Geheimnisvolle
Schützen Mit Geschichten von: J. M. Redmann
Frank Göhre
Nina Schindler
Felix Huby
Jerry Oster
Carm...
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Geheimnisvolle
Schützen Mit Geschichten von: J. M. Redmann
Frank Göhre
Nina Schindler
Felix Huby
Jerry Oster
Carmen Korn
Eichborn.
Die Reihe Eichborn. Astrokrimis wird herausgegeben von:
Thea Dorn
Uta Glaubitz und
Lisa Kuppler
Gesamtlektorat: Oliver Thomas Domzalski
Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme
Geheimnisvolle Schützen / Hrsg.: Thea Dorn. – Frankfurt am Main:
Eichborn, 2000 (Eichborn Astrokrimis)
ISBN 3-8218-0800-4
© Eichborn Verlag AG, Frankfurt am Main, März 2000 Umschlaggestaltung: Moni Port unter Verwendung eines Gemäldes von Orazio Gentileschi »Diana« 1623 (Nautes, Musée des Beaux-Arts) Satz: Fuldaer Verlagsagentur, Fulda Druck und Bindung: Milanostampa, Italien ISBN 3-8218-0800-4 Verlagsverzeichnis schickt gern:
Eichborn Verlag Kaiserstr. 66, 60329 Frankfurt
www.eichborn.de
Schützen sind temperamentvoll, ehrgeizig und am liebsten unterwegs. So sagt man. Aber können Sie sich vorstellen, warum ausgerechnet Florenz für Schützen ein ganz besonderes Pflaster ist? Was passiert, wenn Robin Hood mit Pfeil und Bogen Hamburg unsicher macht? Wie eine Schützin ein neues potenzsteigerndes Mittel an den Mann bringt? Wußten Sie, daß Katzen mehr über Schützen wissen, als wir uns vorstellen können? Was sich hinter der wilden Seele eines Schützen verbirgt? Und wie ein Stelldichein zwischen einem Schützen, einem Todesschützen und einem toten Schützen verläuft?
J. M. Redmann Geisterfahrer
Da war ich also, tot. Das ist New Orleans. Der Tod kommt hier durchaus häufig vor, nur mir ist er bisher nicht vorgekommen. Todbetrunken, todmüde, zu Tode gelangweilt, aber nie todtot. Bis jetzt. Ich wußte, daß ich tot war, weil ich irgendwo oben in der Luft hing und keinerlei Schmerz fühlte, obwohl ich auf den Körper blickte, in dem ich bisher gelebt hatte und der sich nun über dem Boden ausbreitete, eine Schweinerei aus Blut und Schußwunden. Elmo hatte aufgehört, sich wie ein Gentleman zu benehmen, als die Kugeln durch die Luft zu schießen begannen. Er legte immer Wert darauf (das heißt, vorher, als ich noch lebte), mir die Türen aufzuhalten, mir in den Mantel zu helfen, mir anzubieten, meine Kanone zu reinigen – »Denise, eine Frau wie du sollte kein so großes Teil mit sich herumtragen.« Auch nachdem ich ihm erzählt hatte, daß mich Menschen mit Penis in romantischen Angelegenheiten nicht interessieren, spielte er gern den Gentleman. Ich nehme an, er wollte beweisen, daß er ein liberaler Junge ist, der auch Frauen die Tür aufhält, auf die eine männliche Ausstattung keinen Eindruck macht. Er hatte mich heute morgen angerufen und mir gesagt, daß er eine Vermißtensuche für mich hätte, reine Routine. Ich interessierte mich zwar nicht für seinen Penis, aber sein Geld hatte diesen perfekten Grünton. Deshalb verabredete ich mich mit ihm an der Ecke Rampart/Dumaine, am heruntergekommenen Rand des French Quarter. Und jetzt war ich tot, und es war noch nicht einmal Mittag.
Elmo hatte mich reingelegt. Wir liefen die Straße hinunter, ich wollte gerade meines Weges gehen, da schaut er auf die Zeitung und sagt: »He, Denise, was ist dein Zeichen?« »Stopp – das ist mein Zeichen. Hängt bei mir direkt über dem Kühlschrank.« »Nein, du weißt schon, was ich meine. Ich bin Skorpion…«, und hier blieb er stehen und schielte auf die Zeitung. Elmo verfügt nicht über die Sorte Hirn, mit dem man gleichzeitig lesen und laufen kann. »… und heute werden sich viele meiner Wünsche erfüllen, auch wenn ich vielleicht herausfinde, daß das, was ich mir wünsche, nicht das ist, was ich wirklich will. Heute werde ich alles bekommen, was ich mir verdient habe.« »Okay, wenn’s unbedingt sein muß. Ich bin Schützin.« »Dein Liebesleben nimmt eine unerwartete Wendung, und du wirst deine wahre Liebe da finden, wo du sie am wenigsten erwartest. Bereite dich auf eine lange Reise vor, die dich an Orte führen wird, an denen du noch nie gewesen bist.« »Ja, klar, das heißt wahrscheinlich, daß ich raus in die Randbezirke fahre und in den Billigsupermarkt gehe. Und die Geschichte meines Liebeslebens besteht nur aus unerwarteten Wendungen – von denen die meisten in Sackgassen führen.« Ich wäre bereits über die Straße und in meinem Auto gewesen, wenn er nicht die Laß-mich-dein-Horoskop-lesen-Nummer gebracht hätte. Unmittelbar nachdem er mir vorgelesen hatte, daß ich auf eine lange Reise gehen würde, kam ein schwarzer Wagen um die Ecke. Elmo warf sich auf den Randstein und rollte sich unter ein parkendes Auto. Als hätte er gewußt, daß das Fenster runtergekurbelt würde und eine Kanone im Begriff war, loszufeuern. Warum zum Teufel wollte Elmo mich tot haben? Ich habe mir das Geld, das er mir zahlte, immer mehr als verdient. Ich bin sauber, halte meine Nase aus Wettgeschäften und Drogen
raus. Und ich stelle gerade so viele Fragen wie nötig, um sicherzugehen, daß ich sauber bleibe. Ich bin eine Privatdetektivin, die hauptsächlich Vermißte sucht. Korrigieren wir das, ich war eine Privatdetektivin. Er klopfte seinen Anzug ab, er bevorzugte gediegene, chic geschnittene. Ich haßte ihn in diesem Augenblick, weil mir klar wurde, daß er mich nicht haßte. Er hatte mich aus praktischen Erwägungen umlegen lassen. Ich hab ihm wegen irgend etwas im Weg gestanden, und jetzt war ich weg. Weit weg. Mein körperloses Selbst blickte wieder auf meinen früheren Körper. Ich stand der Astrologie immer skeptisch gegenüber, aber dieses Totsein konnte man wirklich als unerwartete Reise bezeichnen. »Kommst du?« »Kommen?« Ich drehte mich zu der Stimme um. Es war… ja, was war es eigentlich? Ein Mensch? Nicht ganz, eher ein durchsichtiges, schwebendes Ding in einer Art menschenähnlicher Form. »Wir hauen ab von diesem Dauerlutscher-Planeten«, antwortete er, sie, es, Was-auch-immer. »Ich wurde gerade ermordet, und du willst, daß ich den Tatort verlasse?« gab ich zurück. Tot zu sein schien mein Argumentationsgeschick nicht sehr zu beeinträchtigen. Dann fiel mir ein, daß ich vielleicht mit einem Engel herumstritt. »Muß ich denn gehen?« fragte ich in einem respektvolleren Ton. »Was willst du, Rache, Genugtuung oder so was?« »Vielleicht, oder vielleicht will ich einfach wissen, warum ich sterben mußte.« »Ein neugieriger Geist. Okay, kein Problem, wir sind in New Orleans, und hier wimmelt es nur so von Geistern. Ich komme dich in einer Weile abholen.« »Mich abholen? Wann?«
»Wenn du fertig bist.« »Aber woher weißt du, wann ich fertig bin?« »Hey, Schätzchen. Du bist jetzt tot. Die alten Regeln gelten nicht mehr. Ich weiß es einfach.« Mit diesem weisen Ratschlag verließ mich mein spiritueller Begleiter beziehungsweise meine Begleiterin. Elmo legte seine beste ›Ich bin geschockt, wirklich geschockt‹ Vorstellung hin. Als ob er nicht gewollt hätte, daß ich tot bin. Irgendwie wußte ich, die Regeln würden nicht zulassen, daß ich als Tote diesem Typen eine scheuerte. Aber ich dachte, es könnte meinem Seelenleben… nun, es könnte irgend etwas guttun, wenn ich ihm einen Schwinger versetzte. Wäre ich noch am Leben gewesen, hätte Elmo flach auf der Straße gelegen. Es war ein perfekter Schwinger, der beste Schlag, den ich jemals einem verpaßt habe. Aber ohne Knochen, die ihn unterstützten, ging meine verblichene, beklagenswerte Faust glatt durch ihn hindurch. Sein Gesichtsausdruck verriet mir, daß etwas angekommen war. Er wurde weiß wie ein… ein Becher Schweineschmalz. Na also, eine viel bessere Metapher. »Uuuuh, Baby, ich werde dich so heimsuchen, daß dir Hören und Sehen vergeht«, summte ich ihm zu. »Wegen dir hat sich mein Horoskop erfüllt. Werden wir ja sehen, ob ich nicht das gleiche für dich tun kann. Denk daran, Elmo, der Schütze ist der Jäger.« Er schüttelte sich, dann wischte er sich mit der Hand über das Gesicht, so, als ob er etwas loswerden wollte. Nachdem er bei der Polizei seine verlogene Aussage gemacht hatte, stand es ihm frei, davonzukrabbeln wie der Skorpion, der er war. Und weg war er. Ich folgte ihm, weil es ganz so aussah, als könne ich nur entweder in seine Richtung gehen oder meinem Körper folgen. Für meinen Geschmack wußte ich genug darüber, was
die Gerichtsmedizin mit toten Körpern anstellt, und ich wollte nicht bei meiner eigenen Zerlegung in die Einzelheiten gehen. Elmo behielt sein flottes Tempo bei. Dann entdeckte ich etwas Neues am Geisterdasein. Wir werden müde. Sich bewegen, zuhören, was Elmo sagte, in der Welt zu sein, die ich verlassen sollte, all das war anstrengend. Ich fragte mich, wie sich Geister ausruhen. Kann man schlafen, wenn man tot ist? Er ging an drei Telefonzellen vorbei, bevor er eine fand, die ihm zusagte. Ich hatte ihm gesagt, daß er sich ein Handy besorgen solle, aber Elmo machte sich Sorgen, daß die Mikrowellen sein Gehirn grillen könnten. Kein Wunder, daß er an Astrologie glaubte. »Es ist erledigt«, murmelte er in den Hörer. »Ich bin auf dem Weg.« Nun, das war wirklich erhellend. Ich wußte, daß es erledigt und er auf dem Weg irgendwohin war. Er lief zwei Häuserblöcke weiter und landete bei seinem Auto. Geschlossene Türen halten Geister nicht auf, also schwebte ich auf den Beifahrersitz. Ich machte mir gar nicht erst die Mühe, mich anzuschnallen. Elmo fuhr zu Lloyds Haus. Allmählich fügten sich die einzelnen Teile zusammen. Lloyd war Mr. Pläneschmieder persönlich, immer eine neue Idee parat, um zu Geld zu kommen. Ein paar davon waren sogar beinahe legal. »Es ist erledigt«, sagte Elmo. »Wir sind auf dem Weg.« Ich versetzte ihm noch einen Schlag, weil er so langweilig war, aber meine körperlose Faust ging durch sein wabbeliges Gesicht hindurch. »Was ist los?« fragte Lloyd. »Du kriegst doch jetzt kein schlechtes Gewissen, oder?« »Nein, mir geht’s gut. Bin nur ein bißchen müde. Bist du sicher, daß alles glattgeht?«
»Das läuft wie geschmiert. Wen kümmert’s, wenn eine alte Witwe einen Herzinfarkt kriegt?« »Ja, du wirst schon recht haben. He, ich bin müde. Was dagegen, wenn ich mich kurz aufs Ohr haue?« »Klar, mach, was du willst. Aber schnarch nicht so laut, ich will in Ruhe fernsehen.« Ich nehme an, Freundinnen zu töten ist harte Arbeit. Elmo legte sich hin. Lloyd stellte den Sportkanal an, bis Elmo anfing zu schnarchen, dann schaltete er auf eine der Nachmittagsserien um. Das war jetzt wirklich zu aufregend für mich, dabei zuzuschauen, wie Lloyd sich heimlich TV-Serien reinzog und Elmo mit offenem Mund schnarchte. Meine Katze! Ich bin tot, und wer wird jetzt meine Katze füttern? Ich bin ermordet worden und mache mir über solche Sachen Sorgen? Aber ich machte mir wirklich Sorgen. Und ich war mir sicher, daß Lloyd nirgendwo hingehen würde, bevor seine Serie zu Ende war. Durch den längeren Aufenthalt waren meine Kräfte wiederhergestellt. Einfach auf der Stelle zu schweben schien die Geisterversion einer Verschnaufpause zu sein. Ich flog aus der Tür, nicht ohne auf meinem Weg an Lloyd vorbei meine geisterhafte Spucke in seinem Bier zu hinterlassen. Er hustete, würgte kurz, dann wurde er weiß wie… ein Schneeball in der Hölle. Ich setzte mich auf das Dach eines Autos, das in meine Richtung fuhr, und steuerte so auf meine Wohnung zu. Als es abbog, flog ich einfach auf ein anderes Auto. Drei Autos und einen Laster später stand ich vor meiner Tür. Einen kurzen Moment lang kramte ich nach meinen Schlüsseln. Dann fiel mir wieder ein, daß ich tot war. Ich mußte mir nie wieder Gedanken um vergessene Schlüssel machen. Ich flog in die Wohnung und fragte mich, wie zum
Teufel ich meine Katze füttern sollte, wenn ich nichts wirklich anfassen oder vom Fleck kriegen konnte. Molly war da. Natürlich würde Molly da sein. Molly war immer für mich da. Sie stand in der Küche und öffnete gerade eine Dose Katzenfutter. Molly war meine beste Freundin. An ihrer Schulter konnte ich mich immer ausweinen, wenn wieder einmal eine Liebschaft nicht funktioniert hatte, sie konnte mich beim Billard schlagen, ohne damit anzugeben, und ich konnte mich darauf verlassen, daß sie meine Katze füttern würde, wenn ich tot war. Verdammt, und sie hatte mir auch gesagt, daß Schützinnen wie ich Skorpionen wie Elmo nicht trauen sollten. Sie hatte gesagt: »Trau ihm genausowenig wie einem, der beim Langustenkochen Weißwein trinkt.« Als ich in die Küche trieb, drehte sich Sylvester, meine schwarz-weiße Katze, um und sah mich an. Oh-oh, mir wurde klar, daß Katzen wirklich über alles Bescheid wissen, genau wie wir Menschen befürchtet haben. Sie maunzte mich an. Ich verstand genau, was sie sagte. »Du mußtest ja unbedingt losziehen und dich umbringen lassen. So ist das Leben. Molly hat mich sowieso öfter gefüttert als du, und sie hat auch schon versprochen, daß sie mich mitnimmt.« »Zu dumm, daß ich gestorben bin, bevor ich ihr den Trick mit der Katzenminze zeigen konnte«, gab ich zurück. »Schätze, es gibt ein paar Dinge an dir, die ich vermissen werde«, seufzte Sylvester mir zu. »Aber mach dir keine Sorgen, Katzen kommen in den Himmel. Wir werden uns wiedersehen.« Damit wandte sie (ich wußte nicht, daß sie eine Sie ist, als ich sie Sylvester taufte, okay?) sich wichtigeren Dingen zu, nämlich dem Futternapf, den Molly ihr hinstellte. Als Molly sich von der Küchenzeile wegdrehte, sah ich ihr Gesicht. Sie hatte geweint, ihre Augen waren rot und verquollen.
