas und ein guter »Kanal«, um mit Jungen zu arbeiten (also nicht auf der Ebene: »Dann soll dein Freund mal selbst vorbei kommen« zu verschieben); dieser indirekte Zugang lässt sich auch in Bildung und Beratung nutzen: wenn Jungen für den Fall kompetent gemacht werden, dass etwa ein Freund ihnen eine Frage zu diesem oder jenem Bereich stellt; so wird beides erreicht: Kompetenzzuwachs (Information, Beratungsinhalte) und Bestätigen des kompetenten Status des Jungen (als fachkundiger Informant oder Berater des Freundes). Im Gegensatz zu der Erwartung, dass Jungen zu jeder Zeit und über alles Sexuelle vor allem reden sollen, haben Jungen verständlicherweise mehr Interesse am Tun und an der erlebten Erfahrung. Selbst »richtigen« Sex zu haben ist ihnen wichtiger als sprachliche Kompetenz und Sexualwissen. Viele Jungen vertreten dabei ein integriertes Selbstverständnis von Sexualität, auch wenn sie das in den Öffentlichkeiten der Clique, Schule oder Jugendarbeit eher selten so vermitteln. Aber in »guten« Gesprächen untereinander artikulieren sie soziale Zusammenhänge und die Einbindung von Sexualität meistens mit: Dann geht es um die eigene Attraktivität, um Statusfragen, einen realen oder phantasierten Erfahrungsvorsprung, die Stellung in der Clique, die Bedeutung des Sexuellens in Bezug auf andere bedeutsame Lebensbereiche (Schule, Clique, Sport), die Anerkennung bei Mädchen, die Reaktion von Erwachsenen, Möglichkeiten sexueller Provokationen usw. Nach wie vor sind Jungen in Bezug auf Sexualität oft mit Moralthemen beschäftigt. Ihren hohen Moralkodex in Bezug auf sexuelle Beziehungen verhandeln sie exemplarisch, etwa an Themen wie »das erste Mal« oder »One Night Stands« – wichtige Auseinandersetzungen mit Grenzen in einem postmodernen und nur scheinbar völlig offenen Lebensfeld. Anders als noch bei der heutigen Eltern- und Großelterngeneration ist diese Moral allerdings viel diffuser, sie wird nicht mehr bei traditionellen Milieus (Dorf, Kleinstadt), Institutionen (Kirchen) oder konservativen Eltern verortet – ist aber trotzdem »da« und wirksam. Durch moderne Ansprüche angereichert (z. B. eine Frau zum Orgasmus bringen; keine Fehler machen dürfen) und dennoch mit traditionellen Moralsubstanzen behaftet (z. B. Sexualität ist beschämend, peinlich, gehört ins Private) wuchs der Moralkodex speziell für Jungen enorm. ! Wichtig ist es deshalb, in Beratung, Bildung oder Prävention den ohnehin problematischen Moraldruck nicht noch zu erhöhen oder den Jungen zusätzliche Moralelemente aufzubürden. Wirksam ist eher, Jungen ihren eigenen Moralkodex aufstellen zu lassen oder das, was unreflektiert an Moral herumvagabundiert, zu ermitteln (Was ist im Bereich des Sexuellen richtig? Wie soll ein Junge sich in diesem oder jenem Fall verhalten?)
Das ganze Gebiet der Sexualaufklärung ist für Jungen heute breit angelegt. Auf die Frage, von wem sie aufgeklärt wurden, nennen viele Jungen Erziehungsinstanzen wie Schule, Eltern (Mütter deutlich mehr als Väter) und Medien. Oft weisen sie darüber hinaus und selbstverständlich auch auf die aktive Aneignung aus
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eigenem Interesse hin: »Jugend forscht!« Die selbstaktive Sexualaufklärung und »autonome« Aneignung von Sexualität durch die Jungen ist ein Entwicklungsfaktor, dem bislang eher wenig Beachtung geschenkt wurde. Jungen geht es hier nicht nur um Erfahrung mit Sexualität als Praxis. Vielmehr verstehen sie ihr Aktivsein auch als selbstgesteuerte Sexualaufklärung. Ihre selbstkompetente Haltung lässt Jungen wahrnehmen und aufnehmen, was an ihnen »vorbeiströmt«, oder sich selbst gezielt auf die Suche nach Informationen machen. Insofern leuchtet es ein, dass die eigene Aktivität im Einzelnen auch von den Jungen selbst oft nicht als solche reflektiert oder definiert werden kann – Aneignung passiert einfach und selbstverständlich, oft ohne besondere Anstrengung: »Das kommt von selbst« und »Man lernt es mit der Zeit.« Für Aneignungsräume sind auch Erwachsene verantwortlich: dass etwas vorhanden ist, dass etwas bereit gestellt wird, aus dem Jungen sich bedienen können. Erwachsene stellen Informationen, Anregungen, Erfahrungsfelder zur Verfügung – und auch Personen, die ansprechbar sind. Gerne verschieben Erwachsene die Verantwortung dafür auf andere: Eltern auf die Schule, die Schule auf die Jugendarbeit, die Jugendarbeit auf die Ärzte, die Ärzte auf die Gleichaltrigen. Man kann sich aber nicht darauf verlassen, dass andere Felder diese Aufgabe übernehmen oder ausreichend ausfüllen. Viele Erwachsene verhalten sich hier zu defensiv; sie warten ab, ob die Jungen kommen (»ihr könnt mich fragen«) – und meistens stellen Erwachsene später enttäuscht fest, dass Jungen das nicht tun. Gerade in Erziehung, Bildung, in Medizin und Beratung können Erwachsene dagegen durchaus offensiv (wenn auch nicht exzessiv) das vermitteln, was ihnen wichtig erscheint. In diesem Rahmen geht es auch darum, sich selbst als ein (!) Partner zu markieren, bei dem Jungen etwas bekommen können. Jenseits von Informationen und aller Sexualaufklärung zählt letztlich für die meisten Jungen die eigene Erfahrung am stärksten, hinter ihr und durch sie verblasst alles andere – sogar (allmählich) Unsicherheiten und latent vorhandene Ängste. Denn trotz Aufklärung, Enttabuisierung des Sexuellen und Aneignungsmöglichkeiten sind viele Jungen unter der Oberfläche ihrer (vorhandenen!) Kompetenz und Selbstsicherheit auch unsicher, bisweilen auch von zu hohen Ansprüchen und Erwartungen partiell überfordert (eigene, die der Mädchen, anderer Jungen, der Eltern, der Medienbilder, der Männlichkeitsvorstellungen...) Diese bedrohliche Seite der Jungensexualität wurde durch Aids noch einmal forciert. Noch bevor tatsächliche Risiken eintreten könnten, ist Aids allgegenwärtig. Informationen zu Aids und Präventionsbemühungen koppeln dabei Sexualität verdeckt an massive Schwierigkeiten, letztlich an Leiden und Tod. So notwendig Aids-Prophylaxe ist – noch wichtiger ist es, Jungen (wie auch Mädchen) ihre Sexualität als etwas Positives zuzugestehen. Latent erhalten Jungen den Eindruck, dass es in der Prävention darum ginge, die Sexualität zu verhindern (und nicht mögliche negative Folgen). Demgegenüber gilt es zu vermitteln, dass Sexualität erlaubt und primär etwas Schönes, Leichtes und Lustvolles ist.
Literatur Böhnisch L, Winter R (1993) Männliche Sozialisation. Bewältigungsprobleme männlicher Geschlechtsidentität im Lebenslauf. Weinheim Butler J (1991) Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt a. M.
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Kapitel 32 · Jungenmedizin
Helfferich C (1994) Jugend, Körper und Geschlecht. Die Suche nach sexueller Identität. Opladen Kolip P (1997) Geschlecht und Gesundheit im Jugendalter. Die Konstruktion von Geschlechtlichkeit über somatische Kulturen. Opladen Pease A, Pease B (2001) Warum Männer nicht zuhören und Frauen schlecht einparken. Ganz natürliche Erklärungen für eigentlich unerklärliche Schwächen. München Rose L, Schmauch U (Hrsg.) (2005) Die neue Rede von starken Mädchen und armen Jungen. Königstein/Taunus (i.E.) Schnack D, Neutzling R (1990) Kleine Helden in Not. Jungen auf der Suche nach Männlichkeit. Reinbek Winter R (2001) Jungenarbeit. In: Otto HU, Thiersch H: Handbuch Sozialarbeit/Sozialpädagogik. Neuwied. S. 904–915 Winter R, Neubauer G (2001) Dies und das. Das Variablenmodell »Balanciertes Junge- und Mannsein« als Grundlage für die pädagogische Arbeit mit Jungen und Männern. Tübingen Winter R, Neubauer G (1999) Ich sehe was, was Du nicht siehst! Jungenperspektive und Erwachsenensicht in Bezug auf Körper, Gesundheit, Sexualität und Sexualaufklärung von Jungen. In: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (Hrsg.) Wissenschaftliche Grundlagen. Teil 2: Jugendliche. Köln Winter R, Neubauer G (1998) Kompetent, authentisch und normal? Aufklärungsrelevante Gesundheitsprobleme, Sexualaufklärung und Beratung von Jungen. Köln
Internetadressen http://www.PfunzKerle.de http://www.bzga.de http://www.sowit.de http://www.mannigfaltig.de http://www.radix.ch http://www.jungenarbeit-online.de
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275 32.2 · Urologie
32.2
Urologie
B. Stier, J. Seibold )) Bei Jungen, besonders in der Pubertät, können verschiedene urologische Krankheiten, Probleme und Fragestellungen auftreten. Oft scheuen sich Jungen, die Probleme z. B. an Skrotum, Hoden und Penis direkt anzusprechen. Bauchschmerzen und sonstige psychosomatische Beschwerden werden immer wieder vorgeschoben, ohne dass das eigentliche Problem – selbst bei Hodentorsion oder Tumorverdacht – konkret angesprochen wird. Eine gute Anamnese und eine gründliche einfühlsame Untersuchung sind daher unerlässlich. ! Probleme mit Hodengröße und Penislänge, die Fruchtbarkeit und Potenz betreffend, können immer wieder Ursache unklar angegebener Beschwerden sein.
Der Arzt sollte grundsätzlich bedenken, dass Jungen ihre Ängste nicht von sich aus ansprechen. Die Angst, dass die Symptome durch eine sexuell übertragbare Erkrankung verursacht sein könnten, steckt vielfach dahinter. Auch Probleme und Beschwerden beim Geschlechtsverkehr werden so gut wie nie gleich konkret verbalisiert und bedürfen der besonderen ärztlichen Aufmerksamkeit. Dies gilt vor allem dann, wenn Behandlungen im Genitalbereich im Kindesalter vorausgegangen sind (z. B. bei Hodenhochstand, Hodentorsion oder Hypospadie). Die notwendige Anleitung zur routinemäßigen Selbstuntersuchung des Hodens und des Penis kann nicht oft genug betont werden. Die J1 bietet hierzu ist eine sehr gute Gelegenheit (7 Kap. 16). 32.2.1 Veränderungen am Penis Phimose (ca. 1–3%)
Von einer Vorhautverengung (Phimose) spricht man, wenn sich die Vorhaut nicht über die Glans zurückstreifen lässt. Diese Verengung kann per se schon Beschwerden, z. B. schmerzhaftes Spannungsgefühl bei der Erektion, verursachen. Durch die erschwerte Reinigung kommt es u. U. zu abgeschilferten Hautrückständen (Smegma), eine dadurch beförderte bakterielle Besiedelung kann schließlich zu einer lokalen Entzündung (Balanitis) führen (Brown et al. 1997). Die Phimose wird lokal behandelt. Zunächst wird versucht, die Enge durch eine 4-wöchige Salbenbehandlung mit 0,25% Kortisonsalbe oder Östrogensalbe zu weiten. Ein Erfolg stellt sich in ca. 60–70% der Fälle ein. Bleibt die Phimose weiter bestehen, so wird eine »Triple incision« oder eine Vorhautentfernung durchgeführt. Dies kann ambulant in Lokalanästhesie oder kurzer Vollnarkose erfolgen. Die totale Entfernung der Vorhaut stellt für Jungen heutzutage kaum noch ein Problem dar, da das dementsprechende Aussehen sowohl bei Mädchen wie bei Jungen hinreichend bekannt ist und akzeptiert wird. Hingegen ist eine vielerorts gebräuchliche subtotale Entfernung, bei der eine »Restschürze« der Vorhaut bestehen bleibt, problematisch, da dies ein ungewohnter Anblick ist und für den Jungen peinliche Fragen aufwirft. Dies sollte unbedingt bei Operationen im frühen Kindesalter berücksichtigt werden.
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Balanitis
Eine Vorhautentzündung (Balanitis) ist eine Entzündung der Glans penis, oft verbunden mit einer Entzündung des äußeren und inneren Präputiums (Balanoposthitis). Ursächlich ist eine bakterielle Infektion, die entweder mangels Hygiene in dem mehrschichtigen unverhornten Plattenepithel (Smegma) entstehen kann sowie bei Verletzungen durch Masturbation oder im Falle einer Urethritis. Cave STD! Eine sexuell übertragene Erkrankung (STD) muss ausgeschlossen werden.
Zur Therapie dienen lokal Kamillosan-Penisbäder, bei ausgeprägtem Befund ggf. antibiotische Behandlung. Bei rezidivierenden Entzündungen oder Vorhautverengung erfolgt die Vorhautentfernung (Zirkumzision). Paraphimose
Sie entsteht, wenn eine relativ enge Vorhaut, zu lange zurückgestreift, zu einer Durchblutungsstörung der Penisspitze führt. Die Symptomatik besteht in einer schmerzhaften Schwellung der Eichel und der restlichen Vorhautanteile durch ein rasch sich bildendes Ödem (»spanischer Kragen«). Therapeutisch wird versucht, durch Kompression das Ödem auszupressen und die Vorhaut wieder nach vorne zu streifen. Sollte dies nicht gelingen, ist eine dorsale Inzision der Vorhaut notwendig, gefolgt von einer korrigierenden Zirkumzision. Cave Die Paraphimose stellt einen Notfall dar, da dies zu einer Ischämie der Glans penis führen kann.
Priapismus
Bei Jugendlichen, kommt ein Priapismus eher selten vor, mit Ausnahme bei einer Sichelzellanämie (Sichelzell-Krise). Ein gestörter Blutfluss über die Penisschafftvenen wird vermutet. Andere Ursachen können sein: Leukämie, Trauma, Urethritis, lokale Irritation, Urethral- oder Blasensteine, Rückenmarksprozesse, Mumps, Tumoren des kleinen Beckens, Morbus Fabry oder medikamenteninduziert, z. B. durch Tamoxifen, Phenytoin, Testosteron, Kokain, Hydralazin u. a. Selten findet sich keine Ursache im Sinne eines idiopathischen Priapismus. Die Dauer liegt bei Minuten bis Tagen und die kritische Grenze bei 24 Stunden, da in diesem Fall bleibende Schäden durch die Anoxie zu fürchten sind. Es ist jedoch zu berücksichtigen, dass betroffene Jugendliche sich aus Scham meist sehr spät beim Arzt melden. ! Bei jedem Patienten, bei dem der Priapismus länger als 1–2 Stunden anhält, sollte eine urologische Abklärung erfolgen.
Therapie: 4 Initial Bettruhe 4 Coldpacks 4 Sedativa 4 Ggf. Medikamenteneinnahme stoppen
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Kapitel 32 · Jungenmedizin
Eine chirurgische Intervention ist zum Glück sehr selten erforderlich.
32.2.2 Veränderungen am Skrotum und Hoden/
Penisverkrümmung
Veränderungen werden in . Abb. 32.1 gezeigt.
Eine Penisverkrümmung im jugendlichen Alter ist angeboren. Dabei ist der Penis durch ein unterschiedliches Größenwachstum der Schwellkörper (Corpora cavernosa) nach ventral (nach vorne) oder nach dorsal (hinten) gebogen. In seltenen Fällen kann auch eine Verdrehung (Torsion) bestehen. Schmerzen bei Erektion bestehen in der Regel nicht, jedoch kann der Verkehr schmerzhaft sein. Die Behandlung der Penisverkrümmung und/oder Torsion ist operativ. Dabei wird der Penis durch Raffnähte an der Tunica albuginea der Corpora cavernosa begradigt. Pseudohypogenitale (»buried penis«, Pseudomikropenis)
Bei übergewichtigen bzw. adipösen Jungen erscheint der Penis häufig im nicht erigierten Zustand klein. Dabei »verschwindet« der Penisansatz mehr oder weniger tief im Fettgewebe. Wird das Fettgewebe zurückgeschoben, gibt es den Einblick auf eine normale Penisgröße frei. Hämatospermie (Blut im Ejakulat)
Bei der Masturbation kann es vorkommen, dass das Sperma rötlich gefärbt ist. Dies ist ein erheblich angstbesetztes Thema, zumal nach wie vor falsche Moralvorstellungen die Masturbation als Fehlverhalten stigmatisieren. Gewöhnlich ist die Hämatospermie jedoch gutartig und verschwindet spontan. Bei der körperlichen Untersuchung findet sich keine Pathologie, eine Therapie ist daher nicht erforderlich. Grundsätzlich ausgeschlossen werden sollten aber sexuell übertragene Erkrankungen. Hypospadie
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Da der Zeitpunkt der Korrektur zwischen dem 10. und 18. Lebensmonat erfolgen sollte, ist eine nicht korrigierte Hypospadie im Jugendalter sehr selten und bedarf der umgehenden urologischen Behandlung. Bei allen Formen der Hypospadie können unterschiedlich ausgeprägte Formen der Meatusstenose vorliegen. Abweichungen im Harnstrahl, zu starke Krümmung des Penisschaftes, d.h. Beeinträchtigung der Zeugungsfähigkeit bzw. beim Geschlechtsverkehr, sind auch nach operativer Korrektur zu bedenken. Die Behandlung der Hypospadie ist operativ und hat zum Ziel, ein funktionelles und kosmetisch optimales Ergebnis zu erhalten. Zum Einsatz kommen plastisch-rekonstruktive Operationsmethoden, die einen Krankenhausaufenthalt in einer auf diese Operationsverfahren spezialisierten Klinik notwendig machen. . Abb. 32.1. Veränderungen am Hoden und Samenstrang
Hodentorsion
Nebenhoden
Epididymitis (Nebenhodenentzündung)
Bis zur Pubertät sehr selten, wird die Nebenhodenentzündung bei jungen Männern am häufigsten hervorgerufen durch sexuell übertragene Erreger (40‒60% Chlamydien! Greydanus et al., 1997). Kolibakterien bzw. Pseudomonaskeime als Ursache stehen häufig in Zusammenhang mit Analverkehr. Weitere Ursachen sind Harnwegsinfektionen und iatrogene Ursachen. Schon nach kurzer Zeit kann die betroffene Skrotalhälfte anschwellen und stark druckempfindlich werden. Die Haut ist gespannt und überwärmt, die zunehmenden Schmerzen strahlen typischerweise nach inguinal aus. Häufig bestehen Begleitbefunde wie leichtes Fieber und schmerzhafte Miktion (Dysurie). Diagnostisch sind die Anamnese und der Untersuchungsbefund wegweisend. Der Nebenhoden/Hoden ist berührungsempfindlich. Die Schmerzen können nachlassen, wenn das Skrotum angehoben wird (positives Prehn-Zeichen – nicht spezifisch!). Der Kremasterreflex ist normalerweise auslösbar. Blut- (Leukozytose) und Urinbefunde (Leukozyt-, Mikrohämaturie) bringen zusätzliche Informationen. ! Differenzialdiagnostisch ist immer eine Hodentorsion auszuschließen. Farbdoppler-Untersuchungen können wegweisend sein (erhöhter Blutfluss!).
Therapeutisch ist neben einer Ruhigstellung mit Hochlagerung des Hodensacks eine testgerechte Antibiose notwendig. Starke Schmerzen können zusätzlich durch eine Samenstranginfiltration mit einem Lokalanästhetikum gelindert werden. Treten Blasenentleerungsstörungen auf, ist evtl. auch eine suprapubische Urinableitung notwendig. Oligo- bzw. Azospermie können vor allem nach Chlamydieninfektionen resultieren. Komplikationen in Form von Abszess, Infarkt und Atrophie kommen vor. Wenn innerhalb von 14 Tagen keine Besserung erfolgt ist, muss an einen Tumor gedacht werden (ca. 10% der Fälle). Orchitis
Entzündung des Hodens sind ähnlicher Ursache wie bei der Nebenhodenentzündung und treten häufig in Kombination mit ihr auf (Panorchitis). Die Mumpsorchitis (in ca. 30% der Mumpserkrankungen) ist eine ausschließlich in der Postpubertät vorkommende Erkrankung (gewöhnlich einseitig). In ca. 60% kommt es zur Hodenatrophie. Andere Ursachen einer Orchitis können
Hodentumor
Hydrozele
Varikozele
Spermatozele Samenleiter mit Gefäßen Nebenhoden
Skrotum
Hoden
277 32.2 · Urologie
sein: Varizellen, Coxsackie- und Ebstein-Barr-Virus-Infektionen. Bezüglich Diagnostik und Therapie gilt das unter . Abschn. 32.2.2 Gesagte. Varikozele (Vorkommen ca. 15–20%)
Unter einer Varikozele versteht man eine Krampfader des Hodens (. Abb. 32.2). Ursache ist eine Insuffizienz der Venenklappen durch den orthostatischen Druck, so dass das Blut in den skrotalen Venenplexus zurückfließt. Aufgrund fehlender Symptomatik (selten unangenehmes Gefühl im Bereich des Hodens oder Wachstumsretardierung des Hodens) werden Varikozelen häufig übersehen. 4 Die Grad 1 Varikozelen lassen sich nur durch einen ValsalvaVersuch im Stehen diagnostizieren. 4 Bei Grad 2 ist das venöse Gefäßkonvolut ohne Valsalva-Versuch tastbar. 4 Grad 3 beschreibt einen sichtbaren Befund. Die Diagnose kann einfach und nichtinvasiv gestellt werden. Sie wird bestätigt durch ein positives Strömungsgeräusch bei der Doppleruntersuchung unter Pressen (Valsalva-Versuch) bzw. der Ultraschalluntersuchung liegend und vergleichend im Stehen. Wichtig ist ‒ vor allem bei rechtsseitiger Varikozele ‒ der Ausschluss einer Abflussbehinderung des venösen Blutes z. B. durch einen Tumor an der Niere. ! Deshalb ist immer eine Ultraschalluntersuchung der Nieren durchzuführen.
A. und V. test. s.
Anulus ing. int.
32
Eigenschaften der Varikozele 5 Vorkommen am häufigsten zwischen 10.–15. Lebensjahr 5 Meist zufällige Entdeckung anlässlich einer Routineuntersuchung! 5 Dilatation des Plexus pampiniformis im Skrotum 5 In >95% linksseitig, bedingt durch beeinträchtigtes venöses Klappensystem 5 Retrograder Blutfluss und Pooling (primäre Varikozele) 5 Sekundäre Varikozele: meist rechtsseitig, bedingt durch mechanische Obstruktion (z. B. Nierentumor!) 5 Kann mit Infertilität verbunden sein (bei ca. 40% der Patienten ist ein pathologisches Spermiogramm nachweisbar) (Weissbach 1975; Laven et al. 1993) 5 Examination im Stehen! 5 Keine Spontanheilung!
Die Behandlung ist, neben möglicher Infertilität, auch indiziert bei Beschwerden, z. B. Ziehen in der Leiste oder bei unterschiedlicher Hodengröße. Als operative Therapie stehen neben der Standardmethode der retrograden Sklerosierung nach Tauber, d. h. der Verklebung der Venenwände durch eine eingespritzte Substanz, die antegrade Sklerosierung, die offene operatitve Venenligatur und die laparoskopische Venenligatur zur Verfügung. Die Standardmethode zeichnet sich dadurch aus, dass sie ambulant in Lokalanästhesie durchführbar ist. Hydrozele/Hydrozele funiculi spermatici
Bei einer Hydrozele handelt es sich um eine Ansammlung seröser Flüssigkeit in der Tunica vaginalis oder einem nicht verklebten Anteil des Processus vaginalis (Hydrozele funiculi spermatici). Im frühen Kindesalter diagnostiziert, besteht zumeist ein angeborener offener Processus vaginalis (Verbindungsgang zwischen Skrotum und Bauchraum). Erst im späten Kindesalter vorkommend, liegen der Hydrozele häufiger Entzündungen und Verletzungen im Genitalbereich (Quetschungen) zugrunde (. Abb. 32.3). Beschwerden bestehen in der Regel nicht, Behinderungen bei sportlicher Tätigkeit können jedoch vorkommen. Die Diagnose ist einfach zu stellen mittels Palpation, Durchleuchtung (Diaphanoskopie) und Ultraschall. Die Korrektur besteht in einer operativen Therapie. Eine Punktion ist mit dem Risiko eines Rezidives und einer Infektion behaftet. Spermatozele
V. iliaca ext.
V. cremasterica V. epigastr. int. V. iliaca int.
An. ing. ext.
V. vesicalis sup. V. ductus def.
. Abb. 32.2. Anatomische Verhältnisse bei einer Varikozele
Von einer Spermatozele spricht man bei einer Retentionszyste am Nebenhoden, gefüllt mit spermahaltiger Flüssigkeit. Auch die Spermatozele macht keine Beschwerden und ist häufig ein Zufallsbefund. Nicht selten finden sie sich beidseitig bzw. können multiple vorkommen. Die Diagnostik erfolgt durch Palpation (gut abgrenzbare schmerzlose Raumforderung im Bereich des Nebenhodens) und Ultraschall. Sofern keine Beschwerden bestehen oder die Größe es zulässt, ist keine Therapie erforderlich. Ein operativer Eingriff sollte nur sehr zurückhaltend erwogen werden, da eine postoperative Beeinträchtigung der Spermienpassage die Folge sein kann. Hodentorsion
Die Hodentorsion ist die häufigste Ursache für einen Hodenverlust im Jugendalter. Meist ist sie traumatischer Genese, z. B. beim
278
Kapitel 32 · Jungenmedizin
der Fälle zu diagnostischen Fehlern kommen kann (Becker et al., 1997), sollte die Indikation zur Hodenfreilegung großzügig gestellt werden. Eine Erholung des Hodens zeigt sich in ca. 5‒8 Wochen. Ein kleiner atropher Hoden nach Torsion muss nicht entfernt werden. Bemerkung: Der Einsatz eines Hodenphantoms sollte besprochen werden, falls dies aus kosmetischen oder ähnlichen Gründen gewünscht wird. Eine bilaterale Orchidopexie ist zu erwägen, da die Möglichkeit der Torsion für die Gegenseite ebenso besteht.
Cave Bei partieller Torsion evtl. Durchblutung nur vermindert – falsch-negative Befunde!
Hodentumor (ca. 1–2% aller Tumoren) . Abb. 32.3. Hydrozele
Radfahren oder Sport. Ursache ist eine deutlich erhöhte Kremasterkontraktilität. Für die Diagnose und gezielte Therapie verbleiben maximal 6 Stunden. Entscheidend für die Prognose ist der Grad und die Dauer der Torsion. Die größte Inzidenz findet sich zwischen dem 15. und 20. Lebensjahr. In ca. 60% besteht sie linksseitig. Anatomische Voraussetzungen sind: 4 Ausgeprägte Beweglichkeit des Hodens im Skrotalfach 4 Fehlende Skrotalfixation des Hodens durch das Gubernaculum testis
32
Symptome 5 Starker plötzlicher Schmerz im Skrotum (Vernichtungsschmerz), zieht entlang des Samenstranges in den Unterbauch 5 Schnelle Entwicklung einer skrotalen Schwellung 5 Rötung der Skrotalhaut 5 Zunahme des Schmerzes bei Anheben des Skrotums (Prehnsches Zeichen – unzuverlässig!)
! Angabe Bauchschmerzen! Nicht nur bei Kleinkindern! Eine routinemäßige Palpation der Hoden sollte daher bei allen Patienten mit Bauchschmerzen erfolgen.
Diagnostik 5 Duplexsonographie (Angiomode) – Farbduplexsonographie: Validität von 90–96% 5 Differenzialdiagnostik: Epididymitis, Orchitis, Appendizitis, inkarzerierte Leistenhernie, Hodentumor, Hydatidentorsion (ca. 25% der Fälle akuter Hodenschmerzen)
Die Therapie besteht in einer chirurgischen Detorquierung mit Orchidopexie. Da es selbst bei erfahrenen Untersuchern in 5‒10%
In der Pubertät, als Übergangsphase vom Kindesalter zum Erwachsenenalter, kommen sowohl Tumoren des Kindesalters wie auch solche des Erwachsenenalters vor. Keimzelltumoren sind die häufigste Tumorart, zu 75% im Übergang vom Kindesalter zur Pubertät und Frühpubertät, zu 95% in der fortgeschrittenen Pubertät und im Übergang zum Erwachsenenalter. Das Seminom, der häufigste Tumor in der Postpubertät, ist sehr selten in der Kindheit und frühen Pubertät zu finden. Andere Tumoren in der Postpubertät sind: 4 Embryonalzell-Karzinom 4 Choriokarzinom 4 Teratom 4 Yolk-Sac-Tumoren 4 Gemischte Formen Differenzialdiagnostisch sind Epidermoidzysten/Dermoidzysten in Betracht zu ziehen. Patienten mit akuter lymphatischer Leukämie entwickeln zu ca. 25% leukämische Infiltrate im Hoden. Gewöhnlich imponieren diese als schmerzlose Hodenschwellung. Ebenso ist bei Patienten mit schlecht eingestelltem oder unbehandeltem adrenogenitalem Syndrom (AGS) ‒ jenseits der Pubertät mit tumorartigen Infiltrationen im Hoden zu rechnen, die sehr leicht mit malignen Hodentumoren im sonographischen Bild verwechselt werden können. Es handelt sich dabei aber um hypertrophiertes versprengtes Nebennierenrindengewebe, das keiner chirurgischen Intervention bedarf! Bei einer schmerzlosen, harten Vergrößerung des Hodens ist immer sofort eine Kontrolle beim Kinder- und Jugendarzt oder Urologen notwendig (. Abb. 32.4). Der Tastbefund zeigt meist eine derbe und harte Konsistenz des Hodens. In ca. 10% kann der Hoden auch schmerzhaft sein (Nekrose, Einblutung). Das sonographische Bild ist abhängig von der Tumorart. Meist hebt sich der Tumorbezirk vom homogenen Hodengewebe mehr oder weniger deutlich durch Inhomogenität ab. Die körperliche Untersuchung sollte außerdem immer über das Pubertätsstadium und das Vorliegen einer Gynäkomastie Auskunft geben. Eine Laborkontrolle der Hodentumormarker (AFP, β-HCG, LDH) wird gefolgt von einer operativen Freilegung des Hodens von der Leiste aus mit intraoperativer Schnellschnittuntersuchung des Gewebes. Bestätigt sich der Befund eines malignen Hodentumors, so wird der Hoden entfernt (Semikastratio). Das weitere Vorgehen richtet sich nach den Ergebnis-
279 Literatur
32
Neben Urinkultur werden eine körperliche Untersuchung und eine Sonographie von Nieren und Blase durchgeführt. Bei rezidivierenden Infekten erfolgt eine weitere radiologische Abklärung durch ein Miktionzystogramm (MCU), um einen Rückfluss des Urins aus der Blase in die Niere auszuschließen (vesikoureteraler Reflux VUR) im infektfreien Intervall, ggf. unter Infektionsprophylaxe. Primäre isolierte Enuresis nocturna
. Abb. 32.4. Schmerzlose Hodenvergrößerung rechts
sen der gesamten Untersuchungsbefunde (Tumormarker, Histologie, Computertomographie Abdomen, Thorax und ggf. Schädel). ! Eine Kryospermakonservierung sollte nicht vergessen werden. Während der Aufklärung sollte der Patient zudem immer auch den Hinweis auf die Möglichkeit einer späteren Hodenphantomimplantation erhalten.
32.2.3 Blase Harnwegsinfekt
Harnwegsinfektionen sind Infektionen des unteren Harntraktes (Zystitis) und des oberen Harntraktes (Pyelonephritis). Der Nachweis erfolgt z. B. durch eine Urinkultur vom steril gewonnenen Urin oder durch einen Urethralabstrich. Im Jugendalter muss unbedingt an sexuell übertragene Erkrankungen (STD’s) gedacht werden. Eine negative Urinkultur lässt an eine Infektion mit Chlamydia trachomatis, Neisseria gonorrhoeae oder Herpes simplex Virus denken. Bei rezidivierenden Blasenentzündungen ohne anatomische Ursache sollten sexuelle Praktiken (Analverkehr) bedacht werden. Der Urin kann trüb sein, unangenehm riechen. Die Patienten klagen meist über folgende Symptome:
Symptome Harnwegsinfekt 5 Brennen bei Miktion (Dysurie) 5 Schmerzhafte Miktion (Algurie) 5 Blutbeimengung (Hämaturie)
In einer Langzeitbeobachtung von 629 mindestens 5 Jahre alten Kindern mit Enuresis nocturna fand sich eine Spontanheilungsquote von 14% pro Jahr bis zum 9. Lebensjahr und anschließend 16% pro Jahr bis zum 19. Lebensjahr. In unserem Kulturkreis haben noch ungefähr 1% der 20-Jährigen eine Enuresis nocturna (Olbing et al. 1992). Eine genetische Komponente ist anzunehmen. Wenn beide Eltern ebenfalls eine primäre Enuresis nocturna hatten, liegt das Risiko einer Enuresis bei den Kindern und Jugendlichen bei ca. 70‒75%, bei einem betroffenen Elternteil noch bei ca. 45%. Patienten mit primärer Enuresis nocturna haben in der Regel einen unauffälligen körperlichen Untersuchungsbefund (einschließlich neurologischem Befund) und normalen Urinbefund. Die Ultraschalluntersuchung liefert ebenfalls keine Pathologie. Eine weitere Diagnostik ist nicht erforderlich. Die Behandlung unterscheidet sich nicht von der Behandlung im Kindesalter: apparative Verhaltenstherapie (»Klingelhose«) und DDAVP (Desmopressin), was aufgrund der jugendtypischen »Auswärtstermine« häufiger zum Einsatz kommt, aber eine relativ hohe Rückfallquote hat. 32.2.4 Niere Erkrankungen der Nieren im Jugendalter unterscheiden sich bezüglich diagnostischem Vorgehen und Therapie nicht von denen des Kindesalters und werden daher hier nicht näher besprochen. Ausnahmen betreffen die orthostatische Proteinurie, die sich, klinisch asymptomatisch, häufiger bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen findet, wie auch die Hämaturie. Orthostatische Proteinurie
Hierbei kommt es zur Ausscheidung abnorm hoher Proteinwerte über den Urin in aufrechter Position (bis zu 1000 mg/24 h). Die Unterscheidung von ursächlich anderen Proteinurien (z. B. nephrotisches Syndrom) ergibt sich aus den völlig normalen Proteinwerten im Morgenurin (direkt nach dem Aufstehen) gegenüber den abnorm hohen Werten im Tagesverlauf. Hämaturie
Das Auftreten einer Mikrohämaturie im Jugendalter ist relativ häufig. Dies hängt vor allem mit den für das Jugendalter typischen Verhaltensweisen zusammen, in erster Linie der sexuellen Aktivität und den sexuellen Praktiken sowie den sportlichen Aktivitäten. In der Regel sind diese Mikrohämaturien vorübergehend und verschwinden innerhalb von 24 h wieder. Eine persistierende Mikrohämaturie sowie eine Makrohämaturie bedürfen unbedingt der weiteren Abklärung (. Tab. 32.1).
280
Kapitel 32 · Jungenmedizin
. Tabelle 32.1. Häufige Symptome im Zusammenhang mit Hämaturie
Anamnese
Denken an
Dysurie, Fieber Kopfschmerzen, Ausschlag, Gelenkschmerzen Sinusitis, Husten, Kopfschmerzen, Nasenbluten Flankenschmerzen, evtl. in die Leiste ziehend Intermittierende Makrohämaturie Nach einem viralen Infekt Cola-farbener Urin, Ödeme, Bluthochdruck Blutige Diarrhoe Familiäre Mikrohämaturie Systolikum, Fieber
Harnwegsinfekt/Pyelonephritis Systemische Erkrankung, Purpura Schönlein Henoch, Vaskulitis Wegener’sche Granulomatose Nierensteine, akute Obstruktion, subakute Pyelonephritis IgA/IgG Nephritis, Urethritis, Nierentumor Postinfektiöse Nephritis, IgA-Nephropathie, andere Nephritiden Glomerulonephritis Hämolytisch urämisches Syndrom Familiäre benigne Hämaturie, hereditäre Nephritis Subakute bakterielle Endokarditis
Nach: Greydanus und Torres, 1997
32.2.5 Sexualfunktion
32
Erektionsstörungen sind nach neueren Untersuchungen die häufigste Ursache für sexuelle Dysfunktion/Impotenz bei Jugendlichen. Die Ursachen liegen zumeist in Infektionen mit Chlamydia trachomatis und Neisseria gonorrhoeae (Prostatitis/Prostatavergrößerung). Auch psychische Probleme oder schmerzhafter Geschlechtsverkehr (Phimose?) kommen als Ursache vor. Besonders bei chronischen Erkrankungen (Diabetes mellitus, kardiopulmonale Erkrankungen, hämatologische Erkrankungen, onkologische Erkrankungen, neurologische Erkrankungen etc.) ist an eine Störung der sexuellen Aktivität zu denken, die selten direkt geäußert wird, sondern sich eher in psychosomatischen Beschwerden bemerkbar macht. Ebenso sollte an eine sexuelle Orientierungsstörung (z. B. im Zusammenhang mit Homosexualität) gedacht werden. Grundsätzlich kommt eine sexuelle Dysfunktion bei homosexuellen genauso häufig vor wie bei heterosexuellen Jugendlichen. In der Phase der sexuellen Orientierung kann es jedoch zur deutlichen Beeinträchtigung des Sexuallebens kommen. Dabei spielen u. U. auch sexuelle Praktiken (z. B. Analverkehr) eine Rolle (Greydanus et al. 1997). Anmerkung
Auf die akute und chronische Prostatitis wurde in diesem Kapitel bewusst nicht eingegangen, da sie eine im Jugendalter seltene Krankheit darstellt. Folgende Literaturstelle kann zu diesem Thema weiterhelfen: Krowchuk DP (1996) Nongonococcal Urethritis. Diagnosis, Management and Complications. In: Dyment PG (1996) Male Reproductive Health. Adolescent Medicine: State of the Art Reviews, Vol. 7, No. 1. Hanley & Belfus, Inc. Philadelphia.
Literatur Becker D, Burst M, Wehler M, Tauschek D, Herold C, Hahn EG (1997) Differentialdiagnose des akuten Hodenschmerzes mit farbkodierter Duplexsonographie. Unterscheidung zwischen Hodentorsion und Epidydimitis. Dtsch. Med. Wochenschr. 14, 1405 Brown MR, Cartwright PC, Snow BW (1997) Common office Problems in Pediatric Urology and Gynecology. In: Rushton HG, Greenfield SP (1997) Pediatric Urology. The Pediatric Clinics of north America 44 (5). 1091–1115. W.B. Saunders Company, Philadelphia Greydanus DE, Pratt HD, Baxter T (1996) Sexual dysfunktion and the primary care Physician. In: Dyment PG (1996) Male Reproductive Health.
Adolescent Medicine: STARS, Vol.7 (1). Hanley & Belfus, Philadelphia Greydanus DE, Torres DA (1997) Genitourinary and Renal Disorders. In: Hofmann AD, Greydanus DE (1997) Adolescent Medicine. Appleton & Lange,Stamford Laven JSE, te Velde ER, Haans LCF, Wensing CJG, Mali WPTM, Eimers JM (1993) Effects of varicocele treatment in adolescents: a randomized study. Fertil Steril 58 (4): 756–762 Olbing H, Norgaard JP, Djurhuus JC (1992) Primäre isolierte Enuresis nocturna. tägl. prax. 33: 263–272 Rosen DS, Rich M (2003) The Adolescent Male. Adolescent Medicine: STARS, Vol.14 (3). Hanley & Belfus, Philadelphia Weissbach L (1975) Spermatologische und histologische Befunde bei Patienten mit Varikozele. Urologe A 14: 277
Internetadressen http://www.bzga.de: Wie geht’s – wie steht’s? Wissenswertes für Jungen und Männer. Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung http://www.loveline.de: Multimediale Aufklärung über Liebe und Partnerschaft, Sexualität und Verhütung http://www.sexualaufklaerung.de: Hervorragende Materialien und Informationen rund um Sexualaufklärung, Verhütung, Liebe und Sexualität (BZgA) http://www.kids-hotline.de: Beratung für junge Leute in allen Lebenslagen http://www.teenagehealthfreak.org: Umfangreiche Gesundheitstipps für junge Leute in englischer Sprache www.jungenarbeit-online.de: Fachstelle Jungenarbeit Rheinland-Pfalz/ Saarland mit regionalen und überregionalen Veranstaltungshinweisen, Fachbeiträgen und Links http://www.iris-egris.de/jungen: Informationen und Downloadmöglichkeiten des Projektes Jungenpädagogik bei Iris in Tübingen; Literaturlisten und Publikationen zum Thema Jungenpädagogik http://www.pfunzkerle.de: Pfunzkerle e.V. Initiative Jungen- und Männerarbeit Tübingen http://www.jungs.org: Interessantes Peerprojekt. Beratung und Information für Jungen von kids-hotline, die (Sexual-) Beratung und Infos auch für Jungen anbieten http://www.ak-jungenarbeit.de: Informationen des Arbeitskreises Jungenarbeit bei Input in München. Erfahrungsberichte aus der Jungenarbeit, Literaturempfehlungen http://www.MannLinker.de: Nichtkommerzielle Website; erleichtert das Auffinden von Männerseiten im Netz und gibt jede Menge Informationen über Männer- und Jungenarbeit http://www.sextra.de: Sexualberatung für Jugendliche im Internet. Hier wird sichtbar, was Jungen so umtreibt. http://www.comingout.de: Der Schwulen-Lesbische Jugendverband
281
33
33 Jugend und Gewalt B. Herrmann, M. Schäfer, J. Schmetz
33.1
Gewalt und Misshandlung
me«). Insgesamt kann Gewalt die der Adoleszenz immanenten Entwicklungsaufgaben wie Separation, Emanzipation, Identität, Intimität, Eigenständigkeit und Selbstbehauptung empfindlich stören (AAP 1996, 2001; Kaplan et al. 1999).
B. Herrmann )) Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in körperlicher, sexueller und emotionaler Form ist ein unangenehmes und gerne gemiedenes Thema. Trotz einer vergleichsweise geringen Datenlage, deuten alle Studien jedoch auf eine erhebliche Prävalenz hin, so dass von bedeutsamen Folgen für die seelische und körperliche Gesundheit von Jugendlichen auszugehen ist. Wie bei den meisten Aspekten der Jugendmedizin, unterliegt auch dieses Thema in dieser Altersgruppe Besonderheiten, die eine Modifikation des etablierten Vorgehens bei Kindesmisshandlung erfordern. Eine wichtige Unterscheidung ist zwischen Gewalt, die im Jugendalter erstmals erlebt wird, und dem Andauern von präpubertär begonnener Gewalt zu treffen. Opfer präpubertärer Gewalt sind prädisponiert, erneut und auch durch andere Täter viktimisiert zu werden. Im Gegensatz zur Präpubertät findet Gewalt gegen Jugendliche vermehrt auch außerhäuslich statt, insbesondere durch Peers.
Wenige Studien widmen sich spezifisch dem Thema Gewalt gegen Jugendliche, insbesondere der körperlichen Gewalt. Sie beschreiben ein breites, jedoch nicht bestimmten Misshandlungsformen spezifisch zuzuordnendes Spektrum an psychischen und psychiatrischen Auffälligkeiten als Folge von Misshandlungen. Das bedeutet für den Jugendmediziner, Gewalt als Ursache für vielfältige Störungen in Betracht zu ziehen. Da das Thema meist nicht offensichtlich präsentiert wird, muss einfühlsam, aber aktiv danach gefragt werden. Um Jugendlichen auf diesem sensiblen Gebiet zu helfen, braucht der Jugendmediziner ein Grundverständnis der Verletzungsmuster bei körperlicher und sexueller Gewalt sowie ihrer möglichen psychischen Folgen. Die entscheidende Rolle spielt jedoch die Bereitschaft des Arztes, das Thema anzuerkennen und in die Differenzialdiagnose einzubeziehen. 33.1.1 Symptome, Hinweise, Folgen Jugendliche Opfer aller Formen von Gewalt zeigen sowohl internalisierende als auch externalisierende Folgeerscheinungen: soziale Adaptationsstörungen, Aggressionen gegen andere oder sich selbst, Schulschwierigkeiten, Delinquenz, soziale Interaktionsstörungen, Sprachentwicklungsstörungen, Weglaufen, Suizidversuche und Suizide sowie Drogen- und Alkoholabusus. Psychische und psychiatrische Folgen umfassen Somatisierungen, Depressionen, Gefühle von Stigmatisierung (insbesondere männliche Sexualopfer), Essstörungen, posttraumatische Belastungsstörungen, geringes Selbstwertgefühl, emotionale Störungen, Angststörungen, Bindungsstörungen und bei akuten Vergewaltigungen eine posttraumatische Belastungsstörung (»Rape trauma syndro-
33.1.2 Körperliche Gewalt Körperliche Gewalt wird noch seltener als sexuelle Gewalt in der Literatur thematisiert. Von den zwischen 650.000‒850.000 verifizierten Misshandlungsopfern in den USA von 1996 bis 2000 (von 2,5‒3 Mio. Meldungen) betraf stabil ein Anteil von etwa 25% Jugendliche zwischen 12 und 18 Jahren, der Anteil körperlicher Misshandlungen lag bei 30% (US Dpt. of Health 2002). Zahlen aus Deutschland zur Prävalenz liegen nicht vor. Verletzungsmuster bei Jugendlichen resultieren in der Regel aus Schlägen mit oder ohne Gegenstände, Tritten, Stürzen, Würgen oder Verbrennungen. Das wichtigste Prinzip der Beurteilung einer möglichen Misshandlung ist, die Plausibilität einer angegebenen Verletzung hinsichtlich des angegebenen Unfallmechanismus einzuschätzen. Eine wesentlich größere Bedeutung als in der Präpubertät hat naturgemäß die Anamnese durch den Patienten selbst, die allerdings trotz seiner klaren Kenntnis der Ursachen der Verletzungen diffus, fehlend oder verschleiernd sein kann. In vielen Fällen verschweigen Jugendliche den Grund ihrer Verletzungen aus Angst vor den Drohungen des Täters oder aus Scham. Die entwürdigende und erniedrigende Komponente körperlicher Gewalt, die das Opfer in die Rolle eines Kindes zwingt, widerspricht diametral den Aufgaben der normalen Adoleszenzentwicklung von Autonomie und Selbstwertgefühl. Bei den Symptomen spielen eine wichtige Rolle die Zuordnung definierter Hämatommuster (Abdrücke von Gegenständen, Händen, Ligaturen) und Verbrennungen (eher trockene Verbrennungen wie Zigaretten u. a. Muster), die Mehrzeitigkeit von Verletzungen (mit den bekannten Einschränkungen der Zuverlässigkeit von Hämatomfarbverläufen) und die Lokalisierung von Verletzungen in Abgrenzung zu typischen Unfallsverletzungen (Herrmann 2002a). 33.1.3 Seelische Gewalt und Vernachlässigung Andauernde Vernachlässigung körperlicher oder seelischer Bedürfnisse, entwürdigendes und feindselig ablehnendes Erziehungsverhalten und fehlende Wärme und Akzeptanz in der Eltern-Kind-Beziehung führen auch in der Adoleszenz zu schwerwiegenden Störungen der Entwicklung, der Persönlichkeit und des Sozialverhaltens. Unzureichende Aufsicht und Steuerung sowie mangelndes Interesse und Einflussnahme auf den Jugendlichen können insbesondere bei Fehlentwicklungen zu dramatischer Verschärfung führen, wenn keine Strategien zur außerhäuslichen Bewältigung gefunden werden. Da die Diagnose selten offensichtlich ist, kann sie nur durch eine einfühlsame, aber aktiv fragende Gesprächsführung erfolgen. Kinder- und Jugendpsychiater oder -psychologen, Beratungsstellen und Jugendschutzdienste sind wichtige Kooperationspartner sowohl für die weitere Diagnostik als auch Betreuung.
282
Kapitel 33 · Jugend und Gewalt
33.1.4 Sexuelle Gewalt
33
Ausmaß und Umstände Neben den oft schon präpubertär begonnenen, jahrelang andauernden Inzestfällen kommt durch die neu gewonnene sexuelle Reife, Attraktivität und sexuelle Experimentierfreudigkeit neuer Missbrauch im intra-, vermehrt aber auch im extrafamiliären Bereich hinzu. Eine im Gegensatz zur Präpubertät besondere Bedeutung erhalten jetzt akute sexuelle Übergriffe und Vergewaltigungen. Auch letztere ereignen sich bei Jugendlichen in zwei Drittel bis drei Viertel aller Fälle durch bekannte Personen, terminologisch als »Acquaintance rape« oder »Date rape« bezeichnet. Daten aus den USA zeigen, dass Jugendliche die höchsten Raten sexueller Gewalt und Vergewaltigung aller Altersstufen aufweisen, wobei weibliche Opfer mit etwa 13:1 deutlich überwiegen. Verschiedene Studien zeigen, dass 13‒22% der weiblichen und 5‒10% der männlichen Jugendlichen Opfer unerwünschter sexueller Übergriffe werden. Opfer finden sich gehäuft unter schwangeren Jugendlichen und solchen mit sexuellem Risikoverhalten wie multiple Sexualpartner, ungeschützter Sexualkontakt und jugendliche Prostituierte. Jugendliche Opfer werden im Vergleich zu Erwachsenen vermehrt unter Alkohol- oder Drogeneinfluss missbraucht (bis 40%) (AAP 2001). Zum Verständnis, wie sexuelle Gewalt von Jugendlichen erlebt und verarbeitet wird, ist es wichtig, sich die dramatischen Veränderungen der Pubertätsentwicklung in physischer und psychischer Hinsicht zu vergegenwärtigen. Ängste und Unsicherheiten hinsichtlich der eigenen Attraktivität und über adäquate sexuelle Kontakte sowie medieninduzierte Bilder von allgegenwärtiger sexueller Verfügbarkeit und Lust, führen zu Unsicherheiten über adäquates Sexualverhalten. So kann aggressives oder dominantes männliches Sexualverhalten als adäquat oder normativ fehlinterpretiert werden, insbesondere bei Miterleben häuslicher Gewalt durch oder zwischen den Eltern. In der nachfolgenden Beurteilung sexueller Übergriffe werden dann möglicherweise diese Unsicherheiten fälschlicherweise als Einverständnis des Opfers zur Tat gewertet und die Glaubwürdigkeit des Opfers in Frage gestellt (AAP 1996; Lowen 2002). Anamnese ! Die Anamnese sollte wegen potenzieller Bedenken über elterliche Bewertungen oder Sanktionen immer mit der oder dem Jugendlichen allein durchgeführt werden. Wichtig sind Hinweise auf Vertraulichkeit und die ärztliche Schweigepflicht.
Gleichzeitig dürfen keine falschen Versprechungen gemacht werden. Es gibt Situationen, wo eine Gefährdung des Jugendlichen nicht mehr verantwortet werden kann und andere Professionelle informiert werden müssen, um den Patienten zu schützen. Diese Gratwanderung der Arzt-Patient-Beziehung kann nur durch größtmögliche Offenheit gelingen und mit dem Hinweis, dass nichts unternommen wird, ohne es der oder dem Jugendlichen vorher mitzuteilen. Eine interessierte, freundliche, offene und nichtwertende Haltung und Fragen des Arztes sind Voraussetzungen für die Gesprächsführung. Die Fragen sollten weder mit der Tür ins Haus fallen, noch um den heißen Brei herumreden, schambehaftete Themen müssen aktiv angesprochen werden. Neben Fragen zur allgemeinen Lebenssituation, Schule und Familie, ist es ratsam,
nach Nikotin, Alkohol und Drogen ebenso zu fragen wie nach Gewalt in der Familie. Neben der allgemeinen medizinischen ist bei Mädchen die Menstruations-Anamnese bedeutsam. Auch die Sexual-Anamnese sollte behutsam, aber offen angesprochen werden (Lowen 2002). Untersuchung Vor einer jugendgynäkologischen Untersuchung ist es essentiell, im Vorfeld zu klären, wer sie am sinnvollsten, qualifiziertesten und am einfühlsamsten, also nicht sekundär traumatisierend, durchführen kann. Im Idealfall klärt der Jugendmediziner noch im Vorfeld, welche entsprechend qualifizierten Gynäkologen oder Rechtsmediziner in seinem regionalen Umfeld bzw. professionellen Netzwerk tätig sind und macht sich mit ihnen und ihrer Arbeitsweise vertraut. In diesem Fall ergibt sich für den Ernstfall eine sinnvolle interdisziplinäre Arbeitsteilung entsprechend den jeweiligen Qualifikationen schon im medizinischen Bereich. Die qualifizierte jugendgynäkologische Untersuchung in Fällen sexueller Gewalt erfordert fundierte Kenntnisse normaler und pathologischer anogenitaler Anatomie, forensischer Befunderhebung, Dokumentation und Asservierung (für den Fall einer späteren Anzeige), infektiologische Kenntnisse bezüglich Prophylaxe und Therapie sexuell übertragener Erkrankungen sowie über die Notfallkontrazeption. Unabdingbar ist eine schonende und die Würde des traumatisierten Jugendlichen respektierende und nicht wertende Grundhaltung. Dazu kommen Kenntnisse des geeigneten »Managements«, des psychosozialen Interventions- und Beratungssystems bezüglich einer Krisenintervention, des Kinderschutzes und einer etwaigen Therapie sowie der möglichen rechtlichen Schritte. Allerdings ist eine entsprechende Expertise nicht flächendeckend vorhanden. Auch mag für den oder die Jugendliche der Jugendarzt der eigentliche Ansprechpartner des Vertrauens sein, so dass ein Weiterverweisen nicht in ihrem Sinne ist. Dringend zu vermeiden ist eine Mentalität des »Weiterreichens« oder »Abschiebens« aufgrund der mit dem Thema verbundenen Unannehmlichkeiten. Für den auf diesem Gebiet engagierten Jugendmediziner ergibt sich somit die Frage des Erwerbs einer eigenen entsprechenden Qualifikation. Festzuhalten bleibt, dass Untersuchungen ohne zusätzliche Qualifikation weder durch Jugendärzte noch durch Gynäkologen sinnvoll sind. Falsch negative Befunde versäumen unter Umständen essentielle und zeitlich beschränkte forensische Befunde zu dokumentieren. Falsch positive Befunde können andererseits erhebliche und unnötige Beunruhigung stiften. Da auch für den nicht selbst die Untersuchung durchführenden Jugendmediziner eine Vorstellung über den Untersuchungsablauf wichtig ist, um den oder die Jugendliche entsprechend zu beraten, wird dieser im Folgenden kurz umrissen. Kontakt zu den jeweiligen Kollegen im professionellen Netzwerk (so vorhanden) ist ratsam, um die Betreuungskonzepte abzugleichen. ! Es ist auch für Nichtpädiater immer ein Ganzkörperstatus erforderlich, um den Fokus vom Genitalbereich zu nehmen und Spuren extragenitaler Misshandlungen nicht zu übersehen.
Zudem werden die Pubertätsstadien nach Tanner (7 Anhang) erhoben. Der Ablauf der Untersuchung sollte dezidiert erläutert und die fast immer bestehenden Ängste, Horrorvorstellungen, Scham oder Panik vor der gynäkologischen Untersuchung ange-
283 33.1 · Gewalt und Misshandlung
sprochen werden. Explizit muss betont werden, dass jeder Schritt der Untersuchung erklärt und nichts gegen den Willen der Jugendlichen unternommen wird. Es sollte immer die freie Auswahl einer Begleitperson angeboten werden. Mittels eines Handspiegels kann der Jugendliche die Untersuchung verfolgen. Spontane Äußerungen und der Affekt der Patienten müssen dokumentiert werden (Navratil 2003). Die Untersuchung erfolgt in der Lithotomieposition und ist hauptsächlich eine Inspektion des äußeren Genitale mittels verschiedener Techniken: Separation, Traktion, gegebenenfalls Knie-Brust-Lage und die Umfahrung des meist schlecht beurteilbaren, wulstigen, gelappten und wenig entfalteten adoleszenten Hymens mit einem angefeuchteten Wattetupfer. Spekula sind nicht obligat, nach Penetrationen aber sinnvoll zur Beurteilung tiefer gelegener Verletzungen bzw. zur Infektionsdiagnostik (Herrmann et al. 2002b). Auch wenn die meisten Vorstellungen nicht akut sind, kann es für den Kinder- und Jugendarzt in manchen Fällen (Vorstellung <72 Stunden nach Übergriff) erforderlich sein, forensisches Material zu asservieren. Nicht immer und überall ist ein Rechtsmediziner oder diesbezüglich erfahrener Gynäkologe verfügbar. Es ist sinnvoll, forensische Protokolle zu benutzen, die die erforderlichen Abläufe vorgeben. Neben sterilen, mit NaCl angefeuchteten Haut-, Mund- und Anogenitalabstrichen (die danach luftgetrocknet und in Papierumschlägen aufbewahrt werden müssen) ist die Asservierung von Kleidung, die beim Übergriff getragen wurde, von größter Bedeutung. Ein Screening auf sexuell übertragene Erkrankungen (7 Kap. 39) sollte immer bei pathologischem Ausfluss oder potenziellem Kontakt zu Körperflüssigkeiten des Täters erfolgen. Ergänzend â-HCG im Urin zum Graviditätsausschluss als Ausgangsbefund. Befunde Die genaue Prävalenz signifikanter Befunde nach sexuellem Missbrauch bei weiblichen Teenagern ist nicht bekannt und liegt vermutlich unter 10%. Eine Anamnese von Schmerzen, Blutung, penil-vaginaler Penetration und kurzer Abstand (wenige Tage) zum Ereignis sind die einzigen darauf hinweisenden Prädiktoren. Das bedeutet, dass die Mehrzahl der adoleszenten Opfer sexuellen Missbrauchs keine signifikanten Befunde aufweisen. Dies gilt noch mehr für männliche Opfer, bei denen (wie bei Mädchen) selten einmal akute anale Verletzungen gefunden werden. Da etliche Missbrauchsopfer selbst nach einer Penetration keinen objektivierbaren Befund aufweisen, ist der Begriff »Virgo intacta« unbrauchbar. Weit verbreitet, aber grundfalsch ist der Mythos des beim ersten Geschlechtsverkehr obligat einreißenden Hymens im Sinne einer zwangsläufigen »Defloration« (Emans et al. 1993). Dies muss Patient, Eltern, aber auch anderen Professionellen dezidiert erläutert werden, um keine Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Opfers im Falle fehlender Befunde aufkommen zu lassen. Im Gegensatz zur Präpubertät ist das östrogenisierte pubertäre Hymen ausgesprochen dehnfähig und die Größe des penetrierenden Objektes ist nur einer unter mehreren verletzungsdeterminierenden Faktoren. Tampons, Sport oder Spagat führen nicht zu Hymenalverletzungen. Die Mehrzahl der zugezogenen Verletzungen, wie Abrasionen oder inkomplette Hymenaleinrisse, verheilen ohne Residuen (Adams u. Knudson 1996; Navratil 2003).
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Prophylaxen Nach penetrativem vaginalem Missbrauch sollte möglichst innerhalb von 24 Stunden eine Notfallkontrazeption erfolgen (7 Kap. 38). Bei Schleimhautkontakt mit Körperflüssigkeiten des Täters ist eine Prophylaxe sexuell übertragener Infektionen ratsam (7 Kap. 39). Die HIV-Inzidenz bei Missbrauchsopfern ist relativ gering, so dass es bislang keine generelle Empfehlung einer Post-Expositions-Prophylaxe nach sexuellem Missbrauch gibt. Das Thema sollte jedoch nach akuten Ereignissen immer thematisiert und beraten werden. 33.1.5 Intervention, Schutz und Therapie Der entscheidende Beitrag des möglicherweise primär konsultierten Jugendmediziners liegt in der einfühlsamen und kompetenten Gesprächsführung, Diagnostik und qualifizierten Beratung der medizinischen, psychischen und rechtlichen Fragen im Zusammenhang mit körperlicher, seelischer oder sexueller Gewalterfahrung. Dies kann eine wichtige Weichenstellung für den Weg zu weiterer psychosozialer Beratung und Therapie darstellen, den dann einzuleiten ebenfalls in der Verantwortung des Arztes liegt. Dazu ist es essentiell, bereits im Vorfeld die multiprofessionellen Kinder- und Jugendschutzstrukturen und beteiligten Berufsgruppen (»professionelles Netzwerk«) kennen zu lernen. Hierzu eignen sich hervorragend Kooperationsarbeitskreise, die es regional in vielen Städten gibt. Adressen der jeweiligen »Kinderschutzinfrastruktur« lassen sich auch aus den sog. »Gewaltleitfäden« erschließen, die vom Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte in Zusammenarbeit mit anderen Organisationen herausgegeben wurden (7 Anhang). Die Erfahrungen im nationalen und internationalen Kinderschutz zeigen, dass effektive Hilfe nur multiprofessionell möglich ist. Dies ergibt sich aus der komplexen Natur und den vielfältigen Implikationen der meisten Misshandlungen und den sich daraus ergebenden Anforderungen an verschiedenste Berufsgruppen (psychologische und medizinische Diagnostik, Kinderschutz, Recht, Beratung, Therapie). Gleichzeitig kann dies den einzelnen betroffenen Professionellen deutlich entlasten, die häufig schwere emotionale Last der Betreuung eines Missbrauchsopfers nicht alleine schultern zu müssen. Eine wichtige Voraussetzung für den medizinischen Beitrag zum multiprofessionellen Kinder- und Jugendschutz ist Rechtssicherheit. Die ärztliche Schweigepflicht (§ 203 StGB) gilt zunächst auch in Misshandlungsfällen. Da das gefährdete Wohl des Jugendlichen nach aktueller Rechtssprechung jedoch eindeutig ein höheres Rechtsgut darstellt, wird die Schweigepflicht dem untergeordnet, wenn kein anderer Weg zum Schutz des Opfers möglich ist (Abwägung von Rechtsgütern im Sinne eines rechtfertigenden Notstandes, § 34 StGB). Verurteilungen von Medizinern wegen fahrlässigem Bruch der Schweigepflicht in Misshandlungsfällen sind dem Autor nicht bekannt. Eine Verpflichtung zur Anzeige besteht in Deutschland jedoch nicht. Die Entscheidung zu einer Strafanzeige muss aus verschiedenen Gründen gut überlegt werden. Ein Freispruch aufgrund unqualifizierter initialer forensischer Befunderhebung oder aus sonstigem Mangel an Beweisen kann für den Jugendlichen eine verheerende Signalwirkung haben, ganz abgesehen von den auch für Jugendliche nicht adäquaten Bedingungen eines Strafverfahrens. In gut abgesicherten Fällen kann andererseits
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Kapitel 33 · Jugend und Gewalt
eine Verurteilung des Täters für das Opfer therapeutisch wirken. In vielen Fällen ist ein Familiengerichtsverfahren mit Regelung des Jugendschutzes und Sorgerechts ein erfolgversprechender Weg, da nicht die Verurteilung eines Täters, sondern der Schutz des Jugendlichen im Zentrum steht. Am Ende des Kontaktes mit einem jugendlichen Gewaltopfer ist sicher zu stellen, dass alle Fragen beantwortet und Kontrolltermine ausgemacht wurden. Das weitere Vorgehen bezüglich Beratung, Schutz und Therapie des Opfers muss gewährleistet und transparent für den oder die Jugendliche sein.
Checkliste
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5 Jugendärzte sollen die Prävalenz von Gewalt gegen Jugendliche kennen und diese als Ursache mannigfaltiger Beschwerden differenzialdiagnostisch in Betracht ziehen. 5 Jugendärzte sollen sich die Fähigkeit aneignen, beim Erstkontakt mit einem jugendlichen Gewaltopfer ein adäquates Gespräch führen zu können. 5 Jugendärzte sollten im Vorfeld klären, ob sie das Vertrauensverhältnis zum Jugendlichen nutzen und die medizinisch erforderlichen Untersuchungen, forensische Befundsicherung und Prophylaxen durchführen wollen. 5 Diese spezifische Befunderhebung erfordert sowohl vom Jugendarzt als auch vom Gynäkologen oder Rechtsmediziner zwingend Spezialkenntnisse in jugendgynäkologischer und forensischer Diagnostik: Befunderhebung, Sicherung und Dokumentation. 5 Wenn sich Jugendärzte in o. g. Spezialfragen überfordert fühlen, sollen sie entsprechende Kollegen (Rechtsmedizin, Gynäkologie) im Vorfeld eruieren und ihre Arbeitsweise kennen lernen, um den oder die Jugendliche für die Konsultation im Ernstfall darüber beraten zu können. 5 Eine Weiterleitung des Jugendlichen ohne adäquates Erstgespräch (aus Vermeidungstendenz des Arztes) verpasst womöglich die Chance, dem sich anvertrauenden Jugendlichen zu helfen. 5 Jugendärzte müssen die entsprechenden psychosozialen Fachkräfte zur Weiterbetreuung, Beratung, Intervention, Kindesschutz und Therapie in ihrem regionalen Umfeld bereits im Vorfeld kennen lernen. 5 Effektiver Kinder- und Jugendschutz ist nur multiprofessionell möglich.
Literatur AAP-American Academy of Pediatrics (2001) Committee on Adolescence, 2000–2001. Care of the adolescent sexual assault victim. Pediatrics 107: 1476–1479 AAP-American Academy of Pediatrics (1996) Adolescent assault victim needs: a review of issues and a model protocol. Pediatrics 98: 991– 1001 Adams JA, Knudson S (1996) Genital findings in adolescent girls referred for suspected sexual abuse.Arch Pediatr Adolesc Med 150: 850–857 Emans SJ, Woods ER, Allred EN, Grace E (1994) Hymenal findings in adolescent women: impact of tampon use and consensual sexual activity. J Pediatr 125: 153–160 Herrmann B, Navratil F, Neises M (2002a). Sexueller Missbrauch an Kindern. Bedeutung und Stellenwert der medizinischen Diagnostik. Monatsschr Kinderheilkd 150: 1344–1356
Herrmann B (2002b) Körperliche Misshandlung von Kindern. Somatische Befunde und klinische Diagnostik. Monatsschr Kinderheilkd 150: 1334–1338 Kaplan SJ, Labruna V, Pelcovitz D, Salzinger S, Mandel F, Weiner M (1999) Physically abused adolescents: Behavior problems, functional impairment, and comparison of informants’ reports. Pediatrics 104: 43–49 Lowen DE (2002) The unique needs of the adolescent patient. In: Finkel MA, Giardino AP (Hrsg) Medical evaluation of child sexual abuse. 2. Aufl., Sage Publications, Thousand Oaks, London, New Delhi. S 147–158 Navratil F (2003) Sexuelle Gewalt in der Adoleszenz: Befunderhebung, Sinn und Notwendigkeit der körperlichen Untersuchung. Gynäkol Geburtshilfliche Rundsch 43: 146–151 US Department of Health & Human Services (2002) Child Maltreatment 2000. Washington DC, US Government Printing Office
33.2
Mobbing – Gruppenaggression im Klassenzimmer und seine Wirkung auf Kinder und Jugendliche
M. Schäfer )) Ein nur vage bekanntes Phänomen wie Mobbing unter Schülern ist entsprechend schwer zu erkennen. Die Eltern erleben ein Kind, das sich zurückzieht, immer weniger aus der Schule erzählt, zunehmend isoliert erscheint und die Eltern mit Schulunlust und aktiver Schulverweigerung konfrontiert. Allerdings bleibt in mindestens 50% der Fälle die Ursache unklar, weil vor allem Kinder nicht erzählen, dass sie in der Klasse das Opfer von Mobbing sind. Zu groß ist oft ihre Sorge, dass das, was sie ohne Chance auf Besserung täglich in der Klasse erleiden, noch mehr ihrer Kontrolle entgleitet. Medizinern präsentiert sich ein Patient, von dem die Eltern berichten, dass vermehrt diffuse Beschwerden wie Bauchschmerzen, Kopfschmerzen, Übelkeit, Schlafstörungen und Alpträume beobachtet werden. Diese Beschwerden sind oft psychosomatischer Natur. Der Hindergrund: Alles, bloß nicht in die Schule gehen müssen.
Anders als z. B. in Skandinavien oder England ist Mobbing unter Schülern im deutschsprachigen Raum zwar ebenso weit verbreitet, aber im öffentlichen Bewusstsein so wenig repräsentiert, dass es gängige Praxis an Schulen ist, Mobbing im Klassenzimmer zu ignorieren, die Beweislast dem Opfer (resp. seinen Eltern) aufzubürden oder sich als Lehrer ganz öffentlich als nicht kompetent und nicht zuständig zu outen. Daraus resultiert das zentrale Problem für Kinder und Jugendliche, die das Opfer von Mobbing werden: Entwickelt sich Mobbing in einer Klasse, wird in der Regel erst dann eingegriffen, wenn sich die Opferrolle des/r Betroffenen innerhalb der Klasse stabilisiert hat, weil sich immer mehr Mitschüler gegen das Opfer wenden und die soziale Isolierung des Opfers irreversibel wird. Der dann oft gewählte »Ausweg«, nämlich ein Schulwechsel, erweist sich dabei in mindestens der Hälfte der Fälle nicht als »Lösung«. Die betroffenen Kinder und Jugendlichen leben mit stark erhöhtem Risiko, wieder zum Opfer zu werden (Salmivalli, Lappalainen u. Lagerspetz 1998), weil sie sich in einem extrem verletzlichen Zustand in einen neuen sozialen Kontext integrieren müssen. Das wiederum konfrontiert sie mit einer Situation,
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die für jedes Kind ein erhebliches Risiko beinhaltet, von aggressiven Kindern als »leichtes und geeignetes Opfer« ausgewählt zu werden. 33.2.1 Definition ! Mobbing ist nicht ein Konflikt zwischen Zweien oder einigen Wenigen, die gleich stark sind und Krach mit einander haben. Mobbing bezeichnet den wiederholten und systematischen Missbrauch einer sozialen Machtposition.
Deshalb beobachtet man Mobbing in gefügten, nicht frei gewählten Gruppen innerhalb hierarchisch strukturierter Systeme wie z. B. der Schule, dem Militär, Haftanstalten oder verschiedenen Arbeitskontexten. Alle Kontexte verbindet, dass für den Einzelnen das Entkommen, also ein einseitiges Aufkündigen der Gruppenmitgliedschaft, erschwert und oft unmöglich ist. Das beeinflusst den Täter, weil »das Opfer« nahezu täglich in unzähligen Situationen zur Verfügung steht. Das beeinflusst das Opfer, das jederzeit damit rechnen muss, attackiert zu werden »und superblöd dazustehen«, und es beeinflusst die Mitschüler, die eine zunehmend tragende Rolle beim Fortschreiten von Mobbing in ihrer Klasse einnehmen. 33.2.2 Die Dynamik von Mobbing Mobbing beginnt oft dann, wenn die sozialen Kräfte einer Gruppe nicht ausbalanciert sind, also klassischerweise, wenn Gruppen neu zusammengesetzt werden oder aus Teilgruppen neu gemischt werden (z. B. Ploog 1998). Einzelne Kinder sind plötzlich ohne Freunde, andere kennen sich vielleicht schon. Aber für alle ist es wichtig, Beziehungen aufzubauen, um eine Position im sozialen Netzwerk der neuen Gruppe/Klasse zu besetzen. Mobbing kann auch dann beginnen, wenn durch Zu- oder Weggang eines Kindes und/oder z. B. das Zerbrechen von Freundschaften ein Kind plötzlich in eine sozial nicht definierte Situation gerät. Solche Ereignisse machen zumindest eine teilweise Umstrukturierung des sozialen Gefüges nötig und das führt zur besonderen sozialen Verletzlichkeit oder Schutzlosigkeit Einzelner in der Klasse. Mobbing wird folglich dann möglich, wenn unklare soziale Konstellationen (Wer steht in welchem Verhältnis zu wem!) Spielraum bieten. Nach Dominanz strebende Kinder sind besonders erfahren, solche Spielräume zu erkennen. In geschickter Inszenierung instrumentalisieren bzw. attackieren sie Schwächere in der Klasse (Opfer!) und nutzen sie ihre manipulativen Fähigkeiten gegenüber den Mitschülern, um soziale Macht in der Klasse zu gewinnen. Auf Basis des aktuellen Forschungsstandes wird im Folgenden dargestellt, welchen Wandel das soziale Gefüge einer Klasse bei Mobbing erwartet. Mobbing wird dabei im Spannungsfeld zwischen den Individualinteressen Einzelner (z. B. der Täter) und den sozialen Strukturen und Normen der Gruppe (Klasse) dargestellt. Die Logik von Mobbing entwickelt sich auf Basis von drei Grundannahmen, die die »Triebfedern« im Mobbingprozess festlegen. Die sich entwickelnde Dynamik macht plausibel, warum ein Opfer von Mobbing selbst am wenigsten zur Veränderung der Situation beitragen kann und deshalb in besonderer und zügiger Weise auf Unterstützung von außen angewiesen ist.
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Der Antrieb für Mobbing – aggressives Dominanzstreben der Täter Die meisten Kinder haben viel theoretisches Wissen über die Vielseitigkeit aggressiven Verhaltens. Die Möglichkeiten zur Beobachtung reichen vom Verhalten der eigenen Eltern, die disziplinieren wollen und ihr Kind dabei lehren, wie vielfältig die Palette aggressiver Akte sein kann, über das Verhalten der Geschwister und Peers bis zum Modell der Fernsehhelden. Das Wissen wird aber nur von den Kindern in konkretes Verhalten umgesetzt, die sich einen Vorteil davon versprechen und die Konsequenzen des aggressiven Handelns kognitiv als Erfolg evaluieren (Perry, Perry u. Boldizar 1990). Das bedeutet, aggressive Handlungssequenzen werden oft von früher Kindheit an aktiv erprobt, um abstraktere Regeln über den Einsatz/Erfolg dieses Verhaltens abzuleiten (z. B. »die beste Möglichkeit, um zu bekommen was ich will, ist der Einsatz von Aggression«). Dabei erfährt die Aggression (Boulton u. Smith 1994) solange Verstärkung wie die Interaktionen mit der Umgebung die Erfolgserwartung nicht systematisch enttäuschen (Egan, Monson u. Perry 1998). ! Bei jeder Aktivität gegen Mobbing sind klare und konsistente Sanktionen gegen das Verhalten der Täter essentiell.
Lange Zeit präferierte die Aggressionsforschung das Stereotyp des physisch überlegenen, aber sozial eingeschränkt kompetenten Kindes mit defizitären soziokognitiven Verarbeitungsstrategien. Bezogen auf Mobbing ist diese Sicht irreführend: die soziokognitiven Fähigkeiten der Täter scheinen denen der Mitschülern sogar eher überlegen zu sein (Sutton, Smith u. Swettenham 1999). Die Fähigkeit, den mentalen Zustand der eigenen Person und der sozialen Umgebung zu erfassen, um das Verhalten anderer zu erklären und vorherzusagen, wird für Mobbing »kühl kalkulierend« eingesetzt, um die Mitschüler im Interesse der eigenen Ziele zu beeinflussen. Das impliziert, dass Mobbing initiiert wird, weil sozio-kognitiv befähigte Schüler eine früh sozialisierte, durch »Erfolg« verstärkte, aggressive Strategie zum Dominanzerwerb umsetzen. ! Jeder kann Opfer werden – Instrumentalisierung vulnerabler Kinder
Mit außerordentlichem Geschick, potentielle Opfer zu erkennen, beschreiben Täter die Kennzeichen eines Opfers als »die, die sich nicht wehren, nicht sehr stark sind und die sich zu sehr fürchten, dem Lehrer oder jemand anderem davon zu erzählen« (Lowenstein 1995, S. 29). Demgegenüber formuliert Kristi Lagerspetz (1982) aus der Sicht der Opfer: »Das Problem ist nicht, dass andere dir gegenüber aggressiv sind oder einem die Fähigkeiten fehlen, sich angemessen zu wehren: Das Problem ist, dass man [...] eine Rolle zugeteilt bekommt, die zugleich die Basis für mehr und mehr Viktimisierung darstellt.« (1982, S. 45 ‒ Übersetzung der Autorin). Eine Vielzahl von Studien hat die Situation der Opfer von Mobbing (z. B. Schäfer, Werner u. Crick 2002), ihre familiären und personalen Merkmale sowie ihre Stellung in der Peergroup empirisch analysiert oder bestimmte Risikofaktoren für Viktimisierung (Hodges u. Perry 1999) identifiziert. Nicht selten sind solche Ansätze verbunden mit der Annahme, dass eine Stärkung der Opfer eine adäquate Intervention gegen Mobbing darstellt. Neuere Ergebnisse spezifizieren: Nicht Introvertiertheit oder physische Schwäche prädispositionieren für die Opferrolle, sondern die relative Position im sozialen Gefüge der Klasse determiniert
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Kapitel 33 · Jugend und Gewalt
die Gefährdung für die Opferrolle (Hodges u. Perry 1999). So kann ein physisch schwächeres Kind aufgrund anderer Fähigkeiten in der Klasse hoch angesehen und deshalb ganz ungefährdet sein, während ein besonders begabtes oder sozial kompetentes Kind in einer ungünstigen Klassenkonstellation leicht zum geeigneten Opfer werden kann. Wer mit aggressiven Mitteln seine soziale Position untermauern möchte, dem erleichtert die Auswahl eines sozial schwach positionierten Kindes die Definition der Opferrolle. Denn die aggressiven Attacken erlauben dem Opfer vornehmlich bestimmte Reaktionen, die in der Wahrnehmung der Mitschüler spezifische und durch die sozial schwache Position quasi »voreingestellte« Schemata (z. B. »Verlierer«, »Weichei«) aktivieren. Durch systematische Wiederholung der Attacken werden in immer gleicher Weise »inadäquate« Reaktionen des Opfers (z. B. Hilflosigkeit oder Angst, weinen, schreien) provoziert, was dazu führt, dass irgendwann auch rollenabweichendes Verhalten des Opfers eher rollenkonsistent wahrgenommen wird (Fiske u. Morling 1995). Das heißt, auch wenn ein Opfer zwischendurch souverän auf die Attacken reagiert, sie ignoriert, den Täter einfach stehen lässt oder auslacht besteht die Gefahr, dass das an der negativen Einstellung der Mitschüler nichts ändert: einmal gefasste negative Einstellungen unter Kindern und Jugendlichen sind auffällig resistent gegen Veränderung! Bezogen auf die Position in der Gruppe elaboriert der Täter seinen Handlungsspielraum, während das Opfer ‒ in seinem Handlungsspielraum immer weiter eingeschränkt ‒ seine »Rolle« nur übernehmen kann. Hier liegt einer der Gründe, warum eine individuenzentrierte Therapie bei Mobbingopfern wenig Veränderung ihrer Situation erbringt, solange der Mobbingkontext in der Klasse unverändert bleibt. Fazit
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Zusammengefasst resultiert, dass Täter sich gezielt ein Opfer aussuchen, gegenüber dem Aggression strategisch so eingesetzt werden kann, dass eine dominante Position in der Klasse für den Täter oder die Täterin resultiert und die subdominante Rolle des Opfers gleichzeitig stabilisiert wird. Manipulation der Gruppennorm – der Schlüssel zum Erfolg In Gruppen definieren soziale Normen die Grenzen akzeptierten Verhaltens. In der Überzahl der Peergroups gelten ähnliche Standards für akzeptables Verhalten. Auf die Verletzung der geltenden sozialen Normen durch Einzelne reagieren Mitschüler mit Antipathie, Ablehnung und in frühen Phasen der Schulzeit sogar mit direkten Sanktionen (Krappmann u. Oswald 1995; Krappmann 1999). Deshalb wird, wer Aggression gegen andere Mitglieder der Gruppe zeigt, abgelehnt (z. B. Coie, Dodge u. Coppotelli 1982). Auf dyadischer Ebene, also zwischen Zweien, ist diese Interaktion durch eine Verhaltensänderung des abgelehnten Individuums kontrollierbar. Wird das Verhalten eines Kindes aber von mehreren Peers nicht akzeptiert, werden gruppendynamische Prozesse wirksam (Coie 1990). Das heißt, das betroffene Individuum verliert die Kontrolle über die negative Einschätzung der Mitschüler. So kann auch ein neuer, noch kaum integrierter Schüler, der versucht, durch aktive Mitarbeit einen »guten Start« zu bekommen, als »leichtes« Opfer erscheinen und dieses faktisch werden, wenn es einem Täter z. B. durch verbale Attacken gelingt, ihn als »Streber« darzustellen. Gruppendynamische Prozesse würden z. B. einen Wandel der vorherrschenden sozialen
Norm mit wachsender Definitionsmacht der Täter (»Wer im Unterricht mitarbeitet, ist sowieso doof!«) einleiten: denn aggressive Attacken gegen ein noch nicht integriertes oder von den Mitschülern bereits abgelehntes Kind wird weniger Ablehnung der Täter durch die Mitschüler provozieren. Darüber hinaus begünstigen Klassenkonstellation und stabile Klassenzugehörigkeit bei den einzelnen Mitschülern eine Anpassung ihrer Einstellung und ihres Verhaltens in Richtung der vorherrschenden sozialen Norm (DeRosier, Cillessen, Dodge u. Coie 1985). Das Opfer wird in kalkulierter Erwartung der Gegenreaktion vorgeführt. Durch dessen ‒ zu erwartende ‒ inadäquate Reaktion auf die aggressiven Attacken können Täter eine negative Einstellung der Mitschüler gegenüber dem Opfer forcieren. Strategisch verlangt das z. B., die Gegenaggression des Opfers zu provozieren, damit diese den Mitschülern als Normverstoß erscheint. Alternativ ist denkbar, dass das Opfer auf die aggressiven Attacken des Täters keine Reaktion zur Wiederherstellung der sozialen Norm (sich wehren) zeigt. Beides fördert die Ablehnung des Opfers durch die Mitschüler. Begabten Strategen ermöglicht die gezielte Antizipation von Reaktionsmustern und gruppendynamischer Verstärkung (Sutton u. Smith 1999) die soziale Manipulation zum Schaden der Opfer. Besonders bei Heranwachsenden wird die Umsetzung individueller Überzeugungen und Sympathien in Verhalten (»Ich mag es nicht, wenn jemand angegriffen wird, der sich nicht wehren kann!«) zunehmend durch die geltenden sozialen Normen in ihrer Peergroup beeinflusst (»Die meisten in der Klasse finden es eher cool, wenn XY fertig gemacht wird, weil er/sie sowieso ein Streber/Weichei ist.«). Das erklärt z. B., warum individuell geäußerte Einstellungen zu Bullying und beobachtbares Verhalten in Mobbingsituationen oft weit auseinander liegen (Schäfer 1998) und die Einstellungen gegenüber Mobbing mit zunehmendem Alter immer positiver werden (Crick u. Werner 1999). Viktimisierung avanciert immer mehr in den Bereich einer negativen affektiven Bewertung (soziale Ablehnung) des Opfers durch die Mitschüler. Als eine Konsequenz ist zu beobachten, dass im Verlauf des Mobbingprozesses Täter in der Klasse zunehmend mehr Akzeptanz und Opfer mehr Hilflosigkeit gegenüber den Mitschülern erleben und mehr Ablehnung durch Mitschüler erfahren. 33.2.3 Die Wirkung von Mobbing auf die Opfer Befragt man Schüler, dann findet man, dass Mobbing unter Schülern weit verbreitet ist und in etwa 1 von 7 Kindern über längere Zeiträume der systematischen Schikane durch ihre Mitschüler ausgesetzt war. Und diese Zahlen sind in den letzten 15 Jahren national wie international vielfach bestätigt worden (im Überblick: Smith u. Brain 2000). Körperliche Aggression wie schlagen, treten, bespucken und bedrohen sind dabei ebenso üblich wie Kleider oder Besitztümer des Opfers zerstören, Erpressung, aber auch gemeine Gerüchte verbreiten, gezielt Freundschaften des Opfers torpedieren und üble Worte nachrufen. Was oft mit Sticheleien, Lästern oder Rempeleien gegenüber einem bestimmten Schüler oder einer Schülerin anfängt und – betrachtet man die Akte einzeln – jeweils harmlos erscheint, wird für den oder die Betroffene schnell zum ernsthaften Problem, weil es systematisch immer die gleiche Person trifft. Je länger Mobbing andauert, umso schlimmer wird es u. a., weil die Wahrscheinlichkeit steigt, dass immer mehr Mitschüler
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»mitmachen«. Die Auswertung der Beratungsanfragen beim »Mobbingtelefon«, das 1999 für 6 Monate in Baden-Württemberg landesweit als Pilotprojekt durchgeführt wurde (Kulis 2001; Schäfer u. Kulis 2000), ergab, dass von den Schülern, die länger als 6 Monate schikaniert wurden, 8 von 10 täglich das Opfer von Mobbing waren. Deshalb muss Kindern, bei denen der Verdacht auf Mobbing besteht, in jedem Fall nahe gelegt werden, darüber zu sprechen: Das führt leider nicht in jeder Schule zu einer Verbesserung der Situation. Die Alternative ist allerdings, dass es in jedem Fall schlimmer wird. Je länger Mobbing andauert, umso mehr verliert das Opfer die soziale Unterstützung und jegliche Kontrollmöglichkeit über seine soziale Situation. So konnten wir in einer Stichprobe von 884 Erwachsenen aus Deutschland, Großbritannien und Spanien, die wir über ihre Erfahrungen mit Mobbing während ihrer Schulzeit befragten, 192 Opfer identifizieren, von denen 13% mehrfach und 9% einmal Selbstmordgedanken erwogen haben (Schäfer et al. 2004).
le über die eigene soziale Situation die Situation von Mobbingopfern kennzeichnet. Ist die Mobbingsituation konkret, fördern die sozial degradierenden Attacken ein zunehmendes Gefühl der eigenen Wertlosigkeit, die dem Kind oder Jugendlichen wenig Chancen lassen, die Schuld dafür nicht bei sich selbst zu suchen. So findet man bei den Opfern stabiler Mobbingerfahrungen auch langfristig Effekte. Erwachsenen, die während der Schulzeit das Opfer von Mobbing durch Mitschüler waren, werden kaum häufiger als Vergleichspersonen auch als Erwachsene das Opfer von Mobbing. Doch das Muster ihrer sozialen Erwartungen scheint moderat, aber nachhaltig und vor allem spezifisch getrübt: Ehemalige Opfer sehen sich selbst negativer, aber nicht sozial isoliert, ihr Beziehungsstil ist vorsichtiger (ängstlicher), aber weder abweisend noch klammernd und ihre Freundschaften scheinen schwieriger aufrechtzuerhalten, aber nicht weniger unterstützend, selbstwertfördernd und schützend zu sein (Schäfer et al. 2004).
33.2.4 Die Konsequenzen von Mobbing
33.2.5 Konsequenzen für Kinder- und Jugendärzte,
Lehrer und Erzieher Bis heute gibt es kaum Längsschnittstudien zu Mobbing unter Schülern, die Aussagen über Kausalzusammenhänge erlauben. Eine Follow-up-Studie über die Stabilität der Opferrolle zeigt aber, dass eine Opferrolle in der Grundschule kein erhöhtes Risiko darstellt, eben diese Rolle in der weiterführenden Schule wieder einzunehmen (Schäfer et al. 2003). Das spricht gegen Erklärungsansätze, die Merkmale der Person als ursächlich für eine Opferrolle bei Mobbing darstellen. Im Bereich der Interventionsanstrengungen kann das entscheidende Folgen haben; unter der Annahme opfertypische Merkmale wären Selbstwert oder Kompetenz fördernde Therapiemaßnahmen als ein »Lösungsweg« zu präferieren. Diese werden im Opfer die Erwartung aufbauen, tatsächlich besser mit der Mobbingsituation umgehen zu können. Die an sich erwünschten Reaktionsoder Verhaltensänderungen beim Opfer wird der Täter aber leicht zum Anlass nehmen, »jetzt aber erst recht zu zeigen, wer in der Klasse das Sagen hat«. Die erneut demonstrierte Machtlosigkeit gegenüber dem Täter und die mangelnde (oder gänzlich fehlende) Unterstützung durch die Mitschüler wird mit großer Wahrscheinlichkeit zu noch größerer Verzweiflung bei dem betroffenen Kind oder Jugendlichen führen, wenn die Schule solche Maßnahmen nicht mit eindeutigen Sanktionen gegen den Täter und Trainingsmaßnahmen auf Klassenebene unterstützt, die eine Rekalibrierung der sozialen Normen der Klassengemeinschaft zum Ziel haben. Verschiedene Studien haben außerdem versucht, einen Zusammenhang zwischen Mobbingerfahrungen und Neigungen zu sozialen oder psychischen Entwicklungsstörungen zu spezifizieren. Es war bekannt, dass Attacken (häufig durch physische Aggression) auf den sozialen Status innerhalb von Gleichaltrigengruppen Depressionen stabilisieren (Gilbert 1992) und die Bedrohung sozialer Beziehungen (häufig durch Beziehungsaggression) zu Ängstlichkeit, Einsamkeit und Depressionen führen kann (Baumeister u. Leary 1995). Eine Metaanalyse von Hawker und Boulton (2000) integriert die Befunde und belegt, dass entgegen den Erwartungen nicht vorrangig soziale Störungen (wie Ängstlichkeit und Einsamkeit), sondern vor allem psychische Störungen wie Depressionen mit Mobbingerfahrungen verknüpft sind. Das verstärkt die Annahme, dass der Verlust sozialer Unterstützung und sozialer Kontrol-
4 Mobbing muss dort gelöst werden, wo es auftritt. Anders als Aggression oder Konflikte ist Mobbing ein Gruppenphänomen. Es wird möglich auf der Basis der Beziehungen, die in formalen Gruppen wie Schulklassen (oder fest installierten Kinder- und Jugendgruppen) herrschen und unterstützt durch die Tatsache, dass diese Art von Gruppen ein Kontext sind, wo regelmäßige Anwesenheit verlangt und Ausweichen kaum möglich ist. 4 Schnell handeln. Mobbing, das Schüler durch Mitschüler erfahren, muss seitens der Schule sofort unterbunden werden. Besteht also der Verdacht oder gar das Wissen, dass Mobbing in einem systematischen Zusammenhang mit körperlichen oder psychischen Beschwerden steht, wegen derer ein Kind oder Jugendlicher dem Arzt vorgestellt wird, ist zunächst alles hilfreich, was dazu beiträgt, dass schnell gehandelt wird. Werden hingegen Lehrer oder Erzieher aufmerksam, ist ein sofortiger Austausch mit den Kollegen hilfreich, um ein präzises Bild der Faktenlage zu bekommen und eine gute gemeinsame Strategieplanung, um effektiv und nachhaltig eingreifen zu können 4 Gut dokumentieren. Körperliche Übergriffe oder soziale Degradierung führen z. B. zu Verletzungen oder psychosomatischen Beschwerden. Deshalb kann jeder Beleg physischer oder psychischer Beeinträchtigung durch den Kinderoder Jugendarzt ein wertvolles Dokument sein, Aktivitäten voranzutreiben und zu beschleunigen, die das Leiden von Mobbingopfern verkürzen und beenden. 4 Eltern aktivieren. Es ist Aufgabe der Eltern betroffener Kinder, dafür zu sorgen, dass die Schule schon beim Verdacht auf Mobbing sofort aktiv wird. Je eher eingeschritten wird, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass erfolgreich gegen Mobbing vorgegangen werden kann. 4 Eltern besänftigen. Eltern, die realisieren, dass ihr Kind in der Schule Schaden nimmt, tendieren verständlicherweise dazu, Schuldzuweisungen gegen Lehrer und Schule vorzunehmen. Alles was dazu beiträgt hier zu besänftigen, nützt dem betroffenen Kind. Die Verunsicherung darüber, was zu tun ist, ist auf Lehrerseite mitunter erheblich. Deshalb ist eine gute Kooperation im Interesse des Kindes oder Jugendlichen
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Kapitel 33 · Jugend und Gewalt
unabdingbar (viele Schulen haben – beim genauen Hinsehen und unter dem Druck zu handeln ‒ innerhalb des Kollegiums mehr Kompetenzen als angenommen). 4 Klare Zeitpläne. Gelingt es nicht, die Schule zu aktivieren, sofort gegen Mobbing aktiv zu werden und das Opfer zu schützen, sind eine Dienstaufsichtsbeschwerde (immer mit der Unterstützung eines Anwalts, der klare Termine setzen kann) oder eine Anzeige gegen die Schule (Vernachlässigung/Verletzung der Persönlichkeitsrechte des Kindes/Jugendlichen) Mittel, die nötig werden können. Auch engagierte Lehrer und Erzieher sollten wissen, dass der Gesetzgeber dem Schutz des Kindes oder Jugendlichen völlig eindeutige Priorität vor der Loyalität gegenüber Mobbing ignorierenden oder sogar daran beteiligten Kollegen einräumt. Gerade
wenn sich derartiges abzeichnet, sind alle Dokumente, die das Leiden der Opfer dokumentieren, essentiell. Kompetente Mobbingberatung, die in Mobbingfällen als Ansprechpartner für Betroffene, Eltern, aber auch für Lehrer zur Verfügung steht, ist nach Aussagen betroffener Eltern sehr schwer zu finden. Das »Mobbingtelefon für Schüler« (Kulis 2001; Schäfer u. Kulis 2000) war ein Pilotprojekt, das über 6 Monate in ganz Baden-Württemberg für Schüler, ihre Eltern und Lehrer eine kostenfreie Mobbingberatung anbot. Der Bedarf für eine solche Beratungsressource, die gleichermaßen auf pädagogischer, administrativer und auch juristischer Ebene ansetzte, konnte mit dem Projekt eindrucksvoll und erfolgreich unter Beweis gestellt hat.
Vermeidungsstrategien
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Was man bei Mobbing besser vermeiden sollte: 5 Als Eltern des Opfers mit den Eltern des/der Täter sprechen Warum nicht? Die Eltern des Täters werden ihr Kind entweder in Schutz nehmen und damit das aggressive Verhalten billigen oder sie bestrafen und der Täter lernt am Modell der Eltern, dass »Strenge« im Umgang mit anderen eine angemessene Strategie ist. Beide Alternativen bedeuten für das Opfer weitere Viktimisierung. 5 Als Eltern des Opfers mit dem/den Täter/n sprechen Warum nicht? Die Eltern des Opfers werden entweder versuchen, Mitgefühl beim Täter zu wecken oder dem Täter zu »drohen«. Das direkte Einschreiten der Eltern des Opfers interpretiert der Täter als Schwäche des Opfers, sich nicht selbst wehren zu können. Er fühlt sich selbst aufgewertet. »Droht« man dem/den Täter/n hingegen, setzt man selbst eine aggressive Strategie ein, was dazu führt, dass der/die Täter das Opfer für das »Petzen« bestrafen (Aggression verstärkt Aggression). Lehrer sind verpflichtet, Mobbing zu stoppen. Eltern haben darauf zu achten und die Verantwortlichen zu informieren, dass die Schule ihrer Verpflichtung nachkommt und mit entsprechenden Maßnahmen eingreift. 5 Das Opfer zu sämtlichen Lehrergesprächen mitzunehmen Warum nicht? Lehrende neigen dazu, die Schuld für das Mobbing zunächst beim Opfer zu suchen. Opfer hingegen neigen nach einiger Zeit dazu, sich selbst die Schuld am Mobbing zuzuschreiben. Eine Konfrontation mit den Lehrenden ist für das Opfer in jedem Fall emotional sehr schwierig und kann Schuldgefühle beim geschwächten Opfer verstärken. Eltern sollten ihrem Kind empfehlen, den Lehrer immer unmittelbar nach einem Vorfall zu informieren und um zu Hilfe bitten. Am besten in Begleitung eines Freundes oder Mitschülers. 5 Als Lehrer den speziellen Fall diskutieren Warum nicht? Um Mobbing effektiv zu bekämpfen, müssen Täter und Opfer lernen, dass bestimmte Verhaltensweisen in der Schule unangemessen sind. Nimmt aber der Lehrerende im Gespräch mit der Klasse konkret Bezug auf das Opfer und den/die Täter, führt man die Mobbingsituation auf bestimmte Personen zurück: Täter und Opfer, aber auch die Mitschüler werden damit in ihrem Glauben bestärkt, dass das Opfer die Schuld an dem Mobbing trage, und Täter würden das Opfer für sein sich Beschweren bestrafen. Darüber hinaus lernen Mitschüler auf diese Weise, dass man als Opfer vor der ganzen Klasse bloßgestellt wird und als Täter die erwünschte Aufmerksamkeit erfährt. Diskussionen über Mobbing sind generell sinnvoll, sofern keine Personen direkt angesprochen werden. Lehrer können eine soziale Stunde im Monat einführen und über Mobbing und aggressives Verhalten diskutieren. 5 Nach kurzfristiger Besserung in einem Mobbingfall wieder locker lassen Warum nicht? Unternehmen Lehrende Maßnahmen und zeigen diese den erwünschten Erfolg, so dürfen diese nicht bei kurzfristiger Besserung der Mobbingsituation eingestellt werden: Die Schüler lernen daraus, dass zwar Unannehmlichkeiten auftreten, wenn sie jemanden schikanieren, aber diese nicht von langer Dauer sind. Das Opfer wird also in Zukunft massiver schikaniert, damit es nicht wieder petzt. Inkonsequenz der Betreuer verstärkt die Aggression bei den Schülern. Wenn Regeln oder Maßnahmen eingeführt werden, dann sollten diese so gewählt sein, dass sie einfach, effektiv und nachhaltig sind. Am besten sind solche, bei denen alle Lehrer mitwirken können. 5 Mobbing auf die Persönlichkeit des Opfers zurückführen Warum nicht? Für das Opfer bedeutet das eine klare Schuldzuweisung und die Übertragung der ganzen Verantwortung für das Entstehen, aber auch das Beenden von Mobbing. Das Opfer wird dadurch noch stärker in eine »unlösbare« Situation gedrängt und möglicherweise zu riskanten Handlungen verleitet (Suizid, Weglaufen, Schule schwänzen, Autoaggression). Maßnahmen ergreifen, bei denen das Opfer auch versteht, dass das Verhalten der anderen unangemessen und falsch ist und dass jeder Opfer von Mobbing werden kann. Alle Beteiligten (Opfer, Täter und Mitschüler etc.) sollten begreifen, dass Mobbing ein erlerntes Verhalten ist, welches keinesfalls toleriert werden sollte.
6
289 33.2 · Mobbing – Gruppenaggression im Klassenzimmer
33
5 Mobbing als Problem zwischen bestimmten Personen behandeln Z. B. »Du solltest vielleicht einfach ein bisschen mehr aus dir herausgehen, dann würden deine Mitschüler auch anders auf dich eingehen« (zum Opfer), oder »Du weißt doch, dass sie/er so ist, lass sie/ihn doch einfach in Ruhe« (zum Täter). Warum nicht? Täter und Opfer werden in ihren Rollen respektive Handlungsweisen bestärkt, was eine Perspektivenübernahme erschwert oder sogar verhindert und zu weiterem Mobbing führt. Lehrer sollten aggressiven Kindern klar zu verstehen geben, dass ihr Verhalten nicht geduldet und nicht akzeptiert wird und betonen, dass es dabei keine Rolle spielt, gegen wen es sich richtet. 5 Das Opfer aus der Klasse nehmen Warum nicht? Täter haben einen Bedarf an erzieherischer Aufmerksamkeit. Verlässt z. B. das Opfer die Klasse, so würde das aggressives Verhalten als eine effektive Strategie bestätigen und sehr wahrscheinlich würden sich Täter einfach ein neues Opfer suchen. Das Opfer lernt hingegen, dass Weglaufen ein Weg zur Problemlösung ist und das es keine Sicherheit erwarten kann. Das erhöht die Angst, auch von den neuen Klassenkameraden schikaniert zu werden. Die Auflösung von Mobbing sollte eine Modellfunktion für alle Schüler haben. Die Maßnahmen sollten daher mit und innerhalb der Klasse erfolgen. Nur so erhalten Schüler die Möglichkeit, soziale Fertigkeiten im Umgang mit Mobbing zu erlernen und sich aktiv an solchen Problemen zu beteiligen.
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Kapitel 33 · Jugend und Gewalt
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33.3
Gewaltprävention – Gewalt gegen und durch Jugendliche
J. Schmetz
33.3.3 Wann und wie sind wir in der
Jugendmedizin mit Gewalt konfrontiert?
In dieser Phase besteht eine besondere Empfänglichkeit für die Einflüsse durch Gleichaltrigengruppen, auch Nachahmereffekte durch erlebte mediale Gewalt (7 Kap. 8) spielen eine Rolle. Unsere präventive Funktion im Jugendalter kann darin bestehen, »Sparringspartner« bei der Selbstfindung und der eigenen neuen Nachdenklichkeit der Jugendlichen zu sein. In diesem Sinne ist auch im Jugendalter Gewaltprävention durchaus noch möglich. Für Definitionen und Informationen über Formen der Gewalt möchte ich auf den Beitrag von Herrmann (7 Abschn. 33.1) verweisen. Weitere wichtige Hinweise finden sich bei Schneider (2001).
Von einem Jugendlichen stammt der Satz: »Ihr Erwachsenen könnt euch noch so viele Gedanken darüber machen, wie wir sind, wir sind doch anders.« Dies gilt insbesondere für Gewalterfahrungen. Gewalt wird sehr oft verschwiegen. Wir müssen sie aber in Betracht ziehen bei vielen Unfallberichten sowie bei wiederkehrenden psychosomatischen Beschwerden. Wichtig ist es zu erkennen, dass bei jedem Jugendlichen das Thema Gewalt eine Rolle spielt. Ferner kann die Furcht beispielsweise, Opfer zu werden, sein Lebensgefühl entscheidend beeinflussen. Auch Jugendliche, die weder Täter noch Opfer sind, waren schon Zeugen von Gewalt, sei es auf dem Schulweg, in der Schule, auf Ausflügen oder in der Freizeit. Gewalt unter Jugendlichen hat eine außerordentlich hohe Dunkelziffer, deshalb können wir nicht erst warten, bis uns spontan davon berichtet wird. Die Jugendgesundheitsberatung, die im Alter von 12‒15 Jahren durchgeführt wird, bietet eine gute Gelegenheit, die bisherige Schulkarriere näher kennen zu lernen (»Sozialverhalten«). Dazu ist die Lektüre von Zeugnissen sehr oft ergiebig, geben sie doch erfreulicherweise neben den Leistungsbeschreibungen auch Hinweise auf das Sozialverhalten. Nach Schweigepflichtentbindung durch die Eltern und die Jugendlichen (!) können wir uns mit den Lehrern sehr nutzbringend austauschen. Der Satzergänzungstest gibt uns Hinweise auf Öffnungsbereitschaft und Interessen. Er bietet nahezu immer gute Anknüpfungspunkte für das nachfolgende Gespräch. Entsteht der Eindruck überdurchschnittlicher Schwierigkeiten, sind erweiterte Selbstauskünfte über den YSR (Youth Self Report) oder auch den AFS (Angstfragebogen für Schüler) sehr ergiebig. Wichtig für die Einschätzung der Bedeutung von Gewalt im Leben des Jugendlichen ist die Beobachtung der Beziehung innerhalb der Familie. Sind die Eltern mitgekommen, können wir Beziehungssignale auffangen: Haben sich Eltern und Jugendliche noch etwas zu sagen? Ist da ein kühles Nebeneinander oder gar latente Feindseligkeit zu spüren?
33.3.2 Epidemiologie
33.3.4 Kontext von Gewalt im Jugendalter
Es gibt keine Einigkeit unter den Experten über die Häufigkeit von Jugendgewalt. Ebenso wenig darüber, ob Jugendgewalt zunimmt, stagniert oder abnimmt. Eine sehr umfassende Übersicht gibt Schneider in Kriminologie für das 21. Jahrhundert. Sehr ergiebig sind auch die Internetseiten des Deutschen Forums Kriminalprävention (http://www.dfk.de) und des Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen (http://www.kfn.de). Unabhängig von den Zahlen der Statistiken und Studien bleibt Gewaltprävention eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe:
Gewalt wird vor allem in der Familie gelernt Gewalt in der Familie geschieht meist aus erzieherischer Hilflosigkeit. Dies hat frühe Wurzeln. Jugendliche, die selbst Gewalterfahrungen haben, kennen Gewalt als Durchsetzungsmittel in der Regel seit Jahren. Anlass ist oft eine Überforderung der Eltern, die mit oppositionellem Verhalten, mit Wutausbrüchen und Ausrastern ihrer Kinder nicht klarkommen. Eigene Schwierigkeiten der Eltern am Arbeitsplatz, in der Beziehung mit dem Lebenspartner, Suchtprobleme oder psychische Erkrankungen
33.3.1 Ist Gewaltprävention im Jugendalter
noch möglich? )) Ist das Jugendalter viel zu spät für eine Prävention von Gewalt? Wer 12 Jahre alt ist oder älter, hatte bereits viel Gelegenheit, Gewalt zu erfahren oder selbst Gewalt als Durchsetzungsmittel einzusetzen. Einige sind bereits zu Beginn des Jugendalters in ihrer Gewaltkarriere so weit vorangeschritten, dass selbst Intensivtherapien keine zufrieden stellenden Effekte mehr zeigen. Andererseits geben die Entwicklungsaufgaben der Pubertät eine gute Gelegenheit, bereits eingetretene Fehlentwicklungen zu korrigieren. Es gibt Jugendliche, die bis zur Pubertät recht friedlich aufgewachsen sind, die dann in der Phase einer neuen, selbstbestimmten Orientierung eine Faszination der Gewalt entdecken. Die Lust am Ausprobieren von Grenzen, ein wichtiges Erlebnis in der Pubertät, beinhaltet immer auch eine Lust am Überschreiten dieser Grenzen.
33
Alle, die professionell mit Jugendlichen befasst sind, müssen sich auch mit Gewalt und ihrer Prävention beschäftigen. Das Erleben kriegerischer und terroristischer Gewalt in den letzten Jahren und auch die Exzesse individueller Gewalt zeigen, dass Gewaltprävention eingreift in den ständigen Kampf zwischen Kultur und Barbarei. Den Umgang mit der Versuchung Gewalt zu lernen, ist für Jugendliche Teil einer umfassenden Vorsorge für ihre seelische Gesundheit.
291 33.3 · Gewaltprävention – Gewalt gegen und durch Jugendliche
können das Auftreten von Gewalt begünstigen. Es gibt Kinder, die bereits zu Beginn des Kindergartenalters durch Aggressivität auffallen. Ein großer Teil dieser Auffälligkeiten bleibt bis ins Jungendalter stabil. Zu Hause ständig frustrierte Jugendliche nehmen ihren Ärger und eine sich immer wieder neu aufladende Aggressivität mit in die Außenwelt. Sie sind auf der Suche nach Kompensation. Hier einige Fallbeispiele, die zeigen, wie wir mit Gewaltproblemen in der Familie in Kontakt kommen können. Beispiel »Du hörst mir ja nie richtig zu!« Manuel (13) und seine Mutter berichten, wie die Sommerferien verlaufen sind. Im Nu erhitzen sie sich: »Nein, ist ganz falsch, was du sagst. Das war doch ganz anders.« So mal die Mutter, mal der Sohn. Oder: »Das hab’ ich doch gar nicht gesagt.« Oder auch: »Du hörst mir ja nie richtig zu.« In wenigen Minuten haben beide rote Köpfe. Die Mutter hat gleich zu Beginn geklagt, Manuel sei wieder ganz unerträglich. Etwas hilflos sitze ich dazwischen. In einer Gesprächspause scheinen beide Gesichter zu sagen »So geht das jeden Tag bei uns.« Manuel wird seit 3 Monaten wegen einer Aufmerksamkeitsstörung mit Verhaltenstherapie und Ritalin behandelt. Ohne Rücksprache war das Medikament abrupt abgesetzt worden. »Ich dachte, der Körper muss mal entschlackt werden«, so die Mutter. Beispiel »Beim Jugendamt lügst du immer.« Mutter und Anna-Lena (12) starren wie versteinert in verschiedene Richtungen, die Gesichter sind voller Anspannung. Später habe ich das ungute Gefühl, dass Hass und Gewaltbereitschaft zwischen beiden möglich sind. »Du hast mich beim Jugendamt nur schlecht gemacht«, kreischt die Mutter. »Jaja, ich haue dich immer nur. Von morgens bis abends prügele ich auf dich ein. Rede nur weiter so.« Und nach einem Seufzer: »Ich kann nicht mehr. Immer dieses Bocken und Rumzicken, wenn ich was von ihr will. Die Zwillinge wollen doch auch noch was von mir. Sie sind gerade erst in die Schule gekommen. An mich denkt keiner.« »Du sollst nicht immer so schreien, wenn du mit mir redest.« Anna-Lena wirkt wie ohne Hoffnung, als sie sich wehrt. Was tun in dieser Situation? Zweifelsohne braucht es im Hier und Jetzt eine akute Krisenintervention. »Möchtest du heute Nacht woanders schlafen als zu Hause?« frage ich Anna-Lena. »Möchtest du vielleicht nie mehr zu Hause schlafen?« schiebe ich nach. »Nein« sagt sie gedehnt. Sie schaut mich nachdenklich und ernst an. Schließlich sagt sie: »Wie kommst du denn darauf? Ich mag die Mama doch. Sie soll mich nur nicht immer so anschreien.« Die Mutter kämpft mit den Tränen. Doch dann blitzen ihre Augen wieder: »Die tut doch jetzt nur so lieb. Neulich stand sie mit einem Messer vor mir und bedrohte mich.« Was tun? Jetzt bin ich richtig in der Klemme. Krieg’ ich das heute noch alles geregelt? Oder muss ich dem kinder- und jugendpsychiatrischen Dienst eine Herausnahme vorschlagen? Im weiteren Gespräch können sich beide zunehmend entspannen. Beide lächeln sich sogar kurz an. Anna-Lena frage ich: »Hast du ein Interesse daran, zu lernen, wie du mit der Mama reden kannst, ohne, dass sie schreit?« Ein Seufzer verrät Anna-Lenas Antwort, noch ehe ihr Mund aufgeht. »Aber es wird auch anstrengend für dich, ok?« Das Mädchen wirkt erleichtert und nickt bekräftigend. Und ich merke, dass auch ich erleichtert lächele. Es wird noch eine Reihe engmaschiger Termine bei einem befreundeten Psychologen geben, den ersten schon am folgenden Tag.
33
Beispiel »Anstrengend war er immer schon – jetzt ist er unverschämt und klaut.« Seit der Geburt kenne ich Kevin, jetzt ist er 16 Jahre. Wild war er immer – und ungeheuer sympathisch. Etwa zur Zeit der Einschulung sprach ich mit der Mutter über den Unterschied zwischen temperamentvoll und hyperaktiv. Das kam nicht gut an. Der Kontakt zur Familie wurde für mehrere Jahre unterbrochen. Als wir wieder zusammen kamen, meinte die Mutter: »Ich habe es einfach nicht wahrhaben wollen, was sie mir damals gesagt haben. Aber nach 5 Jahren Schule ist er immer mehr abgefallen und mir ging ein Licht auf.« Die Mutter schildert, dass sie danach mit Kevin 2 Jahre bei einem Spezialisten war und er mit Medikamenten behandelt wurde. Später schaffte er mit Mühe den Hauptschulabschluss. Kevin ließ sich nach der Wiedervorstellung auf eine mehrmonatige Verhaltenstherapie ein. Zunächst war er zuversichtlich und allzeit optimistisch. Nachdem einiger Stress abgemildert war, ließ er die Termine schleifen. Jetzt baten die Eltern um einen dringlichen Termin – allein wollten sie mit mir sprechen. Der Vater legte gleich los: »Er klaut, zwei Lehrverträge wurden schon gekündigt und uns beklaut er auch. Wir müssen alles wegschließen. Er braucht Geld für Zigaretten und Bier. Ich bin in Kurzarbeit und kann ihm nicht mehr Taschengeld geben. Aber sich einen Job zu suchen, dazu hat er auch keine Lust.« Und nach einer kleinen Pause mit bebender Stimme: »Manchmal möchte ich ihn morgens aus dem Bett prügeln, er gammelt nur noch vor sich hin.« In seiner Erregung erzählt der Vater eine lange eigene Geschichte von Gewalterfahrung in der Kindheit. Und ganz wütend: »Wenn ich das sehe, was Kevin uns bietet, denke ich manchmal, es geht nicht ohne Prügel.«
Gewalt zwischen Geschwistern
Gewalt unter Geschwistern wird in ihrer Bedeutung noch weit unterschätzt. Rangeleien sind normal, doch arten sie häufiger in hassbereite Aggression aus als angenommen. Beispiel Brüder, die sich schlagen Sie kommen lachend rein. Wir sehen uns erst zum zweiten Mal, es gibt keinerlei Verlegenheit. Der jüngere von beiden, 14 Jahre alt, war vorgestellt worden wegen massiver Probleme in der Schule – ein Schulverweis war angedroht. Beim ersten Mal war bereits ein intensiver Austausch zwischen den beiden angenehm aufgefallen. Der 14- wie der 16-Jährige konnten im Gespräch sehr nachdenklich und ernsthaft sein. Bei der Begrüßung fällt mir jetzt auf, dass der eine ein Hämatom unter dem rechten Auge hat, der andere eine Verletzung am Nasenrücken. Darauf angesprochen, schildern beide, dass sie sich am Vortag geprügelt hätten. Die Frage, wer angefangen habe, können beide nicht mehr beantworten. Ob das häufiger so gehe, frage ich. »Jetzt war es schon lange nicht mehr.« Sie grinsen einvernehmlich. Der Ältere: »Der soll die Mutter nicht so anbrüllen, wenn er ausrastet.« »Aber mit der kann man doch gar nicht reden.« Plötzlich sind sie sich wieder einig. »Alles und Jedes muss immer so gemacht werden, wie sie das will. Immer nur dieses Gemeckere. Nee, die ändert niemand mehr.« Beide schildern eine lange Geschichte hitziger und auch teils boshafter Auseinandersetzungen in der Familie. Sie haben resigniert, mit ihrer Mutter noch ernsthaft reden zu wollen. Das Gespräch ergibt: Beide wollen weiterhin zu Hause wohnen. Sie lassen sich auf ein Rollenspiel ein: Jeder spielt einmal die Mutter, der andere sagt seine po-
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Kapitel 33 · Jugend und Gewalt
sitiven Gefühle gegenüber der Mutter. Vor allem der Ältere hat keine Probleme, seiner Mutter viele gute Seiten abzugewinnen. Im zweiten Teil wird Durchsetzung geübt: Wie sag’ ich’s so, dass meine Botschaft bei der Mutter ankommt.
Gewalt an Schulen und in Gleichaltrigengruppen
Vielfältig sind die Formen von Gewalt an Schulen. Hurrelmann und weitere Autoren haben dazu wichtige Untersuchungen vorgelegt. »Der Schock von Erfurt« und ähnliche Ereignisse bewirkte bislang mehr Erschütterung als flächendeckende Verbesserung. ! Die wirksamste Gewaltprävention beginnt in der frühen Kindheit und wird im Jugendalter fortgesetzt.
Für Jugendliche ist in der Praxis Hochsaison im Januar und Juli – nicht wegen der Infekte, sondern weil es Zeugnisse gibt. Der Frust mit der Schule ist eine wesentliche Ursache für Gewaltbereitschaft. Und Frust mit der Schule heißt immer auch Stress mit den Eltern. Es sei denn, deren Interesse an ihren Kindern ist inzwischen ermattet und sie lassen nur noch über die Frage des Taschengeldes mit sich reden. Vor allem sozial unsichere Jugendliche suchen Vorbilder, die sie bewundern können. Der Draufgängerische, der rücksichtslos sich Durchsetzende wird zum Vorbild. Die Sprache kann Hinweise geben: »Das war toll, wie er den anderen fertig gemacht hat.« Zu wenig wird an die »stille Gewalt«, das Mobbing, gedacht (7 Abschn. 33.2).
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Beispiel Angela wurde gemobbt, nicht geneckt Sie war 14 Jahre, wach und aufgeschlossen, war schon mal Klassensprecherin. Ob diese herausgehobene Rolle eine Bedeutung für das Mobbing in der Schule hatte, ließ sich nicht mehr herausfinden. Sie kam immer wieder mit Befindlichkeitsstörungen: Mal plagten sie Kopfschmerzen, ein anderes Mal Bauchschmerzen, dann wieder ein unbestimmtes Schwächegefühl. Ausführliche somatische Untersuchungen brachten keine pathologischen Befunde. Ihr Unwohlsein war ein Interaktionsproblem. Ein Schulwechsel und ein videogestütztes Selbstwahrnehmungstraining brachten die Wende. Sie wurde locker, konnte selbstbewusst sagen »Früher war ich...«. Es war ein Spaß, ihrer weiteren Entwicklung zuzusehen.
Mobbing und Gewaltbereitschaft spielen auch in manchen Gleichaltrigengruppen eine große Rolle. Auf dem Feld der gewalttätigen Jugendkriminalität sind Gleichaltrige meist die Opfer jugendlicher Gewalttäter. Die Mitglieder gewalttätiger Jugendbanden werden wohl kaum den Weg in unsere Praxen finden, es sei denn mit einer Unfallanamnese, die vorgetäuscht sein kann. 33.3.5 Was bringen wir mit, um mit Gewalt
umzugehen? Es gibt eine lange Tradition in der Ärzteschaft, sich vor dem Thema Gewalt zu drücken. Die Schweigepflicht wurde höher eingeschätzt in der Güterabwägung, als die angemessene Betreuung durch Offenheit, Hilfe und auch durch Konfrontation. Seit einigen Jahren bessert sich die Situation. Wichtig für die öffentliche Wahrnehmung des Themas war fraglos der Leitfaden für Arztpraxen: Gewalt gegen Kinder und Jugendliche. Er wurde möglich durch Unterstützung der Techniker Krankenkasse. Bundesweit
wurden Regionalausgaben den Praxen kostenlos zur Verfügung gestellt. Seither kann niemand mehr sagen »Habe ich nicht gewusst, dass Hämatome in Form von Doppelstriemen auf Misshandlung hindeuten.« Gewalterfahrungen ‒ sei es als Opfer oder Zeuge – zählen zu den häufigen Ursachen, die krank machen. Auf interdisziplinären Fachtagungen – ich nenne stellvertretend den Deutschen Präventionstag ‒ sind Kinder- und Jugendärzte jedoch weiterhin Exoten. Nach den Gynäkologen und den Hebammen haben wir den frühesten Kontakt zu allen, die geboren werden. Und – mit Chance – betreuen wir sie, bis sie Autos fahren dürfen und voll strafmündig werden. Uns steht eine riesige Lebensspanne zur Verfügung, um Familien zu verstehen. In der Gewaltprävention ist die Vernetzung von Vorschulerziehern, Lehrern, Kinder- und Jugendärzten und allen, die in der Jugendarbeit tätig sind, unentbehrlich. Unser großes Kapital ist die Möglichkeit einer langen Beziehungsgeschichte. Die Vorteile einer Beziehungsgeschichte zu Jugendlichen
Jugendliche sind anders. Vor allem empfinden sie sich als anders, als die Umwelt sie versteht. Mit Beginn der Pubertät beginnt die große Zeit des Nein-Sagens, des sich Abschottens und der großen Widerborstigkeit. Viele Eltern können in dieser Phase liebevoll mitgehen ‒ ein Teil von ihnen kann es nicht. Diese fühlen sich überfordert durch ein ständiges Kontra, Nein-Sagen und die Demonstration von Desinteresse und offener Ablehnung. Dem haben manche Eltern wenig entgegen zu setzen. Viele Jugendliche vergessen vor lauter Opposition, dass sie auch eine gute Vorgeschichte mit den Eltern haben. In dieser Situation haben wir die Chance einer Vermittlung. Das Vertrauen ist in der Regel auf beiden Seiten ausreichend, sodass wir auch getrennte Gespräche mit Eltern und Jugendlichen vereinbaren können, ohne dass die Jugendlichen darin eine Intrige wittern. Offenheit und Transparenz der Abmachungen ist wichtig. Jugendliche möchten in ihren Autonomiewünschen ernster genommen werden. Wir müssen lernen, auch mit jenen umzugehen, die selbst keinen positiven Ausgang ihrer Konflikte mehr sehen. 33.3.6 Was kann uns helfen? Das Wichtigste scheint mir die Beziehungsarbeit, ohne die ein präventives oder therapeutisches Bündnis nicht entstehen kann. Beziehungsarbeit beginnt mit der Begrüßung, deren Bedeutung oft aus Gedankenlosigkeit unterschätzt wird. Gefühle der Antipathie, der Ambivalenz oder der Aufgeschlossenheit entscheiden sich oft in Sekunden. Dabei können wir für schlechte Erfahrungen, die die Jugendlichen mit Erwachsenen gemacht haben, in Sippenhaft genommen werden. Dass trotz Skepsis Jugendlicher und der Angst des Doktors vor der Null-Bock-Stimmung offene Gespräche entstehen können, zeigt die Bilderserie in . Abb. 33.1. Für Kommunikation mit Jugendlichen ist eine Langsamkeit im Gespräch wichtig, die in der Regel nicht vom Gegenüber erwartet wird. Alles Unerwartete in unserem Verhalten macht nachdenklich und erhöht die Aufmerksamkeit. Die Jugendlichen rechnen mit vielen Fragen und Aktionen, wenn sie zu uns kommen. Nehmen wir sie erst mal in freundlicher Gelassenheit wahr, so sieht man oft eine Lockerung der anfangs starken Signale störrischer Ablehnung. Unsere Anerkennung der Autonomiewünsche des Jugendlichen ist von zentraler Bedeutung. Dies erfordert keine gut geüb-
293 33.3 · Gewaltprävention – Gewalt gegen und durch Jugendliche
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Initiative und biographischen Zufällen ab, ob sie dieses Defizit ihrer Ausbildung im Nachhinein korrigieren können. Die vielen Teilnehmer der Seminare über Gesprächsführung auf den Kongressen für Jugendmedizin in Weimar zeigen, wie stark dieses Defizit gespürt wird. Doch selbst die besten Experten können in nur 90 Minuten wenig vermitteln.
Tipp Für eine Verbesserung der Wahrnehmung kann ich alle videounterstützten Trainings empfehlen. Übt man, sein Gegenüber besser wahrzunehmen, bessert sich zugleich die Selbstwahrnehmung.
»Was können wir denn schon wirklich bewirken?« Dieser Satz eines befreundeten, sehr engagierten Kinder- und Jugendpsychiaters kommt mir immer wieder in den Sinn. Ich habe erwidert: »Sie Ärmster, haben ja nur die Therapie, wir haben die Möglichkeiten der Prävention und Frühintervention. Da sind die Problematischen noch halbwegs erreichbar.« Im Umgang mit den Schwierigsten ist mit Sätzen wie »Mach doch mal…«, »Denk doch mal daran…«, oder »Tu doch mal…« nicht viel zu erreichen. Zuerst gilt es, genau zu erfassen, wie Jugendliche ihre Befindlichkeit und ihr Verhalten schildern. So werden Selbsteinschätzung und Selbstwertgefühl deutlich. Durch positives Uminterpretieren kann eine neue Nachdenklichkeit entstehen, zu der der Angesprochene selbst nicht fähig ist. ! Schwierige Jugendliche, alle gewaltbereiten gehören dazu, sind sehr geübt darin, gute Ratschläge abzuschmettern.
33.3.7 Wer kann uns helfen?
. Abb. 33.1. Zwischen Skepsis und Offenheit
ten Sätze, sondern eine individuelle Feinfühligkeit. Erst so kann unsere Frage »Wie geht es dir?« als ernst gemeinte Frage nach der tatsächlichen Befindlichkeit verstanden werden. Das Gespräch muss Gelegenheit geben, über Gefühle zu sprechen. Die Wahrnehmung des Gesprächspartners ist eine fundamentale Vorraussetzung für das Zustandekommen einer wirklichen Kommunikation. Ärzte sind in diesem Punkt oft schlecht ausgebildet. Es hängt dann weitgehend von ihrer persönlichen
Berufliche Nachbarn mit ihrem Fachwissen helfen. Schaffen wir uns als Kinder- und Jugendärzte also mit beruflichen Nachbarn Gesprächsgelegenheiten. Natürlich geschieht das längst auf Kongressen. Das Ergebnis der Fortbildung hängt jedoch auch von der Art der Veranstaltung ab. Lässt man sich auf schwierige Themen wie das der Gewalt und ihrer Prävention ein, so sind Seminare Erfolg versprechender als Frontalveranstaltungen. Erst mehrstündige Seminare ermöglichen eine interaktive Fortbildung. Lesen ist immer noch eine preiswerte Fortbildung. Die Erfahrungen der beruflichen Nachbarn im Umfeld der eigenen Praxis können wir uns zu Nutze machen. In besonders intensiver Form findet dies an sog. Runden Tischen statt. Darüber hinaus können wir uns an Politikberatung beteiligen durch Mitarbeit in interdisziplinären Arbeitsgruppen ‒ notfalls durch Selbsteinladung. Der Umgang mit den Schwierigsten ist am effektivsten durch interdisziplinäre Zusammenarbeit (7 Kap. 42).
Das Wichtigste in Kürze 5 Gewalt wird vor allem in der Familie gelernt. 5 Kinder- und Jugendärzte haben die längste Beziehungsgeschichte zu Familien, ihren Kindern und Jugendlichen. Damit haben sie auch besondere Chancen der Prävention und Frühintervention.
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Kapitel 33 · Jugend und Gewalt
5 Jugendliche mit aktiver oder passiver Gewalterfahrung haben oft ein negatives Selbstkonzept. 5 Jugendliche nehmen uns in Sippenhaft für ihre schlechten Erfahrungen mit Erwachsenen. 5 Das Wichtigste für den Umgang mit Fragen der Gewalt ist die Qualität der Beziehung. 5 Der Umgang mit Gewalterfahrung braucht interdisziplinäres Vorgehen. 5 Für die Fortentwicklung unserer kommunikativen Fähigkeiten ist videogestütztes Training der Wahrnehmung und Selbstwahrnehmung das Effektivste. 5 Interdisziplinäre Fachtagungen zu Fragen der Gewalt, wie der Deutsche Präventionstag, können von unseren Erfahrungen als Kinder- und Jugendärzte profitieren. 5 Knüpfen wir Verbindungen zu Kinderschutz-Zentren, Beratungslehrern, Schulpsychologen, Kinder- und Jugendpsychiatern, Psychotherapeuten und zu auf Jugendliche spezialisierten Gynäkologen! Ein Rechtsanwalt, der sich im Jugendstrafrecht auskennt, kann ein neuer Konsilarius werden. 5 Befassen wir uns mit der Gewaltbereitschaft Jugendlicher, helfen wir, den Zyklus der Gewalt zu durchbrechen! 5 Die Jugendlichen von heute sind die Mütter und Väter von morgen. Werden Sie fähig sein zu einer gewaltfreien Erziehung ihrer Kinder?
Literatur
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Internetadressen http://www.agj.de: Arbeitsgemeinschaft für Jugendhilfe: Viele Anregungen für die Kooperation zwischen Jugendmedizin und Jugendhilfe http://www.bka.de: Bundeskriminalamt, z. B. für die Daten der Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) http://www.bke.de: Bundeskonferenz für Erziehungsberatung: Übersicht über Beratungsstellen. Zahlreiche Fortbildungsangebote http://www.dfk.de: Deutsches Forum Kriminalprävention: Daten und Links zur Kriminalprävention. Sehr gut gepflegte Website http://www.dji.de: Deutsches Jugendinstitut: Arbeitsstelle zur Kinder- und Jugendkriminalitätsprävention, Materialien zur Lebenssituation Jugendlicher, Hervorragende Transparenz der Ansprechpartner http://www.dksb.de: Deutscher Kinderschutzbund: Kümmert sich auch um Jugendliche und ihre Eltern. Viel Kompetenz im Umfeld unserer Praxen http://www.Dr-Jansen.de: Wahrnehmungstraining uns Verhaltenstherapie – sehr nachhaltig http://www.kfn.de: Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachsen: Übersicht über den Stand der Forschung zur Gewalt unter Jugendlichen, nützliche Downloads http://www.kinderschutz-zentren.org: Kinderschutzzentren: Interdisziplinäre Fachtagungen, Arbeitsmaterialien http://www.bildungsserver.de: Deutscher Bildungsserver, eine riesige Fundgrube. http://www.bkipp.de: Berufsverband der Kinder- und Jugendpsychiater und Psychotherapeuten. Viele Informationen, viele hilfreiche Links Suchmaschinen geben zum Stichwort Gewaltprävention mehr als 30.000 Hinweise.
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34
34 Verhaltensauffällige Jugendliche K. Skrodzki, M. Endres, S. Moisl, S. Wolf, D. Schlamp
34.1
Jugendliche mit ADHS
K. Skrodzki )) Polizei, Feuerwehr und Notarzt werden gerufen: Ein Jugendlicher droht, sich in die Luft zu sprengen. Der 17-jährige André hat sich mit selbst gebasteltem Sprengstoff in seinem Zimmer eingeschlossen. Er geht in die letzte Klasse des Gymnasiums, ist intelligent, hat aber schlechte Schulnoten. Erst kurz zuvor war er von der Polizei nach Hause gebracht worden, weil er beim Sprayen erwischt worden war. Da er seine Mit-Sprayer nicht preisgeben will, stellt die Bundesbahn erhebliche Schadenersatzforderung an seine Familie. Als sein Vater heute bei der Zulassungsstelle die Genehmigung zur Führerscheinprüfung abholen wollte, André steht kurz vor der Prüfung, wird diese verweigert mit der Begründung, dass er vor einem halben Jahr mit Ecstasy erwischt worden sei und für einen längeren Zeitraum keine Führerscheinzulassung erhalten werde. Als André das hört, droht er sich in die Luft zu sprengen, weil ihm sowieso alles misslingt. Erst nach 3 Stunden gelingt es der Polizeipsychologin, ihn zum Aufgeben zu bewegen. André hat eine ADHS.
Bei Jugendlichen mit einer ADHS führen Schwäche der Impulskontrolle, geringe Ausdauer und eingeschränkte psychische und emotionale Belastbarkeit zu Problemen in Schule, Beruf und Alltagsbewältigung. Ihr Verhalten ruft Krisen in Familie, Partnerschaft und im Sozialverhalten hervor. Ihre Persönlichkeit ist geprägt von niedrigem Selbstwertgefühl, oftmals überspielt durch clownhaftes und provokantes Verhalten.
34.1.1
Häufigkeit
ADHS ist die häufigste Verhaltensstörung im Kindes- und Jugendalter weltweit. Betroffen sind in Deutschland rund 5%, das bedeutet 500.000 Kinder und Jugendliche zwischen 6 und 18 Jahren. ADHS kommt aber in allen Altersgruppen vor und wir wissen heute, dass etwa 50% der Betroffenen auch im Erwachsenenalter weiterhin Probleme haben.
34.1.2
Erscheinungsbild
5 5 5 5 5
Unruhe Motivationsschwäche Fehlendes Zeitgefühl Fehlende Anpassungsfähigkeit Anderer Wahrnehmungsstil
Impulsivität
Jugendliche sind in der Pubertät aufbrausend, reagieren schnell und unüberlegt, mit einer ADHS ist diese Impulsivität jedoch exzessiv, dauerhaft und ständig störend. Beispiel Bei einem Dia-Vortrag über Norwegen springt die 15-jährige Tanja auf und korrigiert den Vortragenden in harschen Worten, um dann ausgiebig vom eigenen Norwegen-Erlebnis zu berichten.
Sie reagieren auf Reize, ohne die Situation zu bedenken und sagen und tun das, was ihnen jetzt im Augenblick in den Sinn kommt. Der Bedeutungshintergrund einer Situation, der Tätigkeit oder der Aussage wird nicht bedacht. Beispiel »Ich überlege nicht, bin nicht diplomatisch und knalle den anderen, was ich meine, vor den Latz«, sagt der 14-jährige Stefan.
Geld brennt förmlich in ihrer Tasche und muss sofort ausgegeben werden und die neue Telefonkarte ist nach einem Tag verbraucht. Auch die Folgen und Konsequenzen einer spontanen Aussage werden nicht bedacht. Beispiel So erzählt Toni spontan dem Gesprächspartner alles, was ihn gerade ärgert, wie ungerecht er sich behandelt fühlt und auch die schlechte Meinung über den Chef, ohne daran zu denken, dass der andere es vielleicht weiter tragen könnte und es damit zu einer schlechten Beurteilung oder sogar zu einer Kündigung führen könnte. Die Impulsivität geht so weit, dass Kai nach einer Frage des Lehrers aufspringt, über alle Tische und Bänke und die Klassenkameraden hinweg zur Tafel läuft und das Ergebnis hinschreibt – aus lauter Begeisterung, dass er dieses eine Mal etwas weiß. Die 16-jährige Jane spricht völlig fremde Menschen an, mischt sich in deren Gespräch ein und gibt ungefragt und unüberlegt ihre Meinung dazu kund.
Automatischen Hemmungsmechanismen, die üblicherweise in diesem Alter längst erlernt wurden, werden durch den Drang nach sofortiger Bedürfnisbefriedigung ausgeschaltet. Es herrscht die »Macht des Augenblicks« (Barkley 2002).
Symptome
Aufmerksamkeitsschwäche/Ablenkbarkeit
5 Impulsivität 5 Kurze Aufmerksamkeitsspanne/Ablenkbarkeit
Eine kurze Aufmerksamkeitsspanne mit hoher Ablenkbarkeit führt zu Lernstörungen: Es fehlt die Geduld, sitzen zu bleiben und länger zu zuhören. Die Filterschwäche bei gleichzeitiger Reizoffenheit lässt sie alles, was um sie herum vorgeht, wahrnehmen,
6
296
Kapitel 34 · Verhaltensauffällige Jugendliche
ohne diese Reize jedoch im Einzelnen zu bewerten. Jedes neue Geräusch, jedes Bild, jede Aussage hat einen hohen Aufforderungscharakter und sorgt für sofortige Hinwendung. Dieses kurze Verweilen bei einer Aufgabe sorgt dafür, dass Fakten aus dem Kurzzeitgedächtnis, die eben aufgenommen wurden, nicht weitergeleitet werden an den Langzeitspeicher und damit nicht zur Verfügung stehen, wenn sie später wieder gebraucht werden. Beispiel Der 16-jährige Daniel: »Es kommt so viel von allen Seiten. Ich muss überall zuhören, hinsehen, hinfassen. Mir platzt fast der Kopf.«
wie lang das war, sagt er »eine halbe Stunde«. Und auf die erstaunte Nachfrage, »Wie lange?« »Oder eine dreiviertel Stunde?«
Es fehlt ihnen die Vorstellung vom Zeitbedarf. Ihre »executive functions«, die für Organisation und Durchführung, Planung von Zeit- und Reihenfolgen sorgen, sind ganz schlecht ausgebildet. So können sie Erfahrungen aus der Vergangenheit nicht auf die Zukunft übertragen (Barkley 2002). Für sie ist das Leben eine Serie äußerst aufregender Ereignisse oder aber entsetzlich langweilig. Sie leben stets im Hier und Jetzt (Neuhaus 2002). Damit fehlt ihnen Rücksicht und Vor(aus)sicht und v. a. Übersicht.
Motorische Unruhe/Hyperaktivität
Unruhe und Hyperaktivität sind im Jugendlichenalter nicht mehr so ausgeprägt wie im Kindesalter. Aber die weiterhin schwache Körperkontrolle sorgt für Fingertrommeln, Stuhlkippeln, Hinund Herrutschen auf dem Stuhl, Kritzeln und Fummeln. Beispiel Der 17-jährige Christian sagt: »Ich muss immer mit den Fingern sehen.«
Beispiel Der 18-jährige Jens ist Meister im Trödeln. Nach 3-maligem Wecken und den üblichen mehrfachen Aufforderungen zum Waschen und Zähneputzen will ihn die Mutter eiligst zum Schulbus schicken, aber Jens sitzt noch unangezogen im Bad und fönt sich nach dem Duschen die Beine trocken. Seit 20 Minuten! Und gerade brennt der Fön überhitzt durch.
Anpassungsfähigkeit
34
Sie nesteln an sich selbst herum und kauen an ihrer Kleidung, müssen plötzlich aufstehen und herumlaufen und ihre Körperkraft kann nicht richtig dosiert werden.
Psycho-soziale und seelische Entwicklung ist bis zu einem Drittel verzögert (Barkley 1997). Bei Ehrlichkeit und Direktheit fehlt die Überlegung, ob Zeit, Situation und Gegenüber passend sind.
Beispiel Die Mutter des 14-jährigen David sagt: »Alles, was er in die Hand nimmt, geht kaputt. Der Staubsauger, der Zirkel und der Walkman. Einfach so, ohne dass er etwas tut!« Ihr ständiges Reden, zum Teil verbunden mit Geräuschen, nervt und stört. David, 16 Jahre, redet ununterbrochen. Er hört überhaupt nicht hin, wenn ein anderer etwas sagt. Oft spricht er Sätze einfach rückwärts oder wiederholt ununterbrochen »muff puff duff – duff puff muff.« Häufig sind auch Gedankensprünge und extreme Stimmungsschwankungen: Auf eine Frage des Lehrers zu Hannibals Alpenüberquerung springt Steffen auf und berichtet über seine Snowboard-Erlebnisse am Splügen-Pass. Ein für sie anscheinend falsches Wort sorgt bei Sigrid dafür, dass sie – vorher eine umgängliche, liebenswerte und heitere Gesprächpartnerin – schlagartig verbal aggressiv wird und ordinär in ihrer Wortwahl entgleist.
Beispiel Als Gerhard zum wiederholten Mal zu spät zur Arbeit kommt und der Meister ihn zur Rede stellt, motzt er unwirsch zurück: »Sie kommen doch auch immer erst 20 Minuten später!«
Motivationsschwäche
Typisch im Pubertätsalter ist Antriebsarmut ‒ Null-Bock-Mentalität. Jugendlichen mit ADHS sind ständig auf dem Sprung, tun aber nichts. Die häufigsten Fragen auf eine Anforderung ist: Jetzt?, Wozu?, Warum ich?, Wieso? Und ihre häufigsten Antworten auf Forderungen sind: Jetzt nicht!, Gleich!, Später. »Du musst noch die Blätter im Garten zusammenrechen.« »Alle?« Für selbstgewählte Aufgaben sind die Motivation und der Einsatz jedoch so hoch, dass sie mit Hartnäckigkeit und Ausdauer alles schaffen und sogar gegen den Willen der Erwachsenen durchsetzen.
In ihrer Egozentrik sehen sie nur sich selbst. Die Wünsche anderer können bei eigenem Bedürfnis nicht erkannt und beachtet werden, trotz ihrer sonst durchaus vorhandenen hohen Sensibilität. So ist ihr Verhalten abhängig von Emotionen, Sympathien und Personenbezogenheit. Beispiel Matthias möchte ins Kino und überredet eine Freundin mit Führerschein, mit ihm hinzufahren. Sie muss aber kurzfristig absagen, weil ihre Mutter erkrankt. Matthias beschimpft sie heftigst als unzuverlässig und gemein. Seit Silke einen neuen Lehrer hat, sind ihre Noten von 5 auf 2 gestiegen. »Der ist ja sooo süß!«
Alltagsaufgaben, von kleineren Kindern selbständig durchgeführt (Waschen, Zähneputzen, Kleiderwechsel) müssen immer wieder angemahnt werden. Und wenn sie nach vielen Aufforderungen endlich duschen, dann endlos. Hefte, Mappen, Arbeitsblätter sind in katastrophalem Zustand. Das Berufsschulheft wird nicht geführt, verloren oder zerrissen. Das Handwerkszeug vergessen, das Werkzeug anderer benutzt, nicht wieder zurückgegeben, schmutzig liegen gelassen. Zimmer und Schreibtisch sind ein einziges Durcheinander von Arbeitsmaterial, Spielzeug, CDs, Comics und Abfall.
Fehlende Zeitvorstellung/-planung
Ihr »Defekt« im Zeitgefühl macht den Alltag schwierig. Beispiel Der 15-jährige Jonas, er ist Gymnasiast, soll bei der Untersuchung 1 Minute mit geschlossenen Augen stehen bleiben. Danach gefragt,
Beispiel Auf die Ermahnung des Psychologen, die Selbständigkeit zu fördern und den eigenen Bereich der Jugendlichen zu akzeptieren, betreten die Eltern das Zimmer von Carla nicht mehr, bis schließlich dicke weiße Fliegenmaden unter der Zimmertür hervorkriechen.
297 34.1 · Jugendliche mit ADHS
Besonderheit der Wahrnehmung
Ihre Wahrnehmung ist oft anders. Im Sommer wird der dickste Rollkragenpullover getragen und im Winter T-Shirts und Sandalen. Körperlicher Kontakt, z. B. eine leichte Berührung im Vorübergehen, wird als Rempeln empfunden und das leichte Anstoßen des ungeliebten Banknachbarn mit heftigstem Wehgeschrei quittiert. Panische Angst vor Impfungen und Spritzen stehen im Gegensatz zu blauen Flecken und Beulen beim Sport, die nicht registriert werden. Einige Jugendliche reagieren ungewöhnlich stark auf Geruch und Geschmack. Beispiel Der 16-jährige Tobias sagt zur Lehrerin während der Englischarbeit: »Ihr neues Parfüm ›White Linnen‹ passt aber gut zu Ihnen.« Der 15-jährige Fred kommt ins Klassenzimmer: »Pfui, hier stinkt’s nach altem Hering!« und übergibt sich. Kein anderer hat etwas gerochen, aber später findet sich im Papierkorb ein altes Heringsbrötchenpapier.
34
Beurteilung »faul und unfähig«. Manche wirken nur verträumt, abwesend und gelten als »Trantüte« und machen sich lächerlich bei Lehrern und Gleichaltrigen. Ihre miserable Schrift, die schreckliche Heftführung, fehlendes Ordnungsverhalten, nicht zu Ende gebrachte Aufgaben und unpassende Beiträge lassen sie das Klassenziel oder die Ausbildung verfehlen. Häufig wird die Schule mehrfach gewechselt und Ausbildungen abgebrochen. Geschwister und Eltern
Ununterbrochenes Triezen der Jüngeren, fehlender Respekt vor den Gefühlen, dem Eigentum und dem Bereich der Geschwister bringt diese zur Weißglut. Sie beanspruchen die Eltern mehr als ihre Geschwister, benötigen sehr viel mehr Zeit und Hilfe, fühlen sich aber dennoch ständig benachteiligt. Eltern müssen diese Jugendlichen, die sich selbst so erwachsen fühlen, immer wieder beaufsichtigen und antreiben oder bremsen und das Fehlverhalten ausbügeln bei Lehrern, Nachbarn und Geschwistern. Eltern empfinden sie als »erziehungsresistent«.
Umgang mit anderen Menschen
Ihre Besonderheit führt zu Sozialstörungen im Umgang mit anderen Menschen. Gleichaltrige
Durch Gleichaltrige, die ihre psychosoziale Entwicklungsverzögerung empfinden, werden sie abgelehnt, daher suchen sie ältere Vorbilder und Jüngere, um »Chef« zu spielen. Dieses »Besitzergreifen« können sie auch in der Gruppe nicht ablegen und nerven durch Dauerreden, Übersehen der Bedürfnisse der Anderen, können nicht Zurückstecken und machen sich wichtig. Andererseits sind sie leicht beeinflussbar und machen unüberlegt bei jedem dummen Streich mit. Sie erkennen Gefahren nicht und es fehlt die Cleverness, sich rechtzeitig zurückzuziehen. Verabredungen und Zeiten werden vergessen und als Freunde finden sie nur ähnliche Chaoten. Die Freundschaften anderer versuchen sie sich zu erkaufen. Das andere Geschlecht
Mit jeder neuen Freundin, jedem neuen Freund beginnt eine extreme Berg- und Talfahrt der Gefühle. Die Liebe führt fast zum Verschmelzungswunsch: Die Verbindung und Nähe muss ständig und überall demonstriert werden, auch wenn der Partner das nicht unbedingt will. Sie verlangen die völlige Selbstaufgabe des Partners, empfinden aber eine solche Einengung für sich selbst als Zumutung. Und sie erwarten absolute, ständige und dauerhafte Hingabe. Häufig kommt es zur frühzeitigen Schwangerschaft, aber auch zum schnellen Partnerwechsel.
Fremde
Im Zusammentreffen mit Fremden wirken diese Jugendlichen zunächst ausgesprochen höflich, umgänglich und mit ihren guten Ideen sogar interessant. Sie zeigen sich von ihrer besten Seite und finden sofort Kontakt. Oft erzählen sie diesen Fremden allerdings ohne Zögern Intimes und nicht für fremde Ohren Bestimmtes. Daher wirken sie bald distanzlos, nervend, unreif und, da sie besitzergreifend und penetrant anhänglich sind, schnell lästig. Positive Seiten
Ihre Vielfalt (. Tab. 34.1) zeigt sich bei ihren Hobbys: Reiten, Angeln, Dinosaurier, Sterne, das Wetter, die später eventuell eine Chance für eine Berufsausbildung sein können: Pferdewirt, Fischwirt oder gar Paläontologe. Ihre spontane Hilfsbereitschaft
. Tabelle 34.1. Positive Eigenschaften Filterschwäche
Vielfalt
Impulsivität
Begeisterungsfähigkeit Hilfsbereitschaft
Sprunghaftigkeit
Kreativer Ideenreichtum Kontaktfreude
Unruhe
Unermüdlichkeit
Überempfindlichkeit
Sensibilität Gerechtigkeitssinn
Sozialprobleme
Liebe zu Natur und Tier
Chaos
Interessierte Offenheit
Lehrer und Ausbilder
Mit ihrer vorlauten Art, ständigem Dazwischenreden, nicht warten können und dem falschen Ton stören sie Unterricht und Ausbildung. Unpünktlichkeit und schlechte Leistungen führen zur . Abb. 34.1. Auszug aus einem Dankschreiben der Polizeiinspektion an den 17-jährigen Franz
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Kapitel 34 · Verhaltensauffällige Jugendliche
34.1.4
Ursachen
Faktoren 5 Genetische Faktoren: Störung im Neurotransmittersystem 5 Unterschiede des Gehirns in Struktur und Funktion 5 Familiäre Faktoren: Wärme, Struktur, Konsequenz, Konsistenz 5 Umweltfaktoren: pädagogisch-soziales Umfeld
. Abb. 34.2. Auszug aus einem Kalenderblatt
(. Abb. 34.1) lässt sie später Helferberufe ergreifen: Sanitäter, Polizist, Feuerwehrmann. Mit ihrer besonderen Wahrnehmung entdecken sie Dinge, die anderen nicht auffallen. Sehen Sie sich das Kalenderblatt (. Abb. 34.2) an, ob Ihnen da etwas auffällt. Einzig der 15-jährige Christian bemerkte es während einer körperlichen Untersuchung: »Seit wann gibt es denn einen 39. Dezember?«
34.1.3
Definition/Klassifikation
ADHS
34
ADHS liegt vor, wenn folgende Symptome ausgeprägt sind, nicht dem Alter und Entwicklungsstand entsprechen und auftreten: 5 Aufmerksamkeitsschwäche 5 Impulsivität 5 Motorische Aktivität Und wenn sie: 5 vor dem 7. Lebensjahr, 5 in mehr als einem Bezugssystem (Elternhaus/Schule) und 5 länger als 6 Monate anhalten.
Die Klassifikation der ADHS erfolgt nach ICD 10 (Einfache Aufmerksamkeits- und Hyperkinetische Störung F 90.0; Hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens F 90.1) oder nach DSM IV (Untergruppen: Mischtyp; vorwiegend hyperaktiv-impulsiver Typ; vorwiegend unaufmerksamer Typ). Der »vorwiegend unaufmerksame Typ« – auch »ADS« genannt, wird bei ICD 10 oft nicht erfasst, ist aber mit F 90.8 zu klassifizieren.
