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Roy Palmer 1.
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Roy Palmer 1.
Der Freibeuter Gijsbert, der mit Hendrik Laas und vier anderen Männern zusammen zur Mittelwache an Bord der „Sparrow“ eingeteilt worden war, blieb auf der Kuhl stehen und bückte sich nach einem Tampen, den irgendjemand hier, dicht vor dem Kombüsenschott, hatte liegen lassen. Der bärtige Hendrik beugte sich im selben Augenblick ebenfalls und tat so, als ob auch er den Tampen aufheben wollte. „Ich frage mich, ob wir es wirklich schaffen“, sagte Gijsbert leise. „Aber ich bin zu allem bereit.“ Hendrik warf ihm einen huschenden Seitenblick zu. „Wir schaffen es. Aber du kannst dich noch anders entschließen, wenn du willst.“ „Nein, das tue ich nicht. Auf gar keinen Fall.“ „Gut.“ „Du brauchst mich nicht mehr auf die Probe zu stellen, Däne“, wisperte Gijsbert, der Holländer. „Jetzt nicht mehr.“ „Ich vertraue dir. Schläft alles?“ „Im Mannschaftslogis noch nicht.“ „Samkalden?“ „Ich glaube, der Hund ist noch wach.“ „Wir warten“, flüsterte Hendrik. „Und du gibst dann das Zeichen“, raunte der Holländer. „Spätestens nach Ablauf von zwei Glasen“, flüsterte Hendrik Laas seinem Mitverschwörer zu. Dann richtete er sich wieder auf und kehrte Gijsbert den Rücken zu, während dieser mit dem Tampen in der Hand davonschlenderte. Sie hatten sich auf englisch unterhalten, denn Gijsbert konnte kein Dänisch, und Hendrik war des Holländischen nicht mächtig. Beide sprachen sie jedoch ein ziemlich fließendes, wenn auch nicht ganz fehlerfreies Englisch. In den Jahren, die Hendrik Laas als Junge in seinem Heimatort, einem winzigen und völlig unbedeutenden Fischernest im Norden von Jütland, verbracht hatte, hätte er sich nicht träumen lassen, daß er eines Tages eine fremde Sprache benutzen, fremde Länder kennenlernen,
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beunruhigende und wundersame Neuigkeiten sehen und erbittert um sein Leben kämpfen würde. Hendrik Laas hatte viele Kämpfe hinter sich, aber er wußte, daß ihm in dieser Nacht die schwerste Auseinandersetzung seines Lebens bevorstand. Es fehlte hier die Chance, die ein aufrichtiger Mann seinem Gegner ließ, das Gebot der Fairneß. Ein Kerl wie Roel van Dyck, der sich zum Kapitän über dieses Schiff ernannt hatte, kannte keine Gebote der Ehrenhaftigkeit und keinen Moralkodex. Plötzlich sehnte sich Hendrik nach Hause zurück — in die Hütte, in der er alles andere als eine beneidenswerte Jugend verbracht hatte, bevor er eines Tages an Bord einer Karacke auf und davon gesegelt war. Ja, er wünschte sich, nie fortgegangen, nie ausgerissen zu sein und das biedere Dasein eines Fischers geführt zu haben. Er schüttelte unwillkürlich den Kopf, als er jetzt den Steuerbordniedergang zur Back hinaufstieg. Nein, für Rührseligkeiten war keine Zeit. Sentimentales Denken war Gift bei einem Vorhaben, in dem Mut und Schnelligkeit den Ausschlag gaben. Hendrik Laas fürchtete weder Tod noch Teufel, aber er haßte Hinterhältigkeiten und Intrigen, Ungerechtigkeiten und sinnlose Grausamkeiten. Er wollte 'diesen Schlamm, in den er hineingeraten war, von sich abschütteln. Auf dem Vorkastell drehte er sich noch einmal kurz zur Kuhl um. Er stand schon dicht vor dem Fockmast und war sicher, daß man ihn von Kuhl und Achterdeck aus kaum noch erkennen konnte. Das war gut so, denn auf diesem Schiff schienen jedes Schott und jede Planke Augen und Ohren zu haben, und allein ein Blick konnte von den Kerlen, die hier mit eiserner Hand regierten, falsch ausgelegt werden. Gijsbert hatte wie vorgeschrieben seinen Platz in der Nähe des Großmastes eingenommen, keine drei Schritte vom Backbordschanzkleid der Galeone entfernt. Bert Anderson versah etwas weiter achtern an der Steuerbordseite der Kuhl seinen Dienst. Auf dem Achterdeck konnte
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Hendrik die Gestalten von Sheldon Gee und dem Piraten Ligthart sehen. Ivo, einer der jüngeren Männer der Freibeutermannschaft, war weisungsgemäß in den Großmars aufgeentert. Samkalden, der sich hier als Profos fühlte und wie ein Tyrann verfuhr, hatte bei Wachwechsel seine übliche Kontrollrunde gedreht und sich dann ins Logis zurückgezogen, ehe Gijsbert das Vordeck als letzter Mann der Mittelwache verlassen hatte. Gijsbert gehörte zu der Piratenbande, er kannte Samkalden, und er wußte, daß dieser, so, wie er sich auf dem Rand seiner Koje niedergelassen hatte, nicht hundemüde sein konnte. Zumindest in der ersten halben Stunde nach dem Wachwechsel war der Kerl noch auf der Hut — und es hieß, höllisch aufzupassen und keinen Fehler zu begehen. Bert Anderson und Sheldon Gee waren die beiden anderen Verschwörer, die mit Hendrik Laas und Gijsbert das Komplott geschmiedet hatten. Anderson war auf der „Sparrow“ einst der Bootsmann gewesen, Gee der Segelmacher. Von der ursprünglichen Besatzung war außer ihnen nur Ewing Scott, ein einfacher Decksmann, übrig geblieben, aber mit dem konnten sie nicht rechnen. Scott hatte sich auf die Seite der Piraten geschlagen - aus echter Überzeugung. Er erhoffte sich davon ein besseres, gefälligeres Leben und eine Serie von wilden Abenteuern, von denen er bei seiner bisherigen Tätigkeit nur geträumt hatte. Wegen seiner neuen Rolle war er für Laas, Anderson, Gee und den Holländer Gijsbert doppelt gefährlich. Von Sheldon Gee vermutete kaum jemand, daß er imstande war, an einer Meuterei teilzunehmen. Er hatte bislang gekonnt den Stiefellecker und Untertanen gespielt und alles getan, was Roel van Dyck, Samkalden und die anderen Freibeuter ihm befahlen. Anderson stellte den Teilnahmslosen zur Schau, den gebrochenen Mann, nur Scott behauptete immer wieder von ihm, er habe noch Energien in sich. Van Dyck schenkte Scott in diesem Punkt jedoch keinen Glauben,
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und so war der einzige Gefangene, den man für wirklich unbeugsam hielt, Hendrik Laas. Aber Laas hatte sich gehütet, bei der Überfahrt auch nur den Versuch eines Aufstandes und der Flucht zu unternehmen. In seinem Inneren schien nun das nüchterne Kalkül zu überwiegen, eine Rechnung, von der er annehmen mußte, daß sie ihm das geringste Risiko brachte - und außerdem noch einen bescheidenen Anteil an dem, was die Piraten früher oder später zu finden hofften. So gesehen ahnte auch van Dyck nichts von dem Vulkan, der in Hendrik Laas schlummerte. Van Dyck hatte jedoch nie den Fehler begangen, den bärtigen Dänen zu unterschätzen. Er hatte seinen Männern eingeschärft, diesen Mann nie aus den Augen zu lassen. So wußte Hendrik, daß Ligthart und Ivo ihn ständig scharf beobachteten. Er würde keine zehn Schritte weit gelangen, um einen entscheidenden Angriff zu unternehmen. Ausgeschlossen. Er hatte sich einen Trick einfallen lassen müssen. So einfach dieser Trick war, er schien den vier Verschwörern doch von allen Erwägungen, die sie getroffen hatten, das Beste zu sein. Konnte man Gijsbert vertrauen? Hendrik zweifelte nicht daran. Am Nachmittag hatten sie alle vier ganz kurz die Gelegenheit gefunden, unten im Vordeck miteinander zu sprechen. Sie hatten die Köpfe zusammengesteckt und hastig geflüstert, und die ganze Zeit über hatte ihnen die unsichtbare Faust im Nacken gesessen, Samkalden oder sonst jemand könnte sie entdecken. Hendrik hatte Gijsberts Augen in dem Halbdunkel des Vordecks recht gut sehen können. Er hatte ihn fixiert, aber Gijsbert war diesem bohrenden Blick der harten grauen Augen nicht ausgewichen. Kein Mann war fähig, einen solchen Blick ohne das geringste Flackern, ohne Zucken der Lider zu erwidern, wenn er es nicht von Grund auf ehrlich meinte. Hendrik war von seiner gefühlsmäßigen Menschenkenntnis
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überzeugt. Ja, er schenkte Gijsbert jetzt wirklich sein volles Vertrauen. Gijsbert gehörte zu den Piraten, die die „Sparrow“ in Neufundland gekapert hatten. Seinem Herzen nach war er eigentlich kein schlechter Kerl - oder, anders ausgedrückt, der am wenigsten durchtriebene und hinterhältige Mann dieser Meute. Er hatte dieses Dasein satt und reichlich genug von den Schikanen Samkaldens. Er wollte nicht länger außerhalb jeder Legalität leben, sondern Ordnung in sein Leben bringen. Er hatte sich geschworen, neu anzufangen, indem er den Gefangenen der Piraten half, das Schiff durch einen kühnen Zug in ihre Hand zu kriegen. „Heute nacht erobern wir die ,Sparrow` zurück“, hatte Hendrik Laas im Vordeck seinen Kameraden zugezischt. „Es ist ein Wahnsinnsunternehmen“, hatte Bert Anderson gedämpft zurückgegeben. „Aber gerade das Aussichtslose ist oft der einzige Weg, den man beschreiten kann.“ „Wir haben keine andere Wahl“, hatte Sheldon Gee gesagt. Hendrik hatte erwidert: „Wir können auch nicht länger warten. Unsere Berechnungen stimmen, wir befinden uns nahe der Küste von Cornwall. Hier können wir landen und finden Unterstützung - nicht aber in den Sieben Provinzen, wo man die Kerle vielleicht noch wie die Helden feiern wird. Sind wir dort erst angelangt, bringt van Dyck uns um, weil er uns nicht mehr braucht.“ „Uns“, hatte Anderson geflüstert. „Dich würden sie doch noch brauchen, denn sie wollen mit verstärkter Mannschaft und besserer Ausrüstung wieder den Atlantik überqueren und dorthin fahren, wo ...“ „Ich könnte das Märchen doch nicht aufrechterhalten. Wenn sie euch töten würden, würde ich ihnen ins Gesicht schreien, daß ich ihnen etwas vorgeschwindelt habe.“ Gijsbert hatte Hendrik unverwandt angeschaut. „Es gibt also kein Gold in Thule?“ „Nein. Man kann dort nicht graben, weil der Boden hart gefroren ist, aber selbst wenn man graben würde, würde man
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nichts entdecken. Nichts - außer vielleicht ein paar Knochen.“ „Aber es gibt dort Pelze.“ „Die Pelze liegen nicht auf dem Eis herum. Man muß sie sich mühsam erjagen. Man muß sich auskennen und bittere Kälte und enorme Entbehrungen ertragen können.“ „Ich glaube, ich würde nie bis dort hinaufsegeln“, hatte Gijsbert leise entgegnet. „Wenn alles klappt, heure ich auf einem Schiff an, das nach Westindien segelt. Wenn alles klappt - aber es darf nicht schief gehen.“ Ein Ruf erklang von achtern und riß Hendrik abrupt in die Gegenwart zurück. Ligthart, der den Kolderstock bediente, ließ etwas über den Wind verlauten, und Hendrik stellte ebenfalls fest, daß der Wind schralte. Er korrigierte die Stellung von Fock, Vormarssegel und Blinde, denn der Wind hatte von Westen auf Südwesten gedreht und fiel also nicht mehr achterlich. sondern raumschots ein. Hendrik belegte die Brassen und Schoten neu, während auch die anderen Männer der Deckswache die Segel nach Steuerbord braßten und Rudergänger Ligthart den Kolderstock ein wenig weiter nach Steuerbord drückte. Hendrik Laas blickte voraus in die Nacht. Er konnte nichts dagegen tun, daß seine Gedanken wieder abschweiften. Im Geist sah er nicht die von Sterntupfern durchwirkte samtene Finsternis, sondern das Weiß jener unvergleichlichen uralten Landschaft, in der er Jahre verbracht hatte, Jahre, ohne nennenswerten Kontakt mit Menschen gehabt zu haben. Eine unvergessene Zeit, die ihm mehr Verbundenheit mit dem weißen, kalten Land geschenkt hatte, als er je für möglich gehalten hatte und hatte eingestehen wollen. Nanoq, der Eisbär, lebte in jenen Zonen und die Robben und die Narwale und die Walrosse, die er, Hendrik Laas, unter dem fahlen Glanz der Mitternachtssonne gejagt hatte. Er blickte an sich herab. Die weißen Eisbärhosen, die er sich selbst nach der Art der Ureinwohner des Landes gefertigt
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hatte, schienen hier fehl am Platze zu sein. Wehmut ergriff Hendrik, wenn er an Thule dachte. Er wünschte sich dorthin zurück, in die einsamen Breiten, in denen es Haß und Habgier nicht gab. Hendrik Laas lauschte in die Nacht. Das Rauschen des Seewassers an den Bordwänden, das Knarren der Blöcke und Rahen waren vertraute Geräusche. Unter ihm im Vordeck schien alles still zu sein. Hendrik überdachte noch einmal alles, und nicht sehr viel später ertönte das vertraute Signal. Ligthart hatte das Stundenglas zum zweitenmal nach Mitternacht umgedreht und gegen die kleine Bronzeglocke geschlagen. Es war ein Uhr morgens. Hendrik trat ans Backbordschanzkleid und warf einen scheinbar prüfenden Blick nach außenbords. Dies war das Zeichen für Gijsbert. Gijsbert sah es, wandte sich zu Anderson um und blickte diesen einfach nur kurz an. Bert Anderson hatte verstanden. Er griff mit der einen Hand ans Herz, gab einen röchelnden Laut von sich und brach plötzlich dicht vor der Querwand des Achterkastells zusammen. * Eric Winlow blieb plötzlich stehen. Er wirkte sehr fett, seine Glatze schimmerte ein wenig in dem schalen Mondlicht über Cornwall. Wer ihn nicht kannte, wußte nicht, welche Muskeln sich unter seinen Körpermassen verbargen. Immerhin, er hätte allein seiner Statur nach wie eine Festung im auflandig aus Südwesten über die Küste streichenden Wind stehen sollen — aber er tat es nicht. Er wankte und drohte aus der Balance zu geraten. Die Schuld daran trug nicht der Wind, sondern das süffige dunkle Bier, das er in der Spelunke getrunken hatte, an deren Namen er sich schon nicht mehr erinnern konnte. Roger Lutz verharrte neben Winlow. Der Wind zerzauste seine schwarzen Haare. Winlow behauptete immer, Lutz trüge so viele Haare auf dem Kopf, daß sie für ihn mit ausgereicht hätten.
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Roger war sonst immer mit Grand Couteau, seinem guten Freund, zusammen, aber an diesem Abend hatte er sich von dem französischen Landsmann getrennt und sich mit Eric, dem Koch der „Vengeur“, auf den Zug durch die Landschaft begeben. Es war einfach so eine Idee gewesen, die der Bemerkung Winlows entsprungen war, er kenne da eine Kaschemme außerhalb von Plymouth, deren Namen er zwar nicht wisse, in der es aber ein ganz ausgezeichnetes Bier gebe, wenn sich nichts geändert hätte. Grand Couteau hatte nicht mitgehen wollen, aber Roger und Eric hatten es bislang noch nicht bereut, zumal sie in dieser Nacht voll und ganz auf ihre Kosten kommen sollten — wie es den Anschein hatte. „Was ist?“ sagte Roger Lutz. Es fiel ihm nicht mehr besonders leicht, die Zunge zu bewegen, sie schien sehr schwer geworden zu sein. Winlow streckte die Hand aus und vollführte eine wedelnde Gebärde zu dem dritten Mann im Bunde hin. Der aber bemerkte die Geste nicht. Er marschierte einfach weiter durch das grasbewachsene Küstenland - ein schlanker Mann mit breiten Schultern und einer Mütze auf dem Kopf. Sein Name lautete Hadley Allen. „He“, sagte Eric rauh. „Bleib mal stehen, Harvey.“ Allen verhielt seinen Schritt, wandte sich zu ihnen um und setzte ein joviales Grinsen auf. „Hadley, wenn ich bitten darf. Ist aber nicht so wichtig. Wo drückt denn der Schuh? Könnt ihr nicht mehr laufen?“ Eric stieß einen schnaufenden Laut aus. „Nicht mehr laufen? Daß ich nicht lache. Aber, wenn's recht ist. beschreibe uns doch bitte noch mal diese - diese ...“ „Diese Kusinen“, vervollständigte Roger lächelnd den Satz. Er amüsierte sich ein bißchen über den Kameraden von der „Vengeur“, denn er hielt Winlow für stark angetrunken, sich selbst jedoch für stocknüchtern. Das entsprach ganz und gar nicht den Tatsachen. Sie waren beide mittelstark „angeheitert“ und hatten ein Quantum getrunken, das einen normalen
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Erdenbürger aus den Stiefeln gehoben und für mindestens vierundzwanzig Stunden gefechtsunfähig gemacht hätte. Aber zwei so salzgewässerte Rauhbeine und Freibeuter wie Roger und Eric waren nun mal nicht das, was man unter normalen Erdenbürgern verstand. Hadley Allen kehrte zu ihnen zurück und trat ziemlich dicht vor sie hin. „Meine Basen?“ sagte er. „Pearl und Fay? Ich habe euch doch schon ein paarmal gesagt, was für Wonnegeschöpfe sie sind.“ Er erwartete eine Entgegnung, doch Roger und Eric sahen ihn nur gespannt an, so daß er mit den Schultern zuckte und die Hände hob, um weiche, rundliche Konturen in der Nachtluft zu skizzieren. „Pearl ist etwas deftiger gebaut als Fay“, fügte er erklärend hinzu. Der Vollständigkeit halber formte er auch noch Pearls Körper mit den Händen und sagte: „Sie sind Basen ersten Grades, nämlich die Töchter des Bruders meines Vaters. Sie brennen darauf, ein paar handfeste Männer wie euch kennen zu lernen, und das muß man verstehen, denn sie müssen für meinen Onkel sorgen, der seit einem Unfall mit seinem Boot krank und bettlägerig ist. Die Mädchen kümmern sich um den ganzen Haushalt und verlassen kaum noch das Haus, weil meinem Onkel obendrein vor ein paar Jahren noch die Frau weggelaufen ist.“ Diese und andere herzzerreißende Geschichten über das triste Schicksal der Basen-Familie hatte er schon' den ganzen Abend über erzählt. „Schrecklich“, sagte Eric Winlow dumpf. „Aber den armen Mädchen kann geholfen werden“, meinte Roger Lutz, der sowieso ständig Frauenzimmer im Kopf hatte und seinen Kameraden von ihnen vorschwärmte. „Man muß ihnen Mut zusprechen“, fuhr er fort. Für seine Amouren war Roger bekannt. Er war überzeugt, in dieser Nacht ein Abenteuer zu erleben, das genügend Stoff für einen Bericht hergab, bei dem den Kameraden die Münder offen stehen und die Augen übergehen würden. Eric blickte auf Hadley Allens Hände und sagte: „Richtig, und wie ich die Dinge so
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sehe, lohnt es sich durchaus, einen längeren Fußmarsch zurückzulegen, um Pearl und Fay zu besuchen. Buckley, wenn es keine Meilenreise wird, sind wir bereit, dir auch weiter zu folgen.“ „Hadley“, murmelte Hadley Allen berichtigend, aber er sagte sich im stillen auch, daß es wohl keinen Zweck hatte, diesen offensichtlich beschränkten Burschen dauernd zu korrigieren. Vielmehr schärfte er sich ein, daß es ratsam war, den anderen Mann, diesen schlanken, ziemlich gut aussehenden Franzosen, ständig im Auge zu behalten. Der war nicht so leicht aufs Kreuz zu legen wie der Dicke. Man mußte ihm etwas bieten, etwas Schmackhaftes- und genau da schien sein wunder Punkt zu sein. Hadley Allen beschloß, für die richtige Szene zu sorgen. Er hatte die beiden Burschen geködert, und jetzt durfte er sie nicht mehr aus den Händen lassen. Sie schienen zu wertvoll zu sein, durch eine Ungeschicklichkeit mißtrauisch gestimmt zu werden. Hatte er, Allen, nicht ganz deutlich den kleinen Schweinslederbeutel gesehen, den der Dicke in der Kneipe zum Vorschein gebracht hatte? Prall gefüllt war dieser Beutel. Aller Wahrscheinlichkeit nach befanden sich Perlen und andere Kostbarkeiten darin, keine Kieselsteine. Dafür sprach auch das Verhalten des Franzosen. Er hatte nämlich rechtzeitig eingegriffen, bevor sein Kamerad den Beutel hatte öffnen können, und veranlaßt, daß der Dicke den Lederbehälter in die Wamstasche zurückstopfte. Dann hatte der Franzose die Runden Bier, die sie zu dritt getrunken hatten, mit ein paar Münzen bezahlt. Es war offensichtlich, daß er mit dem Inhalt des Beutels kein Aufsehen hatte erregen wollen. Perlen und Schmuck hatten eine gleichsam magische Anziehungskraft. Sie lockten Diebe und Räuber an wie ein Honigtopf einen Schwarm Wespen. Hadley Allen hatte natürlich so getan, als hätte er von diesem kleinen Intermezzo nichts mitgekriegt.
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Im Verlauf ihrer Gespräche am Biertisch hatte er schließlich noch etwas Wesentliches aufgeschnappt. Lutz und Winlow gehörten zu der Mannschaft der „Vengeur“. Die „Vengeur“ lag in Plymouth aufgedockt wie jene legendenumwobene „Isabella VIII.“ der Seewölfe, die vor einigen Tagen im Hafen eingetroffen war. Von der „Isabella“ hieß es, sie habe sagenhafte Schätze an Bord, an die jedoch keiner herankam. Zwischen den Männern der „Vengeur“ und denen der „Isabella“ schien eine dicke Freundschaft zu bestehen, wie Allen vernommen hatte warum, zum Teufel, sollten dann nicht auch die Leute von der „Vengeur“ goldund silberschwere Taschen haben? Allen grinste bei dem Gedanken daran, daß der viele Reichtum doch wohl ansteckend sein mußte. Keiner traute sich an die Schiffe und ihre Besatzungen heran - schon gar nicht nach dem, was in der „Bloody Mary“ des Nathaniel Plymson geschehen war. Aber Hadley Allen hatte keine Bedenken dabei, zwei dieser Leute in die Nacht hinauszulocken, zumal sie seiner Ansicht nach schon so starke Schlagseite hatten, daß ein Schubs genügte, um sie endgültig aus dem Gleichgewicht zu bringen. Ausnehmen wie die Hühner werden wir euch, dachte er. Er hatte von dem dicken Mann gehört, daß dieser der Koch an Bord der „Vengeur“ war und daher in seiner Kombüse selbst mit schlachtreifem Getier zu tun hatte. Allen lachte leise über diesen Vergleich, blickte dann aber sofort über die Schulter zurück zu den beiden, um sich zu überzeugen, daß sie seinen Laut nicht vernommen hatten. Sie schienen das Lachen wirklich nicht gehört zu haben. Schwerfällig stapften sie hinter ihrem Führer her. Eric Winlow wollte schon wieder stehen bleiben und Allen eine ungeduldige Frage stellen, da tauchten vor ihnen die Umrisse eines Hauses auf. Allen drehte sich um und gab ihnen durch einen Wink zu verstehen, daß sie am Ziel angelangt seien.