Bitte weine nicht, wollte ich ihr sagen. Mir geht es ganz gut. Der Tod ist gar nicht so übel, auch wenn es ein bißchen dauert, bis man sich daran gewöhnt. Ich beobachtete Molly, die durch meine Wohnung irrte wie ein kleines Mädchen, das sich verlaufen hatte. Schließlich legte sie sich auf mein Bett, umarmte das Kissen und vergrub ihr Gesicht darin. Verdammt, gestern wollte ich diese Laken wechseln… Sylvester, die sich den Bauch vollgestopft hatte, sprang neben Molly aufs Bett und kuschelte sich an sie. Meine abweisende Katze bot ihr mehr Trost, als ich das konnte. Sie liebt mich, wurde mir auf einmal klar. »Sie hat dich geliebt, jetzt bist du tot, Schätzchen.« Mein spiritueller Begleiter beziehungsweise Begleiterin war wieder da. »Warum zum Teufel hab ich das nicht kapiert, als ich noch am Leben war? Und was zum Teufel machst du hier?« »Übergänge sind hart, und der Tod ist ein ziemlich harter Übergang. Ich bin nur da, um dir zu helfen.« »Verdammt, jetzt muß ich erst sterben, damit ich merke, daß die Liebe meines Lebens meine beste Freundin war und die ganze Zeit direkt vor meiner Nase saß, während ich da draußen nach ihr gesucht habe. Schlechtes Timing, muß ich sagen.« »Zu dumm, daß du den körperlichen Reizen langbeiniger Blondinen hoffnungslos verfallen warst. Schätze, du mußtest erst sterben, damit du ein paar Lektionen lernst.« »Hätte ich es jemals kapiert?« Das war eine rhetorische Frage, aber er/sie/es/Was-auch-immer antwortete darauf. »Mit 82 hättest du’s begriffen. Es sei denn, du hättest die Kugel überlebt, wärst im Rollstuhl gelandet und jemand hätte dir den Urinbeutel wechseln müssen. Molly wäre selbst dann bei dir geblieben. Dann wär selbst bei dir endlich der Groschen gefallen.«
»Ich wußte gar nicht, daß Engel sarkastisch sein können. Ich nehme an, du willst damit andeuten, daß ich eine Idiotin war.« »Genau das warst du. Kennst du den Ausdruck: Man lernt nie aus? Bei uns heißt das: Erst im Tod lernt man aus. Aber mach dir nicht zu viel draus, jetzt, da du tot bist, hat Molly keinen Grund mehr, in diesem Loch zu bleiben. Sie wird Jura studieren. Und von deinem Tod angetrieben, wird sie wesentlich zu dem Prozeß beitragen, der eine tatsächliche Waffenkontrolle in diesem Land in Gang bringen wird. Wenn du nicht gestorben wärst, hätte sie das nie getan. Und eine Richterin wird sich in sie verlieben, sich vom Gericht verabschieden und mit ihr zusammenleben. Also laß den Kopf nicht hängen, dein Tod ist nur gut für sie.« Ich wandte mich von ihm/ihr/Was-auch-immer ab und warf einen Blick auf Molly, die in meinem Bett schluchzte. Sylvester, meine abweisende Katze, leckte ihr das Gesicht ab und wollte sie trösten. »Das heißt, auf lange Sicht ist er gut für sie«, fügte er/sie/es/Was-auch-immer leise hinzu. »Komm, Lloyds Serie ist fast um. Ich bring dich hin.« Ich machte Anstalten, mit ihm mitzugehen, blieb dann aber stehen. Ich war hier noch nicht ganz fertig. Ich legte mich neben Molly, wünschte mir, ich hätte sie zu meinen Lebzeiten in die Arme genommen, und hielt sie so gut ich konnte. »Alles wird gut«, sagte ich zu ihr und fragte mich, ob meine geisterhaften Worte ihr auch nur eine leise Spur an Trost spenden konnten. »Alles wird gut.« Sylvester antwortete: »Ich kümmere mich um sie. Ich tu mein Bestes für sie. Wir werden dich vermissen, Mama.« Mollys Schluchzen ließ nach, und sie kuschelte sich an meine Katze und mein Kissen. Ein Schatten glitt von ihrem Gesicht, als wüßte sie, daß ich in Ordnung war und sie eines Tages wieder glücklich sein würde.
Ich verabschiedete mich von ihr und wandte mich wieder meinem geisterhaften Begleiter zu. »Ich bin bereit.« »Halt dich an meiner Schulter fest, Schätzchen, es geht los.« Das tat ich, und er/sie/es/Was-auch-immer ließ uns aus der Tür gleiten, dann flogen wir rasch hoch über die Bäume und Häuser. Ich stellte mit Erleichterung fest, daß ich nicht mehr luftkrank wurde. Tot zu sein hat doch einige Vorteile. »Wer bist du eigentlich? Wie kommt es, daß du diese Aufgabe am Hals hast?« fragte ich. »Ach, ich hab mich freiwillig gemeldet. Wurde vor, warte… dreißig Jahren ermordet, nach Erdzeit. Also hab ich mich auf Morde spezialisiert. Wie man eben so sagt: Kenne ich schon, hatte ich schon, war nicht so toll.« »Warum wurdest du umgebracht?« »Zuschauer. Stand einfach da an der Bar und schlürfte ein Dixie-Bier, als diese zwei Kerle sich in die Wolle kriegten. Stritten sich darum, wie knallhart sie sind, nur stellte sich raus, daß sie nicht mal geradeaus schießen konnten. Bingo, meine Zeit abzutreten.« »He, was ist dein Zeichen?« fragte ich aus einer Laune heraus. Nicht, daß ich wirklich an den Kram geglaubt hätte, ich machte nur Konversation, während wir so dahinflogen. »Vorsicht beim Überholen. Hätte die Geschichte meines Lebens sein können. Das nächste Mal hänge ich auf keinen Fall in Kneipen rum.« Ich hatte einen Übergangshelfer bekommen, der meinen Sinn für Humor teilte. »Habt ihr nach dem Tod denn noch Sternzeichen?« »Klar haben wir die. Ich bin Schütze, so wie du. Weil wir doch so gerne reisen, drehen wir auf unserem Weg hier raus noch ein paar Runden um die Sterne. Ich hätte dich auch nie für, sagen wir, ein Erdzeichen gehalten, eine von diesen
langsamen Zockeltanten. Feuer versteht sich mit Feuer, wie man so sagt. Ah, da sind wir.« Wir landeten wieder auf dem Boden, und er/sie/es/Was-auch immer setzte mich vor Lloyds Wohnung ab. »Du bist also ein Mann?« Ich wollte das unbedingt herausbekommen, damit ich aufhören konnte, über ihn/sie/ es/Was-auch-immer als er/sie/es/Was-auch-immer zu denken. »Das war ich damals. Wenn man tot ist, spielen so Kleinigkeiten wie Geschlecht und Rasse und mit wem man geschlafen hat und Geld keine große Rolle mehr.« »Was spielt denn eine Rolle?« »Weißt du, das Übliche: warst du gut, warst du böse. Solche Sachen. Ob du dich darum bemüht hast, das Richtige zu tun. Oder ob du dich nur um dich selbst, dein neues Auto und deine schicke Garderobe gekümmert hast.« »Wach auf, Elmo«, hörte ich Lloyd im Haus sagen. »Ich hol dich später ab«, sagte er (ich war mir immer noch nicht sicher, aber vorerst mußte es reichen). Und weg war er. Ich flog zurück in Lloyds heruntergekommene Wohnung. Im Fernsehen lief wieder der Sportkanal. Elmo war in der Toilette, hatte die Klobrille unten und kriegte das nicht so gut hin mit dem Zielen. Angesichts der Sauberkeit der restlichen Räumlichkeiten bezweifelte ich, daß es Lloyd auffallen würde. »Los, du mußt anrufen. Sie hat gesagt, wir sollen gegen fünf anrufen«, brüllte Lloyd ihm zu. »Ich komm’ ja schon«, antwortete Elmo. Er wusch sich die Hände nicht, und er wischte auch die Klobrille nicht ab. Zuerst ging er zum Kühlschrank und holte sich ein Bier. Billiges Bier natürlich. Dann nahm er das Telefon. Elmo, der wegen der Strahlung kein Handy benutzen wollte, wusch sich also nicht die Hände, nachdem er Lloyds Toilette benutzt hatte, und schlürfte billiges Bier. Ich schloß daraus, daß es schlimmere Dinge gibt, als tot zu sein.
»Hallo, Mrs. Lee?« sagte er. »Hier ist Morgan Whitman, erinnern Sie sich an mich? Ich rufe Sie wegen der Anlage beim Federal Fidelity Mutual Trust Guarantee an.« Deshalb also hatte ich sterben müssen! Mrs. Georgia Lee war eine ältere Nachbarin von mir. Sie hatte mich vor ein paar Tagen wegen dieses Federal Fidelity Mutual Trust Guarantee Fonds angerufen. Sie meinte, er klinge interessant, aber sie wolle, daß jemand das überprüft. Ich hatte ihr im Laufe der Jahre einige Gefallen getan, vom Rasenmähen bis zum Verscheuchen von Betrügern, die es auf ältere Menschen abgesehen hatten. Und sie war eine Art Ersatzgroßmutter für mich, mit Keksen und Thanksgiving-Essen und gestrickten Pullis. Ihr Mann war Schiffskapitän gewesen, und als er starb, konnte er sie dank seiner Lebensversicherung als wohlhabende Frau zurücklassen. Ein paar Jahrzehnte umsichtiger Investitionen und sparsamer Lebensführung hatten aus ihr eine sehr, sehr wohlhabende Frau gemacht. Sie erzählte mir, daß sie es im Alter komfortabel haben und keinem ihrer Kinder zur Last fallen wollte. Alles, was danach übrigblieb, solle an eine Wohltätigkeitsorganisation gehen. Und natürlich hatte ich diesen anmaßenden Federal Fidelity Mutual Trust Guarantee Fonds von Anfang an als Schwindel durchschaut. Nun, das Vermögen der sehr wohlhabenden Mrs. Lee war Grund genug, mich abzumurksen. »Wie ich bereits sagte«, fuhr Elmo fort, wobei er mehr schlecht als recht einen britischen Akzent imitierte, der von Cockney bis Oxford reichte – wahrscheinlich hatte er ihn sich bei ein paar Stunden Masterpiece-Theater eingepaukt –, »es ist sehr wichtig, daß Sie jetzt investieren, da die günstige Gelegenheit sich nur kurze Zeit bietet. Ich bin sicher, daß die Privatdetektivin Denise Smith (he, meine Mutter war eine Boudraux, ich kann auch nichts dafür, daß mein Vater einen langweiligen Namen hatte) Ihnen berichtet hat, daß wir auf
dem aufsteigenden Ast sind… Sie haben noch nicht von ihr gehört? Also, ich bin sicher, daß das bedeutet, daß sie nichts Nachteiliges gefunden hat. Sie hätte Sie bestimmt angerufen, wenn sie irgendwelche Unregelmäßigkeiten entdeckt hätte… gut, ich kann in einer halben Stunde bei Ihnen sein.« Eine halbe Stunde. Ich hatte nicht die geringste Chance, sie aufzuhalten. Ich verpaßte Elmo noch einen Schwinger, als er den Hörer auflegte. »He, du fühlst dich jetzt nicht schuldig, oder?« rief Lloyd ihm zu. »Du bist weiß wie ein Geist.« Weiß, wie nichts in diesem Haus es je wieder sein wird, fügte ich hinzu. Ich hatte etwas dagegen, daß Elmo mit einem Geist verglichen wurde. »Nee, kein Problem. Gehen wir. Je schneller sie uns die Papiere unterschreibt, desto schneller bekommen wir das Geld.« Elmo ließ sein billiges, halb ausgetrunkenes Bier einfach auf dem Tisch stehen, so daß sie bei ihrer Rückkehr betrunkene Küchenschaben vorfinden würden, und er ging mit Lloyd zum Auto. Ich folgte ihnen. Ich wußte nicht, was ich tun sollte, aber irgendwie konnte ich nicht einfach weggehen… wegfliegen, meine ich. Ich wehte auf den Rücksitz. Das Gute am Geisterdasein war, daß ich über dem Durcheinander aus Fast-food-Tüten und leeren Zigarettenpackungen schweben konnte, das den Sitz bedeckte. Mrs. Lee wohnte in einem der wunderschönen alten Häuser in Algiers Point, am Westufer des Flusses. Als wir im nachmittäglichen Berufsverkehr über die Brücke fuhren, betrachtete ich die Stadt, wie sie sich in den Abendnebel erstreckte: die großen Gebäude des Central Business District, der an der Canal Street aufhörte, der Übergangslinie zwischen
der neuen, modernen Stadt und den alten Straßen des French Quarter. Ich konnte den Jackson Square sehen, das Herz des Quarter, und die Lichter der St. Louis Cathedral, die vom Nebel umhüllt war. Ich würde nie wieder diese Straßen entlanggehen, und diese Männer waren dafür verantwortlich. Elmo verfuhr sich ein bißchen, daher wurde aus der versprochenen halben Stunde beinahe eine Stunde. Dann hielt er vor Mrs. Lees Tür. Ich wollte »Machen Sie die Tür nicht auf« rufen, aber natürlich würden mich nur Katzen hören. Sie ließ sie hinein, bot ihnen sogar Tee oder Kaffee an. Elmo spreizte seinen kleinen Finger ab, als hätte er eine Ahnung von kultiviertem Auftreten. Ich spuckte in seinen Tee. Er würgte an einem Zitronenkern, auf den er nicht geachtet hatte. Robert E. Ich mußte ihn finden. Er war ein orangefarbener Kater und saß am liebsten mitten unter den Pflanzen auf Mrs. Lees überdachter Veranda. Dort fand ich ihn auch. »He, wach auf«, rief ich. Träge machte er ein Auge auf, als ob die Gegenwart von Geistern für ihn etwas ganz Gewöhnliches wäre. »Oh, hallo Denise«, sagte er schläfrig. »Wann bist du entschlafen?« »Keine Zeit für Plaudereien über meinen Tod«, sagte ich ihm. »Die zwei Männer, die mit Mrs. Lee im Salon sind, wollen sie betrügen und dann umbringen.« »Ach, du meine Güte«, sagte Robert E. »das würde das Abendessen beeinträchtigen.« »Sorg dafür, daß sie die Papiere nicht unterschreibt!« wies ich ihn an. Mrs. Lee hatte den Stift bereits gezückt, um zu unterschreiben. Lloyd stand hinter ihr, bereit, sie zu erwürgen. Robert E. machte einen Satz durch die Luft, landete auf den Papieren unter Mrs. Lees gezücktem Stift und verteilte sie im
ganzen Raum. Dann stieß er mit dem Kopf gegen ihren Stift und schlug ihn ihr aus der Hand. »Hey, halt die Katze auf«, rief Elmo und vergaß in seinem Ärger über Robert E.s Eskapaden, einen britischen Akzent vorzutäuschen. Ich schlich mich neben Mrs. Lee. »Unterschreiben Sie diese Papiere nicht. Sie sind tot, wenn Sie sie unterschreiben.« Ich fragte mich, ob mein geisterhaftes Geflüster irgendeine Wirkung auf sie hatte. »Vielleicht sollten wir bis morgen warten«, sagte sie. »Ich hätte wirklich gerne etwas Zeit, um die Papiere durchzusehen.« »Sie müssen aber morgen mittag abgegeben sein«, beschwatzte Elmo sie. »Es ist besser, wenn Sie sie jetzt unterschreiben, dann müssen Sie sich morgen früh keine Gedanken mehr darüber machen.« »Wir können das morgen früh gleich als erstes erledigen«, sagte sie. »Ich würde gerne mit Denise sprechen und mir alles noch mal durchlesen, wenn es Ihnen nichts ausmacht.« Ich kannte den Tonfall in ihrer Stimme und wußte, daß sie vor morgen früh nicht unterschreiben würde. »Siehst du, sie hört auf mich«, ließ Robert E. mich wissen. Zumindest hatte sie den Wink verstanden. »Wir Schützen müssen zusammenhalten«, fügte er noch hinzu. »Glaubst du an so was?« fragte ich. »Ich bin eine Katze. Glauben wir an irgendwas? Ich streife gerne durch die Nachbarschaft, und ich sitze gerne am Feuer und mache mir tiefgründige Gedanken.« Damit steuerte Robert E. ganz katzenhaft auf die Küche zu, wo er den perfekten ›Ich verhungere-du-mußt-mich-jetzt-so-fort-füttern‹-Maunzer von sich gab. Elmos heftiges Drängen und alle seine Überredungskünste blieben vergeblich, da er ständig von Robert E.s Kakophonie unterbrochen wurde. Lloyd machte ein finsteres Gesicht.