Genetische Faktoren führen zu einer veränderten Informationsverarbeitung zwischen Frontalhirn und Basalganglien, mit mangelnder Impulshemmung und geringer Selbstregulation. Daraus folgt eine stärkere Vulnerabilität gegenüber Umweltfaktoren. Zu den Risikofaktoren gehören prä-, peri- und postnatalen Komplikationen. So sind Kinder mit einer ADHS häufiger Frühgeborene, haben mehr rauchende Mütter und öfter Väter mit einer Alkoholanamnese (Heiser u. Smid; Konrad u. Herpertz-Dahlmann 2003). Elterliches Verhalten – in etwas 30% ist ein Elternteil selbst von ADHS betroffen ‒, Bildungs- und Sozialstatus, Wohnumfeld, Schule, Lehrer und Arbeitsbetrieb beeinflussen die Ausprägung der Störung negativ oder positiv.
34.1.5
Lebenslauf
Schon im Säuglingsalter finden sich Regulationsstörungen wie Schlaf-, Fütter- und Schreistörungen. Sie stören frühzeitig die Eltern-Kind-Interaktion (Papouèek 2002). Im Vorschulalter steht die Hyperaktivität, d. h. ständige motorische Unruhe in Verbindung mit Unaufmerksamkeit und Impulsivität, mit häufigen Unfällen im Vordergrund, im Schulalter die Unaufmerksamkeit, mit Impulsivität, Vergesslichkeit, schlechter Schrift und unruhig-störendem Verhalten. Insbesondere Mädchen fallen oft weniger durch Hyperaktivität auf, als durch ausgeprägtes Tagträumen und emotionale Labilität. Ihre ADS wird erst später oder gar nicht diagnostiziert (Neuhaus 2002)! Sowohl bei ADHS als auch bei ADS treten Hausaufgabenprobleme und die Kombination mit Lern- und Leistungsstörungen gemeinsam auf (Skrodzki 1999). Im Jugendlichenalter herrschen Impulsivität, fehlende Organisation und schlechte schulische Leistungen vor.
34.1.6
Risiken
Risiko im Alltagsleben ist die Unfallgefahr, die 4-mal so häufig und in ihren Auswirkungen 3-mal so schwer ist (Grützmacher 2001). Das Schulversagen hat Auswirkungen auf die späteren Berufsmöglichkeiten. Frühes Rauchen, Alkohol, Klauen, Kiffen, Sprengkörper basteln, S-Bahn-Surfen und verbotene Orte besuchen haben einen hohen Reiz ‒ Selbststimulation, nach der besonders Jugendliche mit ADHS lechzen. Ihr Neugierverhalten, ihre hohe Beeinflussbarkeit macht sie in der Gruppen leichter zum Diebstahl und zum Vandalismus verführbar. Wolfgang war erstmals dabei. Es sollte eine Mutprobe für die Aufnahme in die Clique werden. Erst am nächsten Tag wurde er sich der Folgen bewusst (. Abb. 34.3). Mädchen hingegen haben ein hohes Risiko, frühzeitig schwanger zu werden.
299 34.1 · Jugendliche mit ADHS
34
te des Kindes ist die Diagnose« (Barkley 1997). Quelle sollten sowohl Eltern als auch Lehrer, Ausbilder, Erzieher und alle sein, die mit diesen Jugendlichen zu tun haben. Fragebögen, vorab ausgefüllt von den Bezugspersonen, erleichtern die Anamneseerhebung. Eine sorgfältige Verhaltensbeobachtung und eine neurologische Untersuchung ergänzen das Bild. Psychologische Tests können helfen, Intelligenz, Ausdauer und Aufmerksamkeit zu beurteilen. Spezielle Probleme der Diagnostik im Jugendalter Die Diagnosekriterien von ICD 10 und DSM IV wurden für 6bis 12-Jährige entwickelt. Die Jugendlichen selber haben häufig keine Problemeinsicht. Meist werden sie gegen ihren Willen von den Eltern zum Arzt oder Psychologen »geschleppt« und ihre Angaben sind oft pubertäts- und durch die ADHS bedingt realitätsfern.
. Abb. 34.3. Zeitungsausschnitt: »Mutprobe«
34.1.7
Diagnostik
Beispiel Der 17-jährige Robert kommt mit der Mutter ins Sprechzimmer, er lümmelt sich auf den Stuhl. Auf die Frage: Wie es geht? antwortet er: »Gut.« Ob es Probleme gibt? »Keine.« Die Mutter kann sich nur mühsam beherrschen: »Und in der Schule?« »Bestens!« Die Mutter springt auf: »Mensch, dich haben sie doch gestern von der Schule geschmissen!« »Ach so, das meinst du.« Oder die Aussagen sind wenig aufschlussreich, wie die des 15jährigen Fabian. Auf die Frage: »Wie geht’s?« »Weiß nicht.« »In der Schule?« »Die Lehrer nerven.« »Was machst du gern in der Schule?« »Pause.« »Und in der Freizeit?« »Vor der Glotze hängen.«
Die Diagnostik bei ADHS ist zeit- und arbeitsaufwändig.
ADHS-Diagnostik auf einen Blick 5 Anamnese aus verschiedenen Quellen (Eltern, Lehrer, Erzieher) 5 Neurologische Untersuchung 5 Psychologische Tests (Intelligenz, Ausdauer, Aufmerksamkeit) 5 Ausschluss anderer Erkrankungen 5 Bei Bedarf: Hör- und Sehtest, Blutwerte, EEG, EKG
Grundlage sind die Standards nach DSM IV und ICD 10 und die Leitlinien der Fachgesellschaften.
Leitlinien der Fachgesellschaften 5 Leitlinie der AG-ADHS der Kinder- und Jugendärzte: http://www.uni-duesseldorf.de/WWW/AWMF/ll/071-006. htm 5 Leitlinie der Kinder- und Jugendpsychiater: http://www.uni-duesseldorf.de/WWW/AWMF/ll/028-019. htm 5 Leitlinie der Psychiater: http://www.uni-duesseldorf.de/WWW/AWMF/ll/038-014. htm
Es gibt bislang keine Möglichkeit, durch Blut- oder technische Untersuchungen (PET, fMRT, SPECT) oder psychologische Tests die Diagnose zu sichern. Stets ist es eine klinische Diagnose mit der Anamnese als wichtigster Grundlage: »Die Geschich-
Eltern erleben die Jugendlichen oft kaum noch zu Hause und können so wenig zur Beschreibung des akuten Zustandes beitragen, Aussagen anderer Beobachter sind mühsam zu erhalten: Lehrer wechseln stündlich, Arbeitgeber und Ausbilder sind oft zur Auskunft nicht bereit oder auch nicht fähig, und die Eltern haben Angst nachzufragen, aus Sorge um den Arbeitsplatz. Testungen werden gelegentlich bewusst boykottiert oder manipuliert. Viele können oft gut schauspielern und nutzen die Testsituation als Bühne und wissen ganz genau, was man hören will. Es muss ausreichend Zeit für das alleinige Gespräch mit dem Jugendlichen zur Verfügung stehen – eventuell nach ausgiebiger Anamnese mit den Eltern allein. Jugendliche müssen das Gefühl haben, dass man sie anhört und ernst nimmt. Unbedingt vermeiden sollte man jegliches Moralisieren, aber auch Anbiederung. Aussagen und Berichte von anderen Stellen, Zeugnisse, Beurteilungen helfen. Beispiel Das pädagogische Gutachten eines Sonderschullehrers: »Es zeigte sich ein Schüler, der keine Ausdauer bei der Erledigung von Aufgaben hatte, der scheinbar nicht zuhörte, der nicht bei der Sache bleiben konnte, der erhebliche Probleme hatte, Aufgaben zu organisieren, der Gegenstände verlegte oder verlor, der stark ablenkbar war, der schnell vergaß und der plötzlich von etwas ganz anderem sprach. Weiterhin zeigte der Schüler im sozialen Verhalten ein deutlich niedriges Selbstwertgefühl, das durch ein deutlich übersteigertes Imponiergehabe kompensiert wurde, was ihn aber gleichzeitig wieder zum Außenseiter in jeglicher sozialen Situation machte. Im sozialen Rahmen war er sehr oft in Konflikte verwickelt, die er zumeist durch Provokation hervorrief. In diesen Konfliktsituationen zeigt er dann extreme Wutausbrüche und unberechenbares Ver-
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Kapitel 34 · Verhaltensauffällige Jugendliche
halten, er war schnell beleidigt und zog sich zumeist nach dem eskalierenden Verhalten zurück. In der testpsychologischen Untersuchung zeigte sich Mangel an praktischer Urteilsfähigkeit, Mangel an ›aus Erfahrung lernen‹ Mangel in ›Ursache-/Wirkungszusammenhängen‹ zu denken, Mangel an ›Situationen des Lebensalltages‹ zu erfassen, Defizite, wesentliche von unwesentlichen Details zu unterscheiden, Defizit in der Organisation des Wahrnehmungsprozesses, eine mehr oder weniger generelle Ängstlichkeit, Angst, das Richtige zu tun oder Angst, einen falschen Eindruck zu machen. Zurückhaltung vor sozialen Kontakten, es fällt ihm schwer auf andere Leute zuzugehen, er fühlt sich in Gegenwart anderer gehemmt und befangen.«
Differenzialdiagnostik und assoziierte Störungen auf einen Blick 5 Pubertäts-, milieubedingte Verhaltensauffälligkeiten 5 Oppositionell, aggressives Verhalten 5 Isolierte Teilleistungsstörungen: Lese-Rechtschreib-, Rechenstörung 5 Tic-Störungen: Hüsteln, Blinzeln, Fingerausziehen, Rülpsen, Klatschen, 5 Angststörungen: Nachtangst, Schulangst, Trennungsangst, 5 Zwangsstörung: Wasch-, Sortier-, Sammelzwang 5 Anfallsleiden und Nebenwirkungen medikamentöser Dauertherapie 5 Prodromi von Psychosen, Bipolare Störung, Boarderlinestörung
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Andere Störungen müssen abgegrenzt oder als assoziierte Störung diagnostiziert werden. »ADHS kommt selten allein«: Das gemeinsame Auftreten verschiedener psychischer Störungen ist eher die Regel. Oppositionell aggressives Verhalten ist so häufig mit ADHS verbunden, dass es unter F 90.1 »hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens« im ICD 10 festgehalten wurde. Teilleistungsstörungen wie z. B. Legasthenie sind auch in diesem Alter noch nicht immer diagnostiziert. Tic-Störungen kommen intervallartig gemeinsam mit ADHS vor, Angststörungen werden nur bei gezielter Nachfrage berichtet. Prodromi späterer psychiatrischer Störungen z. B. können ADHS vortäuschen. Komorbiditäten verstärken die soziale Ausgrenzung und führen bei Kombination mit oppositionellem Verhalten zu erhöhter Suchtneigung, dissozialem Verhalten bis hin zur Delinquenz. Insgesamt verschlechtern sie die Prognose.
34.1.8
Therapie
Bei diesem komplexen Störungsbild muss auch die Therapie multimodal sein.
5 Verhaltensmodifizierende Therapie bei Jugendlichen und Eltern 5 Förderung von Bewegung, Wahrnehmung 5 Zusammenarbeit mit den anderen Fachgruppen und Kotherapeuten 5 Medikamentöse Therapie
Aufklärung, Beratung, Erschließen von Ressourcen
Durch die Aufklärung von Eltern, Jugendlichem, Betreuern und Lehrern über neurobiologische und neuropsychologische Hintergründe lässt sich eine deutliche Entlastung erreichen. Die Jugendlichen fühlen sich »besser verstanden«. Die Eltern erfahren, dass sie »nicht an allem schuld sind« und Lehrer und Ausbilder können ihre Meinung, »einen faulen, bösartigen Schüler zu haben, der einen persönlich nur ärgern will«, ändern. Damit können erfolgreiche Bewältigungsstrategien entwickelt und Ressourcen erschlossen werden. Pädagogische/psychologische Therapieansätze
Lehrer von Berufs- und weiterführenden Schulen, aber auch Lehrherren und Ausbilder sind oft gegenüber Empfehlungen für pädagogische Maßnahmen wenig aufgeschlossen, da sie diese nicht als ihre Aufgabe ansehen. Bei Arbeitsämtern kann man sich informieren über Berufsbildungswerke, Berufssonderschulen und ausbildungsbegleitende Hilfen. Eltern sind manchmal kaum noch in der Lage, Erziehung zu bewerkstelligen. Allerdings bestehen bei ADHS durch die psychosoziale Reifungsverzögerung oft noch länger Chancen für die elterliche Einflussnahme (AustClaus 2003). Häufig fehlen adäquate Therapieplätze für pädagogische und psychologische Maßnahmen. Die Bereitschaft zu einer Verhaltenstherapie und später zum Durchhalten dieser Therapie ist bei den Jugendlichen gering: selbst wenn sie sich bereit erklären und zumindest verbal die Notwendigkeit von Maßnahmen einsehen, wollen sie nach wenigen Wochen nicht mehr mitarbeiten. Nur wenn es gelingt, mit einem Therapeuten eine positive Beziehung aufzubauen, kann das fehlende Selbstbewusstsein (»Ich bin ja sowieso ein Depp«, »Keiner mag mich«) in einer Psychotherapie gebessert werden (Döpfner 2002). Phillip artikuliert das so: »Es hat mir viel gebracht: jetzt höre ich erst zu, bleibe cool und traue mich dann, meine Meinung ohne Kasperei zu sagen.« Der Jugendliche, der jeden »Anrempler« persönlich nimmt und sofort hinschlägt, dem alles langweilig ist und der nirgends zurechtkommt, kann von einer Psychomotorikgruppe oder gut »gecoachten« Erlebnispädagogik profitieren. Erfolg und Spaß bei Bewegung und Spiel motivieren den Jugendlichen, sich selbst einzubringen, seine Ideen umzusetzen und ein Teil dieser Gruppe zu werden. Das macht es ihm leichter, Mitglied in einem regulären Sportverein, beim Technischen Hilfswerk oder bei der Feuerwehr zu werden (Skrodzki 2002; Streng 2002). Medikamentöse Therapie
Multimodale Therapie 5 Verbesserung der Umfeldbedingungen 5 Beratung und Begleitung der Eltern, Erzieher, Lehrer, Ausbilder
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Bei erheblicher Beeinträchtigung, großem Leidensdruck und Gefahr für die weitere Entwicklung ist medikamentöse Therapie notwendig. An erster Stelle stehen die Psychostimulantien Methylphenidat (Equasym, Medikinet, Ritalin), ergänzt seit Januar 2003 durch ein Methylphenidat mit kontinuierlicher Freisetzung über einen längeren Zeitraum (Concerta 10‒12 Stunden, Medikinet retard 6‒8 Stunden) und DL-Amphetamin (Rezeptur). Die-
301 34.1 · Jugendliche mit ADHS
se Präparate unterliegen dem Betäubungsmittelgesetz und damit bestimmten Mengen- und Verordnungsbeschränkungen und müssen auf einem besonderen Rezept verordnet werden. Andere Medikamente spielen kaum eine Rolle. Wirkungen
Stimulantien verbessern die Aufmerksamkeit, Selbststeuerung, Ausdauer und Konzentration. Den Jugendlichen gelingt es besser, zuzuhören und das Gehörte auch sinnvoll umzusetzen. Häufig ist mehr Verständnis für Logik, Zusammenhänge und Einsicht bei Ermahnungen zu erkennen. Schrift und Rechtschreibung verbessern sich, Flüchtigkeitsfehler werden weniger, Motivierbarkeit und Leistungsbereitschaft wachsen, Dauerreden und Geräuschemachen verschwindet meist. Viele Jugendliche sagen, dass sie mehr Spaß finden an Arbeit, Einsatz und Leistung und sich leistungsfähiger und länger leistungsbereit fühlen. Nicht-Stimulanzien
Atomoxetin (Strattera): Bei dieser Substanz ist keine sofortige Wirkung zu beobachten, die volle Wirkung wird erst nach 4‒6 Behandlungswochen erreicht. Bei Atomoxetin wird ein relativ starres Schema für die Einstellung empfohlen, mit 1-mal täglicher Gabe und Steigerung von 0,5 mg/kgKG in der ersten Woche auf ca. 1,2 mg/ kgKG Dauerdosis. Neuere Publikationen empfehlen auch hierbei flexiblere Handhabung der Einstelldauer und Enddosis. Die Wirkung soll 24 Stunden anhalten und damit die häufig extreme morgendliche Unruhe reduzieren. Nebenwirkungen seien denen der Stimulanzien ähnlich und ebenfalls gering. Gelegentlicher Müdigkeit nach der Einnahme kann man durch abendliche Einnahme umgehen. Leberwertkontrollen sind erforderlich, da in Einzelfällen Transaminasenerhöhungen vorkommen. Die Studienergebnisse sind viel versprechend, eigene Erfahrungen in Deutschland fehlen noch, da die Zulassung erst Anfang 2005 erfolgte. Nebenwirkungen
Nebenwirkungen sind insgesamt gering und lassen sich nahezu immer beherrschen durch Abwarten, Verminderung der Dosis, Änderung der Verabreichungszeiten oder Wechsel des Medikamentes
Nebenwirkungen auf einen Blick 5 Appetitmangel 5 Einschlafstörung 5 Missstimmung, Weinerlichkeit, Schwindel, Kopfschmerz, Bauchschmerz 5 Verstärkte Unruhe am Ende der Medikamentenwirkung 5 Auslösung/Verschlechterung von Tics 5 Vorübergehend Wachstumsverlangsamung bei normaler Endgröße
34
Durchführung der Therapie
Beginnend mit niedrigen Dosen (5 mg) wird im Abstand von einigen Tagen langsam gesteigert. Abhängig von der individuellen Wirkdauer muss 3‒4-mal täglich das Medikament eingenommen werden. Bei guter Rückmeldung von Eltern und Betreuern, aber auch vom Jugendlichen selbst (Anrufen oder E-Mail schicken lassen) kann diese Titration in ca. 4 Wochen zur wirksamen und passenden Dosis führen. Dann kann entschieden werden, ob ein Präparat mit Langzeitwirkung sinnvoll erscheint. ! Stimulanzien mit Langzeitwirkung wirken nicht bei allen Patienten gleich gut, müssen oft höher dosiert werden und sind teuer! Probleme bei der medikamentösen Therapie
Oft werden »Therapien« durch die Clique, den Freundeskreis der Jugendlichen abgelehnt, insbesondere Medikamente: »Du Drogenheini!« ist noch die freundlichste Beschimpfung. Ursache ist nicht zuletzt das negative Image einer medikamentösen Therapie bei Betreuern, Öffentlichkeit und Medien. Unter Stimulanzientherapie weniger frech, weniger vorlaut und weniger waghalsig zu sein, verringert den Applaus und die Anerkennung der Freunde. Manchmal verschlechtert auch die Eigenerfahrung der Medikamentenwirkung (»Dann bin ich weniger lustig ‒ mach’ halt weniger Scheiß«) die Compliance. Mangelndes Durchhaltevermögen und »nicht dran denken« sorgen für Unregelmäßigkeit bei der Einnahme, für fehlende Rückmeldungen und damit auch fehlende Optimierung der Therapie. Klaus, 16 Jahre, schildert das folgendermaßen: »Wenn ich von der Schule komme, gehe ich Surfen und die Schule ist mir scheißegal. Wenn ich das Medikament genommen habe, gehe ich zwar auch Surfen, habe aber den ganzen Nachmittag wegen der Hausaufgaben ein schlechtes Gewissen.« Jugendliche neigen in ihrer Selbstbeobachtung dazu, geringfügige Nebenwirkungen, die sie tatsächlich haben oder auch nur gelesen haben, überzubewerten. Kopf- und Bauchschmerzen, Schwindel, Übelkeit werden dramatisch geschildert und vegetative Stigmata, die in dieser Altersgruppe bei schwankendem Blutdruck relativ häufig vorhanden sind, wie kalte Hände und Füße, werden überdeutlich wahrgenommen und diese Auffälligkeit auch auf den sozialen Kontext übertragen: »Andere spotten über meine roten Hände.« Cave Beim Leistungssport gilt Methylphenidat als Dopingmittel. Beim Führen eines Kraftfahrzeuges sind der Nachweis einer medizinischen Notwendigkeit und eine ärztlicher Verordnung notwendig. Für Erwachsene gibt es bislang keine Zulassung für die Stimulanzientherapie. Jede Verordnung über 18 Jahre erfolgt »off label«! Erste Zulassungsstudien in Deutschland wurden begonnen.
Chancen der medikamentösen Therapie
In Langzeitstudien konnten keine negativen psychischen oder somatischen Auswirkungen durch Stimulantientherapie festgestellt werden. Es gibt keine vermehrte Suchtentwicklung (körperliche oder psychische Abhängigkeit), und die Gefahr des Drogenmissbrauchs wird eher gemindert (Huss 2002; Barkley, 2003). Eine antikonvulsive Behandlung ist kein Hindernis. Die Wirksamkeit der medikamentösen Therapie wird in der MTA-Studie eindrucksvoll bewiesen (MTA 1999; Conners 2001).
Die schnelle und oft drastische Wirkung auf viele Bereiche birgt aber auch gute Chancen für die Akzeptanz. Beispiel Die 18-jährige Maresa schildert die Wirkung der Medikation: »Ich rede weniger dummes Zeug und gehe den anderen nicht so auf die Nerven.« Die 15-jährige Linda: »Ich denk’ daran, die Pille zu nehmen.«
302
Kapitel 34 · Verhaltensauffällige Jugendliche
Die 16-jährige Jenny sagt: »Mit Ritalin habe ich bessere Tischmanieren und werde in ein tolles Lokal eingeladen, sonst fress’ ich wie ein Schwein.« Der 15-jährige Timmo sagt: »Ich bin weniger frech, die Arbeit macht mir Spaß und ich streite weniger.« Und der 20-jährige Tobias: »Mit Concerta habe ich Arbeitseifer, kann den ganzen Tag durchhalten und lasse mich nicht aus dem Konzept bringen.«
34.1.9
Kooperation im Netzwerk
Bei Jugendlichen mit ADHS ist die interdisziplinäre Kooperation bei Diagnostik und Therapie von großer Bedeutung, denn Störungen, die im Kindesalter nicht oder kaum vorkommen, müssen abgegrenzt und behandelt werden. Selbsthilfegruppen können sowohl für Eltern als auch den Jugendlichen selbst eine Hilfe sein (7 Adressen). Die persönliche Zu- oder Abneigung gegenüber dem Untersucher/Therapeuten spielt eine besondere Rolle. Nur mit genauer Abstimmung ist es möglich, die häufigen Therapieabbrüche zu reduzieren. Die Aussagen der einzelnen an der Therapie Beteiligten müssen möglichst ähnlich sein, da sonst Differenzen überbewertet und missinterpretiert werden. Um diese Kooperation besser durchführen zu können, sollten Netzwerke gebildet werden, wo alle an Diagnostik und Betreuung der Patienten Beteiligten sich im Qualitätszirkel absprechen.
34.1.10
34
Ausblick und Zusammenfassung
Jugendliche mit ADHS sind eine Herausforderung. Sie sind schwer zu diagnostizieren und zu behandeln. Auch in dieser Altersgruppe hat der Kinder- und Jugendarzt noch seine Bedeutung, weil er in vielen Fällen die Lebensgeschichte des Jugendlichen und seiner Familie kennt und das Vertrauen der Familie hat. Gerade in dieser Altersgruppe ist die Zusammenarbeit aller Betreuer im Netz außerordentlich wichtig. Denn Jugendlichen brauchen eine kontinuierliche Begleitung in Schule, Ausbildung und Arbeitsleben. Nur wenn alle Therapiemöglichkeiten sinnvoll angewendet werden, verhindern wir Sekundärfolgen wie fehlende Berufsausbildung, Sucht- und spätere Delinquenz. In gemeinsamer Sorge ist es möglich, die individuellen Fähigkeiten zum Tragen kommen zu lassen und der Persönlichkeit des Jugendlichen das Erwachsenwerden zu ermöglichen. ADHS ist die häufigste psychische Erkrankung im Jugendalter. Sie zieht sich durch das ganze Leben. Genetische Grundlagen führen zu einer erhöhten Vulnerabilität für negative Einflüsse aus Umwelt und sozialem Umfeld. Die Diagnostik ist aufwändig und richtet sich nach den Leitlinien der jeweiligen Fachgruppen. Die Therapie ist multimodal, muss nach den individuellen Gegebenheiten durchgeführt werden und beinhaltet sowohl psycho-edukative als auch medikamentöse Maßnahmen. Umfassende Hilfe zu Hause, in Schule und in Ausbildung ist notwendig. Auch später ist noch Unterstützung im Beruf und der persönlichen Lebensgestaltung erforderlich. Mit umfangreichen Hilfen kann ein Abgleiten in Drogenkonsum und Delinquenz verhindert und ein begabungsadäquates Leben ermöglicht werden.
Literatur Aust-Claus E, Hammer PM (2003) ADS – TopFit beim Lernen. OptiMind media Barkley AR (2002) Das große ADHS-Handbuch für Eltern. Hans Huber, Bern Barkley AR (1997) ADHD and the Nature of Self-Control. New York Barkley AR et al. (2003) Does the Treatment of Attention-Deficit/Hyperactivity Disorder With Stimulants Contribute to Drug Use/Abuse? A 13Year Prospective Study. Pediatrics Vol 111 No. 1 Conners CK et al. (2001) Multimodal Treatment of ADHD in the MTA: an alternative outcome analysis. J Child Adolescent Psychiatry 40, 159–167 Döpfner, Schürmann, Lehmkuhl (2000) Wackelpeter & Trotzkopf. Beltz PVU, Weinheim Grützmacher H (2001) Unfallgefährdung bei Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörung. Deutsches Ärzteblatt, 34.1–35, B1898–B1900 Heiser P, Smid J et al (2003) Ursachen der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung. In: Kinder- und Jugendmedizin 4 Herpertz-Dahlmann B (2003) Komorbide Störungen der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung im Kindes- und Jugendalter. In: Kinder- und Jugendmedizin 4 Huss M, Lehmkuhl U (2002) Methylphenidate and substance abuse: a review of pharmacology, animal, and clinical studies. J Atten Disord, 6 Suppl 1, S 65–71 Konrad K, Herpertz-Dahlmann B (2003) Neurophysiologische Diagnostik bei Kindern und Jugendlichen mit ADHS. In: Kinder- und Jugendmedizin 4 Neuhaus C (2000) Hyperaktive Jugendliche und ihre Probleme. Urania, Berlin Papouèek M, Wurmser H (2002) Regulationsstörungen der frühen Kindheit. In: Neue Akzente in der Sozialpädiatrie, Kirchheim Skrodzki K, Mertens K (Hrsg.) (2000) Hyperaktivität – Aufmerksamkeitsstörung oder Kreativitätszeichen? Dortmund Skrodzki K (2002) Bewegung und Bewegungsstörung bei Kindern und Jugendlichen mit ADHS. In: Mertens, K: Psychomotorik – Grundlagen und Wege der Förderung. Verlag modernes Lernen, Dortmund Skrodzki K, Imhoff M, Urzinger M (1999) Aufmerksamkeitsgestörte, hyperaktive Kinder im Unterricht. Staatsinstitut für Schulpädagogik und Bildungsforschung, Auer München Streng T (2002) Bewegungsförderung bei Kindern und Jugendlichen mit ADHS. In: Mertens, K: Psychomotorik – Grundlagen und Wege der Förderung. Verlag modernes Lernen, Dortmund The MTA Cooperative Group: A 14-month randomized clinical trial of treatment strategies for attention-deficit/hyperactivity disorder: Multimodal Treatment Study of Children with ADHD, Arch Gen Psychiatry. 1999 Dez.; 56 (12): 1073–86 The MTA Cooperative Group: Moderators and mediators of treatment response for children with for attention-deficit/hyperactivity disorder: Multimodal Treatment Study of Children with ADHD, Arch Gen Psychiatry. 1999 Dez; 56 (12): 1088–96
34.2
Akute adoleszente Entwicklungskrisen – Psychosen im Jugendalter
M. Endres, S. Moisl )) Das Jugendalter ist eine Entwicklungszeit im menschlichen Leben, die durch eine Vielzahl von Veränderungsprozessen gekennzeichnet ist. Sie spielen sich im Inneren des Jugendlichen ab und wirken gleichzeitig von Außen auf ihn ein.
303 34.2 · Akute adoleszente Entwicklungskrisen – Psychosen im Jugendalter
Damit wird das Jugendalter zu einer Lebensphase, in der Normalität und Pathologie nah beieinander liegen können (Blos 1969).
Es ist schwer zu beurteilen, ob psychische Auffälligkeiten von Jugendlichen zum normalen Spektrum adoleszenter Entwicklung gehören oder ob bereits eine behandlungsbedürftige Erkrankung auch im Sinne einer juvenilen Psychose vorliegt. Im Folgenden wird zunächst die normale psychische Entwicklung in der Adoleszenz skizziert, dann Störungen und deren Ursachen illustriert, durch ein Fallbeispiel beschrieben und schließlich therapeutische Möglichkeiten und prävent.
34.2.1
Adoleszenz – eine normale Entwicklungskrise?
Der pubertäre Entwicklungsschub bringt eine Reihe von ausgeprägten körperlichen Veränderungen mit sich, die große Anforderungen an die Integrationsleistungen des Jugendlichen stellen. In der heute relativ früh einsetzenden pubertären Entwicklung kommt es zur Ausprägung der sekundären Geschlechtsmerkmale, sexuelle Impulse werden zunächst vorwiegend autoerotisch gelebt, dann zunehmend von heterosexuellen Begegnungen abgelöst. Passagere, homoerotische Tendenzen können als quälend und verwirrend erlebt werden. Die ersten Liebesbeziehungen sind von unterschiedlichster Qualität und Intensität und können mitunter in dramatische Tragödien münden. Die Jugendlichen beginnen, sich von der Familie abzulösen, das familiäre Umfeld verliert zunehmend an Bedeutung, wichtiger werden Beziehungen zu Gleichaltrigen und zu Erwachsenen außerhalb der Familie (Kaplan 1991). Die erwähnten Umstrukturierungsprozesse sind in der jugendlichen Entwicklung eng an die biologische Pubertät und an die Geschlechtsreife gebunden. Der Körper verändert sich, der Jugendliche hat jetzt real die Möglichkeit, sich fortzupflanzen. Wünsche, Vorstellungen, Affekte, die in der Kindheit noch Phantasie waren, können jetzt Realität werden. Die emotionale Labilisierung des Jugendlichen ergibt sich aus der Diskrepanz der körperlichen und der emotionalen bzw. seelischen Entwicklung, die zunächst der körperlichen hinterherhinkt. In der Adoleszenz entwickelt der Jugendliche die Fähigkeit zum operationalen Denken. Es kommt vorübergehend zu Schwierigkeiten in der Symbolisierungsfähigkeit. In diesem Spannungsfeld verlieren die Jugendlichen im Rahmen der normalen Adoleszenzkrise vorübergehend ihre psychische Stabilität. Sie werden sensibler, verletzlicher, irritierbarer. Sie verlieren ihr emotionales Gleichgewicht, scheinbare Bagatellen bringen sie aus der Fassung. Dennoch meistern Jugendliche die Adoleszenz in der Regel, ohne therapeutische Hilfe in Anspruch nehmen zu müssen. Häufig ist es nicht leicht zu beurteilen, ob sich der Liebeskummer einer 13-Jährigen im Bereich des Normalen bewegt oder ob die pathologische Dimension einer depressiven Erkrankung bis hin zu Suizidgedanken erreicht ist. Grundsätzlich kann bei Mädchen der Versuch, sich die Idealfigur anzuhungern, ein vorübergehendes Phänomen sein, es kann sich aber auch um den Beginn einer Anorexie handeln, die lebensbedrohliche Ausmaße annehmen kann. Auch hier ist der Grenzbereich zwischen Normalität und Pathologie fließend. Ebenso schwierig ist der Drogenkonsum von Jugendlichen ein-
34
zuordnen, die mit Alkohol, Haschisch und Designerdrogen experimentieren, Experimente, die für viele Jugendliche typisch sind. Sie können bei entsprechend veranlagten Jugendlichen eine psychotische Episode auslösen oder zum Griff nach härteren Drogen bis hin zur Drogenabhängigkeit führen. Gleiches gilt für autodestruktives Verhalten, das von Risikosportarten mit hoher Verletzungsanfälligkeit bis hin zu selbstverletzendem Verhalten, das bei Mädchen häufiger vorkommt als bei Jungen, reichen kann. Die Einbindung in die Gleichaltrigengruppe kann hilfreich bei der Bewältigung der Entwicklungskrisen sein, sie kann aber auch die Symptomatik bei autodestruktivem Verhalten oder Drogenkonsum verstärken.
34.2.2
Psychotische Episoden in der Adoleszenz
Der Jugendliche hat die Aufgabe, seinen sexuell reifenden Körper in ein neues Selbstbild zu integrieren. Dieser Integrationsprozess verläuft auch im Normalfall vielschichtig und krisenhaft. Der Jugendliche hat seinen kindlichen Körper als Ort der Sicherheit verloren und muss sich selbst in seinen Beziehungen zu den wichtigen Bezugspersonen neu definieren. Allmählich verwandelt sich so das Selbstbild des Jugendlichen vom abhängigen Kind zum selbständigen Erwachsenen. Dieser Prozess ist zunächst von zahlreichen Gefühlen der Fremdheit gegenüber dem eigenen Körper und von Schamgefühlen begleitet. Wenn diese Fremdheitsgefühle überhand nehmen kann es zu Realitätsverzerrungen kommen. Der Jugendliche bricht aus der Realität aus, um sein kindliches Selbstgefühl, sein altes Selbstbild aufrecht erhalten zu können. Moses Laufer hat dieses Konzept eines adoleszenten Entwicklungszusammenbruchs, das auch zu passageren psychotischen Episoden führen kann, in seinem Buch »Adoleszenz und Entwicklungskrise« ausführlich dargestellt (Laufer 1984). Die adoleszente Symptomatik, die das Phänomen des Entwicklungszusammenbruchs und der psychotischen Episode begleitet kann vielfältig und lärmend sein: ! Schwer kontrollierbare aggressive Erregungszustände können mit depressiven Einbrüchen wechseln, euphorische, fast submanisch anmutende Zustände können abgelöst werden von dysphorischen.
Mitunter tobt ein Kampf zwischen nicht mehr kontrollierbaren sexuellen Impulsen bis hin zu Promiskuität und Abwehrprozessen, in deren Folge der Jugendliche nahezu asexuell wirkt. Die Über-Ich-Strukturen sind im Rahmen des adoleszenten Umwandlungsprozesses oft aufgeweicht, was in Delinquenz und asozial wirkendem Verhalten münden kann. Ein Teil der hier angesprochenen Phänomene werden in anderen Kapiteln in diesem Handbuch ausführlich erläutert (Suizidalität: 7 Kap. 34.3; Essstörungen: 7 Kap. 28; Dissozialität: 7 Kap. 34.4, Sexualität: 7 Kap. 4).
304
Kapitel 34 · Verhaltensauffällige Jugendliche
34.2.3
Symptome der akuten Adoleszenzkrise
Die wichtigsten Symptome einer akuten adoleszenten Entwicklungskrise:
Symptome auf einen Blick 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5
34
Schulversagen Konzentrationsstörung Sozialer Rückzug Angst, Panik Zwangsstörung Depression Psychotische Episode Essstörungen Unfälle Selbstverletzungen Suizidalität Drogen, Alkohol Gewalt, Vandalismus Delinquenz
Es ist schwer zu beurteilen, ob es sich bei der Symptomatik eines Jugendlichen um einen Ausdruck einer normalen Entwicklungskrise handelt oder ob eine behandlungsbedürftige Störung vorliegt. Häufig zeigt erst der Verlauf, ob sich eine behandlungsbedürftige Störung entwickelt. Hier ist eine engmaschige Betreuung durch einen Fachmann indiziert. Die Symptome eines Jugendlichen können Ausdruck dieser normalen Entwicklungskrise im Sinne der Labilisierung der psychischen Funktionen sein. Sie können aber auch auf eine tiefgreifende psychische Störung hinweisen, die eine längere psychotherapeutische Behandlung notwendig macht, da sonst die weitere Entwicklung des Jugendlichen gefährdet wäre. Aus der Symptomatik allein kann nicht auf die Schwere der Störung geschlossen werden. Um eine weitreichendere Entwicklungskrise zu diagnostizieren, die auch in einem Entwicklungszusammenbruch enden kann, brauchen wir ein mehrstufiges Vorgehen. Zunächst wird die Symptomatik erfasst, die dann im Kontext einer ausführlichen biographischen Anamnese bewertet wird. Es ist wichtig zu beachten, welche Schwierigkeiten und Belastungen schon aus der frühen Kindheit in die Adoleszenz mitgebracht wurden. Die Kenntnis der Lebensgeschichte des Patienten hilft dabei die derzeitige Verfassung des Patienten aus seiner Biographie zu verstehen. In einem weiteren Schritt werden Symptomatik und die Anamnese mit einer Modellvorstellung über den Verlauf normaler und pathologischer Adoleszenz verglichen, um so Entwicklungsabweichungen verstehen zu können. Beispiel Fall 1: Der 13-jährige Thorsten kommt in Begleitung seines Freundes in die Sprechstunde. Thorsten wirkt in sich gekehrt, verschlossen, nimmt kaum Kontakt zum Therapeuten auf. Sein Freund schildert aufgeregt, dass Thorsten sich in letzter Zeit aus dem Freundeskreis zurückziehe, seit die Beziehung zu seiner ersten Freundin in die Brüche gegangen sei. Weiter sei ihm aufgefallen, dass er zunehmend Alkohol und Drogen konsumiere. In der letzten Zeit habe er seltsame Gedanken geäußert. Er fühle sich beeinflusst, eine Stimme würde ihn dazu drängen, aus dem Fenster zu springen, um sich so das Leben zu nehmen.
Nach einiger Zeit gelingt es dem Therapeuten, Kontakt zu Thorsten herzustellen, er schildert die Situation aus seiner Sicht, er habe niemanden mehr, mit dem er über seine Probleme sprechen könne. Auch zu seinen Eltern habe er kein Vertrauen mehr. Er bestätigt, dass es in ihm in letzter Zeit eine Stimme gebe, die ihm immer wieder einrede, er solle aus dem Fenster springen. Dies würde ihn sehr ängstigen, da er fürchte, der Stimme nachgeben zu müssen und Unüberlegtes zu tun.
Nach neueren Forschungen ist der emotionale Aufruhr in der Adoleszenz nicht nur durch die biologischen Umwandlungsprozesse und die damit skizzierten notwendigen Trennungsprozesse bedingt, sondern auch durch die Veränderung der Denkprozesse beim Jugendlichen. Die neu erworbene Komplexität des Denkens, die Möglichkeit, sich jetzt über eigene und befremdliche Befindlichkeiten in vielfältiger Weise Gedanken zu machen, überfordert den Jugendlichen zeitweise. Er tut sich schwer mit dem Denken, Denkstörungen können die Folge sein. Besonders störanfällig sind die Beziehungen zu den Eltern, die sich im adoleszenten Entwicklungsprozess dramatisch verändern. Im Zusammenhang mit der sexuellen Reife bekommt die Beziehung zu den Eltern zusätzlich eine sexuelle Note. Ängste vor Homosexualität bzw. Ängste vor inzestuösen Bindungen an die Eltern werden vom Jugendlichen schuld- und angstbesetzt erlebt. Die Folge sind eskalierende Konflikte mit den Eltern, denen diese häufig hilflos gegenüber stehen. Gleichzeitig wächst bei den Jugendlichen der Wunsch nach Ablösung und Selbstbestimmung an; Gefühle, die gleichzeitig bestehende Sehnsüchte nach Nähe und Abhängigkeit kontrastieren. Dies führt zu einer inneren Zerrissenheit und einer oft schwer auszuhaltenden Unleidlichkeit. Gelingt es den Eltern nicht, diese Gefühlsschwankungen und Konflikte auszuhalten und auszutarieren, können familiäre Konflikte eskalieren und die Jugendlichen wie auch die Eltern in tiefe Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit stürzen. ! Besonders gefährdet sind Kinder von Migranten, wenn traditionelle Moralvorstellungen aus den Herkunftskulturen mit der aktuellen westeuropäischen Jugendkultur kollidieren.
Darüber hinaus gestaltet sich die Identitätsfindung problematisch, wenn unterschiedliche kulturelle Erfahrungen in den Prozess der individuellen Identitätsbildung einfließen. Kinder mit chronischen Erkrankungen haben besonders Schwierigkeiten, sich von den Eltern abzulösen, sie bleiben häufig über die Adoleszenz hinaus an die Eltern gebunden. Dies kann sowohl die sexuelle Entwicklung wie die Autonomieentwicklung erheblich beeinträchtigen. Wenn erste Liebesbeziehungen scheitern, sind Zustände von »Himmel hoch jauchzend« bis zu »Tode betrübt« keine Seltenheit. Störungen der Konzentrationsfähigkeit und der Denk- und Merkfähigkeit führen häufig zu Schulleistungsstörungen, die in Form von schlechten Noten weiter das Selbstwertgefühl der Jugendlichen beeinträchtigen. Kommt es zum Schulversagen, zum Wiederholen von Klassen bzw. zum Wechsel der Schule geht das stabilisierende soziale Umfeld verloren und die Selbstwertproblematik der Jugendlichen spitzt sich krisenhaft zu. Eine depressive Symptomatik bis hin zur suizidalen Krise ist in diesem Zusammenhang häufig beobachtbar.
305 34.2 · Akute adoleszente Entwicklungskrisen – Psychosen im Jugendalter
34.2.4
Einfluss der Biographie auf die adoleszente Entwicklung
Wie der Jugendliche die Krise der Adoleszenz meistert, hängt vom Zustand seiner psychischen Entwicklung bei Eintritt in die Adoleszenz ab. Ein Überblick über die frühe Entwicklung lässt sich am ehesten in einem ausführlichen Anamnesegespräch mit den Eltern oder wichtigen anderen Bezugspersonen des Jugendlichen verschaffen. Beispiel Fall 1 (Fortsetzung): Thorsten zeigt offensichtlich verschiedene Symptome, die auf eine akute adoleszente Entwicklungskrise hindeuten. Seine Ich-Struktur ist offensichtlich labilisiert, er zeigt Symptome einer deutlichen Realitätsverkennung. Er berichtet von einer inneren Stimme, die ihm zum Suizid auffordert. Möglicherweise wird die psychiatrische Symptomatik durch zunehmenden Drogenkonsum verursacht, der bei manchen Jugendlichen eine psychiatrische Episode auslösen kann. Weiter berichtet der Junge von aktuellen Schwierigkeiten, er zieht sich sozial zurück, seiner erste Liebesbeziehung ist gescheitert, da er sich in der Beziehung zu seiner ersten Freundin überfordert fühlte und sexuelle Impulse angstvoll erlebte. Seine Eltern kann er nur noch eingeschränkt als Gesprächspartner nutzen. Die Erhebung der biographischen Anamnese, die in einem Elterngespräch mit Mutter und Vater erhoben wurde, ergab folgende Befunde. Thorsten wurde als erstes und einziges Kind seiner Mutter in eine schwierige Ehe hineingeboren. Die elterliche Beziehung war von Streit und tagtäglichen Auseinandersetzungen geprägt. Kurz vor der Geburt des Jungen erkrankte der Vater der Mutter an einem Karzinom, er starb, als Thorsten 1 Jahr alt war. Die ehelichen Auseinandersetzungen eskalierten weiter, der Vater trennte sich von der Mutter, der Kontakt zum Sohn und zur Frau brachen vollständig ab, bis zum heutigen Tage hat Thorsten seinen Vater nicht mehr gesehen. In Folge entwickelte sich eine enge Beziehung zwischen Mutter und Sohn, Thorsten schlief bis zum 6. Lebensjahr im Bett der Mutter. Als er 5 Jahre alt war, lernte die Mutter einen neuen Partner kennen, den sie 1 Jahr später heiratete. Zu ihm hat Thorsten eine schwierige Beziehung, es hat sich nie ein vertrautes Verhältnis entwickelt.
Die Biographie des Jungen macht deutlich, dass er schwierige Phasen in der Kindheit durchleben musste, die bis heute Auswirkungen auf sein Leben haben. Die frühe Beziehung zur Mutter war beeinträchtigt durch heftige eheliche Auseinandersetzungen, es ist anzunehmen, dass in der Mutter-Kind-Beziehung wenig Raum für ein feinfühlig empathisches sich Aufeinandereinstellen war. Gleichzeitig neben der Verarbeitung der konflikthaften Partnerschaft beschäftigte die Mutter die Erkrankung des Vaters, an den sie ein enges Verhältnis band. Ihre Beziehung zur Mutter war eher kühl distanziert, sie erlebte ihre Mutter wenig hilfreich in der Zeit der Schwangerschaft und der Geburt ihres Kindes. Im 2. Lebensjahr des Jungen eskalierten die elterlichen Auseinandersetzungen weiter, der Vater verließ die Familie und brach den Kontakt zum Sohn ab. Hier traf der traumatische Verlust des Vaters den Jungen in einer besonders sensiblen Phase. Im 2. Lebensjahr ist die reale Präsenz des Vaters besonders wichtig zur Entwicklung einer stabilen Geschlechtsidentität und eines sicheren Selbstwertgefühls. In dieser Zeit liegen die Wurzeln der IchSchwäche des Jungen, die seine adoleszente Entwicklung so schwierig macht. In der Folge entwickelte sich eine enge Bezie-
34
hung zur Mutter. Es kam zu einer Partneridentifizierung des Jungen, der als Trostspender für die Mutter fungierte. Er schlief bis zum 6. Lebensjahr als Partnerersatz im verwaisten Ehebett. Zu einem Zeitpunkt, in dem die Beziehung zur Mutter besondere Intensität und Qualität besitzt, lernte die Mutter ihren neuen Lebenspartner kennen, der den Jungen aus dem Ehebett vertrieb. Die Beziehung zum Stiefvater blieb in der folgenden Zeit gespannt und wenig vertraut. Die Ursache der adoleszenten Entwicklungskrise des Jungen erklärt sich aus der Reaktivierung unterschiedlicher frühkindlicher Konflikte. Der frühe Verlust des Vaters hatte eine beschädigte Geschlechtsidentität und ein unsicheres Selbstwertgefühl zur Folge. Die brüchige Beziehung zur Mutter, die wenig Raum für liebevollen empathischen Kontakt zum Sohn hatte, führte zur Entwicklung unsicherer Ich-Strukturen, die in der adoleszenten Entwicklung zu Störungen der Realitätswahrnehmungen führten. Die enge Beziehung zur Mutter, die bis hin zur Frühadoleszenz hineinreichte, führte dazu, dass in der adoleszenten Entwicklung mit dem damit verbundenen Triebschub die Veränderung des eigenen Körpers sowie sexuelle Impulse schuld- und angstbesetzt erlebt wurden, aufgrund auftauchender Inzestängste. So scheiterte die erste Liebesbeziehung zu einem Mädchen, da der Junge eigene sexuelle Impulse schuldhaft erlebte. Dies führte zusätzlich zur Labilisierung seiner psychischen Strukturen mit der Folge, dass sich der adoleszente Zusammenbruch beschleunigte. Ziel der Anamnese ist es, sich einen Eindruck von den frühen Entwicklungsbedingungen zu verschaffen. Dabei wird die psychische Entwicklung nicht als linearer Vorgang, sondern als ein Ineinanderwirken und eine Verflechtung verschiedener Entwicklungslinien verstanden. Diese Schematisierung mag zunächst künstlich erscheinen, kann aber für das Verständnis psychischer Prozesse hilfreich sein. Anna Freud entwarf das Modell unterschiedlicher Entwicklungslinien, in die sich neben anderen Triebentwicklungen auf Ich- und Über-Ich-Entwicklung und Selbstentwicklung beziehen. Die kindliche Persönlichkeit wird dadurch nicht statisch gesehen, sondern in einem dynamischen Wachstumsprozess auf verschiedenen Ebenen. Dabei wird gefragt, welchen Einfluss das Zusammenwirken von konstitutionellen Faktoren, Reifungsschritten und individuellem Erleben auf die Bildung intrapsychischer Strukturen und Funktionen ausübt. Die Entwicklung ist dabei kein linear kontinuierlicher Prozess, sondern enthält regressive progressive Elemente. Neben unterschiedlichsten Entwicklungslinien beeinflussen auch Konstitution und Umweltfaktoren die Entwicklungsprozesse. Wie die Entwicklungsschritte auf den unterschiedlichen Entwicklungslinien gemeistert werden, hängt v. a. von der Qualität und Verfügbarkeit wichtiger Bezugspersonen der Eltern oder anderen Betreuungspersonen in der frühen Kindheit ab (Endres u. Hauser 2002). Die Entwicklung des Kindes erfolgt in erster Linie im Beziehungsgeflecht zu unterschiedlichen Bezugspersonen. Aufgabe des sozialen Umfeldes des Kindes ist hierbei, einen Entwicklungsraum zur Verfügung zu stellen, der es dem Kind ermöglicht, die Entwicklung im unterschiedlichsten Entwicklungsbereich voran zu treiben. Diese normale »ideal-typische« Entwicklung kann durch vielfältigste Faktoren gestört bzw. beeinträchtigt werden. Eine besondere Rolle spielen dabei traumatische Erfahrungen, wobei es kaum möglich ist, generelle Aussagen über die Folgen von Traumatisierungen in Kindheit und Jugend zu machen (Endres u. Biermann 1998). Im Einzelfall kann nachvollzogen werden, wie traumatische Ereignisse den Entwicklungsprozess
306
Kapitel 34 · Verhaltensauffällige Jugendliche
beeinflussen. Dabei hängt es von der Qualität und von der Quantität des Traumas, zum Zeitpunkt des Einwirkens von der Konstitution des Betroffenen sowie den Schutzfunktionen des Umfeldes ab, wie der Entwicklungsprozess beeinträchtigt wird. ! Zu den häufigsten traumatischen Trennungserfahrungen in der Kindheit zählen psychische oder körperliche Erkrankungen der Eltern, die den empathisch feinfühligen Kontakt zu den Kindern beeinträchtigen und damit den Entwicklungsraum der Kinder nachhaltig beschädigen.
Hierzu zählen psychiatrische Erkrankungen wie Psychosen, Persönlichkeitsstörungen oder Suchterkrankungen der Eltern sowie körperliche Erkrankungen, v. a. chronische Erkrankungen mit unsicherem Ausgang, wie Krebserkrankungen oder andere chronische Erkrankungen. Auch eigene traumatische Erfahrungen der Eltern beeinträchtigen die Beziehung zu den Kindern nachhaltig. So wird v. a. der Tod oder die Erkrankung eines Großelternteils gerade von den Eltern, die stark an ihre eigenen Eltern gebunden sind, traumatisch erlebt. Weitere traumatische Erfahrungen von Kindern können Gewalt- und Missbrauchserfahrungen in der eigenen Familie oder im sozialen Umfeld sein, die die psychische Entwicklung von Kindern nachhaltig gefährden (7 Kap. 33.1). Für kleine Kinder können Krankenhausaufenthalte aufgrund von körperlichen Erkrankungen in besonderer Weise traumatisierend sein, da sie aufgrund ihrer psychischen Entwicklung Trennungserfahrungen nur unzureichend verarbeiten können.
34.2.5
34
Behandlungsstrategie
Wann die Indikation zur psychotherapeutischen Behandlung besteht, ist häufig nicht leicht einzuschätzen. Da sich psychische Veränderungen mitunter langsam einschleichen, fallen die Veränderungen Eltern und Lehrern häufig nicht auf. Bei Jugendlichen, die die Auffälligkeiten entwickeln, die das Spektrum normaler Entwicklung eindeutig überschreiten, ist eine psychotherapeutische Abklärung indiziert. Dabei ist die Zusammenarbeit mit einem psychotherapeutisch weitergebildeten Kinder- und Jugendarzt, einem Kinder- und Jugendpsychiater, einem Kinderund Jugendlichenpsychotherapeuten oder einer Beratungsstelle angezeigt. Mit einer ausführlichen Anamneseerhebung und einem detaillierten psychopathologischen Befund lassen sich in wenigen Sitzungen Behandlungsstrategien entwickeln. Beispiel Fall 1 (Forsetzung): Therapieverlauf: In der mehrjährigen analytischen Behandlung gelang es, zwischen Thorsten und dem männlichen Therapeuten eine vertrauensvolle Beziehung herzustellen, den traumatischen Vaterverlust durchzuarbeiten und eine Nachreifung seiner Geschlechtsidentität einzuleiten. In der psychotherapeutischen Arbeit gelang es weiter, die defizitäre frühe Beziehung zur Mutter in der Übertragung zu bearbeiten und so eine Stabilisierung seiner IchFunktionen und seiner Beziehungsfähigkeit zu erreichen. Breiten Raum nahm die Auseinandersetzung mit seinen sexuellen Impulsen ein, die er über eine lange Zeit angst- und schuldvoll erlebte. So gelang es in einem intensiven therapeutischen Prozess den drohenden Entwicklungszusammenbruch zu vermeiden und dem Jungen dabei zu helfen, Anschluss an die altersentsprechende adoleszente Entwicklung zu finden.
Bei Entwicklungskrisen im Jugendalter, bei drohendem adoleszentem Entwicklungszusammenbruch sind die psychodynamisch orientierten Therapien das Mittel der Wahl, da hier die Geschichte des Jugendlichen im Zusammenhang mit aktuellen Konflikten bearbeitet werden kann. Ziel der Behandlung ist es, die blockierten Entwicklungsstränge aufzugreifen, frühkindliche und aktuelle Traumatisierungen durchzuarbeiten und dem Jugendlichen zu ermöglichen, Anschluss an die altersgerechte Entwicklung zu finden. Dabei ist der Jugendliche sehr häufig auf eine längerfristige psychotherapeutische Behandlung bei der Bewältigung der aktuellen adoleszenten Konflikte angewiesen (Cohen 2004). Die Prognose ist umso günstiger, je eher eine Behandlung beginnt ohne dass sich bereits Pathologien zementiert haben.
Literatur Blos P (1969) Adoleszenz. Klett-Cotta, Stuttgart Cohen (2004) Das misshandelte Kind. Brandes & Apsel Endres, Biermann (1998) Traumatisierung in Kindheit und Jugend. Ernst Reinhardt Endres, Hauser (2002) Bindungstheorie in der Psychotherapie. Ernst Reinhardt Freud A (1968) Wege und Irrwege in der Kinderentwicklung. Klett-Cotta, Stuttgart Kaplan (1991) Abschied von der Kindheit. Klett-Cotta, Stuttgart Laufer ME (1989) Adoleszenz und Entwicklungskrise. Klett-Cotta, Stuttgart
34.3
Suizidalität: zur Beratung und Begleitung von suizidalen Kindern, Jugendlichen und deren Eltern
S. Wolf )) Im Kindesalter sind vollzogene Suizide extrem seltene Ereignisse, wenngleich Äußerungen wie »Ich möchte tot sein«, »Ich werde tot sein«, »Ich möchte nicht mehr leben« bei Kindern bis 10 Jahre häufig vorkommen und entsprechend oft Anlass für eine Anfrage beim Kinderarzt geben. Offenbar haben die meisten Kinder in ihren Familien jedoch eine noch ausreichend antisuizidal wirkende Beziehung zu Eltern, Geschwistern oder anderen Verwandten, die sie vor einem Suizidversuch bewahren. Trotzdem gilt es auch hier, die innere Not der Kinder zu verstehen, die hinter solchen Äußerungen liegt.
In der Jugendzeit werden Suizidäußerungen, Suizidversuche und Suizide mit zunehmendem Alter deutlich häufiger. Unterschieden wird zwischen vollzogenen Suiziden, die zum Tode führen, und Suizidgedanken, Suizidäußerungen, Suiziddrohungen und Suizidversuchen. Die Suizidversuche werden zum einen bezüglich der Lebensgefahr unterteilt in leicht bis schwerwiegend, zum anderen bezüglich der Absicht, sterben zu wollen, in appellativ bis ernsthaft. Im Sinne der Sekundärprävention sind gute Behandlungserfahrungen in der Adoleszenz mitentscheidend für die Verhinderung später letal endender Suizidversuche. Viele Erwachsene
307 34.3 · Suizidalität: zur Beratung und Begleitung von suizidalen Kindern, Jugendlichen und deren Eltern
kommen häufig Jahre später wieder in eine Beratung oder beginnen eine Therapie, wenn sie als Kinder und Jugendliche gute Erfahrungen mit professioneller Hilfe gemacht haben. In der kinder- und jugendmedizinischen Praxis hat die Abwendung einer suizidalen Handlung oberste Priorität. Entscheidend dabei ist die tragfähige Beziehung des Kindes zum Praxispersonal und dem Arzt oder der Ärztin ab dem ersten Kontakt.
34.3.1
Häufigkeit von Suizidversuchen
Über Suizidversuche werden keine amtlichen Statistiken geführt. Eine Erfassung aller Suizidversuchshandlungen ist zudem sehr schwierig, weil nur ein Teil der suizidalen Handlungen, z. B. diejenigen, die in Krankenhäusern behandelt werden müssen, bekannt wird. Viele Suizidversuche werden nur Beratungsstellen oder Hausärzten mitgeteilt oder bleiben völlig unbehandelt und damit ungezählt. Man kann davon ausgehen, dass in der Altersgruppe bis 25 Jahre ca. 20–30-mal mehr Suizidversuche begangen werden als vollzogene Suizide. Das wären in Deutschland ca. 25.000 Suizidversuche bei den unter 25-Jährigen pro Jahr. Suizidversuche sind immer Hinweise für Belastungen und müssen deshalb unabhängig von der Schwere des Versuches ernstgenommen werden. Maßnahmen zur Veränderung der Belastung sollen folgen. Generell wird angenommen, dass die Zahl der Versuche in der Gruppe junger Menschen am höchsten ist, Frauen dabei dreimal häufiger als Männer, was die Versuche betrifft. 34.3.2
Häufigkeit von vollzogenen Suiziden
Jede Statistik über Suizide ist mit Vorsicht zu betrachten. Es ist davon auszugehen, dass eine große Zahl von Suiziden nicht als solche erkannt und erfasst werden. So ist anzunehmen, dass sich unter der Rubrik KFZ-Unfälle und Drogentote ebenso wie bei den »ungeklärten Todesfällen« viele Suizide verbergen. Generell sterben durch Suizid Männer doppelt so häufig wie Frauen. In der Bundesrepublik Deutschland (alte und neue Bundesländer) haben sich im Jahr 2002 insgesamt 11.163 Menschen (14,5/100.000 Einwohner) das Leben genommen (Quelle: Statistisches Bundesamt). Davon waren 4 unter 10 Jahren: 0 Personen 4 zwischen 10‒15 Jahren: 25 Personen 4 zwischen 15‒20 Jahren: 314 Personen 4 zwischen 20‒25 Jahren: 436 Personen Bei jährlich 11.163 Suiziden in Deutschland wird deutlich, dass im Gegensatz zu den Versuchen der Großteil der tatsächlich vollendeten Suizide im Erwachsenenalter stattfindet. Die Auseinandersetzung mit Suizidgedanken beginnt jedoch häufig bereits in der Kindheit und Adoleszenz. Suizidprävention heißt, gute Erfahrungen bei früheren Krisen gemacht zu haben.
34.3.3
Hinterbliebene nach Suiziden im Umfeld
Bei niedrig geschätzten 10 betroffenen Personen im direkten Umfeld eines Suizids rechnen wir mit jährlich über 100.000 Hinterbliebenen von Suiziden. Bei einer Erfassungsspanne von 50 Jahren sind dies zurzeit mindestens 5 Mio. Menschen in
34
Deutschland, die in vielfältiger Weise an den Folgen von Suiziden in ihrem Umfeld leiden können. Hinterbliebene suchen Ärzte häufig wegen körperlicher Beschwerden auf. Ein Besprechen der Belastungen nach einem Suizid in der Familie bringt Entlastung und trägt zur Prävention weiterer Suizide bei. Hinterbliebene Geschwister sollten unbedingt begleitet werden. Häufig leiden Geschwister besonders lange unter eigenen Schuldvorwürfen oder erleben den Suizid als nachvollziehbare und auch für sie in Frage kommende Konfliktlösung. Durch die Trauerreaktion der Eltern können sich die lebenden Geschwister als weniger geliebt bis ausgestoßen erleben.
34.3.4
Vorgehen bei Suizidalität
Beispiel Krisenberatung: »Die Situation eines erst mal fremden Menschens zu erfassen, ist oft schwierig. Es hat sich dabei bewährt, etwas mehr über fünf wesentliche Lebensbereiche zu erfahren, um dich und deine Situation besser verstehen zu können. Diese Lebensbereiche sind für die Zufriedenheit von Menschen wichtig bzw. tragen zur Stimmung bei. Ist es in Ordnung für dich, wenn ich dir kurz die fünf Bereiche aufzähle und wir dann schauen, wie du deine Situation in den einzelnen Bereichen siehst? Letztlich geht es um...«
Krisenberatungen kommen mitunter sehr chaotisch zustande und die Beteiligten sind selten ruhig und strukturiert. Es kommt auch vor, dass die Jugendlichen unverständlich ruhig erscheinen oder stumm sind. Ziel ist es, dem Jugendlichen Ruhe und Zuversicht zu vermitteln. Dabei empfiehlt sich ein einfühlsames und geordnetes Vorgehen. Oberstes Ziel sollte sein, dass der Jugendliche ein zweites Mal in die Praxis kommt und sich in der Zwischenzeit eine gewisse innere Distanz zum Sterbenwollen einstellen kann. Alternativen zum Suizid können mit der Zeit zugelassen werden. Im Wesentlichen interessiert sich der Untersucher wie bei der körperlichen Untersuchung für definierbare Teilbereiche, die er nebeneinander oder nacheinander abfragt. So kann man sich in ca.15‒30 Minuten ein erstes Bild machen und dem Jugendlichen dabei Kompetenz und Interesse an seiner Situation vermitteln. Wichtig ist, dass der Jugendliche das Motiv hinter den Fragen versteht.
34.3.5
Die fünf wesentlichen Lebensbereiche
1. Beziehungen: Partnerschaft, Vater, Mutter, Geschwister, andere Verwandte, Freunde 2. Schule/Ausbildung/Beruf/Karriere 3. Wohnverhältnisse: Schlaf- und Wohnräume, Störungen, Fahrwege 4. Finanzen: Taschengeld, Einkünfte, Schulden 5. Gesundheit, Schmerzen, körperliches Erleben, Wohlbefinden Ziel dabei ist, besondere Ereignisse und mögliche Belastungen, aber auch Bereiche, die o.k. oder gut laufen, zu erfahren. Möglichkeiten, die einem oft selber nicht mehr bewusst sind, können so vielleicht gefunden werden.
308
Kapitel 34 · Verhaltensauffällige Jugendliche
Tipp Bei Fragen nach Straftaten, Schulden, Drogenkonsum oder sexuellen Neigungen (homosexuelle Jugendliche haben ein erhöhtes Suizidrisiko) wie auch bei Gewalterfahrung und Missbrauch hilft es, wenn man vorausschickt, dass man diese Fragen allen Jugendlichen in diesem Alter stellt und auch darüber die Schweigepflicht gilt.
34.3.6
Risikoeinschätzung
Im Zusammenhang mit Suizidalität hat die Diagnostik immer auch therapeutische Auswirkungen. Vergleichbar mit einer multimodalen, mehrgleisigen Diagnostik und Therapie kann man bei der Risikoeinschätzung und Maßnahmenplanung einen Befund erheben, indem man gleichzeitig auf folgende Aspekte achtet: Beziehung aufbauen, Akzeptanz erreichen
34
Bereits bei der Anmeldung sollte versucht werden, Hemmschwellen zu senken, um möglichst viele Jugendliche in einer Lebenskrise zu erreichen. Ein erstes Gespräch ohne aufwendige Anmeldeformulare, Einverständniserklärungen der Eltern, Meldung an die Krankenkasse oder Angaben von persönlichen Daten wie Name, Adresse und Telefonnummer der Eltern wäre ideal. Der Jugendliche sollte am Telefon oder an der Rezeption auch nur sagen dürfen, er wolle den Arzt sprechen. Daten lassen sich meist noch im Laufe der Gespräche erheben. Viele Jugendliche befürchten zu Recht, dass über die Inhalte mit den Eltern oder anderen (z. B. Lehrern, Polizisten, Jugendämtern) gesprochen wird. Jugendliche geben lieber ihre eigene Mobiltelefonnummer an als die Haustelefonnummer der Eltern. Längeres Warten im Wartezimmer sollte vermieden werden, da Geduld und Gelassenheit beim suizidalen Jugendlichen meist sehr reduziert oder nicht existent sind. Längeres Wartenlassen wird möglicherweise als mangelndes Interesse oder fehlende Zeit des Arztes interpretiert. Zudem schämen sich viele Jugendliche in Wartezimmern und gehen vielleicht wieder. Wichtig ist es, dem Jugendlichen den Sinn und Zweck von Beratung in einer Krise zu erklären. Das ärztliche Angebot (Dauer, Häufigkeit, Hilfsmöglichkeiten) muss dargestellt werden. Die Schweigeverpflichtung sollte umfassend erläutert werden. Beispiel »Wenn man hier über problematische oder schwierige Situationen redet, gibt es eine Schweigeverpflichtung. Menschen (z. B. Eltern, Lehrer), die sich informieren möchten, müssen verstehen, dass man hier nicht mehr offen sprechen kann, wenn die ärztliche Schweigepflicht gebrochen wird. Wir versuchen, dass Jugendliche wie du ihre Belange selber in die Hand nehmen können und nicht der Arzt versucht zu helfen, indem er Informationen an Dritte weitergibt. Etwas anderes ist es, wenn du selbst uns bittest, mit jemand zu sprechen.«
Während der Gespräche sollten Unterbrechungen wie Rezepte unterschreiben, Zwischenfragen des Personals, telefonieren, »kurz mal rausgehen« etc. unterbleiben. Jugendliche in suizidalen Krisen sind häufig extrem leicht zu kränken und fühlen sich schnell abgewertet
Die ärztliche Grundhaltung sollte anteilnehmend neugierig sein. Nach der Frage, weshalb er kommt, sollte dem Jugendlichen erklärt werden, auf welche Weise (s. o. Vorgehen bei Suizidalität, fünf Lebensbereiche) man versuchen wird zu helfen und ob das für den Betreffenden so o.k. ist. Man sollte nicht zuerst schnell konfrontieren und auf Fehlverhalten des Jugendlichen oder anderer hinweisen. Moralisieren und Bloßstellen sind ebenso wenig hilfreich wie schnelles Hinwegtrösten, schnelle Suggestionen oder Ratschläge. Der Jugendliche könnte dies als Besserwisserei und »rasch weiterkommen wollen« interpretieren oder sich selber als minderwertig empfinden, was bei Suizidgefahr unbedingt zu vermeiden ist. Verstehen bedeutet Verständnis zeigen können. Der Jugendliche sollte selber zur Einsicht kommen und nicht durch den Helfer darauf gestoßen werden. »Ich würde gerne nachvollziehen und verstehen, in welcher Situation sich wer wie verhalten hat und was dann passierte oder geschah.« Anlässe für Suizidalität erfahren
»Du hast gesagt, dass du keine Ahnung hast, weshalb du den Suizidversuch gemacht hast. Könnte denn eines oder mehrere der (u. g.) Gründe dafür in Frage kommen? Ich würde gerne verstehen, wie es dir in der Situation gegangen ist, was du dabei erlebt oder gedacht hast.« Für die Umwelt werden Suizidhandlungen oft »ohne wirklichen Grund« begangen. Die Auslöser erscheinen insbesondere Erwachsenen häufig banal. Für das Verständnis der Suizidalität eines Jugendlichen hilft es zwischen Auslösern und dahinterliegenden oder tiefergehenden Ursachen zu unterscheiden. Auslöser sind die Ereignisse, die kurz vor einer Suizidhandlung stehen, die »das Fass zum Überlaufen bringen«. Im Volksmund gibt es viele Metaphern für solche Situationen. »Viele Menschen erleben eine Krise so, als würde ein Fass überlaufen, ein Vulkan ausbrechen, es einen Knall geben oder ein schwer bepackter Rucksack nicht mehr alleine zu tragen oder zu ertragen sein. Könnte eines der Beispiele für dich zutreffen?« Warum ein Ereignis, wie z. B. ein Verbot, das die einen verkraften, für einen anderen nicht aushaltbar ist, bleibt oft zunächst unklar, bis man die tiefergehenden Ursachen bzw. zusätzlich belastenden Faktoren ergründen kann. Es gilt die subjektive Betroffenheit des Jugendlichen zu erfassen, auch oder gerade wenn sie diskrepant zu einem »objektiven, vernünftigen« Erleben steht. Mögliche Anlässe im Sinne von Risikofaktoren für Suizidalität sind: 4 Trennungen 4 Kränkungen 4 Schulisches/berufliches Versagen 4 Zugehörigkeit zu einer Randgruppe (Homosexuelle, Ausländer etc.) 4 Umzüge, Schulwechsel, Verlust von Gewohntem 4 Mobbing 4 Straffälligkeit 4 Traumatische Erlebnisse: Todesfälle, Unfälle, Gewalterfahrungen wie Misshandlung, Missbrauch, schwerste Vernachlässigung 4 Psychiatrische Erkrankungen (Schizophrenie, Essstörung, Persönlichkeitsstörung, Depression: 7 Kap. 34.2) 4 Suizidversuche und vollzogene Suizide im Umfeld der Jugendlichen 4 Mediendarstellungen von Suiziden, die immer ein großes Risiko zur Nachahmung beinhalten (Werther-Effekt)
309 34.3 · Suizidalität: zur Beratung und Begleitung von suizidalen Kindern, Jugendlichen und deren Eltern
Berücksichtigen belastender Familiendynamiken
Folgende Familienthemen können die Suizidgefahr deutlich erhöhen und sollten bei der Beurteilung der Gesamtsituation berücksichtigt werden: Das entbehrliche Kind/der entbehrliche Jugendliche. Viele,
kurz aufeinanderfolgende Kinder begünstigen suizidale Gedanken, da beim einzelnen Jugendlichen der (falsche) Eindruck entstehen kann, dass es selber nicht wirklich benötigt und erwünscht sein könnte. Bei Eltern, die in Sorge um ein krankes oder behindertes Kind so absorbiert sind oder die Enttäuschung über den Verlust eines Kindes nicht verkraften, begünstigen beim gesunden Geschwister Phantasien, dass es den Eltern lieber gewesen wäre, es selbst wäre gestorben. Starke Schuldzuweisungen an das Kind. Häufig fühlen sich auch
Jugendliche mitschuldig an der Erkrankung eines Geschwisters, am Tod von Familienangehörigen oder an der Krankheit eines Elternteils. Auch die unglücklich verlaufende Ehe der Eltern wird oft den Kindern/Jugendlichen angelastet bzw. Sie fühlen sich mitschuldig. Abgebrochene Karrieren eines Elternteils aufgrund des Kindes, unerfüllte Hoffnungen in das eigene Leben oder das der Kinder können zu großer Vorwurfshaltung gegenüber den Kindern führen. Vorbild, Familientradition einer pessimistischen Lebenshaltung. Ein Familienmitglied ist depressiv und/oder suizidal, droht
immer wieder, oft über Jahre, mit Suizid oder erweitertem Suizid (d. h. Mitnahme von anderen in den Tod). Suizidalität ist ständig Thema in der Familie und wird als Konfliktlösungsmuster erlebt. Nicht selten gibt es in Familien Mythenbildungen um tragisch gescheiterte Vorfahren (»Er ist wie der Onkel X, der auch nie glücklich wurde und sich umbrachte«). Loyalitätskonflikte. Bei Streit der Eltern, bei Trennungen und Scheidungen denken Kinder und Jugendliche an den eigenen Suizid, um den Streitigkeiten zu entfliehen oder um sich nicht für einen und damit gegen den anderen Elternteil entscheiden zu müssen. Symbiotische Bindung. Adoleszenz bedeutet immer, dass eine Ablösung von den Eltern ansteht. Vorherrschend ist eine ambivalente Haltung aller Beteiligten. Der Jugendliche hat entweder Angst, die Eltern oder einen Elternteil alleine zu lassen oder fühlt sich von einem vorher sehr eng verbundenen Elternteil plötzlich verlassen. Zum Beispiel eine alleinerziehende Mutter, die nach langer Zeit des Alleinlebens mit dem Sohn einen neue Partnerschaft eingeht oder beschließt, dass der Sohn jetzt selbstständiger werden müsse. Der jugendliche Sohn fühlt sich verraten oder verlassen und wird suizidal. Der Konflikt könnte durch einseitige radikale Beziehungstrennung durch Suizid entschieden werden. Jugendlich sein heißt immer auch, dass ein »alter Schuh« zu klein wird, er an allen Ecken drückt, ein neuer Schuh jedoch noch nicht gefunden ist. Eltern wie Kinder pendeln dann zwischen einem zunehmend unbefriedigenden alten Verhalten und einem neuen noch unbekannten, ungeübten und oft unzufriedenstellenden Neuem hin und her. Beide Seiten werfen sich dabei oft Undankbarkeit, Respektlosigkeit und Inkonsequenz im Verhalten vor.
34
Gewaltatmosphäre, Misshandlungen, Missbrauch, Vernachlässigung. In Familien mit Misshandlungen, Missbrauch und Ver-
nachlässigung gibt es multiple Belastungen, die suizidale Entwicklungen bei den Betroffenen in jedem Lebensalter erklären. Die Opfer fühlen sich z. B. oft selber schuldig an den ihnen widerfahrenen Dingen, schämen sich dafür, sind traurig über die negativen Umstände, empfinden Neid darüber, dass es die anderen besser haben, sind wütend auf die Täter oder erleben Ohnmachtgefühle über die scheinbare Ausweglosigkeit. Nicht selten erleben Jugendliche, die in der kinder- und jugendmedizinischen Praxis auftauchen können, noch aktuell Misshandlung oder Missbrauch, was ein offenes Reden darüber fast unmöglich macht. Hierbei ist es besonders wichtig, behutsam und sensibel vorzugehen, aber auch nicht den Eindruck zu erwecken, dass über diese Themen nicht gesprochen werden dürfte. »Jetzt würde ich noch ein paar Fragen stellen zu Themen, die für Menschen in deinem Alter eine Bedeutung haben können und die ich deshalb immer erfrage. Es sind Dinge, über die es besonders schwer fallen kann zu sprechen, die aber wenn sie bestehen würden, eine Veränderung notwendig machen könnten. Besonders auch über diese Dinge gilt die Schweigepflicht. Ist das o.k.?« Wenn vom Jugendlichen Zustimmung kommt, kann man z. B. nach Drogenerfahrungen und aktuellem Drogen- und Alkoholkonsum fragen. Danach nach Straftaten wie z. B. ein Ladendiebstahl oder Schulden, die durch Handyrechnungen, Internetgebühren und Rateneinkäufe entstanden sind. Gelingt dies in einem offenen Verhältnis, können sexuelle Erfahrungen und Kontakte, freiwillige und auch unfreiwillige erfragt werden. Die Motive für den Suizidversuch verstehen. Häufig werden Su-
izidhandlungen von einer Mischung aus verschiedenen Motiven begleitet. Diese können entweder aus den Lebensumständen und aktuellen Belastungen heraus vermutet oder von den Jugendlichen angegeben werden. Oft werden akute Anlässe schneller benannt als dahinterliegende Motive, die man auch nicht immer als erstes direkt erfragen sollte. Häufige Motive, die das Risiko für Suizidalität erhöhen sind: 4 Andere ins Unrecht setzen, sie traurig stimmen, ihnen Schuld zuweisen 4 Die eigene Ratlosigkeit und Verzweiflung darstellen. Dies kann auch als Appell gerichtet sein, um Hilfe oder irgendeine Art von Veränderung zu bekommen 4 Aufmerksamkeit und Zuwendung auf sich lenken 4 Hilfe und Unterstützung abrufen 4 Loyalität überprüfen (»Halten sie noch zu mir?«) 4 Die Bedeutung des anderen darstellen (»Ohne dich kann ich nicht leben!«) 4 Aus einem Konflikt gehen, Ruhe haben, befreit sein wollen von allen Belastungen 4 Sich drohendem Unheil oder Zurückweisung erst gar nicht stellen müssen 4 Quälenden Gedanken wie z. B. eigenen Schuldvorwürfen entgehen 4 Tot zu sein und auf ein »besseres Jenseits« zu hoffen oder mit anderen Verstorbenen verbunden zu sein. Suizidversuche und vollzogne Suizide im Umfeld stellen immer ein hohes Risiko für Nachahmer dar Signale für schwere Krisen und Suizidgefahr erkennen. Für die
Umwelt kommen Suizidhandlungen oft »aus heiterem Himmel«.
310
Kapitel 34 · Verhaltensauffällige Jugendliche
Bei genauerer Betrachtung werden aber fast immer Signale ausgesandt, die als Symptome verstanden werden können und diagnostisch wegweisend sind. Auffälliges Verhalten
4 Weglaufen, Schule/Ausbildung schwänzen, Leistungsabfall 4 Sozialer Rückzug mit Vereinsamung, Lust- und Interesselosigkeit 4 Auffällige Verhaltensänderung (auch unerklärliche Gelassenheit) 4 Körperliche Verwahrlosung oder das Gegenteil 4 Veränderung der Essgewohnheiten, psychosomatische Beschwerden Äußerungen
4 Vage oder konkrete Suizidäußerungen 4 Versteckte, indirekte, verschlüsselte Hinweise auf ein Lebensende, z. B. dass man an Ostern/Weihnachten nicht mehr da sein wird, oder dass man eine Klassenfahrt eh nicht mitmachen wird 4 Fragen, bzw. »neutrale« Diskussion über tödliche Mittel 4 Verwenden von Zeichen, Symbolen, Farben, die auf Suizid hinweisen, z. B. schwarze Kreuze, Gräber, Galgen, illustrierte Tötungsszenen 4 Worte, Sätze, Gedichte, die auf Suizidalität hinweisen 4 Abschiedsbriefe 4 Äußerungen wie »Recht auf Freitod«, »Jeder sollte sterben wann er will«
Konflikt, z. B. Wut oder Ohnmacht. Die Liste der möglichen Gefühle entspricht obiger Liste für die Jugendlichen. Besonders gefährlich sind Ungeduld, Verärgerung und Tendenzen zum Bagatellisieren beim Behandler. Leicht kränkbare Jugendliche können sich abgelehnt oder nicht ernstgenommen fühlen. Viele Jugendliche neigen selber zum Bagatellisieren, um keine Umstände zu machen oder weil sie dadurch hoffen, schneller aus der Beratungssituation zu kommen, da sie sich auch vom Arzt unverstanden fühlen. Auch wenn man sich sehr gut mit dem Jugendlichen versteht, besteht die Gefahr, dass man die Not des Jugendlichen bagatellisiert. Diagnosen stellen, Differentialdiagnosen ausschließen. Auch wenn eine genaue Diagnose oft schwierig zu stellen ist, sollte eine diagnostische Eingrenzung nicht fehlen. Oft ergibt sich aus den differentialdiagnostischen Überlegungen ein Verständnis für die Situation und Suizidalität. Therapeutische Maßnahmen lassen sich daraus oft besser ableiten. Mögliche Diagnosen neben einer oft attestierten Adoleszentenkrise sind: 4 Akute Belastungsreaktion (ICD 10: F43.0) 4 Posttraumatische Belastungsstörung (ICD 10: F43.1) 4 Schulische Überforderung, Teilleistungsstörung (z. B. Legasthenie ‒ ICD 10: F81.0, Essstörungen ‒ ICD 10: F50, Persönlichkeitsstörungen ‒ ICD 10: F60, Depression ‒ ICD 10: F33) 4 Schizophrenie (ICD 10: F20)
34.3.7
Vorgehen in der Praxis – Intervention
Praktische Vorbereitungen zum Suizid
4 Z. B. Tabletten sammeln, Testbesuch einer Brücke, besorgen eines Staubsaugerschlauchs zum Einleiten von Autoabgasen in das Wageninnere 4 Persönliche Dinge verschenken im Sinne einer Testamentsvollstreckung Gefühle beim Jugendlichen erfassen. Folgende Gefühle und Re-
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aktionen sind bei Suizidgefährdeten typisch und können im Gespräch erfasst werden. Falls der Jugendliche Gefühle nicht oder nur sehr ungenau benennt, kann man ihm auch typische Gefühle anderer anbieten. Der Jugendliche soll entlastet werden und sich verstanden fühlen. »Wenn du dich an diese Situation erinnerst, was ging oder geht dir da durch den Kopf, was hast du da erlebt oder empfunden? Könnte so etwas dabei gewesen sein wie…« 4 Ohnmacht, Ausweglosigkeit 4 Scham, Schuld 4 Kränkung, Zurücksetzung 4 Enttäuschung, Ärger, Wut 4 Argwohn, Neid 4 Angst, Zweifel, Misstrauen 4 Trauer, Resignation 4 Leere 4 Fatalismus 4 Unbegründete Hoffnung 4 Demütigung, Bloßstellung 4 Idealisierung, Abwertung Gefühle bei sich als Helfer bemerken und nutzen. Oft entsprechen die aufkommenden Gefühle beim Untersucher denen des Jugendlichen oder den Gefühlen von anderen Beteiligten eines
Ein Kernproblem im Umgang mit suizidalen Jugendlichen besteht darin, mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Wenn ein Jugendlicher von sich aus Eltern oder andere Erwachsene wie Verwandte, Lehrer, Ärzte, Trainer etc. anspricht ist es deutlich einfacher. Der Jugendliche sucht Hilfe und Rat. Weitaus häufiger allerdings signalisieren Jugendliche eher durch ihr Verhalten oder psychosomatische Erkrankungen, dass sie Hilfe brauchen. Sie lassen eher »die Puppen tanzen«. In der Pubertät, einer Zeit geprägt vom Ringen um die eigene Identität, Ablösung und Unabhängigkeit, gelten Erwachsene oft als ewig besserwissende und Vorschriften machende Instanzen, die einen nicht verstehen. Auch deswegen werden Eltern oft am wenigsten ins Vertrauen gezogen. Auch alle anderen von den Eltern eingesetzte Erwachsenen werden schnell abgelehnt, wenn Jugendliche nicht den Eindruck haben, dass man es gut mit ihnen meint. Wenn Jugendliche durch negatives Verhalten auf sich aufmerksam machen, ist es wichtig, dies ohne Vorwurf anzusprechen. »Ich habe gehört, dass sich Deine Schulnoten in den letzten Wochen verschlechtert haben, stimmt das denn, siehst du das auch so?« «Ich wundere mich darüber und mache mir Sorgen und frage mich, woran das liegen könnte. Hast du eine Idee?« Wichtig ist, dass man sich durch eine bagatellisierende Antwort oder eine coole Fassade nicht entmutigen oder verärgern lässt. Viele Menschen in akuten Krisen verstecken Verzweiflung, Wut und Trauer hinter einer arrogant anmutenden, aggressiven oder coolen Fassade. Auch betont selbstsicheres oder fröhliches Verhalten kann irritieren. Auch hier kann es sinnvoll sein, einen erkennbaren Widerspruch zum Verhalten oder der Sorge anderer deutlich zu machen: »Wie würde es denn auf dich wirken, was würdest du denn denken und tun, wenn du an meiner Stelle wärst?«
311 34.3 · Suizidalität: zur Beratung und Begleitung von suizidalen Kindern, Jugendlichen und deren Eltern
34.3.8
Fragen zum besseren Verständnis
4 Wo sind Belastungen, in welchen Lebensbereichen: Beziehungen, Schule, Wohnen, Finanzen, Körperlichem/Gesundheit? (7 Abschn. 34.3.5.) 4 Wer leidet? Nur der Jugendliche oder auch die Geschwister, die Freundin, die halbe Klasse? 4 Unter was oder wem leidet man? 4 Wie lange schon? Stunden, Tage, Wochen, Monate, Jahre 4 Wie oft pro Tag, Woche, Monat, Jahr? 4 Wie stark? Bisschen, erträglich, abnehmend, zunehmend, sehr, unerträglich, so nicht mehr auszuhalten?
Tipp Häufig sagen Jugendliche eher zu wenig als zuviel. Sinnvoll sind Fragen zur Situation, dem Verhalten und den Folgen/Ergebnissen: Jugendlicher: »Mir geht es schlecht!« (Ergebnis) Arzt: »In welcher Situation« (Situation) – »Was tust Du dann? Was machen die anderen? Was hast du früher getan?« (Verhalten) – »Was ist dann passiert?« (neues Ergebnis) – »Wie hat sich die Situation verändert?« (neue Situation) – »Was könntest Du anderes tun?« (neues Verhalten) – »Was könnte sich dadurch ergeben?« (neues Ergebnis)
34.3.9
Umgang mit dem Tabuthema Selbstmord
Wichtig ist es, die Probleme des Jugendlichen ernst zu nehmen, auch wenn man selber mit deutlich besserer Frustrationstoleranz ausgestattet ist. Schlechte Noten erscheinen nicht so tragisch oder eben selbst verschuldet, eine unglückliche Liebe wird leicht mal belächelt, wohingegen sie für den Jugendlichen eine existentielle Angelegenheit sein kann. Ebenso wichtig ist es, Mitgefühl auszudrücken, ohne zu sehr zu bemitleiden, Zuversicht auszustrahlen ohne zu schnell über etwas hinwegtrösten zu wollen. Auch kann man nie wissen, ob hinter den zunächst angegebenen Gründen nicht auch schwerwiegende Belastungen und Traumata wie häusliche Gewalt, Vernachlässigung und Missbrauch liegen können. Wenn Sorgen, Ängste oder Belastungen einmal thematisiert sind, sollte man mögliche Suizidgedanken ansprechen. »Bei all dem was du jetzt geschildert hast, hast du da schon mal daran gedacht, so wie bisher nicht mehr weiter leben zu wollen oder zu können?« Falls die Antwort »Ja« ist, sollte man nicht erschrecken, sondern ruhig weiterfragen, wie konkret etwaige Suizidpläne bereits verfolgt wurden. Es besteht eine deutlich größere Suizidgefahr, wenn der Jugendliche sich schon einen bestimmten Platz zum Sterben ausgesucht hat oder Suizidmittel wie Tabletten oder einen Staubsaugerschlauch zum Autoabgase einleiten besorgt hat. Es ist falsch, dass durch das Ansprechen möglicher Suizidgedanken der Jugendliche erst auf die Idee gebracht wird. Suizidgedanken bestehen bei sehr vielen Jugendlichen, sie anzusprechen ermöglicht oft erst, darüber zu reden und Alternativen zum Suizid zu finden. Im offenen Gespräch wird der Jugendliche bereits aus seiner Isolation herausgeführt. Wichtig dabei ist, dass Suizidalität als etwas allgemein Bekanntes, Häufiges und Veränderbares erkannt werden kann. Es gibt immer einen Teil in jedem Menschen, der Leben möchte und einen Teil, der so nicht mehr leben will oder kann. Suizidale Ju-
34
gendliche wollen selten tot sein, sondern vielmehr nicht mehr so weiterleben wie bisher (Motive). Negativen Pausenwünschen im Sinne von Sterben wollen, um endlich Ruhe zu haben, sollten lebensbejahende Argumente gegenüber gestellt werden. Positive Veränderungswünsche sollten bestärkt werden, z. B. dass man in Zukunft auch anders leben könnte. Wie könnte ein Leben in 6 Monaten, 1 Jahr, 5 Jahren, 10 Jahren aussehen? Gibt es positive Momente im Leben?
34.3.10
Umgang mit häufigen Suiziddrohungen
Häufig wiederkehrende Suizidäußerungen werden nicht selten auch zur Durchsetzung von Wünschen und/oder zur Vermeidung von negativen Konsequenzen eingesetzt. Dies setzt die Umgebung unter großen Druck und löst Sorge wie Ärger gleichermaßen aus. Leider kann man nicht annehmen, dass wer oft Suizidankündigungen macht, sich nicht das Leben nehmen wird. Dies wird immer wieder fälschlicherweise behauptet und leider oft durch spätere Suizide widerlegt. Wenn Suizidäußerungen oder -drohungen ignoriert werden, löst dies mitunter einen Teufelskreis aus, der im Suizid enden kann. Meint man hingegen alle Wünsche des Jugendlichen erfüllen zu müssen, kann dies ebenfalls zum Suizidversuch führen. Am besten benennt man auch gegenüber dem Jugendlichen dieses Dilemma. Dabei ist es wichtig, nicht verärgert und aggressiv zu sein. Das Wissen, dass auch oder gerade hinter dem jugendlichen Agieren eine tiefe innere Not, z. B. ein Selbstwertproblem oder Ängste, liegen können, ermöglicht es besser, seinen Ärger in Grenzen zu halten.
34.3.11
Grenzen der ambulanten Suizidprävention
Ein Krisengespräch über Suizidalität kann den Arzt in einige Schwierigkeiten bringen, weshalb viele Hausärzte bei Jugendlichen wie bei Erwachsenen die entscheidende Frage nach Suizidgedanken nicht stellen, obwohl ein dramatisch hoher Anteil von Suizidenten kurz vor dem tödlichen Suizid noch einen Arzt aufsucht. Bei folgenden Umständen sollte an eine Klinikeinweisung gedacht werden: 4 Erhebliche Selbstgefährdung (durch ambulante Krisenintervention nicht verändert) 4 Erhebliche Fremdgefährdung (z. B. Aggression, gefährdendes Verhalten) 4 Nach Suizidversuch (medizinische Abklärung, weiterbestehende Suizidalität) 4 Psychopathologischer Befund mit schwerer Depressivität, wahnhaft, agitiert, desorientiert und mit unzureichendem Gesprächskontakt 4 Schwierige soziale Situation mit ungenügenden Hilfsressourcen und überfordertem und erschöpftem sozialem Umfeld. Herausnahme aus dem sozialen Krisenfeld scheint als Zäsur notwendig Vorgehen: 4 Sich nicht provozieren oder hilflos machen lassen 4 Rücksprache und Beratung z. B. mit Erziehungs-/Familienberatungsstellen, Drogen- oder Schulberatung, Kinder- und Jugendpsychiatern, Kliniken
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Kapitel 34 · Verhaltensauffällige Jugendliche
4 Versuchen, den Patienten zu motivieren, freiwillig in die Klinik zu gehen 4 Wenn keine sinnvolle Verständigung möglich ist, Einweisung ohne Hast 4 Zum Schutz des Lebens nicht vor Notarzt oder Polizei zurückschrecken 4 Sorgeberechtigte informieren 4 Klarheit über die Priorität: Leben sichern 34.3.12
Krisenintervention – Zusammenfassung
4 Aufbau einer Beziehung: Gesprächsfokus auf die aktuelle Lebenssituation 4 Situation abklären: Themen offen ansprechen, Verzweiflung als eine denkbare Möglichkeit akzeptieren und nicht dagegen anreden wollen 4 Aushalten der eigenen Ratlosigkeit oder Hilflosigkeit 4 Schwierige Situation zum Thema machen: Zusammenfassen der Belastung 4 Mögliche Suizidgedanken ansprechen: z. B. »Bei all dem was du jetzt geschildert hast, hast du da schon mal daran gedacht, so wie bisher nicht mehr weiterleben zu wollen oder zu können?« 4 Wenn Suizidgedanken bestätigt werden, nachfragen nach konkreten Plänen 4 Stellvertretend eigene Hoffnung ausdrücken, dabei nicht bagatellisieren 4 Konfrontation mit der eigenen Sicht der Dinge, Diskrepanzen benennen 4 Motivieren zum Einbeziehen von weiteren Vertrauenspersonen 4 Weitere Gespräche vereinbaren und/oder Weitervermittlung klären
Literatur
34
Crepet P (1996) Das tödliche Gefühl der Leere. Suizid bei Jugendlichen. Reinbeck Dickhaut HH (1995) Selbstmord bei Kindern und Jugendlichen. Ein Handbuch für helfende Berufe und Eltern. Beltz Giernalczyk T (2003) Lebensmüde. Hilfe bei Selbstmordgefährdung. dgvt
nen Verhaltensweisen, durch die altersentsprechende Normen, Regeln und/oder Rechte anderer beeinträchtigt werden. Mit dem Begriff Verwahrlosung wird, relativ unscharf, eine generalisierte und anhaltende Abweichung von sozialen Normen bezeichnet. Bei langfristiger Persistenz derartiger Verhaltensstörungen (bis in das Erwachsenenalter) droht die Entwicklung einer dissozialen Persönlichkeitsstörung. Die Begriffe Delinquenz und Kriminalität sind juristischer Herkunft und beziehen sich auf Handlungen, die gegen gültige Strafgesetze verstoßen bzw. strafrechtlich verfolgt werden.
34.4.2
Vorbemerkung
Die Frage, ob und inwiefern es sich bei Störungen des Sozialverhaltens um psychiatrische Störungen handelt, ist berechtigt. Kleinere Verstöße gegen soziale Regeln und Normen gehören in gewisser Weise zum normalen Entwicklungsverlauf im Kindes- und Jugendalter und bedürfen eines geeigneten pädagogischen Umgangs seitens der Erziehenden, um Kinder und Jugendliche zur eigenverantwortlichen Beachtung solcher Konventionen und zur Internalisierung moralischer Normen zu führen (Über-Ich-Entwicklung bzw. Gewissensbildung). Auch sind Verstöße gegen geltende soziale Normen nicht per se als pathologisch zu betrachten (z. B. Notwehrsituationen, ziviler Ungehorsam o. Ä.). Entwickelt sich jedoch ein sich wiederholendes und durchgehendes Muster von Verstößen gegen Regeln und Normen, so entstehen dadurch Probleme im familiären und gesellschaftlichen Zusammenleben und nicht zuletzt für den Betroffenen selbst. Derartige Verhaltensweisen bedürfen einer angemessenen pädagogischen, sozialen und ggf. strafrechtlichen Sanktionierung. Erst im weiteren Sinne ergibt sich eine psychiatrische Relevanz. Aufgabe des Jugendpsychiaters ist es, die Gesamtsituation und Bedingungsfaktoren zu analysieren, psychiatrisch relevante Faktoren wie komorbide Störungen aufzudecken und ggf. psychiatrisch-psychotherapeutische Ansatzpunkte zu finden sowie Erziehende und professionelle Helfer hinsichtlich einer individuell angemessenen Vorgehensweise zu beraten. Zu Ende gedacht berühren solche Überlegungen auch Fragen der generellen strafrechtlichen Verantwortlichkeit und philosophische Grundfragen (»Willensfreiheit«).
34.4.3
Häufigkeit
Internetadressen Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention: http://www.suizidprophylaxe. de Beratungsstelle NEUhland in Berlin: http://www.neuhland.de Beratungsstelle Die Arche in München: http://www.die-arche.de
34.4
Dissozialität
D. Schlamp 34.4.1
Definition
Der in den psychiatrischen Klassifikationssystemen etablierte Begriff Störung des Sozialverhaltens und der Begriff Dissozialität werden weitgehend deckungsgleich gebraucht. Beide kennzeich-
Ausmaß und Verbreitung von Gewalt und Delinquenz unter Kindern und Jugendlichen haben in den letzten 15 Jahren kontinuierlich zugenommen (Laucht 2001). Die Prävalenz einer Störung des Sozialverhaltens liegt bei einem Erfassungszeitraum von bis zu 1 Jahr bei bis zu 8% der Kinder und Jugendlichen in der Allgemeinbevölkerung, mit Zahlen für Jungen zwischen 6 und 16%, für Mädchen zwischen 2 und 9% (APA). In einer repräsentativen bundesweiten deutschen Studie zur Häufigkeit psychischer Störungen im Kindes- und Jugendalter (PAK-KID) werden ausgeprägt aggressive Verhaltensweisen im Altersbereich zwischen 4 und 18 Jahren bei 6% der Jungen und 3% der Mädchen (Elternurteil) bzw. 7% der Jungen und 6% der Mädchen (Selbsturteil Jugendlicher) festgestellt (Döpfner et al., zitiert nach Petermann et al. 1992). Ein Häufigkeitsgipfel zeigt sich verschiedenen Längsschnittstudien zufolge im frühen Jugendalter (Esser et al. 2000). Nichtag-
313 34.4 · Dissozialität
gressive Formen von Störungen des Sozialverhaltens zeigen einen kontinuierlichen Anstieg von der Kindheit bis ins Jugendalter, während körperlich-aggressives Verhalten mit zunehmendem Alter einen rückläufigen Trend aufweist, mit Ausnahme einer Kerngruppe von männlichen Jugendlichen mit Zunahme körperlicher Gewaltbereitschaft in der Adoleszenz (Laucht 2001). Jungen überwiegen insgesamt deutlich gegenüber Mädchen, insbesondere bei den bereits im Kindesalter beginnenden Störungen und bei aggressiven Verhaltensweisen. Der Anteil der Mädchen (mit vorwiegend nichtaggressiven Erscheinungsformen dissozialen Verhaltens) steigt im Jugendalter an.
34.4.4
Symptomatik und diagnostische Kriterien
Störung des Sozialverhaltens (DSM-IV)
Die Symptome einer Störung des Sozialverhaltens lassen sich nach der amerikanischen Klassifikation DSM-IV (APA) in vier Gruppen gliedern: 1. Aggressives Verhalten gegenüber Menschen und Tieren 4 Bedroht oder schüchtert andere häufig ein 4 Beginnt häufig Schlägereien 4 Hat schon Waffen benutzt, die anderen schweren körperlichen Schaden zufügen können (z. B. Schlagstöcke, Ziegelsteine, zerbrochene Flaschen, Messer, Gewehre) 4 War körperlich grausam zu Menschen 4 Quälte Tiere 4 Hat in Konfrontation mit dem Opfer gestohlen (z. B. Überfall, Taschendiebstahl, Erpressung, bewaffneter Raubüberfall) 4 Zwang andere zu sexuellen Handlungen 2. Zerstörung von Eigentum 4 Beging vorsätzliche Brandstiftung mit der Absicht, schweren Schaden zu verursachen 4 Zerstörte vorsätzlich fremdes Eigentum (jedoch nicht durch Brandstiftung) 3. Betrug oder Diebstahl 4 Brach in fremde Wohnungen, Gebäude oder Autos ein 4 Lügt häufig, um sich Güter oder Vorteile zu verschaffen oder um Verpflichtungen zu entgehen (d. h. »legt andere herein«) 4 Stahl Gegenstände von erheblichem Wert ohne Konfrontation mit dem Opfer (z. B. Diebstahl, jedoch ohne Einbruch, Fälschungen) 4. Schwere Regelverstöße 4 Bleibt schon vor dem 13. Lebensjahr trotz elterlicher Verbote häufig über Nacht weg 4 Lief mindestens zweimal über Nacht von zu Hause weg, während er noch bei den Eltern oder bei einer anderen Bezugsperson wohnte (oder nur einmal mit Rückkehr erst nach längerer Zeit) 4 Schwänzt schon vor dem 13. Lebensjahr häufig die Schule Um die Diagnose zu stellen, müssen mindestens drei der genannten Symptome während der letzten 12 Monate, hiervon eines während der letzten 6 Monate aufgetreten sein. Außerdem werden in klinisch bedeutsamer Weise Beeinträchtigungen in sozialen, schulischen oder beruflichen Bereichen gefordert.
34
Störung mit oppositionellem Trotzverhalten (DSM-IV)
Weniger ausgeprägt und ohne grobe körperliche Aggressionen oder Delinquenz ist die Störung mit oppositionellem Trotzverhalten nach DSM-IV (APA). Sie ist gekennzeichnet durch ein mindestens 6 Monate anhaltendes Muster von negativistischem, feindseligem und trotzigem Verhalten mit mindestens vier der folgenden Symptome: 4 Wird schnell ärgerlich 4 Streitet sich häufig mit Erwachsenen 4 Widersetzt sich häufig aktiv den Anweisungen oder Regeln von Erwachsenen oder weigert sich, diese zu befolgen 4 Verärgert andere häufig absichtlich 4 Schiebt häufig die Schuld für eigene Fehler oder eigenes Fehlverhalten auf andere 4 Ist häufig empfindlich oder lässt sich von anderen leicht verärgern 4 Ist häufig wütend und beleidigt 4 Ist häufig boshaft und nachtragend Störung des Sozialverhaltens (ICD-10)
Die ICD-10 der WHO unterscheidet sich hinsichtlich der diagnostischen Kriterien für die Störung des Sozialverhaltens (F 91) nur unwesentlich und differenziert vier Subtypen: 1. Auf den familiären Rahmen beschränkte Störung des Sozialverhaltens (F 91.0): Das aggressiv-dissoziale Verhalten geht über oppositionelles und trotziges Verhalten hinaus, beschränkt sich aber auf den häuslichen bzw. familiären Rahmen. 2. Störung des Sozialverhaltens bei fehlenden sozialen Bindungen (F 91.1): Das aggressiv-dissoziale Verhalten geht über oppositionelles und trotziges Verhalten hinaus und mit einer andauernden Beeinträchtigung der Beziehungen zu anderen Personen (insbesondere Gleichaltrigen) einher. 3. Störung des Sozialverhaltens bei vorhandenen sozialen Bindungen (F 91.2): Das aggressiv-dissoziale Verhalten geht über oppositionelles und trotziges Verhalten hinaus, z. T. findet sich andauerndes delinquentes Verhalten, jedoch mit guter sozialer Einbindung in die Altersgruppe. 4. Störung des Sozialverhaltens mit oppositionellem und aufsässigem Verhalten (F 91.3): Ungehorsames und trotziges Verhalten, Fehlen schwerer aggressiver oder delinquenter Verhaltensweisen, Beginn typischerweise vor dem 9. Lebensjahr; entspricht der Störung mit oppositionellem Trotzverhalten nach DSM-IV. Andere bzw. nicht näher bezeichnete Störung des Sozialverhaltens (F 91.8 bzw. F 91.9): Kriterien einer Störung des Sozialverhaltens erfüllt, Zuordnung zu einer der o. g. Subgruppen aber nicht möglich. Die Diagnosestellung kann erleichtert werden durch formalisierte Verfahren wie die Diagnose-Checkliste für Störungen des Sozialverhaltens (DCL-SSV) oder den Fremdbeurteilungsbogen bzw. den Selbstbeurteilungsbogen für Störungen des Sozialverhaltens (FBB-SSV bzw. SBB-SSV), beide Teil des Diagnostiksystems für psychische Störungen im Kindes- und Jugendalter nach ICD-10 und DSM-IV (DISYPS-KJ, Döpfner u. Lehmkuhl 2001).
314
34.4.5
34
Kapitel 34 · Verhaltensauffällige Jugendliche
Entstehungsbedingungen
Dissoziale Verhaltensstörungen entstehen und entwickeln sich in einem komplexen Zusammenspiel biologischer, psychologischer und sozialer Faktoren. Genetische Einflüsse sind nachgewiesen, scheinen aber kriminelles Verhalten im Erwachsenenalter in höherem Maße zu beeinflussen als dissoziale Verhaltensweisen im Kindes- und Jugendalter. Gen-Umwelt-Interaktionen wurden insbesondere in Adoptionsstudien analysiert. Bei den Familien, in denen genetische Belastung des Kindes und ungünstige familiäre Bedingungen in der Adoptivfamilie zusammentrafen, zeigten sich die höchsten Raten antisozialen Verhaltens. Es kann davon ausgegangen werden, dass Eltern mit einer eigenen Disposition zu antisozialen Verhaltensweisen besonders ungünstige Entwicklungsbedingungen für ihre Kinder bereitstellen – dieses Phänomen wird als passive Kovariation bezeichnet. Kinder mit antisozialen Auffälligkeiten rufen aber durch ihr Verhalten auch verstärkt negative Reaktionen in ihrer Umwelt hervor und tragen auf diese Weise auch zur Beeinträchtigung ihres Entwicklungsmilieus bei – dies bezeichnet man als aktive Kovariation (Matthys et al. 2003). Das »schwierige« Temperament eines Säuglings kann negative Reaktionen seitens der Eltern hervorrufen, deren feindseliges und zurückweisendes Verhalten begünstigt oppositionelles Verhalten des Kindes etc.; später können auch außerfamiliäre Faktoren wie Probleme in der Schule oder mit Gleichaltrigen zur Aufrechterhaltung und Verstärkung der Interaktionsstörungen beitragen. Aus einer trotzig-oppositionellen Verhaltensstörung im Kindesalter kann sich auf diese Weise unter ungünstigen Bedingungen eine dissoziale Verhaltensstörung im Jugendalter entwickeln. Hirnorganische Beeinträchtigungen, Einschränkungen der Intelligenz und umschriebene Entwicklungsstörungen (möglicherweise insbesondere der sprachlichen Entwicklung) können wesentlich zu einer solchen negativen Entwicklung beitragen. Kinder und Jugendliche mit Störungen des Sozialverhaltens weisen häufig eine erhöhte Impulsivität, eine geringe Frustrationstoleranz, eine eingeschränkte Fähigkeit zu längerfristigem planmäßigem und zielorientiertem Handeln sowie eine mangelnde Kompetenz hinsichtlich Problemlösung und Konzeptentwicklung auf. Sie neigen oft zu einer inadäquaten sozialen Wahrnehmung, indem sie neutrale Äußerungen als gegen sich gerichtet erleben, Schuld auch für eigenes Fehlverhalten anderen zuschreiben und sehr empfindlich auf (tatsächliche oder vermeintliche) Ablehnung oder Zurückweisung reagieren. Dissoziale Kinder und Jugendliche mit oberflächlichen Emotionen, mangelndem Mitgefühl und Schuldempfinden sowie ausgeprägter Selbstbezogenheit erscheinen in besonderer Weise gefährdet im Hinblick auf die Entwicklung einer Persönlichkeitsstörung (Laucht 2001). Die aktuelle Forschung befasst sich insbesondere auch mit neurobiologischen Aspekten bei dissozialen Störungen. Es gibt z. B. Hinweise auf mögliche strukturelle Veränderungen im Bereich des präfrontalen Kortex und der Mandelkerne, auf Ungleichgewichte v. a. im serotonergen, aber auch dopaminergen System, auf einen Einfluss erhöhter Androgenspiegel sowie auf ein niedriges Aktivierungsniveau des autonomen Nervensystems (Matthys et at. 2003). An für die Entwicklung dissozialer Störungen bedeutsamen psychosozialen Faktoren sind zu nennen: 4 Psychische Störungen und ungünstige Persönlichkeitsmerkmale der Eltern
4 4 4 4
Delinquenz der Eltern Disharmonie in der Familie Häufiger Wechsel der Bezugspersonen Vernachlässigung und Misshandlung sowie insbesondere unangemessene oder fehlende Erziehung (zu viele oder zu wenige Regeln, auf deren Einhaltung nicht konsequent genug geachtet wird; Duldung oder Verstärkung störenden oder aggressiven Verhaltens; nicht selten auch Mangel an elterlicher Wärme und Geborgenheit)
Im weiteren Umfeld können auch schwierige schulische Bedingungen, ungünstige Einflüsse von Gleichaltrigen oder Älteren oder ungünstiges »soziales Milieu« zur Entwicklung von Sozialverhaltensstörungen beitragen.
34.4.6
Differenzialdiagnose und Komorbidität
Diagnosestellung und Differenzialdiagnostik dissozialer Störungen im Jugendalter erfordern eine sorgfältige Erfassung von Anamnese, psychopathologischem und körperlich-neurologischem Befund sowie häufig ergänzende psychodiagnostische und weitere Untersuchungen. Differenzialdiagnostisch in Betracht zu ziehen sind Anpassungsstörungen mit vorwiegender Störung des Sozialverhaltens, wenn ein plausibler zeitlicher und kausaler Zusammenhang mit psychischen Belastungen besteht. Bei hyperkinetischen Störungen sind einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörungen von hyperkinetischen Störungen des Sozialverhaltens abzugrenzen (bei beiden Formen findet sich eine eingeschränkte Impulskontrolle). Auch organische Psychosyndrome, depressive Störungen, reaktive Bindungsstörungen, autistische Störungen sowie beginnende schizophrene und manische Störungen können zu Auffälligkeiten im Sozialverhalten und Aggressivität führen. Störungen des Sozialverhaltens sind sehr oft mit anderen psychischen Störungen vergesellschaftet (Komorbidität). Hyperkinetische Störungen (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörungen) gehen häufig mit dissozialen Störungen einher: hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens (ICD-10: F 90.1); da die motorische Hyperaktivität im Jugendalter meist in den Hintergrund tritt, während Aufmerksamkeitsdefizit und erhöhte Impulsivität bestehen bleiben, ist diesbezüglich die Kindheitsanamnese (auch Schulzeugnisse) heranzuziehen, da sich hierdurch ggf. spezifische Behandlungsmöglichkeiten eröffnen. Zu berücksichtigen ist auch, ob Substanzmissbrauch erfolgt bzw. eine Drogenabhängigkeit vorliegt. Erhebliche depressive Störungen (z. T. auch Angststörungen) können eine Sozialverhaltensstörung begleiten: kombinierte Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen (ICD-10: F 92); emotionale Störungen können eine Sozialverhaltensstörung mit bedingen, sich aber auch sekundär entwickeln. Schließlich ist auf begleitende umschriebene Entwicklungsstörungen oder Einschränkungen der kognitiven Fähigkeiten zu achten.
34.4.7
Verlauf und Prognose
Aggressiv-dissoziales Verhalten zeigt im längerfristigen Verlauf eine höhere Stabilität als andere psychische Störungen (Esser 1992). Aber: Dem antisozialen Verhalten Erwachsener geht anti-
315 34.4 · Dissozialität
soziales Verhalten im Kindesalter notwendig voraus; die Mehrzahl antisozialer Jugendlicher entwickelt sich jedoch nicht zu antisozialen Erwachsenen (nach Laucht 2003). Sowohl im Hinblick auf die Prognose als auch auf effektive Präventions- und Interventionsmöglichkeiten ist es wichtig, zwischen verschiedenen Verlaufstypen zu differenzieren. Epidemiologische Längsschnittuntersuchungen führten zur Charakterisierung von zwei unterschiedlichen Prägnanztypen (Moffitt 1993): Persistenter, über den Lebenslauf stabiler Typ. Der persistente,
über den Lebenslauf stabile Typ (»early starter«) ist gekennzeichnet durch frühen Beginn (schwieriges Temperament und aggressiv-oppositionelles Verhalten bereits in der frühen Kindheit), dissoziales und delinquentes Verhalten im Jugendalter und hohe Persistenz der Störung bis ins Erwachsenenalter. In dieser Gruppe finden sich in erhöhtem Maße körperlich-aggressive Verhaltensweisen, »psychopathische« Persönlichkeitszüge, kognitive Defizite, hyperkinetische Störungen und umschriebene Entwicklungsstörungen. Fortgesetzte negative Interaktionen und Habituierung problematischen Verhaltens bei schwierigen Kindern und Jugendlichen in ungünstigem familiärem und sozialem Umfeld werden hierfür v. a. verantwortlich gemacht. Es gibt offenbar aber
34
einen kleineren Teil frühzeitig im Sozialverhalten gestörter Kinder, der im Jugendalter eine günstigere Entwicklung nimmt (Laucht 2001). Episodenhafte, auf das Jugendalter begrenzte Typ. Der häufi-
ger vorkommende episodenhafte, auf das Jugendalter begrenzte Typ (»late starter«) zeichnet sich aus durch erst in der Pubertät auftretende oppositionelle, dissoziale und delinquente Verhaltensweisen, die häufig nicht durchgehend und nicht in allen Lebensbereichen auftreten und sich zumeist bis zur späteren Adoleszenz zurückbilden. Sie sind weniger aggressiv, weisen meist eine unauffällige Persönlichkeitsstruktur und eine geringere Komorbidität auf. Sie zeigen nach Moffitt mit ihrem Aufbegehren und Verstößen gegen gesellschaftliche Regeln und Normen übersteigerte Bewältigungsversuche für phasenspezifische Entwicklungsaufgaben.
34.4.8
Umgang mit dissozialen Jugendlichen
Die folgenden Ausführungen sind nicht als obligate Handlungsanweisungen zu verstehen, sondern als pragmatische Ratschläge aus der klinischen Praxis:
Jugendliche mit Sozialverhaltensstörungen suchen den Jugendmediziner zumeist nicht aus eigenem Antrieb auf. Entweder kommen sie wegen einer somatischen Störung zu Ihnen oder die (oft ratlosen) Eltern melden sich. Sie sollten einerseits mit den unmittelbaren Bezugspersonen und dem Jugendlichen gemeinsam (ggf. auch mit den Bezugspersonen alleine) sprechen, um sich über die familiäre Dynamik sowie über Art und Ausmaß der Problematik zu informieren (der Jugendliche wird Ihnen wahrscheinlich nur über einen Teil der Probleme oder in abgeschwächter Form berichten). Andererseits ist es unverzichtbar, auch mit dem Jugendlichen alleine zu sprechen. Nehmen Sie sich hierfür ausreichend Zeit (zumindest 20–30 Minuten). Ist dies nicht möglich, vereinbaren Sie einen separaten Termin. Sagen Sie z. B., dass es Ihnen wichtig sei, nicht nur den Standpunkt der Eltern/Bezugspersonen zu kennen, sondern auch den des Jugendlichen selbst. Vielleicht ließen sich für einige der Probleme Lösungswege finden. Häufig steht im Familiengespräch das Negative, in Verbindung mit wechselseitigen Schuldzuweisungen, ganz im Vordergrund. Fragen Sie daher bewusst auch nach positiven Ressourcen (z. B. besucht regelmäßig die Schule und strebt einen Schulabschluss an, kümmert sich um jüngere Geschwister o. Ä.). Versuchen Sie freundlich und zugewandt, aber auch klar und konsequent zu sein. Vermeiden Sie sowohl den »erhobenen Zeigefinger«, den der Jugendliche zur Genüge kennt, als auch einen zu »kumpelhaften« Umgangston. Ein Jugendlicher merkt sehr wohl, ob jemand echtes Interesse für ihn und seine Situation aufbringt. Machen Sie deutlich, dass Sie ihn nicht auf Grund von Fehlverhaltensweisen als Person verurteilen, machen Sie jedoch auch kein Hehl daraus, dass sie diese nicht gutheißen. Lassen Sie sich die Probleme schildern und machen Sie ggf. von Fremdinformationen (z. B. von Seiten der Eltern Gebrauch), wenn der Jugendliche Ihnen wesentliche Punkte vorenthält; ansonsten würde dieser Sie als inkompetent erleben. Fragen Sie nach den Hintergründen für das Verhalten. Eruieren Sie, was der Jugendliche in seiner Lebenssituation selbst als belastend empfindet, wo er sich möglicherweise unverstanden fühlt. Arbeiten Sie heraus, welche konkreten negativen Konsequenzen für den Jugendlichen sein Fehlverhalten nach sich zieht. Oft lässt sich v. a. hieraus eine Motivation entwickeln, etwas zum Positiven zu verändern. Stellen Sie ein »schlechtes Gewissen« oder Schuldgefühle fest, ist dies einerseits ein günstiges Zeichen (intakte Über-Ich bzw. Gewissensfunktion), andererseits sollten Sie diese nicht verstärken, sondern den Blick nach vorne richten. Lässt sich eine gewisse Eigenmotivation für Veränderungen erzeugen, so ist schon viel gewonnen. Seien Sie sich aber darüber im Klaren, dass diese sehr häufig nur von kurzer Dauer ist und längerfristig aufrecht erhalten bzw. immer wieder positiv verstärkt werden muss. Greifen Sie, wenn Sie sich dazu in der Lage fühlen, ein oder zwei Problempunkte heraus, für die sich Lösungsansätze finden lassen und besprechen Sie diese mit dem Jugendlichen und seinen Bezugspersonen (Etablierung von gemeinsam akzeptierten Regeln). Haben Sie eine derartige Vereinbarung getroffen, sollten Sie stets auch einen Folgetermin festlegen, um das Funktionieren der getroffenen Maßnahmen zu besprechen. Ebnen Sie ggf. den Weg für die Inanspruchnahme spezifischer professioneller Hilfen, z. B. Jugendamt, Kinder- und Jugendpsychiater, Psychotherapeut etc. Die »Zauberformel«, nicht nur im Umgang mit dissozialen Jugendlichen, sondern auch generell in der Erziehung, lautet: Zuwendung und Verständnis, aber auch Klarheit und Konsequenz!
316
34.4.9
Kapitel 34 · Verhaltensauffällige Jugendliche
Interventionsmöglichkeiten
Vorraussetzung für einen Erfolg sind eine ausreichende Motivation seitens des Jugendlichen und die Entwicklung einer therapeutischen Beziehung (Petermann 2001).
das Jugendamt ist entweder der Rechtsanspruch auf »Hilfe zur Erziehung« oder auf Eingliederungshilfe für seelisch behinderte oder von einer seelischen Behinderung bedrohte Kinder und Jugendliche (§ 35a des SGB VIII/Kinder- und Jugendhilfegesetz). Die Gewährung beider Arten von Hilfen setzt einen entsprechenden Antrag der Sorgeberechtigten beim zuständigen Jugendamt voraus, für Leistungen auf der Grundlage des § 35a ist ein fachärztliches (i. d. R. kinder- und jugendpsychiatrisches) Gutachten erforderlich, welches nach bestimmten Kriterien belegt, dass die seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als 6 Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht und dass bzw. auf welche Weise und in welchem Ausmaß die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt oder eine solche Beeinträchtigung zu erwarten ist. Maßnahmen der ambulanten Erziehungshilfe (AEH) können bestehen in Erziehungsberatung, sozialpädagogischer Familienhilfe, Erziehungsbeistandschaft oder intensiver sozialpädagogischer Einzelbetreuung. Letztere haben den Vorteil, dass sie aufsuchend und umfeldbezogen erfolgen können und daher ein geringeres Maß an Mitarbeitsbereitschaft voraussetzen als z. B. eine ambulante Psychotherapie. Auch sozialpädagogisch geleitete Gruppen (Anti-Aggressions-Training, Gruppen zur Förderung der sozialen Kompetenz) können sinnvoll sein. Teilstationäre Maßnahmen der Jugendhilfe können in Form einer heil- bzw. sozialpädagogischen Nachmittagsbetreuung durchgeführt werden. Sind einfachere Hilfen ohne Erfolg geblieben, muss auch die stationäre Unterbringung in einer (je nach Schweregrad der Störung) heilpädagogischen oder heilpädagogisch-therapeutischen Einrichtung erwogen werden. Eine initial geschlossene Unterbringung in einer Einrichtung der Jugendhilfe kann in besonders schwierigen Fällen dann sinnvoll sein, wenn es sich um strukturschwache, labile oder auch kognitiv beeinträchtigte Jugendliche handelt, die sich anderen Maßnahmen (z. B. durch Weglaufen) entziehen. Gelegentlich kommt bei Jugendlichen, die anderweitig nicht erreichbar sind, auch die Teilnahme an einem (seriösen) erlebnispädagogischen Projekt in Frage.
Familientherapeutische Verfahren. Auch familientherapeuti-
Jugendpsychiatrische Maßnahmen
sche Verfahren können hilfreich sein, besonders wenn familiendynamische Faktoren eine hohe Relevanz besitzen. Eltern bzw. unmittelbare Bezugspersonen sowie ggf. auch das schulische oder berufliche Umfeld sollten in der Regel in geeigneter Weise miteinbezogen sein, z. B. in Form von verhaltenstherapeutisch orientierter Beratung und Anleitung sowie im Sinne einer Stärkung der pädagogischen Kompetenz.
Die Aufgabe des ambulant tätigen Kinder- und Jugendpsychiaters besteht v. a. in einer differenzierten diagnostischen Beurteilung unter Berücksichtigung möglicher komorbider Störungen, in einer Analyse des Bedingungsgefüges, das zu der dissozialen Störung geführt hat sowie in einer Beratung von Bezugspersonen und professionellen Helfern im Hinblick auf ein geeignetes und erfolgversprechendes weiteres Vorgehen. Eine teilstationäre oder stationäre jugendpsychiatrische Behandlung kann indiziert sein zur Krisenintervention (z. B. bei akuter Selbst- oder Fremdgefährdung) oder bei Vorliegen behandlungsbedürftiger psychiatrischer Begleitstörungen. Vergleiche intensiver psychiatrisch-therapeutischer Maßnahmen mit klassischen Maßnahmen der Jugendhilfe in den Niederlanden (Zandwijk-Projekt) und den USA ergaben keine signifikanten Unterschiede hinsichtlich der längerfristigen Prognose (van Engeland 1998). Eine medikamentöse Behandlung kann indiziert sein bei Jugendlichen mit hyperkinetischen Störungen des Sozialverhaltens, sofern eine ausreichende Compliance gewährleistet ist. Methylphenidat wird in einer individuell abgestimmten Dosis verordnet (Dosisbereich 0,3‒1,0 mg/kgKG/Tag), ggf. kommen auch andere Stimulanzien in Frage. Methylphenidat-Retardpräparate
Dissoziale Jugendliche bedürfen geeigneter, zumeist längerfristig angelegter Maßnahmen, um eine Stabilisierung der Lebenssituation und eine Besserung der Symptomatik zu erzielen. Obwohl sich dies häufig schwierig gestaltet (v. a. auf Grund mangelnder Motivation und Compliance), sind möglichst frühzeitige Interventionen anzustreben, besonders bei Jugendlichen, die mit einem erhöhten Risiko für eine anhaltende dissoziale Entwicklung behaftet sind, da ansonsten die Entwicklung einer dissozialen Persönlichkeitsstörung begünstigt werden kann. In Frage kommen verhaltenstherapeutische und/oder sozialpädagogische Maßnahmen, die auf den Jugendlichen zentriert oder familien- bzw. umfeldbezogen sein können. Leider sind derartige Maßnahmen bislang relativ wenig evaluiert. In bestimmten Fällen kann auch eine medikamentöse Behandlung angezeigt sein. Psychotherapeutische Maßnahmen
Hierbei handelt es sich um eine Domäne der (kognitiven) Verhaltenstherapie, welche einzeln oder in der Gruppe erfolgen kann. Therapieziele können sein: 4 Verbesserte Selbstwahrnehmung und Selbstkontrolle 4 Besseres Einfühlungsvermögen gegenüber anderen Personen und Situationen 4 Angemessener Umgang mit eigenen Gefühlen 4 Aufbau eines stabilen Selbstbilds 4 Angemessener Umgang mit Kritik und Misserfolgen 4 Widerstehen-Lernen in schwierigen Situationen 4 Übernahme von Eigenverantwortung und Anstrengungsbereitschaft 4 Konstruktive und effektive Lösung von Konflikten und anderen Problemen statt aggressiver Reaktionen
34
Tiefenpsychologisch orientierte oder analytische Verfahren.
Tiefenpsychologisch orientierte oder analytische Verfahren haben sich im Allgemeinen als wenig effektiv erwiesen, sie können dann in Frage kommen, wenn erhebliche emotionale Störungen die dissoziale Problematik wesentlich mitbedingen. Kostenträger für psychotherapeutische Maßnahmen sind in der Regel die Krankenkassen (Familientherapie zählt allerdings leider nicht zu den anerkannten Verfahren). Sozialpädagogische Maßnahmen
Sozialpädagogische Maßnahmen sind in der Regel Leistungen der Jugendhilfe; hinsichtlich der Vorgehensweise und der Therapieziele gibt es Überschneidungen mit verhaltenstherapeutischen Maßnahmen. Rechtsgrundlage für eine Kostenübernahme durch
317 Literatur
haben im Jugendalter häufig Vorteile bezüglich Compliance und Wirkungsverlauf. Liegt ein ausgeprägter Substanzmissbrauch oder eine Drogenabhängigkeit vor, sollten keine Stimulanzien gegeben werden. In Frage kommen dann antidepressive Wirkstoffe mit einem noradrenergen Wirkmechanismus wie Atomoxetin (Dosisbereich 0,5‒1,8 mg/kgKG/Tag mit individueller Anpassung, zumeist in einer morgendlichen Einzeldosis (Atomoxetin ist seit März 2005 in der BRD verfügbar und zur Behandlung hyperkinetischer Störungen im Kindes- und Jugendalter zugelassen). Tragen eine Impulskontrollschwäche oder erhöhte Erregbarkeit wesentlich zu aggressiv-dissozialem Verhalten bei, kann eine milde Sedierung mit einem niedrigpotenten Neuroleptikum wie Pipamperon (Einzeldosis i. d. R. 20‒40 mg, 2‒4-mal täglich) zu einer Stabilisierung und besserer Verhaltenskontrolle beitragen. Etwas spezifischere Effekte scheint das Antipsychotikum Risperidon zu besitzen, die erforderliche Tagesdosis liegt meist zwischen 0,5 und 3 mg, welche langsam einschleichend eingestellt werden sollte. In diesem Dosisbereich sind üblicherweise keine extrapyramidal-motorischen Nebenwirkungen oder Spätdyskinesien zu erwarten, sie sind allerdings bei entsprechend disponierten Personen auch nicht ganz auszuschließen (bei Pipamperon eine Rarität). Bei schwerwiegenden aggressiven Verhaltensstörungen kann der Einsatz von Lithium erwogen werden, Carbamazepin hat sich weniger bewährt. Liegt ein geplantes dissoziales bzw. delinquentes Verhalten vor, ist keine medikamentöse Behandlung indiziert. Unter Umständen kann auch eine begleitende psychiatrische Störung eine Medikation erforderlich machen (z. B. bei ausgeprägteren depressiven Störungen oder Angststörungen).
34.4.10
Zusammenfassung
4 Störungen des Sozialverhaltens sind das häufigste Verhaltensproblem im Kindes- und Jugendalter und zeigen eine zunehmende Tendenz. 4 Die Diagnosestellung erfolgt nach klinischen Kriterien, zu den Kernsymptomen gehören Aggressivität, Zerstörung von Eigentum, Betrug oder Diebstahl sowie Regelverstöße. 4 Dissoziale Verhaltensstörungen entwickeln sich in einem komplexen Zusammenspiel biologischer, psychologischer und sozialer Faktoren. 4 Sorgfältige Erfassung von Anamnese, Psychopathologie, Familiendynamik und somatischem Befund ermöglichen die differenzialdiagnostische Abgrenzung gegenüber anderen Störungen sowie die Erkennung von begleitenden psychiatrischen Störungen. 4 Von prognostischer Bedeutung ist die Unterscheidung von eher ungünstig und langfristig verlaufenden früh beginnenden Störungen und episodisch auftretenden Sozialverhaltensstörungen im Jugendalter mit eher günstigem Verlauf. 4 Der Umgang mit dissozialen Jugendlichen sollte von Zuwendung und Verständnis, aber auch Klarheit und Konsequenz bestimmt sein. 4 Bei den therapeutischen Interventionsmöglichkeiten stehen verhaltenstherapeutische und sozialpädagogische Maßnahmen unter Einbeziehung des Umfelds im Vordergrund.
34
Literatur American Psychiatric Association (1996) Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen (DSM-IV). Hogrefe, Göttingen Döpfner M, Lehmkuhl G (2000) Diagnostik-System für Psychische Störungen im Kindes- und Jugendalter nach ICD-10 und DSM-IV (DISYPS-KJ), 2. korr. u. erg. Aufl. Hans Huber, Bern Esser G, Schmidt MH, Blanz B, Fäthenheuer B, Fritz A, Koppe T, Laucht M, Rensch B, Rothenberger A (1992) Prävalenz und Verlauf psychischer Störungen im Kindes- und Jugendalter. Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie 20: 233–242 Laucht M (2001) Antisoziales Verhalten im Jugendalter: Entstehungsbedingungen und Verlaufsformen. Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie 29: 297–311 Matthys W, van Engeland H, Resch F (2003) Störungen des Sozialverhaltens. In: Herpertz-Dahlmann B, Resch F, Schulte-Markwort M, Warnke A (Hrsg.) Entwicklungspsychiatrie. Biopsychologische Grundlagen und die Entwicklung psychischer Störungen. Schattauer, Stuttgart, New York, S 754–73 Moffitt TE (1993) Adolescence-limited and life-course-persistent antisocial behaviour: a developmental taxonomy. Psychological Review 100: 674–701 Petermann F, Döpfner M, Schmidt MH (2001) Aggressiv-dissoziale Störungen. Hogrefe, Göttingen Van Engeland H, Matthys W (1998) Ergebnisse von Jugendhilfe-Maßnahmen bei dissozialen Störungen. Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie 26: 63–69
VI
Problemorientierte Jugendmedizin 35
Unfälle – 321 J. Schriever
36
Impfungen – 330 U. Lindlbauer-Eisenach
37
Konsum, Missbrauch und Abhängigkeit von psychoaktiven Substanzen – 335 W.-R. Horn
38
Kontrazeption – 352 N. Weissenrieder, B. Delisle
39
Sexuell übertragbare Infektionen bei Jugendlichen
– 364
E. R. Weissenbacher, N. Weissenrieder
40
Konzepte der Gesundheitsvorsorge bei Jugendlichen – 371 W. Hartmann
41
Konzepte der Gesundheitsvorsorge – Sport – 374 D. Grunert
35
321
35 Unfälle Unfälle sind keine Zufälle J. Schriever )) In Deutschland sterben nach der Neugeborenenperiode mehr Kinder und Jugendliche an Unfallfolgen (532 Kinder und Jugendliche im Jahr 2000) als an allen Infektionserkrankungen (122) und Krebs (140) zusammen. Durch unfallbedingte Todesfälle gehen insgesamt mehr Lebensjahre verloren, als durch Krebs und Herz-Kreislauf-Krankheiten. Verletzungen sind nach den Atemwegserkrankungen der häufigste Grund, den Arzt aufzusuchen. 1,9 Mio. Kinder und Jugendliche (. Tab. 35.1) erleiden pro Jahr einen Unfall, der so schwer ist, dass sie einen Arzt aufsuchen müssen, ca. 250.000 werden davon im Krankenhaus behandelt.
Jede Minute verletzen sich 2 Kinder oder Jugendliche im Bereich von Heim und Freizeit, alle 11 Minuten verunglückt ein Kind oder Jugendlicher im Straßenverkehr. Im Kindergarten und Schule verletzen sich jährlich etwa 1 Mio., im Verkehr 215.000 und im Bereich Heim und Freizeit 571.000 Kinder und Jugendliche (Henter 1996). Etwa 3.000 Kinder- und Jugendlichenunfälle pro Jahr führen zu einer schweren und bleibenden Behinderung. Die Unfallstatistik ist eine Dokumentation des körperlichen und seelischen Leids der Betroffenen, oft aber auch der gesamten Familie, wenn Unfälle in einer dauerhaften Invalidität enden. Der
Unfallschutz hat eine große sozial-medizinische Bedeutung. Unfälle führen zu einer erheblichen Belastung der Volksgesundheit, das Gesundheitswesens und des Gesundheitsbudgets. Nach Berechnung der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAUA) verursachen Unfälle im Bereich Heim und Freizeit, Kosten von fast 4 Mrd. Euro pro Jahr. Kinder und Jugendliche sind daran schätzungsweise mit mehr als 1 Mrd. Euro beteiligt. Unfälle sind keine Zufälle, sie lassen sich zu mehr als 60% vermeiden, nach amerikanischen Untersuchungen haben schwere und tödliche Unfälle zu mehr als 90% vermeidbare Ursachen. So konnte die Zahl der tödlichen Kinder- und Jugendlichenunfälle im Straßenverkehr auch in Deutschland von 2167 im Jahre 1970 auf 216 im Jahr 2002 so um fast 90% gesenkt werden (. Tab. 35.2). Nach den neuesten Studien von Unicef sterben jährlich ca. 20.000 Kinder bis 14 Jahren in den weltweit reichsten Ländern (OECD-Staaten) an vermeidbaren Ursachen. Es könnten mindestens 12.000 Kinder und Jugendliche gerettet werden, wenn alle Länder eine so niedrige Todesrate wie Schweden mit 5 Unfalltoten pro 100.000 Kinder und Jugendliche erreichen würden. ! Kinder und Jugendliche haben ein im Grundgesetz verankertes Recht auf Unversehrtheit, und in der UN-Konvention zum Kinderschutz von 1989, die seit April 1992 auch
6
. Tabelle 35.1. Unfallverletzungen von Kindern nach Unfallkategorie im Jahr 2000 (absolut und je 1000 Kinder bzw. Versicherte)
Unfallkategorie
<6 Jahre Unfälle absolut
Verkehrb
6–15 Jahre Quotea
Unfälle absolut
15 Jahre Quotea
Unfälle absolut
Quotea
41.000
9
174.000
22
215.000
17
Schule, Kindergarten
108.971
50c
948.681
112c
1057.652
100c
Heim und Freizeit: – Haus – Sport/Freizeit
153.000 120.000 33.000
32 25 7
418.000 36.000 36.000
52 17 35
571.000 256.000 315.000
45 20 25
Gesamt
302.971
64
1.540.681
191
1.843.652
144
Kinder in Deutschland Gesamt
4.717.000
8.060.000
12.777.000
2.193.770
8.437.740
10.631.510
Schulen und Kindergärten Gesamt a Quote
= Unfälle je 1000 Einwohner berücksichtigt c Unfälle je 1000 versicherte Kinder Quelle: Statistisches Bundesamt, Bundesanstalt für Straßenwesen, Bundesunfallkasse, BauA b Unterfassung
322
Kapitel 35 · Unfälle
. Tabelle 35.2. Verunglückte Kinder im Straßenverkehr unter 15 Jahre in Deutschland
Jahr
1970
1980
1990
1996
2000
2002
Verunglückte Kinder
72.499
64.453
50.577
48.567
45.381
41.047
2.167
1.159
554
356
240
216
Todesfälle Quelle: Statistisches Bundesamt
in Deutschland in Kraft ist, wird das Recht der Kinder auf Sicherheit und Schutz als vorrangiges Rechtsgut bezeichnet. Unfallprävention ist damit ein verpflichtendes Ziel für die Gesellschaft, und damit für die Schule, aber auch für jeden Einzelnen.
Die folgenden Ausführungen sollen Unfallschwerpunkte, Ursachen, Möglichkeiten, Grenzen und Wege der Unfallprävention aufzeigen.
35.1
35
Epidemiologie
In Deutschland gibt es kein komplettes Unfallmeldesystem- oder register, welches die verschiedensten Unfallarten im Bezug auf die jeweiligen Altersgruppen ausweist. Die Todesursachenstatistik des statistischen Bundesamtes nennt anhand der Totenscheine auch die äußeren Ursachen von Verletzungen und Vergiftungen. Die Verkehrsunfallstatistik erfasst Verletzungen und Todesfälle von Kindern und Jugendlichen im Straßenverkehr bei polizeilich registrierten Unfällen. Die Verletzungen werden als leicht (ambulante Behandlung) bzw. schwer (stationäre Aufenthalte) klassifiziert. Die Krankenhausdiagnosestatistik gibt Auskunft über Verletzungen, also über Unfallfolgen, nicht aber über Unfallursache. Die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin führte 1988/89 in den alten Bundesländern und 1991/92 in den neuen Bundesländern eine telefonische Haushaltsbefragung zu Heim- und Freizeitunfällen durch. Erfasst wurden alle Unfälle im Haushalt, der unmittelbaren Umgebung sowie bei Freizeitbeschäftigung und sportlicher Betätigung. Sie werden seither laufend aktualisiert und finden Eingang in das »European Home and Leisure Accidents Surveillance System« (EHLASS). Für die Unfälle im Schulalter besonders wichtig sind die Statistiken der gesetzlichen öffentlichen Unfallversicherer, wie die der Gemeindeunfallverbände, welche aktuell unter http://www.unfallkassen. de einzusehen sind.
35.1.1
Unfallquote
Die Gesamtunfallsterblichkeit konnte durch eine verbesserte Verkehrsunfallprävention und Rettungsmedizin, in den letzten 10 Jahren auch durch technische Sicherheitsmaßnahmen, von 28,4 im Jahre 1970 auf durchschnittlich 8,3 (1990), heute auf eine Quote um 5,0 pro 100.000 der Altersgruppe gesenkt werden und hat damit die Standardwerte der Industriestaaten erreicht. Laut Verkehrsunfallstatistik liegt die Zahl der verletzten Kinder und Jugendlichen nach 1990 konstant unter 50.000, die tödlichen Unfälle haben im Jahre 2002 mit 216 den bisher niedrigs-
ten Stand erreicht. Kleinkinder verunglücken vor allen Dingen als PKW-Insassen, im Schulalter sind die 5–9-Jährigen am gefährdedsten als Fußgänger und ab dem 10. Lebensjahr als Fahrradfahrer. Die Krankenhausdiagnosestatistik zeigt, dass bei Schulkindern Unfallverletzungen der häufigste Einweisungsgrund in ein Krankenhaus ist. Dabei liegt die Quote für Schädel-Hirn-Traumen bei 10,1, gefolgt von Frakturen der Extremitäten mit 6,1 pro 1000 stationär behandelter Kinder. Im internationalen Vergleich lag die Quote der im Verkehr verunglückten Kinder für die Bundesrepublik 1999 bei 357 pro 100.000 Kindern und wurde damit nur von Großbritannien (362) und der USA (548) übertroffen.
35.1.2
Schülerunfallgeschehen
Im Jahr 2002 wurden 1.565.562 Schülerunfälle gemeldet, entsprechend einer Quote von 89,56 pro 1000 Schüler. Darin enthalten sind 139.653 Schulwegunfälle (Quote = 7,99). Tödliche Schülerunfälle ereigneten sich im Jahre 2002 insgesamt 111, davon passierten 97 auf dem Schulweg, der am Gesamtunfallgeschehen nur einen Anteil von weniger als 10% hat. Bezüglich der Schularten ereignen sich die meisten Unfälle an Hauptschulen mit 270,4 je 1000 Schüler, die wenigsten bei den Grundschulen (56,2). Nach der Art der schulischen Veranstaltungen dominiert der Sport mit 675.477 (47,4%) Unfallereignissen im Jahre 2002, gefolgt von Pausenunfällen (24,3%) und Unterricht (außer Sport) mit 16,5%. Beim Sport wiederum haben die Ballspiele einen Anteil von 60,3%, gefolgt von Geräteturnen (14,1%), Leichtathletik (7,6%) und den übrigen Laufspielen (4,1%). Ursächlich stehen beim Fußballspielen Kollisionen und Stürze als Unfallschwerpunkt im Vordergrund, bei den übrigen Ballspielen Verletzungen der Finger, Handgelenke, Unterarm und das Sprunggelenk. Beim Geräteturnen ist die Landephase nach Sprungübungen über Kasten, Bock und Pferd der dominierende Unfallmoment, erst danach folgen Barren, Trampolin und Reck. Auch in der Leichtathletik zeigt das Sprunggelenk beim Laufen, Hoch- und Weitsprung die größte traumatische Anfälligkeit. In der Schulpause ziehen sich die meisten Schüler Verletzungen durch Stürze beim Rennen, Nachlaufen und Fangenspielen, vorwiegend auf dem Schulhof, zu, seltener auf Fluren, Treppen und in den Klassenzimmern. Hauptaltersgruppen sind die 7–16Jährigen, wobei Jungen überproportional vertreten sind. Straßenverkehrsunfälle passierten im Jahre 2002 im Rahmen in der Schülerunfallversicherung am häufigsten mit dem Fahrrad, besonders bei den Jungen über 10 Jahren. Im Jahre 2002 waren es insgesamt 29.709 Fahrradunfälle (47,7%). Es folgen die Fußgänger mit 9%, die motorisierten Zweiräder mit 8% und speziell Mitfahrer im PKW mit 21,8%, während die Schulbusunfälle
35
323 35.2 · Heim und Freizeitunfälle
nur ca. 5% ausmachen. Auf die jüngeren PKW-Insassen entfielen die meisten tödlichen Verkehrsunfälle mit 53%.
35.2
Heim- und Freizeitunfälle
Bei Kindern im Vorschulalter dominieren die Unfälle im eigenen Haus, im Garten und der unmittelbaren Umgebung. Ausführlichere Zusammenstellungen und Hintergründe sind nachzulesen z. B. vom Autor in Schlack (2000). Bei den 6- bis 14-Jährigen passieren Unfälle überwiegend bei sportlicher Betätigung, mit zunehmendem Alter immer häufiger im Freizeitbereich und nicht nur in der Schule. Dabei haben Mannschaftssportarten, insbesondere Ballspiele, mit fast 42% den größten Anteil, aber auch Radfahren (ca. 18%), Skaten (ca. 11%), Reiten (ca. 6,3%). Bei all diesen Sportarten wird eine hohe Dunkelziffer angenommen, exakte Zahlen fehlen. Wenn Sport an sich mit einem Unfallrisiko behaftet ist, taucht immer wieder die Frage der Kosten-Nutzen-Analyse auf, wie auch die Diskussion um die Ausgrenzung von Risikosportarten aus der gesetzlichen Krankenversicherung gezeigt hat. Nach Untersuchung der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin sowie der Sportversicherung ARAG haben sich insgesamt rund 1,33 Mio. Sportler so schwer verletzt, dass sie ärztlich behandelt werden mussten. Bei 10% von ihnen war ein stationärer Aufenthalt erforderlich. Die Gesamtkosten lagen bei etwa 1,6 Mrd. und damit nur bei 0,73% der gesamten Gesundheitsausgaben. Allein die Summe für Krankentransporte lag mit 3,4 Mrd. Euro mehr als doppelt so hoch. Schweizer und österreichische Berechnungen gehen davon aus, dass durch regelmäßige Bewegung und Sport direkte Behandlungskosten für sonst auftretende Folgeerkrankungen um deutlich mehr als das 4fache eingespart werden. Im Folgenden sollen einige wichtige Aspekte aus dem Bereich der Heim- und Freizeitunfälle kurz genannt werden.
auf den kürzeren Ski zurückgeführt. Schulter- und Armverletzungen folgen mit einer Häufigkeit von ca. 22%. Häufigste Verletzungsursache auf der Piste ist nach wie vor der Sturz (92%), gefolgt von Personenkollisionen (8%). Neben einer intakten technischen Ausrüstung ist die Einhaltung der Pistenregeln die wichtigste Präventionsmaßnahme. Nach Erhebung der Schweizer Beratungsstelle für Unfallverhütung (bfu) in Zusammenarbeit mit Seilbahnunternehmen hat der Anteil der Snowboardunfälle in der Statistik der Schneesportunfälle zwischen 1990 und 2000 stetig zugenommen und stagniert nun bei ca. 30%. Dabei liegt der Altersgipfel anteilsmäßig hier mit 61% eindeutig zwischen 10 und 19 Jahren, im Gegensatz zu 18,7% bei den Skifahrern. Auch die Verletzungsmuster differieren; so sind bei den Snowboardern Schulter- (22%) und Armverletzungen (23%) häufiger als beim Skifahren (17% bzw. 5%). Im Gegensatz dazu sind die Knieverletzungen mit 10% zu 34% bei den Snowboardern geringer (. Abb. 35.1). Die Frakturrate liegt mit 24% zu 32% wiederum bei den Snowboardern höher. Hier ist mit etwa 50% das Handgelenk der Youngster unter den Snowboardern betrof-
Kopf 14 %
Unterarm/Hand 5 %
Schulter 17 %
Knie 34 % Unterschenkel 12 %
35.2.1
Unfälle beim Inlineskaten
Inlineskaten ist die neue Trendsportart. Nach Erkenntnissen der Bundesanstalt für Arbeitsschutz werden etwa ca. 50.000 Skater/ Jahr ärztlich behandelt. Der Altersschwerpunkt liegt zwischen 8 und 13 Jahren. Mehr als jeder 3. verunglückte Skater trägt Verletzungen am Handgelenk davon, gefolgt von Unterarm- und Ellenbogenverletzungen. Fast jede 5. Verletzung betrifft die Knöchel, das Knie oder den Unterschenkel, ca. 5% den Kopf. Neben dem insbesondere anfangs erforderlichen technischen Übungstraining, ist das Tragen von Schutzkleidung (Protektoren) die wichtigste technische Schutzmaßnahme. So können 70% der Verletzungen vermieden werden. Nach der Straßenverkehrsordnung werden Skater als Fußgänger eingestuft und müssen den Gehweg benutzen. Unter dem Motto »Skate and Roll« bietet die Deutsche Verkehrswacht ein umfangreiches Präventivprojekt für die Sekundarstufe I an.
a
Kopf 15 %
Schulter 22 %
Unterarm/Hand 23 %
Knie 10 %
35.2.2
Unterschenkel 5 %
Ski- und Snowboardunfälle
Mit Einführen der sog. Carving-Skier sind die Unfallzahlen nicht gestiegen. Knieverletzungen stehen mit 34% nach wie vor an der Spitze, zeigen aber eine abnehmende Tendenz. Dieser Effekt wird
b . Abb. 35.1a, b. Verletzungen durch Ski- (a) und Snowboardfahren (b). (Schweizerische Beratungsstelle für Unfallverhütung bfu, 200)
324
Kapitel 35 · Unfälle
fen. Skater stürzen anders, deshalb ist ein spezifischer Handschutz notwendig, z. B. »Flexmeter«, der von dem französischen Spezialisten für Sicherheitsaccessoires, Schimeter, entwickelt wurde.
35.2.3
Ertrinken
Der Schwerpunkt der Ertrinkungsunfälle liegt im Kleinkindalter, dennoch ertrinken in Deutschland jährlich ca. 50 Kinder zwischen 5 und 15 Jahren. Die Zahl der »Beinahe-Ertrinkungsunfälle« liegt zusätzlich etwa 3- bis 4-mal so hoch. Schulkinder und Jugendliche ertrinken am häufigsten bei Eis- und Bootsunfällen und durch riskantes Verhalten (speziell unter Alkoholeinfluss) wie das Schwimmen in schnellfließenden Flüssen, strömungsreichen Meeresbuchten oder der Sprung in seichtes Wasser. Bei den primär nicht tödlichen Unfällen sind ein Drittel der stationär aufgenommenen Kinder gestorben oder waren später behindert. Entsprechend konnten zwei Drittel gesund entlassen werden. Mehr als 80% der akut geborgenen Kinder machen ihren ersten Atemzug innerhalb von 5 Minuten und sind spätestens nach 20 Minuten bei Bewusstsein, was als günstige Prognose gilt. Bei Wassertemperaturen von mehr als 5°C gilt eine Submersionsdauer von mehr als 25 Minuten und eine erfolglose Reanimation über 40 Minuten, ebenso wie eine lichtstarre Pupille als prognostisch ungünstig. Apallische Kinder und Jugendliche zeigen nach Ertrinken eine wesentlich schlechtere neurologische Rückbildungstendenz als nach mechanisch verursachten Schädelkontusionen. Die Beachtung der Bade- und Bootssicherheitsregeln sind auch hier die wichtigste Präventionsmaßnahme. Auch Schulkinder sollten auf Booten stets Sicherheitswesten tragen. Cave Ertrunkene nie alleine lassen, sofort mit der Wiederbelebung beginnen!
35.2.4
35
Verbrennungen
Während im Kleinkindalter Verbrühungen im Vordergrund stehen, passieren im Schulalter die meisten Verbrennungen durch Spiele mit Feuer, Kerzen und Feuerwerkskörpern. Das Grillen auf Holzkohle oder am Lagerfeuer wird immer beliebter. Obwohl als Gefahr bekannt, kommt es immer wieder zu schweren Stichflammenverletzungen durch Gießen von Spiritus und Benzin als Brandbeschleuniger, z. B. zum Anzünden von Grillkohle. Zusätzlich verbrennen sich Kinder an den heißen Ofenteilen, da sie die kleinen blassblauen Flammen und Glutreste nicht richtig erkennen und deuten.
35.2.5
Vergiftungen
Diese machen ca. 1% der Gesamtunfälle im Bereich Heim und Freizeit aus. Etwa 90% aller Ingestionsunfälle betreffen Kleinkinder, sie sind insgesamt in der Regel akzidentell und haben lediglich in der Altersklasse der 10–15-Jährigen bei 1,4% einen suizidalen Hintergrund.
Sehr giftige Pflanzen sind Eisenhut, Schierlingsarten, Bilsenkraut, Engelstrompete, Herbstzeitlose und Seidelbast. Bei den pflanzlichen und biogenen Drogen steht der Missbrauch von Tee aus Blättern, Blüten und Samen des Nachtschattengewächses Engelstrompete und des Stechapfels an 1. Stelle. Das Schnüffeln von Propan-Butangas kann über plötzliches Kammerflimmern zu akutem Herzstillstand und dann trotz erfolgreicher Wiederbelebung oft zu schweren hypoxischen Hirnschäden führen. Der häufigste Grund zur stationären Aufnahme sind Alkoholintoxikationen bei Jugendlichen, die Mädchen inzwischen gleichhäufig wie Jungen betreffen. Akzidentelle oder demonstrative Überdosierungen von Methylphenidat (Ritalin, Medikinet) werden mit zunehmend indizierter Verschreibung häufiger, sind aber insgesamt ein seltenes Randproblem. Neben initialer Übelkeit, Erbrechen, Unruhe und Zittrigkeit werden auch Halluzinationen, Herzrasen und selten Bewegungsstörungen in Form von Dyskinesien beobachtet. Sie verlaufen in der Regel milde und selbstlimitierend.
