DIE AUTORIN Angela Sommer-Bodenburg wurde 1948 in Reinbek bei Hamburg geboren. Nach dem Studium der Soziologie und Päda...
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DIE AUTORIN Angela Sommer-Bodenburg wurde 1948 in Reinbek bei Hamburg geboren. Nach dem Studium der Soziologie und Pädagogik war sie zwölf Jahre lang als Grundschullehrerin tätig, bevor sie sich ganz für das Schreiben entschied. Seit 1984 ist sie freischaffende Autorin und lebt seit 1992 in Kalifornien, wo sie schreibt und malt. Aus ihrer Feder stammen u. a. die Figur des kleinen Vampirs und die des sprechenden und schokoladeliebenden Hütehundes Schokolowski, mit denen sie sich in die Herzen von Millionen junger Leser geschrieben hat.
DIE SERIE «Anton und der kleine Vampir» ist eine der erfolgreichsten deutschen Kinderbuchserien. Sie wurde in 27 Sprachen übersetzt und zweimal für das Fernsehen verfilmt. Der kleine Vampir Rüdiger von Schlotterstein und sein Menschenfreund Anton Bohnsack erleben phantastische Abenteuer in der Menschen- und der Vampirwelt. Denn im Gegensatz zu ihren erwachsenen Artgenossen sind Rüdiger und seine Schwester Anna lieb und hilfsbereit, auch wenn sie Anton ab und zu einen Schrecken einjagen.
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Angela Sommer-Bodenburg
Anton und der kleine Vampir
Der geheimnisvolle Patient
Illustrationen von
Magdalene Hanke-Basfeld
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Genehmigte Taschenbuchausgabe September 1992 © 1989 C. Bertelsmann Verlag GmbH, München © Medienrechte: Angela Sommer-Bodenburg Umschlagbild und Illustrationen: Magdalene Hanke-Basfeld, nach Charakteren der Autorin Umschlagkonzeption: Klaus Renner Herstellung: Stefan Hansen Druck: Presse-Druck Augsburg ISBN 3-570-20.084-1 Printed in Germany
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Dieses Buch ist für Burghardt, der alle Geheimnisse mit mir teilt, für Katja und für alle großen und kleinen Vampire. Angela Sommer-Bodenburg
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Kindesentführung «Und ich muß wirklich zu dem Pickelogen gehen?» fragte Anton. Er saß hinten im Auto und machte ein finsteres Gesicht. «Ja!» Seine Mutter sah ihn durch den Rückspiegel an und lachte – ein ziemlich gekünsteltes Lachen, fand Anton. Wahrscheinlich hatte ihr Herr Schwartenfeger, der Psychologe, zu dem Anton heute gehen sollte, diesen Ratschlag gegeben: Gute Laune verbreiten und sich durch nichts aus der Fassung bringen lassen. «Ich weiß überhaupt nicht, was ich bei dem Pickelogen soll!» knurrte Anton. «Er möchte sich gern mit dir unterhalten», antwortete seine Mutter. «Unterhalten?» sagte Anton grimmig. «Aushorchen, ausquetschen, verhören will er mich!» «Aber Anton! Du hast wirklich zu viele Kriminalfilme gesehen.» «Nein, zu wenige!» erwiderte Anton zähneknirschend. «Sonst wüßte ich nämlich, was man tun kann bei... Kindesentführung!» Doch anstatt sich zu ärgern, lachte seine Mutter nur und fragte: «Was hast du bloß gegen Herrn Schwartenfeger?» «Nichts, gar nichts», sagte Anton, «wenn er mich in Ruhe läßt!» «Nun bist du aber ungerecht, Anton! Immerhin hatte Herr Schwartenfeger die Idee mit dem Aktiv-Urlaub im Jammertal! Und du selbst hast gesagt, daß dir der Urlaub gefallen hat – auch wenn wir wegen Vatis Hand eine Woche früher abreisen mußten.» «Na ja...», gab Anton zu. «Der Urlaub war ganz okay.» Dank Rüdiger und Anna! fügte er in Gedanken hinzu, aber das behielt er lieber für sich. 6
«Und deshalb verstehe ich auch nicht, was ich bei Herrn Schwartenfeger soll», sagte er, «jetzt, wo der Urlaub vorbei ist!» «Vielleicht möchte er gerade über den Urlaub mit dir sprechen!» «Über den Urlaub?» Anton erschrak. «Und wieso?» Sollten seine Eltern etwa gemerkt haben, daß Anton sich im Jammertal mit seinen besten Freunden – dem kleinen Vampir, Rüdiger von Schlotterstein, und dessen Schwester Anna – getroffen hatte? Und hatten sie ihren Verdacht möglicherweise Herrn Schwartenfeger mitgeteilt? Nein! Wenn seine Eltern wirklich etwas gemerkt haben sollten, dann hätten sie Anton sofort zur Rede gestellt! «Warum bist du immer so mißtrauisch?» erwiderte Antons Mutter. «Warte doch einfach mal ab, was Herr Schwartenfeger mit dir besprechen will.» «Abwarten?» brummte Anton. «Ich wette, du weißt genau, was er von mir will. Bestimmt hast du ihn auch angerufen!» Wieder lachte seine Mutter. «Nein, Vati hat mit ihm telefoniert. Und wenn du es unbedingt wissen mußt: Vati macht sich Gedanken wegen des Urlaubs. Schließlich war der Urlaub zusammen mit dem Zelt und dem Schlafsack dein Weihnachtsgeschenk. Und weil der Urlaub jetzt durch die Geschichte mit der verletzten Hand nur halb so lang war wie geplant, denkt Vati, du könntest vielleicht einen... seelischen Schaden davongetragen haben.» «Ich? Einen seelischen Schaden?» Anton grinste in sich hinein. «Schon möglich», sagte er – in der Hoffnung auf ein paar «Wiedergutmachungs-Geschenke!» Aber zumindest war Anton jetzt einigermaßen beruhigt, was den Besuch beim Psychologen betraf!
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Blumenkohl «Übrigens – ich möchte gern allein gehen», erklärte Anton, als seine Mutter vor dem großen Haus hielt, in dem Herr Schwartenfeger seine Praxis hatte. «Allein? Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist!» «Glaubst du etwa, ich verlaufe mich?» «Du könntest dich ja absichtlich verlaufen...» «Absichtlich? Wie meinst du das?» «Nun – indem du nicht zu Herrn Schwartenfeger gehst, sondern in das Eiscafé da drüben.» «Nein, danke», erwiderte Anton und blickte mißfällig zu dem Café auf der anderen Straßenseite hinüber, in dem er schon einmal – nach dem ersten Besuch beim Psychologen – gewesen war. «Das Eis, das die machen, schmeckt mir nicht. – Und außerdem habe ich kein Geld!» fügte er, sozusagen als Wink mit dem Zaunpfahl, hinzu. Aber wie erwartet, tat seine Mutter, als hätte sie den Wink nicht verstanden. «Gut, wenn du es dir in den Kopf gesetzt hast, allein zu gehen...», sagte sie. «Dann werde ich dich hier in einer Stunde wieder abholen.» «Was?» rief Anton empört. «So lange soll ich bei dem Pickelogen bleiben?» «Ja, das ist die normale Zeit für ein Gespräch!» antwortete sie. Und dann, offenbar schuldbewußt, griff sie doch in ihre Handtasche und gab Anton zwei Mark. «Hier», sagte sie. «Wenn du das Eis nicht magst, kannst du dir ja eine Brezel kaufen – aber erst nach dem Gespräch.» «Danke!» sagte Anton und nahm das Geld. Mit einem Grinsen stieg er aus und marschierte auf das Haus zu. Eine Stunde... Er seufzte.
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Vielleicht hätte er seine Mutter doch mitnehmen sollen die hätte wenigstens etwas zu reden gehabt mit Herrn Schwartenfeger. Im Hausflur roch es nach Blumenkohl. Brrr! Anton schüttelte sich, und hastig, um dem Geruch zu entkommen, klingelte er an der Tür mit dem Schild «Jürgen Schwartenfeger, Eheberatung, Kindertherapie». Frau Schwartenfeger, eine rundliche Frau mit einer altmodischen Frisur, öffnete ihm und sagte überrascht: «Du bist schon da, Anton? Dein Termin ist erst in einer halben Stunde... Aber komm herein. Du kannst solange ins Wartezimmer gehen!» «Wir sind nämlich noch beim Essen», fügte sie hinzu. Anton trat ein, und im selben Augenblick wußte er, was es zu essen gab: Blumenkohl... Er stöhnte leise auf, und mit angehaltenem Atem folgte er Frau Schwartenfeger ins Wartezimmer.
Rettet den alten Friedhof! Sobald Frau Schwartenfeger gegangen war, lief Anton zum Fenster und riß beide Flügel weit auf. Ausgerechnet Blumenkohl! Anton aß ohne zu murren Rosenkohl, Kohlrabi, ja sogar Spinat – aber bei Blumenkohl streikte sein Magen! Seine Eltern, die Blumenkohl für ein besonders gesundes Gemüse hielten, wußten das und kochten Blumenkohl nur, wenn Anton nicht zu Hause war, auf Klassenreise zum Beispiel. Klassenreise... Während Anton sich aus dem Fenster lehnte und tief durchatmete, dachte er daran, was seine Lehrerin heute morgen freudestrahlend verkündet hatte: Daß sie die Zusage von dem... wie hieß es noch?... Landschulheim bekommen
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hätte, und daß nun nichts mehr ihrer Klassenreise im Herbst im Wege stehen würde... Alle hatten laut gejubelt – nur Anton nicht. Ja, wenn er den kleinen Vampir überreden könnte, mitzufahren, dann würde das eine lustige Klassenreise werden! Aber Rüdiger hatte bestimmt kein Interesse daran, schon wieder seine heimatliche Gruft zu verlassen; war er doch gerade erst mit seiner Familie aus der Ruine im Jammertal zurückgekehrt! Dorthin hatten die Vampire fliehen müssen, weil Friedhofswärter Geiermeier und Schnuppermaul, sein Assistent, begonnen hatten, den alten Teil des Friedhofs zu «verschönern» und dabei der Gruft Schlotterstein bedrohlich nahegekommen waren. Jetzt allerdings waren die Bauarbeiten gestoppt worden durch eine Bürgerinitiative «Rettet den alten Friedhof», von der Anton zum erstenmal im Jammertal erfahren hatte – in der Nacht vor seiner Abreise, als er mit Anna im Keller der Ruine den alten Anzug anprobiert hatte und plötzlich Tante Dorothee aufgetaucht war. Anton hatte sich vor Tante Dorothee in die große schwarze Truhe retten können – und in der Truhe hatte er mitangehört, wie Tante Dorothee berichtet hatte, daß die Bürgerinitiative «Rettet den alten Friedhof» vierhundert Unterschriften gegen die Renovierungsarbeiten gesammelt hätte. Inzwischen hatte sich der durchdringende Geruch nach Blumenkohl verflüchtigt, und Anton fröstelte am weit geöffneten Fenster. Er schloß es wieder und ging zu dem niedrigen Tisch in der Mitte des Wartezimmers, der mit Zeitschriften und Zetteln – wahrscheinlich Reklame für Beruhigungspillen! – übersät war. Eher gleichgültig fiel sein Blick auf einen dieser Zettel und fast hätte Anton vor Überraschung laut aufgeschrien: In dicken schwarzen Lettern stand da: Rettet den alten Friedhof! Zitternd vor Aufregung, begann Anton zu lesen: «Helfen Sie mit, den 10
Alten Friedhof zu erhalten! Lassen Sie nicht zu, daß dieser schönste und älteste Friedhof unserer Stadt von blindwütigen Fanatikern zerstört wird! Treten Sie unserer Bürgerinitiative Rettet den alten Friedhof bei! Helfen Sie uns durch Ihre Unterschrift! Weitere Informationen über: J. Schwartenfeger, Telefon 481.218.» Nachdem Anton den Aufruf gelesen hatte, mußte er sich hinsetzen, so fassungslos und überwältigt war er.
«J. Schwartenfeger» – ob das der Psychologe war? Anton erinnerte sich, auf dem Türschild eine Telefonnummer gesehen zu haben. Sie hatte mit «48» angefangen, das wußte er genau. Und mit Vornamen hieß Herr Schwartenfeger «Jürgen»... 11
Dann, auf einmal, fiel Anton noch etwas ein: Tante Dorothee hatte in der Ruine einen «Informanten» erwähnt, den sie nur anzurufen bräuchte. Auf Annas Frage, wer denn dieser Informant sei, hatte sie nur rätselhaft geantwortet: «Bürste den Speck» und «Kehre die Kruste». «Bürste den Speck...» sprach Anton leise vor sich hin und plötzlich hatte er das Gefühl, der Lösung des Rätsels ganz nahe zu sein: «Speck...» dazu paßte «Schwarte...» und statt «bürsten» konnte man sagen «fegen...» «Fege die Schwarte – Schwartenfeger!» rief Anton mit heiserer Stimme. Herr Schwartenfeger war der Informant von Tante Dorothee! Bestimmt hatte sie einen seiner Zettel entdeckt und die angegebene Nummer gewählt! Ja, so mußte es gewesen sein! Noch einmal las Anton den Aufruf. «Helfen Sie mit, den Alten Friedhof zu erhalten...» War es ratsam, Herrn Schwartenfeger auf die Bürgerinitiative anzusprechen und ihn um «weitere Informationen» zu bitten?
Wiedersehen mit Herrn Schwartenfeger In diesem Augenblick wurde die Tür des Wartezimmers geöffnet, und Frau Schwartenfeger sah zu Anton herein. «Wir sind fertig mit dem Essen», erklärte sie. «Mein Mann erwartet dich!» Hastig faltete Anton den Zettel zusammen und steckte ihn in die Hosentasche. Dann erhob er sich und folgte Frau Schwartenfeger durch den Flur, in dem es noch immer entsetzlich nach Blumenkohl stank. Er hustete demonstrativ – und war erleichtert, als es im Sprechzimmer von Herrn Schwartenfeger nur nach alten, muffigen Möbeln roch. Herr Schwartenfeger thronte hinter einem riesigen Schreibtisch, auf dem alle möglichen Papiere und Bücher 12
ausgebreitet waren. Als Anton eintrat, nickte er ihm freundlich zu und zeigte auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch. Anton nahm Platz. Die Unordnung auf dem Tisch und die Tatsache, daß Herr Schwartenfeger keinen weißen Kittel trug, sondern einen alten Pullover und eine ausgebeulte Cordhose, hatten ihn Anton schon beim ersten Besuch fast sympathisch gemacht – soweit er, Anton, Psychologen überhaupt sympathisch finden konnte! Aber vielleicht war Herr Schwartenfeger gar kein typischer Psychologe... Anton erinnerte sich an das merkwürdige Lernprogramm, das er entwickelt hatte, und das gegen besonders starke Ängste helfen sollte. Und dieses Lernprogramm wollte Herr Schwartenfeger unbedingt an Vampiren erproben, aber damals hatte Anton behauptet, er kenne keine Vampire... «Na, Anton, so nachdenklich?» fragte Herr Schwartenfeger jetzt. «Hm, ja», sagte Anton. «Denkst du an euren Urlaub?» «An den Urlaub?» Anton zögerte. Eigentlich hatte er sich über die völlig nutzlosen Weihnachtsgeschenke – das Zelt und den Schlafsack – beschweren wollen, die er immerhin Herrn Schwartenfeger zu «verdanken» hatte. Aber nachdem er den Zettel gelesen hatte, kreisten seine Gedanken nur noch um die Bürgerinitiative – und um die Rolle, die Herr Schwartenfeger dabei spielte. «Hat dir der Urlaub gefallen?» fragte Herr Schwartenfeger, als Anton schwieg. «Na ja...» sagte Anton und überlegte, wie er das Gespräch möglichst unauffällig vom Urlaub auf «Rettet den alten Friedhof» bringen könnte. Doch das war schwieriger, als Anton geglaubt hatte. Herr Schwartenfeger schien sich nämlich brennend für alles zu interessieren, was mit ihrem Urlaub im Jammertal 13
zusammenhing. Eher einsilbig, mit dürren Worten berichtete Anton, was sie erlebt hatten – und da er natürlich seine AusFlüge mit den Vampiren verschwieg, war es nicht allzuviel, was er zu erzählen hatte. Als er fertig war, meinte Herr Schwartenfeger, Anton sei vom Urlaub wohl ziemlich enttäuscht. «Enttäuscht?» wiederholte Anton. Wenn er jetzt nicht auf die Bürgerinitiative zu sprechen käme, würde die Stunde vorüber sein, ohne daß er etwas herausgefunden hätte! «Ich wäre lieber hiergeblieben», sagte er. «Und weshalb?» fragte Herr Schwartenfeger. «Weil... die Sache mit dem alten Friedhof –» Anton räusperte sich. Er beschloß, nicht länger um den heißen Brei herumzureden und zog den Zettel aus der Hosentasche. «Ich hätte auch gern bei der Bürgerinitiative mitgeholfen!» erklärte er. «Du hättest gern mitgeholfen?» sagte Herr Schwartenfeger überrascht – und offenbar erfreut. Dann, nach einer Pause, meinte er: «Darüber sprechen wir nachher, Anton – wenn unsere kleine Sitzung hier vorbei ist!» «Nachher?» «Du bist doch nicht wegen des alten Friedhofs zu mir gekommen!» Anton preßte die Lippen zusammen und schwieg; was sollte er darauf auch antworten? Und so fuhr Herr Schwartenfeger fort, ihn auszufragen: Über die Ruine und den Landgasthof, die gequetschten Finger seines Vaters und was die Untersuchung im Krankenhaus ergeben hätte...
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Anton wurde immer einsilbiger. Ein Finger sei angebrochen, ja. Jetzt hätte sein Vater die Hand in Gips.
Noch ein paar Exemplare... Dann endlich schien die berufsmäßige Neugier des Psychologen befriedigt zu sein. Mit ganz veränderter, irgendwie – privater Stimme sagte er: «Und du möchtest also unserer Bürgerinitiative ›Rettet den alten Friedhof‹ beitreten!» «Beitreten?» Anton zauderte. «Eigentlich will ich mich erst mal nur informieren.» «Sehr gut!» lobte Herr Schwartenfeger. «Das sollten noch viel mehr Leute tun: sich informieren und dann – handeln!» Er rieb sich die Hände. «Und wir haben gehandelt», fuhr er mit Stolz in der Stimme fort, «vierhundert Unterschriften haben wir gesammelt und damit diesem übereifrigen Friedhofswärter und seinem Gärtner gezeigt, was wir von ihren angeblichen ›Verschönerungsmaßnahmen‹ halten!» «Kostet es bei Ihnen denn Mitgliedsbeitrag?» fragte Anton vorsichtig. «Mitgliedsbeitrag? Nein!» wies Herr Schwartenfeger die Frage von sich. «Nur Tatkraft und Entschlossenheit mußt du mitbringen!» «Tatkraft und Entschlossenheit?» «Und ob!» «Aber die Bauarbeiten sind doch jetzt gestoppt worden oder etwa doch nicht?» fragte Anton mit Herzklopfen. «Ja, das war der Erfolg unserer Bürgerinitiative!» sagte Herr Schwartenfeger. Leise und geheimnisvoll fügte er hinzu: «Aber das war längst noch nicht alles, was unsere Bürgerinitiative ›Rettet den alten Friedhof‹ erreichen wollte.» «Nicht? Was denn noch?»
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Herr Schwartenfeger warf einen Blick auf die Tür, als fürchtete er, belauscht zu werden. Dann sagte er mit flüsternder Stimme: «Dir kann ich es ja erzählen. Es geht um das Lernprogramm!» Anton erbleichte. «Um das Lernprogramm?» «Ja!» Herr Schwartenfeger griff in eine der Schubladen und holte die dicke schwarze Mappe heraus. «Du weißt doch», sagte er vertraulich, «daß ich dieses Programm gegen Phobien entwickelt habe. Und ich muß endlich wissen, ob es funktioniert!» Ahnungsvoll fragte Anton: «Aber was hat das mit dem alten Friedhof zu tun?» «Oh, sehr viel», antwortete Herr Schwartenfeger. «Erinnerst du dich noch, daß ich dich gefragt habe, ob du Vampire kennst?» Anton nickte beklommen. «Leider, zu meiner großen Enttäuschung, hast du gesagt, du würdest keine Vampire kennen. Aber in der Zwischenzeit habe ich nun herausgefunden, daß es in unserer Stadt sehr wohl noch ein paar Exemplare dieser alten Gattung gibt.» «Was?» schrie Anton auf. «Vampire – in unserer Stadt?» Herr Schwartenfeger nickte. «Haben Sie die Vampire... gesehen?» erkundigte sich Anton mit bebender Stimme. Wieder nickte Herr Schwartenfeger. Doch dann zog er die Augenbrauen zusammen und sagte: «Wieso die Vampire? Den Vampir!» Anton konnte seine Wißbegier kaum noch bezähmen. Aber er zwang sich, ruhig zu bleiben. «Den Vampir?» fragte er so gleichmütig, wie es ihm nur möglich war. «Etwa auf dem alten Friedhof?» «Nein, hier in der Praxis!» antwortete Herr Schwartenfeger. «Er ist bei mir Patient!» «Patient?» Sekundenlang war Anton sprachlos. 17
«Etwas irritiert mich allerdings an der Sache –» fuhr Herr Schwartenfeger fort. «Er behauptet nämlich, er sei gar kein Vampir!» Herr Schwartenfeger hatte sich von seinem Drehstuhl erhoben, und jetzt ging er mit langen Schritten auf und ab, wobei die Gummisohlen seiner Schuhe entsetzlich quietschten. «Willst du wissen, wie es mir gelungen ist, festzustellen, daß er doch ein Vampir ist?» Herr Schwartenfeger zeigte Anton ein kleines braunes Lederetui. «Hier! Mit dem Taschenspiegel», erklärte er. «Ich habe meine Haare gekämmt und dabei durch den Spiegel in seine Richtung gesehen, und stell dir vor: Er hatte kein Spiegelbild!» Herr Schwartenfeger lachte selbstzufrieden und fragte: «Na, was sagst du dazu?» «Ich, äh –» Anton suchte nach Worten. Fieberhaft arbeitete es in seinem Kopf: Ob er den Vampir kannte, der hier Patient war? Und welcher der Vampire konnte es sein: Lumpi? Wilhelm der Wüste? Ludwig der Fürchterliche? Rüdiger bestimmt nicht; denn davon hätte Anton erfahren, und sei es durch Anna! Da klopfte es an der Tür, und nach einem gereizten: «Was ist denn?» des Psychologen schaute Frau Schwartenfeger ins Zimmer. «Ich will nicht stören», sagte sie leise und betont rücksichtsvoll. «Aber Frau Kratzmichel wartet schon seit einer Viertelstunde.» «Frau Kratzmichel?» Herr Schwartenfeger warf einen Blick auf seine übergroße Armbanduhr. «Ach, schon so spät!» meinte er schuldbewußt. «Dabei hätten wir noch viel zu besprechen... Hast du denn den Wunsch, wiederzukommen, Anton?» «Ich?» Anton dachte an den geheimnisvollen Patienten. «Ja!» versicherte er. «Nur... es darf nicht zu früh sein.» 18
«Wie meinst du das – nicht zu früh?» «Nun... ich bin jetzt immer so viel draußen mit meinen Freunden – nachmittags. Deswegen möchte ich lieber erst abends kommen.» – ›Wenn die Sonne untergegangen ist!‹ fügte er in Gedanken hinzu. «Na, wir werden sehen», meinte Herr Schwartenfeger. «Ich werde mit deinen Eltern darüber sprechen.» «Mit meinen Eltern? Aber es geht doch um mich!» «Das stimmt», sagte Herr Schwartenfeger. «Und du findest auch, daß du noch viel mit mir zu besprechen hättest?» «O ja!» antwortete Anton hastig. «Über den Urlaub – ich bin nämlich doch sehr enttäuscht – und über die Bürgerinitiative natürlich auch!»