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Das Haus war aus dicken roten Backsteinen erbaut worden und vermittelte einen soliden Eindruck, wenn man von dem Spitzgiebeldach absah, das als Zeichen seiner Altersschwäche in der Mitte ein Stück eingesackt war. Was bei Eric Winlow echte Besorgnis erweckte, war der Umstand, daß die beiden Fenster der Vorderfront dunkel und stumpf wie die Augen eines Blinden in die Nacht blickten. Nirgendwo in dem Haus schien Licht zu brennen. Dem Koch der „Vengeur“ stieg die dumpfe Ahnung auf, daß entweder niemand daheim war oder daß man sie als Störenfriede einfach hinauswerfen würde. Hadley Allen traf Anstalten, mit der Faust gegen die schwere Holzbohlentür zu klopfen. Eric trat jedoch neben ihn und hielt seinen Arm fest. Allen stellte in diesem Augenblick mit einigem Schaudern fest, welche Kraft allein in der Hand dieses übergewichtigen Mannes steckte. Eine Eisenklammer schien sich um seinen Oberarm zu schließen. Winlow, so pflegten die Männer der „Vengeur“ zu sagen, hatte Fäuste wie Bratpfannen, die wie solche auch zuhauen konnten. Aber von diesem Spruch war Allen nichts bekannt. „Willst du sie etwa aus dem Bett werfen?“ fragte Eric. „Na und?“ sagte Roger Lutz. „Die Nacht ist noch lang, und die Basen können bis in den Morgen hinein schlafen, wenn sie wollen. Ein ein- bis zweistündiger Plausch mit uns kann ihrer Gesundheit nicht schaden.“ Er grinste und sah pfiffig und auch ein wenig durchtrieben aus — der echte Schwerenöter. „Aber du vergißt den kranken Mann“; gab Eric Winlow zu bedenken. „He, Bentley, du weckst deinen Onkel auf, und das geht nicht. Vielleicht kriegt er dabei einen Schlag, von dem er sich nicht wieder erholt.“ Hadley Allen grinste. „Ach was, mein Onkel schläft so tief, daß man ihn wegtragen kann. In der Beziehung hat er
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keine Schwierigkeiten. Wir können ruhig herumbrüllen, er würde nicht einmal mit den Lidern klappern.“ „Na schön, wie du meinst.“ Allen klopfte also an die Tür. Gleich darauf ertönten im Inneren des Hauses schlurfende Schritte. Eine ziemlich mürrische Frauenstimme erkundigte sich von der anderen Seite der Tür her: „Verdammt, was ist denn los? Wer ist da so verrückt, mitten in der Nacht an die Tür zu hämmern und anständige Leute im Schlaf zu stören?“ „Liebe Base“, sagte Hadley Allen honigsüß. „Ich bin's, dein Vetter Hadley.“ „Ach, du lieber Himmel.“ „Ich habe zwei Freunde mitgebracht!“ „Auch das noch. Ich will dir mal was sagen ...“ „Sie möchten nur einen Schluck von deinem selbstgebrauten Himbeergeist kosten“, sagte Hadley, bemüht, all seine Überzeugungskraft in seine Stimme zu legen. „Das kannst du uns doch nicht verwehren, Mädchen. Also, wir trinken einen, und dann gehen wir wieder, einverstanden?“ Hinter der Tür ertönte etwas, das Roger Lutz für einen gemurmelten Fluch hielt. Er runzelte die Stirn und begann ernsthaft an der Bereitwilligkeit der beiden Basen zu zweifeln: Und überhaupt — wo steckte die andere? Die Tür wurde geöffnet, und Hadley Allen lud die Männer der „Vengeur“ mit einer freundschaftlichen Geste ein einzutreten. Eric Winlow tappte wie ein Bär in den dunklen Raum, Roger Lutz folgte ihm zögernd. Plötzlich spürte Roger einen finsteren Verdacht in sich aufsteigen. Unwillkürlich legte er die Hand auf den Kolben seiner Pistole. Hadley Allen trat hinter ihnen ein und schloß die Tür mit sanftem Druck. Es schien soweit alles in Ordnung zu sein, denn jetzt wurde eine Öllampe angezündet. Eric und Roger konnten sehen, wie Allen wohlgefällig lächelte und der dämmrige Lampenschein die Formen einer nur dürftig bekleideten Frau beleuchtete.
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„Das ist Pearl“, sagte Hadley Allen. Pearl lächelte flüchtig und raffte den grob gestrickten Wollumhang, den sie sich über das Nachthemd geworfen hatte, enger um ihre festen Formen zusammen. Eric musterte Pearl ganz ungeniert von oben bis unten und fand Gefallen an diesem üppigen Frauenzimmer. Roger stellte unterdessen im stillen fest, daß es sich um ein ziemlich reifes Mädchen zwischen dreißig und vierzig Jahren handelte, dessen einst blühende Schönheit schon ein bißchen lädiert war. Zu weiteren Überlegungen kam er aber nicht, denn Hadley sagte jetzt: „Wo ist Fay?“ „Ich hole sie“, erwiderte Pearl. Sie räusperte sich und verschwand. Die Öllampe stand auf einem roh zusammen gezimmerten Eichenholztisch in der Mitte des großen Raumes, den sie betreten hatten. Stumm sahen sich die Männer über die Tischplatte hinweg an. Roger hatte seinen zweifelnden, argwöhnischen Gesichtsausdruck noch nicht aufgegeben; aber die Lage schien doch klar zu sein: Es war eine ärmliche Behausung. in die sie hier geraten waren. Pearls und Fays einzige Möglichkeit, sich den Lebensunterhalt zu sichern, schienen „kleine Gefälligkeiten“ zu sein, mit denen sie die Freier bedachten, die Hadley Allen ihnen von Zeit zu Zeit ins Heim brachte. So weit, so gut, aber die ganze Sache behagte Roger irgendwie doch nicht— bis Fay in dem Raum erschien. Pearl verblaßte trotz ihrer Formen neben dieser Frau, die mindestens zehn Jahre jünger war als sie. Fay war eine echte Cornwall-Schönheit mit dunkelblondem, langem Haar, seeblauen Augen und reizenden Zügen, die jedes Mißtrauen in Roger Lutz dahinschmelzen ließen. Fay hatte eine volle Flasche mitgebracht, setzte sie auf dem Tisch ab und lächelte die Männer an. Pearl schien jetzt auch freundlicher geworden zu sein. Sie besorgte Gläser, entkorkte die Flasche und servierte den Besuchern den etwas herb riechenden Himbeergeist, der dann aber tatsächlich vorzüglich schmeckte.
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Roger trank sein Glas leer, stellte es auf den Eichenholztisch und trat auf Fay zu. Er deutete eine Verbeugung an und sagte: „Gestatten Sie, daß ich Sie begrüße, wie man es bei mir daheim zu tun pflegt, Mademoiselle:“ „Aber gern doch“, erwiderte sie. Kokett bot sie ihm ihre Hand dar. Er ergriff sie, neigte sich darüber und spitzte seine Lippen zum Kuß. Daß es der verhängnisvollste Handkuß sein sollte, den er je einem Frauenzimmer aufgedrückt hatte, erfuhr er einen Atemzug später. Fay packte seine Hand und zog ihn plötzlich zu sich heran. Sie umarmte ihn stürmisch, aber das diente nur einem Zweck: Sie wollte ihm die Pistole aus dem Waffengurt ziehen. Roger bemerkte es zu spät. Fay hatte die Waffe schon in der Hand, löste sich von ihm, wich zurück und hob die Pistole, so daß die Mündung Roger böse anglotzte. Eric Winlow hörte auf, die üppige Pearl anzuhimmeln. Er fuhr herum und stieß einen Fluch aus. Sein Pech war, daß er nicht auf Hadley Allen achtete. Allen holte mit dem Fuß aus und trat Eric in den Allerwertesten. Eric stolperte durch den Raum, seine schweren Schritte polterten dumpf über die Bohlen, er drohte zu stürzen und ruderte mit den Armen. Plötzlich stoppte er doch ab, denn jemand war aus dem dunklen hohen Rechteck der Tür auf ihn zugetreten, die Pearl und Fay kurz zuvor benutzt hatten. Dieser Jemand entpuppte sich als ein muskulöser Kerl mit drohendem Blick, gute sechs Fuß groß und offenbar zu jeder Untat fähig. Die erste Bestätigung dafür erhielt Eric, als der Mann die Faust hochriß. Harte Handknöchel krachten unter Erics Kinn. Der Koch der „Vengeur“ wankte und drohte das Bewußtsein zu verlieren. „Gut so, Onkel!“ rief Hadley Allen. „Verpaß ihm noch so ein Ding, und er geht auf die Bretter!“ „Aha“, sagte Roger Lutz. „Da haben wir ihn also, den armen, kranken, bettlägerigen Onkel.“
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Fay hatte den Hahn der Pistole gespannt. „Keine Bewegung, oder ich drücke ab!“ warnte sie. „Na los“, sagte Allen. „Erledigen wir sie und nehmen wir ihnen ihre Habseligkeiten ab. Ich denke, wir haben diesmal einen guten Fang gemacht.“ * Ivo, der Ausguck im Großmars der „Sparrow“, beugte sich über die Segeltuchverkleidung seines luftigen Postens, um besser erkennen zu können, was mit Bert Anderson vorging. Er kniff die Augen zu Schlitzen zusammen und spähte auf die Kuhl hinunter. Anderson schien zusammengebrochen zu sein, aber das war Ivos Meinung nach kein allzu großer Verlust. Warum Anderson gestürzt war und nun reglos dalag - diese Frage stellte Ivo sich nicht. „Holla“, sagte Gijsbert, der am Backbordschanzkleid der Kuhl stand. Er sprach nicht zu laut - um Samkalden nicht zu wecken und van Dyck sowie die anderen Kerle im Achterdeck nicht auf den Plan zu rufen. „Mit Anderson ist was nicht in Ordnung“, sagte er nur zum Achterdeck hinauf. Weil er es war, der das sagte, schöpfte Ligthart vorläufig keinen Verdacht. Er wandte sich nur an Sheldon Gee und grinste ihn abfällig an. „Kümmre dich mal um deinen Freund, den Bootsmann. Er scheint eingeschlafen zu sein.“ „Oder er ist völlig entkräftet“, meinte Gee. „Der Teufel soll ihn holen.“ Gee schritt auf dem leicht wankenden Deck an dem Rudergänger vorbei und verspürte den innigen Wunsch, Ligthart niederzuschlagen. Er bezwang sich aber, denn eins war gewiß: Wenn er eine solche Torheit beging, schlug der Mann im Großmars sofort Alarm. Gee stieg den Steuerbordniedergang des Achterkastells zu Bert Anderson hinunter und beugte sich über ihn. Hendrik Laas rührte sich nicht von der Back fort, weil
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auch das Ärger gegeben hätte. Ligthart beobachtete von seinem Platz am Kolderstock aus, wie Gee Anderson ins Bewußtsein zurückzurufen versuchte. Ligthart fiel auf die Farce herein. Ivo sah vom Großmars aus zu und registrierte ebenso wenig wie der Rudergänger, daß Gijsbert jetzt geschickt wie eine Katze in den Luvhauptwanten aufenterte. Ivo wurde erst aufmerksam, als er ein feines Geräusch hinter sich vernahm. Erfuhr herum, erschrak fast, entspannte sich aber, als er Gijsberts Gesicht hinter der Umrandung auftauchen sah. „Mann, was willst du denn hier?“ fragte er. „Ich erkläre es dir“, versetzte Gijsbert gedämpft. Hätte Ivo in diesem Moment Anderson, Gee oder gar den bärtigen Dänen vor sich gehabt, hätte er natürlich losgebrüllt und seine Waffe gezückt. So aber schöpfte er noch keinen Verdacht. Er begriff erst, als Gijsbert ausholte und einen Belegnagel niedersausen ließ, aber da war es zu spät für jede Reaktion. Ivo brach im Großmars zusammen, ohne einen Laut von sich zu geben. Gijsbert kletterte über die Umrandung und stand nun auf der Plattform. Ligthart hatte nichts bemerkt, weil er immer noch mißbilligend nach Anderson und Gee Ausschau hielt. Hendrik Laas blickte kurz am Hauptmast hoch und sah die Gestalt des Verbündeten. Er trat daraufhin vom Fockmast zur achteren Querbalustrade der Back, und dies wiederum war das Zeichen für Sheldon Gee. „Los“, zischte Gee, der Segelmacher, dem Bootsmann der „Sparrow“ zu. Er schob Bert Anderson die Hände unter die Achseln, zog ihn ein Stück hoch und schleppte ihn zum Steuerbordniedergang des Achterkastells. Ligthart stieß eine Verwünschung aus, als er Gee mit der reglosen Gestalt auf dem Achterdeck erscheinen sah. „Was soll das?“ sagte er. „Seid ihr beiden übergeschnappt?“ Gee bescheinigte dem Holländer in Gedanken, daß sein Englisch schauderhaft
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war und er ihm auch dafür einen Hieb über den Schädel ziehen würde. Gee blieb ganz ruhig und antwortete nur: „Ich kriege ihn nicht wach. Kannst du nicht mal versuchen, da was zu unternehmen? Vom Kolderstock kannst du ja nicht weg, deswegen habe ich Anderson hier zu dir heraufgebracht.“ „Falsch“, fauchte Ligthart den Segelmacher an. „Du hättest den Hund lieber zum Vordeck schleifen und den Feldscher wecken sollen. Der weiß, ob er ihn zur Ader lassen oder in die See werfen soll.“ „Sieh ihn dir doch wenigstens mal an“, sagte Gee beharrlich. Er zerrte Anderson noch ein Stück weiter und legte ihn dicht vor Ligthart auf die Planken. Ligthart ließ den Kolderstock mit der einen Hand los, beugte sich ein Stück vor und musterte den vermeintlichen Ohnmächtigen in einer Mischung aus Verachtung und Schadenfreude. „Er ist gelb im Gesicht, findest du nicht auch?“ raunte Gee. Gelb? Ligthart erschauerte. Natürlich wußte er, daß es an Bord eines Segelschiffes Krankheiten gab, bei denen man plötzlich zusammenbrach und auch die Gesichtsfarbe wechselte. Sie waren allesamt ansteckend, diese scheußlichen Krankheiten, und ein Pirat fürchtete sie mehr als Sturm und Kampf. Dennoch überwog für einen Augenblick die Neugierde in Ligthart. Er beugte sich noch etwas tiefer, um sich Bert Andersons Haut anzuschauen. Andersons Faust zuckte hoch. Der Angriff erfolgte völlig überraschend für den Rudergänger. Ligthart stand gebückt da und steckte den Hieb unters Kinn ein. Er war wie gelähmt, aber als auch Gee zuschlug, brach der Holländer zusammen und rührte sich nicht mehr. Sheldon Gee übernahm den Kolderstock. Bert Anderson brachte sich in den Besitz von Ligtharts Säbel und Pistole, nickte Gee grinsend zu und verließ das Achterdeck. Gijsbert hatte sich inzwischen vergewissert, daß Ivo, der Ausguck, so schnell. nicht wieder aufwachte. Er hatte
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dessen Waffen an sich genommen und ihm mit dem Tampen, den er gegen Mitternacht von der Kuhl aufgehoben hatte, die Hände auf dem Rücken gefesselt. Gijsbert enterte flink wieder in den Wanten ab, gelangte auf die Kuhl und gesellte sich zu Anderson, um mit ihm in das Achterdeck einzudringen und dort van Dyck und die anderen Kerle zu überwältigen. Hendrik Laas hatte sich mit Belegnägeln bewaffnet und stand an der Steuerbordseite der Galeone oberhalb des Schotts, das die Männer benutzten, um von der Kuhl ins Vorschiff zu gelangen oder umgekehrt vom Mannschaftslogis und den anderen Räumen im Vordeck aus die Kuhl zu erreichen. Anderson wandte sich kurz zu ihm um und hob die Pistole und den Säbel hoch, die er Ligthart abgenommen hatte. Hendrik schüttelte den Kopf. Anderson und Gijsbert brauchten die Waffen dringender als er, er kam auch so zurecht und würde sich von dem ersten Burschen, der seinen Kopf aus dem Schott steckte, ohnehin die Waffen besorgen. Anderson und Gijsbert schickten sich an, den mittleren Achterdecksgang durch das Schott zu betreten. Aber plötzlich ging alles schief, denn das Kombüsenschott des Vordecks schwang auf. Es lag an der Backbordseite des Schiffes, nicht an Steuerbord, wo Hendrik Laas stand. Jemand hatte sich die Mühe bereitet, den Umweg durch die Kombüse zu nehmen, jemand - und Hendrik fiel es wie Schuppen von den Augen. Das Achterdecksschott flog auch auf, und aus dem Inneren wurde sofort gefeuert. Ein gelbroter Blitz zerfetzte die Dunkelheit, ein Krachen tönte durch das Achterkastell und übers ganze Schiff. Gijsbert riß die Arme hoch und fiel, Anderson wich zur Seite aus. Dann öffneten sich auch die Luken, und überall wurden Musketen und Tromblons sichtbar. Eine Stimme brüllte aus dem Achterkastell: „Aufgeben! Werft die Waffen weg, ihr Hurensöhne, streicht die Flagge, oder wir töten euch!“ Es war Roel van Dyck, der das schrie.
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Eine andere, Hendrik Laas und seinen Mitstreitern vertrautere Stimme, die das Englische perfekt aussprach, gellte aus dem Vordeck: „Laas! Anderson! Gee! Dachtet ihr wirklich, ihr könntet uns reinlegen? Seid ihr so dämlich? Mein Gott, wir haben euch auf die Probe gestellt, und ihr seid darauf hereingefallen. Jetzt seid ihr erledigt! Erledigt, hört ihr?“ Ewing Scott. Hendrik stand nur noch da und taumelte leicht. Ein abgekartetes Spiel - es war alles so eingerichtet gewesen, daß Anderson, Gee, Gijsbert und er an eine glückliche Fügung, an eine Chance hatten glauben müssen. Scott hatte van Dyck lange genug gewarnt und ihm immer wieder eingeredet, daß da etwas am Gären sei - und so hatte van Dyck die Verschwörer zusammen zu einer Mittelwache eingeteilt. Ob ihm dabei auch Gijsberts Rolle bereits bekannt gewesen war, wußte Hendrik nicht. Vielleicht hatten die Piraten Gijsbert schon seit einiger Zeit durchschaut, vielleicht auch nicht, vielleicht bot er ihnen die einzige Überraschung - es war egal. Hendrik Laas sah Gijsbert fallen und hörte die hämischen Stimmen des Piratenkapitäns und Scotts wie durch Korkstopfen. Er dachte plötzlich nur noch daran, welch ungeheure Gemeinheit es von Scott war, die eigenen Landsleute und Kameraden so heimtückisch in die Falle zu Locken. An sich selbst dachte der Däne dabei am wenigsten. Unbändige Wut hatte ihn ergriffen. Er merkte kaum, wie er sich in Bewegung setzte und über die Schmuckbalustrade der Back flankte. Er schien außerhalb des Geschehens zu stehen und nur noch ein Beobachter zu sein - es war ein eigenartiger Zustand, in den er durch seinen überschäumenden Zorn versetzt wurde. Die Piraten verließen das Vordeck durch beide Schotte. Ihre Gestalten quollen aus den Schotten des Achterkastells und aus den Luken, sie stürmten die Kuhl, schwangen ihre Waffen und legten mit den
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Musketen und Tromblons auf Anderson und Gee an. Gijsbert lag still, sein Gesicht und seine Körperfront berührten die Planken. Seine Finger hatten sich so eigenartig verkrampft, als wollten sie sich durch das Holz hindurch schieben und darin verkrallen. Bert Anderson feuerte seine erbeutete Pistole ab und traf einen der Freibeuter. Er schleuderte die Waffe auf einen nächsten Gegner, riß den Säbel hoch und versuchte, zu van Dyck zu stürmen. Roel van Dyck hielt sich jedoch im Hintergrund. Zwei seiner Kerle fochten mit Entermessern gegen Anderson. Sheldon Gee legte plötzlich Hartruder zur entgegengesetzten Seite. Die „Sparrow“ ächzte und stöhnte, und ein Ruck lief durch den Rumpf. Die dreimastige Galeone drohte in einer engen Schleife in den Wind zu laufen. Auf dem Oberdeck verloren einige Männer den Halt und stürzten. Hendrik Laas stürzte nicht. Er stand mitten unter den Piraten und ließ die Belegnägel, mit denen er sich versorgt hatte, auf ihre Köpfe nieder hageln. Er wich knapp einem Morgenstern aus, bückte sich, rammte dem Kerl mit dem Morgenstern den Kopf in den Leib, schob ihn von seinem Standort fort und drängte ihn bis an die Vordeckswand. Es war eine sonderbare, wilde Kampfmethode, die in .kein Schema paßte. Laas stiftete Verwirrung, blieb wie durch ein Wunder unversehrt und konnte dem Piraten, der sich vor Schmerzen krümmte, den Morgenstern entwinden. Laas fuhr herum und schwang den Morgenstern. Die Piraten blickten ihn entsetzt an und wichen vor ihm zurück. Einer stolperte über die Gestalt eines seiner zusammengebrochenen Kumpane und stürzte an Deck. Zwei andere, die bei Gees heftigem Manöver das Gleichgewicht verloren hatten, rappelten sich mit angstgeweiteten Augen auf und trachteten, Abstand zwischen sich und den Dänen zu bringen. Hendrik Laas sah in der Tat furchterregend aus. Drohend rückte er auf sie zu. Er wollte um jeden Preis zu Anderson.
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Konnten sie den Kampf doch noch gewinnen? War doch nicht alles umsonst gewesen? 3. Roel van Dyck, ein hochgewachsener, fast schlaksig wirkender Mann mit lichtem Haarwuchs und einem kleinen Ring im linken Ohr, hob die Radschloßpistole. Er zielte auf Bert Anderson, der jetzt mit drei Piraten focht, und drückte ab. Der Schuß brach krachend und unter starker Qualmentwicklung. Durch die weißen Schwaden konnte man Anderson zusammenbrechen sehen. Hendrik Laas stieß einen wilden Schrei aus. Er stürmte vor und schwang den Morgenstern nach links und rechts. Sheldon Gee sah es und ließ den Kolderstock los. Er entschloß sich zu einem todesmutigen Einsatz. Mit einem Hechtsprung fegte Gee über die Querbalustrade des Achterdecks und warf sich auf die Piraten. Hendrik arbeitete sich immer näher an van Dyck heran. Wenn er ihn besiegen und als einen lebenden Schild vor sich festhalten konnte, war die Partie entschieden. Die Piraten würden es nicht wagen, das Leben ihres Anführers aufs Spiel zu setzen. Er selbst würde ihnen befehlen, die Waffen fortzuwerfen. Laas glaubte fest daran, er hatte van Dyck taxiert und wußte, daß dieser zwar verwegen war, aber an seinem Leben wie an nichts anderem auf dieser Welt hing. Sheldon Gee glitt unglücklicherweise von der Schulter eines Gegners ab. Er versuchte sich noch festzuklammern. aber der Kerl schüttelte ihn ab wie eine unbequeme Last. Hart landete Gee auf den Planken. Er wollte sich aufrappeln oder wenigstens die Fußknöchel des ihm am nächsten stehenden Gegners packen, um diesen zu Boden zu reißen. Doch etwas sauste auf seinen Hinterkopf nieder. Er glaubte, eine Explosion wie von sämtlichen Geschützen der „Sparrow“ zu vernehmen, dann versank alles in tiefer, erlösender Finsternis.