35.2.6
Tierunfälle
Bissverletzungen An etwa 1–2% aller Unfälle im Bereich Heim und Freizeit sind Tiere beteiligt. Im Vordergrund stehen mit über 90% die Bissverletzungen, vorwiegend von Hunden, aber auch von Katzen und Pferden. In Deutschland rechnet man mit ca. 10.000 behandlungspflichtigen Hundebissverletzungen pro Jahr. Kinder unter 15 Jahren sind daran mit etwa 40% beteiligt, der Großteil davon bis zum 5. Lebensjahr. Provokantes Verhalten der Kinder spielt in 20% eine Rolle. In 82% erfolgt der Biss unvermutet, davon wiederum die Hälfte ohne vorherigen Kontakt, z. B. beim Radfahren oder Spazierengehen, weshalb man hier immer einen gewissen Sicherheitsabstand einhalten sollte. Inwieweit die Hundeverordnung der einzelnen Länder gegenüber Kampfhunden sowie bestimmten Rassen mit erhöhtem Angriffpotenzial wirksam werden, lässt sich noch nicht abschließend beurteilen. Durch richtiges Verhalten gegenüber Hunden könnte ein Vielfaches von Bissreaktionen vermieden werden. Empfohlen wird daher, z. B. beim Zusammentreffen mit einem fremden Hund sofort stehen zu bleiben und nicht wegzulaufen. Besser in einem beruhigenden Ton ansprechen, nicht den Rücken zudrehen, nie direkt von oben auf den Kopf fassen, nicht in unmittelbarer Nähe an Hunden vorbei rennen oder radfahren.
35.2.7
Reitunfälle
Nach Auskunft der Deutschen Reiterlichen Vereinigung (F.N.) und der ARAG Sportversicherung geht man in Deutschland von 1,5–2 Mio. Reitern aus, von denen ca. 1 Mio. diesen Sport regelmäßig ausüben, 760.000 in Vereinen organisiert sind und etwa 100.000 am Turniersport teilnehmen. Bei den Frauen liegt Reiten mit 6,5% aller Sportverletzungen am Gesamtunfallgeschehen an 6. Stelle. Mädchen bis 14 Jahre sind hierbei mit 44% überproportional beteiligt. Im Gegensatz zu vielen anderen Sportarten nimmt das Unfallrisiko beim Reiten mit zunehmendem Alter ab, was in erster Linie auf die anfangs mangelnde Erfahrung im Umgang mit dem Pferd zurückzuführen sein dürfte. Hierfür spricht auch, dass 70% dieser Unfälle nicht im organisierten Sport, also außerhalb der Reitvereine geschehen. Unfallort und Geschehen
325 35.3 · Entwicklungspsychologische, psychische und soziale Aspekte
lässt sich vereinfacht, bezogen auf das Pferd, so ausdrücken: »Vorne beißt oder schlägt es mit dem Kopf, hinten tritt es, in der Mitte fällt man runter.« Darum auch geschieht bei der Pflege und dem Umgang mit dem Pferd etwa jeder 10. Unfall, meistens beim Führen, aber auch Putzen, Satteln und Hufeauskratzen. In über 50% der Fälle handelt es sich dabei um einen Tritt, z. B. auf den Fuß, aber auch durch Ausschlagen, ca. 14% beim Umgang mit Zaumzeug, wobei besonders häufig die Zügel um die Hand gewickelt werden. Meistens bewirken plötzliche, abrupte, schreckhafte Kopfbewegungen des Pferdes dann die Verletzungen. Nach einer englischen Zusammenstellung (UK) verschiedener Quellen passieren 65% der Unfälle beim Reiten als Freizeitbeschäftigung und 25% bei Wettbewerben. Bezüglich der Gangarten während der Unfälle überrascht, dass 20% der Pferde im Schritt, 7% im Trab geritten wurden, 16% sogar stillstanden. Dagegen befanden sich 45% der Pferde im leichten, 11% im schnellen Galopp. Durch Ausrutschen oder Sturz des Pferdes wurden 23%, durch Aufbäumen oder Bocken 14% der Unfälle verursacht, 29% traten beim Springen auf. Im Freizeitbereich rechnet man 1 Verletzung pro 100 Reitstunden. Beim Sturz vom stehenden Pferd fällt man mit einer vertikalen Geschwindigkeit von 6 m/Sekunde, im Galopp kommt eine horizontale Geschwindigkeit bis zu 12 m/Sekunde hinzu. Aufgrund dieser hohen Energie sind Stürze vom Pferd in der Regel schwerwiegend und bedürfen zu 40% der stationären Behandlung. Der Kopf und die oberen bzw. unteren Gliedmaßen sind etwa zu je 20% betroffen, die Wirbelsäule in 10%. Frakturen liegen mit 44% aller Verletzungsarten an der Spitze. Von den Betroffenen wird in 85% aller Reitsportunfälle unberechenbares Verhalten des Pferdes angegeben. Es muss einem immer bewusst sein, dass das Pferd kein Kuscheltier, sondern ein schreckhaftes Herden- und Fluchttier ist, auch unter dem Sattel. Wie immer gilt auch hier das Tragen eines Schutzhelmes und eventuell einer Schutzweste sowie eine entsprechende zweckmäßige und artgerechte Ausrüstung von Pferd und Reiter als wichtigste primäre Sicherheitsmaßnahme. Beim Ausritt sollte Strecke und Ziel angegeben und ein Handy mitgenommen werden. Einen guten Reitbetrieb erkennt man daran, dass das Tragen der Reitkappe mit 3- oder 4-Punktsicherung Pflicht ist. In der Box, bei der Pflege, beim Hufeauskratzen, beim Loslassen auf der Weide nie hinter das Pferd kommen. Zügel und Führstricke nicht um die Hand wickeln, beim Verladen Handschuhe anziehen. Basierend auf einer realistischen Selbsteinschätzung sollte das Können von Pferd und Reiter zusammenpassen. Dann liegt das viel zitierte Glück diese Erde auf dem Rücken der Pferde.
35.2.8
Geschlecht
Die Jungen dominieren bereits ab der 2. Hälfte des 1. Lebensjahres und mit 3 Jahren ist das Verhältnis relativ konstant 3:2 (60% Knaben, 40% Mädchen). Dies wird unter anderem infolge eines stärkeren Bewegungsdranges, ausgeprägteren Explorationsverhaltens und einer größeren Risikobereitschaft bei Jungen erklärt. Im Verkehr verunfallen Jungen als Fußgänger im Vergleich zu Mädchen häufiger, beim Radfahren sogar ca. 3:1. Dagegen gibt es bei den im PKW mitfahrenden Kindern keine deutlichen Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen. Allerdings verunglücken 14- bis 15-jährige Mädchen als Mitfahrerinnen häufiger als gleichaltrige Jungen im PKW. Wahrscheinlich handelt es sich um
35
Freundinnen oder Partybegleiterinnen von jungen Fahranfängern mit hohem persönlichem Risikopotenzial.
35.2.9
Kulturelle Herkunft
Als besonders gefährdet gelten türkische Kinder, vor allem Jungen als Fußgänger im Straßenverkehr. Vor 1990 verunglückten diese etwa 4-mal häufiger als deutsche Kinder, inzwischen etwa doppelt so häufig. Die übrigen Nationalitäten liegen etwa auf dem gleichen Niveau wie die deutschen Kinder. Lediglich Radfahrunfälle sind bei deutschen Kindern häufiger, wahrscheinlich besitzen weniger türkische Kinder und Jugendliche ein Fahrrad. Ansonsten sind die Gründe nicht hinreichend gesichert. Am wahrscheinlichsten ist, dass das soziale Umfeld und stärker verkehrsbelastete Wohngebiete eine größere Rolle als die kulturelle Herkunft spielen.
35.2.10
Verletzungsart
Verschiedene Freizeitgewohnheiten bedingen verschiedene Unfallbelastungen. Während sich beim Fußballspielen vorwiegend Jungen verletzten, dominieren die Mädchen bei den Reitunfällen auch relativ gesehen, was durch die unterschiedliche Alters- und Ausbildungsstruktur erklärt wird. Jede 2. Verletzung (51%) betrifft den Kopf, gefolgt von den oberen und unteren Extremitäten. Kopfverletzungen, einschließlich Schädelfrakturen und Gehirnerschütterungen, machen bei Säuglingen 85% der unfallbedingten Krankenhauseinweisungen aus, in der Gruppe der 1–5-jährigen Kindern liegt diese Rate noch bei 72%. Bei den 6–14-Jährigen dominieren dagegen die Frakturen der Extremitäten, gefolgt von Schädel-Hirn-Traumen.
35.3
Entwicklungspsychologische, psychische und soziale Aspekte
Ein sicherheitsorientiertes Verhalten bei Kindern ist abhängig von vielen physiologischen und psychologischen Fähigkeiten, die erst im Laufe der Entwicklung zunehmend erworben werden. Diese Kenntnisse sind wichtig für ein angemessenes Verständnis und Verhalten der Erwachsenen gegenüber der eigenen Welt der Kinder und für die wirksame Entwicklung von Präventionsmodellen. Sie haben dazu geführt, dass nicht mehr die Erziehung zu einem sicheren Kind, sondern die Gestaltung einer kindersicheren Umwelt in den Vordergrund der Unfallprävention gestellt wird. Die meisten Risikofaktoren wurden im Rahmen der Verkehrssicherheitsforschung beobachtet und mit Literaturübersicht zusammenfassend von Limbourg beschrieben. Körperbeherrschung Bis zum 18. Lebensmonat werden die Grundfunktionen der motorischen Entwicklung wie Körperhaltung, Greifen und Laufen erlernt. Ab 2. Lebensjahr erfolgt die Verbesserung der Feinmotorik und Schnelligkeit bei starker motorischer Unruhe. Der starke Bewegungsdrang muss nach erzwungener Ruhephase im Kindergarten bzw. der Grundschule abreagiert werden. Durch Austoben auf dem Heimweg mit geringer oder fehlender Aufmerksamkeit gegenüber Gefahren steigt die Unfallrate.
326
Kapitel 35 · Unfälle
Durch Mangel an Bewegung und Training im Freien, wie es zunehmend in unserer Gesellschaft beobachtet wird, kann sich die Entwicklung der Körperbeherrschung noch verzögern. Allgemein geht man davon aus, dass sich z. B. bei Jugendlichen die Fähigkeiten zum sicheren Radfahren erst mit 14 Jahren vollständig entwickelt haben. Präventionsbewusstsein Während akutes Gefahrenbewusstsein sich bis zum 5.–6. Lebensjahr entwickelt, vorausschauendes erst mit 8 Jahren möglich ist, erreichen Kinder ein unfallverhütendes Präventionsbewusstsein erst mit 9–12 Jahren. Sie sind dann in der Lage, vorbeugende Verhaltensweisen zu entwickeln und anzuwenden. Gedanken und Interessen 4 Während zwischen 2–6 Jahren das Denken noch egozentrisch und magisch ist, werden mit dem 4 7.–10. Lebensjahr Fantasiespiele abgelöst durch sportliche und soziale Aktivitäten in der Gruppe. Allerdings entspricht auch in diesem Alter das Übertreten von Verboten, Handeln wider besseres Wissen, unbedacht aus dem Augenblick etwas Verrücktes zu tun dem typischen kindlichen Verhalten. So wird das Fahrradfahren jetzt zunehmend schneller, zum Teil mit akrobatischen Einlagen und die Unfallhäufigkeit steigt. 4 Zwischen dem 10. und 15. Lebensjahr gleichen sich logisches Denken, Wahrnehmung, Konzentration, präventives Gefahrenbewusstsein den Erwachsenen an. Allerdings kann richtiges Sicherheitsverhalten wider besseres Wissen durchbrochen werden infolge Imponiergehabe vor der Gruppe, wo risikoreiches Verhalten als Mut fehlgedeutet und die Abgrenzung von der Erwachsenenwelt bewundert wird.
35
Risikoverhalten, Selbstüberschätzung Gerade für Jugendliche gelten Risikobereitschaft, Selbstüberschätzung und Imponiergehabe vor der Zielgruppe, für die man alles tut, wenn es »in« ist, zu den häufigsten altersspezifischen Unfallursachen. Gefahren werden nicht realistisch eingeschätzt: »So etwas passiert nicht mir, nur den anderen.« »Ich kann sehr schnell reagieren/bin sportlich.« »Die anderen werden staunen.« Das Anfängerrisiko im Verkehr ist deshalb besonders hoch, ca. 6 Monate nach Erlangung des Führerscheins. Das bewusste Übertreten von Normen, Regeln und Gesetzen kann als »Protest gegen die Welt der Erwachsenen« verstanden werden. Hierzu gehört auch erhöhter Alkoholkonsum, welcher das primäre Risikoverhalten zusätzlich verstärkt und insbesondere im Bereich der sog. Discounfälle eine erhebliche Rolle spielt. Mutproben Eine Umfrage bei der Polizei in Nordrhein-Westfalen 1996 von (Limburg et al. 1994) ergab folgende Beispiele. Beispiel Kinder und Jugendliche versuchten z. B. Autobahnen knapp vor herannahenden Fahrzeugen zu überqueren. Auf der A 44 kam es dadurch zu mehreren Auffahrunfällen, bei Detmold auf der A 33 kam es dabei zu einem Todesfall. Autorennen zwischen Jugendlichen führten zu einer Massenkarambolage, in Köln zu einem Todesfall. Ebenso setzen sich Kinder und Jugendliche vor herannahenden Züge auf Schienen und springen erst im letzten Augenblick zur Seite. Diese Mutprobe führte in Bochum, Bonn und Paderborn zu Todesfällen. In Duisburg sprangen Kinder und Jugendliche von einem fahren-
den Güterzug auf den anderen, dabei wurde ein 14-jähriger Junge getötet, beim S-Bahn-Surfen starb ein 12-Jähriger, beim Klettern auf Waggons erlitt ein 11-jähriger Junge einen tödlichen Stromschlag. Auch Graffiti-Sprayer verunglücken häufiger auf diese Weise. Beim Autosurfen springen Jugendliche auf Autos oder klettern aus dem Fenster, Straßenbahnsurfer stehen am häufigsten auf der Kupplung zwischen 2 Waggons. Beim Car-Rafting hängen sich Kinder und Jugendliche mit Inlineskatern an Auto und Lastwagen, Ähnliche fatale Mutproben gibt es natürlich auch für andere Unfallarten, z. B. beim Ertrinken durch Schwimmen speziell unter Alkoholeinfluss in Flüssen mit hoher Strömungsgeschwindigkeit oder Kopfsprung in seichtes Wasser.
Unfallneigung Wenn Konzentrationsschwäche, motorische Unruhe, Ungeschicklichkeit, Impulsivität und jede Form der Aufmerksamkeitsstörung wichtige unfallfördernde Faktoren sind, so trifft dies insbesondere für die hyperaktiven Kinder und die Tagträumer im Rahmen des Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Syndroms (ADHS) zu. ! So ist die Unfallrate bei ADHS durchschnittlich um das 3,8-fache erhöht. Sie liegt mit dem Faktor 9 besonders hoch bei den Verkehrsunfällen mit schweren Verletzungsfolgen, speziell bei den Beteiligten, die keine medikamentöse Therapie erhalten hatten (Grützmacher 2001).
Geht man von einer Prävalenz des ADHS von 5% aus, verursacht diese Risikogruppe ca. 40–50% aller Verkehrsunfälle dieser Altersstufe. Das scheint insbesondere für die sog. Discounfälle zuzutreffen. Häufig betroffen sind auch ungelenke Kinder mit motorischen Defiziten, z. B. der minimalen zerebralen Dysfunktion allein oder in Kombination mit anderen Wahrnehmungsstörungen. Ähnlich definiert Köhler einen Unfalltyp I als stark der Außenwelt zugewandtes, kontaktfreudiges, dynamisches, angstfreies, erlebnisorientiertes, aber sich selbst überschätzendes Kind und grenzt dies von einem Unfalltyp II ab, der empfindlich, seelisch leicht verletzlich, oft abgespannt, lustlos ist, sich ständig Sorgen macht und ängstlich in die Zukunft blickt. Die inneren Spannungen und affektiven Belastungen absorbieren die Aufmerksamkeit, beeinträchtigen und verkürzen die Wahrnehmung. Gefährliche Situationen werden nicht oder zu spät erkannt. So rennen sie ständig in ihr Unglück. Jeder kennt solche Unglücksraben, welche die genannten Faktoren zeigen. In der Gesamtbetrachtung des Unfallgeschehens machen sie eine kleine Gruppe aus, die allerdings gezielt gefördert und geschützt werden kann. Soziale Faktoren sind vielfältig Bei den unfallbedingten Krankenhausaufnahmen zeigt sich eine um 40% höhere Unfallrate bei Kindern und Jugendliche der untersten im Vergleich zur obersten sozialen Schicht. Hier spielen sicherlich ökologische Faktoren, wie kleine und unsicher gestaltete Wohnungseinrichtungen, enge und verkehrsreiche Straßenverhältnisse mit weniger Spiel- und Grünflächen sowie Sicherheitsmängel auf Spielplätzen begleitend eine wichtige Rolle. Hinzu kommen psychomotorische Defizite infolge Bewegungsmangel und kognitive, wenn Kinder und Jugendliche ihre Umwelt nicht mehr frei erkunden können, weil sie sich vermehrt in geschlossen Räumen vor Fernseher und Computer sitzend aufhalten. Selbst auf dem Weg zu Kindergarten oder Schule werden
327 35.4 · Technische Sicherheitsmaßnahmen
Kinder heute überwiegend von Eltern begleitet und gefahren. Das familiäre Klima, wie Zahl der Kinder, Gesundheit, Harmonie, Streit, Trennung, Erziehungsverhalten, einschließlich Vorbildfunktion bei Gefahrenbewusstsein und Unfallprävention haben ebenfalls einen wichtigen Einfluss auf das Unfallgeschehen.
35.4
Unfallprävention
Wie anfangs erwähnt, haben Kinder und Jugendliche ein im Grundgesetz und durch die UN-Konvention von 1989 verankertes Recht auf Sicherheit und Unversehrtheit. Der Staat hat Schutzmaßnahmen einzuleiten, die das Kind und den Jugendlichen vor jeder Form der körperlichen und seelischen Schadensfügung und Gewaltanwendung schützt (Artikel 2). Die Präventionspotenziale sind in Deutschland bei weitem noch nicht ausgeschöpft. Nach US-amerikanischen Studien lassen sich 95% der tödlichen Unfälle vermeiden, wenn systematisch ihre Ursachen untersucht und in Präventionsempfehlungen umgesetzt werden. Die Reduktion der tödlichen Verkehrsunfälle von 2167 im Jahre 1970 auf 216 im Jahre 2002 ist hierfür ein gutes Beispiel, ebenso wie die Reduzierung der tödlichen Schädelverletzungen von Fahrradfahrern um 85% nach Einführung der Helmpflicht in Australien. Die Gleichstellung der Prävention der bisher vernachlässigten Heim- und Freizeitunfälle mit den erfolgreichen Strukturen und Maßnahmen im Verkehrs- und Schülerunfallgeschehen die Vernetzung der verschiedenen Organisationen und politischen Zuständigkeiten, sowie die Aufstellung eines nationalen Unfallpräventionsprogrammes sind die wichtigsten Ziele, die nur wie 1970 durch einen direkten Auftrag per Bundestagsbeschluss erreicht werden können. Bezogen auf das Gesamtunfallgeschehen geht man international davon aus, dass sich mehr als 60% der Unfälle mit ihren Folgen verhindern lassen. Eine erfolgreiche Unfallprophylaxe basiert auch im Kindesalter auf dem Zusammenwirken der international bekannten 3 »E«. 4 Engineering = technische Sicherheitsmaßnahmen 4 Enforcement = Sicherheitsgesetze, Verordnungen, Normen 4 Education = Sicherheitserziehung 35.4.1
Technische Sicherheitsmaßnahmen
Die meisten Unfälle sind auf technisches Versagen zurückzuführen. Das gilt insbesondere für das Kindesalter aufgrund der Entwicklung und der physiologischen Besonderheiten. Technische Sicherheitsmaßnahmen haben eine zuverlässig hohe und dauerhafte Wirksamkeit. Sie ersetzen aber keinesfalls die persönliche Aufsichtspflicht der Erwachsenen. Einfachste Maßnahme ist das Eliminieren von Unfallfaktoren wie giftige Pflanzen, Unebenheiten oder spitze Zäune auf Schulhöfen, Fußgängerüberwegen, Geschwindigkeitsbegrenzungen, Radwegen in Schulnähe. Städtebauliche Maßnahmen der Verkehrsberuhigung wie Einführung von »Tempo 30«, Vermeidung von Sichthindernissen auf Fahrwegen haben zu einer stärkeren Unfallreduktion geführt, als alle erzieherischen Bemühungen. Gerade im Bereich »sicherer Schulweg« bietet sich eine gute Kooperation zwischen Schülern, Kommunen und Polizei an. Für die Einrichtung einer sicheren Wohnung sind zahlreiche Sicherheitsartikel, wie Herd-
35
schutzgitter, Kühlschrankriegel, Sicherheitssteckdosen in Möbelund Bauhäusern zu erhalten. Zahlreiche Anregungen sind zusammengefasst in einem Sonderheft der Deutschen Stiftung Warentest mit dem Titel »Wohnen mit Kindern – Sicher Großwerden« beschrieben. In der Schule sollten Türen bruchsicheres Glas und durchgehende Griffbalken haben. Die Fenster sind kippgesichert, Treppenstufen mit Gleitschutzstreifen versehen, die Geländer haben eine Höhe von 1 m und einen 2. Handlauf von 70 cm. Ausführliche Informationen dazu veröffentlicht der Bundesverband der Unfallversicherungsträger der öffentlichen Hand (BAGUV) in seiner Schriftenreihe oder die Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege. Eine sichere Umwelt darf aber keine langweilige Umwelt bedeuten. Gerade ein Spiel- und Freizeitpark muss eine abenteuerliche Anziehungskraft behalten, will er sich nicht selbst in Frage stellen. Wie für alle technischen Sicherheitsmaßnahmen gilt jedoch auch auch für Bolzplatz, Halfpipes und Klettergerüst, dass sie einer ständigen Wartung und Kontrolle bedürfen, wenn sie auf Dauer ihre Funktionsfähigkeit behalten sollen. Wie im Ausland, gibt es auch in Deutschland zunehmend ehrenamtlich tätige Aufsichts- und Sicherheitspaten für diese Einrichtungen, die mit den zuständigen Gemeinden zusammenarbeiten.
35.4.2
Normen, Verordnungen, Sätze (Enforcement)
Viele Gebrauchsgegenstände müssen bereits bei der Herstellung festgelegten technischen Sicherheitsanforderungen entsprechen. Diese Normen z. B. nach DIN entstehen primär auf freiwilliger Basis zwischen den Vertragspartnern. Sie gelten zunehmend im gesamten europäischen Wirtschaftsraum (Euro-Norm – EN) und werden durch verpflichtende Produktsicherheitsrichtlinien ergänzt. Diese definieren den Sicherheitszustand eines Produktes, sollen den Missbrauch durch Kinder ausschließen, mögliche Gefahren deklarieren und vor allem flexibel reagieren, wenn Mängel erst durch vermehrten Gebrauch auffallen. Nach der Produkthaftungsregel klagt der Geschädigte sein Recht ein und dem Verursacher obliegt die Beweislast. Dies gilt für Hersteller wie für Händler, zwingt diese zu vorsichtigem Verhalten und benötigt kein behördliches Überwachungssystem. Nach amtlicher Überprüfung kommen entsprechende Gebrauchsgegenstände mit dem Zeichen »GS«-geprüfte Sicherheit und mit »CE«-Zeichen versehen werden. Der Fahrradschutzhelm soll beispielsweise die Aufprallenergie bei einer Geschwindigkeit von 15 km/h neutralisieren. Da der überwiegende Anteil von Schädelverletzungen der Fahrradfahrer bei Geschwindigkeiten unter 20 km/h entstehen, können mit Helm so die meisten Verletzungen vermieden werden. Bei höheren Aufprallgeschwindigkeiten wird die Wahrscheinlichkeit für Kopfverletzungen um die 15 km/h gemindert. Die entsprechenden Normtestbedingungen (beispielsweise nach Ansi und Snell) sind eingegangen in die europäische Norm für Fahrradhelme EN 1 078. Diese ist auch Voraussetzung für das GSZeichen des TÜV Rheinland. Hinzu kommt ergänzend die Festigkeit oder Wirksamkeit der Trageeinrichtung, die früher nicht bei allen Modellen gegeben waren. Dabei führte der Verlust des Helmes zwischen dem 1. und 2. Aufprall des Kopfes zu den schwersten Sekundärverletzungen.
328
35.4.3
Kapitel 35 · Unfälle
Gesetze
Diese haben erst dort ihr Recht, wo Freiwilligkeit nicht zum Erfolg führt. Sie sollen gesicherten Schutzmaßnahmen zur Akzeptanz und Beachtung verhelfen. Nichtbefolgung löst Sanktionen aus. Nur die effiziente Kontrolle sichert ihre Effektivität. Durch die Anschnallpflicht mit entsprechenden Rückhaltesystemen für Kinder in Fahrzeugen konnten noch im Einführungsjahr 1993 die tödlichen Unfälle für Kinder als PKW-Insassen um 14,5% gemindert werden. Die Erhöhung der zivilrechtlichen Haftungsgrenze auf 10 Jahre ist ein weiterer Beitrag zur Unfallprävention. Der Abschluss einer Haftpflichtversicherung, welche Kinder mit einbezieht, ist allen Eltern dringlich zu empfehlen.
35.4.4
Sicherheitsaufklärung – Mobilitätserziehung
Wenngleich sicherheitstechnische Maßnahmen im Vordergrund stehen, müssen reduzierende und sicherheitsorientierende Verhaltensweisen, insbesondere bei älteren Kindern, weiter erlernt werden. Sie sind sinnvoll und effektiv, wenn sie die entwicklungsphysiologischen Besonderheiten des Kindesalter berücksichtigen. Für die Schule hat die Kultusministerkonferenz 1994 den bestehenden Unterrichtsauftrag »Verkehrserziehung« um die Komponenten Umwelt-, Gesundheit- und Sozialerziehung erweitert. Dieser Paradigmenwechsel wird zunehmend als »Mobilitätserziehung« bezeichnet. Schulstufenspezifische Schwerpunkte dieser Mobilitätserziehung sollen sein in der 4 Primarstufe: Sicherung des Schulweges und die Radfahrausbildung 4 Sekundarstufe I: Sicherung des neuen Schulweges, verantwortungsbewusstes 4 Rad- und Mofafahren 4 Sekundarstufe II: Reflektierende Auseinandersetzung mit Verkehrs- und Umweltbewusstsein in allen Stufen begleitet von gesundheitlichen und umweltbedingten Folgeaspekten
35
Eine ausführliche Darstellung von Fakten, Hintergründen, Anregungen und Lernzielen findet man bei Limbourg et al. (2000). Umfassende spezielle Programme zu sicherheitsorientierten Mobilitätserziehungen findet man außerdem im Handbuch für Verkehrsicherheit DVR, der Deutschen Verkehrswacht »Move it« für Grundschule und Sekundarstufe (Skate und Roll – Inlineskaten), den allgemeinen Unfallkassen und ihren lokalen Gemeindeunfallverbänden. Eine Übersicht hat die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) erstellt, aber auch einzelne Sportfachverbände, wie Deutscher Turner- und Fußballbund, die Reiterliche Vereinigung – FN oder die Deutsche Lebensrettungsgesellschaft (DLRG). Eltern haben die Aufsichtspflicht zur Abwendung von Gefahren für Kinder und Jugendliche und sind zuständig für ihre Erziehung. Sie bedürfen ebenfalls der intensiven Gefahrenaufklärung. Ihre Primärbereitschaft für die Gesundheit ihrer Kinder und Jugendlichen ist groß, sie selbst erlernen dabei ein sicheres Verhalten und Kinder, die in einer solchen sicherheitsorientierten Umwelt aufwachsen, behalten diesen Anspruch auch als Erwachsene (Kisser 1995). Andererseits ist es allzu menschlich, Gefahren im Alltag zu verdrängen. Die aktive Mitarbeit oder Beschäftigung der Erwachsenen mit der Unfallprävention ist oft nur
gering. Es bedarf deshalb einer umfassenden begleitenden Meinungsbildung in Politik und Medien. Auch die Industrie muss sich beteiligen und Sicherheit allgemein als Verkaufsargument entdecken, wie man es gerade in der Autobranche erlebt. Der 104. Deutsche Ärztetag 2001 hat nicht nur die Behandlung von Verletzungen, sondern erstmalig auch die Unfallprävention als ärztliche Aufgabe herausgestellt und die Aufstellung eines nationalen Präventionsprogramms gefordert. Ebenso hat er die verbindliche Integration der Unfallprophylaxe für Kinder in das bestehende Vorsorgesystem und die Aufnahme in den Leistungskatalog beschlossen. Die Verteilung der Unfallmerkblätter und gleichzeitige präventive Beratung im Rahmen der Früherkennungsuntersuchungen bei Kindern (U2–U9) bisher auf freiwilliger Basis, ist die einzige flächendeckende Maßnahme, welche alle Eltern und ihre Kinder erreicht. Sie sollte auf die Jugenduntersuchung erweitert und endlich verbindlich werden. Aus dem insgesamt über 500 Mrd. großen Gesundheitsbudget fließt bisher nur ein geringer Anteil in die Prävention, die damit in Deutschland nach wie vor ein Schattendasein fristet. Es bedarf dringend der angekündigten gesundheitspolitischen Revision. Maßnahmen gegen Kinderunfälle wirken anders als die Prävention chronischer Erkrankungen schnell. Eine Minderung von 10% würde bereits einem Einsparpotenzial von ca. 100 Mio. Euro entsprechen und viel, viel Leid ersparen.
35.4.5
Information
Quellen für eine Basisinformation sind im Literaturverzeichnis genannt. Aktuelle epidemiologische Daten, Präventionsprogramme und Sicherheitstipps auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene sind am schnellsten entsprechend der Tabelle aus dem Internet zu erhalten. Fazit Unfälle sind keine Zufälle. Sie sind zu mehr als 60% vermeidbar! Oberstes Ziel im Kinder- und Jugendalteralter ist nicht »das sichere Kind«, sondern bleibt die Gestaltung einer sicheren Umwelt im Rahmen eines kindgerechten Alltags – und das bald.
Literatur Bass JL, Kaufer-Christoffel K, Widome M, Boyle W, Scheidt P, Stanwick R, Roberts K (1993) Childhodd injury Prevention counseling in primary care settings: A critical rewiew of the literature. Pediatrics 92: 544– 550 Bundesärztekammer (2001) Verletzungen und deren Folgen – Prävention als ärztliche Aufgabe Texte und Materialien der Bundesärztekammer zur Fortbildung und Weiterleitung,Bd. 23, 1. Aufl., Bundesärztekammer, Köln Bundesverband der Unfallkassen (2003): Statistik- Info zum Schülerunfallgeschehen 2002, München Ellsäßer G (1998) Daten für Taten, Fakten zur Prävention von Kinderunfällen. Forum von Unfallprävention im Grünen Kreuz, Verlag im Kilian, Marburg Grützmacher H (2001) Unfallgefährdung bei Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörung. Deutsches Ärzteblatt 98. Heft 34–35: A 2195– 2197 Henter A (1996) Kinder in Heim und Freizeit stark unfallgefährdet. In: Sicher Leben: Bericht über die 2. Tagung: »Kindersicherheit: Was wirkt?« in Essen, Wien 1997, 17–27
329 Literatur
Kisser R (1995) Wissen vermitteln, Bereitschaft wecken. In: »Kindersicherheit: Was wirkt?« Fachbuchreihe Bd. 6, 110–133. Sicher Leben, Wien Limbourg M (1994): Kinder im Straßenverkehr. GUVV-Westfalen-Lippe, Münster, 1995 Limbourg M, Flade A, Schönharting J (2000) Mobilität im Kindes- und Jugendalter, Leske & Buderich, Opladen Schriever J (2000) Unfälle und Unfallprophylaxe im Kindesalter. In: Schlack HG (Hrsg.) Sozialpädiatrie: Gesundheit, Krankheit, Lebenswelten, 2. Aufl., 215–244. Urban & Fischer, München Jena Schweizerische Beratungsstelle für Unfallverhütung (bfu) (2003) bfu-Statistik Schneesportunfälle 2002/03. Bern Statistisches Bundesamt (Hrsg.) (2003) Straßenverkehrsunfälle, Kurzinformation zur Verkehrsstatistik Kinderunfälle im Straßenverkehr 2002
35
36 Impfungen U. Lindlbauer-Eisenach
)) Impfungen gehören zu den wichtigsten und wirksamsten Präventionsmaßnahmen in der Medizin. Im Jugendalter sind Auffrischimpfungen gegen Diphtherie, Wundstarrkrampf, Kinderlähmung und Keuchhusten notwendig. Bei jedem Arztkontakt sollte der aktuelle Impfschutz überprüft werden.
36.1
Grundlagen
36.1.1 Zeitabstände zwischen verschiedenen
Impfungen und zu Operationen Zwischen verschiedenen Totimpfstoffen sowie Tot- und Lebendimpfstoffen muss kein Zeitabstand beachtet werden. Lebendimpfstoffe können entweder gleichzeitig gegeben werden oder es ist ein Mindestabstand von 4 Wochen einzuhalten. Vor Operationen sollte nach Impfungen mit Totimpfstoffen ein Abstand von 3 Tagen, bei Lebendimpfstoffen von 14 Tagen eingehalten werden. Zwingend notwendige Operationen sind jedoch immer durchführbar.
! Aufklärung und Einverständniserklärung können mündlich erfolgen, müssen aber in der Patientenakte dokumentiert werden. Bei Jugendlichen kann ab einem Alter von 16 Jahren davon ausgegangen werden, dass sie die Tragweite der Entscheidung beurteilen können.
36.1.4 Verhaltensmaßnahmen nach Impfungen Um die Beschwerden durch die Impfung gering zu halten, sollte nicht in den dominanten Arm injiziert werden. Eine auftretende schmerzhafte Schwellung oder Rötung der Impfstelle kann zur Besserung der Beschwerden gekühlt werden. Schutzimpfungen sind kein Anlass zur Schonung. Duschen und Baden ist in jedem Fall erlaubt. In den ersten Tagen nach der Impfung sollte der Jugendliche auf Hochleistungssport sowie größere sportliche Aktivitäten insbesondere mit dem Arm, in den injiziert wurde, verzichten, z. B. Bodybuilding, Fitness Studio. In seltenen Fällen kommt es nach der Rötelnimpfung zu einer reaktiven Rötelnimpfarthritis. In diesem Fall sollte einige Tage kein Sport betrieben werden.
36.2
Allgemein empfohlene Impfungen (Standardimpfungen)
36.1.2 Nebenwirkungen von Impfungen Moderne Impfstoffe sind gut verträglich. Bleibende gravierende Nebenwirkungen werden nur extrem selten beobachtet. Wir unterscheiden Impfreaktionen, d. h. harmlose Beschwerden wie z. B. Rötung, Schwellung und Schmerzen an der Impfstelle. Fieberreaktionen, wie bei Säuglingen, beobachtet man im Jugendalter fast nie. Bei Lebendimpfungen wie der Masern-Mumps-Rötelnimpfung, kann es bei 5–10% der Geimpften nach 5–10 Tagen zur Impfkrankheit, einem flüchtigen Exanthem (Impfmasern- Impfröteln) oder einer Schwellung der Parotis (Impfmumps) kommen. Diese Erscheinungen verlaufen wesentlich milder als die Wildvirusinfektion und sind für die Umgebung nicht ansteckend. Ein Impfschaden d. h. eine bleibende Schädigung kommt extrem selten vor (z. B. Encephalitis nach Masernimpfung ≤1:1 Mio. gegenüber der Wildvirusinfektion 1:500–1:2000).
36 36.1.3 Impfaufklärung Vor jeder geplanten Impfung muss der Arzt den Impfling – soweit dieser es beurteilen kann –, bzw. den Sorgeberechtigten über nachfolgende Punkte aufklären. 4 Nutzen der geplanten Impfung, Risiken und Behandlungsmöglichkeiten der Erkrankung 4 Art und Anzahl der notwendigen Impfungen 4 Kontraindikationen 4 Mögliche Impfreaktionen und Verhaltensmaßnahmen nach der Impfung 4 Art und Häufigkeit von Nebenwirkungen
Jeder Jugendliche sollte die im Impfkalender (. Abb. 36.1) empfohlenen Impfungen erhalten haben, anderenfalls müssen sie nachgeholt werden. Einzige Ausnahme ist die Hib-Impfung (Haemophilus influenzae), da nach dem 5. Lebensjahr durch die Reifung des Immunsystems und kreuzreagierende Antikörper mit anderen Bakterien systemische Hib-Infektionen extrem selten sind. Diphtherie, Tetanus (Wundstarrkrampf) Bei vollständig durchgeführter Grundimmunisierung besteht ein Immunschutz. Der durch die Impfung hervorgerufene Schutz richtet sich gegen die toxinbedingten Symptome. Bei fehlender oder unvollständiger Grundimmunisierung ist diese sofort nachzuholen. Auffrischimpfungen sind alle 10 Jahre notwendig. Hierfür sollte Td- Impfstoff mit reduziertem Diphtherietoxoidgehalt (2 IE Diphtherietoxoid) verwendet werden. Poliomyelitis (Kinderlähmung) Jugendliche benötigen zur vollständigen Grundimmunisierung mindestens 3 dokumentierte Impfungen mit OPV (orale Poliovakzine) bzw. IPV (inaktivierte Poliovakzine). Eine Auffrischimpfung ist zwischen dem 9.–17. Lebensjahr vorgesehen. Erwachsene mit ≥4 dokumentierten Impfungen gelten als vollständig immunisiert und benötigen später keine weiteren Auffrischimpfungen mehr. Die Ausrottung der Poliomyelitis durch effiziente Impfprogramme innerhalb der nächsten Jahre ist Ziel der WHO.
331 36.2 · Allgemein empfohlene Impfungen (Standardimpfungen)
. Abb. 36.1. Impfkalender (Standardimpfungen) für Säuglinge, Kinder, Jugendliche und Erwachsene
36
Impfkalender (Standardimpfungen) für Säuglinge, Kinder, Jugendliche und Erwachsene
Dr. U. Lindlbauer-Eisenach, Mitglied der STIKO
! Seit 1998 wird in Deutschland wegen der Gefahr der impfassoziierten Poliomyelitis (VAPP) wieder die IPV-Impfung empfohlen.
Pertussis (Keuchhusten) In den letzten Jahren hat sich das Erkrankungsalter an Keuchhusten nach oben verschoben. Weder die durchgemachte Erkrankung noch die Impfung hinterlässt einen lebenslangen Schutz. Reinfektionen kommen bereits im Jugendalter vor (. Abb. 36.2). Das Nachholen oder Vervollständigen der Pertussis-Immunisierung erfolgt im Jugendalter mit einem azellulären PertussisImpfstoff (aP-Impfstoff). Bei vollständiger Grundimmunisierung wird im Alter von 9–17 Jahren eine Auffrischimpfung mit aPVakzine empfohlen. Seit 2005 steht kein monovalenter Pertussisimpfstoff mehr zur Verfügung. Grundimmunisierung und Auffrischungsimpfung bei Jugendlichen müssen daher mit Kombinationsimpfstoff 7 unten erfolgen. Um die Nebenwirkungen zu minimieren, sollte der Abstand zur letzten Td-Impfung 5 Jahre betragen. ! Zur Auffrischimpfung stehen Kombinationsimpfstoffe Td- aP, Td-IPV-aP zur Verfügung.
. Abb. 36.2. Altersverteilung der Keuchhustenerkrankungen in der ehemaligen DDR und in den neuen Bundesländern. (Nach Hülße, 2002)
Hepatitis B ! Das Hepatitis B-Virus kann in allen Körperflüssigkeiten vorkommen. Die größte Ansteckungsgefahr besteht durch Blutkontakte.
Das Virus kann übertragen werden durch 4 Ungeschützten Sexualverkehr (häufigste Ursache) 4 Verletzungen (Injektionsnadeln bei Drogensüchtigen, Piercing, Tätowieren) 4 Bereits perinatal bei Neugeborenen seropositiver Mütter Etwa drei Viertel aller Hepatitis B-Infektionen verlaufen asymptomatisch. Je jünger der erkrankte Patient, desto häufiger muss mit einer Chronifizierung gerechnet werden. Das Risiko einer chronischen Lebererkrankung beträgt bei Erkrankung im Jugendlichenalter noch 10% (bei Säuglingen ca 90%, bei Kleinkindern 40%). Bis zum 18. Lebensjahr sollten alle Jugendlichen eine aus 3 Injektionen bestehende Grundimmunisierung gegen Hepatitis B erhalten haben. Gemäß dem Impfkalender der STIKO wird diese Grundimmunisierung bereits im Säuglingsalter mit Kombinationsimpfstoffen durchgeführt. In den nächsten Jahren
% 100 80 60 40 20 0 1970 1980 1989 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 Lebensjahr > 15 5 – < 15 1 – < 15 <4
332
Kapitel 36 · Impfungen
muss noch mit bisher ungeimpften Jugendlichen gerechnet werden, da die Regelimpfung der Säuglinge erst seit 1995 empfohlen wurde. Eine Auffrischimpfung wird wegen des langanhaltenden Impfschutzes derzeit nicht generell für notwendig erachtet. ! Die Impfung gegen Hepatitis B sollte in den M. deltoideus erfolgen, nicht in das Gesäß, da sonst die Immunantwort geringer ist. Serologische Vor- oder Nachtestungen zur Kontrolle des Impferfolges sind bei der Regelimpfung im Kindes- und Jugendalter nicht erforderlich.
meldepflichtig. In 5–10% ist nach der Erstimpfung mit » Impfmasern« in der 2. Woche zu rechnen. Ein kausaler Zusammenhang zwischen Impfung und dem Auftreten von Autismus, SSPE, Enzephalitis oder M. Crohn konnte nicht bewiesen werden. Mumps. Das Auftreten einer Meningitis wird in 15% beobachtet.
Bleibende Hörschäden scheinen jedoch häufiger vorzukommen, als bisher angenommen. Eine Thrombopenie nach Impfung konnte in seltenen Fällen (1:30.000) beobachtet werden, es kam jedoch nie zu klinisch relevanten Blutungen.
Verhalten bei Kontakt mit Hepatitis B Die Maßnahmen nach Kontakt mit Hepatitis B richten sich nach dem Impfstatus der Kontaktperson.
Röteln. Gefürchtet ist die Infektion in den ersten 3 Schwangerschaftsmonaten, da sie zu einem schweren Fehlbildungssyndrom (Gregg-Syndrom) mit Missbildungen an Auge, Herz und Ohren führen kann.
Geimpfte Personen
! Jugendliche sollen zwei dokumentierte Impfungen gegen MMR nachweisen können, andernfalls sind diese Impfungen sofort nachzuholen. Die zweimalige MMR-Impfung gilt als sicherer Schutz vor einer Rötelnembryopathie in einer späteren Schwangerschaft.
Keine Maßnahme ist notwendig, 4 wenn der Anti-Hbs-Titer nach der Grundimmunisierung ≥100 IE/l lag und die Impfung nicht länger als 5 Jahre zurückliegt, oder 4 wenn innerhalb der letzten 12 Monate ein Wert von ≥100 IE/l bestimmt wurde Sofortige Auffrischimpfung mit einer Dosis Hepatitis BImpfstoff, wenn die Impfung länger als 5–10 Jahre zurückliegt, auch wenn nach der Grundimmunisierung ein Titer von ≥100 IE/l gemessen wurde. Weitere Maßnahmen sind nicht erforderlich.
36.3
Indikationsimpfungen
Neben den Standardimpfungen gibt es Impfungen, die für Risikogruppen bei individuell erhöhtem Expositions-, Erkrankungsoder Komplikationsrisiko sowie auch zum Schutz Dritter empfohlen werden, sog. Indikationsimpfungen.
Ungeimpfte oder unvollständig geimpfte Kontaktpersonen
Sofortige Blutentnahme zur Testung des Exponierten, wenn 4 der Exponierte nicht oder unvollständig geimpft ist. 4 er » low-responder« ist, d. h. AntiHbs nach Grundimmunisierung <100 IE/l. 4 der Impferfolg nie durch einen Titer kontrolliert wurde. 4 die letzte Hepatitis B-Impfung länger als 10 Jahre zurückliegt. Das weitere Vorgehen hängt dann vom Ergebnis der Testuntersuchung ab. Non-responder (Anti HBs <10 IE/l) sowie Anti-Hbsnegative Kontaktpersonen erhalten unverzüglich simultan zur aktiven Impfung HB-Immunglobulin.
36
Masern – Mumps – Röteln Alle drei Erkrankungen könnten bei hohen Durchimpfungsraten eliminiert werden, da die Viren ausschließlich humanpathogen sind. Die WHO strebt eine Eliminierung der Masern in Europa für das Jahr 2007 an. Masern. Die weitverbreitete Meinung, es handle sich um eine
»harmlose Kinderkrankheit«, ist falsch. In 10% treten Komplikationen auf, Otitis media, Pneumonie, am schwerwiegendsten die Enzephalitis die bei 1:1000–1:2000 Fällen beobachtet wird. Die subakut sklerosierende Panencephalitis (SSPE) stellt eine Spätkomplikation 6–8 Jahre nach Erkrankung dar mit immer tödlichen Ausgang (während bisher eine Häufigkeit von 1–5/1 Mio. Erkrankungsfällen angenommen wurde, muss auf Grund der Erkrankungsmeldungen der letzten Jahre von einer wesentlich höheren Rate ausgegangen werden). Masern sind seit Inkrafttreten des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) zum 01.01.2001
Influenza Die Grippeimpfung wird für Jugendliche mit erhöhter gesundheitlicher Gefährdung infolge einer Grundkrankheit empfohlen (Asthma bronchiale, schwere pulmonale Erkrankungen, z. B. Mukoviszidose, chronische Herz-, Kreislauf-, Leber- und Nierenkrankheiten, Diabetes mellitus und andere Stoffwechselkrankheiten, Immundefizienz, HIV-Infektion). Die Zusammensetzung des Impfstoffs entspricht den aktuellen zirkulierenden Influenza A- und -B-Typen, die durch ein weltweites Überwachungsnetz erfasst werden. Die Impfung muss bei bestehender Indikation jährlich verabreicht werden. Varizellen Windpocken gelten als »harmlose Kinderkrankheit«. Insbesondere bei Jugendlichen und Erwachsenen kommt es jedoch häufig zu Komplikationen. Die STIKO empfiehlt die Impfung gegen Varizellen als Standardimpfung im 2. Lebensjahr sowie für ungeimpfte 9- bis 17-jährige Jugendliche ohne Varizellenanamnese. Die Impfung soll bei Mädchen auch Komplikationen in einer späteren Schwangerschaft für die Mutter und den Feten, bzw. das Neugeborene verhüten. Neben dieser Empfehlung ist die Varizellenimpfung Indikationsimpfung bei bestimmten Risikopatienten, z. B. mit schwerer Neurodermitis, seronegativen Patienten mit Leukämie oder unter immunsuppressiver Therapie. ! Bis zum vollendeten 13. Lebensjahr genügt 1 Dosis, bei Jugendlichen über 13 Jahren müssen 2 Dosen im Abstand von mindestens 6 Wochen gegeben werden.
333 36.5 · Was bringt die Zukunft?
Frühsommer-Meningo-Enzephalitis (FSME) Die FSME wird durch Zeckenstich übertragen. Ein Infektionsrisiko besteht von April bis November. Risikogebiete liegen in Deutschland vorwiegend in Bayern und Baden-Württemberg sowie Regionen in Hessen, Rheinland-Pfalz und Thüringen. Außerhalb Deutschlands sind vor allem Österreich sowie die baltischen Staaten Hochrisikoländer. Die Karten der FSME-Endemiegebiete werden jährlich aktualisiert und durch das Robert-KochInstitut (RKI) veröffentlicht (http://www.rki.de). Die Impfung ist für alle zu empfehlen, die sich in FSME-Endemiegebieten im Freien aufhalten, z. B. Zeltlager, Kajakfahren, Wandern usw. In Deutschland sind zwei Impfstoffe zugelassen. Die Anwendung des Kinderimpfstoffes ist je nach Hersteller bis zum 12. Lebensjahr (Encepur K Chiron-Behring) bzw. 15. Lebensjahr (FSME-Immun K Baxter) empfohlen. Über dieser Altersgrenze kommt der Erwachsenenimpfstoff zur Anwendung. Die Grundimmunisierung umfasst 3 Impfungen: 0/1–3/9–12 Monate. Auffrischimpfungen sind alle 3–5 Jahre notwendig. Schutz vor der Erkrankung besteht bereits einige Tage nach der 2. Impfung. Muss überraschend eine Reise in ein Endemiegebiet angetreten werden, kann alternativ mit einer Schnellimmunisierung ein rascher Immunschutz aufgebaut werden. Nicht vergessen werden sollte die Beratung zum richtigen Verhalten im Freien, um Zeckenstiche möglichst zu vermeiden: entsprechende Kleidung, Schuhe, Repellents. Das abendliche Absuchen des Körpers nach Zecken ist unbedingt notwendig, auch um die Gefahr einer Übertragung von Borrellien (Bakterien) zu mindern. Im Gegensatz zur FSME, bei der die Viren bereits beim Stich übertragen werden, steigt das Erkrankungsrisiko für die Lyme-Borrelliose mit der Zeitdauer, die der Zecke zum saugen zur Verfügung steht.
36.4
Reiseimpfungen
! Zu beachten ist, dass Reiseimpfungen nicht zu Lasten der Gesetzlichen Krankenversicherung durchgeführt werden dürfen.
Hepatitis A Das HAV-Virus ist weltweit verbreitet, endemisch in allen Ländern mit niedrigem Hygienestandard. Jugendliche bereisen viele dieser Länder als »Rucksacktouristen«. Die Aufklärung über Schutzmöglichkeiten vor einer Infektion mit HAV gehört zur reisemedizinischen Beratung. Der Impfschutz besteht bereits 7–14 Tage nach der 1. Injektion und hält nach der 2. Injektion (6–12 Monate nach der 1. Impfung) mindestens 10 Jahre an. ! Es stehen Kombinationsimpfstoffe für Hepatitis A und B sowie Hepatitis A und Typhus zur Verfügung. Jugendliche, die bisher keine Hepatitis B-Impfung erhalten haben, können eine Grundimmunisierung mit Twinrix (Hepatitis A und B) erhalten. Die Verträglichkeit und Schutzrate des Kombinationsimpfstoffes entspricht dem der Einzelkomponenten. Da die Hepatitis A-Impfung eine Reiseimpfung ist, muss der geringe Aufpreis bei der Gabe von Twinrix vom Patienten selbst getragen werden.
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Meningokokken C Meningokokken sind gramnegative Diplokokken, die schwerste Infektionen beim Menschen, Sepsis und Meningitis hervorrufen können. Besonders gefährdet sind Säuglinge und Kleinkinder, ein weiterer Erkrankungsgipfel ist bei Jugendlichen zu beobachten. In Europa werden 90–95% der Erkrankungen durch die Serogruppen B und C ausgelöst, in Deutschland ca. 70–75% Typ B und 20–30% Typ C (in Bayern, Baden-Württemberg und Sachsen wurde in den letzten Jahren ein Anstieg von Erkrankungen der Serogruppe C 29–37% beobachtet). Die STIKO empfiehlt die Impfung mit Meningokokken C-Konjugat-Impfstoff für Schüler und Austauschstudenten, die Langzeitaufenthalte in Ländern mit einer höheren Inzidenz von Meningokokken C-Erkrankungen planen, z. B. in Großbritannien, Irland, den Niederlanden, den Pyrenäendepartements Frankreichs, Spanien, Griechenland. Diese Länder haben deshalb Impfprogramme mit konjugierten Meningokokken C-Impfstoffen eingeführt. ! Neben dieser Reiseimpfung gilt die Indikationsimpfung für Risikogruppen, z. B. Patienten mit Immundefekten oder Asplenie.
Die Polysaccharidimpfstoffe gegen Meningokokken (A und C, bzw. A, C, Y und W 135) kommen bei Reisen in entsprechende Risikoländer zur Anwendung. Die Empfehlungen der Zielländer sind zu beachten. Typhus Zugelassen ist sowohl eine Lebendvakzine zur oralen Anwendung sowie eine Totvakzine. Seit 2003 steht für Jugendliche ab dem vollendeten 16. Lebensjahr ein Kombinationsimpfstoff mit Hepatitis A zur Verfügung. Neben der Impfung vor Reisen in entsprechende Endemiegebiete gilt jedoch die Vorsichtsmaßnahme für Reisen in warme Länder: »Peel it, cook it, boil it or forget it.«
36.5
Was bringt die Zukunft?
Einige Impfstoffe, die in den nächsten Jahren auch für Jugendliche große Bedeutung erlangen werden, befinden sich in der Entwicklung, bzw. werden in Studien erprobt. Impfstoff gegen Humanes Papillomvirus (HPV): HPV-Viren verursachen Haut- und Schleimhautwarzen. Infektionen mit »onkogenen« HPV-Viren werden ursächlich für die Entstehung von Zervix-, Vulva-, Penis- und Analkarzinom angenommen. Mit der HPV-Impfung wäre wie bei der Hepatitis B Impfung (Prävention des Leberzellkarzinoms) eine echte Karzinomprophylaxe insbesondere des häufigen Zervixkarzinoms möglich. Der HPV-Impfstoff wird bereits in Studien erprobt, sodass er innerhalb der nächsten 5 Jahre zur Verfügung stehen wird. Ebenso ist mit einer Impfung gegen Herpes zoster in absehbarer Zeit zu rechnen. Die Entwicklung von Impfstoffen gegen Helicobacter pylori sowie Humanes Immundefizienz Virus (HIV) und Epstein Barr Virus (EBV), Hepatitis C und Meningokokken Serotyp B wird noch längere Zeit beanspruchen. Auch eine Impfung gegen Malaria wird trotz intensiver Bemühungen noch auf sich warten lassen. Die nächsten Jahre werden neue Impfstofftechnologien bringen, DNA-Vakzine sowie Transdermale Vakzine ohne die schmerzhafte Injektion. In Tierexperimenten konnten letztere zumindest für Auffrischimpfungen verwendet werden.
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Kapitel 36 · Impfungen
Der weitestgehende Schritt zu neuen Impfstoffen sind transgene essbare Pflanzen, wobei die gewünschten Impfantigene mit entsprechend vorbehandelten Lebensmitteln dem Impfling zugeführt werden können. Im Tiermodell ist dies bereits gelungen. Als Vektorpflanzen kommen Mais, Bananen, Tomaten oder Kartoffeln in Frage. Um solche Impfungen einzuführen, muss auch das Misstrauen der Bevölkerung gegen die Gentechnik überwunden werden.
Literatur Heininger U (2004) Impfratgeber. Empfehlungen für Kinder, Jugendliche und Erwachsene. 3. Aufl., Uni-med Science Hülße C (2002) Landesgesundheitsamt Mecklenburg-Vorpommern Ley S (2003) Pertussis – wie handeln Sie? In: Pädiatrie hautnah, 15/118 Schmitt J, Hülße C, Raue W (2003) Schutzimpfungen. Infomed – medizinische Verlagsgesellschaft, Berlin
36
335
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37 Konsum, Missbrauch und Abhängigkeit von psychoaktiven Substanzen Mit einem Exkurs zu nichtstofflichem Suchtverhalten W.-R. Horn )) Der Begriff »Sucht« ist mit einer ganzen Reihe von stark emotional gefärbten Wertungen besetzt. »Bahnhofspenner« und »Junkie« sind nur zwei Begriffe, die das ein wenig illustrieren. Psychoaktive Substanzen werden in großem Umfang konsumiert, beim überall präsenten »Kampf gegen die Drogen« sind immer noch vorwiegend die »bösen« illegalen Drogen gemeint. Erst ganz allmählich beginnt sich in der Öffentlichkeit die Vorstellung durchzusetzen, dass die Trennung in legale und illegale Drogen eher willkürlich und zum großen Teil historisch bedingt ist und dass letztlich alle psychoaktiv wirksamen Substanzen, die man unabhängig von ihrer rechtlichen Klassifizierung als Drogen bezeichnet, sowohl »gute« als auch »schlechte« Seiten haben. Auch in der Politik gibt es erste tastende Schritte, ein kohärentes Konzept zum Umgang des Einzelnen und der Gesellschaft mit psychoaktiven Substanzen zu erstellen. Sehr viele verschiedene Interessen – erzieherische, medizinische, psychologische, soziale, vor allem auch wirtschaftliche und nicht zuletzt ethische – sind dabei zu berücksichtigen.
37.1
Allgemeines und Definitionen
Dieses Kapitel soll versuchen, die Position des Jugendmediziners in diesem multidisziplinären Feld abzustecken, wobei vorrangig die Begegnung mit dem Jugendlichen behandelt werden soll, ob er nun abstinent ist, mit dem Konsum bestimmter Drogen experimentiert, nur gelegentlich oder auch schon regelmäßig konsumiert, oder ob sein Konsum schon als »schädlich« zu betrachten ist oder er gar in gewisser Weise »abhängig« davon geworden ist. Abhängigkeit kann psychischer und/oder physischer Art sein. Psychische Abhängigkeit wird durch ein übermäßiges Verlangen nach der Einnahme einer bestimmten Substanz gekennzeichnet, bei der physischen Abhängigkeit stehen Dosissteigerung, Toleranzentwicklung und Entzugssyndrom im Vordergrund. Die Weltgesundheitsorganisation spricht laut ICD 10 von einem Abhängigkeitssyndrom (F1x.2, dabei x = Variable für Substanztyp), wenn mindestens drei der folgenden Kriterien während der letzten 12 Monate wiederholt vorhanden waren (DGKJPP 2003): 4 Ein starker Wunsch oder eine Art Zwang, die psychotrope Substanz zu konsumieren 4 Verminderte Kontrollfähigkeit bezüglich des Beginns, der Beendigung oder der Menge des Konsums 4 Körperliches Entzugssyndrom bei Beendigung oder Reduktion des Konsums, nachgewiesen durch die substanzspezifi-
schen Entzugssymptome oder durch die Aufnahme der gleichen oder einer nahe verwandten Substanz, um Entzugssymptome zu mildern oder zu vermeiden 4 Nachweis einer Toleranz, um die ursprünglich durch niedrigere Dosen erreichte Wirkung der psychotropen Substanz hervorzurufen, sind zunehmend höhere Dosen erforderlich 4 Fortschreitende Vernachlässigung anderer Interessen zugunsten des Substanzkonsums, erhöhter Zeitaufwand, um die Substanz zu beschaffen, zu konsumieren oder sich von den Folgen zu erholen 4 Anhaltender Substanzkonsum trotz des Nachweises eindeutig schädlicher Folgen. Die schädlichen Folgen können körperlicher Art sein, z. B. Leberschädigung, oder sozialer Art wie Schul- bzw. Arbeitsplatzverlust durch substanzbedingte Leistungseinbuße, oder psychisch wie bei depressiven Zuständen nach massivem Substanzkonsum ! In der wissenschaftlichen Literatur wird die Anwendbarkeit der gängigen Klassifikationssysteme auf Substanzgebrauch in der Adoleszenz nicht zuletzt wegen der ausgeprägten Variabilität der Phänomene in diesem Alter als problematisch angesehen.
Nur ein Teil der Konsumenten von psychoaktiven Substanzen entwickelt eine Abhängigkeit davon; nach US-amerikanischen Untersuchungen sind das beim Alkohol 15%, beim Kokain 17%, beim Heroin 23% und beim Nikotin immerhin 32%, d. h. ein Drittel aller Menschen, die je eine Zigarette oder mehr geraucht haben. In jeder Gesellschaft gibt es unterschiedliche Drogenpräferenzen und Konsummuster, die vielen verschiedenen Einflüssen unterliegen. Interessenten seien auf weiterführende Literatur wie Ulrich (2000), Farke, Grass und Hurrelmann (2003) verwiesen. In Deutschland sind wie in anderen europäischen Ländern auch Alkohol und Tabak diejenigen Drogen mit der größten Verbreitung, bei beiden wird hinsichtlich des Pro-Kopf-Konsums ein Platz im oberen Bereich eingenommen. Entsprechend hoch ist der Anteil der ca. 57 Mio. erwachsenen Bundesbürger, die missbräuchlichen Konsum betreibt (Alkohol 1,7 Mio., Tabak 6,3 Mio.) oder gar abhängig davon ist (Alkohol weitere 1,7 Mio., Tabak 4,3 Mio.). Dagegen sehen die Zahlen der Abhängigen von illegalen Drogen ohne Cannabis mit 175.000 und von Cannabis allein mit 240.000 bevölkerungsepidemiologisch recht klein aus, auch gegen die 1,9 Mio. von psychoaktiven Medikamenten (überwiegend Benzodiazepine) Abhängigen (Bühringer 2003). Im Erwachsenenalter können sich ungünstige und schädliche Muster des Substanzkonsums fortsetzen, die zumeist in der mittleren Adoleszenz, teilweise auch schon früher, eingesetzt haben. Der Pädiater und andere Gesundheitsfachleute, die mit Jugendlichen zu tun haben, müssen sich aber stets vor Augen halten, dass ein experimenteller, oft nur vorübergehend ausufernder
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Kapitel 37 · Konsum, Missbrauch und Abhängigkeit von psychoaktiven Substanzen
Konsum psychoaktiver Substanzen normal ist und keinen Anlass für irgendeine medizinisch begründete Intervention darstellt. ! Die Kunst jugendmedizinischen Handelns besteht darin, zu erkennen, wenn die Grenze zwischen Genuss und Freude beim Konsum und schädlichem Gebrauch bis hin zum Verlust von Freiheit und Autonomie überschritten zu werden droht. Dann gilt es, dies in Beziehung zum Gefüge aus Widerstandsfähigkeit, Schutz- und Risikofaktoren im Lebenskontext des Jugendlichen zu setzen und ihm hilfreich zur Seite zu stehen.
37.2
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Eine Gratwanderung zwischen Genuss und Abhängigkeit. Oder: Wie wird man süchtig? Und was schützt davor?
In unserer Gesellschaft spielen Genuss und Rausch eine sehr große Rolle, wobei der Rausch als Grenzüberschreitung und glückhafter Ausstieg aus dem Alltag allenfalls nur temporär und sozial kontrolliert zugelassen wird. In keiner anderen Sprache gibt es den Ausdruck Genussmittel für Kaffee, Tee, Tabak und Alkoholprodukte. Diejenigen Rauschmittel, deren Konsum die Gelegenheit zu ekstatischen Erfahrungen und Bewusstseinsveränderungen bietet, waren bis vor wenigen Jahrzehnten Künstlern, Musikern, Schriftstellern und denjenigen vorbehalten, die in ferne Länder reisten. Im Zeitalter der Globalisierung (Amendt 2003) und eines riesigen Warenangebots (für die Bewohner der industrialisierten Länder!) haben auch Jugendliche Zugang zu einem sehr großen Spektrum von Drogen aller Art. Sie haben also nicht nur die Entwicklungsaufgabe, mit den Drogen ihrer Kultur vertraut zu werden, sondern können sich mit allem jederzeit versorgen. Auch die Alltagsdrogen Alkohol und Tabak sind rund um die Uhr (Alkohol sinnigerweise in Tankstellen und Zigaretten in je einem Automaten pro 100 Einwohner) erhältlich. Die Entwicklungspsychologie setzt eine ganze Reihe von Entwicklungsaufgaben, die Jugendliche vor allem in der mittleren und späten Adoleszenz zu erfüllen haben, mit bestimmten Funktionen des Substanzkonsums in Beziehung (Silbereisen u. Reese 2001): 4 Identität wird gefördert durch die Möglichkeit, mit Drogen seinen persönlich Stil zu demonstrieren und durch grenzüberschreitende Erfahrungen. 4 Zum Aufbau von Freundschaften und Beziehungen wird die kommunikationsfördernde Wirkung der Drogen benutzt, dabei bedient man sich bestimmter, teilweise geschlechtsspezifischer Attribute und Rituale (z. B. »Coolness«). 4 Die Ablösung von den Eltern wird erleichtert durch die Möglichkeit, mit Drogen aller Art demonstrativ die elterliche Kontrolle zu verletzen und Unabhängigkeit zu demonstrieren. 4 Darüber hinaus leisten die Teilhabe an subkulturellen Lebensstilen und das Suchen von Spaß und Genuss mittels Drogen einen Beitrag zu Lebensgestaltung und -planung. 4 Da Drogen sich besonders als Instrumente gewollter Normverletzung und sozialen Protests eignen, trägt ihr wenn auch nur moderater und passagerer Konsum zur Entwicklung eines eigenen Wertesystems bei. 4 Da es durchaus zu anhaltenden Schwierigkeiten bei der Bewältigung jugendlicher Entwicklungsaufgaben kommen kann,
können Substanzen schließlich noch eingesetzt werden, Stress und ungute Gefühle erträglicher zu machen oder sie können gewissermaßen zu Ersatzzielen werden. Nach Silbereisen und Reese (2001) kommt es für die Mehrheit der Jugendlichen zu einem sog. »Maturing out«, das heißt ca. 90% der Jugendlichen lernen mit psychoaktiven Substanzen angemessen umzugehen, nur bei einer Minderheit von etwa 10% mit vorwiegend schon frühkindlich zu beobachtenden Störungen bleibt Substanzkonsum »Ausdruck von Anpassungsproblemen« im Sinne einer »antisozialen Syndroms« mit vielfältigen Manifestationen im Verhalten, zu denen dann auch Missbrauch von bzw. Abhängigkeit von Substanzen gehören. Missbrauch und Abhängigkeit von Drogen entstehen also nicht durch einfachen Kontakt mit Drogen, den es durch Verhaltensbeeinflussung zu vermeiden gälte. Es ist ein komplexes Bündel von Bedingungsfaktoren, die für eine solche Entwicklung verantwortlich sind. Vereinfacht lässt sich ein solches multifaktorielles Geschehen mit Hilfe eines Dreiecks ausdrücken, dem sog. »Suchtdreieck« (. Abb. 37.1). 1. Die Person ist durch genetische Prädispositionen (z. B. unterschiedliche Aldehyddehydrogenase- und Monoaminoxidaseaktivität, Dopamin-D2-Rezeptorgene), durch prägende frühkindliche Lebenserfahrungen (Felitti 2003), durch verschiedene Temperamentsfaktoren (Irritabilität, »sensation seeking«), durch Problemverhaltensweisen (Ebeling et al. 1999) wie Aggressivität, oppositionelles Verhalten und Hyperaktivität, durch Störungen der Affektivität, durch substanzspezifische Wirksamkeitserwartungen geprägt. Das Phänomen der Komorbidität, also des Vorliegens psychiatrischer Störungen bei Substanzproblemen, findet in der Forschung zunehmend Beachtung und sollte auch in der Primärversorgung einen breiteren Raum einnehmen (Schulz u. Remscheidt 1999; Shrier et al. 2003; Leeners u. Braun-Scharm 2004). 2. Die Einflüsse der Umwelt lassen sich in solche des sozialen Nahraums und solche der Gesellschaft aufgliedern. In der Familie spielen unterschiedliche Erziehungsstile (autoritär, Laissez-faire), Suchtbelastungen und Einstellung gegenüber Substanzen, negative Kommunikationsmuster, fehlende Bindungen, Konflikte bis hin zur Gewalt und Trennungen eine Rolle. Einen wichtigen Platz im Bedingungsgefüge nimmt die Schulzufriedenheit ein: sowohl schlechtes Schulklima als auch Überforderung und schlechte Leistungen mit Beeinträchtigung des Selbstwertgefühls sind wichtige Prädiktoren für Suchtrisiken.
Person
Missbrauch Sucht
Umwelt . Abb. 37.1. Das »Suchtdreieck«
Substanz
337 37.3 · Alkohol
Schließlich wirken auch unzureichende Akzeptanz in der Gleichaltrigengruppe, Zurückweisungen, Anschluss an sozial auffällige Peers und »Gruppendruck« in diese Richtung. Ungünstige Faktoren in der Gesellschaft sind höhere Akzeptanz von Drogen wie Alkohol und Zigaretten in Werbung, Filmen und Alltag, dann Armut, Perspektivenmangel, Konsumorientierung, »negative« Nachbarschaft (außer »Herumhängen« keine Freizeitangebote, Kriminalität, Entwurzelung, Ghettoisierung, z. B. Russlanddeutsche), wenig traditionelle Bindungen z. B. an religiöse Gruppen. 3. Die Droge selbst ist von Bedeutung im Hinblick auf Verfügbarkeit, Zugänglichkeit und Griffnähe, aber auch bezüglich ihrer Wirksamkeitserwartungen und ihrer Wirkungsweise, des Konsummusters, ihres Abhängigkeitspotenzials, der gesetzlichen Bestimmungen und Beschränkungen und ihres Preises einschließlich der Besteuerung. Bei riskantem Konsum von Drogen, also wenn verträgliche Mengen für längere Zeit überschritten werden, können sich sowohl akute Konsequenzen z. B. in Form von sozialen Problemen, Unfällen, erhöhter Gewaltbereitschaft einstellen als auch die Grundlagen für langfristige Folgen in Form somatischer, kognitiver, psychischer und sozialer Einschränkungen angelegt werden. In den letzten Jahren mehren sich die Indizien dafür, dass es sich bei der Abhängigkeit von psychoaktiven Substanzen auch um Hirnerkrankungen und nicht ausschließlich um »schlechte Gewohnheiten« handelt. Alle Drogen aktivieren den Dopamin-Belohnungskreislauf, und dieser Kreislauf, der für die Auslösung von Wohlbefinden sorgt, ist eng verbunden mit den Hirnarealen, die Gedächtnis, Gefühle und Motivation kontrollieren. ! Das ständige Bombardement des Körpers mit chemischen Substanzen schafft ein neues Gleichgewicht, der Dopaminkreislauf stumpft ab, und mit zunehmender körperlicher Abhängigkeit schafft es das System gerade einmal, den Konsumenten kurzzeitig aus der Depression zu holen, ohne die ersehnte Euphorie zu bewirken.
Man trinkt oder raucht also im Prinzip, »um sich normal zu fühlen«. Viele der Hirnveränderungen sind länger dauernd und führen noch viele Monate oder auch Jahre später zu heftigem Drogenverlangen, wenn entsprechende Schlüsselreize wie Filmszenen o. Ä. als Auslöser wirken. War in der Vergangenheit bei der Betrachtung von Suchtentwicklungen die Frage nach Risikofaktoren von größter Bedeutung, hat sich in den letzten Jahren besonders die Frage nach schützenden, also protektiven Faktoren besonders im Rahmen von Prävention und Gesundheitsförderung in den Vordergrund geschoben. Die Beobachtung, dass sehr viele Menschen unter vergleichbar widrigen Umständen nicht erkranken, hat statt der pathogenetischen Sichtweise eine eher salutogenetische gefördert, die nach Faktoren fragt, die Gesundheit und Wohlbefinden positiv beeinflussen und negative Auswirkungen vorhandener Risikofaktoren mit Hilfe von ausreichenden Bewältigungskompetenzen abzumildern vermögen. Dieses Konzept bezeichnet man auch als Resilienz, also Widerstandsfähigkeit. Scheithauer, Mehren und Petermann (2003) schreiben dazu, dass Resilienz »eine dynamische Kapazität« darstellt, »die sich über die Zeit im Kontext der Mensch-UmweltInteraktion entwickelt und nicht schon in der Kindheit vorliegt.«
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! Resilienz umfasst nicht lediglich die Abwesenheit psychischer Störungen, sondern das Erwerben altersangemessener Fähigkeiten vor dem Hintergrund der normalen kindlichen Entwicklung, trotz aversiver Umstände.
Vor diesem Hintergrund ist nicht die völlige Verhinderung von Risikobedingungen anzustreben, sondern diese sollten vielmehr rechtzeitig erkannt und eine erfolgreiche Auseinandersetzung und Bewältigung gefördert werden. Im Umgang mit belastenden Lebensereignissen beispielsweise gilt es, Familien zu stärken, um positive Problemlösefertigkeiten zu entwickeln. Scheithauer, Mehren und Petermann (2003) nennen in ihrem Aufsatz, der sich mit der Prävention von Gewalt und Substanzmissbrauch beschäftigt, eine Reihe von risikomildernden Bedingungen im Kindes- und Jugendalter: 4 Kindbezogene sowie Resilienzfaktoren: 5 Kindbezogene Faktoren sind überwiegend angeboren wie z. B. positives Temperament, Kreativität, gute Intelligenz 5 Resilienzfaktoren, die dynamisch in der Interaktion mit der Umwelt entwickelt werden wie z. B. positives Sozialverhalten, vorausplanendes Verhalten, Selbstwirksamkeitsüberzeugung 4 Umgebungsbezogene Faktoren: 5 Innerhalb der Familie wie z. B. stabile Bindung zu einer Bezugsperson, unterstützendes Erziehungsklima, Modelle positiven Bewältigungsverhaltens 5 Im weiteren sozialen Umfeld wie z. B. soziale Unterstützung, gute Freunde, positive Schulerfahrungen Es ist vor dem Hintergrund von stetig zunehmenden gesundheitlichen Problemen wie psychischen Störungen (Gewaltbereitschaft, Depressionen, ADHS) sowie Bewegungsmangel, Adipositas und Substanzmissbrauch eine immer aktuellere Herausforderung an Pädiater, Familien bei der Entwicklung von Ressourcen und Bewältigungsmechanismen zu unterstützen und sich für bessere Rahmenbedingungen des Aufwachsens in unserer Gesellschaft (z. B. gesunde Schulen, lebenswerte Städte) einzusetzen und damit auch Suchtentwicklungen vorzubeugen, also Salutogenese vor Pathogenese.
37.3
Alkohol
Das farblose Zellgift Alkohol wird als Bier, Wein oder gebrannt als Schnaps seit vielen Jahrtausenden als Nahrungs-, Genuss- und Rauschmittel genutzt. In kleinen Mengen regt Alkohol an, steigert die Stimmung und hilft Hemmungen und Ängste abzubauen. In größeren Mengen treten Gereiztheit, Aggressivität, Selbstüberschätzung und Beeinträchtigung von Sprache und Körperkoordination auf. Sehr große Dosen können zu Bewusstlosigkeit und Tod führen. Regelmäßiger längerer Gebrauch schädigt Leber, Herz, Zentralnervensystem. In der Schwangerschaft genossen kann Alkohol zur Alkoholembryopathie oder zu fetalen Alkoholeffekten führen. Deutschland gehört im internationalen Vergleich zu den Ländern hohen Konsums; es werden umgerechnet pro Kopf und Jahr 10,4 Liter reinen Alkohols getrunken. Pro Jahr sterben etwa 40.000 Menschen an Alkoholfolgeschäden, dem individuellen Genuss stehen neben häufigem Leid auch viele Millionen Euro an Kosten gegenüber.
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Kapitel 37 · Konsum, Missbrauch und Abhängigkeit von psychoaktiven Substanzen
! Jugendliche in Deutschland spiegeln im Wesentlichen die Konsumgewohnheiten der Erwachsenen wider und nehmen in internationalen Jugendgesundheitsstudien hinsichtlich ihres Alkoholkonsums ebenfalls eine der Spitzenpositionen ein.
Zwar war in den letzten Jahrzehnten der Alkoholkonsum von Jugendlichen in Deutschland leicht rückläufig gewesen, besonders in den jungen Altersgruppen ist jedoch in den neunziger Jahren ein deutlicher Trend zur Zunahme besonders bei den 15bis 17-Jährigen zu beobachten (Bayerisches Staatsministerium für Gesundheit, Ernährung und Verbraucherschutz 2001). Richter und Settertobulte (2003) konnten in ihrem Jugendgesundheitssurvey nachweisen, dass der regelmäßige Alkoholkonsum bei 15-Jährigen in Nordrhein-Westfalen zwischen 1993/4 und 2001/2 bei den Jungen von 25 auf 37% und bei den Mädchen von 18 auf 25% angestiegen war. Die Rauscherfahrungen (mehr als 2-mal im Leben) hatten im gleichen Zeitraum bei den Jungen von 34 auf 44% und bei den Mädchen von 26 auf 34% zugenommen, das Durchschnittsalter des ersten Rausches lag bei diesen Jugendlichen bei 13,8 Jahren. ! Der europaweit zu beobachtende Trend zum Rauschtrinken ist Teil einer allgemein gestiegenen sozialen Akzeptanz des Alkoholkonsums bei Jugendlichen.
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Getrunken wird überwiegend auf Parties, Festen, an Wochenenden und im Urlaub, 14% der Jugendlichen, die regelmäßig Alkohol trinken, tun das jedoch auch allein zu Hause (Bayerisches Staatsministerium für Gesundheit, Ernährung und Verbraucherschutz 2001). Nach wie vor ist Bier das bevorzugte Getränk bei Jugendlichen, insgesamt werden Bier und Wein jedoch weniger, dafür mehr Spirituosen, insbesondere in Form geschmacklich kaum noch als Alkohol enthaltender Mixgetränke, den sog. Alcopops getrunken. Fragt man Jugendliche und junge Erwachsene nach ihren Motiven, Alkohol zu konsumieren, werden wie in einer Repräsentativerhebung der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (1998) folgende Angaben gemacht: »Mit alkoholischen Getränken kann man...« 4 für die richtige Stimmung sorgen, wenn man mit anderen zusammen ist: 40% 4 besser in Kontakt mit anderen kommen: 33% 4 wenn man mit Partner/in zusammen ist, für Stimmung sorgen: 25% 4 sich besser entspannen: 23% 4 Ärger besser herunterspülen: 22% 4 von Schwierigkeiten ablenken: 18% 4 die Langeweile vertreiben: 15% 4 mehr Selbstvertrauen gewinnen: 15% 4 Erkältungen bekämpfen: 5% 4 mehr leisten: 3%
Folgen eines regelmäßigen und übermäßigen Alkoholkonsums 5 Je nach Blut-Alkohol-Konzentration können die Folgen einer akuten Intoxikation sein: erste Wahrnehmungsund Koordinationsprobleme (von 0,3–0,8‰), Euphorie, Enthemmung und Sprechstörungen (1,0–1,5‰), starker
6
5 5 5 5 5
5 5
37.4
Rausch mit Bewusstseinstrübung und beginnendem Erinnerungsverlust (2,0–2,5‰), Lähmungserscheinungen (über 3,0‰), Koma (ab 3,5‰), tödlicher Ausgang (von 4,0–5,0‰) Zunahme von Verletzungen und Unfällen Zunahme von gewälttätigem Verhalten und Straftaten Riskantes Sexualverhalten bis hin zu sexueller Gewalt Zunahme von Ängsten, Depressionen und selbstschädigendem Verhalten Bei früh beginnendem und starkem Konsum auch schon in der Jugend Organschäden (Leber, Magen, Pankreas, Polyneuropathien, ZNS) Soziale Probleme: zunehmende Konflikte in der Familie, in Beziehungen, in der Schule, am Arbeitsplatz Bei Toleranzentwicklung, Entzugserscheinungen, Kontrollverlust: manifestes Abhängigkeitssyndrom
Tabak
Die aus Mittel- und Südamerika stammende Tabakpflanze und mit ihr die Sitte des Rauchens ihrer getrockneten Blätter kam vor etwa 500 Jahren nach Europa. Der Siegeszug der Zigarette als »Genussmittel« begann aber erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts mit ihrer industriellen Fertigung. Nikotin, das Hauptalkaloid des Tabaks, entfaltet verschiedene Wirkungen: in kleinen Dosen überwiegt die Anregung, in höherer Dosierung Beruhigung und Entspannung, abhängig auch von Erwartungen und jeweiliger Situation. Das inhalierte Nikotin gelangt innerhalb von 7 Sekunden ins Zentralnervensystem und setzt dort verschiedene Neurotransmitter frei (Noradrenalin, Dopamin, Endorphine und andere mehr). Das starke pflanzliche Gift Nikotin belastet unmittelbar das Herz-Kreislauf-System, das Kohlenmonoxid aus dem Tabakrauch bewirkt eine unmittelbare Reduktion der körperlichen Leistungsfähigkeit über die Verdrängung von Sauerstoff. Die hohe Toxizität vieler der über 4000 Inhaltsstoffe der Zigarette ist für zahlreiche Krebserkrankungen, Herzinfarkte, Schlaganfälle, chronisch-obstruktive Bronchitiden und Emphysemerkrankungen verantwortlich, aber auch für viele Fälle von Infertilität und Impotenz sowie für vorzeitige Hautalterung und eine Reihe von Komplikationen und Spätfolgen bei Konsum in der Schwangerschaft. (In Deutschland rauchen mindestens 20% aller schwangeren Frauen!) Nähere Angaben finden sich in einem vom Deutschen Krebsforschungszentrum (2002) herausgegebenen Band. Von über 16 Mio. Rauchern in Deutschland rauchen 5,8 Mio. mehr als 20 Zigaretten täglich. Jährlich sterben 110.000–140.000 Menschen an tabakassoziierten Erkrankungen. Etwa 80% der Raucher haben bis zum 18. Lebensjahr ihren Tabakkonsum begonnen, die Tabakabhängigkeit ist deshalb bisweilen als »pädiatrische Erkrankung« bezeichnet worden. Zwar nahm in den letzten Jahrzehnten die Raucherquote in der deutschen Bevölkerung ab, aufgrund stärkeren Rauchens beim »harten Kern« stieg aber die Menge gerauchten Tabaks weiterhin leicht an. Entgegen dem allgemeinen Trend kam es in den meisten Industrienationen zu einem Anstieg des Tabakkonsums besonders bei jüngeren Jugendlichen. Als Gründe werden diskutiert: eine weiterhin geschickte Image-Werbung einschließlich der Produktplatzierung in Film
339 37.4 · Tabak
und Fernsehen, die leichte Verfügbarkeit (besonders in Deutschland mit 820.000 Zigarettenautomaten), die noch immer hohe soziale Akzeptanz des Rauchens, veränderte Freizeitgewohnheiten (»Herumhängen« in Gruppen) und eine vergleichsweise hohe Geldmenge, die den Jugendlichen zur Verfügung steht, eine industriefreundliche Gesundheitspolitik mit unzureichendem Verbraucherschutz, die deutliche Bildungs- und Einkommensabhängigkeit der Langzeitnachfrage. Wie häufig wird geraucht? Nach Erhebungen der BZgA (2001) rauchen 38% der 12- bis 25-Jährigen. Von den befragten Jugendlichen sind: 4 Im Alter von 12–13 Jahren: 2% ständige und 8% Gelegenheitsraucher 4 Im Alter von 14–15 Jahren: 10% ständige und 19% Gelegenheitsraucher 4 Im Alter von 16–17 Jahren: 24% ständige und 20% Gelegenheitsraucher 4 Im Alter von 18–19 Jahren: 29% ständige und 17% Gelegenheitsraucher Durchschnittliches Einstiegsalter in den Tabakkonsum war dabei 13,6 Jahre für Jungen und 13,7 Jahre für Mädchen. Das Bayerisches Staatsministerium für Gesundheit, Ernährung und Verbraucherschutz (2001) berichtet, dass 4 fast zwei Drittel der Raucher vor dem 16. Lebensjahr starten (1995 noch 55%), 4 Schüler bzw. Hochschüler seltener (25 bzw. 34%) rauchen als junge Menschen in Berufsausbildung (47%), 4 Jugendliche mit Hauptschulabschluss deutlich mehr (54%) rauchen als solche mit mittlerer Reife oder Abitur (32%). Besonders alarmierend ist der Anstieg der Raucherquote der 12bis 15-jährigen Jungen von 9 auf 18% und der Mädchen von 10 auf 21% von 1989 bis 2001 (BZgA 2002). Warum rauchen Jugendliche vor allem? Natürlich in erster Linie, um es den Erwachsenen gleich zu tun. In einer schweizerischen Befragung (Krebs 1999) gaben Jugendliche, die nur wenig rauchten (maximal 5 Zigaretten pro Tag), folgende Antworten (in Klammern die Häufigkeiten der Spontanantworten bei Jugendlichen, die mehr als 5 Zigaretten am Tag rauchten): 4 »Aus Genuss/Lust, mag den Geschmack«: 34% (45%) 4 »Weil Freunde/Freundinnen rauchen«: 36% (13%) 4 »Aus Gewohnheit«: 10% (30%) 4 »Wegen Stress/Problemen/Frust«: 14% (23%) 4 »Zur Beruhigung/Entspannung«: 6% (29%) 4 »Aus Abhängigkeit/Sucht; kann nicht aufhören«: 3% (23%) 4 »Aus Langeweile/Unsicherheit«: 7% (14%) 4 »Weil Rauchen cool ist«: 12% ( 5%) Daraus lässt sich ableiten, dass von allen Rauchern am meisten der hedonistische Aspekt betont wird. Während aber bei den »Wenigrauchern« noch die sozialen Gründe überwiegen, nennen die »Mehrraucher« (in Klammern) häufiger Bekämpfung von Stress und Langeweile und den Wunsch nach Entspannung als Rauchmotive und sehen sich eher gewohnheitsmäßig oder schon suchtartig rauchen. Warum ist die Zunahme jugendlichen Rauchens so besorgniserregend? Der Rauchbeginn liegt für die meisten in der frühen oder mittleren Adoleszenz, also zu einer Zeit mit noch unzureichend entwickelter Zukunftsperspektive. Die meisten jugendlichen Raucher sehen die funktionalen Vorteile im Vordergrund,
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die bekannten Gesundheitsprobleme treten überwiegend erst Jahrzehnte später auf, und das Wissen darum erschüttert deshalb kaum den Glauben an die eigene Invulnerabilität. Verlässliche Aussagen über die Wirkung von Furchtappellen in der Sekundärprävention lassen sich kaum machen, obwohl sie momentan wieder verstärkt eingesetzt werden. Am ehesten lassen sich noch sportlich Aktive von dem Argument überzeugen, dass Rauchen ihrem reifenden Atemwegssystem abträglich ist. Eine Reihe von Studien belegen, dass um so länger und intensiver geraucht wird, je früher angefangen wird. Wegen der Unreife der neuronalen Transmittersysteme entsteht Tabakabhängigkeit bei Jugendlichen relativ schnell, so hatte beinahe ein Viertel aller 12- bis 13-jährigen Rauchanfänger einer amerikanischen Studie zufolge bereits nach vier Wochen auch bei noch nicht täglichem Konsum die ersten Entzugssymptome. Die Forscher postulieren drei wahrscheinlich genetisch bedingte Reaktionsformen: schnelles Einsetzen von körperlicher Abhängigkeit, langsamerer Beginn und Resistenz. Für viele Jugendliche gibt es offensichtlich keine längere Zeit des Ausprobierens und einer bewussten Entscheidung für oder gegen den Konsum der Droge Nikotin, da diese das größte Abhängigkeitspotenzial aller Drogen hat (ein Drittel aller Konsumenten wird abhängig) und für viele ein stark affektiv-emotional geprägter Rauchbeginn nur schwer reversibel wird. Außerdem greifen jugendliche Raucher auch schneller zu anderen Drogen. ! Alkohol und Tabak werden ohnehin oft gemeinsam konsumiert und sind bei risikobereiten Jugendlichen die Einstiegsdrogen für Cannabis und eventuell auch andere illegale Drogen.
Wird Nikotin von Adoleszenten aufgenommen, können zudem eine Reihe von Veränderungen im noch reifenden Zentralnervensystem ausgelöst werden. Insbesondere können depressive Störungen durch Prozesse im serotonergen System bewirkt werden, es können sich aber auch Angstsyndrome durch Tabakrauchen verstärkt bemerkbar machen. Mädchen, die biologisch früher reifen, rauchen bei größerer Risikobereitschaft oft früher. Überhaupt setzen Mädchen und junge Frauen den Tabak Konsum häufig zur Gewichtsregulation ein. Cave Bei gleichzeitiger Einnahme von Anti-Baby-Pillen, insbesondere von östrogenhaltigen Präparaten, steigt das Thromboserisiko. Nicht zu unterschätzen ist die tabakbedingte drohende Schädigung von Ungeborenen bei späteren, oft erst in fortgeschrittenem Stadium erkannten Schwangerschaften.
Weitere gesundheitliche Risiken tragen oft jugendliche Raucher, die an Diabetes oder Asthma leiden. Neuere Untersuchungen zeigten, dass jugendliche Asthmatiker, wahrscheinlich um in der Gruppe eher anerkannt zu werden, mehr und stärker rauchen als Nicht-Asthmatiker. Die meisten jugendlichen Raucher glauben, relativ rasch wieder aufhören zu können, wenn gewünscht. Rund zwei Drittel der 18-jährigen Tabakraucher bedauern, überhaupt angefangen zu haben, etwa die Hälfte hat schon erfolglose Aufhörversuche hinter sich. Realistische Schätzungen gehen davon aus, dass die Erfolgsrate bei selbst initiierten Aufhörbemühungen lediglich 2–3%
340
Kapitel 37 · Konsum, Missbrauch und Abhängigkeit von psychoaktiven Substanzen
pro Jahr beträgt, wobei Mädchen größere Schwierigkeiten mit dem Rauchstopp haben.
37.5
Illegale Drogen, insbesondere Cannabis, und sonstige Drogen
Viele der ursprünglich frei erhältlichen Medikamente und Substanzen sind aufgrund ihrer häufigen missbräuchlichen Verwendung den Vorschriften des Betäubungsmittelgesetzes unterstellt worden. Insbesondere Opiumabkömmlinge wie Morphium und Heroin, aber auch Kokain und Amphetamine gehören dazu, erst seit 1971 das bis dahin in Apotheken frei erhältliche Cannabis. Gegenwärtig wird über keine andere Droge so kontrovers diskutiert wie über Cannabis. Trotz seiner Illegalisierung wird es in stetig steigendem Umfang von jungen Leuten konsumiert und ist längst überall in Stadt und Land erhältlich. Im Jahre 2003 wurden in Deutschland mehr als 100.000 Jugendliche und junge Erwachsene ausschließlich aufgrund ihres Cannabiskonsums (kein Handel) zur Anzeige gebracht. Hier soll es aber nicht darum gehen, Stellung in der Entkriminalisierungsdebatte zu beziehen, sondern soviel Informationen zu vermitteln, wie sie für einen angemessenen Umgang mit konsumierenden Jugendlichen, aber auch mit besorgten Eltern benötigt werden. Cannabis ist der Sammelbegriff für die Hanfpflanze und die aus ihr gewonnenen Produkte Marihuana (»Gras«) aus den getrockneten Blättern und Blütenspitzen der weiblichen Pflanze, Haschisch (»Dope«, »Shit«), dem gepressten Harz ebenfalls der weiblichen Pflanze, sowie Haschischöl, das durch Filtern und Eindampfen gewonnen nur selten verwendet wird. Der psychoaktive Hauptwirkstoff von Cannabis ist das Delta-9-Tetrahydrocannabinol (THC), das zu einem Anteil von 1–8% in den meisten sichergestellten Cannabisproben gefunden wird. Seltener werden höhere THC-Gehalte wie bei bestimmten Züchtungen (»Skunk«) gefunden. Beim Rauchen von Cannabisdrogen setzt die Wirkung nach wenigen Minuten, nach oraler Einnahme (Tee, Gebäck) erst nach 30–90 Minuten ein, die Wirkung kann dosisabhängig ein bis 4 Stunden anhalten. ! Wegen der Fettlöslichkeit ist THC aber länger im Organismus nachweisbar, nach sehr hohen Dosen noch nach 30 Tagen.
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Da es auch körpereigene Cannabinoide gibt, existieren spezifische Rezeptoren im Körper: im ZNS die CB1-Rezeptoren vor allem in Cortex, Hippocampus, Basalganglien und N. olfactorius. Unter anderem wird im Nucleus accumbens eine gesteigerte dopaminerge Neurotransmission bewirkt. Weitere, sog. CB2Rezeptoren befinden sind u. a. in der Milz und im peripheren Nervensystem. Die mögliche Verwendung von Cannabis-Produkten für medizinische Zwecke, z. B. die Behandlung von Emesis (Erbrechen), Anorexie und Schmerzen sei hier nur kurz erwähnt. 37.5.1 Wie häufig wird Cannabis konsumiert? In der Europäischen Schülerbefragung zu Alkohol und anderen Drogen (Kraus et al. 2004) geben 32,6% der Schüler der 9. und 10. Klasse (Jungen 36%, Mädchen 29,5%) an, jemals in ihrem Leben eine illegale Droge probiert zu haben. Cannabis ist dabei mit 30,6% (Jungen 34,3%, Mädchen 27,2%) die meist verbreitete
der illegalen Drogen. Betrachtet man die 30-Tage-Prävalenz, d. h. den aktuellen Drogenkonsum in den letzten 30 Tagen vor der Befragung, beträgt dieser bei Cannabis 13,5% (Jungen 16,5%, Mädchen 10,8%). Von diesen aktuellen Konsumenten haben 8,4% bis zu 5-mal Cannabis im letzten Monat probiert, einen häufigeren Konsum (6- bis 19-mal) berichteten 2,6%, 20-mal oder öfter 2,2% (Jungen 3,4%, Mädchen 1,0%). 43,8% der Jugendlichen geben an, Cannabis ziemlich bis sehr leicht erhalten zu können. Das gesundheitliche Risiko, das mit einem Probierkonsum von Cannabis einhergeht, wird von der befragten Jugendlichen für gering gehalten (14,1% gegenüber 35,8% bei Ecstasy). Richter und Settertobulte (2003) berichten im Jugendgesundheitssurvey zur Verteilung der Konsummuster von Cannabis bei Jugendlichen der 9. Klasse, dass 77,4% noch nie, 5,2% früher einmal, 6,5% gelegentlich (1–2-mal im letzten Jahr), 8,0% nur in der Freizeit (3–39-mal im letzten Jahr) und 2,9% »dauernd« (40-mal oder mehr im letzten Jahr) konsumiert haben. Daraus folgern sie: »Die beiden letztgenannten Konsummuster folgen einer anderen Motivlage als gelegentlicher oder experimenteller Konsum. Der Cannabiskonsum bekommt hier einen festen Platz im Vollzug des Alltags und hat die Funktion, das eigene Wohlbefinden zu regulieren bzw. zu stabilisieren, Anspannungen abzubauen bzw. sozialen Hemmungen oder Langeweile entgegenzutreten. Dies gilt besonders für die Dauerkonsumenten.« 37.5.2 Warum wird Cannabis konsumiert? Cannabis wird von Jugendlichen und jungen Erwachsenen vor allem deshalb gern konsumiert, weil es in Gruppen und bei schon vorhandener positiver Grundstimmung Folgendes bewirkt: 4 Gefühle der Entspannung, der Ausgeglichenheit und inneren Ruhe 4 Heiterkeit und verbesserte Kommunikationsfähigkeit 4 Verstärkung von Sinneswahrnehmungen, z. B. Erleben von Musik, Bildern und Musik, aber auch sexuellen Gefühlen 4 Veränderung des Zeitgefühls Es handelt sich überwiegend um eine jugendtypische passagere Erscheinung, die sich oft auch im Bedürfnis nach einem besonderen Lebensstil und der Partizipation an bestimmten subkulturellen Strömungen ausdrückt. ! Bei präexistenten negativen Stimmungen kann es, meist dosisabhängig, auch zu folgenden unerwünschten Wirkungen kommen: 4 Wahrnehmungs-, Gedächnis- und Konzentrationsstörungen 4 Ängsten, Verwirrtheit, Orientierungsverlust, Gedankenflucht 4 Antriebsminderung 4 Überreaktionen bis hin zu Halluzinationen und Horrortrip
Auch akute körperliche Wirkungen wie Blutdruckanstieg, Tachykardie, Augenrötung, Übelkeit und Schwindel sowie verminderte Reaktionsfähigkeit besonders im Straßenverkehr werden beschrieben. Die Toxizität von Cannabis ist aber im Vergleich etwa zu Alkohol relativ gering, Todesfälle treten bei Intoxikationen nicht auf.
341 37.5 · Illegale Drogen, insbesondere Cannabis, und sonstige Drogen
37.5.3 Auf welche Risiken des Cannabiskonsums
muss besonders geachtet werden? Körperliche Risiken bringt der Rauch von Cannabis mit sich, der eine Vielzahl von Schadstoffen enthält und deshalb, oft in Kombination mit beigemengten Tabak, bei längerem Konsum erhebliche chronische Erkrankungen der Bronchien bis hin zu Karzinomen auslösen kann. Schwangere und stillende Mütter sollten wegen noch wenig erforschter Wirkungen auf das Ungeborene und auf gestillte Säuglinge auf Cannabis verzichten. Ausführlicheres zu den körperlichen Auswirkungen von Cannabis finden sich z. B. im »Cannabis-Report 2002« (Ministry of Health of Belgium 2002) und bei Simon und Sonntag (2004). Starker und längerer Cannabiskonsum kann auch Gefühle von Antriebs- und Lustlosigkeit bewirken und sich verstärkend auf depressive Stimmungen auswirken, zu deren Bewältigung ursprünglich Cannabis verhelfen sollte. Bei psychisch vulnerablen jungen Menschen kann sich auch ein Verstärkungseffekt auf die Entwicklung von Psychosen ergeben. Wie bei anderen Drogen auch, kann sich auch eine psychische Abhängigkeit mit innerem Zwang trotz erkennbarer psychosozialer oder körperlicher Folgen weiterzukonsumieren sowie Kontrollverlust einstellen. Die Lebenszeitprävalenz der Cannabis-Abhängigkeit ist mit 2–4% relativ gering, in den USA wird eine Häufigkeit von 10% nur bei sehr starkem Konsum berichtet (Simon u. Sonntag 2004). 37.5.4 Wie sieht es mit weiteren illegalen Drogen
in der kinder- und jugendmedizinischen Praxis aus? Kinder- und Jugendärzte werden sehr wahrscheinlich kaum Jugendliche in der Praxis sehen, die Heroin konsumieren. Eher werden sie mit heroinabhängigen jungen Eltern zu tun haben und können sich dann gezielt Informationen zu Opiaten und anderen »harten« Drogen z. B. bei Ulrich (2000), Parnefjord (2001) oder bei Zentren wie der BZgA, der DHS oder der schweizerischen SFA besorgen. Häufiger werden schon einmal von älteren Jugendlichen die sog. Partydrogen, vor allem »Speed« (Amphetamine) und Ecstasy, seltener auch LSD und Kokain, letzteres aber weniger in der rauchbaren Form »Crack«, erwähnt. Verglichen mit Cannabis mit einer 30-Tage-Prävalenz von 13,5% ist in der ESPAD-Studie (Kraus et al. 2004 ) der Konsum verschiedener anderer illegaler Substanzen relativ niedrig mit einer 30-TagePrävalenz zwischen 1,5% für Amphetamine und 0,3% für Heroin (allerdings bei allen Substanzen außer Cannabis weit unter 1% 20-mal oder öfter). Konsumiert werden auch Schnüffelstoffe (11,3% Lebenszeitprävalenz, allerdings nur 1% 20-mal oder öfter) und Pilze (4,9% Lebenszeitprävalenz, allerdings nur 0,4% der Jungen 20-mal oder öfter). Wegen der Seltenheit des Konsums seien im Folgenden nur einige kurze Hinweise zu den genannten illegalen und sonstigen Drogen im Sinne einer »kleinen Stoffkunde« gegeben: Amphetamine und Ecstasy
Synthetisch hergestellte Substanzen, Unterteilung in Psychostimulantien (Amphetamin = »Speed« und Methamphetamin), Entaktogene (MDA, Methylen-Dioxy-Methamphetamin = MDMA = Ecstasy) und Halluzinogene (DOM = Dimethoxy-Methylamphetamin). In niedrigen Dosen führen Amphetamine zu
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Euphorie, Rededrang, Appetitminderung, vermindertem Schlafbedürfnis, bei höheren Dosen zu Unruhe bis Erregung. Bei Ecstasy lassen sich zwei Nutzungen unterscheiden: in kleinen Gruppen Förderung von Glücksgefühlen, Introspektion und Inspiration, in der Partyszene öffnend, stimulierend. DOM kann Halluzinationen und Gedankensprünge hervorrufen. Risiken: Steigerung von Aggressivität, Ängsten, eventuell Austrockung, Somnolenz und Koma, Herzkreislaufstörungen, Schlafstörungen, Krampfanfälle, Psychosen. Wortfindungs- und Gedächtnisstörungen möglich, Hirnschädigungen durch chronischen Ecstasykonsum wahrscheinlich. Starke psychische Abhängigkeit bei Amphetaminen, bei Ecstasy geringer. LSD (Lysergsäurediäthylamid)
Ein Mutterkornalkaloid, chemisch dem Serotonin ähnlich, führt zu Wahrnehmungs- und Zeitverschiebungen, Halluzinationen. Puls- und Blutdruckanstieg, weite Pupillen, Übelkeit, Brechen. Risiken: massive Ängste (»bad trips«), Orientierungsstörungen, Auslösung von Depressionen, Phobien, evtl. Psychosen, Gefahr der psychischen Abhängigkeit. Kokain
Aus Blättern des südamerikanischen Kokastrauchs gewonnen, Pulver (»Schnee«, »Koks«). Lokal betäubend, stimuliert stark das Zentralnervensystem (über Noradrenalin und Dopamin), erhöht Leistungsfähigkeit und körperliche Belastbarkeit, euphorisierend, Selbstüberschätzung, schlaf- und hungerdämpfend. Risiken: starke psychische Abhängigkeit, beim Schnupfen Geschwüre der Nasenschleimhaut, beim Rauchen (»Crack«: intensiver, heftiger Kick) Lungenschädigung, ferner Überreizung, Schlaflosigkeit, Abmagerung, Depressionen, Psychosen. Heroin
Aus dem Rohopium des Schlafmohns (Papaver somniferum) gewonnene Substanz (Morphinderivat) mit stark betäubender und zugleich euphorisierender Wirkung. Applikation: intravenöse Injektion, seltener geraucht (»Folienrauchen«, in den Herkunftsländern Opiumpfeife) oder geschnupft. Wirkung: wohlig entspannend, beglückend, Beseitigung von Angst, Leere, Sorgen, Konflikten, Gefühl der Geborgenheit. Bei chronischem Konsum weniger rauschhaftes Erleben, eher nur Beseitigung von Entzugssymptomen. Risiken: Übelkeit, Erbrechen, kleine Pupillen (»pinpoint pupils«), starke, schnell einsetzende Abhängigkeit, Gefahr der Überdosierung mit Atemlähmung (Cave: starke Reinheitsschwankungen beim Straßenheroin), bei Injektionen Abszesse, Infektionen bis zu HIV, Hepatitis, Beschaffungskriminalität und -prostitution, Verelendung. Lösungsmittel
Auch Schnüffelstoffe genannt, hauptsächlich organische Lösungsmittel (z. B. Trichloräthylen in Klebern, Toluol, Benzin, Feuerzeug- und Campinggas = meist Butan), die »Droge des armen Mannes«, Konsumenten meist männlich, oft aus unteren Sozialschichten und »verslumten« Großstadtvorstädten. Schnüffelstoffe sind leicht erhältlich, billig, Inhalation direkt aus Behälter oder unter Plastikfolien, schneller narkotischer Rausch mit Euphorie und Kontrollverlust. Risiken: Erbrechen, Nasenbluten, Kopfschmerzen, Tachykardien, akut: Tod durch Herzrhythmusstörungen, Erstickung oder Atemlähmung möglich, längerfristig: schwere Leber-, Nieren-, Nerven- und Hirnschäden.
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Kapitel 37 · Konsum, Missbrauch und Abhängigkeit von psychoaktiven Substanzen
Pilze (»magic mushrooms«)
Psilocybin = psychoaktive Hauptsubstanz der halluzinogenen »Zauberpilze« (»magic mushrooms«), überwiegend in Mittelamerika beheimatet, dort zu religiösen und medizinischen Ritualen benutzt, heute überwiegend über Internet oder aus Holland bezogen, aber auch weniger halluzinogen-enthaltende Varianten auf Voralpenwiesen. Nach Einnahme erst vegetative Symptome, dann Trugwahrnehmungen und traumähnliches Erleben, im Vergleich zum »harten« LSD eher »relativ sanft und gesellig«, nach 1–2 Stunden regressive Wahrnehmungen bis hin zu Ekstase oder angstbesetzter Ich-Auflösung, anschließend Nacherleben mit Introversion, emotionaler Offenheit, aber auch Depressionen. Risiken: Konzentrationsstörungen, Wortfindungsstörungen, psychotische Episoden, Unfälle, aber keine Abhängigkeit. Engelstrompete (Brugmansia spp.)
Nur deshalb hier aufgenommen, obwohl keine größere Bedeutung, weil immer wieder in der Presse sensationell dargestellte und zur Nachahmung reizende Fälle von Intoxikationen. Ursprünglich aus Südamerika stammende Zierpflanze und biogene Droge aus der Gattung der Nachtschattengewächse, Blätter oder Blüten geraucht oder als Tee getrunken, häufig erschreckende Halluzinationen durch die Bestandteile Skopolamin und Hyoscyamin, oft Gewalttätigkeit (»Berserker«) mit nachfolgendem Dämmerschlaf, Gedächtnisschwund. Extreme Mydriasis, Schluckbeschwerden, rote Haut, Miktionssperre, Tachykardie, Delirium, Tod durch Kammerflimmern oder Atemlähmung möglich. Bei Intoxikationen: Physostigmin, Abkühlung, Beatmung.
37.6
Medikamente, Doping, Koffein
37.6.1 Arzneimittelmissbrauch
37
Einige der oben genannten illegalen Drogen sind ursprünglich als Medikamente entwickelt und eingesetzt worden: Kokain, Heroin, LSD, Amphetamine. Heute werden sie als Drogen zur Manipulation von Gefühls- und Bewusstseinszuständen konsumiert wie andere psychoaktive Substanzen auch, seien sie legal wie Koffein, Nikotin und Alkohol oder illegal wie z. B. Cannabis. Medikamente sind unentbehrlich für die Behandlung von Symptomen und Krankheiten wie Infektionen, Stoffwechselstörungen, Allergien, Schmerzen, psychische Störungen oder auch zur Vorbeugung. Aber auch unter diesen Medikamenten gibt es einige, besonders bei denen mit psychotroper Wirkung, die leider »zu viel, zu oft und falsch« eingenommen werden, was dann zu schädlichem Gebrauch und sogar zu körperlicher und psychischer Abhängigkeit führen kann. Im Jugendalter ist das zwar nur selten der Fall, aber gefährdende Entwicklungen können schon in Kindheit und Jugend einsetzen. Ein verantwortungsvoller Umgang mit Medikamenten wird immer notwendiger, besonders wenn sie versprechen, die Befindlichkeit sowie Gedächtnis- und Lernleistungen zu verbessern, aber auch im Leistungs- und sogar im Breitensport. Arzneimittelmissbrauch wird durch folgende Kriterien definiert: 4 wenn eine psychotrop wirkende Substanz ohne medizinische Indikation 4 in einer höheren Dosis als medizinisch indiziert oder 4 über einen längeren Zeitraum als medizinisch indiziert eingenommen wird.
In der Nomenklatur des ICD 10 werden die Begriffe des schädlichen Gebrauchs (weitgehend deckungsgleich mit dem des Missbrauchs) sowie der Abhängigkeit auf folgende Störungsklassen bezogen: 4 Störungen durch Opioide (F11): dazu zählen stark wirksame (Morphin, Oxycodon, Pethidin, Methadon, Fentanyl) und mittelstark wirksame Opioide (Tramadol, Dihydrocodein, Tilidin) 4 Störungen durch Sedativa oder Hypnotika (F13): dazu gehören Benzodiazepine und Barbiturate (werden auch als »downers« bezeichnet) 4 Störungen durch andere Stimulanzien (außer Kokain) einschließlich Koffein (F15): Dazu gehören Amphetamine, Appetitzügler, Ephedrin (»uppers«) Daneben gibt es noch zwei nicht im ICD erfasste Indikationsgruppen, die missbräuchlich verwendbare, aber nicht abhängig machende Medikamente enthalten: 4 Schwach bis mittelstark wirksame nicht opioide Analgetika (ASS, Paracetamol, Ibuprofen, Metimazol u. a.) 4 Sonstige Indikationsgruppen: Laxanzien, Corticoide, Diuretika, Betablocker, Anticholinergika, Antihistaminika, Nasentropfen Wirklich verlässliche und aussagekräftige Zahlen zu Medikamentenkonsum und -missbrauch bei Jugendlichen sind erst nach Auswertung des noch laufenden Kinder- und Jugendgesundheitssurveys des Robert-Koch-Institutes zu erwarten. In den bisherigen bayerischen Jugendgesundheitsstudien (Bayerisches Staatsministerium für Gesundheit, Ernährung und Verbraucherschutz 2001) fand sich ein relativ stabiler Konsum von Arzneimitteln mit Suchtpotenzial (es müsste genauer Missbrauchspotenzial heißen) bei 3–4% der 12- bis 24-Jährigen, erfasst wurden Schmerzmittel, Schlafmittel, Beruhigungsmittel, stimmungsbeeinflussende Mittel und Anregungsmittel ohne exakte pharmakologische Bestimmung. Bei den 15- bis 17-Jährigen nahmen 3% der Jungen und 5% der Mädchen regelmäßig, d. h. mindestens einmal pro Woche) derartige Medikamente ein. In der Gruppe der 18- bis 20-Jährigen nimmt diese Quote auf 4% der jungen Männer und 7% der jungen Frauen zu, wobei ein deutlicher Anteil der weiblichen Indikationen mit Menstruationsbeschwerden zusammenhing. Beunruhigend ist, dass im Jahr 2000 13-mal mehr Jugendliche, die regelmäßig Medikamente nahmen als die Normalverbraucher, nicht mehr ohne Schlaf- und Beruhigungsmittel auskamen. 1995 waren das nur 5-mal mehr als in der Normalgruppe gewesen. An erster Stelle der Medikationsliste stehen Schmerzmittel: 64% der regelmäßigen Medikamentenkonsumenten haben häufig Kopfschmerzen, 47% Rückenund 45% Nackenschmerzen, das ist doppelt so häufig wie bei der Gesamtgruppe. Regelmäßige Konsumenten gaben auch deutlich häufiger als die Gesamtgruppe an, Medikamente zu nehmen »bei Zoff mit Eltern, Freund, Partner, gegen Stress in Schule und Beruf, um fit zu bleiben oder um gut drauf zu sein«. Weitere Untersuchungen zeigen, dass Jugendliche, die häufiger Medikamente einnehmen, auch mehr rauchen und häufiger betrunken sind und häufiger unteren sozialen Schichten entstammen. Viele Jugendliche betreiben mehr und mehr Selbstmedikation und beziehen Medikamente aus »Familienreserven«. Leider
343 37.7 · Wie erkennt der Kinder- und Jugendmediziner problematischen Substanzgebrauch?
wird dieser Trend beim Einsatz psychoaktiver Medikamente durch die Werbung verstärkt.
Risiken des Medikamentenmissbrauchs Einige Risiken des Medikamentenmissbrauchs können sein: 4 Bei etlichen Analgetika Nieren- und Leberschädigungen, auch gastrointestinale Erosionen, morgendliche Entzugssymptome in Form von Kopfschmerzen, aber keine regelrechte körperliche Abhängigkeit 4 Bei Barbituraten großes Abhängigkeitsrisiko mit heftigen Entzugsanfällen, deshalb Verordnung rückläufig 4 Benzodiazepine, die anxiolytisch und sedierend wirken, werden breit eingesetzt. Risiken: verlängerte Reaktionszeit im Straßenverkehr, bei der Arbeit; schon bei therapeutisch üblichen Dosen großes Abhängigkeitspotenzial (»low-dose-dependence«), wenn langfristige Einnahme erfolgt, von den schätzungsweise 1,4 Mio. Medikamentenabhängigen in Deutschland sind allein 1,1 Mio. von Benzodiazepinen abhängig (überwiegend Frauen!). Das Benzodiazepin Flunitrazepam (Mogadan) ist auch als Rauschdroge (besonders bei Polytoxikomanen) bekannt; es bewirkt Euphorie und Enthemmung, löst sich schnell in Flüssigkeiten auf und wird leider eingesetzt, um Menschen vor sexuellen Annäherungen zu betäuben (»K.O.Tropfen«, »date rape drug«)
37.6.2 Methylphenidat Methylphenidat (Ritalin, Medikinet, Equasym, Concerta) wird bekanntermaßen als den Vorschriften des Betäubungsmittelgesetztes unterliegendes Medikament im Rahmen der multimodalen Therapie des Aufmerksamkeitsdefizitsyndroms mit und ohne Hyperaktivität (ADHS) mit großem Erfolg eingesetzt. Die orale Einnahme und damit protrahierte Freisetzung verhindert bei diesem Stimulans ein rasches Anfluten an den für Rauschwirkungen verantwortlichen neuronalen Systemen des Gehirns. Für Deutschland gibt es wahrscheinlich keinen nennenswerten Handel mit der Substanz, die aufgelöst und injiziert als Rauschdroge eingesetzt werden könnte. Über mögliche Langzeitauswirkungen gibt es noch keine zuverlässigen Aussagen, bisher kann die Medikation wohl als weitgehend nebenwirkungsarm angesehen werden. Sie trägt im Rahmen eines therapeutischen Gesamtkonzeptes sicher dazu bei, Suchtentwicklungen bei jungen ADHS-Patienten vorzubeugen. Inwieweit der in Deutschland noch nicht zugelassene Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer Atomoxetil noch sicherer ist, müssen weitere Untersuchungen zeigen. 37.6.3 Doping Im Zusammenhang mit Medikamentenmissbrauch muss leider auch das Phänomen »Doping« genannt werden, als die Anwendung leistungssteigernder Medikamente im Sport. Zu den nicht nur im Leistungssport, sondern auch im Breitensport, z. B. in der Bodybuilder-Szene, immer häufiger eingesetzten leistungssteigernden Substanzen zählen gemäß einer Übersicht von Jason J. Koch (2002):
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4 Nahrungszusätze wie Androstendion, Antioxidanzien, Coffein, Kreatin, Ephedra-Alkaloide, Vitamine, Mineralien, Aminosäuren 4 Verschreibungspflichtige Medikamente wie β-Blocker, β2-Agonisten, Diuretika, HCG, ACTH, Lokalanästhetika, Theophyllin 4 Illegale oder verbotene Substanzen wie anabole Steroide, Amphetamine, Erythropoietin, Kokain, DHEA, Gamma-Hydroxy-Buttersäure, Wachstumshormon, Narkotika Es ist mit zunehmendem Auftreten von Schäden zu rechnen wie mit Kardiomyopathien, Leberschäden, endokrinen Störungen, aber auch mit Persönlichkeitsveränderungen und psychischen Erkrankungen wie Depressionen, Sucht, suizidalen Handlungen. Gerade in der Wachstumsphase ist die Einnahme von Stoffen wie Testosteronen, Clenbuterol, Nandrolon oder Wachstumshormon besonders gefährlich. Von Fachleuten wie der Nationalen AntiDoping-Agentur (http://www.nada-bonn.de) wird für diese immer mehr im Breitensport sichtbare Entwicklung der Körperkult in unserer Gesellschaft vermutet. In vielen »energy drinks« ist Koffein enthalten, z. B. in einer Dose »Red Bull« sind 80 mg des stark koffeinhaltigen Guaraná, ebensoviel Koffein wie in einer Tasse Kaffee. Das Purinadenosid Koffein wirkt anregend auf Herz und Gehirn, kompensiert Ermüdungserscheinungen und wirkt leicht euphorisierend, aber auch leicht schmerzlindernd und ist deshalb in einigen gängigen Schmerzmitteln enthalten, was den Missbrauch solcher Präparate begünstigt. Es kann bei längerem Konsum größerer Mengen zu Toleranzbildung und Entzugssymptomen kommen, die sich in morgendlichen Kopfschmerzen, erhöhter Reizbarkeit, Unruhe und Nervosität äußern. In der Literatur ist »Koffeinabhängigkeit« bei Jugendlichen beschrieben (z. B. von Bernstein et al. 2002).
Tipp Über die nationale Anti-Doping-Agentur sind neben Informationen auch Formblätter erhältlich, auf denen z. B. bei Asthmapatienten die Notwendigkeit der Medikation bescheinigt werden kann. Dies ist bei Wettkampfsport unerlässlich.
37.7
Wie erkennt der Kinder- und Jugendmediziner problematischen Substanzgebrauch?
37.7.1 Die »hidden agenda« In die kinder- und jugendmedizinische Praxis oder auch in die Schulsprechstunde des Jugendgesundheitsdienstes der Gesundheitsämter kommt, von ganz seltenen Ausnahmen abgesehen, kein Jugendlicher mit dem ausdrücklichen Wunsch, wegen eines problematischen Konsums von Alkohol, Tabak oder illegalen Drogen wie Cannabis beraten oder gar behandelt zu werden. Er kommt wegen eines grippalen Infektes, einer Impfung, wegen Asthma, Kopf-, Rücken-, Gelenk- oder Bauchschmerzen, weil er eine Krankmeldung wegen eines Brechdurchfalls braucht, der am Wochenende einsetzte, oder wegen einer Sportuntersuchung, mit einem Pillenwunsch bei einem Mädchen etc., also einer »hidden agenda«.
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Kapitel 37 · Konsum, Missbrauch und Abhängigkeit von psychoaktiven Substanzen
! Eventuelle Probleme mit psychoaktiven Substanzen sind hinter anderen Wünschen oder Fragestellungen verborgen. Beispiel Die Eltern klagen, der Junge/das Mädchen lasse in der Schule oder in der Lehre sehr nach. Ob man einmal das Blut untersuchen oder im Urin nach Drogen schauen könne? Und überhaupt habe er/sie jetzt so komische Freunde, sei kaum noch erreichbar, sei neulich total betrunken nach Hause gekommen. Ja, rauchen tue er/sie auch, aber »Hauptsache, er/sie nimmt keine Drogen.
Wichtig ist vor und während einer sorgfältigen und respektvollen körperlichen Untersuchung das »Joining«, das »Miteinanderwarm-werden«. Weitere Voraussetzungen sind: 4 Vertraulichkeit (die ärztliche Schweigepflicht darf nur bei lebensbedrohlichen Umständen gebrochen werden) 4 Akzeptanz der Person des Jugendlichen 4 »Warmer« und »anteilnehmender« (empathischer) Kommunikationsstil 4 Aktives, das heißt das Verstandene widerspiegelndes Zuhören und offene Fragen wie: »Was bedeutet oder was bringt dir das Rauchen, Trinken, Kiffen?« Vermieden werden sollten auf jeden Fall Bewertungen, Vorwürfe, Dramatisierungen oder Bagatellisierungen, Angebote von fertigen Lösungen. An körperlichen Symptomen lassen sich nur selten Hinweise auf den Konsum von psychoaktiven Substanzen bei Jugendlichen erkennen. Natürlich sind Alkohol und Tabak am Geruch zu erkennen, aber nur bei wenigen Substanzen oder in fortgeschrittenen Stadien würde man aus der Pupillengröße oder Einstichstellen oder sonstigen Hautveränderung bestimmte Rückschlüsse ziehen können. Ansonsten wird natürlich auf Schlafstörungen, Appetitstörungen, Gewichtsverlust oder -zunahme, vegetative Zeichen, Stimmung, Denkabläufe, Artikulation und Bewegungsabläufe zu achten sein. Bei jeder Begegnung mit einem Jugendlichen ist es wichtig, seine Entwicklung zu erfassen. Am einfachsten ist der Zugang über: 4 Freizeitaktivitäten und -interessen, Sport 4 Schule/Arbeit 4 Befindlichkeit 4 Körperlichkeit 4 Sicherheit/Risikobereitschaft 4 Geselligkeit/Freunde 4 Familie: Geschwister 4 »Gott und die Welt«: Spiritualität, Interesse am Weltgeschehen, Gerechtigkeit, Kriege etc.
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In der Praxis bewährt hat sich ein halbstrukturiertes Gespräch mit vielem Nachfragen und »Interesse zeigen«. »Wie fühlst du dich dabei?« »Was fällt dir dabei schwer?« »Wie fühlen sich die Eltern?« »Woran merkst du, dass...« Kleine Geschichten einflechten: »Ich kannte mal jemanden...« und miteinander lachen lässt keinen »Verhörcharakter« des Gesprächs aufkommen. Das reine Abfragen von Konsum ja oder nein, Konsummengen und -mustern erscheint künstlich und »kalt«, da nicht eingebettet in die Lebensbereiche des Adoleszenten. Auch Fragebögen wie der »Mannheimer Jugendlichenfragebogen MJF für 12- bis 16-Jähri-
ge« oder der »Satzergänzungstest« (7 Anhang) können nur »Gerüste« sein, an denen man sich im Gespräch »entlangbewegt«. Spezielle, nur auf Substanzkonsum bezogene Kurzfragebögen werden als sog. »mnemonic tools« wie CRAFFTS, CAGE, POSIT etc. in der amerikanischen Literatur häufig empfohlen (7 Schydlower 2001, S. 68–84). Auch diese Hilfsmittel können ein offenes Gespräch in der Praxis nicht ersetzen, haben aber natürlich in Klinik und Forschung ihren Stellenwert. 37.7.2 Urintests zum Nachweis von Drogen Die Durchführung von Urintests zum Nachweis von Drogen ist eine für das übliche medizinische Denken naheliegende und von Eltern (gelegentlich auch von Schulen und Arbeitgebern) relativ häufig geforderte diagnostische Maßnahme. Ganz abgesehen von den Grenzen der verwendeten Verfahren im Hinblick auf nicht seltene falsch positive oder auch falsch negative Messergebnisse sollte der Kinder- und Jugendarzt unbedingt auch ethische und rechtliche Aspekte berücksichtigen wie das Persönlichkeitsrecht des Jugendlichen, die Vertraulichkeit sowie die erforderliche Zustimmung zu solchen Untersuchungen. Richard H. Schwartz et al. (2003) sprachen kürzlich sogar von einem »klinisch-ethischen Dilemma«, weil sich Eltern in ihrer Sorge dieser Einschränkungen nicht bewusst seien. In deutschsprachigen Veröffentlichungen wird dieses Problem kaum erörtert, auch die Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychatrie und Psychotherapie et al. (2003) lassen mit den Sätzen »Illegale Drogen […] und Beruhigungsmittel […] werden üblicherweise im Urin nachgewiesen. Schnelltests ermöglichen einen raschen qualitativen oder semiquantitativen Nachweis« leider im Stich. Im Handbuch der American Academy of Pediatrics (Schydlower 2001, S. 24ff.) wird darauf verwiesen, dass ein heimlich durchgeführter Urintest eine gute Arbeitsbeziehung zwischen Arzt und jugendlichem Patienten zerstören kann und dass Gründe zu einer solchen Maßnahme im Wesentlichen nur sind: unklare lebensbedrohliche Intoxikation sowie vereinbarte Kontrollen im Verlauf von Therapien. In der Tat sagt z. B. ein positiver Nachweis von Cannabis im Urin relativ wenig aus. Er bietet keine relevante Information darüber, ob er einen experimentellen Konsum in kleiner Menge oder einen regelmäßigen Gebrauch größerer Dosen abbildet. Besonders heimlich oder auch mit erzwungener Zustimmung durchgeführte Tests können aber ein Klima der vertrauensvollen Kommunikation stark beeinträchtigen. Dieses ist jedoch notwendig, um herauszufinden, wo es Schwierigkeiten gibt und welche Schritte gemeinsam zu einer konstruktiven Lösung gegangen werden können. Das Thema Urinscreening von Drogen ist symptomatisch für die große Schwierigkeit, in pädiatrischen Einrichtungen wie Kliniken und Praxen zu erkennen, wo die Grenze zwischen einem altersentsprechenden experimentellen Umgang mit legalen, teilweise aber auch mit illegalen Drogen und einem problematischen Konsum zu ziehen ist und wie man diesen »Umschlagpunkt« so früh wie möglich erkennt, um dann eine effektive »Frühintervention« in die Wege leiten zu können. Sehr oft erweist sich die Gleichsetzung eines seltenen bis gelegentlichen, meist nur auf eine Phase in der Adoleszenz beschränkten Konsums einer »Alltagsdroge« (Alkohol, Tabak, auch Cannabis) mit Missbrauch oder gar Suchtgefährdung als falsch. Nicht leicht ist die Kunst, besonders gefährdete Jugendliche zu
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erkennen und ihnen zielgruppenspezifische Hilfen zur Lösung ihrer Schwierigkeiten anzubieten.
37.8
Umgang mit Substanzproblemen in der Praxis
37.8.1 Vorgehen in verschiedenen Stufen Jugendliche haben mit Recht deutliche Reserven davor, sog. abweichendes Verhalten wie z. B. auch den Konsum von Alltagsund vor allem auch illegalen Drogen Erwachsenen mitzuteilen, selbst wenn sie ahnen, dass er gesundheitliche Probleme mit sich bringen könnte. Umso wichtiger ist die Zusicherung von Vertraulichkeit zu Beginn der Arzt-Patient-Beziehung mit Jugendlichen. ! Rechtfertigung für den Bruch der Schweigepflicht kann gemäß § 35 StGB nur ein »übergesetzlicher Notstand« sein, d. h. die Wahrung eines höherwertigen Rechtsgutes. Das ist der Fall z. B. bei manifester Suizidgefahr oder bei einer Drogenabhängigkeit, wenn der Jugendliche den Eindruck vermittelt, die Notwendigkeit einer dringend notwendigen Behandlung nicht einzusehen.
Hier wird der Jugendarzt sich über den Willen des Jugendlichen hinwegsetzen und Erziehungsberechtigte bzw. Jugendamt einschalten können. Cave Auf keinen Fall ist die Voraussetzung eines Bruchs der Schweigepflicht bei gelegentlichem oder auch regelmäßigen Konsum von Drogen ohne erkennbare Abhängigkeit gegeben, was abgesehen vom Spezialfall Tabakabhängigkeit auch selten in der pädiatrischen Praxis der Fall sein dürfte.
Wie sieht der Umgang mit Substanzproblemen in Grundzügen aus? Zur Veranschaulichung ist es sinnvoll, das Vorgehen in verschiedene Stufen einzuteilen: Stufe 0
4 Stufe 0 bezeichnet den Nichtkonsum der gängigen psychoaktiven Substanzen. Natürlich haben junge Menschen sich schon vom Kindergartenalter an kognitive Schemata zu Alkohol und Tabak, ab 8/9 Jahren dann auch zu illegalen Drogen angeeignet. Ebenso wie sie gelernt haben, dass koffeinhaltige Getränke »nichts für kleine Kinder sind« und mit Schmerzmitteln rational umgegangen werden soll, lernen sie überwiegend am Modell der Erwachsenen, aber auch über Medien und in der Schule entsprechende Erwartungen zur Wirkung und zur sozialen Bedeutung, diese anfangs eher negativen Erwartungen können dann je nach Kontext von Familie und Gleichaltrigen später positiv werden und Jugendliche zur Imitation erwachsenen Verhaltens leiten. In der pädiatrischen Praxis gilt es, in der frühen Adoleszenz, also z. B. mit 12–13 Jahren bei der Jugendgesundheitsberatung (J1) die meist noch abstinente Grundhaltung zu bestärken und ein Beziehungsangebot für spätere Fragen und Probleme zu machen.
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Vorträge über die Gefährlichkeit von Drogen kann man sich sparen, weil sie nachweislich ohne Wirkung sind. Allenfalls kann eine Informationsbroschüre angeboten werden, z. B. »Stark ohne Dope« der DAK. Stufe 1
4 Stufe 1 umfasst dann den experimentellen und exploratorischen Konsum von Zigaretten und von Alkohol, sporadisch und in kleinen Mengen. Viele Jugendforscher, so auch Freitag und Hurrelmann (1999), sind der Auffassung, dass heute zumindest Cannabis, in gewissem Maße aber auch schon Ecstasy und Amphetamine, inzwischen von so vielen Jugendlichen und jungen Erwachsenen (etwa ein Drittel) konsumiert wird, dass ihre Bezeichnung als »illegale Alltagsdrogen« gerechtfertigt scheint. Allen Ängsten der Erwachsenen, vielfältiger präventiver Bemühungen und dem »Krieg gegen die Drogen« zum Trotz beschränken sich die meisten jungen Leute auf einen Freizeitgebrauch, den sie mit zunehmender Reifung weitgehend aufgeben. – Natürlich ist das Risiko eines Übergangs in einen regelmäßigen und länger anhaltenden Konsum nicht zu vernachlässigen. Es besteht überwiegend dann, wenn Jugendliche schon in sehr jungem Alter beginnen, sich in Cliquen befinden, deren subkultureller Lebensstil einen Ausstieg schwer macht, wenn sie schulische oder berufliche Schwierigkeiten oder Probleme in der Familie oder sonstigen Beziehungen haben, die sie aufgrund fehlender Bewältigungsstrategien und eventuell außerdem bestehender psychischer Vulnerabilität nicht in den Griff bekommen. Hier ist es eine enorm wichtige Aufgabe des Jugendarztes, den Jugendlichen in seinem Kontext so genau zu kennen, dass er solche Gefährdungen möglichst früh erkennt und zur Vermittlung von Hilfen beiträgt. Jugendmedizinische Interventionen: Meistens reicht bei experimentellem Konsum, auch bei einmaliger Alkoholintoxikation ohne vorangehenden regelmäßigen Alkoholkonsum ein offenes, nicht moralisierendes und Autonomie sowie Selbstwirksamkeit des Jugendlichen förderndes Gespräch. Auf Wunsch können auch jugendgerechte Broschüren abgegeben werden (Bezug über http://www.bzga.de, http://www. dhs.de, http://www.sfa-ispa.ch oder regionale Landesstellen gegen Suchtgefahren) oder Hinweise auf entsprechende Webseiten gegeben werden (z. B. http://www.drugcom.de, http://www.feelok.ch), für Jugendliche mit schon passablen Englischkenntnissen eignet sich sehr gut auch das preiswerte Taschenbuch von Aidan MacFarlane und Ann McPherson (2002) »Drugs: the truth« mit Fragen und Antworten zu Drogen aus der Webseite http://www.teenagehealthfreak.org. In jedem Fall ist es sinnvoll, weitere Kontakte mit dem Jugendlichen dafür zu nutzen, nach der weiteren Entwicklung von Konsummustern zu fragen und darüber im Gespräch zu bleiben. Stufe 2
4 Stufe 2 stellt schon weit höhere Anforderungen an die jugendärztliche Kunst. Hier wird schon häufiger, besonders an Wochenenden ein exzessiver Konsum insbesondere von Alkohol und meist auch Tabak, sehr oft aber auch zusätzlicher Mischkonsum mit Partydrogen und zum »Chill-out« auch Cannabis betrieben. Räusche bis hin zur Bewusstlosigkeit werden gesucht oder zumindest in Kauf genommen (»Saufen bis der Arzt kommt«).
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Kapitel 37 · Konsum, Missbrauch und Abhängigkeit von psychoaktiven Substanzen
Intoxikationen mit Alkohol, aber auch mit Halluzinogen wie Zauberpilzen, LSD, Engelstrompetenblüten bergen die Gefahr von Unfällen sowie körperlicher, auch sexueller Gewalt. Das zunehmende Rauschverhalten kann als Form von »Übergangsritual« interpretiert werden: Jugendliche wollen den vielfältigen, als bedrückend empfundenen Anforderungen des Alltags, der »linearen Zeit« entkommen und sich in rauschartigem »zyklischem« Zeiterleben vergessen. Meist ist diese Phase vorübergehend, aber auch hier besteht wieder für einige besonders vulnerable Jugendliche das große Risiko, immer regelmäßiger Substanzen einzusetzen, um dem Alltag zu »entfliehen« und die scheinbare Problemlösung mit dem zunehmenden Verlust an Autonomie zu erkaufen. – Lange Jahre unterschätzt bzw. bewusst heruntergespielt wurde das Abhängigkeitsrisiko von Tabakprodukten. Tabak nimmt in mehrfacher Hinsicht eine Sonderrolle ein: Anders als bei Alkohol kommt es sehr oft und sehr schnell zu körperlicher und psychischer Abhängigkeit, die sich allerdings anders als bei Alkohol und vielen illegalen Drogen nicht so schädlich in den sozialen Beziehungen auswirkt. Wahrscheinlich genetisch bedingt ist genussreiches Konsumieren nur bei wenigen möglich; außerdem ist Tabak eine der wenigen Drogen, deren Konsum nichtrauchende Mitmenschen (oder auch Ungeborene) erheblich beeinträchtigen kann, was eigentlich erheblicher Regulierungsanstrengungen bedürfte (DKFZ 2002). Jugendmedizinische Interventionen der Stufe 2: Entgiftung, wenn erforderlich (7 unten, meist stationär), wie bei Stufe 1 ein offenes, nicht moralisierendes und Autonomie sowie Selbstwirksamkeit des Jugendlichen förderndes Gespräch, das nicht, wie es medizinischem Denken naheliegt, mit den Risiken beginnt, sondern mit den erlebten Motiven und Vorteilen: »Was reizt dich so am Trinken, Rauchen, Kiffen...?« Und erst danach: »Was hast du schon an Nachteilen erlebt, was weißt du noch über mögliche Risiken, was tust du, um sie so gering wie möglich zu halten? Auf welche andere Weise könntest du dir auch Kicks holen, dich entspannen....?« Je nach vorhandener Veränderungsbereitschaft (7 unten) könnte es sich lohnen, diese Fragen anhand eines Schemas, der Kosten-Nutzen-Analyse oder Entscheidungswaage zu erörtern (s. unten), gleich in der Praxis oder nach Reflexion zu Hause bei einem zweiten Termin. Broschüren, die möglichst Selbsttestmöglichkeiten anbieten, sollten nicht aufgedrängt, sondern nur angeboten werden: z. B. die »Just-be-smoke-free«-Broschüre (http://www.justbesmokefree.de, 7 unten) oder »Das nasse Blatt« der BZgA (http://www.bist-du-staerker-als-alkohol.de) oder zu Drogen überhaupt »Drogen und Du« des Therapieladens Berlin (http://www.drogen-und-du.de). Viele Jugendliche nehmen lieber die entsprechenden Internet-Adressen mit (weitere z. B. http://www.feelok.ch, http://www.drugcom.de, http:// www.partypack.de, http://www.saferparty.ch). Stufe 3
4 Stufe 3 versammelt die Jugendlichen mit einem regelmäßigen, mehrfach wöchentlichen oder gar täglichen Gebrauch von psychoaktiven Substanzen, Rauschtrinken hat meist auch schon mehrfach stattgefunden, eine Tabakabhängigkeit besteht häufig. Standardfrage: »Wann rauchst du morgens deine erste Zigarette?« Je früher sie nach dem Aufwachen konsumiert wird,
desto größer die Abhängigkeit. Die Tagesmenge umfasst dann meistens mindestens eine halbe Schachtel. Bei Jugendlichen, die regelmäßig wegen Kopf- oder anderer Schmerzen oder auch wegen Schlafstörungen Medikamente nehmen, lohnt es sich nach ausführlicher Diagnostik und Anamnese einschließlich belastender Umweltfaktoren, gemeinsam Alternativen zu entwickeln, die Medikamente einsparen, z. B. die Progressive Muskelentspannung nach Jacobson. Auch hier kann eine Kosten-Nutzen-Analyse nützlich sein und die vorhandene Ambivalenz verdeutlichen und die Veränderungsmotivation vergrößern. Aber selbst gemeinsam besprochene Maßnahmen zur Risikoreduktion (Dosisverringerung, Konsum zu besonderen Anlässen, nicht täglich, nicht im Straßenverkehr, nicht in der Schule, kein Mischkonsum) sind oft nicht zureichend oder können nicht mehr greifen, wenn massive psychische Probleme wie Depressionen und Ängste Reduktion oder Aufhören erschweren. Besonders dann sind häufig rationalisierende Äußerungen zu hören wie: »Ich kann jederzeit aufhören, wenn ich will.« Oder: »Cannabis ist viel weniger gefährlich als Alkohol.« Hier ist die umsichtige und behutsame Vermittlung von professioneller Hilfe unumgänglich, um der Gefahr eines vollständigen Verlustes der Kontrolle und zunehmender Schwierigkeiten im Alltag, besonders in Schule, Beruf und Familie vorzubauen. Bei gleichzeitig bestehenden gravierenden psychischen Störungen sollte ein Kinder- und Jugendpsychiater, bei überwiegendem Drogenproblem eine Jugendsuchtberatungsstelle konsultiert werden. Stufe 4
4 Stufe 4 umfasst dann die Jugendlichen mit manifester Abhängigkeit von Alkohol und/oder illegalen Drogen. Hier sind noch bestehende soziale Bindungen sehr oft massiv beeinträchtigt, das normale »Funktionieren« in Schule oder Beruf ebenso, besonders dann, wenn Crack geraucht oder Drogen intravenös appliziert werden, drohen Beschaffungskriminalität, Infektionen mit Hepatitiden oder HIV, Verelendung, Burnout. Hier muss möglichst früh ein Netzwerk aus Sucht- oder Drogenberatungsstellen, am besten mit relativ niedrigschwelligem Zugang (z. B. easyContact von Condrobs in München), Jugendhilfe, Elternkreis für drogengefährdete Kinder, evtl. auch mit der Schule aufgebaut werden. Für bereits entwurzelte Jugendliche (»Straßenkids«) stehen in größeren Städten sozialpädagogisch betreute Wohneinrichtungen zur Verfügung. Junge Leute mit erheblichen psychischen Problemen (mindestens die Hälfte aller drogenabhängigen Jugendlichen, wenn man Störungen des Sozialverhaltens einschließt) sollten stationär in geeigneten kinder- und jugendpsychiatrischen Kliniken betreut werden (Fallbeispiel eines alkoholabhängigen Jugendlichen s. Becker et al. 2003), vereinzelt gibt es auch Alkohol- und Drogenkliniken für junge Leute mit speziellen familientherapeutischen und psychotherapeutischen Angeboten. Im Einzelfall dürfte bei jugendlichen Heroinabhängigen im Rahmen eines Behandlungsplans auch eine Methadon-Substitution sinnvoll sein. Das ist aber sicher nicht im Rahmen einer jugendmedizinischen Praxis zu leisten, sondern müsste durch speziell suchtmedizinisch ausgebildete Spezialpraxen erfolgen. Für den Jugendarzt ist es aber ganz wichtig, drogengefährdete Jugendliche vorurteilsfrei zu begleiten, sich als Ansprech-
347 37.8 · Umgang mit Substanzproblemen in der Praxis
partner stets zuständig zu fühlen (»einen langen Atem haben«), was aber nicht bedeutet, irgendwelchen Verschreibungswünschen (z. B. nach Codein oder Rohypnol) nachzukommen. Wichtig ist es auch, an der Abstimmung einer Behandlungsstrategie (Case-Management) mitzuwirken und mit den Mitarbeitern von behandelnden Einrichtungen und dem Jugendlichen selbst in Kontakt zu bleiben. Das ist dann besonders wichtig, wenn drogenabhängige junge Leute Kinder bekommen. Auch für diese jungen Familien gibt es in den Großstädten immer mehr Betreuungsangebote, die sehr gern auf pädiatrische Unterstützung zurückgreifen. 37.8.2 Verwendete Verfahren und Modelle Rein medizinisch ausgerichtete Verfahren sind eigentlich nur selten erforderlich, wenn man von Entgiftungen absieht. Die »Hauptarbeit« ist »sprechende Medizin«, also überwiegend Beratung, selten für speziell ausgebildete Jugendmediziner auch Psychotherapie. Entgiftungen Leider nehmen Alkoholintoxikationen zu, besonders an Wochenenden (z. B. Verdreifachung bei unter 17-Jährigen in Lörrach zwischen 1999 und 2002). Die Behandlung besteht wegen der generell guten Elimination bei Jugendlichen überwiegend in Überwachung, Infusionen mit 10% Glukose und Schutz vor Wärmeverlust; nur selten sind Magenentleerungen oder Sedierung bei Agitiertheit erforderlich, noch seltener Peritonealdialysen (überwiegend bei Blutalkoholkonzentrationen >4 g/l und/oder weiteren toxischen Substanzen, z. B. bei Suiziden). Weitaus seltener sind Intoxikationen mit Cannabis, LSD, Zauberpilzen, Engelstrompetenblüten oder ähnlichen Halluzinogenen, sog. »bad trips«, hier werden in erster Linie sedierende Medikamente eingesetzt. Intoxikationen mit Lösungsmitteln können wegen plötzlicher Herzrhythmusstörungen lebensbedrohlich sein, bei Kokain- oder Amphetaminüberdosierung, auch nach Ecstasyeinnahme kann es zu Krämpfen oder Bewusstlosigkeit kommen, hier ist in jedem Fall rasche ärztliche Hilfe in Notfalleinrichtungen erforderlich. Das ist noch dringlicher der Fall bei Opiatvergiftungen, oft versehentliche oder suizidale Überdosierungen, die u. a. mit Naloxon, Sauerstoff und Intensivüberwachung behandelt werden müssen. Beratung Eine erfolgreiche Behandlung soll die Bereitschaft beim Patienten vergrößern, Verhalten zu ändern, das Probleme macht. Dazu hat
37
sich die Einteilung in Stadien der Veränderungsbereitschaft bewährt. Veränderungsbereitschaft setzt sich zusammen aus der Einschätzung der Wichtigkeit eines Problems (»Warum soll ich etwas ändern?«) und der Erwartung der Selbstwirksamkeit, also der Zuversicht »es zu schaffen«. Die Stadien der Veränderungsbereitschaft und die entsprechende jugendmedizinische Strategie finden sich in . Tab. 37.1. Leider sind Jugendliche der oben aufgelisteten Stufen 1 und 2 nur sehr selten interessiert, etwas zu ändern, sie sind also im »Stadium der Absichtslosigkeit« oder gerade einmal der beginnenden »Absichtsbildung«. Vielleicht ist dann die Methode, gemeinsam eine »Entscheidungswaage« oder »Kosten-NutzenAnalyse« (. Tab. 37.2) zu bearbeiten, eine Möglichkeit, ein Stadium »vorzurücken« und wenigstens kleine Schritte »anzudenken«. Hierzu können bei der geringen in der Jugendarztpraxis zur Verfügung stehenden Zeit auch ressourcenaktivierende Elemente aus der Lösungsorientierten Therapie oder der Motivierenden Gesprächsführung (7 unten) verwendet werden. Dreitägige Schulungen in motivierender Kurzintervention, dem Beratungskonzept für riskant konsumierende Jugendliche und Fortbildung für Kontaktpersonen (auch in der medizinischen Grundversorgung) bietet unter dem Markenzeichen »MOVE« ginko e.V. in Mülheim/Ruhr an (http://www.ginko-ev.de). Ansonsten hat Beratung natürlich vor allem den Zweck, dem Jugendlichen Unterstützungsmöglichkeiten zu benennen und wenn notwendig, Hilfe auf den Weg zu bringen. Psychotherapie Im Rahmen dieses Kapitels können allenfalls Hinweise zum weiteren Literaturstudium gegeben werden: Zur Einführung in systemisch-lösungsorientertes Vorgehen bei Jugendlichen mit Suchtproblemen, bei dem nicht die Probleme im Mittelpunkt stehen, sondern das Finden von Lösungswegen und -möglichkeiten, eignet sich sehr gut das Buchkapitel von Joachim Hesse (2001), ein vielversprechender therapeutischer Ansatz ist die motivierende Gesprächsführung, deren Prinzipien lauten: einen empathischen Gesprächsstil mit Akzeptanz und Wertschätzung pflegen, den Patienten Ambivalenzen bearbeiten lassen, auf Widerstand dabei flexibel reagieren und Selbstwirksamkeit nach Kräften unterstützen. Hierzu haben Jim McCambridge und John Strang (2004) kürzlich den Nachweis einer guten Wirksamkeit geführt. Bestens eingeführt in der Suchttherapie mit Jugendlichen sind Gesprächstherapie, Verhaltenstherapie und vor allem auch die Familientherapie.
. Tabelle 37.1. Stadien der Verhaltensänderung und Schlussfolgerungen für die Praxis Absichtslosigkeit
Funktionalität des Substanzkonsums verstehen; kurze Denkanstöße; Informationsbedarf erfragen
Absichtsbildung
Ambivalenz thematisieren; Vor- und Nachteile ansprechen; auf Wunsch weitere Informationen
Vorbereitung
Verhaltensalternativen besprechen; Patienten wählen und entscheiden lassen
Aktion
Fortschritte anerkennen; Unterstützung, wenn gewünscht
Aufrechterhaltung
Stetige Anerkennung
Ausrutscher/Rückfall
Mut machen für erneute Aufhör- oder Reduktionsversuche; nach Hindernissen fragen; Unterstützung, wenn gewünscht
348
Kapitel 37 · Konsum, Missbrauch und Abhängigkeit von psychoaktiven Substanzen
. Tabelle 37.2. Entscheidungswaage oder Kosten-Nutzen-Analyse
Fortsetzen des bisherigen Verhaltens
Verändern des Verhaltens
Vorteile
»Was bringt dir das Rauchen/Trinken/Kiffen?« z. B. »Hilft mir, mich zu entspannen, mich weniger gehemmt zu fühlen, kann besser Kontakt aufnehmen, passe dann besser zur Clique, gehört zum Feiern dazu, macht echt locker/schmeckt gut«
»Könntest du dir vorstellen, wie sich dein Leben verändern würde, wenn du das Rauchen/Trinken/Kiffen reduzieren oder stoppen könntest?« z. B. »Würde nicht wieder mit dem Moped besoffen erwischt werden, könnte besser im Sport und in der Schule sein, hätte mehr Geld, Freundin würde sagen: Küsse schmecken besser/bräuchte keine Angst vor dem Erwischtwerden haben«
Nachteile
»Machst du dir schon mal Gedanken darüber, wie der Alkohol/das Rauchen/das Kiffen dein Leben beeinflusst?« z. B. »Eltern ärgern sich und maulen, schon mal ein blauer Montag, beim Sport geht die Puste aus, das Kotzen ist auch nicht das Wahre, Filmrisse machen Angst, bin schon mal in den Graben gefahren, es gibt Probleme mit der Polizei und der Schule, es geht viel Geld drauf«
»Wie würde sich dein Leben eher zum Nachteil ändern, wenn du für eine Weile aufhören/ein wenig reduzieren könntest?« z. B. »Das Leben wäre total langweilig, ohne Genuss; die Leute würden nichts mehr mit mir zu tun haben wollen, könnte nicht mehr richtig mit dem Stress fertig werden, wäre schwerer, ein Mädchen/einen Jungen näher kennenzulernen; wäre einfach einsamer«
Bei der Fragestellung gilt es zu berücksichtigen: – Folgen für einen selbst – Folgen für andere – Wie fühle ich mich selbst dabei? – Was fühlen andere in Bezug auf mich?
Selbsthilfe Viele Jugendliche scheuen sich davor, Kurse zu besuchen, die ihnen bei Verhaltensänderungen helfen wollen (obwohl es in einigen Ländern durchaus erfolgversprechende Ansätze zu Tabakentwöhnungskursen gibt, auch in Deutschland, aber noch ohne Evaluation). Sie ziehen es vor, Hilfen zur Selbsthilfe in Anspruch zu nehmen. Ein Beispiel dafür ist das Tabakstopp-Programm für Jugendliche und junge Erwachsene »Just be smokefree«, das vom Kieler Institut für Therapie- und Gesundheitsforschung in Kooperation mit dem Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte betrieben wird, seine Wirksamkeit bewiesen hat (Wiborg, Hanewinkel, Isensee u. Horn 2004) und sich großen Zulaufs erfreut (http://www.justbesmokefree.de), insbesondere über das Internet. Weitere Internetadressen für verschiedene Selbsttest- und Selbsthilfezwecke sind in den obigen Abschnitten bereits genannt worden.