Schließlich sagte Mrs. Lee, daß sie ihre Katze füttern müsse, und führte die beiden zur Tür. Sie gingen mit dem Versprechen, morgen früh wiederzukommen. Gleich als allererstes morgen früh. Kaum waren sie aus dem Haus, wandte sich Elmo an Lloyd und sagte: »Du mußt morgen früh herkommen und ihre Zeitung klauen.« Selbstverständlich sah Mrs. Lee nicht fern, sie würde daher erst aus der Zeitung erfahren, daß ich ermordet worden war. »Warum machst du das nicht? Das ist zu beschissen früh am Tag für mich«, blaffte Lloyd zurück. Sie stritten hin und her, aber es war klar, daß einer von ihnen die Zeitung stehlen würde. Mrs. Lee würde keine Gelegenheit kriegen, sich darüber zu wundern, daß ich gerade dann ermordet wurde, als ich ihr wegen dieser betrügerischen Geldanlagesache Bescheid geben sollte. »Du fährst, ich muß nachdenken«, klärte Elmo Lloyd auf. Wenn Elmo das Hirn dieser Bande war, dann mußte es doch selbst für einen Geist ohne Körper und ohne Stimme einen Weg geben, sie aufzuhalten. Ich glitt wieder auf den Rücksitz des Autos. »He, wo fährst du eigentlich hin?« fragte Elmo plötzlich. »Mann, was juckt dich das? Ich fahre. Ich hab keine Lust, die Autobahngebühren zu zahlen. Was ist los, hast du was gegen die Huey P.? Außerdem, denk dran, mein Horoskop hat gesagt, daß ich heute ruhig etwas riskieren soll. Eine alte Frau zu erwürgen ist kein Risiko, da muß ich schon über diese Brücke fahren.« Lloyd fuhr über die Huey-P.-Long-Brücke, eine wesentlich ältere Brücke als die Crescent-City-Autobahnüberführung, die uns auf diese Seite des Flusses gebracht hatte. Auf der Huey P. sind die Fahrbahnen eng, und in der Mitte der Brücke verläuft eine Eisenbahnschiene. Zwischen einem Sattelschlepper auf
der einen und einem ratternden Zug auf der anderen Seite eingequetscht, kann die Überfahrt selbst für die Ruhigen und Gesetzten unter uns zu einem ziemlich aufregenden Erlebnis werden. Elmo gehörte anscheinend nicht in die R&G-Kategorie. Lloyd auch nicht, doch das Bier in seiner Hand gab Auskunft über den wahren Grund seiner Gelassenheit. Der Nebel rollte langsam heran und machte die Huey P. zu einem noch nervenaufreibenderen Erlebnis. Ich war beinahe froh, daß ich schon tot war, so konnte ich wenigstens nicht mein Leben verlieren. »He, wenn ich ihn umbringe, komme ich dann geradewegs in die Hölle?« fragte ich den Kosmos. »Hör zu, Schätzchen, du mußt tun, was du für richtig hältst.« Mein Begleiter tauchte wieder auf. Irgendwie war ich nicht überrascht. »Dir muß nur klar sein, daß Dinge wie Geistererscheinungen und Heimsuchungen Energie verbrauchen. Wenn du zu viel verbrauchst, löst du dich in deine Einzelteile auf. Dann kann deine Hand für ein paar Jahrtausende auf der Suche nach einem freundlichen Fuß herumirren.« »Du bist auch keine Hilfe«, grummelte ich ihn an. »Ich kann doch nicht einfach zulassen, daß sie morgen wieder hingehen und Mrs. Lee töten.« »Niemand lebt für immer.« Und damit war er weg. Niemand lebt für immer. Ich nicht, Mrs. Lee nicht. Und Elmo nicht und Lloyd nicht. Ich spuckte in Lloyds Bier. Er bemerkte es aber kaum, nur ein halber Huster, bevor er es runterkippte. Elmo war der Schlüssel. Ich legte meine geisterhaften Hände um seinen Hals und drückte zu. »Jesus! Mach das Fenster auf, ich krieg keine Luft«, stieß er hervor.
»Klar, wenn’s dir Spaß macht«, gab der bierselige Lloyd zur Antwort. Durch das geöffnete Fenster kam allerdings ein Schwall Dieselgestank herein, und Elmo machte es schnell wieder zu. »Du wirst sterben, Elmo, du bist ein Mörder und ein Angsthase«, sagte ich zu ihm. Er wurde weiß wie… die Frontscheinwerfer eines vorbeifahrenden Lasters. »Ich hasse diese bescheuerte Brücke«, sagte er. »Die Fahrbahnen sind zu eng, es ist richtig gefährlich.« »He, ich fahre, alles voll unter Kontrolle«, versicherte ihm Lloyd und nahm einen weiteren Schluck Bier. »Außerdem, denk dran, du hast mir heute morgen mein Horoskop vorgelesen. Da stand, daß mein Weg mich dahin führen wird, wo ich hin muß.« »Klar, du Säufer, genau über diese wacklige alte Brücke. Alles voll unter Kontrolle. Und an diesen Horoskopscheiß habe ich noch nie geglaubt.« »Du bist ein Feigling! Alte Frauen für ein paar Dollar ermorden!« flüsterte ich Elmo zu. »Was hast du gesagt?« fuhr er Lloyd an. »Gesagt? Ich hab gar nichts gesagt. Hörst du Gespenster oder was?« antwortete Lloyd. Es war an der Zeit, daß Elmo wirklich ein Gespenst sah. Ich bündelte meine Energie und konzentrierte sie darauf, mir eine gespenstische Gestalt zu verleihen. Ich fühlte mich plötzlich schwer, belastet durch die Erinnerung an den Körper, den ich zurückgelassen hatte. Ich wollte sprechen, doch ich mußte meine gesamte Energie aufwenden, um in Erscheinung zu treten. Ich flatterte vor Elmo, ein Hauch von einer Gestalt. »Was zum…?! Denise???!« brüllte er. Ich verblaßte. Ich konnte die Gestalt nicht länger halten. »He«, sagte Lloyd, »drehst du jetzt völlig durch?«
»Ich hab Denise gesehen. Sie war hier«, sagte Elmo. »Du hast irgendeinen Nebel gesehen. Reiß dich zusammen, du Waschlappen.« »Ja, Nebel, klar, das war’s.« Aber Elmo war weiß wie… ein ausgebleichter Knochen. Ich schwebte auf das Armaturenbrett und versuchte, wieder zu Kräften zu kommen. Ich wollte meinem linken Fuß nicht bis in alle Ewigkeit nachjagen müssen. Dann hatte ich eine Idee. Ich konzentrierte meine Energie auf meine Hände, ballte sie zu Fäusten und zwang sie ins glühende Leben. Scheinwerfer im Nebel. Ich bewegte meine Hände langsam auf Elmo zu. »Paß auf«, brüllte er. »Was denn?« fragte Lloyd. »Die Lichter. Sie kommen direkt auf uns zu!« »Was zum Teufel redest du da?« Lloyd konnte keine Lichter vor uns sehen. »Weich doch aus, du Idiot. Sie kommen direkt auf uns zu!« Meine Energie schwand dahin, doch ich mußte meine Hände am Glühen halten, sie noch heller machen, damit sie wie Scheinwerfer aussahen, die immer näher kamen. »Du spinnst! Da ist doch nichts.« »Du spinnst und bist besoffen! Wir werden umkommen!« Elmo griff nach dem Steuer. Er riß es hart herum. Lloyd, dessen Reflexe vom Bier verlangsamt waren, versuchte das Steuer unter Kontrolle zu halten, aber gegen Elmos Panik kam er nicht an. Plötzlich schlingerte der Wagen auf den Brückenrand zu, prallte leicht ab, wurde zurückgeschleudert und brach schließlich durch das Geländer. Er stürzte in die schwarze Nacht, mitten in den schwarzen Fluß. Ich schwebte über dem Wagen und sah zu, wie er im Wasser unterging. Der Mississippi ist kein netter Fluß, nicht hier mit
der starken Strömung und den engen Windungen und Kurven, die New Orleans hervorbringen. »Kommst du?« fragte mein Begleiter. »Kann ich nicht noch ein bißchen zusehen? Ich will sie noch verfluchen, wenn sie vorbeikommen.« »Die kommen nicht hier lang. Diese Jungs gehen auf direktem Weg nach unten.« »Und wo geh ich hin? Hab’ ich sie nicht gerade umgebracht?« »Kann ein Geist einen lebendigen Menschen töten? Mrs. Lee kann morgen ihre Katze füttern und übermorgen wieder. Das ist kein schlechter Ausgang. Komm, folge mir. Es ist eine großartige Nacht für einen Ritt durch die Sterne.« So ließ ich das nebelbedeckte New Orleans zurück und folgte ihm durch die Sterne. Wir drehten ein paar Runden um sie herum und ließen es uns nicht nehmen, am Sternbild des Schützen, dem Jäger, vorbeizufliegen. Eines mußte ich zugeben: Von allen Wendungen, die mein Leben hätte nehmen können, hatte ich diese Reise am wenigsten erwartet. Aus dem Amerikanischen von Dagmar Fink.
Frank Göhre Mord in der Leitung
Claudia Wolf wurde am späten Samstagvormittag im Flur ihrer Wohnung liegend tot aufgefunden. Von einem Nachbarn. Einem geschwätzigen Nachbarn. Kriminalhauptkommissar Peter »Pit« Gottschalk haßte geschwätzige Leute. Keine redseligen, aber geschwätzige. Diesen Unterschied kannte sein Kollege Fedder nicht. Fedder hörte sich jeden Dreck an. »Also sehen Sie, Herr Kommissar, das Treppenhaus hier, ein einziger Saustall, und glauben Sie vielleicht, daß der Plan eingehalten wird? Nein, sage ich Ihnen, wird er nicht, von niemandem im Haus, außer von mir natürlich und der Frau Jordan im Ersten. Wir haben die Weihnachtstage über zusammengesessen und ihn gemeinsam aufgestellt, das ist ja kein Geheimnis, Herr Kommissar. Ich will damit sagen, Frau Jordan und ich, wir sind die einzigen hier im Haus, die – « Gottschalk seufzte. Der Mann wandte sich jetzt an ihn und nickte eifrig. »Sie verstehen – « »Nein«, sagte Gottschalk. »Frau Wolf war heute mit der Treppenreinigung dran«, erklärte ihm Fedder. Gottschalk seufzte noch einmal. »Sag dem Herrn, daß er gehen kann.« »Du meinst –?« »Ja, genau. Und schließ die Tür hinter ihm.« Gottschalk drehte sich um und stapfte in die Küche. Er öffnete den Kühlschrank und entdeckte im oberen Fach zwei Dosen
Tuborg. Er griff sich eine. Fedder kam, als er sie gerade ansetzte. Fedder schüttelte den Kopf. »Du bekommst noch mal Ärger«, sagte er. Gottschalk schloß die Augen und trank. Dann stellte er die Dose ab und wischte sich über den Mund. »Sie ist mit ihrem Anrufbeantworter erschlagen worden. Von jemandem, den sie in die Wohnung gelassen hat – « »Nach Mitternacht«, sagte Fedder. »Herr Dietrich – « »Gib mir ihr Adreßbuch.« »Herr Dietrich will gehört haben – « »Ihr Buch.« »Meines Erachtens ist seine Aussage – « »Geschwätz«, sagte Gottschalk. Fedder zuckte resignierend die Achseln und ging zurück in die Diele. Das Telefon klingelte. Fedder stürzte hin und nahm ab. Noch bevor er etwas sagen konnte, war Gottschalk neben ihm und schnappte sich den Hörer. Auch er kam nicht dazu, sich zu melden. »Hey, hey, hey«, hörte er. »Wo bist du denn abgeblieben? Das war ja irre! Hast du den Feuertanz noch mitgekriegt? Das war eine irre Nummer! Dieser eine Typ, einfach super! Hab später noch kurz mit ihm getalkt, ein Ami, aus Frisco, die haben das richtige feeling! Hey, bist du okay –?« »Nein, ist sie nicht«, unterbrach Gottschalk. »Ihr Name?« Der erste Anruf auf der Maschine war von Steffi. Sie war wie immer ziemlich hip: »Hey, hey, hey, du bist noch nicht zurück? Die Nacht beginnt um neun, und es wird echt geil. Puder dir das Näschen und steig in deine heels, ich komme vorher vorbei und bringe alles andere mit. Sagen wir sieben, halb acht, wenn mir nicht vorher noch ein Kerl über den Weg läuft, bei dem ich nicht nein sagen kann, okay? Okay, Claudie
– hey, du bist wirklich noch nicht da? – Okay, okay, bis dann.« Claudia lächelte. Sie lächelte nicht lange. Die nächste Stimme war ihr fremd. Es war die eines Mannes. Er begann ohne Umschweife: »Hast du dich schon ausgezogen?« Ein langgedehntes Stöhnen folgte und dann: »Das ist gut, Baby, das ist sehr gut. Du hast einen super body, und deine glatte, geile Haut – oh, whow! Komm, zeig’s mir, zeig mir alles, was du drauf hast.« Claudia überlief es kalt. Die Stimme wurde eindringlicher. Der Mann steigerte sich zu wilden Obszönitäten. Er ließ nichts aus. Unfähig, die Stopptaste zu drücken stand Claudia im Flur ihrer Wohnung. Was sie da hörte war widerlich. Die Worte kamen schnell und gepreßt. Plötzlich wechselte der Mann den Tonfall: »Ich krieg dich, Baby, ich krieg dich schon noch, wohin ich dich haben will, du entkommst mir nicht.« Klack. Ende. »Hier Bernd, du ich – « Erst jetzt löste Claudia sich aus ihrer Erstarrung. Sie schaltete den Anrufbeantworter hastig aus. Was Bernd wollte, konnte nicht so wichtig sein. Die Frage nach einer Verabredung, nach abendlichem Ausgehen. Sie fröstelte. Dann kramte sie fahrig in ihrer Tasche nach Zigaretten. Nach den ersten tiefen Zügen war ihr ein wenig besser. Sie schaffte es immerhin bis nach vorn in das zur Straße hin liegende Zimmer. Geräumig, hell, mit wenigen Möbeln eingerichtet, lifestyle. Hohe Fenster, freier Blick bis hin zum Weidenpark. Flach atmend ließ sie sich in ihren zebrafellgemusterten Designersessel fallen. Ein Verrückter, sagte sie sich. Einer aus der kraß perversen Ecke, ein schmieriger Typ mit Mundgeruch. Ein TelefonOnanist, ein erbärmlicher Wichser. Es war unglaublich. Natürlich hatte sie schon von diesen Durchgeknallten gehört.