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Hendrik Laas hatte Sheldon Gees Scheitern verfolgt, aber er gab nicht auf. Schreiend und kämpfend drang er weiter zu dem Pulk vor, der sich um van Dyck versammelt hatte. Er konnte es schaffen, denn seine wüste, scheinbar irrsinnige Art, sich gegen die Übermacht der Feinde zu behaupten, brachte die Freibeuter aus dem Konzept. Aber dann krachte wieder ein Schuß. Hendrik Laas spürte, wie sich etwas heiß in seine rechte Schulter grub. Er ließ den Morgenstern sinken und übernahm ihn mit der linken Hand, bevor die rechte ganz erschlaffte. Dann aber flirrte es vor seinen Augen, und er konnte den Morgenstern auch mit der linken Faust nicht mehr hochheben. Er taumelte zum Backbordschanzkleid und drohte hinzusinken. Mit eiserner Überwindung hielt er sich auf den Beinen, aber er fühlte Übelkeit und ein Würgen in sich aufsteigen und wußte aus Erfahrung, daß er sich jetzt nicht mehr lange halten würde. Ewing Scott stand breitbeinig in der Nähe der Kuhlgräting. Er ließ gerade in diesem Augenblick die Muskete sinken, mit der er von hinten auf den bärtigen Pelztierjäger gefeuert hatte. Hendrik sah auch dies. In ohnmächtigem Zorn hob er den Morgenstern doch noch ein Stück gegen den Verräter und Todfeind. Dann aber entglitt die Waffe Hendriks Fingern und polterte auf die Planken. „Na also“, sagte Ewing Scott höhnisch. „Den hätten wir also auch erledigt, Sir. Ich habe ihn leider nur an der Schulter erwischt. Den Gnadenschuß überlasse ich dir.“ Er redete Roel van Dyck immer mit „Sir“ an, und van Dyck nahm diese Anrede geschmeichelt an - wie er überhaupt einen Narren an diesem Scott gefressen hatte und von dessen überragenden Fähigkeiten überzeugt war. Er hatte beschlossen, Scott demnächst zu seinem ersten Offizier und Berater zu ernennen. Van Dyck ließ sich eine geladene Pistole geben und trat auf Hendrik zu. Laas sah alles wie durch wabernde Schleier, aber er erkannte noch, daß der
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Piratenanführer auf ihn zuschritt und die Pistole hob. Laas war nie vor seinem Schicksal geflohen, aber er tat doch das einzig Richtige. Die letzte Chance, die ihm blieb, nutzte er aus, denn er sagte sich instinktiv, daß er es vielleicht schaffte und dann doch noch die Möglichkeit hatte, gegen diese Bande von Schnapphähnen und Galgenstricken vorzugehen. Er warf sich rücklings über das Schanzkleid und gewann das Übergewicht. Van Dyck drückte ab, aber Hendrik Laas' Körper entzog sich bereits seinem Blick. Die Kugel raste über ihn weg. Scott schrie wütend auf und stürzte ans Schanzkleid. Einem Kumpan hatte er das Tromblon entrissen und legte damit auf den Flüchtigen an. Hendrik Laas war mit einem mächtigen Klatscher in den Fluten gelandet und untergetaucht. Nur ein paar schaumige, auseinander laufende Wellenringe zeichneten den Platz, an dem er verschwunden war. Scott zielte auf diese Stelle und drückte ab. Der Kolben des Tromblons schlug im Rückstoß gegen seine Schulter, der Mündungsblitz stach an der Bordwand der „Sparrow“ in die Tiefe und schleuderte die Ladung vor sich her. Gehacktes Blei stob ins Wasser eine Ladung, die einen Mann durchsieben konnte. Mit Tromblons kehrte man beim Entern eines Schiffes das ganze Oberdeck frei, es gab keine besseren Waffen beim Kampf auf kurze Distanzen. Hendrik Laas hatte sich durch emsige Beinarbeit jedoch unter Wasser ein Stück von der Stelle seines Eintauchens entfernt. So befand er sich nicht in der Reichweite der Bleikörner - er entging ihnen um Haaresbreite. Er schwamm so lange unter Wasser, wie seine Lungen es zuließen, Er hatte gute Lungen und in eisigkaltem Wasser gelernt und geübt, sich fast wie eine Robbe zu bewegen. Vorläufig benutzte er den gesunden linken Arm nicht, er sparte ihn sich auf und stieß sich nur mit den Beinen voran.
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Das Salzwasser fraß sich in seine blutende Wunde. Der Schmerz raubte ihm fast die Sinne, aber wieder war es die Kraft der Selbstbeherrschung, die ihn bei Bewußtsein hielt. Hendrik schwamm lange Zeit unter Wasser, so lange, daß er zu ertrinken drohte. Aber als er dann endlich doch japsend auftauchte, konnten ihn die Piraten an Bord der Dreimast-Galeone im Dunkel der Nacht nicht mehr entdecken. Hendrik schwamm auf dem Rücken weiter — in die Richtung, in der er das Land wußte. Er keuchte, kämpfte gegen die Schmerzen und die Ohnmacht an und fragte sich, wie weit Cornwall wohl noch entfernt sein mochte. Er fragte sich auch, wie es wohl um Anderson und Gee stand. Daß Gijsbert tot war, daran hatte er keinen Zweifel. Aber er hoffte, daß wenigstens die beiden Engländer nur leicht verletzt waren und überleben würden. Er betete darum. Aber was geschah dann weiter? Van Dyck würde „Bordgericht“ über die beiden halten — eine aberwitzige, absurde Angelegenheit, an deren Ende unweigerlich die Hinrichtung der Meuterer stand. Hendrik Laas' Herz krampfte sich bei diesem Gedanken zusammen. Er biß die Zähne zusammen und verdoppelte seine Anstrengungen. Aber sehr lange hielt er es nicht durch. Irgendwann zwischen halb zwei und zwei Uhr morgens übermannte ihn die Ohnmacht. * Roger Lutz war sicher, daß die hübsche, hinterlistige Fay nicht abdrücken würde. Sie konnte nicht schießen, denn das Krachen würde bis Plymouth gehört werden. Diese Bande konnte es sich nicht leisten, einen solchen Lärm zu veranstalten. Fay hatte einen klaren Fehler begangen, und hierauf stützte Roger seinen simplen Plan. Er warf sich nach links — und Fay drückte tatsächlich nicht ab. Er prallte gegen den Eichenholztisch, riß ihn mit sich um, und genau das war seine Absicht gewesen.
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Hadley Allen stieß zwar einen Fluch aus und sprang auf den Franzosen zu, aber er konnte es auch nicht mehr verhindern, daß die Öllampe zu Boden schepperte und augenblicklich erlosch. Dunkelheit erfüllte den großen Raum des Backsteinhauses — tintenschwarze Finsternis. Roger rollte sich auf dem Boden ab und schwang wieder hoch. Er hielt sich immer noch für stocknüchtern und Eric Winlow für sturzbetrunken, aber jetzt bewies auch Eric, daß er erstens nicht total voll und zweitens keineswegs beschränkt war, wie Hadley Allen angenommen hatte. Bevor Hadleys Onkel — der Henker mochte wissen, ob sie wirklich verwandt miteinander waren — den nächsten Hieb landen konnte, hatte Eric erstaunlich gewandt die Position gewechselt. Er stand jetzt fast neben dem Kerl und spürte, wie die Benommenheit von ihm abglitt. Auch dieses benebelte Gefühl, durch das süffige Bier der Spelunke hervorgerufen, wich mit einem Schlag. Eric war plötzlich wirklich nüchtern. Hadley Allens Onkel schlug ins Leere. Er keuchte und taumelte im Dunkel des Raumes. Eric fing ihn ab und verpaßte ihm zwei Maulschellen, die wahrhaftig an Bratpfannenhiebe erinnerten. Der Onkel stolperte rückwärts durch sein Heim und landete irgendwo sehr unsanft. Es krachte und polterte, irgendetwas schien zu Bruch zu gehen. Pearl und Fay kreischten. Hadley fluchte und wollte sich auf den Franzosen werfen, aber er fand den Mann nicht. Roger packte plötzlich Fay von hinten. Er umklammerte mit der einen Hand ihr Gelenk und entwand ihr mit der anderen die Pistole. Sie jammerte und glaubte, er würde ihr jetzt den entzückenden Allerwertesten versohlen, aber Roger stieß sie nur auf den fluchenden Hadley zu, mit dem sie auch tatsächlich zusammenprallte und ihn umriß. Eric ging zu der Stelle, wo der arme, kranke, hilfsbedürftige Onkel gelandet war.
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„Na warte“, sagte er grollend. „Dir wird es noch leid tun, mir unters Kinn gehauen zu haben, du Kohlkopf:' Er hätte lieber nicht sprechen sollen, denn jetzt hatte er Pearl verraten, wo er sich befand. Sie war plötzlich dicht vor ihm, hängte sich an ihn und bearbeitete sein Gesicht mit Katzenkrallen. Eric riß sich von ihr los, aber sie stellte ihm ein Bein, und der Koch landete auf den harten, ächzenden Holzbohlen des gastlichen Hauses. Dummerweise verlor er dabei den schweinsledernen Beutel aus seinem Wams. Das gab einen plumpsenden Laut. Man konnte hören, wie sich die darin enthaltenen Perlen und Edelsteine knirschend aneinander rieben. Pearl wertete diese Laute richtig und ließ von Eric ab. Schnaufend kroch sie über den Boden, und auch der treusorgende Onkel schien sich in Bewegung gesetzt zu haben, denn man hörte ebenfalls Kriechgeräusche. Onkel und Vater - es schien ihm mehr an seinen beiden Töchtern als an dem fluchenden Neffen Hadley gelegen zu sein. Er kümmerte sich ganz rührend um die gut bepackte, wehrhafte Pearl, betastete ihr Gesicht und ihre Hände, als sie zusammentrafen, und nahm ihr dann den Beutel ab, den sie an sich gebracht hatte. Hadley hatte sich von Fay gelöst, so angenehm ihm dieser Kontakt unter anderen Voraussetzungen gewesen wäre. Er kroch ebenfalls durch den Raum, stieß fast mit Eric zusammen und entging einem gewaltigen Hieb, den Eric aufs Geratewohl in die Finsternis abgefeuert hatte. Eric und Roger vernahmen ein Scharren und Poltern, dann etwas hastig Gezischeltes. „Die Verbindungstür“, raunte Roger. „Laß sie nicht entwischen, Eric. Versperr ihnen den Weg.“ „Darauf kannst du Gift nehmen“, murmelte der aufgebrachte Koch der- „Vengeur“. Er erhob sich und stapfte dorthin, wo er die Verbindungstür wußte, jenes verdammte, verhängnisvolle Loch, aus dem heraus ihm der verfluchte Vater von Hadleys Basen den Fausthieb verpaßt hatte.
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Eric erreichte den Rahmen der Tür und packte fast im selben Augenblick jemanden, der unter seinem Griff zappelte und schrie und Flüche ausstieß, die eine in Ehren ergraute, hartgesottene Hafenhure noch zum Erröten gebracht hätten. Schritte schienen davonzuschleichen, aber Eric Winlow war nicht sicher. „Eric“, sagte Roger Lutz. „Hast du sie?“ „Ja.“ „Warte ...“ „Laß mich los“, keifte Fay plötzlich los. „Faß mich nicht an, du - du Untier.“ „Mademoiselle“, erwiderte Roger in. gedämpftem Tonfall. „Laß dich bitte nicht weiter aus, denn das ist sehr undamenhaft. Einen Moment bitte...“ Er hielt sie mit nur einer Hand fest, und zwar an einem ihrer bezaubernd schlanken, ranken Arme. Da konnte sie soviel zerren und sich winden, wie sie wollte - sie kam nicht frei. Roger gelang es, den Tisch mit der anderen Hand hochzuziehen und auf seine vier Beine zu stellen. Er stieß mit dem Fuß gegen die Öllampe, lächelte, zog Fay zu sich heran und sagte sanft: „Schätzchen, bück dich und hebe die Lampe auf, bitte sehr. Es wird noch etwas Öl darin sein. Entfache die Flamme, gib dir Mühe, es wird dir gelingen. Ich möchte nicht grob zu dir sein.“ „Scheusal“, fauchte sie. Aber er überhörte es. Die Lampe wieder anzuzünden, war keine Sache von Sekunden, aber endlich flackerte die Flamme doch wieder auf und verbreitete einen rötlichen, anheimelnden Schein in dem großen Raum. Roger. blickte entgeistert auf Eric. Eric stand hinter Pearl und hatte die Frau mit einem Arm fest an seine Brust gepreßt. „Aber, Mann“, stieß Roger betroffen aus. „Ich habe dich doch gefragt, ob du sie ...“ „Ich habe sie“, antwortete der Koch, und in gewissem Sinne stimmte das ja auch. Winlow blickte sich jetzt ebenfalls verdattert um, denn er hatte festgestellt, daß jemand in der illustren Versammlung fehlte. Sie - damit hatte Roger selbstverständlich nicht die Ladys, sondern
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Hadley Allen und den schlagfertigen Onkel gemeint. Die beiden waren verschwunden. Nur Hadleys Mütze lag auf dem Fußboden, er hatte sie auf der Flucht verloren. Eric Winlow blickte starr auf die Mütze. Es arbeitete in seinem Kopf. Roger starrte die bildhübsche Fay an. Sein Gesicht war von steinerner Härte, und in seinen Augen blitzte es zornig, doch er war erstaunlich ruhig, als er zu ihr sagte: „Jammerschade, daß eine, die so aussieht wie du, sich zu solchen Gemeinheiten herabläßt. Hinter der schönen Fassade verbirgt sich nicht immer ein ebenso wunderbares Inneres. Dumm genug von uns, auf deine hübsche Larve hereinzufallen, Mademoiselle. Aber nun heraus mit der Sprache. Wo stecken die beiden?“ „Welche beiden?“ fragte sie patzig. „Du willst wirklich, daß ich dir den Hintern versohle?“ erkundigte er sich. Eric Winlow hatte sich dank der intensiven Betrachtung von Hadley Allens Mütze des Beutels aus Schweinsleder erinnert. Mit einer Hand hielt er Pearl fest, mit der anderen griff er in die Wamstasche. Dann brüllte er der üppigen Schönheit ins Ohr: „Wo ist der Beutel?“ „Was für ein Beutel?“ „Du weißt ganz genau ...“ „Ich weiß nichts von einem Beutel“, behauptete sie höhnisch. „Artley hat ihn geklaut!“ schrie Eric, daß der Frau die Trommelfelle dröhnten. „Gib es zu! He, Roger, die beiden Lausekerle müssen hier durch die Tür entwischt sein, bevor ich ...“ „Ich kenne keinen Artley!“ rief Pearl erbost, und das stimmte diesmal wirklich. Eric hatte sich wieder mit Allens Vornamen vertan. Roger Lutz ließ Fay los, durchquerte den großen Wohnraum, drängte sich an Eric und Pearl vorbei und lief durch die offene Verbindungstür. Er hatte den dahinter befindlichen düsteren Flur noch nicht zur Hälfte hinter sich gebracht, da ertönte Hufgetrappel. Roger fluchte, zückte seine Pistole, spannte den Hahn und war bereit, auf die beiden
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Schurken zu feuern, ohne noch Rücksicht auf ihr Leben zu nehmen, aber er gelangte nicht zum Schuß. Der typische Stallgeruch verriet dem Franzosen, in welche Richtung er sich zu wenden hatte. Er brachte noch zwei Türen hinter sich und erreichte einen Anbau, den man von der Front des Hauses nicht sehen konnte. Hier drängten sich Kühe und Schafe aneinander und stießen dumpfe, unruhige Laute aus. Ganz hinten in dem ausgedehnten Raum schien ein noch etwas größeres Tier zu stehen. Roger sah das niedrige Viereck, das sich nach außen öffnete — die Stalltür. Er lief hin und stürzte ins Freie. So konnte er gerade noch die beiden Männer auf den beiden Pferden erkennen, die sich im Galopp in westlicher Richtung entfernten. Roger stieß Verwünschungen in seiner Muttersprache aus. Er nahm wahrhaftig kein Blatt vor den Mund. Aber durch Fluchen führte er nun mal keine Wende der Situation herbei, der Beutel aus Schweinsleder war weg und befand sich — zu dieser Feststellung benötigte man soviel Scharfsinn wie ein Kamel — in Hadleys und dessen „Onkels“ Händen. Roger kehrte in den Stall zurück. Er blickte sich noch einmal um und stellte fest, daß das eine Tier, dem er vorher kaum Beachtung geschenkt hatte, ein Pferd war. Roger hörte auf zu fluchen und eilte in die einfache Box, die sich neben zwei anderen simpel zusammen gezimmerten, leeren Boxen befand. Das Pferd entpuppte sich als ein Falbe mit grobknochigen und nicht besonders langen Beinen. Alles in allem schien er sich aber zum Reiten zu eignen, und Roger Lutz hielt nach einem Sattel Ausschau. Er fand ihn — Hadley Allen und sein Komplice hatten den schweren Ledersitz zu Boden gerissen, als sie getürmt waren. Sie hatten wohl gehofft, daß die Männer der „Vengeur“ ihn nicht entdecken würden. Aber Roger war für seinen Scharfblick bekannt. Er grinste grimmig, wuchtete den Sattel hoch und legte ihn dem Falben über. Zwar stampfte das Tier mit den Hufen auf
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und schnaubte aufgebracht, aber Roger ließ sich dadurch nicht beeindrucken. Er zurrte den Sattel fest und legte dem Pferd das Zaumzeug über. Als er sich gerade anschickte aufzusitzen, tauchte Eric Winlow auf. Er zerrte Pearl und Fay hinter sich her, die er an den Armen gepackt hatte. Sie kreischten und schimpften, aber er ließ sie nicht los. „Eric!“ rief Roger. „Ich folge den Kerlen und versuche, uns den Beutel zurückzuholen. Lauf du in die Stadt zurück. Hole Verstärkung! Ich reite in westlicher Richtung an der Küste entlang, denn dorthin sind diese Halunken geritten.“ Er schwang sich in den Sattel. Der Falbe tänzelte und trachtete, seinen unerwünschten Herrn gegen die Wände der Box zu drängen, aber Roger Lutz war ein guter Reiter. Er ließ sich weder die Beine zerquetschen noch abwerfen. Er kriegte den Falben gut in die Gewalt und dirigierte ihn aus dem Stall ins Freie. „Eric!“ rief er noch einmal. „Nun lauf schon los! Auf was wartest du noch?“ Damit trieb er das Pferd an. Es sprang aus dem Stand in einen nervösen Trab, lief dann schneller und verfiel kurz darauf in den Galopp. Eric zog Pearl und Fay zu sich heran. Beim Anblick seiner zornigen Miene kriegten sie es jetzt doch mit der Angst zu tun. Fay begann am ganzen Körper zu zittern. Pearl hatte das Gefühl, das Herz springe ihr aus der Kehle. „Harte Schädel haben wir“, sagte der Koch der „Vengeur“. „Und geistesgegenwärtig sind wir auch, sonst wäre es um uns geschehen gewesen. Aber jetzt sind wir doch die Gelackmeierten, denn der Beutel ist weg. Schämt ihr euch gar nicht, ihr dummen Ziegen?“ „Verzeih uns“, stammelte Fay. „Wir — wir sind doch so arm ...“ „Wir haben kaum was zu beißen“, beteuerte auch Pearl. „Gewäsch“, erklärte Eric zornig. „Und auf diese krumme Tour kommt ihr bestimmt nie auf einen grünen Zweig. Ich hätte große Lust, euch übers Knie zu legen.“
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„Tu's nicht“, flehte Fay. Eric Winlow stieß die beiden von sich weg. Pearl stolperte quer durch den Stall. Fay rutschte aus, fiel hin, rappelte sich in ihrer Angst aber sehr flink wieder auf und folgte der flüchtenden Pearl — die tatsächlich ihre Schwester war — in die Nacht hinaus. Eric stürmte in die Wohnstube zurück, verließ das Haus und eilte nach Plymouth. Er lief schneller, als man es ihm bei seiner Körperfülle zugetraut hätte. 4. Der pure Zufall wollte es, daß zur selben Zeit der Seewolf mit einer Gruppe seiner Crew am südwestlichen Ortsrand von Plymouth spazierenging. Besser ausgedrückt: Sie vertraten sich die Beine und genossen die frische Nachtluft, denn sie waren soeben am Ende eines zünftigen Zuges durch die Kneipen angelangt. Hasard konnte es seinen Männern nicht verübeln und schon gar nicht verweigern, daß sie in Plymouth von Kneipe zu Kneipe zechten und sich mit lebenslustigen, bereitwilligen Mädchen die Zeit vertrieben. Im Gegenteil, er ließ ihnen in diesen Tagen so viele Freiheiten wie nur möglich und begleitete sie, denn er wußte ja, welches Nachholbedürfnis seine Crew hatte. Auch er verspürte etwas von diesem Mangel an Landgang und Abwechslung, dem sie während der letzten Wochen und Monate unterworfen gewesen waren-- — und wenn sie nicht hier in Plymouth endlich mal wieder die Mäuse auf dem Tisch tanzen ließen, wo sollten sie es dann wohl tun? Wie hatten sie sich danach gesehnt, wie oft hatten sie von dem Tag gesprochen, an dem sie wieder in Plymouth eintreffen würden! Jetzt war es soweit, und die Freude war doppelt groß gewesen, weil sie Jean Ribault, Karl von Hutten und die ganze Mannschaft der „Vengeur“ wiedergetroffen hatten. Der „wichtigste Besuch“ hatte der „Bloody Mary“ von Nathaniel Plymson gegolten. Dem dicken Plymson war fast die Perücke Vom Haupt gefallen, als er seine „lieben
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alten Freunde“ hatte eintreten sehen. Seine Stoßgebete zum Himmel hatten ihm nichts genutzt. Ein Sturm war durch die „Bloody Mary“ gefegt, die er, Plymson, erst vor kurzem hatte renovieren lassen. Vorläufig konnte man in der „Bloody Mary“ nicht mehr feiern, und darum vergnügten sich die Seewölfe und die Männer der „Vengeur“ in sämtlichen anderen Kneipen und Spelunken der Stadt. Sie hatten sich geschworen, dort alles „auszuprobieren“, was es auszuprobieren gab. Dan O'Flynn warf sich mächtig in die Brust, stemmte die Fäuste in die Seiten und holte ein paarmal tief Luft, während er zur See blickte. „Mann“, sagte er schließlich. „Was sind das doch für Zeiten!“ „Zeiten, um Helden zu zeugen“, erwiderte Edwin Carberry. Er verschränkte die Arme vor der Brust und grinste so glückselig, wie er schon lange nicht mehr gegrinst hatte. „Ja“, meinte Ferris Tucker mit einem Seitenblick zum Profos. „Helden zeugen, sich zur Ruhe setzen und eine Familie gründen, das wäre was, nicht wahr, Ed? Ich sag's ja, unser Profos wird langsam alt und behäbig. Es dauert nicht mehr lange, und keine zehn Pferde bringen ihn wieder 'raus auf See.“ „Was?“ Carberrys kantiger Schädel ruckte herum. „Wie? Sag das noch mal, Tucker, du holzköpfiger Bohrwurm. Dir ist wohl nicht gut, was?“ Wenn er wütend wurde, redete er Ferris und die anderen gern mit ihren Nachnamen an. „Familie gründen“, sagte nun auch Old Donegal Daniel O'Flynn so verächtlich, als sei das was Anrüchiges. ..Das ist was für Stubenhocker und Duckmäuser.“ „Ha, und man sieht ja, was dabei herauskommt“, erklärte der Profos grinsend und schaute dabei Dan an. „Lauter Prachtexemplare.“ „Außerdem haben wir schon genug kleine Helden“, sagte jetzt der Seewolf. „Oder habt ihr Philip und Hasard vergessen?“ „Keine Spur“, entgegnete der alte O'Flynn. „Ich halte mir immer vor Augen, was für
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eine verdammte Arbeit und Aufregung wir mit den Kerlen haben. Die Burschen hecken nur Streiche aus, und zu Schiffsjungen taugen sie nicht, weil sie noch zu klein sind.“ „Jetzt hör aber auf“, mischte sich Ben Brighton ein. „Dir sind die Zwillinge doch genauso ans Herz gewachsen wie uns, Donegal.“ „Mir? Daß ich nicht lache!“ „Du würdest sie wohl hier in Plymouth lassen, wenn wir wieder auslaufen, Donegal, wie?“ sagte der Profos drohend. „Aber klar doch.“ „Was für ein herzloser Halunke du doch bist“, sagte Carberry. „Ein richtiger Rabenvater“, verkündete Dan respektlos. „Ich kann's bestätigen.“ „Und ein Raben-Opa“, fügte Ferris Tucker hinzu. „So was haben wir gern. Ich finde, es wird Zeit, daß Donegal endlich abheuert. Grantige Spökenkieker und altes Eisen können wir an Bord der ,Isabella` doch nicht gebrauchen.“ Die Männer lachten, und der Seewolf fiel unwillkürlich mit ein. Nur Old O'Flynn lachte nicht mit. Er traf ernste Anstalten, sein Holzbein abzuschnallen. Das Holzbein war eine gefährliche Waffe. Wenn er es auf den Rücken der Männer tanzen ließ, wie er immer wieder androhte, war das alles andere als eine vergnügliche Angelegenheit. „Ihr miesen Flöhe“, zischte der Alte. „Ihr glaubt wohl, ihr könnt einen alten Seemann dumm anpöbeln, was? Ich werde euch schon zeigen, was ...“ „Donegal“, sagte Carberry. Er brachte es fertig, stockernst zu werden. „Du hast soeben deinen Kapitän durch einen unflätigen Ausdruck beleidigt.“ „Ich - äh, Sir, du bist da natürlich ausgeklammert“, versicherte der Alte daraufhin Hasard. Er richtete sich wieder auf und vergaß sein Holzbein. Seine Wut verrauchte. „Schon gut, Donegal“, erwiderte Hasard. „Ich habe nichts gehört.“ „Und noch was ...“ „Ja?“
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„Wer paßt heute abend eigentlich auf die Jungen auf?“ „Shane“, erwiderte Hasard. „Ach ja, richtig“, sagte der Alte. „Aber bist du wirklich überzeugt, daß dieser alte Eisenbieger der richtige Mann dafür ist? Hölle und Teufel, der ist imstande und pennt ein, und dann weckt er Philip und Hasard durch sein dämliches Schnarchen auf. Dieser grobschlächtige Kerl weiß doch gar nicht, wie man mit Kindern umgeht.“ „Ich habe auch den Kutscher bei Philip und Hasard gelassen“, sagte Hasard lächelnd. „Er kann Shane ja ein bißchen Petersilie in den Rachen stopfen, wenn der zu schnarchen anfängt. Morgen nacht haben Shane und der Kutscher Ausgang, und dann kannst du ja die Wache bei den Zwillingen übernehmen, Donegal.“ „Liebend gern. Wenigstens brauche ich mich dann nicht über diese Bande von Saufbolden zu ärgern.“ „Hört, hört“, sagte Ben Brighton. „Hier spricht der Mann, dem die Jungen lästig sind - und der sie glatt in Plymouth lassen würde.“ „Ja. Verwöhnen würde er sie, aber er hat Angst, sich vor uns zu blamieren“, fügte Dan hinzu, der seinem Vater gegenüber immer eine dicke Lippe riskierte. Er wußte aber auch, wo die Grenze war, denn im Grunde hatte er vor seinem Vater doch eine gehörige Portion Achtung. „Wißt ihr, was ihr mich könnt?“ fauchte Old O'Flynn. Er kam aber nicht mehr dazu, das Zitat auszusprechen, denn in diesem Moment wies Dan durch einen verhaltenen Ruf auf etwas hin, das sich von Südwesten auf sie zubewegte. „Was ist, kriegen wir Besuch?“ sagte Ben Brighton. „Oder Ärger vielleicht?“ fragte Ferris Tucker. „Das ist ein Mann“, erklärte Dan O'Flynn, der die besten Augen von der ganzen Crew hatte. „Und zwar ein ziemlich dicker.“ „Plymson?“ fragte der Profos. „Ach, Unsinn“, meinte Ben. „Der hat doch genug mit dem Aufräumen in seiner Kneipe zu tun.“