37
Last not least: die Eltern! Von Eltern wird bekanntlich oft nachgefragt, wie sie mit dem vermuteten Substanzkonsum ihrer Kinder umgehen sollten. Dabei bekommt nur ein Teil der Eltern etwas davon mit, so nahmen in einer Studie nur 11% der befragten Eltern überhaupt den illegalen Drogenkonsum ihrer Sprößlinge wahr. Das heißt im Grunde, Probierverhalten ist eigentlich kein Thema, die Sorgen kommen, wenn es Verhaltensveränderungen und Schulprobleme gibt. Hier ist es für den Jugendarzt ratsam, den Eltern zu vermitteln, wie wichtig es ist, den Jugendlichen ihre Sorgen mitzuteilen und auch ihre Gefühle zu zeigen. In Familien sollte sachlich über positive und negative Substanzwirkungen gesprochen werden, verbieten hilft nichts, wohl aber auch Grenzen zu setzen und Bedingungen zu stellen, eventuell in Form von Abmachungen, die die Eigenverantwortlichkeit des Jugendlichen fördern. Der Jugendarzt kann Informationen anbieten, z. B. die Elternbroschüren der BzgA (http://www.bzga.de) und die über das In-
ternet herunterladbaren Broschüren zu Alkohol, Tabak und Cannabis der Schweizerischen Fachstelle für Alkohol- und andere Drogenprobleme (http://www.sfa-ispa.ch). Kommen Jugendliche mit problematischem Substanzkonsum aus suchtbelasteten Familien, sollte eventuell eine Beratung der ganzen Familie in einer geeigneten Beratungsstelle initiiert werden. Von großem Nutzen und für viele betroffene Eltern sehr entlastend sind die Elternkreise drogengefährdeter und drogenabhängiger Jugendlicher (http://home.snafu.de/bvek).
37.9
Exkurs: Spielsucht als Beispiel für nichtstoffliche Süchte
Abhängiges Verhalten, d. h. eine gewisse Zwanghaftigkeit, ohne Rücksicht auf mögliche schädliche Folgen Handlungen wiederholt zu begehen, ist nicht nur an Substanzen, also Drogen, gebunden. Es kann auch substanzungebunden ablaufen und dann in die drei Gruppen eingeteilt werden: Ess-Süchte (Magersucht, EssBrech-Sucht und Fett-Sucht, ▶ Kap. 28), sexuelle Süchte und sonstige Süchte aufgeteilt werden. Zur letzten Gruppe zählen unter anderem die Stehlsucht (Kleptomanie), die Feuersucht (Pyromanie), die Arbeitssucht, die Kaufsucht, die Internetabhängigkeit, die Vergnügungssucht und die Glücksspielsucht. Die meisten Spielsüchtigen spielen an Automaten, im Spielcasino oder aber mit Spielkarten (z. B. Poker) um hohe Einsätze. Der Glücksspielmarkt hat mit Umsätzen von jährlich rund 27 Mrd. Euro (Steuer davon 4,5 Mrd. Euro) allein in Deutschland eine nicht unerhebliche wirtschaftliche Bedeutung. Nach Pressemeldungen hat eine noch unveröffentlichte Studie der Universität Bielefeld ergeben, dass zwar schon drei Fünftel aller Jugendlichen bereits bei Glücksspielen mitgemacht haben, aber nur bei etwa 3% der 13- bis 19-Jährigen eine Tendenz zur Spielsucht bestehe. Bevorzugte Glücksspiele sind Rubbel-Lose
349 37.10 · Ausblick: Ein paar Gedanken zur Prävention
und Kartenspiele, gefolgt von Sportwetten wie ODDSET des Deutschen Lotto- und Totoblocks, die keinerlei Jugendschutzbestimmungen unterliegen und quasi ab 7 Jahren abgeschlossen werden können. Geldeinsätze bei Glücksspielen würden zwischen 5 und 20 Euro im Monat betragen. Anzeichen für Spielsucht (Jungen sind 5-mal anfälliger als Mädchen) könnten sein: heimliches, regelmäßiges und mehrfach tägliches Spielen und eventuelle Geldbeschaffung dafür. In Deutschland ist die Glücksspielsucht nicht als psychische Störung anerkannt, wohl aber in den USA seit 1980. In Deutschland steckt die Forschung noch in den Kinderschuhen und jugendspezifische Präventions- und Beratungskonzepte lassen noch auf sich warten. Seit April 2004 gibt es die bundesweit erste Kampagne gegen Glücksspielsucht überhaupt in NRW. Beratung für Süchtige und ihre Angehörigen sowie ein besonders für jugendliche Spieler entwickelter Flyer »Ich mach das Spiel nicht mit« ist unter der Internetadresse http:// www.landesfachstelle-gluecksspielsucht-nrw.de zu bekommen. Es gibt seit mehreren Jahren auch einen sehr aktiven, bundesweiten Fachverband Glücksspielsucht in Herford (http://www. gluecksspielsucht.de). ! Jugendliche mit psychischen Auffälligkeiten, besonders mit einem »sensation-seeking«-Verhalten und mit problematischem Substanzkonsum, sollten auch immer nach Glücksspielen, PC-Spielen und Häufigkeit des »Surfens« im Internet befragt werden.
Die sich rasant ausbreitenden neuen Medien bieten faszinierende Chancen, aber auch Gefahren von Missbrauch (7 Kap. 8). Insbesondere Computerspiele werden oft populistisch und unter Vernachlässigung individueller und struktureller Faktoren als Quellen von Gewalt bezeichnet. Spieler werden stigmatisiert, Eltern und Pädagogen verunsichert, z. B. wenn sie fürchten, dass die betreffenden Jugendlichen in den virtuellen Welten von LANParties zu versinken drohen. Viele Computerspiele sind geeignet, kognitive Funktionen wie räumliche Wahrnehmung, logisches Denken und Abstrahieren zu trainieren, aber auch Langeweile, Gefühle der eigenen Unzulänglichkeit und Machtlosigkeit vergessen zu lassen, Spaß zu haben. Besonders Jungen können komplexe PC-Spiele stundenlang konsumieren und laufen dann Gefahr, die reale Welt aus dem Blick zu verlieren und Hausaufgaben und Familienkommunikation zu vernachlässigen. Zu den Motiven, Chancen und Risiken des Computerspielens für Jungen finden sich gute Anregungen in einem Aufsatz von Olaf Jantz (2002). Das Internet gehört heute längst zur Lebensrealität der meisten Jugendlichen in den meisten Industrienationen. Es bietet einen fast grenzenlosen Zugang zu einer riesigen ungefilterten Menge an Informationen, die neben vielem Nützlichen auch Kriminelles, Pornographie, Anleitungen zu Gewalt und Suizid, ungeahnte Spiel-, Chat-, Bestell- und Ersteigerungsmöglichkeiten etc. enthalten. Die meisten Internetnutzer lernen rasch, sich von der Überflutung mit Daten abzugrenzen. Studien wie die von Hahn und Jerusalem (2001) und Eidenbenz (2004) weisen aber auch auf die Gefahr besorgniserregender Veränderungen des Freizeitverhaltens bei einem kleinen Teil der Konsumenten hin. Chats, virtuelle Spielwelten und Pornographie-Seiten gehören zu den Internetbereichen, die von Menschen mit übermäßigem Konsum am meisten aufgesucht werden. Besonders Jugendliche und junge Erwachsene laufen Gefahr, die Kontrolle zu verlieren (ca. 2–3% der Internetnutzer, davon zwei Drittel unter 20 Jahren).
37
Tipp Obwohl umstritten ist, ob es sich bei der »Internetabhängigkeit« oder dem »pathologischen Internetgebrauch« um eine klinische Störung im wissenschaftlichen Sinne handelt, sollte besonders bei Jugendlichen mit nachlassenden Leistungen und sozialer Isolation nachgefragt werden, ob sie 4 exzessiv Chat- und Kommunikationssysteme nutzen, 4 stundenlang im Netz spielen und handeln, 4 zwanghaft nach Informationen im Netz suchen, 4 stundenlang Sexseiten konsumieren.
Kommt es auch zu deutlichen Entzugserscheinungen wie Unruhe und starker Nervosität bei Internetpausen, erheblichen Problemen im sozialen Leben mit völliger Vernachlässigung anderer Aktivitäten und Verlust der Zeitkontrolle, sollte nach entsprechend ausfallendem Selbsttest (http://www.onlinesucht.de) professionelle Hilfe gesucht werden. Diese kann wegen der unentbehrlichen schulischen und beruflichen Internetnutzung nicht abstinenzorientiert sein, sondern sollte sich nach dem kognitivbehavioralen Modell um »kontrolliertes Surfen« (Zobel 2001) bemühen. Dazu gehören z. B. Festlegung von Surfzeiten, -dauer, -häufigkeit und -inhalten. Noch in den Kinderschuhen steckt die Prävention vor allem im Schulbereich (Hinweise dazu bei Eidenbenz, 2004), aber auch Kinder- und Jugendärzte werden in Zukunft stärker gefordert sein (Stögmann 2004).
37.10
Ausblick: Ein paar Gedanken zur Prävention
Eberhard Kuntsche (2004) konnte erst kürzlich anhand von über einen Zeitraum von 12 Jahren erhobenen Schweizer Daten nachweisen, dass es ein allgemeines Substanzkonsummuster in der Adoleszenz zu geben scheint, d. h. sowohl Rauchen und Trinken als auch Cannabiskonsum nahmen in dieser Zeit gleichsinnig zu. Ein solcher Trend stellt eine Herausforderung für die Prävention dar. Es ist mehr als zweifelhaft, ob Jugendmediziner Wesentliches zum Aufhalten dieses Trends beitragen können, die wenigen evaluierten Untersuchungen darüber sind eher entmutigend. Es bedarf sicher vieler gemeinsamer Anstrengungen, zu denen ebenso verhaltenspräventive Interventionen (Hanewinkel u. Wiborg 2003) in der Schule der Familie oder Gemeinde gehören wie auch regulierende staatliche Maßnahmen besonders im Bereich der Alltagsdrogen Tabak (DKFZ 2002) und Alkohol. Pädiater können im Wesentlichen in zwei Bereichen suchtpräventiv tätig sein: 4 Sie können schon vor dem Jugendalter auffällige Kinder z. B. mit aggressiven Verhaltensstörungen und anderen psychischen Problemen erkennen und erzieherische, sozialpädagogische oder therapeutische Schritte zur Einflussnahme einleiten (Franzkowiak u. Schlömer 2003; Scheithauer, Mehren u. Petermann 2003). 4 Sie können Jugendliche Konsumenten von Substanzen, die sie in ihrer Befindlichkeit und ihrem Lebenskontext kennengelernt haben, begleiten und ihnen ein Stück »lebensweltnahe Risikokompetenz mit Substanzen«, vielleicht auch hier und da Anstöße zu Interventionen bei besonders Gefährdeten vermitteln.
350
Kapitel 37 · Konsum, Missbrauch und Abhängigkeit von psychoaktiven Substanzen
Da Jugendliche aber relativ selten medizinische Praxen aufsuchen, können auch Jugendmediziner den »Umschlagpunkt« von relativ harmlosem, experimentellem zum riskanten und auf mehreren Ebenen schädlichen Substanzkonsum nur schwer erkennen, erhalten aber gelegentlich Hinweise dafür von den Eltern, deren Sorgen es auf jeden Fall ernst zu nehmen gilt. Angesichts der weiten Verbreitung von Drogen aller Art in unserer Gesellschaft erscheint es sinnlos, jugendmedizinische Praxen zu Missionsorten für Abstinenz zu deklarieren. Die Glaubwürdigkeitslücke in puncto Drogen ist für viele Jugendliche ohnehin schon groß genug in unserer Gesellschaft, interessante Denkanstöße dazu gibt das Buch von Günter Amendt (2003). Suchtprävention, die sich eher als Bestandteil von Gesundheitsförderung sieht und in der die Grenzen zwischen primärer und sekundärer Prävention fließend werden, ist beileibe nicht einfach. Franzkowiak und Schlömer (1993) weisen mit Recht darauf hin, dass bei der »praktischen Umsetzung des Konzeptes der Förderung von Risikokompetenz«, vielleicht sogar mit der Vokabel »Genuss« im Hinterkopf, die »unterschiedlichen Gefährlichkeiten der Substanzen« bedacht werden müssten. Am ehesten ginge das wohl noch bei Alkohol, bei Tabak schrecken die schnell und oft einsetzende starke Abhängigkeit vieler Konsumenten und der Aspekt Passivrauchen und bei illegalen Drogen oft eher die aus der Illegalität bis hin zur Kriminalisierung resultierenden als die medizinisch erfassbaren Folgen. ! Über »Safer use« sollten Teenager nicht schon im Vorfeld noch als Nichtkonsumenten informiert werden, um sie nicht erst zum Konsum zu animieren. Ganz darauf verzichten, wie es bisweilen gefordert wird, wäre ebenso kontraproduktiv.
Jugendärzte sind auch zur »Anwaltschaft« bei Fragen des Substanzkonsums von Jugendlichen aufgerufen: in der Gemeinde, in Schulen, zusammen auch mit Jugendhilfe, Suchthilfe, Elternselbsthilfeverbänden, auch regional und national. Sie müssen sich aber als Berufsgruppe gesehen noch einiges an suchtmedizinischer Kompetenz erwerben. Dazu können Weiterbildungen im Rahmen pädiatrischer Kongresse beitragen, aber auch das große Angebot an Veranstaltungen von Landesärztekammern und sonstigen Institutionen. Ein Gerüst für ein zukünftiges adoleszenzspezifisches Curriculum zum Substanzge- und -missbrauch findet sich als Modul B8 auf der Webseite des European Training in Effective Adolescent Care and Health (EuTEACH: http://www. euteach.com; 7 Kap. 45).
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37
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37
38 Kontrazeption N. Weissenrieder, B. Delisle
38.1
Kontrazeption bei Jugendlichen
. Tabelle 38.1. Lebendgeborene nach Alter – Exaktes Alter der Mütter
N. Weissenrieder )) Im Jahr 1990 schrieb ein Kollege in einem Standardwerk zur Jugendmedizin zum Thema Kontrazeption bei Jugendlichen: »Das eindeutige Ziel muss sein, eine Schwangerschaft zu verhindern. Der Arzt sollte in einem Aufklärungs- und Informationsgespräch versuchen, die Heranwachsenden zu überzeugen, dass die sicherste Kontrazeption die Abstinenz ist. Viele Jugendliche sind einer solchen Argumentation durchaus zugänglich. Besonders vor dem Hintergrund einer nur flüchtigen Bekanntschaft oder einer unsicheren Verbindung ist die Abstinenz auch der ausgewogenen seelischen Reifung förderlich.« (Peters, Jugendmedizin 1990).
Ob Jugendliche diese empfohlene Vorgehensweise für sich als hilfreich erleben, wenn sie zur Beratung einen Fachmann aufsuchen, ist zweifelhaft. Die BZgA hat in ihrer Wiederholung der Repräsentativbefragung aus 2001 zur »Jugendsexualität« festgehalten, dass der Trend für »völlig überraschenden« ersten Geschlechtsverkehr seit 1980 bis 2001 bei Jungen auf 34%, bei Mädchen auf 25% der befragten Jugendlichen wieder zunimmt. Zwei Drittel der Mädchen waren mit dem Partner des ersten Geschlechtsverkehrs fest befreundet, bei den Jungen nicht einmal die Hälfte. ! Der Anteil von Teenagerschwangerschaften (Lebendgeborene von Schwangerschaften 12–18 Jahre) ist in Deutschland seit 15 Jahren gleich hoch geblieben (. Tab. 38.1), der Anteil der legalen Abtreibungen bei Mädchen unter 18 Jahren seit 1996 kontinuierlich angestiegen (. Abb. 38.1).
Die institutionalisierten Bemühungen der Gesellschaft mit kostenloser Abgabe von hormonellen und mechanischen (IUD) Verhütungsmitteln an Mädchen bis zum vollendeten 20. Lebensjahr sowie unterschiedlichsten Beratungsangeboten auf allen Ebenen hat bisher wenig Wirkung gezeigt. . Abb. 38.1. Schwangerschaftsabbrüche bei Mädchen im Alter von 10–18 Jahren von 1996 bis 2003 (Statistisches Bundesamt Wiesbaden, 2. Juni 2004)
38
Alter der Mutter in Jahren
Lebendgeborene nach dem Alter der Mutter
15 und jünger 16 17 18 19 Unter 20
790 1915 4421 8211 13.964 29.301
2000
2001 949 2091 4407 8224 13.697 29.368
2002 1007 2155 4433 7771 12.737 28.103
Quelle: Statistisches Bundesamt Wiesbaden, 2. Juni 2004
38.1.1 Kontrazeptions- und Sexualberatung
bei Jugendlichen Die Situation des Jugendarztes bei der Beratung von Jugendlichen unterscheidet sich sicherlich von einer spezialisierten Beratungseinrichtung oder Frauenarztpraxis, die von Jugendlichen zielorientiert mit dem Wunsch nach Kontrazeptions- oder Sexualberatung aufgesucht werden. In der Jugendsprechstunde dagegen gibt es unabhängig vom Anlass des Kontaktes die Möglichkeit aufzuzeigen, dass Jugendärzte dem Körper des Jugendlichen kompetent, respektvoll und einfühlsam begegnen. Jugendärzte können diese Erfahrung übertragen auf Ihre kommunikativen Fähigkeiten und Konflikte, Belastungen, aber auch positive Ressourcen des Jugendlichen im Alltag ansprechen. Durch das Gespräch über Eltern, Freund/Freundin, Schule/Beruf, Hobbys und Sport kann eine hilfreiche beratende Beziehung aufgebaut werden, in der auch typische Adoleszentenkonflikte aufgegriffen werden können. Diese beinhalten häufig Autonomiebestrebungen gegenüber der Ursprungsfamilie und dem sozialen Umfeld, die Entwicklung einer neuen selbst bestimmten Identität sowie den permanenten Konflikt zwischen Körperideal und realem Körper. Das Gespräch mit dem Jugendlichen hat dabei unterschiedliche Funktionen. Als erstes wird ein Problem erfasst. »Du hast jetzt einen Freund? Verbringt Ihr viel Zeit miteinander?«
Alter
1996
1997
1998
1999
2000
2001
2002
2003
10 11 12 13 14 15 16 17 18
– 3 12 68 282 862 1475 2022 3026
1 2 7 64 367 915 1583 2355 3207
1 2 10 74 366 933 1643 2528 3557
6 2 7 78 374 994 1816 2456 3900
7 – 16 92 459 1085 1966 2712 3980
9 4 18 113 552 1464 2333 3112 4322
20 6 21 127 587 1446 2189 3047 4091
3 7 12 108 585 1529 2253 3148 4071
353 38.1 · Kontrazeption bei Jugendichen
Die Aufnahme einer Beziehung kann bei Jugendlichen Wünsche, Bedürfnisse, Ängste und Probleme auslösen. In dem Gespräch muss sich der Arzt bemühen, die Probleme der Jugendlichen zu verstehen und sich ein Bild über Hintergründe, soziales Umfeld usw. machen. Dies wird durch eine unterstützende emotionale Beziehung zwischen Arzt und Jugendlichen erleichtert, bei der der bzw. die Jugendliche das Gefühl hat angenommen zu werden: »Wie geht es dir mit deinem Freund? Wie fühlst du dich? Wie stehen deine Eltern zu deinem Freund? Was sagen deine Freundinnen?« Nach der Problemerfassung ist es wichtig zu klären, ob in der weiteren Beratung gemeinsame Zielvorstellungen bestehen. Für die Jugendliche könnte z. B. die konkrete Frage nach einer sicheren Verhütungsmethode als Ziel des Gespräches stehen, für den Arzt könnte die selbst bestimmte, nicht von Normen oder Gruppenkonformität geregelte, sexuelle Entwicklung der Jugendlichen stehen: »Was ist dir wichtig zu besprechen? Welche Gedanken gehen in dir vor? Hast du dir schon Gedanken gemacht, was du machst, wenn du mit ihm schlafen willst?« Als gemeinsames Ziel kann der Schutz vor ungewollter Schwangerschaft und sexuell übertragbaren Erkrankungen genauso definiert werden wie die Sicherung der Entfaltung einer selbst bestimmten Sexualität oder der Schutz vor sexuellen Übergriffen. Das weitere Gespräch dient zum einen der Hinterfragung des aktuellen Wissenstandes und der subjektiven Vorstellungen: »Welche Verhütungsmittel hast du schon angewandt, welche Schwierigkeiten sind aufgetreten? Welche Verhütungsmittel kommen für dich in Frage? Was weißt du über deinen Zyklus?«, zum anderen dient es der Informationsvermittlung und es können problemorientierte Informationen weitergegeben werden: »Der Eisprung findet in einem regelmäßigen Zyklus um den 14. Tag statt. Du musst noch wissen, wie lange Samenfäden und Eizellen leben können, damit du weißt, auf welche Fakten sich z. B. natürliche Empfängnisverhütung bezieht.« »Ihr müsst darauf achten, dass Eure Fingernägel keine Einrisse haben, damit Ihr das Kondom beim Abrollen nicht beschädigt.« Gemeinsam können in einem Beratungsprozess verschiedene Wege zur Problemlösung »erarbeitet« werden und auf ihre möglichen Vorund Nachteile im vorhinein überprüft werden sowie Entscheidungen in konkrete Handlungsmuster überführt werden: »Wie kannst du sicherstellen, dass du regelmäßig zu selben Zeit Temperatur misst, um eine Temperaturkurve anzulegen? Wie kannst du für dich die regelmäßige, stundengenaue Einnahme von Tabletten lösen? Wo könntest du das Kondom aufbewahren, damit die Hülle nicht beschädigt wird?« Dieses Gespräch kann in jedem Setting in der Jugendarztpraxis stattfinden. Der Zeitrahmen kann dabei individuell zwischen 10–15 Minuten variieren. Manchmal muss die jeweilige Situation für ein Gespräch unmittelbar genutzt werden, wenn eine angenehme Stimmung mit hoher Emotionalität vorliegt. Jugendliche zeigen aber auch Verständnis, wenn ein weiteres Gesprächsangebot mit einem klaren Konzept und Termin angeboten wird. Diese Beratungssituation ist nicht vergleichbar mit einer umfassenden Beratung bei einer jugendgynäkologischen Erstuntersuchung, die bei optimalen Bedingungen durch eine geschulten Jugendgynäkologen erfolgen soll. 38.1.2 Hormonelle Verhütungsmittel Für eine kompetente Beratung der Jugendlichen zur Kontrazeption ist es notwendig, die unterschiedlichen Methoden und ihre
38
spezielle Anwendung bei Jugendlichen zu kennen. Für den Jugendmediziner ist es nicht notwendig, eine kompetente jugendgynäkologische Untersuchung durchzuführen. Entscheidend für die jugendmedizinische Praxis ist die Kooperation mit einem Frauenarzt, der mit den speziellen medizinischen Fragestellungen bei Jugendlichen vertraut ist, psychosoziale Faktoren in der Entwicklung Jugendlicher kennt und über die notwendige Beratungskompetenz verfügt, die Jugendlichen unterstützt mit ihren Problemen eigenständig und selbstverantwortlich umzugehen. Gelegentlich kann es auch in der jugendmedizinischen Praxis notwendig sein, orale Kontrazeptiva zu verordnen z. B. bei der sog. »Pille danach«. ! Vor der Verordnung von hormonalen Verhütungsmittel muss eine sorgfältige Anamnese erhoben werden.
Bei der Eigenanamnese betrifft dies bei Jugendlichen vorwiegend den Konsum von Nikotin (Nikotin >20 Zigaretten/Tag steigert das Thromboserisiko), Alkohol (Zunahme von Geschlechtsverkehr bei Jugendlichen unter Alkoholkonsum) und Adipositas. Selbstverständlich müssen chronische Erkrankung wie z. B. Diabetes, Hypertonus oder aufgetretene thromboembolische Erkrankungen erfragt werden. Größere Bedeutung hat bei Jugendlichen die Familienanamnese. Dabei sind einzelne »positive Ereignisse« von ungewöhnlichen Thrombosefällen vor dem 50. Lebensjahr (Herzinfarkt, Lungenembolie, Hirninfarkt usw.) oder eine Häufung von Thrombosefällen, die nicht auf Grund des Alters oder schwerer Erkrankungen erklärbar sind, nach dem 50. Lebensjahr in der engeren Verwandtschaft (Eltern, Großeltern, Geschwister, Onkel, Tanten) ein Hinweis für eine mögliche thrombophile Diathese.
Tipp Fragen wie »Leben von deinen Verwandten noch alle?« »Wie alt waren sie, als sie gestorben sind?« »Sind sie unerwartet gestorben?« helfen, die Zahl der lebenden engeren Verwandten und deren Lebensalter zu erfassen.
Bei einer positiven Familienanamnese sollte auch bei einer Notfallkontrazeption (Pille danach) eine weitere diagnostische Abklärung erfolgen. Dabei handelt es sich vor allem um die FaktorV-Leiden-Mutation (APC-Resistenz), einen Inhibitormangel (AT III-, Prot-C- und Prot-S-Mangel) sowie um die Prothrombinmutation. Eine generelle Abklärung ohne anamnestisch bekannte Risiken ist nicht sinnvoll. ! Die Beratung zur Verordnung hormoneller Kontrazeptiva bei Jugendlichen muss zusätzlich deren spezifische Lebenssituation berücksichtigen. Dabei muss die Herkunftsfamilie, die Schulbildung, die Einbindung in Peergroups, das Wissen um Sexualität und Verhütung, der soziale Status und das persönliche individuelle Verhalten (zuverlässig, schusselig, chaotisch, penibel) berücksichtigt werden. Auch das Stadium der momentanen Beziehung (Beginn einer Beziehung, feste Beziehungen, lose Bekanntschaften, One-night-stands, Trennungssituationen) muss bei der Beratung berücksichtigt werden.
Von besonderer Bedeutung ist es immer wieder darauf hinzuweisen, dass alle kontrazeptiven Maßnahmen mit Ausnahme des Kondoms keinen sicheren Schutz vor sexuell übertragbaren Er-
354
Kapitel 38 · Kontrazeption
krankungen darstellen. Die sichere Verhütung von Schwangerschaften und übertragbaren Erkrankungen wird nur durch die Anwendung von Kondomen und hormonellen, mechanischen oder lokalen Verhütungsmethoden gewährleistet (Double dutchMethode). Hormonelle Kontrazeption Alle hormonellen Kontrazeptiva (auch Notfallkontrazeption oder teure Kontrazeptiva wie Implanon, Vaginalring usw.) müssen bei Jugendlichen bis zum 20. Lebensjahr, die in einer gesetzlichen Krankenkasse versichert sind, auf ein Krankenkassenrezept verordnet werden. Ab dem 18. Lebensjahr besteht für Jugendliche nach der neuen Gesetzeslage (GMG 01.01.2004) eine Zuzahlungspflicht für rezeptpflichtige Medikamente wie z. B. hormonelle Kontrazeptiva. Außerdem muss bei Jugendlichen ab dem 18. Lebensjahr die sog. »Praxisgebühr« vor Erbringung jeglicher Kassenleistung erhoben werden. Ab dem 20. Lebensjahr werden kontrazeptive Mittel nur auf Kosten der Patienten rezeptiert. ! Kontrazeptiva für Jugendliche sollten kostenfrei bzw. möglich kostengünstig sein, eine hohe Sicherheit haben, sicher in der Anwendung sein sowie möglichst wenig Nebenwirkungen aufweisen.
Es ist sinnvoll, bereits bei der Beratung mögliche Nebenwirkungen sowie deren Bedeutung zu antizipieren, damit die Compliance erhöht wird. Dies gilt insbesondere für Zwischenblutungen, Gewichtszunahme, Verminderung der Libido, Übelkeit, Kopfschmerzen usw. (7 FAQ’s). Kombinationspräparate Systemische Kombinationspräparate (Mikropille)
38
Für Jugendliche ohne Risikofaktoren sind niedrigdosierte Kombinationspräparate (21 Tage Einnahme, 7 Tage Einnahmepause) gut geeignet. Der Ethinylestradiolanteil (verantwortlich für die Zyklusstabilität) beträgt dabei zwischen 0,01–0,035 mg. Entsprechend dem Gestagenanteil (Gestagen der 2. bzw. 3. Generation) können »erwünschte« Nebenwirkungen erzielt werden (. Tab. 38.2). Ein Gestagen mit einer antiandrogenen Partialwirkung verbessert z. B. Akne oder Seborrhoe. Gestagene mit einer androgenen Partialwirkung können z. B. bei Auftreten von depressiven Verstimmungen angewandt werden. Gestagene mit einer antimineralokortikoiden Partialwirkung können die Beschwerden eines prämenstruellen Syndroms verbessern. Die Kombinationspräparate werden als Einphasen-, Zweiphasen- oder Dreiphasenpräparate eingesetzt. Durch die sequentielle Erhöhung der Dosis von Östrogenen oder Gestagenen können unerwünschte Blutungen im Zyklus reduziert werden, die bei niedrigdosierten Kombinationspräparaten (Ethinylestradiol <0,02 mg) auftreten können. Bei jungen Mädchen mit einer eingeschränkten Compliance bei der zeitlich exakten Einnahme von Medikamenten ist eine Östrogendosis von 0,03 mg Ethinylestradiol sinnvoll, um eine Zyklusstabilität zu gewährleisten. Primär ist der Einsatz eines Präparates mit einer neutralen Wirkung anzustreben. Weitere »vorteilhafte« Nebenwirkungen sind eine Verminderung der Dysmenorrhoe (Regelschmerzen), eine Verminderung der Menorrhoe (Blutungsstärke), eine Stabilisierung des Zyklus sowie eine Reduzierung benigner Brustveränderungen. Alle gestagenhaltigen Präparate führen zu einer
Veränderung des zervikalen Schleims und reduzieren das Risiko aufsteigender Infektionen im Genitalbereich. Als weitere positive Nebenwirkung wird von Jugendlichen die medikamentöse Anpassung des Zyklus an ihre Bedürfnisse genutzt, z. B. Durchnahme der Pille über 2 Zyklen ohne Pause im Urlaub, Aufheben der Menstruationsblutung. Bei persistierenden zyklusabhängigen Beschwerden wie z. B. Cephalgien während der Pillenpause können Langzeitzyklen über 4–6 Monate, d. h. eine kontinuierliche Einnahme einer monophasischen Östrogen/Gestagen-Pille, eine mögliche Therapieoption darstellen. Diesen positiven Wirkungen steht die regelmäßige Einnahme für jeweils 21 Tage im Zyklus sowie das Gefühl dem Körper regelmäßig »etwas von außen« zuzuführen gegenüber. Diese Beeinträchtigung kann dazu führen, dass Jugendliche bei nicht sorgfältiger Beratung Pillen vergessen oder aus emotionalen Beweggründen die Pilleneinnahme beenden. Lokale Kombinationspräparate Vaginalring
Seit 2003 ist ein flexibler Vaginalring (NuvaRing) zur Kontrazeption zugelassen, aus dem täglich 0,12 mg eines Gestagens sowie 0,015 mg Ethinylestradiol freigesetzt werden. Der Ring wird von der Jugendlichen nach Anleitung in der jugendgynäkologischen Praxis selbstständig eingesetzt und bleibt für 21 Tage in der Vagina. Zwischen den Anwendungszyklen besteht ein 7-tägiges ringfreies Intervall. Der eingelegte Ring wird von den meisten Jugendlichen (<2%) nicht bemerkt und kann auch bei vaginalen Verkehr in der Scheide verbleiben (kurzfristige Entfernung für 3 Stunden ist möglich). Der Vorteil für Jugendliche besteht in der nur einmaligen Applikation im Zyklus sowie in der Verminderung gastrointestinaler Nebenwirkungen (Übelkeit). Nachteilig wird von Jugendlichen ein verstärkter Ausfluss, Akne und Gewichtszunahme erlebt. Hormonpflaster
Seit 2003 ist ein transparentes lokal auf die Haut applizierbares Pflaster zur Kontrazeption zugelassen (EVRA), aus dem täglich 0,15 mg eines Gestagens sowie 0,02 mg Ethinylestradiol freigesetzt werden. Das Pflaster wird von der Jugendlichen 3 Wochen lang jeweils für 7 Tage im Bereich Bauch, Gesäß oder Rumpf aufgeklebt. Zwischen den Anwendungszyklen besteht ein 7-tägiges pflasterfreies Intervall. Die Absorption der freigesetzten Hormone wird durch einen Aufenthalt in Wasser oder Sauna nicht beeinträchtigt. Der korrekte Sitz des Pflasters muss aber täglich kontrolliert werden. Die Akzeptanz bei Jugendlichen ist sowohl durch die für andere bestehende »Sichtbarkeit« als auch mögliche lokale Hautreaktionen eingeschränkt. Gestagenpräparate Gestagenpille (Minipille)
Die sog. Minipillen enthalten nur Gestagene, führen nicht zu einer Gerinnungsaktivierung und sind nicht mit Thrombosen assoziiert, können aber eine vasokonstriktorische Wirkung zeigen. Die Minipillen müssen kontinuierlich ohne Pause eingenommen werden. Der Einnahmezeitpunkt darf zur kontrazeptiven Sicherstellung nur +/–1,5 Stunden des tägliches Einnahmezeitpunkte variieren, mit Ausnahme von Desogestrel-haltigen Präparaten, die das gleiche Sicherheitsfenster wie herkömmliche Ovulationshemmer aufweisen. Der Vorteil der Minipillen liegt in der geringen Beeinflussung des Stoffwechsels und der kontinuierlichen
355 38.1 · Kontrazeption bei Jugendichen
38
. Tabelle 38.2. Kombinationen mit Ethinylestradiol
Präparat
Ethinylestradiol
Desogestrel
Phasen
Partialwirkung
Desmin 20
0,02 mg
0,15 mg
1-phasig
Lamuna 20 Lovelle
0,02 mg 0,02 mg
0,15 mg 0,15 mg
1-phasig 1-phasig
Keine androgenen Partialwirkungen, neutral, niedrige Östrogendosis Dito Dito
Desmin 30
0,03 mg
0,15 mg
1-phasig
Normale Östrogendosis
Marvellon
0,03 mg
0,15 mg
1-phasig
Dito
Femovan
0,03 mg
0,075 mg Gestoden
1-phasig
Dito
Ethinylestradiol
Levonorgestrel
Phasen
Leios
0,02 mg
0,1 mg
1-phasig
Miranova
0,02 mg
0,100 mg
1-phasig
Minimale androgene Partialwirkung, neutral, geringe Östrogendosis Dito
Minisiston Femigoa
0,03 mg 0,03 mg
0,125 mg 0,150 mg
1-phasig 1-phasig
Normale Östrogendosis Dito
Ethinylestradiol
Norethisteron
Phasen
EVE 20
0,02 mg
0,5 mg
1-phasig
Antriebssteigernd, psychotrope Wirkung, geringe Östrogendosis
Conceplan M
0,03 mg
0,5 mg
1-phasig
Normale Östrogendosis
Ethinylestradiol
Drospirenon
Phasen
Petibelle
0,03 mg
3 mg
1-phasig
Antimineralkortikoide Partialwirkung, antiandrogene Partialwirkung
Yasmin
0,03 mg
3 mg
1-phasig
Dito
Ethinylestradiol
Antiandrogen
Phasen
Diane
0,035 mg
2 mg Cyproteronacetat
1-phasig
Gute antiandrogene Partialwirkung
Valette
0,03 mg
2 mg Dienogest
1-phasig
Normale Östrogendosis
Ethinylestradiol
Gestagen
Phasen
Neo-Eunormin
0,05 mg
2-phasig
Hohe Östrogendosis, gute antiandrogene Partialwirkung
Biviol
0,04 mg (7T.) 0,03 mg (15T.)
1 mg (11T.) 2 mg (11T.) Chlormadinonacetat 0,025 mg (7T.) 0,125 mg (15T.) Desogestrel
2-phasig
Neutrale Wirkung, höhere Östrogendosis
Oviol
0,05 mg (6T.) 0,05 mg (15T.)
2-phasig
Neutrale Wirkung, höhere Östrogendosis
0,125 mg (15T.) Desogestrel
Ethinyestradiol
Gestagen
Phasen
Trigoa
0,03 mg (6T.) 0,04 mg (5T.) 0,03 mg (10T.)
0,05 mg (6T.) 0,075 mg (5T.) 0,125 mg (10T.) Levonorgestrel
3-phasig
Gute Zyklusstabilität, neutral, normal bis höhere Östrogendosis
Pramino
0,035 mg (7T.) 0,035 mg (7T.) 0,035 mg (7T.)
0,180 mg (7T.) 0,215 mg (7T.) 0,250 mg (7T.) Norgestimat
3-phasig
Gute Zyklusstabilität, neutral, normale Östrogendosis
356
Kapitel 38 · Kontrazeption
Einnahme. Zwischenblutungen, Tempoanomalien sowie die hohe Einnahmedisziplin verringern die Akzeptanz bei vielen gesunden Jugendlichen. Depot-Gestagene
Depot-Gestagene stehen in Form von kurzfristig anwendbaren Präparaten (Dreimonatsspritze) und langfristig anwendbaren Präparaten (Hormonimplantat für 3 Jahre) zur Verfügung. Der Nutzen liegt in der sehr hohen Effizienz zur Verhütung von Schwangerschaften und Minderung von Dysmenorrhoen und prämenstruellem Syndrom. Die Anwendung ist vor allem bei Risikojugendlichen mit sozialen Belastungen (Zustand nach Schwangerschaften, auffälliges Sozialverhalten, instabiles Umfeld, Drogen- oder Alkoholmissbrauch, Unzuverlässigkeit in der Pilleneinnahme), aber auch bei medizinischer Indikation (geistige Behinderung mit fehlender Kontrollmöglichkeit oraler Einnahme, Nikotinabusus mit erhöhten thrombembolischen Risiken) sinnvoll. Als Nachteile gelten Zyklusstörungen von Amenorrhoe bis Menometrorrhagien (zu häufige und irreguläre Blutungen). 38.1.3 Mechanische Kontrazeption Kondom Das Kondom ist das Verhütungsmittel beim ersten Mal. Laut der BZgA-Studie von 2001 nutzen 63% (Pille 33%) der Mädchen und 65% der Jungen Kondome. 9 von 10 Jugendlichen haben bereits Kondome verwendet (. Abb. 38.2). Das Kondom ist eine 0,02 mm dünne Gummihülle aus Latex. Bei einer Latexallergie können Kondome aus Polyurethan als etwas teurere Alternative verwendet werden. Markenkondome (Qualitätssiegel z. B. CE-Nummer) werden in der Regel in einer Standardgröße verkauft, sind aber per Versand in unterschiedlichen Größen (kürzer, länger, größerer Durchmesser) erhältlich. Kondome sind fast überall erhältlich und kosten ca. 50 Cent pro Stück. Nur Kondome schützen vor ungewollter Schwangerschaft sowie sexuell übertragbaren Krankheiten und Aids. Auf Grund der Länge und des Durchmessers des erigierten Penis bei jungen Männern (Länge 10–19 cm, Durchschnitt 14,48 cm, Durchmesser an der Penisbasis 3–5 cm, Durchschnitt 3,95 cm) ist zu erwarten, dass knapp 20% der Jungen bei dem Gebrauch von Nor-
malkondomen Schwierigkeiten mit dem sicheren Halt bekommen. ! Kondome nicht mit fetthaltigen Gleitmitteln, Cremes oder fetthaltigen, chemischen Verhütungsmitteln zusammen verwenden. Fett läst Kondome undicht werden. Kondome nicht in der Hitze liegenlassen. Haltbarkeitsdatum beachten. Bei der Anwendung der Kondome keine Ringe an den Fingern tragen und Nägel pflegen.
Das Kondom muss richtig auf den erigierten Penis aufgesetzt werden: Das Samenreservoir des Kondoms wird mit 2 Fingern gehalten, mit der Rolle nach außen nach unten abgerollt. Exaktes Festhalten des Kondoms beim Zurückziehen des Penis aus der Scheide und Waschen der Hände. Über die Sicherheit bei der Anwendung von Kondomen liegen unterschiedliche Angaben vor (Versagerrate 1–10%). Leider wird das Kondom gerade bei der Kontrazeptionsberatung nicht mit der gleichen Sorgfalt in der praktischen Handhabung beschrieben, wie z. B. die Einnahme oraler Kontrazeptiva. Das auch gemeinsame Gespräch mit dem Partner in der Jugendsprechstunde kann bei Verfügbarkeit von Kondomen in der Praxis (Kondomeria als »Take Home Message«) dazu beitragen, dass diese Methode von den Jugendlichen partnerschaftlich korrekt angewandt wird. Barrieremethoden Diaphragma, Portiokappe, Femidom (Kondom für die Frau) werden von Jugendlichen nur selten angewandt. In Einzelfällen können diese Verfahren bei individueller Motivation und exakter Einweisung mit gutem Erfolg eingesetzt werden. Intrauterinpessar (IUP) Die Anwendbarkeit von IUPs bei Jugendlichen wird unterschiedlich beurteilt. Dies betrifft zum einen die Infektionsgefahr durch aufsteigende Infektionen (PID – Pelvic inflammatory disease) mit sexuell übertragbaren Erregern (7 Kap. 39), zum anderen die Einsetzbarkeit des IUPs in die Gebärmutter, die bei nulliparen Frauen erschwert sein soll. Nach der aktuellen Literatur ist die Gefahr einer Aszension bei stabilen Partnerbeziehungen nicht erhöht. Bei Anwendung einer »Hormonspirale« (IUP mit kontinuierlicher Gestagenfreisetzung) ist das Risiko einer PID eher vermindert. IUPs sind daher als Langzeitkontrazeptivum (IUP 3 Jahre, IUP mit Hormonen 5 Jahre) bei entsprechen-
38
6
2
chem. Verhütungsmittel
Pille
26
26
Koitus interruptus
Kondom
10
10
Knaus-Ogino
86
93 77
71
Spirale
4
1
Diaphragma
3
0
100 80 60 Angaben in %
40
Jungen Mädchen
20 0 20 40 60 80 100 Selektion: Mädchen und Jungen mit mehrmaligem GV
Quelle: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung nach EMNID-Umfrage
. Abb. 38.2. Erfahrungen mit verschiedenen Verhütungsmitteln. (BZgA, Jugendsexualität 2000)
357 38.1 · Kontrazeption bei Jugendichen
38
der Indikation geeignet. Intrauterinspiralen sind heute in verschiedenen Größen verfügbar und individuell der Uterusgröße anzupassen. Der Vorteil liegt für Jugendliche in der einmaligen Applikation, die unter adäquater Analgesie bei regelrechten anatomischen Verhältnissen ohne Komplikationen durchführbar ist, der hohen Verhütungseffizienz und der langen Liegedauer. Die Nachteile vor allem bei kupferhaltigen Spiralen sind Blutungsstörungen und Dysmenorrhoen.
kenpflichtig und damit der unkomplizierte Zugang (z. B. in der Schule) erschwert. Die Pille danach wird als Monopräparat (Gestagen; z.B. Duofem 2-mal 1 Tablette, gleichzeitig oder im maximalen Abstand bis 12 Stunden) so schnell wie möglich (maximal <72 Stunden) verordnet, da die kontrazeptive Sicherheit mit ansteigendem Zeitintervall abnimmt. Es ist wichtig, die Nebenwirkungen und ihren Einfluss auf die Wirksamkeit vorab zu besprechen wie z. B. Übelkeit, Erbrechen, Blutungsstörungen.
38.1.4 Chemische Kontrazeption, natürliche
! Die Verschreibung einer Notfallkontrazeption ist verbunden mit einer ausführlichen Beratung über Risiken bei ungeschütztem Geschlechtsverkehr mit Schwangerschaft und sexuell übertragbaren Erkrankungen.
Kontrazeption Lokal in die Vagina applizierbare spermatizide Cremes, Schwämme, Ovula stellen für Jugendliche keine sichere und einfach zu handhabende Verhütungsmethode dar. Das gleiche gilt für symptothermale Methoden, bei der Körpertemperaturveränderungen, Zervixschleimveränderungen und Muttermundveränderungen beobachtet werden. Der sog. »Coitus interruptus« spielt als Verhütungsmittel bei Jugendlichen keine wesentliche Rolle. Im Beratungsgespräch ist es von besonderer Bedeutung darauf hinzuweisen, dass diese Methode ein hohes Risiko einer Schwangerschaft hat. Dem Spruch »Ich pass schon auf« sollte kein Mädchen vertrauen. 38.1.5 Notfallkontrazeption (Pille danach) Die Notfallkontrazeption sollte in einer echten Notfallsituation (z. B. ungeschützter Geschlechtsverkehr) nach sorgfältigem Erheben einer Eigen- und Familienanamnese und Ausschluss einer Schwangerschaft (SS-Test Urin) auch in der jugendärztlichen Sprechstunde durchgeführt werden. Der Terminus »Notfallkontrazeption« ist dabei irreführend, da die Konzeption bereits erfolgt ist und die Nidation der eventuell befruchteten Eizelle verhindert wird. Die Verordnung erfolgt bis zum vollendeten 20. Lebensjahr zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung. Die »Pille danach« ist in Deutschland im Moment noch rezept- und apothe-
In der Gynäkologie kann als Notfallkontrazeption bis zu 7 Tagen postkoital eine Intrauterinspirale eingelegt werden. 38.1.6 Die Pille für den Mann Die »Pille« für den Mann befindet sich derzeit noch im klinischen Versuchsstadium mit freiwilligen Probanden. In den letzten 40 Jahren gab es immer wieder Versuche, auch für den Mann eine Verhütungspille anzubieten. Trotzdem ist es bisher noch nicht gelungen, ein entsprechendes Produkt auf den Markt zu bringen. Neben medizinischen Gründen war früher die Bereitschaft der Männer, in dieser Weise selber für die Verhütung zu sorgen, nicht sehr ausgeprägt und Verhütung gilt in unserer Gesellschaft primär als Sache der Frau. Diese Einstellung hat sich in den letzten Jahren verändert, so dass heute einem derartigen Produkt entsprechende Marktanteile eingeräumt werden. Am weitesten entwickelt ist eine injizierbare Kombination aus Testosteron und Norethisteron, die alle 6–10 Wochen wiederholt werden muss. Die Anwendung bei Jugendlichen ist von verschiedenen Faktoren wie dem abgeschlossenen Größenwachstum und der kompletten Hodenentwicklung abhängig. 38.1.7 FAQ´s (Frequently asked questions)
. Tabelle 38.3. Frequently asked questions Wachstum »Beeinflusst die Pille die Längenentwicklung?«
Bei den heute angewandten Mikropillen mit einer Ethinylestradiolmenge von <0,035 mg ist eine Beeinflussung des Längenwachstums nach der Menarche nicht zu befürchten
Gewicht »Nehme ich unter der Pille zu?«
Unter der Pille gibt es wie auch ohne Pille zyklische Gewichtsschwankungen. Der »Appetit« ist in der Mitte des Zyklus und prämenstruell verstärkt. Moderne Gestagene wie Drospirenon wirken gewichtsneutral
Pillenpause »Muss ich mit der Pille nicht mal eine Pause machen?«
Eine Pillenpause ist nicht erforderlich, sondern führt zu ungewünschten Schwangerschaften. Wenn für einen längeren Zeitraum (3 Monate) keine Verhütung notwendig ist, kann die Pille ab- und angesetzt werden
»Bin ich in den Tagen, in denen ich keine Pille nehme, auch sicher?«
Die kontrazeptive Sicherheit besteht auch in den pillenfreien Tagen. Eine Verkürzung oder Verlängerung des Zyklus durch Weglassen oder Weiternehmen von Pillen ist möglich. Eine Verlängerung des einnahmefreien Intervalls von 7 Tagen beeinträchtigt die Sicherheit
358
Kapitel 38 · Kontrazeption
. Tabelle 38.3 (Fortsetzung) Pille vergessen
s. . Tab. 38.4
Übelkeit »Mir wird so schlecht nach der Pilleneinnahme!«
Die Pilleneinnahme sollte kurz vor der Nachtruhe erfolgen
Medikamenteneinnahme »Ich muss ein Antibitikum nehmen, wirkt jetzt meine Pille noch?«
Die Sicherheit von hormonellen Kontrazeptiva kann durch die zeitgleiche Einnahme von anderen Medikamenten herabgesetzt werden. Ebenso kann die Wirkung anderer Medikamente durch hormonelle Verhütungsmittel abgeschwächt oder verstärkt werden. Es ist daher wichtig, den behandelnden Ärzten alle Medikamente mitzuteilen, die regelmäßig eingenommen werden
Fertilität »Kann ich noch schwanger werden, wenn ich die Pille längere Zeit nehme?«
Es ist mit keiner langfristigen Beeinträchtigung der späteren Fertilität zu rechnen. Unregelmäßige, anovulatorische Zyklen können, wenn sie vor der Einnahme bestanden haben, nach Absetzen wieder auftreten
Periodenschmerzen »Ich habe schreckliche Regelschmerzen!«
Die Periodenschmerzen werden mit der Pille nach wenigen Einnahmezyklen deutlich gebessert
Zwischenblutungen »Ich habe immer wieder Schmierblutungen!«
Bei den ersten Pillenzyklen kann es zum Auftreten von Schmierblutungen oder prä- bzw. postmenstruellen Blutungsstörungen kommen. Sollte sich die Beschwerden nach 6 Zyklen nicht normalisiert haben, ist die Umstellung auf ein Sequenzpräparat sinnvoll. Der kontrazeptive Schutz ist gewährleistet
Magen-Darm-Erkrankung »Ich habe eine schlimme Magen-Darm-Grippe, wann wirkt die Pille nicht mehr?«
Kommt es <3 Stunden nach der Einnahme zu Erbrechen oder rezidivierenden Enteritiden, kann die Resorption in der Magen-Darm-Passage vermindert sein. Es ist sinnvoll, ein zusätzliches mechanisches Kontrazeptivum anzuwenden
Karzinome »Kann die Pille Krebs auslösen?«
Vermutete Risiken bestehen für Zervix- und Mammakarzinom. Die Entstehung eines Zervixkarzinoms ist u. a. abhängig von Sexualverhalten und Infektionen (HPV assozierte Neoplasien – CIN) sowie Nikotinabus. Orale Kontrazeptiva initiieren keine Mammakarzinome. Die Risikoerhöhung ist äußerst gering. Daraus aber resultiert die Forderung, dass sexuell aktive Jugendliche mit hormonaler Kontrazeption regelmäßig alle 6 Monate zu einer Vorsorgeuntersuchung einschließlich PAP-Abstrichkontrolle gehen sollen
Kopfschmerzen
38
»Ich kriege immer so Kopfweh mit der Pille«
Das erstmalige Auftreten von starken Kopfschmerzen oder einer Migräne muss zu einer weiteren differentialdiagnostischen Abklärung und u. U. Wechsel auf ein mechanisches Kontrazeptivum führen. Nur in dem hormonfreien Intervall auftretende Kopfschmerzen können mit einem zusätzlichen Östradiol in der Pillenpause bzw. kontinuierlicher Hormoneinnahme behandelt werden
Libido, Erregbarkeit
Bei der Anwendung von hormonellen Kontrazeptiva mit einer antiandrogenen Partialwirkung kann es zu Störungen in der Libido kommen, die durch eine neutrale Hormongabe sistieren. Auch emotionale Störungen können zu einer Beeinträchtigung der Libido führen
359 38.2 · Kontrazeption bei behinderten und chronisch kranken Jugendlichen
38
Pille vergessen? . Tabelle 38.4. Kontrazeptive Sicherheit – Pille vergessen, was tun? Einnahme weniger als 12 Stunden verzögert
Nur die vergessene Pille einnehmen
Einnahme von einer Pille zwischen 12 und <24 Stunden verzögert
Die vergessene Pille einnehmen, restliche Pillen wie üblich weiter nehmen. Für den restlichen Zyklus zusätzliche Kontrazeption, z. B. Kondom, anwenden
Einnahme einer oder mehrerer Pillen, mehr als 24 Stunden verzögert
Vergessene Pillen nicht mehr nehmen, restliche Pillen wie üblich weiter nehmen. Für den Rest des Zyklus zusätzliche Kontrazeption z. B. Kondom anwenden
Wenn die Packung nach der letzten vergessenen Pille 7 oder noch mehr Tabletten enthält
Nächste Pillenpackung nach 7-tägiger Pillenpause normal verwenden
Wenn die Packung nach der letzten vergessenen Pille weniger als 7 Tabletten enthält
Nächste Pillenpackung ohne Pillenpause anschließen
Literatur BZgA, Jugendsexualität, Wiederholungsbefragung von 14- bis 17-Jährigen und ihren Eltern, Ergebnisse der Repräsentativbefragung von 2001 Kamischke A (2003) Kontrazeption des Mannes. Korasion, 10. H.U.F. Keck, Neulen, Breckwoldt (1997) Endokrinologie, Reproduktionsmedizin, Andrologie. Thieme Kuhl, Jung-Hoffmann (1999) Kontrazeption. Thieme Merki G (2002) Hormonale Kontrazeption, Was gibt es Neues. Gynäkologie und Geburtshilfe 5, Urban & Vogel Profamilia, LV NRW und Universitätsklinik Essen, Penismaße junger Erwachsener und älterer Männer, 2003 Seitzer D (2003) Die Entwicklung der Brust und ihre Störungen in Kinderund Jugendgynäkologie. Esser-Mittag, Wolf, 2. Auflage. Schattauer Turner L (2003) Contraceptive efficacy of a depot progestin and androgen combination in men. J.Clin.Edocrinol.Meatb 88: 4659–67 Weissenrieder N (2003) Jugendgynäkologie in der Praxis, Gynäkologische Praxis 4
38.2
Kontrazeption bei behinderten und chronisch kranken Jugendlichen
B. Delisle )) Durch die Fortschritte der Medizin erreichen immer mehr Kinder und Jugendliche mit chronischen Krankheiten und Behinderung das Erwachsenenalter, die früher schon im Kindesalter verstorben wären. Die Bemühungen der Eltern richten sich auf möglichst gute körperliche und geistige Förderung. Die Sexualaufklärung und die damit verbundene Beratung über Schwangerschaftsverhütung wird aber bei vielen chronisch kranken oder behinderten Jugendlichen vernachlässigt, ja sogar teilweise negiert. Neben dem verantwortungsvollen Umgang mit der Verhütung sind die Aspekte der Störung und Erhaltung der Fruchtbarkeit, Vorbeugung gegen Genitalinfektionen, gesundheitsbewusstes Verhalten und die Entwicklung und Entfaltung einer selbstbestimmten Sexualität auch bei behinderten Jugendlichen zu beachten. Eine umfassende Sexualerziehung ist ein wichtiger Schutz gegen Grenzüberschreitungen und sexuelle Gewalt.
Die Auswahl der Verhütungsmittel richtet sich nach den gleichen Kriterien wie bei allen Jugendlichen, muss aber je nach Krankheitsbild, Behinderungsgrad und psychischen Besonderheiten variiert werden. Als Mittel erster Wahl ist zunächst die Verhütung mit Ovulationshemmern (im weiteren Verlauf OH) als relativ sichere, risikoarme und gut akzeptierte Kontrazeption in Erwägung zu ziehen. Dabei spielen bei behinderten und chronisch kranken Jugendlichen besonders die Begleitmedikamente eine Rolle, da durch pharmakologische Interaktionen (z. B. Enzyminduktion in der Leber, Störung des entero-hepatischen Kreislaufs) die Wirkung der OH abgeschwächt oder die Wirkung der anderen Medikamente verändert werden kann. 38.2.1 Geistige Behinderung Wenn geistig behinderte Mädchen ins geschlechtreife Alter kommen, haben die Eltern oft Angst, dass eine ungewollte Schwangerschaft eintritt. Das führte in den Jahren vor der Neufassung des § 1631c BGB vom Jahre 1992 dazu, dass möglichst vor Erreichen der Volljährigkeit viele dieser Mädchen prophylaktisch, d. h. ohne dass schon sexuelle Aktivität vorhanden war, sterilisiert wurden. ! Seit 1992 verbietet § 1631c BGB grundsätzlich die Sterilisation von Minderjährigen. Das Verbot gilt für medizinisch nicht indizierte Sterilisationen unabhängig davon, ob die oder der Minderjährige bzw. die Sorgeberechtigten in den Eingriff einwilligen oder nicht.
Auch wenn geistig behinderte Frauen zum Großteil nicht in der Lage sind, Kinder aufzuziehen, so ist doch die Sterilisation ein schwerer Eingriff in die Persönlichkeitsrechte, führt zu psychischer Belastung der Betroffenen und stellt sicher keinen Schutz vor Missbrauch dar. Bei der Wahl des Verhütungsmittels muss die Einwilligungs- und mögliche Einsichtsfähigkeit überprüft werden. OH sind bei Lernstörungen und geringgradiger geistiger Behinderung gut geeignet, wenn keine Kontraindikationen bestehen. Es ist erstaunlich, wie Jugendliche mit Down Syndrom gewissenhaft ihre Pille einnehmen. Sie fühlen sich damit oft mehr gleichwertig gegenüber den anderen Mädchen in ihrem Alter. Die Zusatznutzen der OH wie regelmäßige Periodenblutung, Verminderung der Periodenschmerzen und weniger Akne können von Vorteil sein. Bei höhergradiger geistiger Behinderung bedarf es der genauen Assistenz, d. h. der Kontrolle der Einnahme durch Eltern
360
Kapitel 38 · Kontrazeption
oder Erzieher. Durch sog. Langzyklen, d. h. durch Einnahme von 3–6 Pillenpackungen ohne Pause, kann die kontrazeptive Sicherheit erhöht werden, da auch bei Vergessen einer oder mehrerer Tabletten die Empfängnisverhütung gewährleistet ist. Neue Formen der hormonellen Kontrazeption wie das Verhütungspflaster (Evra), das nur einmal wöchentlich gewechselt werden muss, oder der vaginale Verhütungsring (NuvaRing), der 3 Wochen vaginal getragen wird, kann bei geeigneten Jugendlichen von Vorteil sein. Nachteil ist jedoch der sehr hohe Preis im Vergleich zu oralen Kontrazeptiva. ! Die häufigste Form der Verhütung bei geistiger Behinderung ist auch heute noch die Dreimonatsspritze.
In Abständen von 2–3 Monaten wird ein Depot-Gestagen injiziert, das eine sichere Verhütung garantiert. Vorteile sind die hohe Sicherheit, die Reduktion der Periodenschmerzen und Periodenstärke (bis zu 80% Amenorrhoe) und das nur geringe Thromboserisiko. Nachteile sind die oft erheblichen Gewichtszunahmen, Akne und Abhängigkeit von medizinischen Personal. Eine neuere Form der Verhütung mit einem Depot-Gestagen ist das Hormonimplantat (Implanon). Mit einem kleinen chirurgischen Eingriff in Lokalanästhesie wird das Stäbchen unter der Haut platziert und verhütet mit hoher Sicherheit bis zu 3 Jahre. Vorteile sind die hohe Sicherheit, die Reduktion der Periodenstärke und Periodenschmerzen. Nachteile sind die häufigen Zwischenblutungen und Blutungsstörungen. Die Verhütung mit einer Intrauterinspirale ist prinzipiell auch bei Jugendlichen möglich, sollte aber mit größter Zurückhaltung nach genauer Überprüfung anderer Möglichkeiten eingesetzt werden.
38.2.2 Chronische Erkrankungen Asthma bronchiale Asthma bronchiale ist mit einer Prävalenz von 10% die häufigste chronische Krankheit im Kindes- und Jugendalter. Zur Kontrazeption gelten die gleichen Indikationen und Kontraindikationen wie bei anderen Jugendlichen. Bei Antibiotikaeinnahme muss an eine mögliche Reduktion der Wirksamkeit der Pille gedacht werden (. Tab. 38.5). Epilepsie Epilepsie gehört mit einer Häufigkeit von 1% zu den häufigen chronischen Krankheiten. Oft treten die ersten Anfälle im Jugendalter auf. Bei fokalen Epilepsien kann es durch die epileptische Aktivität zu Störungen der hypothalamisch hypophysären Hormonachse kommen. Das führt bei einem Teil der Mädchen zu Zyklusstörungen (Oligo/Amenorrhoe), polyzystischem Ovarsyndrom und Hyperandrogenämie. Bei fokaler Epilepsie kann auch eine zyklusabhängige Zunahme der Anfälle (katameniale Epilepsie) beobachtet werden. Auch die Antiepilepitika können eine Auswirkung auf den Hormonhaushalt haben. Valproat, z. B., kann zum verzögerten Abbau von Testosteron in der Leber führen mit nachfolgender Hyperandrogenämie und polyzystischem Ovarsyndrom. Bei einem Teil der Antiepileptika ist die fetale Missbildungsrate erhöht. OH wirken sich nicht negativ auf die Schwere der Krankheit oder auf die Anfallshäufigkeit aus. Bei zyklusabhängiger Anfallszunahme kann durch hormonelle Verhütungsmittel die Frequenz der Anfälle sogar günstig beeinflusst werden. Ein Zusatznutzen durch OH ist auch bei Akne, Hirsutismus und polyzystischem
. Tabelle 38.5. Verhütung bei chronischen Erkrankungen
38
Krankheitsbild
Verhütungsmittel 1.Wahl
Verhütungsmittel 2.Wahl
Cave
Asthma bronchiale
OH
Depot-Gestagen, IUP
Interaktion hormoneller Verhütung mit Antibiotika
Epilepsie
OH
Depot-Gestagen, IUP
Interaktion hormoneller Verhütungsmittel mit Antiepileptika
Multiple Sklerose
OH
Depot-Gestagen, IUP
Chronisch entzündliche Darmerkrankungen
OH
Depot-Gestagen, IUP
Herzerkrankungen
Minipille, Depot-Gestagen
IUP
Thrombophilie
IUP
Minipille, Depot-Gestagene
Diabetes mellitus – Ohne Mikroangiopathie – Mit Mikroangiopathie
OH Minipille, Depot-Gestagen
Minipille, Depot-Gestagene, IUP
Chronische Niereninsuffizienz
OH
Minipille, Depot-Gestagene, IUP
Keine Hormone bei Dialyse
Rheumatische Erkrankungen
OH
Minipille, Depot-Gestagene, IUP
Ausnahme: Lupus Erythematodes OH kontrainiziert
Mukoviszidose
OH
Minipille, Depot-Gestagene, IUP
Interaktion von Hormonen mit Antibiotika, bei Leberbeteiligung keine Hormone
Körperbehinderung
OH
Minipille, Depot-Gestagene, IUP
Hormone bei erhöhtem Thromboserisiko kontraindiziert
Akuter Schub Resorption von oraler OH vermindert
OH erhöhen das Thromboserisiko
361 38.2 · Kontrazeption bei behinderten und chronisch kranken Jugendlichen
38
. Tabelle 38.6. Einfluss von Medikamenten auf die Wirkung oraler Kontrazeptiva. (Mod. nach Taubert u. Kuhl 1995)
. Tabelle 38.7. Einfluss oraler Kontrazeptiva auf die Wirkung verschiedener Medikamente. (Mod. nach Taubert u. Kuhl 1995)
Wirkungsabschwächung auf hormonelle Verhütungsmittel
Medikamente mit Wirkungsabschwächung durch hormonelle Verhütungsmittel
Medikamente mit Wirkungsverstärkung durch hormonelle Verhütungsmittel
Paracetamol Aspirin Salicylsäure Morphin Lorazepam
Phenytoin Phenylbutazon Phenazon Metamizol Phenacetin Diazepam Hydrocortison Prednisolon Theophyllin Coffein
Keine Auswirkung auf hormonelle Verhütungsmittel
Antiepileptika – – – – – – –
Carbamazepin Phenytoin Primidon Topiramat Oxcarbazepin Felbamat Ethosuximid
– – – – – – –
Valproinsäure Clonazepin Ethosuximid (Lamotrigin)1 Gabapentin Tiagabin Vigabatrin
Tranquilizer, Neuroleptika, Sedativa – Barbiturate – Promethazin – Johanniskraut
– Oxacepam – Lorazepam
Antibiotika – – – –
Tuberkulostatika Penicillin und Breitspektrumpenicilline Cefalexin Metronidazol
– Doxycyclin – Roxithromycin – Clarithromycin
Analgetika, Antirheumatika Bei allen Medikamenten möglich 1
Die Sicherheit der Kontrazeption bei gleichzeitiger Einnahme von Lamotrigin und OH scheint nach neueren Untersuchungen nicht mehr in jedem Fall gewährleistet zu sein.
Ovarsyndrom vorhanden. Ein Teil der Antiepileptika werden in der Leber über das Cytochrom P 450-Enzymsystem metabolisiert. Das führt zum beschleunigten Abbau von hormonellen Verhütungsmitteln und damit zur verminderten Wirksamkeit von OH (. Tab. 38.6 und 38.7). Durch höherdosierte Pillen mit 50 µg Ethinylestradiol und Gestagenen, deren Ovulationshemmungsdosis deutlich erhöht ist, oder durch kontinuierliche Einnahme der OH (Langzyklen) kann die Sicherheit auch niedrigdosierter Pillen (Mikropillen) erhöht werden, da durch dieses Einnahmeschema das Risiko von Durchbruchsovulationen stark reduziert wird. Die Wirksamkeit von Depot-Gestagenen kann, bei enzyminduzierenden Antiepileptika, durch Verkürzung der Dosisintervalle erhöht werden. Über die Interaktionen von Hormonimplantaten (Implanon) mit enzyminduzierenden Antiepileptika liegen noch keine Untersuchungen vor, sie sind aber wahrscheinlich. Der Einsatz einer Intrauterinspirale kann in Einzelfällen bei Einnahme enzyminduzierender Antiepileptika indiziert sein. Multiple Sklerose Der Einsatz von Verhütungsmitteln unterliegt den gleichen Kriterien wie bei anderen Jugendlichen. OH haben keinen Einfluss auf den Verlauf der Krankheit. Bei Dysmenorrhoe oder perimenstrueller Verschlechterung der Symptome haben sich der Einsatz von OH ohne Pause (Langzyklus) oder Depot-Gestagene bewährt.
Chronisch entzündliche Darmerkrankungen (Enteritis regionalis, Colitis ulcerosa, Zöliakie, Mukoviszidose) OH können bei diesen Krankheitsbildern eingesetzt werden, vorausgesetzt, dass keine Leberbeteiligung vorliegt. Hormone werden innerhalb 2–3 Stunden in den proximalen Dünndarmabschnitten metabolisiert und resorbiert. Da die häufigsten Entzündungsprozesse in den distalen Abschnitten des Darmes ablaufen, wird die Resorption oraler Verhütungsmittel nur gering beeinflusst. Im akut entzündlichen Schub kann jedoch die Magen-Darm-Passage beschleunigt und die Resorption vermindert sein. Durch die Anwendung transdermaler oder vaginaler hormoneller Verhütung kann ein gleichmäßigerer Wirkspiegel erreicht werden. Bei chronischen Darmerkrankungen tritt häufig die Geschlechtsreife verzögert ein (Ballinger 2002). Eine primäre Amenorrhoe oder langandauernde Oligomenorrhoe kann eine Hormonsubstitution notwendig machen. Bei Jugendlichen mit Sexualkontakten sollte dies in Form hormoneller Verhütungsmittel erfolgen. Die Einlage einer Kupferspirale sollte wegen den entzündlichen Prozessen im Bauchraum nur unter strengen Kriterien erfolgen, obwohl neuere Daten keine Hinweise mehr auf ein erhöhtes Infektionsrisiko durch die Kupferspirale geben. Die Einlage einer Hormonspirale (Mirena) ist weniger risikoreich. Herzerkrankungen Angeborene Herz- und Gefäßfehler sind die häufigsten angeborenen Fehlbildungen (4–8 von 1000 Lebendgeburten). Viele Herzfehler können heute erfolgreich mit Operationen behandelt werden und die Kinder und Jugendlichen können ein normales Leben führen. Die meisten Herzfehler sind jedoch mit einem erhöhten Risiko einer bakteriellen Endokarditis, Herzinsuffizienz und Herzrhythmusstörungen belastet. OH führen zu einem erhöhten Thromboserisiko und zusätzlich kann das Risiko eines pulmonalen Hochdrucks bestehen, sind daher meistens kontraindiziert. Möglich dagegen ist der Einsatz von Minipille, Gestagenimplantaten (Implanon), Depot-Gestagenen oder Intrauterinspiralen. Thromboembolische Erkrankungen Die häufigste erbliche Ursache einer verstärkten Gerinnungsneigung (Thromobophilie) ist die APC-Resistenz (Faktor V-Leiden
362
Kapitel 38 · Kontrazeption
Mutation) mit einer Häufigkeit von 3–7% der Bevölkerung in Europa. Seltenere erbliche Ursachen einer Thrombophilie sind Mangel an Antithrombin III, Protein C oder Protein S oder Mangel an Gerinnungsfaktor Xa, IXa, VIIa und IIa. Da das Thromboserisiko bei diesen Erkrankungen deutlich erhöht ist, sollten keine OH zum Einsatz kommen. Für Gestagen-Monopräparate (Minipille, Implanon, DepotGestagene) liegen noch keine ausreichende Daten vor, es gibt aber Hinweise, dass das Thromboserisiko geringer ist. Bluterkrankungen Durch die Migration leben zunehmend Jugendliche aus Mittelmeerländern und Afrika in Deutschland und damit ist das Auftreten von Thalassämie und Sichelzellanämie häufiger geworden. Die Thalassämie ist eine genetisch bedingte Veränderung der roten Blutkörperchen ohne erhöhtes Thromboserisiko und damit sind OH möglich. Bei der Sichelzellanämie ist bei Sichelzellkrisen ein erhöhtes Thromboserisiko vorhanden. Orale Kontrazeptiva können jedoch außerhalb dieser Krisen eingesetzt werden, da es Hinweise gibt, dass OH eine günstige Wirkung auf den Krankheitsverlauf haben. Jugendliche mit Willebrand-Jürgens-Syndrom (Faktor VIIIMangel) haben häufig ab der Menarche eine verstärkte und verlängerte Periodenblutung und das Risiko einer Follikelblutung. Durch frühzeitigen Einsatz von OH lassen sich die Blutungen günstig beeinflussen und stellen somit eine Indikation für deren Einsatz dar. Kupferspiralen sind wegen der Blutungsneigung kontraindiziert. Der Einsatz einer Hormonspirale (Mirena) hat sich bei erwachsenen Frauen bewährt, da die Blutungsstärke stark reduziert wird, und stellt bei geeigneten Jugendlichen eine Alternative zur Pille dar. Diabetes mellitus Schwangerschaften bei Diabetes mellitus sind besonders bei Jugendlichen Risikoschwangerschaften mit erhöhten Fehlbildungsraten und perinataler Mortalität bei den Kindern und Stoffwechselentgleisungen bei den Müttern. Bei guter Stoffwechseleinstellung, nicht vorhandener Mikroangiopathie (Retinopathie, Mikroalbuminurie) und ohne zusätzliche Risikofaktoren wie Rauchen, Hypertonie oder familiäres Thromboserisiko können auch jugendlichen Diabetikerinnen OH empfohlen werden. Nach den Richtlinien der ISPADGuidelines (International Society of Pediatric and Adolescent Diabetes) sollten Mikropillen mit niedriger Östrogenkomponente (<35 µ Ethinylestradiol) und mit einer Gestagenkomponente die Desogestrel, Levonorgestrel oder Gestoden enthält, empfohlen werden. Bei Mikroangiopathien und besonders bei Nephropathien sind die OH kontraindiziert, da das Thromboserisiko erhöht ist. Bei Risikofaktoren sollte der Einsatz einer Intrauterinspirale erwogen werden.
38
Rheumatische Erkrankungen Eine frühzeitige Aufklärung bei jugendlichen Rheumatikern über empfängnisverhütende Mittel ist dringend notwendig, da bei einem Teil der Antirheumatika mit einem erhöhten Risiko der Fruchtschädigung zu rechnen ist. OH führen zu keiner Verschlechterung des Krankheitsbildes und können daher auch in den meisten Fällen empfohlen werden. Beim systemischen Lupus Erythematodes mit Erhöhung der An-
tiphospholipid-Antikörper im Blut ist das Thromboserisiko erhöht, der Einsatz von OH ist somit kontraindiziert. Mukoviszidose Bei der zystischen Fibrose sind viele Organe betroffen, und abhängig von dem Befall der einzelnen Organe muss das Risiko bezüglich der Pille abgeschätzt werden. OH verschlechtern weder die Lungenfunktion, noch tritt eine Verschlechterung des Krankheitsbildes ein. Bei Beteiligung der Leber, Pankreas oder Galle sollten jedoch andere Verhütungsmaßnahmen ergriffen werden. Chronische Niereninsuffizienz OH können unter Hämodialyse zur Verschlechterung der Flüssigkeitsbilanz und des Blutdrucks führen, sollten daher nur in Ausnahmefällen eingesetzt werden. Patientinnen nach Nierentransplantation müssen Immunsupressiva nehmen, die mit einem erhöhten Missbildungsrisiko einhergehen. Bei sexuell aktiven Jugendlichen ist daher eine möglichst sichere Verhütung dringend angezeigt. OH können eingesetzt werden. 38.2.3 Körperbehinderung Motorische Körperbehinderung (Spina bifida, Zerebralparese, Querschnittsyndrom u. a.) Unter dem Begriff »Körperbehinderung« werden alle angeborenen oder erworbenen dauerhaften Störungen von Körperfunktionen zusammengefasst. Die Fertilität ist bei Frauen mit Querschnittsyndromen, im Gegensatz zu den Männern, und bei Spina bifida nicht eingeschränkt, daher muss bei sexueller Aktivität für eine sichere Verhütung gesorgt werden. Da die Frauen häufig auf den Rollstuhl angewiesen sind oder meist sonstige stärkere Bewegungseinschränkung haben, besteht ein erhöhtes Thromboserisiko. OH sind daher häufig kontraindizert. Reine Gestagenpräparate haben ein geringeres Thromboserisiko, so dass der Minipille, Depot-Gestagenen oder Implanon der Vorzug gegeben werden sollte. Depot-Gestagene haben eine Amenorrhoerate von ca. 80%. Die hygienischen Probleme durch die Menstruationsblutung bei Rollstuhlfahrerinnen können dadurch reduziert werden. Intrauterinspiralen (Kupferspiralen) verstärken meist die Blutung und durch mangelnde Schmerzsensibilät kann eine Infektion oder Dislokation von der Patientin übersehen werden. Intrauterin Hormonimplantat (Mirena) reduziert die Blutungsstärke und das Infektionsrisiko, dürfte aber bei einer körperlich behinderten Jugendlichen in der Regel nur mit Narkose einlegbar sein.
Literatur Ballinger AB et al. (2002) Delayed Puperty Associated with Inflammatory Bowel Disease. Pediatr Res (online veröffentlicht am 04.12.2002) Briese V, Müller H (1995) Diabetes mellitus – Epidemiologische Studie zur Fertilität, Kontrazeption und Sterilität. Geburtsh. u. Frauenheilk. 55: 270–274 Delisle B (2003) Gynäkologisch relevante Aspekte in der Behandlung von Frauen mit Epilepsie und multipler Sklerose. In: Delisle B, Haselbacher G, Weissenrieder N (Hrsg.) Schluss mit Lust und Liebe? Sexualität bei chronischen Krankheiten und Körperbehinderung. Ernst Reinhardt, München, S 218–229
363 Literatur
Ehlers APF (1998) Schwangerschaftsverhütung bei geistig behinderten oder drogenabhängigen Mädchen und Frauen: juristische Bewertung, Geburtsh. u. Frauenheilk. 58: M 150–153 Geurts TBP et al. (1994) Übersicht über Arzneimittelinteraktionen mit oralen Kontrazeptiva, The Parthenon Publishing Group Ltd, London Häffner R, Fauser B (2003) Sexuelle Entwicklung von Kindern und Jugendlichen mit rheumatischen Erkrankungen. In: Delisle B, Haselbacher G, Weissenrieder N (Hrsg.) Schluss mit Lust und Liebe? Sexualität bei chronischen Krankheiten und Körperbehinderung. Ernst Reinhardt, München,S 100–106 Kimmerle R et al. (1994) Empfängnisverhütung bei Typ-I-Diabetikerinnen: Eine Erhebung bei 808 Frauen im fertilen Alter, Geburtsh. u. Frauenheilk. 54: 691–696 Kuhl H (1994) Wie sich orale Kontrazeptiva und Medikamente in ihrer Wirkung beeinflussen, Geburtsh. u. Frauenheilk. 54: M23–M30 Kreis I et al. (1996) APC-Resistenz und orale Antikonzeptiva, Geburtsh. u. Frauenheilk. 56: 231–233 Malenke T (Hrsg.) (2001) Kinderwunsch und mehr. CF-Selbsthilfe, Mönchengladbach (1997): Partnerschaft und Sexualität bei Mukoviszidose. Medizinisch Aspekte. CF-Selbsthilfe, Mönchengladbach (1996): Partnerschaft und Sexualität bei Mukoviszidose. Psychozoziale Aspekte. CF-Selbsthilfe, Mönchengladbach Partnerschaft und Sexualität ein Aufklärungsbuch für Menschen mit Spina bifida AsbH-Schriftenreihe, 1997 Peters F, Drexel-Fink C (2001) Kontrazeption bei chronisch kranken Jugendlichen I, Geburtsh. u. Frauenheilk. 61: M 5–8 Peters F, Drexel-Fink C (2000) Kontrazeption bei chronisch kranken Jugendlichen II, Geburtsh. u. Frauenheilk. 60: M 141–144 Schmitt GM, Kammerer E, Harms E (Hrsg.) (1996) Kindheit und Jugend mit chronischer Erkrankung, Hogrefe Taubert H-D, Kuhl H (1995) Kontrazeption mit Hormonen, 2. Auflage. Thieme Winkler UH (1997) APC-Resistenz, Antithromin II-, Protein C- oder S-Mangel: Zur Abschätzung der Thrombosegefährdung bei Anwenderinnen oraler Kontrazeptiva Geburtsh. u. Frauenheilk. 57: 7–14
38
39 Sexuell übertragbare Infektionen bei Jugendlichen E.R. Weissenbacher, N. Weissenrieder ))
39.1). Mädchen sind in Abhängigkeit von der Erkrankung wesentlich häufiger betroffen als Jungen.
Sexuell übertragbare Erkrankungen (STD) sind nicht nur wegen Aids international eine der größten Herausforderungen im Gesundheitssystem. Laut Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) infizieren sich weltweit täglich 120.000 Jugendliche (14–19 Jahre) pro Tag (WHO 1996). Die geschätzte Inzidenz für STDs in Amerika betrug nach Angaben des Centers for Disease Control and Prevention (CDC) für die Altersgruppe der 15- bis 24-jährigen Mädchen und Jungen im Jahr 2000 über 9 Mio. Fälle. Dabei fielen 4,6 Mio. auf HPV-Infektionen, 1,9 Mio. auf Infektionen mit Trichomonaden, 1,5 Mio. Infektionen auf Chlamydieninfektionen, 0,64 Mio. auf genitale Herpesinfektionen, 0,43 Mio. auf Infektionen mit Gonnorrhö, 15.000 auf HIV-Infektionen, 8200 auf Syphilisinfektionen sowie 7500 auf Infektionen mit Hepatitis B. Weltweit kommt es zu über 200 Mio. Neuerkrankungen an sexuell übertragbaren Erkrankungen pro Jahr (. Tab.
Die Häufigkeit sexuell übertragbarer Erkrankungen wird wesentlich beeinflusst durch die persönlichen Lebensverhältnisse der Jugendlichen wie Hygiene, Sozialverhalten und Sexualverhalten. Gerade Jugendliche, die sozial schwachen Gesellschaftsschichten angehören, arbeitslose Jugendliche, Jugendliche aus isolierten Randgruppen gelten als Risikogruppe, da sie früher sexuelle Kontakte aufnehmen, häufiger ungeschützte Sexualkontakte haben und Drogen wie Alkohol einen größeren Einfluss auf ihr Sexualverhalten ausüben (. Tab. 39.2). Wann kann sich ein Jugendlicher mit sexuell übertragbaren Erkrankungen infizieren? 4 Die erste Möglichkeit besteht bereits peripartal, jedoch soll dies hier nicht diskutiert werden. 4 Der Jugendliche infiziert sich durch seine Umgebung, zumeist als Schmierinfektion. Hier spielen die Familie und die
. Tabelle 39.1. Die häufigsten sexuell übertragbaren Erkrankungen nach WHO 1996 (ohne HIV und Hepatitis B)
STD
Neuerkrankungen/Jahr weltweit, Angaben in Mio. (WHO 1996)
Kofaktor für
Chlamydieninfektionen Gonorrhö HPV-Infektionen HSV-1- bzw. 2-Infektionen Syphilis
89 60 30 20 12
Gonorrhö HIV, Syphilis Alle STDs HPV, HIV HIV
. Tabelle 39.2. Risikofaktoren für sexuell übertragbare Erkrankungen. (Nach Braverman u. Rosenfeld)
39
Sexualverhalten
Niedriges Alter beim ersten Geschlechtsverkehr Relativ hohe Anzahl der Sexualpartner Nichtgebrauch von Kondomen Analer bzw. oraler Geschlechtsverkehr Homosexualität
Geschlecht
Sehr junge Mädchen
Soziale Gründe
Zugehörigkeit zu ethnischen Minoritäten Armut Arbeitslosigkeit Alkohol- und Drogenkonsum Sexueller Missbrauch und Gewalt Junge Mädchen mit älteren Partnern Eingeschränkter Zugang zu medizinischen Einrichtungen und Beratungsstellen
Biologische Gründe
Vorverlegung des Pubertätsalters Zervixektopie Enger Scheideneingang, der traumatische Verletzungen begünstigt Asymptomatischer Verlauf von STD
365 39.1 · Bakterielle Infektionen
Umgebung eine besondere Rolle. Die Abschätzung des Verdachtes auf sexuellen Missbrauch ist bei allen sexuell übertragbaren Infektionen unbedingt erforderlich bzw. ein sexueller Missbrauch auszuschließen. 4 Der erste sexuelle Kontakt kann auch zu einer Infektion führen. Damit erhebt sich die Frage, welche Infektionen sind möglich, und wann sollte wie untersucht werden? 4 Der Jugendliche hat Symptome einer sexuell übertragbaren Infektion. 4 Hinweise auf eine genitale oder orale Penetration sind vorhanden. 4 Übertragung einer STD durch Geschwister oder andere Personen in Haushalt oder Schule ist möglich. 4 Die Prävalenz an STD in der Bevölkerung ist hoch, so dass eine Schmierinfektion möglich ist. 4 Der mutmaßliche Täter bei einer sexuellen Straftat ist an einer sexuell übertragbaren Infektion erkrankt.
39.1
Bakterielle Infektionen
Die Wertigkeit der Diagnostik sexuell übertragbarer Erkrankungen wird durch die qualitativ sehr unterschiedlichen diagnostischen Methoden beeinflusst, wenn keine etablierten serologischen Testverfahren wie z. B. bei HIV-Infektionen/ Aids und Hepatitis B/C-Infektionen oder Syphilis vorliegen. Die zur Diagnostik angewandte Methode muss aber beim Einsatz als Screeninginstrument einfach anwendbar, sensibel und von den Jugendlichen als diagnostische Methode akzeptiert werden. Gerade die neuen DNS-Amplifikationstechniken wie PCR und LCR (Polymerase/Ligase Change Reaction) mit einer guten Sensitivität sind überwiegend auch mit einer Urinprobe durchführbar, können auch bei asymptomatischen Jugendlichen eingesetzt werden und werden von den Jugendlichen als nicht mit einer körperlichen Untersuchung einhergehende diagnostische Maßnahme gut akzeptiert (. Tab. 39.3).
. Tabelle 39.3. Allgemeine Diagnostik Inspektion
Genital, perianal und oral. Lupe oder Kolposkop
Materialabnahme
Abstrich mit einem Watteträger für mikroskopische und kulturelle Diagnostik aus Zervix, Urethra, Anus, Warze, Bläschen evtl. für PCR/LCR, Urin (Erststrahl) für PCR/LCR
pH-Wertmessung
Nur bei Jugendlichen im Scheidensekret nach Beginn der Pubertät sinnvoll. Kein alleiniger Infektionsindikator
Serologische Diagnostik
In Abhängigkeit der vermuteten STD sinnvoll (HSV, HIV, Hepatitis B/C, Syphilis)
39
Bakterielle Infektionen 5 5 5 5
Chlamydieninfektion Gonokokkeninfektion Syphilis Bakterielle Vaginose
39.1.1 Chlamydia trachomatis Chlamydieninfektionen gelten neben HIV/Aids und Hepatitis B als die häufigsten sexuell übertragbaren Infektionen weltweit. Bezüglich der Inzidenz liegen auf Grund der unterschiedlichen Wertigkeit der Nachweisverfahren keine exakten Daten vor. Es besteht aber eine Übereinstimmung, dass die Infektionsrate bei Jugendlichen am höchsten ist. So konnte in einer Prävalenzbeobachtung von Chlamydieninfektionen bei jungen Mädchen in Berlin (Gille 2005) bei 17jährigen Mädchen eine Prävalenz von 10% erhoben werden. Das CDC veröffentlichte für das Jahr 2003 die alters- und geschlechtsspezifischen Inzidenzraten für Chlamydieninfektionen in den Vereinigten Staaten (. Tab. 39.4). Chlamydien haben keinen eigenen Stoffwechsel und bevorzugen das Zylinderepithel. Das klinische Bild ist durch Fluor sowohl aus der Urethra als auch aus der Zervix gekennzeichnet. Die Diagnostik umfasst eine Materialgewinnung aus Zervix und Urethra zur PCR oder LCR. Weiterhin ist ein Immunfluoreszenztest (IFT) möglich. Eine neue Methode zum Nachweis von Chlamydien, die in jeder Praxis angewandt werden kann, ist der Nachweis der Chlamydien mit einer PCR im Urin, die mit dem ersten Harnstrahl aus der Urethra ausgeschwemmt werden. Die Serologie hat bei akuten Infektionen keine Bedeutung. Bei der Therapie kommen Tetracycline 200 mg pro Tag über 10–14 Tage nach Wachstumsende zum Einsatz. Auch eine einmalige Gabe von Azithromycin (2-mal 500 mg) hat sich bewährt. Bei Nachweis einer Chlamydieninfektion besteht keine Meldepflicht. Da eine Chlamydieninfektion auch einen Kofaktor für eine Gonorrhö darstellen kann, sollte bei Nachweis einer spezifischen STD immer ein Screening auf andere sexuell übertragbare Erkrankungen durchgeführt werden. Der aktuelle Sexualpartner sollte unbedingt untersucht werden, da asymptomatische Jungen bei der Übertragung eine große Rolle spielen. Eine Partnerbehandlung ist bei Nachweis erforderlich.
. Tabelle 39.4. Alters- und geschlechtsspezifische Inzidenz von genitalen Chlamydieninfektionen 2003. (Rate pro 100.000 Einwohner in den USA, CDC 2005)
Alter
Weiblich
Männlich
10–14 Jahre
134,3
9,8
15–19 Jahre
2.687,3
423,4
20–24 Jahre
2.564,3
690,6
366
Kapitel 39 · Sexuell übertragbare Infektionen bei Jugendlichen
. Tabelle 39.5. Alters- und geschlechtsspezifische Inzidenz von Gonorrhöinfektionen 2003. (Rate pro 100.000 Einwohner in den USA, CDC 2005)
. Tabelle 39.6. Alters- und geschlechtsspezifische Inzidenz von Syphilisinfektionen 2003. (Rate pro 100.000 Einwohner in den USA, CDC 2005)
Alter
Weiblich
Männlich
Alter
Weiblich
Männlich
10–14 Jahre 15–19 Jahre 20–24 Jahre
40,8 634,7 595,2
6,7 262,4 465,9
10–14 Jahre 15–19 Jahre 20–24 Jahre
0,1 1,7 2,4
0,0 1,4 6,0
39.1.2 Gonorrhö Die Gonorrhö ist nach Angaben der WHO (1996) die zweithäufigste sexuell übertragbare Erkrankung. Der im Rahmen der umfangreichen Aufklärungskampagnen mit HIV/Aids mit Nutzung von lokalen Schutzmaßnahmen (Kondom) beobachtete Rückgang der Infektionsrate kann durch ein Nachlassen der Benutzungsrate von lokalen Schutzmaßnahmen wieder aufgehoben werden. In den Vereinigten Staaten haben die 15- bis 19-jährigen Mädchen die höchsten Inzidenzraten verglichen mit allen Altersstufen (. Tab. 39.5). Der Erreger ist Neisseria gonorrhoeae. Es handelt sich um gramnegative Diplokokken. Das klinisches Bild wird gekennzeichnet durch eine Inkubationszeit von 2–7 Tagen, bei der es zu urethralem und zervikalem Fluor sowie Dysurie kommen kann. Auch das Rektum kann befallen sein. Das Krankheitsbild kann chronisch werden, heilt jedoch nicht von selbst aus. Bei der Diagnostik muss das Material direkt an der Patientin verimpft werden. Falls dies nicht möglich ist, muss das Abstrichmaterial in ein Transportmedium (wird vom kooperierenden Labor bereitgestellt) gegeben werden. Die Keime sind gegenüber Licht, Kälte, Trockenheit sehr empfindlich. Als neuere Nachweismethode steht eine LCR aus dem Urin zur Verfügung, die bei Jugendlichen ohne gynäkologische Untersuchung durchgeführt werden kann. Die Serologie ist bei Schleimhautinfektionen ohne Bedeutung. Zur Therapie verwendet man Cephalosporine der 2. und 3. Generation, z. B. Ceftriaxon. Auch der Einsatz von 2 g Spectinomycin wird empfohlen. Bei einer nachgewiesenen Erkrankung besteht Meldepflicht. Eine Untersuchung aller Sexualpartner sowie eine Behandlung des/der Partner bei Nachweis ist erforderlich. Ein Screening auf weitere sexuell übertragbare Erkrankungen ist sinnvoll. Die mögliche Einschleppung durch Reisetätigkeit bzw. Migration ist zu beachten.
wieder angestiegen (. Tab. 39.6). Insgesamt sind die Infektionsraten aber immer noch niedrig. Der Erreger ist Treponema pallidum. Er ist empfindlich gegenüber Temperaturdifferenzen, Feuchtigkeit und pH-Wertverschiebungen. Die Transmission geschieht vorwiegend beim Geschlechtsverkehr, aber auch bei Haut- und Schleimhautkontakt. Die Inkubationszeit beträgt 3 Wochen. Das klinische Bild im Bereich von Labien, Vulva und an der Portio uteri wird geprägt durch ein schmerzloses induriertes Ulcus mit erhabenem Rand. Dieser Primäraffekt hat auch eine Schwellung der Lymphknoten zur Folge. Nach 3–6 Wochen heilt der Prozess ab. Nach 9 Wochen bis 6 Monaten kommt es zu einem makulopapulösen Exanthem und zur generalisierten Lymphknotenschwellung. Im zweiten Stadium stehen Erscheinungen wie Haarausfall im Vordergrund. Die Lues entwickelt sich ohne Behandlung weiter in die Stadien III und IV. Durch Inspektion von Haut und Genitalschleim lässt sich die Diagnose klinisch stellen, wobei besonders auf die regionalen Lymphknoten zu achten ist. Die serologischen Untersuchungen haben nach wie vor Bedeutung. Der TPHA-Test (Treponema pallidum Hämagglutinationstest), TPPA (Treponema pallidum) und der Tp-ELISA zum Screening sollen hier nur erwähnt werden. IgM-FTA-Abs-Test ist für den selektiven Nachweis von IgM-Antikörpern gegen Treponema pallidum geeignet. ! Zur Therapie empfohlen werden die Benzylpenicilline der Gruppe B. Sie sollten 14 Tage lang zu je 1 Mill. E. verabreicht werden. Alternativ kann auch Ceftriaxon zur Behandlung verwendet werden. Eine Untersuchung aller Sexualpartner und eine eventuelle Behandlung ist notwendig. Das Screening auf weitere STD ist sinnvoll.
Es besteht eine Meldepflicht bei Nachweis der Erkrankung. Die Einschleppung durch Reisetätigkeit bzw. Migration ist zu beachten. 39.1.4 Bakterielle Vaginose
39.1.3 Syphilis
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Syphilis ist laut WHO die fünfthäufigste STD mit besonders hohen Erkrankungsraten in Risikokollektiven wie Prostituierten oder auch Jugendlichen. In Analogie zu der Gonorrhö kam es durch die verstärkte Anwendung von lokalen Schutzmaßnahmen zu einem Absinken der Inzidenz in den europäischen Staaten. Mit zunehmender Globalisierung und Erweiterung der EU ist mit einem Anstieg der Inzidenzraten wie z. B. in Litauen (Lapinskaitie 1999) zu rechnen. Die Inzidenzrate in den USA ist laut CDC in den letzten Jahren bei den 20- bis 24-jährigen Frauen
Unter bakterieller Vaginose versteht man eine Störung der Scheidenflora durch Überwiegen von anaeroben Keimen. Bakterielle Vaginosis bedeutet zumeist keine »itis« – also keine Entzündung. Die bakterielle Vaginose kann auch bei Virgines ohne sexuellen Kontakt offenbar durch eine Schmierinfektion auftreten (Aufklärung über Körperhygiene ist bereits bei Kindern, aber auch Jugendlichen wichtig: z. B. Anleitung zur korrekten Reinigung des Afters nach dem Stuhlgang von vorne nach hinten). Beim klinischen Bild steht der reichliche, übel riechende Ausfluss von grauweißlicher Farbe, der nach Fisch riechen kann, im
367 39.2 · Virale Infektionen
Vordergrund. Selten treten Ulzerationen selten auf. Das klinische Bild und das mikroskopische Präparat reichen meist zur Diagnose aus. Der Scheiden-pH-Wert liegt über 4,5, der Kalilaugentest ist positiv (Fischgeruch). Die pH-Messung kann von der Jugendlichen selbstständig durchgeführt werden. Im Apothekenbedarf stehen dazu Einmalsonden zur vaginalen Anwendung zur Verfügung. Eine kulturelle Anzüchtung der Keime ist normalerweise nicht erforderlich. Die Therapie kann lokal und systemisch durchgeführt werden. Verwendet wird Metronidazol oder Clindamycin.
Tipp Die Dauer der Therapie sollte eine Woche nicht unterschreiten. Es muss bemerkt werden, dass die Rezidivhäufigkeit hoch ist. Für den Sexualpartner wird Kondomverkehr, aber keine Behandlung empfohlen.
Die bakterielle Vaginose stellt damit eine sexuell übertragbare Erkrankung, wohl aber keine sexuell übertragbare Infektion dar.
39.2
Virale Infektionen
Viralen Infektionen 5 5 5 5
Herpes genitalis Humane Papilloma-Viren Aids Hepatitis B
39.2.1 Herpes genitalis Herpes-genitalis-Infektionen gelten nach der WHO (1996) als vierthäufigste STD-Neuerkrankung. Die Erkrankung wird hervorgerufen durch das Herpes-simplex-Virus HSV Typ 1 und 2. Herpes-simplex-Infektionen gehören zu den häufigsten Virusinfektionen, etwa 70–80% der Erwachsenen haben Antikörper gegen HSV I, rund 40% gegen HSV II. Das klinisches Bild ist durch die Primärinfektion gekennzeichnet. Nach 3–7 Tagen kommt es zu Rötung, Bläschenbildung und Erosion, die maximal 3 Wochen anhalten kann. Gleichzeitig bestehen Fieber, Kopfschmerzen, Krankheitsgefühl und starkes Brennen an den befallenen Stellen. Die Lymphknoten sind geschwollen. Rezidivierender Herpes genitalis tritt meist nach Einwirkung bestimmter Faktoren wie Stress, intensive Sonneneinstrahlung, Menstruation usw. ein. Etwa 85% der infizierten Patienten haben mindestens ein symptomatisches Rezidiv. Für die Diagnose kann aus einem Bläscheninhalt reichlich Material zur Zellkultur gewonnen werden. Der Einsatz der PCR ist der Kultur ebenbürtig. Immunfluoreszenztest und EIA erlauben in etwa 80–90% der Fälle ein verlässliches Ergebnis. Die Serologie ist zur Rezidivdiagnostik wenig sinnvoll. Zur Therapie wird Aciclovir intravenös 1,0 g bei schweren primären Infektionen angewendet. Bei einfachen Infektionen ist eine orale Applikation möglich. Bei schweren und häufigen Rezidiven ist eine Dauertherapie mit Aciclovir 800 mg/Tag erforder-
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lich, um die Rezidivhäufigkeit zu senken. Impfstoffe sind in Vorbereitung. Ein Screening auf weitere STD ist sinnvoll. Es besteht keine Meldepflicht bei nachgewiesener Erkrankung. Für den Partner wird Kondomverkehr empfohlen. 39.2.2 Humane Papilloma-Viren Die humanen Papilloma-Viren (HPV) verursachen beim Menschen u. a. auch Warzen. Die Übertragungsrate liegt bei 60–70%. Der Nachweis von HPV ist nicht gleichzusetzen mit einer Infektion, da bei einer Kontamination die Erreger wieder verschwinden. Die Regressionsrate liegt bei Jugendlichen etwa bei 80%. Weltweit werden bei asymptomatischen Patientinnen Inzidenzraten von 3‒60% entsprechend der Wertigkeit der Untersuchungsmethode (Zelluntersuchung nach Papanicolau, DNS-Amplifikation) angegeben (Krowchuck 1999). Im Vordergrund des klinischen Bildes bei Jugendlichen stehen vor allem die Warzen (= Condylome). Sie befinden sich meist im Anogenitalbereich und der Scheide. Die Übertragung kann bereits subpartal auftreten und der Säugling unter der Geburt mit HPV infiziert werden. Es treten dann Warzen im anogenitalen Bereich auf, die winzig klein sein können, aber auch innerhalb kurzer Zeit erhebliche Ausmaße annehmen können. Die Diagnose erfolgt klinisch durch Inspektion mit Lupe oder Kolposkop. Eine histologische Abklärung ist empfehlenswert. Hier ist der Hybrid Capture-Test II oder bei wissenschaftlichen Untersuchungen die PCR anzuwenden. Die serologischen Untersuchungen sind ohne Bedeutung. Zur Therapie bietet sich bei kleinen Warzen die lokale Anwendung von Imiquimod, Podophyllotoxin und Trichloressigsäure an. Als chirurgische Verfahren wird der Einsatz von Elektro-Kauter, Laser und Kryotherapie empfohlen. Eine Meldepflicht besteht nicht, für den Partner wird Kondomverkehr empfohlen. Impfstoffe sind in Vorbereitung. 39.2.3 Acquired Immune Deficiency Syndrom
(Aids) Aids ist heute die sexuell übertragbare Erkrankung mit der größten weltweiten Bedeutung. Die berichteten Aids-Fälle bei weiblichen und männlichen Jugendlichen im Alter von 13‒19 Jahren steigen in den USA seit 1998 kontinuierlich wieder an (7 Übersicht). Das Verhältnis Mädchen zu Jungen ist dabei fast 1:1.
Berichtete Aids-Fälle bei Jugendlichen von 13–19 Jahren in den Vereinigten Staaten Bezogen auf das Alter bei der Diagnosestellung, Mädchen und Jungen (CDC 2005) 5 1998: 288 5 1999: 303 5 2000: 329 5 2001: 352 5 2002: 400 5 2003: 472
Das Syndrom wird hervorgerufen durch das Humane Immundefizienz-Virus (HIV). Man unterscheidet auch hier die Typen 1 und
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Kapitel 39 · Sexuell übertragbare Infektionen bei Jugendlichen
2. Das klinisches Bild wird neben Fieber, Müdigkeit, Schwäche, Gewichtsverlust und Leistungsknick durch eine generalisierte Lymphknotenschwellung geprägt. Später kommen bedingt durch die Abwehrschwäche noch opportunistische Infektionen hinzu. Die Diagnose wird mit Hilfe einer Sandwich EIA gestellt, wobei eine 100%ige Sensitivität besteht. Durch den Western Blot wird der erste Test bestätigt. Die Therapie beginnt meist mit einer Dreifachkombination, indem 2 nucleosidale reverse Transkriptasehemmer und ein Proteaseinhibitor zum Einsatz kommen. Der Nachweis einer Aids-Erkrankung ist meldepflichtig. Es besteht eine nicht-namentliche Meldepflicht. Zur Prophylaxe werden neben dem Kondomverkehr weitere Infektionsschutzmaßnahmen empfohlen. Impfungen sind als Studien in Vorbereitung. Verhaltensmaßregeln nach Stichverletzungen und Umgang mit infiziertem Material sind für die Praxis von den Berufsgenossenschaften und technischen Überwachungsinstitutionen erhältlich. 39.2.4 Hepatitis B Die Hepatitis B gehört zusammen mit Aids/HIV zu den häufigsten sexuell übertragbaren Erkrankungen. Der Erreger der Hepatitis B ist ein doppelsträngiges DNAVirus. Die Übertragung geschieht vorwiegend parenteral über Blut- und Blutprodukte, Geschlechtsverkehr und Schmierinfektion durch Speichel, Urin und Kot. Die Übertragung kann auch durch Piercing und das Aufbringen von Tattoos erfolgen. Die Inkubationszeit beträgt 30–180 Tage. Bei 70% der Infizierten verläuft die Infektion jedoch subklinisch. Etwa 30% erkranken mit Allgemeinsymptomen und Ikterus. Zur Diagnose ist die Bestimmung der Transaminasen wie SGOT, SGPT und γ-GT sowie alkalischer Phosphatase und Bilirubin erforderlich. Serologisch ist HBe für eine hohe Infektiosität anzusehen und HBsAg nur in 10% der Fälle nachweisbar. Die Therapie erfolgt symptomatisch, da eine antivirale Therapie in ihrer Wirksamkeit bisher nicht bewiesen ist. Bei chronischen Fällen kann Interferon-α eingesetzt werden. Zur Prophylaxe ist die aktive und eventuell unmittelbar nach Geburt passive Immunisierung bei allen Kindern und Jugendlichen obligatorisch und wird von der STIKO empfohlen. Meldepflicht (in Abhängigkeit vom Beruf) → Partnerscreening → Schutz. Verhaltensmaßnahmen nach Stichverletzungen und Umgang mit infiziertem Material sind für die Praxis von den Berufsgenossenschaften und technischen Überwachungsinstitutionen erhältlich.
39.3
39
Vulvovaginalcandidose
Der Erreger der Vulvovaginalcandidosen gehört zur Spezies Candida. Bei den asymptomatischen Formen hat die betroffene Jugendliche bei der Kolonisation keinerlei Beschwerden. Bei den akuten Formen unterscheidet man die leichten, mittelschweren und schweren Candidosen. Die Symptome sind Fluor, Juckreiz und Brennen. Die rezivierende, persistierende Candidose wird durch chronische Erkrankungen( z. B. Diabetes) oder aber Langzeitgabe von bestimmten Medikamenten (wie Cortison und Antibiotika) unterhalten. Erst die Beseitigung der Ursache wird zu einer Besserung oder Heilung führen. Leider werden Frauen mit chronischer
Candidose häufig nicht ernst genommen, besonders wenn es sich um Jugendliche handelt. Die Diagnose wird durch das klinische und mikroskopische Bild gestellt. Bei negativer Mikroskopie muss eine Kultur angelegt werden. Bei rezidivierenden Candidosen sind Kulturen mit einem Antimykogramm erforderlich. Die akuten Formen werden in der Regel topisch behandelt, z. B. mit Nystatin oder Clotrimazol. Bei rezidivierenden Infektionen kann eine orale Applikation von Triazolen wie Fluconazol (1-mal 150 mg) und Itraconazol (1-mal 400 mg) erforderlich sein, die auch eine Reduktion der Pilze im Bereich der Darmflora um ca. 70% herbeiführt. Dies sollte man auch bei Jugendlichen berücksichtigen. Es besteht keine Meldepflicht beim Nachweis der Erkrankung. Die Sexualpartner sollten bei rezidivierenden Candidosen untersucht und bei positivem Nachweis behandelt werden. Bis zum Abschluss einer lokalen/systemischen Therapie wird Kondomverkehr empfohlen.
39.4
Parasiten
Parasiteninfektionen 5 Triochomonaden 5 Phthiriasis pubis 5 Scabies
39.4.1 Trichomoniasis Erreger ist Trichomonas vaginalis, eine Flagellate von birnenförmiger Gestalt. Fast schlagartig stellt sich massiver »beißender« Fluor ein, der auch blutig tingiert sein kann. Häufig besteht ein ausgeprägter Pruritus. Das Nativpräparat zeigt diagnostisch gut bewegliche Protozoen. Die Therapie besteht in einer orale Gabe von Metronidazol (z. B. 1000 mg/die/7 Tage). Es besteht keine Meldepflicht. Die Behandlung des Partners ist zu fordern. 39.4.2 Phthiriasis pubis Die Infektion mit der Filzlaus befindet sich in behaarten Regionen wie z. B. dem Schamberg. Das klinisches Bild besteht in einem intensiven Pruritus der befallenen Bereiche, außerdem Kratzeffekten und frischen Hämatomen. Die Inspektion mit und ohne Lupe erlaubt die Diagnose der Erkrankung und Identifizierung der Tiere und der typischen Veränderungen. Eine 0,5%ige Permethrinlösung für 30 Minuten, Lindan 1% Shampoo für 4 Minuten werden als Therapeutika eingesetzt. Zur externen Behandlung eignen sich Crotamotin, Mesulfen oder Metathion. 39.4.3 Scabies Scabies wird durch die Milbe Sarcoptes scabiei verursacht. Beim klinischen Bild finden sich Milbengänge im Bereich des Handgelenkes, des Penis, der großen Labien, perimammillär, pe-
369 Literatur
riumbilikal und in den Interdigitalräumen. Mit Hilfe der Lupe wird das typische Bild gefunden. Am Ende des 2–4 mm langen Ganges sitzt die Milbe. Zur Therapie wird Permethrincreme 2,5% für Jugendliche abends auftragen und morgens abgewaschen.
39.5
Zusammenfassung und Ausblick
Die Morbidität und Mortalität bei Jugendlichen hat sich in den letzten Jahrzehnten so gewandelt, dass daraus eine Gesundheitskrise für die heutige Jugend geworden ist. Unerwünschte Schwangerschaft, Geschlechtskrankheiten einschließlich HIV sind nur einige der Probleme, denen eine stetig größer werdende Zahl von Jugendlichen aus allen Gesellschaftsschichten gegenübersteht. ! Demgegenüber müssen wir die Förderung einer gesunden psychosexuellen Entwicklung, die Verhütung von gesundheitsschädlichem Sexualverhalten und die Verhütung von Infektionskrankheiten propagieren.
Alle Jugendlichen sollten einmal jährlich eine Gesundheitsberatung mit folgenden Inhalten erhalten: 4 Beratung über wirksame Verhütung von Schwangerschaften 4 Beratung über die Übertragung von HIV, die Gefahren dieser Krankheit und darüber, dass Kondome ein wirksames Mittel zur Verhütung von STDs einschließlich der HIV-Infektion darstellen 4 Bestärkung des verantwortungsvollen sexuellen Verhaltens auch von Jugendlichen, die momentan sexuell nicht aktiv sind und von denen, die Empfängnisverhütung und Kondome richtig anwenden 4 Beratung über die Notwendigkeit, sich selbst und den Partner vor Schwangerschaft, STDs einschließlich HIV-Infektion und sexueller Ausbeutung zu schützen. Alle Jugendliche sollten einmal jährlich im Rahmen einer Vorstellung beim Kinder- und Jugendarzt befragt werden, ob ein Sexualverhalten besteht, das zu unerwünschter Schwangerschaft oder STDs einschließlich einer HIV-Infektion führen könnte.
Tipp Wenn Jugendliche bereits sexuell aktiv sind, sollte ihnen ein weiteres Gespräch angeboten werden, z. B. über den Gebrauch von Kondomen und empfängnisverhütenden Methoden, ihre sexuelle Ausrichtung, die Anzahl der Geschlechtspartner während der letzten 6 Monate, ob Sex gegen Geld oder Drogen angeboten wurde sowie über frühere Schwangerschaften oder bereits erworbene STDs. Das Gespräch sollte sich immer an den aktuellen Bedürfnissen der Jugendlichen ausrichten und keine belehrende oder investigative Gesprächsführung darstellen.
Wenn der beratende Arzt den Eindruck gewinnt, dass bei dem Jugendlichen ein Risiko für eine Schwangerschaft oder STD (einschließlich HIV) oder sexueller Ausbeutung besteht, sollte konkret darüber beraten werden, wie das Risiko individuell für den Jugendlichen vermindert werden kann. Sexuell aktive Jugendliche sollten auch befragt werden, ob sie von Tabakprodukten, Alkohol oder Drogen Gebrauch machen.
39
Bei regelmäßig sexuell aktiven Jugendlichen sollte das Vorliegen einer STD ausgeschlossen werden. Die STD-Untersuchung kann dabei beim Kinder- und Jugendarzt eine Analyse des Urins mittels einer LCR (bei männlichen und weiblichen Jugendlichen) zum Ausschluss einer Gonorrhö oder zum Ausschluss einer Chlamydieninfektion im Genitalbereich umfassen. Die serologische Untersuchung auf Syphilis sollte erfolgen, wenn der Jugendliche in einem Gebiet gelebt hat oder gereist ist, in dem Syphilis endemisch ist, wenn bereits eine STDs bestanden hat oder besteht, wenn er im Lauf der letzten 6 Monate mehr als einmal den Geschlechtspartner gewechselt hat, wenn Sex gegen Drogen oder Geld angeboten wurde oder bei männlichen Jugendlichen, die Geschlechtsverkehr mit anderen männlichen Partnern gehabt haben. Bei Jugendlichen, bei denen das Risiko einer HIV- oder Hepatitis B-Infektion besteht, sollte ein vertraulicher HIV-Test mittels ELISA und Bestätigungstest bzw. Hepatitis-Serologie angeboten werden. Ein Risiko besteht bei Faktoren wie dem Gebrauch von intravenösen Drogen, vorausgegangenen STD-Infektionen, dem Leben in einem Umfeld mit einer hohen Rate an STDs und HIV-Infektionen, bei mehr als einem Geschlechtspartner innerhalb der letzten 6 Monate, bei Austausch von Geschlechtsverkehr gegen Drogen oder Geld, bei männlichen Jugendlichen, die Geschlechtsverkehr mit männlichen Partnern hatten, oder wenn Geschlechtsverkehr mit einem Partner stattgefunden hat, bei dem das Risiko einer HIV-Infektion besteht. ! Wenn der Jugendliche nicht gegen Hepatitis B geimpft ist, sollte diese Impfung dem Jugendlichen unbedingt in den Konsequenzen dargestellt und durchgeführt werden.
Die Befunderhebung auf eine Infektion durch humanes Papilloma-Virus kann nur durch eine visuelle Untersuchung (männliche und weibliche Jugendliche) und einen zytologischen Abstrich erfolgen. Falls bei einem Verdachtstest auf eine STD das Ergebnis positiv ist, sollten weitere Untersuchungen für eine eindeutige Diagnose in Zusammenarbeit mit weiteren Fachkollegen aus der Gynäkologie, Andrologie oder Urologie erfolgen, ein Behandlungsplan nach den Richtlinien der entsprechenden Gesellschaften erstellt und die Benutzung von Kondomen dringend nahe gelegt werden. Die besprochenen Testverfahren sollten nur vorgenommen werden, wenn der Jugendliche ausführlich informiert wurde und seine Einwilligung vorher gegeben hat. Von besonderer Bedeutung ist dabei die Besprechung vor und nach dem Test sowie die resultierenden präventiven Maßnahmen. Empfehlenswert ist eine jährliche Gesundheitsberatung für alle Jugendliche, um ihnen zu helfen, mit den Herausforderungen der Entwicklung fertig zu werden, eine gesunde Lebensweise zu entwickeln und beizubehalten und Infektionen und ungewollte Schwangerschaften zu verhüten. Bei weiblichen Jugendlichen, die sexuell aktiv sind oder generell bei Mädchen über 20 Jahren sollte eine jährliche Untersuchung durch einen Gynäkologen zum Ausschluss von zervikalen Dysplasien erfolgen.
Literatur Braverman PK, Rosenfeld WD (2004) Adolescent Medicine Clinics, Volume 15, Number 2, Sexually transmitted Infections Friese K, Schäfer A, Hof H (2003) Infektionskrankheiten in der Gynäkologie und Geburtshilfe. Springer, Berlin Hof H (2003) Mykologie für Mediziner. Thieme, Stuttgart
370
Kapitel 39 · Sexuell übertragbare Infektionen bei Jugendlichen
Petzoldt D, Gross G (2001) Diagnostik und Therapie sexuell übertragbarer Krankheiten. Springer, Berlin Spitzbart H, Holtorff J, Engel S (1981) Vulvitis–Kolpitis. J.A. Barth, Leipzig STD Surveillance des Centers für Disease Control and Prevention, Department of Health and Human Services 2005 Weissenbacher ER (2002) Infektiologische Empfehlungen und Leitlinien zur Diagnostik und Therapie in Gynäkologie und Geburtshilfe. medifact publishing, München, 3. Auflage (http://www.medifact.info) Weissenbacher ER, Spitzbart H (2001) Mykosen in der Frauenheilkunde. medifact publishing, München WHO Angaben zur STD Epidemiologie Internet 2004 Guidelines for Adolescent Preventive Services. AMA (American Medical Association), Lapinskaitie 1999
39
371
40
40 Konzepte der Gesundheitsvorsorge bei Jugendlichen W. Hartmann 40.1
Entwicklung der Jugendmedizin in Deutschland
Gab es in Deutschland vor 1993 Jugendmedizin? Diese Frage ist nicht mit einem einfachen Ja oder Nein zu beantworten. Jugendliche waren bis 1993 als Zielgruppe für Gesundheitsvorsorge oder eine altersspezifische Medizin nicht relevant. Der Begriff »Jugendmedizin« war weitgehend unbekannt. Jugendliche wurden von verschiedenen Arztgruppen mitversorgt, fanden aber kaum kompetente Ansprechpartner für ihre spezifischen Probleme. Kinderärzte sahen sich vorwiegend zuständig für Kinder im Vorschulalter. Sie betreuten ältere Kinder, insbesondere Jugendliche, eigentlich nur dann, wenn sie chronisch krank waren oder Entwicklungsstörungen aufwiesen. Obwohl die Altersgrenze für die Behandlung bei Kinderärzten auch vor 1993 bei der vollendeten somatischen Entwicklung (18. Lebensjahr) lag, betrug der Anteil der Kinder ≥10 Jahre im Durchschnitt weniger als 15% aller Patienten einer Kinderarztpraxis. Auch Kinderkliniken waren bis vor wenigen Jahren für die Behandlung von Jugendlichen nicht eingerichtet. Allgemeinärzte und Internisten haben ihren Schwerpunkt bei Erwachsenen und Senioren. Nur wenige Frauenärzte sehen bis heute die Notwendigkeit, sich speziell um die Probleme pubertierender Mädchen durch Sondersprechstunden zu kümmern. Lediglich der öffentliche Gesundheitsdienst hat sich im Rahmen von Impfungen und Untersuchungen in den Schulen mehr oder weniger intensiv mit der Gesundheitsvorsorge von Jugendlichen befasst und bezeichnete sich zu Beginn der 1990er-Jahre vielerorts als »jugendmedizinischer Dienst«. Der Berufsverband der Kinderärzte nahm die Jugendmedizin 1994 in seinen Namen auf und nannte sich zunächst »Berufsverband der Ärzte für Kinderheilkunde und Jugendmedizin«. Heute trägt er den Namen »Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte«. Die Verbandszeitschrift heißt seit 1999 »Kinder- und Jugendarzt«. Seit dem Jahr 2002 ist die Berufsbezeichnung »Kinder- und Jugendarzt« bzw. Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin« in allen Landesärztekammern eingeführt.
40.2
Gesundheitsvorsorgeuntersuchungen für Jugendliche
Eine Arbeitsgruppe des Berufsverbands der Kinderärzte erarbeitete zwischen 1992 und 1993 das Konzept einer Vorsorgeuntersuchung U10, die dann zunächst nur für Privatpatienten im Alter von 13–14 Jahren im Jahr 1994 eingeführt wurde. Versicherte der gesetzlichen Krankenkassen mussten bis zum 01.10.1998 warten, bis ihnen eine Jugendgesundheitsberatung/-untersuchung angeboten wurde. Es gab davor ab 1996 zunächst eine zweijährige Pilotphase im Rahmen einer Sondervereinbarung zwischen der Kassenärztlichen Vereinigung Hessen und den Betriebskrankenkassen, der sich nach und nach auch einzelne Krankenkassen in anderen KV-Bereichen anschlossen.
Die jetzige J1 stellt einen Minimalkompromiss dar und verlangt keine besondere Qualifikation des Arztes. Sie wird zu etwa 70% von Kinder- und Jugendärzten, 25% von Allgemeinärzten und praktischen Ärzten und 5% von hausärztlichen Internisten durchgeführt, aber bislang von höchstens 32% aller Jugendlichen im Alter von 12–15 Jahren in Anspruch genommen (ASTORDatenbank der KBV/2000 Altersgruppe: 13–14 Jahre).
40.3
Warum Gesundheitsvorsorge bei Jugendlichen?
Ein großer Teil der sog. Zivilisationskrankheiten, deren Therapie jetzt in Disease-Management-Programmen (DMP) organisiert werden soll (Diabetes mellitus Typ II, chronisch-obstruktive Lungenerkrankungen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen) wäre durch eine frühzeitig bei Kindern und Jugendlichen einsetzende Gesundheitsvorsorge bzw. -erziehung vermeidbar und würde mindestens 40% aller Kosten im Gesundheitswesen einsparen. Etwa 20–30% aller Jugendlichen haben heutzutage eine völlig unzureichende körperliche Leistungsfähigkeit durch Übergewicht und/oder mangelnde Bewegung. Folgeerkrankungen im Erwachsenenalter wie die oben aufgeführten nehmen daher in erschreckendem Ausmaß zu. Hinzu kommen Erkrankungen des Bewegungsapparats, insbesondere Rücken-, Kopf- und Gelenkschmerzen, aber auch Allergien. In den letzten 20 Jahren haben sich Übergewicht und mangelnde körperliche Leistungsfähigkeit bei Jugendlichen verdoppelt. Etwa 80% der Jugendlichen klagen über regelmäßige Kopfschmerzen, 50% haben Konzentrationsprobleme, 40% Rückenschmerzen (Thielicke 2003). Jugendliche weisen teilweise Abnutzungserscheinungen auf, die man sonst erst bei Menschen nach dem 50. Lebensjahr findet. 40% der männlichen und 26% der weiblichen Bevölkerung in Deutschland rauchen, 20% aller Jugendlichen zwischen 12 und 14 Jahren trinken regelmäßig Alkohol (Deutsche Hauptstelle gegen Suchtgefahren). Etwa 70% aller 18-Jährigen haben Erfahrungen im Konsum von Cannabisprodukten, genaue Zahlenangaben über den Missbrauch anderer Drogen bei Jugendlichen liegen nicht vor (7 Kap. 37). Allergische Erkrankungen haben in den letzten Jahrzehnten deutlich zugenommen und stellen eine große gesundheitspolitische Herausforderung dar. Die Entwicklung allergischer Erkrankungen und deren Verlauf lassen sich durch Veränderung der Umweltbedingungen beeinflussen (Gesellschaft für pädiatrische Allergologie und Umweltmedizin). Die Folgekosten der Adipositas werden auf ca. 25 Mrd. Euro pro Jahr, die Kosten für Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems jährlich auf ca. 20 Mrd. Euro geschätzt. Nach der US-amerikanischen Bogalusa Heart Study (14.000 Kinder) werden die Grundsteine für eine spätere Arteriosklerose oder einen Herzinfarkt bereits im Alter von 5–8 Jahren gelegt (Thielicke 2003). Die Gesellschaft gibt jährlich Unsummen für die Behandlung vermeidbarer Erkrankungen aus, die gesamt-
372
Kapitel 40 · Konzepte der Gesundheitsvorsorge bei Jugendlichen
wirtschaftlichen Schäden dieser Fehlentwicklung sind um ein Vielfaches höher.
40.4
Was ist zu tun?
Jugendmedizin muss fester Bestandteil der ärztlichen Ausbildung werden. Neben den schon lange vom BVKJ geforderten Lehrstühlen für praktische Pädiatrie müssen die medizinischen Fakultäten auch interdisziplinäre Lehrstühle für Jugendmedizin einrichten. In die Lehre müssen niedergelassene Kinder- und Jugendärzte einbezogen werden. Dies geschieht zurzeit nur in 6 von 52 befragten Kliniken, nur 20% bieten eine spezielle jugendmedizinische Weiterbildung im Rahmen der Facharztweiterbildung an (GKind-Rundschreiben). Alle Verantwortlichen (Jugendliche, Eltern und Erzieher, Krankenkassen, Ärzte, Gesundheitsbehörden, Lehrer) müssen jede nur mögliche Anstrengung unternehmen, damit das bestehende (allerdings noch völlig unzureichende) Angebot der Gesundheitsvorsorge von möglichst allen Jugendlichen genutzt wird (7 Kap. 7). Im Zuge der Gesetzgebung müssen Anreize für Jugendliche geschaffen werden, an Präventionsmaßnahmen teilzunehmen und krankheitsförderndes Verhalten zu vermeiden oder einzustellen, z. B. Bonusregelungen in der Krankenversicherung nach Eintritt ins Berufsleben, halber Beitragsatz als Auszubildender oder Student, kostenlose Übernahme von Reiseimpfungen durch die GKV, kostenlose Schwangerschaftsverhütung, Fahrrad- bzw. Motorradhelm als Prämie der Krankenkasse, Übernahme des Mitgliedsbeitrages im Sportverein oder Fitnessstudio, Übernahme der Kosten für Tenniskurs o. Ä., Jahreskarte für das Schwimmbad usw. Wer nicht raucht, auf regelmäßigen Alkoholkonsum verzichtet, einen normalen BMI aufweist, nach den Empfehlungen der STIKO geimpft ist, regelmäßig Sport treibt, sich gesund ernährt und sich regelmäßigen Gesundheitsuntersuchungen und -beratungen unterzieht, kann solche Vergünstigungen in Anspruch nehmen. Qualitätssicherung und wissenschaftliche Begleitung solcher Programme sind unverzichtbar, um einen Wildwuchs zu verhindern. ! Die Präventionsangebote für Jugendliche müssen durch weitere Jugendgesundheitsuntersuchungen zwischen dem 10./11. sowie 16./18. Lebensjahr ausgebaut und attraktiv gestaltet werden.
Prävention sollte auch dort angeboten werden, wo sich Jugendliche aufhalten und ansprechbar sind. Jugendliche sollten vom Nutzen der Prävention überzeugt sein, sonst machen sie nicht mit. Es hat »cool« zu sein, gesund zu leben und Verantwortung für seinen Körper und sein Wohlbefinden zu übernehmen. Der erhobene Zeigefinger indessen lässt Jugendliche kalt, auch Bilder von Raucherbeinen und Raucherlungen beeindrucken einen Großteil der Jugendlichen nur wenig, weil sie für sie nicht real sind und sie sich größtenteils momentan fit fühlen. Verbote verführen Jugendliche dazu, sie zu umgehen, weil diese ja von Erwachsenen kommen, die die Freiheit von Jugendlichen immer nur beschränken wollen und häufig selbst keine Vorbildfunktion wahrnehmen. Gelebte Überzeugung ist wichtiger.
40
40.5
Wo beginnt Gesundheitsvorsorge Jugendlicher?
Gesundheitsvorsorge Jugendlicher beginnt natürlich bereits vor der Geburt während der Schwangerschaft und setzt sich nach der Geburt im Säuglingsalter fort. Die wichtigste Voraussetzung eines gesundheitsbewussten Verhaltens ist ein entsprechendes Elternhaus mit Vorbildfunktion. Im Kindergarten und in der Schule muss sich dies fortsetzen. Deshalb sind entsprechende Anreize zu setzen und Bedingungen für eine gesunde Entwicklung zu schaffen. ! Die Kindergärten haben ausreichende Angebote für Bewegung bei jedem Wetter (drinnen und draußen) bereitzustellen, die Erzieher müssen entsprechend ausgebildet sein, um bewegungsauffällige Kinder spielerisch zu fördern.
Dies gehört als fester Bestandteil in den täglichen Ablauf der Kindergärten. In der Schule muss der tägliche Sport-/Bewegungsunterricht Standard sein. Schulhöfe sollen zu Bewegung und Spiel (z. B. Volleyball, Basketball, Tischtennis, Streetball, Federball, Kletterangebote, Trimmgeräte) anreizen und auch nachmittags zur Verfügung stehen. Zeichnet sich im Kindergarten bereits eine Entwicklung ab, die eine Gefährdung der Gesundheit des Kindes wahrscheinlich macht, ist eine enge Zusammenarbeit zwischen allen Beteiligten (Eltern, Kinder- und Jugendarzt, Öffentlichen Gesundheitsdienst (ÖGD), Physiotherapeuten, Ergotherapeuten usw.) wichtig, um eine solche Entwicklung aufzuhalten bzw. zu korrigieren. Dazu benötigen wir auch eine aufsuchende Gesundheitsvorsorge, die vorwiegend vom ÖGD zu leisten ist, an der aber auch bei gesicherter Finanzierung niedergelassene Kinder- und Jugendärzte beteiligt werden sollten. Kindergärten und Schulen haben generell rauch- und alkoholfrei zu sein. Ernährung in diesen öffentlichen Einrichtungen hat gesund und ausgewogen zu sein, der Verkauf von Süßigkeiten, Limonaden, fettreichen Nahrungsmitteln, Fast Food hat in Schulverkaufsstellen nichts zu suchen. Im Unterricht sollten die Themen Gesundheit, Drogen/Sucht, Pubertät/Sexualität, Medienkonsum/Kommunikation und soziale Kompetenz einen festen Platz haben (Stichwort: gesundheitsfördernde Schule/gesunde Schule). Eltern haben ihrer Verantwortung gerecht zu werden. Hier könnte man ggf. auch mit einem Zusatzbonus beim Kindergeld oder anderen Vergünstigungen Anreize schaffen. Sind Jugendliche an einen gesunden Lebenswandel gewöhnt, gehört er zu ihrem Alltag, werden sie ihn auch wie selbstverständlich fortsetzen, wenn sie eigene Verantwortung für ihren Körper übernehmen. Gesundheitserziehung muss generell einen hohen Stellenwert in Kindergärten und Schulen erhalten und Erfolge ständig evaluiert werden.
40.6
Was müssen Kinder- und Jugendärzte tun?
Sie haben die Aufgabe, sich innerhalb ihrer Weiter- und später auch Fortbildung hinsichtlich der besonderen Probleme Jugendlicher sachkundig zu machen, wie z. B. Kongress Jugendmedizin jährlich in Weimar des BVKJ, Seminarreihe Jugend in der Praxis des BVKJ usw. (7 Anhang: Fortbildungsangebote). Die Angebote
373 Literatur
für Jugendliche müssen niedrigschwellig sein. Arztpraxen und Kinderkliniken sollten sich auf die besonderen Bedürfnisse von Jugendlichen einstellen (7 Kap. 12–16), insbesondere die Schweigepflicht gegenüber den Bezugspersonen Jugendlicher hat einen sehr hohen Stellenwert. Praxen und Kliniken, die räumlich und apparativ nur den Bedürfnissen von Säuglingen und Kleinkindern angepasst sind, sind für Jugendliche nicht attraktiv. In der Klinik verlangen Jugendliche, insbesondere chronisch-kranke Jugendliche mit häufigen Klinikaufenthalten, Zimmer mit Achtung der Intimsphäre, Telefonanschluss am Bett, Möglichkeit zum Fernsehen, Internetanschluss, eigene Nasszelle usw. Nach einer Erhebung der Gesellschaft der Kinderkliniken in Deutschland (GKinD) haben nur 27% der Kinderkliniken spezielle Stationen bzw. Räume für Jugendliche, eine spezielle Abteilung für Jugendmedizin nur 9%. Krankenhausschulen halten nur noch 57% der Kinderkliniken vor (Andler et al. 2002). Sprechstundenangebote in den Praxen sind an den Terminen Jugendlicher auszurichten. Jugendliche entscheiden oft spontan, dass sie ärztliche Hilfe oder eine Beratung benötigen. Hier ist große Flexibilität gefragt. Oft werden auch Freunde mitgebracht, weil sich der Jugendliche dann sicherer fühlt. Hier liegt eine große Chance für den Arzt, da er Zugang zur wichtigen Peergroup erhalten kann. Der Jugendliche bestimmt, ob die Eltern bei der Untersuchung und beim Gespräch anwesend sind, er entscheidet, was die Eltern erfahren. Der Arzt muss Vertrauen und Respekt vermitteln und den Jugendlichen ernst nehmen, auch wenn dieser eine oppositionelle Haltung einnimmt und vielleicht provozierend wirkt. Ärzte, die versuchen, sich auf die Ebene der Jugendlichen (in Kleidung, Aussehen und Auftreten) zu begeben, werden nicht akzeptiert. Der Arzt ist grundsätzlich nicht der Kumpel des Jugendlichen. Jugendliche schätzen es auch nicht, wenn Ärzte plötzlich an ihren Treffpunkten auftauchen oder in ihrer Disco. Zusammenarbeit mit Schulen, ÖGD, Sozialarbeitern usw. ist besonders wichtig (7 Kap. 42 und 43). Kinder- und Jugendärzte müssen aber auch raus aus der Praxis, hinein in die Schulen und Sportvereine. Dies geht natürlich nur dann, wenn die Finanzierung gesichert ist. Davon kann zurzeit nicht die Rede sein.
40.7
Was muss die Politik tun?
Die primäre Prävention muss endlich ernst genommen werden. Reparaturversuche bei chronischen Erkrankungen sind bei weitem nicht so sinnvoll und wesentlich teurer wie Investitionen in die Vermeidung von Zivilisationserkrankungen. Dies ist nicht nur eine Aufgabe der Krankenkassen, sondern eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Gesundheitsvorsorge ist Bestandteil des Alltags. Die gesetzgeberischen Aktivitäten der letzten Jahre lassen nicht erkennen, dass die politischen Entscheidungsträger ihre Verantwortung erkannt und den Mut haben, die Weichen für die Zukunft zu stellen. Eigenverantwortung kommt nach wie vor zu kurz, auch im Gesundheitswesen. Die gesamte Umwelt ist nicht an den Bedürfnissen von Kindern und Jugendlichen ausgerichtet. Auto- und Busfahrten zur Schule sollten auf ihre Notwendigkeit überprüft werden. Ein Kind im Alter von 10 Jahren kann durchaus 3 km zur Schule laufen oder mit dem Fahrrad fahren. Dazu ist es notwendig, dass Städte und Gemeinden entsprechend gesicherte Schulwege ausbauen. Familien haben so abgesichert zu sein, dass Kinder kein
40
Armutsrisiko darstellen und eine gesunde Lebensweise finanzierbar ist. Werbung für Tabak- und Alkoholkonsum muss tabu, öffentliche Gebäude rauchfreie Zonen sein. In Gaststätten und Restaurants sollte es ebenfalls rauchfreie Zonen geben. Alkoholfreie Getränke sollten grundsätzlich deutlich preiswerter angeboten werden als alkoholhaltige. Die modernen Mixgetränke (Cola mit Bier, Limonade mit Bier usw.), die ja den Einstieg in den Verzehr alkoholhaltiger Getränke erleichtern sollen, gehören geächtet. Ebenso wichtig ist, dass strenger auf die Einhaltung des Jugendschutzes geachtet wird. Subventionen für den Anbau von Tabak gehören gestrichen. Politiker sollten in der Öffentlichkeit (ebenso wie Ärzte, Lehrer, Idole Jugendlicher mit Vorbildcharakter), insbesondere in den Medien, nicht rauchen und sich nicht in bierseliger Runde zeigen. Für Jugendliche, die bereits Zivilisationsschäden aufweisen, ist das Angebot erreichbarer Hilfen wichtig, um diese Schäden zu reduzieren. Man könnte z. B. bewegungsauffällige Kinder und Jugendliche in den Schulen durch Sportpädagogen in kleinen Gruppen besonders fördern, Kinder und Jugendliche mit Übergewicht in entsprechenden Gruppen unter Einbeziehung der Eltern langfristig betreuen, rauchenden und trinkenden Jugendlichen in Gruppen Hilfen geben und bei erfolgreicher Teilnahme besondere Vergünstigungen (7 oben) gewähren.
Literatur Thielicke R (2/2003) Bild der Wissenschaft, S 68–73 Deutsche Hauptstelle gegen Suchtgefahren: http://www.dhs.de Stellungnahme der Gesellschaft für Pädiatrische Allergologie und Umweltmedizin (1/2003) Pädiatrische Allergologie, S 6–12 Gesellschaft der Kinderkliniken in Deutschland. Rundschreiben 2/2003, S 3–7 Andler W, Grotensohn Ch, Koob B, Lübbers W, Tewes D (2002) Mschr. Kinderheilkunde 12, S 1546–1552
41
41 Konzepte der Gesundheitsvorsorge – Sport D. Grunert
)) »Der, welcher vorzüglich geht, auch vorzüglich denkt.« (Thomas Bernhard) Die überwiegende Mehrheit der Jugendlichen erfreut sich nach wie vor guter Gesundheit. Doch die Zahl von Haltungsschwächen und Haltungsschäden steigt, psychomotorische und psychosomatische Störungen nehmen zu. Bewegungsmangel spielt bei nahezu 80% aller Krankheiten eine Rolle. Nach Auswertung der Daten zur J1 hatten ca. 14% der Jungen und Mädchen Übergewicht sowie 20% Probleme am Skelettsystem, insbesondere im Bereich der Wirbelsäule. Die Ausübung von Sport ist eine wesentliche Säule in der Prävention.
41.1
Gesundheit und Sport
41.1.1 Positive Effekte von Sport auf
»Körperfunktionen« Unbestritten sind seit langem die positiven Auswirkungen von Sport auf den menschlichen Organismus. Zu erwähnen ist hier insbesondere der positive Effekt auf das Herz-Kreislauf-System und auf den Bewegungsapparat. Die wichtigsten Auswirkungen von Sport werden im Folgenden aufgeführt. Herz-Kreislauf-System Die Leistungsfähigkeit des Herzens und die Funktionsfähigkeit und Elastizität des Kreislaufsystems hängt stark vom Trainingszustand ab. Das Herz eines untrainierten Jugendlichen schlägt ca. 70-mal pro Minute, um den Körper in Ruhe zu versorgen. Das Herz eines Fitnesstrainierten benötigt in Ruhe 50–60 Schläge, das eines Leistungssportlers nur 30–40 Schläge für dieselbe Leistung. Ein trainiertes Herz arbeitet kräftiger, benötigt selbst weniger Sauerstoff und schlägt bei gleicher Belastung langsamer. Das Herz-Kreislauf-System wird besonders effektiv durch aerobe Ausdauerbelastung trainiert. Atmungssystem Durch Sport, insbesondere Ausdauertraining, wird das gesamte Atmungssystem verbessert. Die Sauerstoffzufuhr bei Belastung wird damit erhöht und die Leistungsfähigkeit von Bewegungsapparat, Herz und auch Gehirn verbessert. Sport trainiert auch die Atemmuskulatur. Zwerchfell, Bauchmuskulatur und die Zwischenrippenmuskeln bewegen Brustkorb und Lunge und sorgen so für Ein- und Ausatmung. Eine tiefe Einatmung verbessert die Sauerstoffzufuhr, tiefe und rasche Einatmung führt zu einer Erhöhung des Aktivitätsniveaus. Tiefe Ausatmung dagegen wirkt beruhigend auf unser autonomes Nervensystem. So kann durch tiefe bewusste Ausatmung, insbesondere durch tiefe »Bauchatmung« die Wirkung von Stress vermindert werden.
Ein trainiertes Atmungssystem beugt Lungenerkrankungen mit Einschränkung der Lungenfunktion vor. Es erhöht die körperliche und psychische Leistungsfähigkeit und kann aktiv bei der Stressbewältigung eingesetzt werden. Das Atmungssystem kann insbesondere durch aerobe Ausdauerbelastung und auch direkt durch Atmungsschulung trainiert und verbessert werden. Bewegungsapparat Die Wirbelsäule ist das zentrale Stützelement unseres Körpers. Die Anfälligkeit der Wirbelsäule ist verursacht durch ihre vielfältigen, teilweise widersprüchlichen Aufgaben und nicht zuletzt durch unseren aufrechten Gang. Eine gut trainierte Bauch- und Rückenmuskulatur kann sie vor Schäden bewahren. Mehr als 650 einzelne Muskeln stützen und bewegen unseren Körper und jeder einzelne will trainiert werden. Unser Körper wird durch koordinierte Arbeit von Muskelgruppen bewegt. Die Muskeln sind für die Mimik ebenso verantwortlich wie für das Gehen und Laufen oder das feine Arbeiten mit kleinsten Gegenständen. Jede aktiv ausgeführte Bewegung führt zu Verschaltungen im Gehirn. Diese zusätzlichen Verschaltungen beschleunigen unseren zentralen »Prozessor«, erhöhen die zentrale Verarbeitungsgeschwindigkeit und dadurch die Intelligenz. Besonders wirkungsvoll sind dabei komplexe Bewegungsabläufe, z. B. bei Ballspielen, Golf, Tennis etc. Durch Sport wird der Bewegungsapparat flexibler und belastbarer. Das Skelettsystem wird stabiler. Den Abbauvorgängen, insbesondere der Osteoporose, wird vorgebeugt. Gehirn und Nervensystem Alle Muskeln und Organe funktionieren nur aufgrund von Nervenimpulsen. Dabei arbeiten drei Systeme zusammen – das zentrale Nervensystem, das periphere und das autonome Nervensystem. Das zentrale Nervensystem mit Gehirn und Rückenmark ist die zentrale Schaltstation für die Leitung, Verarbeitung und Speicherung von Daten. Gleichzeitig ist das Gehirn die Steuerzentrale unseres Körpers. Bewegungen können nur teilweise bewusst ausgeführt werden. Bereits das »einfache« Gehen überfordert das aktive Bewusstsein. Beteiligt sind u. a. Sensoren in Haut, Gelenken und Muskeln, das Innenohr mit dem Gleichgewichtsorgan, die Augen, diverse periphere Nerven- und Leitungsbahnen, das Rückenmark, der Hirnstamm, das Kleinhirn, das Großhirn, die Muskulatur der Beine, des Beckens, des Rumpfes mit der Wirbelsäule, des Halses und die Atemmuskulatur. Bereits kleine Veränderungen – z. B. der Körperhaltung – verändern das gesamte System. Zum Ausgleich sind sehr komplizierte Berechnungen mit Millionen an Rechenvorgängen im Gehirn notwendig. Der Rechen- und Steueraufwand für unser Gehirn ist bei komplizierten Bewegungsabläufen wie beim Werfen eines Gegenstandes, beim Radfahren oder auch beim Klavierspielen unvorstellbar groß. Jeder einzelne Bewegungsablauf muss daher eingeübt und regelmäßig trainiert werden. Durch komplexe Ver-
375 41.1 · Gesundheit und Sport
schaltungen wird das Gehirn für jeden einzelnen Bewegungsablauf programmiert. Diese Verschaltungen werden dann auch für andere Aufgaben genutzt. Für sportliche, aber auch alle anderen Aktivitäten gilt: »Gewonnen wird im Kopf.« Die Rechengeschwindigkeit des Gehirns wird über Bewegung trainiert. Ein Jugendlicher, dessen Motorik, Beweglichkeit und Koordination gefördert wird, entwickelt sich auch geistig besser. Ausdauertraining ergänzt diesen Effekt – Ausdauertraining ist gleichzeitig Gehirnjogging! 15 Minuten aerobes Ausdauertraining steigern die Gehirndurchblutung um 25–40%. Sportler und sportlich aktive Jugendliche sind körperlich fit und beweglich, aber auch geistig Nichtsportlern im Durchschnitt überlegen. Endokrines System Das endokrine System mit seinen Hormondrüsen produziert Botenstoffe – die Hormone. Die Steuerung der Hormonproduktion erfolgt u. a. durch das autonome Nervensystem. Hormone sind verantwortlich für viele lebenswichtige Körper- und Stoffwechselfunktionen, Wachstum, Antrieb, Stressreaktionen und auch für Emotionen wie Angst und Freude. Insulin beispielsweise senkt einerseits den Blutzucker und fördert andererseits die Speicherung von überflüssigen Kalorien in Fettdepots im Körper sowie die Bildung von Cholesterin und Triglyceriden. Die Körperzellen ausdauertrainierter Menschen benötigen weniger Insulin. Gleichzeitig werden durch Ausdauertraining Fettdepots abgebaut. Ausdauertraining ist ein aktiver Schutz vor Fettsucht, Bluthochdruck, Herzinfarkt usw., d. h. vor den wichtigsten Zivilisationskrankheiten! Die Hormone der Nebenniere – insbesondere Adrenalin und Cortisol – sind wesentlich beteiligt am sog. Stressmechanismus. Hoher Stress löst eine Kampf- oder Fluchtreaktion aus. Primär wird Adrenalin freigesetzt. Dadurch erhöhen sich Herzschlag und Atmung, der Blutdruck steigt, Energie wird sofort bereitgestellt usw. Dauernder hoher Stress (Disstress) ohne die Möglichkeit des Ausgleichs macht krank. Die Folgen sind allgemeiner Leistungsabfall, psychovegetative Erschöpfung, Schlafstörungen, Depressionen, hohe Blutfette, Arterienverkalkung, Bluthochdruck und Herzinfarkt. Die Grundlage des Stressmanagements ist sportliche Betätigung, insbesondere Ausdauersport. Dazu kommen Verbesserung der Kraft und Beweglichkeit, was indirekt auch zu einer Verbesserung der psychischen Kraft und zur Verbesserung der geistigen Beweglichkeit führt (s. oben). Sport optimiert die Reaktionen des Körpers beim Stress. Die Konzentration der Stresshormone nimmt bei Stress langsamer zu und die Rezeptoren der Erfolgsorgane (z. B. des Herzens) werden unempfindlicher. Dadurch sind auch die körperlichen Reaktionen wie die Erhöhung der Herzfrequenz oder die Erhöhung des Blutdrucks abgemildert. Zusätzlich werden durch Sport die freigesetzten Energien wieder abgebaut. Die Blutfette sinken, der Blutdruck wird normalisiert. Dadurch wird den Folgekrankheiten des Stress vorgebeugt. Für die Jugendlichen ist aktive sportliche Betätigung die Grundlage der Bewältigung und Ausgleich von Stress, der durch Schule, Umwelt usw. verursacht wird. Energiestoffwechsel Die Muskulatur ist neben der Leber das größte Stoffwechselorgan. Zur Energiegewinnung werden in den Kraftwerken der Zellen, den Mitochondrien, Fette und Kohlenhydrate (v. a. Glukose)
41
verbrannt. Der effektivste Weg der Energiegewinnung ist dabei nur mit Hilfe von Sauerstoff nutzbar. Bei dieser sog. aeroben Energiegewinnung werden Fettsäuren zu Kohlendioxid und Wasser abgebaut. Diese Art der Energiegewinnung hat mehrere Vorteile: 4 Fette sind in nahezu unerschöpflicher Menge vorhanden. 4 Abfallprodukte können problemlos durch Atmung und Niere beseitigt werden. 4 Kohlenhydrate werden für die Versorgung des Gehirns und für Notfälle gespart. Sportliches Training im richtigen, d. h. niedrigen aeroben Belastungsbereich verbessert die Möglichkeit der aeroben Energiegewinnung deutlich. Ein untrainierter Jugendlicher kann 30 ml Sauerstoff pro Kilogramm Körpergewicht in der Minute umsetzen. Beim ausdauertrainierten Hobbysportler liegen die Werte bei 50–60 ml, bei Spitzensportlern bis über 80 ml Sauerstoff. Diese sog. maximale Sauerstoffaufnahme ist das beste Maß für die Kondition eines Menschen. Bei der anaeroben Energiegewinnung wird Glukose zu Milchsäure (Laktat) abgebaut. Vorteil ist die schnellere Energieproduktion. Die Leistung wird für kurze Zeit erhöht, was quasi einem Turboeffekt entspricht. Die Nachteile sind jedoch vielfältig: 4 Die Glukosevorräte sind begrenzt. 4 Das Abfallprodukt Milchsäure (Laktat) kann nur langsam ausgeschieden werden. 4 Die Muskelzellen und der Organismus werden buchstäblich »sauer«. 4 Stoffwechselvorgänge werden gehemmt. 4 Es fallen größere Mengen freier Radikale an, welche die Zellwände schädigen können. Freie Radikale werden als Mitverursacher vieler schwerwiegender Erkrankungen wie rheumatischen Erkrankungen, Tumoren etc. diskutiert. Ziel von fitness- bzw. gesundheitsorientiertem Sport muss die Verbesserung der aeroben Kapazität sein. Das Ausdauertraining soll zum überwiegenden Teil in diesem Bereich durchgeführt werden. Das Training der aeroben Ausdauer ist in jedem Lebensalter möglich. Die mögliche maximale Sauerstoffaufnahme steigt bei Jungen linear bis zum 16. Lebensjahr, bei Mädchen ca. zum 13. Lebensjahr. Das heißt, die mögliche maximale Ausdauerleistung ist durch den Energiestoffwechsel während der Entwicklung begrenzt. ! Erst nach Abschluss der Entwicklung ist ein praktisch »unbegrenztes« Ausdauertraining sinnvoll. Die Möglichkeit der anaeroben Energiegewinnung ist vor dem 10.–11. Lebensjahr praktisch nicht vorhanden! Das heißt ein hartes anaerobes Training ist vor dem 10. Lebensjahr sinnlos – häufig sogar schädlich – ebenso wie z. B. der Wettkampf im Bereich der Kurz- und Mittelstrecken.
41.1.2 Positive Auswirkungen von Sport
auf die Psyche Durch Sport werden wichtige psychische Qualitäten wie Selbstbewusstsein, Toleranz gegenüber Enttäuschungen und Niederlagen, Konfliktfähigkeit, positives Denken, Durchsetzungsvermö-
376
41
Kapitel 41 · Konzepte der Gesundheitsvorsorge – Sport
gen usw. entwickelt, verbessert und gefördert. Insbesondere bei der Ausübung von Ausdauersport sind auch direkte positive Wirkungen auf die Psyche zu beobachten. Einerseits sind an diesem Effekt Endorphine beteiligt, andererseits ist dies durch den Abbau der angestauten Energien und das Absinken der Stresshormone zu erklären. Zu den direkten positiven Auswirkungen gehören u. a. ein Abbau von Spannungen und Ängsten und ein Gefühl des Wohlbefindens. Sport fördert die Zufriedenheit, führt zu Kontakten mit Gleichgesinnten und ist sinnvolle und nützliche Aktivität in der Freizeit. Sportlich aktive Jugendliche nehmen praktisch keine Drogen, trinken weniger Alkohol und rauchen signifikant weniger als inaktive Altersgenossen. Leistungsstress beim Sport durch z. B. falsches Training mit überzogenen Erwartungen oder bei bestehenden körperlichen Handicaps kann allerdings auch sehr negative Auswirkungen auf die Psyche haben und zu deutlichem Leistungsabfall führen. 41.1.3 Sport als Therapie Sport wird im Jugendalter therapeutisch eingesetzt bei einer Vielzahl von Erkrankungen. Dabei werden die oben erwähnten positiven Effekte von Sport genutzt. Bei folgenden Erkrankungen ist u. a. Sport essentieller Bestandteil der Therapie: Asthma bronchiale, Adipositas (Fettsucht), Haltungsschwäche, Diabetes mellitus, Fettstoffwechselstörungen, diverse psychosomatische Erkrankungen. Dabei ist auch auf eine gewisse Homogenität der Sportgruppe zu achten, um Erfolgserlebnisse zu ermöglichen. Die idealen Sportarten in der Therapie sind v. a. Sportarten mit hohem Ausdaueranteil (. Tab. 41.1). Bei Adipositas ist Krafttraining zum Muskelaufbau sehr sinnvoll. Bei psychosomatischen Erkrankungen sind Sportarten, die das Selbstbewusstsein stärken (z. B. Kampfsportarten, Reiten etc.) und ergänzend Yoga günstig. ! Sport als Therapie soll immer in Zusammenarbeit von Jugendlichem, Jugendarzt und Trainer durchgeführt werden.