Eine Freundin aus München war über Wochen von so einem Schwein belästigt worden, Nacht für Nacht. Sollte ihr das jetzt auch bevorstehen? Das Zusammenschrecken bei jedem Telefonklingeln, eine andauernde Angst? Panik? Mein Gott, wie konnte sie sich nur davor schützen? Ihre Gedanken rasten. Sie merkte, daß sie bereits dabei war, die absurdesten Überlegungen anzustellen. Ärgerlich drückte sie die Zigarette aus und betrachtete unwillkürlich ihre langen, schmalen Beine. Sie trug ihr einziges Kostüm, ein malvenfarbenes Teil mit streng auf Taille gearbeiteter Jacke. Der Rock war kurz und saß knapp, aufsehenerregend knapp. Im IC hatte sie die Blicke sämtlicher Männer auf sich gespürt. Es hatte ihr nichts ausgemacht. Als typische Schütze-Frau liebe sie es, sich provozierend zu zeigen, äußerte Bernd gelegentlich. Sie schloß schnell und gern Freundschaften und – Das Telefon schrillte. Sie zuckte zusammen. Nein, bitte nicht. Nicht schon wieder. Sie ließ es noch mehrere Male klingeln, bis sie sich dann doch einen Ruck gab. Vorsichtig hob sie den Hörer ab. »Ja –?« »Hey, hey, hey, hast du dir unterwegs einen kleinen Lover an Land gezogen?« Steffi wartete ihre Antwort nicht ab. »Sorry, ein blöder Schnack, aber ich bin sowas von heiß auf die NightShow, das wird knallen. Du bist doch nicht etwa von der Fahrt erledigt? Hey, du hättest doch den Flieger nehmen sollen. Hast du Erfolg gehabt? Okay, okay, erzähl es mir gleich. Ich bin schon auf dem Weg – « »Steffi – « »Ja?« »Steffi, ich – du, hör mal, mir ist heute nicht nach einer langen Nacht, ich – «
»Hey, nun red nicht. Ich bin gleich bei dir. Nimm eine Dusche, Baby, und ich rubbel dich noch hübsch ab.« Sie sagte Baby! Sie sagte tatsächlich Baby. Mein Gott, das durfte doch nicht wahr sein! Baby! Wie dieser – ich krieg dich, Baby, ich krieg dich schon noch. »Steffi –!« Aber Steffi hatte bereits aufgelegt. Als Claudia wenig später mit ihrer Freundin gegenüber beim Italiener saß und sich über den anonymen Anrufer und ihre Befürchtungen ausließ, fand Steffi das einfach nur witzig. Hey, echt witzig. Nicht mehr. Und sie lachte munter. »Hey, die Nummer hatte ich noch nie«, sagte sie leichthin und winkte Holger heran. »Mich will offenbar keiner auf die perverse Tour, zu dumm.« »Bitte?« Holger, die langjährige Bedienung im »Little Italy«, zog fragend die Augenbrauen hoch. Steffi peilte ihn schräg an. Sie hatte sich schon für die Nacht zurechtgemacht, war phantastisch geschminkt, grün-blaue Schlangenlinien dominierten, und die Augenbrauen glitzerten silbern. Gekleidet war sie ganz in Schwarz, in Latex und Leder, und einzelne Strähnen ihrer Haare hatte sie flammend rot gefärbt. Holger erwiderte ihren Blick. Dann sah er auf ihre hochgeschnürten Brüste. »Hey, hey, hey!« meinte Steffi. »Das war keine Aufforderung, mich gleich zu besteigen. – Bring uns Wein, den weißen, trockenen, und diese Scampi in Teig.« Sie lachte wieder und hauchte ihm einen Kuß zu. »Für mich nicht«, sagte Claudia. »Nichts zu essen, meine ich. – Du, das ist alles andere als witzig. Das ist ein – « »Okay, okay, dann nur für mich. Aber reichlich Wein.« Holger hatte schlucken müssen. Er räusperte sich.
»Steffi«, sagte er ernst. »Das – das solltest du nicht sagen. Das ist nicht korrekt.« »Hey, was –?« »Du weißt schon. Ich muß schließlich noch arbeiten.« Steffi faßte ihn am Bund seiner Kellnerschürze und zog ihn näher zu sich heran. »Hey, wir könnten’s schon mal miteinander versuchen, Süßer, aber ich befürchte, ich überfordere dich. Nimm’s nicht gleich persönlich.« Sie schnappte nach seinem Ohrläppchen und biß spielerisch zu. Claudia wandte sich peinlich berührt ab. Holger machte sich los und eilte nach hinten in die Küche. »Steffi«, seufzte Claudia. »Du bist unmöglich. Holger ist ein wirklich Lieber, und ich möchte hier auch weiterhin zum Essen erscheinen können.« »Okay, okay – it’s fun. Okay? – Hey, irgendso’n Kranker ist in der Leitung, und du hängst total durch. Sag mir lieber, was Frankfurt gebracht hat?« Claudia schüttelte den Kopf. »Nichts«, sagte sie schließlich. »Ich glaub jedenfalls nicht, daß es was wird mit dem Job.« »Also das ist es.« »Nein, es ist – du, du hättest ihn hören sollen. Er hat mir gedroht.« »Unsinn – hey, das ist doch klar. Anders kriegt er keinen hoch.« »Du bist mir eine wahnsinnig große Hilfe«, sagte Claudia schroff. Shit, sie würde mit Sicherheit null Spaß an der riesigen Klabauternacht in der Fischmarkthalle haben. Nicht mit einer Steffi, die dermaßen höllisch drauf war. Steffi hob beschwichtigend die Hand. Ihre unzähligen Armreifen klirrten.
»Hey, Baby, cool. Trink erst mal was und entspann dich. Du bist doch sonst nicht gleich so verkrampft. Aber okay – willst du, daß ich später bei dir übernachte?« Holger brachte den Wein und stellte ihn schnell ab. Claudia nahm einen Schluck. Sie war inzwischen ziemlich entschlossen, den Abend allein zu verbringen. Oder sich vielleicht doch noch kurz mit Bernd zu treffen. Steffi war ihr heute zu heavy. Mit ihr in einer Wohnung – oh, nein, danach war ihr nun überhaupt nicht. Sie kannte Steffi gut genug, um zu wissen, wie das ablaufen würde. Hey, zieh’n wir noch eine Linie. Hey, ich knack noch ‘ne Coke. Laß die Glotze laufen. Laß uns wen anrufen. Wollen wir nicht doch noch auf irgend ‘nen Rave? Hey, ich bin hellwach. Bring mich runter, Baby – Baby, Baby, Baby! »Gib mir mal dein Handy«, sagte Claudia. »Hey, was –?« »Ich will Bernd anrufen.« »Nicht nötig«, sagte Steffi und nickte zur Tür hin. Irritiert drehte Claudia sich um. Bernd hatte gerade das Lokal betreten und kam auf ihren Tisch zu. Er war merkwürdig blaß im Gesicht, und seine Augen schienen zu flackern. »Warum rufst du nicht zurück?« schoß er los. »Woher weißt du denn, daß ich hier bin?« »Er hat mich gefragt«, sagte Steffi und zuckte lässig die Schultern. Claudia sah sie kopfschüttelnd an. »Claudia«, sagte Bernd. »Claudia, ich komm damit nicht mehr klar. Wir müssen reden.« Er griff nach ihrem Arm. »Okay, okay, okay, ich verschwinde mal kurz für kleine Mädchen«, sagte Steffi und stand auf. Ihre wuschelige Mähne zurückwerfend, ging sie zu den Toiletten, eine Hexe. Sie hat tatsächlich ‘was von einer Hexe, dachte Claudia. Bernd setzte sich.
»Entschuldige«, murmelte er. »Ich mußte dich einfach sehen. Ich versuche schon den ganzen Tag, dich zu erreichen.« »Mein Gott, ich war in Frankfurt. Zu diesem Vorstellungsgespräch.« »Frankfurt«, wiederholte Bernd dumpf. »Ich verstehe das alles nicht. Was wird denn dann aus uns?« »Es war eine Chance – « »Aber ich kann hier nicht weg. Das weißt du doch. Und ich – « »Bitte, Bernd«, unterbrach Claudia ihn. »Das war von Anfang an klar. Fang jetzt nicht an, unnötig zu klammern.« »Ich liebe dich – ja, ich weiß. Ich weiß. Ich will dir trotzdem nichts nehmen. Du bist Schütze – « »Bernd, werd’ nicht kindisch – « »Schütze und Jungfrauen, ich kenn das Problem. Aber ich hab’ noch mal woanders nachgelesen, es ist nicht ausgeschlossen – « »Wir werden Freunde bleiben, herrgottnochmal – laß bitte diesen Blödsinn mit den Sternzeichen. Das hat null damit zu tun. Ich mag dich, und ich war auch gern mit dir zusammen – « »War. – Das ist doch nicht aus mit uns.« »Nein, aber wenn du weiter so nervst – « Sie holte tief Luft. »Bernd, meine berufliche Zukunft wird immer an erster Stelle stehen. Komm, ich – mein Gott, nun sieh mich nicht so an. Das ist ja furchtbar. Ich will heute mal mit Steffi los. Aber gut, wenn du Lust hast – « »Ich möchte mit dir allein sein«, sagte Bernd leise. »Du bist – ich kann ohne dich nicht leben – « »Mein Gott!« »Ja, Claudie, ja, du bedeutest mir so wahnsinnig viel. Vielleicht habe ich dir das nie richtig deutlich machen können, mein Gefühl – « Claudia schloß gequält die Augen. Herr im Himmel, warum fing er jetzt plötzlich an, alles zu
komplizieren? Es war nett mit ihm, ja. Ihre gemeinsamen Kinobesuche, das um die Häuser ziehen, Drinks und Dancing, selbst mit ihm zu schlafen war angenehm gewesen, wenn auch nicht der Superhit, aber das mußte ja auch nicht ständig sein, sie verstanden sich, hatten sich gut verstanden, locker, eine lockere, unproblematische Beziehung, was wollte er mehr? »Okay«, hörte sie Steffi. »Steht bei euch ein Psycho an? Dann – « »Nein«, sagte Bernd. Er sagte es laut, fast schon schrie er es. Er beugte sich vor. »Ich hab schon begriffen. Es ist soweit. Du mußt dich wieder mal verändern, ich bin abgehakt. Ich hab meine Schuldigkeit getan – « »Du spinnst doch!« Auch Claudia wurde nun laut. »Verdammt, ich – warum kommst du mir jetzt auf einmal mit diesem Nervkram? Es ist doch alles – « »Ich habe dich aufgefangen«, sagte Bernd jetzt ruhiger. »Du hattest eine Scheiß-Beziehung hinter dir, und ich war da, ich war jederzeit für dich da – « »Die Scampi.« Holger stellte den Teller ab. Steffi machte eine unwillige Geste. »Gib’s dem nächsten Rosenfuzzi, ich zieh ab.« Sie wandte sich an Claudia. »Hey, hey, hey, auf den Streß kann ich nun überhaupt nicht.« Sie steckte Holger einen Schein zu und nickte Claudia auffordernd zu. Während der Fahrt schwiegen sie beide eine lange Zeit. Erst als sie zu den Landungsbrücken hin einbogen, fing Steffi wieder an. »Hey, irgendwie sind die Typen alle nicht ganz dicht.« »Vorhin hast du das nicht gesagt.« »Okay, okay, wenn du damit deinen Verbalpornographen meinst, okay, der ist so gesehen doch völlig harmlos.« Sie
schaltete runter. »Aber Bernie, whow, der klappt da ja eine Kiste auf – oh, fuck, das wußte ich echt nicht.« Claudia ersparte sich eine Bemerkung. Steffi gab wieder voll Gas. Sie fuhr schnell und sicher. Allmählich fing Claudia an, sich doch auf die Nacht zu freuen. »Ich muß mich noch anmalen«, sagte sie. »Wo hast du den Kram?« »Hinter dir in der Tüte. Nimm dir auch die Augenmaske, die kommt irre gut.« Claudia fummelte sie heraus und setzte sie auf. Sie reckte den Kopf zum Rückspiegel. Die Maske war weiß und ließ die obere Hälfte ihres Gesichts wie eingegipst erscheinen. Claudia zog eine Grimasse. »Okay«, sagte sie. Die Stirn war abgedeckt. Die düsteren Gedanken endgültig ausgeblendet. So soll es sein, dachte sie. Weg damit. Das Bild prägte sich ihr ein. Noch als sie längst mit Steffi inmitten der wogenden Menge war, sich weiter nach vorn zur Bühne schlängelte, blitzte es auf. Wieder einmal nur Mund sein, lebendiger, verlangender Mund. Kein Gerede, keine Probleme, nur lachen und sich treiben lassen, tanzen, Körper spüren, andere und den eigenen. Und sonst nichts. Eine Hand legte sich auf ihre Hüfte. Sie blickte in ein spinnwebenverhangenes Geflecht aus dürren Ästen. »Ich bin der Herr der Wälder«, raunte es. »Ich nehme den Reichen und gebe den Armen. Komm mit mir.« Die ganz in Grün gekleidete Gestalt breitete die Arme aus, umhüllte sie mit einem weiten Mantel. Er roch muffig. Claudia stieß sich an seinem über der Schulter hängenden Bogen. Robin Hood. Sie entzog sich ihm. Auf der Bühne wurden Trommeln geschlagen, Trillerpfeifen schrillten. Die Bläser setzten ein.
Claudia drängte sich weiter durch. Sie schaute sich nach Steffi um. Aber Steffi war verschwunden. Der Robin Hood war wieder neben ihr. Er verfolgte sie bis zu einem der Nebeneingänge, wo lange Tische aufgebaut waren, Getränke ausgegeben wurden. Eine größere Gruppe kaum kostümierter Personen stand in der Nähe. Claudia mischte sich unter sie. Ein Mann hielt ihr seinen Pappbecher hin. Claudia nahm ihn dankbar, kippte den Wein runter. Robin Hood hüpfte um sie herum und gestikulierte mit seinem Bogen. Es wurde geklatscht. Einige zupften an seinem Mantel. Robin Hood lüftete ein wenig seine Maske. Ein dunkler Schnauzbart wurde sichtbar. Die Gesichtspartie war Claudia nur zu vertraut. Martin befreite sich vollends von dem Geflecht, hielt es hoch über seinen Kopf. Er strahlte Claudia an. »Na, ist das eine klasse Verkleidung?« Er schnaufte: »Ich komm um vor Hitze! Gehen wir kurz an die Luft?« »Du hast mir gerade noch gefehlt«, sagte Claudia. Sie mußte schreien. Die Band hatte sich zu einem furiosen Finale gesteigert. Martin legte den Arm um sie und zog sie mit sich zum Ausgang. Claudia ließ es geschehen. Martin faßte ihr sanft in den Nacken. »Schön, dich mal wiederzusehen«, sagte er. »Wie geht’s dir denn so?« »Gut«, sagte Claudia. Sie atmete tief ein. »Wirklich sehr gut. Wie hast du mich erkannt?« »Na, hör mal, deine Minimaskerade bringt’s wirklich nicht, und außerdem – ich werde doch meine einzige, große Liebe unter Millionen herausfinden. Wir waren immerhin – «
»Ja, ja, kommt jetzt der Spruch von der schönen, langen Zeit?« »Drei wunderbare Jahre. Die besten meines noch jungen Lebens – « »Du checkst das nie.« Martin ließ sich nicht beirren. »Es spricht mein Herz zu dir, noch immer dich begehrend«, deklamierte er und wechselte dann den Tonfall: »Genau, ich hab nie kapiert, warum auf einmal Schluß war. Die Kostümierung ist sozusagen eine wiederholte Reverenz an dich, edle Schütze-Frau.« »Deine Verdrängungsmechanismen sind wirklich erstaunlich«, sagte Claudia. »Kapier’s endlich mal, unser Zusammenleben war alles andere als phantastisch. Ich jedenfalls hab mich von dir ziemlich eingeengt gefühlt, und deine schon krankhafte Eifersucht – « »Du bist mir eben verdammt wichtig gewesen! Was heißt gewesen, du bist nach wie vor die Frau für mich. Die einzige.« »Für dich! Wirst du denn nie begreifen – ach, was soll’s. Hast du Feuer?« Sie hatte sich eine Zigarette aus der Packung gefingert. Martin legte seine aufwendige Maske auf dem Boden ab und zog ein knallrotes Feuerzeug mit irgendeiner weißen Aufschrift hervor. »Ich hab seitdem mit keiner anderen was gehabt«, sagte er leise und klickte es an. »Aber du hast wahrscheinlich – was ist denn das mit dir und diesem Bernd?« »Spionierst du mir etwa nach?« »Der war doch schon immer hinter dir her – « »Na, und? Ich bin dir keine Rechenschaft schuldig, über nichts. Das, genau das, hat mich in der Zeit mit dir so fertig gemacht. Dein blödsinniges Rumschnüffeln in meinen Angelegenheiten, deine nächtlichen Kontrollanrufe – « Sie wich unwillkürlich einen Schritt zurück.