Verdrängte Probleme Antons Mutter wartete bereits im Auto auf ihn. «Na, wie war’s?» fragte sie mit nur schlecht unterdrückter Neugier. «Wie soll’s schon gewesen sein», tat Anton gleichmütig. Dabei zitterte er innerlich vor Aufregung über die... Enthüllungen von Herrn Schwartenfeger. Seine Mutter startete verärgert den Wagen. «Mit dir kann man wirklich nicht vernünftig reden!» schimpfte sie. Anton grinste. «Mit Herrn Schwartenfeger habe ich mich ausgezeichnet unterhalten.» «So?» Sie sah ihn prüfend von der Seite an. «Und worüber?» Anton machte eine weitausholende Handbewegung. «Über den Urlaub und über die gequetschten Finger... und daß ich doch sehr enttäuscht bin...» «Tatsächlich?» Jetzt veränderte sich ihr Gesichtsausdruck, und sichtlich erleichtert sagte sie: «Es freut mich, Anton, daß 19
du die Probleme nicht länger verdrängst, sondern Herrn Schwartenfeger Gelegenheit gibst, sie mit dir im Gespräch zu verarbeiten!» «Aber er müßte viel mehr Zeit für mich haben!» «Wie... mehr Zeit?» «Na ja! Kaum hat man angefangen zu reden, kommt schon der nächste Patient. – Und außerdem», Anton zog das Kärtchen aus der Tasche, das ihm Frau Schwartenfeger gegeben hatte. «Ich kann erst wieder am Freitag hingehen das sind drei Tage.» «Aber, Anton.» Seine Mutter lachte. «Erst wolltest du überhaupt nicht zu Herrn Schwartenfeger, und jetzt kannst du es anscheinend gar nicht abwarten!» «Genau!» sagte Anton. «Weil ich meine Probleme nicht länger verdrängen will!» ›Vor allem nicht das Problem, welcher der Vampire Patient bei Herrn Schwartenfeger ist‹, ergänzte er – aber das sagte er natürlich nicht laut. Am liebsten hätte Anton, als er wieder zu Hause war, gleich bei Herrn Schwartenfeger angerufen und ihn nach dem Namen des Vampirs gefragt. Aber er ahnte, daß der Psychologe am Telefon keine Auskünfte geben und ihn auf den Termin am Freitag vertrösten würde. Um so ungeduldiger wartete Anton nun auf den kleinen Vampir und seine Schwester Anna! Sonntagnacht – also vor zwei Nächten – war die Tour de Sarg gewesen, und daß alles gut verlaufen war, wußte Anton durch einen Brief von Anna, den er am Montagmorgen an seinem Fenster entdeckt hatte. «Wir sind heil in der Gruft angekommen», hatte sie geschrieben. «Nun müssen wir noch Inventur machen, und dann sehen wir uns ganz bald wieder! Deine sehr glückliche Anna». Ganz bald? Anton seufzte tief. Am besten schon heute abend! 20
Fliegende Untertasse Als es dämmerte, nahm Anton das Buch «Der Vampir von Amsterdam» – ein Geschenk der Wirtin aus Freudental – und legte sich auf sein Bett. Er schaltete die Nachttischlampe ein und begann zu lesen: «Das Grauen unter der Kellertreppe» – eine Geschichte über einen Mann, der in ein altes Haus einzieht, das lange Zeit leergestanden hat. Gespenster sollen darin umgehen... Gebannt las Anton, wie der Mann eines Tages ein Poltern im Keller hört. Er öffnet die Kellertür und späht in den feuchten, modrig riechenden Keller hinunter – da klopfte es. Anton fuhr zusammen. Hastig sprang er vom Bett auf und lief zum Fenster. Aber da klopfte es wieder, diesmal kräftiger, und dann hörte er die Stimme seines Vaters: «Anton? Schläfst du schon?» «Ach, du bist es», brummte Anton und legte sich wieder aufs Bett. «Kann ich reinkommen?» fragte sein Vater. «Wenn’s unbedingt sein muß...» Die Zimmertür wurde geöffnet, und Antons Vater trat ein. «Hattest du jemand anderen erwartet?» fragte er amüsiert und blickte zum Fenster, dessen Vorhänge Anton noch nicht zugezogen hatte. «Vielleicht einen... Vampir?» Es war die übliche Art seines Vaters, Witze zu machen über Dinge, an die er nicht glaubte und die er für «Ausgeburten der Phantasie» hielt. «Einen Vampir?» sagte Anton mit finsterer Miene. «Nein, ich warte auf eine fliegende Untertasse – damit ich wenigstens noch ein bißchen was erlebe in meinen Ferien!» Sein Vater sah ihn verblüfft an. Dann nahm sein Gesicht einen betroffenen, schuldbewußten Ausdruck an. «Anton!» sagte er und setzte sich auf die Bettkante. «Glaub mir: Ich wäre auch gerne im Jammertal geblieben.» 21
Er warf einen bekümmerten Blick auf seine bis über den Knöchel eingegipste rechte Hand. «Aber mit dem angebrochenen Finger...» Er versuchte zu lachen. «Jedenfalls fände ich es sehr schade», sagte er, «wenn unsere gute Beziehung durch diesen... nun, etwas verunglückten Urlaub in eine Krise geraten würde.» «Wie?» sagte Anton in gespieltem Erschrecken. «Ihr habt jetzt auch eine Beziehungskrise – du und Mutti?» «Mutti und ich? Nein! Ich spreche von unserer Beziehung – deiner und meiner. Der Aktiv-Urlaub im Jammertal sollte doch dazu beitragen, daß wir beide uns näherkommen. Und anfangs hat ja auch alles gut geklappt, und wir haben uns prima verstanden, finde ich; bis die Sache mit den Fingern passiert ist.» Anton sagte nichts, sondern verzog nur zweifelnd die Mundwinkel.
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Die frohe Nachricht «Und was dein Zelt und den Schlafsack betrifft», fuhr Antons Vater fort. «Die wirst du schon im Herbst sehr gut gebrauchen können.» «Im Herbst?» «Ja, weil wir dann wieder Aktiv-Urlaub machen werden!» «Und wo?» fragte Anton mißtrauisch. «Wo?» Sein Vater schmunzelte. «Im Jammertal natürlich, in der Wolfshöhle!» «D-da kann ich nicht», erwiderte Anton hastig; denn wenn der kleine Vampir nicht in der Ruine im Jammertal war, zog ihn überhaupt nichts dorthin! «Du kannst nicht?» sagte sein Vater verwundert. 23
«Nein! Im Herbst gehen wir auf Klassenreise», erklärte Anton. «Und Lust habe ich auch nicht», fügte er hinzu. Sein Vater sah ihn befremdet an. «Du gibst mir wirklich Rätsel auf», meinte er. «Eben noch machst du ein Gesicht wie dreizehn Tage Regenwetter, weil wir unseren Urlaub im Jammertal um eine Woche abkürzen mußten... Und nun, wo ich dir die frohe Nachricht überbringe, daß wir im Herbst alles nachholen können, freust du dich gar nicht.» «Vom Tal des Jammers habe ich erst mal genug!» erwiderte Anton mit fester Stimme. «Und die Party?» fragte sein Vater. «Hast du dazu auch keine Lust mehr?» «Die Party?» Anton zögerte. «Die Party, die du hier zu Hause mit all deinen Freunden feiern darfst!» Jetzt grinste Anton. «Ja, mit allen Freunden!» sagte er und dachte daran, daß er Rüdiger und Anna noch gar nicht eingeladen hatte. Aber er durfte die Party ohnehin erst dann feiern, wenn es seinem Vater wieder besser ging. «Geht es dir denn schon besser?» erkundigte er sich vorsichtig. «O ja, viel besser!» antwortete sein Vater. «Seit ich den Gips trage, tut es kaum noch weh. Und deshalb darfst du auch schon am nächsten Samstag deine Party geben!» «Am nächsten Samstag?» Hoffentlich feierten der kleine Vampir und seine Familie nicht am selben Abend ihr geplantes «Heimkehr-Fest» in der Gruft, zu dem Anna ihn bereits im Jammertal eingeladen hatte! Nicht, daß Anton vorgehabt hätte, am «Heimkehr-Fest» in der Gruft Schlotterstein teilzunehmen...
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Aber wenn die Vampire ihr eigenes Fest feierten, würden Anna und Rüdiger bestimmt nicht zu Antons Party kommen können, und eine Party ohne die beiden konnte er sich gar nicht vorstellen. «Sehr begeistert siehst du nicht aus!» Die Stimme seines Vaters klang enttäuscht. «Doch!» versicherte Anton. «Ich – ich denke nur schon nach, wen ich einladen soll.» «Ist das denn so schwer?» fragte sein Vater. «Hm, ziemlich», sagte Anton gedehnt. Und mit einem Grinsen fügte er hinzu: «Zum Beispiel, wie viele Vampire ich einladen soll – ob einen, oder zwei...» «Oder drei, oder vier», ergänzte sein Vater lachend. Offenbar hielt er Antons Bemerkung für einen Scherz. «Lieber nicht», sagte Anton ernst. «Oder willst du, daß ich den Großvater von Anna und Rüdiger einlade, Wilhelm den Wüsten, oder ihre Großmutter, Sabine die Schreckliche?» «Wilhelm den Wüsten? Sabine die Schreckliche?» wiederholte sein Vater und lachte noch lauter. «Na, das sind Namen!» «Aber zum Glück sind sie ja nun von hier weggezogen, dieser komische Rüdiger und seine Schwester Anna mit ihren Vampir-Faschingskostümen und ihren merkwürdigen Verwandten.» «Und geblieben sind die netten!» fügte er gutgelaunt hinzu. «Ole, Sebastian, Udo... Wie wär’s, wenn du ihnen jetzt gleich die Einladungskarten schreibst, damit sie am nächsten Samstag auch Zeit haben und kommen?» «Keine schlechte Idee», meinte Anton. «Dann will ich dich nicht länger von der Arbeit abhalten!» Sein Vater stand auf und ging zur Tür. «Und wann soll die Party anfangen?» fragte Anton. «Natürlich nach Sonnenuntergang», witzelte sein Vater.
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«Nach Sonnenuntergang?» Anton grinste. «Okay! Auf deine Verantwortung!»
Liebe Anna, lieber Rüdiger «Geblieben sind die netten?» sagte Anton, als sein Vater das Zimmer verlassen hatte. «Zurückgekommen sind die netten!» Er setzte sich an den Schreibtisch, holte sein bestes – das blutrote! – Briefpapier hervor und begann: Liebe Anna, lieber Rüdiger, ich würde mich freuen, wenn Ihr zu meiner Party am nächsten Samstag kommen könntet. Beginn: nach Sonnenuntergang. Euer Anton Danach schrieb Anton noch vier Einladungen, allerdings auf schlichterem Papier: an Ole und Tatjana, an Henning und Sebastian. Die Einladung für Tatjana, die im Nebenhaus wohnte, zerriß er allerdings nach kurzem Überlegen wieder: wegen Anna. Als Anton die Einladungen in die Briefumschläge steckte und die Namen auf die Umschläge schrieb, wurde ihm wieder einmal bewußt, wie sehr doch die Vampire benachteiligt waren: Ole, Sebastian und Henning würde er wahrscheinlich morgen auf der Straße treffen – spätestens aber am Montag, wenn die Schule wieder anfing. Auf Anna und Rüdiger jedoch konnte Anton nur warten – warten, daß sie an sein Fenster klopften. Und an diesem Abend schienen Anna und Rüdiger etwas Wichtigeres vorzuhaben... Traurig und enttäuscht kroch Anton schließlich in sein Bett, nachdem er sich so lange mit dem «Vampir von Amsterdam» 26
und dem «Grauen unter der Kellertreppe» wachgehalten hatte, daß ihm schon die Buchstaben vor den Augen tanzten. «Dann hoffentlich morgen!» sagte er mit einem letzten sehnsüchtigen Blick auf das Fenster.
Du mußt mir helfen! «He! Aufstehen!» rief eine heisere Stimme, die Anton bekannt vorkam. «Na los, steh endlich auf, Anton!» Es war... die Stimme von Herrn Fliegenschneider, Antons Mathematik-Lehrer! «Nein, ich will nicht vorrechnen», rief er. «O doch, du wirst vorrechnen!» antwortete Herr Fliegenschneider und klopfte mit seinem Zeigestock auf das Pult. «Du wirst jetzt an die Tafel kommen und vorrechnen!» «Nein, das werde ich nicht», rief Anton – und wachte auf. Es mußte mitten in der Nacht sein: Mondlicht fiel durch die Vorhänge ins Zimmer, und aus den anderen Räumen der Wohnung war kein Laut zu hören. Aber da... plötzlich klopfte jemand laut und energisch gegen die Scheibe. Anton sprang aus dem Bett und lief ans Fenster. Er riß die Vorhänge zur Seite – und blickte in das bleiche Gesicht des kleinen Vampirs! Rasch öffnete Anton das Fenster. «Du hast aber lange gebraucht!» zischte der kleine Vampir. «Ich dachte schon, du hältst Winterschlaf.» «Hallo, Rüdiger», sagte Anton – verwirrt über das fremdartige Aussehen des kleinen Vampirs. Sein Haar, das ihm sonst in langen Strähnen bis über die Schultern herabhing, war mit irgendeinem Mittel behandelt worden, so daß es eng am Kopf anlag und ölig glänzte. Obendrein – Anton hustete – roch
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es völlig unvampirisch: so, als käme Rüdiger geradewegs aus einem Frisiersalon! «Du mußt mir helfen», erklärte der kleine Vampir heiser und kletterte vom Fensterbrett ins Zimmer. «Helfen? Wie denn?» fragte Anton abwehrend. «Helfen – wie denn!» machte der Vampir ihn nach. «Hast du keine Augen im Kopf?» «Doch, wieso?» «Siehst du nicht, daß Waldi der Bösartige meine ganze Frisur ruiniert hat?»
«Das war Waldi der Bösartige?» «Ja!» sagte der kleine Vampir mit Grabesstimme. «Bei dieser oberdämlichen Nagelkür! Wäre ich bloß nicht hingegangen!» «Was hat denn die Nagelkür damit zu tun?» Der kleine Vampir warf ihm einen finsteren Blick zu. «Ha! Alle haben was gewonnen – Jörg den ersten Preis: eine Wolldecke, Waldi den zweiten Preis: ein Kissen, und Lumpi den dritten Preis: einen Knopf aus Jörgs Knopfsammlung. Nur ich bin mal wieder leer ausgegangen! Und deswegen, hat Waldi gesagt, müßte ich einen Trostpreis bekommen...» «Einen Trostpreis?»
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«Ja!» knurrte der kleine Vampir. «Jörg der Aufbrausende hat diese eklige Haarpomade unter seinem Umhang hervorgeholt, und Waldi sollte mich trösten...» «Dich trösten?» sagte Anton überrascht. «Und wie?» «Das fragst du noch? Indem er mir die Pomade ins Haar geschmiert hat, du Dussel!» «Das soll ein Trostpreis sein?» empörte sich Anton. «Ja, weil sie nicht ganz bei Trost sind – dieser Jörg und dieser Waldi mit ihrer blödsinnigen Männergruppe!» Der kleine Vampir war jetzt richtig wütend; mit Recht, fand Anton! «Und nun bin ich gezwungen, mir die Haare zu waschen», fuhr er grimmig fort. «Nach achtunddreißig Jahren zum erstenmal!» «Du willst dir die Haare waschen?» wiederholte Anton voller Unbehagen. «Etwa hier – bei mir?» «Wo denn sonst?» zischte der kleine Vampir. «Hast du vielleicht bei uns in der Gruft einen Wasserhahn gesehen?» «Nein», gab Anton zu. «Aber meine Eltern –» «Keine Sorge! Ich werde leise sein», antwortete der kleine Vampir. «Na los, bring mich ins Badezimmer!» «Aber du kannst die Haare nur im Waschbecken waschen», sagte Anton. «Die Brause an der Badewanne ist viel zu laut. Und fönen geht auch nicht!» fügte er hinzu. «Fönen?» sagte der Vampir und sah ihn verständnislos an. «Ich habe dir doch gesagt, daß ich sie waschen will! Und nun komm endlich! Seit vier Nächten warte ich auf diesen Augenblick.» «Seit vier Nächten?» «Ja, so lange mußte ich das Zeug drauflassen.» «Warum denn das?» «Warum, warum! Weil das zum Trostpreis dazugehörte! und Lumpi hat aufgepaßt, daß ich mich dran halte.» «Und jetzt komm!» sagte er entschlossen. «Oder willst du, daß ich allein gehe?» 29
«N-nein!» erwiderte Anton hastig. Er lief zur Tür, öffnete sie vorsichtig und lauschte. Aber nichts war zu hören. «Alles ruhig! Wir können gehen», flüsterte er dem Vampir zu. Auf Zehenspitzen durchquerten sie den dunklen Flur. Erst als sie die Badezimmertür hinter sich geschlossen hatten, wagte Anton, Licht zu machen.
Hm, wie das duftet... «Und wo sind nun die Sachen zum Haarewaschen?» fragte der kleine Vampir ungeduldig. Anton, dessen Augen sich erst an die plötzliche Helligkeit gewöhnen mußten, griff blindlings nach der Flasche auf dem Badewannenrand. «Hier!» Der kleine Vampir stieß einen Schrei aus. «Willst du mich umbringen?» «E-entschuldige!» stammelte Anton. Irgend jemand hatte die braune Flasche mit der Sonnenmilch auf den Badewannenrand gestellt! «Da-dahinten ist das Haarwaschmittel», sagte er verlegen und holte die grüne Flasche mit den «Wiesenkräutern für schönes Haar» von der anderen Seite der Wanne. Der kleine Vampir schraubte den Deckel ab und roch daran. «Igitt!» sagte er verächtlich. «Das mieft ja noch schlimmer als die Haarpomade!» «Ein anderes haben wir nicht», erwiderte Anton – doch dann fiel ihm etwas ein. «Es sei denn...» Er nahm das Moorshampoo, das seine Mutter gelegentlich benutzte, aus dem Schrank, «... du hast fettige Haare!» «Fettige Haare?» wiederholte der kleine Vampir und kicherte. «Ich habe superfettige Haare! Hilft das Mittel auch dagegen?» «Garantiert», meinte Anton grinsend. «So, wie das stinkt!» 30
Aber der kleine Vampir hatte andere Vorstellungen von unangenehmen Gerüchen: Nachdem er den Deckel abgeschraubt hatte, sagte er mit verzückter Miene: «Hmm, wie das duftet... faulig und moderig!» Und schon drückte er sich einen großen Klecks von dem Shampoo auf die Hand und rührte mit dem Fingernagel darin herum. «He, nimm nicht so viel!» sagte Anton. «Das hat meine Mutter im Reformhaus gekauft, das war ganz schön teuer.» «Geizkragen!» knurrte der kleine Vampir. Unwirsch fragte er: «Sag mal, wann fängst du endlich an?» «Ich?» sagte Anton verblüfft. «Du willst dir doch die Haare waschen!» Der Vampir grinste breit. «Du willst mir die Haare waschen!» «Ich – dir?» Anton schnappte empört nach Luft. «Das wäre ja noch schöner. Ich bin doch nicht dein Diener!» «Na gut, wenn du nicht willst –» Der kleine Vampir trat an die Badewanne und ergriff die Brause. «Ich kann mir die Haare auch allein waschen... aber nur über der Wanne und nur mit dieser wunderschönen Brause.» Anton versuchte, ihm die Brause zu entwinden. «Die macht viel zu viel Lärm!» erklärte er. «Dann wachen meine Eltern auf!» «Tatsächlich?» Der kleine Vampir knackte mit seinen spitzen Zähnen. «Aber das Schlafzimmer ist doch ganz hinten, am Ende des Flurs.» «Na ja... dann hören es die Nachbarn! Die unter uns, die Frau Miesmann, die ist besonders schlimm!» «So? Was macht sie denn Schlimmes, die Miesfrau?» «Ach, ihr Mann ist bestimmt über achtzig und fast taub. Aber sie hört die Flöhe husten, sagt mein Vater. Und dann schickt sie immer ihren Mann hoch, und der pöbelt im Treppenhaus herum.» 31
«Sie hört die Flöhe husten? Wie niedlich!» sagte der kleine Vampir. «Glaubst du, daß ich sie mal... besuchen könnte?» Anton zuckte mit den Schultern. «Keine Ahnung. Aber wir sollten jetzt anfangen!» Er hängte die Brause wieder in die Halterung an der Wanne. «Ich lasse jetzt Wasser ins Becken, und danach wasche ich dir die Haare!» «Warum denn nicht gleich so!» Der kleine Vampir setzte sich auf den Badewannenrand und baumelte erwartungsvoll mit den Beinen. «Ist das Wasser auch schön warm?» fragte er. «Ja!» knurrte Anton, der sich das Wasser über den Handrücken laufen ließ, damit kein Plätschern zu hören war. «Bei uns gibt es nur eiskaltes Wasser», meinte der Vampir. «Die armen Blümchen!» Anton sah ihn verdutzt an. «Welche armen Blümchen?» «Na, die auf dem Friedhof! Die vertragen kein kaltes Wasser – genausowenig wie wir.» «Allerdings... warmes Wasser mögen wir auch nicht besonders», schränkte der kleine Vampir ein. «Aber in diesem Fall... was sein muß, muß sein!» Er seufzte tief. Dann murrte er: «He, dein Wasserhahn läuft ja ziemlich langsam!» «Ich hab’ ihn nicht voll aufgedreht», erwiderte Anton. «Wegen der Miesmann.» «Du bist ja richtig rücksichtsvoll», kicherte der Vampir. «So kennt man dich gar nicht.» Anton warf ihm einen grimmigen Blick zu, entgegnete aber nichts.