41.2
Die sportlichen Fertigkeiten
Bei sinnvoller sportlicher Betätigung müssen alle sportlichen/ körperlichen Fertigkeiten trainiert werden. Im Einzelnen sind dies Kraft, Beweglichkeit (Flexibilität), Ausdauer, allgemeine Koordination, Schnelligkeit und sportartspezifische Koordination sowie die Atmung. 41.2.1 Kraft Muskelkraft ist Voraussetzung für jede Bewegung. Sinnvoll eingesetztes Krafttraining ist daher auch Grundlage für sportliche Leistungsfähigkeit. Im Jugendalter ist der Einsatz des Krafttrainings problemlos. Es soll allerdings niemals primär Maximalkraft trainiert werden. Prinzipiell können der eigene Körper, aber auch Gewichte oder Geräte zum Kraftaufbau genutzt werden. Es wird in der Regel mit niedriger bis mittlerer Belastung mit relativ vielen Wiederholungen geübt. Ziel ist eine kraftvolle, aber flexible Muskulatur. 41.2.2 Beweglichkeit Die Verbesserung und der Erhalt der Beweglichkeit sind wichtig für jede Art der sportlichen Betätigung, aber auch wichtiger Teil einer effektiven Gesundheitsvorsorge. Prinzipiell soll die Beweglichkeit bereits im Kleinkindalter verbessert werden. Leider werden entsprechende »Trainingsprogramme« im Kindergarten und in der Grundschule nur sehr unzureichend angeboten und durchgeführt. Auch zu Hause wird in der Regel lieber »unbeweglich« ferngesehen oder mit dem Computer gespielt. Die Folge davon sind in der Mehrzahl Jugendliche mit eingeschränkter Beweglichkeit und mangelnder Kraft. Das Beweglichkeitstraining ist daher sehr wichtig zur Erlangung sportlicher Kompetenz. Das Training kann in Form von Tanzen (Schauen Sie mal einem Hip Hopper zu!), Stretchingprogrammen, Gymnastik oder auch Yoga durchgeführt werden. 41.2.3 Ausdauer
41.1.4 Sport in der Prävention Für viele Jugendliche bedeutet »Sport treiben« Verbesserung des Aussehens und Erhöhung der Attraktivität. Dies sind häufig die primären Beweggründe, sich sportlich zu betätigen. Im Bereich Drogen- und Gewaltprävention liegt ein großer Nutzen sportlicher Aktivität im Jugendalter. Daneben sind auch hier die Vorbeugung von Adipositas, Haltungsschwächen usw. zu erwähnen. Der hauptsächliche gesundheitliche Nutzen liegt sicher in der präventiven Wirkung von Sport für das Herz-Kreislauf-System, das Atmungssystem und den Bewegungsapparat. Vorzeitigem Abbau wie der Osteoporose und Erkrankungen wie Herzinfarkt, Bluthochdruck, Diabetes mellitus etc. wird vorgebeugt. Neuere Untersuchungen zeigen außerdem einen Schutzeffekt von Ausdauertraining, insbesondere von Gehen und Laufen, für drei häufige Krebsarten – nämlich Brustkrebs, Prostatakrebs und Dickdarmkrebs. Der gesundheitliche Nutzen ist zwar erst in Jahren ablesbar. Der Nutzen für den Einzelnen, aber auch der Nutzen für die Gesellschaft ist jedoch erheblich.
Gemeint ist hier v. a. die sog. aerobe Ausdauerleistung, d. h. die Ausdauer bei Fettverbrennung mit Hilfe von Sauerstoff (7 oben). Ausdauerleistung kann gemessen werden auf dem Ergometer mit Hilfe der Spiroergometrie (Messung der Sauerstoffaufnahme und Kohlendioxidabgabe unter zunehmender Belastung) oder auf dem Laufband mit Hilfe verschiedener Testverfahren (z. B. Conconi-Test). Die Ausdauer eines Kleinkindes ist aufgrund des meist hohen Bewegungsdranges in diesem Alter relativ hoch. Die Ausdauer nimmt ohne dauernde Übung im Laufe des Lebens rasch ab. So ist es möglich, dass bereits 30-Jährige ihren Körper bei entsprechendem Übergewicht nicht mehr über 20 Treppenstufen bewegen können. Ausdauertraining sollte im Jugendalter aus verschiedenen Gründen besonders beachtet werden. Ausdauertraining hat vielfältige gesundheitliche Vorteile und wird in der Prävention und Therapie eingesetzt. 4 Ausdauertraining optimiert die Funktion von Herz und Kreislauf.
41
377 41.2 · Die sportlichen Fertigkeiten
. Tabelle 41.1. Trainingseffekte und allgemeiner gesundheitlicher Nutzen (1 = gering; 5 = sehr hoch)
Sportart
Kraft
Beweglichkeit
Ausdauer
Koordination
Schnelligkeit
Gesundheitlicher Nutzen
Aerobic
3
2
4
3
1
3
Badminton
2
2
3
5
4
3
Ballett
2
5
3
4
1
2
Basketball
2–3
2
3–4
4
5
3
Bergsteigen
4
3
3–4
3
1
3
Bergwandern
2
2
3–4
1
1
4
Boxen
3–4
4
3–4
4
4
1
Eishockey
3
3
4
5
5
2
Eisschnelllauf
3–4
2
5
4
4
4
Fechten
2
4
3
4
5
3
Fußball
2–3
3
3–4
3–4
4
3–4
Handball
2–3
3
3–4
3–4
5
2–3
Inlineskating
1–2
1-2
3–4
3
2
3–4
Jogging
1–2
1-2
5
1–2
1-2
5
Judo (Kampfsport)
4
3
3
4
5
3–4
Krafttraining
5
1–2
1
2
2
3
Laufen (Kurzstrecke)
3
2
2
2
5
1–2
Laufen (Mittelstrecke)
2
2
3–4
2
4
3–4
Laufen (Langstrecke)
1–2
2
5
2
3
5
Mountainbiking
3–4
2
5
3–4
2
3–4
Radfahren (Straße)
3
2
5
2
3
5
Reiten
2
2
2
4–5
1
3–4
Rudern
4
2
5
3
1
3
Schwimmen
3
3
4–5
3
2
3–4
Ski alpin
3–4
3–4
2
4–5
2
3
Skilanglauf
3–4
2
5
2
1–2
5
Snowboarden
1–2
1–2
1–2
4–5
2
3
Squash
2–3
3
4
4
5
3
Tennis
2–3
3
3–4
4
4
3–4
Tischtennis
2
4
2
4
2
2–3
Triathlon
4
3
5
3–4
2–3
5
Turnen
5
5
2
5
3
3
Volleyball
2–3
3–4
2
3
4
3
Windsurfen
2–3
2
2
4
1
3
378
41
Kapitel 41 · Konzepte der Gesundheitsvorsorge – Sport
4 4 4 4 4
Ausdauertraining verbessert den Stoffwechsel. Ausdauertraining verbessert die Immunabwehr. Ausdauertraining ist Grundlage des Stressmanagements. Ausdauertraining verbessert die Gehirndurchblutung. Ausdauertraining schult die Psyche und erhöht das Durchhaltevermögen. 4 Gute Ausdauer ist Voraussetzung für jedes leistungsorientierte Training. ! Ausdauertraining soll überwiegend im aeroben, d. h. niedrigen Belastungsbereich durchgeführt werden! Sinnlos ist z. B. der übliche 1000 m-Lauf in der Schule!
Die Mindesttrainingsdauer einer Einheit ist 20 Minuten. Darunter ist kein nennenswerter Effekt zu erzielen. Prinzipiell wird ab einem gewissen Trainingsstand die Dauer der Belastung und nicht die Geschwindigkeit erhöht. Ein optimales Training setzt einen Leistungstest voraus. Ist dieser nicht durchführbar, sollte im Jugendalter eine Pulsfrequenz von ca. 150/min als Richtwert nicht überschritten werden. Zu bemerken ist allerdings, dass individuell erhebliche Abweichungen von diesem Wert möglich sind. Ein sinnvolles Ausdauertraining in der Gruppe ist nur möglich bei Messung der Pulsfrequenz – am besten mittels Pulsmesser. 41.2.4 Allgemeine Koordination Das Training der allgemeinen Koordination muss bereits im Kleinkindalter beginnen. Richtiges Gehen, Laufen, Hüpfen, Springen, Ball werfen etc. ist nicht von Natur aus vorhanden. Jeder komplexe Bewegungsablauf muss geübt werden. Die entsprechenden Bewegungsprogramme werden im Gehirn gespeichert und sind bei Bedarf abrufbar (7 Abschn. Gehirn und Nervensystem). Für jede Bewegung gibt es ein ideales Alter für das Training. Im Jugendalter sollte die Kompetenz für alle üblichen komplexen Bewegungen vorhanden sein. Dennoch ist es notwendig und sinnvoll, auch scheinbar einfache Bewegungsabläufe wie Gehen und Laufen etc. zu optimieren. Ziel beispielsweise beim Lauftraining ist, mit möglichst geringem Energieeinsatz möglichst schnell und dennoch gelenk- und wirbelsäulenschonend zu laufen. Rücken und Kopf sollen möglichst aufrecht sein. Der Fuß wird mit dem Ballen (nicht der Ferse) aufgesetzt. Die Stöße werden durch Fuß und Beinmuskulatur gedämpft. 41.2.5 Schnelligkeit ! Ein Training der Schnelligkeit ist nur bei genügend vorhandener Kraft, guter Beweglichkeit und Ausdauer sowie optimaler Koordination des Bewegungsablaufs sinnvoll.
Ohne die genannten Voraussetzungen ist das Schnelligkeitstraining einerseits ineffektiv und kann andererseits zu gesundheitlichen Schäden z. B. im Gelenkbereich führen. Viele Sportverletzungen und Beschwerden beim Sport haben ihre Ursache im falschen Trainingsaufbau (es wird z. B. Schnelligkeitstraining ohne ausreichende Kraft und Beweglichkeit durchgeführt), in zu »hartem« Training (die Muskeln und Gelenke werden beim Krafttraining durch zu hohe Gewichte überlastet oder statt aerobem Ausdauertraining wird zu häufig im anaero-
ben, »sauren« Bereich trainiert etc.) oder in mangelnder Koordination des Bewegungsablaufs (z. B. Weitsprungtraining ohne adäquates Techniktraining). Ein weiterer häufiger Fehler ist die fehlende Regeneration, was zu Übertrainingssymptomen und Leistungsabfall führt. 41.2.6 Sportartspezifische Koordination Das Training der sportartspezifischen Koordination ist erst sinnvoll möglich, wenn die für die jeweilige Sportart grundlegenden Fähigkeiten wie z. B. Kraft, Ausdauer, allgemeine Koordination ausreichend vorhanden sind. Bei normaler Entwicklung und adäquater sportlicher Förderung sollte dies im Jugendalter für praktisch alle Sportarten gegeben sein. 41.2.7 Atmung Eine optimale Atmung ist wichtig für die Versorgung jeder Körperzelle mit Sauerstoff sowie für die Entfernung des anfallenden Kohlendioxids. Insbesondere Gehirn und Muskulatur sind auf ausreichende Sauerstoffzufuhr angewiesen. Eine unzureichende Sauerstoffzufuhr vermindert und begrenzt die Leistungsfähigkeit. Eine gute Atemtechnik ist nicht automatisch vorhanden. Häufig wird sogar paradox geatmet, d. h. der Bauch wird bei dem Versuch verstärkter Einatmung eingezogen (dies verringert das Atemvolumen). Weitere Fehler sind »Pressen« beim Ausatmen (führt zu »Seitenstechen«), flache Atmung, unkoordinierte Atmung etc. Das Üben einer optimalen Atmung ist eine wichtige Voraussetzung für Leistungsfähigkeit und Wohlbefinden. Wichtige Bestandteile einer guten Atemtechnik sind: 4 Nutzen des gesamten Atemraumes beim Einatmen (mit Einsatz des Zwerchfells, d. h. sog. Bauchatmung) 4 Tiefe verlängerte Ausatmung (die Dauer der Ausatmung sollte länger sein als die Einatmung – optimal 2:1) 4 Atmung und Bewegung sollen koordiniert sein, d. h. der Atem wird dem Rhythmus der Bewegung angepasst 4 Nasenatmung wird solange wie möglich auch bei Belastung beibehalten Zusätzlich sollten Atemtechniken geübt werden, die dazu geeignet sind zu beruhigen, Stress abzubauen, die Konzentration zu steigern (z. B. tiefe ruhige Bauchatmung) oder auch Körper und Geist zu aktivieren (z. B. Atemtechniken mit rascher tiefer Einatmung).
41.3
Sportartspezifisches Training
41.3.1 Prinzipielles Im Jugendalter gibt es bis auf wenige Ausnahmen keine Einschränkungen beim Training inkl. Leistungstraining bestimmter Sportarten. In dieser Entwicklungsphase müssen allerdings einige Besonderheiten berücksichtigt werden wie z. B.: 4 Körperliche Unterschiede insbesondere im Kraftbereich zwischen Früh- und Spätentwicklern 4 Das beschleunigte Längenwachstum und die dadurch bedingte schlechtere Koordination
379 41.3 · Sportartspezifisches Training
4 Auftreten von Haltungsschwächen bedingt durch Längenwachstum sowie unzureichende Bauch- und Rückenmuskulatur 4 Risiko für entwicklungsbedingte Erkrankungen des Bewegungsapparates wie M. Scheuermann oder M. OsgoodSchlatter 4 Empfindliche, schmerzhafte Brust bei Mädchen 4 Psychische Labilität Sportlich aktive Jugendliche benötigen eine einfühlsame Begleitung. Anerkennung und positive Verstärkung sind besonders wichtig. Dies gilt für den Vereinssport, aber insbesondere auch für den Schulsport. Hier steht die Notengebung der positiven Verstärkung häufig entgegen. Wer über das Jugendalter hinaus Sport betreibt, wird auch im Erwachsenenalter sportlich aktiv bleiben. Hier liegt daher eine hohe Verantwortung für Trainer und Lehrer. Cave Jugendliche mit Beschwerden beim Sport oder Erkrankungen wie z. B. Asthma bronchiale sollten unbedingt einem sportmedizinisch versierten Jugendarzt vorgestellt werden!
41
werden. Die gesundheitlichen Aspekte von Sport müssen ebenso wie die Aspekte der besseren allgemeinen Leistungsfähigkeit, der Stressbewältigung usw. (s. oben) im Vordergrund stehen. Eine gerechte Notengebung muss sich immer an den Möglichkeiten des einzelnen Jugendlichen orientieren. Maßstab sollten z. B. sein: 4 Verbesserung der Leistungsfähigkeit in einem bestimmten Zeitraum 4 Einsatzwille 4 Konsequenz beim Üben 4 Einhalten vereinbarter Ziele 4 Mannschaftsdienliches Verhalten bei Spielsportarten 4 Theoretische Kenntnisse Daneben sind insbesondere auch beim Schulsport die allgemeinen Regeln und Grundsätze für Sport im Jugendalter zu beachten. Besonders wichtig wäre in diesem Bereich die Zusammenarbeit mit den Jugendärzten und den verfügbaren Vereinstrainern. ! Die Mindestmenge Sport sollte bei 3-mal 2 Schulstunden (= 3-mal 90 min) liegen. In 45 min (inkl. Umziehen und Duschen) ist kein vernünftiges Training durchführbar!
41.3.4 Cross-Training (Ausgleichstraining) 41.3.2 Die geeignete Sportart Die Auswahl der geeigneten Sportart für den Leistungsbereich hängt von diversen Faktoren ab: 4 Körperbau: Schmal mit geringer Muskelmasse, mittel und athletisch, breit und große Muskelmasse, etc. 4 Körpergröße 4 Interessen des Jugendlichen 4 Möglichkeiten vor Ort Die Beratung sollte durch einen sportmedizinisch erfahrenen Jugendarzt evtl. in Zusammenarbeit mit dem Trainer durchgeführt werden. Ziel darf nicht sein, den Jugendlichen in eine sportliche Richtung zu zwingen. Vielmehr geht es darum, für den Jugendlichen die Sportarten, für die er optimale Möglichkeiten besitzt, zu empfehlen. Die endgültige Wahl liegt immer beim Jugendlichen selber. 41.3.3 Sport in der Schule Im Schulsport ist es häufig üblich, dass Leistungen in spezifischen Sportarten bewertet werden. Diese Bewertung findet unabhängig von den körperlichen Möglichkeiten der Jugendlichen statt. Dies führt dann dazu, dass z. B. schmale, sehr groß gewachsene Jugendliche im Geräteturnen versagen (müssen) oder breit und schwer gebaute Jugendliche beim 1000 m-Lauf. ! Die Frustration durch schlechte Noten für unverschuldet »schlechte« Leistungen führt nicht selten dazu, dass Jugendliche sportliche Aktivität hassen lernen (s. auch das Problem der Adipositas).
Das Ziel von Sport in der Schule muss jedoch weitgehend unabhängig von der sportartspezifischen Leistungsfähigkeit gesehen
Jedes sportartspezifische Training soll durch Üben in anderen Sportarten ergänzt werden, um nicht einseitig zu werden. Ausgleichstraining vermindert das Risiko von Übertraining und verbessert die psychophysiologische (geistig-körperliche) Balance. So sollte ein schmal und leicht gebauter, ausdauertrainierter Läufer zum Ausgleich kräftigende und beruhigende Sportarten ausüben wie z. B. Schwimmen, Radfahren, Krafttraining und Golf. Als Ergänzung sind z. B. kraftvolle und beruhigende Yogaübungen geeignet. 41.3.5 Die geeignete Sportart für eine bestimmte
Konstitution Die folgenden Auflistungen sind vereinfachte Beispiele für Empfehlungen ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Die »optimale« Sportart kann nur in Zusammenarbeit von Jugendlichem, Jugendarzt und Trainer gefunden werden. Körperbau leicht-schmal-klein
4 4 4 4 4
Ballett, Tanz Turnen und Gymnastik Fußball Langstreckenlauf, Gehen, Radfahren Reiten
Körperbau leicht-schmal-groß
4 4 4 4 4
Handball, Volleyball, Basketball Gehen und Mittelstreckenlauf Schwimmen Kampfsport Klettern
380
41
Kapitel 41 · Konzepte der Gesundheitsvorsorge – Sport
Körperbau athletisch-mittelgroß bis groß
4 4 4 4 4 4
Basketball, Handball, Fußball Kurzstreckenlauf, Mittelstreckenlauf Mehrkampf Schwimmen, Radfahren Kampfsport Tennis
Körperbau schwer-mittelgroß bis groß
4 4 4 4 4
Basketball, Football Kampfsport Speerwerfen, Hammerwerfen Kurzstreckenlauf Bodybuilding
Die Auswahl der geeigneten Sportart ist sehr differenziert möglich bei Beachtung der Körpergröße, des Knochenbaus, der Muskulatur, der mentalen Energie, usw. Eine ideale Möglichkeit bietet dabei die Auswahl entsprechend der Konstitution. Interessierte können sich beim Autor informieren und bei Douillard (2001). Hierfür wesentlich sind eine kompetente Beratung einerseits und die Kenntnis über die Trainingseffekte und den gesundheitlichen Nutzen der ausgewählten Sportarten andererseits (. Tab. 41.1). 41.3.6 Sportverletzungen und Sportschäden
ausgewählter Sportarten In . Tab. 41.2 ist für einige Sportarten das Verletzungsrisiko pro Saison in der Spalte »Verletzungsrisiko« aufgelistet (nach Luckstead 1993). In den folgenden Spalten sind typische Verletzungsregionen bei diesen Sportarten zu finden (von sehr häufig [++++] bis selten [+]). ! Die beste Prävention von Verletzungen und Sportschäden ist ein optimales Grundlagentraining (Kraft, Ausdauer und Beweglichkeit). Außerdem müssen beim Training die individuelle Konstitution, das Alter, das Entwicklungsstadium (Pubertätsstadium) und geschlechtsspezifische Besonderheiten berücksichtigt werden.
Auch die Auswahl der Sportschuhe (z. B. für Jogging, Basketball, Bergsteigen etc.) und einer geeigneten Sportbekleidung ist wesentlich. Für bestimmte Sportarten muss unbedingt die passende Schutzkleidung getragen werden (z. B. Inlineskating, Eishockey, Reiten, Radfahren etc.). Ein Übertraining ist zu vermeiden! Brustverletzungen und -beschwerden Die weibliche Brust muss vor direkten Verletzungen (Kontusionen, Hämatomen etc.) und starken Belastungen durch einen geeigneten Sport-BH geschützt werden. Die Belastungen der weiblichen Brust sind bei Sportarten wie Volleyball, Basketball, Laufen usw. sehr groß. Die Brustbewegungen erreichen dabei Geschwindigkeiten bis 9 m/sec! Mikrotraumen, die zu Dauerschäden und Beschwerden führen können, sind nur durch adäquaten Schutz zu vermeiden. Verletzungen der Brustwarze entstehen v. a. beim Langstreckenlauf (»Joggers nipple«). Betroffen sind dabei im Verhältnis 20:1 vorwiegend männliche Jugendliche. Zur Vorbeugung sind gut passende, glatte Sportbekleidung und ein direkter Schutz durch Vaseline etc. geeignet.
Amenorrhoe, Eisenmangelanämie, Anorexie, Osteoporose Diese Probleme betreffen weibliche Athleten v. a. in Ausdauersportarten, aber auch in Sportarten, in denen ein geringes Körpergewicht vorteilhaft ist, wie z. B. Geräteturnen, Ballett, Eiskunstlaufen etc. Die Ursache besteht in einer Mischung aus inadäquater Ernährung, Übertraining, psychischen Problemen und weiteren Faktoren. Betroffen sind praktisch ausschließlich Hochleistungssportlerinnen. Es gibt Hinweise darauf, dass sich bei männlichen Leistungssportlern ähnliche Symptome bzgl. Anorexie und Osteoporose finden lassen. Übertrainingssyndrom Durch unangepasstes Training, zu hartes Training, fehlende Regenerationszeiten und unausgewogene Nahrung (Mangel an Eiweiß, Magnesium, Zink sowie weiteren Spurenelementen und Vitaminen) kommt es im Leistungssportbereich, aber auch beim ambitionierten Hobbysportler zum sog. Übertrainingssyndrom. Typische Zeichen sind erhöhter Ruhepuls (!), Leistungsabfall, vermehrtes Schwitzen, Muskelschmerzen und Muskelkrämpfe, Schlafstörungen und bei weiblichen Jugendlichen eine Amenorrhoe. Bei Auftreten dieser (auch einzelner) Symptome müssen die Trainingsbelastung herabgesetzt und die Regenerationszeiten deutlich erhöht werden – »Weniger ist hier mehr«! Außerdem müssen die Speicher an Mineralien, Spurenelementen und Vitaminen durch Nahrungsergänzung aufgefüllt werden. Erst nach Abklingen der Symptome darf der Trainingsumfang wieder gesteigert werden. Symptome durch Übertraining sind häufig. Ein zu hoher Ruhepuls ist häufig ein Frühsymptom. Bei schlechter Leistung oder Leistungsabfall ist es meist nicht sinnvoll, das Training zu intensivieren. Vielmehr ist es wichtig, das Training insgesamt zu überdenken und längere Regenerationsphasen einzuplanen. Die häufigste Ursache für eine sekundäre Amenorrhoe ist ein zu »hartes« unausgewogenes Training und ein Nichteinhalten der Regenerationsphasen. 41.3.7 Doping Doping ist der Versuch der Leistungssteigerung des Sportlers durch Anwendung einer Dopingsubstanz (7 Kap. 37). Dopingsubstanzen sind insbesondere anabole Hormone, Phenylethylamine (z. B. Ephedrin, Weckamine etc.), Narkotika (Morphine etc.), Analeptika (Kampher etc.), »blutvermehrende« Substanzen (Erythropoetin = EPO) und andere Hormone (Wachstumshormon etc.). Koffein ist nicht prinzipiell verboten, es müssen aber Grenzwerte eingehalten werden. Nicht zu den Dopingsubstanzen gehören bestimmte Medikamente, die der Sportler zur Behandlung einer Erkrankung benötigt. Dies sind z. B. Mittel zur Behandlung des Asthma bronchiale (»Asthmasprays«). ! Erlaubt sind Terbutalin, Salbutamol, Cromoglicin und inhalative Kortikoide. Hier ist allerdings ein ärztliches Attest erforderlich! (Formulare unter http://www.nadabonn.de) Erlaubt ist selbstverständlich eine Nahrungsergänzung mit Mineralstoffen, Spurenelementen, Vitaminen, Carnitin etc.
41
381 41.3 · Sportartspezifisches Training
. Tabelle 41.2. Sportverletzungen und Sportschäden. (Nach Luckstead et al., 1993)
Sportart
Pro Saison [%]
Kopf
Aerobic
Wirbelsäule und Becken
Schulter und Arm
Knie
Sprunggelenk
++
+
++
++
Badminton
+
+
+++
+++
+++
Ballett
+
++
+
+++
+++
++
++
++++
Basketball
32
Bergsteigen
+
+++
++
+++
Bergwandern
+
+
+
+++
++++
+++
+
+
Eishockey
+++
++
++
+
Eisschnelllauf
+
+
++
+
Fechten
+
++
++
++
Boxen
Fußball
100
38
++
++
++
+
+++
+++
Handball
++
++
++
++
+++
Inlineskating
+
+
+++
++
+++
+
++
Jogging
+
Judo (Kampfsport)
+
Krafttraining Laufen (Kurzstrecke)
22
Laufen (Mittelstrecke) Laufen (Langstrecke)
33
++
+
+
++
+
++
+
+
+
++
+++
+
++
++
+
++
+
++
+
++
+
Mountainbiking
+
+
Radfahren (Straße)
+
+
Reiten
+
+
+
++
++
Rudern Schwimmen
8
+
++
+
+
++
++++
+
+
++
++
+
++
+
++
+
+++
+++
+++
Tennis
+++
+++
+++
Tischtennis
++
++
++
Ski alpin
++
Skilanglauf Snowboarden
++
Squash
+
Triathlon Turnen
38
Volleyball
20
Windsurfen
+
+
+
++
++
+
++
++++
++
++
+
+++
++
+++
+
+++
+
+
+
382
41
Kapitel 41 · Konzepte der Gesundheitsvorsorge – Sport
41.3.8 Der Aufbau einer Trainingseinheit/
Übungsstunde Eine ideale Trainingseinheit besteht aus fünf Phasen: Aufwärmphase (Warm-Up). In der Aufwärmphase werden Körper und Geist auf die Belastung vorbereitet und koordiniert. Gelenke, Bänder und Muskeln werden beweglich gemacht und der Stoffwechsel sanft angeregt. Geeignet sind Dehnübungen, bewusstes Gehen oder langsames Joggen und aus dem Yoga der »Sonnengruß«. Dauer: 5–10 min. Atemtrainingsphase. In der Atemtrainingsphase wird die Atmung intensiviert und geübt sowie der Stoffwechsel auf aerobe Belastung vorbereitet. Geübt wird in der ausgewählten Sportart. Die Belastungsintensität liegt bei 50% der Maximalbelastung. Es wird besonders auf eine tiefe, ruhige und koordinierte Atmung geachtet. Dauer: 5–10 min. Körperbewusstseinsphase (Listening-Phase). In der Körperbewusstseinsphase wird die Belastung im aeroben Bereich langsam gesteigert. Dabei wird ausschließlich im angenehmen aeroben Bereich geübt. In dieser Phase wird der Stoffwechsel auf höhere Belastungen vorbereitet. Außerdem wird das Körperbewusstsein trainiert. Die Intensität liegt bei 50% der Maximalbelastung. Dauer: 10–20 min. Leistungsphase (Performance-Phase). In der Leistungsphase wird die geplante Trainingseinheit (Grundlagentraining, Intervalle etc.) durchgeführt. Die Intensität hängt ab vom Trainingsplan und von der aktuellen Leistungsfähigkeit. Dauer: Nach Trainingsplan. Abkühlphase (Cool-down). In der Abkühlphase werden Stoff-
wechsel und Atmung auf das Ruheniveau zurückgeführt. Geeignet sind hier langsames Joggen, Gehen, Yoga etc. Dauer: 5– 15 min. Nach der Trainingseinheit sollte sich der Jugendliche frisch, aktiv und gestärkt fühlen! ! Fühlt er sich »fertig«, kaputt oder psychisch leer, war die Einheit zu intensiv oder fehlerhaft aufgebaut. Besonders auch im Schulsport soll der Jugendliche nicht durch »Work-outs« körperlich und geistig ausgelaugt werden!
41.4
Flüssigkeitszufuhr Auf eine ausreichende Flüssigkeitszufuhr ist zu achten. Die Flüssigkeit sollte in Form von Wasser, Mineralwasser, Früchte-/Kräutertees, Säften, Saftschorlen und isotonischen Getränken zugeführt werden. Kaffee ist zur Flüssigkeitszufuhr ungeeignet und sollte nur in geringem Maße getrunken werden (zusätzlicher Flüssigkeitsverlust!). Auf alkoholische Getränke sollte der sportlich aktive Jugendliche möglichst ganz verzichten oder Alkohol nur in geringen Mengen (z. B. zu einem guten Essen) konsumieren. Nahrungsergänzung Eine Ergänzung der Nahrung durch Mineralstoffe (Natrium, Kalium, Phosphat, Magnesium und Calcium) ist bei jeder höheren sportlichen Belastung notwendig! Außerdem ist auf eine ausreichende Zufuhr an Spurenelementen (Zink, Selen, Kupfer, Jod, Eisen etc.) und Vitaminen (Vitamin C, Biotin, B-Vitamine etc.) zu achten. Die Versorgung über die »normale« Ernährung reicht häufig nicht aus. Zusätzlich ist die ergänzende Zufuhr z. B. von Carnitin zur Verbesserung des Muskelstoffwechsels möglich. Die Beratung hinsichtlich einer Nahrungsergänzung muss individuell sein!
41.5
Sport bei Erkrankungen (Beispiele)
41.5.1 Sport bei Adipositas (Fettsucht) Ein adipöser Jugendlicher muss zur Gewichtsregulation und zum Erhalt seiner Gesundheit unbedingt Sport betreiben. Bei der Auswahl der Sportart ist das hohe Körpergewicht, die geringe Beweglichkeit und die anfangs geringe Ausdauer beachtet werden. Sinnvoll ist, primär die Muskulatur zu stärken und die Beweglichkeit zu verbessern z. B. durch Krafttraining, Ergometertraining bzw. Radfahren (gleichzeitig Verbesserung der aeroben Ausdauer). Außerdem muss die Beweglichkeit durch Gymnastik oder z. B. Yoga wiederhergestellt werden. Gelenkbelastende Sportarten wie z. B. Jogging sollten primär vermieden werden. Es sollten Ziele gesetzt werden, um eine Erfolgskontrolle zu erhalten. Ein Training nach individuellem Trainingsplan ist empfehlenswert. ! Im Schulsport ist es wichtig, das Problem »Fettsucht« in die Beurteilung mit einzubeziehen. Es müssen individuelle Leistungsziele gesetzt und zur Notengebung herangezogen werden. Ein sportlich trainierter Jugendlicher kann nicht Maßstab sein!
Ernährung 41.5.2 Sport bei Asthma bronchiale
Prinzipielles Der sporttreibende Jugendliche muss auf eine ausgewogene Ernährung achten. Je nach sportlicher Belastung müssen dabei die Mengen der Grundnährstoffe (Kohlenhydrate, Eiweiß, Fette) variiert werden. Für ausdauerbetonte Sportarten benötigt man mehr Kohlenhydrate, für kraftbetonte mehr Eiweiß. Die Fette sollen hochwertig sein, d. h. hohe Anteile ungesättigter Fettsäuren enthalten. ! Die Ernährungsberatung des sporttreibenden Jugendlichen muss in jedem Fall individuell sein. Dabei muss die Konstitution des Jugendlichen ebenso berücksichtigt werden, wie die Sportart und die sportliche Belastung.
Ein Jugendlicher mit Asthma bronchiale muss zum Erhalt seiner Gesundheit und zur Verbesserung seiner Lunge und Atemwege Sport betreiben. Besonders nützlich sind Sportarten mit einem hohen Ausdaueranteil wie z. B. Schwimmen, Jogging, Skilanglauf, Inlineskating, aber auch Mannschaftssportarten wie z. B. Fußball etc. Prinzipiell ist jeder Sport sinnvoll. Das Asthma bronchiale muss adäquat therapiert und überwacht werden (inkl. Spirometrie bzw. Spiroergometrie). Bei bekanntem Belastungsasthma muss vor dem Sport das verordnete Medikament inhaliert werden (7 Abschn. 41.1.3 u. 41.3.7)! Bei optimaler medizinischer bzw. sportmedizinischer Betreuung und optimalem Training ist Hochleistungssport mög-
383 Literatur
lich! Eine Befreiung vom Schulsport ist medizinisch und sportmedizinisch unsinnig – eine Sportbefreiung gefährdet die Gesundheit des Jugendlichen! Ideal ist selbstverständlich ein Training nach individuellem Trainingsplan. Sport bei Erkrankungen ist notwendig und sinnvoll. Wichtig ist hier eine intensive Zusammenarbeit von Sportlehrer, Trainer und Sportmediziner bzw. Jugendarzt. Bei allen Erkrankungen muss das individuelle Handykap bei der Leistungsbeurteilung berücksichtigt werden. Es macht wenig Sinn, diesen Jugendlichen den Spaß am Sport durch nicht angepasste Leistungsbeurteilung zu nehmen. 41.5.3 Sport bei Einzelniere oder Einzelhoden In einer auf Daten der National Pediatric Trauma Registry basierenden Studie wurden über 10 Jahre Jugendliche unter 18 Jahre, die klassische Teamsportarten ausübten (American Football, Baseball, Basketball und Eishockey) bzgl. ihrer Verletzungen registriert. Bei 5439 Verletzungen fanden sich 459, die Abdomen und/oder Hoden betrafen. Die meisten Verletzungen fanden sich bei den 12- bis 18-Jährigen; 42-mal war die Niere betroffen und nur einmal der Hoden. Auch weitere Studien dokumentierten eine Nieren- oder Hodenverletzung als sehr seltenen Befund. ! Dennoch raten die Autoren zu sehr sorgfältiger Beratung, da der Verlust einer Einzelniere bzw. eines Einzelhodens fatale Folgen hat (Wan et al. 2003).
41.7
41
Zusammenfassung
Sport und Bewegung sind essentielle Bestandteile einer gesunden Lebensführung. Sport verbessert die körperliche und geistige Leistungsfähigkeit, ist Grundlage der Stressbewältigung und wirkt vorbeugend gegen alle wesentlichen Zivilisationskrankheiten. Dem Sport im Jugendalter kommt eine besondere Bedeutung zu! Einerseits wird in diesem Alter die Grundlage für Interesse an Bewegung, Sport und Gesundheit gelegt. Andererseits dient Sport der Sucht- und Gewaltprävention. Jugendärzte, Sportlehrer und Trainer sind hier gefordert, durch entsprechende Angebote das Interesse der Jugendlichen für Sport zu fördern. Voraussetzung für eine erfolgreiche Jugendarbeit im Bereich Sport und Gesundheit ist allerdings, dass die Rahmenbedingungen (Sport ab dem Kindergartenalter, genügend Sportstunden in der Schule, gerechte Leistungsbewertung, genügend Sportlehrer, engagierte Jugendärzte, durch Steuern finanzierte sportärztlich Betreuung etc.) verbessert oder erst geschaffen werden. »Weise Lebensführung gelingt keinem Menschen durch Zufall. Man muss, solange man lebt, lernen, wie man leben soll.« (Seneca)
Literatur 41.6
Die sportmedizinische Untersuchung und Beratung
Die sportmedizinische Untersuchung muss folgende Teile obligat beinhalten:
Douillard J (2001) Body, mind, and sport. Three rivers press, New York Luckstead E, Greydanus D (1993) Medical care of the adolescent athlete. Practice Management Information Corporation, Los Angeles Wan J, Bloom DA (2003) Genitourinary Problems in adolescent Males. Adolescent Medicine: State of the Art reviews Vol.14, No. 3 S.717–731
Weiterführende Literatur Bestandteile einer Untersuchung 5 Krankheitsvorgeschichte (Anamnese) 5 Sportspezifische Vorgeschichte 5 Komplette körperliche Untersuchung mit besonderer Berücksichtigung der sportartspezifischen Belastungen 5 Bei Bedarf ergänzende Untersuchungen: EKG, Lungenfunktion, Belastungs-EKG, Blutuntersuchung 5 Für den Leistungssportbereich: Spiroergometrie, Leistungstests auf dem Ergometer oder Laufband etc. 5 Während der Pubertät ist eine engmaschige Kontrolle von Gewicht, der Länge resp. dem BMI sowie der körperlichen Verfassung erforderlich
Bestandteile einer Beratung 5 Mitteilung der Untersuchungsergebnisse 5 Beratung über individuell sinnvolle Sportarten 5 Beratung über den individuellen und gesundheitlichen Nutzen 5 Beratung hinsichtlich vorbestehender Erkrankungen 5 Beratung hinsichtlich Verletzungsrisiken 5 Auf Wunsch die Erstellung eines individuellen Trainingsplanes 5 Auf Wunsch Beratung über optimale Ernährung und Nahrungsergänzung
Engelhardt M, Neumann G (1994) Sportmedizin. BLV, München Engels T, Neumann B (2000) Optimal trainieren. Südwest, München Greydanus DE, Patel DR, Luckstead EF (1998) Office Orthopedics and Sports Medicine. Adolescent Medicine State of the Art Reviews. Hanley & Belfus, Philadelphia Grunert D (2002) Bewegung und Sport im Ayurveda. CO´MED 7: 20–22 Grunert D (2001) Fit, gesund und sicher Arbeitsbuch. Beim Autor, Nördlingen Grunert D (2001) Training im Pferdesport Arbeitsbuch. Beim Autor, Nördlingen Hottenrott K, Zülch M (1995) Ausdauerprogramme. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg Huber EG (1988) Sport im Kindes- und Jugendalter aus ärztlicher Sicht. Marseille, München Koinzer K (1997) Gesundheitssport mit Kindern und Jugendlichen. Johann Ambrosius Barth, Heidelberg Leipzig Lecheler J, Biberger A, Pfannebecker B (1997) Asthma und Sport. INA, Berchtesgaden Luckstead E, Satran A, Patel D (2002) Sport injury profiles, training and rehabilitation issues in American sports In: Pediatr Clin N Am 49 (2002) 753–767 Neumann G, Pfützner A, Hottenrott K (1996) Alles unter Kontrolle Ausdauertraining. Meyer & Meyer, Aachen O´Hara V (1996) Bewegung gegen Stress. Rowohlt, Reinbeck bei Hamburg Prokop L (1986) Kinder-Sportmedizin.Gustav Fischer, Stuttgart, New York Seiler R, Stock A (1994) Handbuch Psychotraining im Sport. Rowohlt, Reinbeck bei Hamburg
384
41
Kapitel 41 · Konzepte der Gesundheitsvorsorge – Sport
Sleamaker R (1996) Systematisches Leistungstraining. Meyer & Meyer, Aachen Wessinghage T (2002) Laufen. BLV, München
Internetadressen http://www.adh.de http://www.dsj.de http://www.sportjugend.de http://www.jugendsport.de http://www.kinderarzt-noerdlingen.de http://www.sport2.de http://www.dtu-ver.org http://www.jugendprojekte-im-sport.de http://www.sportjugend-hessen.de http://www.yoga-schule.de http://www.nada-bonn.de
VII I
Netzwerk, Beratung und Unterstützung 42
Interdisziplinäre Zusammenarbeit – 387 R. Schmid, B. Stier, U. Büsching, F. Çerçi, H. Schröer
43
Der öffentliche Gesundheitsdienst als Partner im Netzwerk Jugendmedizin – 401 G. Trost-Brinkhues
387
42
42 Interdisziplinäre Zusammenarbeit R. Schmid, B. Stier, U. Büsching, F. Çerçi, H. Schröer
42.1
Jugendliche mit besonderen Bedürfnissen: Schritte hin zu vernetzten Visionen in der Zukunft
Zwei Drittel der Anfragenden geben an, vom Kindernetzwerk Adressen erhalten zu haben, die sie bisher nicht gekannt hatten. Daneben bekräftigen 50%, dass ihnen Adressen und Informationen »gut« oder »sehr gut« weitergeholfen haben.
R. Schmid ))
Kindernetzwerk: Informationsangebote
Seit die moderne Medizin es ermöglicht, chronisch kranke, behinderte oder von einer Behinderung bedrohte Kinder und Jugendliche am Leben zu erhalten, wächst die Bedeutung von Information und Wissen über Erkrankungen. Vernetzung hieß deshalb das Gebot der Stunde: Vernetzung des Wissens, der Elternselbsthilfegruppen sowie der Kinderheilkundler und Jugendmediziner. Die Geburtsstunde des »Kindernetzwerks für kranke und behinderte Kinder und Jugendliche in der Gesellschaft e.V.« hatte damit geschlagen.
42.1.1 Kindernetzwerk e.V. – Ziele und
Leistungsspektrum Ende 1992 unter Vorsitz des Münchner Sozialpädiaters Professor Hubertus von Voss gegründet, diente das Kindernetzwerk (http:// www.kindernetzwerk.de) fortan vor allem den Eltern, deren Kinder oder Jugendliche chronisch krank oder behindert sind, die an einer seltenen oder schwerwiegenden Erkrankung leiden und die nicht selten bereits mehrere Ärzte konsultiert und vielfältige Behandlungsmöglichkeiten ausprobiert haben. Inzwischen ist die Einrichtung zu einer Institution herangewachsen, deren Wissensbanken gerade auch von Jugendmedizinern und vielen weiteren Fachleuten gern und dankbar angezapft wird.
Adressbestand (130.000 vernetzte Anschriften) 5 Bundesverbände sowie bundesweite Selbsthilfeorganisationen 5 (Eltern-)Selbsthilfegruppen (bundesweit und regional) 5 Einzelne Elternadressen 5 Kinderkliniken/Schwerpunkt-Krankenhäuser 5 Rehazentren für Kinder und Jugendliche 5 Auslandsadressen (primär aus den USA und England)
Das Kindernetzwerk sammelt Daten und Adressen über Erkrankungen und Behinderungen im Kindes- und Jugendalter. Im Jahr 2004 wurden rund 15.000 Anfragen und Aussendungen bewältigt. Zu 1900 Erkrankungen, Behinderungen und Problembereichen können die Anfragenden Hilfestellungen erhalten. Damit verbunden sind rund 130.000 vernetzte Adressen, angefangen von A wie Aarskog-Syndrom oder Adipositas bis Z wie Zöliakie oder Zytomegalie.
(zu fast 2000 Erkrankungen) 5 Insgesamt 400 fest gebundene Infomappen zu 400 unterschiedlichen Erkrankungen 5 Eigene erstellte Krankheitsübersichten, vor allem zu seltenen Erkrankungen 5 Weiterführende Literaturlisten aus der Literaturdatenbank des Kindernetzwerkes 5 Kindernetzwerk-Wegweiser-Reihe »Wer hilft weiter?« Dokumentationen zu Schwerpunktthemen des Kindernetzwerkes 5 Kinder-Spezial (Zeitschrift) und Aktuelle News (Homepage)
Ein weiterer Erfolg des Netzwerkes ist es, thematisch orientierte Bündnisse zu schließen. Mittlerweile vertritt das Kindernetzwerk die Interessen von 140 Organisationen, Elterninitiativen, Beratungsstellen, Selbsthilfegruppen und Bundesverbänden mit mehr als rund 80.000 angeschlossenen Mitgliedern. Und dies in enger Kooperation mit den unterschiedlichen pädiatrischen Verbänden und Fachgesellschaften sowie anderen Verbänden wie der Bundesvereinigung Lebenshilfe oder der Bundesarbeitsgemeinschaft Kind und Krankenhaus.
Schwerpunktthemen und Arbeitskreise im Kindernetzwerk 5 5 5 5 5 5
Seltene Erkrankungen Kooperation Fachleute – Betroffene Psychosoziale Nachsorge Pflege/Psychosoziale Versorgung Bündnis für Kindergesundheit Jugendliche – Junge Erwachsene
42.1.2 Wo sehen Jugendliche mit besonderen
Bedürfnissen heute Versorgungsmängel? Das Thema Jugendliche bzw. junge Erwachsene steht seit der 10jährigen Jubiläumstagung des Kindernetzwerkes 2002 in Berlin im Blickpunkt. Dabei wurde offenkundig, dass aussagefähige Daten zur Versorgungssituation von Jugendlichen mit besonderen Bedürfnissen heute zumindest in Deutschland kaum vorliegen. Diese Defizite hat das Kindernetzwerk zum Anlass genommen, seine Mitgliedsorganisationen zu befragen. Zum Zeitpunkt der Ducklegung dieses Buches lagen Angaben von 28 bundesweiten Eltern-Selbsthilfegruppen oder Eltern-Netzwerken, die über Er-
388
42
Kapitel 42 · Interdisziplinäre Zusammenarbeit
fahrungen mit Jugendlichen mit besonderen Bedürfnissen verfügen, vor. Nachstehend die am meisten genannten Bedürfnisse oder artikulierten Versorgungsmängel von Jugendlichen (die Anzahl der Nennungen in Klammern):
Kindernetzwerkumfrage 5 Übergang vom Kindes- und Jugendalter (psychosozial, medizinisch) ins Erwachsenenalter höchst unzureichend (25) 5 Massive Barrieren bei der Suche nach weiterführender Schule/Ausbildung/Arbeitsplatz im Jugendlichenalter (18) 5 Bedürfnisorientierte jugendspezifische Angebote fehlen vollständig (17) 5 Mehr soziale Kontakte, weniger Isolierung (16) 5 Partnerschaft/Sexualität/Adoleszenz (14) 5 Dringender Wunsch, in jungen Jahren selbstverantwortlich auch über Gesundheitsfragen/Therapien mit entscheiden zu können (14) 5 Eltern/Erwachsene bestimmen allein, was sie für den Jugendlichen/jungen Erwachsenen als richtig erachten (14) 5 Aktive Beteiligung/Öffentliche Positionierung von Jugendlichen fehlt fast vollständig (14)
42.1.3 Was sagen Jugendliche? Zwei typische Fallbeispiele von Jugendlichen mit Speiseröhrenfehlbildungen (Schilderungen auf der Kindernetzwerk Jubiläumstagung »Vergessene Kinder in Deutschland«, Berlin, April 2002): Beispiel Christoph: 18 Jahre alt. Christoph ist mit schweren Fehlbildungen der Speiseröhre auf die Welt gekommen. Es folgten mehrere Operationen. – Heute kann er ohne Hilfsmittel ganz langsam essen: »Ich hätte mir gewünscht, dass mir die Ärzte vor dem Eingriff erklärt hätten, was sie machen wollen, und den Eingriff selbst vielleicht auch langsamer gemacht hätten, nicht immer so hektisch und schnell.« Beispiel Sina: 17 Jahre alt. Auch Sina ist mit schweren Fehlbildungen der Speiseröhre auf die Welt gekommen und musste sich mehreren Operationen unterziehen.– Sie kann heute ohne Hilfsmittel ganz vorsichtig essen: »Ich wünsche Betroffenen vor allem besser qualifizierte Mediziner. Bei einer Reise nach Rostock haben Ärzte einfach nicht glauben wollen, dass mir ein Bissen in der Speiseröhre steckte und erst nach einer durchwachten Nacht im Krankenhaus, als die Luftnot schon groß war, den Bissen entfernt.«
Welche praktischen Folgen lassen sich daraus für eine bessere Versorgung von Jugendlichen mit besonderen Bedürfnissen ableiten? Mehr vernetzte Optionen bei der Wahl qualifizierter Ärzte Während die psychosoziale Versorgung von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen bundesweit über alle Altersgruppen hinweg als höchst unzureichend angesehen wird, muss bei
der rein medizinischen/therapeutischen Versorgung differenziert werden. Nach den mittlerweile 13-jährigen Erfahrungen des Kindernetzwerkes sehen Eltern von betroffenen Kindern häufig die medizinische Versorgung bis zum Eintritt der Pubertät oder der Pubertät selbst als einigermaßen zufriedenstellend an. Dies gilt allerdings erst ab dem Zeitpunkt, ab dem die Eltern für ihrer Kinder – häufig erst nach jahrelangen Irrwegen – den für sie geeigneten therapeutisch/medizinischen Weg gefunden haben. Viele Eltern beklagen indes im Einklang mit den Heranwachsenden, dass sich die medizinische Versorgung im höheren Jugendalter und im jungen Erwachsenenalter wieder bedeutend verschlechtert. Dies liegt insbesondere daran, dass heranwachsende Jugendliche oder junge Erwachsene keinen medizinischen/ therapeutischen Ansprechpartner finden, der ihrem Bild für einen Arzt/Therapeuten entspricht. Dies liegt zum einen daran, dass die bisher zuständigen Kinder- und Jugendärzte oder bestimmte Spezialisten im Bereich der Kinder- und Kinderheilkunde und Jugendmedizin die jungen Erwachsenen mit chronischen Krankheiten, Behinderungen grundsätzlich nicht mehr behandeln dürfen. Erwachsenenmediziner sehen sich dagegen entweder aufgrund von Kapazitätsengpässen oder wegen ihrer Wissensdefizite nicht in der Lage, Jugendliche oder junge Erwachsene z. B. mit angeborenen Fehlbildungen zu übernehmen. ! Kinder- und Jugendärzte sollten gemeinsam mit den Eltern und den betroffenen Jugendlichen/jungen Erwachsenen die Option erhalten, ihr Wissen und Know-how in bestimmten Fällen den Jugendlichen auch über das 18. Lebensjahr hinaus anbieten zu können.
Die Erwachsenenmediziner wie etwa die Internisten müssten in Zukunft ihre Fortbildungsbemühungen im Hinblick auf angeborene Fehlbildungen und Erkrankungen erheblich intensivieren, um diesen neuen Herausforderungen in der Zukunft fachlich gerecht werden zu können. Dabei nutzen allerdings wissenschaftlich-theroretische Erkenntnisse recht wenig. Entscheidend sind fachliche Kenntnisse aus der und für die Praxis, die sowohl die Mehrzahl der Kinder- und Jugendärzte wie auch alle Erwachsenenmediziner erst noch erwerben müssen. Neben entsprechenden Qualifikationsnachweisen werden aber auch intensivere Vernetzungen und gleitendere Übergänge zwischen Jugend- und Erwachsenärzten notwendig sein. Der Umgang mit Jugendlichen: Umdenken ist erforderlich Sowohl bei der Kindernetzwerkumfrage unter den Eltern-Selbsthilfegruppen in Deutschland, wie auch bei der Befragung der Jugendlichen selbst ist deutlich geworden, dass junge Menschen auch selbstverantwortlich bei Gesundheitsfragen oder Therapien mitbestimmen wollen, und dass sie ausreichend informiert werden wollen. Dies ist offenbar bislang nicht der Fall. Immer noch wird der Therapieweg eines Jugendlichen in Deutschland allzu sehr von den Eltern oder von den nahen Angehörigen dominiert. Solange sich dies nicht entscheidend ändert, wird auch die Compliance der Jugendlichen nicht entscheidend verbessert werden können. Jugendliche wollen akzeptiert sein, mitbestimmen und auch über sämtliche Details von Krankheitsverläufen, Therapieoptionen und möglichen Prognosen aufgeklärt werden. Auch dazu bedarf es einer intensiveren Vernetzung und Kooperation aller Beteiligten in Klinik und Praxis. Integrierte Versorgungsformen,
389 42.2 · Netzwerk
Disease Management-Programme oder die Krankenhausreform (DRGs) könnte hier dann eine Option sein, wenn sie auch die Zielgruppe der Jugendlichen und der jungen Erwachsenen mit im Fokus hätte, was allerdings bisher nicht der Fall ist. Jugendliche wollen spezialisierte Ärzte in qualifizierten Zentren Jugendliche mit besonderen Bedürfnissen wünschen sich Ärzte, die für ihre spezifische Erkrankung gut ausgebildet und spezialisiert sind. Dieser auf den ersten Blick verständliche Wunsch wird in der Praxis zumeist nicht oder sehr spät erfüllt. Häufig dauert es wegen fehlender Vernetzungen zwischen den Zentren und zum Teil auch zwischen den jeweiligen Spezialisten Jahre, bis Jugendliche mit spezifischen chronischen oder außergewöhnlichen Erkrankungen ein altersgemäßes Zentrum oder den Experten gefunden haben, bei dem sie medizinisch/therapeutisch am besten aufgehoben sind. Zu Recht beklagen viele Jugendliche im Umgang mit dem Arzt oder Therapeuten zudem auch eine nicht altersgerechte (An-)Sprache. Sowohl in kinder- und jugendärztlichen Praxen wie auch in Kinder- und Erwachsenenkliniken müssten deshalb weit mehr jugendspezifische Angebote (spezielle Jugendsprechstunden, Extrazimmer für junge Erwachsenen, altersgerechte Informationsgespräche) stattfinden, als dies bisher üblich ist. Solange dies nicht im breiteren Maße der Fall ist und solche Angebote nicht praxisbezogen und interdisziplinär – unter der Beteiligung aller für den Jugendlichen relevanter Fachgruppen – ausgerichtet sind, werden Jugendliche nie eine Arztgruppe als die Arztgruppe ihres Vertrauens akzeptieren können. Vernetzung der Jugendlichen oder Netzwerke für Jugendliche Bisher liegt kein griffiges Konzept dafür vor, wie Jugendliche mit besonderen Bedürfnissen besser vernetzt werden können. Viele Eltern-Selbsthilfeorganisationen in Deutschland beklagen, dass sich Jugendliche bereits innerhalb ihrer eigenen Verbände und Initiativen sehr schlecht einbinden lassen, weil sie eigene und eigenständige Vorstellungen verkörpern, die sie kaum einbringen oder gar durchsetzen können. In übergeordneten Fachgremien, in denen Eltern-Selbsthilfeorganisationen eine Rolle spielen, tauchen Jugendliche oder die Stimmen von Jugendlichen bis heute so gut wie gar nicht auf. Der einzige Ausweg aus dem Dilemma kann nur der sein, für Jugendliche eigene Gremien innerhalb der Eltern-Selbsthilfeorganisationen und auch innerhalb von entscheidungsfähigen gesundheitspolitischen Fachgremien zu etablieren, bei denen Jugendliche und junge Erwachsene eigenverantwortlich und unabhängig zusammen mit anderen Interessengruppen Entscheidungen treffen können. Hier müssen allerdings die Strukturen erst noch entwickelt werden. Eine Voraussetzung dafür wäre z. B., Jugendliche und junge Erwachsene fortzubilden und zu schulen, damit sie im immer heftiger ausgetragenen Wettbewerb um gesundheitspolitische Entscheidungen besser bestehen können. Notwendig wird es aber auch sein, dass sich die Jugendlichen selbst über ihre Bedürfnisse austauschen und klar werden und diese Erkenntnisse dann gebündelt und vernetzt artikulieren. Erst wenn all diese Voraussetzungen erfüllt sind, werden Jugendliche mit besonderen Bedürfnissen in einem oder in mehreren »Netzwerken für junge Menschen« mit einer Stimme sprechen können, die dann auch nicht mehr ungehört verhallen wird.
42.2
42
Netzwerk
B. Stier )) »Ein Geheimnis des Erfolgs ist, den Standpunkt des anderen zu verstehen.« (Henry Ford I.) In der medizinischen Betreuung von Jugendlichen ist der Aufbau eines individuellen Netzwerkes der betreuenden Instanzen wichtig. Dies hilft fachliche Kompetenz im Interesse des Jugendlichen rasch und häufig unter Minimierung bürokratischer Hemmnisse zusammenzuführen und Hilfen anzubieten. Darüber hinaus stärkt es das ganzheitliche Wissen über die Situation der Jugendlichen in unserer heutigen Gesellschaft.
Im Zeitalter der Mediendominanz wird nach wie vor der persönliche Kontakt, »das Gesicht hinter dem Text«, durch kein Medium ersetzt. Sei es am Telefon oder von Angesicht zu Angesicht, das persönliche Gespräch bleibt unangefochtener »Türöffner«, wenn es um rasche medizinische Hilfe, einen dringenden Therapieplatz oder eine individuelle Lösung geht. Zugleich hilft kommunikativer Austausch, über den eigenen Tellerrand zu schauen und die Nachbardisziplinen besser kennen zu lernen. Die Betreuung von Jugendlichen bedarf ohnehin der ganzheitlichen Betrachtungsweise, und das nicht selten rasch, jetzt und sofort. Denn nicht immer gibt es eine zweite Chance. Der ganzheitliche Ansatz bietet aber auch den betreuenden Instanzen, ob Schule oder Ausbildungsstelle, Jugendamt oder allgemeiner Sozialdienst, Drogenberatungsstelle oder Sexualberatende Institution, ÖGD, Klinik oder Praxis, die Möglichkeit, ihr Beratungsspektrum erheblich zu erweitern. Nichts ist schwieriger als erfolgreiche Kommunikation. Dies trifft in besonderem Maße auf die interdisziplinäre Kooperation zu. Im Laufe der Ausbildung und nachfolgenden Tätigkeit wird viel zu wenig auf die Arbeits- und Ausdrucksweise benachbarter Disziplinen geschaut. In interdisziplinären Arbeitskreisen meint man manchmal auf eine babylonische Sprachverwirrung zu treffen. Schon die Vorstellungen von Gesundheit differieren teilweise stark. Nur im Austausch miteinander kann dieser Knoten gelöst und der Horizont erweitert werden. Am Ende steht die Erkenntnis, dass es oftmals viele Lösungswege für ein und dasselbe Problem gibt, manchmal sogar Lösungsmöglichkeiten, die einem selbst nicht in den Sinn gekommen wären. Dabei sollte aber auch die eigene Zuständigkeit überdacht werden, um anderen Institutionen Raum zu geben. Besonders deutlich wird dies in Fallkonferenzen, z. B. bei dem Problem der sexualisierten Gewalt. Im Wissen, nicht alles alleine regeln zu müssen, liegt nicht zuletzt die Chance, es besser regeln zu können, da jede betroffene Institution sich mit ihrer ganzen Kraft und Möglichkeit einbringen kann. Erst diese Synergien führen zu einer optimalen Lösung. Nebenbei verlieren sich Vorurteile (hoffentlich) oder sie bestätigen sich (leider auch), was in jedem Fall eine wichtige Bereicherung des Berufsalltags darstellt Datenschutz und Schweigepflicht werden immer wieder als Hemmnisse einer interdisziplinären Kooperation angeführt. Manchmal, aber viel seltener, als wir meinen, sind sie es auch, wenn alle Seiten das Wohlergehen des Jugendlichen im Auge haben. In kritischen Fällen muss überlegt werden, ob ein Verstoß
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Kapitel 42 · Interdisziplinäre Zusammenarbeit
gegen die Schweigepflicht, z. B. durch drohende Gefahr für Leib und Leben des Jugendlichen, gerechtfertigt ist (7 Kap. 9).
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42.2.1 Schule Die Zeit in der Schule bzw. dem Ausbildungsplatz nimmt im Leben des Jugendlichen einen breiten Raum ein. Sie ist nicht nur in der Jugendphase inhaltsbestimmend, sondern auch lebenserfahrend. Gerade weil wir mit Nachdruck die Lebenssituation Jugendlicher verbessern möchten, müssen Schule oder Ausbildungsplatz mit ins Boot geholt werden. Eine Zusammenarbeit gestaltet sich wegen unterschiedlicher Erfahrungswelten und Ziele zwar nicht immer einfach. Dennoch sollten beide Seiten konstruktiv zusammenarbeiten und immer das Wohlergehen des Jugendlichen als höchstes Ziel im Auge behalten. In einer übergeordneten Kooperation sollte die jeweilige Bedürfnislage der Schule das Kooperationsfeld bestimmen. Es macht keinen Sinn und wird auch nicht zur Nachhaltigkeit führen, wenn Ärzte von außen ihre Bedürfnisse im Hinblick auf Gesundheit und Gesundheitsverhalten in die Schule hineintragen, ohne dass diese in den Lebens- und Erlebenskontext des Schulalltags eingebunden werden. Das Bedürfnis und die jeweilige Problemlage zum Thema Gesundheit innerhalb der Schule ist ausschlaggebend. So kann an der einen Schule das Thema Rauchen im Vordergrund stehen, während an einer anderen gerade aktuelle Probleme mit Mobbing und Gewalt bestehen. Auf dem Weg zur »Gesunden Schule« sind vielfältige Betätigungsfelder möglich, auch solche, zu denen wir als Mediziner (bisher) wenig beizutragen haben (z. B. Architektur). Wir sollten Zugriff auf unser fachliches Wissen ermöglichen und dieses zur Verfügung stellen, wo es gefragt ist. Dabei ist es gut, Angebote zu machen, aber nicht gut, enttäuscht zu sein, wenn diese nicht angenommen werden. Letztlich hilft diese Kooperationsbereitschaft, wenn es um die Lösung individueller schulischer Probleme der betreuten Jugendlichen geht. 42.2.2 Jugendamt und allgemeiner Sozialdienst Jugendamt und allgemeiner Sozialdienst sind die Institutionen, über die häufig Zugang zu Unterstützungsangeboten zu bekommen ist. Sie sind in der Regel gut informiert über Koordinierungsgremien und Hilfen für Kinder sowie Jugendliche und haben u. U. auch Kontakte zu fremdsprachigen Hilfsangeboten. Deshalb sollten sie auf jeden Fall in das Netzwerk eingebunden werden. Hierbei helfen vor allem persönliche Kontakte, um auch unbürokratische Hilfe rasch wirksam werden zu lassen. Nach eigener Erfahrung bedarf der Austausch und regelmäßige Kontakt, gerade auch in konkreten Fällen, häufig noch eines Motivationsschubs. 42.2.3 Jugendzentrum/Jugendzentren der Kirchen Kontakte zum Jugendzentrum (JuZ) können sehr hilfreich sein. Vielfach werden sie allerdings für präventive Angebote bzgl. Gesundheit nicht in Anspruch genommen. Dabei lassen sich Kontakte leicht herstellen. Zum Beispiel können Plakate, Flyer und Programme des örtlichen JuZ in der Praxis einerseits deren Ak-
tivitäten bekannt machen, andererseits dokumentieren sie das Interesse der Praxis für Jugendliche und verknüpfen das Gesundheitsangebot sinnvoll mit deren Lebenskontext. Über diese Kontakte ergeben sich weitere Beratungsmöglichkeiten und evtl. auch eine Betreuung von Jugendlichen, die nur selten mit unserem Gesundheitssystem Kontakt suchen und dabei durch geringeres Gesundheitsbewusstsein und verminderte Möglichkeiten der Ressourcenstärkung gekennzeichnet sind. Allerdings sollte unbedingt der Eindruck vermieden werden, nur ein rein fachliches Interesse an Jugendlichen zu haben. Im Mittelpunkt haben vor allem auch die Lebenszusammenhänge zu stehen. So ist es manchmal für die medizinischen Ambitionen sehr heilsam, Patienten auch außerhalb der Praxis zu begegnen, in einem anderen Lebensumfeld. Bislang findet man auf diese Weise unbekannte Multiplikatoren für das Betreuungsanliegen (z. B. bzgl. Hepatitis B-Impfung, Jugendgesundheitsuntersuchung, Projekt »Be smart, don’t start« etc.). 42.2.4 Drogen-/Sexualberatungsstellen Nicht nur zahlreiche gute Informationsmaterialien lassen sich von diesen Institutionen zur Unterstützung unserer eigenen Tätigkeit bekommen. Gute Kontakte helfen auch im Akutfall, rasche Hilfe vermitteln zu können, zudem in einem uns in der Regel nicht so geläufigen Betätigungsfeld. Hier lassen sich erhebliche Synergieeffekte erzielen. Ganz nebenbei bleiben wir zudem beim Thema Drogen auf dem aktuellsten Stand. 42.2.5 Beispiele aus der Praxis interdisziplinärer
Kooperation Beispiel Fall 1: Anna ist 12 Jahre. Mit gerade einmal B2, PH2, AX0 steht sie am Beginn der frühen Adoleszenz. Sie lebt alleine mit ihrer Mutter und besucht die Realschule bislang mit durchschnittlichem Erfolg. Die Mutter, eine ehemalige Drogen- und Tablettensüchtige, eine psychisch sehr labile Frau, hat es dennoch geschafft, sich emotional liebevoll um die Tochter zu kümmern. Inzwischen wird dies allerdings auch unter dem Eindruck der beginnenden Pubertät zu einem immer deutlicher werdenden symbiotischen Verhältnis seitens der Mutter. Anna hingegen fühlt sich vermehrt in die Pflicht genommen, für die Mutter zu sorgen. Dies führt zu einer Überforderungsproblematik. Neben Kontakten zur Familien- und Erziehungshilfe, dem Jugendamt sowie der dringenden psychologischen Begleitung von Anna und ihrer Mutter, wird häufig in dieser Konstellation das Gespräch mit dem zuständigen Lehrer bzw. der Lehrerin vergessen. Bei Anna ist es in letzter Zeit zur Leistungsproblematik gekommen (Fremdsprachen vor allem). Hierfür wurde vordergründig die beginnende Pubertät verantwortlich gemacht. Die häuslichen Bedingungen haben dies aber mindestens erheblich verstärkt oder sind sogar eher dafür ursächlich verantwortlich. Eine verständnisvolle Lehrerin bzw. Lehrer kann hier wesentlich zur Stabilisierung von Anna beitragen, muss allerdings erst einmal von dieser Problematik in Kenntnis gesetzt werden. Die Zustimmung zum Gespräch und Entbindung von der Schweigepflicht ist für die Mutter, die für jede Unterstützung dankbar ist, kein Problem.
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Beispiel Fall 2: Tom, 17 Jahre, PH4,G4,AX2, befindet sich von seiner psychosozialen Entwicklung noch in der mittleren Adoleszenzphase. Er leidet an einer chronischen Erkrankung und wird mit einem Immunsuppressivum sowie niedrigdosiert mit Cortison behandelt. Tom erscheint sehr unregelmäßig zu den Kontrollen, meist erst bei mehrtägigem Rezidiv. Die Eltern haben darauf wenig Einfluss. Tom hat Angst, durch häufiges Fehlen seine Lehrstelle zu verlieren. Hier hilft ein Gespräch mit der Lehrstelle, um in Absprache mit dieser für Tom akzeptable Kontrolltermine zu finden. Gleichzeitig war es für den Personalchef wichtig zu erfahren, dass Toms zeitweiliges Fernbleiben nicht durch Faulheit, sondern krankheitsbedingt begründet war und sein wird. Guter Kontakt ist allerdings erforderlich, um für Tom die Krankheit nicht zum willkommenen Argument eines Fernbleibens werden zu lassen. Bezüglich der Behandlung müssen Klinik und Praxis eng zusammenarbeiten, damit therapeutisch die richtigen Konsequenzen gezogen werden können. Die mangelnde Compliance bei Tom macht z. B. den Einsatz eines suffizienteren, aber stärkeren Immunsuppressivums, welches engmaschige Kontrollen erfordert, zurzeit unmöglich. Beispiel Fall 3: Peter ist 15 Jahre, ein Punker (nach außen hin). Langjährige Kontakte zur Praxis, schon bevor sich seine Eltern trennten, lassen den Kontakt zu ihm nicht abbrechen. Das Beziehungsangebot stimmt noch. Auffallend ist seine sehr depressive Grundstimmung (zumindest wirkt er immer so). Eines Tages erzählt er, dass er große Probleme mit dem Drogen- und Alkoholkonsum seines Vaters hat. Er sieht ihn regelmäßig und hat eigentlich guten Kontakt zu ihm. Hier hilft u. a. die rasche Aufnahme einer Verbindung zu einer Drogenberatungsstelle weiter, wo Peter sich erst einmal Information, Rat und Unterstützung holen kann für sein Bemühen, den Vater evtl. von seinem Drogenkonsum wegzubekommen. Zudem lässt sich intervenieren, was Peters eigene sich möglicherweise anbahnende Suchtproblematik angeht. Dies könnte ebenfalls hinter seiner Problematik mit dem Vater stecken (»hidden agenda!«).
42.2.6 Durch die Praxis aus der Praxis hinaus Vielfach hat die jugendmedizinische Betreuung auch aufsuchenden Charakter, will man diejenigen erreichen, die nicht von sich aus in die Praxis kommen. Meist sind dies gerade Jugendliche, die am ehesten der präventiven und medizinischen Betreuung bedürfen. Kontakte zu Schule, Sportverein, Jugendzentrum bieten dazu Möglichkeiten, die noch viel zu selten genutzt werden. Allerdings ist ein behutsames Vorgehen angesagt. Schulen wollen in der Regel selbst bestimmen, an wen und zu welchem Thema sie sich wenden. Persönliche Kontakte und ein entsprechendes Angebot z. B. Elternabende zum Thema Pubertät oder Arztstunden helfen, bestehende Vorbehalte und Barrieren aufzubrechen. Der Kontakt zu Sportvereinen lässt sich leicht über eigene sportliche Ambitionen oder die der eigenen Kinder herstellen. Wenn diese nicht bestehen, bietet es sich an, im Rahmen von Sportuntersuchungen auch mal mit dem ein oder anderen Trainer in Kontakt zu kommen. Das Angebot, Materialien und Veranstaltungsankündigungen in der Praxis auszulegen, hilft Kontakte aufzunehmen und auszubauen. Gleichzeitig bieten sie weitere Identifizierungsmöglichkeiten für die Jugendlichen mit der Praxis.
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Tipp Nutzen Sie den Musterbogen (7 Anhang) zum Aufbau eines eigenen Netzwerkes. 5 Laden Sie wichtige Netzwerkpartner einmal in Ihre Praxis ein und erläutern Sie Ihre Arbeit. Beschreiben Sie gemeinsame Berührungsbereiche. 5 Stellen Sie Adressenlisten bzgl. Logopäden, Ergotherapeuten, Psychologen, Psychotherapeuten etc. für den Aushang zusammen. Vergessen sie nicht, diese von Zeit zu Zeit zu aktualisieren. 5 Nutzen Sie das »Hilfeplakat« (7 Anhang) für den Aushang im Wartezimmer. So ist auch eine anonymisierte Adressenweitergabe möglich.
»Der häufigste Fehler ist die Annahme, dass die Grenze unserer Wahrnehmung auch die Grenze alles Wahrnehmbaren sei.« (Charles Webster Leadbeater)
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Gesundheitsförderung an der Schule – Modell »Gesunde Schule«
U. Büsching 42.3.1 Die Akzeptanz medizinischer Versorgung Bei Jugendlichen ist die Akzeptanz medizinischer Versorgung gering, sowohl von kranken, aber insbesondere auch von »gesunden« Jugendlichen. Auch die Kompetenz anderer Gesundheitsexperten ist ihnen wenig wichtig. Jugendlichen fällt es schwer, Hilfe zu akzeptieren, und noch schwerer, diese Hilfe zu suchen (Seiffge-Krenke 1994). Hilfen von Freunden können oft leichter angenommen werden. Durch Hilfen von Erwachsenen sehen Jugendliche ihre Autonomie gefährdet. Die Strukturen der kurativen Medizin mit der ihr eigenen »Zugehstruktur« sind also für Prävention wie Beratung in der Jugendmedizin nicht passend. Sie werden dem Selbstverständnis der Jugendlichen nicht gerecht. Die Begriffe »Gesundheit«, »Wohlbefinden« und »Krankheit« besitzen für Jugendliche eigene bzw. völlig andere Kriterien (Barkholz 2001). Der Zustand völligen körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens wird von ihnen auch bei lärmender Musik in einer stickigen Discothek erlebt, selbst wenn die Weltgesundheitsorganisation WHO bei der Definition des Gesundheitsbegriffs gänzlich andere Vorstellungen hat. So verfehlt die J1 ihr Ziel, sie erreicht nur gut ein Viertel der Jugendlichen und vor allem nicht diejenigen unter ihnen, die von diesem Angebot besonders profitieren könnten (Altenhofen et al. 1998). Dieses Präventionsparadoxon erklärte sich auch aus der achtjährigen Lücke zwischen der letzten »Kinder«-Vorsoge und der J1, einer Zeitspanne, in der sich unselbständige Kinder in kompetente Jugendliche entwickeln. Nach den vorliegenden Auswertungen der J1 ist das Angebot zudem schichtenspezifisch, es wird überwiegend von der Mittel- und Oberschicht angenommen. Schüler von Haupt- oder gar Sonderschulen bilden bei der J1 eher die Ausnahme. Aber auch Realschüler, ca. 60% eines Jahrganges, werden nur sehr unvollständig von diesen Angebot angesprochen. Die Ablösung von der elterlichen Führung, sei es nun Interessenlosigkeit oder Zeitmangel der Eltern auf der einen oder
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Kapitel 42 · Interdisziplinäre Zusammenarbeit
Autonomieanspruch der Jugendlichen auf der anderen Seite, spielen ebenso eine Rolle wie der familiäre Umgang mit Gesundheit und Prävention. Generell gilt für die Mehrzahl der Jugendlichen, dass die herkömmlichen Strukturen und Arbeitsweisen der kassenärztlichen Tätigkeit für die jugendärztliche Prävention ganz offensichtlich ungeeignet sind. Eine aufsuchende Versorgung in Schulen erreicht Risikogruppen viel besser, wie heute schon Reihenuntersuchungen zeigen. Das Angebot ist jedoch sehr gering und zudem personell unterbesetzt. 42.3.2 Schulische Gesundheitsförderung Ein niedrigschwelliges Angebot für Gesundheitsförderung und Prävention öffnet den Schülern einen eigenständigen Zugang und einen Weg zu den Versorgungssystemen. In Schulen und bei anderen psychosozialen Diensten wird seit längerer Zeit nach Lösungen gesucht, diese niedrigschwelligen Angebote zu erproben und zu etablieren. Konzepte und Projekte berufen sich auf die Ottawa-Charta zur Gesundheitsförderung, der ersten internationalen Konferenz zur Gesundheitsförderung der WHO von 1986. Nach der Ottawa-Charta »... zielt die Gesundheitsförderung auf einen Prozess, allen Menschen (Anm. d. Verfassers: Schülerinnen und Schülern) ein höheres Maß an Selbstbestimmung über ihre Gesundheit zu ermöglichen und sie damit zur Stärkung ihrer Gesundheit zu befähigen. In diesem Sinne ist die Gesundheit als ein wesentlicher Bestandteil des täglichen Lebens zu verstehen und nicht als vorrangiges Lebensziel. Gesundheit steht für ein positives Konzept, das die Bedeutung sozialer und individueller Ressourcen für die Gesundheit ebenso betont wie die körperlichen Fähigkeiten.« Nach der Erklärung von Thessaloniki – Erste Konferenz des Europäischen Netzwerks Gesundheitsfördernde Schulen 1997 – hat jeder Schüler das Recht und sollte die Möglichkeit haben, in einer gesundheitsfördernden Schule zu lernen. Der Ausschuss Jugendmedizin des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ e.V.) positionierte sich ausgehend von dieser Erklärung und innerhalb der bisherigen Projekte durch drei zusätzliche konzeptionelle Ansätze: 1. Wir fordern, die jeweilige individuelle gesundheitliche Situation der Schülerinnen und Schüler bei Gesundheitsförderung und Prävention in Schulen zu berücksichtigen. 2. Wir wollen die Rolle des Pädiaters als Ansprechpartner für die Schule bei der sekundären und tertiären Prävention deutlich hervorheben. 3. Wir wollen Ärzte auf das Arbeitsfeld schulischer Gesundheitsförderung und Prävention vorbereiten, unter Berücksichtigung gezielter multiprofessioneller Zusammenarbeit und der besonderen Beachtung der Entwicklungspsychologie. Die Erprobung möglicher Konzepte zur Gesundheitsförderung und Prävention in Schulen hat in den 1990er-Jahren ein beachtliches Ausmaß angenommen (Paulus 2000). Gesundheitsförderung stellt dabei den Prozess dar, in dessen Verlauf Menschen lernen, selbstbestimmt gesundheitsbewusste Entscheidungen zu
treffen. Sie besteht aus Gesundheitserziehung, verbunden mit einer Verhaltensänderung wie auch aus der Schaffung von gesunden Verhältnissen mit den entsprechenden Rahmenbedingungen im Schulalltag. Im Mittelpunkt steht nicht mehr allein der in den einzelnen Schulfächern praktizierte »reparative«, Aspekt der Gesundheitserziehung (z. B. Gesundheitsprogramme vornehmlich auf der Vermeidung von Krankheit durch »Belehrung und Aufklärung über gesundheitliche Risikofaktoren bzw. auf der Abschreckung von Krankheit« basierend), sondern die ganzheitliche, präventiv orientierte, am »Gesamtsystem« Schule ansetzende Betrachtungsweise. Damit wird sowohl die Verbesserung der Gesundheit Jugendlicher beabsichtigt als auch nach Möglichkeiten gesucht, die Zugangswege der Kinder und Jugendlichen zu den Versorgungseinrichtungen zu erleichtern und die Kooperation der verschiedenen Versorgungs- und Beratungseinrichtungen auszubauen. Grundlegende Prinzipien der schulischen Gesundheitsförderung sind im Folgenden zusammengefasst:
Prinzipien der schulischen Gesundheitsförderung 5 5 5 5 5 5
Ganzheitlichkeit Antizipation Partizipation Schülerorientierung Handlungsorientierung Problemorientierung
Gesundheitsförderung verfolgt andere Ziele als die Primärprävention wie Neugeborenenscreening oder Impfempfehlungen. Gesundheitsförderung beschäftigt sich ebenso wie die Individualprävention mit Ernährung, Hygiene, Konfliktbewältigung oder Sucht. Das Ziel ist aber nicht in erster Linie Krankheitsvermeidung, sondern das Wohlbefinden jedes Einzelnen und der Gruppe. Wie weit sich der Bogen von der Kenntnis von Krankheiten über die Prävention dieser Krankheiten wirklich spannt, müssen die unterschiedlichen Akteure erst voneinander lernen. Außerhalb der Pädiatrie, der Gynäkologie und der Zahnheilkunde arbeiten Ärzte überwiegend kurativ. Sie haben gelernt, Krankheiten zu mildern bzw. zu heilen. Gesundheitsförderung und Prävention ist deshalb häufig ein völlig neuer Aspekt ihres Arbeitsgebietes, Konzepte und Didaktik sind für sie neu zu erlernen. In enger Anlehnung an die Strategien und Handlungsfelder der Ottawa-Charta zur Gesundheitsförderung sind Zielvorstellungen einer gesundheitsfördernden Schule entwickelt worden. Die folgende Aufstellung gibt im Wesentlichen ihre Zusammenstellung wieder.
Ziele der gesundheitsfördernden Schule Die Schule soll: 5 durch Gebäude, Spielflächen, Schulmahlzeiten, Sicherheitsmaßnahmen u. a. m. ein gesundheitsförderndes Arbeits- und Lernfeld schaffen; 5 das gesundheitliche Verantwortungsbewusstsein des Einzelnen, der Familie und der Gemeinschaft fördern;
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5 zu gesunden Lebensweisen anhalten und Schülern wie Lehrern realistische und attraktive Gesundheitsalternativen bieten; 5 es allen Schülern ermöglichen, ihr physisches, psychisches und soziales Potential auszuschöpfen und ihre Selbstachtung zu fördern; 5 für die Förderung von Gesundheit und Sicherheit der gesamten Schulgemeinschaft (Kinder und Erwachsene) klare Ziele vorschreiben; 5 gute Beziehungen zwischen Lehrern und Schülern, unter den Schülern selbst sowie zwischen Schule, Elternhaus und Ortsgemeinde schaffen; 5 die Verfügbarkeit von Gemeinderessourcen zur Unterstützung der praktischen Gesundheitsförderung erkunden und nutzen; 5 mit einer die Schüler aktiv einbeziehenden Didaktik ein kohärentes Curriculum für die Gesundheitserziehung planen; 5 Schülern Wissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten vermitteln, um Entscheidungen über ihre eigene Gesundheit und die Erhaltung und Verbesserung einer sicheren und gesunden physischen Umwelt selbst treffen zu können; 5 die schulische Gesundheitspflege als Bildungsressource begreifen, die den Schülern hilft, das System der Gesundheitsversorgung effektiv zu nutzen.
Wichtig ist zunächst, dass die Schule selbst die Notwendigkeit der Gesundheitsförderung erkennt und sich der Verantwortung stellt. Die jeweilige Schule muss selbst Lösungen erarbeiten, die mit der eigenen Situation, den eigenen Bedürfnissen und den vorhandenen Ressourcen übereinstimmen. Veränderungsbedarf und somit Ansatz für Projekte kann z. B. bestehen 4 im schulischen Umfeld: Gebäude/Architektur/Grünflächen, 4 in der Gesundheit der Lehrer, 4 in der Gesundheit der Schüler, 4 in der Fortbildung der Lehrer im Bereich Gesundheitserziehung, 4 in der Schulorganisation/Schulkultur (z. B. soziales Klima an der Schule).
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Das bedeutet, dass sich Schulen nach entsprechenden Partnern auf dem Weg zur »Gesunden Schule« umsehen. Gleichzeitig sollten Schulen Materialien zur Umsetzung zur Verfügung gestellt werden (7 Anhang). Die bereits bestehenden Unterstützungsangebote innerhalb und außerhalb von Schulen, Angebote von außerschulischen Diensten der psychosozialen und medizinischen Versorgung und Beratung können von dem mit diesem Netzwerk vertrauten Ärzten bei ihrer Tätigkeit in Schulen verknüpft werden. Beratung nutzt nicht nur der ärztlichen Kompetenz, sie erfordert auch hohe ärztliche Qualifikation, wie z. B. Kenntnis über Entwicklungspsychologie, Sozialmedizin, gesundheitsgefährdende Risikofaktoren, der Kenntnis von Krankheit oder Gesundheit wie z. B. zur Haut, dem Bewegungsapparat, zu Verhaltensauffälligkeiten und letztlich die Entscheidungsfähigkeit, in welcher Form Krankheit oder Gesundheitsgefährdung einzelner die Maßnahmen zur Gesundheitsförderung und Prävention in Schulen beeinflussen, gar behindern können. Diese Qualifikation ist zwingend für eine erfolgreiche ärztliche Mitarbeit in Schulen. Während Jugendärzte aus dem ÖGD und der Praxis bereits über einen hohen Kenntnisstand verfügen, müssen andere Berufsgruppen sich diesen erst aneignen. 42.3.4 Das Problem des Vertragsrechtes Die zentrale jugendärztliche Aufgabe in Schulen zur Gesundheitsförderung und Prävention bedeutet, sich mit bereits bestehenden Angeboten vertraut zu machen, sich in die bestehenden Konzepte einzubringen und deren Effektivität durch Mitarbeit zu verbessern. Diese Tätigkeit aus der niedergelassenen Praxis heraus ist neu in der Versorgungsstruktur und mit dem Versorgungsauftrag des Kassenarztes nur durch genehmigte Projekte kompatibel. Die ärztliche Mitarbeit an Schulen wird deshalb bisher auch nicht in den üblichen Strukturen, Chipkarte und Quartalsabrechnung über die Kassenärztliche Vereinigung, honoriert. Kassenärztliche Vereinigungen (KV) und Ärztekammern (ÄK) stehen in vielen Bezirken der Idee der Mitarbeit von Ärzten in Schulen sehr offen gegenüber. Nach dem Vertragsarztrecht müssen sie zur Zeit diese Tätigkeit reglementieren. Sie können die Arbeit behindern oder letztlich auch verbieten, insbesondere wenn jemand mit dieser Tätigkeit die Residenzpflicht ohne Absprache mit diesen Institutionen verletzt.
42.3.3 Ärztliche Mitarbeit 42.3.5 Kooperation mit dem öffentlichen Erstrebenswert sind Modelle der ärztlichen Mitarbeit in der Schule, die nicht die ärztliche Gestaltung von Maßnahmen von Gesundheitsförderung an Schulen in erster Linie verfolgen, jedoch die Gesundheit von Schülern und auch von Lehrern fördern. Ärztliche Kompetenz und Fachwissen soll partnerschaftlich in die Schule eingebracht werden, um die Schule bei ihrer Absicht, gesundheitsfördernd tätig zu sein, zu unterstützen. Erfolgversprechend für die ärztliche Beteiligung bei der Gesundheitsförderung in Schulen ist deshalb eine beratende Tätigkeit für Lehrer bei Projekten und eine Individual-, bzw. Gruppenberatung von Schülern. ! Die Bedürfnisse nach Gesundheit sollten nicht von außen in die Schule hineingetragen werden, sondern sich am jeweiligen Bedarf der Schule orientieren.
Gesundheitsdienst Die rechtliche Absicherung der ärztlichen Tätigkeit an Schulen betrifft nicht nur die regionale KV oder ÄK, sondern im besonderen Maß auch den öffentlichen Gesundheitsdienst (ÖGD). Jedwede Mitarbeit an Schulen sollte deshalb mit dem ÖGD vor Ort abgestimmt werden. Nach einem Beschluss der Ausschüsse »Kind, Schule und öffentlicher Gesundheitsdienst« des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte, Fachausschuss »Kinderund Jugendgesundheitsdienst im Bundesverband der Ärzte des ÖGD« und Ausschuss »Kinder- und Jugendgesundheitsdienst« der Deutschen Gesellschafter Sozialpädiatrie und Jugendmedizin gemeinsam mit dem Ausschuss »Jugendmedizin«, ist der ÖGD nicht nur federführend, er hat auch die Aufgaben für die Koordinierung der ärztlichen Mitarbeit an Schulen.
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Kapitel 42 · Interdisziplinäre Zusammenarbeit
Leitlinien für die Zusammenarbeit der Kinder- und Jugendgesundheitsdienste im ÖGD und der niedergelassenen Kinder- und Jugendärzte bei der Gesundheitsförderung und Gesundheitsbildung in Schulen (Bad Orb, 14. Oktober 2000) Die Leitlinien konkretisieren die im Konsenspapier vom Oktober 1995 gemeinsam getroffenen Vereinbarungen. Das Ziel ist die Sicherung einer effektiven und effizienten Zusammenarbeit im Rahmen der ärztlichen präventiven Angebote in der Schule zwischen den Kinder- und Jugendärzten im ÖGD und den Kinder- und Jugendärzten in niedergelassener Praxis. 5 Für die Schulgesundheitspflege ist Kraft der einschlägigen Bestimmungen primär der Kinder- und Jugendgesundheitsdienst des Gesundheitsamtes zuständig. Niedergelassene Kinderärzte sind aufgefordert, sich in der Schulgesundheitspflege zu engagieren; das kann und soll die Arbeit des Kinder- und Gesundheitsdienstes nicht ersetzen, sie aber unterstützen und erweitern. 5 Ergänzende Aktivitäten durch Ärzte werden in einer regionalen Organisationsstruktur, in aller Regel unter Federführung der Kinder- und Jugendärzte aus dem ÖGD, koordiniert (z. B. in Arbeitskreisen »Schulgesundheit«). 5 Schwerpunkte und Ziele werden im Arbeitskreis nach den regionalen Problemlagen und Bedürfnissen abgestimmt. Alle konkreten Vorhaben werden im Arbeitskreis geplant. Die beteiligten Ärzte erklären ihre Mitarbeit verbindlich. 5 Bei öffentlichen Aktionen und gegenüber der Schule spricht die Kinder- und Jugendmedizin mit einer Stimme.
Die gesetzlich festgeschriebene Aufgabe des ÖGD wird beispielhaft an dem Gesetz über den ÖGD vom 25.11.1997 NRW § 12 zum Kinder- und Jugendgesundheit vorgestellt (7 Kap. 43.2.1). In anderen Bundesländern lauten die Gesetze ähnlich. Diese Aufgabe wird nach dem Konsenspapier von Bad Orb letztlich Aufgabe aller Jugendärzte, auch aus der Praxis sein. Dabei spielt die Zahl der Schulen (ca. 55.000), im Verhältnis zu den Kollegen des ÖGD die entscheidende Rolle. Selbst die Gesamtheit der niedergelassenen Pädiater (ca. 6.500), wird, sofern jede Schule betreut werden müsste, diesen Auftrag nicht erfüllen können. Solange jedoch die Phase der Evaluation ärztliche Maßnahmen in Schulen nicht abgeschlossen ist, haben Jugendärzte die Verpflichtung, die Qualität der Arbeit zu bestimmen. Eine Mitwirkung an Projekten, die die Ärztekammern, wie z. B. in Nordrhein oder in Westfalen, aufgelegt haben, deren Qualität von Hausärzten definiert wird, muss sehr kritisch hinterfragt werden. Eine Mitwirkung anderer Fachgruppen unter Federführung des ÖGD ist jedoch generell gewünscht. 42.3.6 Die Kooperation von Lehrern und Ärzten Die Mitarbeit der Ärzte an Schulen, die Kooperation von Lehrern und Ärzten unterliegt folgenden Bedingungen:
Bedingungen 5 Gesundheitsförderung und Prävention ist für die Schule ein Bestandteil des Schulentwicklungskonzeptes. 5 Ärztliche Kompetenz und Qualität ist von der Schule gewünscht, die Absprachen mit den Kammern sind erfolgt. 5 Der ÖGD ist eingebunden.
Sie gliedert sich in drei Bereiche: Der Gesundheitsunterricht
Der Gesundheitsunterricht wird von Lehrern und ggf. in Kooperation mit Ärzten entwickelt, ist ein wesentlicher Bereich der schulischen Gesundheitsförderung und Prävention (Rieder et al. 2001). Hierzu liegen durch eine große Zahl von Modellprojekten auch schon konkrete Erfahrungen vor. Dieser Zugang war zunächst naheliegend, lassen sich doch gesundheitsfördernde Themen gut in den Unterricht einbauen (z. B. Ernährung, Drogen, Sexualität etc). Auch die positiven Erfahrungen zu Modellen wie »Klasse 2000« (Hollederer et al. 1999) oder »Just be smokefree« (Wüsthof et al. 2002; Freitag et al.,1999) sprechen für dieses Vorgehen. Ob allerdings die Nachhaltigkeit dieses Konzeptes generell auf andere Themen zu übertragen ist, bleibt abzuwarten. Gesundheitsfördernder Unterricht könnte sich als ebenso selektiv wie die J1 herausstellen, da er nur von Schulen, bzw. Lehrern eingesetzt wird, die sich mit dem Thema Gesundheitsförderung und Prävention bereits auseinandergesetzt haben. Gefahren wie zu geringe Eigeninitiative der Schüler, Selbstdarstellung und didaktische Unerfahrenheit der Ärzte werden auf Kosten des positiven Erlebnisses, der Prozessevaluation, allzu leicht unterschätzt. Positiv bewertet werden muss, dass der gemeinsame Unterricht sehr geeignet ist, die Aufmerksamkeit der Schüler auf gesundheitliche Themen zu lenken. Die Anwesenheit eines Arztes oder einer Ärztin im Unterricht verleiht dem Thema Gesundheit/Krankheit einen höheren Stellenwert. Unterricht zum Thema Gesundheitsförderung und Prävention bietet reichlich Chancen, wenn die passenden Konzepte vorliegen und die didaktische und fachliche Qualität gewährleistet sind. Die Entwicklung von Konzepten und die Einbindung von niedergelassenen Ärzten aller Fachrichtungen ist jedoch zeitaufwändig. Zurzeit gibt es in Deutschland eine pädagogische Hochschule mit dem Wahlfach Gesundheitsförderung. Auch die Rahmenbedingungen für die Ärzteschaft, und sei es nur das Honorar für die Unterrichtsvorbereitung, sind ungeklärt. Auf Dauer und im großen Stil wird es nicht durchsetzbar sein, dass Lehrer den Unterricht in ihrer Arbeitszeit, Ärzte in ihrer Freizeit vorbereiten. Die Gesundheitsberatung in der Schule
Die Gesundheitsberatung in der Schule ähnlich einer Sprechstunde in der Praxis, aber ohne Untersuchungsmöglichkeiten. Sie ist ein weiteres Feld für die Kooperation von Ärzten und Lehrern. Ärzte bieten in Absprache mit Lehrern in der Schule Einzel- oder Gruppenberatung an. Das Problem der Schweigepflicht ist zu beachten. Andererseits können Anfragen der Lehrer ebenso wie Probleme aus der Beratungsstunde zur Lösungsansätzen innerhalb der Schule beitragen. Bei dieser sehr viel stärker dem üblichen ärztlichen Handeln angelehnte Tätigkeit wird das Thema von den Schülern bestimmt. Diese sehr individuell ausgerichtete
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Form der Gesundheitsförderung und Prävention ist sicher auch eine gute Möglichkeit, diejenigen zu erreichen, die aus den ein oder anderen Gründen den Weg in eine ärztliche Praxis nicht finden. Aus der Erfahrung mit der Beratungsstunde zeigt sich aber auch, dass eine Kombination von Unterricht und Beratungsstunde hilfreich ist, um durch die persönliche Vorstellung des Arztes in der Klasse die Schwellenangst zu reduzieren. Die Schüler kommen mit den unterschiedlichsten Fragen zur eigenen Gesundheit, zur Gesundheit von nahen Angehörigen oder Freunden, zu Stress und Konflikten in der Schule, im häuslichen Umfeld und zur eigene Sexualität. Es ist überraschend, wie, ganz im Gegensatz zur Erfahrung in der Praxis, offen und kompetent die Schüler fragen und diskutieren. Die Beratungsstunde in der Schule ist ein deutlicher Beleg für die Forderung, bei Jugendlichen auch in der Praxis immer ein Einzelgespräch ohne die Eltern zu suchen. Diese Erfahrung der Individualberatung deckt auch die Schwächen der Gesundheitsförderung und Prävention im Unterricht auf. Diese Spontaneität und Offenheit ist im Klassenverband nicht zu beobachten. Die Schwierigkeiten der Beratungsstunde liegen in dem hohen organisatorischen Aufwand mit der Verpflichtung beider Seiten sich an die vorgegebenen Zeiten zu halten. Die Beratungsstunde kann außerhalb der Unterrichtsstunden oder während des laufenden Unterrichts stattfinden. Bei letzterem wird der Schüler für die Sprechstunde beurlaubt. Die Ärzte erhalten einen Terminplan, die Schüler benachrichtigen sich untereinander nach einem vorher im Kollegium abgestimmten Plan. Dieses hohe Maß an Organisation lässt die Vermutung zu, dass eine Ganztagsschule viele Vorteile für eine Beratungsstunde bieten würde. Das Konzept der Gesundheitsberatung in der Schule muss wegen des damit verbundenen Aufwandes und der sich für Lehrer und Eltern ergebenden Folgen unbedingt zunächst mit der gesamten Lehrerschaft, der Elternschaft und der Schülerschaft abgesprochen und von diesen anschließend auch getragen werden, d. h. die Gesundheitsberatung muss in das pädagogische Gesamtkonzept der Schule integriert sein. Eine Auswertung von entsprechenden Pilotprojekten liegt noch nicht vor. Die gesundheitliche Begleitung der gesamten schulischen Arbeitsprozesse
Dies ist das dritte Feld für die Kooperation von Ärzten und Lehrern. Diese Tätigkeit lässt sich zusammenfassen mit dem Begriff »Betriebsarzt einer Schule«. In Analogie zum Betriebsarzt in der Arbeitsmedizin geht es hier um die Frage, wie die Schule als ökologisches Setting gesundheitsfreundlich und gesundheitsfördernd eingerichtet werden kann. Die Rolle der Ärzte des ÖGD ist dabei auch formalrechtlich entscheidend. Bei guter personeller Besetzung des ÖGD, wie in anderen europäischen Ländern, wäre die betriebsärztliche Tätigkeit im Gegensatz zu den beiden anderen Kooperationsfeldern für diesen besonders geeignet. Der Begriff »Betriebsarzt einer Schule« beinhaltet: die Schulen sind für die Schüler ebenso wie für die Lehrer der wichtigste Arbeitsplatz. Dennoch gehören sie wohl zu denjenigen Institutionen, die am wenigsten durch medizinischen Sachverstand begleitet werden. Der Betriebsarzt einer Schule ist aber nicht nur für die »Arbeitsmedizin der Schule« zuständig, sondern ebenso für die Mitwirkung bei der Gestaltung des gesundheitsfördernden Unterrichtes und der Ausübung einer Beratungsstunde.
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42.3.7 Betriebsarzt einer Schule Die Entscheidungskriterien für den niedergelassenen Pädiater auch als Betriebsarzt einer Schule zu arbeiten, betreffen vordringlich die Fragen des Zeitmanagements und der Finanzierung. In Analogie zu der hausärztlichen Betreuung von Altenheimen sollte Zeitmangel nur eine untergeordnete Rolle spielen. Die Honorierung der Arbeit ist oft noch unsicher, die Lösungen werden zunehmend besser, sind jedoch regional sehr verschieden. Die Struktur der betriebsärztlichen Tätigkeit sollte vorher geklärt sein (7 oben): Liegt der Schwerpunkt eher bei der Arbeit in der Gruppe, der Klasse oder eher im Einzelkontakt mit den Jugendlichen? Der Zeitaufwand lässt sich durch die Wahl der ärztlichen Aufgaben beeinflussen. Die inhaltlich nicht zu planenden schulärztlichen Tätigkeiten wie das Angebot einer Beratungsstunde, Lehrergespräche während der Pausen (Pausenkontakte), Koordinierung im Netzwerk bei schwierigen Kindern, das Gespräch mit dem Hausmeister über Unfallgefahren oder Möblierung machen eine regelmäßige Anwesenheit in der Schule unabdingbar, erfordern mehr Zeit. Werden derartige Tätigkeiten nur sporadisch angeboten, lässt sich kein Vertrauen und keine Bindung erwerben. Anders ist der Zeitaufwand bei inhaltlich geplanten schulärztlichen Tätigkeiten. Hier steht der freie Nachmittag, der Abend oder langfristig geplant auch ein Vormittag, bei dem ein Kollege die Vertretung übernimmt, zur Auswahl. So kann beim Unterricht an einzelnen Tagen, bei Elternabenden oder Lehrerkonferenzen, bei Projekttagen oder -woche viel jugendärztlicher Sachverstand in die Arbeit der Schule einbracht werden. Die Gespräche im psychosozialen Netzwerk, dem Pädiater durch die tägliche Arbeit bekannt, werden durch die Arbeit an Schulen deutlich intensiver, müssen jedoch nicht in der Schule, sondern können weiterhin von der Praxis aus geführt werden. Der Vorteil der Einzelprojekte ist der variable Zeitaufwand, der Praxisablauf ist viel weniger gestört, die Intensität der Kontakte ist jedoch erheblich geringer. Viele Arzt-/Lehrerkooperationen sind leider an dieser lockeren Zusammenarbeit gescheitert. Der Zeitaufwand ist für jeden, der Betriebsarzt einer Schule werden will, von großem Interesse. In den gut 6 Jahren, in denen das Modell »Betriebsarzt einer Schule« in der Bielefelder Wellbachschule realisiert wurde, betrug der Aufwand ca. 40–60 Stunden pro Jahr. Dies gliederte sich in 20–30 Beratungsstunden pro Jahr mit einer regelmäßigen Anwesenheit alle 2 Wochen außerhalb der Ferien. Hinzu kamen die Pausenkontakte vor und nach der Beratungsstunde. Für Elternabende, Lehrerkonferenzen und Unterricht werden mindestens 10 Stunden pro Jahr angesetzt. Die Vorplanung und Nacharbeit von Projekten und Unterricht sowie Telefonate im Netzwerk benötigen ebenfalls bis zu 10 Stunden pro Jahr. Es können auch leicht einmal 10 intensive und lebhafte Stunden pro Jahr mehr werden. Die ärztliche Mitarbeit an Schulen bietet eine Chance, das geschilderte Präventionsdilemma im Jugendalter zu überwinden. Es ist nicht die alleinige Aufgabe der pädiatrischen Fachverbände, den Betriebsarzt einer Schule zu etablieren. Schulen, von den Kultusministern bis zu den einzelnen Lehrern, müssen von der Notwendigkeit der Mitwirkung von Ärzten bei Konzepten zur Gesundheitsförderung und Prävention an Schulen überzeugt sein oder werden. Der BVKJ hat mit seinen Aktivitäten Bereitschaft bekundet, sich in dieses gesundheitspolitische Thema einzubringen. Die bisherigen Erfahrungen, die zunehmende Bereit-
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Kapitel 42 · Interdisziplinäre Zusammenarbeit
schaft der Lehrer mit Ärzten an Schulen zu kooperieren, die Zusammenarbeit der Verbände mit Organisationen der Schulen, sind Beleg dafür. Prävention und Gesundheitsförderung Jugendlicher wird durch ein niedrigschwelliges Angebot vor Ort erheblich verbessert, die »aufsuchende Versorgung« ist die altersspezifische Form im Zugang zu jungen Menschen. Deshalb sind die ärztlichen Maßnahmen effektiver. Ganz nebenbei eröffnet sich der Jugendliche einen eigenständigen Zugang zu unserer Medizin. Neben den Vorteilen für die Schüler profitieren auch die Lehrer von ärztlicher Mitarbeit an Schulen. Ihnen bieten sich interessante Möglichkeiten für den Unterricht, für Projekttage und im Umgang mit schwierigen Schülern, wenn sie Ärzte als Berater bei der schulischen Gesundheitsförderung integrieren. Jugendärzten müssen, wenn sie das Ziel einer gesünderen Jugend ernsthaft erreichen wollen, ihre sozialmedizinische Kompetenz und die Notwendigkeit ärztlicher Prävention in der Adoleszenz politisch besser artikulieren (Tillmann 1999). Wenn die Gesellschaft Gesundheitsrisiken durch Gesundheitsförderung und Prävention reduzieren will, muss sie Gesellschaftspolitik an die Ottawa-Carter orientieren (Raithel 1999). Alle Absichten in Schulen ein gesundheitsförderliches Klima zu schaffen, werden sinnlos, solange die soziale Benachteiligung der kinderreichen Familie kontraproduktiv wirkt (Mansel 1995; Baacke 1983). Der BVKJ arbeitet mit Nachdruck daran (7 auch die Kampagne zu »Leben in sozialer Armut«) die pädiatrische Kompetenz in politischen Gremien und Institutionen im Hinblick auf familiär wirksame Gesundheitsförderungskonzepte im Bereich des Public Health (gemeindenahe Koordinierung) und bei gesetzgeberischen Veränderungen nachhaltig zu verbessern. 42.3.8 Das Konzept »Arzt und Schule« Das Konzept »Arzt und Schule« des BVKJ e.V. ist langfristig angelegt. Die Erstellung eines Handbuches gilt als Startprojekt für politische Arbeit und für eine erste Qualifikation des Jugendarztes (Erscheinungsjahr 2005). Maßgeblich war die Auswertung von Projekten und Forschungsvorhaben. Ohne Beteiligung von externen Experten ist Verbesserung der Schülergesundheit nicht zu realisieren. Entscheidend ist die deutlicher artikulierte Forderung nach der sich öffnenden Schule, der Integration von Experten in den Schulalltag, insbesondere den der Ganztagsschulen. Wer Leistung fordert, muss Gesundheit fördern. Das heißt, jede Schule sollte einen solchen gesundheitsförderlichen Prozess durchlaufen. Wenn 4 »Neugierige« in einer Schule »Schätze« finden, in denen Schüler und Lehrer »gesund« lernen und arbeiten können, 4 Betroffene die Möglichkeit haben, sich mit ihren Sorgen und Wünschen in einer arbeitsteiligen Planung, Umsetzung und Reflexion zu beteiligen (Partizipation) und diesen Prozess der Schulentwicklung gemeinsam gestalten, 4 diese Arbeit in Gesundheitsteams koordiniert wird (Kooperation) und sich die Schule hierbei von außerschulischen Partnern unterstützen lässt und gleichzeitig ihre eigenen Erfahrungen und Erfolge anderen mitteilt (Vernetzung), 4 durch Unterricht oder Projekte das »Gefühl für den eigenen Lebenszusammenhang« gestärkt wird (Empowerment), 4 hierdurch für viele ein wertschätzendes und ermutigendes Schulklima spürbar wird und ein attraktiver Arbeitsplatz und
Lebensraum entsteht und die wichtigsten Elemente das eigene Schulprofil prägen, 4 hierbei nicht nur Risiken und Belastungen gemindert, sondern vor allem auch Ressourcen und Potenziale für Entwicklungen vergrößert werden (Salutogenese), dann sind wir in einer gesundheitsfördernden Schule!« (Siegfried Seeger, freier Bildungsreferent für Gesundheitsförderung und Schulentwicklung, Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Gesundheitsfördernde Schule e.V.)
Literatur Altenhofen L, Joaquin O (1998) Ergebnisse der Jugendgesundheitsberatung in der Bundesrepublik – Kurzform, ZI der KBV Baacke D (1983) Die 13–18-Jährigen. Einführung in Probleme des Jugendalters. Beltz, Weinheim Barkholz U (2001) Offenes Partizipationsnetz und Schulgesundheit. BMBF, Bonn Freitag M, Hurrelmann K (1999) Illegale Alltagsdrogen. Juventa, Weinheim Hollederer A, Bölcskei PL (1999) Gesundheitsförderung als Gemeinschaftsaufgabe von Schule und Gesundheitsfachleuten- Praxis und Erfahrungen i. Rahmen des Klasse2000-Programms. Prävention,1,22– 25 Mansel J (1995) Sozialisation in der Risikogesellschaft. Luchterhand, Neuwied Paulus P (2000) Wege zu einer gesünderen Schule. Dgvt, Tübingen Raithel J (1999) Unfallursache: Jugendliches Risikoverhalten. Juventa, Weinheim Rieder S, Tress L (2001) Bericht 2000, Robert Bosch Stiftung Seiffge-Krenke J (1994) Gesundheitspsychologie des Jugendalters. Hogrefe, Göttingen Tillmann KJ (1999) Schülergewalt als Schulproblem. Juventa, Weinheim Wüsthof A, Böning V (2002) Kippen – Leben ohne Zigaretten, Urban & Fischer, München
42.4
Beratungsangebote für jugendliche Migranten
F. Çerçi Spezielle Beratungsangebote für jugendliche Migranten sind in Deutschland rar. Eine Zusammenarbeit zwischen den bestehenden Netzwerken, die sich speziell um Migranten kümmern, sollte häufiger in Anspruch genommen und stärker ausgebaut werden. Wenn überhaupt vorhanden, so sind das heute meistens allgemeine psychosoziale Beratungsstellen für Migranten, z. B. von AWO, Caritas o. Ä., oder aber Jugendberatungsangebote des ÖGD, wo auch Migranten mitversorgt werden. Die meisten Angebote sind in den Ballungszentren der Großstädte wie Berlin, Frankfurt, Hamburg, Stuttgart oder dem Ruhrgebiet zu finden. Eine ausfürliche Übersicht über Organisationen, Gruppen oder Institutionen (mit Kontaktadressen, Beratungsstellen, Selbsthilfegruppen etc), die Ansprechpartner speziell für Migranten sind und ihre Aufgabengebiete darauf ausgerichtet haben, findet sich im 7 Anhang. Ein Gesamtverzeichnis für Deutschland existiert derzeit noch nicht. Es muss auch daran gedacht werden, dass viele lokale oder bundesweite Zeitungen, Fernseh- oder Rundfunkprogramme von Migranten für Migranten muttersprachliche Informationen anbieten. Diese Medienangebote der
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Migranten sollten auch für Prävention und Gesundheitsinformationen künftig stärker genutzt werden. 42.4.1 Inanspruchnahme Neben den stellenweise fehlenden Angeboten ist die geringe Inanspruchnahme, etwa von psychosozialen Beratungsangeboten, ein weiteres Problem. Die Gründe, warum bestehende Angebote unzureichend angenommen werden, können einerseits darin liegen, dass bei Verhaltenstörungen die intra-familiären Lösungen bevorzugt werden, andererseits herrscht ein Informationsmangel, entsprechende Jugendliche können daher nicht gut erreicht werden. Traditionelle Einstellungen jedenfalls sind hierbei nicht vorherrschend. Hingegen ist zu beobachten, dass muttersprachliche Angebote die Inanspruchnahme erhöhen. Das Vorhaben, für jede Minderheit eine spezielle Einrichtung zu betreiben, ist jedenfalls nicht zu realisieren. Es würde dadurch zu einer Zersplitterung des Versorgungssystems kommen, was wiederum seine Qualität vermindern könnte (Priebe 2000). In Deutschland gibt es jedoch spezielle Einrichtungen für Migranten, die eine beachtliche Erfolgsbilanz aufweisen können, z. B. die Langzeittherapie-Einrichtung »Dönüs« in Nürnberg für drogenabhängige junge Männer ausländischer Herkunft oder Abstammung. Aus der Praxis ist bekannt, dass auf bestimmte Gruppen zugeschnittene Einrichtungen auch genau dieses Klientel ansprechen können. Die im Anhang aufgeführte multikulturelle Drogenberatungsstelle »Haltestelle« in Berlin betreut zu mehr als der Hälfte nur türkische Migranten. Etwa ein Viertel aller Beratungsfälle stammt aus den arabischen Ländern. Auch die Drogenberatung e.V. in Lippe bzw. in Detmold hat guten Kontakt zu drogenkonsumierenden jungen Spätaussiedlern bekommen, so liegt der Anteil der Spätaussiedler derzeit bei ca. 42%. Zu anderen Migrationgruppen besteht hingegen weniger Kontakt. Breitbasig realisierbar sind multikulturelle Teams, kulturelle Sensibilität und Ausstattung der Mitarbeiter mit transkultureller Sachkompetenz bei der Versorgung der betroffenen Migranten im Rahmen der Regelversorgung der Gesamtbevölkerung. In welcher Einrichtung die Imigranten-Jugendlichen letztlich besser aufgehoben sind, hängt vom Stadium ihres Migrationprozesses ab, d. h. Aufenthaltsdauer, Integrationsgrad, Deutschkenntnisse usw. Im Großen und Ganzen wird sich auf längere Sicht die integrierte Versorgung durchsetzen. Das gleichzeitige Vorhandensein von Therapieeinrichtungen wie »Dönüs« ist kein Widerspruch, sondern dient als Ergänzung. Neben der Information des jugendlichen Migranten über die Angebote und Möglichkeiten der medizinischen und psychosozialen Versorgung würde eine Ausbildung der Gesundheitsfachkräfte und des Personals im Umgang mit Migranten und der Erwerb von interkultureller Kompetenz in die Ausbildungs-Curricula sicherlich die Versorgungsqualität verbessern. Und nicht zuletzt ist die Bildung von Netzwerken für eine Migrantenbetreuung und für einen besseren fachlichen Austausch untereinander wünschenswert.
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Literatur Priebe S, Versorgungskonzepte, Psychosoziale Versorgung im Osten Londons. In: Koch E, Schepker R, Taneli S. (Hrsg.) Psychosoziale Versorgung in der Migrationgesellschaft, Deutsch-Türkische Perspektiven, Lambertus, 2000, S.51 Schwichtenberg U, Weig W: Die Behandlung von illegalen Drogen abhängiger Aussiedler in einem Niedersächsischen Landeskrankenhaus. In: Salman R, Tuna S, Lessing (Hrsg.) Handbuch interkulturelle Suchthilfe, Modelle, Konzepte und Ansätze der Prävention, Beratung und Therapie, Edition Psychosozial, 1999, S.184–185
42.5
Soziale Unterstützungsangebote
H. Schröer )) Jugend in unserer funktional hochdifferenzierten Gesellschaft ist eingebunden in ein Netzwerk von familiären und privaten, aber eben auch öffentlich verantworteten Angeboten der Beratung und Unterstützung. »Aufwachsen in öffentlicher Verantwortung« hat der 11. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung programmatisch die Aufgaben der Kinder- und Jugendhilfe genannt (BMFSFG 2002). Er hat dem körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefinden ein eigenes Kapitel gewidmet und damit deutlich gemacht, dass das Thema Gesundheit für die Jugendhilfe einen hohen Stellenwert haben sollte. Jugendmedizin und Jugendhilfe haben also viele Schnittstellen und Berührungspunkte.
42.5.1 Jugendmedizin und Jugendhilfe –
Schnittstellen und Berührungspunkte Was ist unter Jugendhilfe zu verstehen? »Jugendhilfe ist als ein von der Gesellschaft bereitzustellendes System von direkten und indirekten Leistungen zu definieren, das der Verbesserung der Entwicklungschancen von Kindern und Jugendlichen wie auch der Entfaltung ihrer sozialen, humanen und solidarischen Verhaltensweisen dienen soll. Dies soll (u. a.) durch pädagogisch unterstützende Angebote […] geschehen« (Deutscher Verein 2002). Das Aufwachsen junger Menschen ist schwieriger geworden: Die Erziehungsfähigkeit von Familien nimmt ab, die Bedeutung von Gleichaltrigengruppen wächst, die soziale Lage entscheidet noch immer über Entwicklungschancen, die Anforderungen an Bewältigungskompetenzen nehmen zu, deren Fehlen äußert sich häufig in Delinquenz und Gewalt. Das wirkt sich auch auf die Praxis der Jugendmedizin aus: Physische und psychische Vernachlässigung, körperliche und seelische Misshandlungen sowie sexueller Missbrauch sind häufig Phänomene, die im Vertrauen auf den Arzt erstmals ans Licht kommen. Der Konsum legaler und illegaler Drogen – Alkohol, Nikotin etc. – ist Begleiterscheinung aller Einrichtungen von Schule bis Freizeitstätte, wo junge Menschen ihre Zeit mit Gleichaltrigen verbringen. Ihre Folgen, häufig auch die Eingebundenheit in ein familiäres Abhängigkeitssystem, sind wiederum Alltag medizinischer Praxis. Das Risikoverhalten junger Menschen
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Kapitel 42 · Interdisziplinäre Zusammenarbeit
durch ungeschützten Geschlechtsverkehr nimmt wieder zu und erhöht die Gefahr von Geschlechtskrankheiten und Aids. Und schließlich verbindet eine vergleichbare Perspektive Jugendhilfe und Jugendmedizin die gemeinsamen Fragen, nämlich: Was hält gesund bzw. was macht stark? Was für die medizinische Forschung der Ansatz der »Salutogenese« ist, entspricht im Feld der sozialen Arbeit dem Konzept von »Empowerment« – junge Menschen zu befähigen, eigenverantwortlich ihr Leben gestalten zu können. Zentral für beide Ansätze ist die Erkenntnis, dass Menschen Widerstandsressourcen haben und fähig sind, diese produktiv zu nutzen. Voraussetzung dafür ist ein Gefühl der Kohärenz (Antonovsky 1998), d. h. ein subjektives Gefühl der Zuversicht, dass die Ereignisse des Lebens erklärbar sind, dass man den Herausforderungen gerecht werden kann und dass das Leben auch Sinn macht. 42.5.2 Kinder- und Jugendhilferecht: Beratung
und Unterstützung Grundverständnis Man kann das deutsche Kinder- und Jugendhilfegesetz als die rechtliche Festlegung von Beratungs- und Unterstützungsangeboten für Kinder, Jugendliche und deren Familien lesen. Wie ein roter Faden zieht sich die zentrale Verpflichtung zur Beratung und Unterstützung durch das Gesetz. So postuliert als zentrale Programmnorm des Kinder- und Jugendhilfegesetzes schon der erste Paragraph, dass Jugendhilfe insbesondere Eltern und andere Erziehungsberechtigte bei der Erziehung beraten und unterstützen soll. Diese Bestimmung betont die familienunterstützende und -ergänzende Funktion der Jugendhilfe (Wiesner et al. 2000). Dabei sind drei Aspekte wichtig: Zum einen haben viele Leistungen – gerade Beratungs- und Unterstützungsleistungen – einen Verpflichtungs- bzw. Anspruchscharakter. Es besteht also ein (einklagbarer) Rechtsanspruch auf die Erbringung dieser Leistung. Zum anderen verstehen sich die sozialen Einrichtungen zunehmend als Erbringer sozialer Dienstleistungen, die nicht von oben herab besser wissen, was richtig ist, sondern mit den Eltern und Kindern zu gemeinsam ausgehandelten Lösungen kommen wollen. Und schließlich ist es dabei ein vorrangiges Ziel, Eltern in ihrer Erziehungskompetenz zu fördern, Jugendliche zu stärken und Familien zu erhalten. Zugang zu den Unterstützungsangeboten Den Zugang zu den Unterstützungsangeboten, sofern diese nicht schon bekannt sind, eröffnen vor allem das jeweilige Jugendamt und der Allgemeine Sozialdienst. Es ist also ratsam, sich mit Ansprechpartnern dieser Behörden vertraut zu machen und allmählich ein Netzwerk von hilfreichen Institutionen aufzubauen oder sich in bestehende Netzwerke einzuklinken (7 Anhang). Gerade in Großstädten gibt es zumeist Koordinierungsgremien der Kinder- und Jugendhilfe, so dass auch nachbarschaftliche Kontakte zwischen örtlichen Einrichtungen und der ärztlichen Praxis geknüpft werden können. Dabei ist zu beachten, dass viele der Patienten anderen Kulturkreisen entstammen und es deshalb sehr sinnvoll ist, auch Ansprechpartner in Verbänden und Vereinen zu finden, die Erfahrungen in der Arbeit mit Migranten aufweisen. Wenn ein Verdacht auf Misshandlung oder Missbrauch besteht, aber auch beim Eindruck von Vernachlässigung, ist es Auf-
gabe von Allgemeinem Sozialdienst bzw. Jugendamt, einem solchen Verdacht oder den Ursachen von Vernachlässigung nachzugehen und mit ihren Mitteln zu beenden. Diesen Diensten der öffentlichen Jugendhilfe steht ein breites Spektrum an Interventions- und Hilfemöglichkeiten zur Verfügung: präventive Hilfen, Beratungsangebote (vgl. dazu den vorausgehenden Beitrag in diesem Buch), ambulante und auch langfristige stationäre Erziehungshilfen. Wenn das Wohl des Kindes bzw. Jugendlichen akut gefährdet erscheint, kann das Jugendamt Kinder und Jugendliche in seine Obhut nehmen, also eine Sofortunterbringung außerhalb der gefährdenden Familie vornehmen.
Tipp Wenn Sie Ansprechpartner für Fragen und Probleme oder Kooperationspartner für die Praxis suchen: Das örtliche Jugendamt bzw. der Allgemeine Sozialdienst sind für sie der wichtigste Kontakt. Versuchen Sie nicht selbst, Ursachen von Misshandlung oder Missbrauch aufzudecken und Abhilfe zu schaffen. Jugendamt oder Kinderschutzorganisationen sind Ihnen dafür kompetente Partner und verfügen über gute Beratungs- und Interventionshilfen. Eine gemeinsame Betreuung des Kindes und gewaltpräventive Maßnahmen lassen sich durch Kooperation in Form von Hilfekonferenzen gewährleisten.
Angebote der Jugendarbeit und Jugendsozialarbeit Bevor auf diese sehr massiven Hilfen näher eingegangen wird, sollen noch einige andere Unterstützungsangebote skizziert werden, die sich als Kooperationspartner anbieten. Bei noch nicht so gravierenden Gefährdungen in Familie oder Freundesclique können das je nach Problemstellung Erziehungsberatung, Suchtberatung, allgemeine Lebensberatung, Familienbildungsstätten oder entsprechende Selbsthilfeinitiativen sein. Die Adressen vermittelt das örtliche Jugendamt. Wenn die jugendärztliche Praxis in ihrem örtlichen Umfeld gut verankert ist und gesundheitliche Probleme bei den Patienten in einer Form auftreten, die gemeinsame Ursachen erkennen lassen, beispielsweise der Umgang mit Modedrogen oder exzessiver Alkoholkonsum, könnte eine Initiative bei den lokalen Jugendfreizeiteinrichtungen sinnvoll sein. Freizeitstätten, Häuser der offenen Tür oder wie immer die Angebote der offenen Jugendarbeit heißen mögen, haben im Rahmen ihres gesetzlichen Auftrages auch den Schwerpunkt der »gesundheitlichen Bildung«. Mit den Mitarbeitern gemeinsame Initiativen zur Gesundheitsbildung zu starten, ist ein wichtiger Beitrag zur gesundheitlichen Prävention. Das gilt in gleicher Weise für die Kooperation mit Einrichtungen der Jugendsozialarbeit, die die Aufgabe haben, Hilfen zur schulischen und beruflichen Ausbildung, zur Eingliederung in die Arbeitswelt und für die soziale Integration zu leisten. Hierbei handelt es sich vorwiegend um junge Menschen mit sozialen Benachteiligungen, die auch Risikogruppen im Gesundheitsverhalten sind. Gesundheitsförderung mit der Zielsetzung, das Gesundheitsverhalten gefährdeter Jugendlicher zu verändern, sollte eine gemeinsame Aufgabe von Medizinern und Sozialarbeitern im lokalen Gemeinwesen sein. Bei stark gefährdeten älteren Jugendlichen, die vielleicht auch in risikobereiten Cliquen verkehren, kann eine Bitte an das Jugendamt gerichtet werden, durch aufsuchende Sozialarbeit bzw. Straßensozialarbeit Einfluss zu nehmen.
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Auf Angebote der offenen Jugendarbeit oder der Jugendsozialarbeit können Sie hinweisen, wenn Jugendliche oder Eltern Möglichkeiten für Freizeitgestaltung oder Unterstützung für die soziale Integration suchen. Diese Einrichtungen sind Ihnen auch hilfreiche Partner für Maßnahmen der Gesundheitsförderung. Hilfen zur Erziehung Was aber kann getan werden, wenn jenseits von Prävention und allgemeiner Kooperation zur Gesundheitsförderung akuter Handlungsbedarf im Einzelfall besteht? Wenn es die Lage zulässt, mag der Hinweis und die Aufforderung an den jungen Menschen reichen, von seinen Rechten Gebrauch zu machen. »Kinder und Jugendliche haben das Recht, sich in allen Angelegenheiten der Erziehung und Entwicklung an das Jugendamt zu wenden«, heißt es im Kinder- und Jugendhilfegesetz. Das Jugendamt hat dann geeignete Maßnahmen zu veranlassen. In der Regel wird es aber notwendig sein, als Arzt selbst aktiv zu werden und das Jugendamt einzuschalten oder wenigstens Kinderschutzorganisationen zu konsultieren. In besonderen Notfällen kann die Polizei gerufen werden, die dann die erforderlichen Schutzmaßnahmen veranlasst. Inobhutnahme
Als vorläufige Maßnahme zum Schutz von Kindern und Jugendlichen sieht das Gesetz die Inobhutnahme vor. Zu dieser vorläufigen Unterbringung ist das Jugendamt verpflichtet, wenn ein Kind oder Jugendlicher selbst um Obhut bittet oder wenn eine dringende Gefahr für das Wohl des Kindes oder des Jugendlichen die Inobhutnahme erforderlich macht. In jeder Stadt gibt es entsprechende Einrichtungen, die rund um die Uhr zur Verfügung stehen und auch selbst berechtigt sind, Kinder und Jugendliche aufzunehmen. Die Eltern sind unverzüglich von der Maßnahme zu unterrichten und müssen ihre Zustimmung erteilen. Widersprechen sie der Inobhutnahme, ist aber das Jugendamt von deren Notwendigkeit überzeugt, so muss das Familiengericht über die erforderliche Maßnahme zum Wohl des Kindes oder Jugendlichen entscheiden. Zweck einer solchen Unterbringung ist es abzuklären, was die notwendige und geeignete Hilfe für das Kind oder den Jugendlichen sein könnte, um den Erziehungsproblemen zu begegnen. Diese »Hilfen zur Erziehung« sind im Gesetz beispielhaft beschrieben. Dem Jugendamt sind aber keine Grenzen gesetzt, für jeden Einzelfall – wie einen Maßanzug – die individuell passgenaue Hilfe zu gestalten. Ambulante Erziehungshilfen
Neben der Erziehungsberatung, bei der es eher um die Klärung und Bewältigung individueller und familienbezogener Familienprobleme geht, die also eine weniger intensive Hilfe darstellt, gibt es ambulante, teilstationäre und stationäre Unterstützungsangebote mit sehr unterschiedlich intensiver Intervention. Die ambulanten Erziehungshilfen sind dadurch gekennzeichnet, dass die Erziehung des Kindes oder Jugendlichen weiterhin in der Familie stattfindet, dass aber zur Unterstützung sozialpädagogische Hilfe zugeschaltet wird. Das kann in Form von sozialer Gruppenarbeit mit festen Strukturen und klareren Zielvorgaben erfolgen oder durch Erziehungsbeistände, die den jungen Menschen als feste Bezugspersonen bei seiner Verselbständigung unterstützen, oder auch durch eine sozialpädagogische Familienhilfe, die eine Familie intensiv betreut und begleitet, um deren Erziehungs- und Selbsthilfekompetenz wieder herzustellen bzw. zu stärken.
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Teilstationäre Erziehungshilfen Teilstationäre Hilfen sind darauf angelegt, während des Tages eine außerfamiliäre Erziehung sicherzustellen. Das Kind oder der Jugendliche verbleibt aber während der Nacht und am Wochenende bei seiner Familie. Das können Krippen, Kindergärten und Horte sein, die in der Regel Plätze für Kinder bereithalten, die Erziehungshilfe benötigen. Besondere Tagesgruppen sind darauf angelegt, durch soziales Lernen in der Gruppe, Begleitung der schulischen Förderung und Arbeit mit den Eltern die Entwicklung des Kindes oder Jugendlichen zu unterstützen. Für besonders verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche gibt es heilpädagogische Tagesstätten, die für die jeweiligen Bedarfe entsprechend spezialisiert sind. Stationäre Erziehungshilfen Der wohl intensivste Eingriff ist eine außerfamiliäre Unterbringung in einer Pflegefamilie oder in einem Heim. Während die Pflegefamilie in der Regel für jüngere Kinder in Frage kommt, werden ältere Kinder und Jugendliche in Heimen oder anderen Formen betreuten Wohnens untergebracht. Je nach Bedarf gibt sehr differenzierte Angebote mit heilpädagogischen oder therapeutischen Orientierungen. Heimerziehung ist dadurch gekennzeichnet, dass das Kind oder der Jugendliche auf voraussichtlich längere Zeit seinen Lebensmittelpunkt außerhalb der Familie haben muss, weil diese wegen sozialer und individueller Probleme mit der Erziehung (zeitweilig) überfordert ist. Je nach Situation kann eine Rückkehr in die eigene Familie das Ziel sein oder aber die Erziehung in einer anderen Familie vorbereitet werden. Insbesondere bei älteren Jugendlichen ist von einer auf längerer Zeit angelegten Lebensform auszugehen, die zur Verselbständigung des Jugendlichen hinführt. Geschlossene Unterbringung/sozialpädagogische Einzelbetreuung Für besonders gewaltbereite oder fremd-, aber auch selbstgefährdende Jugendliche gibt es als »letzten Versuch« die geschlossene Unterbringung. Diese ist ohne richterliche Zustimmung nicht möglich und wegen ihrer »pädagogischen Kapitulation« (Wiesner et al. 2000) auch höchst umstritten. Sie verweist auf eine verhängnisvolle Abschiebungs- und Verlegungspraxis anderer pädagogischer Einrichtungen. Als positive Alternative bietet das Gesetz die intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung, die speziell für besonders belastete und mit den üblichen Hilfeangeboten nicht mehr erreichbare Jugendliche entwickelt worden ist. Hier werden immer wieder gute Erfolge erzielt auch in scheinbar ausweglosen Fällen wie z. B. bei jungen Menschen aus dem Drogen- oder Prostituiertenmilieu, bei Punks oder obdachlosen Jugendlichen. In Extremfällen ist ein Sozialarbeiter für einen Jugendlichen zuständig, den er über längere Zeit intensiv betreut. Junge Volljährige Gerade mit Blick auf den letzten Personenkreis ist es noch wichtig zu wissen, dass die meisten der hier vorgestellten Hilfen auch für junge Volljährige gewährt werden sollen. Das gilt nicht nur für Jugendliche, die während eines Hilfeprozesses das 18. Lebensjahr vollenden, sondern auch für eine erstmalige Leistungsgewährung nach Vollendung des 18. Lebensjahres. Die Hilfe wird dann in der Regel bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres geleistet, kann aber in Ausnahmefällen darüber hinaus fortgesetzt werden.
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Kapitel 42 · Interdisziplinäre Zusammenarbeit
Fazit
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Es wird deutlich: Das deutsche Kinder- und Jugendhilferecht ist ein sehr modernes, sozialpädagogisch orientiertes Sozialleistungsgesetz, das ein hochdifferenziertes System unterschiedlicher Unterstützungsangebote enthält. Wenn Unterstützungsbedarf zeitnah formuliert wird und wenn die sozialen Systeme wie Jugendhilfe, Schule, Medizin oder andere verantwortlich kooperieren, dann kann jungen Menschen rechtzeitig und wirkungsvoll geholfen werden. 42.5.3 Dienste und Einrichtungen: Kooperationen
und Hilfen Freie Träger der Jugendhilfe Das Gesetz unterscheidet bei der Leistungserbringung zwischen Trägern der freien und der öffentlichen Jugendhilfe. Freie Träger sind die bekannten Wohlfahrtsverbände wie Caritas, Diakonie, Arbeiterwohlfahrt, Rotes Kreuz und Paritätischer Wohlfahrtsverband, aber auch Vereine wie der Kinderschutzbund und sonstige Träger, die die vielfältigen Hilfen anbieten. Öffentliche Träger der Jugendhilfe Öffentlicher Träger ist das jeweilige Jugendamt, das die Gesamtverantwortung für die Erfüllung der notwendigen Aufgaben trägt. Der Allgemeine Sozialdienst ist insoweit Teil des Jugendamtes, als er im Wohnumfeld und direkt mit den Familien arbeitet und in der Regel die notwendigen Schritte für die Gewährung von Jugendhilfe einleitet. Jugendamt und Allgemeiner Sozialdienst sind verantwortlich für die Hilfeplanung und Hilfegewährung. Bei den Erziehungshilfen schreibt das Gesetz vor, dass ein Hilfeplan erstellt werden muss, der Feststellungen über den Bedarf, die zu gewährende Art der Hilfe sowie die notwendigen Leistungen enthalten muss. Dabei sollen nicht nur Eltern sowie Kind bzw. Jugendlicher beteiligt werden. Es sollen mehrere Fachkräfte zusammenwirken. Dazu können und sollen Mediziner gehören, vor allem dann, wenn der Fall seinen Ausgangspunkt in der Arztpraxis gehabt hat. So kommt in die Jugendhilfe ein wichtiger interdisziplinärer Blick, die beteiligten Ärzte bekommen neue Kenntnisse über die soziale und familiäre Situation ihrer Patienten und Kooperationsbezüge werden verstärkt.
Tipp Mit den Hilfen zur Erziehung verfügt das Jugendamt über ein breites Spektrum sehr unterschiedlicher Unterstützungsangebote für jeden Einzelfall. Intervenieren Sie beim Jugendamt bzw. Allgemeinen Sozialdienst, wenn Ihnen eine solche Hilfe angebracht erscheint. Und bestehen Sie darauf, im Hilfeplanverfahren beteiligt zu werden, wenn Ihnen die Teilnahme wichtig erscheint.
Kooperationsstrukturen Gerade der letzte Aspekt soll abschließend noch einmal hervorgehoben werden: Die engagierte Arztpraxis kann sich notwendige Hilfen über den medizinischen Aspekt hinaus nur erschließen, wenn sie Kenntnis hat vom sozialen Netz der unterschiedlichen Unterstützungsangebote. Hier wird der erste Schritt sein, auf das Jugendamt zuzugehen, um Ansprechpartner zu gewinnen und soziale Angebote
kennen zu lernen. So kann in einem zweiten Schritt eine Kooperationsstruktur entwickelt werden, die vor allem von persönlichen Kontakten lebt. Sinnvoll insbesondere in Großstädten erscheint es, in einem dritten Schritt lokale Koordinationsgremien der Kinder- und Jugendhilfe aufzutun, um örtliche, gemeinwesenbezogene Hilfeangebote zur Verfügung zu haben und sich in diese Strukturen einzubetten. Sie können Ausgangspunkt sein für gemeinsame präventive Aktivitäten der Gesundheitsvorsorge ebenso wie gegen Gewalt und Missbrauch. Sie sind aber auch Basis eines gemeinsamen Fallmanagements bis hin zum erwähnten Hilfeplanverfahren. Fazit
Und schließlich: Potentielle Kooperationspartner sind natürlich das Jugendamt, der Allgemeine Sozialdienst und das Gesundheitsamt. Es sind die großen Verbände und die speziellen Kinderschutzorganisationen. Es sind Kinder- und Jugendtelefone und kleine Initiativen. Es sind vor allem die Beratungsstellen öffentlicher und freier Träger. Es fehlt selten an sozialer Unterstützung, aber oft an Kenntnis voneinander und Kooperation miteinander.
Literatur Antonovsky A (1998) Salutogenese – Zur Entmystifizierung der Gesundheit. DGVT, Tübingen Bundesministerium für Familien, Senioren, Frauen und Gesundheit (BMFSFG) (2002) Elfter Kinder- und Jugendbericht. Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland, Berlin Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge (2002) Fachlexikon der sozialen Arbeit. Eigenverlag, Frankfurt am Main Wiesner R, Mörsberger T, Oberloskamp H, Struck J (2000) SGB VIII – Kinderund Jugendhilfe. Beck, München
401
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43 Der öffentliche Gesundheitsdienst als Partner im Netzwerk Jugendmedizin G. Trost-Brinkhues )) Grundlagen für eine erfolgreiche Arbeit in der Jugendmedizin sind die Kooperation sämtlicher an der Prävention beteiligten Partner und ein gegenseitiger Informationsaustausch. Hierbei sollten auch die Aufgaben und Möglichkeiten der Kinder- und Jugendärzte des öffentlichen Gesundheitsdienstes als gemeinwesenorientierte Partner im Versorgungsnetz für Jugendliche bekannt sein. Der öffentliche Gesundheitsdienst (ÖGD) verfügt über ein multiprofessionelles Team, das in die kommunale Verwaltung eingebunden ist und enge Beziehungen zu den öffentlichen Kinder-, Jugend- und Bildungseinrichtungen unterhält. Wesentlich ist die an diese Funktion gebundene aufsuchende Wirkungsmöglichkeit, die eine Diagnostik und Beratung in Gemeinschaftseinrichtungen wie z. B. den Schulen ermöglicht. Die meisten Kommunen nutzen überdies die fachliche Beratung insbesondere des Kinder- und Jugendgesundheitsdienstes in den politischen Gremien. Die regelmäßige Gesundheitsberichterstattung des Kinder- und Jugendgesundheitsdienstes dient als Planungsgrundlage für örtliche und überörtliche Aufgaben.
43.1
Aufgaben des öffentlichen Kinder- und Jugendgesundheitsdienstes
Der Kinder- und Jugendgesundheitsdienst (KJGD) erfüllt einen Versorgungsauftrag im Gesamtkonzept einer modernen Sozialpädiatrie im Sinne einer Schnittstelle zwischen Medizin einerseits und dem Schul-, Jugend- und Sozialwesen andererseits. Komplementäre Aufgaben in der Primärprävention und in der gesundheitlichen Fürsorge für behinderte und benachteiligte Kinder und Jugendliche werden übernommen. Kennzeichen der Arbeitsweise der Kinder- und Jugendgesundheitsdienste ist die Einbeziehung primärpräventiver Angebote in die Begleitung der Schulkinder und Adoleszenten. Wesentliche Aspekte sind dabei die Wahrnehmung der Vermittlerfunktion zwischen Aufgaben anderer sozialer und medizinischer Institutionen und die Bemühungen um soziale Kompensationsmöglichkeiten unter Berücksichtigung kommunaler Interessen und Leistungsmöglichkeiten. Die gemeinwesenorientierte Arbeit für die Kinder- und Jugendgesundheit, auch als »community child health« bezeichnet, richtet sich nach den prioritären Gesundheitsbedürfnissen der Zielgruppe. Sie berücksichtigt u. a. die sich für die Jugendlichen rasch verändernden Rahmenbedingungen wie Auflösung der Familienstruktur, zunehmende Armut, zunehmende Arbeitslosigkeit sowie insbesondere Umwelt bzw. Lebenswelt bedingte Risiken. Faktoren, die eine optimale Entwicklung von Kindern und Jugendlichen eröffnen und Störeinflüsse sowie die daraus folgen-
den Auswirkungen werden unter Einbeziehung von pädiatrischen, psychologischen, entwicklungspsychologischen sowie entwicklungsneurologischen Aspekten vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Entwicklungen beobachtet. Über die Probleme des Einzelnen hinaus lassen sich Zusammenhänge mit den familiären Bedingungen, auch mit den steigenden Belastungen für die Familien, mit einer Zunahme von psychischen Erkrankungen bei den Eltern, der Verschlechterung der sozioökonomischen Rahmenbedingungen für eine bestimmte, ständig wachsende Gruppe der Jugendlichen vor dem Hintergrund von Individualisierung einerseits und den Pluralisierungs- und Globalisierungsprozessen andererseits beschreiben. Für eine relativ große Anzahl von Jugendlichen sind die Strukturen der kassenärztlichen Versorgung nur schwer erreichbar. Es ist eine besondere Aufgabe des ÖGD, sich dieser Gruppe im Sinne der Subsidiarität zu anderen Versorgungsstrukturen anzunehmen. Diese Jugendlichen weisen sowohl im Hinblick auf ihre gesamtgesundheitliche als auch ihre psychosoziale Entwicklung erhebliche Risiken auf. ! Die Betonung der Eigenverantwortlichkeit eines jeden Individuums führt in Bezug auf die Kinder und Jugendlichen, die diese Eigenverantwortung nicht oder noch nicht übernehmen können, zu einer immer größer werdenden Kluft zwischen Kindern und Jugendlichen mit guten und solchen mit schlechten Entwicklungs-, Sozial- und Gesundheitsbedingungen.
Die Erkenntnis dieser insbesondere gesellschaftlich begründeten Entwicklung hat vielerorts dazu geführt, dass »Aktionsbündnisse Gesundheit«, »Runde Tische«, »Bündnis Schule und Öffentlicher Gesundheitsdienst«, unterschiedliche »Netzwerke« und nicht zuletzt die »Psychosozialen Arbeitsgemeinschaften« in der gemeinsamen Verantwortung für die körperliche und seelische Gesundheit, die Gesundheitsförderung und den Gesundheitsschutz von Kindern und Jugendlichen gegründet wurden. In den meisten Gesetzen des ÖGD wurde die Bildung von »Gesundheitskonferenzen« unter Einbeziehung aller Akteure des Gesundheitssystems gesetzlich fixiert. Als Handlungsleitlinie gilt für den Kinder- und Jugendgesundheitsdienst im ÖGD ein Verständnis von Gesundheit gemäß der WHO, wonach unter Gesundheit das »Vorhandensein von vollständigem körperlichen, psychointellektuellen und sozialen Wohlergehen und nicht die Abwesenheit von Erkrankung oder Schwäche oder einem Gebrechen« verstanden wird. Die Beeinträchtigungsmöglichkeiten einer so verstandenen Gesundheit sind jedoch gerade im Bereich der Jugendlichen vielfältig und betreffen zumindest vorübergehend einen nicht unerheblichen Anteil der Bevölkerung. Eine weitere Handlungsgrundlage der gemeinwesenorientierten sozialpädiatrischen Tätigkeit des ÖGD ist der Anspruch, dass für jedes Individuum die Voraussetzungen einer den persönlichen Anlagen und Möglichkeiten entsprechende Teilhabe am Leben in der Gesellschaft gewährleistet sein sollte.
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Kapitel 43 · Der öffentliche Gesundheitsdienst als Partner im Netzwerk Jugendmedizin
43.2
Gesetzliche Grundlagen für die öffentliche Kinder- und Jugendgesundheit
In den verschiedenen Bundesländern existieren unterschiedliche gesetzliche Grundlagen, die die Aufgaben, Notwendigkeiten, Rechte und Möglichkeiten der Kinder- und Jugendgesundheitsdienste in der Jugendmedizin beschreiben. Hierbei sind die länderspezifischen primären Gesetze und Verordnungen für den ÖGD selbst, die länderspezifischen Schulgesetze sowie die für alle gleichermaßen geltenden Bundesgesetze zu berücksichtigen. Wie im Folgenden beschrieben, sind mit diesen Bundesgesetzen die aktuellen Grundlagen z. B. der Kinder- und Jugendhilfe (SGB VIII), der sozialhilferechtlichen Bestimmungen bzw. der gesamten Sozialgesetzgebung gemeint. Bereits aus diesen gesetzlichen Grundlagen ergeben sich zahlreiche Aufgaben für den Kinder- und Jugendgesundheitsdienst in der Betreuung Jugendlicher. ! Die wesentlichen Passagen aus den im eigenen Bundesland geltenden Gesetzen und Verordnungen sollten zur Pflichtlektüre all derer gehören, die im Interesse der Jugendlichen bereit sind, über den »Tellerrand« der eigenen Berufsgruppe zu schauen.
43.2.1 Gesetze für den ÖGD Die Beobachtung, Erfassung und Bewertung der gesundheitlichen Verhältnisse und der gesundheitlichen Versorgung der Bevölkerung einschließlich der Auswirkungen von Umwelteinflüssen auf die Gesundheit, der Schutz und die Förderung der Gesundheit einer definierten Population, die Mitwirkung bei der Verhütung und Bekämpfung von Krankheiten sowie Stellungnahmen zu Maßnahmen und Planungen anderer Verwaltungsbereiche hinsichtlich möglicher Auswirkungen auf die Gesundheit der Bevölkerung gehören zu den grundsätzlichen, bundesweit gesetzlich festgeschriebenen Aufgaben des öffentlichen Gesundheitssystems. Relevante Daten, die als Grundlage gesundheitsfördernder Strategien dienen, werden in der Gesundheitsberichterstattung bearbeitet und bewertet. Beispielhaft wird im Folgenden auf die gesetzlichen Bestimmungen in NRW speziell für den Kinder- und Jugendgesundheitsdienst hingewiesen. In allen anderen Bundesländern existieren vergleichbare Gesetzesgrundlagen. Leider besteht in den meisten Städten und Kreisen eine zunehmende Diskrepanz zwischen Auftrag und personellen Ressourcen, gleichwohl sollten die Möglichkeiten der Dienste vor Ort auch unter zunehmend schwierigen Bedingungen bekannt sein und abgerufen werden. Die Umsetzung von Bundesgesetzen dagegen scheint auf kommunaler Ebene nicht in gleichem Maße beschnitten zu werden wie die landesrechtlichen Vorgaben. In diesem Zusammenhang sei allerdings darauf hingewiesen, dass die Bundes- und Landesgesetze der kommunalen Ebene erhebliche finanzielle Belastungen aufbürden.
Gesetz über den Öffentlichen Gesundheitsdienst (ÖGDG) NRW vom 25.11.1997, zuletzt geändert am 01.03.2005 § 12 Kinder- und Jugendgesundheit 1. Die untere Gesundheitsbehörde hat die Aufgabe, Kinder und Jugendliche vor Gesundheitsgefahren zu schützen und ihre Gesundheit zu fördern. Insbesondere der Kinder- und Jugendgesundheitsdienst arbeitet hierzu mit anderen Behörden, Trägern, Einrichtungen und Personen, die Verantwortung für die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen tragen, zusammen. 2. Die untere Gesundheitsbehörde nimmt für Gemeinschaftseinrichtungen, insbesondere in Tageseinrichtungen für Kinder und Schulen, betriebsmedizinische Aufgaben wahr. Sie berät die Träger der Gemeinschaftseinrichtung, die Sorgeberechtigten, Erzieherinnen und Erzieher sowie Lehrerinnen und Lehrer in Fragen der Gesundheitsförderung und des Gesundheitsschutzes. Sie führt die schulischen Eingangsuntersuchungen und, soweit erforderlich, weitere Regeluntersuchungen durch und kann Gesundheitsförderungsprogramme anbieten. 3. Zur Früherkennung von Krankheiten, Behinderung, Entwicklungs- und Verhaltensstörungen kann die untere Gesundheitsbehörde zur Ergänzung von Vorsorgeangeboten ärztliche Untersuchungen durchführen. Soweit dies erforderlich ist, soll sie auch Impfungen durchführen. Wird im Rahmen dieser Untersuchung die Gefährdung oder Störung der körperlichen, seelischen oder geistigen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen festgestellt, vermittelt die untere Gesundheitsbehörde in Zusammenarbeit mit den für Jugendhilfe und Sozialhilfe zuständigen Stellen die notwendigen Behandlungs- und Betreuungsangebote.
43.2.2 SGB XII, Eingliederungshilfe für behinderte
Menschen In diesem Gesetz werden insbesondere die Ansprüche von Kindern und Jugendlichen mit drohenden oder bereits bestehenden Behinderungen geregelt, das BSHG, insbesondere die §§ 39 und 40, werden seit dem 01.01.2005 im SGB XII, §§ 53 und 54 fortgeführt. In genauer Kenntnis dieser gesetzlichen Grundlagen und ihrer Durchführungsverordnungen verfügen die Kinder- und Jugendärzte des ÖGD auch über die Möglichkeiten, im Rahmen der fachärztlichen Begutachtungen und Stellungnahmen, individuell bestehende Ansprüche zur angemessenen Betreuung der Jugendlichen nutzbar zu machen. Diese Funktion setzt zusätzlich zur Fachkompetenz in der Kinder- und Jugendmedizin eine detaillierte Kenntnis der sozialhilferechtlichen Bestimmungen, der administrativen Prozesse und der regionalen Angebote voraus. Im Rahmen der Betreuung von behinderten und von Behinderung bedrohten Jugendlichen erfüllt der KJDG einen wichtigen Beitrag im Netzwerk der versorgenden Strukturen. Hierzu zählt insbesondere die Begutachtung zur Zugehörigkeit zu einem anspruchsberechtigten Personenkreis, die fachliche Stellungnahme zur Eingliederungshilfe sowie die Beratung zum Hilfeplan, die Hilfen zu einer adäquaten Hilfsmittelversorgung, die Begut-
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achtung im Rahmen der Frühförderung oder der Integration in eine entsprechende tagesstrukturierende Einrichtung und die Begründung einer Einzelfallhilfe wie z. B. eines Integrationshelfers als individuell erforderliche, persönliche Betreuung aufgrund des spezifischen Behinderungsbildes. Sowohl die örtlichen wie auch die überörtlichen Sozialhilfeträger nutzen den KJGD zur Klärung möglicherweise bestehender Ansprüche. Weitere fachliche Stellungnahmen zu vorbeugenden Gesundheitshilfen und erweiterten Hilfen zum Lebensunterhalt können für die Jugendlichen erforderlich werden, die auf die wirtschaftliche Sozialhilfe – mit den bekannten häufigen Folgen einer auch gesundheitlichen Benachteiligung – angewiesen sind. Besonders für benachteiligte Kinder und Jugendliche aus der Gruppe der Asylbewerber mit noch nicht geklärtem Aufenthaltsstatus, für unbegleitete Flüchtlingskinder, aber auch für Roma und/oder Sinti leistet der KJGD in vielen Kommunen eine unmittelbare medizinische Versorgung. Bei Zuführung in das kassenärztliche Versorgungssystem ist die Begutachtung der Anspruchsberechtigung, nämlich die Notwendigkeit einer akuten Behandlung oder eines Schmerzzustandes, durchzuführen. 43.2.3 Sozialgesetzbuch VIII (Kinder- und
Jugendhilfe) Auch im Rahmen des SGB VIII verfügen die Kinder- und Jugendärzte sowie die Kinder- und Jugendpsychiater des ÖGD über die Möglichkeit, durch fachärztliche Begutachtungen und Stellungnahmen die individuell bestehenden Ansprüche von Familien und insbesondere von Kindern und Jugendlichen zu begründen. ! Ein von einer seelischen Behinderung betroffener oder bedrohter Jugendlicher kann selbst seinen eigenen Rechtsanspruch geltend machen.
Die Hilfen zur Erziehung stellen dagegen zunächst einen Hilfeanspruch der Eltern dar, damit bereits im Vorfeld von sich entwickelnden Problemlagen das Gesamtsystem Familie unterstützt werden kann. Die Jugendlichen, die der Hilfen zur Erziehung bedürfen, leben nicht selten in einem wenig fördernden familiären Geflecht mit nicht belastbaren Bindungen und sind teilweise auch mit Gewalterfahrungen konfrontiert. Gerade die seelischen Belastungen, die oft zu nur unvollständiger oder fehlender Bewältigung der Entwicklungsaufgaben in der Pubertät führen, können sich nicht selten in Lern- und Leistungsstörungen, Fernbleiben von der Schule oder dem Ausbildungsplatz, psychosomatischen Erkrankungen sowie fremd- und autoaggressivem Verhalten äußern (vgl. hierzu SGB VIII, §§ 27ff, 7 Anhang). Eine besondere Bedeutung kommt im SGB VIII der seelischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen und der möglichen Beeinträchtigung der seelischen Entwicklung zu. Damit wird der derzeitigen gesellschaftlichen Situation und der besonderen Gefährdung dieser Altersgruppe Rechnung getragen. Anders als in der übrigen Sozialgesetzgebung wird hierbei nicht zwischen einer »wesentlichen« und »nicht wesentlichen« Beeinträchtigung oder Behinderung unterschieden. Der Rechtsanspruch des jungen Menschen selbst – auch bei einer noch nicht wesentlichen Behinderung – ist vom Gesetzgeber gewollt und ein vorrangiger Aspekt in der Hilfeplanung.