Ein entsetzlicher Gedanke hatte ihr Hirn durchzuckt. Martins Telefonate. Sein quälendes Nachfragen: Wo warst du? Sag’s lieber gleich, ich krieg’s doch raus – komm. Hatte er sie nicht auch gelegentlich Baby genannt, mit diesem etwas zynischen Lächeln, wenn sie sich gestritten hatten: Baby, du machst mir nichts vor, glaub ja nicht, daß du dich so einfach von mir trennen kannst. Üble Erinnerungen kamen ihr, schlimme Szenen. Schlagartig war das alles wieder da. Das und die Stimme auf ihrem Anrufbeantworter, die heiser geflüsterten Worte. Worte, die ihr nicht fremd waren, häßliche Worte, Ausdrücke, die er, Martin – Sie verkrampfte sich. Martin kniff die Augen zusammen. »Kontrollanrufe?« sagte er. »Ey, das ist hart. Ich habe nichts anderes als Interesse gezeigt und – « »Du warst das!« »Was –?« »Verdammt, daß du – daß du dich zu sowas hinreißen läßt, du –« »Was ist denn plötzlich in dich gefahren? Ey, Claudia, ich wollte wirklich nicht – « »Wenn du das noch mal machst, zeig ich dich an!« fauchte sie. »Das mit Bernie, ey – klar, ja, ja, ich bin eifersüchtig, zum Teufel, ja, das geb ich ja zu. Aber – « »Du bist ein elender Dreckskerl! Was hast du dir nur dabei gedacht?« Sie bebte vor Entrüstung. Martin. Nur er wußte, wie empfindlich sie auf jede verbale sexuelle Anspielungen reagierte, wie verhaßt ihr das war und wie tief verletzt sie jedesmal gewesen war, wenn er – dieses Schwein! Dieses gemeine Schwein! Ihr damit jetzt zuzusetzen, anonym! Das war mehr als krank, das war – sie holte aus und schlug zu. Sie traf ihn mit einer solchen Wucht, daß Martin taumelte.
Er verfing sich in seinem Umhang und stürzte zu Boden. Claudia erschrak. Martin war rücklings hingeknallt, lag regungslos da. Leute, die in der Nähe gestanden hatten, eilten herbei. Gleich mehrere knieten sich neben Martin. Einer hob vorsichtig seinen Kopf an. Irgendwer pfiff. Es wurde auch gelacht. Und gefragt. Claudia war unfähig, sich zu rühren. Sie konnte nicht antworten. Sie fühlte sich am Arm gefaßt. Und dann sah sie, daß Martin aufgestützt wurde, wie er die Hand an die Schläfe preßte und mit leerem Blick zu ihr hochstarrte. »Versteh nicht – «, setzte er an. »Langsam«, sagte der, der ihn hielt. »Bleib’ erst noch ‘nen Moment so sitzen.« »Warum – ich hab doch – « Claudia machte sich los. Wie in Trance ging sie in die Knie, streckte die Hand nach Martin aus. »Das – das wollte ich nicht – « »Du hast mich – « Er versuchte, auf die Beine zu kommen, ließ sich helfen. Claudia schluckte. Mein Gott! Langsam wurde ihr die Situation bewußt. Die Gruppe, die sich gebildet hatte, die Neugier in den Gesichtern. Und sie stand im Mittelpunkt, wurde gemustert. Es war furchtbar. Jemand riß einen Witz. Starke Frau, hörte sie. Sie wußte nicht, was sie tun sollte. Martin verzog schmerzhaft das Gesicht. »Das kriegst du zurück«, sagte er. »Das zahl ich dir heim, Baby.« Die Spurensicherung war gerade zur Tür hinaus, da stand eine Frau auf der Schwelle, deren Anblick Fedder die Sprache verschlug. Sie hatte die Augen der Adjani, den Mund der jungen Rita Hayworth und die Haltung der Deneuve. Zu ihren
Beinen fiel Fedder kein Vergleich ein. Er ließ gleich mehrere Filme bei sich ablaufen. Gottschalk schien unbeeindruckt zu sein. Er schilderte knapp den Tatbestand und begann zu fragen. Steffi antwortete. Fedder bekam lange Zeit nichts mit, obwohl er an ihren Lippen hing. »Notier’ das«, sagte Gottschalk. »Ja – was –?« »Den Namen.« »Bernd«, sagte Steffi und schenkte ihm ein Lächeln. »Bernd Töpfer. Okay, aber das war kein Streit, und Bernie – Sie sollten’s ihm vielleicht nicht so direkt hinknallen. Das wird ihn ganz schön umhauen.« »Wir werden sehen. Wie ging’s dann weiter?« »Fischmarkthalle, Klabauternacht«, sagte Steffi. »Gegen halb elf, elf haben wir uns aus den Augen verloren.« Solche Antworten schätzte Gottschalk. »Sehr gut. Noch kurz zu Ihnen. Wie lange sind Sie geblieben?« »Ich war um vier zu Hause.« »Allein?« »Leider, leider, leider – zu dumm. Der Junge mochte keine Frauen, jedenfalls nicht mit ihnen vögeln.« Fedder schoß Hitze ins Gesicht. Er räusperte sich. »Wie war denn Ihr Verhältnis zu der getöteten Person? Kann man Ihre Beziehung als eine im weitesten Sinne engere bezeichnen?« Gottschalk faßte sich an die Stirn. So idiotisch konnte sich nur Fedder ausdrücken. »Mein Kollege meint eine intime.« »Nein, ich – «
»Schon okay«, unterbrach Steffi. »Ich bin bi, sie mehr hetero. Es gab einen Versuch. Endete ein bißchen kläglich. Aber ansonsten no problem zwischen uns, kein clinch. Reicht das?« Gottschalk nickte. Fedder hatte nichts verstanden. Während der Fahrt zu Bernd Töpfer kritzelte Fedder unentwegt in sein Notizbuch. Gottschalk bremste absichtlich hart. Fedder hatte sich nicht angeschnallt. Es hob ihn aus dem Sitz. Er fluchte. »Diese Frau durchschau’ ich nicht«, sagte er, als er sich wieder beruhigt hatte. »Die hat reagiert, als sei nichts. Kein Entsetzen, keine Trauer, und du nimmst das ohne Kommentar.« »Sie hat klar geantwortet und alles Wichtige gesagt.« »Was zum Beispiel?« »Ich denke, das notierst du dir gerade.« »Ich schreibe meine persönlichen Eindrücke auf.« Gottschalk schnaubte. »Du hast weitgehend gepennt«, meinte er. »Ein anonymer Anrufer, eine Drohung und dann dieser Bernie.« Er sprach den Namen so sanft aus, daß Fedder ihn zweifelnd anschaute. Gottschalk seufzte. »Der wird schwierig«, sagte er. Er irrte sich nicht. Bernd trug unter einem häßlich gestreiften Bademantel einen ebenso geschmacklosen Schlafanzug und hatte sich einen nach ätherischen Ölen stinkenden Schal um den Hals gewickelt. Es roch aber auch noch nach etwas anderem. Beim Anblick der Dienstmarke schnappte Bernd entsetzt nach Luft. Gottschalk ließ ihn nicht groß zu Wort kommen. Er schonte ihn auch nicht. »Ihre Freundin Claudia ist diese Nacht erschlagen worden«, sagte er und trat ein. »Gottschalk. Mein Kollege Fedder. Steffi
Paulsen hat uns von der Auseinandersetzung gestern Abend erzählt.« Fedder registrierte, daß Bernd blaß wurde und zu zittern begann. Er zückte seinen Edding. »Claudia hat Ihnen zu verstehen gegeben, daß sie Sie über hatte«, fuhr Gottschalk ungerührt fort. Fedder starrte ihn verblüfft an. So konnte man das doch wirklich nicht formulieren. Er mischte sich ein. »Herr Töpfer sollte uns vielleicht – « »Antworten«, blaffte Gottschalk. Unmöglich, dachte Fedder. »– die näheren Umstände erklären«, schloß er seinen Satz ab und nickte Bernd aufmunternd zu. Aber Bernd war dazu nicht in der Lage. Auch als sie endlich in den Wohnraum vorgedrungen waren und Platz genommen hatten, brachte er keinen zusammenhängenden Satz heraus. Er zündete mit einem auffällig poppigen Feuerzeug etliche auf dem Tisch stehende Teelichte an. »Was haben Sie gemacht, nachdem die beiden Frauen gegangen waren?« »Ich – Claudia, das ist – nein, ich – wie konnte – wer, wer!?« Bernd schlug die Hände vors Gesicht. Sein Körper zuckte. Gottschalk wechselte einen kurzen Blick mit Fedder. Fedder fühlte sich aufgefordert, zu übernehmen. Er straffte sich. »Sie haben ihr sehr nahe gestanden, nicht wahr?« »Ja – ich – wir – « »Wenn wir richtig informiert sind, gab es zwischen ihnen aber einige Schwierigkeiten.« Bernd schluckte. »Schwierigkeiten?!« brachte er schließlich heraus. »Schwierigkeiten?! Nein, ich – wer tut nur so etwas? Wer?! Ich – Claudia und ich, wir – wir haben uns über alles
irgendwie verständigen können. Wir haben uns offen und ehrlich mit unseren Problemen auseinandergesetzt und – « »Was waren denn das für Probleme?« »Wir – ach, ich – es – es gab Mißverständnisse, nein, keine Mißverständnisse, unterschiedliche Konstellationen, unsere Sternzeichen – « »Was?!« blaffte Gottschalk. »Claudia – ich meine, ich bin Jungfrau und sie – sie hing wohl irgendwie noch immer an diesem Skorpion, obwohl man rein astrologisch gesehen glauben sollte – « Er gab sich einen Ruck. »Martin – Martin Rieck. Hat Ihnen Steffi nicht –?« »Nein, der Name wurde noch nicht genannt.« »Martin«, sagte Bernd jetzt heftig nickend. »Martin ist Schuld an ihrer – er ist an allem schuld. Er hat sie psychisch zerbrochen, ja, jedenfalls hatte er es darauf angelegt, sie völlig für sich zu vereinnahmen, und Claudia – als ich sie näher kennenlernte, Sie können sich das nicht vorstellen – « »Nein«, gestand Gottschalk und wandte sich an Fedder. »Steht dieser Martin in ihrem Notizbuch?« Martin Rieck wohnte in der Susannenstraße. Sie fanden einen Parkplatz direkt vor dem Haus. Gottschalk wartete noch einen Moment, trommelte ein paar Takte auf das Lenkrad. Fedder wurde ungeduldig. »Der Töpfer – «, fing er wieder an. »Erkältet«, sagte Gottschalk verächtlich und stieß den Schlag auf. »Aber den vorherigen Stecher bezichtigen, das gefällt mir.« Schwer stapfte er zur Haustür. Fedder folgte ihm kopfschüttelnd. Er hatte es wirklich nicht leicht mit so einem Kollegen. Kein Gedankenaustausch, kein gemeinsames Erörtern, nichts. Gottschalk klingelte.
Es wurde umgehend geöffnet. Martin war gerade im Begriff, zu gehen. Als Gottschalk ihm mitteilte, was geschehen war, verhärtete sich sein Gesicht. »Das erspart mir einen Weg«, sagte er und bat sie herein. Sie nahmen in einem karg eingerichteten Raum mit Fenster zum Hof Platz. Zwischen Zeitschriften und ein paar gestapelten Videocassetten war ein großer Aschenbecher plaziert, voll mit Kippen. Martin zündete sich mit einem Streichholz eine neue Zigarette an. »Sie haben sicher die Fingerabdrücke registriert«, sagte er. »Mehrere«, sagte Gottschalk unbestimmt. »Meine sind dabei.« »Sie waren also in ihrer Wohnung?« fragte Fedder nach. Gottschalk seufzte. Er griff nach der Packung und drehte sie zwischen seinen dicken Fingern. »Wann?« fragte Fedder weiter. »Diese Nacht«, sagte Martin. »Kurz nach Mitternacht.« Er inhalierte tief. »Ah, ja«, sagte Fedder und schlug sein Buch auf. Martin rauchte. Gottschalk betrachtete die Zigarettenschachtel. Eine Zeitlang sagte niemand etwas. Draußen im Hof hörte man einen Hund bellen. »Ja«, sagte Martin schließlich. »Wahrscheinlich haben Sie auch schon mein Feuerzeug gefunden. Das mit dem Aufdruck Nimm mich, ein rotes. Es liegt vermutlich noch auf dem Küchentisch. Wir haben geraucht. Die ohne Filter sind von mir. Aber das sehen Sie ja selbst.« Er hatte sich an Gottschalk gewandt. Gottschalk nickte müde. Er schien mit seinen Gedanken weit weg zu sein. Fedder klopfte mit dem Stift auf die Stuhllehne.
»Würden Sie uns bitte – «, sagte er. »Ja, natürlich.« Martin beugte sich vor und drückte die Zigarette aus. Er tastete an seine Schläfe. »Sie hat verdammt kräftig zugeschlagen. Ich hätte nie gedacht, daß sie das mal bringt. Verdient hab ich’s sicher oft genug. Wir hatten ein wirklich gutes Gespräch, das erste, das mal auf den Punkt kam und jetzt – « Er brach ab und rieb sich über das Gesicht. Er sah übernächtigt aus und war auch nicht rasiert. »Warum?« fragte er. »Warum?« »Das wollen wir von Ihnen hören«, sagte Fedder. »Sie hat Sie geschlagen und Sie – « »Ich hab überhaupt nicht kapiert, warum! Ich seh sie in der Halle – « »Einen Moment, bitte«, bat Fedder. »In der Halle –?« »Ja, in der Fischmarkthalle, wo die Klabauternacht war. Sie wissen, dieses Riesending. Klabauternacht!« Er lachte wieder kurz. Es klang nicht gut. »Klabauternacht, das trifft’s genau! Sie scheuert mir eine und ich – Klabauter-Klabums, ich leg mich flach. Wie gesagt, ich hab nicht begriffen, was da in sie gefahren war. Ich hatte mich gefreut, ein paar Takte mit ihr reden zu können und sie – na, schön. Ich hab’s ja dann rausgekriegt.« »Ich verstehe«, sagte Fedder. »Nein«, schaltete sich Gottschalk ein. »Laß ihn ausreden.« »Danke«, sagte Martin. Er streckte die Hand aus. Gottschalk gab ihm die Zigarettenpackung zurück. Fedder spürte einen Haß in sich. Dieser alte Fettsack! Ständig fuhr er ihm dazwischen. Wahrscheinlich wollte er wieder die alles entscheidende Frage stellen, allein den endgültigen Zugriff tätigen. Von wegen Team! »Ich hatte eine irrsinnige Wut auf sie. Auch, weil sie gleich danach abhaute. Sie hatte mich ziemlich hart erwischt«,
erklärte Martin. »Und ich hatte keine Ahnung, warum. Warum geht sie aus heiterem Himmel so auf mich los? Na ja, ich bin dann also hinter ihr her. Sie war rüber zur Straße gerannt und hatte sich ein Taxi gewinkt. Ich bin zu meinem Wagen, hab mein Kostüm ausgezogen, Pfeil und Bogen weg, und los. Ihr nach. Sie wollte mich erst nicht in die Wohnung lassen, aber ich hab Krach geschlagen.« Fedder räusperte sich. Gottschalk warf ihm einen bösen Blick zu. Martin klopfte die Zigarette im Ascher ab. »Sie hat dann schließlich geöffnet. Erst haben wir uns wahnsinnig angefetzt, aber dann hat’s sich langsam geklärt.« »Was?« konnte sich Fedder jetzt doch nicht verbeißen. »Sie glaubte, daß ich sie anonym angerufen und Schweinereien auf ihre Maschine gesprochen hätte. Ich! Ausgerechnet ich! Daß sie das überhaupt denken konnte! Natürlich hab ich öfter mal versucht, sie zu erreichen. Ich wollte, daß sie – ja, zum Teufel, ich wollte, daß wir wieder neu anfangen. Sie ist für mich – verdammt, ich hätte einfach bleiben sollen!« »Ja«, sagte Gottschaik. »Es sieht schlecht für mich aus, was?« »Ja«, sagte Fedder. Gottschalk schlug sich heftig aufs Knie. Schnauze, hieß das. »Wir haben dann in Ruhe reden können«, sagte Martin. »Ich meine, ich hab ihr gesagt, was in der ganzen Zeit so bei mir abgelaufen ist, meine Eifersucht – ja, irgendwie hat sie das ja auch verstanden. Mit diesem Bernd – oh, nein! Sie wissen – « »Sie sind dann gegangen«, verkürzte Gottschalk. »Ja. Ich wäre lieber – sie wollte ins Bett, und ich bin ab. Ich bin losgefahren und – naja, mein Feuerzeug. Ich weiß, das werden Sie mir nicht abkaufen, aber ich – ich hab mir halt
doch noch – okay, ich bin wieder zurück und noch mal zu ihr hoch.« Er machte eine Pause. »Ja, und –?« »Ich wollte gerade wieder klingeln, da – es war Holger«, sagte er dann. Fedder blickte irritiert auf. Gottschalk blieb in der Tür zum »Little Italy« stehen und sah zu dem Haus hinüber, das sie erst vor wenigen Stunden verlassen hatten. Martin hatte recht. Prinzipiell nämlich schauten nur wenige Menschen an den Fassaden hoch. Holger mußte eine der wenigen Ausnahmen sein. Und er schien seine Gründe gehabt zu haben. Wahrscheinlich hatte sich Claudia des öfteren am Fenster gezeigt. Kaum bekleidet vielleicht, kurz bevor sie zu Bett gegangen war. Sie war eine verdammt schöne Frau gewesen, eine unkomplizierte Schütze-Frau, dachte er. Lebensfroh. Gottschalk schnaubte bitter. Er stapfte vor Fedder in das Lokal und ging schnurstracks zur Theke, hinter der ein sichtlich introvertierter Hänfling herumhantierte. »Holger?« fragte er schroff und setzte sogleich nach. »Sie wissen, daß bestimmte Apparate die Nummern der jeweiligen Anrufer registrieren. Claudias Ex-Lover hat ihr letzte Nacht ein solches Gerät installiert.« Es war eine glatte Lüge, die Fedder schockiert nach Luft schnappen ließ. Holger reagierte mit hilflosen Gesten. »Was – wer sind Sie? Was – was wollen Sie?« »Martin hat dich gleich darauf zusammengeschissen«, blaffte Gottschalk weiter. »Dummerweise hat er dich nicht umgehend zu Claudia rübergeprügelt. Dann hätten wir nämlich einen Mord weniger. – Du bist ein widerwärtiges, kleines Arschloch!« »Mord?« Holgers Augen weiteten sich entsetzt.