Antons Waschsalon Dann endlich war das Waschbecken vollgelaufen. 32
«Wir können anfangen!» sagte Anton zähneknirschend. «Und wie soll ich da mit meinem Kopf reinkommen?» fragte der kleine Vampir. «Du sollst ja nur die Haare ins Wasser halten!» antwortete Anton. «Die Haare ins Wasser halten?» sagte der Vampir ratlos. «Und wie soll ich das machen?» «Du stellst dich vor das Becken, beugst den Kopf nach unten, und dann fallen die Haare von selbst ins Wasser.» «Ach so...» murmelte der Vampir. Nach kurzem Nachdenken meinte er argwöhnisch: «Aber dann ist mein Nacken ganz ungeschützt...» Anton grinste. «Keine Sorge, ich werde dir bestimmt nichts tun!» «Aber die andern! Schließlich bin ich ganz hilflos, wenn ich so kopfüber dastehe!» jammerte der kleine Vampir. «Die andern? Erstens schlafen meine Eltern, und zweitens ist die Badezimmertür abgeschlossen.» «Hm», machte der Vampir und betrachtete voller Unbehagen das gefüllte Waschbecken. «Und es gibt wirklich keine andere Möglichkeit?» «Doch –» «Und welche?» fragte der kleine Vampir aufgeregt. «Na, du könntest Trockenshampoo nehmen. Dann sieht das Haar wie frisch gewaschen aus.» «Ehrlich?» rief der kleine Vampir. «Und dabei muß ich meine Haare nicht ins Wasser stecken?» «Nein. Nur... anschließend jucken die Haare!» «Was? Sie jucken?» Der kleine Vampir stieß ein entrüstetes Schnauben aus. «Aber deswegen bin ich doch überhaupt nur hergekommen – damit ich endlich das gräßliche Kopfjucken loswerde!» «Tja –» Anton deutete auf das Waschbecken. «Dann wird dir wohl nichts anderes übrigbleiben!» 33
«Wenn du meinst...», sagte der Vampir kläglich. Er stellte sich vor das Becken und beugte seinen Kopf so weit herunter, daß seine Haare ins Wasser eintauchten. Anton hatte inzwischen die Flasche mit dem Moorshampoo aufgeschraubt. Gerade wollte er etwas von dem Shampoo nehmen – da fuhr der kleine Vampir in die Höhe und schrie: «Meine Augen! Ich darf kein Wasser in die Augen kriegen!» ›– und erst recht kein Moorshampoo!‹ ergänzte Anton, aber das sprach er lieber nicht aus. «Hier», sagte er und gab dem Vampir einen Waschlappen. «Den mußt du dir ganz fest an die Augen drücken. Dann passiert nichts.» «Wirklich nicht?» fragte der kleine Vampir besorgt.
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«Nein, du darfst ihn nur nicht loslassen», erklärte Anton. «Na schön!» Der Vampir preßte den Waschlappen gegen die Augen und beugte sich wieder über das Becken. Nun konnte Anton die schulterlangen, öligen und unglaublich verfilzten Haare des Vampirs tiefer in das warme Wasser drücken. Ihn schauderte. Wie die Haare sich anfühlten... brr! Und dann der Geruch, diese Mischung aus Haarpomade und Rüdigers normalem Vampirgeruch... Er nahm eine walnußgroße Menge von dem Moorshampoo und verteilte sie auf den nassen Haaren – ohne jeden Erfolg: Es schäumte kein bißchen! «He, was ist?» ächzte der kleine Vampir. Durch den Waschlappen hörte sich seine Stimme merkwürdig dumpf und verzerrt an. «Das Moorshampoo! Es schäumt überhaupt nicht.» «Dann nimm mehr – am besten die ganze Flasche!» «Die ganze Flasche!» Anton hustete empört. «Und dann darf ich wohl vom Taschengeld eine neue kaufen!» «Bist du nun mein Freund oder nicht?» kam die vorwurfsvolle Antwort des Vampirs. «Doch –» Anton nahm noch zweimal dieselbe Menge. Nun bildete sich ein dünner Schaumfilm. Mittlerweile war der Geruch im Badezimmer so unerträglich geworden, daß Anton fürchtete, ohnmächtig zu werden. Aber natürlich wurde er nicht ohnmächtig. Mit zusammengebissenen Zähnen drückte und knetete er die Haare, bis das Wasser im Becken so schwarz aussah wie Rüdigers Vampirumhang. Dann zog er aufatmend den Stöpsel heraus. «Fertig!» verkündete er, während das Wasser langsam und mit lautem Glucksen und Gurgeln abzulaufen begann.
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«Fertig?» Der kleine Vampir hob den Kopf. Mißtrauisch befühlte er seine Haare, die durch die Wäsche noch stärker verfilzt waren als vorher. Aber gerade das schien ihm zu gefallen. «Toll, wie zottig sie sind!» schwärmte er. «Und sie jucken überhaupt nicht mehr – kein bißchen.» Er sah Anton an, und ein zufriedenes Grinsen erschien auf seinem Gesicht. «Anton Bohnsack, der Meisterfriseur!»
Früh übt sich Aber gleich darauf, als sei es ihm peinlich, etwas Nettes gesagt zu haben, herrschte er Anton an: «So, und jetzt sollst du mir eine Nackenmassage machen!» Er beugte sich wieder über das Waschbecken. «Na los, mach schon», zischte er. «Mein Nacken ist so steif wie ein Sargbrett.» «Nackenmassage?» Anton lachte trocken auf. «Du glaubst wohl, du wärst Blasius von Seifenschwein – und ich dein dienstbarer Geist!» «Ich? Blasius von Seifenschwein?» Der kleine Vampir richtete sich auf und blickte Anton gerührt an. «Das war das Allerschönste, was du je zu mir gesagt hast, Anton!» seufzte er. «Ich... ein von Seifenschwein! Ach, das hätte Olga hören müssen!» «Du solltest dir lieber die Haare abtrocknen», knurrte Anton und reichte dem Vampir ein großes Frotteetuch eins von seinen eigenen, um keinen Ärger zu kriegen. Der kleine Vampir nahm das Handtuch und roch daran. «Puh!» schimpfte er. «Das stinkt ja erbärmlich! Womit wäscht deine Mutter bloß eure Wäsche?» «Mit gar nichts», erwiderte Anton.
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«Mit gar nichts?» wiederholte der Vampir. «Davon würde das Handtuch wohl kaum so süßlich stinken.» «Das habe ich auch nicht behauptet.» Anton grinste. «Aber bei uns wäscht nicht meine Mutter die Wäsche, sondern mein Vater!» Der kleine Vampir warf ihm einen wütenden Blick zu. «Und was soll ich mit dem Stinklappen?» sagte er und ließ das Handtuch über Antons Kopf kreisen. Anton grinste noch mehr. «Na, was wohl: Deine Haare abtrocknen!»
«Und deinen Umhang auch», fügte er hinzu. Inzwischen war der Vampirumhang nämlich schon ziemlich durchnäßt.
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«Was, meinen Umhang?» Rüdiger blickte erschrocken an sich herunter. «Oh, verteufelt!» sagte er. «Wenn der noch nasser wird, muß ich zu Fuß gehen!» Und eifrig begann er seinen Umhang abzureiben – anstatt sich, was viel sinnvoller gewesen wäre, zuerst die Haare zu trocknen. Doch plötzlich hielt der kleine Vampir inne. «Wozu mühe ich mich hier eigentlich ab», meinte er und lachte vergnügt. «Ich habe ja noch einen Umhang dabei!» Damit griff er unter seinen Umhang und brachte einen zweiten, trockenen zum Vorschein. «Eigentlich hatte ich ihn für dich mitgebracht», sagte er, «aber jetzt muß ich natürlich zuerst an mich denken!» Er streifte seinen eigenen, von Nässe triefenden Umhang ab, legte ihn über den Badewannenrand und zog sich den zweiten über. «Der andere ist für dich!» sagte er gnädig. «Für mich?» empörte sich Anton. «Willst du, daß ich abstürze?» «Nein.» Der kleine Vampir knackte gutgelaunt mit den Zähnen. «Daß du ihn trocknest!» «Ihn trocknen? Wie stellst du dir das vor?» «Oh, ganz einfach! Bestimmt willst du später auch mal Wäsche waschen, genau wie dein Vater! Und früh übt sich...» Anton gab ein erbostes Schnauben von sich. «Ha! So ein Pascha wie du will ich jedenfalls nicht werden!» gab er wütend zurück. «Nein?» sagte der kleine Vampir ungewöhnlich sanft. «Ich weiß zwar nicht genau, was ein Pascha ist, aber ich schätze –» Weiter kam er nicht, denn in diesem Augenblick klappte am Ende des Flurs eine Tür. «Meine Eltern!» stammelte Anton. «Was, deine Eltern?» stieß der kleine Vampir hervor, und mit gehetzten Blicken sah er sich im Badezimmer um.
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Dann riß er das Fenster auf, und ohne ein weiteres Wort breitete er die Arme aus und flog davon.
Mildernde Umstände «Anton?» Das war die Stimme seiner Mutter. «Bist du krank?» Anton schloß rasch das Fenster. «Nein», antwortete er. Dabei war ihm hundeelend zumute. Das Badezimmer sah furchtbar aus... Mindestens eine halbe Stunde würde es dauern, den Boden zu wischen und das Waschbecken zu scheuern! Und obendrein hatte Anton fast das ganze Moorshampoo aufgebraucht. Er stellte die Shampooflasche schnell in den Schrank zurück. Wenigstens die Sache mit dem Shampoo brauchte seine Mutter nicht sofort zu merken! «Was machst du denn da drinnen?» fragte sie, nun schon ungeduldiger. «Warum bist du nicht in deinem Bett?» «Ich mußte mal», antwortete Anton – nicht sehr einfallsreich, aber naheliegend! «Ist irgend etwas nicht in Ordnung?» ›Das kann man wohl sagen!‹ dachte Anton. Laut sagte er: «Nein, nichts Schlimmes.» «Nichts Schlimmes?» wiederholte sie, und entgegen ihrer Gewohnheit, stets anzuklopfen, drückte sie nun doch die Türklinke herunter. «Aber du hast ja abgeschlossen!» rief sie. Anton gab keine Antwort. Er hatte gerade den Waschlappen und das Handtuch aufgehoben, die der kleine Vampir achtlos hatte fallenlassen, und über den Trockenständer gehängt. Nun mußte er nur noch den Vampirumhang verschwinden lassen. Nach kurzem Überlegen stopfte er ihn in den roten Plastikeimer, der unter dem Waschbecken stand. 41
«Anton! Wieso hast du abgeschlossen?» hörte er die aufgeregte Stimme seiner Mutter. «Wieso? Weil ich jetzt in dem Alter bin, wo man abschließt!» antwortete er. «Und außerdem hasse ich es, wenn hinter mir hergeschnüffelt wird!» «Aber das hat doch nichts mit Hinterherschnüffeln zu tun, wenn ich mir Sorgen mache und wissen will, ob alles in Ordnung ist», erwiderte seine Mutter. – «Vor allem nicht, wenn du dich nachts um halb drei im Badezimmer einschließt!» fügte sie hinzu. Sie machte eine Pause, bevor sie energisch sagte: «Also, mach endlich die Tür auf!» Anton hatte die ganze Zeit überlegt, wie er seiner Mutter die nassen Fliesen, das nasse Handtuch und das vor Schmutz starrende Waschbecken erklären sollte. Endlich hatte er eine Idee – keine umwerfend tolle, aber immerhin: Er drehte kurz den Wasserhahn auf und hielt seine Haare unter den warmen Strahl. Dann schlang er sich das nasse Handtuch um den Kopf und schloß die Badezimmertür auf. Seine Mutter kam hereingestürzt – ziemlich außer sich. «Ja, ist das denn die Möglichkeit?» rief sie. «Haare waschen, mitten in der –» Doch sie vollendete ihren Satz nicht, sondern blickte sich fassungslos im Badezimmer um. Anton war vorsichtshalber bis zum Rand der Wanne zurückgewichen. Seine Eltern waren zwar entschieden dagegen, Kinder zu schlagen – aber hin und wieder passierte es doch, daß ihnen, wie sie es nannten, «die Hand ausrutschte». Und so verärgert, wie seine Mutter jetzt war, könnte ihr leicht «die Hand ausrutschen»... «Das ist ja ungeheuerlich!» rief sie, und vor Empörung bebte ihre Stimme. «Mitten in der Nacht wäschst du dir die Haare, setzt unser Badezimmer unter Wasser, und dann noch – » Sie stutzte und sog prüfend die Luft ein, «mit meinem 42
Moorshampoo! Sag mal, bist du denn von allen guten Geistern verlassen?» «Nein, von allen bösen», erwiderte Anton. Seine Mutter sah ihn irritiert an. «Von allen bösen? Was soll das heißen?» «Ich hatte einen Alptraum», erklärte Anton. «Ich habe geträumt, daß mein ganzer Kopf voller – äh – Läuse war, und diese Läuse haben mich gebissen und... mein Blut gesaugt. Und es sind immer mehr Läuse gekommen – und plötzlich bin ich hier, neben dem Waschbecken, aufgewacht. Ja, und meine Haare waren ganz naß, und der Boden war feucht...» «Du bist ins Bad gekommen, ohne es zu merken – wie ein Schlafwandler?» Anton nickte. «Aber du bist noch nie schlafgewandelt!» sagte seine Mutter halb erschrocken, halb ungläubig. «Wieso solltest du ausgerechnet heute nacht damit anfangen...?» «Na, weil der Traum so gräßlich war», antwortete Anton. «Die vielen Läuse... die haben mich richtig aus dem Bett getrieben, und dann mußte ich mir einfach im Schlaf die Haare waschen!» «Läuse... Blut saugen», wiederholte seine Mutter kopfschüttelnd. «Und nur, weil du immer diese fürchterlichen Vampirgeschichten liest! Bestimmt ist das Buch von Frau Tugendhaft, Der Vampir von... ich weiß nicht mehr, wo, der Grund für deinen Alptraum!» Anton widersprach ihr nicht; das schien ihm das Klügste zu sein. Es war schon seltsam: Wenn er die Wahrheit sagen würde nämlich, daß er schuldlos an der Nässe und dem Schmutz im Badezimmer war – würde seine Mutter ihm nicht glauben. Seine Ausrede dagegen – daß er einen Alptraum gehabt hatte und schlafgewandelt war – kam ihr glaubwürdig vor! Und selbst wenn sie nicht restlos von seiner Traumgeschichte 43
überzeugt war, so billigte sie Anton immerhin mildernde Umstände zu.
Telefon «Ich kann ja morgen früh alles aufwischen», bot Anton an. «Morgen früh? Nein, das muß jetzt gleich gemacht werden!» erwiderte seine Mutter. «Jetzt gleich?» sagte Anton abwehrend. «Willst du dich etwa vor dem Aufräumen drücken?» «Nein. Ich bin nur todmüde.» «Ach, und dann soll ich wohl alleine saubermachen?» fragte sie spitz. «Nein.» Anton grinste. «Du kannst doch Vati wecken!» «Wahrscheinlich ist er sowieso längst aufgewacht», entgegnete seine Mutter verärgert. «Bei dem Lärm, den du hier machst, kann ja keiner schlafen!» Und wie zur Bestätigung ihrer Worte klingelte in diesem Augenblick das Telefon. Antons Mutter erbleichte. «Wer kann denn das sein?» murmelte sie. Dann sagte sie ahnungsvoll: «Oje, ich kann mir denken, wer...» Eilig verließ sie das Badezimmer, und Anton hörte, wie sie durch den Flur zum Wohnzimmer lief. Die ganze Zeit klingelte das Telefon. Erst als das Klingeln verstummt war, holte Anton den nassen Vampirumhang aus dem Eimer heraus und schlich auf Zehenspitzen in sein Zimmer. Dort leerte er seine Sporttasche aus, stopfte den Umhang hinein und versteckte die Tasche in seinem Schrank. Dann lief er, ebenso leise, ins Bad zurück. An der Badezimmertür blieb er stehen und horchte.
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«Ja, selbstverständlich, Frau Miesmann», hörte er seine Mutter sagen. «Bitte, entschuldigen Sie vielmals. Es wird nicht wieder vorkommen. Bestimmt nicht, Frau Miesmann.» «Nein, wirklich nicht, Frau Miesmann!» sagte Anton im Tonfall seiner Mutter. Er nahm den roten Plastikeimer, stellte ihn mit lautem Poltern in die Badewanne und drehte den Wasserhahn auf. Doch da kam – wie Anton erwartet hatte – seine Mutter ins Badezimmer gestürmt und drehte den Hahn wieder zu. «Um Himmels willen, Anton, geh sofort in dein Bett!» sagte sie beschwörend. «Ins Bett?» tat er überrascht. «Eben hast du noch gesagt, wir müßten saubermachen.» «Und deshalb –» grinsend zeigte er auf den Eimer, «wollte ich auch schon Wasser einlaufen lassen!» «Das müssen wir auf morgen früh verschieben», erwiderte seine Mutter. «Oder willst du, daß Frau Miesmann uns die Polizei auf den Hals schickt?» «Die Polizei?» sagte Anton in gespieltem Erschrecken. «Ja! Sie hat gedroht, die Polizei zu rufen, wenn wir weiterhin so laut sind!» Anton grinste zufrieden in sich hinein. Was ihm nicht gelungen war, hatte Frau Miesmann geschafft. Und morgen würde Anton ausschlafen; denn immerhin hatte er Ferien! «Also dann: Gute Nacht!» sagte Anton. Er schlang sich ein trockenes Handtuch um seine nassen Haare, und vergnügt marschierte er in sein Zimmer.
Überfordert Der nächste Tag allerdings fing äußerst unerfreulich für Anton an: mit dem anhaltenden, mißtönenden Schrillen seines Weckers. Empört fuhr Anton aus dem Schlaf auf. Unglaublich – seine Mutter mußte heimlich den Wecker gestellt haben! 45
Wütend schlug er auf den Alarmknopf. Ein Blick auf das Zifferblatt zeigte ihm, daß es noch viel zu früh zum Aufstehen war: Halb neun – eine Unverschämtheit, ihn in den Ferien um diese Zeit zu wecken! Dann sah Anton, daß neben seinem Bett ein Zettel lag. Argwöhnisch begann er zu lesen:
Lieber Anton, Vati und ich sind in die Stadt gefahren zum Einkaufen. Am besten stehst du gleich auf, denn du hast noch eine Menge zu tun: Waschbecken scheuern, Fliesen feucht aufwischen. Wenn du fertig bist, kannst du dir Brötchen kaufen. Auf dem Küchentisch liegt Geld. Tschüs – und wir erwarten, daß im Bad alles picobello ist, wenn wir zurückkommen! Mutti + Vati
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«Alles picobello –» brummte Anton. Wenn ein Tag dermaßen schlecht anfing, war es das beste, gleich im Bett zu bleiben. Er schluckte ein paarmal probeweise... vielleicht hatte er ja Halsentzündung? Aber Antons Hals tat kein bißchen weh. Nein, daß er sich heute morgen hundsmiserabel fühlte, hatte – wie Herr Schwartenfeger sagen würde – «seelische Gründe»; denn so ziemlich alles war schiefgelaufen: Durch die Haarwäsche hatte er Rüdiger nicht nach jenem geheimnisumwitterten Vampir gefragt, der Patient bei Herrn Schwartenfeger war. Und die Einladung zu seiner Party hatte er Rüdiger auch nicht mitgegeben. Und jetzt sollte er obendrein ganz allein das Bad putzen... Seufzend stand Anton auf. Er zog sich an und ging ins Badezimmer. Insgeheim hoffte er, daß seine Eltern vielleicht doch saubergemacht hatten. Aber das Bad sah noch genauso schmutzig aus wie in der Nacht. Nicht einmal das Waschbecken hatten sie gescheuert! Ob sie sich in der Küche gewaschen hatten? Aber das konnte Anton auch egal sein. Er holte das Radio aus seinem Zimmer und fing an. Doch er machte nur oberflächlich sauber. Seine Eltern sollten ruhig sehen, daß er – um einen von Herrn Schwartenfegers Lieblingsausdrücken zu benutzen – mit dieser Aufgabe «überfordert» war! Danach nahm Anton das Geld für die Brötchen, und in dem Gefühl, daß der Tag eigentlich nur besser werden könnte, verließ er die Wohnung. Leider sollte Anton sich getäuscht haben. Am Nachmittag bestand seine Mutter darauf, daß er sie zu Frau Miesmann begleitete – mit einem großen Blumenstrauß, um sich zu entschuldigen. Und so kam es, daß Anton eine endlos lange Stunde neben seiner Mutter auf dem harten Sofa von Frau Miesmann sitzen, viel zu süßen Kakao trinken und ranzig schmeckenden Kuchen essen mußte. 47
Aber damit nicht genug: Am Abend, als Anton zur wohlverdienten Entspannung den Film «Der Wolf, der ein Mensch war» sehen wollte, sagte seine Mutter empört: «Einen Werwolf-Film? Nein, das kommt überhaupt nicht in Frage – nach dem furchtbaren Alptraum, den du letzte Nacht hattest!» «Aber ich habe doch von Läusen geträumt», wandte Anton ein – vergebens; sie ließ sich nicht umstimmen. Und da Antons eigener Fernseher seit ein paar Wochen kaputt war, blieb ihm nichts anderes übrig, als ins Bett zu gehen und zu lesen. Er schlug den «Vampir von Amsterdam» auf, doch schon nach einer Seite fielen ihm fast die Augen zu. Anton legte das Buch wieder weg und machte das Licht aus.