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SGB VIII, § 35a [Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche] Kinder oder Jugendliche haben Anspruch auf Eingliederungshilfe, wenn 1. ihre seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als 6 Monate von dem für ihr Lebensalter typischen Zustand abweicht und 2. daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist oder eine solche Beeinträchtigung zu erwarten ist.
Durch diese Anspruchsvoraussetzungen eines Jugendlichen kann sich für den KJGD ein breites Aufgabenfeld ergeben. Im Rahmen der Hilfeplanung ist entsprechend § 36 (3) SGB VIII ein Arzt einzubinden, der über besondere Erfahrungen in der Begutachtung der Hilfen für Behinderte verfügt. Hier wird der KJGD insbesondere gefragt, welche symptomspezifische Betreuung durch welche Maßnahme bzw. in welcher Einrichtung adäquat erfüllt werden kann. Im Rahmen dieser Begutachtung können sowohl Einzelfallhilfen bei umschriebenen Entwicklungsstörungen mit bereits gestörter Integration in die Gesellschaft als auch teilstationäre oder stationäre Maßnahmen bei bestehender oder drohender seelischer Behinderung gewährt werden. Viele Kinderund Jugendgesundheitsdienste verfügen über umfassende Kenntnisse des örtlichen und überörtlichen Hilfeangebotes. Die in der Zusammenarbeit mit den unterschiedlich gegliederten, personell auch sehr different ausgestatteten Jugendämtern als Kostenträger gelegentlich entstehenden Probleme müssen im Sinne der betroffenen Jugendlichen überwunden werden. Jeder Kinder- und Jugendarzt muss beim Einstieg in die Jugendmedizin die Angebote für Jugendliche vor Ort kennen lernen, wie Projekte und Maßnahmen in der offenen Jugendarbeit, »offene Türen« oder andere Jugendtreffs, Freizeitangebote von Vereinen wie Sport- und Musikangebote und vieles andere mehr.
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Spektrum der Jugendmedizin im ÖGD
43.3.1 Schulärztliche Begutachtung vor Aufnahme
in eine Sonderschule oder integrative Einrichtung In allen Bundesländern ist die schulärztliche Begutachtung eines Schülers, bei dem die schulischen pädagogischen Möglichkeiten ausgeschöpft sind und sonderpädagogische Maßnahmen erforderlich werden, zwingend vorgeschrieben, auch wenn die direkten Vorschriften leicht unterschiedlich gefasst sind. Die notwendige Begutachtung der Entwicklung, des Gesundheitszustandes im weitesten Sinne, einer möglichen Behinderung und eventuell erkennbarer medizinischer Zusammenhänge mit den Schulleistungsproblemen des Kindes oder Jugendlichen, erfordert ein hohes Maß an jugendfachärztlichem, ebenso wie auch kinder- und jugendpsychiatrischem Sachverstand. Die Kinder- und Jugendärzte des ÖGD messen gerade dieser für die Schullaufbahn entscheidenden Untersuchung eine große Bedeutung bei und haben sich in den letzten Jahren um einen qualitativ hohen Standard bemüht. Kompetenz und Engagement
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Kapitel 43 · Der öffentliche Gesundheitsdienst als Partner im Netzwerk Jugendmedizin
lassen die Schulärztin und den Schularzt zu einem anerkannten Partner der Pädagogen und Sonderpädagogen werden. Die intensive Kenntnis der Schul- und Sonderschullandschaft sowie der spezifischen Fördermöglichkeiten an den Regel- und Förder-/ Sonderschulen tragen zur Qualität der Begutachtung bei. Den unteren Gesundheitsbehörden wird wegen der Komplexität der Behinderungen in vielen Landesgesetzen empfohlen und ermöglicht, außer dem Schularzt bei Bedarf Fachärzte anderer Fachrichtungen zur Mitbegutachtung heranzuziehen. Gerade im Bereich der Sinnesbehinderungen hat sich das Spektrum von möglichen Beeinträchtigungen und neueren Hilfsmittel derart erweitert, dass eine intensive Kooperation auch von Fachärzten mit besonderen Kenntnissen, den Pädagogen und oft auch Rehatechnikern zwingend ist. Die pädagogische Beurteilung des (sonder)pädagogischen Förderbedarf wird grundsätzlich durch entsprechend ausgebildete Sonderpädagogen durchgeführt, in einigen Ländern auch gemeinsam mit den Regelpädagogen. Die schulrechtliche Entscheidung über den tatsächlichen Förderort bzw. der Zuweisung in eine Förder-/Sonderschule oder eine integrative sonderpädagogische Maßnahme wird – unter Berücksichtigung des schulärztlichen Gutachtens – von der zuständigen Schulaufsichtsbehörde getroffen. Hier unterscheiden sich die Verfahren in den einzelnen Bundesländern teilweise, die Grundzüge jedoch sollten jedem niedergelassenen Kollegen bekannt sein. ! Aus den statistischen Auswertungen dieser Begutachtungen durch den KJGD ist bekannt, dass jene 5–7% Kinder und Jugendlichen eines jeden Jahrgangs, die der sonderpädagogischen Betreuung bedürfen, individualmedizinisch besonders schlecht versorgt sind.
Fehlende Krankheitsfrüherkennungsuntersuchungen, ein häufiger Wechsel bei den betreuenden Ärzten, seltener eine Versorgung durch Kinder- und Jugendärzte, unbehandelte Seh- und Hörstörungen, undiagnostizierte und unbehandelte körperliche Erkrankungen beschreiben diese Vernachlässigung. Derartige Informationen können und werden deshalb auch schon teilweise im Sinne eines Frühwarnsystems genutzt. Entsprechend lässt sich bei der schulärztlichen Untersuchung im Rahmen der sonderpädagogischen Überprüfung auch eine hohe Frequenz von Befunden diagnostizieren, die eine intensive Kooperation mit den niedergelassenen Kollegen erfordern. 43.3.2 Schulärztliche Betreuung entwicklungsbe-
einträchtigter und behinderter Jugendlicher Gerade die behinderten Kinder und Jugendlichen, die eine Sonderschule bzw. Förderschule oder mit integrativer sonderpädagogischer Förderung eine Regelschule besuchen, werden vom KJGD intensiv und regelmäßig betreut. Teilweise werden Kollegen anderer Fachrichtungen (Kinder- und Jugendpsychiater, Orthopäden, Augenärzte, HNO-Ärzte) in diese regelmäßige schulärztliche Betreuung eingebunden. Auch wenn in den verschiedenen Bundesländern die gesetzlichen Vorschriften leicht variieren, so finden doch überall je nach Art und Schwere der Behinderungen z. B. in einer Sonderschule für Geistig- oder Körperbehinderte regelmäßige Untersuchungstermine, auch im Sinne einer »betriebsärztlichen« Betreuung, statt. Auch akute, anlassbezogene Hospitationstermine, z. B. bei schweren Verhaltensstörungen oder schulrelevanten gesundheitlichen Veränderungen, gehören
in den Aufgabenbereich eines Schularztes. Zahlreiche schulrechtliche Bestimmungen, wie z. B. ein Ruhen der Schulpflicht oder eine eingeschränkte Schulfähigkeit, eine zusätzlich notwendige Eingliederungshilfe im Sinne der Hilfen zu einer angemessen Schulbildung, oder auch die Frage der Schulwegbewältigung, erfordern eine gutachterliche Stellungnahme des KJGD. Zur integrativen sonderpädagogischen Betreuung existieren unterschiedliche Modelle: Grundsätzlich ist es möglich, Kinder und Jugendliche einzeln sonderpädagogisch im gemeinsamen Unterricht in Regelklassen zu betreuen, in Kleingruppen von 3–5 Sonderschülern innerhalb einer Regelschulklasse im gemeinsamen Unterricht, oder in mehreren Gruppen innerhalb einer dann sog. Integrationsschule. Es gibt Schulen, mit »Modellcharakter«, in denen je nach Ausrichtung in jeder Klasse Jugendliche sonderpädagogisch gefördert werden. Insbesondere die integrative sonderpädagogische Betreuung durch die Schulen für Erziehungshilfe oder für Lernbehinderte werden in den letzten Jahren als »Kooperationsmodelle« mit Hauptschulen intensiv genutzt. Am Übergang von der Schule in das Berufleben existiert eine intensive Zusammenarbeit mit den örtlichen Arbeitsämtern, wobei je nach Schwere der Behinderung z. B. Berufbildungswerke, Integrationsfachdienste und beschützende Werkstätten in die weitere Betreuung des Jugendlichen/jungen Erwachsenen einbezogen werden. 43.3.3 Schullaufbahnberatung, Schulleistungs-
störungen, umschriebene Entwicklungsstörungen In der Schule imponieren Jugendliche mit grenzwertiger Begabung oder umschriebenen Entwicklungsstörungen durch Konzentrationsprobleme, ausweichendes und vermeidendes Verhalten, Leistungs- und Motivationsabfall bei steigenden Anforderungen, psychosomatische Beschwerden und psychische Störungen sowie durch Prüfungsangst oder gar Schulphobie und natürlich durch mangelnden Schulerfolg. Sie können in ihrer sozialen und emotionalen Entwicklung und in ihren Fähigkeiten zu eigenverantwortlichem Handeln erheblich beeinträchtigt sein. Hier hält der KJGD ein generelles Beratungsangebot vor, untersucht und berät in intensiver Zusammenarbeit mit anderen Akteuren zu globalen und umschriebenen Entwicklungsstörungen, zu Aufmerksamkeitsstörungen, zu körperlichen Beeinträchtigungen bis hin zu beginnenden psychischen Erkrankungen und vermittelt die notwendigen Behandlungs- und Betreuungsangebote. Sowohl die Jugendlichen selbst und deren Eltern als auch die Lehrer, evtl. auch die Sozialarbeiter werden in den Beratungsprozess einbezogen. Es erfolgt eine enge Zusammenarbeit und Vernetzung mit dem schulpsychologischen Dienst, der organisatorisch dem ÖGD, dem Jugendamt oder dem Schulamt angegliedert sein kann. Selbstverständlich wird der Austausch mit den behandelnden niedergelassenen Kollegen gesucht. 43.3.4 Schulsprechstunden, Schulprojekte,
Gesundheitsförderung In zahlreichen kinder- und jugendärztlichen Diensten werden Schulsprechstunden für Jugendliche, Lehrer und Eltern im Sinne der »betriebmedizinischen« Betreuung dieser Gemeinschaftsein-
405 43.3 · Spektrum der Jugendmedizin im ÖGD
richtungen durchgeführt. Ziel dieser Maßnahmen ist die aufsuchende Versorgung, insbesondere in den Hauptschulen und Förderschulen bzw. Sonderschulen für Lernbehinderte, da hier der Beratungs- und Abklärungsbedarf erheblich ist. Der KJGD arbeitet mit den Ansprechpartnern für Schulprojekte, den Vertrauenslehrern und Projektleitern, den Koordinatoren für die Gesundheitsförderung an den verschiedenen Schulformen, den Suchtkoordinatoren und Suchtpräventionseinrichtungen oder auch mit den Verantwortlichen im Netzwerk gesundheitsfördernder Schule intensivst zusammen. Beispielhaft für präventive Angebote und Maßnahmen zur Gesundheitsförderung werden Projekte der Kinder- und Jugendgesundheitsdienste erwähnt, die ermutigen sollen, in eine kooperative Zusammenarbeit einzusteigen. Im Rahmen von Projektwochen oder Projekttagen werden Programme durchgeführt, die sich mit Themen wie z. B. Hautkrebsrisiko, Hauterkrankungen, Akne und Hautpflege bei Jugendlichen beschäftigen, mit Atmung, gesunder Luft, Asthma und Allergien sowie darin eingebunden die Rauchervermeidung. Themen wie Tätowierungen und Piercing mit ihren Infektionsgefahren, Projekte zu Schutzimpfungen, insbesondere Hepatitis B und die Einbindung von sexuell übertragbaren Erkrankungen in den Biologieunterricht oder die Sexualaufklärung finden in vielen Kommunen immer wieder statt. Angebote, die als Präventivprogramme z. B. zur Suchtvorbeugung, zu gesunder Ernährung, zu Bewegung und Sport, zu Wachstum, Entwicklung und Pubertät, zu Stress und Stressbewältigung, zu Kommunikation und Medienverhalten und ähnlichem im Rahmen der Gesundheitsförderung in den Schulalltag eingebunden werden können, sind besonders hilfreich. Gesundheitstage kann der ÖGD nur in Kooperation mit vielen Akteuren leisten, aber auch hierzu gab und gibt es zahlreiche Beispiele. In diesem Zusammenhang sei auch auf das Handbuch Arzt und Schule des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte verwiesen, das ein gelungenes Beispiel der Kooperation zur Gesundheitsförderung und Prävention darstellt. 43.3.5 Schulentlassuntersuchung In etwa der Hälfte aller Kinder- und Jugendgesundheitsdienste der BRD wird eine flächendeckende oder selektive Schulentlassuntersuchung mit einem berufsorientierten Schwerpunkt durchgeführt. Es gibt zahlreiche Gründe, die aufsuchende Schulentlassuntersuchung als berufsorientierte Untersuchung innerhalb des Setting Schule weiterzuführen: Es macht Sinn, gerade in Hauptschulen, Realschulen, Gesamtschulen und natürlich in den Förder-/Sonderschulen alle Jugendliche dem Versorgungssystem zuzuführen. Der ÖGD versteht sich hierbei als Initiator einer weitergehenden Betreuung im Bereich der niedergelassenen Kollegen. Geschieht dies nicht, wird insbesondere der berufsorientierte Schwerpunkt Allergie, Asthma bronchiale, Kontaktekzeme nicht thematisiert. Ausbildungsabbrüche aus gesundheitlichen Gründen können nicht verhindert werden. Es bleiben «klassische« gesundheitliche Beeinträchtigungen wie z. B. Veränderungen der Schilddrüse oder Bluthochdruck bei Jugendlichen unbehandelt, erste Zeichen orthopädischer Probleme werden nicht korrigiert, Sehstörungen (bei immerhin 25–30% der Jugendlichen) bleiben unbehandelt, Adipositas und Essstörungen, diffuse Kopfschmerzen, Schlafstörungen und Psychosomatosen bleiben unerkannt.
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Mit beginnender Pubertät wächst die Verantwortung, aber auch die Verunsicherung über die eigene Körperlichkeit. Es bestehen große Unsicherheiten über die (gesundheitlich relevante) Bedeutung der körperlichen Veränderungen und die oben genannten Beschwerden werden negiert. Ärzte werden, wenn überhaupt, nur bei akuten Erkrankungen aufgesucht. Schleichende, chronische Symptome allerdings passen nicht zum Selbstverständnis der Peergroup und werden deshalb so lange wie möglich verdrängt. In dieser Phase erster körperlicher Warnsymptome kommt dem KJGD eine wesentliche Rolle zu. Durch die Möglichkeit der aufsuchenden, individuellen gesundheitlichen Beratung in den Schulen wird die gesamte Peergroup erfasst. Niemand muss sich als »überbesorgt« oder gar körperlich angeschlagen outen und in die Arztpraxis gehen. Gern nörgelt man mit Gleichgesinnten über die Zumutung, sich in der Schule einer ärztlichen Beratung stellen zu müssen – und genau so gern und überraschend intensiv nimmt man das Gesprächsangebot unter vier Augen hinter verschlossenen Türen an. Gemeinsam können Arzt und Schüler in diesem Setting körperliche Veränderungen während der Pubertät besprechen, Normvarianzen aufzeigen und Auffälligkeiten definieren. Die größte Zustimmung wird bei einer gleichgeschlechtlichen ArztSchüler-Konstellation erreicht. Fast immer ist es möglich, Jugendliche gegebenenfalls von der Notwendigkeit weiterer ärztlich-diagnostischer Maßnahmen zu überzeugen, wenn das Vertrauen erst einmal hergestellt ist. Natürlich obliegen diese weiterführenden Maßnahmen niedergelassenen Kollegen. Dies wird meist der behandelnde Jugendarzt sein – die Jugendlichen erfahren allerdings häufig erstmals während dieses Gesprächs, dass dieser spezielle Jugendsprechstunden anbietet und der »Hausarzt und Facharzt bis 18 Jahre« ist. Nun folgt die bewährte enge Kooperation der Kinder- und Jugendärzte im öffentlichen Gesundheitswesen mit den niedergelassenen Fachkollegen mit der weiteren Diagnostik und Therapie in der Praxis vor Ort. Schwerpunkt z. B. der jugendärztlichen Tätigkeit der Gesundheitsämter im Land Brandenburg ist die Untersuchung aller Schüler in den 10. Klassen – verbunden mit der Erstuntersuchung nach dem Jugendarbeitsschutzgesetz. Ziel ist die bessere Eingrenzung und Prophylaxe von Ausbildungsabbrüchen aus gesundheitlichen Gründen, insbesondere wegen allergischen Erkrankungen einschließlich Kontaktallergien. ! Fast 40% der Jugendlichen sind medizinisch nicht oder unzureichend versorgt. Diese erschreckende Quote bei Schulentlassuntersuchungen aus vielen Kommunen wirft ein Licht auf die grundsätzlichen Probleme der medizinischen Versorgung Jugendlicher.
43.3.6 Sonstige betriebsärztliche Tätigkeit Je nach Strukturierung der Aufgaben im ÖGD können die Kinder- und Jugendgesundheitsdienste auch in Fragestellungen zu gesundheitlichen Auswirkungen von Umweltbelastungen wie Lärm, Strahlung und Stoffen sowie Unfallgefährdung und -prävention in und um Gemeinschaftseinrichtungen eingebunden sein. Auch in die Sanierungskonzepte schadstoffbelasteter Gebäude, z. B. von Gemeinschaftseinrichtungen, werden Fachkollegen des ÖGD je nach Profession einbezogen.
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Kapitel 43 · Der öffentliche Gesundheitsdienst als Partner im Netzwerk Jugendmedizin
43.3.7 Jugendzahnärztliche Betreuung des ÖGD
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Der zahnärztliche Dienst des ÖGD nimmt eigenständige Aufgaben in der Gestaltung gesundheitsförderlicher Umwelt- und Lebensverhältnisse sowie in der Förderung gesundheitsdienlicher Lebensweisen wahr. Hierbei steht eine themen- und zielgruppenorientierte Gesundheitsaufklärung im Mittelpunkt, um Gesundheitsgefahren und Erkrankungen zu verhüten und Gesundheitsschäden möglichst frühzeitig zu erkennen. Neben der Durchführung der zahnmedizinischen Gruppenprophylaxe als Basis- und Intensivprophylaxe liegt ein weiterer Schwerpunkt der zahnärztlichen Betreuung von Kindern und Jugendlichen durch den zahnärztlichen Dienst in der sozialkompensatorischen, aufsuchenden Betreuung in Kindertageseinrichtungen und Schulen. Die Arbeit eines Jugendzahnarztes und der Prophylaxehelfer beruht heute im Wesentlichen auf den vier Säulen zur Zahngesundheit: Mundhygiene, Ernährungsberatung, Zahnschmelzhärtung durch Fluoride und regelmäßiger zahnärztlicher Vorsorgeuntersuchungen. Mit der Einführung des SGB V § 21 wurde die zahnärztliche Betreuung für Kinder im Kindergarten- und Grundschulalter bundesweit neu geregelt. Für Jugendliche mit einem besonders hohen Risiko und behinderte Jugendliche sind Maßnahmen der Gruppenprophylaxe bis 16 Jahre möglich.
43.4
Besondere Initiativen des KJGD und Möglichkeiten der Kooperation
Es gibt zahllose Initiativen und zusätzliche Aktivitäten von Kinderund Jugendgesundheitsdiensten in der Bundesrepublik. Folgende Beispiele sollen anregen, die Kooperation mit dem KJGD zu suchen, die Aufgaben der kommunalen Gesundheitskonferenzen und die Verbesserung der Gesundheitsversorgung für Kinder und Jugendliche voranzutreiben, die Gesundheitsberichterstattung zu nutzen und den gewonnenen Erkenntnissen Taten folgen zu lassen:
Kooperationsbeispiele 5 Impfwochen mit Impfungen und Projekten unter Beteiligung des ÖGD und der niedergelassenen Kinder- und Jugendärzte 5 Aktionen und Projekte zur Steigerung der J1-Teilnahme 5 Flächendeckende Verknüpfung der Schulentlassuntersuchung mit der Jugendarbeitsschutzuntersuchung 5 Jugendgesundheitstage oder Beteiligung an Gesundheitswochen 5 Zahlreiche Projekte aus dem »Gesunde Städte«-Netzwerk, Kompetenzzentren für Kinder- und Jugendgesundheit 5 Untersuchungen zur Gesundheit und zum Gesundheitsverhalten Jugendlicher z. B. Euregionale Befragung von 40.000 Jugendlichen der 8. und 10. Klassen zum Risikoverhalten (Dreiländereck Deutschland, Belgien, Niederlande)
43.5
Versorgungsstrukturen in den Regionen
Für sozialpädiatrisches Arbeiten ist es wesentlich, sich einen Überblick über das Versorgungsnetz in der eigenen örtlichen wie überörtlichen Region zu verschaffen. Neben quantitativen Aspekten sollten insbesondere die qualitativen Aspekte mit der be-
sonderen Fokussierung auf Jugendliche und deren Probleme in diesem Zusammenhang interessieren. Es ist nicht zu leugnen, dass in den ländlichen Gebieten der Bundesrepublik die Zugangsmöglichkeiten zu den nachfolgend aufgeführten Strukturen nicht oder nur teilweise zu erreichen sind. Nutzen Sie auch die Strukturen des ÖGD. Nicht selten existieren Verzeichnisse von Ansprechpartnern einschließlich der Zugangsmöglichkeiten zu den Angeboten der freien Träger (z. B. »Bestandsaufnahme zur psychosozialen Versorgung von Kindern und Jugendlichen«). Neben den Ihnen bekannten Partnern wie den niedergelassenen Kinder- und Jugendärzten mit verschiedenen Interessensund Tätigkeitsschwerpunkten, den Kliniken für Kinderheilkunde und Jugendmedizin, den niedergelassenen Kinder- und Jugendpsychiatern, einer eventuell vorhandenen Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, einem sozialpädiatrischen Zentrum sollten Sie an andere mögliche Partner im Netzwerk denken wie den kinder- und jugendärztlichen Dienst des ÖGD, ärztliche und nichtärztliche Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten, Psychologen, den Schulpsychologischen Dienst, Pädagogen und auch Lerntherapeuten, teils in freier Tätigkeit, sowie die zahlreichen Beratungsstellen von Kirche, Caritas, DRK, Kinderschutzbund, Lebenshilfe und anderen freien Trägern. Heilpädagogische Angebote und heilpädagogische Fördereinrichtungen sind im Jugendalter rar, kompensatorisch existieren allerdings mancherorts hervorragende Horteinrichtungen und Tagesgruppen. ! Gute Kenntnisse der örtlichen Schullandschaft auch mit den Möglichkeiten der Förder- oder auch als Sonderschulen bezeichneten besonderen pädagogischen Angebote sind eine zwingende Notwendigkeit für qualitativ hochwerte, kompetente und professionelle schulärztliche Arbeit. Fazit
Aufgabenspektrum und Strukturen, gesetzliche Einbindung und Möglichkeiten der Kinder- und Jugendgesundheitsdienste des ÖGD wurden aufgezeigt, Kooperationsmöglichkeiten mit den Partnern im Gesundheitswesen benannt. Gleichzeitig wurde verdeutlicht, dass auch im Kinder- und Jugendgesundheitsdienst eine spezifisch qualifizierte ärztliche Kompetenz für die Versorgung Jugendlicher existiert, die es weiterhin zu nutzen gilt.
Literatur BVKJ e.V. (1996) Konsenspapier über die Kooperation und Zuständigkeiten der Kinderärztinnen und Kinderärzte in der Praxis und im Öffentlichen Gesundheitsdienst. Sozialpädiatrie und KiPra 18: 52 Ellsäßer G (2004) Jugendärztliche Prävention an der Schwelle zur Berufswahl, Präventionsprojekt »Allergien und Berufswahl im Land Brandenburg« Kongress Jugendmedizin Weimar Euregionale Befragung zum Risikoverhalten, im Internet: http://www. aachen.de Gesunde Städte-Netzwerk, im Internet: http://www.gesunde-staedtenetzwerk.de Hurrelmann K (2004) Lebensphase Jugend, Juventa, Weinheim Kinder- und Jugendgesundheitsdienste, im Internet: http://www.schularzt.de Meireis H (2000) Gemeinwesenbezogenen Sozialpädiatrie – Auftrag des öffentlichen Kinder- und Jugendgesundheitsdienstes in »Kinderärztliche Praxis« S. 287–293, auch http://www.schularzt.de/literatur/meireis.htm RKI, Berlin (2004) Schwerpunktsbericht der Gesundheitsberichterstattung des Bundes: Gesundheit von Kindern und Jugendlichen
VIII I
Internationale Jugendmedizin 44
WHO-Ressourcen bei der Jugendgesundheit und Jugendentwicklung – 409 J. Ferguson
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Blick über die Grenzen – 413 H. Fonseca, D. E. Greydanus
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44 WHO-Ressourcen bei der Jugendgesundheit und Jugendentwicklung J. Ferguson1 44.1
Jugendgesundheit und Jugendentwicklung
Von fünf Menschen auf der Welt ist einer ein Jugendlicher – definiert von der WHO als eine Person im Alter zwischen 10 und 19 Jahren. Von 1,2 Mrd. Jugendlichen weltweit leben etwa 85% in Entwicklungsländern, die Übrigen leben in der industrialisierten Welt. Im Allgemeinen wird davon ausgegangen, dass Jugendliche gesund sind. In der zweiten Dekade ihres Lebens haben sie die Krankheiten ihrer frühen Kindheit bereits überstanden und die Gesundheitsprobleme, die in Zusammenhang mit dem Älterwerden auftreten, sind noch viele Jahre entfernt. Der Tod scheint in so weiter Entfernung zu sein, dass er nahezu unvorstellbar ist. Doch viele Jugendliche sterben vorzeitig. Jedes Jahr verlieren geschätzte 1,7 Mio. männliche und weibliche Jugendliche im Alter zwischen 10 und 19 Jahren ihr Leben – meist durch Unfälle, Selbsttötung, Gewalt, schwangerschaftsbezogene Komplikationen und andere Krankheiten, die entweder vermeidbar oder behandelbar sind. Die WHO setzt sich – gemeinsam mit ihren Partnern UNICEF und UNFPA – für eine beschleunigte Vorgehensweise bei der Förderung der Gesundheit und Entwicklung von jungen Menschen in der zweiten Dekade ihres Lebens ein.
Common Agenda Die Common Agenda beschreibt die Maßnahmen, die notwendig sind, um den Jugendlichen weltweit die Unterstützung und die Möglichkeiten zur Verfügung zu stellen, damit sie 5 genaue Informationen über ihre gesundheitlichen Bedürfnisse bekommen 5 die Lebensfertigkeiten entwickeln, die notwendig sind, risikoreiches Verhalten zu vermeiden 5 Beratung erhalten, insbesondere in Krisensituationen 5 Zugang zu den Gesundheitsdiensten haben 5 in einer sicheren und unterstützenden Umgebung leben
Ein zentraler Punkt dieses Ansatzes besteht darin anzuerkennen, dass die Ursachen, die den Gesundheits- und Entwicklungsproblemen der jungen Menschen zugrunde liegen, eng miteinander zusammenhängen. Demzufolge ähneln sich auch die Lösungen für diese Probleme und stehen miteinander in Beziehung. Das Team für Jugendgesundheit und Jugendentwicklung (Adolescent Health and Development Team, ADH) innerhalb der WHO-Abteilung für Gesundheit und Entwicklung von Kindern und Jugendlichen (Department of Child and Adolescent Health and Development, CAH) arbeitet in den folgenden Bereichen: 4 Vorbeugung und Behandlung von Krankheiten bei Jugendlichen 1
Übersetzung: Dr. Michael Kraft, Hamburg.
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Ernährung von Jugendlichen Entwicklung von Jugendlichen Sexual- und Fortpflanzungsgesundheit von Jugendlichen Fakten und Statistiken über Jugendliche – die reinen Zahlen 4 Männliche Jugendliche 4 Jugendfreundliche Gesundheitsdienste 4 Bewertung der Aktivitäten und ihres Erfolgs 44.2
Ressourcen
44.2.1 Orientation Programme on Adolescent
Health for Health-care Providers Hintergrund und Grundprinzipien Eine Reihe von Personen und Institutionen spielen eine wichtige Rolle bei der Förderung einer gesunden Entwicklung von Jugendlichen sowie bei der Vorbeugung und Behandlung von den Gesundheitsproblemen, mit denen diese Bevölkerungsgruppe sich konfrontiert sieht. Die Leistungserbringer im Gesundheitswesen haben in diesen beiden Bereichen wichtige Beiträge zu leisten. Situationsanalysen und Bedarfseinschätzungen, die in verschiedenen Teilen der Welt durchgeführt wurden, deuten jedoch auf Unzulänglichkeiten bei deren professionellen Fähigkeiten und deren »menschlichen Qualitäten« hin, wobei dies zur Folge hat, dass sie nicht imstande und oftmals auch nicht gewillt sind, mit den Jugendlichen auf eine effektive und verständnisvolle Art und Weise umzugehen. Um diese Lücke zu schließen, entwickelt die WHOAbteilung CAH gemeinsam mit weiteren Partnern für diese Leistungserbringer gegenwärtig das Orientierungsprogramm zur Jugendgesundheit. Bei diesem Orientierungsprogramm handelt es sich um eine gemeinsame Anstrengung von Commonwealth Medical Association Trust, UNICEF und WHO. Gesamtziel Das Gesamtziel des Orientierungsprogramms besteht darin, die Leistungserbringer auf die speziellen Merkmale von Jugendlichen und auf die geeigneten Vorgehensweisen, die sich mit deren wichtigsten gesundheitlichen Bedürfnissen und Problemen beschäftigen, einzustellen. Dies soll die Leistungserbringer in die Lage versetzen, effektiver und mit größerem Verständnis auf die Jugendlichen zu reagieren. Das Hauptgewicht liegt darauf, den Teilnehmern eine (neue) Richtung vorzugeben – sich dabei ihre reichen Erfahrungen zunutze machend –, um ihnen zu helfen, die Jugendlichen mit anderen Augen zu sehen und anders über sie zu denken. ! Das Orientierungsprogramm sollte Bestandteil eines vielschichtigen Ansatzes sein, um mit Erfolg die Art und Weise zu verbessern, mit der die Leistungserbringer mit den Jugendlichen interagieren und ihnen Leistungen bereitstellen.
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44
Kapitel 44 · WHO-Ressourcen bei der Jugendgesundheit und Jugendentwicklung
Geplante »Nutznießer« Das Orientierungsprogramm richtet sich an Leistungserbringer – einschließlich Krankenschwestern, Clinical Officers und Ärzten –, die Jugendliche mit präventiven und kurativen Leistungen versorgen. Es ist davon auszugehen, dass auch Jugendliche an dem Orientierungsprogramm teilnehmen werden, um eine »jugendliche Perspektive« beizusteuern. Es ist weiterhin davon auszugehen, dass auch Personen aus anderen Berufen – wie beispielsweise Lehrer, Sozialarbeiter, Polizeibeamte und andere – unter den Teilnehmern sein können und dort Informationen sowie ihre eigenen Erfahrungen und Kenntnisse auf speziellen Gebieten weitergeben. Erwartete Ergebnisse Es wird erwartet, dass Leistungserbringer im Gesundheitswesen und andere Leistungserbringer, die an dem Orientierungsprogramm teilnehmen, konkrete Ergebnisse erreichen.
Erwartungshaltung an Leistungserbringer 5 Sie werden ihre Kenntnisse bezüglich der Merkmale der Adoleszenz und der verschiedenen Aspekte von Jugendgesundheit und Jugendentwicklung verbessern. 5 Sie werden den Bedürfnissen und Problemen der Jugendlichen mit mehr Verständnis begegnen. 5 Sie werden besser in der Lage sein, den Jugendlichen Gesundheitsleistungen zur Verfügung zu stellen, die deren Bedürfnissen entsprechen und deren »Prioritäten« berücksichtigen. 5 Sie werden entsprechend Informationen erhalten, um sich für mehr Investitionen im Bereich Jugendgesundheit und Jugendentwicklung einsetzen zu können.
Konkret bedeutet dies, dass die Teilnehmer durch das Orientierungsprogramm über zwei wesentliche Punkte informiert werden: 1. Was muss ich wissen und anders machen, wenn der Patient, der zu mir in die Klinik kommt, 16 Jahre alt ist und nicht 6 oder 36 Jahre? 2. Was kann ich außerhalb meiner Klinik machen, damit andere einflussreiche Leute in meiner Gemeinde die Bedürfnisse der Jugendlichen verstehen und darauf eingehen?
Was beinhaltet das Orientierungsprogramm? Das Orientierungsprogramm ist unter der aktiven Teilnahme seiner geplanten Nutznießer entworfen und entwickelt worden. Dies wurde mithilfe der partizipatorischen Entwicklungs-Workshops erreicht, die in allen sechs WHO-Regionen abgehalten wurden. Länder, die u. a. teilnahmen, waren China, Ägypten, Indien, Malaysia, St. Lucia, Uganda und Sambia. Die im Rahmen der Feldversuche gewonnenen Erkenntnisse haben dabei geholfen, dieses Paket zu gestalten und umzugestalten. Das Orientierungsprogramm ist außerdem in Postgraduiertenkursen an der Liverpool School of Tropical Medicine im Vereinigten Königreich und am Royal Tropical Institute in Amsterdam in den Niederlanden eingesetzt worden. Das Orientierungsprogramm basiert auf den Grundprinzipien, die UNFPA, UNICEF und WHO in ihrer gemeinsamen Agenda zum Handeln in der Jugendgesundheit und Jugendentwicklung angenommen haben (Programm zur Jugendgesundheit, WHO 1999): 4 Die Adoleszenz ist eine Lebensphase mit Möglichkeiten und Risiken. 4 Nicht alle Jugendlichen sind gleichermaßen anfällig. 4 Grundlage der Jugendentwicklung ist die Vermeidung von Gesundheitsproblemen. 4 Probleme haben gemeinsame Wurzeln und hängen miteinander zusammen. 4 Das soziale Umfeld beeinflusst das Verhalten der Jugendlichen. 4 Geschlechtsspezifische Gesichtspunkte sind von grundlegender Bedeutung. . Tab. 44.1 zeigt die Kernmodule und die fakultativen Module, die entwickelt worden sind (oder gegenwärtig entwickelt werden). Alle Teilnehmer des Orientierungsprogramms müssen die Kernmodule wählen. Vier andere fakultative Module werden entwickelt und nachfolgend verbreitet. Was ist verfügbar und wie kann man es bestellen? Das Material enthält Informationsunterlagen für die Teilnehmer und eine Anleitung zur Durchführung des gesamten Kurses (Anleitung für den Kursleiter) und aller Module. Es bietet eine genaue Anleitung dazu, wie die einzelnen Module durchgeführt werden. Außerdem sind dort Hinweise für die Trainer zu finden sowie Hilfsmittel für den Unterricht, wie beispielsweise Overhead-Fo-
. Tabelle 44.1. Kernmodule und fakultative Module
Kernmodule
Fakultative Module
• Einführung • Bedeutung der Adoleszenz und ihre Auswirkungen auf das öffentliche Gesundheitswesen • Sexual- und Fortpflanzungsgesundheit von Jugendlichen • Jugendfreundliche Gesundheitsdienste • Jugendentwicklung a • Abschluss
• Sexuell übertragbare Infektionen bei Jugendlichen • Betreuung von Jugendlichen bei Schwangerschaft und Geburt • Unsichere Schwangerschaftsabbrüche bei Jugendlichen • Schwangerschaftsverhütung bei Jugendlichen • Drogengebrauch bei Jugendlichen • Psychische Gesundheit von Jugendlichen • Ernährung von Jugendlichen • HIV/Aids bei Jugendlichen a • Chronische Krankheiten bei Jugendlichen a • Endemische Krankheiten bei Jugendlichen a • Verletzungen und Gewalt bei Jugendlichen a
a
Werden zurzeit ausgearbeitet.
411 44.2 · Ressourcen
lien in elektronischer Form mit begleitenden Gesprächsthemen und Studienmaterialien. Die Anleitung für den Kursleiter, die Informationsunterlagen für die Teilnehmer, die Hilfsmittel für den Unterricht und die Studienmaterialien sind alle auf einer CD-ROM erhältlich. Das Orientierungsprogramm gibt es zurzeit auf Englisch. Eine russische Übersetzung wird gegen Ende 2004 zur Verfügung stehen.Auf Nachfrage ist das Orientierungsprogramm in elektronischer Form (CD-ROM) oder gedruckt erhältlich. Für weitere Informationen setzen Sie sich bitte in Verbindung mit: Department of Child and Adolescent Health and Development, World Health Organization, 1211 Genf 27 (Schweiz) EMail:
[email protected], Internetadresse: http://www.who.int/childadolescent-health/publications/ADH/ISBN_92_4_159126_ 9.htm 44.2.2 CAH-Dokumente und Instrumente zur
Jugendgesundheit und Jugendentwicklung Unter der Internetadresse http://www.who.int/child-adolescenthealth/publications/publist.htm können Sie CAH-Dokumente und Instrumente zur Jugendgesundheit und Jugendentwicklung finden. Die Dokumente sind unter ihrem Hauptthema zusammengefasst: 4 Unterstützende Dokumente, die für eine Strategie- und Programmentwicklung eintreten 4 Technische Berichte mit einem Überblick über die Fachliteratur, Empfehlungen nach Befragungen und Expertentreffen 4 Forschung und Evidenz, wo Forschungsergebnisse und epidemiologische Daten zur Jugendgesundheit und Jugendentwicklung dargestellt werden 4 Instrumente und Richtlinien mit praktischen Anleitungen zu spezifischen Gebieten von Programmen zur Jugendgesundheit und Jugendentwicklung Unterstützende Dokumente
4 New: Protecting young people from HIV and Aids: the role of health services, ISBN 92 4 159247 8 4 New: Young people and HIV/Aids: opportunity in crisis 4 The role of the health sector in supporting adolescent health and development, [PDF], 210 KB 4 WHO Discussion papers on adolescent health and development Draft, [PDF], 270 KB 4 HIV/Aids and young people: WHO takes action, April 2004, [PDF], 37 KB 4 Adolescent Friendly Health Services. An agenda for change, WHO/FCH/CAH/02.14 4 Growing in confidence. Lessons from eight countries in successful scaling up of adolescent health and development programming, WHO/FCH/CAH/02.13 4 Broadening the Horizon. Balancing protection and risk for adolescents, WHO/FCH/CAH/01.20 4 Boys in the picture, WHO/FCH/CAH/00.8 4 The second decade: Improving adolescent health and development, WHO/FRH/ADH/98.18 4 Youth health and development: Discussion paper for the review and appraisal of action taken to implement the World Programme of Action for the Youth to the Year 2000 and
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Beyond 10 June 1998, (prepared by: WHO, UNICEF, UNFPA, UNAIDS) WCMRY/1998/10 4 Action for adolescent health. Towards a common agenda, WHO/FRH/ADH/97.9, [PDF], 360 KB Technische Berichte
4 Global consultation on the health services response to the prevention and care of HIV/Aids among young people, ISBN 92 4 159132 3 4 Global consultation on Adolescent Friendly Health Services. A consensus statement, WHO/FCH/CAH/02.18 4 Strengthening the provision of adolescent-friendly health services to meet the health and development needs of adolescents in Africa, Harare, Zimbabwe, October 2000, WHO/ FCH/CAH/01.16 4 Should Adolescents be Specifically Targeted for Nutrition in Developing Countries? 4 Working with boys: Programme experiences, WHO/FCH/ CAH/00.10, [HTML], 472 KB 4 Working with boys: Workshop report, WHO/FCH/ CAH/00.9, [HTML], 280 KB 4 What about boys? A literature review on the health and development of adolescent boys, WHO/FCH/CAH/00.7 4 Programming for Adolescent Health and Development Part 1, Technical Report, 886, 1999 4 Programming for Adolescent Health and Development Part 2, Technical Report, 886, 1999 4 Global strategies, policies and practices for immunization of adolescents: A review. With the WHO Expanded Programme on Immunization 4 The health of young people – A challenge and a promise, ISBN 92 4 156154 8 Forschung und Evidenz
4 New: »Steady, Ready, GO!« 4 An information brief on the global consultation to review the evidence for policies and programmes to achieve the global goals on young people and HIV/Aids 4 WHO and UNICEF, A picture of health? – A review and annotated bibliography of the health of young people in developing countries, WHO/FHE/ADH/95.4 Instrumente und Richtlinien
4 Orientation Programme on Adolescent Health for Healthcare Providers, ISBN 92 4 159126 9 (set) 4 Counselling skills training in adolescent sexuality and reproductive health – A facilitator’s guide, WHO/ADH/93.3, updated version 2001, English [PDF], 643 KB, Russian [PDF], 1.386 KB 4 Guide to WHO documents concerning adolescent health, WHO/FCH/CAH/99.2, [DOC], 342 KB 4 Coming of age - from facts to action for adolescent sexual and reproductive health, WHO/FRH/ADH/97.1 4 The narrative research method – Studying behaviour patterns of young people – by young people – A guide to its use, WHO/ADH/93.4 Andere Themen
4 Überblick über CAH 4 Integriertes Management 4 Kinder und Jugendliche
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Kapitel 44 · WHO-Ressourcen bei der Jugendgesundheit und Jugendentwicklung
4 Gesundheit von Kindern 4 Ernährung von Kindern 4 Jugendgesundheit und Jugendentwicklung Unterthemen
4 4 4 4
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Unterstützende Dokumente Technische Berichte Forschung und Evidenz Instrumente und Richtlinien
44.2.3 AFHS: Eine Agenda für den Wechsel Die Ressource AFHS: Eine Agenda für den Wechsel ist gedacht für politische Entscheidungsträger und Programm-Manager sowohl in entwickelten Ländern als auch in Entwicklungsländern sowie für Entscheidungsträger in internationalen Organisationen, die Initiativen zum öffentlichen Gesundheitswesen in Entwicklungsländern unterstützen. Sie tritt entschlossen für eine gemeinsame Aktion zur Verbesserung der Qualität – und insbesondere der Zugewandtheit – der Gesundheitsdienste gegenüber Jugendlichen ein. Unter Berücksichtigung von Fallstudien aus der ganzen Welt wird dort wiederholt, wie dies von Nicht-Regierungsorganisationen und Regierungseinrichtungen, die mit begrenzten finanziellen Mitteln arbeiten, geleistet werden kann – und auch geleistet wurde. Hervorgehoben wird die entscheidende Rolle, die die Jugendlichen – gemeinsam mit engagierten Erwachsenen – selbst spielen können, um einen Beitrag zu ihrer eigenen Gesundheit und ihrem eigenen Wohlbefinden zu leisten. Diese Ressource ist fertiggestellt und auf unserer Website zu finden: http://www.who. int/child-adolescent-health/ (PDF, 789 KB).
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45
45 Blick über die Grenzen H. Fonseca, D. E. Greydanus 1
45.1
Europäische Modelle der gesundheitlichen Versorgung Jugendlicher, IAAH-Aktivitäten, EuTEACH, MAGAM
H. Fonseca 45.1.1 Jugendgesundheit in Europa Die Jugendmedizin hat sich in den vergangenen vier Jahrzehnten entwickelt, um den gesundheitlichen Bedürfnissen der Jugendlichen gerecht zu werden. In Europa ist die Jugendmedizin noch immer eine junge Disziplin. In den Vereinigten Staaten, Kanada und Australien hingegen hat man bereits vor vielen Jahren damit begonnen, sich mit der Jugendgesundheit intensiver zu beschäftigen. Doch obwohl in Europa das Interesse später eingesetzt hat, setzten die dortigen Gesundheitsfachleute die Jugendgesundheit bald mit Nachdruck auf die Tagesordnung und begannen, die neuen Morbiditäten zu registrieren, die sich negativ auf Jugendliche, deren Familien und die Gemeinden auswirken, insbesondere die Verhaltens- und Umweltrisiken, die Auswirkungen auf die körperliche und psychosoziale Gesundheit der Jugendlichen haben. Die Jugendzeit wird im Allgemeinen als gesunder Lebensabschnitt angesehen. Es handelt sich bei den Jugendlichen um eine Altersgruppe, die traditionell vom medizinischen Versorgungssystem nicht beachtet wird. In den letzten Jahrzehnten hat es jedoch eine dramatische Veränderung bei den Todesursachen in dieser Altersgruppe gegeben: von biologischen Ursachen hin zu psychosozialen und umweltbedingten Ursachen. Die Mehrheit der Todesfälle in dieser Altersgruppe ist auf Gewalteinwirkungen zurückzuführen, sei es in Form von Unfällen, Selbsttötung oder Tötungsdelikten. Ähnlich wie dies dem weltweiten Trend entspricht, stellen auch in Europa Jugendliche die einzige Altersgruppe dar, bei der sich die Mortalitätsraten in den vergangenen Jahrzehnten nicht deutlich verringert haben. Außerdem haben noch immer viele europäische Jugendliche nicht die Rechte, die in der UN-Konvention über die Rechte des Kindes festgelegt sind. Es wird allgemein davon ausgegangen, dass Pädiater die am besten qualifizierten Fachleute sind, um mit den gesundheitlichen Problemen von Jugendlichen umzugehen. Einige Untersuchungen haben jedoch gezeigt, dass die Pädiater selbst diese Ansicht nicht teilen. Bei der Mehrzahl der Pädiater besteht ein Ausbildungsdefizit in diesem Bereich. Gerade das Fehlen einer speziellen Aus- und Weiterbildung hat sich als ein Haupthindernis erwiesen in dem Bemühen, eine angemessene Gesundheitsversorgung von Jugendlichen gewährleisten zu können. Mit der zunehmenden Anerkennung der speziellen Bedürfnisse von Jugendlichen durch die Gesundheitsfachleute in Europa stieg die Zahl der Forschungsprojekte und es entstanden neue Programme. Inzwischen ist damit begonnen worden, in die wissenschaftlichen Programme der pädiatrischen Konferenzen in den verschiedenen europäischen Ländern zunehmend mehr In1
Übersetzung: Dr. Michael Kraft, Hamburg.
formationen zu Gesundheitsfragen, die speziell Jugendliche betreffen, aufzunehmen. Dabei zeigte sich ein gesteigertes Interesse sowohl an somatischen als auch an psychosozialen Themen in Zusammenhang mit der Jugendgesundheit. Die Gründung der Gesellschaft für Jugendmedizin (Society for Adolescent Medicine, SAM), die 1968 in den USA erfolgte, hatte einen großen Einfluss auf die Entwicklung der Jugendmedizin in Europa. Die Gesellschaft veranstaltet jährlich eine wissenschaftliche Zusammenkunft und veröffentlicht eine Fachzeitschrift mit von Fachkollegen geprüften Beiträgen, das Journal of Adolescent Health. Viele von uns haben die Fachausbildung vollständig oder teilweise in den Vereinigten Staaten absolviert, wodurch unsere enge Bindung an SAM zum Teil erklärt wird (10% der Mitglieder von SAM kommen aus Ländern außerhalb der USA). Für viele europäische Kollegen bot die Teilnahme an den jährlichen wissenschaftlichen Treffen der Gesellschaft eine gute Gelegenheit, sich dort mit anderen Kollegen auszutauschen. Im Jahr 1986 wurde eine internationale Gruppe von SAM gegründet. Über die Jahre hinweg hatten die US-amerikanischen SAM-Mitglieder über diese Gruppe Zugang zu internationalen Informationen und Gelegenheit zur Zusammenarbeit. Das erste internationale Symposium über Jugendgesundheit fand in Europa statt (Finnland, 1974). Später folgten Konferenzen in Washington D.C. (1979), in Jerusalem (1983) und in Sydney (1987). 45.1.2 Die Internationale Vereinigung für
Jugendgesundheit (IAAH) Die IAAH (International Association for Adolescent Health: http://www.iaah.org) ist eine multidisziplinäre, nicht-staatliche Organisation, die sich umfassend mit der Jugendgesundheit beschäftigt. Gegründet wurde die Vereinigung 1987. Sie hat sich in jeder Hinsicht der Unterstützung der Jugendlichen verschrieben und tritt für die UN-Konvention über die Rechte des Kindes (1989) ein. Die Vereinigung ist eine Koalition aus Einzelmitgliedern und nationalen Vereinigungen. Die meisten der IAAH-Mitglieder sind ebenfalls Mitglied in diversen nationalen und regionalen Organisationen für Jugendgesundheit, einschließlich SAM. Die Synergie zwischen IAAH und SAM ist groß. Während es sich bei SAM jedoch um eine nationale Vereinigung handelt, deren Schwerpunkt auf der Interessenvertretung der Mitglieder und der Förderung von wissenschaftlichem Wissen liegt, konzentriert sich die IAAH darauf, ein internationales Netzwerk zu fördern und regionale Entwicklungen im Interesse der Jugendgesundheit zu unterstützen. Bei der IAAH stehen eher Gesundheit und Entwicklung im Mittelpunkt, daher sind die Ziele im Allgemeinen weniger wissenschaftlich ausgerichtet. Lange Zeit wurde eine internationale, multidisziplinäre, gesundheitsorientierte, nicht-staatliche Organisation für Jugendgesundheit vermisst. Einer der größten Befürworter für eine solche Organisation war Dr. Herbert Friedman, Vertreter der Weltgesundheitsorganisation.
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Kapitel 45 · Blick über die Grenzen
! Die Aufgabe der IAAH besteht darin, das Verständnis für die Bedeutung von Jugendgesundheit in allen Regionen der Welt zu fördern, sich für eine Verbesserung von Angeboten, Ausbildung, Forschung und politischer Entwicklung im Bereich der Jugendgesundheit in jedem Land einzusetzen, die Interaktion und Kooperation zwischen Jugendlichen und Nicht-Jugendlichen sowie zwischen Organisationen und Einzelpersonen bezüglich der Jugendgesundheitsthematik anzuregen und die Entstehung von nationalen Organisationen für Jugendgesundheit zu unterstützen.
45
Seit der Weltgesundheitsversammlung im Jahr 1993 ist die IAAH ein legitimer, anerkannter, humanitärer, nicht-staatlicher, internationaler Sprecher für Jugendgesundheit. Die IAAH bietet ihren Mitgliedern eine große Spannbreite von Serviceleistungen und Veranstaltungen. Unter anderem handelt es sich dabei um ein vierteljährlich erscheinendes Informationsblatt, einen alle vier Jahre stattfindenden wissenschaftlichen Kongress, Co-Sponsoring von Veranstaltungen und Projekten, eine Geschäftsstelle zur Wahrung der Mitgliederinteressen und für Fachauskünfte, eine internationale Mailingliste, örtliche Fortbildungsveranstaltungen sowie Beratung und Unterstützung bei der Gründung von nationalen Organisationen für Jugendgesundheit. Zurzeit besteht der Rat der IAAH aus einer Vorsitzenden (Sue Bagshaw aus Neuseeland), einem ehemaligen Vorsitzenden (Roger Tonkin), einem Schatzmeister/Sekretär und sechs regionalen stellvertretenden Vorsitzenden (Pazifikrand/Ozeanien: David Bennett; Nordamerika: Richard Brown; Karibik: Sheila Campbell-Forrester; Südamerika: Gustavo Girard; Afrika: Jane Kwawu; Asien: Yuko Matsuhashi; Europa: Helena Fonseca). Die regionalen Stellvertreter unterstützen die Vorsitzende der Organisation, fördern Wachstum und Entwicklung der regionalen und Länderorganisationen der IAAH und stellen sicher, dass Jugendliche an den Entscheidungsfindungsprozessen der Organisation beteiligt werden. Vergleicht man die IAAH mit einem Menschen, dann befindet sich die Organisation zum gegenwärtigen Zeitpunkt in der späten Adoleszenz. Es sind zurzeit mehr als 20 nationale und regionale Vereinigungen für Jugendgesundheit Mitglied der IAAH. Der erste Vorsitzende der IAAH war Dr. Murray Williams, der Gründungsvater der Jugendmedizin in Australien. Die nächsten Vorsitzenden waren David Bennett (1989–1994), Roger Tonkin (1994–2001) und Sue Bagshaw (seit 2001). Auf dem 5. Internationalen Kongress für Jugendgesundheit, der unter dem Motto »Zeit zu handeln« 1991 in Montreux in der Schweiz stattfand und bei dem die WHO als Co-Sponsor auftrat, fasste eine Gruppe von europäischen Kollegen den Entschluss, ein europäisches Netzwerk aufzubauen. Die Gründung dieses Netzwerks spiegelt zum einen das wachsende Interesse an Jugendgesundheit unter europäischen Gesundheitsfachleuten wider (ein Viertel der Einzelmitglieder der IAAH stammt aus Europa) und macht zum anderen deutlich, wie wichtig das Verständnis für kulturelle Besonderheiten bei der Gesundheitsprophylaxe und der Behandlung von Jugendlichen ist. Von diesem Zeitpunkt an fand jährlich eine Konferenz statt, mit Ausnahme der Jahre 1995, als der internationale Kongress von Vancouver veranstaltet wurde, und 2002. Die erste Konferenz erfolgte 1992 in Madrid in Spanien, gefolgt von den Konferenzen in Israel 1993, den Niederlanden 1994, Portugal 1996, der Schweiz 1997, Schwe-
den 1998, England (London) 1999, Spanien (Barcelona) 2000, England (Oxford) 2001, Paris 2003 und Ungarn 2004. Diese Konferenzen bieten ein einzigartiges Forum zum Austausch von Ideen und stellen eine ausgezeichnete Gelegenheit dar, um andere europäische Kollegen zu treffen, die sich ebenfalls mit der Jugendgesundheit beschäftigen. In den vergangenen Jahren hatten wir uns vielen Herausforderungen zu stellen, und wir fragen uns, welche spezielle Rolle das europäische Netzwerk der IAAH unter den vielen verschiedenen Organisationen, die wichtige Beiträge in diesem Bereich leisten, spielen sollte. Eine der Stärken der IAAH ist der multidisziplinäre Aufbau der Organisation sowie der Anspruch, junge Menschen an den Aktivitäten der Organisation in sinnvoller und stärkender Weise zu beteiligen. In vielen Ländern stellen Ärzte die dominierende Kraft im Bereich der Jugendgesundheit dar, wobei die Gruppe mit den besten Ressourcen oftmals die der Pädiater ist. Die IAAH hat sich jedoch entschieden, einen nicht-medizinischen Gesundheitsansatz beizubehalten. Für viele von uns liegt in dieser Entscheidung sowohl unser größter Reichtum als auch unsere größte Herausforderung. Die Teenagerjahre unserer Vereinigung werden uns die Energie liefern, diese beiden wesentlichen Herausforderungen zu bewältigen. Wir alle wissen, dass das Überstehen der Teenagerjahre schwierig sein kann. Das Jugendgesundheitsprogramm der WHO in Genf, das jetzt der Abteilung für Kinder- und Jugendgesundheit und Entwicklung zugeordnet ist, wurde 1990 geschaffen. Viele Mitglieder des IAAH-Netzwerks haben in den Arbeitsgruppen der WHO mitgearbeitet oder für Kommissionen Papiere zu verschiedenen Themen, wie beispielsweise jugendfreundliche Gesundheitsdienste und chronische Krankheiten, ausgearbeitet. In den 80er- und 90er-Jahren wurden nicht nur in einigen außereuropäischen Ländern wie Israel, Kanada, Brasilien, Argentinien und Neuseeland Jugendgesundheitsvereinigungen und Gesellschaften gegründet, sondern auch in Schweden (1983), Spanien (1988), Portugal (1991), der Schweiz (1992) und Italien (1993). Jede der Vereinigungen oder Gesellschaften hat Konferenzen ausgerichtet, bei denen Jugendthemen im Mittelpunkt standen. Einige von ihnen versenden regelmäßig ein Informationsblatt an die Mitglieder. Im Anschluss an den internationalen IAAH-Kongress 1991 in Montreux schuf die Schweizer Vereinigung für Jugendgesundheit (SAAH) einen Preis, der alle vier Jahre im Rahmen des internationalen IAAH-Kongresses verliehen wird. Gemäß den Statuten der SAAH soll der Preis an einen Experten vergeben werden, der nicht älter als 40 Jahre alt ist und aus einem Entwicklungsland stammt, wobei der Beruf keine Rolle spielt. Verliehen wird der Preis für innovative Forschungsarbeiten und/oder die Entwicklung eines Präventivprogramms im Bereich Jugendgesundheit. Der Preis wurde zum ersten Mal 1995 während des 6. IAAHKongresses in Vancouver an Vinit Sharma aus Indien vergeben. Das zweite Mal wurde dieser Preis im Jahr 2001 während des 7. IAAH-Kongresses in Salvador an Dr. Lyra da Fonseca aus Brasilien verliehen. Der 6. Internationale Kongress für Jugendgesundheit fand 1995 in Vancouver in Kanada statt. Im Rahmen dieses Kongresses wurde die 27. Jährliche Forschungstagung der Gesellschaft für Jugendmedizin und der Versammlung für Jugendgesundheit unter dem Motto »Jugend stärken« veranstaltet. Der 7. IAAH-Kongress wurde im Jahr 2001 in Salvador in Brasilien abgehalten. Bei diesem Kongress wurde der Herbert-
415 45.1 · Europäische Modelle der gesundheitlichen Versorgung Jugendlicher, IAAH-Aktivitäten, EuTEACH
Friedman-Lehrauftrag gegründet und Robert Blum zugesprochen. Portugal war Gastgeber des 8. IAAH-Kongresses, der unter dem Motto »Positive Entwicklung der Jugend: Stärkung der Jugendlichen in einer Welt im Wandel« im Mai 2005 stattfand. 45.1.3 Europäische Initiativen zur Verbesserung
der Jugendgesundheit EuTEACH Wie bereits erwähnt, haben Forschungsarbeiten ergeben, dass zum einen die ärztliche Ausbildung ein wesentlicher Faktor bei der Verbesserung der medizinischen Versorgung von Jugendlichen ist und dass zum anderen die Ärzte sich in vielen Fällen nicht angemessen ausgebildet fühlen, um Jugendlichen eine optimale Versorgung zukommen lassen zu können. Im Jahr 1999 erkannte eine Gruppe von Ärzten aus der europäischen Jugendmedizin die Notwendigkeit, eine strukturierte Schulung zum Thema Jugendgesundheit und Jugendmedizin für Fachleute in der Gesundheitsversorgung Jugendlicher zu entwickeln. Die Multidisziplinäre Einheit für Jugendgesundheit in Lausanne hat die Initiative zur Entwicklung eines Curriculum für Jugendgesundheit und Jugendmedizin gestartet: EuTEACH (der Name steht für European Training in Effective Adolescent Care and Health; europäische Schulung für eine effektive Versorgung Jugendlicher und für Jugendgesundheit). Das EuTEACH-Curriculum (http://www.euteach.com) wurde als Schulungsinstrument entwickelt, das jedem Arzt zur Verfügung steht, der Kurse auf der Ebene der Aus-, Weiter- oder Fortbildung leitet, unabhängig davon, ob er an einer Universität tätig ist oder nicht. Die zwei Hauptzielsetzungen sind zum einen Kenntnisse, Einstellungen und Fertigkeiten auszuwählen und vorzuschlagen, die von wesentlicher Bedeutung für Fachleute sind, die an der Versorgung von Jugendlichen beteiligt sind, und zum anderen langfristig die Entwicklung von multidisziplinären Netzwerken zur Jugendgesundheit anzuregen, um so auch Schulungen zum Thema Jugendgesundheit in möglichst vielen europäischen Ländern zu fördern. Das Curriculum besteht aus Modulen und ist ein flexibles, interaktives Instrument, das die wesentlichen Bereiche auf diesem Gebiet abdeckt, wie beispielsweise grundlegende Fertigkeiten (Rahmenbedingungen, Rechte und Vertraulichkeit, geschlechtsspezifische und kulturelle Fragen etc.) oder auch spezielle Themen (Fragen zu Sexualität und Fortpflanzung, Essstörungen, chronische Krankheiten etc.). Das Curriculum bietet dem Kursleiter 17 thematisch geordnete Module, von denen jedes einzelne detaillierte Angaben zu Zielsetzung, Vorgehensweise, Beispielen und Evaluationsmethoden enthält. In den Jahren 2002 und 2003 fanden in Lausanne internationale, einwöchige Sommerlehrgänge statt, in denen u. a. klinische Gesundheitsfragen und Fragen zum Gesundheitswesen behandelt wurden, aber auch interaktive Veranstaltungen (Rollenspiele) durchgeführt wurden. Dabei wurden Durchführbarkeit und Eignung des Curriculum überprüft. Mit dieser Initiative wurde begonnen, sich der Herausforderung zu stellen, die Jugendmedizin als formalen Bestandteil der pädiatrischen und hausärztlichen Praxis in Europa anzuerkennen, zu schulen und zu fördern.
45
MAGAM Eine weitere interessante Initiative ist MAGAM (Mediterranean Action Group for Adolescent Medicine; Mittelmeer-Aktionsgruppe für Jugendmedizin). MAGAM wurde im September 2001 im italienischen Ferrara gegründet und hat es sich zur Aufgabe gemacht, Theorie, Praxis und Forschung im Bereich Jugendmedizin im Mittelmeerraum und Mittleren Osten voranzutreiben. Generell ist es das Ziel von MAGAM, den Gesundheitszustand und das Wohlergehen von Jugendlichen entsprechend den Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation zu verbessern. MAGAM hat gerade damit begonnen, eine Bestandsaufnahme der aktuellen Situation bezüglich der Jugendgesundheit in den Mittelmeerländern vorzunehmen. Die Zielsetzungen der Gruppe sind u. a., die Aufmerksamkeit der Ärzte auf die Jugendgesundheit in den Mittelmeerländern zu lenken und ihre Sensibilität diesbezüglich zu erhöhen, die bestehenden Interventionsund Präventivprogramme aufzulisten und deren Wirksamkeit zu besprechen sowie in möglichst vielen Mittelmeerländern die Entwicklung von Programmen zu initiieren und zu unterstützen, um es Ärzten, die an der Versorgung von Jugendlichen beteiligt sind, zu ermöglichen, in angemessener Weise den gesundheitlichen Bedürfnissen von Jugendlichen gerecht zu werden und damit umgehen zu können. ! Seit langer Zeit sind Fachleute für Jugendmedizin der Meinung, dass es notwendig ist, Ärzte speziell zu schulen sowie Krankenhausstationen und Ambulanzen für Jugendliche einzurichten, mit anderen Worten speziell auf Jugendliche ausgerichtete Bedingungen zu schaffen. Es werden jedoch nur langsam Fortschritte erzielt und nicht jedem ist es bisher klar geworden, dass Veränderungen notwendig sind.
In dem Bericht der Weltgesundheitsorganisation »Die Gesundheit von jungen Menschen – Eine Herausforderung für die Gesellschaft« wurde empfohlen, die Verantwortung zur Entwicklung politischer und planerischer Strategien zur Förderung der Jugendgesundheit mit den jungen Menschen zu teilen und diese an den Vorhaben zu beteiligen. Es ist uns bewusst, dass junge Menschen die Hauptverantwortung für ihre eigene Gesundheit tragen und wir es erreichen müssen, dass sie sich daran beteiligen, ihre Probleme zu erkennen und Strategien für ein gesundes Leben zu entwickeln. In der Zwischenzeit ist es wichtig, dass eine aktive Interaktion zwischen Eltern, Schulen, Politikern und insbesondere den Fachleuten in der Gesundheitsversorgung stattfindet.
Literatur Bennett D, Tonkin R (2003) International Developments in Adolescent Health Care: A Story of Advocacy and Achievement. J Adol Health 4: 240–51 Blum RW (1991) Global Trends in Adolescent Health. JAMA; 265: 2711– 2719 Fonseca H., Marcelino J (2002) Avaliação das Necessidades de Formação em Medicina de Adolescentes. Acta Pediatr Port; 33: 181–187 Hardoff D, Tamir A, Palti H (1999) Attitudes and Practices of Israeli Physicians Toward Adolescent Health Care. J Adol Health; 25: 35–39 Kraus B, Stonski S, Michaud P-A (2003) Training needs in adolescent medicine of practicing doctors: a Swiss national survey of six disciplines. Medical Education; 37: 709–714
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Kapitel 45 · Blick über die Grenzen
Michaud P-A, Stronski S, Fonseca H, MacFarlane A (2004) The Development and Pilot-Testing of a Training Curriculum in Adolescent Medicine and Health. J Adol Health; 1: 51–57 Suris Granell JC, Garcia-Tornel S (1991) Adolescent Medicine Among Pediatricians in Catalonia. J Adol Health; 12: 430–433 United Nations (1989) Convention on the Rights of the Child (Articles 5, 12, 17, 19, and 24) World Health Organization (1986) Young People’s Health – A Challenge for Society, WHO Technical Report Series, n 731 World Health Organization (2003) Adolescent Friendly Health Services – An Agenda for Change
Internetadressen
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http://www.iaah.org http://www.euteach.com http://www.adolescenthealth.org
45.2
Entwicklung der gesundheitlichen Versorgung Jugendlicher in den USA
D. E. Greydanus »Wir alle durchleben verschiedene Lebensabschnitte wie Kindheit, Jugend, Erwachsenenalter, Elternschaft, etc. In jedem Lebensabschnitt erleben wir bestimmte schwierige Phasen und kommen aus diesen Phasen mit wunderbaren Entdeckungen wieder heraus. Mit etwas Einsicht in unser Leben können wir definitiv sagen, dass die ›Teenagerjahre‹ oder die ›Jugendzeit‹ eine der herausforderndsten Zeiten darstellt.« Nair [1]
versitären Gesundheitsdienste gibt, an denen mehr als 3000 Ärzte beteiligt waren, die wiederum zu einer Gruppe von 27.000 Personen gehören, die an den College-Gesundheitszentren arbeiteten und die sich darum bemühten, 10–12,5 Mio. College-Studenten in den Vereinigten Staaten zu betreuen [7]. Im Jahr 1990 erkannten die Zentren zur Kontrolle von Krankheiten (US-amerikanischer Public Health Service, Abteilung für Jugend- und Schulgesundheit) College-Gesundheit als eines von drei Konzepten für Studium, Beaufsichtigung und öffentliche Gesundheitsinterventionen an [7]. Eine wichtige Abhandlung über College-Gesundheit, in der die Konzepte zur Versorgung von College-Studenten kurz dargestellt werden, wurde von Helen Wallace und Mitarbeitern im Jahr 1992 herausgegeben [8]. Eine neuere Veröffentlichung, die von Turner und Hurley herausgegeben wurde, setzt diese Tradition, eine aktuelle Zusammenfassung zur Praxis der College-Gesundheit anzubieten, fort [9]. Die ACHA hat sehr wichtige Dokumente mit Empfehlungen dazu veröffentlicht, wie die Gesundheitsstandards der Zentren zur Kontrolle von Krankheiten und von Prevention’s Healthy People 2010 für die College-Studenten umgesetzt werden können [10] und wie die Gesundheitsstandards der College-Gesundheitsdienste zu realisieren sind [11] (http:// www.acha.org). Aktuell gibt es etwa 15 Mio. College-Studenten in den Vereinigten Staaten, von denen 58% zwischen 18 und 24 Jahre alt sind. Leider ist die Empfehlung von Dr. Seaver aus dem Jahr 1885, jeden Studenten einmal jährlich gründlich zu untersuchen, in den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts für die US-amerikanischen College-Studenten immer noch nicht umgesetzt worden [12–14].
45.2.1 College-Gesundheit 45.2.2 Jugendliche: Das Alter von 12–17 Jahren Das Interesse an der Jugendmedizin begann in Amerika damit, dass man sich Gedanken über die gesundheitliche Versorgung der älteren Jugendlichen, den College-Studenten im Alter zwischen 17 und 21 Jahren, machte. Der erste anerkannte Arzt für College-Gesundheit in den Vereinigten Staaten war Dr. Edward Hitchcock, der 1860 als Professor für Hygiene an das Amherst College in Massachusetts berufen wurde. Er wurde als Vater der amerikanischen College-Gesundheit bekannt [2–4]. Im Jahr 1885 wurde Dr. J.W. Seaver medizinischer Direktor am »Sportzentrum« von Yale (New Haven, Connecticut) und sorgte dafür, dass jeder Student jedes Jahr gründlich untersucht wurde [5]. Der erste umfassende College-Gesundheitsdienst wurde an der Universität von Kalifornien entwickelt, 1901 in Berkeley und 1918 an der Stanford-Universität (Palo Alto, Kalifornien). Die führende Organisation, die im 20. und jetzt im 21. Jahrhundert beratend und anleitend an College-Gesundheitsprogrammen mitwirkt, ist die American College Health Association (ACHA), die 1920 gegründet und 1948 den Namen ACHA erhielt. Dies ist bedeutsam, da es in den Vereinigten Staaten keine offizielle Ausbildung gibt, um Arzt für College-Gesundheit zu werden. In der Mitte der 1950er Jahre hatten die bedeutendsten amerikanischen Universitäten Gesundheitszentren zur Versorgung ihrer Studenten gegründet, worüber Moore und Summerskill in einem grundlegenden Artikel über College-Gesundheitsdienste berichten [6]. Im Jahr 1988 veröffentlichte Patrick einen wichtigen Artikel im Journal of the American Medical Association (JAMA), in dem er einen ausführlichen Überblick über die uni-
Das Interesse an den jungen Jugendlichen (im Alter von 12– 17 Jahren) setzte mit der Arbeit von G. Stanley Hall ein, dem ersten promovierten Psychologen in Amerika, der den ersten klassischen Text zur Adoleszenz verfasste und dafür den Begriff »Sturm und Drang« wählte, mit dem er deutlich machen wollte, dass es sich bei dem Prozess der Adoleszenz um eine sehr unruhige Zeit handelt [15]. Trotzdem blieben die jungen Teenager von den Klinikern so lange unbeachtet, bis Dr. J.R. Gallagher im Jahr 1954 in Boston die erste Klinik für Jugendliche gründete [16] und das erste Lehrbuch zur medizinischen Versorgung von Jugendlichen veröffentlichte [17]. Seine Ansicht, dass die Meinung der Jugendlichen höher bewertet werden sollte als die der Eltern, ist in der amerikanischen Medizin auch in diesem neuen Jahrhundert umstritten geblieben [18]. Gallagher wird von den heutigen Klinikern der Jugendmedizin als der Vater der Jugendmedizin in der amerikanischen Medizin des 20. Jahrhunderts in Ehren gehalten. Im Vorwort zur Erstausgabe schrieb Gallagher: »Jugendliche sind anders, und es ist unbedingt wünschenswert, an sie in anderen Begriffen zu denken, als man dies bei einem kleinen Kind oder einem Erwachsenen tut. So ist auch die Beziehung des Arztes zu diesen Patienten eine andere; es sind nicht mehr die Eltern, die erzählen; spätestens jetzt braucht der Patient selbst deutliche Hinweise für das Interesse des Arztes an ihm. Wie man mit diesen jungen Menschen spricht – oder besser: wie man sie dazu bringt, mit einem zu sprechen! –, wie
417 45.2 · Entwicklung der gesundheitlichen Versorgung Jugendlicher in den USA
man mit ihnen umgeht, wie man zu ihrem eigenen Vorteil ihre Eigenheiten nutzen kann, damit sie von anderen Erwachsenen als ihren Eltern einen Ratschlag annehmen und von diesen Erwachsenen lernen und vorbehaltlos mit ihnen sprechen – das sind bedeutsame Punkte.« [17] Die offizielle Aufnahme der Jugendlichen in die von den Pädiatern angebotene gesundheitliche Versorgung erfolgte durch die Amerikanische Akademie für Pädiatrie (American Academy of Pediatrics, AAP) im Jahr 1972. Die AAP postulierte, dass Pädiater die Versorgung bis zum 21. Lebensjahr übernehmen sollten. Dafür sollten Pädiater eine Ausbildung erhalten, die es ihnen ermöglicht, Jugendliche in einem Alter von 12–21 Jahren zu versorgen (http://www.aap.org). Die Förderung von wissenschaftlichen Untersuchungen der Adoleszenz wurde im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts von der Gesellschaft für Jugendmedizin (Society for Adolescent Medicine, SAM) wirkungsvoll unterstützt. SAM war im Jahr 1968 gegründet worden und hat die Ausbildung und Forschung im Bereich der Jugendmedizin stark beeinflusst, was sich auf viele Lehrer, Kliniker und Forscher ausgewirkt hat, die ein Interesse daran haben, das Leben der Jugendlichen in den Vereinigten Staaten und auf der ganzen Welt zu verbessern [19] (http://www. adolescenthealth.org oder
[email protected]). Nachdem SAM von einer Handvoll Klinikern, die sich für das Thema der Adoleszenz interessierten, gegründet worden war, wurden Weiterbildungsmöglichkeiten für die Ausbildung von Fachärzten für Jugendmedizin eingerichtet, die sich in den 1970er und 1980er Jahren in vielen medizinischen Zentren der Vereinigten Staaten weiter entwickelten. Pädiater, Internisten und Allgemeinärzte verbrachten ein bis zwei Jahre mit einem Jugendmedizin-Mentor der ersten Generation, um etwas über dieses neue Gebiet der Jugendmedizin – oder ephebiatrics von »ephebos«, dem griechischen Wort für Jugend – zu lernen. Der Verfasser dieses Textes genoss das Privileg, zwei Jahre (1976-1978) mit einer der Gründerinnen von SAM, Dr. Adele D. Hofmann, an der Universität von New York in New York City zu verbringen. Die Ausbildung der Experten für Jugendmedizin zu vervollständigen, war Aufgabe des Accreditation Council for Graduate Medical Education (ACGME) in Chicago, Illinois. ACGME legte fest, dass bei anerkannten Pädiatrie-Weiterbildungsprogrammen unter dem Lehrpersonal jemand vorhanden sein muss, der über eine Ausbildung in Jugendmedizin verfügt (http://www.acgme.org). Auf diese Weise wurde die zweite Generation von Fachärzten für Jugendmedizin ausgebildet, die sich dann über die gesamten Vereinigten Staaten verteilten und entweder als Lehrkräfte an einem medizinischen Zentrum oder – und dies war die Minderheit – in einer privaten Praxis arbeiteten. Das Wissen über Jugendmedizin wurde mit Hilfe der Fachzeitschrift von SAM gefördert, dem Journal of Adolescent Health Care, das schließlich in Journal of Adolescent Health umbenannt wurde. Das Lehrbuch von Gallagher vermittelte das erste Lehrbuchwissen auf diesem Gebiet. Dieses Buch [17] wurde in drei Auflagen veröffentlicht: 1960, 1968 und 1976. Es war das Werk von Adele D. Hofmann, die das Amt von J. Roswell Gallagher übernahm und im Jahr 1983 einen klassischen Text über Jugendmedizin verfasste [20]. Dieser Text erlebte, ebenso wie die Arbeit von Gallagher, drei Auflagen und diente in den 1990er-Jahren und im 21. Jahrhundert als Anregung für weitere Schriften über die Jugendmedizin [21]. Die neue Fassung des Buches von Hofmann ist im Jahr 2005 veröffentlicht worden [22].
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Eine weitere wichtige Fachzeitschrift bei der Ausbildung der Kliniker war State of the Art Reviews: Adolescent Medicine, veröffentlicht von Hanley-Belfus Medical Publishers in Philadelphia, Pennsylvania. In diesem Journal werden klinische Reviews zur Jugendmedizin veröffentlicht und Klinikern und Forschern aktuelle Ansichten zu wichtigen Jugendgesundheitsproblemen geboten. Formell wurde das Journal 1990 gestartet, in Wirklichkeit war es jedoch die Fortsetzung von zwei anderen klinischen Review-Journals zur Jugendmedizin: Journal of Current Adolescent Medicine (1977–1981) und Seminars in Adolescent Medicine (1981–1990). Diese Publikationen stellten eine wichtige Möglichkeit für interessierte Kliniker dar, sich weiterbilden zu können nachdem die Jugendmedizin Jahrhunderte lang von der Medizin vernachlässigt worden war. State of the Art Reviews: Adolescent Medicine wird jetzt von Elsevier veröffentlicht und heißt Adolescent Medicine Clinics (http://www.TheClinics.com). Die Ausbildung der Fachärzte für Jugendmedizin wurde in den 1990er-Jahren stärker formalisiert, nachdem SAM und die Amerikanische Akademie für Pädiatrie ein Dokument vorbereitet hatten, das dafür warb, die Jugendmedizin zu einem offiziellen Studienbereich zu machen, unterstützt vom American Board of Pediatrics (Chapel Hill, North Carolina). Der Autor des vorliegenden Textes war Mitglied einer Arbeitsgruppe, die von SAM und der AAP berufen worden war, dieses Dokument auszuarbeiten, das schließlich vom American Board of Pediatrics akzeptiert wurde. Die erste offizielle Prüfung erfolgte im Jahr 1997. Seitdem wird diese Prüfung weiterhin regelmäßig angeboten. Anfangs konnten die Ärzte die Qualifikation erwerben, wenn sie ausreichende praktische Erfahrungen auf dem Gebiet der Jugendmedizin nachweisen konnten, mit oder ohne formaler Facharztweiterbildung. Nachdem für die Jugendmedizin offizielle Prüfungen vor einer Kommission eingeführt wurden, findet jetzt die gesamte Facharztweiterbildung unter der Verantwortung der ACGME in Chicago, Illinois statt. Der Verfasser dieses Textes ist Berater der ACGME für Jugendmedizin und hat dabei geholfen, Richtlinien für die Weiterbildung einzuführen, die der ACGME-Ausbildung gerecht werden. Die gegenwärtige Weiterbildung für Jugendmedizin muss für Pädiater und Internisten über einen Zeitraum von drei bzw. zwei Jahren gehen. Diese ersetzt die ein- oder zweijährigen Postgraduierten-Programme, die es von den 1970er-Jahren an bis zur Mitte der 1990er-Jahre gegeben hatte und in denen die aktuelle Gruppe der in Jugendmedizin spezialisierten Ärzte noch ausgebildet worden war. Für nicht von ACGME anerkannte Weiterbildungen stehen nur begrenzte Finanzierungsmöglichkeiten zur Verfügung und die meisten davon sind in den Vereinigten Staaten aus den Weiterbildungsprogrammen verschwunden. 45.2.3 Ausbildung in der Jugendmedizin im frühen
21. Jahrhundert Zu Beginn des 21. Jahrhunderts wird die Ausbildung der Medizinstudenten und Assistenzärzte (Pädiater und Internisten) von der zweiten Generation von Fachärzten für Jugendmedizin durchgeführt, die ihre offizielle Ausbildung in den 1970er- bis zu den frühen 1990er-Jahren erhalten hatten. Die meisten medizinischen Zentren in den Vereinigten Staaten haben wenigstens einen Facharzt für Jugendmedizin, wobei es in umfangreichen Programmen oftmals mehr sind.
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Kapitel 45 · Blick über die Grenzen
In den pädiatrischen Weiterbildungsprogrammen muss jemand mit einer entsprechenden Ausbildung vorhanden sein, der die pädiatrischen Assistenzärzte in Jugendmedizin unterweist. In der internistischen Weiterbildung ist das Vorhandensein eines solchen Experten nicht erforderlich und die meisten internistischen Programme in den Vereinigten Staaten haben keinen dieser Fachärzte unter ihrem Lehrpersonal. In der Mehrzahl der medizinischen Fakultäten in den Vereinigten Staaten gibt es keine formalen Vorschriften, die Medizinstudenten in Jugendmedizin zu unterweisen, und daher werden die meisten Medizinstudenten nur wenig, wenn überhaupt, auf diesem Gebiet unterrichtet. In der Weiterbildung für Notfallmedizin und Allgemeinmedizin ist es zwar formal nicht vorgeschrieben, Jugendmedizin zu unterrichten, doch ist ein begrenzter Unterricht in Pädiatrie vorgesehen, wobei die Assistenzärzte dort möglicherweise mit Fachärzten für Jugendmedizin in Kontakt kommen. Pädiater, die an der alljährlichen Herbsttagung der Amerikanischen Akademie für Pädiatrie teilnehmen, können verschiedene Kurse über Jugendmedizin besuchen, wenn sie dies wünschen. Der Autor war von 1994 bis 2002 beim jährlichen Planungstreffen der AAP und trug die Verantwortung für die Planung dieser Kurse. Dem aktuellen Planungskomitee gehört auch weiterhin ein Facharzt für Jugendmedizin an. Die Akademische Gesellschaft für Pädiatrie (Pediatric Academic Society, PAS) stellt die größte Gruppe von pädiatrischen Forschern in den Vereinigten Staaten dar und veranstaltet ihre jährliche Tagung immer im Mai (http://www.pas-meeting.org). Der Autor ist seit einigen Jahren Mitglied des PAS-Planungskomitees und dafür verantwortlich, die Kurse für Jugendmedizin bei dieser Tagung zu organisieren. Gegenwärtig gibt es lediglich 19 medizinische Zentren in den Vereinigten Staaten sowie 2 Zentren in Kanada, die von ACGME anerkannte Weiterbildungen für Jugendmedizin anbieten. Im Rahmen dieser dreijährigen Programme – zwei Jahre für Internisten – wird jedoch nur eine geringe Anzahl von Fachärzten für Jugendmedizin ausgebildet [23]. Besorgnis erregend ist, dass der Nachstrom an Fachärzten der »dritten« Generation recht begrenzt ist. Da die Ärzte der zweiten Generation in den Ruhestand gehen, wird es nicht genug ausgebildete Experten geben, die eine angemessene Ausbildung der neuen Generationen von Klinikern, die erst noch kommen werden, gewährleisten können. Es ist möglich, dass das 21. Jahrhundert Zeuge davon sein wird, wie das Studium der Jugendmedizin wieder zurückgeht – ein Dilemma, das im Laufe der Geschichte der amerikanischen Medizin leider oft beschrieben wurde. »Who loves not knowledge? Who shall rail Against her beauty? May she mix With men and prosper! Who shall fix Her pillars? Let her work prevail.« In Memoriam, CXIV, Tennyson1
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Bernhard Stier Nikolaus Weissenrieder (Hrsg.) Jugendmedizin – Gesundheit und Gesellschaft
Bernhard Stier Nikolaus Weissenrieder (Hrsg.)
Jugendmedizin Gesundheit und Gesellschaft Mit 90 Abbildungen und 78 Tabellen
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Dr. med. Bernhard Stier Wetzlarer Str. 25 35510 Butzbach www.jugendgesundheitstag.de www.hilfe-fuer-fritz.de
Dr. med. Nikolaus Weissenrieder Ruffinistr. 2 80637 München www.praxis.quamamed.de
ISBN-10: 3-540-21483-6 Springer Medizin Verlag Heidelberg ISBN-13: 978-3-540-21483-0 Springer Medizin Verlag Heidelberg Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Springer Medizin Verlag. Ein Unternehmen von Springer Science+Business Media springer.de © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2006 Printed in Germany Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutzgesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Produkthaftung: Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag keine Gewähr übernommen werden. Derartige Angaben müssen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall anhand anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden. Planung: Renate Scheddin Projektmanagement: Sylvia Kröning/Gisela Zech Lektorat: Bettina Arndt, Weinheim Umschlaggestaltung: deblik, Berlin SPIN 10944882 Satz: Fotosatz-Service Köhler GmbH, Würzburg Druck: Stürtz GmbH, Würzburg Gedruckt auf säurefreiem Papier 2126 – 5 4 3 2 1 0
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Für Katja, Maximilian, Robin und Vincent »Wir können nicht immer die Zukunft für unsere Jugend gestalten, aber wir können immer unsere Jugend auf die Zukunft vorbereiten«. Franklin D. Roosevelt
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Geleitwort1 Die Jugendmedizin als ein spezielles Interessengebiet ist in den 1960er-Jahren auf Betreiben von Dr. Gallagher in Boston in den Vereinigten Staaten ins Leben gerufen worden. In den frühen 1980er-Jahren erfolgte die Gründung der Society for Adolescent Medicine, die für viele europäische Pioniere auf diesem Gebiet zum einen eine Ressource darstellte und zum anderen ein Ort fruchtbaren Austausches war. Im Jahr 1987 wurde in Sydney die International Association for Adolescent Health (IAAH) gegründet und seitdem sind auf der gesamten Welt viele nationale Vereinigungen entstanden [1]. In den Vereinigten Staaten wird die Jugendmedizin heutzutage als eine Subspezialität angesehen, an dem die Kinderheilkunde, Allgemeinmedizin und Innere Medizin beteiligt sind. Europa hat mehr Zeit als andere Teile der Welt (einschließlich Südamerika) benötigt, um sich dieser Entwicklung anzuschließen, wobei jedoch seit etwa 5–10 Jahren zunehmend mehr Gesundheitsfachleute erkannt haben, wie wichtig es ist, spezielle Ansätze und Strategien zu entwickeln, um junge Menschen zu erreichen und ihnen eine angemessene Gesundheitsversorgung sowie Programme zur Gesundheitsförderung bieten zu können. Erst kürzlich hat die European Confederation of Specialists in Pediatrics eine Ad-hoc-Arbeitsgruppe zur Jugendmedizin eingesetzt, die von einem deutschsprachigen Kollegen geleitet wird. Außerdem haben verschiedene europäische Länder, zu denen u. a. Österreich, Frankreich, Italien, Deutschland, Portugal, Schweden, Spanien und die Schweiz gehören, eigene Vereinigungen für Jugendmedizin bzw. Jugendgesundheit gegründet. Beim letzten internationalen Kongress der IAAH, der im Jahr 2005 in Lissabon stattfand, versammelten sich etwa 600 Fachleute, und der Umstand, dass Europa als Ort dieser großen Veranstaltung gewählt wurde, macht deutlich, dass die Entwicklung in diesem Bereich auf unserem Kontinent schnell voranschreitet. Noch ist viel Arbeit zu leisten, und die Fachleute aus den Bereichen der Gesundheitsversorgung, Prävention und Gesundheitsförderung haben sich noch einigen Herausforderungen zu stellen. In ihrem letzten Bericht zur Gesundheit von jungen Menschen in Europa [2] hat die Europäische Union festgestellt, dass sich zwar die überwiegende Mehrheit der Jugendlichen einer guten Gesundheit erfreut, jedoch ein bedeutender Prozentsatz von jungen Menschen mit einem weniger privilegierten sozioökonomischen Status unter gesundheitlichen Problemen, hier insbesondere unter psychosozialen Belastungen, leidet. Jeder 10. Jugendliche leidet an einem größeren psychischen Gesundheitsproblem (einschließlich Substanzgebrauch und sehr riskantem Verhalten). Die Situation könnte in einigen osteuropäischen Staaten, die sich gerade in einer gewaltigen wirtschaftlichen und politischen Umbruchphase befinden, sogar noch schlechter sein. Dabei haben die Fachleute aus den Ländern, die finanziell besser gestellt sind, die Verpflichtung, sich Gedanken darüber zu machen, wie sie ihre Kollegen aus den weniger entwickelten Staaten darin unterstützen können, geeignete Gesundheitsinterventionsmöglichkeiten für Jugendliche aufzubauen. Die Jugendgesundheit ist in der Tat eine Herausforderung für unsere Gesellschaft, und es gibt u. a. vier wesentliche Bereiche, in denen neue Wege zur Verbesserung der Gesundheit und des Wohlbefindens von jungen Menschen entwickelt werden sollten. 1. Vor kurzem hat die Weltgesundheitsorganisation gemeinsam mit anderen nichtstaatlichen Organisationen wie UNICEF das Konzept der »jugendfreundlichen Dienste« oder »jugendfreundlichen Gesundheitsdienste« erstellt [3]. Dabei handelt es sich um ein äußerst nützliches Konzept, das eine Vielzahl von Ideen beinhaltet, wie effektive Gesundheitsdienste für Jugendliche aufgebaut und unterhalten werden können: Das Konzept betont die Bedeutung des Ethos für alle Strukturen der Gesundheitsversorgung, die Wichtigkeit der Zusammenarbeit mit den jungen Menschen sowie die Notwendigkeit des Nachdenkens darüber, wie diejenigen erreicht werden können, die am meisten der Hilfe bedürfen. Die Privatpraxen können patientengerechter werden, ebenso die Krankenhäuser, Notaufnahmen, Familienplanungszentren oder die spezialisierten Gesundheitszentren zur Versorgung von Jugendlichen. 2. Im Bereich der Gesundheitsförderung [4, 5] verlassen sich viele Schulen und Fachleute weiterhin auf veraltete Strategien, wie beispielsweise unidirektionale Konferenzen, die Anwendung von Angst oder das Verteilen von Informationsbroschüren ohne begleitende Diskussion, und dies obwohl uns mittlerweile ausreichende Belege dafür vorliegen, dass bestimmte Vorgehensweisen effektiver sind als andere [5]. Die Informationen über effektivere Möglichkeiten, junge Menschen dabei zu unterstützen, gesund zu bleiben oder ihre Gesundheit zu verbessern, müssen besser bekannt gemacht werden. Die Fachleute in der Gesundheitsversorgung müssen über die rein medizinische Arbeit hinausgehen und sich für ein freundlicheres Umfeld einsetzen – in Bezug auf berufliche Themen,
1
Übersetzung: Dr. Michael Kraft, Hamburg.
VIII
Geleitwort
finanzielle Unterstützung und Gesetzgebung –, da dies von entscheidender Bedeutung bei der Förderung des Wohlbefindens von Jugendlichen ist [6]. 3. Mittlerweile besteht Einigkeit darüber, wie Jugendliche in geeigneter Weise gesundheitlich versorgt werden [7], indem man sich an solide Grundsätze bezüglich der Vertraulichkeit hält und eine umfassende, ganzheitliche Sichtweise in Bezug auf die Gesundheit des Patienten und die entscheidenden Beeinflussungsfaktoren einnimmt. Allerdings beruht diese Einigkeit im Wesentlichen auf den Ansichten der praktizierenden Fachleute, und es fehlen uns weiterhin gute und valide Belege für die Wirksamkeit und Effektivität eines derartigen Ansatzes. Die klinische Forschung auf dem Gebiet der Gesundheitsversorgung von Jugendlichen muss ausgedehnt werden [7‒8]. Dies gilt in großem Maße ebenso für die Beurteilung der Auswirkungen von präventiven und fördernden Interventionen [8‒9]. 4. Schließlich bilden ausgebildete und qualifizierte Fachleute die Grundlage für eine einwandfreie klinische Praxis ebenso wie für effektive Interventionen. Viele Jahre lang wurden die speziellen Fähigkeiten in Verbindung mit der Jugendmedizin und Jugendgesundheit nicht gelehrt und zwar weder während des Studiums noch im Rahmen der fachärztlichen Ausbildung oder der ärztlichen Weiterbildung. Das EuTEACH-Programm, das auf einer frei zugänglichen Website einsehbar ist, schlägt z. B. einen umfassenden Lehrplan mit Modulen vor, die unterschiedliche Bereiche der Jugendgesundheit behandeln und pädagogische Instrumente zur Verbesserung der Durchführung von derartigen Kursen enthalten [10]. Außerdem haben zahlreiche nationale Gesellschaften – zu denen die in deutschsprachigen Ländern beheimateten gehören – wissenschaftliche Tagungen eingeführt, an denen interessierte Fachleute teilnehmen, die ihre Kenntnisse und Fähigkeiten erweitern wollen und Ideen über die Vorgehensweise in bestimmten Situationen und Gebieten austauschen möchten. Es überrascht daher nicht, dass ein dringender Bedarf an spezifischen Ausbildungsinstrumenten besteht, mit deren Hilfe der neueste Stand der Jugendmedizin und die aktuellsten Informationen in diesem Bereich vermittelt werden können. Dies ist der Grund, warum ein Lehrbuch wie das vorliegende Nachschlagewerk von so großem Wert ist und sein Erscheinen zu begrüßen ist. Die Antworten auf die offenen Fragen im Bereich der Jugendgesundheit beschränken sich allerdings nicht nur auf das System der Gesundheitsversorgung. Die praktizierenden Fachleute können die Effektivität ihrer Interventionen verbessern, indem sie mit Fachleuten aus anderen Bereichen zusammenarbeiten, beispielsweise mit Sozialarbeitern, Lehrern sowie Erziehern, und indem sie Politiker und Entscheidungsträger dafür sensibilisieren, wie sich deren gesetzgeberische und umweltbezogene Entscheidungen auf die Gesundheit von Jugendlichen auswirken. Den Verfassern ist daher zu danken, dass sie sich mit ihrer Arbeit nicht nur an die Gesundheitsexperten richten, sondern auch an die zahlreichen Fachleute, die sich in der täglichen Versorgung von jungen Menschen engagieren. Prof. Dr. Pierre-André Michaud Multidisziplinäre Abteilung für die Gesundheit von Jugendlichen, Universitätsspital Lausanne, Schweiz
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IX
Vorwort Ein Wandel der Einsichten ist ohne Visionen nicht möglich ‒ Visionen, die Brücken bauen von der Gegenwart in die Zukunft. Sie gehen über die eher eindimensionale Definition von Gesundheit hinaus und wollen unser aller Erfahrung bündeln zum Wohle der Gesundheitsbelange der Jugendlichen. In der Arbeit mit Jugendlichen stehen die eigenen Lebensentwürfe und -vorstellungen immer wieder auf dem Prüfstand. Sowohl gewohnte Entwicklungen in der Familie als auch innerhalb unserer Gesellschaft werden hinterfragt. Auf diese Weise wird ein ständiger Erneuerungsprozess im Hinblick auf die Suche nach der besten Lösung in Gang gehalten. Dieses kritische Hinterfragen trifft im Besonderen auch den Bereich Gesundheit. In der Arbeit als Ärzte, Kinder- und Jugendtherapeuten, Lehrer und Betreuer zwingt der Umgang mit Jugendlichen, hinter die Kulissen und dabei gleichzeitig über den Tellerrand hinaus zu schauen. Erweiterte Kenntnisse und Kompetenzen sind erforderlich, um den psychosozialen Kontext, in dem die präsentierten Symptome stehen, zu erkennen. Jeder Fachbereich leistet dazu seinen Beitrag, der im Zusammenspiel Teil des Ganzen wird. Vordergründig scheint es sich bei den Jugendlichen um eine sehr gesunde Bevölkerungsgruppe zu handeln. Bei genauerem Hinsehen lassen sich allerdings Defizite im Gesundheitsstatus feststellen. Aufgrund tiefreichender Veränderungen in der Identitätserfahrung und ihres hohen Konfliktpotentials muss die Jugendzeit zudem als besonders vulnerable Phase betrachtet werden. Unsere Aufgabe ist es, den Jugendlichen zu helfen, die Phase der Destabilisierung und Veränderung zu überwinden und zu einem neuen positiven Körper- und Selbstbild zu finden, und sich nicht nur auf den rein somatischen Bereich zu beschränken. Dies erfordert allerdings ein medizinisches Umdenken, das die Lebenswelt der Jugendlichen bewusst wahrnimmt und mit einbezieht. Im Jugendalter wird deutlich, dass Gesundheit nicht nur körperliches, sondern auch seelisches und soziales Wohlbefinden meint. Gesundheit steht für ein positives Konzept, das in gleicher Weise die Bedeutung sozialer und psychischer Ressourcen betont wie die körperlichen Fähigkeiten. In diesem Alter gibt es ‒ vielleicht letztmalig ‒ die Chance, Gesundheitsbewusstsein zu fördern in Richtung auf ein individuelles positives Gesundheitskonzept. Die Gesundheitsförderung zielt auf einen Prozess, den Jugendlichen ein höheres Maß an Selbstbestimmung über ihre Gesundheit zu ermöglichen und sie damit zur Stärkung ihrer Gesundheit zu befähigen. Dies geht weit über einen rein medizinischen Ansatz hinaus und bedarf des Zusammenspiels verschiedener mit Jugendlichen arbeitender Disziplinen. Dieses Handbuch richtet sich daher an alle, die professionell für und mit Jugendlichen tätig sind. So multidisziplinär, wie das jugendmedizinische Betätigungsfeld sich darstellt, so multidisziplinär ist auch das Handbuch konzipiert. Es soll die Lebenswelt der Jugendlichen erfassen und beschreiben sowie auf die vielfältigen Fragen und Problempunkte von Jugendlichen eingehen. Darüber hinaus will es diese Arbeit ganz im praktischen Sinne als Nachschlagewerk mit zahlreichen Übersichten und Tabellen unterstützen. Die Herausgeber wollen dabei die vielen Facetten des »Jugendlichseins« sowohl vom Themenspektrum (Entwicklung, der Jugendliche in der Gesellschaft, der Jugendliche in der Praxis, spezielle Jugendmedizin, jugendspezifische Probleme, problemorientierte Jugendmedizin, Netzwerk, Beratung, Unterstützung, internationale Jugendmedizin) als auch vom Spektrum der vertretenen Fachdisziplinen (Pädagogen, Soziologen, Ärzte, Kinder- und Jugendpsychotherapeuten etc.) abbilden. Damit soll die Notwendigkeit der Netzwerkbildung bei der Betreuung von Jugendlichen deutlich gemacht und unterstützt werden. Jeder, der in der Betreuung von Jugendlichen in unterschiedlicher Weise tätig ist, wird Anregungen für seine tägliche Arbeit in diesem Buch finden und gleichzeitig in Problemfelder und Betreuungsstrukturen anderer Disziplinen Einblick erhalten. So soll dieses Lehrbuch nicht nur ein Handbuch sein für den täglichen Gebrauch, sondern auch die verschiedenen Disziplinen in ihrem Bemühen um die Versorgung und Betreuung von Jugendlichen zusammenführen und zu einer Gemeinschaft werden lassen. Für die Herausgeber war es zusätzlich bedeutsam, neben der Vielfalt der Facetten in der Betreuung von Jugendlichen auch die Leistungsfähigkeit der jugendmedizinischen Versorgung, das Wissen und die Erfahrung zu dokumentieren, um eine Grundlage zu bieten, Klinikerfahrung und Praxiswissen zu vereinen ‒ zwei Seiten der gleichen Medaille. Nur wenn es gelingt, zu einer echten Kooperation in Aus-, Weiter- und Fortbildung zu kommen, wird eine suffiziente jugendmedizinische Versorgungsstruktur geschaffen werden können. Dabei braucht es unbedingt das Wissen und die Erfahrung aller, in diesem Buch vertretenen Disziplinen. An dieser Stelle ist uns wichtig, Dank zu sagen. Dank in erster Linie allen Jugendlichen, die uns auf unserem bisherigen jugendmedizinischen Weg begleitet haben. Dank, dass sie unseren Rat gesucht haben, sich uns öffneten, uns vertrauten und uns Einblicke gaben in ihre Gedanken, uns mit ihren Meinungen konfrontierten, uns provozierten und uns halfen, zu einer hinterfragten kritischen Lösung zu kommen.
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Vorwort
Wir danken allen Autorinnen und Autoren, die bereit waren, neben ihrer täglichen Arbeit ihre Erfahrungen und ihr Wissen niederzuschreiben, um Andere daran in z. T. sehr persönlichen Artikeln teilhaben zu lassen. Sie alle haben geholfen, die unterschiedlichen Facetten in der Betreuung von Jugendlichen deutlich zu machen und mit umsetzbarem Wissen zu füllen. Wir hoffen, damit das »Anderssein von Jugendlichen« deutlicher und verständlicher gemacht zu haben. Danken möchten wir auch dem Springer-Verlag, Frau Kröning, Frau Zech und Frau Scheddin, die uns sehr geholfen haben, dieses Buch zu einem guten Abschluss zu bringen. Ein weiterer Dank gilt unserer Lektorin, Frau Bettina Arndt, die mit sehr viel Gespür und Engagement uns unterstützt und beraten hat. Der Verlagsleitung danken wir, dass sie sich gegenüber unserem nimmer müden Anmahnen der Interdisziplinarität verständnisvoll zeigte. »Die stärkste Musik ist die, die man macht, weil man sie mit anderen teilen will.« Herbie Hancock Bernhard Stier, Nikolaus Weissenrieder Butzbach ‒ München, im Mai 2005
XI
Inhaltsverzeichnis 4.5 4.5.1 4.5.2 4.6
Entwicklung von Jugendlichen Sind Jugendliche anders? . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1 1.1 1.1.1 1.1.2 1.1.3 1.1.4 1.1.5 1.1.6 1.2 1.2.1 1.3 1.3.1 1.4
1.4.1 1.4.2 1.4.3 1.5 1.6 1.7
Körperliche Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . Hormonale Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gonadale Hormonachse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wachstumshormonachse . . . . . . . . . . . . . . . . . . Insulin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Leptin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Melatonin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pheromone . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Körperliche Entwicklung bei Jungen . . . . . . . . . . . Jungentypische Klagen und Fragen – Beispiele . . . . Körperliche Entwicklung bei Mädchen . . . . . . . . . . Mädchentypische Klagen und Fragen . . . . . . . . . . Pubertätsbedingte Veränderungen in Körpergewebszusammensetzung und Körperfunktion . . . . . . . . . Zahlen und Fakten (nach Joffe et al. 2003) . . . . . . . . Allgemein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mädchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Markante Unterschiede beider Geschlechter . . . . . . Säkulare Akzeleration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Berechnung der Zielgröße . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Internetadressen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3 5
. . . . . . . . . . . .
6 6 6 6 8 8 8 8 8 9 10 12
. . . . . . . . . .
13 13 13 13 14 14 14 14 15 15
2
Psychosoziale Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . 16
2.1 2.2 2.3 2.4 2.5
Entwicklungsaufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Phasen der Adoleszenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hirnorganische Veränderungen . . . . . . . . . . . . . . Normabweichungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Problempunkte und ihre Beziehung zum pubertären Entwicklungsstadium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5
4 4.1 4.2 4.3 4.4
. . . .
16 17 18 19
. .
20 20
Identität und Körperbild: Bedeutung und Einfluss der Kategorie Geschlecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Gesundheit und Geschlecht . . . . . . . Identität im gesellschaftlichen System der Zweigeschlechtlichkeit. . . . . . . . Der Körper als kulturelles Zeichen . . . Die Macht der Ideale . . . . . . . . . . . Ausblick in die Praxis . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . .
21
. . . . .
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21 22 22 25 25
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26 26 26
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27 28
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Sexualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sexualität heute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jugendsexualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geschlechtsspezifische Identität – Mädchensexualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geschlechtspezifische Identität – Jungensexualität .
. . . . .
4.6.1 4.6.2 4.6.3 4.6.4 4.7
Sexuelle Entwicklung und Sexualverhalten Sexuelle Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . Altersstufen der Entwicklung . . . . . . . . . Einfluss der Familie, Schule und Peergroup auf das Sexualverhalten . . . . . . . . . . . . Einfluss der Familie . . . . . . . . . . . . . . . Einfluss der Schule . . . . . . . . . . . . . . . . Rolle der Medien . . . . . . . . . . . . . . . . . Einfluss der Peergroup . . . . . . . . . . . . . Entwicklungsaufgaben im Jugendalter . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
29 29 29
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30 30 30 30 31 31 31
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Der Jugendliche in der Gesellschaft 5
Jugendliche in der Gesellschaft – Jugend und Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Eine Generation »selbstbewusster Macher« und »pragmatischer Idealisten«: Bestätigung für eine aktivierende Jugendpolitik . . . . . . . . . . Mädchen und junge Frauen haben die Nase vorn . Familie und Karriere: Die Synthese von alten und neuen Werten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aktivierung und Integration bleiben wichtige politische Ziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stärkung von Kindern und Jugendlichen – Stärkung der Erziehungsverantwortung der Eltern Verbesserung von Bildung und Betreuung – Investition in die Zukunft . . . . . . . . . . . . . . . . Jugendliche wollen sich gesellschaftlich breit engagieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Mehrzahl der Jugendlichen steht in der Mitte unserer Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Politikferne begegnen durch mehr Beteiligungsmöglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . Leitlinien der Kinder- und Jugendpolitik . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6 6.1 6.2 6.3 6.4 6.5
. . . . . .
35 35
. . .
35
. . .
35
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36
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36
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36
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36
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37 37 37
Veränderungen der Lebensbedingungen . . . . Die »Doppelrolle« der Familie . . . . . . . . . . . . . . . Der wachsende Stellenwert der Schule . . . . . . . . . Freizeit ist Konsumzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Partnerschaften als Schritt in das Erwachsenenalter Die Jugendphase als Phase der Veränderungen . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . .
. . . . . . .
38 38 38 39 39 39 40
7
Problemverhalten, Entwicklungsprobleme und Gesundheitsversorgung . . . . . . . . . . . . . . . 41
7.1 7.2 7.2.1 7.2.2
Aufbau von Bewältigungsstrategien . . Bedingungen für Problembelastungen . Deviantes und kriminelles Verhalten . . Drogenkonsum . . . . . . . . . . . . . . . . Tabak und Alkohol . . . . . . . . . . . . . . Illegale Drogen . . . . . . . . . . . . . . . .
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41 41 41 42 42 43
XII
Inhaltsverzeichnis
7.3
Prävention und Gesundheitsförderung im Jugendalter . . . . . . . . . . . . . . . . Strukturen der Gesundheitsversorgung Ärzte in der Schule . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7.3.1 7.3.2
8 8.1 8.1.1 8.1.2 8.1.3
8.1.4 8.1.5 8.1.6 8.2 8.2.1 8.2.2
8.3 8.3.1 8.3.2 8.3.3 8.3.4 8.3.5 8.3.6 8.3.7 8.3.8 8.3.9 8.3.10 8.4 8.5 8.6 8.7 8.8 8.9
10.2.1 . . . .
. . . .
. . . .
. . . .
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43 43 44 45
Medien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Medien und Mediennutzung . . . . . . . . . . . . . . . Was wollen Jugendliche vor allem sehen? . . . . . . . Fernsehkonsum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Computernutzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sozioökonomische Unterschiede in Fernsehkonsum und Computernutzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Internetnutzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Medienorte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Handy . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Medien und Risikoverhalten . . . . . . . . . . . . . . . . Grundsätzliches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Auswirkungen von Mediengebrauch auf den Organismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Haltungsschäden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Motorische Dystonie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schädigung durch Lärm . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Rolle der Medien bei Störungen . . . . . . . . . . Nervosität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wahrnehmungsstörungen, Verhaltensstörungen, AD(H)S . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kommunikationsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . Aggressionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gewalt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mediensucht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychische und physische Auswirkungen . . . . . . . Übergewicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sexualität, Geschlechterrolle, Schönheitsideal . . . . Zigaretten und Alkohol . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werbung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Medien als Chance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was ist zu tun? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tipps und Hilfen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beachtenswertes zum Internet . . . . . . . . . . . . . . Lehrer und Medien 2003 – Nutzung, Einstellung und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . .
. . . . .
47 47 48 48 48
. . . . . .
. . . . . .
48 48 49 49 50 50
. . . . . .
. . . . . .
51 51 51 52 52 52
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. . . . . . . . . . . . . .
52 52 53 53 53 54 54 54 54 54 55 55 56 56
. . . . . .
56 56 57
9
Jugend und Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58
9.1 9.2 9.3
Abschluss des Behandlungsvertrages . . . . . . . . . . . Einwilligungsfähigkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Besondere Behandlungssituationen . . . . . . . . . . . .
58 58 59
10
Ausländische Jugendliche . . . . . . . . . . . Probleme der Integration . . . . . . . . . . . . . Problemorientierte Geschichte der Migration nach Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die gegenwärtige Integrationsdebatte . . . . . Nation-Building und Integration . . . . . . . . . Widerstände gegen Integration . . . . . . . . . Dialog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychosoziale Probleme . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . .
60 60
. . . . . . . .
60 61 61 61 62 62 62 63
10.1 10.1.1 10.1.2 10.1.3 10.1.4 10.1.5 10.1.6 10.2
. . . . . . . .
. . . . . . . .
. . . . . . . .
. . . . . . . .
. . . . . . . .
10.2.2 10.2.3
10.2.4
10.3 10.3.1
10.3.2
10.4
10.4.1 10.4.2 10.4.3 10.4.4 10.4.5 10.4.6 10.4.7 10.4.8
11 11.1 11.1.1
11.1.2 11.2 11.2.1 11.2.2 11.2.3
Psychosoziale Beurteilung . . . . . . . . . . . . . . . . Gesundheitsrelevante Faktoren . . . . . . . . . . . . Risikofaktoren für psychosozialbedingte Gesundheitsprobleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schutzfaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prävention vor möglichen Problemen . . . . . . . . Migrationsanamnese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Darstellung der Probleme anhand von Fällen . . . . Beschwerdebilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychosomatische Beschwerden . . . . . . . . . . . . Psychische Beschwerdebilder . . . . . . . . . . . . . . Suizid . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sexualverhalten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Drogenkonsum (Suchtverhalten) von Migranten-Jugendlichen . . . . . . . . . . . . . . Prävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verbesserung der Arzt-Patient-Beziehung durch interkulturelle Kompetenz . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Medizinische Probleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorgehensweise bei der Erstvorstellung . . . . . . . Anamnese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Häufig vorkommende medizinische Infektionen und Probleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Krankheitsspektrum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Importierte Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . Symptome ausgewählter Erkrankungen bei Migranten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wurminfektionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Genetische Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sexualität am Beispiel muslimischer Jugendlicher . Erfahrungen einer Berliner Praxis für Frauenheilkunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprachprobleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gründe für den Arztbesuch . . . . . . . . . . . . . . . Begleitpersonen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unwissenheit und Wunsch nach Aufklärung . . . . Wie, wann und von wem wurde aufgeklärt? . . . . Verhütung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kohabitarche (»das erste Mal«) . . . . . . . . . . . . . Sexualität und Ehre in der muslimischen Familie . Jungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mädchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . .
63 63
. . . . . . . . . .
. . . . . . . . . .
64 64 64 64 65 66 66 67 67 67
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68 68
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68 69 69 70 70
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70 71 71
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71 71 72 76 76
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76 76 77 77 77 77 78 78 79 79 80 80
Behinderte Jugendliche . . . . . . . . . . . . . . . . . Probleme der Integration . . . . . . . . . . . . . . . . . Ursachen für Probleme bei der Integration . . . . . . Im Elternhaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . In der Schule. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . In der Freizeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bei der Ausbildung und am Arbeitsplatz . . . . . . . . Durch die Persönlichkeit des Jugendlichen . . . . . . Wodurch Integration erleichtert wird . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychosoziale Probleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . Behinderte Jugendliche in der Pubertät . . . . . . . . Die Pubertät bei körperbehinderten Jugendlichen: Körper – Gefühl – Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . Ablösung vom Elternhaus . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . .
81 81 81 82 82 82 83 83 84 84 84 84
. . . .
84 85
. . . . . . . . . .
. . . . .
XIII Inhaltsverzeichnis
11.2.4 11.3 11.3.1 11.3.2
11.3.3
11.4 11.4.1 11.4.2 11.4.3 11.4.4 11.4.5
11.5 11.5.1
11.5.2
11.5.3
Sexualität – ein Grundbedürfnis . . . . . . . . . . . . . . . 86 Medizinische Probleme am Beispiel Körperbehinderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 Definition der Körperbehinderung. . . . . . . . . . . . . . 86 Jugendalter – eine sensible Phase . . . . . . . . . . . . . . 87 Entwicklungsspezifische Komplikationen . . . . . . . . . 88 Schule und berufliche Eingliederung . . . . . . . . . . . . 89 Bildung eines Gesundheitsbewusstseins . . . . . . . . . . 91 Ärztliche Versorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 Versorgungsangebot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 Ambulante Versorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 Inhalte der ärztlichen Versorgung . . . . . . . . . . . . . . 92 Stationäre Versorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 Der behinderte Jugendliche – Medizinische Probleme am Beispiel des Down-Syndroms . . . . . . . . . . . . . . 95 Voraussetzungen für eine medizinische Betreuung . . . 96 Allgemeine medizinische Grundregeln . . . . . . . . . . . 96 Vorsorgeuntersuchungen bei Jugendlichen mit Down-Syndrom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 Kritische Übergangsphase vom Schulalter ins Berufsleben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 Sexualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 Sport und körperliche Aktivität . . . . . . . . . . . . . . . . 100 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 Nützliche Adressen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 Sexualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 Die sexuelle Entwicklung geistig behinderter Kinder und Jugendlicher. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Beziehung zu den Eltern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Körperlicher Kontakt und Kognition . . . . . . . . . . . . . 101 Sexualerziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Rahmenbedingungen für Sexualität . . . . . . . . . . . . 101 Die sexuelle Entwicklung körperlich behinderter Kinder und Jugendlicher. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 Psychomotorische Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . 102 Körperkontakt und Körperideal . . . . . . . . . . . . . . . 102 Mangelndes Wissen über sexuelle Bedürfnisse . . . . . . 102 Die sexuelle Entwicklung chronisch kranker Kinder und Jugendlicher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103
12.3.1 12.4 12.5 12.5.1 12.5.2 12.6 12.7 12.8 12.9 12.9.1 12.9.2 12.10 12.11 12.12 12.12.1 12.12.2 12.12.3 12.12.4 12.12.5
12.13
. . . . . . . . .
. . . . . . . . .
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107 107 107 107 108 108 108 108 109
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109 109 110 110 110 111 111 111 112 112 112 113 113 113 113 113 114 114 114 114 115 115 115
Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 Gesprächsführung mit Jugendlichen als originäre Aufgabe des Kinder- und Jugendarztes . . . . . . . . . . Grundlagen der Gesprächsführung mit Jugendlichen . Sender und Empfänger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Empathie, Akzeptanz und Authentizität als Bedingung für eine Gesprächsführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Selbstöffnung und Selbstauseinandersetzung als Voraussetzung für eine Gesprächsführung . . . . . . Aktives Zuhören als emphatisches Werkzeug für eine Gesprächsführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zielgruppe: Jugendliche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kurzanleitung für den Jugendarzt zur Selbstreflexion Gezielte Fragen zur Selbstreflexion . . . . . . . . . . . . . Selbstpräsentation und Selbstreflexion . . . . . . . . . . Kurzanleitung für die Gesprächsführung mit Jugendlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wirksame Bedingungen für die patientenzentrierte Gesprächsführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gesprächsbeginn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schwierige Gesprächssituation . . . . . . . . . . . . . . . . Gesprächsabschluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rahmenbedingungen für die Gesprächsführung . . . . Beziehungsdreieck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
13.2
13.3 13.4
13.5
13.6
12.1 12.1.1 12.1.2 12.1.3 12.1.4 12.1.5 12.2 12.3
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
13
Grundlagen jugendmedizinischer Tätigkeit in der Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 Organisation, Jugendsprechstunde, Tipps und Hilfen . . . . . . . . . . . . . . . . Zugangsbarrieren für den Jugendlichen . Erreichbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . Finanzierbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . Terminvergabe . . . . . . . . . . . . . . . . . Empfang/Wartebereich . . . . . . . . . . . . Der Arzt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fachliche Voraussetzungen . . . . . . . . . Anmeldung/Terminvergabe . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
13.1
Der Jugendliche in der Praxis 12
Tipps für die Arzthelferin bei der telefonischen Terminvergabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jugendsprechstunde . . . . . . . . . . . . . . . . . Praxisausstattung/Praxisräume . . . . . . . . . . . Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Untersuchungsraum . . . . . . . . . . . . . . . Der akut kranke Jugendliche . . . . . . . . . . . . Der chronisch kranke Jugendliche . . . . . . . . . Der jugendliche Patient kommt mit . . . . . . . . oder ohne Erziehungsberechtigten . . . . . . . . Die Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundsätzliches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gespräch am Ende der Untersuchung . . . . . . Der Faktor »Zeit« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beiwerk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tipps zur Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . Akzeptanz der Person . . . . . . . . . . . . . . . . . Rolle des Behandlers . . . . . . . . . . . . . . . . . Kritische Punkte der Kommunikation . . . . . . . Hilfreiche Interviewtechniken . . . . . . . . . . . . Das Gespräch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gesprächablauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Problempunkte in der Betreuung . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
14 14.1 14.2 14.3 14.4 14.5 14.6
Psychosoziale Einfühlung und Begleitung . . . . Der Jugendliche: Veränderung auf allen Ebenen . . . Normalität und Krankheit . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Symptom und die Vielfalt seiner Bedeutungen . Die Rolle der Gleichaltrigen . . . . . . . . . . . . . . . . Umgang mit der Ablösungsdynamik in der Familie . Schwierigkeiten im Zugang zum Jugendlichen. . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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116 116 116 116 116 116 117 117 117 117 117 117 117 118 119 119 119 119 120 120 120 121 122 122 123 124
XIV
Inhaltsverzeichnis
15
Der »kranke« Jugendliche . . . . . . . . Fragestellungen in der Arztpraxis . . . . . Normal oder abnormal? . . . . . . . . . . . Akute Krankheit . . . . . . . . . . . . . . . . Chronische Krankheit . . . . . . . . . . . . . Psychische Probleme . . . . . . . . . . . . . Der Untersuchungsgang . . . . . . . . . . . Die erste Begegnung mit dem Patienten im Wartezimmer . . . . . . . . . . . . . . . . Die Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . Das Gespräch mit dem Jugendlichen . . . Das Gespräch mit dem Jugendlichen und seinen Eltern . . . . . . . . . . . . . . . Abschließende Bemerkungen . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
15.1 15.1.1 15.1.2 15.1.3 15.1.4 15.2 15.2.1 15.2.2 15.2.3 15.2.4 15.3
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125 125 125 125 125 126 127
19.1.5 . . . . . . . . . 129 . . . . . . . . . 130 . . . . . . . . . 131
16
Jugendgesundheitsuntersuchung J1 . . . . . . . . . . 132 Akzeptanz der J1 bei Jugendlichen Durchführung der J1 . . . . . . . . . Beispiel für eine J1 . . . . . . . . . . . Bisherige Ergebnisse der J1 . . . . . Steigerung der Inanspruchnahme . Medienthemen bei der J1 . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . .
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19.1 19.1.1 19.1.2 19.1.3 19.1.4
. . . . . . . . . 127 . . . . . . . . . 128 . . . . . . . . . 129
16.1.1 16.1.2 16.1.3 16.1.4 16.1.5 16.2
. . . . . . .
19
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132 132 133 137 137 137 138
19.2 19.3 19.4 19.5
17
Jugendarbeitsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139
17.1
Die Bedeutung von Jugendarbeitsschutzuntersuchungen . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Jugendarbeitsschutzgesetz . . . . . . . Fragebogen Vorsorgemaßnahmen . . . . . Die Jugendarbeitsschutzuntersuchung. . . Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Berufskrankheiten . . . . . . . . . . . . . . . . Lärmschwerhörigkeit . . . . . . . . . . . . . . Atopiker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hebe- und Tragearbeiten . . . . . . . . . . . Behinderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hilfreiche Adressen . . . . . . . . . . . . . . .
17.2 17.3 17.4 17.4.1 17.4.2 17.4.3 17.4.4 17.4.5
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139 139 140 140 141 141 142 142 142 143 143 143
19.5.1 19.6 19.6.1 19.7
20 20.1 20.2 20.3
Spezielle Jugendmedizin 18 18.1 18.2 18.3 18.3.1 18.3.2 18.3.3
18.4 18.5 18.6 18.7
Asthma bronchiale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Empfehlungen zum therapeutischen Management . Compliance? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Empowerment und Selbständigkeit . . . . . . . . . . . Motivation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapieziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Patientenschulung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Settingbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalte der Schulung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Berufsfindung und Berufswahl . . . . . . . . . . . . . . Beziehungen und Partnerschaft . . . . . . . . . . . . . Sport . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jugendtypische Risikofaktoren . . . . . . . . . . . . . . Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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147 147 147 151 151 151 152 152 152 152 153 154 154 154 154
20.3.1 20.3.2 20.3.3 20.3.4 20.3.5 20.3.6 20.4 20.4.1 20.4.2 20.4.3 20.5 20.6 20.7
Diabetologie und Schilddrüse . . . . . . . . . . . . Typ 1-Diabetes mellitus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Epidemiologie und Ätiologie . . . . . . . . . . . . . . . Serologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Genetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnose und Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Früherkennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ersteinstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Insulinsubstitution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wahl der Insulintherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zielwerte und Überwachung der Blutglukose . . . . Probleme und Anpassung der Insulintherapie in der Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unregelmäßiges Glukoseprofil und schlechte Eigenkontrolle des Blutzuckerspiegels . . . . . . . . . Ernährung und Sport . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychosoziale Umstände . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pubertät . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sexualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Adipositas als Auslöser von Stoffwechselstörungen bei Jugendlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diabetes als Polyendokrinopathie . . . . . . . . . . . . Pubertätsstruma (Adoleszentenstruma, Struma juvenilis) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unterfunktion der Schilddrüse und Hashimoto-Thyreoiditis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Überfunktion der Schilddrüse (Basedow-Hyperthyreose) . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schlussbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aktuelle Leitlinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einrichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . .
Wachstumsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . Welche Faktoren bestimmen die Körpergröße? . Normales Wachstum und Körpergröße bei Adoleszenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Methoden zur Evaluierung des Wachstums bei Adoleszenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Körperhöhe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wachstumsgeschwindigkeit . . . . . . . . . . . . . . Körpergewicht, Körperproportionen . . . . . . . . Pubertätsentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . Knochenalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Labordiagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Normvarianten des Wachstums . . . . . . . . . . . Konstitutionelle Entwicklungsverzögerung (KEV) Familiärer Kleinwuchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konstitutioneller Großwuchs . . . . . . . . . . . . . Adipositas, Adiposogigantismus . . . . . . . . . . . Adipositas, Kleinwuchs . . . . . . . . . . . . . . . . . Anorexie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Internetadressen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . . . .
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155 155 155 156 156 156 156 156 157 157 158
. . 159 . . . . .
. . . . .
159 159 160 160 160
. . 161 . . 161 . . 162 . . 162 . . 163 . . . . . .
163 163 164 164 164 164
. . . . 165 . . . . 165 . . . . 165 . . . . . . . . . . . . . . . .
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. . . . . . . . . . . . . . . .
166 166 166 166 166 166 167 167 167 168 168 169 169 170 170 170
21
Kardiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171
21.1
Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene mit anhaltenden oder drohenden kardialen Problemen . . 171 Anhaltende Probleme durch angeborene Herzfehler . . 171
XV Inhaltsverzeichnis
21.2
21.3
21.4
21.5 21.6 21.7
22 22.1 22.2 22.3
22.4 22.5 22.5.1
22.6 22.7
ASD (7–10%), VSD (25–30%), Pulmonalstenose (3–9%), persistierender Ductus (7–8%) . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Aortenisthmusstenose (5–8%) . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Aortenstenose (3–8%), Fibromuskuläre Subaortenstenose (1%) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Korrigierte Fallot’sche Tetralogie (5–8%) . . . . . . . . . . 172 Fehlbildungen der Atrioventrikularklappen (3–9%) . . . 172 Transposition der großen Arterien – TGA (4–6%) . . . . 173 Anhaltende Probleme durch angeborene Herzfehler . . 173 Patienten mit »Fontan-Zirkulation« . . . . . . . . . . . . . 173 Kardiomyopathien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Ebstein-Anomalie (0,4–1%) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Angeboren korrigierte Transposition der großen Arterien (1%) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Anhaltende Probleme durch Herzfehler mit Sonderstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 Patienten mit nicht behebbarer Zyanose, EisenmengerSyndrom, pulmonale arterielle Hypertonie . . . . . . . . 174 Herztransplantierte Patienten . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 Anhaltende Probleme durch erworbene Herzfehler und andere Herzerkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . 174 Entzündliche Herzerkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . 174 Herzrhythmusstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Marfan-Syndrom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Ullrich-Turner-Syndrom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Spiralen, Schirmchen, Stents . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 Vorprogrammierte Spätschäden durch Adipositas, Inaktivität und arterielle Hypertonie . . . . . . . . . . . . 176 Aspekte hinsichtlich Schule, Sport, Beruf, Schwangerschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 Sport . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 Beruf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 Familienplanung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 Internetadressen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 Hilfreiche Informationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178
Epilepsie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klinik – spezielle Krankheitsbilder . . . . . . . . . . . . . Juvenile Absence-Epilepsie . . . . . . . . . . . . . . . . . Juvenile myoklonische Epilepsie (Impulsiv-Petit-Mal, Herpin-Janz-Syndrom) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufwach-Grand-mal-Epilepsie . . . . . . . . . . . . . . . Temporallappenepilepsie . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Endokrinologische Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . Interaktion von neurogenen und endokrinen Mechanismen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hormonabhängige Schwankungen der Anfallsfrequenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fertilitätsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sicherung der oralen Kontrazeption . . . . . . . . . . . Langzeitprognose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Soziale Beratung und Betreuung . . . . . . . . . . . . . . Schule und Beruf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sport . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Führerschein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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179 179 179 179 179
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180 180 180 180 181 181
Impfungen und Reisen . . . . . . Medien . . . . . . . . . . . . . . . . Drogen . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . Bücher, Broschüren und Videos . Nützliche Adressen . . . . . . . .
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182 183 183 183 184 184
23
Onkologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185
23.1 23.1.1 23.1.2 23.2 23.2.1 23.2.2 23.2.3
Epidemiologie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Häufigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ursachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klinik der bösartigen Erkrankungen . . . . . . . Leitsymptome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anamnese und Befunderhebung . . . . . . . . Standarddiagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . Labordiagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Spezifische Techniken . . . . . . . . . . . . . . . . Operative Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . Einzelne Krankheitsbilder . . . . . . . . . . . . . Leukämien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klinik der akuten Leukämien . . . . . . . . . . . Anamnese und körperliche Untersuchung . . Diagnostik der Leukämien . . . . . . . . . . . . . Tumoren des ZNS . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klinik der ZNS-Tumoren . . . . . . . . . . . . . . Diagnostik bei ZNS-Tumoren . . . . . . . . . . . Therapie der ZNS-Tumoren . . . . . . . . . . . . Spätfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Solide Tumoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Allgemeine Aspekte bei Tumorerkrankungen Prognose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Begleittherapien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Begleitende psychosoziale Maßnahmen . . . . Schmerztherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Spätfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sterbebegleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Internetadressen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
23.3 23.3.1
23.3.2
23.3.3 23.4 23.4.1 23.4.2 23.4.3 23.4.4 23.4.5 23.4.6
24 24.1 24.1.1 24.1.2
24.2 24.2.1
. 181
24.2.2
. . . . . . . .
25.1 25.2
181 181 181 182 182 182 182 182
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25
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185 185 185 185 185 185 185 185 186 187 187 187 187 188 188 188 188 188 188 188 189 189 189 189 189 189 190 190 190 190 190
Bewegungsapparat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Allgemeiner Untersuchungsgang . . . . . . . . . . . . . . Anamnese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Befunderhebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Untersuchung des Bewegungsapparates . . . . . . . . . Labordiagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bildgebende Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einzelne Krankheitsbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entzündliche Erkrankungen an Knochen und Gelenken Akute hämatogene Osteomyelitis (M 86.09) . . . . . . . Akute und chronische Arthritis . . . . . . . . . . . . . . . . Orthopädische Erkrankungen nach Regionen . . . . . . Wirbelsäule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hüfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Knieschmerzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Internetadresse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
192 192 192 192 192 193 193 193 193 193 194 195 195 196 196 197 197
Rehabilitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 Wo stehe ich? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 Eine Reha muss Spaß machen – und ernsthaft sein! . . 198
XVI
Inhaltsverzeichnis
25.3 25.4
Wo steht der Anspruch auf eine Rehabilitation? . . . . Welche übergeordneten Ziele verfolgt eine Rehabilitation? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was sind die Voraussetzungen für eine Rehabilitation? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was ist die Rehabilitationsprognose? . . . . . . . . . . . Wie lange dauert eine Rehabilitation? . . . . . . . . . . Was ist mit Schule?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gibt es Berufsberatung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wie werden Rehabilitationsdiagnosen beschrieben? . Vernetzung ist wichtig! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Infos – wo? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wie und wo muss der Antrag eingereicht werden? . . Leitlinien für Experten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rückblick und Kick für »Neue«! . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Internetadressen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
28.1.4 28.1.5 28.1.6 28.1.7 28.1.8 28.1.9 28.1.10 28.2 28.2.1 28.2.2 28.2.3 28.2.4 28.2.5 28.2.6 28.2.7 28.2.8 28.2.9 28.2.10 28.3
Krankheitsverlauf . . . . . . . . . . . . . . Komorbidität . . . . . . . . . . . . . . . . Ursachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Magersüchtigen . . . . . . . . . . . . Medizinische Komplikationen . . . . . Magersüchtige in der ärztlichen Praxis Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bulimia nervosa . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . Epidemiologische Daten . . . . . . . . . Krankheitsverlauf . . . . . . . . . . . . . . Komorbidität . . . . . . . . . . . . . . . . Ursachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bulimisch Kranke . . . . . . . . . . . . . . Medizinische Komplikationen . . . . . Bulimisch Kranke in der Praxis . . . . . Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapiekonzept des TCE . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Jugendspezifische medizinische Probleme
29
26
Störungen in der Pubertät . . . . . . . . . . . . . . . . . 205
29.1 29.2 29.3
26.1 26.1.1 26.1.2 26.2 26.2.1 26.2.2 26.2.3
Psychische Veränderungen . . . . . . . . . . . . . . Pubertas praecox . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pubertas tarda . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Körperliche Veränderungen . . . . . . . . . . . . . . Abweichungen vom Pubertätsverlauf . . . . . . . Die verfrühte Pubertät . . . . . . . . . . . . . . . . . Die verspätete Pubertät . . . . . . . . . . . . . . . . Mädchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konstitutionelle Entwicklungsverzögerung (KEV) Jungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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205 205 205 206 206 206 207 207 208 208 210
Adipositas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Definitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Adipositas als Krankheit . . . . . . . . . . . . Einschränkungen der Teilhabe am sozialen Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ätiologie und Genese . . . . . . . . . . . . . . Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Internetadressen . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kriterien der International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) .
Haut und Haare . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Akne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Atopisches Ekzem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Differenzialdiagnose Handekzem . . . . . . . . . . Atopisches Ekzem und Berufswahl . . . . . . . . . Alopecia areata . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dekorativer Körperschmuck . . . . . . . . . . . . . . Piercing . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tätowierungen, Tatoos und Permanent-Make-up Herpes simplex . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Herpes simplex recidivans . . . . . . . . . . . . . . . Hyperhidrosis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Keratosis pilaris . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nävi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Striae distensae . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Warzen, Verrucae planes iuveniles . . . . . . . . . . Warzen, Verrucae vulgares . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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211 211 212 213 213 214 214 215 215 215 216 216 216 216 217 217 217 218
Essstörungen . . . . . . Anorexia nervosa . . . . . Einleitung . . . . . . . . . Definition . . . . . . . . . Epidemiologische Daten
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219 219 219 219 220
25.5 25.6 25.7 25.8 25.9 25.10 25.11 25.12 25.13 25.14 25.15
27 27.1 27.2 27.2.1 27.2.2 27.3 27.4 27.4.1 27.4.2 27.5 27.5.1 27.6 27.7 27.8 27.9 27.10 27.11
28 28.1 28.1.1 28.1.2 28.1.3
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. 198 . 199 . . . . . . . . . . . . .
199 199 199 200 200 200 200 201 201 201 201 201 201
29.4 29.5 29.6 29.7 29.8
30 30.1 30.1.1 30.1.2
30.2
30.2.1
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220 221 221 221 223 224 224 225 225 225 226 226 226 226 226 227 227 227 227 228
. . . . . . . . 230 . . . . . . . . 230 . . . . . . . . 230 . . . . . . . . .
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232 232 233 235 237 241 242 242 242
. . . . . . . . 242
Somatisierungsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 Somatisierungsstörungen und Pubertät . . . . . . . . . . 243 Somatisierungsstörungen und Lebenszyklus (Pubertäts- und Adoleszenzkrise) . . . . . . . . . . . . . . 243 Krankheit als Folge blockierter Autonomieentwicklungen – blockierte Autonomieentwicklung als Folge ungelöster familiärer Beziehungsprobleme . . 243 Von der individuum- und organorientierten zur biopsychosozialen, beziehungs- und familienorientierten Medizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 Vom Individuum zum Familiensystem . . . . . . . . . . . 244 Vom psychophysiologischen zum interpersonellen Konzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 Vom verhaltenstherapeutischen zum systemischen Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 Von der Schmerzanamnese zur Schmerzgeschichte . . 245 Wege zur Perspektivenerweiterung in der psychosomatischen Medizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 Erweiterung der Sichtweise I: Zwischen Bedingungsund Bedeutungskontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 Das Symptom als »Funktion« und Ausdruck komplexer Wechselwirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . 246 Erweiterung der Sichtweise II: Unterschiede, die einen Unterschied machen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246
XVII Inhaltsverzeichnis
30.3 30.3.1 30.3.2
30.3.3
30.3.4 30.3.5 30.4 30.4.1 30.5 30.6 30.6.1 30.7 30.7.1 30.7.2 30.8 30.8.1 30.8.2 30.8.3 30.8.4 30.8.5 30.9
31 31.1 31.1.1 31.1.2
31.1.3 31.1.4 31.1.5 31.1.6 31.1.7 31.1.8 31.2 31.2.1 31.2.2 31.3 31.3.1 31.3.2 31.3.3 31.4 31.4.1 31.4.2
Integration medizinischer, psychotherapeutischer und familientherapeutischer Erfahrungen . . . . . . . . . . . . Stellenwert der Familiendiagnostik und Familientherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Auf dem Weg zu einer Familienmedizin . . . . . . . . . . Definition der Familienmedizin . . . . . . . . . . . . . . . . Ziele einer systemischen Familienmedizin . . . . . . . . . Kooperationsmodelle zwischen Pädiatrie und Psychotherapie – von der Rollenkompetenz zur Fach- und Teamkompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . Ein psychosomatisches Modell – Integration unterschiedlicher Krankheitsmodelle . . . . . . . . . . . . Somatisierungsprozess als Wechselwirkung zwischen Patient, Familie und Expertensystem . . . . . . . . . . . . Stellenwert der Familiendiagnostik und Familientherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hypothesen über familienbedingte Einflüsse . . . . . . . Familiäre Dynamik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klinik der Somatisierungsstörungen im Jugendalter . . Neuere epidemiologische Daten . . . . . . . . . . . . . . . Leitlinien für Diagnostik und Therapie . . . . . . . . . . . Dialog über subjektive Krankheitskonzepte als idealer Einstieg in ein familienorientiertes Gespräch . . Von der medizinischen zur familiendynamischen Struktur des Erstgesprächs . . . . . . . . . . . . . . . . . . Spezifische Themen bei Somatisierungsstörungen in der Pubertät . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Autonomie des Jugendlichen und Kompetenz der Eltern als zentrale Entwicklungs- und Heilfaktoren Arzt/Therapeut als neutraler Moderator in Ablösungskrisen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fähigkeit der Eltern, dem Jugendlichen Autonomie und Selbstverantwortung zu ermöglichen . . . . . . . . Kindheit hat Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bedeutung des Vaters als »bedeutsamen Dritten« . . . . Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Jugendgynäkologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Brust . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Untersuchung der Brust . . . . . . . . . . . . . . . . . Asymmetrien der Brust . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thelarche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Asymmetrie, Mammahypoplasie, Mammahyperplasie Entwicklungsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fehlbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mastitis non puerperalis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mastodynie, Mastopathie . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mammatumoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mammapiercing . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Behaarung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verstärkte Behaarung – Hirsutismus . . . . . . . . . . . . Diagnostik und Therapie von Erkrankungen mit verstärkter Behaarung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Genitale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . FAQ’s (Häufige Fragen von Jugendlichen) . . . . . . . . Labien und Klitoris . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Veränderungen an der Vulva . . . . . . . . . . . . . . . . Der Zyklus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Oligomenorrhoe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Polymenorrhoe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . .
246 247 247 247 247
247
31.4.3 31.4.4 31.4.5 31.4.6 31.4.7 31.4.8 31.5 31.5.1 31.5.2 31.5.3
Metrorrhagien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Juvenile Blutungsstörung, Follikelpersistenz . . . Hypermenorrhoe und Hypomenorrhoe . . . . . . Dysmenorrhoe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prämenstruelles Syndrom . . . . . . . . . . . . . . . Amenorrhoe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unterbauchschmerzen . . . . . . . . . . . . . . . . . Zyklusabhängige Schmerzen . . . . . . . . . . . . . Zyklusunabhängige Schmerzen . . . . . . . . . . . Diagnostik und Therapie in der Jugendarztpraxis Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . .
263 263 263 263 264 264 266 266 266 269 269 269
32
Jungenmedizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Männlich-Sein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Körper und Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sexualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Internetadressen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Urologie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Veränderungen am Penis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Veränderungen am Skrotum und Hoden/Nebenhoden Blase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Niere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sexualfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Internetadressen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
270 270 270 271 272 273 274 275 275 276 279 279 280 280 280
Jugend und Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gewalt und Misshandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . Symptome, Hinweise, Folgen . . . . . . . . . . . . . . . Körperliche Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seelische Gewalt und Vernachlässigung . . . . . . . . Sexuelle Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausmaß und Umstände . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anamnese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Befunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prophylaxen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Intervention, Schutz und Therapie . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mobbing – Gruppenaggression im Klassenzimmer und seine Wirkung auf Kinder und Jugendliche . . . Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Dynamik von Mobbing . . . . . . . . . . . . . . . . Der Antrieb für Mobbing – aggressives Dominanzstreben der Täter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Manipulation der Gruppennorm – der Schlüssel zum Erfolg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Wirkung von Mobbing auf die Opfer . . . . . . . Die Konsequenzen von Mobbing . . . . . . . . . . . . Konsequenzen für Kinder- und Jugendärzte, Lehrer und Erzieher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gewaltprävention – Gewalt gegen und durch Jugendliche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ist Gewaltprävention im Jugendalter noch möglich? Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wann und wie sind wir in der Jugendmedizin mit Gewalt konfrontiert? . . . . . . . . . . . . . . . . . .
281 281 281 281 281 282 282 282 282 283 283 283 284
248 248 249 249 250 251 251 252 252 253
32.1 32.1.1 32.1.2 32.1.3
32.2 32.2.1 32.2.2 32.2.3 32.2.4 32.2.5
253
. . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . .
253
33 254 254 254 255 256 256
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257 257 257 257 257 258 258 258 258 258 259 259 259 259
. . . . . . . .
259 260 260 261 261 262 262 262
33.1 33.1.1 33.1.2 33.1.3 33.1.4
33.1.5 33.2 33.2.1 33.2.2
33.2.3 33.2.4 33.2.5
33.3 33.3.1 33.3.2 33.3.3
. . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . .
. . 284 . . 285 . . 285 . . 285 . . 286 . . 286 . . 287 . . 287 . . 289 . . 290 . . 290 . . 290 . . 290
XVIII
Inhaltsverzeichnis
33.3.4
Kontext von Gewalt im Jugendalter . . . . . . . . . . Gewalt wird vor allem in der Familie gelernt . . . . Was bringen wir mit, um mit Gewalt umzugehen? Was kann uns helfen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wer kann uns helfen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Internetadressen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
33.3.5 33.3.6 33.3.7
34 34.1 34.1.1 34.1.2 34.1.3 34.1.4 34.1.5 34.1.6 34.1.7 34.1.8 34.1.9 34.1.10 34.2 34.2.1 34.2.2 34.2.3 34.2.4 34.2.5 34.3 34.3.1 34.3.2 34.3.3 34.3.4 34.3.5 34.3.6 34.3.7 34.3.8 34.3.9 34.3.10 34.3.11 34.3.12
34.4 34.4.1 34.4.2 34.4.3 34.4.4 34.4.5 34.4.6 34.4.7 34.4.8 34.4.9 34.4.10
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290 290 292 292 293 294 294
Verhaltensauffällige Jugendliche . . . . . . . . . . . . Jugendliche mit ADHS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Häufigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erscheinungsbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Definition/Klassifikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ursachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lebenslauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Risiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Spezielle Probleme der Diagnostik im Jugendalter . . . Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kooperation im Netzwerk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausblick und Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Akute adoleszente Entwicklungskrisen – Psychosen im Jugendalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Adoleszenz – eine normale Entwicklungskrise? . . . . . Psychotische Episoden in der Adoleszenz . . . . . . . . . Symptome der akuten Adoleszenzkrise . . . . . . . . . . Einfluss der Biographie auf die adoleszente Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Behandlungsstrategie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Suizidalität: zur Beratung und Begleitung von suizidalen Kindern, Jugendlichen und deren Eltern . . . . . . . . . . Häufigkeit von Suizidversuchen . . . . . . . . . . . . . . . Häufigkeit von vollzogenen Suiziden . . . . . . . . . . . . Hinterbliebene nach Suiziden im Umfeld . . . . . . . . . Vorgehen bei Suizidalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die fünf wesentlichen Lebensbereiche . . . . . . . . . . . Risikoeinschätzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorgehen in der Praxis – Intervention . . . . . . . . . . . . Fragen zum besseren Verständnis . . . . . . . . . . . . . . Umgang mit dem Tabuthema Selbstmord . . . . . . . . . Umgang mit häufigen Suiziddrohungen . . . . . . . . . . Grenzen der ambulanten Suizidprävention . . . . . . . . Krisenintervention – Zusammenfassung . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Internetadressen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dissozialität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Häufigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Symptomatik und diagnostische Kriterien . . . . . . . . . Entstehungsbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Differenzialdiagnose und Komorbidität . . . . . . . . . . Verlauf und Prognose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Umgang mit dissozialen Jugendlichen . . . . . . . . . . . Interventionsmöglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
295 295 295 295 298 298 298 298 299 299 300 302 302 302 302 303 303 304 305 306 306 306 307 307 307 307 307 308 310 311 311 311 311 312 312 312 312 312 312 312 313 314 314 314 315 316 317 317
Problemorientierte Jugendmedizin 35
Unfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unfälle sind keine Zufälle . . . . . . . . . . . . . 35.1 Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35.1.1 Unfallquote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35.1.2 Schülerunfallgeschehen . . . . . . . . . . . . . . 35.2 Heim- und Freizeitunfälle . . . . . . . . . . . . . 35.2.1 Unfälle beim Inlineskaten . . . . . . . . . . . . . 35.2.2 Ski- und Snowboardunfälle . . . . . . . . . . . . 35.2.3 Ertrinken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35.2.4 Verbrennungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35.2.5 Vergiftungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35.2.6 Tierunfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bissverletzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35.2.7 Reitunfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35.2.8 Geschlecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35.2.9 Kulturelle Herkunft . . . . . . . . . . . . . . . . . 35.2.10 Verletzungsart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35.3 Entwicklungspsychologische, psychische und soziale Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . Körperbeherrschung . . . . . . . . . . . . . . . . Präventionsbewusstsein . . . . . . . . . . . . . . Gedanken und Interessen . . . . . . . . . . . . . Risikoverhalten, Selbstüberschätzung . . . . . Mutproben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unfallneigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Soziale Faktoren sind vielfältig . . . . . . . . . . 35.4 Unfallprävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35.4.1 Technische Sicherheitsmaßnahmen . . . . . . . 35.4.2 Normen, Verordnungen, Sätze (Enforcement) 35.4.3 Gesetze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35.4.4 Sicherheitsaufklärung – Mobilitätserziehung . 35.4.5 Information . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
36 36.1 36.1.1 36.1.2 36.1.3 36.1.4 36.2
36.3
36.4
. . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . . . . .
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321 321 322 322 322 323 323 323 324 324 324 324 324 324 325 325 325
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325 325 326 326 326 326 326 326 327 327 327 328 328 328 328 328
Impfungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zeitabstände zwischen verschiedenen Impfungen und zu Operationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nebenwirkungen von Impfungen . . . . . . . . . . . Impfaufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verhaltensmaßnahmen nach Impfungen . . . . . . Allgemein empfohlene Impfungen (Standardimpfungen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diphtherie, Tetanus (Wundstarrkrampf ) . . . . . . . Poliomyelitis (Kinderlähmung) . . . . . . . . . . . . . Pertussis (Keuchhusten) . . . . . . . . . . . . . . . . . Hepatitis B . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Masern – Mumps – Röteln . . . . . . . . . . . . . . . . Indikationsimpfungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Influenza . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Varizellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Frühsommer-Meningo-Enzephalitis (FSME) . . . . . Reiseimpfungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hepatitis A . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Meningokokken C . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Typhus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . 330 . . . 330 . . . .
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330 330 330 330
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330 330 330 331 331 332 332 332 332 333 333 333 333 333
XIX Inhaltsverzeichnis
36.5
Was bringt die Zukunft? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334
37
Konsum, Missbrauch und Abhängigkeit von psychoaktiven Substanzen . . . . . . . . . . . . . 335
37.1 37.2
37.3 37.4 37.5 37.5.1 37.5.2 37.5.3 37.5.4 37.6 37.6.1 37.6.2 37.6.3 37.7 37.7.1 37.7.2 37.8 37.8.1 37.8.2
37.9 37.10
Mit einem Exkurs zu nichtstofflichem Suchtverhalten . Allgemeines und Definitionen . . . . . . . . . . . . . . . . Eine Gratwanderung zwischen Genuss und Abhängigkeit. Oder: Wie wird man süchtig? Und was schützt davor?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Alkohol . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tabak . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Illegale Drogen, insbesondere Cannabis, und sonstige Drogen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wie häufig wird Cannabis konsumiert? . . . . . . . . . . . Warum wird Cannabis konsumiert? . . . . . . . . . . . . . Auf welche Risiken des Cannabiskonsums muss besonders geachtet werden? . . . . . . . . . . . . . Wie sieht es mit weiteren illegalen Drogen in der kinder- und jugendmedizinischen Praxis aus? . . Medikamente, Doping, Koffein . . . . . . . . . . . . . . . . Arzneimittelmissbrauch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Methylphenidat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Doping . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wie erkennt der Kinder- und Jugendmediziner problematischen Substanzgebrauch?. . . . . . . . . . . . Die »hidden agenda« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Urintests zum Nachweis von Drogen . . . . . . . . . . . . Umgang mit Substanzproblemen in der Praxis . . . . . . Vorgehen in verschiedenen Stufen . . . . . . . . . . . . . Verwendete Verfahren und Modelle . . . . . . . . . . . . Entgiftungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beratung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Selbsthilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Last not least: die Eltern! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Spielsucht als Beispiel für nichtstoffliche Süchte Ausblick: Ein paar Gedanken zur Prävention . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
335 335 38.2.3 336 337 338 340 340 340 341 341 342 342 343 343 343 343 344 345 345 347 347 347 347 348 348 348 349 350
38
Kontrazeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352
38.1 38.1.1 38.1.2
Kontrazeption bei Jugendlichen . . . . . . . . . . . . . . . Kontrazeptions- und Sexualberatung bei Jugendlichen Hormonelle Verhütungsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . Hormonelle Kontrazeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mechanische Kontrazeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kondom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Barrieremethoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Intrauterinpessar (IUP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Chemische Kontrazeption, natürliche Kontrazeption . . Notfallkontrazeption (Pille danach) . . . . . . . . . . . . . Die Pille für den Mann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . FAQ´s (Frequently asked questions) . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kontrazeption bei behinderten und chronisch kranken Jugendlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geistige Behinderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Chronische Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Asthma bronchiale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Epilepsie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Multiple Sklerose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
38.1.3
38.1.4 38.1.5 38.1.6 38.1.7 38.2 38.2.1 38.2.2
352 352 353 354 356 356 356 356 357 357 357 357 359 359 359 360 360 360 361
Chronisch entzündliche Darmerkrankungen Herzerkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . Thromboembolische Erkrankungen . . . . . . Bluterkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . Diabetes mellitus . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rheumatische Erkrankungen . . . . . . . . . . Mukoviszidose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Chronische Niereninsuffizienz. . . . . . . . . . Körperbehinderung . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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361 361 361 362 362 362 362 362 362 362
39
Sexuell übertragbare Infektionen bei Jugendlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364
39.1 39.1.1 39.1.2 39.1.3 39.1.4 39.2 39.2.1 39.2.2 39.2.3 39.2.4 39.3 39.4 39.4.1 39.4.2 39.4.3 39.5
Bakterielle Infektionen . . . . . . . . . . . . . . . Chlamydia trachomatis . . . . . . . . . . . . . . . Gonorrhö . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Syphilis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bakterielle Vaginose . . . . . . . . . . . . . . . . . Virale Infektionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Herpes genitalis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Humane Papilloma-Viren . . . . . . . . . . . . . . Acquired Immune Deficiency Syndrom (Aids) Hepatitis B . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vulvovaginalcandidose . . . . . . . . . . . . . . . Parasiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Trichomoniasis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Phthiriasis pubis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Scabies . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
40
Konzepte der Gesundheitsvorsorge bei Jugendlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371
40.1 40.2 40.3 40.4 40.5 40.6 40.7
Entwicklung der Jugendmedizin in Deutschland . . . . Gesundheitsvorsorgeuntersuchungen für Jugendliche Warum Gesundheitsvorsorge bei Jugendlichen?. . . . . Was ist zu tun? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wo beginnt Gesundheitsvorsorge Jugendlicher? . . . . Was müssen Kinder- und Jugendärzte tun? . . . . . . . . Was muss die Politik tun?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
41
Konzepte der Gesundheitsvorsorge – Sport . . . . 374
41.1 41.1.1
Gesundheit und Sport . . . . . . . . . . . . . . . . . . Positive Effekte von Sport auf »Körperfunktionen« Herz-Kreislauf-System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Atmungssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bewegungsapparat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gehirn und Nervensystem . . . . . . . . . . . . . . . . Endokrines System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Energiestoffwechsel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Positive Auswirkungen von Sport auf die Psyche . Sport als Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sport in der Prävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die sportlichen Fertigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . Kraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beweglichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausdauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Allgemeine Koordination . . . . . . . . . . . . . . . . Schnelligkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sportartspezifische Koordination . . . . . . . . . . .