»Ja, dessen beschuldigen wir Sie«, sagte Fedder und zückte bereits sein Notizbuch. Holger stützte sich an der Theke ab und schüttelte fassungslos den Kopf. Er brauchte einige Zeit, um einigermaßen klar reden zu können. Daß er Claudia anonym mit zwei obszönen Anrufen terrorisiert hatte, gab er relativ schnell zu. Seine Rechtfertigung allerdings war völlig daneben. Gottschalk sah gleich wieder rot. Sie habe das abgekonnt, hatte Holger gestammelt. Sie sei halt jemand gewesen, der auf die harte Tour stand, und deshalb habe dieser Bernie auch keinen Stich mehr bei ihr gekriegt. Fedder horchte auf. Er hatte eine seiner intuitiven Eingebungen. »Wie lange war Bernd denn gestern Abend noch hier?« fragte er. »Er hat sich betrunken«, sagte Holger. Gottschalk sah von Fedder zu Holger und wieder zu Fedder. Er kniff die Augen zusammen. »Das war nicht die Frage«, schnauzte er Holger an. »Ich – ich weiß nicht. Bis – nein, als Martin mich – als Martin reinstürmte, ist er weg. Er war so voll, daß – daß er beinahe noch auf die Schnauze gefallen wäre.« ›»Nimm mich‹«, sagte Fedder jetzt unvermittelt und schlug sich an die Stirn. »Hast du das nicht auch gesehen?« Er sah Gottschalk um Bestätigung heischend an. »Als er die Teelichte angezündet hat.« Gottschalk nickte grimmig. »Du sagst, was ich schon in seiner Muffbude gedacht habe. Er stank nach Alk. Er ist ihr knallvoll auf die Bude gerückt und – was meinst du, warum hat er das Scheißfeuerzeug aus ihrer Wohnung mitgenommen?«
»Eine Empfindlichkeit«, sagte Fedder. Er zuckte die Achseln. »Wenn dir eine Frau damit Feuer gibt, könnte man es unter Umständen wörtlich nehmen.« Holger glotzte nur noch. Sie ließen ihn stehen und fuhren zum zweiten Mal zu Bernd Töpfer. Er öffnete ihnen nicht. Gottschalk hielt es wieder einmal nicht für nötig, sich mit Fedder zu beratschlagen. Er trat die Tür ein. Sie fanden Bernd in dem winzigen Bad. Er hatte sich an seinem Stinkeschal aufgeknüpft. Ein Briefbogen steckte im Bund seiner Schlafanzughose. Fedder zog ihn mit spitzen Fingern hervor. »Der Skorpion lenkt erneut ihre Hand«, las er. »Ihr Pfeil hat getroffen. Die Jungfrau ist das Opfer, nicht der Täter.« »Ja, Scheiße!« kommentierte Gottschalk laut und begab sich in die Küche, wo er allerdings nichts Genießbares fand. Einen Moment lang spielte er mit dem Gedanken, diese Steffi aufzusuchen. Sie schien ihm ein sämtlichen Genüssen nicht abgeneigtes Weib zu sein, ein wildes Weib, von der er sich zu hören wünschen würde: Nimm mich. Aber dann nahm er doch nur das zwischen den Teelichten liegende Feuerzeug an sich.
Nina Schindler Schützenfest
»Gute Neuigkeiten.« Bollman ließ sich Zeit, während er uns, seine lieben Mitarbeiter, die wir rund um den großen Konferenztisch herum versammelt waren, der Reihe nach musterte. »Tja – was die Kampagne mit dem Haargel betrifft, hat uns Frau Behrens gestern ein hervorragendes Expose reingereicht – Kompliment, Melanie, das wird dem Kunden bestimmt gefallen!« Melanie saß mir gegenüber und verzog den knallrot geschminkten Mund zu einem triumphierenden Lächeln. »Ach, das freut mich aber, wenn es Ihnen gefallen hat!« »Gefallen? Das wird eine Granate!« setzte Möller, die zweite Hälfte der Werbeagentur Bollman & Möller, noch einen drauf. »Wir werden dich mit der Projektleitung betrauen, Melanie, das kannst du schon mal einplanen. Eine hervorragende Idee, die Zielgruppe bei den Teenies auszumachen, hochinteressant, was du da über die Taschengeldstatistik recherchiert hast.« Ich saß regungslos da wie eine Statue. Karla der Stein. Haargel und Teenies? Verdammt, das war doch meine Idee gewesen… und die Taschengeldstatistik hatte ich mir vom Statistischen Landesamt besorgt! Ich griff mir unwillkürlich an den Hals, meine Kehle war wie zugeschnürt. Es würgte mich. Der Haargel-Werbefeldzug hatte mein großes Comeback in der Firma einläuten sollen, nachdem die Sache mit dem Babybrei gefloppt war – ich hatte schließlich nicht ahnen können, daß mein hochgelobtes Produkt voller Pestizide
steckte. Meine Idee mit der Tragetüte aus Seide hatten die Klienten von dem Bekleidungskonzern zwar genial gefunden, aber als zu teuer abgelehnt. Es sah mau aus mit meiner bisher so steilen Karriere. Während Bollman nun im Groben die Etappen der Haargelkampagne durchging, registrierte ich die schadenfrohen Blicke meiner Kollegen Klaus Potthoff und Oliver Schmitz, denen ich bislang immer eine Nase voraus gewesen war. Sie freuten sich offensichtlich darüber, daß der Zuschlag diesmal an Melanie ging und nicht an die bislang stets erfolgreichere Kollegin Karla. Alle beide taugten sie bestenfalls zu Befehlsempfängern – wirklich originelle eigene Ideen oder kreative Vorschläge waren von diesen Werbestrategen allenfalls mediokrer Kapazität nie zu erwarten gewesen. »Frau Schuhmann!« Ich zuckte zusammen. Sonst war ich für Möller immer nur die Schuhfrau gewesen. »Sie werden Frau Behrens unterstützen, ja?« Ich die zweite Geige? Was erlaubte er sich da? Ich wagte nicht, ihm direkt ins Gesicht zu sehen, weil meine ungebremste Wut ihn vielleicht an die Wand genagelt hätte. »Aber selbstverständlich«, sagte ich so beiläufig, wie ich es rausquetschen konnte, aber selbst in meinen Ohren hörte es sich unangenehm demütig an. »Das könnte doch auch ich machen«, schaltete sich Potthoff dazwischen. Dieser miese Arschkriecher! Früher hatte er mich angebettelt, daß ich ihn als Mitarbeiter bei meinen Kampagnen anforderte, und jetzt schleimte er sich bei Melanie ein. Möller räusperte sich. »Warum eigentlich nicht? Herr Potthoff ist ein guter Zuarbeiter.«
Und ich? Taugte ich jetzt etwa nicht einmal mehr zum Zuarbeiten? Mir stieg das Wasser hoch. Bloß nicht heulen, bloß nicht heulen. Knieriem saß wie immer neben mir und suchte unter der Tischplatte nach meinem Knie, das er anschließend aufmunternd betätschelte. Wahrscheinlich glaubte er, ich wäre jetzt deprimiert genug, um auf seine widerlichen Anträge einzugehen. Knieriem war nicht nur der Chefgrafiker bei Bollman & Möller, sondern auch der Produzent von Fotoromanen Marke Softporno und wollte mich schon seit langem, dazu überreden, für ihn als Model zu arbeiten. »Tja«, Bollman hatte sich erhoben, was für uns das Signal war, uns jetzt wieder in die Büros zu verziehen, »dann mal ran an den Speck, beziehungsweise an das Gel, ha ha.« Melanie kicherte pflichtschuldig, und Potthoffs Busenfreund Oliver Mir-fällt-nichts-ein Schmitz neben ihr krächzte ebenfalls etwas Gelächterähnliches. Auch ein Schleimer. Beim Rausgehen stieß ich mit meiner Assistentin Marie zusammen. Sie zuckte zurück, als wäre ich eine Aussätzige. Bestimmt ging sie nun sofort zu Melanie, um dort ebenfalls ihre Dienste anzubieten. Ich schlich ins Büro. Kein Auftrag. Tote Hose. Ich war draußen – damit sind sie in unserer Branche immer fix: bringst du nix, kriegst du nix. Wie betäubt schlich ich in meine Kemenate, die der Kreißsaal so vieler erfolgreicher Bollman & Möller-Feldzüge gewesen war – früher mal. »O nein!«
Wütend sah ich meinem hartgekochten Ei hinterher, das sich beim Transfer vom Topf zum Eierbecher selbständig gemacht hatte und unter den Küchenschrank gerollt war. Beim Aufheben knallte ich mit dem Kopf an die geöffnete Schranktür und beim Hinsetzen stieß ich mir das Knie am Tischbein. »Dreimal gequirlte Scheiße!« knurrte ich inbrünstig. »Na, na!« Meine Freundin und Wohnungsgefährtin Tine schaute kurz über den Rand der Zeitung zu mir hinüber. »Wer wird denn gleich… und dann auch noch so früh am Morgen!« Damit verschwand sie wieder hinter ihrer Morgenlektüre. Wer? Ich. Ich wußte nämlich zum Beispiel nicht, woher ich demnächst meinen Mietanteil nehmen sollte. Mir drohte die Kündigung. Mir, der besten Mitarbeiterin, die Bollman & Möller je gehabt hatten! Lustlos goß ich mir die dritte Tasse Kaffee ein – aber auch die würde meine am Boden liegenden Lebensgeister nicht aufrichten können. Ich hatte letzte Nacht wieder schlecht geschlafen und von lauter Kündigungsbriefen geträumt – um mich jetzt auf Trab zu bringen, brauchte es mehr als eine Dosis Koffein. Ich brauchte zum Beispiel eine neue Kollegin. Eine, die mir nicht meine Einfälle für eine neue Haargelkampagne klaute und sich dafür anschließend auch noch in der Mitarbeiterkonferenz belobigen ließ. Melanie, dieses ausgekochte Früchtchen, diese widerwärtige Schlange! Erst machte sie einen auf Kumpelei und Kollegialität, tat so, als wäre sie meine beste Freundin, und war derart um mein Wohlergehen und Weiterkommen besorgt, daß einem fast die Tränen kamen. Aber in Wirklichkeit horchte sie mich beim fröhlichen Nach-der-Arbeit-Prosecco im Bistro an der Ecke
aus, als ich dort begeistert und naiv von meinen neuesten Ideen schwärmte – die ich dann anderntags als ihre fix und fertig eingetütete Planung vorgetragen bekam. Wer hätte mir geglaubt, wenn ich aufgeheult und Melanie des plumpen, erzgemeinen geistigen Diebstahls bezichtigt hätte? Niemand. Die fielen doch alle auf sie rein, besonders der dicke Möller tat neuerdings immer so, als wäre Melanie die kreativste Kampagnendenkerin aller Zeiten. Ich brauchte zum Beispiel auch andere Chefs – solche, die merkten, wer in Wirklichkeit ihre einfallsreichste, klügste und unermüdlichste Mitarbeiterin war, und das auch endlich mal anständig im Gehalt honorierten. Ganz zu schweigen davon, daß ich hin und wieder ein kleines Lob und eine Streicheleinheit gebraucht hätte, denn der lange Blonde mit der witzigen Nickelbrille vom letzten Samstag hatte sich auch nicht mehr gemeldet, obwohl ich ihm meine Karte zugesteckt hatte… nicht mal seinen Namen hatte ich erfahren, nur daß Melanie ihn zu diesem blöden Empfang angeschleppt hatte. Dabei war er wirklich amüsant gewesen, und wenn ich die Augen schloß, konnte ich immer noch seine starke warme Hand fühlen, mit der er mich beim Hinausgehen kurz an sich gedrückt hatte. Aber das Allerschlimmste war die Angst um meinen Job. Das hatte ich gestern ganz zufällig mitgekriegt, als ich mir in der Teeküche einen Becher holen wollte und plötzlich das Reizwort Rationalisierung hinter der Tür hörte. Natürlich hatte ich gelauscht – und natürlich war mein Name gefallen. »… Karla hat schon seit einiger Zeit ein Schaffenstief… wohl kaum wahrscheinlich, daß sie da so schnell rausfindet… ist ja auch schon bald dreißig…« Möllers Stimme. Die andere Stimme, die sich gegen diese gemeinen Unterstellungen längst nicht so entschlossen verwahrte, wie ich
es mir gewünscht hätte, hatte ich auch gleich identifiziert: Bollman. Diese widerlichen, ignoranten, undankbaren Mistkerle! Wer hatte der Agentur denn in den letzten fünf Jahren die meisten Klienten gebracht? Bestimmt nicht diese intrigante Kuh Melanie, die sich mit fremden Federn schmückte. Meinen Federn. Mir drohte der Rausschmiß – trotz meines hingebungsvollen, rückhaltlosen Einsatzes, der mich immerhin zwei Ehekandidaten gekostet hatte, die nicht bereit gewesen waren, in meinem Leben hinter der Agentur den zweiten Platz einzunehmen. Ich holte verzweifelt Luft und ließ sie langsam wieder aus der Lunge entweichen. Ein kellertiefer, kreuzunglücklicher Seufzer schüttelte mich. Tine raschelte mit der Zeitung. »Was hast du denn? Kriegst du deine Tage? Prämenstruelle Depri? Du nimmst alles immer viel zu schwer…« Ich stöhnte. Sie kicherte. »Nein, ehrlich. Hier, laß dich ruhig auch mal ein bißchen von deinen Sternen leiten, so wie ich. Da steht zum Beispiel: Heute wird ein Glückstag für Sie. Schaffen Sie die Hindernisse einfach beiseite und lassen Sie sich nicht mehr länger auf der Nase herumtanzen. Ergreifen Sie die Initiative und riskieren Sie etwas für Ihr Glück. Sie treffen garantiert ins Schwarze.« Sie ließ die Zeitung sinken. »Na, was sagste nu?« Ich schluckte. An meinem Ei, an meinen Sorgen und an meinem angeknabberten Selbstwertgefühl. Prompt verschluckte ich mich und mußte husten. Tine runzelte die Stirn. »Also ehrlich, ein bißchen mehr Fröhlichkeit und Souveränität würden dir gut zu Gesicht stehen. Seit ein paar Wochen schleichst du rum wie eine Katze,