Sack und Asche Auf einmal klopfte es. «Nein, keine Haare waschen!» ächzte Anton, noch halb im Schlaf. Das Klopfen wiederholte sich, und jetzt war Anton hellwach. Er lief zum Fenster, und hastig schob er die Vorhänge zur Seite. Draußen auf dem Fenstersims saß Anna! Verlegen öffnete er das Fenster. «Hallo, Anton», sagte Anna. «Hallo, Anna», antwortete er mit rauher Stimme. Sie kletterte leichtfüßig ins Zimmer. «Endlich sehen wir uns wieder!» sagte sie und lächelte ihm zärtlich zu. Endlich? dachte Anton. Es war noch gar keine Woche vergangen seit ihrem letzten Treffen im Jammertal! An jenem Abend hatte ihm Anna im Keller der Ruine den Schrank mit den alten Kleidungsstücken gezeigt.
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Und «sehen» war auch stark übertrieben – hier in dem dunklen Zimmer! Anton trat ans Bett und schaltete die Nachttischlampe ein. «Du willst bestimmt dein Kleid holen», sagte er. Anna gab keine Antwort. Mit merkwürdig scheuen Blicken sah sie sich im Zimmer um. «Seltsam», sagte sie leise, «alles kommt mir ganz verändert vor...» «Verändert?» Anton folgte ihrem Blick, aber natürlich entdeckte er nichts Außergewöhnliches. «Was soll sich denn verändert haben?»
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«Ich weiß nicht... Vielleicht empfinde ich das nur – weil ich so lange nicht mehr hier war. Und weil es in der Ruine so ungemütlich und abscheulich war.» «Ach, Anton, ich bin richtig glücklich!» Sie seufzte. Anton errötete. Rasch ging er zum Schrank und holte das alte weiße Spitzenkleid und den Schleier. Der kleine Vampir hatte ihm die Sachen am letzten Urlaubsabend in den Freudentaler Gasthof gebracht, damit er sie für Anna aufbewahren sollte. «Hier!» «Noch kann ich sie nicht mitnehmen», erwiderte Anna, und ein Schatten huschte über ihr Gesicht. «Du weißt ja, Tante Dorothee... sie kann das Kleid nicht ausstehen. Es wäre unpassend und nicht standesgemäß, behauptet sie. Und sie hat auch gemerkt, daß es aus dem Schrank in der Ruine verschwunden ist. Nun hat sie gedroht, es in tausend Stücke zu reißen, wenn sie es in die Finger kriegt!» «Sie will es in tausend Stücke reißen?» wiederholte Anton erschrocken. «Ja, aber davon lasse ich mich nicht einschüchtern», sagte Anna grimmig. «Heute abend im Familienrat habe ich gleich den Antrag gestellt, daß wir Vampirkinder nicht immer nur in Sack und Asche gehen müssen. Wir wollen auch schöne Sachen anziehen dürfen – genau wie Tante Dorothee!» «Hoffentlich wird der Antrag genehmigt», sagte Anton und dachte daran, daß er andernfalls das alte Kleid und den Schleier noch ewig in seinem Schrank verstecken müßte. Bald würde er überhaupt keinen Platz mehr für seine eigenen Sachen haben! «Der nasse Umhang von Rüdiger», fiel ihm ein. «Den kannst du doch bestimmt mitnehmen.» Anton zog seine Sporttasche aus dem Schrank und mußte husten: Sogar durch die Tasche hindurch roch der nasse Vampirumhang... absolut unbeschreiblich. 50
«Rüdiger wollte, daß ich ihn trockne», erklärte er. «Aber ich kann ihn ja wohl schlecht im Badezimmer auf die Leine hängen! Und im Schrank wird er nie trocken.» «Gut, ich bringe ihn Rüdiger», erbot sich Anna. «Und du paßt dafür weiterhin auf mein Kleid und meinen Schleier auf!»
Alte Gruft und neue Gruppen «Hauptsache, Tante Dorothee sucht die Sachen nicht bei mir», sagte Anton voller Unbehagen. «Wieso denn?» meinte Anna. «Sie hat doch keine Ahnung, daß wir beide –» Sie sprach nicht weiter, sondern kicherte nur. «Aber Tante Dorothee weiß, daß Rüdiger mich kennt!» entgegnete Anton. «Schließlich hat sie Rüdiger immer hinterherspioniert, bis er dann Gruftverbot bekommen hat.» «Dadurch weiß sie noch lange nicht, wo du wohnst!» widersprach Anna energisch. «Und außerdem hole ich das Kleid und den Schleier wahrscheinlich schon am Sonntag ab.» «An diesem Sonntag?» sagte Anton, freudig überrascht. «Ja!» Jetzt lächelte sie. «Und das ist auch der Grund, weshalb ich hergekommen bin, obwohl ich eigentlich noch beim Familienrat sein müßte.» Sie machte eine Pause, bevor sie feierlich verkündete: «Ich möchte dich einladen zu unserem Heimkehr-Fest am Sonntagabend in unserer guten alten Gruft Schlotterstein!» Anton schluckte. Schon im Jammertal hatte Anna vom Heimkehr-Fest gesprochen – und von ihrem Wunsch, auf diesem Fest mit Anton als Paar zu erscheinen: Sie in ihrem Spitzenkleid und Anton in dem alten Anzug, den er Anna zuliebe aus der Ruine mitgenommen hatte. Aber Anton hatte ihr gleich gesagt, daß er es nicht sehr verlockend fand, Annas Verwandten zu begegnen – am allerwenigsten in der Gruft! 51
«Und Tante Dorothee?» begann er vorsichtig – in der Hoffnung, Anna vielleicht doch noch von ihrem Plan abzubringen. «Hast du keine Angst, daß sie dein Kleid in Stücke reißt, so wie sie es angedroht hat?» «Nein!» sagte Anna selbstbewußt und schüttelte ihr dickes, schulterlanges Haar. «Erstens will der Familienrat noch heute nacht über meinen Antrag entscheiden. Und ich rechne fest damit, daß der Antrag durchkommt und daß wir Vampirkinder dann endlich anziehen dürfen, was wir wollen!» «– Und zweitens ist es ein Fest ohne Erwachsene», fügte sie hinzu. «Ohne Erwachsene?» «Ja! Nur du und ich und Rüdiger – und Lumpi, falls er Lust hat.» «Lumpi auch?» sagte Anton bestürzt. «Glaubst du denn, daß er Lust haben könnte?» «Keine Ahnung», antwortete Anna. «Bei Lumpi weiß man nie genau. Du kennst ihn ja!» Anton nickte beklommen. «Meinst du nicht, daß er am Sonntag zu seiner Männergruppe muß?» fragte er. «Die Männergruppe ist geplatzt!» erwiderte Anna. «Geplatzt?» «Ja. Ich weiß auch nichts Genaues – nur daß es mit der Nagelkür zusammenhängt. Jetzt will Lumpi mit Rüdiger eine neue ›aufziehen‹, hat er gesagt.» «Eine neue Nagelkür?» «Nein, eine neue Männergruppe. Leider.» Anna seufzte. «Wahrscheinlich werden sie bald bei dir anfragen, ob du mitmachen willst.» «Bei mir?» sagte Anton betroffen. «Aber ich hab’ doch fast nie Zeit – nachts, meine ich.» «Anfragen werden sie trotzdem. Vor allem, weil sie dann Mitgliedsbeiträge kassieren können.» 52
«Mitgliedsbeiträge?» Anton spürte, wie er eine Gänsehaut bekam. Er ahnte schon, welche Art von Mitgliedsbeiträgen die beiden von ihm – als Menschen – erwarten würden... «Ich werde bestimmt nicht mitmachen!» erklärte er mit heiserer Stimme. Anna lächelte. «Wir könnten ja auch eine Gruppe gründen – du und ich», sagte sie. «Eine Romeo-und-Julia-Gruppe!» Anton wurde rot. Er wandte sich ab und tat so, als würde er etwas auf seinem Schreibtisch suchen.
Noch mehr Fragen «Aber jetzt muß ich fliegen», hörte er Annas Stimme. «Schon?» Erschrocken drehte Anton sich herum. «Ja! Dann bis Sonntag!» Sie lächelte noch einmal und breitete die Arme unter dem Umhang aus. «W-warte!» sagte Anton hastig. «Das mit dem HeimkehrFest bei euch in der Gruft... Ich – ich würde lieber doch nicht kommen.» Anna ließ die Arme sinken. «Du würdest lieber doch nicht kommen?» wiederholte sie. Einen Moment lang war sie sprachlos. Aber dann stieg ihr die Zornesröte ins Gesicht, und sie rief: «Du machst es dir ganz schön einfach! Ich rede wie ein Buch, um meine Eltern und meine Großeltern und meine Tante herumzukriegen, damit sie uns erlauben, daß wir Vampirkinder diesmal das HeimkehrFest alleine, ohne Erwachsene, feiern dürfen. Und das alles nur deinetwegen, weil du gesagt hast, du möchtest nicht mit meinen Verwandten feiern! Und dann – als ich es geschafft habe, sie zu überreden – sagst du, du würdest lieber doch nicht kommen!» Erbost ballte sie ihre Hände zu Fäusten. 53
«Ich...», Anton fühlte sich sehr unwohl in seiner Haut. «Ich würde ja gern kommen», sagte er zögernd. «Aber?» rief Anna. «Es ist wegen Lumpi», bekannte Anton. «Wegen Lumpi?» Anton nickte. «Im Jammertal... da hat Lumpi verlangt, daß ich ihm zeige, wie man kegelt. Und beim Kegeln hat er sich einen von seinen Fingernägeln abgebrochen – und das kurz vor der Nagelkür.» Bei der Erinnerung an Lumpis entsetzten Aufschrei bekam Anton jetzt noch weiche Knie! «Ja, und dann hat er gebrüllt, das würde ich ihm büßen. Er wüßte zwar noch nicht, wie, aber er würde sich etwas einfallen lassen; etwas, das ich mein ganzes Leben nicht vergessen würde!» «Nicht gerade nett von Lumpi, dir damit Angst einzujagen», sagte Anna teilnahmsvoll. Ihr Zorn auf Anton schien – zum Glück! – verraucht zu sein. «Aber keine Sorge», fuhr sie fort. «Ich werde mir Lumpi vorknöpfen.» «Glaubst du, das nützt etwas?» «Bestimmt! Lumpi wird schnell wütend, aber er beruhigt sich auch genauso schnell wieder. Seine Wutausbrüche und seine Drohungen mußt du nicht so ernst nehmen.» Nicht so ernst nehmen? dachte Anton zweifelnd. «Wie willst du ihn dir denn... vorknöpfen?» fragte er. «Na, mit ihm reden!» antwortete Anna. «Wenn man den richtigen Moment bei ihm erwischt, kann er richtig lieb und umgänglich sein.» «Tatsächlich?» sagte Anton, nicht sehr überzeugt. «Ja. Also, bis Sonntag, Anton!» meinte Anna und machte Anstalten, abzufliegen. «Warte, ich muß dich noch etwas fragen», sagte Anton hastig. Ihm war nämlich eingefallen, daß er Anna unbedingt
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noch fragen wollte, ob sie etwas über den geheimnisvollen Vampir wußte. «Fragen? Was denn?» sagte Anna, und unruhig blickte sie zum Fenster. Anton räusperte sich. «Herr Schwartenfeger, der Psychologe, zu dem meine Eltern gehen», begann er. «Und ich manchmal auch», ergänzte er, der Wahrheit zuliebe. «Dieser Schwartenfeger behauptet, er hätte einen... Vampir als Patienten!» «Wie – behauptet?» fragte Anna ungeduldig. «Ist es nun ein Vampir oder nicht?» «Wenn ich das wüßte...» antwortete Anton. «Aber ich habe ihn ja bisher noch nicht gesehen! Jedenfalls soll er kein Spiegelbild haben.» Als er das sagte, spürte er ein leichtes Schuldgefühl, daß er Anna gegenüber, die sich so große Mühe gab, kein richtiger Vampir zu werden, die Sache mit dem fehlenden Spiegelbild erwähnte. «Kein Spiegelbild?» wiederholte Anna. Erleichtert sah Anton, daß sie nicht gekränkt wirkte, sondern nur überrascht. «Ja, und nun wollte ich dich fragen, ob du vielleicht weißt, wer dieser Vampir ist», sagte Anton. «Ich? Nein! Aus meiner Familie kann es niemand sein», entgegnete Anna entschieden. Sie nahm Rüdigers nassen Vampirumhang und stieg aufs Fensterbrett. «Aber ich muß jetzt unbedingt fliegen», sagte sie. «Sonst werde ich noch aus dem Familienrat ausgeschlossen.» Sie hob ihren rechten Arm, während sie mit dem linken Rüdigers Umhang an sich drückte. Gleichmäßig bewegte sie nun den rechten Arm auf und ab, bis sie sich langsam und ein wenig schief in die Luft erhob.
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«Bis Sonntag, Anton», sagte sie. «Und übrigens – ich glaube nicht, daß dieser Patient bei Herrn Warzenpfleger ein echter Vampir ist!» Dann war sie davongeflogen.
Keine Mädchen? «Na, Anton, was macht die Party?» fragte Antons Vater am nächsten Morgen beim Frühstück. Anton, der im Schlafanzug am Tisch saß und unausgeschlafen in seinem Kakao herumrührte, horchte auf.
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«Die Party?» Sollte sein Vater etwas vom Heimkehr-Fest der Vampire erfahren haben? Seine Mutter lachte. «Du bist ja noch gar nicht richtig wach! Hast du vergessen, daß du am nächsten Samstag mit deinen Freunden eine Party feiern willst?» «Ach, die Party», murmelte Anton. «Nein, die habe ich nicht vergessen», sagte er. Etwas hatte Anton allerdings vergessen: Anna die Einladung für sie und den kleinen Vampir mitzugeben! «Hast du denn schon alle Einladungskarten verteilt?» wollte sein Vater wissen. Anton machte eine so heftige Bewegung, daß er fast die Tasse umstieß. «Nein!» Seine Eltern wechselten einen Blick. «Wahrscheinlich hat Anton sich bisher nicht getraut, bei Tatjana zu klingeln», meinte Antons Mutter und lachte, als hätte sie einen guten Witz gemacht. «Irrtum!» knurrte Anton. «Tatjana will ich überhaupt nicht einladen.» «Was, keine Mädchen?» fragte seine Mutter entrüstet. «Das habe ich nicht gesagt!» erwiderte Anton. «Wenn es nicht Tatjana ist – welches Mädchen ist es dann?» fragte sein Vater neugierig. «Tja –» Anton grinste. «Das darf ich leider noch nicht verraten.» «Und außerdem», sagte er geheimnisvoll, «lade ich vielleicht sogar mehrere Mädchen ein!» «Mehrere?» wiederholte seine Mutter erfreut. «Das hört sich ja an, als würdest du langsam deine Einstellung zu Mädchen ändern.» Anton machte ein sehr selbstbewußtes Gesicht. «Erstens weißt du gar nicht, wie meine Einstellung zu Mädchen ist», erwiderte er. «Und zweitens: Es hängt immer von dem Mädchen ab!» 57
«Also kommt doch nur ein Mädchen zur Party», kombinierte sein Vater. Anton warf ihm einen anerkennenden Blick zu. «Jedenfalls ist es ein Überraschungsgast», antwortete er. «Nein, es sind sogar zwei!» «Ich glaube, du hast zu viele Quizsendungen gesehen», sagte seine Mutter spitz. Anton grinste. «Aber ich möchte möglichst bald wissen, wen du eingeladen hast!» erklärte sie. «Schließlich findet die Party in unserer Wohnung statt, und da habe ich auch noch ein Wörtchen mitzureden.» «Und Vati nicht?» Sein Vater lachte. «Du wirst dir schon die richtigen Gäste aussuchen und einladen!» «Aussuchen ist leichter als einladen», sagte Anton und amüsierte sich über die verdutzten Gesichter, die seine Eltern machten.
In der allerbesten Absicht Und dann war Freitag. Schon beim Aufwachen spürte Anton, wie aufgeregt er war; denn diesmal wollte er unbedingt etwas über den Patienten erfahren, von dem Herr Schwartenfeger behauptete, er habe kein Spiegelbild. Während er noch überlegte, ob er gleich, ohne Umschweife, auf die Bürgerinitiative «Rettet den alten Friedhof» und auf den rätselhaften Patienten zu sprechen kommen sollte, klopfte es an seiner Zimmertür. «Ja?» brummte er. Antons Vater öffnete die Tür. «Du bist schon wach?» fragte er. Anton zog sich die Bettdecke bis zum Kinn. 58
«Nein.» «Schade», meinte sein Vater. «Ich hätte dir sonst etwas Aufregendes zu erzählen gehabt.» «Was denn?» fragte Anton. «Also –» Sein Vater kam ins Zimmer und setzte sich auf Antons Schreibtischstuhl. «Du wirst bestimmt gleich vor Begeisterung aus dem Bett springen», begann er gut gelaunt. «Wir haben nämlich beschlossen, an die See zu fahren – schließlich ist heute unser letzter Ferientag!» Als Anton jedoch liegenblieb und ein eher ablehnendes Gesicht machte, fragte er überrascht: «Hast du etwa keine Lust?» Anton zögerte. Schlecht war der Vorschlag nicht; er hatte nur einen Haken: «Und wann kommen wir zurück?» «Abends gehen wir noch todschick essen», antwortete sein Vater. «Todschick essen?» wiederholte Anton und grinste hinterhältig. «Giftige Muscheln, wie?» «Nein», sagte sein Vater, und vorwurfsvoll fügte er hinzu: «Du kannst einem auch wirklich jede Freude verderben!» Anton schwieg. Sollte er sagen, daß er den Termin bei Herrn Schwartenfeger unter keinen Umständen ausfallen lassen wollte? Aber das würde nur das Mißtrauen seiner Eltern wecken... «Ihr könnt mir auch jede Freude verderben», erklärte er. «Wie meinst du das?» «Na, ihr denkt immer, ich hätte keine eigenen Pläne. Aber ich habe mir auch etwas vorgenommen für heute.» «So?» «Ja! Ich habe mich mit Ole zum Hockeyspielen verabredet! Und danach muß ich zu Herrn Schwartenfeger.»
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Diese Reihenfolge würde, so hoffte Anton, seine Eltern glauben machen, es sei vor allem das Hockeyspielen mit Ole, das ihm am Herzen lag. «Wir könnten ja auch alleine fahren, Mutti und ich...» sagte sein Vater. «Aber ich denke, du spielst gar kein Hockey mehr?» fragte er dann. «Ich will eben wieder anfangen!» antwortete Anton. «Hm», meinte sein Vater nachdenklich. «Nun hat Mutti schon bei Herrn Schwartenfeger angerufen und den Termin auf nächsten Freitag verschoben.» «Was, sie hat schon angerufen?» rief Anton empört. «Ohne mich zu fragen?» Sein Vater machte ein verlegenes Gesicht. «Du hast ja geschlafen», antwortete er nicht sehr überzeugend. «Und es sollte doch eine Überraschung für dich sein.» «Ha, die Überraschung ist euch geglückt!» knurrte Anton. «Nur leider ist es eine böse Überraschung!» «Anton! Nun sei doch nicht gleich so wütend!» versuchte ihn sein Vater zu besänftigen. «Wir haben es ja nur in der allerbesten Absicht getan.» «In der allerbesten Absicht?» wiederholte Anton und schnaubte erbost. «Ja! Weil wir uns daran erinnert haben, daß du Psychologen nicht leiden kannst. Und deshalb haben wir uns gesagt, wir wollen nicht, daß dir auch noch der letzte Ferientag verdorben wird...» Anton holte tief Luft. «Genau das habt ihr jetzt geschafft!» rief er, und plötzlich hatte er Tränen in den Augen. Hastig zog er sich die Bettdecke über den Kopf. Er hörte, wie sein Vater aufstand und das Zimmer verließ. Kurz darauf näherten sich Schritte.