41.1.2 41.1.3 41.1.4 41.2 41.2.1 41.2.2 41.2.3 41.2.4 41.2.5 41.2.6
. . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . . . . .
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365 365 366 366 366 367 367 367 367 368 368 368 368 368 368 369 369
371 371 371 372 372 372 373 373
374 374 374 374 374 374 375 375 375 376 376 376 376 376 376 378 378 378
XX
Inhaltsverzeichnis
41.2.7 41.3 41.3.1 41.3.2 41.3.3 41.3.4 41.3.5
Atmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sportartspezifisches Training . . . . . . . . . . . . . . . . Prinzipielles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die geeignete Sportart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sport in der Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Cross-Training (Ausgleichstraining) . . . . . . . . . . . . Die geeignete Sportart für eine bestimmte Konstitution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sportverletzungen und Sportschäden ausgewählter Sportarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Brustverletzungen und -beschwerden . . . . . . . . . . Amenorrhoe, Eisenmangelanämie, Anorexie, Osteoporose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Übertrainingssyndrom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Doping . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Aufbau einer Trainingseinheit/Übungsstunde . . . Ernährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prinzipielles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Flüssigkeitszufuhr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nahrungsergänzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sport bei Erkrankungen (Beispiele) . . . . . . . . . . . . Sport bei Adipositas (Fettsucht) . . . . . . . . . . . . . . Sport bei Asthma bronchiale . . . . . . . . . . . . . . . . Sport bei Einzelniere oder Einzelhoden . . . . . . . . . Die sportmedizinische Untersuchung und Beratung . Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Internetadressen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
41.3.6
41.3.7 41.3.8 41.4
41.5 41.5.1 41.5.2 41.5.3 41.6 41.7
. . . . . .
378 378 378 379 379 379
42.3.2 42.3.3 42.3.4 42.3.5 42.3.6 42.3.7 42.3.8
. 379 . 380 . 380 . . . . . . . . . . . . . . . . .
380 380 380 382 382 382 382 382 382 382 382 383 383 383 383 383 384
42.4 42.4.1 42.5 42.5.1 42.5.2
42.5.3
42
Interdisziplinäre Zusammenarbeit . . . . . . . . . . . 387
42.1
Jugendliche mit besonderen Bedürfnissen: Schritte hin zu vernetzten Visionen in der Zukunft . . . Kindernetzwerk e.V. – Ziele und Leistungsspektrum . . Wo sehen Jugendliche mit besonderen Bedürfnissen heute Versorgungsmängel? . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was sagen Jugendliche? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mehr vernetzte Optionen bei der Wahl qualifizierter Ärzte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Umgang mit Jugendlichen: Umdenken ist erforderlich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jugendliche wollen spezialisierte Ärzte in qualifizierten Zentren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vernetzung der Jugendlichen oder Netzwerke für Jugendliche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Netzwerk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jugendamt und allgemeiner Sozialdienst . . . . . . . . . Jugendzentrum/Jugendzentren der Kirchen . . . . . . . Drogen-/Sexualberatungsstellen . . . . . . . . . . . . . . . Beispiele aus der Praxis interdisziplinärer Kooperation Durch die Praxis aus der Praxis hinaus . . . . . . . . . . . Gesundheitsförderung an der Schule – Modell »Gesunde Schule« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Akzeptanz medizinischer Versorgung . . . . . . . . .
42.1.1 42.1.2 42.1.3
42.2 42.2.1 42.2.2 42.2.3 42.2.4 42.2.5 42.2.6 42.3 42.3.1
387 387
388 388
397 398 398 398 398 399 400 400 400 400 400
Der öffentliche Gesundheitsdienst als Partner im Netzwerk Jugendmedizin . . . . . . . . . . . . . . . 401
43.1
Aufgaben des öffentlichen Kinder- und Jugendgesundheitsdienstes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401 Gesetzliche Grundlagen für die öffentliche Kinderund Jugendgesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 402 Gesetze für den ÖGD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 402 SGB XII, Eingliederungshilfe für behinderte Menschen 402 Sozialgesetzbuch VIII (Kinder- und Jugendhilfe) . . . . . 403 Spektrum der Jugendmedizin im ÖGD . . . . . . . . . . . 403 Schulärztliche Begutachtung vor Aufnahme in eine Sonderschule oder integrative Einrichtung . . . 403 Schulärztliche Betreuung entwicklungsbeeinträchtigter und behinderter Jugendlicher . . . . . . . . . . . . . . . . 404 Schullaufbahnberatung, Schulleistungsstörungen, umschriebene Entwicklungsstörungen . . . . . . . . . . . 404 Schulsprechstunden, Schulprojekte, Gesundheitsförderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 404 Schulentlassuntersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405 Sonstige betriebsärztliche Tätigkeit . . . . . . . . . . . . . 405 Jugendzahnärztliche Betreuung des ÖGD . . . . . . . . . 406 Besondere Initiativen des KJGD und Möglichkeiten der Kooperation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 406 Versorgungsstrukturen in den Regionen . . . . . . . . . . 406 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 406
43.2.1 43.2.2 43.2.3 43.3 43.3.1 43.3.2 43.3.3
387 388
392 393 393 393 394 395 396 396 396 397 397 397
43
43.2
Netzwerk, Beratung und Unterstützung
Schulische Gesundheitsförderung . . . . . . . . . . . . . . Ärztliche Mitarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Problem des Vertragsrechtes . . . . . . . . . . . . . . Kooperation mit dem öffentlichen Gesundheitsdienst Die Kooperation von Lehrern und Ärzten . . . . . . . . . Betriebsarzt einer Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Konzept »Arzt und Schule« . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beratungsangebote für jugendliche Migranten . . . . . Inanspruchnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Soziale Unterstützungsangebote . . . . . . . . . . . . . . Jugendmedizin und Jugendhilfe – Schnittstellen und Berührungspunkte . . . . . . . . . . . Kinder- und Jugendhilferecht: Beratung und Unterstützung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zugang zu den Unterstützungsangeboten . . . . . . . . Angebote der Jugendarbeit und Jugendsozialarbeit . . Hilfen zur Erziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dienste und Einrichtungen: Kooperationen und Hilfen Freie Träger der Jugendhilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . Öffentliche Träger der Jugendhilfe . . . . . . . . . . . . . Kooperationsstrukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
43.3.4 43.3.5 43.3.6 43.3.7 43.4
389 43.5 389 389 390 390 390 390 390 391
44
WHO-Ressourcen bei der Jugendgesundheit und Jugendentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409
391 391
44.1 44.2
Jugendgesundheit und Jugendentwicklung . . . . . . . 409 Ressourcen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409
Internationale Jugendmedizin
XXI Inhaltsverzeichnis
44.2.1
C
Jugendspezifische Erkrankungen und Probleme . 466
44.2.3
Orientation Programme on Adolescent Health for Health-care Providers . . . . . . . . . . . . . . . . . Hintergrund und Grundprinzipien . . . . . . . . . . . Gesamtziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geplante »Nutznießer« . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erwartete Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was beinhaltet das Orientierungsprogramm? . . . Was ist verfügbar und wie kann man es bestellen? CAH-Dokumente und Instrumente zur Jugendgesundheit und Jugendentwicklung . . . . . . . . . AFHS: Eine Agenda für den Wechsel . . . . . . . . . .
. . . 411 . . . 412
D
Rehabilitation und Nachsorge . . . . . . . . . . . . . . 484
45
Blick über die Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413
E
Jugendliche in der Gesellschaft. . . . . . . . . . . . . . 498
45.1
Europäische Modelle der gesundheitlichen Versorgung Jugendlicher, IAAH-Aktivitäten, EuTEACH, MAGAM . . . Jugendgesundheit in Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Internationale Vereinigung für Jugendgesundheit (IAAH) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Europäische Initiativen zur Verbesserung der Jugendgesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . EuTEACH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . MAGAM . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Internetadressen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entwicklung der gesundheitlichen Versorgung Jugendlicher in den USA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . College-Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jugendliche: Das Alter von 12–17 Jahren . . . . . . . . . Ausbildung in der Jugendmedizin im frühen 21. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
F
Netzwerk – Aufbau und Pflege . . . . . . . . . . . . . . 516
G
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 530
H
Kontaktadressen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 532
I
Internetadressen und CD-ROMs . . . . . . . . . . . . . 534
44.2.2
45.1.1 45.1.2 45.1.3
45.2 45.2.1 45.2.2 45.2.3
. . . . . . .
. . . . . . .
. . . . . . .
409 409 409 410 410 410 410
413 413
Anhang A
Jugendmedizinische Praxis. . . . . . . . . . . . . . . . . 422
B
Wachstum und Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . 438
413 415 415 415 415 416 416 416 416 417 418
Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 539
XXIII
Autorenverzeichnis Prof. Dr. med. Dietrich Abeck
Helana Fonseca, M.D., MPH
Prof. Dr. soz. Klaus Hurrelmann
Universitätsklinik München Biedersteinerstr. 29, 80802 München
Universität Bielefeld, Zentrum für Kindheitsund Jugendforschung Postfach 100131, 33501 Bielefeld
Heiterwangerstr. 20, 81373 München
Adolescent Outpatient Clinic Pediatric Division Hospital de Santa Maria, Divison of Pediatrics Av. Prof. Egas Moniz 1, 1649-035 Lissabon Portugal
Frau Dr. rer. nat. Lale Akgün
Dr. med. Monika Gerlinghoff
Deutscher Bundestag Platz der Republik 1, 11011 Berlin
Therapiezentrums für Essstörungen (TCE) MPI München, Hanselmannstr. 20 80809 München
Ilse Achilles
Dr. Herbert Backmund Therapiezentrums für Essstörungen (TCE) MPI München Hanselmannstr. 20, 80809 München
Dr. med. Elke Jäger-Roman Praxis für Kinder- und Jugendmedizin Goebenstr.24, 10783 Berlin
Dr. med. Ute Kling-Mondon Ärztin für Frauenheilkunde und Geburtshilfe Kottbusser Str. 16, 10999 Berlin
Oliver Gießler-Fichtner, Dipl.-Psych. Fachklinik Gaißach, 83674 Gaißach
Jürgen Kraak, Dipl.-Soz. Goslarer Str.56, 70499 Stuttgart
Dr. med. Hanspeter Goldschmidt Prof. Dr. med. Carl-Peter Bauer Fachklinik Gaißach, 83674 Gaißach
Dr. med. Dr. rer. nat. Renate Blütters-Sawatzki Zentrum für Kinderheilkunde und Jugendmedizin Justus Liebig Universität, Feulgenstr. 12 35385 Gießen
medinet Spessart-Klinik Bad Orb Rehabilitationsklinik für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene Würzburger Str. 7-11, 63619 Bad Orb
Dr. med. Cornelia Langner Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin, Psychotherapie, Schwerpunkt Epileptologie Heinrichstr. 6, 36037 Fulda
Prof. Donald E. Greydanus, MD Michigan State University Kalamazoo Center for Medical Studies 1000 Oakland Drive, Kalamazoo, MI 49008-1284, USA
Dr. med. Uwe Büsching
Dr. med. habil. Eberhard Leidig Reha Katharinenhöhe, Katharinenhöhe 78141 Schönwald
Dr. med. Ursel Lindlbauer-Eisenach
Beckhausstr.171, 33611 Bielefeld
Dr. phil. Jürgen Grieser
Dr. med. Fikret Çerçi
Stiftung Wachstum Pubertät Adoleszenz Möhrlistr. 69, 8032 Zürich, Schweiz
Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin Bachstr.22, 32756 Detmold
Dr. med. Detlef Grunert
Dr. med. Birgit Delisle
Kinder- und Jugendarzt Löpsinger Str.8, 86720 Nördlingen
Universitätsklinik für Kinderheilkunde Innsbruck Anichstr.35, 6020 Innsbruck, Österreich
Frauenärztin, Fürstenriederstr. 35 80686 München
Priv.-Doz. Dr. med. K. Hartmann
Dr. phil. Jörg Maywald Deutsche Liga für das Kind Chausseestr.17, 10115 Berlin
Stiftung Wachstum Pubertät Adoleszenz Mörlistr. 69, 8006 Zürich, Schweiz
Praxis für Kinderheilkunde und pädiatrische Endokrinologie An der Schwarzbachmühle 14 60529 Frankfurt/Main
Dr. med. Manfred Endres
Dr. med. Wolfram Hartmann
Spiegelstr. 5, 81241 München
Praxis für Pädiatrie, Siegener Str. 25 57223 Kreuztal
Priv.-Doz. Dr. med. Urs Eiholzer
Kinderärztin, Betzenweg 16a 81247 München
Prof. Dr. med. Burkart Mangold
Moisl, Sibylle Spiegelstr. 5, 81241 München
Dr. phil. Gitta Mühlen Achs
Cranachweg 10, 55127 Mainz
Dr. med. Dieter Hassberg
Institut für Psychologie Ludwig-Maximilians-Universität Leopoldstr. 13, 80802 München
Jane Ferguson
Kinderkardiologische Gemeinschaftspraxis Schöttlestr. 34 c, 70597 Stuttgart
Dr. med. Harm Müller
Dr. med. J.A. Ermert
Adolescent Health and Development World Health Organization, 1211 Genf 27 Schweiz
Wetzlarerstr.25, 35510 Butzbach
Dr. med. Bernd Herrmann Kinderklinik, Klinikum Kassel Mönchebergstr. 43, 34125 Kassel
Wolf-Rüdiger Horn Igelbach Str.7, 76593 Gernsbach
Priv.-Doz. Dr. Christian Palentien Universität Bielefeld, Zentrum für Kindheitsund Jugendforschung Postfach 100131, 33501 Bielefeld
XXIV
Autorenverzeichnis
Dr. jur. Rudolf Ratzel
Dr. Gabriele Trost-Brinkhues
Königinstr.23, 80539 München
Dr. med. Klaus-Dieter Rolirad
Kinder- und Jugendärztlicher Dienst der Stadt Aachen Hackländerstraße 5, 52062 Aachen
Kinder-Jugend-Sprtmedizin Wieterallee 41, 37154 Northeim
Dr. med. Wolfgang Wahlen Talstr.49, 66424 Homburg
Michael Sanna, Dipl.-Soz. Phoenix GmbH/Konduktive Förderung der Stiftung Pfennigparade Familienberatung Oberföhringer Str.150, 81925 München
Prof. Dr. med. Dr. habil. Ernst-Rainer Weissenbacher Frauenklinik Grosshadern Marchioninistr. 15, 81377 München
Priv.-Doz. Dr. Mechthild Schäfer Department Psychologie Institut für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie Leopoldstr. 13, 80802 München
Dr. med. Nikolaus Weissenrieder Ruffinistr.2, 80637 München
Dr. Reinhard Winter SOWIT, Lorettoplatz 6, 72072 Tübingen
Dr. med. Dieter Schlamp Heckscherklinik für Kinder und Jugendliche des Bezirks Oberbayern Deisenhofenerstr.28, 81539 München
Dr. med. Sebastian Wolf Die Arche e.V., Viktoriastr.9, 80803 München
Priv.-Doz. Dr. Dr. Hartmut Wollmann Dr. med. Jürgen Schmetz Institut für Prävention und Frühintervention im Kindes- und Jugendalter Bergkoppelweg 6, 22335 Hamburg
Raimund Schmid Hanauer Str. 15, 63739 Aschaffenburg
Renate Schmidt Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Alexanderplatz 6, 10178 Berlin
Dr. med. Jörg Schriever Kinder- und Jugendarzt, St. Elisabethstr. 6-8, 53894 Mechernich
Dr. Hubertus Schröer Jugendamt München, Orleansplatz 11, 81667 München
Dr. med. Jörg Seibold Rotebühlstr. 104, 70178 Stuttgart
Dr. med. Bernd Simon Cosimastr.133, 81925 München
Dr. med. Klaus Skrodzki Gleiwitzer Str. 15, 91301 Forchheim
Dr. med. Bernhard Stier Wetzlarer Str. 25, 35510 Butzbach
Dr. med.Wolfgang Storm Kinderklinik St. Vincenz-Krankenhaus Husenerstr. 18, 33091 Paderborn
Universitäts-Kinderklinik Tübingen Hoppe-Seyler-Str. 1, 72076 Tübingen
I
Entwicklung von Jugendlichen Sind Jugendliche anders? – 3 Eine Einführung B. Stier, N. Weissenrieder
1 Körperliche Entwicklung – 6 B. Stier, N. Weissenrieder
2 Psychosoziale Entwicklung
– 16
B. Stier, N. Weissenrieder
3 Identität und Körperbild: Bedeutung und Einfluss der Kategorie Geschlecht – 21 G. Mühlen Achs
4 Sexualität – 26
Anhang
A
Jugendmedizinische Praxis
A1
Jugendgesundheitsberatung: Informationen, Pläne, Fragebögen – 422
A 1.1 Jugendsprechstunde: Schema zur »Institution« Jugendsprechstunde allgemein – 422 A 1.2 Ablaufplan für die Jugendgesundheitsberatung – 422 A 1.3 Grundsätzliches zum J1-Fragebogen – 423 A 1.4 Ergänzende Handreichung – 424 A 1.5 U 10 bzw. J1: Informationen für Jugendliche – 425 A 1.6 J1: Fragebogen für Eltern – 426 A 1.7 Praxisbogen für Jugendliche: Satzergänzungstest – 429 A 1.8 Checkliste: Fragen an den Jugendlichen zur Selbsteinstufung bei Entwicklungsproblemen – 433
A2
Jugendmedizinische Fort- und Weiterbildung – 434 W. R. Horn
422
Anhang
A Jugendmedizinische Praxis A1
Jugendgesundheitsberatung: Informationen, Pläne, Fragebögen
A 1.1 Jugendsprechstunde: Schema zur
»Institution« Jugendsprechstunde allgemein
A 1.2 Ablaufplan für die Jugendgesundheits-
beratung
Patient/Patientin wird an der Anmeldung – mit Namen! – begrüßt
Start
Bitte nur kurze Wartezeit im Wartezimmer
Information über Termine aushängen
auf Gruppen von Jugendlichen vorbereiten
Terminvergabe ohne Uhrzeiten
Infomaterial in der Wartezone auslegen
im Sprechzimmer ausreichend Stühle aufstellen
Broschüren und Unterlagen z.B. J1 auf Vollständigkeit prüfen
Zutritt und Störungen der Untersuchung vermeiden
Untersuchungsvorbereitung
… wird in ein größeres, jugendgerechtes Untersuchungszimmer gebeten
Begrüßung durch Ärztin/Arzt • Erklärung des J1-Ablaufs • Ansprechen der Schweigepflicht! • Klärung von Fragen vorweg • Vorbereitung auf die nachfolgende Längen- und Gewichtskontrolle, den Sehtest und den Hörtest • Aushändigen des Satzergänzungstestes
Längen- und Gewichtskontrolle, Sehtest und Hörtest durch Arzthelferin Aushändigen der Broschüren-Ordner
Gespräch und Untersuchung durch die Ärztin bzw. den Arzt (Beisein der Mutter/des Vaters klären!)
Abschließendes Gespräch mit Zusammenfassung der Befunde • Klärung von Fragen/Was darf den Eltern mitgeteilt werden? • Wie geht es weiter (z. B. neuer Termin zur Blutabnahme, Schilddrüsensonographie etc.) • Impfungen nicht vergessen!
Die Patientin/der Patient holt die Mutter/den Vater zur gemeinsamen Besprechung (wie vorher mit dem Jugendlichen besprochen)
Verabschiedung/Ausblick P.S. Bitte bedenken, dass Jugendliche durch manche verwendete Begriffe sehr irritiert sein können. So hat z.B. das Wort »nüchtern« eine ganz andere Bedeutung und bedarf der Erklärung.
Ende
423 A 1 · Jugendgesundheitsberatung: Informationen, Pläne, Fragebögen
A 1.3 Grundsätzliches zum J1-Fragebogen Dieser Untersuchungsbogen dient der Standardisierung zu erhebender Daten. Keinesfalls sollte er zum Abfragen während der Untersuchung herangezogen werden. Die Eintragungen sind nach Beendigung der Untersuchung in Abwesenheit des Jugendlichen vorzunehmen! Die zu erhebenden Fakten sollten dem Untersucher während der Untersuchung bekannt sein.
➐
➑ ➊
Grundsätzliches zum J1-Fragebogen Es kann nicht darum gehen, exakte pädiatrische Diagnosen zu stellen. Vielmehr gilt es, Belastungen und mögliche Risikofaktoren zu erkennen und adäquate Maßnahmen zu veranlassen. Da diese Vorsorgeuntersuchung häufig nach einer längeren Beratungs- und Betreuungspause zustande kommt, ist es vor allem wichtig, das neue Beziehungsangebot deutlich zu machen, Vertrauen aufzubauen und Kompetenz für medizinische und psychosoziale Fragestellungen im Jugendalter zu zeigen. Es ist nicht erforderlich, alle Problempunkte in einem Termin »erschöpfend« zu behandeln. Das Betreuungsangebot soll deutlich werden und, wenn erforderlich, auch in Folge genutzt werden (können).
➒
➋ ➓
➌
➍
➎
➏
➊ Auch auf Elternfragebogen zurückgreifen – Frage nach Dauertherapie. Chronische Erkrankungen, körperliche Behinderung und seelische Störungen bedürfen v. a. in der Pubertät besonderer Aufmerksamkeit. Hier droht Entgleisung. Selbstbewusstsein und Eigenverantwortlichkeit stärken. Unterstützungssysteme?! (Peers!)
wenn sie sich aus dem Gesprächskontext zwanglos ergibt. Wissen über Kontrazeption erfassen und fördern/vermitteln.
➋ Besonderes Augenmerk auf Hepatitis B Impf. / Gespräch über STD’s und Verhütung.
➒ Familienanamnese! Cave: SD-Erkrankungen sehr häufig und vielfach unbemerkt. Im Zweifelsfall mindestens Sonographie! Familienanamnese!
➌ Hier ist der Satzergänzungstest häufig sehr aufschlussreich.
➓ Beim Haltungstest nach Matthias wird der Patient aufgefordert, die
➍ Versuchen Sie die grundsätzliche Einstellung des Jugendlichen herauszubekommen. Wie verhält sich sein näheres Umfeld (Familie, Peers – (siehe Beispiel einer J1) – offene Fragen.
➎ Fragen nach soz. Kontakten, Schule, Sportverein, BMI, Satzergänzungstest! (»Hidden agenda«!) ➏ Nur sinnvoll in Abhängigkeit vom Pubertätsstadium. Fragen nach andersgeschlechtlichen Kontakten z. B. in der Peergroup. Frage nur stellen,
➐ Auf BMI und RR nie verzichten ➑ Basics für jeden Jugendarzt
Arme im Stand vorzuheben und diese Position über 30 sec zu halten. Grad 1: Aufrechthaltung wird aufgegeben, Oberkörper gerät in Rücklage (Hyperlordose). Grad 2: Aufrechterhaltung kann von Anfang an nicht eingenommen werden. SPORT! Vorbeugetest: Rumpf nach vorne beugen, Betrachtung von hinten. Dient der Erkennung evtl. fixierter Torsion der Wirbelsäule. Zusätzlich Testung der Beweglichkeit der Wirbelsäule und Finger-Boden-Abstand
424
Anhang
A 1.4 Ergänzende Handreichung Der Sinn von Fragebögen/Hilfsmitteln: 4 Versorgung der Jugendlichen mit übersichtlicher Information 4 Unterstützt bei schwieriger Fragestellung 4 Hilft Jugendlichen, über sich selbst und manche Sachverhalte nachzudenken 4 Hilft, Themen aufzuwerfen, mit denen Jugendliche nicht unbedingt gerechnet haben, die aber wichtige Informationen liefern 4 Wirft Themen auf, die sich durch Fragen schwer thematisieren lassen 4 Verkürzt (verlängert?) die notwendige Zeit 4 Hilft, Zeit zu überbrücken Fragen, die man stellen kann: 4 Was sind zurzeit die positiven Seiten deines Lebens? 4 Was könntest du in deinem Leben noch verbessern? 4 Was waren Erfolge in deinem bisherigen Leben? Was war dein größter Erfolg?
4 Worauf bist du (besonders)stolz? 4 Hast du schon einmal Verantwortung übernommen? Für wen/was? 4 Wo, meinst du, liegen deine Qualitäten im Bezug auf deine persönliche Zukunft, deine Freunde, deine Familie? 4 Worauf kannst du zurückgreifen (Fähigkeiten/Personen) bei stressigen Situationen? Wie gehst du damit um? Was Jugendliche von ihrem Arzt erwarten: 4 Einhaltung der Schweigepflicht 4 Interesse/Empathie 4 Verfügbarkeit – wenn notwendig am gleichen Tag 4 Auswahlmöglichkeit bezüglich des Geschlechts der versorgenden Person 4 »Drop in« Versorgung 4 Freundlicher Empfangsbereich
425 A 1 · Jugendgesundheitsberatung: Informationen, Pläne, Fragebögen
A 1.5 U 10 bzw. J1: Informationen für Jugendliche (B. Stier)
Liebe jugendliche Patientin, lieber jugendlicher Patient!
Die J1-Jugendgesundheitsberatung wurde als neue Vorsorgeuntersuchung für das Alter von ca. 12–15 Jahre eingeführt. Diese Lebensphase, die Pubertät, bedeutet eine große Umstellung und der Körper erfährt zahlreiche Veränderungen. Neben der körperlichen Untersuchung wird Euch Gelegenheit gegeben, Eure Fragen rund um diese körperlichen, sexuellen und seelischen Veränderungen von kompetenter Seite beantwortet zu bekommen.
Folgendes ist dabei im Einzelnen vorgesehen: 4 Fragen zur bisherigen Entwicklung 4 Fragen zu Krankheiten in der Familie 4 Körperliche Untersuchung, Blutdruckmessung, Hör- und Sehtest, Urinuntersuchung 4 Nur falls es sich bei der Untersuchung ergibt: Blutabnahme, Lungenfunktionsuntersuchung, EKG, Kreislauftest, Schilddrüsensonographie 4 Evtl. nachzuholende Impfungen, Rötelntiterbestimmung, Hepatitis-B-Impfung 4 Beantwortung Eurer Fragen (macht Euch notfalls Notizen)
Selbstverständlich werden wir alle Ergebnisse mit Euch besprechen. Bitte besprecht mit Euren Eltern, ob sie bei der Untersuchung dabei sein möchten.
Euer Dr.
P.S.: Wir bitten Euch, zu dieser Untersuchung Eure Versicherungskarte und den Impfpass mitzubringen.
426
Anhang
A 1.6 J1: Fragebogen für Eltern
Liebe Eltern! Die J1/U10 ist die 1.-Vorsorgeuntersuchung im Jugendalter. In der Regel fällt diese Vorsorgeuntersuchung in die Zeit der Pubertät, einer Zeit, die vielfach als »zweite Geburt« bezeichnet wird. Ihre Tochter/Ihr Sohn erfährt in dieser Zeit zahlreiche körperliche und seelische Veränderungen. Dieser Fragebogen soll Ihnen und mir mit als Gesprächsgrundlage dienen. Darum bitte ich Sie um nachfolgende Informationen. Bitte bringen (oder geben) Sie diesen Fragebogen beantwortet sowie das Untersuchungsheft und den Impfpass zur J1 Ihrer Tochter/Ihres Sohnes mit. Bitte sprechen Sie mich an oder rufen Sie mich an, wenn Sie Fragen dazu haben.
1. Vorgeschichte Gibt es in der Familie – einschließlich der Großeltern – Zuckerkrankheit? Wer: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Allergien? Wer: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Herzinfarkte? Wer: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schlaganfälle? Wer: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stoffwechselerkrankungen (insbesondere Fettstoffwechselstörungen)? Wer: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Asthma? Wer: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anfallsleiden? Wer: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Krebserkrankungen? Wer: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anderes? Wer: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
427 A 1 · Jugendgesundheitsberatung: Informationen, Pläne, Fragebögen
2. Entwicklung ihres Kindes Gibt es in der Vorgeschichte Ihrer Tochter/Ihres Sohnes Operationen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stationäre Krankenhausaufenthalte? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Medikamenteneinnahme länger als ein Monat? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erkrankungen wie: Allergien? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Asthma? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kreislaufstörungen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unklare Schmerzen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bewegungsstörungen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Oder? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3. Beschwerden in der letzten Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4. Was beschäftigt Sie im Zusammenhang mit der Entwicklung Ihrer Tochter/Ihres Sohnes? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
428
Anhang
5. Fallen Ihnen Besonderheiten auf? (bitte ankreuzen) Bei sportlichen Betätigungen
Ja
Nein
Bei handwerklichen oder künstlerischen Tätigkeiten
Ja
Nein
Beim Lernen, der Konzentration, dem Schreiben oder Rechnen
Ja
Nein
In der sprachlichen Ausdrucksfähigkeit
Ja
Nein
Beim Sprachverständnis
Ja
Nein
Im Umgang mit sich und anderen
Ja
Nein
Beim Sehen
Ja
Nein
Beim Hören
Ja
Nein
Macht Ihre Tochter/Ihr Sohn in der Schule mit?
Ja
Nein
Macht Ihre Tochter/Ihr Sohn zuhause oder beim Spiel mit Gleichaltrigen mit?
Ja
Nein
Hat Ihre Tochter/Ihr Sohn feste Freundschaften?
Ja
Nein
Hat Ihre Tochter/Ihr Sohn Hobbys?
Ja
Nein
Beim Sprachverständnis
Ja
Nein
Im Umgang mit sich und anderen
Ja
Nein
Betreibt Ihre Tochter/Ihr Sohn feste sportliche Aktivitäten?
Ja
Nein
6. Allgemeine Entwicklung: (bitte ankreuzen)
7. Wie beurteilen Sie das soziale Umfeld Ihrer Tochter/Ihres Sohnes? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
8. Was würden Sie zusätzlich gerne besprechen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Vielen Dank für die Beantwortung dieser Fragen, Ihr
429 A 1 · Jugendgesundheitsberatung: Informationen, Pläne, Fragebögen
A 1.7 Praxisbogen für Jugendliche:
Satzergänzungstest
Liebe Patientin, lieber Patient! Bei diesem Fragebogen kann man es nicht richtig und nicht falsch machen. Bitte lest die angefangenen Sätze durch und vervollständigt sie so, wie Ihr es Euch denkt und was Euch spontan dazu einfällt. Wir hoffen , es macht Euch Spaß!
1. Mein Vater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ich habe Angst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Am liebsten würde ich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Wenn ich älter bin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Meine Schularbeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Ich finde es scheußlich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Manchmal träume ich
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Es ist mir peinlich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9. Es tut mir schrecklich leid . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
430
Anhang
10. Andere Jugendliche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11. Meine Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12. Die Lehrer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13. Die meisten Jungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14. Im Dunkeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15. Mich ärgert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16. Geschwister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17. Die Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18. Die Erwachsenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19. Ich brauche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20. Meine Mutter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21. Ich kann nicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
431 A2 · Jugendmedizinische Fort- und Weiterbildung (Exkurs)
22. Das einzig Dumme ist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23. Die meisten Mädchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24. Hoffentlich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25. Meine größte Sorge ist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26. Ganz im Geheimen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27. Meine Mutter hat es am liebsten, wenn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28. Wenn ich doch nur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29. Ich habe es nicht gern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30. Meine Eltern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31. Ich wünsche mir . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32. Stimmt es . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33. Es war eine Enttäuschung für mich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
432
Anhang
34. Niemand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35. In meiner Freizeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36. Meine Schulkameraden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37. Ich fühle mich am wohlsten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38. Mein Vater mag es gerne, wenn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39. Wussten Sie schon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40. Wenn ich alleine bin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41. Am glücklichsten wäre ich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42. Am meisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43. Am besten kann ich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44. Diesen Fragebogen finde ich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
433 A 1 · Jugendgesundheitsberatung: Informationen, Pläne, Fragebögen
A1.8
Checkliste zur Selbsteinstufung bei Entwicklungsproblemen
Die Fragen sollten unbedingt durch einen Arzt bzw. eine Ärztin gestellt werden. Keinesfalls sollte der/die Jugendliche die Fragen alleine beantworten! Sagen Sie z.B.: »Ich werde Dir jetzt ein paar Fragen mit den dazugehörigen möglichen Antworten vorlesen. Ich bitte Dich nachzudenken und mir dann die am ehesten auf Dich zutreffende Antwort zu sagen. Selbstverständlich kannst Du die Antwort auch verweigern.« Die Fragen sollten allenfalls wiederholt, aber nicht erklärt werden. ein größeres Problem
manchmal ein Problem
kaum oder nie ein Problem
erfolgreich in der Schule zu sein ist Ideen zu haben ist sich geistig und körperlich müde zu fühlen ist meine Aufgaben gewissenhaft zu machen ist die richtigen Worte zu finden ist multiplizieren und dividieren ist neue Wörter beim Lesen zu begreifen ist kombinieren mit Zahlen ist zu verstehen was man liest ist ordentlich zu schreiben ist so schnell zu schreiben wie andere ist Wörter korrekt auszusprechen ist für mehr als ein paar Minuten aufmerksam zu sein ist addieren und subtrahieren ist Ideen in Worte zu fassen ist im Sport gut zu sein ist Anweisungen zu verstehen und zu befolgen ist herauszufinden, wie man von einer Stelle zur anderen kommt ist zu behalten, was man liest ist die Zeit richtig wiederzugeben ist so schnell zu lesen, wie andere ist das richtige Wechselgeld beim Kaufen herauszufinden ist (Übersetzt nach: Wender E H (1996) Evaluation and Management of Learning Difficulties. Adolescent Medicine: State of the Art Reviews 7/2:239–247) B.Stier, 1997
434
Anhang
A2
Jugendmedizinische Fortund Weiterbildung (Exkurs) W. R. Horn
1
Allgemeines
Für ein stärkeres jugendmedizinisches Engagement von Pädiatern in Klinik und Praxis sowie öffentlichem Gesundheitsdienst sind geeignete Fort- und Weiterbildungsangebote und deren umfassende Inanspruchnahme eine ganz wichtige Voraussetzung. In Deutschland existiert zur Zeit keine speziell auf Jugendliche zielende Ausbildung im Rahmen des Medizinstudiums, zumal sowohl entsprechende Inhalte im Gegenstandskatalog als auch schwerpunktmäßig mit Jugendmedizin beschäftigte Einrichtungen an den Universitätskliniken fehlen. (Möglicherweise werden neue Entwicklungen, wie der an der Charité Berlin laufende »Reformstudiengang Medizin«, daran ansatzweise etwas ändern können (s. Burger et al. 2003). Anders als z. B. in der Schweiz, wo die Jugendmedizin kräftige Impulse von Universitätsklinikern erhielt, die zuvor in amerikanischen jugendmedizinischen Einrichtungen gearbeitet hatten, ist die Entwicklung in Deutschland zwar von Klinikern (insbesondere von Prof. Stolecke, Essen, und Prof. Palitzsch, Gelnhausen) mitinitiiert, aber doch überwiegend von niedergelassenen Kinder- und Jugendärzten geprägt worden. Im Jahre 1993 begannen engagierte Pädiater den Modellversuch einer »Jugendgesundheitsberatung« in Hessen, der später von allen Krankenkassen getragenen »Jugendgesundheitsuntersuchung« (J1). Die Anforderungen dieser im Alter von 12Jahren bis zur Vollendung des 15. Lebensjahres stattfindenden Untersuchung mit einer Reihe von gesundheitsfördernden und psychosozialen Fragestellungen machte vielen Pädiatern bewusst, dass Jugendliche mit zunehmendem Alter immer weniger in das übliche medizinische Modell passten. Zusätzlich zu krankheitsbezogenen Faktoren galt es nunmehr auch soziale und entwicklungsorientierte Faktoren stärker zu erfassen und unter Berücksichtigung des individuellen Entwicklungsstadiums auch einen geeigneten kommunikativen Zugang zum Jugendlichen zu finden. Darin schon erfahrenere, im Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte organisierte Pädiater produzierten verschiedene Handreichungen für die jugendmedizinischen »Neulinge« und erstellten schließlich auch eine vorläufige Bedarfsanalyse im Hinblick auf notwendige Fortbildungsangebote (Care-Line 1999). Dabei wurde deutlich, dass die Pädiater sowohl ihr Wissen auf jugendmedizinischem Gebiet erweitern, aber auch ihre Kompetenz im Umgang mit Jugendlichen erhöhen wollten. Die wichtigsten Themen für »Jugend in der Praxis« – Schwerpunktseminare sollten deshalb »Kommunikation mit Jugendlichen« und »Zielkrankheiten der J1« sein. Besonders ausführlich wurde in der Schweiz untersucht (Kraus et al. 2003), welche Fortbildungsbedürfnisse Fachärzte verschiedener Disziplinen haben. Hier bestand bei den befragten Pädiatern Trainingsbedarf bei psychosomatischen und funktionellen Störungen, Wachstums- und Pubertätsproblemen, verschiedenen körperlichen und psychischen Störungen und dem Umgang mit chronischen Krankheiten, Schulproblemen und Familienkonflikten. Auch die Kommunikation mit Jugendlichen und präventive Maßnahmen hatten einen hohen Stellenwert, sexuelle und rechtliche Fragen einen deutlich geringeren.
In Australien, einem Land ohne niedergelassene Pädiater, untersuchten Sanci et al. 2000 den Effekt eines jugendmedizinischen Trainings bei 108 Allgemeinärzten, das aus einem sechswöchigen Kursus mit jeweils 2,5stündigen intensiven, interaktiven Seminaren und einer zweistündigen Falldiskussion nach weiteren 6Wochen bestand. Im Vergleich zu einer Kontrollgruppe berichtete die Interventionsgruppe nach 7Monaten von deutlichen Verbesserungen im Hinblick auf Wissen, Kompetenz und Zufriedenheit, die auch nach 13Monaten noch anhielten.
2
Fortbildungen in Deutschland
1995 fand in Weimar der erste Kongress für Jugendmedizin des BVKJ statt, der seitdem jährlich bis zu 1.000 Teilnehmer zu jugendmedizinischen Seminaren und Vorträgen anzieht. Auch auf regionalen Kongressen und Tagungen auf Landesebene finden sich seither Themen mit jugendmedizinischem Schwerpunkt. Außerdem entstanden regionale Fortbildungskreise, z. B. im Großraum Stuttgart. Vereinzelt wurden besonders auf die J1 bezogene Veranstaltungen mit Landesärztekammern (z. B. Westfalen-Lippe) organisiert. 1999 brachte ein Kreis Engagierter mit Hilfe einer pharmazeutischen Firma das »Handbuch Jugend in der Praxis« mit wichtigen Informationen zu Jugendsprechstunde, Kommunikation, Rechtsfragen, Finanzierung etc. heraus. Mit erheblicher Unterstützung der gleichen Firma startete im Jahre 2000 die Seminarreihe »Jugend in der Praxis« (Büsching et al. 2000). Was setzte sich diese Seminarreihe zum Ziel? Sie wollte helfen 4 bei Orientierung und Schwerpunktsetzung in der Jugendmedizin, 4 beim Ausbau psychosozialer Kompetenz, 4 bei der Vertiefung kommunikativer Fähigkeiten, wobei im Mittelpunkt nicht Erkennen und Behandeln von Krankheiten, sondern Gespräch und Auseinandersetzung mit Bedürfnissen und Problemen des Heranwachsenden stehen sollten, 4 dabei auch Autonomie und Eigenverantwortlichkeit sowie Ressourcenaktivierung als wichtige Faktoren zu betrachten. Der Nutzen für die Absolventen der geplanten Fortbildungsreihe sollte sich nach Angaben des Rahmenkonzepts (Care-Line 1999) so ausdrücken lassen: 4 »Ich kann mit Jugendlichen umgehen.« 4 »Ich weiß über Jugendliche und ihre Probleme Bescheid.« 4 »Die Jugendmedizin kann ein zweites Standbein für meine Praxis werden.« 4 »Es macht Spaß mit Jugendlichen zu arbeiten!« 4 »Gesundheitsförderung bei Jugendlichen gehört zu meinen Aufgaben.« 4 »Wir Kinder- und Jugendärzte erfüllen eine wichtige gesellschaftspolitische Aufgabe.« Bei der Planung wurde Wert auf einen hohen Anteil an Interaktion (Metaplan, Rollenspiele, Gruppendiskussionen, Fallbesprechungen) bei den insgesamt acht dreistündigen Seminaren und auf Qualitätssicherung durch Evaluation gelegt. Mit Hilfe einer Kommunikationsagentur wurden Train-the-trainer-Seminare durchgeführt und die einzelnen Module erstellt. Das Curriculum setzte sich schließlich aus den folgenden Modulen zusammen: 4 Somatoforme Störungen 4 Besonderheiten organischer Krankheiten
435 A2 · Jugendmedizinische Fort- und Weiterbildung (Exkurs)
4 4 4 4 4
Ursachen seelischer Entwicklungsstörungen Voraussetzungen für Kommunikation Kommunikation mit Jugendlichen Die (ideale) Praxis für Jugendliche Arzt-Lehrer-Kooperation
Diese Basisseminare sollten später durch zusätzliche Spezialseminare ergänzt werden. Von Oktober 2000 bis April 2004 nahmen 563 Teilnehmer an den Seminaren teil, die mit finanzieller und logistischer Unterstützung der Sponsor-Firma entweder an einem Wochenendtag (meist 2-mal 3Stunden) oder in Verbindung mit einem Seminarkongress des Berufsverbandes veranstaltet wurden (Anmeldung über BVKJ-Geschäftsstelle, Mielenforster Str. 2, 51069 Köln, Tel.: 0221/6890916,
[email protected]).
3
EuTEACH
Wie von Helena Fonseca (Kap. 45.1) berichtet, etablierte sich 1999 eine europäische Arbeitsgruppe zur Entwicklung eines Curriculums für Jugendgesundheit und Jugendmedizin: EuTEACH (European Training in Effective Adolescent Care and Health). Mitglieder der EuTEACH working group sind Jugendmediziner aus verschiedenen Arbeitsfeldern wie Pädiatrie, Kinder- und Jugendpsychiatrie, Gynäkologie, Public Health, aus Klinik, Forschung und Praxis oder unterstützenden Organisationen sowie aus verschiedenen Ländern Europas: I. Batar (Ungarn), K. Berg-Kelly (Schweden), J.-P. Bourguignon (Belgien), H. Fonseca (Portugal), W.-R. Horn (Deutschland), A. Macfarlane (Großbritannien), D. Marcelli (Frankreich), P.-A. Michaud (Schweiz), Ferguson (WHO), K. Pagava (Georgien), S. Renteria (Schweiz), S. Stronski (Schweiz), J.-C. Suris (Spanien), G. Tamburlini (Italien), R. Viner (Großbritannien). Unterstützung bezieht die Gruppe, die sich zweimal im Jahr zu dreitägigen Arbeitssitzungen trifft, von verschiedenen europäischen und internationalen Organisationen, Fachgruppen und einzelnen Experten. Es wurden mittlerweile die Inhalte eines Kern-Curriculums in Jugendgesundheit entwickelt, wobei die Prinzipien des Aufbaus eines medizinischen Curriculums nach Kern et al. (1998) zugrunde gelegt wurden: 4 Problemidentifizierung und generelle Bedürfnisanalyse 4 Bedürfnisanalyse der Lernenden 4 Zielvorstellungen und messbare spezifische Ziele 4 Lehr- und Lernstrategien 4 Implementierung 4 Evaluation und Feedback Bei der Konstruktion richtete man sich nach den Anforderungen moderner und effektiver, evidenzbasierter Ausbildungsstrategien (interaktives Lernen, Video, Rollenspiele, Fokusgruppen, problemorientiertes Lernen) und stellte jeweils für die erarbeiteten Ziele geeignete Lernmethoden, praktische Beispiele, Literaturreferenzen und Evaluationsverfahren zusammen. Bei der Entwicklung des Curriculums ließen sich die Teilnehmer der Arbeitsgruppe von zwei Grundfragen leiten: »Was ist anders bei Gesundheit und Gesundheitsversorgung eines Adoleszenten im Vergleich mit einem Kind oder einem Erwachsenen?« und »Was muss der Lernende wissen und welche Art von Fähigkeiten muss er erwerben, um einem Adoleszenten bei der Bewältigung seiner alltäglichen Gesundheitsaufgaben oder bei einem spezifischen Gesundheitsproblem oder einer Erkrankung adäquat zu helfen?«
Zu diesem Zweck wurden die folgenden acht Grundmodule ausgearbeitet: 1. Definition von Jugend, bio-psycho-soziale Entwicklung 2. Überblick über Jugendgesundheit: Epidemiologie und Prioritäten 3. Die Familie: Einflüsse und Dynamik 4. Setting, Kommunikation und klinische Fertigkeiten, multidisziplinäre Arbeit, Netzwerke 5. Vertraulichkeit, Einwilligung, Rechte, Zugang 6. Kontext: sozioökonomisch, kulturell, ethnisch, Geschlecht 7. Ressourcen, Resilienz, experimentelles und Risikoverhalten 8. Gesundheitserziehung und -förderung, inkl. Schulgesundheit sowie neun darauf aufbauende Module zu spezifischen Themen: 1. Wachstum und Pubertät 2. Ernährung, Bewegung, Adipositas 3. Sexuelle und reproduktive Gesundheit 4. Allgemeine medizinische Probleme der Adoleszenz 5. Chronische Erkrankungen 6. Geistige Gesundheit 7. Essstörungen 8. Substanzgebrauch und -missbrauch 9. Verletzungen und Gewalt, inkl. Unfälle, Selbstschädigung, Missbrauch etc.
Alle Module wurden in Kleingruppen vorbereitet, dann von der Gesamtgruppe abgestimmt, verfeinert und nachbearbeitet. Die Inhalte der Module sind nicht wie bei Fernkursen im Detail formuliert, sondern bilden eher ein Gerüst, das den jeweiligen Bedürfnissen der Lernenden angepasst werden kann. So kann jedes Modul entweder als zwei- bis dreitägiges Seminar angeboten werden, was zu einer Gesamtdauer des Curriculums von 250–300Stunden führen würde, oder in einer Kurzform für verschiedene Berufsgruppen oder Zeitrahmen, wobei als Minimum etwa 3–6 Stunden pro Modul zu rechnen sind. Die Module sind auf einer frei zugänglichen Webseite (http://www.euteach.com) zu finden, die zusätzlich eine Reihe von Trainings- und Evaluationswerkzeugen sowie Links zu verschiedenen Informationsquellen und Experten und weitere Literaturhinweise bietet. Die bisherigen Erfahrungen bei der Anwendung der EuTEACH-Module in zwei Sommerkursen in Lausanne sowie bei verschiedenen Erprobungen in einer Reihe von Ländern (auch in Deutschland) mit Pädiatern, Allgemeinärzten und Gynäkologen sind sehr ermutigend und stimulieren die Arbeitsgruppe bei der weiteren Gestaltung des Curriculums (Michaud et al. 2004).
4
Ausblick
Aus-, Fort- und Weiterbildung in Jugendmedizin können nur in einem langsamen, arbeitsreichen Prozess weiterentwickelt werden. Bisherige nationale und internationale Initiativen sollten sinnvoller Weise zusammengeführt werden. Anfang 2005 ist das EuTEACH-Curriculum soweit fertiggestellt, dass die Übersetzung in die deutsche Sprache erfolgen kann und möglichst bald in Zusammenarbeit mit Universitätskliniken bzw. Public-HealthInstituten Kurse für Interessenten angeboten werden können. Eine wissenschaftlich begleitete EuTEACH-Wochenendseminarreihe für Teilnehmer aus Österreich, der Schweiz und Deutsch-
436
Anhang
land ist in Planung und wird sich hoffentlich befruchtend auf die bisherigen »Jugend in der Praxis«-Seminare auswirken, auf deren Erfahrungen wiederum die EuTEACH-Trainer zurückgreifen können. Im zusammenwachsenden Europa mit unterschiedlichen medizinischen Versorgungssystemen ist die nicht in allen Ländern existierende ambulante Pädiatrie gefährdet. Eine sich ständig fortentwickelnde Expertise in Jugendmedizin könnte somit Teil unserer pädiatrischen Überlebensstrategie werden. Nationale Pädiaterverbände werden in den nächsten Jahren auch verstärkt im Rahmen der Conféderation Européenne des Spécialistes en Pédiatrie (CESP) gemeinsame Wege suchen; eine jugendmedizinische Arbeitsgruppe, die eng mit der EuTEACH working group zusammenarbeiten möchte, hat sich dort bereits installiert. Der europaweite Ausbau von Gesundheitsförderung und Prävention ist ohne ausreichende Berücksichtigung jugendmedizinischer Aspekte ebenfalls nicht möglich. Auch in diesem Bereich besteht ein großer Ausbildungsbedarf bei den zukünftigen Akteuren. Jugendmedizinische Inhalte gehören in die studentische Ausbildung und in die fachärztliche Weiterbildung. Es sind auf Bedürfnisse der Jugendgesundheit ausgerichtete Ausbildungsblöcke erforderlich im stationären und im ambulanten Teil verschiedener Facharztweiterbildungen: In erster Linie gilt es pädiatrische Assistenzärzte auf einen adäquaten Umgang mit Jugendlichen vorzubereiten (Bravender 2002; Caflisch u. Stronski Huwiler 2002). Sowohl in Allgemeinmedizin (Familienmedizin) als auch in Innerer Medizin und Gynäkologie muss dem Übergang adoleszenter Patienten von der Pädiatrie in die Erwachsenenmedizin ein besonderes Augenmerk (Viner 1999) gelten. Jugendmedizinische Fortbildung sollte mehr und mehr Teil eines Gesamtkonzeptes »Jugendgesundheit« sein: Die bisherige Zersplitterung muss einer Bündelung von Initiativen Platz machen. In Deutschland müssen mehr Impulse von Kliniken und Universitäten ausgehen, ohne die die ambulante Jugendmedizin zu »verdorren« droht. Es gilt, die vielen Überschneidungen mit der Sozialpädiatrie (Bode 2004) zu nutzen und Gruppierungen, wie das eher allgemein mit Entwicklungsstörungen in Kindheit und Jugend beschäftigte »Forum für Jugendmedizin« (http://www. forum-jugendmedizin.de) zu integrieren. Um die anstehenden Aufgaben besser zu bewältigen, wäre eine eigene Organisation oder Fachgesellschaft, zumindest aber eine interdisziplinäre »Arbeitsgemeinschaft Jugendgesundheit« sinnvoll, die auch z. B. mit einer eigenen Zeitschrift oder einem Newsletter ähnlich wie die »Schweizerische Gesellschaft für die Gesundheit Adoleszenter« oder die »Sociedad Española de Medicina del Adolescente« den Informationsaustausch gezielt verbessern könnte. Ansätze hierzu hat es in der Vergangenheit schon gegeben, doch sind sie bislang nicht weiter verfolgt worden. Eine Reaktivierung wäre wünschenswert.
Literatur Bode H (2004) Sozialpädiatrie - unverzichtbar in der pädiatrischen Fort- und Weiterbildung. Kinderärztliche Praxis 75 (5): 301–309 Bravender T (2002) Teaching adolescent medicine in the office setting. Curr Opin Pediatr 14 (4): 389–394 Burger W et al. (2003) Reform des Medizinstudiums: Positive Erfahrungen an der Charité Berlin. Dt. Ärzteblatt 100(11): A686-689 Büsching U et al. (2000) Seminarreihe »Jugend in der Praxis«. Neue Standards für die Fortbildung in der Jugendmedizin entwickelt. Kinderund Jugendarzt 31 (Suppl 5): 7–9 Caflisch M, Stronski Huwiler SM (2002) Quels sont les besoins de formations en médecine pour adolescents? Résultats d›une enquête auprès des médecins assistants de pédiatrie en vue de l›elaboration d›un curriculum en médecine de l›adolescence. Med Hyg 60: 2121–2126 Care-Line GmbH (1999) Seminare »Jugend in der Praxis« – Rahmenkonzept. Unveröffentlichtes Manuskript Kern DE, Thomas PA, Howard DM, Bass EB (1998) Curriculum development for medical education: a six-step approach. The Johns Hopkins University Press, Baltimore & London Kraus B, Stronski S, Michaud PA (2003) Training needs in adolescent medicine of practising doctors: a Swiss national survey of six disciplines. Medical Education 37: 709–714 Michaud PA, Stronski S, Fonseca H, Macfarlane A et al. (2004) The development and pilot-testing of a training curriculum in adolescent medicine and health. J Adolesc Health 35: 51–57 Sanci LA et al. (2000) Evaluation of the effectiveness of an educational intervention for general practitioners in adolescent health care: randomised controlled trial. Br Med J 320: 224–230 Viner R (1999) Transition from paediatric to adult care. Bridging the gaps or passing the buck? Arch Dis Child 81 (3): 271–275
B
Wachstum und Entwicklung
B1
Körperliche und psychosoziale Entwicklung von Mädchen – 438
B 1.1 Perzentilenkurven für die Körperhöhe von Mädchen – 438 B 1.2 Perzentilenkurven für den Body-Mass-Index von Mädchen – 439 B 1.3 Perzentilenkurven für die Wachstumsgeschwindigkeit von Mädchen – 440 B 1.4.1 Perzentilenkurven für Wachstum und Gewicht von Mädchen – 441 B 1.4.2 Perzentilenkurven für Wachstum und Gewicht von Mädchen – 442 B 1.5 Stadien der Brustentwicklung und Pubesbehaarung bei Mädchen nach Marshall u. Tanner – 443 B 1.6 Stadien der Brustentwicklung und Pubesbehaarung bei Mädchen nach van Wieringen et al. – 443 B 1.7 Wirkung der Östrogene – 444
B2
Körperliche und psychosoziale Entwicklung von Jungen – 445
B 2.1 Perzentilenkurven für die Körperhöhe von Jungen – 445 B 2.2 Perzentilenkurven für den Body-Mass-Index von Jungen – 446 B 2.3 Perzentilenkurven für die Wachstumsgeschwindigkeit von Jungen – 447 B 2.4.1 Perzentilenkurven für Wachstum und Gewicht von Jungen – 448 B 2.4.2 Perzentilenkurven für Wachstum und Gewicht von Jungen – 449 B 2.5 Stadien der Genitalentwicklung und Pubesbehaarung bei Jungen nach Marshall u. Tanner – 450 B 2.6 Stadien der Penisentwicklung und Pubesbehaarung bei Jungen nach van Wieringen et al. – 450 B 2.7 Testosteronwirkung – 451
B3
Wachstums- und Entwicklungsstörungen – 452
B 3.1 B 3.2 B 3.3 B 3.4 B 3.5 B 3.6 B 3.7
Wachstumsstörungen: Algorithmus – 452 Hochwuchs: Algorithmus – 453 Kleinwuchs: Algorithmus 1 – 454 Kleinwuchs: Algorithmus 2 – 455 Zentrale Pubertas praecox: Algorithmus – 456 Pubertas tarda: Algorithmus – 457 Pubertas tarda mit erhöhtem LH/FSH bei äußerlich männlichem oder weiblichem Genitale: Algorithmus – 458 Periphere Pubertas praecox bei Mädchen: Algorithmus – 459 Pubertas tarda mit erhöhtem LS/FSH bei äußerlich weiblichem Genitale: Algorithmus – 460 Diagnostisches Vorgehen bei Mädchen mit fehlender Entwicklung sekundärer Geschlechtsmerkmale im Alter von 13, 5 Jahren: Algorithmus – 461 Amenorrhoe – 462 Periphere Pubertas praecox bei Jungen: Algorithmus – 462 Pubertas tarda mit erhöhtem LH/FSH bei äußerlich männlichem Genitale: Algorithmus – 463
B 3.8 B 3.9 B 3.10 B 3.11 B 3.12 B 3.13
438
Anhang
B Wachstum und Entwicklung B1
Körperliche und psychosoziale Entwicklung von Mädchen
B 1.1 Perzentilenkurven für die Körperhöhe von Mädchen (7 Kap. 26)
439 B 1 · Körperliche und psychosoziale Entwicklung von Mädchen
B 1.2 Perzentilenkurven für den Body-Mass-Index von Mädchen
440
Anhang
B 1.3 Perzentilenkurven für die Wachstumsgeschwindigkeit von Mädchen (7 Kap. 20)
441 B 1 · Körperliche und psychosoziale Entwicklung von Mädchen
B 1.4.1 Perzentilenkurven für Wachstum und Gewicht von Mädchen (7 Kap. 26)
442
Anhang
B 1.4.2 Perzentilenkurven für Wachstum und Gewicht von Mädchen (7 Kap. 20)
443 B 1 · Körperliche und psychosoziale Entwicklung von Mädchen
B 1.5 Stadien der Brustentwicklung und Pubesbehaarung bei Mädchen (7 Kap. 1). (Nach Marshall u. Tanner (1969) Variations in pattern of pubertal changes in boys and girls. Arch Dis Child 44: 291–303) B1
Fehlende Brustentwicklung, kein palpabler Drüsenkörper
B2
Brustknospung. Brustdrüse und Warzenhof sind leicht erhaben
B3
Brustdrüse ist stärker vergrößert als der Warzenhof
B4
Drüse im Warzenhofbereich hebt sich mit einer eigenen Kontur vom übrigen Anteil der Brust ab
B5
Vorwölbung im Warzenhofbereich des Stadiums B4 weicht in die abgerundete Kontur der erwachsenen Brust zurück
PH1
Keine Behaarung
PH2
Wenige, leicht pigmentierte Schamhaare, glatt oder leicht gekräuselt, erscheinen an den Labia majora.
PH3
Kräftigere, dunklere und stärker gekräuselte Behaarung von umschriebener Ausdehnung
PH4
Kräftige Behaarung, wie bei Erwachsenen, aber geringere Ausdehnung, kein Übergang auf die Oberschenkel
PH5
Behaarung des Erwachsenen mit horizontaler Begrenzung nach oben, Übergang auf die Oberschenkel
PH6
Übergang der Behaarung entlang der Linea alba nach oben
B 1.6 Stadien der Brustentwicklung und Pubesbehaarung bei Mädchen (7 Kap.1). (Nach van Wieringen et al. 1965, 7 Kap. 1)
B1
PH 1
PH 2
PH 3
PH 4
PH 5
PH 6
B2
B3
B4
B5
444
Anhang
B 1.7 Wirkung der Östrogene
445 B 2 · Körperliche und psychosoziale Entwicklung von Jungen
B2
Körperliche und psychosoziale Entwicklung von Jungen
B 2.1 Perzentilenkurven für die Körperhöhe von Jungen (7 Kap. 26)
446
Anhang
B 2.2 Perzentilenkurven für den Body-Mass-Index von Jungen
447 B 2 · Körperliche und psychosoziale Entwicklung von Jungen
B 2.3 Perzentilenkurven für die Wachstumsgeschwindigkeit von Jungen (7 Kap. 20)
448
B 2.4.1
Anhang
Perzentilenkurven für Wachstum und Gewicht von Jungen (7 Kap. 26)
449 B 2 · Körperliche und psychosoziale Entwicklung von Jungen
B 2.4.2
Perzentilenkurven für Wachstum und Gewicht von Jungen (7 Kap. 20)
450
Anhang
B 2.5 Stadien der Genitalentwicklung und Pubesbehaarung bei Jungen (7 Kap.1). (Nach Marshall u. Tanner (1969) Variations in pattern of pubertal changes in boys and girls. Arch Dis Child 44: 291–303) G1
Infantil, Hodenvolumina < 3ml
G2
Vergrößerung des Skrotums, Hodenvolumina 3-8ml
G3
Vergrößerung des Penis in die Länge, weitere Vergrößerung von Testes und Skrotum
G4
Penis wird dicker, Entwicklung der Glans, Skrotalhaut wird dunkler, Samenerguß
G5
Genitalien ausgereift wie bei erwachsenem Mann, reife Spermien
PH1
Keine Behaarung
PH2
Wenige, leicht pigmentierte Haare um den Penis und am Skrotum
PH3
Kräftigere, dunklere und stärkere Behaarung, die sich in der Mittellinie über der Symphyse ausbreitet
PH4
Kräftige Behaarung, wie bei Erwachsenen, aber geringere Ausdehnung
PH5
Behaarung des Erwachsenen mit horizontaler Begrenzung nach oben, Übergang auf die Oberschenkel
PH6
Übergang der Behaarung bis zum Nabel
B 2.6 Stadien der Penisentwicklung und Pubesbehaarung bei Jungen (7 Kap.1). (Nach van Wieringen et al. 1965, 7 Kap. 1)
G1
G2
PH 1
PH 2
G3
G4
PH 3
PH 4
PH 5
PH 6
G5
451 B 2 · Körperliche und psychosoziale Entwicklung von Jungen
B 2.7 Testosteronwirkung
Kleinwuchs bei hormonellen Störungen: z.B. o Pubertas tarda o Hypothyreose o Wachstumshormonman gel o Diabetes mellitus (schlecht eingestellt) o Cushing-Syndrom u.v.a. o Chemotherapiefolge/Bestrahlungsfolge
teilweise pathologisch
normal
Konstitutionelle Entwicklungsbeschleunigung Adiposogigantismus
Homozystinurie Marfan-Syndrom Chromoso male Aberration (z.B. Klinefelter-Syndrom (1:500)
Familiärer Hochwuchs
o o
Adrenogenitales Syndrom Pubertas praecox
Knochenalter beschleunigt / hormonelle Störungen
Knochenalter beschleunigt
Kleinw uchs bei chronischen E r k r a n k u n g e n: z . B . o Zöliakie /Morbus Crohn o Niereninsuffizienz o Essstörungen o H ä m a t o l o g i s c h e Er k r a n k u n g e n
teilweise pathologisch
Basisdiagnostik (2) X-HWK /BB, BSG, allg. Labor IgF 1/IgF BP3 TSH, f T4 Gliadin-/Endomysium AK
NEIN
JA
Wachstums- und Entwicklungsstörungen
Knochenalter verzögert
normal
Körperlic he Entw icklung proportioniert / Längenkurve läuft auf Zielgrößenbereich zu, Pubert ätsentw. adäquat
B3
Konstitutionelle Entwicklungsverzögerung i d i op a t h i s c h e r K l e i n w u c h s
Syndrome mit Kleinwuchs Noonan Syndrom Ullrich-Turner-Syndrom Prader-Willi-Syndrom Russel-Silver-Syndrom Williams-Beuren-Syndrom Trisomie 21 Skelettdysplasien
JA
Hochwuchs (>der 97er Perzentile)
Anhang
•
•
Familiärer Kleinwuchs
Basisdiagnostik (1): klinisch o Längen- und Gewichtsentwicklung o Wachstumsgeschw. (cm/Jahr) o Zi elgröß e o Pubertätsentwicklu ng
K l e i n w uc h s ( < d e r 3 e r P e r z e n t i l e )
B. Stier
WACHSTUMSSTÖRUNGEN
452
B 3.1 Wachstumsstörungen: Algorithmus
453 B 3 · Wachstums- und Entwicklungsstörungen
B 3.2 Hochwuchs: Algorithmus
Körperlänge/-höhe > 97 Perzentile
Wachstumsrate 25.−75. Perzentile
Normvariante, z. B. familiärer Hochwuchs
Pathologische Ursachen, z. B. Sotos-Syndrom
Wachstumsrate > 75. Perzentile
Normvariante, z. B. Frühentwickler
Pathologische Ursachen, z. B. adrenogenitales Syndrom
454
Anhang
B 3.3 Kleinwuchs: Algorithmus 1
Familienanamnese und Wachstumsverlauf übereinstimmend?
ja
Normvarianten: familiärer Minderwuchs KEV
ja
proportionierter Kleinwuchs
nein
Körperproportionen erhalten? nein
dysproportionierter Kleinwuchs
Kalzium- und Phosphathomöostase erhalten?
Rachitis
nein
ja
kurzgliedriger Kleinwuchs?
nein
kurzrumpfiger Kleinwuchs
ja
Akromelie • NievergeltSyndrom • periphere Dysostosen • akromikrische Dysplasie
• spondyloepiphysäre Dysplasie • multiple epiphysäre Dysplasie • metatrope Dysplasie • spondylometaphysäre Dysplasie • Mukopolysaccharidosen • Brachyolmie
Mesomelie
Rhizomelie
Mikromelie
• LangeSyndrom u. a. • Achondroplasie • Léri-WeillSyndrom
• Hypochondroplasie • multiple epiphysäre Dysplasie • Chondrodysplasia punctata
• letale OCD • KurzrippSyndrom
455 B 3 · Wachstums- und Entwicklungsstörungen
B 3.4 Kleinwuchs: Algorithmus 2
• Chromosomale Anomalien • Skelettdysplasien
• Anomalien, • Fehlbildung • Dysproportionierung
Auxiologische Diagnostik Größe < 3. Perzentile
BB, BSG, FE, Elektrolyte, Krea, GOT, PPT, Gamma GT, AP, Gliadin-AK, Endomysiale AK T4, TSH, Urinstatus, Freies Kortisol im Urin
IGF 1, IGFBP 3
Organische Störung
pathologisch
• idiopathischer Kleinwuchs • nichtfamiliärer/familiärer KW • intrauteriner Kleinwuchs
erniedrigt
2 WachstumshormonStimulationstests normal
erhöht
erniedrigt
IGF-GenerationsTest, WachstumshormonBindungsprotein, Molekulargenetik
Spontansekretion des Wachstumshormons
erniedrigt
Neurosekretorische Dysfunktion
WachstumshormonResistenz
„Klassischer WachstumshormonMangel“
normal
MRT
Normalbefund
MRT evtl. GnRH-Test Molekulargenetik
456
Anhang
B 3.5 Zentrale Pubertas praecox: Algorithmus
457 B 3 · Wachstums- und Entwicklungsstörungen
B 3.6 Pubertas tarda: Algorithmus. (Mod. Nach Hofmann u. Greydanus)
458
Anhang
B 3.7 Pubertas tarda mit erhöhtem LH/FSH bei äußerlich männlichem oder weiblichem Genitale:
Algorithmus
Familie mit Entwicklungsverzögerung
ja
Konstituionelle Entwicklungsverzögerung
Gestörtes Riechvermögen
ja
Kallmann-Syndrom
Extremer Gewichtsverlust Exzessives Training
ja
Formenkreis Anorexia nervosa
TSHႣ T4Ⴍ
ja
Primäre Hypothyreose
Pathologisches Wachstum und Stammfettsucht
ja
Cushing-Syndrom
Adipositas und mentale Retardierung
ja
Prader-Willi-Syndrom
Adipositas, Retinitis pigmentosa, Polydaktylie
ja
Laurence-Moon-Syndrom Bardet-Biedl-Syndrom
Angeborene NNR-Insuffizienz
ja
X-chromosomale NNRInsuffizienz mit hypogonadotropen Hypogonadismus
Pathologisches Wachstum und STH-Mangel
ja
ZNS-Läsion/Tumor mit multiplen hypothalamisch-hypophysären Ausfällen
nein
Isolierter hypogonadotroper Hypogonadismus
459 B 3 · Wachstums- und Entwicklungsstörungen
B 3.8 Periphere Pubertas praecox bei Mädchen: Algorithmus
460
Anhang
B 3.9 Pubertas tarda mit erhöhtem LS/FSH bei äußerlich weiblichem Genitale: Algorithmus
Pubertas tarda mit LH/FSHႣ bei äußerlich weiblichen Genitale
Karyotyp 46 X0 und Mosaik
ja
Ullrich-TurnerSyndrom
ja
Testosteron-/Östradiol-BiosyntheseDefekt Androgenresistenz reine Gonadendysgenesie
ja
Primärer Hypogonadismus nach gonadalen Noxen
ja
Autoimmune polyglanduläre Syndrome
nein
Karyotyp 46 XY Männlich
nein
Z. n. Oophoritis Trauma Radiatio Chemotherapie
nein
• Alopezie • Vitiligo • Perniziöes Anämie • Chronisch aktive Hepatitis • Myasthenia gravis • Andere endokrine • Ausfälle (M. Addison, Hypoparathyreoidismus)
TurnerSyndrom/ MosaikTurner
NEIN
Normaler Karyotyp 46XX
Primäre ovariale Dysfunktion (autoimmun oder andere Genese)
JA
erniedrigt
Konstitutionelle Entwicklungsverzögerung
Klein gemessen am chronologischen Alter/„normal“ gemessen am verzögerten Knochenalter Späte Wachstumsverminderung, evtl. zusätzlich Diabetes insipidus
ZNS-Tumor
Längen-, Gewichtund Wachstumsverlauf
KallmannSyndrom
Nicht normal
normal
Isoliert er Gonadotropinmangel
Riechvermögen
Normal, Ausbleiben des Pubertätswachstumspurts
B 3.10
erhöht
Serum Gonadotropine
B 3 · Wachstums- und Entwicklungsstörungen 461
Diagnostisches Vorgehen bei Mädchen mit fehlender Entwicklung sekundärer Geschlechtsmerkmale im Alter von 13, 5 Jahren: Algorithmus
462
Anhang
B 3.11
Amenorrhoe: Algorithmus
B 3.12
Periphere Pubertas praecox bei Jungen: Algorithmus Hormonuntersuchung
T4 erniedrigt TSH erhöht?
Nebennierenrindenandrogene erhöht? Ja
Ja
Nein Sonographisch Hodentumor
17-Hydroxy-Progesteron erhöht? Ja
Nein
LeydigzellAdenom Test. NNR Gewebe bei AGS
Ja
Cafe-au-laitFlecken und fibröse Knochendysplasie Nein
Primäre Hyphothyreose mit Pseudopubertas praecox als „Hormonal Overlap-Syndrom“ Ja
Ja Nein
21 Hydroxylase Defekt 11-beta Hydroxylase Defekt
Nein
Aktivierende Mutation im LH-Rezeptor Gen
NebennierenRindenAdenom o. -karzinom
McCuneAlbrightSyndrom
Familiäre Männliche Pubertas praecox sporadisch
Paraneoblastische Hormonbildung bei Dysgerminom, Teratom, Chorionepitheliom, Hepatoblastom, Pinealom NNR-AD. o. Karz.
BetaHCG erhöht? LH/alpha Untereinh. Nein Ingestion oder Anwendung von Östrogenen
Exogene Östrogenexposition
463 B 3 · Wachstums- und Entwicklungsstörungen
B 3.13
Pubertas tarda mit erhöhtem LH/FSH bei äußerlich männlichem Genitale: Algorithmus
Karyotyp 46 xy
nein
46 XX-Männer 47 XXY Klinefelter 45 X=/46 XY mit männlichem Phänotyp
ja
Primärer Hypogonadismus nach gonadalen Noxen
ja
Noonan-Syndrom
ja
Autoimmune polyglanduläre Syndrome
ja
Z. n. Orchitis Kryptorchismus Bestrahlung Chemotherapie
nein
Ullrich-TurnerSyndrom Stigmata und RechtsherzVitium
nein
• Alopezie • Vitiligo • Perniziöse Anämie • Chronisch aktive Hepatitis • Myasthenia gravis • Andere endokrine • Ausfälle (M. Addison, Hypoparathyreoidismus)
C
Jugendspezifische Erkrankungen und Probleme
C1
Untersuchung, Diagnose, Erkrankung – 466
C 1.1 C 1.2 C 1.3 C 1.4 C 1.5 C 1.6
Untersuchungsplan zur Ermittlung von Übergewicht und Adipositas Übergewicht: Algorithmus – 467 Epilepsie: Algorithmus – 468 Hämaturie: Algorithmus – 469 Leukozyturie: Algorithmus – 470 Kopfschmerztagebuch (Muster) – 471
C2
Untersuchung, Diagnose, Erkrankung: Mädchen – 472
C 2.1 C 2.2 C 2.3 C 2.4 C 2.5 C 2.6 C 2.7
Hirsutismus: Algorithmus – 472 Vaginalabstriche: Algorithmus – 473 Vaginaler Ausfluss: Algorithmus – 474 Fluor vaginalis: Algorithmus – 475 Vulvovaginitis: Tabelle zur Diagnostik – 476 Vulvovaginitis: Tabelle zu den Ursachen – 476 Ovarialzysten: Algorithmus – 477
C3
Untersuchung, Diagnose, Erkrankung: Jungen – 478
C 3.1 C 3.2 C 3.3 C 3.4 C 3.5 C 3.6
Diagnostisches Vorgehen bei skrotaler Schwellung: Algorithmus – 478 Schmerzhafte Schwellung des Skrotums: Algorithmus – 479 Schmerzlose skrotale Raumforderung: Algorithmus – 480 Schmerzlose Schwellung des Skrotums: Algorithmus – 481 Akutes Skrotum: Algorithmus – 482 Tabelle zur Differenzialdiagnose Hodentorsion – Epididymitis/Orchitis – 482
– 466
466
Anhang
C Jugendspezifische Erkrankungen und Probleme C1
Untersuchung, Diagnose, Erkrankung
C 1.1 Untersuchungsplan zur Ermittlung von Übergewicht und Adipositas
467 C 1 · Untersuchung, Diagnose, Erkrankung
C 1.2 Übergewicht: Algorithmus
Gewicht > 120% des Längensollgewichts oder BMI > 97. Perzentile
Kleinwuchs oder Wachstumsverzögerung
Immobilität (z.B. Meningomyelozele)
ZNS-Ausfälle oder neurologische Auffälligkeit
Medikamente
– Kraniopharyngeom – andere ZNSErkrankungen – oder ZNSMalformationen
– Glukokortikoide – Thyreostatika – Valproinsäure u.a.
Kein Anhalt für Primärerkrankung
Neugeborenes mit Adiposogigantismus
Beurteilung des Gesundheitsrisikos
– diabetische Fetopathie – WiedemannBeckwith-Syndrom – Simpson-GolabiBehmel-Syndrom – Solos-Syndrom
Psychomotorische Retardierung?
ja
nein
– Prader-LabhartWilli-Syndrom – Laurence-MoonBardet-BiedlSyndrom – Pseudohypoparathyreoidismus – Pseudopseudohypoparathyreoidismus
– GH-Mangel – GH-Resistenz – CushingSyndrom – erworbene Hypothyreose – Pseudohypoparathyreoidismus – Pseudopseudohypoparathyreoidismus
– angeborene Hypothyreose
– mangelndes Skelettwachstum
468
Anhang
C 1.3 Epilepsie: Algorithmus
Anfallsanamnese, Klassifikation der Anfälle, ggf. EEG
nicht eleptiform
Synkopaler Anfall?
ja
Synkope (kardio-vaskuläre Diagnostik)
nein
Klinische DD • Affektkrämpfe • Pavor nocturnus • Migräneaura • extrapyramidale Symptomatik?
epileptifom
Gelegenheitskrampf
ja
nein
Gelegenheitskrämpfe • Fieberkrämpfe • Elektrolytstörungen • Blutung • Trauma • ZNS-Infektion • Hypoglykämie
Klassifikation des epileptischen Syndroms
• Symptomatische Epilepsie aufgrund des epileptischen Syndroms (Lennox-, West-Syndrom, fokale Anfälle) wahrscheinlich? • Entwicklungsretardierung? • Neurologische Symptome? • Dysmorphien? • Organomegalien?
nein
Idiopathische Epilepsie (weitere Diagnostik bringt in der Regel keine kausale Klärung)
ja
Bildgebende und Stoffwechseldiagnostik, abhängig von Leitsymptomen und Anamnese
Symptomatische Epilepsie mit geklärter Ätiologie
469 C 1 · Untersuchung, Diagnose, Erkrankung
C 1.4 Hämaturie: Algorithmus
Streifentest
negativ
Medikamente Farbstoffe
negativ
Hämoglobinurie Myoglobinurie
positiv
Urinmikroskopie auf Erythrozyten
positiv eumorphe Erythrozyten
dysmorphe Erythrozyten, Erythrozytenzylinder
Urinprotein >4mg/m2/h >90mg/l
Urinprotein <4mg/m2/h <90mg/l
• • • • • • • • • • • • • • • • •
Hyperkalziurie Nephrokalzinose Uro-/Nephrolithiasis Hyperoxalurie Zystitis/Trichomonaden/Tbc/ Bilharziose Trauma/Fremdkörper Tumoren (Wilms-Tumor, Angiomyolipome) Zystennieren Nierenvenenthrombose, a.-v.-Fisteln Hydronephrose vesiko-uretero-renaler Reflux Menstruation/Masturbation Koagulopathien Hämoglobinopathien Leukämie Medikamente Münchhausen-/Münchhausen-byproxy-Syndrom
Familienanamnese?
negativ
• IgA-Nephritis • postinfektiöse GN • körperliche Belastung • isolierte Mikrohämaturie
positiv
• Alport-Syndrom • benigne familiäre Hämaturie
• Postinfektiöse GN • IgA-Nephritis • Schoenlein-HenochNephritis • Alport-Syndrom • hämolytisch-urämisches Syndrom • membranoproliferative GN • fokal segmentale Glomerulosklerose • Lupus erythematodes • Shunt-Nephritis • Nail-Patella-Syndrom
470
Anhang
C 1.5 Leukozyturie: Algorithmus
Bakteriurie
ja
Harnwegsinfektion
ja
Urethritis (Chlamydien, Ureoplasma, Trichomonaden, Oxyuren)
nein
• Dysurie, Strangurie, • urethrale Sekretion • Juckreiz nein
• Nierenparenchymdestruktion im Sonogramm • Entzündungsparameter im Blut
nein
xanthogranulomatöse Pyleonephritis
Säurefeste Stäbchen
ja
ja
Nierentuberkulose
nein
• Niereninsuffizienz • eosinophile Leukozyturie • tubuläre Proteinurie
ja
tubulo-interstitielle Nephritis
nein
Nephrolithiasis, evtl. Nephrokalzinose
ja
Hyperurikämie
ja
• Hyperkalziurie • distale renal tubuläre Azidose • Oxalose
Uratnephropathie
Häufigkeit
Zeitdauer Stärke (1‒6)
Lokalisation Begleitsymptome Bemerkungen
Bemerkungen
Ernährung
Freizeitaktivitäten
Sport
Soziales Umfeld
Schule
Familienanamnese
Allgemeine Anamnese
Körperliche Bewegung und der Einsatz von Entspannungstechniken können einen sehr hohen therapeutischen Nutzen haben!
Datum, Uhrzeit
Kopfschmerztagebuch
Kopfschmerztagebuch (Muster) von . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
C 1 · Untersuchung, Diagnose, Erkrankung 471
C 1.6 Kopfschmerztagebuch (Muster)
472
Anhang
C2
Untersuchung, Diagnose, Erkrankung: Mädchen
C 2.1 Hirsutismus: Algorithmus gepoolte Serumprobe: LH FSH, Testosteron, DHEA-S, 17 α-OH-Progesteron, Androstendion, SHBG
Testosteron < 0,5 ng/ml
Androstendion < 2,7 ng/ml
Testosteron > 0,5 ng/ml
DHEA-S < 2800 ng/ml
DHEA-S > 2800 ng/ml
17 α-OH-Progesteron > 1 ng/ml
Dexamethasonkurztest (2 mg Dexamethason am Vorabend)
LH/FSH < 0,9
negativ
positiv
Triptorelintest (Blutabnahme 20–24 Std. nach 0,1 mg Triptorelin s. c.) positiv
idiopathischer Hirsutismus
funktionelle ovarialle Hyperandrogenämie
negativ
einfache adrenale Hyperandrogenämie
Testosteron > 1,5 ng/ml
Dexamethasonkurztest (2 mg Dexamethason am Vorabend)
positiv
negativ
ACTH-Bolustest (250 µg Synacthen i. v.)
Bildgebende Diagnostik: Ovarialultraschall MRT Nebenniere MRT Hypophyse
positiv (abhängig vom vermuteten Enzymdefekt)
negativ
adrenogenitales Syndrom
selektive Organvenenkatheterisierung
Tumornachweis
473 C 2 · Untersuchung, Diagnose, Erkrankung: Mädchen
C 2.2 Vaginalabstriche: Algorithmus
Start
Objektträger/ Abstrichröhrchen und Begleitpapiere vorbereiten, Abstrichträger
Lagerung der Patientin auf dem Untersuchungsstuhl
Gewinnung von Zellmaterial HPV: Abstrich mit Bürste, Oberen Teil abbrechen, Röhrchen korrekt verschließen
Zytologie: Objektträger in Glasküvette mit 96% Alkohol einbringen
Chlamydien: Abstrich intrazervikal entnehmen, beschriften und sofort bearbeiten
Achtung! Bitte Verwechslungen ausschließen!
Bearbeiten des entnommenen Materials
Aufklärung über weiteres Vorgehen, Verabschiedung der Patientin
Prüfen der Objektträger/ Abstrichröhrchen und Begleitpapiere – Verpacken in entsprechende Versandtüten
Ende
474
Anhang
C 2.3 Vaginaler Ausfluss: Algorithmus. (Nach Garfunkel LC, Kaczorowski J, Christy C: Mosby‘s Pediatric clinical advisor. Mosby, St.Louis)
475 C 2 · Untersuchung, Diagnose, Erkrankung: Mädchen
C 2.4 Fluor vaginalis: Algorithmus
Fluor blutig
• Fremdkörper • Verletzung
ja
nein
Vaginoskopie
eitrig
nein
Vulvovaginitis/ Pruritus
Kultur
Histologie
Nativpräparat
Vaginitis
Tumor
Flagellaten
nein
ja
Färbung, Kultur
Trichomonadenvaginitis
Wurmeier im Stuhl
Darmparasiten (Oxyuriasis u. a.)
ja
nein
Nativpräparat
Neugeborene/ prämenarchal
physiologischer Fluor
spezifische Infektion (Gonokokken u. a.)
Mischinfektion
unspezifische Vulvovaginitis
ja
rezidivierende Harnwegsinfekte
Sonographie MCU, i. v. Pyleogramm
Hyphen
„clue cells“
atropisches Vaginalepithel
urogenitale Fehlbildung
Vaginalmykose
Aminkolpitis
Östrogenmangelfluor
476
Anhang
C 2.5 Vulvovaginitis: Tabelle zur Diagnostik. (Mod. nach Heinz , TW Gynäkologie 9, 1996)
C 2.6 Vulvovaginitis: Tabelle zu den Ursachen (Nach Heinz (1994) Kinder- und Jugendgynäkologie in Sprechstunde und Klinik, Deutscher Ärzteverlag, Köln)
477 C 2 · Untersuchung, Diagnose, Erkrankung: Mädchen
C 2.7 Ovarialzysten: Algorithmus
Sonographie
Suspekte Ovarialzysten
Nicht suspekte Ovarialzysten
• Unregelmäßige äußere Begrenzung • verdickte Zystenwand • inhomogene Binnenstruktur • gekammerte Zysten mit Septen unterschiedlicher Dicke
• Glatte äußere und innere Begrenzung • dünne Zystenwand • homogene echofreie oder echoarme Binnenstruktur
Sonographische Kontrolle bei großer Zyste
Persistieren, akute/anhaltende Beschwerden
Zystenresektion/ Histologie
Rückbildung
Funktionelle Ovarialzyste
• Eingeblutete/ torquierte Ovarialzyste • Ovarialtumor
478
Anhang
C3
Untersuchung, Diagnose, Erkrankung: Jungen
C 3.1 Diagnostisches Vorgehen bei skrotaler Schwellung. (Nach Garfunkel LC, Kaczorowski J, Christy C: Mosby‘s Pediatric clinical advisor. Mosby, St.Louis)
479 C 3 · Untersuchung, Diagnose, Erkrankung: Jungen
C 3.2
Schmerzhafte Schwellung des Skrotums: Algorithmus
Lokalisation der Schwellung
• Purpura SchoenleinHenoch • Kawasaki-Syndrom
Skrotalwand
intraskrotal
Leistenhernie
Ileus
Hoden/Nebenhoden
Trauma
ja
• • • •
ja
• Epididymitis • Orchitis
Hodenprellung Hämatom Hodenruptur Hämatozele
nein • Fieber • Miktionsprobleme • Harnwegsinfekt nein
starke Schmerzen am ganzen Hoden?
ja
Hodentorsion
nein
Blue dot sign*?
Hydatidentorsion
* Unter Blue dot sign ist das bläuliche Hervorschimmern der stielgedrehten Hydatide durch die Skrotalhaut im Rahmen der körperlichen Untersuchung zu verstehen.
480
Anhang
C 3.3 Schmerzlose skrotale Raumforderung: Algorithmus. (Nach Skoog S J (1997) Benign and malignant pediatric scrotal masses. In: Rushton HG, Greenfield SP (eds) (1997) Pediatric Urology.Ped. Clin North Am Vol 44 (5). Saunders, Philadelphia)
481 C 3 · Untersuchung, Diagnose, Erkrankung: Jungen
C 3.4 Schmerzlose Schwellung des Skrotums: Algorithmus
Lokalisation der Schwellung
idiopathisches Skrotalödem
Skrotalwand
• pränatale Hodentorsion • Hodentumor
Hoden/Nebenhoden
intraskrotal
responibel?
ja
Hernie
nein
zystisch?
ja
• • • •
Hydrozele Spermatozele Funikulozele Varikozele
nein
solide
• Samenstrangtumor • Nebenhodentumor
482
Anhang
C 3.5 Akutes Skrotum
C 3.6 Tabelle zur Differenzialdiagnose Hodentorsion – Epididymitis/Orchitis. (Nach Joffe A, Blythe MJ (2003) Handbook of adolescent medicine. Adolescent Medicine STARS 14/2. Hanley & Belfus, Philadelphia Differenzialdiagnose Hodentorsion – Epididymitis/Orchitis Hodentorsion
Epididymitis/Orchitis
Alter
Eher jüngere Teenager
Ältere (sexuell aktive) Teenager
Vorausgegangene schmerzhafte Episoden
Bei ca. der Hälfte
Normalerweise nicht
Schmerzbeginn
Plötzlich/akut
Langsam ansteigend über Stunden bis Tage
Urethrale Symptome
Normalerweise nicht
Evtl. Dysurie, Juckreiz, urethraler Ausfluss
Lage des Hodens
Höher im Skrotum – Längsachse horizontal
Normale Position
Prehn’sches Zeichen (sehr unsicher!)
Kein Nachlassen des Schmerzes bei Anheben des Hodens
Nachlassen des Schmerzes bei Anheben des Hodens
Kremasterreflex
Gewöhnlich nicht auslösbar
In der Regel auslösbar
Urinanalyse
Negativ
Leukozyturie
Urinkultur
Negativ
Evtl. positiv (Cave: Chlamydien!)
D
Rehabilitation und Nachsorge
D1
Rehabilitation: Spina bifida, Hydrozephalus, Zerebralparese – 484 A. Ermert
D2
Empfehlungen zur Tumor- und Spätfolgennachsorge – 491
D 2.1 D 2.2 D 2.3 D 2.4 D 2.5 D 2.6
ALL-BFM 2000 – 491 AML-BFM 1998/2004 – 492 Ewing-Sarkom – 493 Neuroblastom-Studien NB-97/NB-04 – 494 Osteosarkom – 495 Weichteilsarkom – 496
484
Anhang
D Rehabilitation und Nachsorge D1
Rehabilitation: Spina bifida, Hydrozephalus, Zerebralparese A. Ermert
1
Rehabilitationsplan für Jugendliche mit Spina bifida und Hydrozephalus
Die Nachsorge erfolgt wegen des teilweise notwendigen hohen Spezialwissens in der Regel durch Spezialambulanzen oder/und Organspezialisten (Kinderchirurgen, Neurochirurgen, Urologen, Orthopäden u. a.). Keine Änderung des Krankheitsverlaufes eines Organes bleibt ohne Auswirkungen auf andere Organe und soziale Bereiche. Es ist deshalb eine besondere und anspruchsvolle Aufgabe, 4 Auswirkungen der (Änderung der) Versorgung eines Organbereiches auf andere Bereiche zu überprüfen und zu berücksichtigen. 4 Individuelle Belastungsfähigkeit sowie den besonderen sozialen Bedingungen (zur Verfügung stehende Zeit, Familie u. a.) anzupassen. Hierzu wurden spezielle Vorsorgeuntersuchungen ausgearbeitet. Sie beginnen bereits während der Schwangerschaft, folgen zunächst dem eingeführten Vorsorgeschema im Kindesalter und dürfen im Kindesalter nur in Ausnahmefällen einen Zeitraum von 6 Monaten, im Erwachsenenalter von 12 Monaten überschreiten. Während des pubertären Wachstumsschubs können verstärkt neurologische Veränderungen (meist durch das sekundäre „tethered cord“) auftreten, weshalb die Untersuchungsabstände auf 6 Monate zu verdichten sind.
1.1
Patientendossier
4 Diagnosenübersicht: Führen einer Übersicht der unveränderlichen Diagnosen, durchgemachten speziellen Erkrankungen, ausgeführten Operationen, speziellen Risiken (z. B. Allergien) 4 Stationäre Aufenthalte: Führen eines Registers der stationären Aufenthalte (Alter, Dauer, Ort, Grund) zur besseren Verfügbarkeit oft aufwendiger klinischer Berichte und Untersuchungsergebnisse. 4 Radiologische Untersuchungen: Führen eines Registers der ausgeführten radiologischen Untersuchungen (Art, Organsystem, Ort, Ergebnis) zur Abschätzung der Strahlenbelastung und Vermeidung von Doppeluntersuchungen. 4 Wichtige Adressen 4 Übersicht über ambulante Untersuchungen (mit km-Angabe) (Individuelle) Zusammenstellung von (schriftlichen) diagnostischen und therapeutischen Anleitungen; vgl. spezielles Handbuch
1.2
Vorsorgeuntersuchungen
Organbezogene Überwachungsinhalte und Therapien Wachstum Material: Längen-Gewichtskurve. Überwachungsinhalte: 4 Überwachung des Wachstumsverlaufes (Messen der ScheitelFersen-Länge im Liegen) 4 Messen der Spannweite (als lähmungsunabhängiges Längenmaß) zur Früherkennung von Kleinwuchsformen, vorzeitig einsetzender Pubertät 4 Überwachung der wachstumsbedingten relativen Verkürzung der (peripheren) Anteile des hirnwasserableitenden Systems 4 Frühe Überwachung der Gewichtsentwicklung mit einer Längen-/Gewichtskurve oder dem Body-Mass-Index (BMI). Es besteht vergleichsweise hohes Risiko zur Entwicklung von Übergewicht, das sich auf die gesamte Rehabilitation (vor allem auf die Mobilität) ungünstig auswirken kann; schon bei ersten Abweichungen der Gewichtskurve im Sinne eines Übergewichtes ist eine frühe und kontinuierliche diätetische Beratung angezeigt Kopf Material: Kopfumfangskurve. Überwachungsinhalte: 4 Kopfwachstum: Führen einer Kopfumfangskurve 4 Ventrikelweite: radiologisch (CT, MR) 4 Hirnwasserableitung: Funktion, Ausschluss mögl. Komplikationen 4 Klinische Hirndruckzeichen 4 Bei Hirndruckverdacht: augenärztliche Untersuchung (Stauungspapille, Venenstauung), sonographischer Nachweis der Aufweitung des N. opticus vor Eintritt in das Auge und Nachweis freier Flüssigkeit im Bauchraum 4 Sicherung einer regelmäßigen neurochirurgischen Überwachung Augen Material: E-Haken oder ähnliches Screening. Überwachungsinhalte: 4 Sehkraft (Visus: Nahvisus, Fernvisus); regelmäßig orientierend: bei Einnahme von atropinähnlichen Medikamenten (z. B. Oxybutinin...) 4 Stereosehen, Farbsehen. Perimetrie (sobald/soweit möglich) 4 Achsenstellung 4 Ausschluss von Hirnüberdruckzeichen bei Verdacht auf Hirnüberdruck: sonographisch: Dicke des N. opticus, augenärztlich: Augenhintergrund 4 Sicherung einer regelmäßigen augenärztlichen Überwachung Zerebrale Krampfanfälle (etwa 10%) Material/Methode: Hirnstrombild. Überwachungselemente: 4 Ausschluss pathologischer Entwicklungen durch Ableitung von Hirnstrombildern 4 Bei krankhaften Veränderungen bzw. manifestem Krampfleiden: dichtere EEG-Kontrollen
485 D 1 · Rehabilitation: Spina bifida, Hydrozephalus, Zerebralparese
4 Ggf. Überwachung von Medikamenten-Blutspiegeln bei Einnahme von antikonvulsiven Medikamenten Neurologische Funktionen Material: Neurologischer Status, Sensibilitätsschema, Muskelfunktionstest. Überwachungsinhalte: 4 Regelmäßiger neurologischer Status (Reflexe, Sensibilität; Trophik, Durchblutung) wegen möglicher wachstumsbedingter bzw. regressiver neurologischer Veränderungen 4 Festlegung/Überprüfung der Lähmungshöhe und der Sensibilitätsausfälle 4 Definition besonders verletzungsgefährdeter Hautzonen mit Darstellung in einem Sensibilitätsschema 4 Radiologische Diagnostik bei folgenden Symptomen: 5 Bei allen neurologischen Auffälligkeiten/Störungen oberhalb der Spaltbildung 5 Bei vorzeitig einsetzenden Verbiegungen der Wirbelsäule 5 Erhöhung der Grundspannung der Muskulatur (z. B. bei Morgensteifigkeit) 5 Bei zunehmenden Reflexsteigerungen 5 Zunehmenden (therapieresistenten) Gelenkfehlstellungen 5 Bei Auftreten unwillkürlicher Bewegungen 5 Bei Änderungen der Harnblasenfunktion sind folgende Untersuchungen angezeigt: 5 Sonographische Überprüfung des Spannungszustandes des Rückenmarks 5 Kernspintomographische Untersuchung (Schädel bis Steißbeinregion): Bei bekannter oder vermuteter Verwachsung von Rückenmark und Operationsnarbe (»tethered cord«) spätestens vor Erreichen des pubertären Wachstumsschubes; zum Ausschluss einer Rückenmarkskompression im Bereich des kraniozervikalen Überganges; zum Ausschluss einer Höhlenbildung oder (multi-?) zystischen Neubildung im Verlauf des Rückenmarks; zum Ausschluss von Neubildungen (Lipome/Epidermoide) 4 Elektrophysiologische Diagnostik motorischer und sensibler Funktionen: bei Hinweisen auf zunehmende neurologische Veränderungen (s. oben) 4 Muskelfunktionstest Atmung/Lunge Überwachungsinhalte: 4 Überprüfung von Lungenfunktion und (Langzeitmessung der) Atmung bei neurologischen Veränderungen durch eine Kompression im Bereich des kraniozervikalen Überganges (Chiari II-Fehlbildung) oder/und bei (nächtlicher) auffälliger Atmung 4 Ambulant auszuführende nächtliche Atemlangzeitmessungen, Lungenfunktionsdiagnostik, ggf. Schlaflaboruntersuchung(en) bei: 5 Atemstörungen tagsüber und nachts 5 Tagesmüdigkeit 5 Belastungsabhängigen Luftnotzuständen (z. B. bei Physiotherapie u. a.) 5 Auffälliger nächtlicher Atmung 5 Erheblicher spinaler Hypertonie der Arme
5 Zunehmender Skoliose 5 Kraniospinaler Kompression durch Chiari-Fehlbildung 5 Rez. Bronchitiden und/oder Pneumonien 4 Stationär im Schlaflabor bei erheblich auffälligen Untersuchungsbefunden Endokrine Funktionen Material: Wachstums-(Längen-/Gewichts-)Kurve. Überwachungsinhalte: 4 Längenwachstum (Scheitel-Sohlen-Länge, Spannweite): Früherkennung von (endokrinologisch) bedingtem Kleinwuchs, Früherkennung einer vorzeitigen Pubertätsentwicklung (Ausschluss einer Pubertas praecox bei Entwicklung von Pubertätsmerkmalen vor dem 8. Lebensjahr) 4 Gewicht: Frühe Beachtung der Gewichtsentwicklung mit Wachstums-Gewichts-Kurve, oder Body-Mass-Index (BMI). Bei Entwicklung von Übergewicht: regelmäßige diätetische Beratungen. Bei manifestem Übergewicht: diätetische, ärztliche und psychologische Behandlung 4 Ggf. Ausschluss/Nachweis einer Pubertas praecox oder Pubertas tarda Entwicklung Motorik/Mobilität
Material: Neurologische Untersuchung, Muskelfunktionstest, Gelenkstatus, Entwicklungsdiagnostische Verfahren, Hilfsmittelverzeichnis. Überwachungsinhalte: 4 Diagnostik der (krankhaften Veränderung von) Muskelfunktionen und Gelenkstellungen 4 Physiotherapie: Festlegung krankengymnastischer Behandlungselemente, Definition von Grenzen krankengymnastischer Behandlung. Vermittlung und Überwachung von krankengymnastischer Therapie 4 Indikationsstellung, Auswahl und regelmäßige Überprüfung von Hilfsmitteln (Orthesen, Lagerungshilfen, Fahrzeugen usw.) je nach Lähmungshöhe und -ausmaß 4 Vermittlung von Hilfsmittelgebrauchstraining, Mobilitätstraining sowie von Behindertensport 4 Planung, Entscheidungshilfe, Vorbereitung und Nachsorge bei operativen Eingriffen, die die Mobilität beeinträchtigen: Botulinumtoxin, muskuläre Minimaleingriffe, Umstellungsoperationen an den großen Gelenken Wahrnehmungsfunktionen
Material: Neuropsychologische Tests. Überwachungsinhalte: 4 Regelmäßige Diagnostik des Entwicklungsstandes 4 Einleitung bzw. Vermittlung von entwicklungstherapeutischen und/oder ergotherapeutischen Maßnahmen Sprache
Überwachungsinhalte: 4 Überprüfung des Hörvermögens 4 Überwachung von Sprachentwicklung, Artikulation, Sprachwahrnehmung, Sprachmotorik, Sprachinhalten 4 Ggf. Vermittlung logopädischer Behandlung
486
Anhang
Sozialentwicklung
Überwachungsinhalte: 4 Diagnostik des Entwicklungsstandes 4 Systematische Anleitung bzw. Vermittlung von speziellen Hilfen 4 Unterstützung bei der Berufswahl
4 Verhalten bei verschiedenen (symptomatischen, asymptomatischen) Infektionsformen; Behandlungsformen (medikamentöse: oral oder lokal) Harntransport
Selbstständigkeit
4 Regelmäßige sonographische Überwachung (Untersuchung mit gefüllter Harnblase) einer Harntransportstörung, vor allem bei hypertonem Lähmungstyp
Material: Barthel-Index, ATL-Status. Assessments, Hilfsmittelverzeichnis.
Medikamente
Überwachungsinhalte: 4 Überwachung von altersentsprechenden Selbstständigkeitsmerkmalen 4 Ggf. Einleitung und Gewährleistung ergotherapeutischer Maßnahmen zum Training der »Verrichtungen des täglichen Lebens«, von häuslichen oder externen Trainingsmaßnahmen 4 Vermittlung von Hilfsmitteln zur Erleichterung der »Verrichtungen« im häuslichen und externen Bereich 4 Rechtzeitige Einleitung von Maßnahmen zur Berufsfindung 4 Gewährleistung von Berufstätigkeit (Arbeitsplatzgestaltung, Kontinenzsicherung, Definition der Belastbarkeit, Vermittlung geeigneter Kurmaßnahmen …) 4 Sicherung notwendiger Pflegemaßnahmen, Überwachung von Pflegediensten 4 Vermittlung/Einleitung externer Trainingsmaßnahmen zur Verbesserung der Selbstständigkeit
4 Antiinfektiöse Medikamente (nur nach Austestung der Empfindlichkeit des Erregers). Ausnahme: fieberhafte Harnwegsinfektionen: Sofortige »Blindbehandlung« bis zum Vorliegen des Antibiogramms 4 Die Harnblase entspannende und damit erweiternde Medikamente (Anticholinergika) bei hypertonem Blasenhohlmuskel und zur Vergrößerung der Blasenkapaziät und zur Verbesserung der Inkontinenz Flüssigkeit
4 Definition des Flüssigkeitsoptimums; wenn möglich: reichlich kalorienfreie Flüssigkeit 4 Entleerungstechniken: (nur) entsprechend dem HarnblasenLähmungstyp sowie dem Alter angepasste Entleerungstechniken (Kathetertechniken, aktive/passive Bauchpresse, medikamentöse Behandlung) Kontinenz
Psyche Methode: ggf. Diagnostik; regelmäßige explorative Gespräche. Überwachungsinhalte: 4 Diagnostik/Erkennen psychopathologischer Symptome (vor allem Ängste, Zwänge [Risiken: häufige lebensbedrohliche Erlebnisse, Häufung stationärer Aufenthalte, häufige Trennungen]), neurotische Entwicklungen (Überforderungen, unangemessene Ansprüche, Panik-Reaktionen…), Verhaltensauffälligkeiten 4 Ggf. Vermittlung von verhaltenstherapeutischen, psychotherapeutischen Hilfen, Familientherapie…
4 Kontinenzsicherung bei verschiedenen Lähmungstypen und in verschiedenen Altersstufen 4 Entleerungstechniken: Ausdrücken der Harnblase (aktiv, passiv), Triggern, Katheterentleerung) Kondomurinale, Windel. Hilfsmittelberatung: z. B. Katheterarten, HM zur Kontinenzsicherung Blutuntersuchungen
(Blutentnahme nur an sensibel gestörten Hautzonen) 4 Nach Nierenbeckenentzündungen (CRP quantitativ, BSG) und zur Überprüfung harnpflichtiger Substanzen Nierenfunktion
Harnwege Material/Methode: Harndiagnostika (Teststäbchen, vorgefertigte Nährböden), Blasendruckmessungen, radiologische Diagnostik.
4 Clearance, evtl. seitengetrennt (vor allem nach pyelonephritischen Ereignissen). 4 Regelmäßige Blutdruckmessung
Überwachungsinhalte:
Operative Eingriffe
Lähmungstyp
4 Regelmäßige Blasendruckmessungen (ab dem 1. Lebensjahr), vor allem während der Phasen beschleunigten Wachstums und bei zunehmenden neurologischen Veränderungen 4 Neuropathischer Umbau der Harnblase: sonographische (Blasenwanddicke, Profilveränderungen der Harnblase) und röntgenologische Überwachung Infektion
Material: Teststäbchen, vorgefertigte Nährböden. Überwachungsinhalte: 4 Urinüberwachung: Anleitungen zur selbstständigen Urinüber wachung
4 Planung, Entscheidungshilfe und Vorbereitung operativer Eingriffe; Überwachung nach Operationen 4 Arten von urologischen Operationen: Blasenaugmentationen, nasse Ableitungen (Vesikostomie; Kolon-Konduit). Trockene Ableitungen: Pouch mit Nabelstoma Darm
Überwachungsinhalte: 4 Festigkeit des Stuhlganges: diätetische, medikamentöse Beeinflussung; Durchfälle: diätetische, medikamentöse Behandlung 4 Enddarmentleerung: Möglichst selbstständige altersgebundene Techniken zur Enddarmentleerung (medikamentöse Stützung, mechanische Hilfen, Mobilitätsförderung) 4 Kontinenzsicherung und Geruchsneutralität: Techniken zur Sicherung der Kontinenz, Analtampons
487 D 1 · Rehabilitation: Spina bifida, Hydrozephalus, Zerebralparese
4 Hilfsmittelberatung: Windelarten, unterschiedliche Arten von Analtampons Hygiene
Überwachungsinhalte: 4 Körperpflege: Erweiterte Basispflege; Duschen, Baden, Desinfizieren 4 Geruchsbehinderung: Frühe Anleitungen zur Vermeidung von G. durch geeignete Reinigungs- und Pflegetechniken, Verwendung von Kosmetika 4 Hilfsmittelberatung: barrierefreie Sanitärräume, Hilfsmittelausstattung, Badehilfen, Badewannenaufsätze, Duschrollstuhl usw.
Impfungen Beratungsinhalte: 4 Gewährleistung eines normalen, umfassenden Impfschutzes. Wichtige Impfungen: Pertussis, Hepatitis B Familie 4 Regelmäßige, curricular begleitende, streng an den Behinderungsmerkmalen orientierte spezielle Ausbildung der Betroffenen und deren Eltern/Pflegepersonen 4 Diagnostisch-therapeutische Anleitungen als Einzelausbildung in der Klinik, in der Ambulanz und zu Hause (7 Absch. Ausbildung) 4 Ausbildung in altersspezifischen Gruppenseminaren (7 Absch. Ausbildung)
Haut
Material/Methoden: Sensibilitätsschema, Inspektion. Überwachungsinhalte: 4 Erweiterte Basispflege: Hautschutz bei Inkontinenz, bei Hautatrophie und Durchblutungsstörungen 4 Druckstellen (Dekubitus): Kenntnis der Risikozonen. Vorsorge: Strategien in verschiedenen Altersstufen 4 Regelmäßige Druckstellenüberwachung vor allem im Bereich getragener Orthesen 4 Hilfsmittelberatung (Sitzkissen, Kälteschutz etc.) 4 Ausführung und Gewährleistung von Therapieformen (Druckentlastung, Wundversorgung) 4 Plastisch-operative Verfahren Gynäkologie/Andrologie Gynäkologie
Überwachungsinhalte: 4 Überwachung des Pubertätsbeginns: hormonelle Steuerung bei Pubertas praecox 4 Spezielle Steuerung der Menses: z. B. Inkontinenz und Menses; Hilfsmittelberatung 4 Ggf. Beratung zu Potentia generandi und kontrazeptiven Methoden
Therapieabstimmung Die Einhaltung der häufig außergewöhnlich komplexen Überwachung überfordert viele Patienten und Familien. Es ist eine besondere, aufwendige, anspruchsvolle Aufgabe, die Prioritäten der notwendigen Therapieformen zu ordnen, die geringste Belastung für den Patienten und die Familie zu ermitteln (z. B. einzeitige Operationen zu planen, die sonst nur zweizeitig ausgeführt würden), widersprüchliche Auffassungen von Ärzten und Therapeuten über den Rang Therapieformen zu koordinieren (eine für Eltern oder Patienten nicht zu lösende Aufgabe), die Auswirkungen der Versorgung auf die Familie zu beachten (z. B. Bedrohung des Arbeitsplatzes bei zu häufiger Vorstellung des Kindes, die Vernachlässigung der Geschwister durch die Therapiebindung der Eltern, besonders der Mutter usw.) 4 Definition von Prioritäten vor allem im therapeutischen Bereich 4 Konfliktregulierung bei unterschiedlichen Arzt-/Therapeutenmeinungen (ein leider häufiges, für die Betroffenen belastendes Phänomen) 4 Berücksichtigung des Partners, der Geschwister (drohende Verwahrlosung, drohende Zerstörung der Sozialstruktur) 4 Vermittlung von familienentlastenden Maßnahmen
Sexualität Beratungsinhalte: 4 Sexualentwicklung: Information, Beobachtung 4 Sexualberatung, Familienberatung, Schwangerschaftsberatung
Ausbildung 4 Einzelausbildung der Betroffenen/Eltern 5 Während des ersten Kliniksaufenthaltes: Frühhinweise auf lebensbedrohliche Komplikationen (z. B. Hirndruckzeichen, Harnwegsinfektionen...) 5 Ständige Anpassung des Ausbildungsstandes an die Krankheitsentwicklung beim Kind, Jugendlichen oder Erwachsenen 4 Ausbildung in Gruppen 5 Curricular begleitende Seminare in Kleingruppen 4 Diagnostisch-therapeutische Aufenthalte für Jugendliche und Erwachsene 5 Schwerpunkte: Medizinischer Verlauf, Selbstständigkeit, berufliche Orientierung
Allergien Überwachungs-/Beratungsinhalte: 4 Allergischen Disposition: Kontrolle des IgE 4 Allergendiagnostik: vor allem Latex (Intrakutantest, RASTDiagnostik); bei bekannter Latexallergie: Ausstellen eines (auffindbaren) Notfallausweises 4 Allergenkarenz: strikte Vermeidung latexhaltiger Materialien; Gewährleistung latexfreier Operationen
Rechtshilfen/Ausgleichshilfen Beratungsinhalte: 4 Versorgungsrechtliche Beratung und Bewertung: Grad der Behinderung, Merkzeichen, ärztliche Berichte, ggf. Verschlechterungsantrag oder (im Hinblick auf Berufstätigkeit) Verbesserungsantrag. Widersprüche, Widerspruchsbegründungen 4 Sozialrechtliche Beratung und Bewertung (SGB, BSHG, Landesrechte): Definition des Pflegeumfanges, Berichte
Andrologie
Überwachungsinhalte: 4 Basisüberwachung von Entwicklungsmerkmalen; Definition spezieller andrologischer Risiken 4 Vermittlung andrologischer Untersuchungen: Qualität des Ejakulates, evtl. hormonelle Behandlungsmöglichkeiten 4 Diagnostik und Therapie bei Erektionsstörungen
488
Anhang
4 Bescheinigungen zur Hilfsmittelbeschaffung, Widerspruchsbegründungen; Unbedenklichkeitsbescheinigungen, verlängerte Prüfungszeiten usw. 4 Vermittlung von speziellen Rechtsberatungen: z. B. Erbrecht, Betreuungsformen u. a. Wohnung Beratungsinhalte: 4 Rechtzeitige Vermittlung von ausreichend großem barrierefreiem Wohnraum bei erhöhtem Wohnraumbedarf (barrierefreie Zugänge) zur Vermeidung gesundheitlicher Schäden bei den betreuenden Personen 4 Hilfsmittelberatung und -verordnung zur Einrichtung einer barrierefreien Wohnung, vor allem des Sanitärbereichs 4 Beratungen bei der Bauplanung 4 Bescheinigungen, Begründungen für Wohngeld Selbsthilfe 4 Rechtzeitige Vermittlung von Kontakten zu regionalen Selbsthilfegruppen, ggf. über den Bundesverband Arbeitsgemeinschaft Spina bifida – Hydrocephalus (ASBH), Münsterstr. 13, 44145 Dortmund, Tel.: 0231/8610500 4 Anbindung an regionale Selbsthilfeeinrichtungen (Adressen → ASBH) 2
Rehabilitationsplan für Jugendliche mit Zerebralparese
2.1
Anatomische nachweisbare Veränderungen (Impairments)
4 Zerstörungen der weißen Hirnsubstanz um die Hirnkammern herum (periventrikuläre Leukomalazie) 4 Umschriebene Defekte (Zysten, Höhlen unterschiedlicher Größen) und diffuse Zerstörungen der Hirnsubstanz 4 Verkleinerung (Atrophie) des Gehirns Nachweismethoden: Sonographie, Computertomographie;
Kernspintomographie
2.2
Funktionelle Auswirkungen (Disabilities)
Muskelgrundspannung (Tonus), Bewegungsstörung Symptome: 4 Beeinträchtigung der Funktion der Skelettmuskulatur (auch der Sprach-, Atemmuskulatur!) in unterschiedlich schwerer Ausprägung und unterschiedlicher Verteilung am Körper 4 Hypertone, hypotone, dystone Muskellähmungen mit Einschränkung/Aufhebung der Muskelfunktionen 4 Verkürzung von Muskeln/Sehnen 4 Kontrakturen an Armen und Beinen: Beuge-Streck-Kontrakturen, fixierten (kontrakten) Gelenkfehlstellungen, Veränderungen an der Wirbelsäule: Skoliose, Torsion, Lordose, Kyphose (7 Abschnitt: Atmung, Darm, Haut, Sprache)
Therapie: Die Therapie stützt sich primär auf die Aktivierung
verbliebener Fähigkeiten, nicht auf den Abbau von Störungen. Unbehandelt werden die ursprünglich bestehenden Funktionsstörungen der Muskulatur (der Muskelkraft, der Fähigkeit zu Muskelkontraktion, Störung der Muskelgrundspannung) nicht der funktionellen Weiterentwicklung des Gehirns angepasst, woraus sich eine zunehmende Verschlechterung der verschiedenen und zusammenhängenden Funktionsbereiche ergibt. Muskuläre Störungen 4 Physiotherapie: Lagerung, Dehnungsübungen, krankengymnastische Ganzkörperbehandlung, Schwimmen als Therapie, Reiten als Therapie; Sport: Rollstuhlsport, Bogenschießen, Tanzen usw. 4 Hilfsmittelversorgung (gesetzliche Grundlage: Hilfsmittelverzeichnis): Orthesen (Körperstützen): zur Lagerung, zur Schienung, zur Ermöglichung der Aufrichtung, des Stehens (Stehständer, Stehbretter, Stehhäuser, Levo-Stehhilfe), zur Ermöglichung des Gehens (Orthesen (Swivel Walker, Reziproker Gehapparat), zur Verbesserung der Mobilität (Buggy, Bauchliegbrett, Rollstühle (verschiedene Formen), ggf. Prothesen 4 Medikamentöse Therapie 4 Muskelrelaxanzien bei schmerzhaften Bewegungsstörungen (geringe therapeutische Breite) 4 Botulinumtoxin: Injektion in die hypertonen Muskeln, hierdurch a) Verminderung der Hypertonie und somit Ermöglichung sonst nicht möglicher Bewegungen, b) Verminderung von operativen Eingriffen 4 Operative Therapie 4 Orthopädische Maßnahmen: Lösung von Kontrakturen, Behebung von Muskelungleichgewichten (Imbalancen) durch Sehnenverpflanzungen, Sehnenverlängerungen, Korrektur von Gelenkfehlstellungen durch knöcherne Korrekturen, Aufrichtung der Wirbelsäule (Spondylodese). Aber: Ohne gesicherte Nachsorge (Pflege, Hilfsmittel, Physiotherapie, Ergotherapie) sind Dauererfolge erheblich eingeschränkt 4 Regelmäßige orthopädische Kontrollen Atmung Symptome: 4 Störungen der Atmung durch (Teil-) Lähmung der Atemmuskulatur mit Abschwächung der Atemtiefe und des Hustenstoßes. Folgen: Chronische Bronchitiden, (oft lebensbegrenzende) Lungenentzündungen 4 (Teil-) Schädigung des Atemzentrums mit Atemaussetzern/ längeren Atempausen, Sauerstoffentsättigungen, Sauerstoffmangelzuständen (z. B. Tagesmüdigkeit) 4 Fehlstellungen der Wirbelsäule mit Einschränkung der Vitalkapazität und Minderbelüftung durch Skoliose, Torsionsskoliose 4 Schwäche der Atemmuskulatur durch neurologische Schädigung des Atemzentrums, des Zwerchfells; der Muskulatur des Brustkorbes (= Atemhilfsmuskulatur) mit mangelndem Abhusten von Schleim, Minderbelüftung, verminderte Atemtiefe Therapie: 4 Physiotherapie: Klopfmassagen, Atemtraining 4 Physikalische Therapie: viel Freiluft und andere abhärtende Maßnahmen. Ggf. Inhalationen Absaugen, Medikamente:
489 D 1 · Rehabilitation: Spina bifida, Hydrozephalus, Zerebralparese
atemanregende und die Bronchien weitstellende Med., antibiotische Therapie 4 Operative Therapie: Aufrichtung der Wirbelsäule. PEG-Sonde bei schweren Schluckstörungen, Aspiration, Unterernährung. Beatmung 4 Regelmäßige lungenfachärztliche Kontrollen Auge/Sehen Symptome: 4 Muskuläre Augenfehlstellung, Störungen im Bereich der Sehbahn und der Sehrinde 4 Lähmung von Augenmuskeln: Fehlstellung des Augapfels (Strabismus convergens, divergens, alternans) Störung der Sehwahrnehmung bis zur Erblindung 4 Schädigung der Sehbahn 4 Schädigung der Sehrinde: Störung der Sehwahrnehmung, Rindenblindheit Therapie: 4 Sehschule 4 Okklusionsbehandlung durch wechselseitiges Abkleben des gesunden Auges zur Verbesserung der Sehleistung des schwächeren Auges 4 Operative Korrekturen von Augenfehlstellungen 4 Regelmäßige augenärztliche Kontrollen Gehör/Sprache Symptome: 4 Gestörte/erschwerte sprachliche Wahrnehmung, Lautbildung und Ausdrucksfähigkeit 4 Schädigung des Sprachzentrums mit gestörter Spracherkennung und -verarbeitung 4 Schädigung des Hörnerven mit Beeinträchtigung der Schallleitung und der akustischen Wahrnehmung 4 Hörbeeinträchtigung bei Infekten der oberen Luftwege mit Tubenmittelohrkatarrh, Ohrentzündungen Therapie: 4 Logopädische Behandlung frühzeitig mit Sprachanbahnung; Training der Lautbildung, der Artikulation usw. 4 Hilfsmittel zur Ermöglichung des Hörens (Hörgeräte) zur Unterstützung der Kommunikation (Technische (EDV) Hilfen, Laserpointer-Sprachtafeln) 4 Regelmäßige logopädische und hals-nasen-ohrenärztliche Kontrollen 4 Vorstellung/Kontakt mit Beratungsstellen für unterstützte Kommunikation (BUK) Kreislauf Symptome: 4 Schwächen und Störungen durch körperliche Untätigkeit Therapie: 4 Physikalische Therapie: Roborierende Maßnahmen (Bäder, Einreibungen) 4 Mobilisierung durch Krankengymnastik, möglichst viel Sport 4 Hilfsmittel zum körperlichen Training
Harnwege Symptome: 4 Unkontrollierter Verlust von Urin (Inkontinenz) mit abnormer Hautbelastung und Geruchsbehinderung Therapie: 4 Möglichst regelmäßige Entleerung der Harnblase (nach sorgfältiger Beobachtung) 4 Entleerungstraining, wenn möglich 4 Tragen von Hilfsmitteln (Windeln, Urinale) 4 Optimierung der sanitären Einrichtungen (Badeinrichtung: Badelifter, Duschrollstuhl) 4 Erweiterte Basispflege der Haut 4 Frühes Training eines Hygienebewusstseins und hygienischer Maßnahmen 4 Selbstständigkeitstraining Darm Symptome: 4 Verlangsamung des Stuhltransportes durch Immobilität mit Obstipation 4 Keine oder eingeschränkte Kontrolle von Körperausscheidungen: Inkontinenz für Stuhlgang und Urin mit abnormer Hautbelastung, Geruchsbehinderung 4 Erweiterung des Mageneinganges (gastroösophagealer Reflux) erkennbar an häufigem Erbrechen, vor allem bei/nach Flüssigkeits- und (dünner) Nahrungsaufnahme, Einatmen von Nahrung (Aspiration, oft nur erkennbar an wiederholt auftretenden Bronchitiden in Verbindung mit Schluckstörungen; häufiger Grund für Erbrechen mit nachfolgenden entzündliche Veränderungen der Lunge (Lungenentzündungen) 4 Schluckstörungen durch Teillähmung der Schluckmuskulatur mit der Gefahr der Unterernährung und der Einatmung von Nahrung (Aspiration) Therapie: 4 Stuhltransport/Obstipation: Verbesserung der Mobilität (Stehen, Gehen). Ballaststoffreiche Kost, ggf. Medikamente zur Verdünnung von Stuhlgang (Lactulose, Macrogol). Keine Abführmittel (Laxantiendarm!) 4 Inkontinenz: Möglichst regelmäßige Entleerung des Darmes. Entleerungstraining wenn möglich. Ggf. passive Unterstützung bei der Enddarmentleerung. Tragen von Hilfsmitteln (Windeln). Optimierung der sanitären Einrichtungen (Badeinrichtung: Badelifter, Duschrollstuhl). Frühes Training eines Hygienebewusstseins und hygienischer Maßnahmen und der Selbstständigkeit. Erweiterte Basispflege der Haut. Inkontinenzberatung 4 Gastro-ösophagealer Reflux: Schräglagerung, möglichst feste oder (bei spastischen Essstörungen) angedickte Kost. PEG (perkutane endoskopische Gastrostomie)-Sonde bei mangelhafter Nahrungs-/Flüssigkeitsaufnahme. Eine PEG-Sonde beendet oft den für Betreuer und Betroffenen mühsamen »Kampf« der Nahrungsaufnahme Ernährung Symptome: 4 Überernährung mit zunehmender Adipositas 4 Mangelernährung wg. körperlicher passiver Überaktivität (Spastik = ständige Aktivität = ständig erhöhter Kalorienbedarf)
490
Anhang
Therapie: 4 Mangelernährung: Ausgeglichene kalorische Nahrungszusammensetzung, Ernährung evtl. (vorübergehend) über eine Magensonde oder (auf Dauer, heute häufiger) über eine PEG-Sonde 4 Adipositas: Wesentlich ist die rechtzeitige und konsequente kalorische Beschränkung sowie Ermöglichung und Förderung körperlicher Aktivität. Wiederholte Ernährungsberatung (sinnvolle Kostformen). Bewegungstherapien, Sport (soweit wie möglich) 4 Bei allen Ernährungsstörungen: Regelmäßige Gewichtskontrollen und Verlaufskontrolle des Body-Mass-Index: (Körpergewicht (kg)/Körperlänge (m) × Körperlänge (m): Untergewicht <20; Normalbereich: 20‒24,9; Übergewicht 25‒29,9. (Behandlungsbedürftig bei Komplikationen (Blutdruckerhöhung, Gelenkschäden usw.) In jedem Fall behandlungsbedürftig: Adipositas: 30,0‒39,9; Extreme Adipositas: >40 Haut Symptome: 4 Druckgeschwüre: Durch mangelhafte Hautdurchblutung, einseitige Belastungen und eingeschränkte Mobilität entstehen Druckstellen und Druckgeschwüre (Dekubiti) unterschiedlicher Schweregarde. Besonders gefährdet sind die Auflagestellen an Hinterkopf, Schultern, Ellenbogen Becken, Steißbein, Sitzbein, Knie, Fersen. Druckgeschwüre sind nur mühsam und aufwändig zu therapieren 4 Durchblutungsstörungen: Unterkühlte, blaurot verfärbte Haut meist im Bereich der Unterschenkel und Füße 4 Wassereinlagerung (Ödeme) in Unterschenkeln und Füßen mit erhöhter Infektionsgefahr Therapie: 4 Druckgeschwüre (Dekubitus, Dekubiti): Vorbeugende Maßnahmen: Anlegen eines Sensibilitätsschemas. Hiernach verbindliche regelmäßige Sichtkontrolle besonders gefährdeter Auflagestellen. Regelmäßige entlastende Umlagerungen und Verwendung von entlastenden Hilfsmitteln. Auspolsterung von Orthesen und Rollstuhl, druckstellenfreies Schuhwerk). Ggf. plastisch-chirurgische Therapie 4 Durchblutungsstörungen: Vorbeugend sorgfältige Hautpflege, Hochlagerung der Beine, Vermeiden von einschnürenden Kleidungsstücken und Hilfsmitteln. Bürstenmassagen. Vorsicht mit Anwendung von Wärmflaschen, Heizkissen, heißem Wasser bei bestehenden Empfindungsstörungen der Haut: Bei unterschiedlicher Wärmeverträglichkeit können tiefe Verbrennungen entstehen 4 Wassereinlagerung (Ödeme): Vermeiden von abschnürenden Kleidungsstücken und Hilfsmitteln (z. B. an der vorderen Sitzkante des Rollstuhles). Hochlagern der Beine. Kompressionshilfsmittel (Kompressionsstrümpfe, Wickeln der Beine mit elastischen Binden). Lymphdrainage Hirnleistungsschwächen Symptome: 4 Teilleistungsschwächen 4 Lernbehinderungen, sog. geistige Behinderungen sowohl als Folge der Hirnschädigung als auch der frühzeitigen Bewegungsstörungen, die das Erreichen von grundlegenden Entwicklungsstufen erschweren
Therapie: 4 Möglichst früher Therapiebeginn 4 Basale Stimulation 4 Ergotherapie 4 (Sonder-)pädagogische Maßnahmen Psyche Symptom: 4 Vermehrtes Mitteilungsbedürfnis bis völliger Verschlossenheit 4 Durchgangssyndrome und fixierte Symptome, umfasst latente und offene Ängste, Abwehr, Resignation, Stereotypien, Zwänge u.v.a.m. Therapie: 4 Angebot regelmäßiger Gespräche zur persönlichen Situation und Befindlichkeit
2.3
Soziale Auswirkungen (Handicap)
Deprivation Symptom: 4 Deprivation: Seelische Verkümmerung durch zu geringe Ansprache, oft verstärkt durch Interaktionsstörungen wegen behinderungsbedingt eingeschränkter Kommunikation Therapie: 4 Regelmäßige, möglichst intensive, ausreichende Ansprache 4 Körperkontakt 4 Basale Stimulation 4 Snoezeln, usw. Kommunikationshilfen Ausgrenzung Symptom: 4 Entstellung 4 Geruchsbehinderung (7 Abschnitt Harnwege, Darm) Therapie: 4 Sorgfältige Körperpflege 4 Geruchsneutralität 4 Gepflegte, passende Kleidung Soziale Benachteiligung (Handicap) Symptom: 4 Einschränkung der Teilnahme am öffentlichen Leben Therapie: 4 Sozialrechtsberatung: Schwerbehindertenausweis, Ausgleichshilfen 4 Wohnung: Rechtzeitiges Beschaffen von a) barrierefrei zu erreichendem, b) ausreichend großem Wohnraum (bei Körperbehinderungen besteht immer ein »vermehrter« Wohnraumbedarf), behindertengerechte Einrichtung (Zugang, Sanitärbereich, Einrichtung) 4 Familienentlastung durch ganztägige Unterbringung in geeigneten Einrichtungen, durch Stellen häuslicher Hilfskräfte (familienentlastende Dienste) 4 Vermittlung von Selbsthilfegruppen: 5 Lebenshilfe für Geistigbehinderte 5 Verein für Körper- und Mehrfachbehinderte usw.
491 D 2 · Empfehlungen zur Tumor- und Spätfolgennachsorge
D2
Empfehlungen zur Tumor- und Spätfolgennachsorge1
D 2.1 ALL-BFM 2000. (Therapiestudienleitung Prof. Dr. M. Schrappe, Medizinische Hochschule Hannover, LESS-Leitung Prof. Dr. J.D. Beck, Universität Erlangen)
1
Für die Bereitstellung der Empfehlungstabellen danken wir herzlich Herrn Dr. M. Paulides, Studienkoordinator Late Effects Surveillance System, Universität Erlangen
492
Anhang
D 2.2 AML-BFM 1998/2004. (Therapiestudienleitung Prof. Dr. U. Creutzig, Universität Münster, LESS-Leitung Prof. Dr. J.D. Beck, Universität Erlangen)
493 D 2 · Empfehlungen zur Tumor- und Spätfolgennachsorge
D 2.3 Ewing-Sarkom. (Therapiestudienleitung Prof. Dr. H. Jürgens, Universität Münster, LESS-Leitung Prof. Dr. J.D. Beck, Universität Erlangen)
494
Anhang
D 2.4 Neuroblastom-Studien NB-97/NB-04. (Therapiestudienleitung Prof. Dr. F. Berthold, Universität Köln, LESS-Leitung Prof. Dr. J.D. Beck, Universität Erlangen)
495 D 2 · Empfehlungen zur Tumor- und Spätfolgennachsorge
D 2.5 Osteosarkom. (Therapiestudienleitung PD Dr. S. Bielack, Universität Münster, LESS-Leitung Prof. Dr. J.D. Beck, Universität Erlangen)
496
Anhang
D 2.6 Weichteilsarkom. (Therapiestudienleitung Prof. Dr. J. Treuner, Olgahospital Stuttgart, LESS-Leitung Prof. Dr. J.D. Beck, Universität Erlangen)
E
Jugendliche in der Gesellschaft
E1
Medien
– 498
E 1.1 Medien-Anamnesebogen für Schulkinder und Jugendliche – 498 E 1.2 Die Media-diet-Pyramide der Jugendlichen – 500 E 1.3 Elektrosmog (Exkurs) – 500
B. Stier E2
Jugend und Recht – 503
E 2.1 Kinder- und Jugendrechte (Exkurs)
– 503
J. Maywald E 2.2 Jugendschutzgesetz: Wesentliche Auszüge
– 506
Bearbeitung/Auswahl: B. Stier E. 2.3 Auszüge aus dem SGB XII
– 510
Bearbeitung/Auswahl: G. Trost-Brinkhues E3
Migranten – 511 Beratungsangebote für jugendliche Migranten (Exkurs)
F. Çerçi
– 511
498
Anhang
E Jugendliche in der Gesellschaft E1
Medien
E 1.1
Medien-Anamnesebogen für Schulkinder und Jugendliche
Liebe Eltern! Die Entwicklung Ihres Sohnes/Ihrer Tochter wird u. a. entscheidend durch verschiedene »Unterhaltungsmedien« mitgeprägt und beeinflusst. Um Sie besser beraten zu können, wäre ich Ihnen sehr dankbar, wenn Sie diesen Fragebogen beantworten könnten. Manches trifft nicht oder noch nicht zu. Dennoch lohnt es sich, sich vorausschauend dazu einmal Gedanken zu machen. Bitte seien Sie ehrlich gegenüber sich selbst und Ihrem Kind. Markieren Sie die zutreffende Antwort mit einem X.
Name: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorname: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geb. Datum: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Medien-Anamnesebogen für Schulkinder und Jugendliche (B. Stier 2002) Frage
Antwort
Fernsehen Wie viel Zeit verbringt Ihr Kind durchschn. tägl. in der Regel vor dem Fernseher ?
<½ h
½‒1 h
1‒2 h
Besprechen Sie die Sendungen mit Ihrem Kind?
Immer
Selten
Nie
Hat Ihr Kind einen eigenen Fernseher?
Ja
Haben Sie Regeln fürs Fernsehen?
Häufig
Manchmal
Nein
Nehmen Sie Mahlzeiten während des Fernsehens ein?
Häufig
Manchmal
Nein
Isst Ihr Kind während des Fernsehens?
Häufig
Manchmal
Nein
Macht Ihr Kind während des Fernsehens Hausaufgaben?
Häufig
Manchmal
Nein
Erlauben Sie, dass Dinge gekauft werden, die in der Fernsehwerbung angepriesen wurden?
Häufig
Manchmal
Nein
Darf Ihr Kind Videos sehen?
Häufig
Manchmal
Nein
Kontrollieren Sie die Videos, die Ihr Kind sehen will?
Häufig
Manchmal
Nein
Wie oft sieht Ihr Kind Videos?
Täglich
Wöchentlich
Selten
Kennen Sie die Musik, die Ihr Kind hört?
Alles
Einiges
Nein
Reden Sie mit Ihrem Kind über die Musiktexte?
Häufig
Manchmal
Nein
Hat Ihr Kind einen eigenen Kassettenrecorder/ Walkman/Minidisk?
Ja
Nein
Videos
Radio, CDs, Kassetten
Nein
>2 h
499 E1 · Medien
Haben Sie Regeln bezüglich des Musikhörens?
Ja
Nein
Findet Musik hören während der Hausarbeiten statt?
Häufig
Selten
Nein
Wie viel Zeit verbringt Ihr Kind mit Musik hören pro Tag?
<½ h
½‒1 h
1‒2 h
Kennen Sie die Spiele?
Alles
Einiges
Nein
Kontrollieren Sie vorher, welche Spiele gekauft werden?
Häufig
Manchmal
Nein
Geben Sie einen Zeitrahmen vor?
Häufig
Manchmal
Nein
Wie viel Zeit verbringt Ihr Kind mit dem Computer täglich
<½ h
½‒1 h
1‒2 h
Benutzen Sie Internet-/Online-Dienste?
Häufig
Manchmal
Nein
Hat Ihr Kind einen eigenen Computer?
Ja
Nein
Kennen Sie die Programme, Websites oder Onlinedienste, die Ihr Kind benutzt?
Ja
Nein
Sprechen Sie mit Ihrem Kind über die Benutzung des Computers?
Häufig
Manchmal
Nein
Liest Ihr Kind Comics?
Ja
Manchmal
Nein
Liest Ihr Kind Zeitung?
Ja
Manchmal
Nein
Liest Ihr Kind Bücher?
Häufig
Manchmal
Nein
Bekommt Ihr Kind Bücher geschenkt?
Häufig
Manchmal
Nein
Sprechen Sie mit Ihrem Kind über das Gelesene?
Häufig
Manchmal
Nein
Häufig
Manchmal
Nein
>2 h
Video- und Computerspiele
Internet-/Online-Dienste, Computer
Bücher
Gibt es Probleme mit Ihrem Kind bezüglich
– Alkohol – Rauchen – Drogen – Sexualverhalten – Selbstbewusstsein – Konzentration – Aggressivität – Sozialverhalten – Schulleistungen – Sprache – Wortschatz – Übergewicht
>2 h
500
Anhang
E 1.2
Die Media-diet-Pyramide der Jugendlichen. (Mod. nach Brown JD (2000) Adolescents’ sexual media diets. J adolesc Health 27: 35-40)
E 1.3
Elektrosmog (Exkurs)
B. Stier 1
Allgemein – Begriffsklärung
Der Begriff »Elektrosmog« (zusammengesetzt aus engl. »smoke« = Rauch und engl. »fog« = Nebel) beschreibt das Phänomen, dass wir infolge fortschreitender Elektrifizierung in immer größerem Umfang niederenergetischer elektromagnetischer Strahlung ausgesetzt sind, die wir mit unseren Sinnesorganen nicht wahrnehmen können. Dabei handelt es sich in der Regel um elektrische, magnetische oder elektromagnetische Felder, die uns umgeben. Computer erzeugen elektrische Wechselfelder. Aber, und das wissen nicht viele, auch ein Farbfernseher überschreitet den Grenzwert der internationalen Strahlenschutzkommission für Dauerexposition von 100 mT (milliTesla). Der Begriff »bioelektrische Sensibilität« beschreibt die Sensibilität von Lebewesen auf Elektrosmog. Nervenleitungen und Körperzellen werden in der Signalübertragung gestört, wenn von außen starke Störfelder einwirken. Die Empfindlichkeit einzelner Personen ist individuell unterschiedlich. Sie hängt u. a. vom Alter, dem Ernährungszustand und dem aktuellen Gesundheitszustand ab. Ein Teil der Leistung eines hochfrequenten elektromagnetischen Feldes wandelt sich beim Eindringen in flüssige oder feste Materialien in Wärme um. Die spezifische Absorptionsrate (SAR) gibt an, wie viel Energie ein Körper, bezogen auf die Körpermasse, aufnimmt. Beispielsweise benutzt der Mobilfunk hochfrequente elektromagnetische Felder zwischen 900 MHz (D-Netz) bzw. um 1800 MHz (E-Netz) und 2170 MHz (zukünftiges UMTS-Netz).
UMTS-(Universal Mobile Telecommunications System) und GSM-(Global System for Mobile Communications)Technologien unterscheiden sich u. a. in den genutzten Frequenzbereichen, den maximalen Sendeleistungen sowie den Modulations- und Zugriffsverfahren. Die maximalen Sendeleistungen der Endgeräte liegen bei UMTS unter denen von GSM. In der Öffentlichkeit stark diskutiert wurde eine niederländische Studie (TNO-Studie), in der eine Verschlechterung des Wohlbefindens von Probanden unter UMTS-, nicht jedoch unter GSM-Exposition beobachtet wurde. Einzelheiten der Studie liegen bislang nicht vor; sie wird zur Zeit in der Schweiz einer unabhängigen Prüfung unterzogen. Bluetooth ist ein neu entwickeltes System für drahtlose Datenübertragung zwischen elektronischen Geräten (z. B. PC und der Tastatur, dem Drucker, der Maus). Die Reichweite beträgt 5 m und mehr. Die maximale Übertragungsleistung kann 100 nW und mehr erreichen. Für die meisten Anwendungen liegt sie bei 1 mW. Die benutzte Frequenz beträgt 2,4 GHz. Eine wichtige Anwendung im Rahmen der Mobilfunkkommunikation ist die drahtlose Verbindung zwischen einer Headset/Mikrofon-Kombination und einem GSM-Gerät. Durch diese Art Freisprechanlage liegen die SAR-Werte für den exponierten Kopf wesentlich niedriger als beim »gewöhnlichen« Gebrauch des GSM-Gerätes, da das Gerät in einer gewissen Entfernung vom Kopf »geparkt« werden kann. Im Zentrum der Wirkungsforschung auf das zentrale Nervensystem stehen zwei Hormone: das Serotonin und das Melatonin. Serotonin wirkt als Überträgerstoff für Nervenreize. Die physiologischen Wirkungen des Melatonins beim Menschen sind noch weitgehend unbekannt. Es beeinflusst den Tag- und Nachtrhythmus und hemmt die Tumorverbreitung.
501 E1 · Medien
2
Elektromagnetische Belastung am Fernseher
Durch einen Fernseher entstehen nicht nur elektromagnetische Strahlungen, sondern auch Mikrowellen-, Radiowellen- und sogar Röntgenstrahlen. Auch wenn ein Fernseher nach kurzer Zeit wieder ausgeschaltet wird, bleibt eine hohe Spannung an der Oberfläche und auch im Gerät noch für viele Stunden bestehen. Im Vergleich zum Computer gehen vom Fernseher erheblich höhere Belastungen aus, zumal hier keine entsprechend strengen Empfehlungen gelten. Wird jedoch ein Abstand von mindestens 2 m eingehalten, so liegt die Strahlung aufgrund der größeren Entfernung unter der von strahlungsarmen Bildschirmen (Abstand in der Regel ca. 50 cm). Durch das elektrostatische Feld des Fernsehers wird neben der Beeinflussung des Menschen auch das Raumklima verändert. Die Raumluft wird durch die veränderte Luftionenkonzentration verschlechtert. Die an der Bildschirmröhre erzeugte Röntgenstrahlung ist bei neueren Fernsehern zu vernachlässigen.
3
Elektromagnetische Belastung am Computer
3.1 Strahlende Hardware: Monitor Vom Monitor geht, wie von allen netzbetriebenen Geräten, ein niederfrequentes Wechselfeld im Bereich von 50 Hz aus. Zu den Auswirkungen gibt es bis heute mehrere Forschungsansätze, allerdings nur mit Zwischenergebnissen. Bei strahlungsbedingten gesundheitlichen Schäden durch Computerbildschirme handelt es sich um Langzeitwirkungen. So konnte bei am Bildschirm arbeitenden Schwangeren eine erhöhte Fehlgeburtenrate festgestellt werden. In Schweden ist daher Schwangeren Bildschirmarbeit untersagt. Ebenso konnten schwedische Wissenschaftler eine bis zu sechsfach erhöhte Quecksilberfreisetzung aus Amalgamfüllungen durch Bildschirmstrahlung feststellen. Durch magnetische Strahlung kann die Melatoninproduktion gehemmt werden. Die Folge ist eine Hemmung der Tumorbildung. Dies kann eine höhere Anfälligkeit für Krebs zur Folge haben. 3.2 Übrige Hardware Nicht nur der Bildschirm, auch der Computer selbst gibt elektromagnetische Strahlung im Hochfrequenzbereich ab. Computer werden mittlerweile auf Störstrahlung getestet. Tests haben gezeigt, dass die stärkste Strahlung von Kabeln (Maus, Monitor, Drucker…) ausgeht.
missionen erarbeitet wurden. Als Messgröße dient der SAR-Wert, der angibt, wie viel Energie in den Körper aufgenommen wird. Dieser Wert sollte nicht über 0,6 Watt/kgKG liegen und darf keinesfalls über 2 Watt/KgKG liegen. Zu bedenken ist, dass die Strahlung, die beim Telefonieren mit dem Handy auf den Kopf auftritt, wesentlich stärker ist als die Strahlung, die von benachbarten Mobilfunkanlagen ausgeht. Thermische Effekte Unter ungünstigen Empfangsbedingungen und nach längeren Telefonaten kann es im Gehirn zu einer maximalen Temperaturerhöhung von ca. 1/10 Grad kommen. Dies liegt im Bereich normaler Temperaturschwankungen. Athermische Effekte Unter athermischen Effekten versteht man biologische Effekte, die nicht mit einer Wärmewirkung einhergehen. Untersuchungen hierzu beziehen sich auf: 4 Veränderungen von Hirnströmen (EEG) 4 Veränderungen geistiger Leistungen 4 Veränderungen des Schlafs 4 Auftreten von Befindlichkeitsstörungen (Schlaflosigkeit, Konzentrationsstörungen, Ohrgeräusche) 4 Veränderungen der Hormonausschüttung (7 Melatonin) 4 Öffnung der Blut-Hirn-Schranke 4 Veränderungen im Ionentransport durch Membranen 4 Veränderungen im Blutbild und Immungeschehen Bis heute gibt es keinen Beweis dafür, dass Mobilfunk krank macht. Eine gesundheitliche Gefährdung ist bislang nicht erkennbar, wenn auch nicht gänzlich ausgeschlossen ist, dass während eines längeren Handytelefonates Hirnstromaktivitäten und kognitive Leistungen beeinträchtigt werden können. Bezüglich der Entstehung von Gehirntumoren läuft derzeit eine »Interphone«-Studie bei der WHO. Im Sinne der Prävention haben der Dachverband der deutschen Kinderärzte und das Bundesamt für Strahlenschutz Empfehlungen zur Handynutzung ausgesprochen.
Empfehlungen zur Handynutzung 5 Auf gute Verbindung zur Mobilfunkstation achten, da Handys die jeweilige Sendeleistung der Verbindungsqualität anpassen 5 Sprechzeiten möglichst kurz halten 5 Freisprechanlagen nutzen 5 Beim Handykauf auf den SAR-Wert achten 5 Verstärkte Nutzung von Kurzmitteilungen 5 Wo ein Festnetztelefon existiert, sollte es auch benutzt werden 5 Handysets benutzen (weniger Strahlung am Kopf!) 5 Handy erst zum Ohr nehmen, wenn die Verbindung aufgebaut wurde (Sendeleistung beim Verbindungsaufbau am höchsten)
3.3 Strahlung der Handys Auch hier gilt: Lieber vorsichtig als leichtsinnig!
Bei Handybenutzung treten thermische und athermische Effekte auf. Gesetzliche Vorschriften regeln den maximal gestatteten Energieeintrag in den Körper. Die in Deutschland gebräuchlichen Grenzwerte richten sich nach den Vorschriften der WHO, wie sie von internationalen und nationalen Strahlenschutzkom-
502
4
Anhang
Institutionen und Grenzwerte
In der 26. BimSchV (Bundes-Immissionsschutzverordnung) hat der Gesetzgeber Grenzwerte definiert, die dem Schutz vor möglichen Gesundheitsgefahren, die von Sendeanlagen bzw. dem Mobilfunk ausgehen können, dienen. Die Verordnung ist seit dem 01.01.1997 in Kraft. Diese Grenzwerte sind für alle Netzbetreiber bindend. Als Grundlage für die Festlegung der Grenzwerte dienen Empfehlungen anerkannter nationaler und international führender Fachleute und Institutionen (WHO, ICNIRP = International Commission on Non-Ionizing Radiation Protection, SSK = Strahlenschutz Kommission sowie das Bundesamt für Strahlenschutz ‒ BfS). Die aktuellen Grenzwertempfehlungen der ICNIRP für den Mobilfunk stammen vom April 1998! Einige wissenschaftliche Studien sehen Hinweise darauf, dass u. U. lokale Erwärmungen – sog. »hot spots« – auch bei Exposition unterhalb der ICNIRP-Grenzwertempfehlungen auftreten können. Außerdem können biologische Wirkungen auch auf athermischen Effekten beruhen.
5
Die Internationale Gesellschaft für Elektrosmog-Forschung (IGEF) hat Prüfsiegel geschaffen und vergibt sie in zwei Versionen (Bei Fragen: http://www.elektrosmogmarkt.com): 1. Strahlungsarm nach IGEF-Empfehlung: für strahlungsarme elektrische und elektronische Produkte. Dieses Prüfsiegel erhalten nur Produkte, deren elektrobiologische Unbedenklichkeit nach dem aktuellen Stand der Elektrosmogforschung durch strenge Tests und mindestens einmal jährlich durchgeführte unangemeldete Kontrollen durch unabhängige Prüflabors nachgewiesen werden kann. 2. Geprüft und empfohlen von der IGEF: Produkte, die nachweislich Schutz vor Elektrosmog bieten.
6
Schutz vor Elektrosmog Wie kann man sich vor Elektrosmog schützen? 5 Abschalten: Geräte generell nur bei Gebrauch anschalten 5 Ausziehen: kein Stand-by-Betrieb! 5 Auswechseln: nur Fernseher, Computer etc. mit minimalen Störfeldern gemäß internationaler Schutznorm verwenden 5 Auswählen: Nur Geräte mit minimalen Störfeldern kaufen 5 Abschirmen: massive Gebäudewände haben eine relativ gute Abschirmwirkung. Kein Fernseher und Computer im Schlafzimmer! 5 Abstand: Mindestabstände einhalten. Beim Fernseher sind dies Abstände von mindestens 4 m!
Normen
Grundsätzlich ist zu sagen, dass Normen immer ein Kompromiss zwischen Gesundheit und technischer Machbarkeit und Wirtschaftlichkeit darstellen. 4 Deutsche Norm: VDE 0848 – relativ hohe Grenzwerte verglichen mit internationalem Standard 4 Schwedische Norm (besser): MPR2 – Grenzwerte um ein Vielfaches niedriger 4 TCO-94 – empfiehlt sehr scharfe Grenzwerte
Wertung einzelner Geräte und Vorschläge zur Expositionsreduktion Gerät
Mögliche Gefahren
Auswege
PC-Bildschirm (Monitor)
Siehe Fernseher, durch MPR II-Norm oder TCO, aber wesentlich besser (nach vorn!) abgeschirmt
Möglichst großen Abstand halten, auch von Peripheriegeräten (Drucker, Rechner etc.)
Fernseher
Je größer der Bildschirm, desto größer die Strahlung (auch langfristige Entladungen!)