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Der Mann näherte sich, begann zu rufen und zu winken, und Hasard sagte: „Der Teufel soll mich holen, wenn das nicht Eric Winlow ist, Jean Ribaults Koch.“ Es stimmte, die anderen fünf konstatierten es nun auch und hatten der Äußerung ihres Kapitäns nichts hinzuzufügen. Winlow gelangte schnaufend bei ihnen an und begann, ziemlich zusammenhanglos zu reden: „Überfall - eine verteufelte Falle — diese blöden Frauenzimmer — Teufelsweiber — der Beutel ist weg— Roger hetzt die Hunde — wo ist unsere Crew? Wo steckt unser Kapitän?“ „Nun mal der Reihe nach, Eric“, sagte der Seewolf. „Jean und die anderen von der ,Vengeur` haben sich auf sämtliche Kneipen des Hafenviertels verteilt. Wir haben uns kurzfristig von ihnen getrennt, um mal eine Brise Luft zu schnappen. Aber selbstverständlich sind wir sofort für dich da, wenn du Hilfe brauchst. Hat dich jemand geschlagen? Dein Kinn sieht etwas ramponiert aus.“ „Ja“, erwiderte der Koch aufgebracht. „Und das passierte folgendermaßen.“ Er berichtete. Die Seewölfe blickten sich untereinander an, dann, als Eric Winlow am Ende seiner Schilderung angelangt war, sagte Old O'Flynn: „Ich weiß, wo wir Pferde kriegen.“ „Gut“, sagte Hasard. „Führ uns hin, Donegal. Anschließend sagst du den anderen Bescheid, während wir losreiten und nach Roger Lutz und den beiden Perlendieben suchen.“ * Sie ergatterten sechs Pferde und preschten wenig später durch die Nacht. Eric Winlow ritt auf einem Schimmel neben Hasard und führte ihn zu dem Haus, in dem die ganze peinliche Angelegenheit passiert war. Danach fiel er merklich zurück, denn der Schimmel trug schwer an seiner Last und schien gar nicht damit einverstanden zu sein, einen so dicken Menschen durch die Landschaft zu transportieren. Hasard saß im Sattel einer braunen Stute. Als er sich in den Steigbügeln
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hochstemmte und sein Gewicht. geschickt verlagerte, wurde sie noch schneller und trug ihn in einem rasenden, halsbrecherischen Galopp nach Westen. Ben und Dan lagen um einige Längen hinter dem Seewolf, es folgten Ferris Tucker und der Profos und erst dann Eric. Hasard hielt so aufmerksam nach allen Seiten Ausschau, wie ihm das vom Rücken des dahinjagenden Tieres aus möglich war. Nach einem etwa viertelstündigen Ritt wollte er schon die Hoffnung aufgeben. Roger Lutz schien vom Erdboden verschluckt zu sein. Natürlich war das nur ein oberflächlicher Eindruck, der Franzose konnte überall in der näheren Umgebung stecken, doch es war sehr schwer, ihn in der Dunkelheit zu entdecken. Dann aber peitschte ein Schuß auf. Hasard orientierte sich nach dem Laut und lenkte seine Stute etwas weiter landeinwärts. Das Gelände war grasbewachsen und nicht steinig, aber trotzdem mußte er höllisch achtgeben, daß das Pferd nicht in eine Bodensenke oder gar in das Loch eines Kaninchen- oder Fuchsbaus trat und stürzte. Er war um das Wohlbefinden des Tieres sehr besorgt und verlangsamte die Gangart, als das Land hügeliger und unübersichtlicher wurde. Ben, Dan, Ed und Ferris konnten etwas aufrücken, und auch Eric Winlow, den man schon aus den Augen verloren hatte, wurde auf einer der hinter ihnen liegenden Hügelkuppen wieder sichtbar. Hasard erblickte Roger Lutz' Falben. Das Tier stand in einer Senke zwischen zwei Hügeln und hatte den Kopf gesenkt, um offensichtlich von dem Gras zu fressen. Der Schuß schien das Pferd nicht beunruhigt zu haben. Wahrscheinlich war es daran gewöhnt worden, bei derartigen Geräuschen nicht zu scheuen und davonzulaufen. Wo aber steckte Roger? Hasard saß ab, zog seine doppelläufige Reiterpistole, lief in die Senke hinunter und forschte nach dem Verbleib des Franzosen, konnte ihn aber immer noch nicht entdecken. Er schlich an dem Falben
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vorbei, stieg den gegenüberliegenden Hang hinauf - und vernahm ein feines Zischen. Roger hatte es ausgestoßen. Er lag in einer muldenförmigen Ausbuchtung, die durch die Kuppe des nächsten Hügels in nördlicher Richtung verlief, hatte sich halb umgedreht und winkte Hasard zu. Er hatte ihn erkannt — trotz der Entfernung, die noch zwischen ihnen lag, und trotz der Dunkelheit. Hasard kroch zu ihm in die Mulde und ließ sich neben ihm nieder. „Alle Achtung, du hast aber gute Augen, Roger“, raunte er. „Damit könntest du unserem Dan O'Flynn glatt Konkurrenz machen.“ „Ein ausgezeichnetes Sehvermögen bewahrt vor Irrtümern“, entgegnete der schlanke, schwarzhaarige Franzose. „Vielleicht hätte ich dich sonst eben für einen meiner Gegner gehalten und mit der Pistole auf dich angelegt.“ „Hast du schon nachgeladen?“ „Ich habe überhaupt nicht gefeuert.“ „Der Schuß, den wir vernommen haben ...“ „Den haben die Gauner abgegeben“, flüsterte Roger Lutz. Er deutete nach Norden zum Nachbarhügel hinüber. „Siehst du die Buschgruppe? Dort haben sie sich verschanzt. Sie wollten mir einen Hinterhalt legen, aber ich habe die Gefahr gewittert, meinen Falben unten in der Senke zurückgelassen und bin zu Fuß hier heraufgestiegen. Die Schufte sahen mich auftauchen und drückten ab. Aber ich war geistesgegenwärtig genug, mich sofort fallen zu lassen.“ „Eric hat mir alles erzählt, Roger.“ „Seid ihr beide allein da?“ „Nein, Ben Brighton, Ferris Tucker, Ed Carberry und Dan O'Flynn sind auch dabei.“ „Na, großartig“, wisperte der Franzose. „Mit dieser Elitetruppe werden wir die Strolche schon packen. Die Kerle wissen, daß ich die Pistole bei mir habe. Sie haben jetzt Angst, aus den Büschen zu kriechen und sich zu verdrücken. Sie wissen, daß ich einen von ihnen verletzen könnte.“ Hasard spähte zu dem Strauchwerk, in dem die beiden Juwelendiebe lagen.
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„Eines ist mir nicht ganz klar“, sagte er gedämpft. „Wenn der eine Bursche eine Pistole hat, hätte er doch schon in dem Haus, in das sie euch gelockt haben, auf euch schießen können.“ Rogers Züge verhärteten sich. „Er hätte es wohl auch getan, wenn ich nicht den Tisch mit der Öllampe darauf umgestoßen hätte. Ich meine das so: Sie wollten nicht feuern, weil man jeden Schuß in Plymouth gehört hätte, aber auf unsere Gegenwehr hin blieb ihnen eigentlich nichts anderes übrig. Nur hatten sie im Stockdunkeln die Befürchtung, sich gegenseitig über den Haufen zu schießen.“ „Ja, das erscheint mir logisch. Ob sie wohl genügend Pulver und Kugeln bei sich haben, um sich längere Zeit zu halten?“ „Ich habe keine Ahnung.“ „Wir müssen damit rechnen, daß sie die Pistole mehrmals nachladen können.“ „Ja. Was hast du vor?“ „Hör zu“, raunte Hasard Jean Ribaults Decksmann zu. „Du mußt die Kerle irgendwie ablenken. Ich versuche inzwischen, irgendwie an sie heranzukommen. Ich robbe zum Nachbarhügel hinüber.“ „Das ist zu riskant.“ „Ich schlage einen weiten Bogen.“ „Monsieur“, erwiderte Roger Lutz grinsend. „Du bist ein Teufelskerl - und ich tue alles, um dir dabei zu helfen.“ Hasard drehte sich zu seinen Männern um, die mittlerweile auch eingetroffen waren. Er bedeutete ihnen, sich zu ducken, dann setzte er ihnen die Lage auseinander. Eric Winlow schob sich als letzter in die grasbewachsene Mulde. Er bemühte sich redlich, sein Schnaufen zu unterdrücken. Seiner Miene konnte man entnehmen, daß er die erlittene Schmach immer noch nicht richtig verarbeitet hatte.. Als er vernahm, was der Seewolf plante, erhob er Einspruch. „Nein“, flüsterte er. „Das mit dem Anschleichen - das übernehme ich. Chatterley und diesen Hundesohn von einem Onkel knöpfe ich mir vor. Wir können uns doch vom Seewolf nicht die
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Kastanien aus dem Feuer holen lassen, Roger.“ „Hadley“, korrigierte der Franzose. „Wer ist das, Hadley?“ „Der Bursche, den du eben Chatterley genannt hast.“ „Das ist mir egal“, zischte der korpulente Mann. „Ich bin sowieso schon ganz konfus, mach mich nicht noch verrückter.“ „Das kommt vom Bier“, erklärte Roger. „Nein, ich bin nüchtern“, erwiderte der dicke Koch störrisch. „Nun mal immer mit der Ruhe“, wisperte Ben Brighton. „Wir wollen doch alle Juwelen und Perlen wiederholen, nicht wahr? Darin sind wir uns einig.“ „Völlig“, erwiderte Winlow. „Es ist ja mein Schweinslederbeutel.“ „Also, Schluß der Debatte“; sagte der Seewolf. „Mein lieber Eric, du hast dich meinem Kommando zu unterwerfen, ob du nun zu meiner Crew zählst oder nicht. Ben, Ferris, Ed, Dan - gebt mir Feuerschutz, klar?“ „Aye, aye, Sir“, murmelten die Männer. Winlow kratzte sich am Kopf, als er den Seewolf davonkriechen sah. Er rieb sich auch das Kinn, aber das Kinn schmerzte immer noch, und Eric fühlte sich auf üble Weise an die Vorfälle erinnert. Er ließ die Hand sinken und unterdrückte einen Seufzer. Hasards vier Männer verteilten sich rasch auf die Hügelkuppe. Dann hob Roger Lutz etwas den Kopf und rief: „Hadley Allen - hallo, Hadley! Ich bin hier, mein Freund, und ich möchte von dir wissen, ob du zu Verhandlungen bereit bist!“ Die Antwort war ein Schuß. Es krachte, die Kugel raste auf die Hügelmulde zu, und die Männer der „Isabella“ und der „Vengeur“ zogen die Köpfe ein. Roger richtete sich wieder auf und schrie: „Das ist sehr dumm von dir, Allen! Verdammt, wir kriegen dich, das schwöre ich dir - und dann gnade dir Gott!“ Allen und sein „Onkel“ - ob die beiden wirklich miteinander verwandt waren, wußte man ja immer noch nicht antworteten nicht. Es war das Klügste, was
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sie tun konnten, denn auf diese Weise verrieten sie nichts Näheres über ihren Standort. Die Qualmwolke, die über den Büschen des Nachbarhügels aufgestiegen war, hatte zwar Auskunft darüber gegeben, wo sich der Schütze aufhielt, aber inzwischen konnte er die Position schon wieder gewechselt haben. „Rück den Beutel freiwillig wieder heraus!“ forderte Roger den Mann auf. „Dann passiert dir nichts. Hörst du mich? Sei vernünftig und spiele nicht den Helden!“ Er erhielt wieder keine Antwort. Roger wiederholte seine Aufforderung, er redete und redete und hoffte, daß der Seewolf die Distanz zum gegenüberliegenden Hügel mittlerweile wenigstens gut zur Hälfte überbrückt hatte. 5. Hasard hatte einen Bogen geschlagen und schob sich nun den Hang hinauf, der zum Gegner führte. Er näherte sich der Buschgruppe von Osten und hoffte, daß die beiden Strauchdiebe nicht auf den Gedanken verfielen, in diesen Minuten ausgerechnet in diese Richtung zu blicken. Er hatte sich genau gemerkt, an welcher Stelle die kleine weiße Qualmwolke des Pistolenschusses in den Himmel aufgestiegen war. Der Schütze war jetzt mit dem Nachladen beschäftigt, aber sicherlich würde er damit fertig sein, wenn der Seewolf ihn erreichte. Es war nur gut, sich in dieser Beziehung keinen falschen Vorstellungen hinzugeben. Sicher war, daß die Juwelendiebe nur über eine Pistole verfügten. Anderenfalls hätten sie zweimal rasch hintereinander auf Roger Lutz und die Männer der „Isabella“ gefeuert. Roger erwiderte den Schuß nicht. Das war vernünftig von ihm. Er steigerte auf diese Weise die Nervosität des Gegners. Hadley Allen und sein obskurer Onkel konnten aus dem Gebüsch nicht heraus, weil Roger dann einen von ihnen ziemlich problemlos niederstrecken konnte. Sie hatten sich praktisch selbst eine Grube gegraben, als
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sie ihm den Hinterhalt bereitet hatten. Sie saßen jetzt selbst in der Falle. Und noch etwas: Sie mußten das Hufgetrappel vernommen haben, mit dem sich die Pferde von Hasard, Ben, Ferris, Ed, Dan und Eric genähert hatten. Sie wußten also mit größter Wahrscheinlichkeit, daß sie noch mehr Verfolger am Hals hatten. Daß sie trotzdem nicht aufgaben, sprach für ihren Starrsinn. Hasard fragte sich immer wieder, wie sie sich den Ausgang dieses nächtlichen Abenteuers wohl vorstellten, als er auf die Buschgruppe zurobbte. Er dachte nicht weiter darüber nach. Noch schätzungsweise zehn Yards trennten ihn von dem Gesträuch. Er hätte einen Stein aufheben und hinüberschleudern können, aber leider gab es keine Steine in seiner Reichweite. Wie konnte man den Heckenschützen provozieren und dazu veranlassen, wieder mit der Pistole zu feuern? Roger Lutz übernahm das Manöver. Er erhob sich plötzlich aus seiner Mulde, gestikulierte und schrie: „Allen, ich appelliere an dein Gewissen! Sei nicht so töricht! Streich die Flagge! Du hast mein Wort, daß dir ...“ Weiter gelangte er nicht, denn aus dem Gebüsch wurde die Erwiderung gegeben. Eine rötliche Feuerzunge leckte sehr dicht vor Hasards Gesicht zwischen Blättern und Zweigen hervor. Hasard sah sogar den Pistolenlauf, und er hörte einen gepreßten Fluch, mit dem der Schütze sein Versagen quittierte. Die Kugel war wieder über Roger weggesirrt, weil der sich gedankenschnell auf den Bauch geworfen hatte. Hasard schwang hoch, legte den letzten Schritt zurück, der ihn noch von dem Strauchwerk trennte, streckte die Arme vor und unternahm einen Hechtsprung in die Büsche. Er prallte mit dem Schützen zusammen, als der sich gerade ein Stück aufrichten wollte. Hasard riß ihn mit sich zu Boden, und dann wälzten und balgten sie sich in dem Dickicht. Dicht neben ihnen rappelte sich
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der zweite Halunke mit einem entsetzten Keuchen auf. Es war deutlich zu hören, wie er aus den Sträuchern flüchtete. Hasard kriegte den einen Arm frei und schlug mit der Faust zu. Aber sein Gegner war ein gut sechs Fuß großer, muskulöser Kerl — nach Eric Winlows Beschreibung zu schließen, konnte es sich nur um Hadley Allens ominösen Onkel handeln. Der Mann konnte eine Menge einstecken, es schien, als habe ihn Hasard überhaupt nicht getroffen. Der Seewolf drehte sich, packte zu und verhinderte, daß der Kerl ihm entwischte, indem er dessen rechten Fuß mit einem Ruck zu sich heranzog. Hadleys Onkel hatte sich gerade etwas hochgestemmt, landete nun aber mit einem Plumpser wieder zwischen den Zweigen der Büsche. Hasard wollte der Sache ein Ende setzen. Er wendete einen Griff an, den der Mönch von Formosa ihm beigebracht hatte. Der Gegner rollte sich stöhnend auf dem Untergrund hin und her. Er übertrieb jedoch, wie Hasard etwas später feststellte — er konnte sich aufrichten, Hasards nächstem Griff entweichen und aus dem Gebüsch fliehen. Er lief den Hügel hinunter, dummerweise aber in die Richtung in der sich seine Verfolger befanden. Hadley Allen indes war in die entgegengesetzte Richtung geflohen,. und weder Roger noch Eric, noch die Männer der „Isabella“ hatten sein Verschwinden bemerkt. „Ben!“ schrie der Seewolf. „Sir?“ Hadleys Onkel erkannte seinen verhängnisvollen Irrtum. Er versuchte, einen Haken zu schlagen und die Richtung zu ändern, aber in diesem Augenblick schoß Eric Winlow mit beachtlicher Geschwindigkeit den Hang hinunter, auf dem sie gelauert hatten. Er raste auf den Kerl zu, erreichte ihn und stoppte nicht um einen Deut ab. So traf sein Bauch den Körper des Gegners, und allein der Aufprall reichte aus, um Hadleys Onkel wieder von den Beinen zu holen.
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Er stürzte. Eric bückte sich nach ihm und landete einen Schlag, der ungefähr die Wucht hatte wie der Hieb, den der Kerl ihm unters Kinn verpaßt hatte. Hadleys Onkel, durch Hasards Angriff doch einigermaßen angeschlagen, brach zusammen. „Ben, bring mir sofort mein Pferd!“ rief Hasard. Er lief los, zog vorsichtshalber die doppelläufige Reiterpistole und suchte nach der Gestalt von Hadley Allen. Wenig später erging es ihm aber so ähnlich wie Roger Lutz, als der in den Stall des Hauses von Pearl und Fay eingedrungen war. Er hörte Hufschlag, der sich rasch entfernte. Er lief weiter und sah den Reiter, der in weitem Bogen zunächst nach Nordwesten, dann nach Westen davonpreschte. Hasard hob die Pistole, ließ sie aber gleich wieder sinken. Es hatte keinen Zweck, einen Warnschuß über Hadleys Kopf zu jagen. Er war schon zu weit entfernt, einem solchen Schuß Würde es an Effekt mangeln. Niemals war der Kerl dadurch zu stoppen. Hinter Hasard schlugen jetzt jedoch ebenfalls dumpf Hufe auf den Boden. Er drehte sich um und gewahrte Ben Brighton, der mit seinem Pferd heranritt und Hasards braune Stute am Zügel mitführte. Der Seewolf lief ihm entgegen, langte neben der Stute an und schwang sich in ihren Sattel, ehe Ben die Tiere richtig anhielt. Nebeneinander jagten sie dem flüchtigen Hadley Allen nach. Sie drehten sich nicht nach den Kameraden um. Es war ohnehin sicher, daß zumindest Ferris, der Profos und Dan O'Flynn ihnen folgen würden. Hasard und Ben spähten voraus, um den Flüchtigen nicht aus den Augen zu verlieren. Hadley und dessen Pferd nahmen sich als schwache Konturen vor ihnen in der dunklen Landschaft aus. Hasard stemmte sich wieder in den Steigbügeln hoch und verlagerte das Körpergewicht nach vorn, um die Stute seine Last so wenig wie möglich spüren zu lassen. Er hatte den Eindruck, daß der
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Abstand zu Hadley nicht mehr gleich bleibend war, er schien sich jetzt zu verringern. Die Gegend zwischen Plymouth und Falmouth war dem Seewolf bestens bekannt. Je mehr sie sich Falmouth, das im Westen lag, näherten, desto sicherer fühlte er sich in dieser Umgebung. Er konnte nicht behaupten, daß ihm jeder Hügel, jeder Busch, jeder Baum geläufig war aber eins stellte er jetzt fest, und das war von großer Bedeutung: Sie näherten sich der Küste. Es war nicht auszuschließen, daß Hadley irgendwo ein Boot versteckt hatte. Fast jeder Mann an der Küste von Cornwall besaß ein Boot. Im Fall von diesem Allen mußte man auf alles gefaßt sein, auch darauf, daß er sich einfach eine Jolle oder eine Gig schnappte. und damit auf die offene See hinausfloh. Hasard gab Ben einen Wink. Ben verstand sofort und ließ sein Pferd weiter nach links hinübergaloppieren. Er setzte alles daran, um über die letzten Hügel zum Ufer zu gelangen und Hadley den Weg zur See abzuschneiden. Ob er es schaffte, stand auf einem anderen Blatt. In den folgenden Minuten stellte sich heraus, daß Hasards Stute doch schneller als Ben Brightons Pferd war. Hasard gelangte näher und näher an den dahinhetzenden Hadley heran. Es lagen jetzt keine zehn Yards mehr zwischen ihnen. Unterwillig glaubte Hasard die Brandung des Meeres zu vernehmen. Der Hufschlag übertönte zwar jeden anderen Laut, aber man konnte die See jetzt auch riechen, denn der Südwestwind trug den Atem des Atlantiks landeinwärts. Dann preschte Hadley Allen die Uferböschung hinunter und trieb sein Pferd über das schmale Stück Strand, das ihn noch vom Wasser trennte. Hasards Stute landete mit einem Satz auf dem körnigen Sand, drohte in den Beinen einzuknicken, fing sich aber wieder und lief weiter. Der Abstand zu Hadley und dessen Pferd schrumpfte. Hasard richtete sich noch etwas höher im Sattel auf, löste die Stiefel
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aus den Steigbügeln, dann war er neben Hadley und hechtete zu ihm hinüber. Sie glitten beide nach links aus dem Sattel von Hadleys Pferd. Hadley drohte sich mit dem Fuß im Steigbügel zu verfangen. Das hätte bedeutet, daß er mitgeschleift worden wäre, und vielleicht wäre dies sein Ende gewesen. Buchstäblich im letzten Moment jedoch kam er frei und landete mit seinem Gegner auf dem Strand. Was dann folgte, war auch nicht sehr angenehm für Hadley. Hasard hieb zweimal zu und traf mit größter Präzision Hadleys Kinn am entscheidenden Punkt. Das genügte. Der Dieb brach zusammen und blieb liegen, ohne sich zu regen. Hasard glaubte an einen Trick, aber Hadley war wirklich besinnungslos, wie sich nach kurzer Untersuchung herausstellte. Der Seewolf erhob sich. Ein Reiter näherte sich von Osten, es war Ben Brighton. Er atmete auf und zeigte ein zufriedenes Lächeln, als er seinen Kapitän neben dem bewegungslosen Körper des Übeltäters stehen sah. Ben verhielt den Schritt seines Pferdes. „Und der Schweinslederbeutel mit den Perlen und Diamanten?“ fragte er. „Unserem Freund Eric bricht es das Herz, wenn er ihn nicht wiederkriegt.“ „Was ich voll und ganz verstehe“, entgegnete Hasard. „Wir haben ja alle hart genug kämpfen müssen, um es zu einem Schatz zu bringen. Jeder Mann, ganz gleich, ob von der ‚Isabella' oder der ,Vengeur`, hat ein Anrecht auf seinen Anteil, und ich schätze, es gibt keinen unter uns, der ihn nicht mit den Zähnen verteidigen würde.“ „Ja.“ Ben saß ab und trat neben Hasard, der sich neben den Bewußtlosen kniete und dessen Taschen durchforschte. „Aber der gute Eric hat sich ein bißchen trottelig angestellt, wenn ich nicht irre. Kann man denn so gutgläubig einem Spinner wie diesem Hadley folgen?“ „Roger ist Hadley und den Mädchen auch auf den Leim gegangen.“ „Mit anderen Worten, es hätte auch zwei Seewölfen passieren können?“
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Hasard grinste. „Das hängt immer von dem Bier- und Schnapspegel ab, Ben.“ Er war fündig geworden und hielt den prall gefüllten Beutel aus Schweinsleder hoch. „Aber Schwamm drüber, hier ist Erics Privatschatz. Wir können die Sache wohl vergessen.“ „Hurra!“ tönte es von der Uferböschung her. Hasard und Ben wandten die Köpfe und erkannten ihre Leute. Auch Roger und Eric waren erschienen. Irgendwie hatte der Schimmel es geschafft, den dicken Koch doch noch bis hierher zu tragen. Eric winkte mit beiden Händen und stieß Jubellaute aus, weil er den Beutel in Hasards Hand natürlich wieder erkannte. Als die fünf Männer bei ihnen waren, fragte der Seewolf: „Und was habt ihr mit Hadleys Onkel getan?“ „Den haben wir windelweich geklopft und dann liegengelassen“, antwortete Eric Winlow von seinem schwer atmenden Schimmel herab. Er rieb sich die bratpfannengroßen Hände. „Der hat genug. Roger und ich meinen, daß ihn die Abreibung für die nächste Zeit davon abhält, andere Leute auszuplündern.“ „Da habt ihr aber noch mal Gnade vor Recht ergehen lassen“, sagte der Seewolf. „Immerhin haben die Kerle auf euch geschossen. Sie haben versucht, euch aus dem Weg zu räumen.“ „Sollten wir sie etwa töten?“ Roger Lutz hatte seinen Falben näher herangedrängt und hob überrascht die Augenbrauen. „Es wundert mich, so etwas ausgerechnet aus deinem Mund zu vernehmen.“ Hasard schüttelte den Kopf. „Unsinn, ich rede nicht von Lynchjustiz. Man hätte die beiden Schurken der Stadtgarde übergeben können. Aber ich sehe auch ein, daß es besser ist, sie mit einer Abreibung davonkommen zu lassen. Hinter der Stadtgarde steht der Stadtkommandant, und vielleicht würde irgendjemand von den Intriganten, die hier wie überall in England sitzen, versuchen, uns einen Strick aus der Angelegenheit zu drehen. Lassen wir's dabei bewenden, auch Hadley davonzujagen. Ihr seid doch alle damit
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einverstanden, wenn wir ihn auf seinen Gaul binden?“ „Ja“, erwiderten die Männer einstimmig. „Also dann“, sagte Hasard lächelnd. „Roger und Eric, diese Arbeit überlasse ich wohl am besten euch.“ Er warf dem dicken Koch den Lederbeutel zu, dieser fing ihn auf und steckte ihn sich mit seligem Grinsen ins Wams. Er rutschte aus dem Sattel, schritt zu dem immer noch besinnungslosen Hadley Allen und hob ihn auf, als handle es sich um einen leichten Packen. Dan O'Flynn hätte sich von der Gruppe abgesondert und die Umgebung untersucht. Er kehrte jetzt mit seinem Pferd zurück und rief: „Ich habe ein Boot entdeckt.“ „Dachte ich's mir doch“, entgegnete Hasard. „Los, wir sehen uns den Kahn mal an.“ 6. Das Boot war eine solide gebaute, gut in Schuß gehaltene Jolle, die unterhalb der Böschung in einer zweifellos von Menschenhand geschaffenen Ausbuchtung untergebracht war. Hasard war sicher, daß es sich um Hadley Allens Boot handelte. Es war geradezu vermessen von Hadley gewesen, zu glauben, er würde es noch schaffen, die Jolle zu erreichen und sie bis ins Wasser zu zerren. Aber er hatte es eben versucht, und auch das sprach für seinen Starrsinn. Hasard und Dan ritten bis dicht an das Boot heran und saßen ab. Hasard entfernte das eingefettete Segeltuch, das das Boot vor Regen und anderen Witterungseinflüssen schützen sollte, und nahm das Fahrzeug genau in Augenschein. Sechs Mann hatten bequem in dieser Jolle Platz - sogar acht, wenn sie ein bißchen zusammenrückten. Die Riemen waren vollzählig vorhanden, die Ruderpinne war in Ordnung, das ganze Boot ordentlich geteert und kalfatert. „Gut versteckt und immer zum Auslaufen bereit“, sagte der Seewolf. „Ich schätze, unsere beiden Freunde haben das Boot schon öfter benutzt, um nach ihren Diebeszügen das Weite zu suchen.