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Ziemlich mysteriös «Anton?» Das war die Stimme seiner Mutter. «Was ist?» fragte er unter der Decke. «Vati sagt, du willst nicht mit an die See fahren. Stimmt das wirklich?» «Ja.» «Und wenn wir Ole fragen, ob er mitfahren möchte?» «Nein. Ich will hierbleiben und Hockey spielen.» «Na schön», sagte Antons Mutter nach einer Pause. «Wenn dir das Hockeyspielen mit Ole wichtiger ist...» Ihre Stimme klang verärgert. «Aber dann mußt du auch zu Herrn Schwartenfeger gehen!» verlangte sie. Fast hätte Anton unter der Bettdecke einen Freudenschrei ausgestoßen. Zum Glück konnte seine Mutter nicht sehen, wie wenig ihn diese «Drohung» schreckte! «Ich werde ihn gleich anrufen und fragen, ob der Termin noch frei ist», kündigte sie an. Anton streifte rasch die Bettdecke zurück. «Ich könnte auch später hingehen. Ole und ich wollen nämlich ganz lange Hockey spielen – bis zum Dunkelwerden.» «Dein Interesse für Hockey kommt etwas plötzlich», bemerkte seine Mutter. «Es war nur eingeschlafen», antwortete Anton. «Genau wie bei euch.» «Wie meinst du das?» «Na ja, ihr macht doch auch kein Fitneß-Training mehr... Und Vati hat gesagt, ihr habt seitdem jeder schon zwei Kilo zugenommen!» Seine Mutter errötete. «Eingeschlafen ist unser Interesse nicht», erklärt sie würdevoll. «Aber wir haben eben viel zu tun und können nicht nur unserem Vergnügen nachgehen – so wie du!» 61
«Wenn das so ist», sagte Anton und grinste breit, «dann solltet ihr unbedingt an die See fahren – zu eurem Vergnügen und um abzunehmen!» Seine Mutter warf ihm einen wütenden Blick zu. «Ich werde jetzt telefonieren.» Mit diesen Worten rauschte sie aus dem Zimmer. Als sie gegangen war, lief Anton zum Schrank. Unter Annas Spitzenkleid zog er seinen alten, seit einer Ewigkeit nicht mehr benutzten Hockeyschläger hervor und stellte ihn neben den Schreibtisch – für den Fall, daß seine Mutter nach dem Schläger fragen sollte. Dann wartete er ungeduldig auf ihre Rückkehr. Endlich hörte Anton ihre Schritte, und gleich darauf trat seine Mutter ins Zimmer. «Ich habe eben mit Oles Mutter telefoniert», verkündete sie unheilvoll und blickte ihn dabei durchdringend an. «Mit Oles Mutter?» Anton erschrak. Dann hatte sie bestimmt erfahren, daß er überhaupt nicht mit Ole verabredet war... «Und was hat sie gesagt?» fragte er beklommen. «Sie wußte überhaupt nichts von eurer Verabredung! Und Ole konnte sich auch nur schwach erinnern.» «Nur schwach...?» wiederholte Anton. Ole hatte ihn also nicht verraten? «Jedenfalls bleibt die Sache mit eurem Hockeyspiel ziemlich mysteriös!» meinte seine Mutter unzufrieden. «Aber Oles Mutter hat gesagt, du sollst auf jeden Fall kommen, ob ihr nun verabredet wäret oder nicht», fuhr sie nach einer Pause fort. «Und sie will dich sogar zu Herrn Schwartenfeger fahren.» «Sie will mich hinfahren?» sagte Anton, und vor Freude machte sein Herz einen Sprung. Offenbar hatten seine Eltern beschlossen, ihren Ausflug ohne ihn zu machen!
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«Und wann ist der Termin bei Herrn Schwartenfeger?» fragte er aufgeregt. «Um halb neun», antwortete seine Mutter. Anton schnappte nach Luft. «So spät?» «Ja, ein früherer Termin war nicht mehr frei», erklärte sie. «Und Herr Schwartenfeger hat dir diesen späten Termin auch nur ausnahmsweise eingeräumt – weil ich ihn darum gebeten habe. Das ist nämlich seine Sprechzeit für Berufstätige. Aber schließlich ist heute dein letzter Ferientag, und der Urlaub war ja etwas... nun, mißlungen!» Anton biß sich auf die Zunge, um seine Mutter nicht merken zu lassen, wie groß seine Freude über diese äußerst glückliche Fügung war! «Und wir holen dich dann um viertel nach neun wieder ab», fügte sie hinzu.
Zimt und Zucker Eine Stunde später stand Anton am Straßenrand und sah zu, wie seine Eltern ins Auto stiegen. Sie waren gekleidet, als würden sie zu einer Nordpol-Expedition aufbrechen: Mit Wanderstiefeln, Daunenmänteln, Schals, Wollmützen und Handschuhen. Nur die eingegipste Hand, die Antons Vater in einer Armschlinge trug, wollte nicht so recht dazu passen. Anton jedenfalls war schon beim Anblick ihrer Daunenmäntel der Schweiß ausgebrochen, und er machte insgeheim drei Kreuze, daß er dableiben durfte. Seine Mutter kurbelte das Seitenfenster herunter. «Und geh gleich zu Ole», sagte sie – eine vollkommen überflüssige Ermahnung; denn wohin sollte Anton sonst gehen, da der kleine Vampir um diese Zeit noch fest schlief! «Ja», brummte er. «Und viel Spaß!» rief sie – dann fuhr sie los. ›Hoffentlich!‹ dachte Anton und seufzte. 63
Aber Oles Mutter war wirklich sehr nett, fand Anton. Zum Mittagessen gab es Milchreis mit Zimt und Zucker und am Nachmittag sogar Sahnebaisers, Antons Lieblingsgebäck, und dazu Kakao mit viel Sahne. Anton, dessen Eltern sich neuerdings für alles «Gesunde» begeisterten und die ihm ständig vorhielten, weißer Zucker und weißes Mehl wären ungesund, ließ es sich so richtig schmecken. Anschließend spielten Anton und Ole auf der Wiese im Park... Fußball! Und nach dem Abendessen, das auch nicht schlecht war es gab eine Riesenportion Vanille-Eis mit heißen Himbeeren – holte Oles Mutter ihr Auto aus der Garage, und Anton und Ole setzten sich auf die Rückbank.
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Oles Mutter studierte den Stadtplan.
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«Dieser Herr Schwartenfeger... der hat seine Praxis ja fast am anderen Ende der Stadt», meinte sie. Anton nickte. «Meine Mutter verfährt sich auch dauernd.» Das stimmte zwar nicht, aber vielleicht ließ sich Oles Mutter davon beeindrucken. Und Anton wollte möglichst spät bei Herrn Schwartenfeger ankommen; denn falls der geheimnisumwitterte Patient wirklich ein Vampir war, konnte er erst nach Sonnenuntergang in der Praxis sein! Doch Oles Mutter verfuhr sich nicht. Viel schneller als Anton erwartet hatte – und noch in den letzten Strahlen der untergehenden Sonne – hielten sie vor dem Haus von Herrn Schwartenfeger. Anton bedankte sich, und rasch, bevor Ole und seine Mutter auf die Idee kamen, ihn zu begleiten, stieg er aus und lief zum Haus hinüber.
Rätselhafte Andeutungen Im Flur war es dunkel. Anton tastete nach dem Schalter und atmete auf, als er ihn gefunden hatte und das Licht anging. Dann klingelte er an der Tür zur Praxis. Frau Schwartenfeger öffnete. «Du bist schon da?» sagte sie – doch anders als am Dienstag bat sie ihn nicht herein. «Die Mutter von einem Freund hat mich hergebracht», erklärte Anton. Ihm fiel auf, daß es diesmal nicht nach Blumenkohl roch, sondern nach einem schweren, süßlichen Parfüm. Es war ein Geruch, den Anton bisher weder an Frau Schwartenfeger noch an ihrem Mann bemerkt hatte. Es mußte also noch jemand in der Praxis sein – jemand, der dieses kräftige Parfüm benutzte! Ob es der geheimnisvolle Patient war, der angeblich kein Spiegelbild hatte? 66
Wenn er es tatsächlich war, dann konnte er allerdings kein richtiger Vampir sein; schließlich war die Sonne noch nicht untergegangen! Anton spähte an Frau Schwartenfeger vorbei zu den Garderobenhaken – in der Hoffnung, dort einen Hut oder einen Mantel zu entdecken; irgend etwas, das ihm Auskunft über den Benutzer des Parfüms geben könnte. Doch die Haken waren leer. «Ist denn noch einer vor mir dran?» fragte er. «Allerdings!» antwortete Frau Schwartenfeger und warf nun auch einen Blick in den Flur – einen besorgten, furchtsamen Blick, wie es Anton schien. «Ein etwas sonderbarer Patient», sagte sie leise und fügte hinzu: «Weißt du, ein Psychologe hat sehr viele – wie soll ich sagen – außergewöhnliche Patienten. Und der, der gerade gekommen ist –» Sie brach ab und räusperte sich. «Was ist mit ihm?» fragte Anton aufgeregt. Frau Schwartenfegers Zaudern, ihre besorgte, ängstliche Miene, der fremdartige Geruch und ihre rätselhaften Andeutungen hatten seine Neugier nur vergrößert! Doch Frau Schwartenfeger erwiderte ausweichend: «Du solltest lieber draußen warten, vor dem Haus.» «Draußen vor dem Haus?» Unter keinen Umständen wollte Anton sich jetzt wegschicken lassen! «Ich... ich muß aber mal», behauptete er, und dabei hüpfte er von einem Fuß auf den anderen, als würde er es kaum noch aushalten. «Du mußt mal?» wiederholte Frau Schwartenfeger. Nach kurzem Zögern sagte sie: «Na gut, dann komm herein.» Mit einem zufriedenen Grinsen betrat Anton den Flur. «Die vorletzte Tür links», erklärte Frau Schwartenfeger. «Ich weiß», sagte Anton.
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Von Angesicht zu Angesicht Während er den Flur entlangging, wurde der süßliche Geruch immer stärker. Brrr! Das roch ja, als hätte jemand eine ganze Flasche Uralt Maiglöckchen ausgeschüttet! Das Sprechzimmer von Herrn Schwartenfeger lag am Ende des Flurs und hatte eine besonders dicke, mit Stoff bezogene Tür. Anton spürte, wie es ihn verlockte, zu der Tür des Sprechzimmers zu gehen, sie aufzumachen und zu sehen, wer dieser geheimnisumwitterte Patient nun wirklich war. Aber er tat es nicht, sondern blieb vor der Badezimmertür stehen. Seltsam, in den schweren süßlichen Geruch mischte sich ein Geruch nach Fäulnis und Moder – die besondere Duftnote, die nur... Vampire hatten! «Bleib nicht im Flur stehen», rief ihm da Frau Schwartenfeger beschwörend zu. «Geh ins Bad, hörst du? Der Patient kann jeden Moment herauskommen.» «Wie bitte?» sagte Anton. «Du sollst nicht im Flur stehenbleiben!» rief Frau Schwartenfeger noch einmal, und jetzt klang ihre Stimme so drängend, daß Anton fürchtete, sie würde angelaufen kommen, um ihn eigenhändig ins Bad zu schieben. «Ich geh ja schon!» sagte er, und im Zeitlupentempo drückte er den Griff der Badezimmertür herunter. Dabei hielt er den Blick unverwandt auf die Tür des Sprechzimmers gerichtet – in der Hoffnung, sie könnte aufgehen, und der Patient würde heraustreten. Aber nichts dergleichen geschah, und so mußte Anton wohl oder übel in das kleine, grüngekachelte Badezimmer gehen. Die Tür ließ er allerdings einen Spaltbreit offenstehen. Dann lief er zur Toilette, betätigte die Spülung und kehrte an seinen Horchposten neben dem Waschbecken zurück. Anton brachte sich nicht lange zu gedulden. 68
Noch während die Spülung lief, hörte er die Stimme von Herrn Schwartenfeger, auf die eine tiefe, eigenartig schnarrende Stimme antwortete. Anton konnte zwar nicht verstehen, worüber die beiden sprachen. Aber er wußte, daß jetzt der Moment gekommen war, auf den er ungeduldig gewartet hatte, seit er zum erstenmal von dem Patienten gehört hatte, der kein Spiegelbild haben sollte. Gleich würde er ihn sehen – und nicht nur durch den Spalt der Badezimmertür, nein! Anton hatte beschlossen, aus dem Bad herauszukommen, sobald der Patient im Flur war. Und trotzdem – nun, wo die Begegnung unmittelbar bevorstand, zitterten ihm doch die Knie... Er nahm all seinen Mut zusammen – und dann trat er mit wild klopfendem Herzen in den Flur hinaus. «Also, wir sehen uns dann am –» hörte Anton die Stimme von Herrn Schwartenfeger – aber mitten im Satz stockte der Psychologe.
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«Anton!» sagte er; so überrascht, als sei Anton ein Geist.
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«Ich – äh, war im Bad», erwiderte Anton und musterte den nur mittelgroßen, mit altmodischer Eleganz gekleideten Patienten neben Herrn Schwartenfeger. Ein beinahe unerträglich starker Geruch nach süßlichem Parfüm ging von dem Mann aus, in den sich der typische Vampirgeruch mischte. Anton schlug das Herz zum Zerspringen: Es war fast kein Zweifel mehr möglich, daß er einem Vampir, einem richtigen Vampir gegenüberstand! Auch das Aussehen des Fremden sprach dafür: Unter einer rosigen Schicht von Puder war er leichenblaß, und seine grauen, leicht geröteten Augen lagen in tiefen Höhlen. Sein Haar war voll und schwarz, unnatürlich schwarz, als wäre es gefärbt. Es paßte überhaupt nicht zu seinem Gesicht, das trotz des Puders alt aussah – jahrhundertealt! dachte Anton, und plötzlich überlief ihn ein eisiger Schauder. Hastig wandte er den Blick ab. «Ich geh dann ins Wartezimmer», sagte er, und ohne sich noch einmal umzudrehen, lief er durch den Flur zum Wartezimmer. Erst als er die Tür hinter sich geschlossen hatte, beruhigte sich sein aufgeregter Herzschlag, und er konnte wieder klarer denken. Ein Vampir, ein richtiger Vampir in der Praxis von Herrn Schwartenfeger... Aber wieso konnte dieser Vampir seinen Sarg verlassen, bevor die Sonne untergegangen war?
Dick aufgetragen In Antons Überlegungen hinein wurde plötzlich die Tür geöffnet. Er sprang erschrocken aus dem Sessel auf; aber es war nur Frau Schwartenfeger. «Du kannst jetzt ins Sprechzimmer kommen», sagte sie. Anton folgte ihr langsam – in der bangen Erwartung, der Vampir könnte noch in der Praxis sein. 71
Und da ihre kurze Begegnung ausgereicht hatte, um bei Anton eine heftige Abneigung, ja Furcht hervorzurufen, spürte er keinerlei Verlangen, ihn wiederzusehen! Doch zu seiner Erleichterung war der Flur leer. Nur der verräterische Modergeruch, vermischt mit dem schweren, süßlichen Parfüm, lag noch in der Luft. Im Sprechzimmer, wo Herr Schwartenfeger hinter seinem großen, unaufgeräumten Schreibtisch saß, war dieser Geruch so stark, daß Anton husten mußte. «Nimm Platz!» sagte Herr Schwartenfeger und blinzelte Anton freundlich zu. Anton setzte sich. Mit Herzklopfen sah er, daß die dicke Mappe – das Lernprogramm gegen starke Ängste – vor Herrn Schwartenfeger auf dem Schreibtisch lag. «Nun, Anton?» sagte Herr Schwartenfeger. Offenbar erwartete er, daß Anton von sich aus zu erzählen begann. Anton zögerte. Einerseits brannte es ihm auf der Seele, über den unheimlichen Patienten zu sprechen. Andererseits hatte er den Termin bei Herrn Schwartenfeger nur bekommen, weil er über seine angeblichen UrlaubsProbleme reden wollte. «Ich – das mit dem Urlaub», fing er an.
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«Ja?» «Also, ich sehe das jetzt nicht mehr so verbissen.» «Ach, wirklich?» «Ja. Ich habe über den Urlaub nachgedacht, und ich finde, er war doch ganz schön. Und mein Vater kann ja auch nichts dafür, daß er sich die Hand geklemmt hat...» Insgeheim stieß Anton einen Stoßseufzer aus. Es war bedeutend schwieriger, über Probleme zu reden, die man nicht hatte, als über solche, die tatsächlich existierten! «Soso –» meinte Herr Schwartenfeger. «Und daß du dein Zelt nicht gebrauchen konntest», fragte er nach einer Pause. «Bist du darüber nicht enttäuscht?» Anton verkniff sich mühsam ein Grinsen. «Doch, natürlich», sagte er. «Aber nicht so sehr. Ich finde, meine Eltern haben recht: Man muß auch lernen, mit Enttäuschungen fertigzuwerden.» Hoffentlich war das nicht zu dick aufgetragen! dachte er. Aber Herr Schwartenfeger war von Antons Worten sichtlich angetan. «Das hast du sehr gut ausgedrückt, Anton!» lobte er. «Ich glaube, wir können mit dem, was der Urlaub bewirkt hat, außerordentlich zufrieden zu sein.» 73
«Ja, doch», sagte Anton, und in der Hoffnung, daß sie nun über den sonderbaren Patienten sprechen würden, warf er einen Blick auf die dicke Mappe, die vor Herrn Schwartenfeger lag. «Das Lernprogramm», fragte er vorsichtig. «Können Sie das auch an mir ausprobieren?» Herr Schwartenfeger schmunzelte – zum erstenmal an diesem Abend. Daraus schloß Anton, daß für Herrn Schwartenfeger jetzt der routinemäßige Teil des Gesprächs beendet war und daß sie endlich auf das von ihm entwickelte Lernprogramm und dessen Erprobung an... Vampiren zu sprechen kommen würden!
Keine Angst vor Vampiren? «An dir soll ich es ausprobieren?» Herr Schwartenfeger strich langsam, fast andächtig über die Mappe. «Ja, aber du hast doch gar keine Phobie, das heißt, keine besonders starken Ängste. Jedenfalls haben mir deine Eltern nichts dergleichen erzählt. Im Gegenteil, sie finden, daß du viel zu furchtlos und zu unerschrocken bist!» «Das haben sie gesagt?» fragte Anton geschmeichelt. «Und es stimmt ja auch», meinte Herr Schwartenfeger. «Nach dem, was mir deine Eltern erzählt haben...» «Was haben sie denn erzählt?» fragte Anton, mißtrauisch geworden. «Daß du sogar nach Einbruch der Dunkelheit noch draußen herumstreifst, daß du keine Angst vor Friedhöfen hast, keine Angst vor Vampiren...» «Keine Angst vor Vampiren?» Das war genau das Stichwort, auf das Anton gewartet hatte! «O doch», widersprach er. «Ich habe Angst vor Vampiren!» Und listig fügte er hinzu: «Vor dem zum Beispiel, der eben bei Ihnen in der Praxis war.»
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«Du glaubst also, daß er tatsächlich ein Vampir ist?» fragte Herr Schwartenfeger und musterte Anton forschend. Anton nickte. «Ja.» «Aber wieso?» «Es ist der Geruch!» «Der Geruch?» Herr Schwartenfeger zwinkerte belustigt mit den Augen. «Ich gebe zu, daß er entsetzlich nach Maiglöckchen und Veilchen riecht! Aber das Parfüm kann er sich in jeder Drogerie besorgen.» «Nein, das Parfüm meine ich nicht», erwiderte Anton. «Es ist sein eigener Geruch, den er mit dem Parfümduft überdecken muß!» «Sein eigener Geruch?» «Ja, sein Vampirgeruch!» «Hm –» machte Herr Schwartenfeger, und jetzt wirkte er nicht mehr so amüsiert. «Du hast recht», sagte er nach einer Pause. «Mir ist auch schon aufgefallen, wie eigenartig es in meinem Zimmer riecht, wenn er hier gewesen ist: Keineswegs nur nach Maiglöckchen und Veilchen, sondern irgendwie moderig und muffig, fast wie im Keller...» «Das ist der Vampirgeruch», bestätigte Anton. «Der entsteht, weil die Vampire immer in ihren uralten Särgen schlafen müssen.» «Wirklich eindrucksvoll, was du alles über Vampire weißt!» meinte Herr Schwartenfeger anerkennend. «Ich weiß noch viel mehr», erklärte Anton. «So? Was denn?» fragte Herr Schwartenfeger und blickte Anton erwartungsvoll an. Anton holte tief Luft. «An der blassen Haut kann man sie erkennen – an den Augenrändern meistens – und daran, daß sie niemals an die Sonne gehen dürfen.» «Eben nicht!» rief Herr Schwartenfeger. 75
Anton sah ihn verblüfft an. «Genau da liegt das Problem für mich», sagte Herr Schwartenfeger. «Durch mein Programm, durch mein Desensibilisierungs-Programm sollen sie ja lernen, sich den Sonnenstrahlen auszusetzen.» «Das könnten die Vampire... lernen?» Sekundenlang war Anton sprachlos. «Den endgültigen Beweis dafür habe ich nicht – noch nicht», antwortete Herr Schwartenfeger. «Aber ich werde es herausfinden, sobald ich mein Programm an einem richtigen Vampir erproben kann!»
Igno von Rant «Und der, der eben hier war», fragte Anton. «Ist das denn kein richtiger Vampir?» «Wenn ich das wüßte...» antwortete Herr Schwartenfeger. «Er sagt von sich, er sei kein Vampir. Aber als wir mit dem Programm anfingen, kam er nur abends zu mir, nachdem die Sonne schon untergegangen war.» «Und jetzt kommt er auch vor Sonnenuntergang?» «Ja, ungefähr eine halbe Stunde vorher. Ich habe ein paarmal versucht, Genaueres über ihn zu erfahren – wo er wohnt, wie alt er ist, woher er kommt. Aber er sagt mir nur, sein Name sei Igno von Rant, und er sei kein Vampir.» Anton biß sich vor Aufregung so kräftig auf die Lippen, daß es wehtat. Was Herrn Schwartenfeger ihm da erzählt hatte, war unglaublich, absolut sensationell... vorausgesetzt, daß dieser Igno von Rant tatsächlich ein Vampir war! Und daß er von sich behauptete, kein Vampir zu sein, besagte gar nichts; vermutlich war es nur eine Schutzbehauptung. Und nach der Begegnung im Flur zweifelte Anton nicht daran, nein, er war ganz sicher, daß dieser 76
unheimliche schwarzhaarige Mann kein Mensch war, sondern – ein Vampir! «Ich habe mir schon den Kopf zerbrochen, wie ich herauskriegen könnte, ob er ein richtiger Vampir ist», hörte er jetzt Herrn Schwartenfeger sagen. «Und haben Sie etwas herausgekriegt?» «Nun, im Telefonbuch steht er nicht, und auch sonst scheint ihn niemand zu kennen. Aber dann hat mich eine Sache stutzig gemacht...» «Stutzig gemacht. Was denn?» «Dieser übereifrige Friedhofswärter Geiermeier! Der hat zu einem Reporter gesagt, er wolle den ersten vampirfreien Friedhof Europas schaffen, und deshalb habe er angefangen, den alten Teil des Friedhofs umzupflügen. Jedenfalls hat es so in der Zeitung gestanden.» «Ja, und das hat mich hellhörig gemacht», fuhr er fort. «Wenn nämlich mein Patient, dieser Igno von Rant, doch ein richtiger Vampir sein sollte, habe ich mir gedacht, dann wird er vermutlich auf dem Friedhof wohnen. Und wenn dieser Geiermeier davon spricht, daß er den ersten vampirfreien Friedhof Europas schaffen will, dann muß er etwas auf dem Friedhof beobachtet haben – etwas, das ihn in der Meinung bestärkt hat, es gäbe dort Vampire!» Herr Schwartenfeger machte eine Pause. Er atmete ein paarmal heftig, bevor er weitersprach: «Und wenn es also auf dem Friedhof tatsächlich Vampire gibt, habe ich mir gedacht, dann müßte einer von ihnen mein Patient sein Igno von Rant! Und damit dieser Geiermeier mir meinen Patienten nicht vertreibt, habe ich kurzentschlossen die Bürgerinitiative ›Rettet den alten Friedhof‹ gegründet.» Er stieß einen tiefen Seufzer aus. «Ja, und mit dieser Bürgerinitiative ist es mir dann gelungen, die Arbeiten auf dem Friedhof zu stoppen!»