der man auf den Schwanz getreten hat. Miesepetrig und abgeschlafft und…« »Könntest du vielleicht endlich damit aufhören? Ich würde gern in Ruhe essen. Ich hab einen anstrengenden Arbeitstag vor mir.« Vielleicht meinen letzten, aber das brachte ich nicht heraus. Ich sah auf die Uhr. Mist, schon so spät, gleich kam die Bahn. Ich stopfte mir hastig ein trockenes Brötchen in die Jackentasche, schnappte Handtasche und Aktenkoffer und zischte aus der Wohnung, die Treppe runter… dort hinten an der nächsten Ecke stand schon die Bahn… im Galopp bis zur Haltestelle… und da fuhr die Bahn davon! Ich hätte heulen können. Alles lief schief! Jetzt kam ich auch noch zu spät, und damit erwies ich mich einmal mehr als eine unproduktive, unzuverlässige Mitarbeiterin, die man ohne Gewissensbisse rausschmeißen konnte. Ich schniefte leise vor mich hin. Der dicke Benz tauchte buchstäblich aus dem Nichts neben mir auf. Ich sprang mit einem Satz von der Bordsteinkante zurück. Glückstag! Anscheinend würde das heute eher mein letzter Tag auf dieser grausamen Welt sein. »Kann ich dich mitnehmen?« hörte ich plötzlich eine vertraute Stimme, doch erst, als sich das Autofenster lautlos bis ganz nach unten gesenkt hatte, erkannte ich den Mann am Steuer, der sich über den Beifahrersitz zu mir herüberbeugte. Werner! Mein alter Kumpel Werner! »Klar, gern, aber sicher doch«, brabbelte ich, riß begeistert die Tür auf und ließ mich neben ihn sinken. »Das ist ja ein gutes Omen«, schwatzte er fröhlich los, während ich mich über mein unverhofftes Taxi freute. »Mein Horoskop hat mir heute morgen eine nette Begegnung vorausgesagt – und wen treffe ich am ersten Tag in der alten Stadt? Dich!«
Er sah mich gerührt an, was gleich darauf eine Vollbremsung erforderte, denn Ampeln haben für gerührte alte Freunde keinen Extrazeittakt. Ich grinste ihn begeistert an. Werner war ein Freund aus Tanzschulzeiten, an dessen Schulter ich mich früher oft ausgeheult und mit dem ich so manche Nacht durchgefeiert hatte. Auf der kurzen Fahrt bis zur Agentur erfuhr ich im Telegrammstil, daß Weib und Kinder wohlauf waren und seine Firma ihn nun nach drei Jahren in London wieder nach Frankfurt zurückbeordert hatte. »Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder!« brüllte er noch, als ich die Tür zuschlug. Ich lachte lautlos und machte das Siegeszeichen. Er hupte und fuhr los, und ich knallte gegen den Kollegen Klaus Potthoff und meinen Chef Bollman, die mich erstaunt anstarrten. Wieso? Ging ich oben ohne, oder saß eine Taube auf meinem Kopf? Dann dämmerte es mir: Sie hielten den schicken Typen im Mercedes 500 für meinen Lover und konnten ihren Respekt nicht verhehlen. Männer! Zeig ihnen ein Statussymbol, und schon gehen sie in die Knie oder fangen an zu sabbern. Ich wünschte beiden fröhlich einen guten Morgen und ging hocherhobenen Hauptes durch die aufgehaltene Tür. Anscheinend war der Morgen doch nicht völlig verratzt. Ich lächelte hoffnungsvoll vor mich hin. Blödes, nettes Horoskop! Auch wenn ich an solchen Quatsch nicht glaubte, paßte es zweifellos ganz gut zu dem geretteten pünktlichen Arbeitsbeginn. »Ach herrjeh«, riß mich Klaus aus meinen besinnlichen Gedanken, weil gerade ein Mensch im Blaumann ein Schild an die Fahrstuhltür klebte. »Die Aufzüge werden wieder gewartet – los, Leute, da heißt es klettern.«
Ächzend und stöhnend quälten wir uns bis in den achten Stock hinauf, und ich verschwand erst mal auf der Toilette. Als ich gerade das Klopapier abreißen wollte, ging die Tür auf, und die Stimme meiner Erzfeindin Melanie zwitscherte: »Niemand da! Komm, hier sieht uns keiner.« Meine Hand blieb wie erstarrt in der Luft schweben; ich saß mucksmäuschenstill. »Oooh, meine Süße, eine ganze Nacht ohne dich ist einfach zu lange! Das halt ich nicht aus!« Dann folgten Geräusche wie von einem Ringkampf, unterbrochen von Stöhnen, Kußgeschmatze und MelanieGekicher. Ich saß da, als hätte mir jemand einen Backstein über den Kopf gehauen. Möllers Stimme. Möller hatte was mit der… Diese miese Schlampe! Dieses intrigante Flittchen! Dieser Nagel zum Sarg meiner Entlassung! Wenn ich nun einfach rauskam? Vielleicht ein bißchen mitknutschte? Oder erpresserische Forderungen stellte? Ich konnte doch auch mal Buchstaben aus Illustrierten ausschneiden und der betrogenen Gattin eins dieser netten Briefchen schicken: WISSEN SIE EIGENTLICH, WO IHR MANN GESTERN ABEND WAR? Schließlich wußten alle in der Firma, daß Möllers Gattin erstens die Hosen in dieser Ehe anhatte und daß Möller zweitens einen schweren Herzfehler hatte und in Streßsituationen immer sehr gefährdet war. Wahrscheinlich wollte Melanie ihn auf amouröse Weise um die Ecke bringen, damit eine Chefstelle frei wurde… dieser ehrgeizzerfressene falsche Fuffziger! Während ich mir die verschiedenen Handlungsmöglichkeiten durch den Kopf gehen ließ, nahmen die Emotionen vor den
Damenklokabinen an Heftigkeit hörbar ab, schließlich klappte die Tür. Waren beide weg? Nein, jetzt rauschte Wasser. Bestimmt wusch Melanie sich die schmutzigen Ehebrecherinnenhände. Na warte! Erst klaute sie mir meine Ideen, und dann schnappte sie sich auch noch auf unlautere Weise einen Chef. Ich saß mucksmäuschenstill auf der Brille und wagte mich nicht zu rühren. Sollte ich sie jetzt stellen? Oder erst mal abwarten? Noch bevor ich zu einem Entschluß gekommen war, klappte die Tür abermals, und ich konnte endlich ungesehen das Kabäuschen verlassen. Ich prüfte mein Make-up und korrigierte den Kajalstrich. Soso, der Möller und Melanie, M&M. Dieses hochinteressante Wissen galt es nutzbringend zu verwerten. Was hatte Tine heute morgen vorgelesen? Lassen Sie sich nicht mehr länger auf der Nase herumtanzen… Während ich in den langen Flur einbog, der zum Konferenzraum führte, grübelte ich weiter. Aber nun zur Abwechslung mal nicht über mein Versagen, sondern über die Rachepläne, die ich nun aufgrund meiner neu gewonnenen Erkenntnisse, zu schmieden begann. Vor lauter Eile hatte ich heute morgen nicht wie sonst meine Stilettos angezogen, sondern trug immer noch die Ballerinas. Vielleicht lag es an den flachen Gummisohlen, vielleicht an dem hochflorigen nilgrünen Teppichboden, daß Melanie mich nicht kommen hörte, als sie vor dem Fahrstuhl stand und wartete. Ich sah hier kein Wartungsschild an der Tür hängen, was mich wunderte. Während ich näherkam, drückte sie immer wieder ungeduldig auf den Knopf, und plötzlich glitt die silbern schimmernde Fahrstuhltür auf, und ich hörte Melanie
einen Kiekser ausstoßen – offensichtlich war keine Kabine dahinter: Das hätte ich ihr sagen können. Schaffen Sie die Hindernisse beiseite und… Ich spürte, wie eine aufkeimende Vorfreude meine lautlosen Schritte beflügelte, während ich Meter um Meter auf die ahnungslos dastehende und verständnislos auf die blinkenden Lämpchen starrende Melanie zueilte. Mir war, als schwebte ich, meine Glieder bewegten sich in völliger Harmonie, das Kinn hatte ich hochgereckt. Die sonst so schal abgestandene Luft unseres vollklimatisierten Stockwerks rauschte mir in den Ohren wie Freudengesänge. Welches Hindernis sollte ich hier wohl wie beiseite schaffen? Ich gab ihr im Vorbeigehen schnell einen Schubs, und der eben verhallende Kiekser wurde zu einem überraschten, fast etwas empörten Schrei, während sie den Schacht hinunterstürzte. Ich machte eine halbe Kehrtwendung und sah in das gähnende schwarze Loch, aus dem es mich eiskalt anwehte. Wirklich erfrischend. Ich schaute hinab – nichts zu sehen, nichts zu hören. Ich hatte noch einen Klatscher erwartet oder wie auch immer das Geräusch sich anhören mag, wenn wohlproportionierte 60 Kilogramm acht Stockwerke hinuntersausen – doch andererseits durfte ich mich hier nicht erwischen lassen. Ich drückte auf den durchsichtigen Plastikknopf, und die Türen schlossen sich brav wieder. Zur Sicherheit wischte ich den Knopf mit meinem Missonituch ab und eilte weiter zum Konferenzraum. Seltsamerweise empfand ich weder Schuld noch Scham, hatte kein Herzrasen und auch keine erhöhte Pulsfrequenz, wie ich unauffällig überprüfte.
Als ich die Konferenzraumtür hinter mir schloß, fiel mein Blick als erstes auf Bruno Möller, der mich enttäuscht ansah – er hatte wohl eine andere erwartet. Ich ging zu meinem gewohnten Platz, legte den Aktenkoffer auf den Tisch und öffnete eine Flasche Mineralwasser. Stühle scharrten, Papier raschelte, leise Unterhaltungen drangen an mein Ohr, das auf ganz andere Geräusche wartete. Doch niemand schrie, kein Fußgetrappel, kein aufgeregtes Stimmengewirr – nichts. War das Aas am Ende unversehrt in den nächsten Stock geflogen? Oder sicher auf dem Dach der weiter unten feststeckenden Fahrstuhlkabine gelandet? Hatte sie mich erkannt, als ich ihr den Stoß gab? Ich setzte mich und sah zu, wie die anderen ebenfalls allmählich Platz nahmen. Bollman schaute in die Runde und kräuselte die Lippen. »Fast vollständig. Es fehlt nur noch Frau Behrens…« Möller räusperte sich. »Mel… äh, Frau Behrens ist aber da. Sie müßte eigentlich gleich kommen.« »Hm. Na egal, fangen wir an…« Und schon prasselten uns die Namen neuer Auftraggeber, Termine, Fristen, die Zahlen der Konkurrenz und andere Daten um die Ohren. Ich schrieb konzentriert mit, meldete mich zu Wort, widersprach, teilte Bedenken mit und machte Vorschläge, die mehr als einmal auf beifälliges Nicken stießen. Befriedigt stellte ich fest, daß mich überraschte Blicke streiften. Anscheinend hatte ich mich schon lange nicht mehr so intensiv und engagiert an der wöchentlichen Planungskonferenz beteiligt. Ich geriet in Fahrt, die Ideen sprudelten nur so aus meinem längst noch nicht erschöpften kreativen Quell, und ich
verblüffte die Kollegen und Chefs mit einer minutiös ausgefeilten Werbekampagne zu dem neuen Männlichkeitstonikum Viagrinseng, die mir eben erst eingefallen war, als sich mir alle Gesichter erwartungsvoll zugewandt hatten. Plötzlich hörte man draußen eilige Schritte, dann wurde ohne anzuklopfen die Tür aufgerissen, und unsere Sekretärinnenperle Frau Mühlmeyer platzte in das Konferenzzimmer. »Verzeihung, aber – es hat einen Unfall gegeben. Im Fahrstuhlschacht, grauenvoll…« Ich war schon nach ihren ersten drei Worten an der Tür und hechtete zum Fahrstuhl. Die Tür war noch geschlossen. Ich raste daran vorbei zum Treppenhaus und sauste die Stufen hinunter – wie gut, daß ich die Ballerinas trug. Ein kurzer Blick hinter die Flurtür zeigte ebenfalls verschlossene Fahrstuhltüren – wie auch in der nächsten Etage. Ich atmete auf. Je tiefer sie gefallen war, desto besser. Ich mußte bis ganz nach unten, bis in den Keller. Dort kauerten zwei Männer im Blaumann vor einer durch sie verdeckten Gestalt auf der Erde, während ein dritter aufgeregt in sein Handy redete. Ich schob die Männer beiseite und kniete mich vor Melanie hin. Ich untersuchte den Puls: Nichts. Ich beugte mich vor und legte das Ohr auf ihr Herz: Nichts. Erleichtert atmete ich auf, legte mein Gesicht in schreckverzerrte Falten und sagte beherrscht, aber verzweifelt: »Krankenwagen? Notarzt?« Der Blaumann mit dem Handy nickte, während ich mir Melanies Kopf in seiner seltsam verdrehten Lage genau besah. Kein Zweifel: Dieses Genick war mindestens einmal gebrochen. Ansonsten sah sie mit offenen Augen und leicht geöffnetem Mund verblüfft zur Decke. Ich konnte ihr Staunen nur teilen.