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Irgendwo gingen sie dann wieder an Land, vielleicht sogar in Plymouth. Bislang konnte ihnen wohl keiner etwas nachweisen.“ „Ob Pearl und Fay dabei immer die Lockvögel gespielt haben?“ fragte Roger Lutz. Er hatte sich genähert, und jetzt trafen nach und nach auch Eric Winlow, Ben Brighton, Ferris Tucker und der Profos ein. „Das ist anzunehmen“, erwiderte der Seewolf. „Wobei ich allerdings bezweifle, daß sie es immer in demselben Haus getan haben. Das hätte ihnen früher oder später das Genick brechen müssen.“ „Vielleicht“, sagte der Franzose, hob die Schultern an und ließ sie wieder sinken. „Eigentlich ist es schade um die beiden Rosen von Cornwall, aber zu einem besseren Lebenswandel kann man sie wohl kaum bekehren.“ Dan hatte sich der See zugewandt und kniff plötzlich die Augen zusammen. „He!“ sagte er. „Wenn mich nicht alles täuscht, ist da draußen etwas.“ „Natürlich, du Barsch“, erklärte der Profos. „Eine Masse Salzwasser.“ Dan ging nicht darauf ein. Er stand stocksteif da und packte seinen Kapitän plötzlich beim Arm. „Da treibt was — ein Mensch, Mann, ich werd' verrückt.” „Was? Wie?“ rief Carberry. „Hölle, das ist wohl die Nacht der Entdeckungen!“ Der Seewolf erspähte die Gestalt, die von den sanften Wogen hochgehoben und dann wieder in flache Täler hinabgesenkt wurde. Etwas legte sich um sein Herz. Er fühlte sich an seine Abenteuer erinnert, in denen Schiffbrüchige eine Rolle gespielt hatten, und er dachte auch an die Stunden, in denen ihm und seinen Männern ein ähnliches Schicksal widerfahren war. Wer immer der Unglückliche war, ihm mußte geholfen werden! „Keine Reden halten“, sagte Hasard. „Stehen wir nicht herum. Machen wir das Boot flott. Los, faßt mit an.“ „Habt ihr gehört?“ polterte nun auch der Profos los. „Ihr müden Kakerlaken, nun haltet doch keine Maulaffen feil. Muß man euch immer erst alles vorexerzieren? Was
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für ein elender Sauhaufen ist das hier bloß !“ Er zog das eingefettete Segeltuch von der Jolle, legte seine schwieligen Pranken an den Dollbord und hätte das Boot wohl ganz allein zur Brandung getragen, wenn Hasard, Dan, Ben, Ferris und Jean Ribaults Männer jetzt nicht mitgeholfen hätten. Im Eiltempo beförderten sie die Jolle ins Wasser. Die Brandungswellen leckten gegen die Bordwände, das Boot schaukelte und schien auf den Strand zurückkehren zu wollen. Schnell kletterten die Männer auf die Duchten. Hasard stieß das Boot energisch noch ein Stück voran, bevor er auf der Heckducht Platz nahm und nach der Ruderpinne griff. Eric Winlow wollte auch mit einsteigen, aber Hasard rief ihm zu: „Nein, bleib du bei den Pferden und paß auf, daß sie nicht weglaufen, Eric. Wir wollen doch nicht zu Fuß nach Plymouth zurückkehren.“ „Aye, aye, Sir“, entfuhr es dem dicken Koch der „Vengeur“. Er blieb auf dem schmalen Sandstreifen zurück, stapfte zu den Pferden und warf dabei einen Blick über die Böschung landeinwärts. Von Hadley Allens Pferd waren gerade noch die Hinterbacken zu sehen, im nächsten Moment hatte die Dunkelheit Mann und Roß verschluckt. Winlow stieß einen grunzenden Laut der Zufriedenheit aus. „Recht so“, sagte er. „Trabe von mir aus bis nach London, Pferd. Laß dich hier nie wieder blicken, Nestroy — oder heißt du Gatsby? Ach, der Teufel soll dich holen.“ Hadley Allen lag bäuchlings quer über dem Sattel seines Pferdes. Eric und Roger hatten ihn an Händen und Füßen gefesselt und ihm auch noch einen Knebel. in den Mund gestopft, damit er, wenn er wieder zu sich kam, ja nicht um Hilfe schreien konnte. Vielleicht erreichte er auf diese unbequeme Weise in den nächsten Tagen wirklich London. Eric drehte sich wieder um und widmete seine volle Aufmerksamkeit Philip Hasard Killigrew und den fünf anderen Männern im Boot. Zügig pullten sie auf die Stelle
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zu, an der Dan O'Flynn den treibenden Mann entdeckt hatte. Hasard hatte die Ruderpinne festgelascht und war von der achteren Ducht aufgestanden. Schnell entledigte er sich seiner ledernen Weste, seines Hemdes und der Stulpenstiefel. Erschüttert blickte er auf den Fremden, der völlig reglos dem Spiel der Wellen überlassen war. Es schien keine Hoffnung mehr für das Leben dieses Mannes zu geben. Und doch wollte Hasard nichts unversucht lassen. Zumindest wollte er sich davon überzeugen, ob der Mann noch lebte. Er stellte sich auf die Ducht und gab seinen Männern ein Zeichen, mit dem Pullen aufzuhören. Dann ließ er sich nach Backbord vornüberfallen, streckte die Hände vor und tauchte in die Fluten. Das Wasser des Kanals war kalt, aber nicht zu kalt für einen abgehärteten Mann. Mit drei weit ausholenden Schwimmzügen war Hasard bei dem Fremden, ließ sich von der Auftriebskraft des Wassers mitnehmen und tauchte neben ihm auf. Sofort faßte er ihm mit einer Hand unters Kinn. legte sich auf den Rücken und schleppte ihn zum Boot hin ab. Von großem Vorteil war dabei, daß sich der Fremde bereits in „Toter-Mann-Lage“ befand, zumindest, was das Schleppen betraf. Hasard hoffte inständig, daß diese Lage nicht als böses Omen zu deuten war und sein Zustand nicht den bittersten Ahnungen entsprach, die sie alle in diesen Augenblicken hegten. Hasard gelangte mit dem Mann neben dem Boot an, und sofort streckten sich die Hände der Männer nach ihnen aus. Ben, Ferris, Dan und Carberry hievten den bewußtlosen Mann in die Jolle. Roger Lutz war Hasard beim Aufentern behilflich. Hasard legte den Fremden so, daß dessen obere Rückenpartie auf einer der Duchten ruhte und sein Kopf nach hinten überhing. „Pullt“, sagte Hasard. „Je eher wir wieder an Land sind, desto besser. Jemand muß schleunigst nach Plymouth reiten und den Kutscher holen. Vielleicht ist Donegal ja auch schon mit unseren Leuten hierher unterwegs.“
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„Ja, Sir“, antwortete Ben Brighton stellvertretend für alle anderen. Sie legten sich mächtig ins Zeug, wendeten die Jolle und pullten zum Ufer zurück. Hasard griff nach den Armen des Fremden. Er bewegte sie vor und zurück, der Brustkasten des Mannes hob und senkte sich, er schien zu atmen. Die Jolle war auf fünfzehn, zwanzig Yards an den Strand heran, und plötzlich sprudelte Wasser aus dem Mund des Fremden. Hasard fühlte sich angespornt und arbeitete angestrengter. Vielleicht fruchteten seine Versuche etwas, vielleicht konnte er diesen bärtigen Fremden tatsächlich wiederbeleben - es war die einzige Chance, die der Mann hatte, denn bis der Kutscher wirklich an Ort und Stelle erschien, konnte bereits alles zu spät sein. „Eric!“ rief Roger Lutz. „Was ist, habt ihr ihn?“ tönte Winlows Organ zurück. „Ja. Schwing dich auf deinen Schimmel und reite zur Stadt. Sieh zu, daß du den alten O'Flynn, die Männer der ,Isabella` und unsere Leute triffst - und bring den Kutscher her! Verstanden?“ „Ja, verstanden.“ Eric lief zu seinem Pferd, kletterte etwas umständlich in den Sattel und drückte dem Tier die Stiefelhacken in die Flanken. Erbost begann der Vierbeiner zu schnauben. Aber es nutzte ihm alles nichts, er mußte wieder in Kauf nehmen, den gewichtigen Mann durch die Landschaft zu tragen. Knirschend schob sich der Bootsbug auf den Sand, als Eric Winlow schon ein beachtliches Stück vom Landeplatz der Jolle entfernt war. Ben, Dan, Ferris, Ed und der Franzose stiegen aus, zogen sie noch ein Stück weiter auf den Strand und halfen dann dem Seewolf, den Fremden vorsichtig an Land zu tragen. Sie transportierten ihn bis zur Böschung und betteten ihn dort ins Gras. Hasard nahm seine Wiederbelebungsversuche erneut auf. Er pumpte dem Mann wieder Wasser aus dem Leib und lauschte den keuchenden Geräuschen, die er von sich gab.
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Auch ein Toter konnte noch solche Laute von sich geben, es war also kein Beweis dafür, daß der Fremde noch am Leben war. Hasard unterbrach seine Tätigkeit für einen Augenblick, beugte sich tief über den Schiffbrüchigen und lauschte an seiner Brust. Er vernahm das Klopfen des Herzens, wenn auch nur sehr schwach. Rasch richtete der Seewolf sich wieder auf und fuhr in seinem Bestreben fort, den bärtigen Mann ins Leben zurückzuholen. Ben Brighton, Ed Carberry, Ferris Tucker, Dan O'Flynn und Roger Lutz beugten sich mit besorgten Mienen über den Unbekannten. „Wer mag das sein?“ sagte Ben. „Kein Engländer“, erwiderte Carberry. „Sein Haar ist rotblond, sein Bart auch. Vielleicht ist er ein Ire.“ „Hör doch auf“, sagte Ferris Tucker, der selbst rotes Haar hatte. „Bin ich etwa ein Ire? Das sind doch alles nur dämliche Vorurteile. Nicht alle Iren haben rote Haare, und nicht alle Rothaarigen sind Iren.“ Carberry blickte verwirrt drein. Er kratzte sich am Rammkinn, das war bei ihm immer ein Zeichen für Verlegenheit. Es klang wie das Knistern brennender Tannenzweige. „Aber seht euch doch mal seine komischen Hosen an“, sagte er dann. „Solche Dinger habe ich noch nie gesehen. Sind die aus Fell? Aus weißem Kaninchen vielleicht?“ „Quatsch“, erwiderte Dan O'Flynn. „Ich glaube, es sind Bärenfellhosen.“ „Bärenfell?“ Der Profos riß die Augen weit auf. „Wo gibt's denn weiße Bären? Hör mal, O'Flynn, irgendjemand hat mir auch mal einreden wollen, es gäbe weiße Elefanten ...“ „Im nördlichen Eismeer soll es weiße Bären geben“, erklärte Dan seelenruhig. „Sie heißen Eisbären und sitzen auf den Schollen, die im Wasser treiben.“ „Und wovon ernähren die sich?“ fragte der Profos aufgebracht. „Etwa davon, daß sie Seewasser saufen und an den Eisschollen herumknabbern? Nee, das kannst du mir
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nicht erzählen. Außerdem – du warst ja noch gar nicht dort oben.“ „Irgendwo habe ich mal was von Eisbären gehört“, behauptete Dan. „Ich weiß aber nicht mehr, wo.“ „Der fängt schon genauso an wie sein Alter“, beschwerte sich Carberry. „Keiner strickt so dickes Seemannsgarn wie die O'Flynns. He, haben wir nicht mal südlich von Feuerland im Packeis festgesessen? Hat es da vielleicht weiße Bären gegeben?“ „Nein“, antwortete Ferris Tucker. „Nur befrackte Vögel. Aber lassen wir das jetzt. Hasard, soll ich dich mal ablösen?“ „Nicht nötig“, erwiderte der Seewolf. Er fühlte die Arme des Fremden unablässig hinter dessen Kopf zurück, preßte sie auf den Untergrund, zog sie wieder hoch, holte sie nach vorn, kreuzte sie dem Mann über dem Oberkörper und drückte sie dann kurz auf dessen Brustkasten. Er legte noch einmal eine kurze Pause ein und horchte wieder an der Brust des Bärtigen. „Der Herzschlag ist kräftiger geworden”, verkündete er diesmal. „Himmel, ich glaube, wir kriegen ihn wieder auf die Beine. Drückt mir die Daumen!“ „Das tun wir schon die ganze Zeit“, meinte Roger Lutz. „Wie viele Gallonen Wasser hatte er im Leib?“ fragte der Profos. „Etliche“, entgegnete Hasard. „Aber er hat mächtiges Glück gehabt, daß er nicht untergegangen ist. Merkwürdig, daß die Fellhosen sich nicht ganz mit Flüssigkeit vollgesogen haben. Sie hätten ihn sonst wie Steine in die Tiefe gezogen. Wenn wir ihn durchbringen, werden wir ja aus seinem Mund vernehmen, wie es ihm ergangen ist. Ich schätze aber, daß er noch nicht lange im Kanal gelegen hat. Er muß erst vor kurzer Zeit bewußtlos geworden sein. Die Rückenlage, in der er sich glücklicherweise gehalten hat, hat ihn davor bewahrt, sich die Lungen ganz mit Wasser vollzusaufen.“ „He, was ist denn mit seiner rechten Schulter los?“ fragte der Profos plötzlich.