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Der eigene Sarg «Aber vielleicht wohnt dieser Igno von Rant gar nicht auf dem Friedhof», warf Anton ein. Herr Schwartenfeger runzelte die Stirn. «Wo sollte er denn sonst wohnen?» «Vielleicht in einem Keller?» sagte Anton. «Du meinst, es ist gar nicht zwingend vorgeschrieben, daß die Vampire auf einem Friedhof schlafen?» fragte Herr Schwartenfeger überrascht. «Nein, Vampire können überall schlafen – allerdings nur in ihrem eigenen Sarg. Deshalb müssen sie ihn auch immer mitnehmen, wenn sie umziehen.» «Der eigene Sarg...» Herr Schwartenfeger pfiff leise durch die Zähne. «Daran habe ich überhaupt noch nicht gedacht. Ich könnte in mein Desensibilisierungs-Programm einen Sarg einbauen, einen echten Sarg, und sehen, wie Igno von Rant reagiert.» Aufgeregt notierte er etwas in seiner dicken Mappe. «Vielleicht bringt mich das ein Stück voran...» murmelte er. «Ich muß endlich Gewißheit haben, ob er nun ein Vampir ist oder nicht.» – «Und du kannst mir nicht weiterhelfen?» fragte er, ohne aufzusehen. «Weiterhelfen? In welcher Beziehung?» Herr Schwartenfeger hob den Kopf und blickte Anton mit einem verschwörerischen Lächeln an. «Indem du mir zum Beispiel deine beiden seltsamen Freunde vorstellst!» «Meine beiden seltsamen Freunde?» wiederholte Anton. Damit konnten nur Anna und der kleine Vampir gemeint sein! «Warum soll ich Ihnen meine Freunde vorstellen?» fragte er argwöhnisch.
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Herr Schwartenfeger lachte. «Keine Sorge, es wird ihnen nichts passieren. Aber deine Mutter hat mir so viel von schwarzen Umhängen, bleichen Gesichtern und nächtlichen Ausflügen erzählt, daß ich einfach neugierig geworden bin. Und vielleicht kennen ja deine Freunde einen richtigen Vampir.» «Wie kommen Sie denn darauf?» «Na, wenn sie immer so seltsam angezogen herumlaufen, könnte es doch sein, daß sich ihnen mal ein richtiger Vampir nähert, einer, der sie –» er schmunzelte, «verwechselt! Glaubst du nicht, daß so etwas möglich wäre?» «Daß sich ihnen ein richtiger Vampir nähert?» Anton verzog zweifelnd die Mundwinkel, um Herrn Schwartenfeger nicht merken zu lassen, wie aufgewühlt er war. «Und wenn sie tatsächlich einen Vampir kennen würden», fragte er mit rauher Stimme. «Was wäre dann?» «Nun –» Herr Schwartenfeger machte eine einladende Handbewegung. «Dann würde ich diesen Vampir fragen, ob er mein Desensibilisierungs-Programm machen möchte, um seine Angst vor den Sonnenstrahlen zu verlieren.» Anton schwieg verwirrt. Die Möglichkeiten, die sich den Vampiren hier eröffneten, waren so ungeheuerlich, daß er nicht wußte, ob er daran glauben oder alles für ein Hirngespinst halten sollte. Aber dort auf dem Schreibtisch lag die dicke Mappe mit dem Lernprogramm. Und Igno von Rant war ein Vampir, daran zweifelte Anton keinen Augenblick! «Dieses Programm...» begann er, doch jetzt klopfte es an der Tür.
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Geheime Verschwörer «Was ist denn?» rief Herr Schwartenfeger verärgert, genau wie am Dienstag. Die Tür wurde geöffnet, und Frau Schwartenfeger spähte ins Zimmer. «Antons Eltern sind gekommen», sagte sie und machte leise die Tür wieder zu. Herr Schwartenfeger sah auf seine große Armbanduhr. «Oh!» meinte er. «Die Stunde ist längst herum.» Er stand auf. Auch Anton erhob sich vom Stuhl, noch ganz benommen und mit merkwürdig zittrigen Beinen. Die Dinge, die er eben erfahren hatte, waren so außergewöhnlich gewesen, so ungeheuerlich, daß ihn die Mitteilung, seine Eltern seien gekommen, völlig überraschend, wie ein Blitz aus heiterem Himmel, getroffen hatte. Er schluckte. «Meine Freunde», sagte er. «Ich – ich werde sie fragen, ob sie einen Vampir kennen. Und wenn sie einen kennen, soll ich Sie dann anrufen?» «Ja, das ist eine gute Idee!» Herr Schwartenfeger öffnete eine Schublade seines Schreibtisches, zog einen Zettel heraus und gab ihn Anton. «Hier steht meine Nummer.» Es war das gleiche Flugblatt, das auch im Wartezimmer auslag. ›Helfen Sie mir, den Alten Friedhof zu erhalten... Weitere Informationen über: J. Schwartenfeger, Telefon 48 12 18‹, las Anton. «Kann ich den Zettel mitnehmen?» fragte er. «Natürlich! Aber warte –» Herr Schwartenfeger holte aus einer Tasche seiner Cordhose ein kleines rotes Buch hervor und blätterte darin. «Vielleicht habe ich am Montag noch einen Termin frei. Meinst du, daß du um achtzehn Uhr dreißig Zeit hättest?» 80
Anton nickte. «Klar!» sagte er und fügte in Gedanken hinzu: ›Dann muß der Töpferkurs eben ausfallen.‹ Seine Eltern würden bestimmt finden, daß ein Gespräch mit Herrn Schwartenfeger viel wichtiger wäre! Und Anton sollte recht behalten. Seine Mutter machte zwar ein besorgtes Gesicht, als sie erfuhr, daß er bereits am Montag wieder zu Herrn Schwartenfeger in die Sprechstunde kommen sollte, und sein Vater konnte sich nicht verkneifen, zu witzeln: «Anton scheint ja einen ganzen Berg von Problemen zu haben!» Aber er schlug vor, Anton eine Buslinie zu zeigen, mit der Anton in Zukunft auch alleine zum Psychologen fahren könnte, ohne umsteigen zu müssen. Insofern war alles bestens... Und trotzdem konnte Anton nicht einschlafen, als er kurz darauf in seinem Bett lag.
Wenn das stimmte, was ihm Herr Schwartenfeger über sein Lernprogramm mit dem unaussprechlichen Namen gesagt hatte, dann bedeutete das für die Vampire eine Revolution!
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Er dachte an Anna und wie sehnlich sie sich gewünscht hatte, ein einziges Mal beim Schulunterricht neben ihm sitzen zu können. Wenn das Programm funktionierte, würde sie vielleicht jeden Tag zur Schule gehen können – sofern sie Lust dazu haben sollte. Aber es wäre nicht nur die Schule; die Vampire könnten einkaufen gehen, zum Frisör, zum Zahnarzt Vielleicht würden sie im Laufe der Zeit auch nicht mehr so blaß aussehen, sondern eine leichte Sonnenbräune bekommen? Und dann bräuchten sie nicht länger zu fürchten, als Vampire erkannt und verfolgt zu werden! Vorausgesetzt, das Lernprogramm von Herrn Schwartenfeger hatte wirklich die erhoffte Wirkung – unter diesen Umständen fand Anton es sogar recht anziehend, Vampir zu sein... Denn das würde ja heißen, ein ewiges Leben zu haben und trotzdem so weiterleben zu können wie bisher – mit einer gewissen Änderung der Eßgewohnheiten, an die man sich bestimmt schnell gewöhnen würde. Und dann würde Anton immer mit dem kleinen Vampir zusammen sein und mit Anna. Er spürte, wie er rote Ohren bekam. Nein, daran durfte er jetzt gar nicht denken! Erst einmal mußte er das Naheliegende klären: Nämlich, ob das Programm funktionierte oder nicht. In dieser Beziehung waren er und Herr Schwartenfeger nun Verbündete – nein, Verschwörer waren sie, geheime Verschwörer! Mit diesem Gedanken schlief Anton ein.
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Mit Honig Auch beim Frühstück am nächsten Morgen stand Anton noch ganz unter dem Eindruck des Gesprächs mit Herrn Schwartenfeger, und ohne rechten Appetit kaute er auf seinem Rosinenbrötchen herum. «Du bist wohl schon nervös wegen Montag!» bemerkte seine Mutter. «Wegen Montag?» wiederholte Anton und blickte von seinem Teller auf. Ob Herr Schwartenfeger ihr von dem Lernprogramm erzählt hatte? Doch jetzt sagte sie: «Vermutlich schreibt ihr am Montag eine Arbeit, und du hast noch nicht geübt!» «Ach, du meinst die Schule», Anton stöhnte demonstrativ. «Nein, wir schreiben keine Arbeit.» Und hinterlistig fügte er hinzu: «So gemein wie du ist meine Lehrerin nicht!» Seine Mutter schnappte entrüstet nach Luft. «Wie soll ich das verstehen?» «Na, du läßt anscheinend am ersten Schultag eine Arbeit schreiben!» «Nein, lasse ich gar nicht», widersprach sie. «Aber aus deiner Miene habe ich geschlossen, daß dir etwas Unangenehmes bevorstehen muß.» 83
«Mir? Etwas Unangenehmes?» Anton grinste, und mit dem Gedanken an das Heimkehr-Fest der Vampire am Sonntag sagte er: «Wenn wir unter uns bleiben, könnte es richtig nett werden.» «Unter euch, ja!» sagte seine Mutter giftig. «Am besten, man schafft alle Lehrer ab, dann seid ihr Schüler ungestört.» «So hat Anton das bestimmt nicht gemeint», beschwichtigte Antons Vater. «Und wir sollten jetzt überlegen, was wir noch einkaufen müssen. Ich schätze, Anton braucht Trinktüten für die Schule.» «Allerdings!» sagte Anton. Dann hätte er gleich ein paar Mitbringsel für morgen abend, für Anna! «Und Schokoladenriegel», ergänzte er. «Schokoladenriegel?» wiederholte seine Mutter und verzog das Gesicht. «Waren wir uns nicht einig, daß du in Zukunft nur noch Vollkorn-Riegel mit Honig essen willst?» «Ole ißt von morgens bis abends Süßigkeiten.» «Ole!» sagte seine Mutter spitz. «Ja, und deshalb ist er im Fußball auch viel besser als ich!» «Im Fußball?» sagte Antons Vater. «Ich dachte, ihr wolltet zusammen Hockey spielen?» «Fußball und Hockey.» «Bei deiner Party am nächsten Samstag wird es jedenfalls nur gesunde Sachen geben», erklärte Antons Mutter. «Das kann ja heiter werden!» seufzte Anton. Sein Vater lachte. «Vielleicht sollten wir nicht allzu streng sein mit dem Essen, Helga», meinte er. «Morgen bei Oma und Opa wird es ja auch Sahnetorte und Eis und Kekse geben – und Oma backt bestimmt nicht mit Honig!» «Was?» schrie Anton auf. «Wir gehen zu Oma und Opa? Etwa bis abends?» «Wieso nicht?»
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«Weil –» Anton räusperte sich, «wir doch eine Arbeit schreiben.» Und da er in Mathematik ziemlich schlecht war, fügte er hinzu: «Eine Mathe-Arbeit.»
Vergeßlich «Eine Mathe-Arbeit?» Seine Mutter war blaß geworden. «Ja, warum hast du das nicht früher gesagt?» «Warum?» Anton konnte wohl schlecht zugeben, daß ihm die Idee mit der Mathe-Arbeit gerade erst in diesem Augenblick gekommen war! «Ich hab’ nicht dran gedacht.» «Nicht dran gedacht?» sagte seine Mutter empört. «Na ja... Nach den ereignisreichen zwei Ferienwochen», bemerkte Anton anzüglich. Das wirkte: Seine Eltern wechselten einen schuldbewußten Blick, dann bot sein Vater überfreundlich an: «Mutti und ich würden dir gern beim Lernen helfen.» «Nein danke, ich übe lieber alleine», antwortete er. «Morgen nachmittag, wenn ihr bei Oma und Opa seid!» «Ausgerechnet, wenn wir zum gemütlichen Kaffeetrinken eingeladen sind?» sagte Antons Mutter unzufrieden. «Willst du nicht heute üben?» «Nein. Erstens ist es dann schön ruhig in der Wohnung. Und zweitens sagst du immer, ich wäre vergeßlich! Und wenn ich heute übe, habe ich vielleicht bis Montag alles wieder vergessen!» – «Und drittens gehen wir ja noch öfter zu Oma und Opa zum Kaffeetrinken.» Dagegen konnte selbst Antons Mutter nichts mehr ins Feld führen. «Na, gut», sagte sie. «Aber du mußt versprechen, daß du lernst und nicht in deinen Vampirbüchern liest!» «Falls es dich beruhigt», antwortete Anton, «ich habe sie, leider, alle durch.»
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«Das soll mich beruhigen?» Sie lachte – etwas gequält. «Wie ich dich kenne, fängst du mit einem dieser Bücher gleich wieder von vorne an!» «Du mußt es wissen», sagte Anton. Insgeheim gab er zu, daß sie ihn wirklich gut kannte – zu gut, wie er fand. «Ich verspreche es», sagte er. Und so kam es, daß Anton am Sonntagnachmittag allein zu Hause bleiben durfte – um zu lernen, wie seine Mutter noch einmal betonte. Er übte auch tatsächlich eine Weile Mathematik; denn Herr Fliegenschneider, sein Mathe-Lehrer, hatte eine Vorliebe für böse Überraschungen am ersten Schultag. Danach las Anton, und zwar – eingedenk seines Versprechens – keine Vampirbücher, sondern... Gespenstergeschichten. Am frühen Abend kamen seine Eltern zurück. Schon an der Wohnungstür stöhnten sie, daß sie zuviel gegessen hätten. «Mit ist richtig schlecht», seufzte Antons Mutter, die ganz grau im Gesicht war. Anton unterdrückte ein Grinsen. «Mir ist auch schlecht», sagte er. «Vom vielen Lernen.» «Dagegen hilft bestimmt die Kirschtorte, die Oma für dich eingepackt hat», meinte sein Vater und lachte. «Oh, Kirschtorte!» freute sich Anton. Er verspürte wirklich großen Hunger. Und seine Oma hatte ihm nicht nur ein Stück mitgegeben, sondern drei als hätte sie geahnt, daß Anton heute abend noch verabredet war. Und da Anna Milch und Käse zu sich nahm, würde sie vielleicht auch Gefallen an Kirschtorte finden! Hungrig wie er war, aß Anton rasch zwei Stücke hintereinander. Dann sagte er seinen Eltern ›Gute Nacht‹ nahm
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den Teller, auf dem das dritte Stück lag, und ging in sein Zimmer.
Es hat nicht geklappt Er schloß die Tür ab und öffnete das Fenster. Mit Herzklopfen lehnte er sich hinaus. Es war schon fast dunkel, und die Dunkelheit schien den Blütenduft, der bis zu Anton heraufdrang, noch zu verstärken. Ob das die Jasminsträucher waren, die vor dem Haus wuchsen? Anton hatte in der Zeitung von einem Mann gelesen, der unter Jasminsträuchern eingeschlafen und fast erstickt war... Er überlegte schon, ob er das Fenster lieber schließen sollte – da hörte er ein helles Kichern. Es kam aus dem äußersten Winkel des Fensters. Und dort saß, eng an die Mauer gedrückt, eine kleine, schwarze Gestalt: Anna! Auf einmal begriff Anton, weshalb der Duft so ungewöhnlich stark war: Er kam überhaupt nicht von den Sträuchern, sondern von Anna. Sie mußte irgendein neues Parfüm haben. Rot geworden, blickte Anton sie an. Sie war ganz in ihren schwarzen Umhang gehüllt, den sie sich bis über den Kopf gezogen hatte, so daß Anton nur ihre Nase und ihre großen, glänzenden Augen sah. «Hallo, Anna!» begrüßte er sie. «Guten Abend, Anton», sagte sie und lächelte – ungewöhnlich schüchtern, wie Anton fand. «Willst du nicht reinkommen?» fragte er. «Wenn ich darf...» antwortete sie. «Wieso nicht?» erwiderte Anton – verwundert über ihre sonderbare Zurückhaltung. «Ich hab’ sogar ein Stück Kirschtorte für dich.»
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«Kirschtorte?» Sie kletterte vom Fensterbrett ins Zimmer und streifte ihren Umhang zurück. «Für mich?» «Ja.» Anton lief zu seinem Schreibtisch, schaltete die Lampe ein und brachte Anna den Teller. Doch dann lachte er verlegen. «Mein Gedächtnis ist wirklich nicht sehr gut», sagte er. «Ich hab’ die Kuchengabel vergessen!» «Oh, das macht nichts», antwortete Anna und setzte sich auf Antons Bett. Den Teller stellte sie neben sich. «Ich... ich kann die Torte sowieso nicht essen.» «Nicht?» sagte Anton überrascht. «Nein.» Ein trauriges Lächeln huschte um ihren kleinen runden Mund. «Es hat nicht geklappt.» «Es hat nicht geklappt?» wiederholte Anton. «Was denn?» Ratlos sah er sie an. «Du weißt es nicht?» sagte Anna, und jetzt lächelte sie etwas stärker, so daß Anton ihre Zähne sehen konnte und da 88
auf einmal begriff er, was nicht geklappt hatte: Annas Eckzähne... sie waren gewachsen! Sie wirkten zwar noch verhältnismäßig klein, verglichen mit denen der anderen Vampire. Aber sie waren deutlich länger als die übrigen Zähne... Anton spürte ein leichtes Frösteln. Vor ein paar Monaten noch hatte Anna erklärt, daß sie ihren ganzen Willen einsetzen wolle, um kein richtiger Vampir zu werden. Auf seine besorgte Frage, ob das denn möglich sei, hatte sie geantwortet, sie müsse es nur fest genug wollen – und sie müsse wissen, für wen sie es tue. «Ich würde deine Kirschtorte wirklich gern essen», sagte sie mit bekümmerter Miene. «Und Milch würde ich auch gern trinken», fuhr sie fort und blickte hinüber zu den Trinktüten, die Anton schon für sie auf den Schreibtisch gestellt hatte. «Aber es geht einfach nicht mehr. Man kann den Lauf der Dinge nicht ändern, sagt meine Großmutter, Sabine die Schreckliche.» Sie senkte den Kopf und schluchzte leise, und auch Anton hatte plötzlich einen Kloß im Hals. «Die blöde Kirschtorte», bemerkte er, um überhaupt etwas zu sagen. Anna blickte auf. In ihren Augen schimmerten Tränen. Sie nahm den Teller und hielt ihn Anton hin. «Hier», sagte sie. «Iß du die Torte – für uns!» «Für uns?» Anton hatte überhaupt kein Verlangen nach einem weiteren Stück Torte. Außerdem war ihm der Appetit gründlich vergangen. Doch er wollte Anna nicht enttäuschen, und so aß er sein drittes Tortenstück – mit den Fingern.