Mindestabstand 2 m. Nicht an Wände zu gegenüberliegenden Schlafzimmern stellen
Unterhaltungselektronik
Im »Stand-by-Betrieb« stehen die Netztrafos ständig unter Strom, dadurch (neben dem unnötigen Stromverbrauch) elektrische und elektromagnetische Felder
Mit Netzschalter ausschalten; falls dies nicht möglich, Netzschnur mit zweipoligem Ein- und Ausschalter versehen
Handys
Durch die niederfrequente Pulsung (D- und E-Netz) in einzelnen Untersuchungen nachgewiesene Effekte auf EEG, Peaks (thermische Effekte). In der Diskussion stehen vielfältige Effekte auf das Biosystem u. a. auch Störung der Zellkommunikation. Bei am Gürtel getragenen Handys (oder in der Hosentasche) werden Effekte auf die Hoden beschrieben. Jugendliche sind vor allem seitens des Nervensystems anfälliger für elektromagnetische Strahlung als Erwachsene
Viele Handys sind wegen zu starker Strahlung für Jugendliche nicht geeignet (Hinweis des Bundesamtes für Strahlenschutz). Danach gelten ¾ aller angebotenen Mobiltelefone nicht als strahlungsarm. Der SAR-Wert, der angibt wie viel Energie der Körper durch Strahlung aufnimmt, liegt dabei über dem empfohlenen Wert von 0,6 Watt/kgKG. Gesetzlich erlaubt sind Werte bis zu 2 Watt/kgKG. Dabei ist zu beachten, dass Heranwachsende strahlungsanfälliger sind als Erwachsene! Wo immer möglich, analog bzw. per Kabel telefonieren. Im Auto C-Netz verwenden. Testberichte v. a. bzgl. Leistungsabgabe und Antennenabstrahlschutz lesen. Eine Broschüre mit Tipps für Jugendliche zum Umgang mit Mobiltelefonen kann kostenlos bestellt werden beim Bundesamt für Strahlenschutz (BfS), Email:
[email protected] (7 Internetadressen: BfS: Abstrahlungen von in Deutschland verfügbaren Handys – Liste mit SAR-Werten)
503 E 2 · Jugend und Recht
7
Schlussbemerkung
»Kinder und Jugendliche als Nutzer moderner Kommunikationstechniken sind eine aus Sicht des Strahlenschutzes wichtige Zielgruppe. Sie befinden sich noch in der Entwicklung. […] Vorliegende Modelle zur Abschätzung von Eindringtiefen und SAR-Verteilungen im kindlichen Organismus, v. a. Kopf, stellen derzeit noch grobe Näherungen dar, die laufend verbessert werden. […] Insgesamt wird aber die wissenschaftliche Datenlage, v. a. was eine Synthese entwicklungsbiologischer, biophysikalischer und technischer Aspekte betrifft, als noch nicht ausreichend angesehen.«
E2
Jugend und Recht
E 2.1
Kinder- und Jugendrechte (Exkurs)
J. Maywald )) Die Auffassung, Kinder und Jugendliche als Träger eigener Rechte anzusehen, ist historisch jung und auch heute im Bewusstsein vieler Erwachsener nicht fest verankert. Das hängt mit dem überlieferten Bild vom Kind zusammen. Über Jahrtausende hinweg galten Kinder und Jugendliche als noch nicht vollwertige Menschen, den Erwachsenen in jeder Hinsicht unterlegen und ihnen daher rechtlich nicht gleichgestellt. Heute, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, hat es sich endlich weitgehend durchgesetzt, Kinder von ihrer Geburt an als Subjekte und Träger eigener Rechte anzuerkennen, die ihre spezifischen Fähigkeiten in die menschliche Gemeinschaft einbringen. Kinder und Jugendliche sind Menschen in einer sensiblen Entwicklungsphase, die des besonderen Schutzes, der Förderung und der Beteiligung bedürfen. Der jüdische Arzt und Pädagoge Janusz Korczak hat diese neue Sicht auf das Kind prägnant zusammengefasst: »Das Kind wird nicht erst ein Mensch, es ist schon einer.«
(Zitiert gemäß der Antwort auf die kleine Anfrage der Abgeordneten Dr. P. Paziorek, W. Wittlich, I Aigner und der CDU/CSU-Fraktion – Drucksache 15/3744 – Deutscher Bundestag, 15. Wahlperiode Drucksache 15/3906 vom 11.10.2004):
Literatur Bundesamt für Strahlenschutz (2003) Mobilfunk: Wie funktioniert das eigentlich. Tipps und Informationen rund ums Handy: http://www.bfs.de Otto M, v. Mühlendahl KE (2003) Mobilfunk und Gesundheit. Kinderumwelt gemeinnützige GmbH und Informationszentrum Mobilfunk e.V. http://www.uminfo.de, http://www.izmf.de Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode: Drucksache 15/1403 vom 08.07.2003 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode: Drucksache 15/3906 vom 11.10.2004 Bundesminsiterium für Gesundheit und Soziale Sicherung: http://www. bmgs.bund.de
1
Abkürzungen BfS BImSchG BimSchV GHz GSM ICNIRP KHz MHz SAR SMS UMTS
Bundesamt für Strahlenschutz Bundesimmissionsschutzgesetz Bundesimmissionsschutzverordnung Gigahertz Global system for Mobile Communications International Commission on Non-Ionizing Radiation Protection Kilohertz Megahertz Spezifische Absorptionsrate Short Message Service Universal Mobile Telecommunications System
Die UN-Kinderrechtskonvention – Ein Grundgesetz für alle Kinder und Jugendliche
Kinder und Jugendliche bis 18 Jahre stellen mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung. Die in der UN-Kinderrechtskonvention niedergelegten Mindeststandards haben zum Ziel, die Würde, das Überleben und die Entwicklung aller Kinder und Jugendlichen (0‒18 Jahre) auf der Welt sicherzustellen. In den 54 Artikeln der Konvention werden Kindern umfassende Schutz-, Förder- und Beteiligungsrechte zuerkannt. Die in dem »Gebäude der Kinderund Jugendrechte« wichtigsten Rechte finden sich in den Artikeln 2, 3, und 12.
Das Gebäude der Kinder- und Jugendrechte Allgemeine Prinzipien der UN-Kinderrechtskonvention von 1989 5 Recht auf Schutz 5 Recht auf Förderung 5 Recht auf Beteiligung 5 Schutz vor Diskriminierung (Artikel 2) 5 Vorrang des Kindeswohls (Artikel 3) 5 Berücksichtigung des Kindeswillens (Artikel 12)
! Ein Kind ist jeder Mensch, der das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat (Artikel 1).
Artikel 2 enthält ein umfassendes Diskriminierungsverbot. Alle Rechte gelten für jedes Kind, unabhängig von Rasse, Hautfarbe,
504
Anhang
Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Anschauung, nationaler, ethnischer oder sozialer Herkunft, Vermögen, Behinderung, Geburt oder sonstigem Status des Kindes, seiner Eltern oder seines Vormunds. Weitere Schutzrechte finden sich in Artikel 8 (Schutz der Identität), Artikel 9 (Schutz vor Trennung von den Eltern), Artikel 16 (Schutz der Privatsphäre), Artikel 17 (Schutz vor Schädigung durch Medien), Artikel 19 (Schutz vor jeder Form körperlicher oder geistiger Gewaltanwendung, Misshandlung oder Vernachlässigung einschließlich des sexuellen Missbrauchs), Artikel 22 (Schutz von Kinderflüchtlingen), Artikel 30 (Schutz von Minderheiten), Artikel 32 (Schutz vor wirtschaftlicher Ausbeutung), Artikel 33 (Schutz vor Suchtstoffen), Artikel 34 (Schutz vor sexuellem Missbrauch), Artikel 35 (Schutz vor Entführung), Artikel 36 (Schutz vor Ausbeutung jeder Art), Artikel 37 (Schutz in Strafverfahren und Verbot von Todesstrafe und lebenslanger Freiheitsstrafe), Artikel 38 (Schutz bei bewaffneten Konflikten). In Artikel 3 ist der Vorrang des Kindeswohls festgeschrieben, demzufolge das Wohl des Kindes bei allen Gesetzgebungs-, Verwaltungs- und sonstigen Maßnahmen öffentlicher oder privater Einrichtungen vorrangig zu berücksichtigen ist. Wer für die Entwicklung des Kindes Verantwortung trägt, ist verpflichtet, das Kind entsprechend seinem Entwicklungsstand bei der Wahrnehmung seiner Rechte zu unterstützen. Ergänzende Förderrechte sind festgelegt in Artikel 6 (Recht auf Leben und Entwicklung), Artikel 10 (Recht auf Familienzusammenführung), Artikel 15 (Recht auf Versammlungsfreiheit), Artikel 17 (Zugang zu den Medien), Artikel 18 (Recht auf beide Eltern), Artikel 23 (Recht auf Förderung bei Behinderung), Artikel 24 (Recht auf Gesundheitsvorsorge), Artikel 27 (Recht auf angemessenen Lebensstandard), Artikel 28 (Recht auf Bildung), Artikel 30 (Recht auf kulturelle Entfaltung), Artikel 31 (Recht auf Ruhe, Freizeit, Spiel und Erholung), Artikel 39 (Recht auf Integration geschädigter Kinder). Nach Artikel 12 hat jedes Kind das Recht, in allen Angelegenheiten, die es betreffen, unmittelbar oder durch einen Vertreter gehört zu werden. Die Meinung des Kindes muss angemessen und entsprechend seinem Alter und seiner Reife berücksichtigt werden. Weitere Beteiligungsrechte der Kinder sind niedergelegt in Artikel 13 (Recht auf freie Meinungsäußerung sowie auf Informationsbeschaffung und -weitergabe) und in Artikel 17 (Recht auf Nutzung kindgerechter Medien). Neben den sog. materiellen Rechten sind eine Reihe von Verfahrensregeln von Bedeutung. Hierzu gehören neben der Definition des Begriffs »Kind« (alle Menschen von 0‒18 Jahren) die Verpflichtung der Staaten zur Umsetzung der Kinderrechte (Artikel 4) und zur Bekanntmachung der Kinderrechte (Artikel 42), die Einsetzung eines UN-Ausschusses für die Rechte des Kindes (Artikel 43), die Berichtspflicht über die Maßnahmen zur Verwirklichung der Kinderrechte (Artikel 44) sowie die Mitwirkungsmöglichkeiten von Nicht-Regierungsorganisationen (Artikel 45).
2
Kinder- und Jugendrechte in Deutschland
Deutschland hat die UN-Kinderrechtskonvention 1992 ratifiziert, allerdings nicht uneingeschränkt. In einer Interpretationserklärung wurden Vorbehalte besonders im Hinblick auf Kinder ohne deutschen Pass formuliert. Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge haben demnach nicht die gleichen Rechte wie die
deutschen Kinder. Auf Grund ausländerrechtlicher Vorschriften ist ihr Wohl beispielsweise in punkto Bildung und Gesundheitsfürsorge nachrangig gegenüber anderen Erwägungen. Trotz dieser Einschränkungen ist es auch bei uns in den letzten 20 Jahren zu einem Perspektivenwechsel gekommen. Kinder und Jugendliche werden rechtlich nicht mehr als Objekte der Erwachsenen, sondern als Subjekte und damit als Träger eigener Rechte betrachtet. So wurde im Zusammenhang mit der umfassenden Sorgerechtsreform von 1980 der Übergang von der elterlichen »Gewalt« zur elterlichen »Sorge« vollzogen. Außerdem wurde der Paragraph 1626 (Abs. 2) in das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) eingefügt, der erstmals die Mitsprache von Kindern und Jugendlichen an allen sie betreffenden Entscheidungen rechtsverbindlich festlegt. Seitdem heißt es dort: »Bei der Pflege und Erziehung berücksichtigen die Eltern die wachsende Fähigkeit und das wachsende Bedürfnis des Kindes zu selbständigem verantwortungsbewusstem Handeln. Sie besprechen mit dem Kind, soweit es nach dessen Entwicklungsstand angezeigt ist, Fragen der elterlichen Sorge und streben Einvernehmen an«.
Entwicklung der Kinderrechte in Deutschland A ( uswahl) 5 Recht auf Erziehung: Reichsjugendwohlfahrtsgesetz 1922 5 Recht auf Mitsprache in der Familie: Sorgerechtsreform 1980 5 Recht auf Beratung durch das Jugendamt: Kinder- und Jugendhilfegesetz 1990 5 Rechte der UN-Kinderrechtskonvention: Ratifizierung der UN-KRK 1992 5 Recht auf Umgang mit beiden Eltern: Kindschaftsrechtsreform 1998 5 Recht auf gewaltfreie Erziehung: Gesetz zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung 2000
Das 1990 in Kraft getretene Kinder- und Jugendhilfegesetz (SGB VIII) benennt Kinder und Jugendliche ausdrücklich als Träger eigener Rechte (7 Kap. 9, Kap. 42.5). Gemäß Paragraph 8 haben sie das Recht, sich in allen Angelegenheiten der Erziehung und Entwicklung an das Jugendamt zu wenden und dort auch ohne Kenntnis ihrer Eltern beraten zu werden. Nach den Paragraphen 5a und 42 haben Kinder und Jugendliche einen eigenen Anspruch auf Eingliederungshilfe bei seelischer Behinderung bzw. auf Inobhutnahme; 1996 kam in Paragraph 24 KJHG der Anspruch des Kindes auf den Besuch eines Kindergartens vom vollendeten dritten Lebensjahr an hinzu, der ebenfalls als Anspruch des Kindes und nicht als Recht der Eltern ausgestaltet wurde. Die Kindschaftsrechtsreform von 1998 brachte neben der weitgehenden Gleichstellung ehelicher und nicht-ehelicher Kinder das Recht des Kindes auf Umgang mit beiden Eltern (§ 1684, Abs. 1 BGB) und die Möglichkeit, Kindern in besonders konfliktträchtigen gerichtlichen Kinderschutzverfahren einen eigenen Verfahrenspfleger (Anwalt des Kindes) zur Seite zu stellen (§ 51 FGG). Vorläufig letztes Glied in der Kette bedeutender Kinderrechte in Deutschland ist das am 08.11.2000 in Kraft getretene Gesetz zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung. Seitdem haben Kinder in Deutschland auch im Verhältnis zu den eigenen Eltern ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. In der Begründung für das Gesetz heißt es ausdrücklich, dass damit keine Kriminalisierung der
505 E 2 · Jugend und Recht
Konfliktlagen im Vordergrund stehen, sondern Hilfen für die betroffenen Kinder, Jugendlichen und Eltern. Ergänzend wurde daher im § 16 Abs. 1 des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (KJHG) die Pflicht der Jugendbehörden angefügt, »Wege aufzuzeigen, wie Konfliktsituationen in der Familie gewaltfrei gelöst werden können.«
Im Bürgerlichen Gesetzbuch und in verschiedenen Jugendschutzgesetzen sind Altersgrenzen festgesetzt, nach denen Kinder und Jugendliche schrittweise für Teilbereiche ihres Lebens selbst verantwortlich sind und entsprechend alleine für die Folgen aufkommen müssen (7 Tabelle).
Wichtige Altersgrenzen nach der Deutschen Rechtsordnung (Auswahl) Vollendung der Geburt
Rechtsfähigkeit
6 Jahre
Beginn der Schulpflicht
7 Jahre
Beschränkte Geschäftsfähigkeit; bedingte Deliktsfähigkeit (Haftung bei Schäden, soweit das Kind einsichtsfähig ist)
10 Jahre
Anhörrecht in Fragen der Religionszugehörigkeit; Kind erhält Ausweis mit Passbild
12 Jahre
Beschränkte Religionsmündigkeit (Mitbestimmungsrecht)
14 Jahre
Übergang vom Kind zum Jugendlichen; Religionsmündigkeit; bedingte Strafmündigkeit; Beschwerderecht in Vormundschaftssachen; der Minderjährige kann nicht gegen seinen Willen adoptiert werden
15 Jahre
Jugendliche dürfen Ausbildungsstelle oder leichte Arbeit annehmen, wenn sie nicht mehr vollzeitschulpflichtig sind; Jugendliche dürfen Ferienjob für 4 Wochen annehmen
16 Jahre
Eidesmündigkeit; beschränkte Testierfähigkeit; Ehefähigkeit; Recht zur Wahl des Landtages (in einigen Bundesländern); Erlaubnis zum Besuch einer Gaststätte oder Tanzveranstaltung bis 24 Uhr ohne Begleitung eines Erziehungsberechtigten; Jugendliche dürfen leichte alkoholische Getränke (z. B. Bier und Wein) erwerben und in der Öffentlichkeit rauchen; Verpflichtung zum Besitz von Personalausweis oder Pass
18 Jahre
Volljährigkeit; volle Geschäftsfähigkeit, Testierfähigkeit und Deliktfähigkeit; Ehemündigkeit; aktives und passives Wahlrecht; Wehrpflicht (bzw. Zivildienst) für junge Männer
3
Ausblick
Etablierung und Umsetzung der Kinder- und Jugendrechte sind keineswegs abgeschlossen. Demokratie und der Schutz von Kinder- und Menschenrechten befinden sich stets nur in der Annäherung an ihre bestmögliche Verwirklichung. Aufgrund der demographischen Entwicklung und der dadurch gegebenen Dominanz der älteren Generation kommt dem Thema Kinder- und Jugendrechte in Deutschland eine besondere Brisanz zu, deren Bedeutung voraussichtlich noch zunehmen wird. Die politische Praxis zeigt nämlich, dass die Gesellschaft trotz der existentiellen Zukunftsprobleme von Erwachseneninteressen und gegenwartsbezogenem Verteilungsstreit beherrscht wird und eine Gegensteuerung durch die Politik praktisch kaum stattfindet. Die Sorge um Zustimmung der jungen Generation zum Zusammenleben auf demokratischer Grundlage erfordert es deshalb, dass Wege gefunden werden, Kindern und Jugendlichen das ihnen zustehende Gewicht in Familie, Gesellschaft und Politik zu verschaffen. Dazu gehört auch, Kinder und Jugendliche selbst mehr als bisher über ihre Rechte und die sich daraus ableitenden Verpflichtungen zu informieren. In Anlehnung an angelsächsische Vorbilder wäre der Aufbau eines dreistufiges Info- und Beratungssystems für Kinder und Jugendliche sinnvoll, das von öffentlicher Aufklärung über Jugendrechtshäuser für Kinder und Jugendliche bis zur Etablierung spezialisierter Interessenvertreter in gerichtlichen und behördlichen Verfahren reicht.
Literatur Baumgartner E (2000) Check it out. Deine Rechte als Jugendlicher. Kösel, München Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2000) Übereinkommen über die Rechte des Kindes. UN-Kinderrechtskonvention im Wortlaut mit Materialien. Bonn Von Hasseln S (2002) Jugendrechtsberater. dtv, München
506
Anhang
E 2.2
Jugendschutzgesetz – Wesentliche Auszüge Bearbeitung/Auswahl: B. Stier
Seit dem 1. April 2003 geltendes Recht Bezugsstelle: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 53107 Bonn Tel.: 01 80/5 32 93 29 E-Mail:
[email protected] Internet: http://www.bmfsfj.de I. Allgemeines
§1 Begriffsbestimmungen (1) Im Sinne dieses Gesetzes 1. sind Kinder Personen, die noch nicht 14 Jahre alt sind, 2. sind Jugendliche Personen, die 14, aber noch nicht 18 Jahre alt sind, 3. ist personensorgeberechtigte Person, wem allein oder gemeinsam mit einer anderen Person nach den Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs die Personensorge zusteht, 4. ist erziehungsbeauftragte Person jede Person über 18 Jahre, soweit sie auf Dauer oder zeitweise aufgrund einer Vereinbarung mit der personensorgeberechtigten Person Erziehungsaufgaben wahrnimmt oder soweit sie ein Kind oder eine jugendliche Person im Rahmen der Ausbildung oder der Jugendhilfe betreut. (2) Trägermedien im Sinne dieses Gesetzes sind Medien mit Texten, Bildern oder Tönen auf gegenständlichen Trägern, die zur Weitergabe geeignet, zur unmittelbaren Wahrnehmung bestimmt oder in einem Vorführ- oder Spielgerät eingebaut sind. Dem gegenständlichen Verbreiten, Überlassen, Anbieten oder Zugänglichmachen von Trägermedien steht das elektronische Verbreiten, Überlassen, Anbieten oder Zugänglichmachen gleich, soweit es sich nicht um Rundfunk im Sinne des § 2 des Rundfunkstaatsvertrages handelt. (3) Telemedien im Sinne dieses Gesetzes sind Medien, die durch elektronische Informations- und Kommunikationsdienste nach dem Gesetz über die Nutzung von Telediensten (Teledienstegesetz, TDG) und nach dem Staatsvertrag über Mediendienste der Länder übermittelt oder zugänglich gemacht werden. Als Übermitteln oder Zugänglichmachen im Sinne von Satz 1 gilt das Bereithalten eigener oder fremder Inhalte. (4) Versandhandel im Sinne dieses Gesetzes ist jedes entgeltliche Geschäft, das im Wege der Bestellung und Übersendung einer Ware durch Postversand oder elektronischen Versand ohne persönlichen Kontakt zwischen Lieferant und Besteller oder ohne dass durch technische oder sonstige Vorkehrungen sichergestellt ist, dass kein Versand an Kinder und Jugendliche erfolgt, vollzogen wird. (5) Die Vorschriften der §§ 2 bis 14 dieses Gesetzes gelten nicht für verheiratete Jugendliche. II. Jugendschutz in der Öffentlichkeit
In diesem Abschnitt sind die Vorschriften zusammengefasst, die von Veranstaltern und Gewerbetreibenden, aber auch von den zuständigen Jugendbehörden, der Gewerbeaufsicht und der Polizei zu beachten sind, wenn Kinder und Jugendliche sich in der Öffentlichkeit, also an allgemein zugänglichen Orten und Plätzen, aufhalten. Im Abschnitt 3, Jugendschutz im Bereich der Medien,
finden sich wegen des übergeordneten Sachzusammenhangs auch Vorschriften, die den Jugendschutz in der Öffentlichkeit betreffen. Die Überschrift »Jugendschutz in der Öffentlichkeit« ist also nicht im ausschließenden Sinne zu verstehen. Adressaten der Verbote: Die Verbote richten sich nicht gegen die Kinder und Jugendlichen, sondern gegen die jeweils verantwortlichen Personen, die in der Lage sind, den Kindern oder Jugendlichen den Aufenthalt oder die Betätigung zu gestatten oder zu verbieten. Ein Verstoß ist nur eine Ordnungswidrigkeit, wenn er von Veranstaltern oder Gewerbetreibenden begangen wird, die z. B. entgegen den Vorschriften Kindern oder Jugendlichen den Aufenthalt oder die Teilnahme gestatten (§ 28 Abs. 1 JuSchG), oder wenn erwachsene Personen (auch die Eltern!) ein entsprechendes Verhalten von Kindern oder Jugendlichen herbeiführen oder fördern (§ 28 Abs. 4 JuSchG). Bei Ordnungswidrigkeiten der Veranstalter und Gewerbetreibenden ist auch Fahrlässigkeit zu ahnden, bei anderen erwachsenen Personen nur vorsätzliches Handeln oder Unterlassen. §4 Gaststätten (1) Der Aufenthalt in Gaststätten darf Kindern und Jugendlichen unter 16 Jahren nur gestattet werden, wenn eine personensorgeberechtigte oder erziehungsbeauftragte Person sie begleitet oder wenn sie in der Zeit zwischen 5 Uhr und 23 Uhr eine Mahlzeit oder ein Getränk einnehmen. Jugendlichen ab 16 Jahren darf der Aufenthalt in Gaststätten ohne Begleitung einer personensorgeberechtigten oder erziehungsbeauftragten Person in der Zeit von 24 Uhr und 5 Uhr morgens nicht gestattet werden. (2) Absatz 1 gilt nicht, wenn Kinder oder Jugendliche an einer Veranstaltung eines anerkannten Trägers der Jugendhilfe teilnehmen oder sich auf Reisen befinden. (3) Der Aufenthalt in Gaststätten, die als Nachtbar oder Nachtclub geführt werden, und in vergleichbaren Vergnügungsbetrieben darf Kindern und Jugendlichen nicht gestattet werden. (4) Die zuständige Behörde kann Ausnahmen von Absatz 1 genehmigen. §5 Tanzveranstaltungen (1) Die Anwesenheit bei öffentlichen Tanzveranstaltungen ohne Begleitung einer personensorgeberechtigten oder erziehungsbeauftragten Person darf Kindern und Jugendlichen unter 16 Jahren nicht und Jugendlichen ab 16 Jahren längstens bis 24 Uhr gestattet werden. (2) Abweichend von Absatz 1 darf die Anwesenheit Kindern bis 22 Uhr und Jugendlichen unter 16 Jahren bis 24 Uhr gestattet werden, wenn die Tanzveranstaltung von einem anerkannten Träger der Jugendhilfe durchgeführt wird oder der künstlerischen Betätigung oder der Brauchtumspflege dient. (3) Die zuständige Behörde kann Ausnahmen genehmigen. §6 Spielhallen, Glücksspiele (1) Die Anwesenheit in öffentlichen Spielhallen oder ähnlichen vorwiegend dem Spielbetrieb dienenden Räumen darf Kindern und Jugendlichen nicht gestattet werden. (2) Die Teilnahme an Spielen mit Gewinnmöglichkeit in der Öffentlichkeit darf Kindern und Jugendlichen nur auf Volksfesten, Schützenfesten, Jahrmärkten, Spezialmärkten oder ähnlichen Veranstaltungen und nur unter der Voraussetzung gestattet werden, dass der Gewinn in Waren von geringem Wert besteht.
507 E 2 · Jugend und Recht
§7 Jugendgefährdende Veranstaltungen und Betriebe Geht von einer öffentlichen Veranstaltung oder einem Gewerbebetrieb eine Gefährdung für das körperliche, geistige oder seelische Wohl von Kindern oder Jugendlichen aus, so kann die zuständige Behörde anordnen, dass der Veranstalter oder Gewerbetreibende Kindern und Jugendlichen die Anwesenheit nicht gestatten darf. Die Anordnung kann Altersbegrenzungen, Zeitbegrenzungen oder andere Auflagen enthalten, wenn dadurch die Gefährdung ausgeschlossen oder wesentlich gemindert wird. §8 Jugendgefährdende Orte Hält sich ein Kind oder eine jugendliche Person an einem Ort auf, an dem ihm oder ihr eine unmittelbare Gefahr für das körperliche, geistige oder seelische Wohl droht, so hat die zuständige Behörde oder Stelle die zur Abwendung der Gefahr erforderlichen Maßnahmen zu treffen. Wenn nötig, hat sie das Kind oder die jugendliche Person 1. zum Verlassen des Ortes anzuhalten, 2. der erziehungsberechtigten Person im Sinne des § 7 Abs. 1 Nr. 6 des Achten Buches Sozialgesetzbuch zuzuführen oder, wenn keine erziehungsberechtigte Person erreichbar ist, in die Obhut des Jugendamtes zu bringen. In schwierigen Fällen hat die zuständige Behörde oder Stelle das Jugendamt über den jugendgefährdenden Ort zu unterrichten. §9 Alkoholische Getränke (1) In Gaststätten, Verkaufsstellen oder sonst in der Öffentlichkeit dürfen 1. Branntwein, branntweinhaltige Getränke oder Lebensmittel, die Branntwein in nicht nur geringfügiger Menge enthalten, an Kinder und Jugendliche, 2. andere alkoholische Getränke an Kinder und Jugendliche unter 16 Jahren weder abgegeben noch darf ihnen der Verzehr gestattet werden. (2) Absatz 1 Nr. 2 gilt nicht, wenn Jugendliche von einer personensorgeberechtigten Person begleitet werden. (3) In der Öffentlichkeit dürfen alkoholische Getränke nicht in Automaten angeboten werden. Dies gilt nicht, wenn ein Automat 3. an einem für Kinder und Jugendliche unzugänglichen Ort aufgestellt ist oder 4. in einem gewerblich genutzten Raum aufgestellt und durch technische Vorrichtungen oder durch ständige Aufsicht sichergestellt ist, dass Kinder und Jugendliche alkoholische Getränke nicht entnehmen können. § 20 Nr. 1 des Gaststättengesetzes bleibt unberührt. §10 Rauchen in der Öffentlichkeit, Tabakwaren (1) In Gaststätten, Verkaufsstellen oder sonst in der Öffentlichkeit dürfen Tabakwaren an Kinder oder Jugendliche unter 16 Jahren weder abgegeben noch darf ihnen das Rauchen gestattet werden. (2) In der Öffentlichkeit dürfen Tabakwaren nicht in Automaten angeboten werden. Dies gilt nicht, wenn ein Automat 1. an einem Kindern und Jugendlichen unter 16 Jahren unzugänglichen Ort aufgestellt ist oder 2. durch technische Vorrichtungen oder durch ständige Aufsicht sichergestellt ist, dass Kinder und Jugendliche unter 16 Jahren Tabakwaren nicht entnehmen können.
III. Jugendschutz im Bereich der Medien, UnterAbschnitt 1. Trägermedien
In diesem Unterabschnitt sind Vorschriften des Gesetzes zum Schutze der Jugend in der Öffentlichkeit (JÖSchG) über den Jugendschutz bei Filmveranstaltungen, bei dem Angebot von Videokassetten und anderen Bildträgern und bei Bildschirm-Unterhaltungsspielen mit den Verbreitungs- und Werbebeschränkungen des Gesetzes über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften und Medieninhalte (GjS) zusammengefasst. Diese Regelungen sind entsprechend der Medienentwicklung überarbeitet und um Vorschriften für mit Spielen programmierte Bildträger ergänzt. Die in Verantwortung der obersten Landesjugendbehörden stehende Kennzeichnung und Jugendfreigabe von Filmen und Bildträgern ist durch die Möglichkeit einer Anbieterkennzeichnung erweitert, wenn offensichtlich keine beeinträchtigende Wirkung auf Kinder oder Jugendliche in Betracht kommt. §11 Filmveranstaltungen (1) Die Anwesenheit bei öffentlichen Filmveranstaltungen darf Kindern und Jugendlichen nur gestattet werden, wenn die Filme von der obersten Landesbehörde oder einer Organisation der freiwilligen Selbstkontrolle im Rahmen des Verfahrens nach § 14 Abs. 6 zur Vorführung vor ihnen freigegeben worden sind oder wenn es sich um Informations-, Instruktions- und Lehrfilme handelt, die vom Anbieter mit »Infoprogramm« oder »Lehrprogramm« gekennzeichnet sind. (2) Abweichend von Absatz 1 darf die Anwesenheit bei öffentlichen Filmveranstaltungen mit Filmen, die für Kinder und Jugendliche ab zwölf Jahren freigegeben und gekennzeichnet sind, auch Kindern ab sechs Jahren gestattet werden, wenn sie von einer personensorgeberechtigten Person begleitet sind. (3) Unbeschadet der Voraussetzungen des Absatzes 1 darf die Anwesenheit bei öffentlichen Filmveranstaltungen nur mit Begleitung einer personensorgeberechtigten oder erziehungsbeauftragten Person gestattet werden 1. Kindern unter sechs Jahren, 2. Kindern ab sechs Jahren, wenn die Vorführung nach 20 Uhr beendet ist, 3. Jugendlichen unter 16 Jahren, wenn die Vorführung nach 22 Uhr beendet ist, 4. Jugendlichen ab 16 Jahren, wenn die Vorführung nach 24 Uhr beendet ist. (4) Die Absätze 1 bis 3 gelten für die öffentliche Vorführung von Filmen unabhängig von der Art der Aufzeichnung und Wiedergabe. Sie gelten auch für Werbevorspanne und Beiprogramme. Sie gelten nicht für Filme, die zu nichtgewerblichen Zwecken hergestellt werden, solange die Filme nicht gewerblich genutzt werden. (5) Werbefilme oder Werbeprogramme, die für Tabakwaren oder alkoholische Getränke werben, dürfen unbeschadet der Voraussetzungen der Absätze 1 bis 4 nur nach 18 Uhr vorgeführt werden. §12 Bildträger mit Filmen oder Spielen (1) Bespielte Videokassetten und andere zur Weitergabe geeignete, für die Wiedergabe auf oder das Spiel an Bildschirmgeräten mit Filmen oder Spielen programmierte Datenträger (Bildträger) dürfen einem Kind oder einer jugendlichen Person in der Öffentlichkeit nur zugänglich gemacht werden, wenn die Programme von der obersten Landesbehörde oder
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(2)
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(4)
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(3)
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einer Organisation der freiwilligen Selbstkontrolle im Rahmen des Verfahrens nach § 14 Abs. 6 für ihre Altersstufe freigegeben und gekennzeichnet worden sind oder wenn es sich um Informations-, Instruktions- und Lehrprogramme handelt, die vom Anbieter mit »Infoprogramm« oder »Lehrprogramm« gekennzeichnet sind. Auf die Kennzeichnungen nach Absatz 1 ist auf dem Bildträger und der Hülle mit einem deutlich sichtbaren Zeichen hinzuweisen. Die oberste Landesbehörde kann 1. Näheres über Inhalt, Größe, Form, Farbe und Anbringung der Zeichen anordnen und 2. Ausnahmen für die Anbringung auf dem Bildträger oder der Hülle genehmigen. Anbieter von Telemedien, die Filme, Film und Spielprogramme verbreiten, müssen auf eine vorhandene Kennzeichnung in ihrem Angebot deutlich hinweisen. Bildträger, die nicht oder mit »Keine Jugendfreigabe« nach § 14 Abs. 2 von der obersten Landesbehörde oder einer Organisation der freiwilligen Selbstkontrolle im Rahmen des Verfahrens nach § 14 Abs. 6 oder nach § 14 Abs. 7 vom Anbieter gekennzeichnet sind, dürfen 1. einem Kind oder einer jugendlichen Person nicht angeboten, überlassen oder sonst zugänglich gemacht werden, 2. nicht im Einzelhandel außerhalb von Geschäftsräumen, in Kiosken oder anderen Verkaufsstellen, die Kunden nicht zu betreten pflegen, oder im Versandhandel angeboten oder überlassen werden. Automaten zur Abgabe bespielter Bildträger dürfen 1. auf Kindern oder Jugendlichen zugänglichen öffentlichen Verkehrsflächen, 2. außerhalb von gewerblich oder in sonstiger Weise beruflich oder geschäftlich genutzten Räumen oder 3. in deren unbeaufsichtigten Zugängen, Vorräumen oder Fluren nur aufgestellt werden, wenn ausschließlich nach § 14 Abs. 2 Nr. 1 bis 4 gekennzeichnete Bildträger angeboten werden und durch technische Vorkehrungen gesichert ist, dass sie von Kindern und Jugendlichen, für deren Altersgruppe ihre Programme nicht nach § 14 Abs. 2 Nr. 1 bis 4 freigegeben sind, nicht bedient werden können. Bildträger, die Auszüge von Film- und Spielprogrammen enthalten, dürfen abweichend von den Absätzen 1 und 3 im Verbund mit periodischen Druckschriften nur vertrieben werden, wenn sie mit einem Hinweis des Anbieters versehen sind, der deutlich macht, dass eine Organisation der freiwilligen Selbstkontrolle festgestellt hat, dass diese Auszüge keine Jugendbeeinträchtigungen enthalten. Der Hinweis ist sowohl auf der periodischen Druckschrift als auch auf dem Bildträger vor dem Vertrieb mit einem deutlich sichtbaren Zeichen anzubringen. § 12 Abs. 2 Satz 1 und 2 gilt entsprechend. Die Berechtigung nach Satz 1 kann die oberste Landesbehörde für einzelne Anbieter ausschließen. Auf das Anbringen der Kennzeichnungen auf Bildschirmspielgeräten findet § 12 Abs. 2 Satz 1 und 2 entsprechende Anwendung.
§13 Bildschirmspielgeräte (1) Das Spielen an elektronischen Bildschirmspielgeräten ohne Gewinnmöglichkeit, die öffentlich aufgestellt sind, darf Kindern und Jugendlichen ohne Begleitung einer personensorgeberechtigten oder erziehungsbeauftragten Person nur
gestattet werden, wenn die Programme von der obersten Landesbehörde oder einer Organisation der freiwilligen Selbstkontrolle im Rahmen des Verfahrens nach § 14 Abs. 6 für ihre Altersstufe freigegeben und gekennzeichnet worden sind oder wenn es sich um Informations-, Instruktions- oder Lehrprogramme handelt, die vom Anbieter mit »Infoprogramm« oder »Lehrprogramm« gekennzeichnet sind. (2) Elektronische Bildschirmspielgeräte dürfen 1. auf Kindern oder Jugendlichen zugänglichen öffentlichen Verkehrsflächen, 2. außerhalb von gewerblich oder in sonstiger Weise beruflich oder geschäftlich genutzten Räumen oder 3. in deren unbeaufsichtigten Zugängen, Vorräumen oder Fluren nur aufgestellt werden, wenn ihre Programme für Kinder ab sechs Jahren freigegeben und gekennzeichnet oder nach § 14 Abs. 7 mit »Infoprogramm« oder »Lehrprogramm« gekennzeichnet sind. §14 Kennzeichnung von Filmen und Film- und Spielprogrammen (1) Filme sowie Film- und Spielprogramme, die geeignet sind, die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen oder ihre Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit zu beeinträchtigen, dürfen nicht für ihre Altersstufe freigegeben werden. (2) Die oberste Landesbehörde oder eine Organisation der freiwilligen Selbstkontrolle im Rahmen des Verfahrens nach Absatz 6 kennzeichnet die Filme und die Film- und Spielprogramme mit 1. »Freigegeben ohne Altersbeschränkung«, 2. »Freigegeben ab sechs Jahren«, 3. »Freigegeben ab zwölf Jahren«, 4. »Freigegeben ab sechzehn Jahren«, 5. »Keine Jugendfreigabe«. (3) Hat ein Trägermedium nach Einschätzung der obersten Landesbehörde oder einer Organisation der freiwilligen Selbstkontrolle im Rahmen des Verfahrens nach Absatz 6 einen der in § 15 Abs. 2 Nr. 1 bis 5 bezeichneten Inhalte oder ist es in die Liste nach § 18 aufgenommen, wird es nicht gekennzeichnet. Die oberste Landesbehörde hat Tatsachen, die auf einen Verstoß gegen § 15 Abs. 1 schließen lassen, der zuständigen Strafverfolgungsbehörde mitzuteilen. (4) Ist ein Programm für Bildträger oder Bildschirmspielgeräte mit einem in die Liste nach § 18 aufgenommenen Trägermedium ganz oder im Wesentlichen inhaltsgleich, wird es nicht gekennzeichnet. Das Gleiche gilt, wenn die Voraussetzungen für eine Aufnahme in die Liste vorliegen. In Zweifelsfällen führt die oberste Landesbehörde oder eine Organisation der freiwilligen Selbstkontrolle im Rahmen des Verfahrens nach Absatz 6 eine Entscheidung der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien herbei. (5) Die Kennzeichnungen von Filmprogrammen für Bildträger und Bildschirmspielgeräte gelten auch für die Vorführung in öffentlichen Filmveranstaltungen und für die dafür bestimmten inhaltsgleichen Filme. Die Kennzeichnungen von Filmen für öffentliche Filmveranstaltungen können auf inhaltsgleiche Filmprogramme für Bildträger und Bildschirmspielgeräte übertragen werden; Absatz 4 gilt entsprechend. (6) Die obersten Landesbehörden können ein gemeinsames Verfahren für die Freigabe und Kennzeichnung der Filme sowie
509 E 2 · Jugend und Recht
Film- und Spielprogramme auf der Grundlage der Ergebnisse der Prüfung durch von Verbänden der Wirtschaft getragene oder unterstützte Organisationen freiwilliger Selbstkontrolle vereinbaren. Im Rahmen dieser Vereinbarung kann bestimmt werden, dass die Freigaben und Kennzeichnungen durch eine Organisation der freiwilligen Selbstkontrolle Freigaben und Kennzeichnungen der obersten Landesbehörden aller Länder sind, soweit nicht eine oberste Landesbehörde für ihren Bereich eine abweichende Entscheidung trifft. (7) Filme, Film- und Spielprogramme zu Informations-, Instruktions- oder Lehrzwecken dürfen vom Anbieter mit »Infoprogramm« oder »Lehrprogramm« nur gekennzeichnet werden, wenn sie offensichtlich nicht die Entwicklung oder Erziehung von Kindern und Jugendlichen beeinträchtigen. Die Absätze 1 bis 5 finden keine Anwendung. Die oberste Landesbehörde kann das Recht zur Anbieterkennzeichnung für einzelne Anbieter oder für besondere Film- und Spielprogramme ausschließen und durch den Anbieter vorgenommene Kennzeichnungen aufheben. (8) Enthalten Filme, Bildträger oder Bildschirmspielgeräte neben den zu kennzeichnenden Film- oder Spielprogrammen Titel, Zusätze oder weitere Darstellungen in Texten, Bildern oder Tönen, bei denen in Betracht kommt, dass sie die Entwicklung oder Erziehung von Kindern oder Jugendlichen beeinträchtigen, so sind diese bei der Entscheidung über die Kennzeichnung mit zu berücksichtigen. §15 Jugendgefährdende Trägermedien (1) Trägermedien, deren Aufnahme in die Liste jugendgefährdender Medien nach § 24 Abs. 3 Satz 1 bekannt gemacht ist, dürfen nicht 1. einem Kind oder einer jugendlichen Person angeboten, überlassen oder sonst zugänglich gemacht werden, 2. an einem Ort, der Kindern oder Jugendlichen zugänglich ist oder von ihnen eingesehen werden kann, ausgestellt, angeschlagen, vorgeführt oder sonst zugänglich gemacht werden, 3. im Einzelhandel außerhalb von Geschäftsräumen, in Kiosken oder anderen Verkaufsstellen, die Kunden nicht zu betreten pflegen, im Versandhandel oder in gewerblichen Leihbüchereien oder Lesezirkeln einer anderen Person angeboten oder überlassen werden, 4. im Wege gewerblicher Vermietung oder vergleichbarer gewerblicher Gewährung des Gebrauchs, ausgenommen in Ladengeschäften, die Kindern und Jugendlichen nicht zugänglich sind und von ihnen nicht eingesehen werden können, einer anderen Person angeboten oder überlassen werden, 5. im Wege des Versandhandels eingeführt werden, 6. öffentlich an einem Ort, der Kindern oder Jugendlichen zugänglich ist oder von ihnen eingesehen werden kann, oder durch Verbreiten von Träger- oder Telemedien außerhalb des Geschäftsverkehrs mit dem einschlägigen Handel angeboten, angekündigt oder angepriesen werden, 7. hergestellt, bezogen, geliefert, vorrätig gehalten oder eingeführt werden, um sie oder aus ihnen gewonnene Stücke im Sinne der Nummern 1 bis 6 zu verwenden oder einer anderen Person eine solche Verwendung zu ermöglichen.
(2) Den Beschränkungen des Absatzes 1 unterliegen, ohne dass es einer Aufnahme in die Liste und einer Bekanntmachung bedarf, schwer jugendgefährdende Trägermedien, die 11. einen der in § 86, § 130, § 130a, § 131 oder § 184 des Strafgesetzbuches bezeichneten Inhalte haben, 2. den Krieg verherrlichen, 3. Menschen, die sterben oder schweren körperlichen oder seelischen Leiden ausgesetzt sind oder waren, in einer die Menschenwürde verletzenden Weise darstellen und ein tatsächliches Geschehen wiedergeben, ohne dass ein überwiegendes berechtigtes Interesse gerade an dieser Form der Berichterstattung vorliegt, 4. Kinder oder Jugendliche in unnatürlicher, geschlechtsbetonter Körperhaltung darstellen oder 5. offensichtlich geeignet sind, die Entwicklung von Kindern oder Jugendlichen oder ihre Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit schwer zu gefährden. (3) Den Beschränkungen des Absatzes 1 unterliegen auch, ohne dass es einer Aufnahme in die Liste und einer Bekanntmachung bedarf, Trägermedien, die mit einem Trägermedium, dessen Aufnahme in die Liste bekannt gemacht ist, ganz oder im Wesentlichen inhaltsgleich sind. (4) Die Liste der jugendgefährdenden Medien darf nicht zum Zweck der geschäftlichen Werbung abgedruckt oder veröffentlicht werden. (5) Bei geschäftlicher Werbung darf nicht darauf hingewiesen werden, dass ein Verfahren zur Aufnahme des Trägermediums oder eines inhaltsgleichen Telemediums in die Liste anhängig ist oder gewesen ist. (6) Soweit die Lieferung erfolgen darf, haben Gewerbetreibende vor Abgabe an den Handel die Händler auf die Vertriebsbeschränkungen des Absatzes 1 Nr. 1 bis 6 hinzuweisen. §16 Sonderregelung für Telemedien Regelungen zu Telemedien, die in die Liste jugendgefährdender Medien nach § 18 aufgenommen sind, bleiben Landesrecht vorbehalten.
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Anhang
E 2.3
Auszüge aus dem SGB XII Bearbeitung/Auswahl: G. Trost-Brinkhues
Das Bundessozialhilfegesetz wurde zum 01.01.2005 durch das SGB XII abgelöst.
SGB XII, § 53 Eingliederungshilfe 1.
2.
3.
Personen, die durch eine Behinderung im Sinne von § 2 Abs. 1 Satz 1 des Neunten Buches wesentlich in ihrer Fähigkeit, an der Gesellschaft teilzuhaben, eingeschränkt oder von einer solchen wesentlichen Behinderung bedroht sind, erhalten Leistungen der Eingliederungshilfe, wenn und solange nach der Besonderheit des Einzelfalles, insbesondere nach Art oder Schwere der Behinderung, Aussicht besteht, dass die Aufgabe der Eingliederungshilfe erfüllt werden kann. Personen mit einer anderen körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung können Leistungen der Eingliederungshilfe erhalten. Von einer Behinderung bedroht sind Personen, bei denen der Eintritt der Behinderung nach fachlicher Erkenntnis mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist. Dies gilt für Personen, für die vorbeugende Gesundheitshilfe und Hilfe bei Krankheit nach den §§ 47 und 48 erforderlich ist, nur, wenn auch bei Durchführung dieser Leistungen eine Behinderung einzutreten droht. Besondere Aufgabe der Eingliederungshilfe ist es, eine drohende Behinderung zu verhüten oder eine Behinderung oder deren Folgen zu beseitigen oder zu mildern und die behinderten Menschen in die Gesellschaft einzugliedern. Hierzu gehört insbesondere, den behinderten Menschen die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen oder zu erleichtern, ihnen die Ausübung eines angemessenen Berufs oder einer sonstigen angemessenen Tätigkeit zu ermöglichen oder sie so weit wie möglich unabhängig von Pflege zu machen.
SGB XII, § 54 Leistungen der Eingliederungshilfe (1) Leistungen der Eingliederungshilfe sind neben den Leistungen nach den §§ 26, 33, 41 und 55 des Neunten Buches insbesondere 1. Hilfen zu einer angemessenen Schulbildung, insbesondere im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht und zum Besuch weiterführender Schulen einschließlich der Vorbereitung hierzu; die Bestimmungen über die Ermöglichung der Schulbildung im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht bleiben unberührt, 2. Hilfe zur schulischen Ausbildung für einen angemessenen Beruf einschließlich des Besuchs einer Hochschule, 3. Hilfe zur Ausbildung für eine sonstige angemessene Tätigkeit, 4. Hilfe in vergleichbaren sonstigen Beschäftigungsstätten nach § 56, 6
5.
nachgehende Hilfe zur Sicherung der Wirksamkeit der ärztlichen und ärztlich verordneten Leistungen und zur Sicherung der Teilhabe der behinderten Menschen am Arbeitsleben. Die Leistungen zur medizinischen Rehabilitation und zur Teilhabe am Arbeitsleben entsprechen jeweils den Rehabilitationsleistungen der gesetzlichen Krankenversicherung oder der Bundesagentur für Arbeit.
SGB XII, § 59 Aufgaben des Gesundheitsamtes Das Gesundheitsamt oder die durch Landesrecht bestimmte Stelle hat die Aufgabe, 1. behinderte Menschen oder Personensorgeberechtigte über die nach Art und Schwere der Behinderung geeigneten ärztlichen und sonstigen Leistungen der Eingliederungshilfe im Benehmen mit dem behandelnden Arzt auch während und nach der Durchführung von Heilmaßnahmen und Leistungen der Eingliederungshilfe zu beraten; die Beratung ist mit Zustimmung des behinderten Menschen oder des Personensorgeberechtigten im Benehmen mit den an der Durchführung der Leistungen der Eingliederungshilfe beteiligten Stellen oder Personen vorzunehmen. Steht der behinderte Mensch schon in ärztlicher Behandlung, setzt sich das Gesundheitsamt mit dem behandelnden Arzt in Verbindung. (…)
Wesentliche Auszüge aus dem SGB VIII § 27 [Hilfe zur Erziehung] 1. Ein Personensorgeberechtigter hat bei der Erziehung eines Kindes oder eines Jugendlichen Anspruch auf Hilfe (Hilfe zur Erziehung), wenn eine dem Wohl des Kindes oder des Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist und die Hilfe für seine Entwicklung geeignet und notwendig ist. 2. Hilfe zur Erziehung wird insbesondere nach Maßgabe der §§ 28 bis 35 gewährt. Art und Umfang der Hilfe richten sich nach dem erzieherischen Bedarf im Einzelfall; dabei soll das engere soziale Umfeld des Kindes oder des Jugendlichen einbezogen werden. 3. Hilfe zur Erziehung umfasst insbesondere die Gewährung pädagogischer und damit verbundener therapeutischer Leistungen. Sie soll im Bedarf Ausbildungs- und Beschäftigungsmaßnahmen im Sinne von § 13 Abs. 2 einschließen. (…) § 31 [Sozialpädagogische Familienhilfe] Sozialpädagogische Familienhilfe soll durch intensive Betreuung und Begleitung Familien in ihren Erziehungsaufgaben, bei der Bewältigung von Alltagsproblemen, der Lösung von Konflikten und Krisen sowie im Kontakt mit Ämtern und Institutionen unterstützen und Hilfe zur Selbsthilfe geben. Sie ist in der Regel auf längere Dauer angelegt und erfordert die Mitarbeit der Familie. 6
511 E 3 · Migranten
Allgemeine Beratungsstellen § 32 [Erziehung in einer Tagesgruppe] Hilfe zur Erziehung in einer Tagesgruppe soll die Entwicklung des Kindes oder des Jugendlichen durch soziales Lernen in der Gruppe, Begleitung der schulischen Förderung und Elternarbeit unterstützen und dadurch den Verbleib des Kindes oder des Jugendlichen in seiner Familie sichern. Die Hilfe kann auch in geeigneten Formen der Familienpflege geleistet werden. § 33 [Vollzeitpflege] Hilfe zur Erziehung in Vollzeitpflege soll entsprechend dem Alter und Entwicklungsstand des Kindes oder des Jugendlichen und seinen persönlichen Bindungen sowie den Möglichkeiten der Verbesserung der Erziehungsbedingungen in der Herkunftsfamilie Kindern und Jugendlichen in einer anderen Familie eine zeitlich befristete Erziehungshilfe oder eine auf Dauer angelegte Lebensform bieten. Für besonders entwicklungsbeeinträchtigte Kinder und Jugendliche sind geeignete Formen der Familienpflege zu schaffen und auszubauen. (…) § 35 [Intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung] Intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung soll Jugendlichen gewährt werden, die einer intensiven Unterstützung zur sozialen Integration und zu einer eigenverantwortlichen Lebensführung bedürfen. Die Hilfe ist in der Regel auf längere Zeit angelegt und soll den individuellen Bedürfnissen des Jugendlichen Rechnung tragen.
E3
Migranten
E 3.1
Beratungsangebote für jugendliche Migranten (Exkurs)
F. Çerçi Beratungsstellen speziell für jugendliche Migranten
Kontaktadressen für jugendliche Migranten 5 Ambulanz für Flüchtlingskinder und ihre Familien, Uni-Kliniken Hamburg Eppendorf; Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters: http://www.uke.uni-hamburg.de/kliniken/psychiatrie/ kinder/schwerpunkte.de.html#flucht 5 Das Jugendgemeinschaftswerk (JGW) Bielefeld: http://www.awo-bielefeld.de/dienste/migranten/jgw.html 5 Das Internationale Jugendzentrum (AWO), Düsseldorf: http://www.awo-duesseldorf.de/dateien/jugend/ zentrum.htm 5 Internationale Jugendberatung im Internationalen Familienzentrum, Frankfurt: http://ffm.junetz.de/lichtblick/ifz.htm
Beratungsstellen für Jugendliche (und dabei auch Migrantenjugendliche) 5 AWO Düsseldorf, Jugendberatungsstelle (JUB): http://jub.awo-duesseldorf.de 5 AWO Berlin, Jugend- und Familienberatungsstelle: http://www.awo-familienberatung.de 5 Essen, Klinik f. Psychiatrie u. Psychotherapie des Kindesund Jugendalters, Institutsambulanz: http://www.uni-essen.de/kjp/html/ambulanz.html 5 SUB/WAY Berlin e.V., für Jungs, die anschaffen., Straßensozialarbeit: http://www.subway-berlin.de
Beratungsstellen für Migranten (auch jugendliche Migranten) Es gibt verschiedene Beratungsstellen, von AWO, Caritas, Malteser, Diakonie, aber auch vom ÖGD, teilweise nach Vereinbarung: 5 Gesundheitsamt Bremen, Medizinische Untersuchung, Beratung und Betreuung von Zuwanderern: (Sachgebiet 24), Horner Str. 60–70, 28203 Bremen 5 Beratung für Ausländer Berlin http://www.psychotherapeutenkammer-berlin.de/links/ lins-beratung-in-berlin.htm#Beratung 5 AWO Frankfurt: http://www.ahze-ffm.de/splh/t_01_awo.html 5 AWO Nürnberg, Interkulturelles Beratungszentrum: http://www.jugendinformation-nuernberg.de/ check-it-out/leben/auslaendisch.htm 5 AWO Stuttgart, Migrationsdienste: http://www.awo-stuttgart.de/migration/ migrationsdienste.htm 5 AWO/Caritas, Main-Kinzig-Kreis, Sozialdienst für Migrant/ innen/Migrationsdienste: http://www.mkk.de/cms/de/ratgeber/ratgeber.html (unter psychosozialer Wegweiser: pdf Datei) 5 Malteser Hilfsdienst e.V., Berlin, Migranten-Medizin: http://www.malteser-berlin.de/content/ehrenamt/ mmm/mmm.php 5 Verband für interkulturelle Arbeit – Berlin: http://www.via-in-berlin.de/homepage_seiten/ via_gemeinsam/projekte 5 Ethnomedizinisches Zentrum e.V., Hannover: http://www.ethno-medizinisches-zentrum.de
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Anhang
Fremdsprachliche Materialien Mädchen-/frauenspezifisch (Vereine/Projekte) 5 Treffpunkt für Mädchen aller Nationen c/o Beraberce e.V. – Türkisch-Deutscher Mädchenverein: http://www.sekis-berlin.de/sekis-db/ausgabe.php3?Snr=942 5 Gesundheitsetage, Akarsu e.V., Berlin: http://www.akarsu-ev.de/frameset.html 5 Uğrak »Treffpunkt für Frauen aus der Türkei, Diakonisches Werk Neukölln-Oberspree e.V., Berlin: http://www.patienteninfo-berlin.de/index.php4?request =search&topic=519&type=address 5 Das Interkulturelle Frauenzentrum, S.U.S.I. Berlin: http://www.susi-frauen-zentrum.com 5 Weitere Kriseneinrichtungen: http://www.serap-cileli.de/Beistand_Kriseneinrichtungen. htm
Spezielle Beratungsstellen Drogen Einige Drogenberatungsstellen haben muttersprachliche Mitarbeiter eingestellt. Zahlreiche vereinzelte Angebote sind in der Regel nicht koordiniert. 5 Odak e.V., Berlin, Verein zur Förderung interkulturelle Bildungs-,Theater und Sozialwerkstatt, u. a. mit: 5 Nokta, Sozialtherapieeinrichtung für Drogenabhängige 5 Haltestelle Drogenberatung Berlin-Kreuzberg 5 ORYA Selbsthilfeprojekt für Ex-Userinnen und Ex-User aller Nationalitäten und deren Angehörige, Freundinnen und Freunde: http://odak.de 5 DÖNÜS, Nürnberg (Träger:http://www.mudra-online.de): http://www.doenues-drogentherapie.de 5 Release Stuttgart e.V.: http://www.stuttgart.de/sde/dept/gen/112282.htm 5 Jugendberatung und Suchthilfe Sachsenhausen, Frankfurt: http://www.drogenberatung-jj.de/deutsch/2/10/18/ 30002/design1.html 5 Interkulturelle Suchthilfe Hannover (ISH): http://www.interkulturelle-suchthilfe.de
Kontaktadressen für fremdsprachliche Materialien 5 BZGA-Broschüre, fremdsprachige Materialien, z. B.: – Ein Thema für Männer mit Verantwortung, Info für türkische Männer – Was Du schon immer über Sex wissen wolltest…, Info für türkische Jungen – Es gibt etwas, das Du vor deiner Ehe wissen musst, Info für junge türkische Frauen-Broschüre Verhüten – aber wie? – Kurzbroschüre über Verhütungsmittel und -methoden für Jugendliche aus osteuropäischen Ländern polnisch/deutsch, russisch/deutsch, rumänisch/ deutsch – Broschüre HIV-Übertragung und Aids-Gefahr – Situationen, Risiken, Ratschläge deutsch, türkisch, englisch, französich, polnisch, russisch, bulgarisch: http://www.bzga.de 5 DHS (Deutsche Hauptstelle gegen die Suchtgefahren e.V.): http://www.dhs.de 5 Referat Soziales Jugend und Gesundheit Stuttgart: Drogen und Abhängigkeit, Vorbeugung, Rat und Hilfe, Informationen in türkischer Sprache für in Deutschland lebende Eltern, Postfach 10 60 34, Tel.: 0711/21677-65, Fax: 0711/216564-24 5 Gesundheitsamt Stadt Münster: (mehrsprachige Informationsmaterial, gesunde Ernährung, Schutzimpfungen), Stühmerweg 8, 48127 Münster, Tel.: 0251/492-0, Karim Mashkoori, Dipl. Oecothropologe, 0251/23772-78 5 Sonstige Broschüren/Bücher: http://www.aidshilfe.de/index.php?id=2577
Arztverzeichnisse, Gesundheitswegweiser, fremdsprachige Gesundheitsinformationen 4 Gesundheitswegweiser für Migranten: http://www.kinderaerzte-lippe.de/MigrationLinks.htm 4 Einige Städte haben ein Verzeichnis muttersprachlicher Ärzte aufgestellt. Adressen
Migranten und HIV
Dolmetscherdienste
5 Beachten Sie regionale Angebote 5 Beratung – HIV & Migration Berlin: http://www.miles.lsvd.de/hiv.htm#Beratung_-_HIV_&_ Migration 5 Münchener Aids-Hilfe für Migranten: http://www.muenchener-aidshilfe.de/ index.php?sid0&ord0beratung&dat=migranten
5 Ethno-Medizinisches Zentrum Hannover: http://www.ethno-medizinisches-zentrum.de/ index-aktivitaeten-dolmetscher.html 5 Dolmetscher-Service München: http://www.bayzent.de/dolm.html 5 Gemeindedolmetschdienst Berlin: http://www.gemeindedolmetschdienst-berlin.de
513 E 3 · Migranten
Thema Sucht
Stationäre Therapie mit muttersprachlichem Angebot
5 Landeszentrum für Zuwanderung NRW: »Migration und Sucht: Beispielhafte Projekte und Hilfsangebote für junge Migrantinnen und Migranten« 4/2002 (Adressverzeichnis zum Schluss): http://www.lzz-nrw.de/docs/Doku_4_02_.pdf
5 Im Westfälischen Institut für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie und Heilpädagogik, Hamm (Dir. P.D. Dr. Schepker, Ambulanzleitung: Dr. M. Toker) gibt es ein elaboriertes Setting für jugendliche Migranten: http://www.jugendpsychiatrie-hamm.de 5 In der Westfälischen Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie kümmert man sich verstärkt um Menschen mit Migrationshintergrund (Chefarzt Dr. R. G. Siefen): Halterner Str. 525, 45770 Marl 5 In der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie (Prof. Dr.med. W. Senf ) wird eine interkulturelle Psychotherapie für türkeistämmige Patienten, Fr. Dr. med. (TR) Y. Erim, angeboten. Wichtig: Behandlung zwar ab 18 Jahren, jedoch in Sonderfällen (z. B. essgestörte Patientinnen, die eine hohe Beeinträchtigung und altersunspezifische Probleme haben und gut in die Gruppe der älteren Patieten passen) auch ab 16 Jahren: http://www.uni-essen.de/psychosomatik/html/ interkulturelles.html 5 Im Niedersächsischen Landeskrankenhaus Osnabrück suchen immer häufiger Aussiedler die niederschwelligen Drogenentgiftungsstation auf, sodass deren Anteil knapp 20% der Behandlungsfälle ausmachte (Scwichtenberg und Weig, 1999). Behandlung ab 16 Jahren: http://www.psychiatrie-osnabrueck.niedersachsen.de 5 Einrichtungsverzeichnis der stationären Therapieangebote mit muttersprachlichen Angebot bei Drogenproblematik: DHS (Deutsche Hauptstelle gegen die Suchtgefahren (Hrsg.), Sucht in unserer multikulturellen Gesellschaft, Schriftenreihe zum Problem der Suchtgefahren Band 41,1998, Lambertus Verlag, S. 254–260
Flüchtlinge und Folteropfer 5 TraumaNetzwerk: http://www.traumanetzwerk.de 5 Psychosoziale Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer: http://www.asyl.net./Adressen/ AdressenPsychosozZentren.htmhttp:// www.aktivgegenabschiebung.de/links_psychosozial.html 5 Behandlungszentrum für Folteropfer e.V.: http://www.bzfo.de
Selbsthilfe, Vereine Bei einigen Migrantengruppen ist das Konzept der organisierten Selbsthilfe in der Form wie bei uns unbekannt. Stattdessen gibt es Vereine und Netzwerke, die diese Funktion teilweise erfüllen. Während sehr viele Vereine existieren – besonders bei männlichen Jugendlichen sind meist Fußball und Taek Wan Doo sehr beliebt – sind relativ wenige Selbsthilfeorganisationen vorhanden. 5 SEKIS, zentr. Berliner Selbsthilfe Kontakt- und Informationsstelle, Ausland Migration: http://www.sekis-berlin.de/sekis-db/baum.php3?EBENE1 =Ausland+%2F+Migration 5 Medizinische Koordinations- und Beratungsstelle der Berliner Gesellschaft Türkischer Mediziner e.V.: http://www.sekis-berlin.de/sekis-db/ausgabe. php3?Snr=3012
Sonstige Adressen 5 Psychotherapie-Informationsdienst: http://www.psychotherapiesuche.de/Suchen.asp 5 Arbeitskreis türkischsprachiger Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten: http://www.aktpt.de 5 Rechtsratgeber für Ausländische Frauen: http://www.lzz-nrw.de/docs/rechtsratg_frauen_d.pdf
F
Netzwerk – Aufbau und Pflege
Einführung
– 516
F1
Hilfestern – 517
F2
Netzwerk (Datenblatt) – 518
F3
Netzwerkeinrichtungen (Mustervordruck) – 519
F4
Expertennetzwerk (Maske)
F5
Netzwerk Jugendhilfe (Maske) – 523
F6
Persönliche Liste wichtiger Kooperationspartner – 526
F7
Persönliches Netzwerk (Mustervordruck) – 527
– 520
516
Anhang
F Netzwerk – Aufbau und Pflege Einführung Liebe Leserin, lieber Leser, in diesem Anhangsteil Netzwerk - Aufbau und Pflege finden Sie Vorschläge und Muster, die Ihnen den Aufbau Ihres persönlichen Netzwerkes der Betreuung erleichtern können. 4 Der Hilfestern soll in übersichtlicher Form wichtige Adressen zusammenfassen. Daraus lässt sich ein Plakat für das Wartezimmer machen und ein Flyer zur Auslage und Weitergabe. 4 Das Datenblatt Netzwerk soll Sie bei Aufbau und Pflege Ihrer eigenen Netzwerkdatenbank unterstützen. Es lässt sich beliebig vervielfältigen. 4 Der Mustervordruck Netzwerkeinrichtungen ist zum Versand an einzelne Einrichtungen gedacht, mit denen Sie gerne in Kontakt treten möchten. 4 Die Maske Expertennetzwerk soll Sie bei der Zusammenstellung von Daten für Ihre Tätigkeit wichtiger Personen unterstützen. 4 Die Maske Netzwerk Jugendhilfe ordnet Ihre Kontakte zu verschiedenen Personen und Einrichtungen, die bei der Betreuung von Jugendlichen bedeutsam sein können. 4 In die Persönliche Liste wichtiger Kooperationspartner können Sie schnell und übersichtlich Ihre wichtigsten Kontakte aufnehmen. 4 Der Mustervordruck Persönliches Netzwerk soll den Personen und Institutionen, mit denen Sie in Kontakt treten wollen, die Arbeit erleichtern und ist als Anlage zu Ihrem Schreiben (Mustervordruck Netzwerkeinrichtungen) gedacht. Selbstverständlich können Sie alle diese Muster Ihren persönlichen Bedürfnissen und Notwendigkeiten anpassen.
517 F 1 · Hilfestern
F1
Hilfestern Kinder- und Jugendtelefon Jugendgerichtshilfe . . . . . . . . . . . . .
0800/111 03 33
Tel.: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Jugendamt/Sozialer Dienst des . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Adresse: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tel.: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fax: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Aids-Beratung . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Sprechzeiten: . . . . . . . . . . . . . .
Tel.: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Beratungsstelle für Kinder, Drogenberatung . . . . . . . . . . . . . . . .
Jugendliche und Eltern
Tel.: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Adresse: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tel.: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fax: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprechzeiten: . . . . . . . . . . . . . . .
»Wildwasser« Verein gegen sexuelle Gewalt an Mädchen und Frauen
Sexueller Missbrauch
Adresse: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tel.: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fax: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
HILFE ?!
Sprechzeiten: . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Beratungsstelle Adresse: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tel.: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fax: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprechzeiten: . . . . . . . . . . . . . . .
»Pro Familia« Psychosoziales Beratungs-
Adresse: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
und Betreuungszentrum
Tel.: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Adresse: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Fax: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Tel.: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Sprechzeiten: . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Fax: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprechzeiten: . . . . . . . . . . . . . . .
Jugendzentrum der Stadt
Jugend- und Drogenberatung Adresse: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Zentrum für Jugendberatung und
Tel.: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Suchthilfe:
............................ Adresse: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Fax: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
................................
Tel.: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Sprechzeiten: . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Sprechzeiten: . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Fax: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Adresse: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Sprechzeiten: . . . . . . . . . . . . . . .
Tel.: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
B. Stier 10/03
518
Anhang
F2
Netzwerk
Name der Einrichtung
Adresse:
Telefon:
Fax:
E-Mail
Webadresse
Ansprechpartner(in):
Durchwahl:
Aufgaben/Zielsetzung
519 F 3 · Netzwerkeinrichtungen
F3
Netzwerkeinrichtungen
Sehr geehrte Damen und Herren, in unserer jugendmedizinischen Tätigkeit betreuen wir immer wieder Patienten, bei denen unsere medizinische Kompetenz nicht ausreicht, um adäquate Hilfestellung und Versorgung zu gewährleisten. Zudem betrachten wir es als wichtige Aufgabe, im Rahmen unserer jugendmedizinischen Betreuung, auch bei Problemen im sozialen und psychischen Bereich, zur Verfügung zu stehen. Dieses ganzheitliche Betreuungsangebot lässt sich nur in der Zusammenarbeit mit anderen Institutionen verwirklichen. Wir möchten uns mit unserer jugendmedizinischen Tätigkeit in ein solches Netzwerk einbringen und würden uns sehr freuen, wenn Sie an einer Zusammenarbeit mit uns und unserer Praxis interessiert sind. In der Anlage übersenden wir Ihnen diesbezüglich wichtige Angaben zu unserer Praxis sowie einen Vordruck mit der Bitte, diesen auszufüllen, damit wir noch etwas besser über Ihr Angebot informiert sind. Wir wären Ihnen dankbar, wenn wir bei entsprechender Problemstellung auf Ihren Rat zurückgreifen könnten und stehen Ihnen gerne mit unseren jugendmedizinischen Kenntnissen zur Verfügung. Sollten Sie über Informationsmaterialien verfügen, wären wir für Zusendung dankbar. Unsere Praxis bietet im übrigen Raum für Plakate zur Ankündigung von Veranstaltungen etc. Gerne würden wir ein paar von Ihnen zur Verfügung gestellte Daten zu einem »Hilfe«-Plakat zusammenfassen. Bitte teilen Sie uns mit, ob Sie damit einverstanden sind. Sollten sich bei Ihnen Änderungen in Anschrift, Kontaktperson, Telefonnummer oder sonstigen Daten ergeben, wären wir für eine kurze Information dankbar. Mit freundlichen Grüßen
Anlage: erwähnt
520
Anhang
F4
Expertennetzwerk
– – –
Seite 1: Kontaktvorschläge Seite 2: Inhaltsverzeichnis Seite 3ff.: Datenblätter
1
Kontaktvorschläge
Ärztekammer
☐
Berufsschulen
☐
Berufsverband
☐
Förderschule
☐
Grundschule
☐
Gymnasium
☐
Realschule
☐
Hauptschule
☐
Jugendrotkreuz
☐
Jugendzentrum
☐
Kassenärztliche Vereinigung
☐
Krankenkassen vor Ort
☐
Pro Familia
☐
Selbsthilfegruppen (z. B. Asthma, Diabetes etc.)
☐
Sportvereine
☐
Volkshochschule
☐
521 F 4 · Expertennetzwerk
2
Inhaltsverzeichnis »Expertennetzwerk«
Name, Institution, Ort 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20.
522
3
Anhang
Datenblatt »Expertennetzwerk«
(Bitte vor dem Ausfüllen kopieren!)
Name der Einrichtung: Adresse: Telefon: Fax: E-Mail: Webadresse Ansprechpartner(in): Durchwahl: Aufgaben/Zielsetzung
523 F 5 · Netzwerk Jugendhilfe
F5
Netzwerk Jugendhilfe
– – –
Seite 1: Kontaktvorschläge Seite 2: Inhaltsverzeichnis Seite 3ff.: Datenblätter
1
Kontaktvorschläge
Arbeitsamt
☐
Ausländerbeauftragte
☐
Drogenberatung
☐
Ernährungsberatung (z. B. bei Krankenkassen)
☐
Erziehungsberatung
☐
Familiengericht
☐
Gesundheitsamt
☐
Jugendamt
☐
Jugendgerichtshilfe
☐
Jugendpsychiatrischer Dienst
☐
Kinderschutzbund
☐
Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie
☐
Physiotherapeut
☐
Praxis für Augenheilkunde
☐
Praxis für Ergotherapie
☐
Praxis für Kinder- und Jugendpsychiatrie
☐
Praxis für Orthopädie
☐
Schulberatung
☐
Sozialamt
☐
Sozialdienst
☐
524
2
Anhang
Inhaltsverzeichnis »Netzwerk Jugendhilfe«
Name, Institution, Ort 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20.
525 F 5 · Netzwerk Jugendhilfe
3
Datenblatt »Netzwerk Jugendhilfe«
(Bitte vor dem Ausfüllen kopieren!)
Name der Einrichtung: Adresse: Telefon: Fax: E-Mail: Webadresse Ansprechpartner(in): Durchwahl: Aufgaben/Zielsetzung
526
Anhang
F6
Persönliche Liste wichtiger Kooperationpartner
Kooperationspartner ......................................................... Tel.: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ......................................................... Fax: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ......................................................... Email . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ......................................................... .........................................................
......................................................... Tel.: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ......................................................... Fax: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ......................................................... Email . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ......................................................... .........................................................
......................................................... Tel.: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ......................................................... Fax: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ......................................................... Email . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ......................................................... .........................................................
......................................................... Tel.: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ......................................................... Fax: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ......................................................... Email . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ......................................................... .........................................................
Kontaktperson
527 F 7 · Persönliches Netzwerk
F7
Persönliches Netzwerk
Name der Einrichtung: .................................................................................................................... Adresse: .................................................................................................................... Fax: .................................................................................................................... E-mail: .................................................................................................................... Webadresse: .................................................................................................................... Sprechzeiten: .................................................................................................................... Kontaktperson/Tel.: .................................................................................................................... Zielgruppen: .................................................................................................................... Aufgaben/Zielsetzung: .................................................................................................................... Angebote: .................................................................................................................... Informationsmaterialien: .................................................................................................................... Träger: .................................................................................................................... Bemerkungen: ....................................................................................................................
G
Literatur
G1
Standardwerke – 530
G2
Literatur zum Thema Medien – 530
530
Anhang
G Literatur G1
Standardwerke
Dörr HG, Rascher W (Hgs) (2002) Praxisbuch Jugendmedizin. Urban & Fischer, München Flammer A, Alsaker FD (2002) Entwicklungspsychologie der Adoleszenz. Hans Huber, Bern Joffe A, Blythe MJ (Hgs) (2003) Handbook of adolescent medicine. State of the art reviews 14/2. Hanley & Belfus, Philadelphia Greydanus DE, Bashe P (2003) Caring for your teenager. American Academy of Pediatrics. Bantam Dell/Random House, New York Greydanus DE, Patel DR, Luckstead EF (1998) Office orthopedics and sports medicine. State of the art reviews 9/3. Hanley & Belfus, Philadelphia Greydanus DE, Patel DR, Pratt HD (Hrsg.) (2005) Essentials of adolescent medicine. McGraw-Hill, New York Hofmann AD, Greydanus DE (eds) (1997) Adolescent medicine, 3rd edn. Appleton & Lange, Stamford (Neuauflage in Arbeit) Holland-Hall C, Brown RT (2002) Adolescent medicine secrets. Hanley & Belfus, Philadelphia Wolf AS, Esser Mittag J (1996) Kinder- und Jugendgynäkologie. Atlas und Leitfaden für die Praxis. Schattauer, Stuttgart
G2
Literatur zum Thema Medien
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (1999) Computerspiele, Spielspaß ohne Risiko. Arbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz (AJS), Landesstelle Nordrhein-Westfalen e.V., Köln Bundeszentrale für politische Bildung. Politikunterricht im Informationszeitalter – Medien und neue Lernumgebungen. Schriftenreihe Band 374. Inhalte u. a. Medien im Politikunterricht, Einsatz von Medien im Unterricht, mit CD-Rom: Wegweiser durch das Internet für den Politikunterricht. Bezugsquelle: Bundeszentrale für politische Bildung, Berliner Freiheit 7, 53111 Bonn Feil C (Hg) (2001) Internet für Kinder. Hilfen für Eltern, Erzieher und Lehrer. Leske & Budrich, Opladen Hausmanniger Th, Bohrmann Th (Hg) (2002) Mediale Gewalt. Interdisziplinäre und ethische Perspektiven. Wilhelm Fink, München Hessisches Kultusministerium (April 2001) Computer-Ratgeber für Eltern Hopf WH (2002) Bilderfluten. Medienkompetenz und soziales Lernen in der Sekundarstufe – Praxishandbuch. Careline, Neuried. Inhalte u. a.: Projekt zur Mediennutzung: Medienzeiten – Medien; Unterrichtseinheiten: Mediennutzung, Medienproduktion, Mediengewalt, Werbung, soziale Kompetenzen Landesstelle Jugendschutz Niedersachsen: Aktion Familien online – Chatten, surfen, mailen. Computer- und Internetnutzung von Kindern und Jugendlichen. Informationen für Eltern über u. a. Internetnutzung, Computerspiele, Muster eines Elternvertrages und vielen wichtigen Adressen. Bezugsquelle: Landesstelle Jugendschutz Niedersachsen, Leisewitzstr. 26, 30175 Hannover, Tel.: 0511/858788, Fax: 0511/2834954,
[email protected], www.jugendschutz-niedersachsen.de Palme HJ, Basic N (Hg) (2001) Medienkompetenz Version 2002. Navigationshilfen für Kinder, Jugendliche und Erziehende. Bielefeld Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung »Das Parlament« B12–13/2004. Inhalt: Meier WA: Gesellschaftliche Folgen der Medienkonzentration. Röper H: Zeitungsmarkt in der Krise – ein Fall für die Medienregulierung. Kiefer ML: Der Fernsehmarkt in Deutschland – Turbulenzen und Umbrüche. Sjurts I: Think global, act local – Internationalisierungsstrategien deutscher Medienkonzerne Heinold WE, Spiller U: Der Buchhandel in der Informationsgesellschaft Spitzer M (2005) Vorsicht Bildschirm! Elektronische Medien, Gehirnentwicklung, Gesundheit und Gesellschaft. Ernst Klett, Stuttgart Strasburger VC (1995) Adolescents and the media. Medical and psychological impact. Sage, Thousand Oaks, California
H
Kontaktadressen
H1
Schule – 532
H2
Berufsausbildung – 532
H3
Körperliche oder geistige Behinderung – 532
H 3.1 H 3.2 H 3.3 H 3.4
Behindertenverbände – 532 Behindertenwerkstätten – 532 Fördervereine zur Integration – 532 Anlaufstellen für Studierende – 532
532
Anhang
H Kontaktadressen Allgemeiner Sozialdienst (ASD), Dietzstraße 4, 90317 Nürnberg; Tel: (09 11) 231-26 86, Fax: (09 11) 231-23 21;
[email protected]. Bei erzieherischen und familiären Problemen, wirtschaftlichen Schwierigkeiten, Wohnungssuche oder Fragen der Jugendgerichtshilfe ist der ASD eine sehr gute Anlaufstelle. Er unterhält Beratungsstellen in allen größeren Städten.
H1
Schule
Bundesarbeitsgemeinschaft Gemeinsam Leben - Gemeinsam Lernen e.V., Stülerstr. 2, 10787 Berlin;Tel. (030)262 6832. http://www.gemeinsamleben-gemeinsamlernen.de Verband Deutscher Sonderschulen e.V., Ohmstr. 7, 97076 Würzburg; Tel: (0931) 2 40 20, Fax: (0931) 2 40 23;
[email protected]; http://www.vds-bundesverband.de
H2
Berufsausbildung
Arbeitsgemeinschaft ADHS der Kinder- und Jugendärzte (AG ADHS) e.V. http://www.ag-adhs.de Bundesarbeitsgemeinschaft zur Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Teilstörungen MCD/HKS e.V. (BAG-TL e.V.). http://www.bag-tl.de Bundesarbeitsgemeinschaft der Leitenden Klinikärzte für Kinderund Jugendpsychiatrie und Psychotherapie e.V. http://www.kinder-psychotherapie.de Bundesverband Arbeitsgemeinschaft Spina bifida - Hydrozephalus (ASBH), Münsterstr. 13, 44145 Dortmund; Tel.: 0231-8610500 Bundesverband Arbeitskreis überaktives Kind e.V. http://www.auek.de Bundesverband Aufmerksamkeitsstörung/Hyperaktivität e.V. (BV-AH e.V.). http://www.bv-ah.de Elterninitiative zur Förderung von Kindern mit Aufmerksamkeits-DefizitSyndrom mit/ohne Hyperaktivität (ADS e. V.). http://www.ads-ev.de Frischer Wind e.V. http://www.friwind.de Kontakt Arbeitsgemeinschaft Deutscher Berufsförderungswerke, Berufsförderungswerk Hamburg GmbH, August-Krogmann-Straße 52, 22159 Hamburg; Tel: (0 40) 6 45 81-0, Fax: (0 40) 6 45 81-12 04;
[email protected] Selbstständigkeitshilfe bei Teilleistungsschwächen e.V. (SeHT e.V.). http://www.seht.de Vereinigung zur Förderung von Kindern und Erwachsenen mit Teilleistungsschwächen e.V. (JUVEMUS e.V.). http://www.juvemus.de
H3
Körperliche oder geistige Behinderung
H 3.1 Behindertenverbände Bundesarbeitsgemeinschaft Hilfe für Behinderte e.V., Kirchfeldstr. 149, 40215 Düsseldorf; Tel: (0211) 310 06-0, Fax: (0211) 310 06-48;
[email protected] http://www.bagh.de Bundesverband Hilfe für das autistische Kind - Verein zur Förderung autistischer Menschen, Bebelallee 141, 22297 Hamburg; Tel.(040) 511 56 04, Fax:(040) 511 08 13;
[email protected], http://www.autismus.de Bundesverband für Körper- und Mehrfachbehinderte e.V., Brehmstr. 5 -7, 40239 Düsseldorf; Tel:(0211) 640 04-0, Fax: (0211) 640 04-20;
[email protected], http://www.bvkm.de Bundesvereinigung Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung e.V., Raiffeisenstr. 18, 35043 Marburg; Tel: (06421) 491-0, Fax: (06421) 491-167;
[email protected], http://www.lebenshilfe.de
Deutsche Gesellschaft zur Förderung der Gehörlosen und Schwerhörigen e.V., Paradeplatz 3, 24768 Rendsburg; Tel: (04331)58 97 22, Fax:(04331) 58 97 45;
[email protected] Deutscher Blinden- und., Bismarckallee 30, 53173 Bonn; Tel. (0228) 95 58 20, Fax: (228) 357719;
[email protected], http://www. Sehbehindertenverband e.V dbsv.org Deutscher Gehörlosen-Bund e.V., Hasseer Str. 47, 24113 Kiel; Tel: (0431) 64 34 468, Fax: (0431) 64 34 493;
[email protected], http://www.gehoerlosen-bund.de Down-Syndrom Netzwerk Deutschland e.V., Eifgenweg 1a, 51061 Köln; Tel: (0 221) 6 00 20 30, Fax (0 221) 6 00 23 61;
[email protected], http://www.Down-Syndrom-Netzwerk.de Fördergemeinschaft für Taubblinde e.V., Basteistr. 83a, 53173 Bonn; Tel: (0228) 956 37 63, Fax: (0228) 956 37 65;
[email protected], http://www.taubblind, selbsthilfe-onlinde.de Kindernetzwerk e.V., Hanauer Str. 15, 63739 Aschaffenburg; Tel. (06021) 120 30 oder (0180) 521 37 39; http://www.kindernetzwerk.de Netzwerk People First Deutschland e. V., Kölnische Str. 99, 34119 Kassel; Tel: (0561) 7 28 85 - 55, Fax: (0561) 7 28 85 – 58;
[email protected], http://www.people-first.de
H 3.2 Behindertenwerkstätten Bundesarbeitsgemeinschaft der Werkstätten für Behinderte, Sonnemannstr 5, 60314 Frankfurt; Tel: (069) 9439 905, Fax: (069) 94 33 94 25;
[email protected], http://www.bagwfb.de
H 3.3 Fördervereine zur Integration Bundesarbeitsgemeinschaft der Clubs Behinderter und ihrer Freunde e.V., Eupener Str. 5, 55131 Mainz; Tel: (06131) 22 55 14, 22 57 78, Fax: (06131) 23 88 34 Deutscher Verkehrssicherheitsrat, Beueler Bahnhofsplatz 16, 53222 Bonn; Tel. (0228) 400 010, Fax: (0228) 4000167 (Herausgeber des Ratgebers Verkehrserziehung behinderter Kinder und Jugendlicher) Deutsches Down Syndrom InfoCenter, Hammerhöhe 3, 91207 Lauf a.d.Pegnitz; Tel. (09123) 98 21 21, Fax: (09123) 98 21 22;
[email protected], http://www.ds-infocenter.de Mitwohnzentrale für Rollstuhlfahrer c/o Roland Zährl, H7,1, 68159 Mannheim; Tel. und Fax: (0621)26655 Verein zur Förderung der Integration Behinderter e.V., Am Erlengraben 12a, 35037 Marburg; Tel; (06421) 169 67-20, Fax: (06421) 169 67 29;
[email protected], http://www.paritaet.org/hessen/fib
H 3.4 Anlaufstellen für Studierende BAG hörbehinderte Studenten und Absolventen, Hinter der Hochstätte 2 a, 65239 Hochheim am Main; Tel. (06146) 7958, Fax: (06192) 262 89 Deutscher Verein der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf, Frauenbergstr. 8, 35039 Marburg; Tel. (06421) 948 88-0, Fax: (06421) 948 88-10;
[email protected], http://www.dvbs-online-de Deutsches Studentenwerk, Weberstr. 55, 53113 Bonn; Tel. (0221) 9212070, Fax: (0221) 269 06 30;
[email protected], http://www.studentenwerke.de
I
Internetadressen und CD-RO Ms
I1
Internetadressen – 000
I 1.1 I 1.2 I 1.3 I 1.4
Jugendmedizin allgemein – 000 Jugendspezifische Probleme und Erkrankungen – 000 Medien – 000 Schule und Arbeitswelt – 000
I2
Internetadressen mit Broschüren-Download – 000
I3
CD-ROMs – 000
534
Anhang
I
Internetadressen und CD-ROMs
I1
Internetadressen
I 1.1
Jugendmedizin allgemein
American Academy of Pediatrics: Größter pädiatrischer Ärzteverband der USA, viele Materialien und Informationen: http://www.aap.org Armuts- und Reichtumsbericht des BMGS - Lebenslagen von Familien und Kindern: http://www.bma.de/deu/gra/themen/sicherheit/ armutsbericht/index.cfmhttp://www.bmgs.bund.de/de/sicherung/ armutsbericht/ARBBericht01.pdf Arbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendgynäkologie e.V.: http://www.Kindergynaekologie.de British Medical Journal: http://www.bmj.com Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Aktueller Kinder- und Jugendreader des Bundesministeriums für Familien, Senioren, Frauen und Jugend: http://www.bmfsfj.de/Politikbereiche/ kinder-und-jugend,did=5906,render=renderPrint.html BVKJ e.V. Informationen des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte: http://www.Kinderaerzte-im-netz.de BZgA – Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung: Jede Menge Informationen und Materialien: http://www.bzga.de Center for Disease Control (CDC): http://www.cdc.org Cochrane Literaturservice: Verfassen, Aktualisieren und Verbreiten systematischer Übersichtsarbeiten in der Medizin, weltweites Netz von Wissenschaftlern und Ärzten: http://www.cochrane.de Deutsches Jugendinstitut in München: Im Bereich von Forschung über Kinder, Jugendliche, Frauen und Familien ist das DJI das größte außeruniversitäre Forschungsinstitut der Bundesrepublik mit derzeit 125 wissenschaftlichen Mitarbeitern: Sozialwissenschaftlern, Sozialpädagogen, Lehrern, Fachleuten in Eltern- und Erziehungsberatung, Medienpädagogen: http://www.dji.de Deutsches Kinderhilfswerk: http://www.kindersache.de/startseite.htm DIMDI – Deutsches Institut für medizinische Dokumentation und Information. Informationen für professionelle Rechercheure und Informationsvermittler: http://www.Dimdi.de Deutscher Sportlehrerverband: http://www.dslv.de EuTEACH European Training in effective Adolescent Care and health: Jugendmedizinisches Curriculum: http://www.Euteach.com Familienhandbuch: http://www.familienhandbuch.de/cmain/f_Fachbeitrag/ a_Jugendforschung/s_1115.html Feelok. Ein internetbasiertes Computerprogramm: Rauchen, Stress, Selbstvertrauen, Liebe, Sexualität und Internet, Tests. Jugendliche: http://www.feelok.ch Forum für die Kinder- und Jugendgesundheitsdienste im ÖGD: Im Archiv zahlreiche Fundstellen und Infos rund um die Gesundheit bei Kindern, Jugendlichen: http://www.kinder-jugendgesundheit.de Gesellschaft für Pädiatrische Sportmedizin e.V.: http://www.kindersportmedizin.org
Gesundheitsförderung von Kindern und Jugendlichen: Umfassender Bericht der Gesundheitsverwaltung Köln: http://kinderjugendgesundheit.de/kjgdkoeln/dokumentation/ Gesundheit%20von%20Kindern%20und%20Jugendlichen%20in% 20K%F6ln.pdf Goethe-Institut: Das Goethe-Institut ist das weltweit tätige Kulturinstitut der Bundesrepublik Deutschland; es fördert die Kenntnis der deutschen Sprache im Ausland und pflegt die internationale kulturelle Zusammenarbeit. Darüber hinaus vermittelt es ein umfassendes Deutschlandbild durch Information über das kulturelle, gesellschaftliche und politische Leben: http://www.goethe.de/kug/buw/sub/lks/deindex.htm Gut drauf: Informationen zur Kampagne der BZgA zur Förderung gesundheitsbewussten Verhaltens; Multiplikatoren: http://www.bzga-ausstellungen.de/gutdrauf/ Informationen zu den Themen Sexualaufklärung und Familienplanung inkl. Darstellung von Studien- und Untersuchungsergebnissen, aktuellen Daten sowie Beschreibung und Darstellung von Medien, BZgA; Multiplikatoren: http://www.sexualaufklaerung.de International Association for Adolescent Health: http://www.iaah.org Jugendgesundheitsdienste der Gesundheitsämter in NRW: Gesundheitsinfos der Schulärztinnen und Schulärzte der Gesundheitsämter in NRW: http://www.Kinder-jugendgesundheit.de Kinder- & Jugendärzte im Netz: Kinder- und Jugendmediziner informieren die ganze Familie: Umfangreiche Informationen zu zahlreichen Krankheiten: http://www.kinderaerzte-im-netz.de Kindernetzwerk e.V.: http://www.kindernetzwerk.de Kindersicherheit – Verhütung von Kinderunfällen der Bundesarbeitsgemeinschaft für Gesundheit; für Eltern, Lehrer, Betreuer: http://www.kindersicherheit.de Medline. Kostenlose Abstracts: http://www.medline.de Medical Tribune. Offener Bereich, TeeniePower: http://www.medical-tribune.de move-on.net: Online-Jugendmagazin des Deutschen Verkehrssicherheitsrates e.V., Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften. Jugendmagazin http://www.Move-on.net Nationale Antidoping Agentur. Zahlreiche Infos zu Dopingmitteln etc., Formulare und Vordrucke: http://www.nada-bonn.de/haupt.html Soziale Netzwerke als protektive Faktoren der Gesundheit im Jugendalter: Projekt an der Fachhochschule Frankfurt am Main (Prof. A. Klocke): http://www.fb4.fh-frankfurt.de/projekte/hbsc/ UmfangreicheGesundheitstipps für junge Leute (nur Englisch) mit Quiz, Material, Rat und Forum: http://www.teenagehealthfreak.org/homepage/index.asp UNICEF: http://www.unicef.de WHO: http://www.who.int WHO – Regionalbüro für Europa: http://www.who.dk
535 I 1 · Internetadressen
I 1.2
Spezifische Probleme und Erkrankungen
ADHS Arbeitsgemeinschaft Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung der Kinder- und Jugendärzte e.V: http://www.Ag-adhs.de
Adipositas, Diabetes AGPD - Arbeitsgemeinschaft für Pädiatrische Diabetologie: http://www.Diabetes-kinder.de Arbeitsgemeinschaft Adipositas: http://www.a-g-a.de
Deutsche Herzstiftung e.V. Vogtstraße 50, 60322 Frankfurt am Main: http://www.herzstiftung.de German Society for Thoracic and Cardiovascular Surgery (Prof. Dr. med. J. Cremer), Klinik für Herz- und Gefäßchirurgie der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel: http://www.gstcvs.org Herzstiftung: http://www.herzstiftung.de Jemah e.V. Jugendliche und Erwachsene mit angeborenem Herzfehler: http://www.jemah.de
Liebe, Partnerschaft, Sexualität, Verhütung
Atemwege
Beratung und Information für Jugendliche rund um die Themen Erwachsenwerden, Pubertät, Freundschaft, Partnerschaft und (Homo)-sexualität, Zukunft; Träger: Kinderschutz und Mutterschutz e.V. http://www.kids-hotline.de Jugendhomepage zu Liebe, Partnerschaft, Sexualität und Verhütung (BZGA): http://www.loveline.de Kampagne der BzgA zu Safer Sex und Kondomen. Schüler: http://www.machsmit.de
Die Deutsche Atemwegsliga: http://www.Atemwegsliga.de
Migranten
Behinderung
Ambulanz für Flüchtlingskinder und ihre Familien, Uni-Kliniken Hamburg Eppendorf, Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters, Beratungsstelle für jugendliche Migranten: http://www.uke.uni-hamburg.de/kliniken/psychiatrie/kinder/ schwerpunkte.de.html#flucht Das Internationale Jugendzentrum (AWO), Düsseldorf. Beratungsstelle für jugendliche Migranten: http://www.awo-duesseldorf.de/dateien/jugend/zentrum.htm
Aids, HIV BZgA – Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung: Aids-Beratung: persönliche, anonyme Beratung zu HIV/Aids und Safer Sex online und telefonisch; Schüler. http://www.aidsberatung.de Gib Aids keine Chance – Webseite zur Kampagne der BzgA. Schüler: http://www.gib-aids-keine-chance.de
Bundesarbeitsgemeinschaft Hilfe für Behinderte e.V.: http://www.bagh.de Leona e.V.: Verein für Eltern chromosomal geschädigter Kinder: http:// www.leona-ev.de
Drogen, Suchtgefahren BZgA: Bist Du stärker als Alkohol? BZgA-Kampagne, für Schüler. http://www.bist-du-staerker-als-alkohol.de Deutsche Hauptstelle gegen Suchtgefahren: http://www.dhs.de Drugcom.de – Alles über legale und illegale Drogen (BZgA); für Schüler: http://www.drugcom.de Fachstellen für Suchtprävention in Hessen: http://www.starke-eltern.de. Hier gibt es jeden Monat eine kostenlose Elternzeitschrift, sehr viele Infos und Tipps zur gesunden und präventiven Erziehung von Kindern und Jugendlichen, interaktive Spiele, Adressen, Projektvorstellungen, ein Forum für Eltern mit Experten zum Themen der Erziehung u. v. m. Interkulturelle Suchthilfe Hannover (ISH): http://www.interkulturelle-suchthilfe.de Rauchfrei-Kampagne derBZgA: http://www.rauchfrei-kampagne.de Schweizer Fachstelle für Alkohol- und andere Drogenprobleme: http://www.sfa-ispa.ch
Jungenmedizin Fachstelle Jungenarbeit Rheinland-Pfalz/Saarland mit regionalen und überregionalen Veranstaltungshinweisen, Fachbeiträgen und Links: http://www.jungenarbeit-online.de Informationen des Arbeitskreises Jungenarbeit bei Input in München. Erfahrungsberichte aus der Jungenarbeit, Literaturempfehlungen: http://www.ak-jungenarbeit.de Informationen und Downloadmöglichkeiten des Projektes Jungenpädagogik bei Iris in Tübingen; Literaturlisten und Publikationen zum Thema Jungenpädagogik: http://www.iris-egris.de/jungen Interessantes Peerprojekt. Beratung und Information für Jungen von kids-hotline, die (Sexual-) Beratung und Infos auch für Jungen anbieten: http://www.jungs.org Nichtkommerzielle Website; erleichtert das Auffinden von Männerseiten im Netz und gibt jede Menge Informationen über Männerund Jungenarbeit: http://www.MannLinker.de Pfunzkerle e.V. Initiative Jungen- und Männerarbeit Tübingen: http://www.pfunzkerle.de Schwulen-Lesbischer Jugendverband: http://www.comingout.de Sexualberatung für Jugendliche im Internet: http://www.sextra.de
Kardiologie Bundesverband Herzkranke Kinder, u. a. auch Arbeitskreis Herzsportgruppen: http://www.bvhk.de Deutsche Gesellschaft für Pädiatrische Kardiologie: http://www.kinderkardiologie.org
Psychische Probleme und Erkrankungen, Essstörungen Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie (DGKJP). Informationen für Familien u. a. Schulangst, Alkohol, Bettnässen, psychisch kranke Kinder und Eltern: http://www.dgkjp.de Die KLAPSE. Eine Schülerzeitung von Kindern und Jugendlichen der Schule für Kranke der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Rheinischen Landes- und Hochschulklinik in Düsseldorf: http://www.klapse.de Essstörungen – Informationen der BzgA: http://www.bzga-essstoerungen.d
Vernachlässigung, Misshandlung, Missbrauch Deutsche Gesellschaft gegen Kindesmisshandlung und Vernachlässigung: http://www.dggkv.de Kinderschutz-Zentrum. Beratungsstelle für Familien mit Gewaltproblemen, speziell bei körperlicher und seelischer Kindsmisshandlung, Kindesvernachlässigung und sexuellem Missbrauch. Eltern, Kinder. Mit Diskussionsforen, Tipps und Informationen: http://www.kinderschutz-zentren.org
I 1.3
Medien
Bewertung von Lernsoftware: http://www.feibel.de Bewertung von Internetseiten für Kinder: http://www.dji.de/www-kinderseiten Bundeszentrale für politische Bildung/Medien: http://www.bpb.de BZgA – Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung: http://www.bzga.de Flimmo – Programmberatung für Eltern, Aktuelle Bewertungen und Programmhinweise: http://www.flimmo.de Datenbank über Websites für Kinder: http://www.dji.de, http://www-kinderseiten, Kinderkanal: http: //www.kika.de
536
Anhang
Deutsches Jugendinstitut. Das dji bietet eine ständig ergänzte Datenbank über weitgehend alle speziellen Websites für Kinder und Jugendliche, charakterisiert und bewertet diese Websites und bietet somit Eltern, Lehrern und Erziehern eine wertvolle Informationshilfe: http://www.dji.de oder direkt: http://cgi.dji.de/www-kinderseiten/default3.htm Deutsches Jugendinstitut: http://www.dji.de Forschungen zum Problem der Internetabhängigkeit an der HumboldtUniversität in Berlin. Hahn & Jerusalem 2001: http://www.internetsucht.de FWU Institut für Film und Bild: http://www.fwu.de/produkte/medienkompetenz.de Hessische Landesanstalt für privaten Rundfunk: http://www.lpr-hessen.de Information über sexualisierte Werbung und Werbung mit Kindern: http://www.talkintrash.com Informationen des Instituts für Medienpädagogik in Forschung und Praxis: http://www.Jff.de Informationen des Instituts für Medienpädagogik und Kommunikation/ Frankfurt: http://www.Rhein-main.net/muk Informationen über schulpädagogische Aufgaben: http://www.schulen-ans-netz.de Informationen zum Jugendschutz: http://www.jugendschutz.nethttp://www.internetverantwortung.de Internationales Zentralinstitut: http://www.izi.de Kinder-Suchmaschine: http://www.Blinde-kuh.de Labbé, Internetverlag und Internetshop – Ideenbank für wunderfitzige Kinder. Ein Webmagazin für Kinder und für alle, die mit ihnen gemeinsame Sache machen. Ausgezeichnet·mit der GIGA-Maus 2003,·Pädi 2003: http://www.labbe.dezzzebra Materialien für den Deutschunterricht. Materialienkatalog mit Auswahl an Büchern, Übungsblättern, Videos, Kassetten, CD-ROMs u. v. m.: http://www.goethe.de/kug/buw/sub/lks/deindex.htm Medienerziehung in Bayern: http://www.medienzeit.de Medienerziehung in Kindergarten, Schule und Hort: http://www.primolo.de; http://www.schulen-ans-netz.de; http://www.kreidestriche.de; http://www.zum.de; ttp://www.bildungsserver.de; http://www.schulweb.de; ttp://www.grundschule-online.de; http://www.lehrer-online.de; http://www.kindergarten.medienpaed.de; http://www.kindergarten-workshop.de; http://www.sin-net.de Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest, Geschäftsstelle: Landesanstalt für Kommunikation (LFK) Rotebühlstr. 121, 70178 Stuttgart, Tel.: 0711-66 99 131, Fax: 0711-66 99 111: http://www.mpfs.de Medienprojekt Wuppertal. Unterstützt Jugendliche und junge Erwachsene mit eigener Videoproduktion. Alle Projekte dienen der aktiven Medienerziehung – Jugendliche produzieren für Jugendliche: http://www.medienprojekt-wuppertal.de Online-Familienhandbuch, Erziehungsbereiche Kinder und Fernsehen: http://www.familienhandbuch.de Online-Lernprogramm zu Gesundheitsthemen: http://www.Kindergesundheitsquiz.de PC am Krankenbett http://www.Onlinemaus.org Sozialnetz Hessen: http://www.sozialnetz-hessen.de Weiterbildung, Forschung etc.; für Lehrer, Schüler, Ausbilder, Wissenschaftler: http://www.bildungsserver.de
Surftipp für Eltern: http://www.internet-abc.de Verzeichnisse: Deutscher Bildungsserver. Informationen über das deutsche Bildungswesen: Schule, Hochschule, Zentrale für Unterrichtsmedien: http://www.zum.de ZUM. Zentrale für Unterrichtsmedien e.V.: Zusammenschluss von ehrenamtlich tätigen Lehrern, die versuchen, die Möglichkeiten des WWW für die Bereitstellung von Unterrichtsmedien zu nutzen (für alle Fächer) http://www.zum.de
I 1.4
Schule und Arbeitswelt
BMGS. Rund um die Sozialpolitik für die Schule (Krankenversicherung, Rente etc.), für Schüler/Jugendliche: http://www.sozialpolitik.com BZgA-Kampagne zur Stärkung des Selbstvertrauens, der Konfliktund Kommunikationsfähigkeit Schüler, Erwachsene: http://www.kinderstarkmachen.de Deutscher Bildungsserver. Boyng.de ist eine regionale Kommunikationsplattform für Kinder und Jugendliche im Raum Südhessen. Angeboten werden Online-Sprechstunden von Fachleuten zu unterschiedlichen Themen und zu verschiedenen Bereichen (Schüler- und Arbeitswelt u. a.). Weiterhin bietet boyng.de Workshops zur Vermittlung von Kompetenz im Umgang mit Internet, PC und neuen Technologien an. http://www.boyng.de; http://www.bildungsserver.de Deutscher Verkehrssicherheitsrat e.V. Die gewerblichen Berufsgenossenschaften Jugendmagazin: http://www.Move-on.net Go2Life – Lehrmittel zu Band 1. Ich und meine Gesundheit. Lehrer: http://www.go2life.ch/d/buch/band2/lehrmittel/index.shtml Go2Life – Schülerheft Band 1. Ich und meine Gesundheit. Schüler: http://www.go2life.ch/d/buch/band1/index.shtml HBSC – Health Behaviour in School-aged Children. Internationale Studie zum Gesundheitsverhalten von Schülerinnen und Schülern. Website vom Robert Koch-Institut: http://www.rki.de/AKTUELL/PRARCHIV/ ARCHIVPR.HTM?/PRESSE/PD/PD2002/PD02_01.HTM&1 Health Behaviour in School-aged Children (HBSC) Cross-national research study conducted in collaboration with the WHO Regional Office for Europe.The study aims to gain new insight into, and increase our understanding of young people›s health and wellbeing, -health behaviours and their social context: http://www.hbsc.org Institut für Friedenspädagogik Tübingen und bpb: http://www.bpb.de Max-Planck-Institut für Bildungsforschung. Schüler, Lehrer: http://www.Mpib-berlin.mpg.de/en/forschung/eub/Projekte/PISA.htm Medien und Unterrichtsmaterial beider BZGA: http://www.bzga.de/service/medien/index.php3?sid=l Mobbing – alles zumThema. Schüler, Eltern, Lehrer: http://www.schueler-mobbing.de/mobb/modules/newbb Petzold, M: Verändern die Neuen Medien unsere Kinder und Jugendlichen? http://www.m-pe.de Professur für Schulpädagogik. Schulforschung an der TU Dresden (Prof. Dr. Wolfgang Melzer, u. a.): Jugendgesundheits-survey – WHO-Studie (Health Behaviour in School-aged Children, HBSC 2001– 2003): http://www.tu-dresden.de/erzwisg/spsf/frame/aktuelle.htm Schule & Gesundheit bei der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), Medien für Lehrer und Eltern, mobile Ausstellungen für den Einsatz in Schulen: http://www.bzga.de/jumpto.php3?id=Seite100 SchulWeb. Das SchulWeb ist der Server für deutschsprachige Schulen im Web und das Portal für Schüler/innen im Deutschen Bildungsserver. Es vermittelt Kontakte zwischen Schulen und fördert den Einsatz von Internetdiensten an Schulen. Der Schulweb-Ring ist ein freiwilliger Zusammenschluss von Schulen im Web.: http://www.schulweb.de/de/schulmaterialien/fachunabhaengig. html?anzeige=m&
537 I 3 · CD-ROMs
Surftipps speziell für Lehrer: http://www.kreidestriche.de; http://www.zum.de, http://www.de; http://www.schulweb.de, http://www.grundschule-online.de, http://www.lehrer-online.de
I2
Internetadressen mit BroschürenDownload
Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung: BZgA: http://www.bzga.de Informationen des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte, BVKJ e.V.: Kinderaerzte-im-netz.de Deutsches Jugendinstitut in München: http://www.dji.de Deutsche Hauptstelle gegen Suchtgefahren: http://www.dhs.de Schweizer Fachstelle für Alkohol- und andere Drogenprobleme: http://www.sfa-ispa.ch
I3
CD-ROMs
Computerspiele. Virtuelle Spiel- und Lernwelten (Fritz J, Fehr W), Printteil und CD-ROM: http://www.medienpaedagogik-online.de, Broschüre und CD in der Übersicht. Kontaktadresse: Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) Koordinierungsstelle Medienpädagogik, Adenauerallee 86, 53113 Bonn: http://www.bpb.de Forschen mit GrafStat. Die multimediale Lehr- und Lernumgebung für die politische Bildung. Mit Projekten u. a. zu den Themen Gleichberechtigung, Fremdenfeindlichkeit, Freizeitverhalten und Medienkonsum, Schulimage. Forschen mit GrafStat ist eine wichtige Handreichung für eine moderne politische Bildungsarbeit in Schule, Jugend- und Erwachsenenbildung. DVG Postfach 1149, 53333 Meckenheim, http://www.forschen-mit-grafstat.de: http://www.bpb.de Hot-spot. Lust und Frust, Sucht und Drogen, gemacht mit Jugendlichen für Jugendliche. Enthält auch viele Infos zum Thema »interaktive Medien und Jugendarbeit«. Kontaktadresse: Medienzentrum Prenzlauer Berg, Christinenstr 18/19 (Haus 6), 10119 Berlin, Tel: 030 44 38 34 65, E-Mail:
[email protected], http://www.pfefferwerk.de/mezen Medienpädagogik 2003: Die CD-ROM Medienpädagogik ist seit Beginn der medienpädagogischen Aufklärungskampagne »Kinder und Medien« als Langzeitprojekt angelegt. Mit vielen Unterrichtsmaterialien. Weiterhin bietet die CD-ROM die Möglichkeit, Internetseiten aufzurufen. Eine Sammlung medienpädagogischer relevanter Adressen und Links gibt dazu erste Orientierung. Für Elternabende finden sich umfangreiche Materialien. Themenfelder: Mediennutzung, Medienwirkung, Mediengeschichte, Medientheorie, Neue Medien, Praxisfelder Medienpädagogik. Kontaktadresse: Südwestrundfunk Fernsehen, Dr. Frank Haase, Postfach 76522, Baden-Baden: http://www.mpfs.de Radio 108,8, PC-Spiel ab 10 Jahren in Kooperation mit Schule des Hörens und Initiative Hören. Thema: Erfahren, wie ein Radiosender funktioniert, ihn selbst gestalten lernen und Marktanteile erwerben. Kontaktadresse: E-Mail: order@bzga. Interaktive CD. BZgA – 51101 Köln, Fax: 0221/89 92-257, http://www.bzga.de Rechtsextremismus im Internet, 2. Auflage 2004. Recherchen, Analysen, pädagogische Modelle zur Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus. Inhalte u. a.: Gefahrenpotential, Gegenaktivitäten, Pädagogische Praxis: http://www.bpb.de
Search & Play plus: Interaktive Datenbank für Computerspiele, Update 2003. Beurteilung von über 300 Spielen, fachwissenschaftliche Ansätze, Projekte für den Einsatz in Schule und Jugendarbeit, Demo- und Vollversion von Spielen (z. B. Mobility), Vernetzung durch Internet-site. Dazu:Computerspiele – Virtuelle Spiel- und Lernwelten (inkl. CD-Rom). Fritz J, Fehr W (Hrsg.). Erhältlich über: Bundeszentrale für politische Bildung, Bundeszentrale für politische Bildung: http://www.bpb.dehttp://www.medienpaedagogik-online.de
Sachverzeichnis
540
Anhang
A Abhängigkeit 335–350 – nichtstoffliche 348, 349 – Psychotherapie 347 – Selbsthilfe 348 Abhängigkeitssyndrom, Definition 335 Ablenkbarkeit 295 Ablösung, Elternhaus 16, 38, 85, 122, 336 Ablösungskrise 254 Absence 179 Abstinenz, sexuelle 27 Abtreibung 59, 352 Abwehrmechanismus 118 Acne – comedonica 211 – conglobata 259 – papulopustulosa 211 – vulgaris 211, 259 ADHS 52, 295–302 – Ätiologie 298 – Definition 298 – Diagnostik 299, 300 – Epidemiologie 295 – Klassifikation 298 – medikamentöse Therapie 300, 301 – Risiken 298, 299 – Symptomatik 295 – Therapie 300–302 Adipositas 161, 230–242 – Ätiologie 233 – Definition 230, 231 – Diagnostik 235–237 – Epidemiologie 232 – genetische Disposition 233 – gesundheitliche Risiken 231, 232 – Körpergröße 169 – soziale Einschränkung 232 – Spätschäden 176 – Sport 382 – stammbetonte 259 – Therapie 237–241 – Untersuchung 234 Adiposogigantismus 166, 169 Adnexitis 266 Adoleszentenskoliose 195 Adoleszentenstruma 162 Adoleszenz 120 – Phasen 17, 18 Adoleszenzkrise, akute 243, 302–306 Adrenogenitales Syndrom 278 Aggression, Medien 53 Aggressivität 313 Aids 72, 367, 368 – Migranten 71 Akkulturation 65 Akne 211, 212 – 7 Acne Akzeleration, säkulare 14 Alcopops 42
Alkoholabhängigkeit, manifeste 346 Alkoholembryopathie 337 Alkoholintoxikation 347 Alkoholkonsum 337, 338 – Einstieg 43 – Epidemiologie 42 – Folgen 338 – Geschlechtsverteilung 21 – Medieneinfluss 54 Allergie 141, 142 Alopecia areata 214 Altersdiagnostik, jugendliche Migranten 75 Altersschwerhörigkeit 52 Amenorrhoe 223, 264 – Definition 264 – Differenzialdiagnostik 265 – hypothalamische 265, 266 – Leistungssport 380 – primäre 11, 264, 265 – sekundäre 265 – Sportlerinnen 265 Amphetamine 340 – Intoxikation 347 Amygdala 18 Analgetika, Missbrauch 342 Anämie 186, 187 Anamnese 134 – Migranten 70 Androgene 6 Androzentrismus 21 Aneurysma 266, 267 Anlaufschmerz 192 Anorexia nervosa 23, 219–225 – Ätiologie 221 – Definition 219, 220 – Diagnose 224 – Epidemiologie 220 – Komorbitidät 221 – Krankheitsverlauf 220 – medizinische Komplikationen 223 – Leistungssport 380 – Psychotherapie 224 – Sterblichkeitsrate 220 – Therapie 224, 228 – Wachstumsstörung 166, 170 Anpassungsstörungen 63, 64, 296 Antikoagulation 176 Antirheumatika, nicht steroidale 194 Aortenisthmusstenose 171, 172 Aortenklappe, bikuspidale 175 Aortenstenose 171, 172 Appendizitis 266, 267 Arbeitserprobungstest 143 Arbeitsmigranten 60 Arbeitssucht 348 Arbeitsverbot 139 Arrhythmien, ventrikuläre 172, 175 Arthritis 194 – akute 194 – chronische 195
– juvenile idiopathische 195 Arzneimittelmissbrauch 342, 343 Arztbesuch 109 – ohne Erziehungsberechtigte 111, 112 – Migranten 77 Arzt-Patient-Beziehung 113, 116–120, 123 – Migranten 68 Arzt-Patient-Gespräch 112–115, 129, 134 Assoziation, freie 118 Asthma bronchiale 141, 147–154 – Berufswahl 153 – Compliance 147 – Empowerment 149 – Klassifikation 148 – Kontrazeption 360 – Lungenfunktion 148 – medikamentöse Therapie 147, 148 – Partnerschaft 154 – Patientenschulung 150 – Pubertätsstörungen 206 – Selbstständigkeit 149 – Sport 154, 382 – Therapiemanagement 147 – Therapieziel 149 Aszites 186 Atemtechnik 378 Atopie 142 Atrioventrikularklappe, Fehlbildungen 172, 173 Attraktivitätsvorstellung 22, 24 Aufmerksamkeits-Hyperaktivitäts-Syndrom 7 ADHS Aufmerksamkeitsschwäche 295 Ausdauertraining 376, 377 Ausfluss 11 Ausgleichstraining 379 Ausländer 60–80 – Anpassungsstörungen 63, 64 – Bildung 61 – Chancengleichheit 61 – psychosomatische Beschwerden 66 – psychosoziale Probleme 63 Ausländerrecht 60 Ausländerzahl 60 Auszugsalter 39 Authentizität 116 Autonomie 254 Autonomieentwicklung 253 – blockierte 243, 244 Axillarbehaarung 206 Azetonurie 156
B Balanitis 275 Balanoposthitis 275 Bandscheibenvorfall 266, 267 Basalganglien 18 Basalinsulin 157
541 Sachverzeichnis
Basedow-Hyperthyreose 161, 163, 164 Begutachtung, schulärztliche 403, 404 Behaarung 259 – verstärkte 259 Behandlungsalternative 58 Behandlungssituation, besondere 59 Behandlungsvertrag 58 Behinderung 81–103, 143 – Ablösung vom Elternhaus 85 – Arbeitsplatz 83 – Ausbildung 83 – Eingliederungshilfe 402 – erlernte Hilflosigkeit 84 – fehlende Akzeptanz 84 – Freizeit 82 – geistige 101 – – Kontrazeption 359, 360 – Integration 81 – Integrationsprobleme 81–84 – Kontrazeption 359 – körperliche 7 Körperbehinderung – Mitleid 84 – psychosoziale Probleme 84–86 – Pubertät 84, 85 – Schule 82 – Segregation 81 – Selbsthilfegruppe 82 – Sexualität 86, 100–103 – Statistik 81 – Überbehütung 82 Belastungsschmerz 192 Beratungsgespräch 116 Berufskrankheit 141 Beschäftigungsverbot 139 Beschneidung – männliche 79, 80 – weibliche 67, 80 Betreuung – jugendzahnärztliche 406 – schulärztliche 404 Betreuungsgesetz 59 Betriebsarzt 395, 406 Bewältigungsstrategie 41 Beweglichkeit 376 Bewegungsapparat 192–197 – Untersuchung 136, 192 Bewegungsmangel, Auswirkungen 51 Bildung 36 Bindung – fehlende soziale 313 – symbiotische 309 Binge-Eating-Disorder 225, 228 Bissverletzung 324 Blutungsanomalien 262–266 Blutzuckerspiegel – Eigenkontrolle 159 – Überwachung 156, 158 – Zielwerte 158 BMI 7 Body-Mass-Index Body-Mass-Index 24, 230 Borderline-Störung 226
Brust 257–259 – Asymmetrie 258 – Fehlbildungen 258 – Hyperplasie 258 – Hypoplasie 258 – Untersuchung 257 Brustentwicklung 6, 10, 11, 207 – Ausbleiben 258 – Stadien 7, 11 Brustpiercing 259 Bruzellose 72 Bulimia nervosa 225–227 – Ätiologie 226 – Definition 225 – Diagnose 227 – Epidemiologie 226 – Komorbidität 226 – Krankheitsverlauf 226 – medizinische Komplikationen 227 – Sterblichkeitsrate 226 – Therapie 227, 228
C Cannabis 43 – Toxizität 340 Cannabiskonsum 340, 341 – Epidemiologie 340 – Gründe 340 – Risiken 340 CE-Zeichen 327 Chagas-Krankheit 72 Chatroom 49, 349 Chlamydia trachomatis 365 Chlamydieninfektion 365 Choriokarzinom 278 Clique 29 Coitus interruptus 357 Colitis ulcerosa 269 Colon irritabile 266, 267 Compliance, mangelnde 115 Computernutzung 48, 49 Corpus callosum 18 Cowpersche Drüse 9 Cross-Training 379 Cushing-Syndrom 169
D Depression – Migranten 67 – Geschlechtsverteilung 21 Dermatitis, atopische 212, 213 Diabetes mellitus Typ 1 155–161 – Ätiologie 155 – Diagnostik 156 – Epidemiologie 155
A–E
– Ernährung 159 – Ersteinstellung 156 – Genetik 156 – Kontrazeption 362 – Migranten 75 – Pathogenese 155 – psychosoziale Umstände 160 – Pubertät 160 – Schule 160 – Schwangerschaft 161 – Sexualität 160, 161 – Sport 159 Diabetes mellitus Typ 2 161 Diaphragma 356 Diathese, hämorrhagische 186 DiGeorge-Syndrom 172 Diphtherie, Impfung 330 Disability 86, 87 Dissozialität 312–317 – Definition 312 – Entstehung 314 – Epidemiologie 312, 313 – Familientherapie 316 – Intervention 316 – Komorbidität 314 – Psychotherapie 316 – Umgang 315 – Verlauf 314, 315 Divertikulitis 266, 267 Doping 343, 380 Down-Syndrom 95–100, 163 Drogen – illegale 43, 340–342 – Urintest 344 Drogenabhängigkeit – Pathogenese 336 – protektive Faktoren 336 – Resilienzfaktoren 337 Drogenberatung 390 Drogenkonsum 42 – Prävention 43, 44, 68 Drogenmissbrauch – Diagnose 343, 344 – Klassifikation 345, 346 – Migranten 68 – Umgang in der ärztlichen Praxis 345–347 Ductus Botalli, persistierender 171, 172 Dysmenorrhoe 263, 264 – Ätiologie 264 – primäre 263 – sekundäre 263 – Therapie 263, 264 Dystonie, motorische 52
E Ebstein-Anomalie 173 Ecstasy 340
542
Anhang
Einfühlung, psychosoziale 123, 124 Eingliederungshilfe, für behinderte Menschen 402 Einsichtsfähigkeit 58 Einwilligungsfähigkeit 58 Einzelbetreuung, sozialpädagogische 399 Einzelhoden 383 Einzelniere 383 Eisenmangelanämie, Leistungssport 380 Eisenmenger-Syndrom 172, 174 Ejakularche 14, 20, 206 – Ausbleiben 208 Ejakulat 9 Ekzem, atopisches 212, 213 – Berufswahl 213 Eltern, Erziehungsverantwortung 36 Eltern-Jugendlicher-Arzt-Gespräch 119 Embryonalzellkarzinom 278 Empathie 116 Empfängnisverhütung 7 Kontrazeption Endokarditis 174, 175 – Prophylaxe 176 – rheumatische 175 – bakterielle 175 Endometriose 266, 268 Endometritis 266 Engelstrompete 342 Entemotionalisierung 22 Enteritis 266, 267 Enterokolitis 266, 267 Entgiftung, Alkoholintoxikation 347 Entwicklung – geistige 17 – hormonale 6, 8 – körperliche 6–15, 17 – – bei Jungen 8–10, 14 – – bei Mädchen 10–13 – psychosoziale 16–20 – sexuelle 17, 29, 30 Entwicklungsaufgaben 16, 120 – Probleme 336 Entwicklungskrise, akute adoleszente 302–306 Entwicklungsstörungen 404 Entwicklungsverzögerung, konstitutionelle 167, 208 Entzugssyndrom, körperliches 335 Entzündungsschmerz 192 Enuresis nocturna 279 Epididymitis 276 Epilepsie 179–183, 206 – Beruf 182 – Definition 179 – Diagnostik 180, 181 – Drogen 183 – Epidemiologie 179 – Fertilität 181 – Führerschein 182 – Klinik 179, 180 – Kontrazeption 360
– myoklonische 180 – Schule 182 – soziale Betreuung 182 – Sport 182 – Therapie 181, 182 Epiphysiolysis capitis femoris 196 Epstein-Barr-Virus 333 Erektionsstörungen 279 Ernährung, Sport 382 Ernährungsverhalten, Geschlechtsunterschiede 21 Erregung, aggressive 303 Ertrinken 324 Erziehungshilfe 399 – Dissozialität 316 Erziehungsverantwortung, Eltern 36 Essstörungen 23, 219–228, 348 – 7 Anorexia nervosa – 7 Bulimia nervosa Esssucht 225 Essverhalten, kulturspezifisches 63 Eumenorrhoe 262 EuTEACH 415 Ewing-Sarkom 189
F Fahrradschutzhelm 327 Fallot-Tetralogie 172 Familie – Doppelrolle 38 – Einfluss auf Sexualverhalten 30 Familiendiagnostik 247, 249 Familienmedizin 247 Familientherapie – Dissozialität 316 – psychosomatische Erkrankungen 247 – Somatisierungsstörungen 249, 250 – systemische 245 Femidom 356 Fernsehen 48 – Gewaltdarstellung 53, 54 Fernsehkonsum 48 Fettsucht 7 Adipositas Feuersucht 348 Fibromyalgiesyndrom 268 Flüchtlingskinder 66 Fluor 11 Follikelpersistenz 263 Fontan-Operation 172 Fontan-Zirkulation 173 Förderschule 81 Förderzentrum 81 Freizeit 39 Freizeitunfälle 323 Fresssucht 225 Frühsommer-Meningo-Enzephalitis 333 FSH 6 FSME-Impfung 333
G Ganganalyse 192 Gastarbeiter 60 Gelenkbeweglichkeit 193 Gelenkschmerz 193 Gelenkschonhaltung 192 Genderisierung 21, 22 Genitalentwicklung 11, 260, 261 – Stadien 8 Genitalität, Jungen 29 Geschlechterrolle 120 – Medieneinfluss 54 Geschlechtsidentität 21, 22 Geschlechtsverkehr, erster 26, 78 Gesprächsabschluss 119 Gesprächsführung 116 – 7 Arzt-Patient-Gespräch – Kriterien 116 – patientzentrierte 116, 117 – Rahmenbedingungen 119 Gestagenpräparate 354, 355 Gesundheit, Geschlechtsunterschiede 21 Gesundheitsberatung – Migranten 396 – Schule 394, 395 Gesundheitsdienst, öffentlicher 393, 401–406 Gesundheitserziehung 44 Gesundheitsförderung 43, 44 – Schule 405 Gesundheitskonzept, kulturspezifisches 63 Gesundheitsunterricht 394 Gesundheitsversorgung, Strukturen 43, 44 Gesundheitsvorsorge 371–383 – Konzepte 371–373 – Sport 374–383 Gesundheitsvorsorgeuntersuchungen 371 Gewalt 281–294 – Intervention 283 – körperliche 281 – Medieneinfluss 53, 54 – seelische 281, 282 – sexuelle 282–284 Gigantismus 166, 169 Gleichaltrigengruppe 7 Peergroup Glücksspielsucht 348 Glukose-6-Phosphat-DehydrogenaseMangel 73 Glukosurie 156 Glutamatdecarboxylase 156 GnRH 6 Gonokokkeninfektion 365 Gonorrhö 366 Grand-mal-Epilepsie 180 Grippeimpfung 332 Großwuchs, konstitutioneller 168, 169 Gynäkologie 257–269
543 Sachverzeichnis
Gynäkomastie 209 – bei Jungen 8, 169 Gyrus cinguli 18
H Haarausfall 214 Haltungsskyphose, flexible 196 Haltungsschaden 136 – mangelnde Bewegung 51 Haltungstest nach Matthias 135 Hämatospermie 276 Hämaturie 279 Hämoglobinopathie 73, 74 Handekzem 213 Handicap 86, 87 Handy 49, 53 Harnwegsinfekt 279 Haschisch 43, 340 – 7 Cannabis Hashimoto-Thyreoiditis 161–163, 169 Hebearbeit 142 Heimunfälle 323 Heiratsmigration 73 Helicobacter pylori 333 Hepatitis A 70 – Impfung 333 Hepatitis B 70, 368 – Impfung 331, 332 Hepatosplenomegalie 186, 187 Heroin 340 Herpes – genitalis 367 – simplex 215 – – recidivans 216 Herpin-Janz-Syndrom 180 Herzerkrankungen, Kontrazeption 361 Herzfehler, angeborene 171–173 – Beruf 176 – Down-Syndrom 97 – Familienplanung 177 – Pränataldiagnostik 177 – Schule 176 – Sport 176 Herzinsuffizienz 175 Herzrhythmusstörungen 175 – bradykarde 175 Herztransplantation 172, 174 Hilflosigkeit, erlernte 84 Hippocampus 18 Hirsutismus 259, 260 HIV 333, 367 HIV-Infektion 72 – Migranten 71 Hochwuchs 210 Hodensackveränderung 8 Hodenschmerz 10 Hodentorsion 276–278 Hodentumor 276, 278
Hodenveränderungen 277 Hodenvolumen 9 – Vergrößerung 8 Hodenwachstum 6, 8 Hormonachse, gonadale 6 Hormonpflaster 354 Hörschäden 52 HPV-Impfung 333 Hydrozele 276–278 Hymen 11 Hymenalatresie 11, 267 Hymenalplastik 79 Hyperaktivität 296 – 7 ADHS Hyperandrogenämie 259, 265 Hyperandrogenismus 237 Hypercarotinämie 223 Hyperglykämie 159 Hyperhidrosis 216 – genuine 216 – manuum et pedum 216 Hyperinsulinismus 259 Hypermenorrhoe 262, 263 Hyperthyreose 161 – Symptome 162 Hypertonie, arterielle 171, 172, 176 Hypnotika, Missbrauch 342 Hypoglykämie 158 Hypogonadismus, hypogonadotroper 209, 210 Hypomenorrhoe 262, 263 Hypophysenvorderlappen 6 Hypospadie 276 Hypothyreose 169, 206 – Ovarialinsuffizienz 265 – Symptome 162 – Übergewicht 234
I IAAH 413, 414 Ideal 22 Identifikation 118 Identität 120 – geschlechtsspezifische 27–29 – persönliche 21 – sexuelle 27, 28 Identitätsentwicklung 22, 25, 31 Iliokokzygealschmerz 266, 267 Impairment 86, 87 Impetigo 216 Impfaufklärung 330 Impfkalender 331 Impfstatus, Migranten 70 Impfungen 330–334 – empfohlene 330–332 – Indikationen 332, 333 – Nebenwirkungen 330 Impulsivität 295
E–J
Indikationsimpfungen 332, 333 Influenzaimpfung 332 Inguinalhernie 266, 267 Inlineskaten, Unfälle 323 Inobhutnahme 399 Inselzellen, Autoantikörper 156 Insulin 8, 156 – Klassifikation 157 Insulinbedarf, Diabetes mellitus 157 Insulinpumpe 158 Insulinresistenz 259 Insulinsubstitution 157 Insulintherapie 157, 158 – Anpassung 159 – intensivierte 157, 158 – konventionelle 158 Integration – Ausländer 60, 61 – politische Debatte 61 – Widerstände 61, 62 Internationale Vereinigung für Jugendgesundheit 413, 414 Internet 48, 49 – Gefahren 49 Internetabhängigkeit 53, 348, 349 Intertrigo 216 Intrauterinpessar 356, 357 Inzest 282 Islam 61, 62 – Aufklärung 78 – Kontrazeption 67, 78 Islam, Sexualität 76–80 Isolierung 118
J Jacobsonsches Organ 8 Jodmangelstruma 162 Joining 344 Jugend – finanzielle Ausstattung 39 – Partnerschaft 39 – Verschulung 38 Jugendamt 390 Jugendarbeitsschutz 139–143 Jugendarbeitsschutzgesetz 139 Jugendarbeitsschutzuntersuchung 139, 140 Jugendgesundheitsuntersuchung J1 132–137 – Bestandteile 132 – Durchführung 132, 133 – Fragebogen 135 – Medienthemen 137 Jugendhilfe 397, 400 Jugendliche, ausländische 60–80 – Adoleszenzkrise 304 – Anamnese 70 – Depression 67
544
Anhang
Jugendliche, ausländische – Drogenkonsum 68 – Gesundheitsberatung 396, 397 – Impfstatus 70 – Integration 60, 61 – Kommunikation 68 – Kontrazeption 67 – Krankheitsspektrum 71 – medizinische Probleme 69–76 – psychosomatische Beschwerden 66 – psychotische Störungen 67 – Sexualverhalten 67 – Suizid 67 Jugendmedizin – Entwicklung in Deutschland 371 – europäische Modelle 413–416 – interdisziplinäre Zusammenarbeit 387–400 – internationale 409–418 – öffentlicher Gesundheitsdienst 403 – Organisation 107–115 – Orientierungsprogramm 409, 410 – Qualifikation 108 – soziale Unterstützung 397–400 – USA 416–418 – WHO-Ressourcen 409–418 Jugendphase, Veränderungen 39 Jugendpolitik 35–37 Jugendsexualität 25, 26 Jugendsozialarbeit 398 Jugendsprechstunde 109 Jugendzentrum 390 Jumper’s knee 197 Jungenmedizin 270–274 Jungensexualität 28, 29
K Kala-Azar 71, 72 Kallmann-Syndrom 209, 258 Kardiologie 171–178 Kardiomyopathie 173 Katayama-Syndrom 72 Kaufsucht 348 Kawasaki-Syndrom 174, 175 Keratosis pilaris 216 Ketoazidose, diabetische 156 Keuchhusten, Impfung 331 Kinder- und Jugendgesundheit 402 Kinder- und Jugendgesundheitsdienst 401, 402 Kinder- und Jugendhilfe 403 Kinder- und Jugendhilferecht 398 Kinderlähmung, Impfung 330 Kindernetzwerk 387–389 Kleinhirn 18 Kleinwuchs 166, 169 – familiärer 168 Kleptomanie 348
Klinefelter-Syndrom 209, 210 Klitoris 11 Klitorishypertrophie 259, 261 Knieschmerz 196, 197 Knochenalter 166, 167 Knochenmarkpunktion 186 Knochentumoren 189 Koffein, Missbrauch 343 Kohabitarche 78 Koitusverhalten 26 Kokain 340 Kombinationspräparate, Pille 354, 355 Kommunikation 116–119 Kommunikationsstörungen 52, 53 Kompetenz, interkulturelle 68 Kondom 356 konstitutionelle Entwicklungsverzögerung 167, 208 Konsum 39 Kontrazeption 13, 352–362 – Behinderung 359 – Beratung 352, 353 – chronische Krankheiten 360 – häufige Fragen 358 – Migranten 67, 78 Kontrazeptiva – chemische 357 – hormonelle 353–356 – Interaktionen mit Medikamenten 361 – mechanische 356 – Verordnung 59 Konversionsstörungen 67 Koordination 378 Kopftuchfrage 62 Körperbeherrschung 325 Körperbehinderung 86–94 – 7 Behinderung – ärztliche Versorgung 92 – Ausbildung 89, 90 – berufliche Eingliederung 89–91 – Definition 86 – Kontrazeption 362 – mobile Krankenpflege 93 – Pubertät 88 – Rehabilitation 93 – Schule 89 – Selbstständigkeit 88 – Selbstversorgung 89 – sexuelle Entwicklung 102 – stationäre Versorgung 94 – Sterilisation 88 Körperbewusstsein, Geschlechtsunterschiede 21 Körperbild 25 Körpergewicht 166 – Perzentilenkurve 168 Körpergröße 14 – bestimmende Faktoren 165 – Perzentilenkurve 168 – Zielwert 165 Körperproportion 166
Kortisonakne 213 Krafttraining 376 Krampfanfall – fokaler 179 – generalisierter 179 Kraniopharyngeom 170, 234 Krankheit – akute 111, 125 – chronische 111 – – Kontrazeption 360 – psychische 126 Krankheitsbild 120 Krebserkrankungen 185–180 – Ätiologie 185 – Diagnostik 185, 186 – Epidemiologie 185 – Klinik 185 – psychosoziale Betreuung 189 Kriminalität 313 Kyphose 196
L Labienhypertrophie 261 Langzeitinsulin 158, 159 Lärmschäden 52 Lärmschwerhörigkeit 142 Laurence-Moon-Bardet-Biedl-Snydrom 234 Leishmaniose 71 Lennox-Gastaut-Syndrom 179 Leptin 8, 234 Leukämie 187, 188 – akute 187 – Diagnostik 188 Leukopenie 186, 187 LH 6 Lichen sclerosus et atrophicans 261, 262 Liebesbeziehung 27 Liquorpunktion 186 Lösungsmittelintoxikation 347 Lösungsmittelmissbrauch 341 Lösungsorientierung 118 Loyalitätskonflikt 309 LSD 340 Lungenfunktion 148 Lymphadenopathie 186 Lysergsäurediäthylamid 340
M Mädchen, Selbstbild 27 Mädchensexualität 27 MAGAM 415 Magersucht 7 Anorexia nervosa Magic mushroom 342
545 Sachverzeichnis
Malaria 72, 333 Mammahyperplasie 258 Mammahypoplasie 258 Mammapiercing 259 Mammatumor 259 Männlichkeit 21, 28, 29, 270, 271 Marfan-Syndrom 169, 174, 175 Marihuana 43, 340 – 7 Cannabis Masern, Impfung 332 Mastitis non puerperalis 258 Mastodynie 258, 259 Mastopathie 258, 259 Masturbationsverhalten 26 Medien 47–56 – Alkoholkonsum 54 – Geschlechterrolle 54 – Gewalt 53, 54 – Rauchen 54 – Risikoverhalten 50–52 – Schönheitsideal 54 – Übergewicht 54 – Werbung 54, 55 Mediennutzung 47, 51 Medienorte 49, 50 Medienrezeption 50 Mediensucht 53, 54 Medienumgang 51 Medienverhalten 17 Medikamentenmissbrauch 342, 343 Melanocortinrezeptor 234 Melatonin 8 Menarche 10, 11, 14, 166, 206, 262 – Ausbleiben 207 Meningitis, tuberkulose 71 Meningokokken C, Impfung 333 Menstruation, Schulsport 269 Menstruationshygiene 12 Menstruationsprobleme 12 Menstruationszyklus 262 Mesenterialvenenthrombose 266, 267 Methylphenidat 343 – ADHS 300, 301 – Wirkung 301 Metrorrhagie 263 Migranten 7 Jugendliche, ausländische Migration 60 – Schutzfaktoren 64 Migrationsanamnese 64, 70 Mikropille 354 Miliartuberkulose 71 Missbrauch – psychoaktive Substanzen 335–350 – sexueller 28 – Suizidalität 309 Misshandlung 281–284 – Suizidalität 309 Mittelmeerfieber, familiäres 72 Mittelmeerschmerz 77 Mobbing 284–289 – Auswirkungen 286, 287
– Beratung 288 – Definition 284 – Entstehungsprozess 284, 285 – Konsequenzen 287, 288 Mobilitätserziehung 328 Morbus – Basedow 161, 163, 164 – Crohn 206 – Unterbauchschmerzen 266, 269 – Cushing 234 – Ebstein 172, 173 – Osgood-Schlatter 126, 197 – Scheuermann 136 Morphium 340 Motivationsschwäche 296 Mukoviszidose, Kontrazeption 362 Multiple Sklerose, Kontrazeption 361 Mumps, Impfung 332 Muskelkraft 376 Mustard-Korrektur 172 Mutprobe 326 Muttermal 216 Myogelose 195 Myokarditis 174 Myom 266, 267
N Nahrungsergänzung, Sport 382 Nation-Building 61 Nävus 216, 217 Nävuszellnävus 216 Nebenhodenentzündung 276 Nephropathie, hypokalämische 223 nephrotisches Syndrom 279 Nervosität 52 Neurodermitis 212, 213 Nierenerkrankungen 279, 280 Niereninsuffizienz, Kontrazeption 362 Nikotinkonsum 7 Rauchen Normalinsulin 158
O Offenbarungspflicht 59 Offenbarungsrecht 59 Oligomenorrhoe 262 Onkologie 185–190 Opioide, Missbrauch 342 Orchidometer 9 Orchitis 276, 277 Organtransplantation 59 Orientierung, sexuelle 16 Orientierungsproblem 39 Orientierungsprogramm 409, 410 Osteomyelitis 193, 194 Osteoporose, Leistungssport 380
J–P
Osteosarkom 189 Östrogene 6, 10 Ovarialinsuffizienz 265 – hyperandrogenämische 265 – hyperprolaktinämische 265 – sekundäre 266 Ovarialtumor 266, 267 Ovarialzyste 266–268
P Palliation 187 Panorchitis 276 Papeln 211 Papillomavirus, humanes 333, 367 Papulopusteln 211 Paraphimose 275 Parasitenbefall 70 Partnerschaft, Vorverlagerung 39 Peergroup 17, 43, 121 – Einfluss auf Sexualverhalten 30 – Entwicklungsaufgaben 31 Penisentwicklung, Stadien 78 Penislänge 9 Penisprobleme 9 Penisveränderungen 275 Penisverkrümmung 276 Perikarderguss 186 Peritonealzyste 268 Permanent-Make-up 214, 215 Pertussis, Impfung 331 Petit-mal-Epilepsie 180 Pheromone 8 Phimose 275 Phthiriasis pubis 368 Piercing 214, 215 – Mamma 259 Pigmentnävus 216 Pille 354, 355 – danach 357 – für den Mann 357 Pleuraerguss 186 Poland-Syndrom 258 Poliomyelitis, Impfung 330 Politik 35–37 Polyendokrinopathie 161 Polymenorrhoe 262, 263 polyzystisches Ovariensyndrom 237, 262, 265 Portiokappe 356 posttraumatisches Stresssyndrom 65 Prader-Willi-Syndrom 234 prämenstruelles Syndrom 264 Prävention – 7 Gesundheitsvorsorge – Substanzmissbrauch 349, 350 Presbyakusis 52 Priapismus 275 Problembelastung 41
546
Anhang
Problembewältigung 41 Produkthaftungsregel 327 Produktsicherheitsrichtlinien 327 Progesteron 10 Projektion 118 Proteinurie, orthostatische 279 Pseudohypoparathyreoidismus 234 Pseudomikropenis 169, 237, 276 Psilocybin 342 Psoriasisarthritis 195 Psychosen 302–306 Psychotherapie, Dissozialität 316 Pubertas – praecox 11, 165, 166, 205, 206 – tarda 166, 205, 207, 208 Pubertät – Behinderung 84, 85 – ethnische Differenzen 75 – hirnorganische Veränderungen 18, 19 – hormonelle Entwicklung 6 – Körperbehinderung 88 – körperliche Veränderungen 206 – Merkmale 11 – Normabweichungen 19 – organische 29 – Probleme 20 – psychische Veränderungen 205 – Somatisierungsstörungen 243, 244, 253 – soziokulturelle 29 – Störungen 205–209 – Veränderungen des Körpergewebes 13 – Wachstum 165, 166 Pubertätsgynäkomastie 209 Pubertätskrise 243 Pubertätsmagersucht 219 – 7 Anorexia nervosa Pubertätsverlauf, Abweichungen 206 Pulmonalstenose 171, 172 Pyelitis 269 Pyromanie 348
R Rachitis, Immigranten 75 Rationalisierung 118 Rauchen – Epidemiologie 42, 338, 339 – Folgen 338 – Geschlechtsverteilung 21 – Gründe 339 – Initiierung 42 – Medieneinfluss 54 Rauschtrinken 338 Recht 58, 59 Rechtsherzversagen 172 Regression 118 Rehabilitation 198–201
– berufliche 143 – Berufsberatung 200 – Körperbehinderung 93 – Leitlinien 201 – Prognose 199 – Rechtgrundlagen 199 – Schule 200 – stationäre 200 – Voraussetzungen 199 – Zeitdauer 199 – Ziele 199 Rehabilitationsdiagnose 200 Reiseimpfungen 333 Reitunfälle 324, 325 Rhabdomyosarkom 189 Risikoverhalten 25, 326 Ritalin 7 Methylphenidat Rolando-Epilepsie 179 Rollenverhalten, soziales 31 Röteln, Impfung 332 Rückenschmerz 195 Rüsselbrust 258
S Salpingitis 266 Samenbläschen 9 Scabies 70, 368, 369 Schambehaarung 206, 259 – Entwicklung 10 – Stadien 7, 8, 11 Schamlippen 11 Schilddrüsenerkrankungen 161–161 Schilddrüsenüberfunktion 7 Hyperthyreose Schilddrüsenunterfunktion 7 Hypothyreose Schistosomiasis 71 Schlankheitsideal 21, 221 Schmerz – chronischer – – Anamnese 245 – – Auslösefaktoren 244 – – Bedeutungskontext 246 – – Behandlung 245 – – interpersonelles Konzept 244, 245 – – krankheitsaufrechterhaltende Faktoren 244 – – Prädisposition 244 – – protektive Faktoren 244 – – Pubertät 252 – mechanischer 192 – zyklusabhängiger 266 Schmerzsyndrom, peripatelläres 197 Schmerztherapie, Tumoren 187, 189 Schnelligkeitstraining 378 Schnüffeln 341 Schönheitsideal 23 – Medieneinfluss 54 – weibliches 23, 24 Schönheitsoperation 24
Schuldzuweisung 309 Schule – behinderte Jugendliche 82 – Betriebsarzt 395 – Epilepsie 182 – Gesundheitsberatung 394, 395 – Gesundheitsförderung 44, 391, 405 – Jugendmedizin 390 – Sexualerziehung 30 – Unfallprävention 327 – wachsender Stellenwert 38 Schulentlassungsuntersuchung 406 Schülerunfälle 322 Schullaufbahnberatung 404 Schulleistungsstörungen 404 Schulproblem 39 Schulsport 379 Schulsprechstunde 404, 405 Schutzhelm 327 Schwangerschaftsabbruch 59 – Epidemiologie 352 Schweigepflicht, ärztliche 107 Schwerhörigkeit 52, 142 SDS 14 Sedativa, Missbrauch 342 Selbstauseinandersetzung 116 Selbstbewusstsein 25 Selbstbild, Mädchen 27 Selbsterleben 25 Selbstexploration 116 Selbstgefühl 25 Selbstkontrolle 16 Selbstkonzept 31 Selbstmord 7 Suizid Selbstöffnung 116 Selbstpräsentation 117 Selbstreflexion 117 Selbstständigkeit 16 Selbstüberschätzung, Unfallgefahr 326 Selbstverantwortung 254 Seminom 278 Serositis 268 Sexualberatung 352, 353, 390 Sexualerziehung, Behinderung 101 Sexualität 26–31 – Behinderung 86, 100–103 – chronisch Kranke 102 – Diabetes 160, 161 – Down-Syndrom 98 – Entwicklung 17 – Gruppennormen 31 – Jungen 272, 273 – Medien 30 – Medieneinfluss 54 – muslimische Jugendliche 76–80 Sexualkunde 30 Sexualverhalten 26–31 – Einfluss der Familie 30 – Einfluss der Peergroup 30 – Migranten 67, 76–80 Sexualverkehr, erster 26, 78
547 Sachverzeichnis
sexuell übertragene Erkrankungen 12, 283, 364–369 – bakterielle 365, 366 – Diagnostik 365 – Epidemiologie 364 – parasitäre 368 – Risikofaktoren 364 – virale 367, 368 sexueller Missbrauch 28 Sichellzellanämie 75, 206 – Kontrazeption 362 Sicherheitsaufklärung 328 Sinding-Larsen-Johansson-Syndrom 197 Skifahren, Unfälle 323 Skoliose 136 – idiopathische 195 Skrotumveränderungen 276, 277 Snowboardfahren, Unfälle 323 Somatisierungsstörungen 243–256 – Behandlungsziel 248 – Beziehungsstörungen 255 – Bezugspersonen 255 – Diagnostik 252, 253 – Entstehungsprozess 248 – Epidemiologie 251, 252 – familiäre Einflüsse 249, 250 – interdisziplinäre Teamarbeit 247, 248 – Kindheitsgeschichte 254 – Klinik 251 – Komorbidität 252 – Kompetenzhierarchie 247 – Prädiktoren 245 – Pubertät 243, 244, 253 – Therapie 253–255 – Triangulationsmuster 255 – Unterbauchschmerzen 268 Somatomedin 6 Sozialstörungen 297 Sozialverhalten, Störungen 312–317 – hyperkinetische 314 Spermarche 9, 14, 20 Spermatogenese 6 Spermatozele 276, 277 Spermienflüssigkeit 9 Spina bifida 268 Spirale 356, 357 Spondylolisthesis 196 Spondylolyse 196 Spontanerektion 10 Sport – Ernährung 382 – Flüssigkeitszufuhr 382 – Gesundheitsvorsorge 374–383 – Kontraindikation 176 – Menstruation 269 – Nahrungsergänzung 382 – positive Effekte 374–377 – in der Prävention 376 – in der Schule 379 – als Therapie 376
– Trainingsaufbau 382 – Unfälle 323 Sportart – geeignete 379, 380 – Trainingseffekte 377 Sportleramenorrhoe 265 Sportmedizin 383 Sportschäden 380, 381 Sportverletzung 380, 381 Sprachproblem, Migranten 76 Stammzelltherapie 188 Standardimpfungen 330–332 Stent 176 Sterbebegleitung 190 Sterilisation, Behinderung 88 STH 7 Wachstumshormon Stimmbruch 9 Stimulanzien, Missbrauch 342 Störungen, psychotische 67 Straßenverkehrsunfälle 322 Striae distensae 12, 217 Struma juvenilis 162 Subaortenstenose, fibromuskuläre 171, 172 Substanzkonsum, anhaltender 335 Sucht 335–350 – Prävention 349, 350 – sexuelle 348 Suchtdreieck 336 Suizid – Häufigkeit 307 – Migranten 67 Suizidalität 306–312 – Gründe 307 – Intervention 310–312 – Risikoeinschätzung 308 – Signale 309, 310 – Vorgehen 307 Suiziddrohung 311 Suizidprävention 311, 312 Suizidversuch 306, 307 – Häufigkeit 307 Symptom, Bedeutung 121, 122 Symptom-Problem-Pyramide 121 Synkope 175 Syphilis 365, 366
T Tabak 7 Rauchen Tanner-Stadien 6, 8–10, 136 Tatoos 214, 215 Tätowierung 214, 215 Tay-Sachs-Krankheit 73 Teenagerschwangerschaft 352 Temporallappenepilepsie 180 Teratom 278 Testosteron 8 Tetanusimpfung 330
P–U
Thalassämie 73 – Kontrazeption 362 Thelarche 6, 10, 257, 258 Thyreodektomie, totale 164 Thyroxin 162, 169 Tierunfälle 324 Tinea 216 Todesursachenstatistik 322 Toleranzentwicklung 335 Tragearbeit 142, 143 Transgender-Persönlichkeit 21 Transposition, der großen Arterien 173 Transsexualität 22 Triangulationskonzept 255 Trichinose 71, 74 Trichomoniasis 368 Trisomie 21 234 Trotzverhalten 313 Tubargravidität 266, 267 Tuberkulose 70, 72 Tumorschmerz 187 Typhus – abdominalis 72 – Impfung 333
U Übergewicht – 7 Adipositas – hoher Fernsehkonsum 54 – Migranten 75 Übertrainingssyndrom 380 Ullrich-Turner-Syndrom 175, 258 Unfälle 321–328 – Epidemiologie 321, 322 – Ertrinken 324 – Freizeit 323 – Geschlechtsverteilung 325 – Inlineskaten 323 – kulturelle Unterschiede 325 – Prävention 325, 327, 328 – Reiten 324, 325 – Skifahren 323 – Snowboard 323 – soziale Faktoren 326 – Straßenverkehr 322 – Tiere 324 – Todesursachen 322 – Verbrennung 324 – Vergiftung 324 – zu Hause 323 Unfallneigung 326 Unfallquote 322 Unfallstatistik 321 Unfallverhütung 141 Unruhe, motorische 296 Unterbauchschmerz 266–269 – akuter 266 – chronischer 267, 268
548
Anhang
Unterbringung – geschlossene 399 – stationäre, Dissozialität 316 Untersuchung 112, 127–129, 134, 136 – räumliche Voraussetzungen 110, 111 Ureterstein 266, 267 Urethraldivertikel 269 Urintest, Drogen 344 Urologie 275–280 Uteruslageanomalie 267 Uterusmissbildung 267
V Vaginalaplasie 267 Vaginalring 354 Vaginose, bakterielle 365, 366 Varicosis uteri 268 Varikozele 276, 277 Varizellen, Impfung 332 Verbrennung 324 Verbrühung 324 Verdrängung 118 Vergeschlechtlichung 21, 22 Vergiftung 324 Vergnügungssucht 348 Verhalten – deviantes 41 – kriminelles 41, 42 Verhaltensauffälligkeiten 295–317 Verhaltensstörungen 52 Verhaltenstherapie 245 Verhütungsmittel 7 Kontrazeptiva Verkehrserziehung 328 Verkehrsunfallstatistik 322 Verletzung 321–328 – 7 Unfälle Verleugnung 118 Vernachlässigung 281, 282 – Suizidalität 309 Verrucae – planes iuveniles 217 – vulgares 217 Verschulung 38 Vetomündigkeit 58 Virilisierung 259 Vitiligo 161 Volvulus 266, 267 Vorhofseptumdefekt 171, 172 Vorhofumkehr 172 Vulva, Veränderungen 261 Vulvovaginalcandidose 368
W Wachstum – normales 165, 166 – Pubertät 165, 166 Wachstumsgeschwindigkeit 166, 167 Wachstumshormon 6 Wachstumshormonmangel 169, 206 Wachstumsstörungen 165–170 Wahrnehmungsstörungen 52, 297 Warzen 217, 218 Weiblichkeit 21, 23, 24 Werbung 54, 55 Wertschätzung, bedingungslose 116 WHO, Jugendmedizin 409–419 Windpocken, Impfung 332 Wirbelsäulenerkrankungen, mangelnde Bewegung 51 Wundstarrkrampf, Impfung 330 Wurmerkrankungen 74 Wurminfektion 71
Y Yolk-Sac-Tumor 278
Z Zeitvorstellung, fehlende 296 Zigarettenkonsum 7 Rauchen ZNS-Tumoren 188 Zuhören, aktives 116 Zukunftsunsicherheit 39 Zwangsprostitution 71 Zweitmalignom 190 Zyanose 174 Zyklus 262 Zyklusstörungen 262–266 Zystitis 266, 267, 279 – rezidivierende 269