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„Ich sehe jetzt erst, daß ihm irgendwas das Hemd zerfetzt hat.“ „Er hat eine Kugel von hinten in der rechten Schulter stecken“, sagte Hasard. Er hatte seine Wiederbelebungsversuche wieder aufgenommen. „Ich habe die Blessur kurz untersucht und konnte das Blei sehen, das in seinem Fleisch sitzt. Jemand hat auf verdammt heimtückische Art auf ihn gefeuert.“ 7. Old O'Flynn hatte alle Männer zusammengetrommelt, die er hatte erreichen können. Er hatte sie aus Plymouths Hafenkneipen geholt, und einige von ihnen hatten einige Schwierigkeiten, einen geraden Kurs einzuschlagen, aber sie alle waren von dem grimmigen Wunsch beseelt, Hasard, Ben, Ferris, Dan, Carberry, Roger Lutz und Eric Winlow zu helfen und die Juwelendiebe zu stellen. Leider hatten sie keine weiteren Pferde beschaffen können. Sie hätten sich erst bis zum anderen Ende der Stadt begeben müssen, um sich die Tiere aus verschiedenen Ställen zu besorgen, aber dadurch wäre zuviel Zeit verloren gegangen. So marschierten sie unter der Führung von Old Donegal Daniel O'Flynn von Plymouth aus nach Westen - an dem Haus vorbei, in dem Roger und Eric so schmählich hintergangen worden waren, und dann immer weiter nach Westen gegen den schräg von vorn blasenden Wind an, der ihnen die Haare zerzauste. Old O'Flynn legte trotz seiner Beinprothese ein erstaunliches Tempo vor. Er bildete den Kopf des beachtlich starken Trupps, gleich hinter ihm schritten die Männer der „Isabella“: Batuti, der Kutscher, Smoky, Blacky, Pete Ballie, Gary Andrews, Matt Davies, Al Conroy, Jeff Bowie, Sam Roskill, Bob Grey, Luke Morgan, Will Thorne, Stenmark und Bill. Sir John, der karmesinrote Aracanga, flatterte knapp ein halbes Yard über den
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Köpfen der Männer herum. Er wollte unbedingt mit dabeisein. Arwenack indes, der Schimpanse, leistete Big Old Shane und den Zwillingen Gesellschaft, die in Plymouth geblieben waren. Auf keinen Fall hatte Old O'Flynn die Kinder des Seewolfs in ihrem Schlaf stören wollen, und überhaupt: Sie durften keinen Gefahren ausgesetzt werden. Beim Gefecht und bei Sturm hatten sie immer im Mannschaftslogis der „Isabella VIII.“ bleiben müssen, und auch jetzt sollten sie auf keinen Fall in „Brenzliges“ verwickelt werden. Dies war die Order des Seewolfes. Den Kutscher hatte Old Donegal jedoch rufen lassen. Wenn es dem Alten auch hundertmal nicht behagte, nur Shane, den ehemaligen Schmied und Waffenschmied von Arwenack Castle, hei den Zwillingen als Wache zurückzulassen - der Kutscher mußte mit. Der Kutscher war nicht nur der Koch an Bord der „Isabella“, er fungierte auch als Feldscher und Bader und verstand sich auf sein Handwerk. Und da es denkbar war, daß sich Hasard und die sechs anderen mit den Strauchdieben herumschlugen und es dabei mehr als heiße Köpfe gab, war es nur logisch und vernünftig, den Kutscher an diesem Marsch zu beteiligen. Den Schluß der eigentümlichen Prozession bildeten die Männer der „Vengeur“. Old O'Flynn hatte sie nicht alle finden können, aber er war doch froh, gut die Hälfte der Crew um sich versammelt zu haben. Zunächst einmal waren da Jean Ribault, der Kapitän, und sein Miteigner Karl von Hutten, dann Jan Ranse und Piet Straaten, die Holländer, Nils Larsen und Sven Nyborg, die Dänen, sowie die beiden Franzosen Pierre Puchan und Grand Couteau sowie Dave Trooper und Gordon McLinn. Mehr als zwei Dutzend Männer waren das - sechsundzwanzig genau. Sie strebten voran wie eine Kompanie Barbaren auf dem Feldzug ins feindliche Gelände. Ihre Waffen hielten sie für alle Fälle schon bereit. Es war eine wilde Meute, bei deren Anblick man wahrhaftig das Fürchten kriegen konnte. Dennoch hätten weder die Seewölfe noch die Piraten
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Jean Ribaults auch nur einer Fliege ohne Grund etwas zuleide getan. Batuti, der dicht hinter Old O'Flynn ging, stieß plötzlich einen gedämpften Warnlaut aus. Er machte die Männer in seiner Nähe auf das aufmerksam, was er erspäht hatte. Old O'Flynn, der Kutscher, Smoky, Blacky und Pete Ballie hoben die Köpfe. Ein Raunen lief durch die Gruppe der Männer, und wenig später hatte es auch der ziemlich schwerfällig denkende Schotte McLinn erfahren, der ganz am Ende des Trupps marschierte: Da waren Gestalten rechts vor ihnen. Zwei menschliche Wesen waren es, um präzise zu sein, und sie hielten sich ängstlich hinter Buschwerk versteckt. Als sie aber sahen, daß Batuti Pfeil und Bogen hob und die anderen Männer an der Spitze der Meute mit ihren Tromblons, Musketen und Pistolen hantierten, richteten sie sich zu ihrer vollen Größe auf und winkten. „Bitte nicht schießen!“ riefen sie. „Schockschwerenot“, stieß Old O'Flynn aus. „Das sind ja Weiber.“ „Herrje“, sagte Blacky. „Die haben uns noch gefehlt. Was haben die hier verloren? Wir dürfen uns auf keinen Fall ablenken lassen. Wir haben unser Ziel klar vor Augen.“ „Wem sagst du das?“ entgegnete Matt Davies grinsend. „Helft uns!“ rief das eine Frauenzimmer aus dem Gesträuch heraus. „Wir sind überfallen worden!“ „Hat man euch was geraubt?“ erkundigte sich der alte O'Flynn. Bob Grey lachte leise und meinte: „Doch wohl hoffentlich nicht die Unschuld.“ „Vielleicht ist die früher schon verloren gegangen“, sagte Jeff Bowie. „Wie ich die Sache sehe, sind die Mädchen da nicht mehr blutjung, blütenfrisch und unverdorben.“ „Ja, man soll sich keinen Illusionen hingeben“, fügte Smoky, Hasards Decksältester, hinzu. „Maul halten, ihr Schnarchhähne“, fuhr Old O'Flynn sie an. „Euch hat keiner nach eurer Meinung gefragt.“
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„Geraubt nicht“, erwiderte die eine Frau. Sie trat aus dem Gebüsch und bot den verharrenden Männern ihre opulenten Formen dar. Sie schien nichts dagegen zu haben, daß die sechsundzwanzig sie ganz ungeniert betrachteten. „Aber man hätte uns was ganz Schlimmes angetan, wenn ihr nicht erschienen wäret.“ „Aha“, meinte Matt Davies. „Wir sind also die Retter in der Not. Dafür gebührt uns euer ganzer Dank, ihr Lilien von Cornwall.“ Die andere hatte das schützende Dickicht nun ebenfalls verlassen und trat neben ihre Begleiterin. „Bringt ihr uns in die Stadt?“ fragte sie zaghaft. „Ihr würdet es bestimmt nicht bereuen, einen kleinen Umweg einzulegen und uns nach Hause zu begleiten.“ „Habt ihr euch denn verlaufen?“ Old O'Flynn kniff mißtrauisch die Augen zusammen und senkte den Kopf, was bei ihm immer ein Zeichen größten Argwohns war. „Wie, ihr findet den Weg nach Plymouth nicht selbst?“ „Wir sind ganz durcheinander“, behauptete die Üppige weinerlich. „Soll ich euch was sagen?“ knurrte der Alte. „Ihr seid darauf aus, ein paar liebestolle Idioten in das Backsteinhaus am westlichen Stadtrand zu locken und ihnen bei passender Gelegenheit von hinten einen Knüppel oder sonst was über den Schädel zu ziehen. Ich hab' euch wieder erkannt - ihr seid die beiden, die Eric Winlow und Roger Lutz ausnehmen wollten! Ihr seid diese Pearl und diese Fay, stimmt's?“ Die letzten Worte brüllte er fast. „Nein, ihr irrt euch“, jammerte Fay. „Laßt mich mal vor“, sagte Sven Nyborg laut und drohend. „Ich möchte diesen Früchtchen mal ein bißchen das Hinterteil massieren.“ Er traf wirklich Anstalten, sich zu den erbleichenden Ladys vorzudrängeln. „Das ist meine Bande“, sagte Old Donegal Daniel O'Flynn. „Wenn die so richtig wild wird und vom Leder zieht, kann auch ich sie nicht mehr bremsen.“ Kreischend nahmen die Ladys Reißaus. Sie drehten sich um, kehrten zu ihrem Gebüsch
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zurück, hasteten daran vorbei und gaben Fersengeld in Richtung auf die Stadt. „He, man muß ihnen auf den Fersen bleiben“, sagte Matt Davies entrüstet. Er wollte sich schon in Bewegung setzen und Pearl und Fay folgen, aber da baute sich Old O'Flynn drohend vor ihm auf. „Wie war das, Matt Davies?“ „Ich finde, wir dürfen sie nicht entwischen lassen. Sie haben Eric und Roger doch so übel mitgespielt ...“ „Ach. Und was würdest du mit den. beiden Weibern anstellen, wenn du sie schnappen würdest?“ „Oh, ich - äh - ich würde ihnen ganz gehörig die Leviten lesen“, versicherte Matt mit treuherzigem Grinsen. „Die Leviten, ja“, erwiderte der Alte knurrend. „Ich weiß schon, wie du das meinst.“ Etwas lauter sagte er: „Los, weiter, wir haben keine Zeit zu verlieren. Jean und Karl, ich wäre froh, wenn ihr mit hierher nach vorn kommen könntet, ich glaube, auf diese Weise halten wir die ganze Bande besser im Zaum.“ „Einverstanden“, sagte Jean Ribault. Er konnte sich eines leisen Lachens nicht enthalten, als er nach vorn trat. Karl von Hutten, der sich dem Franzosen anschloß, ging es nicht anders. Der Marsch durch die Nacht wurde wieder aufgenommen. Dave Trooper, der zu Jean Ribaults Crew zählte und als vorletzter Mann vor Gordon McLinn im Zug dahinstiefelte, wandte sich zu Gordon um und blinzelte ihn träge an. Dave war ein ruhiger Mann, und er hatte mit dem Schotten etwas gemeinsam: Manchmal dachte er etwas schwerfällig. „Leviten“,. sagte er. „Was ist das bloß?“ „Was Unanständiges“, entgegnete McLinn. „Ganz bestimmt?“ „Ich glaube.“ Trooper blickte in McLinns breites Gesicht. „Glauben ist aber nicht wissen.“ „Vielleicht haben Leviten auch was mit Legerwall zu tun.“ „Wieso mit Legerwall?“ „Das fängt auch mit ,L` an“, sagte der Schotte in einem Tonfall, als wäre dies die logischste Erklärung der Welt. Dave
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Trooper kratzte sich am Hinterkopf und dachte sehr lange über diesen Kommentar nach. Irgendwie gelangte er zu keinem Schluß und war sehr verwirrt. Vor ihm grinsten sich die Männer der „Vengeur“ an. Sie amüsierten sich immer köstlich, wenn Dave und Gordon einen Dialog hielten. Nie kam dabei etwas heraus, und meistens verirrten sich der Schotte und der ruhige Blonde in irgendwelchen Unsinnigkeiten und Ungereimtheiten. „Also, eins ist sicher“, sagte jetzt Grand Couteau, der mit Roger Lutz dick befreundet war. „Wenn man Roger mal allein läßt, geht etwas schief. Er ist zu sehr hinter den Weibern her, das bricht ihm eines Tages noch das Genick.“ „Die Frauen“, erwiderte Pierre Puchan, und es klang richtig entsagungsvoll. „Was die alles fertig bringen. Übrigens, so schlecht waren diese Pearl und diese Fay gar nicht.“ „Hör bloß auf“, sagte der Holländer Piet Straaten weiter vorn. Er hatte jedes Wort vernommen. „Du würdest dir von den Röcken wohl auch den Kopf verdrehen lassen.“ „Du vielleicht nicht?“ „Das sind ausgekochte Luder!“ „Wer auf sie 'reinfällt, ist selber schuld“, meinte Luke Morgan, der sich gerade zu den Männern der „Vengeur“ umgedreht hatte. „Du meinst also, Eric und Roger hatten selbst Schuld, als sie in die Falle gingen?“ erkundigte sich Jeff Bowie. „Ja, genau das.“ „Aber sie hätten leicht dabei draufgehen können.“ „Das hätte ihnen natürlich keiner gegönnt“, erwiderte Luke. „Ich will bloß sagen, sie sollten sich das eine Lehre sein lassen. Das nächste Mal passen sie hoffentlich besser auf.“ „Wie hat Donegal nur die beiden Frauen erkannt?“ fragte Will Thorne. „Das ist mir nicht ganz klargeworden.“ „Der Alte hat magische Fähigkeiten, das weißt du doch“, raunte Stenmark ihm zu. „Er kann nicht nur hellsehen, sondern auch
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im Geist mitverfolgen, was irgendwo gerade passiert.“ „Aber dann hätte er doch — ach, hör auf, du spinnst ja.“ „Eric Winlow hat das Aussehen der beiden Mädchen beschrieben, als er mit Hasard, Ben, Dan, Ed, Ferris und Donegal zusammentraf, das ist doch klar“, sagte Blacky. „Da kommt unser Freund Eric ja.“ Die anderen hielten es zunächst für einen faulen Witz, aber dann erblickten auch sie den dicken Koch der „Vengeur“, der auf einem Schimmel geradewegs auf sie zugaloppierte. Er zügelte sein Schlachtroß dicht vor ihnen, gestikulierte und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er schnaufte fast genauso laut wie der Schimmel. Jean Ribault hob die rechte Hand und rief ihm zu: „Eric, mein Freund, berichte im Klartext, schön zusammenhängend, bitte. Fasse dich so kurz wie möglich. Was ist los?“ Er kannte eben seinen Koch. Eric holte dreimal tief Luft, dann erzählte er, was vorgefallen war. Wegen des Ausgangs der Verfolgungsjagd waren die Seewölfe und die Männer der „Vengeur“ sehr erleichtert. Was die Entdeckung des fremden, in der See treibenden Mannes betraf, der von den Seewölfen aufgefischt worden war, faßte Old O'Flynn rasch seinen Entschluß. „Eric, überlasse unserem Kutscher bitte dein Pferd. Er reitet sofort zu Hasard und den anderen, und wir folgen ihm zu Fuß. Wichtig ist, daß er als erster bei dem Schiffbrüchigen ist. Kein anderer kann dem armen Teufel besser helfen.“ Winlow saß ab. Der Kutscher kletterte in den Sattel des Pferdes und hatte, als er lospreschte, den Eindruck, daß das Tier unter seiner Führung zufriedener war und besser gehorchte. Er wog eben nur die Hälfte eines Eric Winlow. * Hendrik Laas war in der endlos wirkenden Weite der weißen Wüste gewesen, dort, wo Nanoq, der Eisbär, die Robben, die
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Walrosse und die Narwale lebten. Er jagte nie mehr Tiere, als er zum Leben brauchte, dies war ein Gesetz der Ureinwohner der großen Insel, das auch Hendrik übernommen hatte. Er hatte viel von ihnen gelernt, zum Beispiel auch, wie man mit einem Kajak umgeht und von dem schlanken, ranken Boot aus eine Harpune schleudert und sie mit traumhafter Sicherheit ins Ziel bringt. Eine wunderbare Reise war es gewesen, aber die Rückkehr war umso gräßlicher. Hendrik erinnerte sich an die „Sparrow“, an das, was vor Neufundlands Küsten geschehen .war, an die Überfahrt, an den Kampf - er biß die Zähne aufeinander und preßte die Lippen fest zusammen. Er lehnte sich mit aller Macht gegen die Hinterhältigkeiten, die Gemeinheiten, die Grausamkeiten und gegen den Schmerz in seiner rechten Schulter auf. Dann schlug er die Augen auf. Lag er auf dem Oberdeck der „Sparrow“? War es Roel van Dyck, der sich da gerade über ihn beugte und ihm prüfend in die Augen blickte? Redete er nicht hämisch auf ihn ein? „Fort!“ stieß Hendrik in seiner Muttersprache aus. „Geh weg! Ich töte dich mit meinen Händen, wenn du mich nicht endlich in Ruhe läßt und freigibst.“ „Dieser Mann steht unter der Einwirkung eines Schocks“, sagte die Stimme über ihm. Sie sprach englisch, aber nicht so hart und fehlerhaft, wie van Dyck dies zu tun pflegte. Hendrik begriff es unterbewußt, obwohl er immer noch im Begriff war, diesem Mann an die Gurgel zu fahren. Hendrik La as versuchte, sich zu entspannen. Das war einfacher gesagt als getan, denn die Schulter setzte ihm wirklich schwer zu. Aber er dachte an all das, was ihn die Polar-Eskimos gelehrt hatten, wie man der Schmerzen Herr wurde, wenn man einem verendenden Tier gleich in der beißenden Kälte der Eiszonen lag und nicht mehr weiterkonnte und dann schließlich doch nicht starb. Hendrik atmete ruhiger, öffnete die Augen noch weiter und fragte auf Englisch: „Wer bist du?“
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„Was sagt er?“ erkundigte sich eine andere Stimme, die einem Mann gehörte, den Hendrik nicht sehen konnte. „Ich verstehe ihn nicht“, sagte der, den er für van Dyck gehalten hatte. „Er spricht viel zu rauh, Hasard.“ „Laß mich mal mit ihm reden, Kutscher.“ „Ja, Sir. Ich halte es aber für besser, wenn ich noch ein bißchen Wundbalsam auf die Blessur streiche. Ich habe die Kugel zwar 'rausgeholt, aber das heißt noch lange nicht, daß die Verletzung ohne weiteres verheilt.“ „In Ordnung, Kutscher. Du verstehst dein Handwerk ja selbst am besten.“ Der Sprecher rückte in Hendriks Blickfeld. Er war schwarzhaarig und hatte klare blaue Augen, so blau wie das Eis bestimmter Formationen in der Polargegend. Eine Narbe verlief von seiner Stirn über die eine Wange, aber sie entstellte ihn nicht. Sie verlieh seinem Gesicht nur mehr Härte. Tausend Wetter und Entbehrungen, Abenteuer, Risiko und Verzweiflung schienen seine Physiognomie geprägt zu haben. Hendrik stellte fest, daß seine Schultern sehr breit waren und es sich um einen großen und athletisch gebauten Mann handelte. „Wer bist du?“ fragte Hendrik wieder. „Philip Hasard Killigrew“, erwiderte der Seewolf. Diesmal war dem erbärmlichen Krächzen des fremden Mannes doch zumindest der Wortsinn zu entnehmen. „Und du? Du bist kein englischer Landsmann, nicht wahr?“ „Nein. Wo bin ich hier?“ „In Sicherheit.“ „Ich bin auf keinem Schiff. Ich fühle kein Schwanken, höre nicht das Rauschen des Wassers ...“ „Richtig. Du liegst auf dem Boden Cornwalls, mein Freund.“ Hasard lächelte. „Offenbar hattest du vor, den ganzen Kanal auszutrinken, aber das konnten wir nicht zulassen. Wie sollen wir da noch mit unseren Schiffen auslaufen können?“ „Ich - ich muß ohnmächtig geworden sein“, murmelte Hendrik, dem es schwer fiel, die richtigen englischen Wörter zu
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wählen. „Ja, nur so kann es mir ergangen sein. Und - und dann?“ „Wir haben uns erlaubt, dich aus dem Wasser zu fischen.“ „Ihr - habt das getan?“ Hendrik richtete sich auf. Ja, er schaffte es, sich hochzustemmen, um seinem Gegenüber aus nächster Nähe ins Gesicht zu blicken, trotz seines Zustandes. Ihm war elend zumute, aber er überwand in diesem Augenblick alles - und erntete dafür die bewundernden Blicke von Ben Brighton, Ferris Tucker, Edwin Carberry, Dan O'Flynn, Roger Lutz und dem Kutscher, die ihn umstanden. Hasard nickte nur, er wollte keinen Dank ernten, sondern über die Fakten sprechen und sich ein Bild von dem verschaffen, was dem Fremden widerfahren war. „Willst du uns nicht endlich deinen Namen verraten?“ sagte er. Hendrik war bereit, es zu tun, aber er verzerrte plötzlich das Gesicht zu einer Grimasse. Der Kutscher hatte es genutzt, daß der Mann sich erhoben hatte. In seiner sitzenden Haltung konnte er ihm mit Leichtigkeit den Wundbalsam auf die Wunde im hinteren Bereich der rechten Schulter streichen. Gewiß, das Zeug brannte wie Feuer in der offenen Blessur, aber es gab nichts Besseres, um dem Wundstarrkrampf und anderen Infektionskrankheiten vorzubeugen. „Laß meine Schulter in Ruhe“, preßte Hendrik hervor. „Rühr mich nicht an!“ „Wir wollen dir helfen“, erwiderte der Kutscher. „Ich werde auch so gesund. Von einem solchen Schuß stirbt der Mensch nicht.“ Hasard blickte dem Fremden in die Augen. Diese harten grauen Augen - welche Geschichte wollten sie vermitteln, welches Geheimnis bargen sie? „Hör zu“, sagte er. „Du scheinst ein harter Kerl zu sein, aber gegen Entzündungen bist auch du nicht gefeit. Wir wollen nur dein Bestes, das muß dir einleuchten. Wir sind deine Freunde, es sei denn, du hast was sehr Schlimmes auf dem Gewissen - Mord beispielsweise.“ Hendrik schüttelte den Kopf.
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„Sir“, sagte der Kutscher. „Der Mann hat wirklich einen Schock erlitten. Daher rühren seine etwas heftigen Reaktionen. Im Übrigen scheint er ein harter Naturbursche zu sein.“ „Ein eiserner Klotz“, meinte Ben Brighton, und es klang anerkennend. „Wer hat dich angeschossen?“ fragte Hasard. „Scott“, erwiderte Hendrik wahrheitsgemäß. „Ewing Scott.“ „Ein Engländer?“ „Ein englischer Pirat.” „Wo ist das geschehen?“ „An Bord der ,Sparrow`.“ „Und wie ist dein Name?“ „Hendrik Laas.“ „Schwede?“ fragte der Seewolf. „Nein. Däne.“ Ferris Tucker sah den Profos der „Isabella“ triumphierend an. „Na bitte, ich hab's ja gesagt, daß er kein Ire ist.“ Carberrys Miene war verkniffen. „Stimmt, aber wegen der weißen Bärenhosen sprechen wir uns noch, das schwöre ich dir.“ „Wir könnten eine Wette abschließen“, meinte Dan O'Flynn. „Nein, mit euch Schlitzohren wette ich nicht“, entgegnete Carberry grimmig. „Ich halte überhaupt nichts von Wetten, verstanden?“ „Hendrik“, sagte der Seewolf zu dem bärtigen Mann, der dem Tod so knapp entronnen war. „Willst du nicht von vorn anfangen .und uns deine Geschichte komplett erzählen? Vielleicht brauchst du immer noch unsere Hilfe, vermutlich können wir mehr für dich tun.“ „Das würde ich nie verlangen.“ „Ich glaube es dir. Aber berichte trotzdem, was dir zugestoßen ist.“ Hendrik Laas musterte den Seewolf eingehend. Es war nicht nur der Umstand, daß dieser Mann ihm das Leben gerettet hatte, der ihn Vertrauen zu ihm fassen ließ. Da war noch mehr. In Hasards Augen und in seinen Zügen waren Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit zu lesen, und das war für den bärtigen Dänen ausschlaggebend. „Ich sage dir alles“, entgegnete er. „Alles, was sich zugetragen hat - von Anfang an.“
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Er wollte weitersprechen, hielt aber plötzlich inne. Auf der Uferböschung waren andere Männer erschienen, abenteuerliche Gestalten. Einer von ihnen zog das eine Bein ein wenig nach, und Hendrik folgerte daraus, daß er wohl eine Prothese trug. Ein anderer hatte statt der rechten Hand einen Eisenhaken, ein dritter pechschwarze Haut, und über ihren Köpfen flatterte ein bunter Vogel. Immer mehr Gestalten tauchten aus dem Dunkel auf. Sie alle traten auf Hendrik, Hasard, den Kutscher und den Rest der kleinen Gruppe zu. Hasard hatte sich kurz umgewandt, blickte nun wieder Hendrik an und lächelte. „Das sind meine Leute“, erklärte er. „Meine eigene Crew und Jean Ribault und seine Mannschaft. Ich habe sie rufen lassen, warum, das sage ich dir nachher. Würde es dich nicht freuen, zwei Landsleute zu begrüßen?“ „Ich denke schon ...“ Hasard drehte sich wieder zu den Männern um und rief: „He, Jean, schick doch bitte Nils Larsen und Sven Nyborg herüber!“ „Was haben die Burschen ausgefressen?“ fragte Ribault. „Sie sind in Dänemark geboren.“ „Ist das ein Vergehen?“ „Nein, höchstens ein Versehen“, erwiderte Edwin Carberry grinsend, und die Männer lachten. Hendrik Laas erhob sich jetzt ganz aus dem Gras der Uferböschung. Er stand noch ein wenig unsicher auf den Beinen, aber der Schmerz in der Schulter und das Dröhnen in seinem Kopf ließen etwas nach. Aufmerksam sah er zu den beiden Männern, die sich aus dem anrückenden Pulk lösten und auf ihn und Hasard zugingen. Plötzlich fühlte Hendrik sich so wohl und geborgen, als wäre er hier zu Hause und lebte schon seit Jahren unter dieser Meute von Draufgängern. Dabei hatte er noch vor kurzem beinahe geglaubt, die Welt bestünde nur noch aus Schurken wie Roel van Dyck, Samkalden, Ewing Scott und deren Spießgesellen. 8.
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Hendrik sprach mit Nils und Sven. Sie lachten alle drei, schüttelten sich die Hände und schienen sich auf Anhieb gut zu verstehen. Die Crews der „Isabella“ und der „Vengeur“ gruppierten sich im Kreis um die drei Dänen und lauschten, aber keiner verstand ein Wort. Hendrik wies auf die See hinaus und setzte Nils und Sven irgendetwas auseinander, und sie wurden schlagartig ernst. „Halt“, sagte der Seewolf, „entweder übersetzt ihr, was er euch mitteilt, oder Hendrik spricht jetzt wieder englisch. So muß er wenigstens nicht zweimal schildern, was ihm zugestoßen ist.“ „Ich dolmetsche“, schlug Sven vor. Hendrik Laas wandte sich jedoch um und meinte auf Englisch: „Vielen Dank, Kamerad, aber ich komme mit der englischen Sprache ganz gut zurecht. Ich ziehe es wirklich vor, direkt zu Hasard und den anderen zu reden.“ „In Ordnung“, sagte Nils. „Wir können ja hier und da eingreifen, wenn dir eine Vokabel nicht einfällt oder du mit einer Redewendung Schwierigkeiten hast, einverstanden?“ „Einverstanden.“ Hendrik ließ seinen Blick über die Gesichter der Umstehenden wandern. Einige nickten ihm aufmunternd zu, alle drückten durch ihre Miene die Spannung aus, mit der sie auf seinen Bericht warteten. „Ich will mich so kurz wie möglich fassen und euch nicht mit unwichtigen Einzelheiten langweilen“, sagte Hendrik. „Ich bin als Junge von zu Hause ausgekniffen und habe auf einem Schiff als Moses gedient, das in die Neue Welt hinüberfuhr. In den südlicheren Regionen bin ich aber nie gewesen, ich weiß nicht, wie das Goldland aussieht und wo die Spanier ihre Kolonien haben - ich weiß nichts darüber. Ich habe immer nur ziemlich ödes Land gesehen, und je weiter wir nach Norden hinaufsegelten, desto trostloser schien die Umgebung zu werden. Kennt ihr Neufundland?“ „Die Insel wurde von John Cabot entdeckt, aber wir sind nie da gewesen“, erwiderte
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Hasard. „Wir wissen jedoch, daß es dort gute Fischgründe gibt.“ „Vor allen Dingen Kabeljau“, präzisierte Laas. „Aus diesem Grund nennt man das Land Bacalaos. In jedem Sommer segeln viele Seeleute dorthin, um zu fischen. Ich habe einige Jahre auf den Seglern der Kabeljau-Fischer zugebracht. Dann unternahm ich auf eigene Faust eine Entdeckungsfahrt weiter nach Norden hinauf. Ich hatte nur eine einmastige Schaluppe und war allein. Im Eis erlitt ich Schiffbruch, und ich wäre elend verreckt, wenn mich die Eskimos von Grönland nicht aus der See gezogen und gepflegt hätten. Sie wurden meine Freunde, und ich lernte sehr viel von ihnen. Wenn man über ihre Art zu leben erst Bescheid weiß und sich über ihre Bräuche nicht mehr wundert wie ein kleines Kind, kann man es gut bei ihnen aushalten. Ich geriet bis in die Gegend von Thule hinauf, und dort wurde ich zum Pelztierjäger. Ich verbrachte herrliche Zeiten in völliger Einsamkeit und stellte fest, daß man auch im ewigen Eis leben kann, wenn man es richtig anstellt.“ „Eine Frage“, meldete sich Carberry zu Wort. „Deine Hosen - sind die wirklich aus Bärenfell, Hendrik?“ „Ja.“ „Es gibt also weiße Bären?“ „Eisbären. Die Eskimos nennen sie ,Nanoq`.“ „Na also“, sagte Dan O'Flynn zum Profos. „Jetzt weißt du, daß ich doch kein Spinner bin, Ed. Mann, hätten wir bloß gewettet. Dann hätte es dir doppelt leid getan, so was Mieses über die O'Flynns gesagt zu haben.“ „Wer ist hier über die O'Flynns hergezogen?“ fragte der alte Donegal mit finsterer Miene. „Wer?“ „Niemand“, sagte der Seewolf. „Hendrik, berichte weiter.“ „Im letzten Sommer bin ich mit meinen Pelzen nach Neufundland gesegelt. Ich wollte ein Schiff suchen, das mich mitnimmt nach Europa. Ich hatte plötzlich den Wunsch, endlich einmal wieder in meine Heimat zurückzukehren. Hätte ich Narr doch davon abgelassen!“ Er schüttelte
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verdrossen den Kopf, blickte eine Weile zu Boden, schaute schließlich aber wieder auf und fuhr fort: „Ich heuerte auf einer schmucken dreimastigen Galeone als Decksmann an - es war die ,Sparrow`, und ihre Besatzung hatte einen guten Fang gemacht. Die Frachträume waren voll mit Kabeljau und Dorsch, überall roch es nach Fisch. Die ,Sparrow` ging mit Kurs auf England ankerauf, ihr Heimathafen war Dover. Wir rechneten damit, in drei Monaten dort einzutreffen, und ich wollte dann zusehen, wie ich weiterkam. An Bord packte ich kräftig mit zu und wurde schnell gut Freund mit den anderen Männern.“ Seine Miene verhärtete sich. „Aber noch vor der Küste von Neufundland wurden wir in der Nacht von Piraten überfallen. Die Kerle tauchten mit zwei Schaluppen auf, enterten, töteten den Kapitän und die meisten von der Besatzung und kaperten die ,Sparrow`.“ „Warum verschonten sie dich?“ fragte Ben Brighton. „Auf der ,Sparrow` gab es nichts zu holen außer Fisch, aber die Hunde wollten das Schiff, um den Atlantik überqueren zu können. Roel van Dyck, der Anführer der Bande, hatte sich in den Kopf gesetzt, eine Zeitlang vor Europas Küsten herumzuräubern, wo er sich mehr Erfolg bei seinen Unternehmungen und mehr Beute erhoffte. Da er noch ein paar Leute brauchte, um die ,Sparrow` sicher an die Küsten der Alten Welt zu 'steuern, ließ er vier am Leben: Bert Anderson, den Bootsmann, Sheldon Gee, den Segelmacher, Ewing Scott, einen Decksmann, und mich. Wir wußten mit dem Schiff umzugehen, waren aber zu wenige, um einen Aufstand anzuzetteln. Wir fügten uns dem Schicksal, und ließen uns von Samkalden, der sich als Profos aufspielte, schikanieren. Was sollten wir sonst tun? Scott lief bald zu den Piraten über, van Dyck war hoch erfreut darüber. Aber wir gewannen einen der Freibeuter für uns: Gijsbert.“ „Die Kerle sind also Holländer?':` fragte Hasard.