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Elefant im Porzellanladen Anna sah ihm dabei zu – mit einem innigen Lächeln. «Etwas könnten wir schon ändern», sagte sie leise und sehr sanft. Anton, der sofort verstand, worauf sie anspielte, bekam einen Hustenanfall. «Nein!» rief er unter heftigem Husten aus. «Nein! Du weißt genau, daß ich das nicht will.» «Aber wenn es keinen anderen Weg gibt», erwiderte sie. Anton war auf einmal entsetzlich übel. «Ich will kein Vampir werden!» stieß er hervor. Jetzt weinte Anna. Die Tränen rannen über ihre schneeweißen Wangen, und sie saß einfach nur da und blickte auf ihre im Schoß gefalteten Hände. Verlegen stand Anton auf. Er hätte sich ohrfeigen können für sein plumpes, unsensibles Verhalten. Manchmal benahm er sich wirklich wie ein Elefant im Porzellanladen! Anstatt Anna zu trösten, die ganz offensichtlich schon in bedrückter, niedergeschlagener Stimmung zu ihm gekommen war, hatte er alles nur noch schlimmer gemacht durch seine – in dieser Situation – völlig unangebrachte Bemerkung, er wolle kein Vampir werden. «Ich... es gibt vielleicht doch einen Weg», sagte er mit rauher Stimme. «So? Und welchen?» schluchzte Anna. Anton trat an seinen Schreibtisch. Aus einer Schublade holte er den Zettel von Herrn Schwartenfeger und reichte ihn Anna. Während sie las, wurde ihr Schluchzen immer schwächer. «Retter den alten Friedhof», sagte sie und blickte Anton fragend an. «Ich verstehe nicht... Was ist das für ein Weg, den du meinst?» 90
«Dieser Schwartenfeger, dessen Name auf dem Flugblatt steht», begann Anton – betont vorsichtig, um sie nicht noch einmal zu verletzen. «Er ist der Psychologe, zu dem ich gehe und von dem ich dir erzählt habe. Erinnerst du dich?» «Psycho-loge?» «Ja, er hilft Menschen, die – Probleme haben.» Sie schluchzte wieder. «Ich bin aber kein Mensch!» «Er hilft ja auch nicht nur Menschen», erwiderte Anton, und unwillkürlich flüsterte er, «sondern auch – Vampiren!» «Vampiren? Hast du uns etwa an diesen Warzenpfleger verraten?» rief Anna empört. «Nein, natürlich nicht!» beruhigte Anton sie. «Aber ich habe bei Schwartenfeger den Patienten gesehen, der kein Spiegelbild haben soll. Er ist ein echter Vampir!» «Ein echter Vampir als Patient bei einem Psychologen?» «Ja! Schwartenfeger will ihm beibringen, keine Angst mehr vor den Sonnenstrahlen zu haben.» Anna sah Anton ungläubig an. «Er glaubt, er könnte ihm das – beibringen?» «Ja. Er hat so ein Programm, ein De-, also, den genauen Namen hab’ ich vergessen. Und mit diesem Programm soll es möglich sein, starke Ängste zu überwinden – jedenfalls behauptet er das.» «Starke Ängste?» Anna machte ein zweifelndes Gesicht. «Ich würde es nicht als Angst bezeichnen, was uns dazu bringt, die Sonnenstrahlen zu meiden. Es ist unser Lebensgesetz, unser – Überlebensgesetz!» «Er versteht auch nicht besonders viel von Vampiren», beschwichtigte sie Anton rasch. «Die Hauptsache ist doch, daß sein Programm wirklich funktioniert! Und ich habe den Vampir in seiner Praxis gesehen, und zwar...» Er machte eine Pause und holte tief Luft «... und zwar vor Sonnenuntergang!»
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Wahre Wunder «Vor Sonnenuntergang?» wiederholte Anna. «Und du bist sicher, daß es ein Vampir war?» Anton nickte. «Ja.» «Wie sah er denn aus?» «Er war mittelgroß, ganz blaß, aber gepudert, mit blauschwarzen Haaren und grauen Augen. Und er war sehr elegant gekleidet, allerdings ziemlich unmodern. Und sein Geruch war nicht sehr –» Anton brach erschrocken ab. Hoffentlich hatte er Anna nicht schon wieder gekränkt! Doch sie lächelte. «Ich dufte, nicht wahr?» sagte sie. «Das Parfüm ist neu. Ich habe es aus den Blüten der Büsche gemacht, die vor deinem Haus wachsen.» «Es – es riecht wirklich gut», versicherte Anton hastig. «Und was weißt du noch über diesen Vampir?» forschte Anna weiter. «Nicht viel», antwortete Anton. «Nur, daß er Igno von Rant heißt.» «Igno von Rant?» wiederholte Anna. «Den Namen hab’ ich noch nie gehört! Von Rant... ich glaub nicht, daß es eine Vampirsippe gibt, die so heißt. Eigenartig! Und hast du eine Ahnung, wo er wohnt?» «Herr Schwartenfeger vermutet, bei euch, auf dem alten Friedhof...» «Bei uns, auf dem Friedhof? Nein, bestimmt nicht», erwiderte Anna. Nach einer Pause meinte sie: «Aber merkwürdig ist das alles schon...» «Das Merkwürdigste weißt du noch gar nicht!» sagte Anton. «Dieser Igno von Rant behauptet hartnäckig, er sei kein Vampir. Aber ich bin ganz sicher, daß er einer ist.»
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«Er sagt, er sei kein Vampir?» Ein Lächeln huschte um Annas Lippen – dasselbe traurige Lächeln wie vorhin. «So merkwürdig ist das gar nicht», sagte sie leise. «Ich verrate es doch auch niemandem.» – «Niemandem außer dir», fügte sie hinzu und blickte Anton zärtlich an. Anton räusperte sich verlegen. «Ja, und dieser Herr Schwartenfeger», fuhr er mit belegter Stimme fort, «der hat mich gefragt, ob meine... ähm... seltsamen Freunde – also ihr, du und Rüdiger – einen Vampir kennen würden.» «Wir? Wie kommt er ausgerechnet auf uns?» fragte Anna argwöhnisch. «Durch meine Eltern. Sie haben ihm erzählt, daß ihr euch immer als Vampire verkleidet. Und deshalb denkt er, euch könnte vielleicht mal ein richtiger Vampir begegnet sein, einer, der euch – verwechselt hätte.» «Der uns verwechselt hätte?» Anna kicherte. «Das ist lustig.» Dann wurde sie wieder ernst. «Und was will er von uns?» «Er möchte unbedingt herausfinden, ob sein Programm auch wirklich funktioniert. Und bei Igno von Rant hat er eben noch Zweifel, weil er nicht weiß, ob er nun ein richtiger Vampir ist oder nicht.» «Jetzt verstehe ich: Er will sein Programm an uns ausprobieren!» «Nein!» widersprach Anton. «Er weiß ja gar nicht, daß ihr Vampire seid. Aber er denkt, ihr könntet ihm einen richtigen Vampir vermitteln.» Als Anna schwieg, fuhr er fort: «Ihr könntet doch zu ihm hingehen und sagen, ihr hättet von ihm gehört, und ihr wolltet das Programm bei ihm machen. Das ist doch eine einmalige Gelegenheit!» «Ja, wenn es funktionieren würde», erwiderte Anna. «Aber ich glaube, meine Großmutter hat recht: Man kann den Lauf der Dinge nicht ändern. Einmal habe ich es schon versucht – 93
mit dem Ergebnis, daß ich nichts bewirkt habe, gar nichts, und mich schlechter fühle als vorher.» «Es gibt aber die tollsten Programme heute», versuchte Anton sie aufzumuntern. «Programme, die wahre Wunder bewirken!» Anna fuhr sich mit der Hand über die Augen. «Ich möchte so gern dran glauben», sagte sie. «Aber ich kann es nicht.» Sie schlug die Augen nieder und gab ein unterdrücktes Schluchzen von sich. Anton betrachtete sie, verlegen und hilflos. Noch nie hatte er Anna so verzagt und mutlos erlebt! Und er hatte geglaubt, sie würde auf der Stelle mit ihm zu Herrn Schwartenfeger aufbrechen wollen, um sofort mit dem Programm anzufangen! Aber ihre Enttäuschung darüber, daß sie nun doch Vampirzähne bekam, mußte so groß sein, daß sie an nichts mehr glauben konnte und all ihre Hoffnungen verloren hatte. «Du kannst es dir ja noch mal überlegen», sagte er vorsichtig. Sie nickte nur.
Vom Pech verfolgt Und weil ihm nichts Besseres einfiel, trat Anton an den Schrank. «Du möchtest bestimmt dein Kleid anziehen», sagte er und zog Annas Spitzenkleid unter seinem dicken Winterpullover hervor. «Hier, ich hatte es gut versteckt!» Doch Anna rührte sich nicht. Sie saß einfach nur da und schien sich für nichts zu interessieren. «Dein Kleid!» sagte Anton noch einmal. Sie schüttelte langsam den Kopf. «Ich brauche es nicht.»
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«Aber das Heimkehr-Fest heute abend... wolltest du es da nicht anziehen?» «Das Fest fällt aus», erwiderte Anna düster. «Es fällt aus?» sagte Anton und wußte nicht, ob er enttäuscht oder erleichtert sein sollte. «Warum denn das?» «Ach, wegen Lumpi und seiner blöden neuen Gruppe! Ausgerechnet für heute abend hat er ein Gruppentreffen angesetzt, das Rüdiger natürlich nicht versäumen darf. Und ein Heimkehr-Fest, an dem nur wir beide teilnehmen –» Sie seufzte. «– das wäre gar kein Heimkehr-Fest!» «Wir könnten ja etwas anderes unternehmen», meinte Anton. «Und was?» «Wir könnten noch mal in meine Klasse gehen», sagte er und dachte daran, wie glücklich Anna ausgesehen hatte an dem Abend, als sie in seiner Schule gewesen waren und nebeneinander an seinem Tisch gesessen hatten. «Das würde mich nur noch trauriger machen», erwiderte Anna. «Und wenn wir in eine Disco gehen?» schlug Anton vor. «Nein», erwiderte sie. «Mir ist nicht danach, unter Menschen zu sein.» Doch dann, nach kurzem Überlegen, sagte sie: «Aber wir könnten bei dir die Disco machen, hier in deinem Zimmer.» Ihre Stimme wurde lebhafter. «Ja, wir könnten unsere Sachen anziehen und tanzen!» «Bei mir?» Anton blickte voller Unbehagen zur Tür, die er zum Glück abgeschlossen hatte. «Meine – meine Eltern sind da. Und wenn ich das Radio lauter stelle, dann kommen sie sofort angestürzt.» «Darfst du etwa keine Musik hören?»
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«Doch, natürlich! Aber die Miesmann unter uns, die beschwert sich dauernd. Und außerdem schreibe ich morgen eine Mathe-Arbeit und soll ganz früh ins Bett gehen.» Anna machte ein enttäuschtes Gesicht. «Nichts klappt, gar nichts! Mein Antrag ist auch abgelehnt worden...» «Dein Antrag im Familienrat?» «Ja. Meine Verwandten sind stur und gemein! Sie verbieten uns Vampirkindern einfach, uns so anzuziehen, wie wir wollen.» Und bitter fügte sie hinzu: «Ich bin eben vom Pech verfolgt!» «Nein, bist du nicht», widersprach Anton. Ihm war eingefallen, womit er Anna bestimmt aufheitern konnte! Er legte das Spitzenkleid rasch in den Schrank und ging zu seinem Schreibtisch. Mit dem blutroten Brief – der Einladung zu seiner Party in der Hand kehrte er zu Anna zurück. «Für dich!» sagte er. Anna öffnete den Umschlag. «Liebe Anna, lieber Rüdiger», las sie halblaut vor. «Das ist ja eine Einladung», sagte sie ungläubig. Sie hob den Kopf. «Und deine Eltern sind einverstanden?» «J-ja!» sagte Anton. Das entsprach durchaus der Wahrheit; denn mit der Party waren seine Eltern einverstanden! «Eine Party, bei dir zu Hause, nach Sonnenuntergang», sagte Anna leise, fast andächtig. «Und Rüdiger und ich sind eingeladen, und deine Eltern haben nichts dagegen?» Ihre Stimme wurde lebhafter: «Oh, dann werde ich mein Kleid anziehen und du deinen Anzug.» In diesem Augenblick näherten sich Schritte durch den Flur. «Anton, schläfst du schon?» hörte Anton seine Mutter fragen. «N-nein!» sagte er hastig. Es klopfte, dann wurde die Türklinke heruntergedrückt. 96
«Warum hast du abgeschlossen?» rief seine Mutter vorwurfsvoll. «Weil...» Besorgt sah Anton zu, wie Anna auf das Fensterbrett kletterte. «Weil ich noch Mathe lernen wollte.» «Aber dazu brauchst du doch die Tür nicht abzuschließen!» «Dann kann ich aber besser lernen», erwiderte Anton. «Mach bitte sofort auf!» sagte sie, wobei das «bitte» eher wie eine Drohung klang. «Bis bald, Anton», flüsterte Anna. «Und vielen Dank für die Einladung.» «Bis bald, Anna», antwortete Anton, und auf Zehenspitzen ging er zur Tür. «Anton! Ich habe dich gebeten, aufzumachen!» rief seine Mutter hinter der Tür – so nah, daß es Anton in den Ohren schmerzte. Er wartete, bis Anna davongeflogen war. Dann drehte er den Schlüssel herum und lief zu seinem Schreibtisch. Es gelang ihm gerade noch, das Mathebuch aufzuschlagen, bevor seine Mutter ins Zimmer kam.
Du mit deinen ewigen Vampiren! Neben dem Schreibtisch blieb sie stehen. «Du lernst ja wirklich!» meinte sie verblüfft. «Vati und ich hatten schon befürchtet, du würdest deine Nase wieder in eins dieser Gruselbücher stecken.» Anton gab keine Antwort und blickte angestrengt in sein Mathebuch. «Na, hast du ihn mit einem seiner Vampire überrascht?» kam die Stimme seines Vaters von der Tür.
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Anton blickte vom Buch auf und grinste. «Nee, der Vampir war schon weggeflogen, als Mutti kam.» «Sehr witzig!» sagte Antons Mutter, ohne zu lachen. «Wenn in diesem Zimmer ein Vampir gewesen wäre, dann würde es wohl kaum so angenehm nach Jasmin duften.» Sie trat ans Fenster und lehnte sich, tief atmend, hinaus. «Ein herrlich milder Abend», schwärmte sie. «Heute nacht können wir sogar bei offenem Fenster schlafen.» «Lieber nicht», meinte Anton, «sonst kommen noch Motten rein – oder Vampire!» «Ach, du mit deinen ewigen Vampiren!» Sie wandte sich verärgert vom Fenster ab. «Ich frage mich, wann du endlich aus dieser Vampir-Phase herauskommen wirst.» Anton grinste breit. «Aus der Vampir-Phase?» sagte er. «Nie!» Und in Gedanken fügte er hinzu: ›Jedenfalls nicht, solange es den kleinen Vampir gibt!‹ Sein Vater lachte. «Morgen fängt, Gott sei Dank, der normale, vampirfreie Alltag wieder an!» «Leider!» seufzte Anton, und mit einem lauten Knall schlug er sein Mathebuch zu.
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Wie ein Bohnsack «Anton, du mußt aufstehen!» Das war die Stimme seiner Mutter. Er blinzelte vorsichtig. «Aufstehen? Wieso?» «Weil heute dein erster Schultag ist!» «Schule! O je...» Widerwillig öffnete er die Augen. «Beeil dich!» drängte ihn seine Mutter. «Wir sind schon beim Frühstück.» «Vati ist noch da?» Alles kam Anton heute irgendwie verdreht vor. Aber das war ja kein Wunder am ersten Schultag! «Ja, und jetzt komm», antwortete seine Mutter und ging aus dem Zimmer. Er stand auf und marschierte ins Bad. Als Anton in die Küche kam, lagen frische Brötchen auf dem Tisch und – er traute seinen Augen kaum – drei Stück Apfelkuchen mit Sahne. «Hat einer Geburtstag?» fragte er. «Oder habt ihr fünfzigjährigen Hochzeitstag?» Dabei war ihm längst klargeworden, daß dieses ungewöhnliche Frühstück mit der eingegipsten Hand seines Vaters zusammenhängen mußte. Wahrscheinlich hatte Antons Vater ein schlechtes Gewissen, weil er krankgeschrieben war und zu Hause bleiben durfte! «Witzbold!» zischte Antons Mutter. «Fünfzigjährigen Hochzeitstag?» Antons Vater lachte. «Ich glaube, mit deinem Verständnis für Zahlen hapert es wirklich. Im Herbst feiern wir unseren fünfzehnjährigen Hochzeitstag!» Anton, dem das keineswegs neu war, nahm vergnügt ein Stück Apfelkuchen. «Denk dran, heute in der Schule die Einladungen abzugeben», sagte seine Mutter. Ihr Blick fiel mißbilligend auf das Stück Kuchen. Bestimmt würde sie es besser finden, wenn Anton zuerst eins der «gesunden» Vollkornbrötchen essen würde! 100
«Jaja», meinte Anton. «Nicht jaja», widersprach sie. «Dran denken sollst du. Es wird ohnehin knapp mit der Zeit. Schließlich willst du schon am Samstag deine Party feiern.» «Keine Sorge», meinte Anton. «Ich hab’ alles fest im Griff.» Doch in diesem Augenblick fiel ihm das Stück Kuchen von der Gabel und landete mit einem platschenden Laut auf den Küchenfliesen. «O nein!» stöhnte seine Mutter. «Du hast Tischsitten wie – wie –» «– wie ein Bohnsack?» half Anton ihr, hinterhältig grinsend, aus. «Ach, du!» sagte sie verärgert. «Laß nur», meinte Antons Vater. «Ich wisch das gleich vom Boden auf.» «Schade!» sagte Anton. «Schade?» wiederholte sein Vater verdutzt. «Daß ich anbiete, für dich aufzuwischen, findest du schade?» «Nein. Daß du nicht immer zu Hause bist!»
Schulangst Sein Vater lachte gutgelaunt. «Ich glaube, das würde mir auf die Dauer zu eintönig werden.» «Eintönig?» Anton grinste. «Heute zum Beispiel wird es doch ein sehr aufregender Tag.» «So?» «Ja! Vor allem der Nachmittag, wenn du mich mit dem Bus zu Herrn Schwartenfeger bringst.» «Ach ja, dein Termin beim Psychologen. Aber ob der so aufregend wird...» Anton gab keine Antwort. Für ihn würde der Besuch sogar sehr aufregend werden; denn vielleicht würde er den geheimnisvollen Patienten, Igno 101
von Rant, wiedersehen! Selbst hier am Frühstückstisch überlief Anton ein Frösteln, als er an das bleiche, gepuderte Gesicht mit den tiefliegenden grauen Augen dachte – und an den Modergeruch, den Igno von Rant mit Maiglöckchendüften zu überdecken versuchte. «Brr!» entfuhr es ihm, und unwillkürlich schüttelte er sich. «Schmeckt dir etwa mein Frühstück nicht?» fragte sein Vater halb belustigt, halb gekränkt. «Den Apfelkuchen hast du fallenlassen, von den Brötchen hast du nur ein halbes gegessen...» «Es – es ist wegen der Schule», sagte Anton. «Wegen der Schule?» Seine Mutter sah ihn mit einem spöttischen Lächeln an. «Wahrscheinlich ist dir inzwischen aufgegangen, daß du nicht genug geübt hast für die MatheArbeit! Und nun willst du uns weismachen, du hättest Schulangst – in der Hoffnung, daß du zu Hause bleiben darfst!» «Schulangst?» tat Anton ahnungslos. «Ist das eine Krankheit?» «Es kann sogar eine sehr ernste seelische Störung sein», antwortete seine Mutter. «Aber bei dir liegt diese Störung bestimmt nicht vor!» Anton setzte eine würdevolle Miene auf. «Ich werde auf jeden Fall Herrn Schwartenfeger fragen, ob ich nicht vielleicht doch Schulangst habe», erklärte er. Mit einem Seitenblick auf seinen Vater fügte er hinzu: «Könnte doch sein, daß er mich auch krankschreibt.» «Du denkst wohl, Kranksein wäre lustig!» erwiderte sein Vater. «Ja!» Anton grinste. «Mit einem so schönen Gips...» Sein Vater verzog den Mund zu einem säuerlichen Lächeln. «Hauptsache, man ist kein Gips-Kopf, so wie du!» «Gips-Kopf? Was ist das denn?» «Ein anderes Wort für Hohlkopf.» 102
«Für Kohlkopf?» «Nein, für Hohlkopf!» knurrte Antons Vater und stand verärgert auf.
Schlechte Stimmung Am frühen Abend, als sie zu Herrn Schwartenfeger fuhren, war Antons Vater noch immer ziemlich schlecht gelaunt. Die ganze Zeit sprach er kein Wort, sondern las irgendein Wirtschaftsmagazin, das er sich auf dem Weg zur Bushaltestelle gekauft hatte.
Antons Bemerkung, er hätte gern ein Comic-Heft, hatte sein Vater einfach «überhört». Dabei dauerte die Fahrt fast eineinhalb Stunden, weil der Bus einen riesigen Umweg durch die Randgemeinden der Stadt machte. Aber Antons Vater hatte sich für diese Linie entschieden mit der Begründung, daß sie dann nicht umzusteigen brauchten. Während Anton aus dem Fenster sah, versuchte er sich vorzustellen, was ihn bei Herrn Schwartenfeger erwarten mochte. Ob der geheimnisvolle Patient tatsächlich in der Praxis sein würde? Bei dem 103
Gedanken, wie sein Vater wohl auf den unheimlichen schwarzgekleideten Mann reagieren würde, beschleunigte sich Antons Herzschlag. Andererseits – Antons Vater war bei allem, was Vampire betraf, viel weniger besorgt als Antons Mutter... Plötzlich bog der Bus in die Straße ein, in der Herr Schwartenfeger wohnte. Gerade noch rechtzeitig konnte Anton auf den «Halt»-Knopf drücken. «Ach, wir sind schon da?» sagte sein Vater überrascht. «Ja!» brummte Anton. Er fragte sich, warum sein Vater überhaupt mitgekommen war, wenn er die ganze Verantwortung doch ihm, Anton, überließ! Aber bei der schlechten Stimmung, die im Augenblick herrschte, sagte er das lieber nicht laut. Der Bus hielt, und sie stiegen aus. «Willst du mit reinkommen?» fragte Anton. Sein Vater zögerte. «Hm, dann sitze ich nur im Wartezimmer herum.» «Mir macht es nichts aus, allein zu gehen», versicherte Anton rasch. «Und du kannst im Eis-Café warten, da ist es viel gemütlicher.» «Es gibt hier ein Eis-Café?» «Ja, da drüben. Ich war schon mal mit Mutti drin. Die machen sehr gutes Eis.» Das war allerdings stark übertrieben – jedenfalls Anton hatte das Eis nicht sonderlich geschmeckt. Aber er wußte, wie gern sein Vater Eis aß – vor allem, wenn Antons Mutter nicht dabei war und ihm keine Vorträge über «schlanke Linie» oder «gesunde Ernährung» halten konnte. Wie erwartet, belebte sich das Gesicht seines Vaters, und vergnügt schmunzelnd meinte er: «Die machen gutes Eis? Meinst du, die haben auch Trüffel- und Walnuß-Eis?» «Klar!»
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Das hatte Antons Vater überzeugt. «Dann warte ich in dem Eis-Café auf dich.» Anton lächelte zufrieden. «Bis nachher», sagte er und lief hinüber zu dem Haus, in dem Herr Schwartenfeger seine Praxis hatte.