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„Der größte Teil von ihnen. Als erstes hatten sie vor, mit der Galeone die Sieben Provinzen anzulaufen und dort meine Pelze zu verkaufen, die sie an Bord entdeckt hatten. Van Dyck wollte unbedingt von mir wissen, woher ich diese wertvollen Felle hätte. Er drohte mir, aber ich ließ mich nicht einschüchtern. Schließlich entschloß ich mich, ihm eine tolle Geschichte vorzulügen - in der Hoffnung, er würde meine Freunde und mich daraufhin auch in Holland nicht beseitigen, sondern beschließen, mit uns in die nördlichen Eismeerzonen hinaufzufahren. Dort hätte ich dann schon Mittel und Wege gefunden, ihn hereinzulegen.“ „Ich verstehe“, sagte der Seewolf. „Das war gar nicht so dumm von dir. Was für eine Story hast du ihm aufgetischt?“ „Nun, ich habe ganz einfach behauptet, in Thule gäbe es nicht nur Pelztiere, sondern auch Gold.“ „Und das hat er geschluckt?“ „Und wie. Ich schätze, er glaubt auch jetzt noch daran.“ „Er verlangte sicherlich von dir, du solltest ihn zu diesen verborgenen Schätzen führen.“ „Ja. Er war verrückt danach. Am liebsten wäre er sofort mitten auf dem Atlantik umgekehrt und nach Nordwesten gesegelt, aber ich konnte ihn davon überzeugen, daß es ihm an passender Ausrüstung, am richtigen Proviant und an Männern mangelte. So beschloß er, sich in den Sieben Provinzen entsprechend zu versorgen und danach in Richtung Thule aufzubrechen – zum unentdeckten Goldland.“ Hendrik lächelte bitter. „Ich erzählte ihm, die Eskimos ließe das Gold gleichgültig, sie wüßten nichts damit anzufangen. Es wäre im Eis eingebettet und warte darauf, mit Äxten und Pickeln aus seinem Panzer befreit zu werden.“ „Aber bestimmt hat er dich gefragt, warum du das Gold nicht herausgelöst und mitgenommen hast“, sagte Hasard. „Allerdings. Ich konnte ihm erklären, ich hätte Angst gehabt, man könne mich wegen des Goldes ermorden, und ich wollte absolut keinen Ärger. Außerdem sei
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ich selbst schon ein Eskimo geworden, sagte ich ihm, und auch mir bedeute das gelbe Metall nichts.“ „Und auch das nahm er dir ab?“ „Ja.“ „Er muß ganz versessen darauf sein, sich Reichtum zu verschaffen“, .sagte der Seewolf. „Es gibt Männer, die bringen ihre Freunde und Familienangehörigen um, um Gold und Diamanten zu ergaunern. Die Spanier und Portugiesen haben die Indianer massakriert, um deren Silber zu erbeuten. Manche Männer werden wirklich verrückt, wenn sie Gold, Silber und Juwelen wittern.“ „Stimmt“, erwiderte Jean Ribault trocken. „Manche lassen sich ihre Gold- und Perlenbeutel aber auch einfach aus der Tasche klauen, weil sie zu leichtfertig damit umgehen.“ Eric Winlow wäre am liebsten zusammengeschrumpft und so klein wie ein Wiesel geworden, das zwischen den Halmen des Strandgrases in der Dunkelheit verschwinden konnte. Eric wünschte sich, im Boden zu versinken oder sich in Luft aufzulösen, aber nichts davon ging in Erfüllung. Er stand nur hilflos da und war wegen Jeans indirektem Rüffel knallrot im Gesicht und an den Ohren. Roger Lutz schaute auch ziemlich verlegen drein. Er hätte Eric ja vor dem Hinterhalt bewahren können, war dann aber ein Opfer seiner Leidenschaft für schöne Frauen geworden. Immerhin, sie hatten sich beide grimmig zur Wehr gesetzt, und deshalb sah Jean Ribault auch von einem offenen Verweis ab. Hendrik Laas fuhr fort: „Heute nacht erhielten Bert, Sheldon, Gijsbert und ich jedoch eine einmalige Gelegenheit, vom Schiff zu fliehen oder es in unseren Besitz zu bringen. Wir wurden alle vier zur Mittelwache eingeteilt. Aber es war ein gemeiner Trick von van Dyck, uns auf die Probe zu stellen — wir wollten in einem Handstreich das Achterdeck stürmen und van Dyck und seine wichtigsten Leute gefangen nehmen, doch es mißlang.“ Er berichtete, was sich zugetragen hatte.
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Schweigen breitete sich aus, als er geendet hatte. Für Minuten waren nur das Rauschen der Brandung und das Wispern des Windes zu vernehmen, der von Südwesten über Cornwall blies und das Strandgras in wogende Bewegungen versetzte. Hasard brach die Stille. „Bist du sicher, daß deine Verbündeten tot sind, Hendrik?“ „Gijsbert ist bestimmt nicht mehr am Leben. Der Schuß aus dem Achterkastell hat ihn in die Brust getroffen. Aber Bert Anderson, der von van Dyck angeschossen wurde, und Sheldon Gee, dem sie irgendetwas auf den Schädel geschlagen haben, könnten mit Blessuren davongekommen sein.“ Er lachte freudlos auf. „Davongekommen! Van Dyck wird sie hinrichten lassen.“ „Aber van Dyck muß befürchten, daß du trotz der Kugel in deiner Schulter an Land gelangt bist — was ja auch zutrifft“, sagte der Seewolf. „Du könntest in Plymouth die Stadtkommandantur und den Hafenkapitän verständigt haben, daß zwei englische Fischer aus Dover auf der ‚Sparrow` festgehalten werden und sich holländische Piraten in englischen Hoheitsgewässern befinden. Grund genug, um eine Jagd auf van Dycks Seeräuberbande in die Wege zu leiten.“ „Richtig“, sagte Hendrik überrascht. „Daran habe ich noch gar nicht gedacht.“ „Außerdem ist da die Geschichte mit dem Eskimogold. Wenn van Dycks erste blinde Wut auf dich verraucht ist, wird er sich sagen, daß es klug wäre, dich wieder an Bord der Galeone zu holen und als Lotsen zu benutzen, wenn er nach Grönland hinaufsegelt. Ich bin ziemlich sicher, daß er auch das in Erwägung zieht.“ „Und?“ „Er sucht dich, Hendrik.“ „Er will mich aus der See fischen?“ Hasard nickte. „Bei diesem Bemühen muß er zwangsläufig immer näher an die Küste von Cornwall heran. Wenn er dich im Dunkeln nicht entdeckt, dann erhofft er sich bei Anbruch des Tages mehr Erfolg. Das bedeutet, daß wir Chancen haben, die ,Sparrow` früher oder später zu sichten.“
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Hendrik Laas stand fassungslos da. Er hatte diesen Umstand bisher nicht bedacht. „Dan und Bill“, sagte Hasard. „Ihr nehmt euch zwei von den Pferden und sucht in westlicher und östlicher Richtung die Küste ab. Dan, du reitest bis Plymouth und kehrst dann wieder zurück. Bill, du legst etwa fünf bis sechs Meilen nach Westen zurück und trittst dann auch wieder den Rückweg an. Jean, ich fände es gut, wenn auch du zwei deiner Leute als Späher losschicken würdest.“ Ribault nickte und wandte sich zu seinen Leuten um. „Roger Lutz und Grand Couteau. Roger, du begleitest Dan O'Flynn. Grand Couteau, du schließt dich Bill an. Sperrt die Augen auf und findet dieses elende Schiff, damit wir diesem triefäugigen Piratenkapitän und seiner Bande einen angenehmen Empfang bereiten können.“ „Aye, aye, Sir“, erwiderten die beiden Franzosen. Sie hätten das auch in ihrer Muttersprache sagen können, aber da man sich allgemein auf Englisch geeinigt hatte, blieben auch sie bei dieser Sprache, die alle vierunddreißig Männer verstanden und beherrschten, Hendrik hatte also auch verstehen können, was Jean Ribault auf Englisch gesagt hatte. Er blickte verwundert zu Hasard. „Einen angenehmen Empfang? Wie soll ich das verstehen? Der Seewolf hatte eine verwegene Miene aufgesetzt. In seinen eisblau en Augen blitzten und tanzten mit einemmal jene tausend Teufel, die Ausdruck für einen kühnen, tolldreisten Plan waren. Seine Männer wußten, wie sie sein Lächeln zu deuten hatten, und stießen sich untereinander an. „Hendrik“, sagte Hasard. „Keiner von uns will, daß Bert Anderson und Sheldon Gee sterben. Außerdem finden wir, daß die ,Sparrow` ihren rechtmäßigen Besitzern zurückgegeben werden sollte. Oder ist jemand anderer Meinung?“ Die Antwort war Schweigen. Hasard fixierte sein Gegenüber. „Siehst du. So einig sind wir uns. Und noch etwas. Wir wollen, daß du deine Pelze
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zurückerhältst. Es müßte doch mit dem Teufel zugehen, wenn wir das nicht schaffen.“ 9. Langsam, fast schleichend hatte sich das Schiff mit den drei Masten durch die Nacht bewegt. Roel van Dycks Berechnungen zufolge musste die Küste sehr nahe sein, deshalb hatte er einen Mann auf die Galionsplattform geschickt, der von dort aus ununterbrochen mit dem Senkblei arbeitete und die Wassertiefe auslotete. Halblaut gab er die Daten weiter. Van Dyck stand auf der Back. Neben ihm hielten sich seine engsten Vertrauten auf. Das waren van Eeghen, der so etwas wie den ersten Offizier darstellte, der „Profos“ Samkalden und Ewing Scott, der bereits den Posten von van Dycks rechter Hand voll übernommen hatte. Scott versuchte also, van Eeghen von seinem Platz zu drängen. Er hatte das Vertrauen van Dycks gewonnen, sich aber auch einen Feind geschaffen. Van Eeghen suchte nach einer Möglichkeit, dem Engländer etwas am Zeuge flicken zu können. Aber diese Konflikte waren noch nicht offen ausgebrochen. Es ging um etwas weitaus Wichtigeres - um die Suche nach Hendrik Laas. „Er muß hier irgendwo schwimmen“, sagte Samkalden, ein breiter und bulliger Mann, zum wiederholten Mal. „Er kann doch nicht verschwunden sein. Nein, abgesoffen ist er bestimmt nicht. Er ist zu zäh. So schnell krepiert der nicht, der Hund.“ „Er könnte an Land angetrieben sein“, murmelte van Dyck. „Aber vielleicht ist er zu Fuß nicht weit gelangt. Vermutlich ist er irgendwo zusammengebrochen. Er hat Blut verloren. Er muß nach seinem Bad im Kanal ziemlich entkräftet sein. Ich schätze, er liegt bewußtlos herum, irgendwo dort drüben.“ Er wies nach Norden, wo höchstens noch eine Meile entfernt das Ufer lag. „Das heißt, wir können ihn von Bord unseres Schiffes aus nicht entdecken“, erwiderte van Eeghen. „Wir müssen
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ankern und einen Trupp Männer an Land schicken.“ „Das würde ich aber erst im Morgengrauen tun“, sagte Scott. Van Eeghen blickte ihn feindselig an. „Warum?“ „An der Küste von Cornwall wimmelt es von Strandräubern und ähnlichem Gesindel.“ Van Eeghen setzte eine spöttische Miene auf. „Sollen wir vor denen etwa Angst haben?“ „Nein“, sagte Scott. „Aber im Dunkeln haben diese Leute die größten Chancen, uns in eine Falle zu locken und zu überwältigen. Sie kennen sich in dieser Gegend hervorragend aus, das kommt noch hinzu, wir aber müssen uns erst orientieren.“ „Du bist doch Engländer“, sagte van Eeghen. „Willst du uns erzählen, du würdest dich in diesem Küstenstrich nicht zurechtfinden?“ „Ich stamme aus Dover, nicht aus Plymouth.“ „Das will doch nichts heißen ...“ Roel van Dyck fuhr zu ihnen herum. „Aufhören. Scott hat recht, es wäre geradezu idiotisch von uns, mitten in der Nacht an der Küste herumzukrebsen. Bei Tageslicht hingegen haben wir viel mehr Möglichkeiten. Wir können etwaige Gegner auf Distanz entdecken und uns auf sie einstellen.“ „Ja“, erwiderte van Eeghen gepreßt. „Samkalden“, sagte van Dyck. „Laß auch die letzten Fetzen Segel wegnehmen. Wir gehen hier vor Anker und warten. Noch vier Glasen, dann wird es hell.“ „In Ordnung.“ Samkalden drehte sich um und verließ die Back, um die Männer auf der Kuhl anzutreiben, sie ans Gangspill zu scheuchen und dem Rudergänger. Anweisungen zu geben. Van Dyck blickte wieder nach Cornwall hinüber. „Noch mal von vorn“, sagte er leise. „Nachdem Laas, dieser elende Bastard, in die See gejumpt war, haben wir sofort Kurs auf die Küste genommen. Natürlich hätten wir ihn einholen müssen, aber da wir ihn aus den Augen verloren
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hatten, sind wir wohl an ihm vorbeigesegelt. Richtig, Ewing?“ „Richtig“, antwortete Scott. „Wir waren eher in Küstennähe als er, nur leider am falschen Punkt. Wir haben in östlicher Richtung gesucht, auf Plymouth zu, aber das war falsch.“ „Besser wäre es gewesen, nach Westen abzulaufen.“ „Ob wir den Hund dann wirklich abgefangen hätten?“ „Das ist noch fraglich, Sir.“ „Eben“, meinte van Dyck. „Ein einzelner Mann ist im Meer bei Nacht kaum zu erkennen. Nur ein Zufall hätte uns in seine Nähe geführt. Während wir eine Menge Zeit verloren, kroch Laas irgendwo an Land, ohne daß ihn jemand dabei beobachtete.“ „Aber weit schafft er es nicht.“ „Ist das wahr, oder reden wir uns das nur ein?“ „Er kann auch bewußtlos geworden und ertrunken sein, vergiß das nicht, Sir“, gab Scott zu bedenken. „Gewiß. Na, wir werden ja sehen.“ Van Dyck wandte den Kopf und sah seinen neuen Mann an. „Im Morgengrauen setzt du mit einem starken Trupp Männer zum Ufer über,' Ewing. Falls du Laas findest, ist dir der Posten des ersten Offiziers an Bord meines Schiffes sicher. Denk dir was Gescheites aus, um diesen dänischen Hurensohn aufzustöbern. Ich muß ihn wiederhaben, verstehst du?“ „Ja, das ist mir klar.“ „Und was Anderson und Gee betrifft — bist du immer noch bereit, das zu erledigen, um was ich dich ersucht habe?“ „Ja.“ Mehr sagte Scott nicht. Der Piratenführer erwiderte grinsend: „Fein, mein Junge. Ich mag Leute, die von ihrem einmal gegebenen Versprechen nicht mehr abweichen. Leute, die nicht wankelmütig werden.“ Er ging an Scott vorbei und verließ die Back. Ligthart, den van Dyck am Kolderstock hatte ablösen lassen, begegnete ihm auf der Kuhl. Der Mann hatte gerade das Vordeck verlassen. Sein Kinn war geschwollen.
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Dieses Andenken hatte er aus dem Kampf mit den vier Meuterern davongetragen. „Wie geht es unseren beiden englischen Freunden?“ erkundigte sich van Dyck. „Sie sind bei Bewußtsein“, sagte Ligthart. „Aber die Wache vor dem Kabelgatt läßt mich nicht zu ihnen.“ „Was solltest du auch bei ihnen?“ „Mich für die Hiebe bedanken, die sie mir verpaßt haben.“ „Überlaß das mir“, erwiderte Roel van Dyck. Er stieg durch das Schott und über die Stufen des Niederganges ins Vordeck hinunter, ging am Logis vorbei und erreichte wenig später den Gang, an dem die Tür des Kabelgatts lag. Zwei Freibeuter hielten vor der Tür Wache. Sie hatten ein kleines Talglicht angezündet, standen aufrecht und mit Musketen in der Hand da und sprachen kein Wort miteinander. Van Dyck blieb vor ihnen stehen und grinste sie an. „Es ist euer Glück, daß ihr nicht eingepennt seid“, sagte er. „Ihr wißt ja, was euch blüht, wenn ich euch dabei erwische, nicht wahr?“ „Ja“, antwortete der links stehende Pirat, ein Mann mit blondem Bart und einem breitkrempigen Hut auf dem Kopf. Van Dyck gab den Männern durch eine Geste zu verstehen, daß er das Kabelgatt betreten wolle. Sie spannten daraufhin die Waffenhähne, öffneten die Verriegelung der Tür und schoben sie auf. Während van Dyck den dahinter liegenden Raum aufsuchte, schob der Blondbärtige das Talglicht mit dem Fuß ein Stück über die Schwelle. Er und sein Kumpan legten vorsichtshalber mit den Musketen auf die Gefangenen an. Anderson lag auf der linken Körperseite und stöhnte leise. Gee hatte ihm mit einem Messer die Kugel herausholen dürfen, die ihm zwischen den Rippen gesteckt hatte. Wie schwer Bert Anderson jedoch tatsächlich verletzt war und ob irgendwelche Organe in Mitleidenschaft gezogen waren, das war nicht festzustellen. Sheldon Gee war von einem Piraten niedergeschlagen worden, als der Kampf
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auf Oberdeck getobt hatte, und zwar mit dem Kolben eines Tromblons. Er hatte also nicht mehr als ein paar Beulen davongetragen — der Pirat hatte mehrmals zugestoßen und immer Sheldons Kopf getroffen, doch außer einem schmerzhaften Dröhnen verspürte der Engländer nichts, und das war in seiner Lage schon ziemlich beneidenswert. „Van Dyck“ sagte Sheldon, als er sich jetzt halb aufrichtete. Er rasselte mit den Ketten, in die man ihn und Anderson gelegt und an die Rückwand des Kabelgatts gefesselt hatte. „Ich verlange, daß der Feldscher Anderson versorgt. Anderson stirbt, wenn er keine Hilfe kriegt.“ Van Dyck stellte sich breitbeinig vor ihn hin. „Du bist undankbar. Du solltest froh sein, daß du unter Bewachung die Kugel aus Anderson herausoperieren konntest. Es war schon sehr riskant von mir und meinen Männern, dir überhaupt ein Messer in die Hand zu geben.“ „Du kannst uns doch nicht so elend verrecken lassen“, keuchte Gee. „Nein?“ „Gib uns wenigstens die Chance, mit euch zu kämpfen.“ „Die habt ihr und eure Kumpane, diese Dreckskerle, doch wohl gehabt.“ „Was ist mit Gijsbert?“ „Tot. Wir haben ihn in die See geworfen. Er kann froh sein, daß er krepiert ist, dieser Verräter. Ich hätte ihn Spießruten laufen lassen, wenn er nur mit einem blauen Auge davongekommen wäre.“ „Wo ist Hendrik?“ „Das möchtest du wohl gern wissen, wie? Nun, er ist auch verreckt.“ „Du lügst.“ „Engländer“, erwiderte der Piratenführer. „Sag das noch mal, und ich führe dich an Deck und lasse dich von meinen Leuten niederknüppeln und dann kielholen, bis kein Funken Leben mehr in dir steckt.“ Sheldon Gee leckte sich die spröden Lippen. „Sei nicht feige, van Dyck. Gib mir einen Degen, und ich duelliere mich mit dir.“ „Das könnte dir so passen.“ „Hast du Angst davor?“
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„Angst?“ Roel van Dyck lachte schallend. Er legte den Kopf in den Nacken zurück und schlug sich mit den Händen auf die Oberschenkel. Jäh wurde er aber wieder ernst und zischte seinem Gefangenen zu: „Ich weiß, was du willst. Du denkst, du kannst mich zur Weißglut reizen. Damit ich mich vergesse und mich entweder auf einen Zweikampf mit dir einlasse oder aber deinem Drecksdasein ein schnelles Ende bereite. Doch da täuschst du dich. Ich falle auf deine billigen Tricks nicht herein.“ „Was hast du mit uns vor?“ Der Pirat verschränkte die Arme vor der Brust. Eine Weile sah er auf den Mann hinunter und blickte auch kurz zu dem stöhnenden, fiebernden Anderson. Erst dann bequemte er sich zu einer Antwort. „Ich lasse euch noch ein wenig zappeln. Ihr sollt alle Qualen der Hölle ausstehen, damit ihr wißt, was es heißt, gegen einen van Dyck zu meutern und ihn auszubooten zu versuchen. Dachtet ihr wirklich, ihr hättet Erfolg? Was für Narren ihr gewesen seid!“ „Schick mir Scott. Er hat uns diese gemeine Falle gestellt.“ „Ja.“ „Ich werde ihn töten!“ schrie Gee. „Nein!“ brüllte van Dyck zurück, dann senkte er seine Stimme zu einem Flüstern und beugte sich ein wenig zu Gee nieder, damit der ihn auch verstehen konnte. „Umgekehrt wird es sein, mein Freund. Nach Morgengrauen halten wir Bordgericht über euch. Du weißt, wie das Urteil lauten wird. Und willst du auch erfahren, wer euer Henker ist?“ „Nein — das darf nicht wahr sein — so erbärmliche Schurken könnt auch ihr nicht sein“, stammelte Sheldon Gee entsetzt. „Ewing Scott“, sagte van Dyck ungerührt. „Euer eigener Landsmann wird es euch besorgen.“ * Grand Couteau und Bill, der Moses der „Isabella“, kehrten als erste Späher zu den wartenden Seewölfen und den Männern der „Vengeur“ zurück.