Psychologie Wie sonst auch, öffnete ihm Frau Schwartenfeger. «Heute hast du dich aber verspätet, Anton», sagte sie, milde tadelnd. «Der Bus hat so ewig gebraucht.» «Komm herein!» Anton trat ein. Sein Blick wanderte zum Garderobenständer, aber genau wie beim letztenmal war er leer. «Bin ich der einzige Patient?» erkundigte er sich vorsichtig. Frau Schwartenfeger nickte. «Ja, du kannst direkt ins Sprechzimmer gehen.» Anton durchquerte den Flur und klopfte zaghaft gegen die dicke, gepolsterte Tür. Nichts geschah. Er klopfte noch einmal – diesmal kräftiger. Jetzt wurde die Tür geöffnet. Das erste, was Anton sah, war der Wollpullover, der sich über dem mächtigen Bauch von Herrn Schwartenfeger wölbte. Er hob den Kopf und blickte in das breite, freundlich lächelnde Gesicht des Psychologen. «Ich habe dich schon erwartet», sagte Herr Schwartenfeger und machte eine einladende Geste. «Der Bus hatte Verspätung», erklärte Anton. Er folgte dem Psychologen und nahm auf dem Stuhl vor dem Schreibtisch Platz. Herr Schwartenfeger setzte sich auf den Drehstuhl hinter dem Tisch. Mit einer leichten Enttäuschung sah Anton, daß die dicke schwarze Mappe – das Programm gegen starke Ängste nicht auf dem Schreibtisch vor Herrn Schwartenfeger lag. 105
Plante Herr Schwartenfeger etwa eine «normale» Sitzung nach dem Motto: Wie war der erste Schultag? Was macht die eingegipste Hand? Nein, dafür war Anton heute viel zu ungeduldig! «Das Programm», begann er deshalb ohne Umschweife, «ich habe mit meinen Freunden gesprochen. Oder besser gesagt, mit einem von ihnen.» «Ach, ja?» sagte Herr Schwartenfeger und kratzte sich an der Nase. Offenbar war er unschlüssig, ob er erst ein paar «psychologische» Fragen stellen mußte – oder ob er sich gleich auf das Thema einlassen durfte, das Anton angeschnitten hatte und das ihn bestimmt viel mehr interessierte. «Und was hat dein Freund gesagt?» fragte er. «Kennt er einen Vampir – einen richtigen?» «Hm, ich glaub schon», sagte Anton gedehnt. «Er» stimmte zwar nicht; denn Anton hatte ja mit Anna darüber gesprochen. Aber das würde er Herrn Schwartenfeger natürlich nicht verraten. Wieder kratzte sich Herr Schwartenfeger an der Nase. «Die Schule», sagte er dann. «Sollten wir nicht zuerst über deine Schulfreunde sprechen?» «Ach, mit denen ist alles in Butter», antwortete Anton. «So?» sagte Herr Schwartenfeger und blickte ihn fragend, in Erwartung weiterer Einzelheiten, an. Anton seufzte. Ganz ohne «Psychologie» würde es demnach auch heute nicht abgehen! «Also: Am nächsten Samstag gebe ich eine Party, dazu habe ich drei aus meiner Schule eingeladen», berichtete Anton und hoffte, damit Herrn Schwartenfegers «berufsmäßiges» Interesse befriedigt zu haben. «Du gibst eine Party?» Herr Schwartenfeger machte ein erfreutes Gesicht. «Bist du jetzt mehr mit deinen Schulfreunden zusammen als früher?» «Ja, wir spielen öfter Fußball und Hockey.» 106
«Und Probleme mit deinen Schulfreunden hast du nicht, über die wir jetzt sprechen sollten?» Anton schüttelte energisch den Kopf. «Und mit meinen anderen Freunden habe ich auch keine Probleme», setzte er rasch hinzu. «Die... die sind schon sehr gespannt, was für ein Programm gegen Pho- Pho-» Anton fiel das Wort nicht ein. «Gegen Phobien», half ihm Herr Schwartenfeger. «Ja. Was für ein Programm gegen Phobien das ist!»
Wahrheit oder bloße Erfindung? «Aha – sie sind sehr gespannt!» Herr Schwartenfeger lehnte sich zurück, wobei sein Drehstuhl fürchterlich quietschte. «Ja, sie möchten unbedingt mehr über das Programm wissen», erklärte Anton. So deutlich hatte Anna das zwar nicht gesagt, aber Anton war ganz sicher, daß sie ihn bei ihrem nächsten Treffen nach Einzelheiten des Programms fragen würde; und dann wollte er informiert sein! Erleichtert beobachtete Anton, wie Herr Schwartenfeger eine Schublade seines Schreibtisches öffnete und die dicke schwarze Mappe herausnahm. «Deine Freunde möchten also mehr wissen», meinte er und wirkte dabei sehr zufrieden. «Das heißt, sie kennen einen Vampir!» «Kennen?» Anton zögerte. «Kennen ist nicht der richtige Ausdruck», sagte er dann. «Aber sie haben Kontakt zu einem Vampir!» Die Stimme von Herrn Schwartenfeger klang aufgeregt. «Nicht nur zu einem Vampir», erwiderte Anton – in der Absicht, Herrn Schwartenfeger neugierig zu machen, damit er ihm möglichst viel über sein Programm verriet. «Nicht nur zu einem?» Sekundenlang war der Psychologe sprachlos. 107
Dann begann es um seinen Mund zu zucken. «Also könnte es doch stimmen, was mir Igno von Rant erzählt hat!» Antons Herz pochte schneller. «Was hat er Ihnen denn erzählt?» «Daß es eine ganze Vampirfamilie in dieser Stadt geben soll, acht oder neun sollen es sein, aus uraltem transsylvanischen Adel.» «Ach, wirklich?» Anton spürte, wie ihm das Blut in die Wangen schoß. «Ja, aber er unterhält keine Beziehungen zu ihnen, weil... Ich habe dir ja erzählt, daß er von sich behauptet, er sei kein Vampir.» «Aber woher weiß er das mit der Vampirfamilie?» fragte Anton heiser. «Nun, in dieser Familie soll es eine verwitwete – wie sagt man? – Vampir-Dame geben, die es ihm angetan hat. Zumindest hat er das angedeutet.» «Eine verwitwete Vampir-Dame?» wiederholte Anton. Das konnte nur Tante Dorothee sein! «Ja, er hat sie wohl ein paarmal aus der Ferne beobachtet», antwortete Herr Schwartenfeger und schmunzelte. «Aber ehrlich gesagt», fügte er hinzu, «ich glaube nicht an die Geschichte mit der Vampirfamilie. Und dieser komische Friedhofswärter, dieser Geiermeier, der hat mich auch nicht überzeugt. Er hat zwar so getan, als würde es auf dem alten Friedhof von Vampiren wimmeln. Aber das hat er nur gesagt, weil er sonst das Geld für seine Friedhofsrenovierung nicht bekommen hätte!» «Ach, deshalb», sagte Anton in gespielter Überraschung. Wie gut, daß Herr Schwartenfeger den Friedhofswärter Geiermeier für so wenig vertrauenswürdig hielt! «Wie viele Vampire sind es denn, die deine Freunde kennen?» fragte Herr Schwartenfeger jetzt.
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«Wie viele?» wiederholte Anton und schreckte aus seinen Gedanken auf. «Zwei», sagte er schnell. «O-oder drei.» «Also keine acht oder neun!» Herr Schwartenfeger nickte befriedigt. «Das ist genau mein Problem mit diesem Igno von Rant: Wie weit kann ich ihm glauben? Was ist bei ihm Wahrheit, was bloße Erfindung? – Aber das werde ich wohl nie vollständig ergründen», sagte er nach einer Pause. «Und aus diesem Grund brauche ich noch Patienten, bei denen zweifelsfrei –» Hier schlug er zur Bekräftigung mit der flachen Hand auf den Tisch, so daß Anton erschrocken zusammenzuckte, «bei denen zweifelsfrei feststeht, daß sie Vampire sind!»
Streng vertraulich Anton räusperte sich. «Meine Freunde», begann er. «Sie müssen auf jeden Fall erst mal Genaueres über das Programm wissen.» «Genaueres?» «Ja. Vorher wollen sie nicht mit den Vampiren sprechen, die sie kennen.» «Das ist gar nicht so einfach», erwiderte Herr Schwartenfeger und strich mit unbehaglicher Miene über die dicke schwarze Mappe. «Immerhin ist das Programm sehr umfangreich. Und außerdem –» Er zögerte. «Und außerdem ist das Programm noch geheim», sagte er dann. «Und ich möchte nicht, daß irgend etwas darüber schon jetzt bekannt wird. Denn wenn es funktioniert, wird es in der Fachwelt wie eine Bombe einschlagen!» «Meine Freunde werden bestimmt nichts weitererzählen», versprach Anton. Doch Herr Schwartenfeger wiegte skeptisch den Kopf hin und her. 109
«Mir wäre es lieber, wenn diese Vampire direkt zu mir kämen – ohne den Umweg über deine Freunde!» Anton mußte sich auf die Zunge beißen, um nicht zu lachen. So ernst, wie es ihm nur möglich war, erwiderte er: «Meine Freunde haben aber gesagt, daß sie mit den Vampiren erst sprechen können, wenn sie mehr Informationen haben.» Herr Schwartenfeger seufzte. «Na schön», meinte er. «Damit deine Freunde einen ersten Eindruck bekommen. Aber die Informationen sind vertraulich, streng vertraulich!» Er schlug die dicke Mappe auf – da klopfte es an der Tür des Sprechzimmers. Anton wußte sofort, daß es nur Frau Schwartenfeger sein konnte. Bisher waren seine Sitzungen bei Herrn Schwartenfeger immer durch ihr Erscheinen beendet worden. Heute allerdings wollte Anton die Therapiestunde unter keinen Umständen schon abbrechen. «Was ist?» rief Herr Schwartenfeger. Die Tür wurde vorsichtig geöffnet, und Frau Schwartenfeger blickte ins Zimmer. «Antons Vater ist gekommen», sagte sie und fügte flüsternd hinzu: «Der Herr ist auch schon da. Er wartet vorne bei mir.» «Ja, danke», antwortete Herr Schwartenfeger knapp, und Frau Schwartenfeger schloß die Tür wieder hinter sich. «Dann müssen wir uns wohl vertagen», meinte er bedauernd zu Anton. «Aber ein bißchen könnten Sie mir doch erzählen!» drängte Anton. «Heute sehe ich meine Freunde nämlich, und dann werden sie mich unter Garantie fragen.» «Du bist wirklich hartnäckig!» Herr Schwartenfeger lehnte sich im Stuhl zurück. «Du kannst ihnen berichten, daß die Vampire für mein Desensibilisierungs-Programm jeder eine Sonnenbrille brauchen.» «Eine Sonnenbrille?» 110
«Ja, und Sonnencreme oder Sonnenöl. Und dann brauchen sie viel Gelb.» «Geld?» «Nein, das Programm ist kostenlos. Wir brauchen gelbe Farben, sonnengelbe!» «Sonnengelbe?» wiederholte Anton. «Ich weiß nicht, ob das meine Freunde – äh, die Vampire, die sie kennen – so überzeugen wird...» Herr Schwartenfeger war aufgestanden. «Siehst du! Ich könnte dir noch stundenlang über das Programm erzählen, und anschließend hättest du auch nicht viel mehr begriffen. Nein, die Vampire müssen selbst herkommen und eine Probestunde machen. Anders werden sie mein Programm nicht verstehen.» «Eine Probestunde?» murmelte Anton. Er konnte sich nicht vorstellen, daß es ihm gelingen würde, Anna und Rüdiger zu einer solchen Probestunde beim Psychologen zu überreden. Doch, Anna vielleicht, aber den kleinen Vampir...? Da fiel ihm noch etwas ein: «Und meine nächste Stunde? Soll ich am Freitag wiederkommen?» «Du meinst, wir hätten noch einiges zu besprechen?» «O ja!» «Aber hast du nicht gesagt, mit deinen Schulfreunden wäre alles bestens?» «Das kann sich schnell ändern», erklärte Anton forsch. «Gut, dann laß dir von meiner Frau einen Termin geben», sagte Herr Schwartenfeger und brachte Anton zur Tür des Sprechzimmers.
Die Gestalt am Fenster Im Flur überlegte Anton, wohin er zuerst gehen sollte: zu seinem Vater ins Wartezimmer oder zu Frau Schwartenfeger. Er entschied sich, als erstes zu Frau Schwartenfeger zu gehen 111
und sich einen extra späten Termin für Freitag geben zu lassen; am besten einen der «Berufstätigen»-Termine! Das Büro – ein dunkler, schlauchartiger Raum, in dem gerade ein Schreibtisch, ein Stuhl und ein Aktenschrank Platz hatten – lag neben der Wohnungstür und hatte, so glaubte Anton, ursprünglich als Garderobe gedient. «Das ist mal wieder typisch!» hatte Antons Mutter nach ihrem ersten Besuch in der Praxis geschimpft. «Frau Schwartenfeger hat das schäbigste Zimmer für ihre Arbeit!» «Aber sie soll in ihrem Zimmer keine Therapien durchführen», hatte Antons Vater gekontert. Jetzt allerdings schien doch ein Patient bei ihr im Zimmer zu sein: Als Anton durch die halb geöffnete Tür in den schmalen Raum spähte, sah er hinter Frau Schwartenfeger, die an ihrem Schreibtisch saß und telefonierte, eine nicht sehr große, schwarzgekleidete Gestalt am Fenster stehen, die ihm den Rücken zukehrte. Und im Zimmer roch es durchdringend nach Maiglöckchen-Parfüm, vermischt mit einem leichten Modergeruch...
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Auf einmal wußte er, wer die Gestalt am Fenster war: der geheimnisvolle Patient, Igno von Rant! Mit wild klopfendem Herzen wich Anton von der Tür zurück. Erst jetzt wurde ihm klar, was die geflüsterte Andeutung von Frau Schwartenfeger, vorhin im Sprechzimmer, zu bedeuten gehabt hatte: Der Herr, der schon da war, der aber vorne bei ihr wartete... Im Zimmer von Herrn Schwartenfeger war Anton mit seinen Gedanken nur bei dem Programm gewesen, bei der Sonnenbrille, dem Sonnenöl und den sonnengelben Farben, 113
und deshalb hatten die Worte von Frau Schwartenfeger überhaupt keinen Argwohn in ihm geweckt! Und nun? Was sollte er jetzt tun? Noch mal hineingehen und diesem... Vampir gegenübertreten? Da kam Frau Schwartenfeger aus dem Zimmer. Sie wirkte sehr besorgt, und mit auffälliger Hast schloß sie die Zimmertür. «Du solltest doch ins Wartezimmer gehen!» sagte sie und blickte nervös zur Tür zurück, ob sie auch wirklich geschlossen war. «Ich... ich wollte einen neuen Termin», stotterte Anton. «Einen neuen Termin?» «Ja, für... für Freitag. Und nicht zu früh, weil – vorher habe ich Hockey.» «Ich werde in meinem Terminkalender nachsehen», sagte Frau Schwartenfeger. «Und du, Anton, gehst jetzt ins Wartezimmer!» fügte sie sehr bestimmt hinzu. «Schon unterwegs», antwortete er.
Psycho-Freak «Endlich!» sagte sein Vater, als er das Wartezimmer betrat. «Bin ich zu spät?» tat Anton überrascht. «Wenn wir mit dem Bus fahren müßten, allerdings!» antwortete sein Vater. «Zum Glück habe ich Mutti angerufen, damit sie uns abholt.» «Was, du hast Mutti angerufen?» fragte Anton erschrocken und dachte an den unheimlichen Patienten in Frau Schwartenfegers Büro. «Etwa von hier aus?» «Nein, aus dem Café.» Anton seufzte erleichtert. «Und wie war das Eis?» fragte er. «Das Eis?» Sein Vater räusperte sich. «Ja, weißt du, ich hab’ doch nur zwei – ähm, Capuccino getrunken.» Anton grinste. «Keine Sorge, ich verrate schon nichts!» 114
In diesem Augenblick wurde die Tür geöffnet, und Frau Schwartenfeger kam herein. «Am Freitag ist leider kein Termin mehr frei», sagte sie. «Es geht erst wieder in einer Woche, zur selben Zeit wie heute.» «Erst in einer Woche?» murmelte Anton enttäuscht. Sein Vater lachte. «Du bist ja ein richtiger Psycho-Freak geworden!» «Psycho-Freak?» wiederholte Anton. «Ist das so einer wie du?» «Eher jemand wie Mutti!» antwortete sein Vater und lachte noch lauter. Und tatsächlich: Die erste Frage von Antons Mutter galt dem Psychologen. «Na, wie war’s bei Herrn Schwartenfeger?» erkundigte sie sich, kaum daß Anton und sein Vater im Auto Platz genommen hatten. «Wie soll’s schon gewesen sein», sagte Anton. «So schön, daß Anton nicht darüber sprechen möchte», witzelte sein Vater. «Fast so schön wie unser Urlaub im Jammertal!» parierte Anton – mit Erfolg: Das amüsierte Lächeln seines Vaters verschwand, und betreten meinte er: «Ich wollte ja nur einen Scherz machen, zur Aufmunterung.» «Aufmunterung kann ich gebrauchen», sagte Anton. Immerhin mußte er noch Schularbeiten machen, zwei Türme Rechnen und dieses fürchterlich lange Gedicht lernen: «Erlkönig» von Johann Wolfgang von Schiller, äh – Goethe! Er fand das Gedicht zwar gar nicht so schlecht; aber acht Strophen zu schreiben, die Tausende von Schülern dann lernen mußten..
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Erl-Vampir Zu Hause angekommen, sagte Anton: «Ich geh gleich ins Bett!» «Schon?» staunte seine Mutter. «Morgen hast du doch erst zur zweiten Stunde Unterricht.» «Ich muß aber noch ein Gedicht lernen.» «Ein Gedicht? Welches denn?» «Den Erl-Vampir.» «Den Erl-Vampir?» «Ja, äh, nein – den Erl-König!» verbesserte Anton und freute sich an dem entrüsteten Gesichtsausdruck seiner Mutter. Er aß noch ein Käsebrot, dann trabte er in sein Zimmer und schlug das Deutschbuch auf. Wer reitet so spät durch Nacht und Wind? Es ist der Vater mit seinem Kind; Er hat den Knaben wohl in dem Arm, Er faßt ihn sicher, er hält ihn warm. ›Mein Sohn, was birgst du so bang dein Gesicht?‹ ›Siehst, Vater, du den Erlkönig nicht? Den Erlenkönig mit Kron und Schweif?‹ ›Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif.‹ Antons Gedanken wanderten zu Rüdiger und zu Anna. Wo mochten die beiden heute abend sein? Er trat ans Fenster und machte es weit auf. Es war ein milder, windstiller Abend – wie geschaffen für einen Aus-Flug. Leise sprach er vor sich hin: «Wer fliegt so spät durch Nacht und Wind? Es ist Rüdiger, das Vampir-Kind. Er hat den Anton wohl in dem Arm, 116
Er faßt ihn sicher, er hält ihn warm. ›Anton, was birgst du so bang dein Gesicht?‹ ›Siehst, Rüdiger, du den Erlkönig nicht? Den Erlenkönig mit Kron und Schweif?‹ › Anton, es ist ein Nebelstreif’‹...» Aber so sehr Anton seine Augen auch anstrengte: Er entdeckte weder Rüdiger noch Anna, und nicht einmal ein Nebelstreif zeigte sich am Himmel.
Alpträume Während Anton noch am Fenster lehnte, wurde seine Zimmertür geöffnet. «Du liegst gar nicht im Bett?» hörte er die Stimme seiner Mutter. «Doch, gleich», sagte Anton und drehte sich langsam zu ihr herum. «Was haben eigentlich deine Freunde in der Schule gesagt?» fragte sie. «Gesagt? Was sollen sie denn gesagt haben?» «Na, ob sie am Samstag Zeit und Lust haben, zu deiner Party zu kommen!» «Ach so, die Party meinst du...» «Kommen sie nun oder nicht?» «Hm, wahrscheinlich.» «Was heißt: wahrscheinlich?» «Na ja... ich hab’ noch nicht mit allen gesprochen.» Und das stimmte auch; jedenfalls, soweit es Anna und Rüdiger betraf. Antons Schulfreunde dagegen – Ole, Sebastian und Henning – hatten schon erklärt, daß sie kommen würden.
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«Dann frag am besten morgen mal nach», sagte seine Mutter. «Damit wir uns drauf einrichten können, wie viele ihr seid am Samstag.» «Nachfragen?» Anton schloß sein Fenster. Ja, wenn das ginge! dachte er. Aber bei Vampiren konnte man nicht einfach an der Haustür klingeln und fragen: Habt ihr Zeit, wollt ihr kommen? Anton nahm das Deutschbuch und schob es unter sein Kopfkissen. Seine Mutter lächelte spöttisch. «Glaubst du, das hilft?» «Wieso?» tat Anton überrascht. «Nach meiner Erfahrung gibt es nur eine einzige Methode, um ein Gedicht zu lernen», antwortete sie. «Man muß es immer und immer wieder lesen! Aber so, wie du es machst, lernst du das Gedicht nie. Allenfalls stößt du dir den Kopf an dem harten Buchrücken!» «Ach –» meinte Anton gedehnt. «Das wäre nicht meine Sorge. Eher, daß ich vom Inhalt Alpträume kriege...» «Alpträume?» sagte seine Mutter entrüstet. «Von dem, was in deinem Deutschbuch steht? Bestimmt nicht. Das ist Literatur!» «Leider», seufzte Anton. Er streifte seinen Schlafanzug über. «Gute Nacht!» «Du solltest es vielleicht doch mal mit Lesen versuchen!» bemerkte seine Mutter spitz. «Mit Lesen?» sagte Anton, als die Tür hinter ihr ins Schloß gefallen war. «Eine hervorragende Idee!» Er holte «Werwölfe die dreizehn schrecklichsten Geschichten», aus dem Bücherregal, und vergnügt stieg er ins Bett.
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