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Sie zügelten ihre Pferde, und der Franzose sagte: „Bill hat das Schiff entdeckt.“ „Gratuliere, Bill.“ Der Seewolf wandte sich lächelnd zu dem Moses um. Bill wurde rot vor Verlegenheit und Stolz. „Liegt es weit von hier entfernt?“ „Nur zwei Meilen, Sir. Ich bin auch ganz sicher, daß es die ,Sparrow` ist. Sie ankert keine halbe Meile vom Ufer entfernt. Anhand der Beschreibung, die Hendrik Laas uns gegeben hat, habe ich sie einwandfrei identifiziert.“ „Seid ihr von Bord der Galeone bemerkt worden?“ „Kaum“, erwiderte Grand Couteau. „Wir ritten auf der Böschung, nicht auf dem Strand. Nach Bills Entdeckung haben wir gleich die Pferde versteckt und sind näher ans Ufer herangeschlichen.“ „Ausgezeichnet“, lobte Jean Ribault seinen Mann. „Hasard, deine Vermutung war also richtig. Wir haben die Kerle, und jetzt geht es nur noch darum, ob sie landen oder nicht.“ „Das stellen wir gleich fest“, erwiderte der Seewolf. Er wandte sich zu dem ziemlich erstaunt und ratlos dreinblickenden Dänen um. „Hör zu, Hendrik, wir sollten keine Zeit verlieren. In zwei Stunden wird es hell, bis dahin müssen wir eine Wende der Lage herbeigeführt haben.“ „Du willst doch nicht sagen, daß ...“ „Nein, unterbrich mich nicht. Wir können hier jetzt kein großes Geschütz auffahren, um van Dyck eine Seeschlacht zu liefern, denn unsere beiden Schiffe, die ,Isabella` und die ,Vengeur`, liegen noch in Plymouth auf gedockt. Ich muß aber auch sagen, daß es mir nicht behagen würde, die ‚Sparrom?' in ein Gefecht zu verwickeln. Ist sie gut armiert?“ „Sie hat vier Culverinen und vier DemiCulverinen“, erwiderte Hendrik Laas heiser. Wieder wollte er seine Bedenken anmelden, aber Hasard sprach weiter. „Das ist nicht viel, und wir würden sie auch mit der ,Isabella` allein zusammenschießen, ich versichere es dir. Aber wenn Anderson und Gee noch am Leben sind, würden wir sie gefährden. Wir könnten sie auf diese Weise nicht
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heraushauen. Wir müssen die Sache anders angehen und raffiniert sein. Jean, paß auf.“ „Sprich nur frei von der Leber weg, mein Freund“, entgegnete der Franzose. „Kannst du mit sechs von deinen Leuten die Jolle von Hadley Allen übernehmen? Acht Männer haben darin Platz.“ „Gut, aber wer ist der achte?“ „Hendrik. Er will sicherlich an dem Unternehmen teilnehmen. Er darf mit der Schulterwunde, die der Kutscher gerade so kunstvoll verbunden hat, aber nicht ins Wasser.“ „In Ordnung, ich bin einverstanden. Ihr anderen lauft jetzt nach Westen, nicht wahr?“ „Ja. Wir sehen zu, daß wir die Piraten abfangen, falls sie landen. Wenn sie aber vorerst an Bord bleiben und auf den Anbruch des Tages warten, gehen wir ins Wasser und schwimmen zu ihnen.“ Hasard sah zu seinen Männern, die ihn halb abwartend, halb verwegen anschauten. „Natürlich könnten wir auf diese Weise mit unseren Feuerwaffen nichts anfangen. Wir müßten uns auf Degen, Säbel, Messer und Schiffshauer verlassen.“ „Es wäre nicht das erste Mal“, erwiderte Ben Brighton gelassen. „Wir haben nur mit einem Problem fertig zu werden. Wahrscheinlich ist die komplette PiratenCrew auf den Beinen und beobachtet das Ufer, um irgendwelche Einzelheiten zu erkennen.“ „Ja, sie würden uns im Wasser bemerken“, fügte Carberry hinzu. „Also, leichter könnten wir uns wohl nicht zu einem Seemannsgrab verhelfen.“ „Dann müssen wir die Kerle eben ein bißchen ablenken“, sagte der Seewolf. „Jean, übernimmst du das mit deinen Leuten?“' „Gern“, antwortete Ribault lächelnd. „Aber wir haben leider, keinen chinesischen Brandsatz dabei. Es würde viel zu lange dauern, ihn von der ,Isabella` zu holen, nehme ich an.“ „Ganz bestimmt sogar“, erwiderte der Seewolf. „Auch mit dem Pferd nimmt so etwas viel zuviel Zeit in Anspruch. Ferris, hast du keine Höhlenflaschen dabei?“
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„Eine“, sagte der rothaarige Schiffszimmermann. „Ich habe mir auch eine in die Tasche gesteckt“, sagte Al Conroy, Hasards Waffenexperte und bester Geschützführer. „Das reicht“, versicherte Jean Ribault. Und Karl von Hutten meinte: „Was den Rest unseres Auftritts betrifft, da lassen wir uns schon etwas einfallen.“ „Gehen wir“, sagte der Seewolf. „Ferris und Al, gebt Jean und Karl die Flaschenbomben, dann brechen wir auf., Die Pferde nehmen wir am besten mit, verstecken sie aber weit genug landeinwärts, damit die Piraten sie auf keinen Fall sehen.“ „Und ihr schwimmt los, wenn wir mit unserem Feuerzauber loslegen?“ fragte Jean. „Ja. Ganz gleich, ob wir nun Piraten am Ufer abfangen können oder nicht - wir schwimmen auf jeden Fall, um die ,Sparrow` zu kapern. Wartet nicht länger als eine Viertelstunde, pullt weit genug auf See hinaus und fangt dann an.“ „Worauf du dich verlassen kannst“ sagte Karl von Hutten. „Los, Hendrik, du steigst mit uns in das Boot.“ Der bärtige Däne hob beide Hände und rief: „Ich danke euch für eure Hilfe. Aber ich kann es nicht verantworten, daß ihr euer Leben für mich und meine Kameraden an Bord der ,Sparrow` riskiert. Ich wüßte nicht, wie ich das jemals wiedergutmachen sollte.“ Hasard trat ein paar Schritte auf ihn zu und blickte ihn ernst an. „Wenn wir dies alles hinter uns haben, kannst du mir ausführlich über Grönland, über Thule und die Eskimos berichten. Dieses Thema interessiert mich brennend. Ich meine - ich wäre dir dankbar, wenn du mir alle Geheimnisse des Eismeeres offenbaren könntest.“ „Das würde nie ausreichen, um euch zu vergelten ...“ „Du sollst uns nichts entgelten. Was wir tun, geschieht aus echter Freundschaft.“ „Danke“, murmelte Hendrik. „Langsam, langsam“, sagte der alte O'Flynn. „Man soll nicht so voreilig mit
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seinem Dank sein. Unser Vorhaben könnte immerhin auch schief gehen, mein Junge, hast du daran gedacht? Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben oder, in unserem Fall, die Nacht nicht vor dem Morgengrauen.“ 10. Außer Jean Ribault, Karl von Hutten und Hendrik Laas saßen in dem Boot, das nach Südwesten auf das Meer hinausglitt, Jan Ranse, Piet Straaten, Nils Larsen, Sven Nyborg und Pierre Puchan. Grand Couteau, Dave Trooper, Gordon McLinn, Roger Lutz und Eric Winlow, die übrigen Männer aus der „Vengeur“-Crew, hatten sich den Seewölfen angeschlossen. Der Seewolf führte seine fünfundzwanzig Begleiter zu der Stelle, von der aus Grand Couteau und Bill sich bis zum Ufer geschlichen und die „Sparrow“ beobachtet hatten. Old O'Flynn, der mit seinem Holzbein nicht besonders gut schwimmen konnte, blieb als Wächter bei den Pferden zurück, eine Aufgabe, die ihm gar, nicht behagte. Er biß aber brummelnd in den sauren Apfel und stopfte sich auf Ed Carberrys Bitte hin, auf den Papagei aufzupassen, Sir John ins Wams, damit dieser ja nicht entwischen, zur „Sparrow“ fliegen und die Männer verraten konnte. Am Wasser sagte Hasard zu seinen Männern: „Da drüben tut sich nichts. Van Dyck schickt keine Boote, er will erst im Morgengrauen an Land Nachforschungen über Hendriks Verbleib anstellen.“ Skelettartig ragten die nackten Masten der „Sparrow“ unter dem schwachen, fahlen Mondlicht in den Nachthimmel auf. Die Galeone war kleiner als die „Isabella“, vielleicht so groß wie die „Vengeur“. Ihre Kastelle waren ziemlich hoch gebaut und standen wie Türme über dem Rest des Rumpfes. Sie vermittelten eine etwas überholte Konstruktionsweise, die inzwischen flacheren Decks gewichen war. Ben Brighton spähte zwischen Strandgrashalmen hindurch zu dem Schiff und meinte: „So töricht ist das gar nicht von diesem van Dyck. Immerhin muß er
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befürchten, hier an Land überfallen zu werden.“ „Ja“, sagte der Kutscher hinter ihnen. „Aber wenn der Berg nicht zum Propheten kommt, geht der Prophet eben zum Berg oder umgekehrt. Ganz wie man will. Wir haben es in der Hand.“ „Was ist das für ein blöder Spruch, Kutscher?“ fragte der Profos. „Mach mich jetzt bloß nicht kribbelig mit deinem Geschwätz.“ „Ruhe“, ordnete Hasard an. „Entledigt euch eurer Kleidung bis auf die Hosen. Achtet darauf, daß eure Blankwaffen euch beim Schwimmen nicht behindern, nehmt die Messer notfalls zwischen die Zähne.“ „Aye, aye, Sir“, murmelten die Männer. „Die ,Sparrow` liegt immer noch vor Anker“, sagte Hasard. „Sie entgeht uns nicht“, raunte Ben Brighton. „Vorausgesetzt, Jean, Karl und die anderen haben mit der Jolle bald die besprochene Position erreicht und fangen mit dem Feuerzauber an“, sagte Ferris Tucker. Noch ein paar Minuten verstrichen. Die Männer lagen im Gras der Böschung und schwiegen. Dann, ganz unvermittelt, erschien im Süden, etwa eine Meile entfernt, ein roter Feuerball, der sich in den samtenen Vorhang der Nacht fraß und die Stille mit einem über die See zum Land rollenden Wummern unterbrach. Hasard glitt die Böschung hinunter, war auf dem Strand, legte die wenigen Yards zur Brandung zurück und ließ sich ins Wasser gleiten. Seine Männer folgten ihm. Kurz darauf befanden sie sich alle im tieferen Bereich der See und schwammen auf die „Sparrow“ zu. * Jean Ribault hatte die Lunte der ersten „Höllenflasche“ sehr weit abbrennen lassen, erst dann hatte er sie aufs Wasser hinausgeschleudert. Die Flaschenbombe, eine Produktion von Ferris Tucker und Al Conroy, explodierte in der Luft, und die Männer duckten sich in der Jolle, weil sie befürchteten, etwas von dem gehackten
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Blei abzukriegen, das Ferris in die Flasche gestopft hatte. Die zweite Bombe tauchte, von Karl von Hutten geschleudert, ins Wasser. Aber die Lunte war schon bis durch den Korken abgebrannt, und so erlosch sie nicht. Die Höllenflasche ging unter Wasser los, und das bewirkte einen Effekt, der an ein Seebeben erinnerte. Hendrik Laas hatte auf einem Riemen der Jolle eine Pulverladung befestigt. Er hatte unten an den Riemen ein Gewicht gehängt, so daß das Blatt platt im Wasser lag und das Pulver nicht naß werden konnte. Er senkte den Riemen in die See, versetzte ihm einen Stoß, und das eigentümliche Gefährt glitt mit brennender Lunte davon. Als sich der Funke an die Pulverladung gefressen hatte, flog alles mit einem imposanten Feuerblitz und unter großer Rauchentwicklung in die Luft. Es hatte sich gelohnt, den einen Riemen zu opfern. Pierre Puchan der für das Anzünden der Lunten zuständig war, half Karl von Hutten dabei, den ersten Brandpfeil anzustecken. Batuti hatte Karl seinen Bogen und den Köcher mit den Pfeilen überlassen, da er im Wasser damit nichts anfangen konnte. Karl verschoß die Brandpfeile nach allen Seiten, und dann griff er auch zu den Pulverpfeilen, die zu dem kleinen Arsenal des Gambia-Mannes gehörten. Wieder dröhnten Explosionen über die See. Auf dem Oberdeck der „Sparrow“ waren die Piraten zusammengelaufen. Sie standen am Backbordschanzkleid und spähten ziemlich rat- und fassungslos nach Süden. Keiner konnte sich erklären, was dieser Feuerzauber zu bedeuten hatte. Ivo, der Mann im Ausguck, blickte ebenfalls in die Richtung, aus der das Grollen der Explosionen erklang. Ein Gefecht schien dort im Süden seinen Lauf zu nehmen, immer wieder blitzte und krachte es, leckten Feuerzungen über die Wellen. „Verdammt“, sagte van Eeghen, der auf dem vorderen Bereich der Kuhl am Schanzkleid stand. „Was hat das zu
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bedeuten? Sind das Engländer? Scott, was geht hier vor?“ „Bin ich Hellseher?“ fragte Ewing Scott zurück. „Wir geraten in Teufels Küche!“ schrie van Eeghen. „Womöglich schneiden die Kerle dort, wer immer sie auch sind, uns den Weg zur offenen See hin ab.“ Roel van Dyck war hinter ihnen aufgetaucht und musterte seinen Landsmann mit unverhohlenem Spott. „Was ist, van Eeghen? Gehen dir die Nerven durch? Du jammerst wie ein altes Weib.“ „Ich habe meine Gründe dafür“, erwiderte der Mann. „Laas hat vielleicht schon Hilfe geholt und in Plymouth oder sonst wo Leute losgeschickt, die uns mit ihren Schiffen suchen.“ „Und sie feuern plan- und ziellos in die Nacht?“ Van Dyck lachte grollend. „Die sind doch nicht verrückt. Van Eeghen, verschone mich mit deinen blöden Vermutungen. He, Ewing, bist du auch der Meinung, das da könnte irgendwie in Zusammenhang mit unserem Freund Hendrik Laas stehen?“ „Nein. So nah ist Plymouth nun auch wieder nicht. Er kann die Stadt unmöglich bereits erreicht haben.“ „Eben.“ Van Dyck stützte sich mit den Ellenbogen auf das Schanzkleid und betrachtete den Explosionsund Feuerzauber, der weiterhin vor ihren Augen ablief. Er rieb sich das Kinn und überlegte hin und her, welche Ursachen und Gründe die Angelegenheit wohl haben mochte, gelangte aber zu keinem Schluß. Van Eeghen, der zutiefst gekränkt war, wandte sich von den Männern ab und schritt zum Steuerbordschanzkleid hinüber. Er verspürte in diesem Moment den fast zwingenden Wunsch, außenbords zu springen, ans Land zu schwimmen und der „Sparrow“ und ihrer Besatzung für immer den Rücken zu kehren. Er sann auf Rache und überlegte haßerfüllt, wie er Ewing Scott ausbooten konnte. Mit wütender Miene blieb er am Schanzkleid stehen. Er gelangte mit seinen finsteren Gedanken jedoch zu keinem Schluß, denn
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plötzlich schob sich dicht vor ihm, jenseits des Schanzkleides, eine Gestalt hoch. Eine vor Nässe triefende Gestalt mit schwarzen Haaren und einem wilden Blick aus hellblauen Augen — van Eeghen erschrak zutiefst. Dann griff er zur Pistole. Der Seewolf schwang sich aufs Schanzkleid und ließ seine Faust vorschießen. Er hatte das Überraschungsmoment auf seiner Seite, und van Eeghen war tatsächlich immer noch zu schockiert und vor Entsetzen gelähmt, um rasch reagieren zu können. Er steckte den Hieb unter das Kinn widerstandslos ein und sank zusammen. Hasard befand sich jetzt auf der Kuhl, bückte sich und riß van Eeghen die Pistole aus dem Gurt. Überall tauchten die Seewölfe und die Männer Jean Ribaults am Rand des Schanzkleides auf. Sie waren an der Steuerbordseite des Schiffes wie große Katzen hochgeklettert, sie hatten das Heck und den Bug geentert, waren auf der Kuhl, auf der Back, auf dem Achterdeck und rückten gegen die Piraten vor. Ivo, der Ausguck, fuhr im Großmars herum, verlor fast das Gleichgewicht und drohte über die Segeltuchumrandung zu kippen, so grenzenlos entsetzt war auch er. Dann aber gellte sein Schrei: „Männer, sie entern! Hölle, sie sind auf unserem Schiff! Schlagt sie zurück, zum Teufel, laßt sie nicht noch weiter vor!“ Roel van Dyck, Ewing Scott, Ligthart, Samkalden und alle anderen Freibeuter fuhren herum und griffen zu den Waffen. Johlend stürmten die Seewölfe und die Männer der „Vengeur“ die „Sparrow“. Ribault, von Hutten und die sechs anderen in der erbeuteten Jolle stellten das Feuerwerk mit den Brandund Explosionspfeilen ein, denn sie hörten das Geschrei, das von der „Sparrow“ zu ihnen herübertönte. Sie griffen zu den Riemen, legten sich mächtig ins Zeug und nahmen Kurs auf die Galeone. Hasard war zu den Hauptwanten der Steuerbordseite gelaufen, schwang sich in die Webeleinen und enterte zu Ivo auf. Ivo beugte sich über die Umrandung und
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streckte ihm eine Pistole entgegen. Aber der Seewolf hatte van Eeghens Pistole in der Faust, drückte ab und jagte die Kugel über Ivos Kopf. Dadurch geriet Ivo derart aus der Fassung, daß er zwar seine Waffe abfeuerte, jedoch danebenzielte. Hasard warf die Pistole weg, sie flog auf die Kuhl hinunter und landete auf den Planken. Er stieg höher, erreichte den Großmars und schrie den Ausguck an: „Ergib dich! Streich die Flagge, Bursche! Du hast keine Chance!“ Ivo zückte seinen Säbel. Hasard zog seinerseits den Cutlass, den er bei seinem Bad in der See mitgeführt hatte. Er ließ die Klinge hochschwingen, drängte Ivo etwas zurück, kletterte zu ihm in den Mars und focht mit ihm. Unten auf der Kuhl, auf der Back und auf dem Achterdeck tobte der Kampf. Ehe die Piraten zu den Schußwaffen greifen konnten, waren die Angreifer bereits bei ihnen und zwangen sie dazu, sich mit Degen, Säbeln und Entermessern zur Wehr zu setzen. Carberry drang auf Samkalden ein. Samkalden glaubte, den riesigen Mann mit den Narben im Gesicht durch eine Finte irreführen zu können, aber der Profos der „Isabella“ fiel nicht darauf herein. Statt auf den Trick einzugehen, verhielt er sich abwartend - und dann unternahm Samkalden einen Ausfall gegen ihn. Carberry ließ ihn auflaufen, schlug ihm mit zwei gewaltigen Schiffshauer-Hieben den Säbel aus der Hand, traktierte ihn mit den Fäusten und schickte ihn schließlich auf die Planken. Ben Brighton kämpfte mit Ewing Scott. Hendrik Laas hatte jeden einzelnen Piraten eingehend beschrieben. Die Seewölfe und die Männer von Jean Ribault wußten, wen sie vor sich hatten. Ben schrie Scott an: „Scott, dies ist die Strafe für deine Hinterhältigkeit!“ „Strafe? Dazu mußt du mich erst einmal haben!“ schrie Scott wild zurück. Er tänzelte zur Seite, duckte sich, entging Bens Attacke und wollte ihm den Säbel in den Leib rammen. Ben parierte aber seinerseits - das Duell ging weiter, das
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Kräfteverhältnis der beiden schien genau gleich zu sein. Hasard hatte im Großmars Ivo außer Gefecht gesetzt. Im Fechten war der Pirat alles andere als ein Künstler. Der Seewolf hatte ihn rasch aus der Reserve gelockt und dann durch einen Hieb mit dem Knauf des Cutlas' auf den Schädel ins Reich der Träume geschickt. Jetzt verließ Hasard den Großmars, enterte in den Wanten ab und packte, als er sich auf halber Höhe zwischen Großrah und Deck befand, ein loses Fall. Er gab seinen Halt in den Webleinen auf, schwang auf die Kuhl hinunter, ließ das Fall los - und landete direkt vor Roel van Dyck. Van Dyck hatte sich gerade Ferris Tucker vorknöpfen wollen. Heimtückisch von der Seite hatte er Hasards Schiffszimmermann angreifen wollen, während dieser mit zwei Piraten focht. Aber der Seewolf zog ihm einen Strich durch die Rechnung. Van Dyck brüllte auf und stach mit dem Entermesser zu, doch Hasard war auf der Hut. Er brachte sich durch einen Sprung zur Seite und grinste den Anführer der Freibeuter an. Das brachte van Dyck nur noch mehr in Wut. Im Zorn verausgabt man sich leicht, und genau das tat van Dyck. Plötzlich wollte er sich auf den Seewolf stürzen, es war eine fast unbeholfene Attacke, begleitet von einem wilden Schrei, aber Hasard ließ sich nicht beeindrucken. Er riß den rechten Fuß hoch. Sun Lo, der Mönch von Formosa, hatte ihn einige Methoden gelehrt, mit denen man einen Gegner auf verblüffende Weise aufs Kreuz legen konnte. Van Dyck verspürte einen heftigen Schmerz im Arm, der seine Nerven und Muskeln lähmte, und mußte das Entermesser fallen lassen. Der nächste Tritt holte ihn von den Beinen, und dann lag er höchst schimpflich vor dem Seewolf auf den Planken und mußte es sich gefallen lassen, daß dieser ihm die Spitze seines Cutlas' an die Kehle hielt. „Roel van Dyck“, sagte Hasard. „Willst du sterben? So früh - und so ruhmlos?“ „Nein ...“ „Dann befiehl deinen Männern, jeden Widerstand aufzugeben.“
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„Ich weiß nicht, warum du mich angreifst“, stammelte van Dyck. „Wer bist du?“ „Befiehl ihnen aufzuhören“, sagte Hasard. Er führte die Cutlass-Klinge noch etwas näher an van Dycks Gurgel, und diesmal löste sich ein Schrei aus dessen Kehle. „Aufhören! Ergebt euch! Ich befehle es euch!“ Die Piraten hielten inne und ließen die Waffen fallen, ihre Verteidigung war ohnehin an einem Punkt angelangt, der der völligen Verzweiflung nicht mehr fernlag. Sie mußten die „Sparrow“ aufgeben, Sie konnten nicht mehr anders. Nur Ewing Scott hastete am Schanzkleid der Backbordseite entlang und trachtete, sich durch einen Sprung in die Fluten zu retten. Doch Jean Ribault und die sieben anderen Männer waren mittlerweile eingetroffen und mit der Jolle bei der Galeone längsseits gegangen. Hendrik Laas war als erster aufgeentert. Er flankte über das Schanzkleid, stand plötzlich vor Scott und schickte diesen mit einem gewaltigen Fausthieb auf die Planken. „Ein Messer!“ schrie er. „Gebt mir ein Messer!“ Hasard blickte zu ihm und schüttelte den Kopf. „Tu es nicht, Hendrik. Willst du dich wirklich dazu herablassen? Du würdest eine Bestie werden - wie Scott.“ Hendrik stand sekundenlang wie in Trance da, dann wandte er sich von dem besinnungslosen Engländer ab. „Wo sind Anderson und Gee?“ fragte der Seewolf den gestrauchelten Piratenführer. „Leben sie noch?“ Van Dyck konnte in seiner Lage nicht anders, er mußte die Wahrheit sagen. Im Morgengrauen dieses Tages saß er zusammengesunken auf der achteren Ducht des einen Beibootes der „Sparrow“, bei seinen Männern, die ihn in den Kanal hinauspullten. Zu seiner Rechten glitt das andere Beiboot der Galeone dahin ebenfalls mit Piraten voll gestopft, denn der Seewolf hatte sie alle am Leben gelassen, er war kein Mörder. Van Dyck, van Eeghen, Samkalden, Ligthart, Scott, Ivo und wie sie alle hießen, sie hatten nur noch ein Bestreben: soviel
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Abstand wie möglich zwischen sich und diese höllischen Kerle zu legen, die ihr Schiff gekapert hatten. Zu diesem Zeitpunkt hatte der Kutscher sich längst um Anderson gekümmert und dessen Brustwunde verarztet und verbunden. „Wird er es überstehen?“ fragte der Seewolf. „Er wird. Er hat mächtiges Glück gehabt, daß seine Lunge nicht getroffen worden ist“, antwortete der Kutscher. Hendrik Laas lächelte unendlich zufrieden und klopfte Sheldon Gee auf die Schulter. Dann sortierte er die Pelze, die er aus der Kammer von van Dyck geholt hatte, suchte ein schneeweißes Fell heraus und reichte es Carberry, der ihm interessiert zuschaute. „Da“, sagte er. „Das stammt von Nanoq, dem Eisbären. Ich schenke es dir, Profos.“ „Äh, danke“, sagte Carberry. Er wog das Fell in der Hand und meinte: „Hölle,
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vielleicht bin ich wirklich so verrückt und lasse mir von Will Thorne ein Paar Hosen nähen, wie du sie trägst, Hendrik.“ Hasard blickte zu ihnen herüber. „Wenn wir jemals nach Grönlandsegeln, dürften sie dir sehr nützlich sein, Ed. Nein, du brauchst mich nicht so verdattert anzusehen:“ „Wie — du meinst das wirklich ernst?“ „Ja.“ „Gut“, sagte Hendrik Laas und wandte sich Hasard zu. „Ich werde dir alles über Thule, das Eismeer und die Eskimos erzählen. Ich weihe dich in die Geheimnisse der Pelztierjäger und Kajakfahrer ein und berichte dir von Gegenden, in denen bislang keiner außer mir gewesen ist.“ „Das ist mehr wert als jeder Schatz“, erwiderte Hasard, und auch das meinte er ernst...
ENDE