Mittlerweile waren auch die Kollegen eingetroffen. Schweigend warteten wir auf die Ankunft des Notarztwagens. Ich hatte mich leise erhoben und zu den anderen gestellt, während der Arzt dann meine Diagnose bestätigte: Tot. Zerschmettert, das Genick gebrochen. Vor lauter Erleichterung brach ich in Tränen aus. Bollman nahm mich in den Arm und streichelte mich, während Möller immer noch fassungslos auf seine Liebste starrte und nicht einmal öffentlich trauern durfte. »Es war unser Fehler«, sagte einer der Blaumänner mit gepreßter Stimme, und sein Kollege stöhnte: »Die automatische Sperre war unterbrochen. Wir haben das nicht gleich gemerkt.« »Ist uns noch nie passiert«, sekundierte der dritte mit dem Handy. Damit war die Zuständigkeit für den Unfall eindeutig bestimmt, die Leiche wurde abtransportiert, und wir kletterten wieder alle acht Stockwerke hoch. »Gehen wir zurück in den Konferenzraum«, krächzte Möller. Er rang sichtlich um Fassung und schneuzte sich immer wieder, doch verbiß er sich tapfer das Heulen, denn ein derartiger emotionaler Exzeß wäre sicherlich mit Erstaunen registriert worden. Also saßen wir wieder um den großen ovalen Tisch herum und vermieden es, auf Melanies ehemaligen Platz zu sehen. Bollman räusperte sich. »Tja, furchtbar, das Ganze, furchtbar. Mein Kompliment, Schuhfrau. Wie rasch und beherzt du reagiert hast, das war ganz bewundernswert, wirklich ganz bewundernswert… Ich glaube, ich spreche im Namen aller, wenn ich das sage, ja.« Er räusperte sich wieder. »Aber trotz dieses tragischen Unfalls müssen wir heute einige Entscheidungen treffen, es ist ja niemandem geholfen, wenn unsere Agentur jetzt
schlappmacht, ich glaube… äh, also ja.« Er hatte sich verheddert und sah verzweifelt in die Runde. »Das wäre bestimmt auch im Sinne von Frau Behrens«, sagte ich mit dem Anlaß angemessen leiser Stimme. »Gewiß, gewiß«, kam die Zustimmung von Paul Knieriem, unserem Freizeit-Pornoproduzenten. »Machen wir weiter und trauern wir später.« Möller gurgelte scheinbar zustimmende Laute, wohinter sich jedoch wahrscheinlich ein Schluchzen verbarg. Ergreifen Sie die Initiative und riskieren Sie etwas für Ihr Glück… Mir fiel das Horoskop von heute morgen wieder ein. Initiative ergreifen – oh ja, das konnte ich, das war schon immer meine Stärke gewesen. »Es geht ja wohl in erster Linie um die Verteilung der Zuständigkeit bei dem neuen Auftrag«, ergriff ich das Wort und steuerte damit nun hoffentlich auf mein Glück zu. »Ich für mein Teil wäre bereit, da mitzuarbeiten.« »Oh, wunderbar.« Bollman lächelte mir dankbar zu, während meine Kollegen Oliver Schmitz und Klaus Potthoff mich wütend ansahen. Ich zuckte die Achseln und erlaubte mir einen ratlosen Augenaufschlag. »Ich natürlich auch«, blubberte Knieriem. Die kleine Marie, meine treulose Assistentin, bekundete ebenfalls ihre Bereitschaft. Schmitz und Potthoff wurde langsam klar, daß der Zug ohne sie abfahren würde. Potthoff entschloß sich zum Handeln. »Bevor wir weitermachen – da gäbe es noch zu entscheiden, wer die Projektleitung übernimmt«, hauchte er unterwürfig, und Bollman nickte begeistert. »Genau, ich dachte da an Klara, die hat sich heute morgen ja wieder mal von ihrer kompetentesten Seite gezeigt.«
Ich verkniff mir ein Lächeln und senkte demütig, aber kompetent den Kopf, während Klaus vor lauter Enttäuschung rasselnd den Atem ausstieß. »Was meinst du, Bruno?« wandte sich Bollman an Möller. Der zuckte zusammen, weinte im Herzen weiter seiner Melanie nach und sagte resigniert: »Ja, ja.« Ohne mir im mindesten den Triumph anmerken zu lassen, packte ich meine Unterlagen zusammen und sagte mit immer noch gesenktem Blick: »Ich möchte nicht pietätlos erscheinen, aber ich muß jetzt in mein Büro, ein paar Anrufe erledigen. Die Welt draußen weiß ja nichts von dem Unglück bei uns und hat deshalb wenig Verständnis für nicht eingehaltene Verabredungen.« Ich riskierte einen Blick in die Runde. Knieriem sah mich bewundernd an. »Du kannst mit mir rechnen, Klara. Lagebesprechung wann?« Ich straffte die Schultern und tat, als reiße ich mich tapfer zusammen. »Um drei, wenn es dir recht ist.« »Aber gewiß doch«, dienerte er ölig. Dann verließ ich den Raum und ging in mein Büro. Aufatmend setzte ich mich an den großen Tisch, stützte die Ellenbogen auf und legte das Gesicht in die Hände. Durch die angelehnte Tür hörte ich die Kollegen zu ihren Zimmern gehen und bekam einzelne Fetzen ihrer Gespräche mit. »… traurig, war so nett… wer hätte das gedacht, ich hatte Klara schon völlig abgeschrieben… wie Phönix aus der Asche… arme Melanie… viel zu schnell für mich…« Ich atmete tief ein und aus und wartete darauf, daß sich die ersten Gewissensbisse oder Schuldgefühle einstellten. Nichts. Eine stille Freude erfüllte mich. Ich saß wieder im Sattel, hatte eine Aufgabe, die mir Spaß machte, und den lieben Kolleginnen und Kollegen gezeigt, was eine Harke ist!
Verrücktes Horoskop. Die Hindernisse hatte ich aus dem Weg geräumt, mir wurde nicht mehr auf der Nase herumgetanzt. Eben ein Glückstag. »… riskieren Sie etwas für Ihr Glück. Sie treffen bestimmt ins Schwarze«, hallte es in meinem Kopf nach. Offensichtlich hatte ich beruflich richtig gepokert. Nun mußte ich noch beziehungsmäßig ins Schwarze treffen. Als Schützefrau doch eigentlich eine Kleinigkeit! Was fehlte mir noch zum Glücklichsein? Ich dachte kurz an den netten Blonden mit der Nickelbrille vom letzten Samstag, aber der hatte ja meine Telefonnummer, wenn er was wollte. Dann konzentrierte ich mich auf die Arbeit, grübelte über Slogans nach, entwarf die Stufen einer neuen Kampagne für das Herztonikum, das angeblich alle Potenzängste beseitigen half. Wieder irgend so ein Wundermittel für gestreßte infarktbedrohte Manager, die auf chemisch stimulierte sexuelle Freuden keinesfalls verzichten mochten, auch wenn Bluthochdruck und Cholesterinspiegel ganz andere Medikamente erfordert hätten. Während ich die medizinischen Unterlagen überflog, fiel mir auch prompt die Warnung auf, dieses Mittelchen nicht im Falle einer chronischen Herzmalaise einzunehmen. Typisch! Aber so waren sie eben, die Führungskräfte unserer Wirtschaft: Und kam die Lust nicht willig, so erzwangen sie sie mit Gewalt! Doch letzten Endes war es mir egal, wofür ich meine Geisteskräfte einspannte. Mit innerem Jubel vermerkte ich, daß mir die zündenden, mitreißenden Ideen nur so auf den Bildschirm strömten. Ich hatte wirklich mein Schaffenstief überwunden, ich war wieder die Nummer eins! Das merkte ich auch an den Blicken der Kollegen, die ich bei der Lagebesprechung mit meinen Vorschlägen zur Viagrinseng
Kampagne nur so überschüttete. Sie hörten zu, schrieben mit, und nur ab und zu hatte jemand etwas Ergänzendes anzumerken. Als sie mein Zimmer verließen, war klar, wer das Ruder wieder in der Hand hatte. Ein Blick auf die Uhr – es war schon halb sechs, Zeit, hier Schluß zu machen. Ich packte meine Unterlagen zusammen und zog mir die Lippen nach – doch, der Tag war mir bekommen, ich hatte schon seit Wochen nicht mehr so blendend ausgesehen –, als es leise an die Tür klopfte und Frau Mühlmeyer den Kopf durch den Spalt steckte. »Verzeihung, Frau Schuhmann, aber da ist jemand, der Frau Behrens abholen will und ich – ich kann doch nicht…« Ich verstand, lächelte, betupfte mir diskret die Augenlider und nickte. »Geht schon in Ordnung, ich übernehme das. Wo ist denn der Herr?« »Hier«, ertönte eine Stimme, und jemand schob sich neben Frau Mühlmeyer ins Zimmer. Mit offenem Mund starrte ich ihn an. Das bebrillte Herrchen von dem Empfang neulich! Der, dem ich meine Telefonnummer gegeben hatte. Was wollte der denn hier? »Ich wollte meine Kusine abholen, aber sie scheint nicht mehr dazusein.« Er strahlte mich an. Frau Mühlmeyer zog sich rasch zurück, und ich klappte den Mund wieder zu, holte tief Luft und sagte bedauernd: »Ich glaube, Sie haben keinen guten Tag für Ihren Besuch erwischt.« Ich sah ihm in die Augen. »Melanie hat heute leider einen Unfall erlitten…« »Ach, die dumme Kuh ist mir eigentlich ganz egal, die konnte noch nie richtig Auto fahren. Aber eigentlich wollte ich ja gar nicht zu ihr. Ich wollte nur Sie wiedersehen.« Damit stand er vor mir, nahm meinen Aktenkoffer in die eine Hand
und bot mir mit altmodischer Galanterie den Arm. »Darf ich Sie zu einem Wiedersehensschluck entführen?« »Ja, gern, aber, tja, leider war es mehr als nur ein Unfall, muß ich Ihnen sagen, es ist – Melanie ist tot. In den Fahrstuhlschacht gestürzt. Aus Versehen.« »Ach?« Er blieb stehen und sah auf mich hinunter. Ich würde in Zukunft wohl öfter Ballerinas tragen müssen, sie sind in vielerlei Hinsicht von Vorteil, zum Beispiel können bestimmte Männer dann fürsorglich auf mich hinunterschauen. »Wissen Sie – oder waren wir nicht schon einmal per du? –, das ist natürlich traurig, aber niemand in der Familie hatte viel für Melanie übrig, sie war ziemlich egoistisch und intrigant.« Er biß sich auf die Unterlippe. »Ich weiß, das klingt herzlos, aber im Gegensatz zu dir war sie jemand, der über Leichen ging. Ich kann jetzt nicht so tun, als ob ich schrecklich trauern würde.« Er sah mich zerknirscht an. »Ich fürchte, du bekommst einen fürchterlichen Eindruck von mir, weil ich jetzt nicht vor Tränen zerfließe. Aber ich habe mir nie etwas aus meinem Kusinchen gemacht. Eher im Gegenteil.« »Ach wirklich?« hauchte ich. »Zu mir war sie immer sehr nett.« »Das wundert mich nicht.« Er drückte wieder meinen Arm. »Und das war mein Glück. Denn sonst hätte ich dich vielleicht nie wiedergesehen. Ich habe leider den Zettel mit deiner Telefonnummer verloren, und da fiel mir mein ungeliebtes Kusinchen wieder ein…« Er lächelte, und ich schmolz dahin. Mir war, als ob ich neben ihm über den Flur schwebte. Doch da kam Frau Mühlmeyer auf uns zugerannt und wedelte verzweifelt mit den Armen. »Frau Schuhmann – Karla, schnell, schnell – Herr Möller…« Ich löste widerstrebend den Arm aus dem festen Griff meines Begleiters und lief an Frau Mühlmeyer vorbei zu Möllers Büro. Die Tür stand auf, und Möller saß hinter seinem
Schreibtisch und rutschte gerade langsam vom Stuhl auf den Boden, mit den Händen riß er verzweifelt an seinem Hemdkragen. Sein Gesicht war puterrot und er keuchte. »Schnell…« ächzte er und zeigte auf seine Aktentasche. Ich öffnete sie mit fliegenden Händen und schüttete ihren Inhalt aus. Mehrere Pillenschachteln und Fläschchen fielen auf den Teppich, ich hob sie auf und suchte die Herztropfen, doch als erstes hielt ich eine Probe des neuen Tonikums in der Hand. Ohne zu zögern, schraubte ich den Deckel ab, zählte zwanzig Tropfen ab, goß ihm die Flüssigkeit zwischen die willig geöffneten Lippen und stützte ihn, während er gierig schluckte. Riskieren Sie etwas für Ihr Glück… Na, Möller, nun wirst nicht du mich, sondern ich dich entlassen – und zwar aus diesem Leben… und ein Chefsessel wird dann demnächst auch neu zu besetzen sein… Er röchelte, schnappte nach Luft, dann bäumte sich sein Körper auf: Die Tropfen hatten ihr Ziel erreicht. »Oh, nein, bitte nicht…« stammelte ich, tätschelte mit einer Hand seine feisten Wangen, schüttelte sacht an seinem Arm und sah verzweifelt auf meinen verscheidenden Chef hinunter, während ich innerlich vor lauter Freude über den gelungenen Coup jubilierte. Mein Begleiter war sofort ans Telefon geeilt, und ich hörte ihn mit der Notrufzentrale sprechen. »Ja, rasch, ein Herzanfall… bitte einen Notarztwagen…« Dann kam aus Möllers Mund ein letztes Gurgeln und Röcheln, und sein Körper sackte zusammen wie ein schwerer Ballon ohne Luft. Ich zog vorsichtig die stützende Hand unter seinem Kopf weg und ließ ihn behutsam auf den Teppich sinken. Schaffen Sie die Hindernisse einfach beiseite… Kaum zu glauben, wie leicht das manchmal ging. Ich zwang ein paar Tränchen in meine Augen und ließ sie dekorativ über
die Wangen rollen, während ich in meiner Umhängetasche nach einem Taschentuch suchte. Tröstend streichelte mein bebrillter Begleiter mir über den Arm. »Wie schrecklich für dich… was für ein Katastrophentag.« Dann hockte er sich hin und begann den Inhalt von Möllers Aktentasche aufzusammeln. Aufmerksam betrachtete er die Fläschchen und Pillenschachtein. »Klarer Fall, der Mann war schwer herzkrank. Du meine Güte, was ist denn das?« Aus den Augenwinkeln sah ich, wie er das Etikett des Fläschchens mit dem neuen Tonikum Viagrinseng las. »Nein! Nein, wie grauenhaft! Das heißt ja…« Er sah mich fassungslos an, während ich mir erfolgreich abermals einen kleinen Tränenstrom aus den Augen quetschte. »Was, was ist los?« stammelte ich. »Sag mal, war das nicht die Flasche, aus der du ihm die Tropfen gegeben hast?« Ich nickte und schluchzte in mein Taschentuch. »Weißt du, ich bin nämlich Arzt und…« In meinem Kopf drehte sich alles, mir wurde speiübel, und ich konnte mich nur noch mit Mühe aufrecht halten, während ich da neben ihm auf dem Teppich kniete. »Du konntest das nicht wissen, aber das hier hätte er auf keinen Fall nehmen dürfen. Paß mal auf – he, was ist denn? Mein Gott, du brichst mir ja gleich zusammen, mein tapferes kleines Mädchen…« Und schon war er aufgestanden, hatte mich in seine starken Arme genommen und auf Möllers Couch gelegt. Nun würde er die Polizei anrufen und einen Mord melden, oder zumindest eine falsche Medikamentengabe mit Todesfolge, und vielleicht würde er mich später mal im Knast besuchen kommen oder ein Päckchen schicken… Ich spürte, wie mir vor lauter Hysterie das Lachen in der Kehle hochkletterte – gleich würde ich hemmungslos
loskichern. Besser, ich stellte mich erst mal bewußtlos, vielleicht fiel mir ja ein Ausweg ein. Er streichelte mein Gesicht und flüsterte: »Du hast gar nicht verstanden, was ich eben gesagt habe, nicht wahr, meine Süße?« Die Süße regte sich nicht und redete sich ein, sie wäre bewußtlos. In der Ferne hörte man die Sirene des Notarztwagens. Er schien zu einem Entschluß gekommen zu sein, das merkte ich daran, wie er plötzlich die Muskeln anspannte. Er ging zum Fenster und sah hinunter, dort fuhr wohl gerade der Wagen vor. Durch die Wimpern hindurch beobachtete ich ihn und sah, wie er das Fläschchen mit dem tödlichen Tonikum in seine Jackettasche steckte. Bei dem anschließenden Gespräch mit den Sanitätern und dem Notarzt hörte ich dann: »…zweifellos ein schwerer Herzanfall… leider zu spät… nicht mehr zu helfen… alles viel zu viel für Frau Schuhmann… ist zusammengebrochen… nein, ich kümmere mich um sie…« Frau Mühlmeyer versprach tapfer, die Gattin anzurufen, während die Leiche unseres Chefs abtransportiert wurde. Ich hielt es jetzt für angebracht, langsam wieder aus meiner Bewußtlosigkeit zu erwachen, weil eine warme, starke Hand meinen Oberkörper an einen mir inzwischen fast vertrauten männlichen Oberkörper drückte, und eine Stimme beschwörend in mein Ohr flüsterte: »Es wird alles wieder gut… das war ein Unfall… ein Herzanfall… du hast ja alles versucht…« Ich schlug die Augen auf und merkte beglückt, daß noch Tränen übrig waren, denen ich nun wieder freien Lauf ließ. »Nicht doch, nicht doch«, murmelte eine Männerstimme, die ich von nun an möglichst täglich hören wollte. »Komm, ich bring dich hier raus.«
Im mittlerweile gewarteten Fahrstuhl gab ich mich wieder leicht schwankend, und während wir eng umarmt dem Erdgeschoß zustrebten, fragte ich leise: »Sag mal, wie heißt du eigentlich?« »Armin«, murmelte er mir ins Ohr, wozu er sich tief hinabbeugen mußte, weil ich ja die Ballerinas trug. »Armin Schirmer.« Armin – mein Beschützer, mein Schützemann. Ins Schwarze getroffen. Mein Glückstreffer. Mein Glückstag. Nie wieder würde ich über Horoskope lästern. Als ich am nächsten Morgen nach Hause kam, saß Tine schon am gedeckten Frühstückstisch, wie gewohnt hinter der Zeitung. Ich ließ mich glücklich seufzend auf meinen Platz fallen. »Na?« fragte sie. »Es war wunder-wunderschön«, antwortete ich selig. »Er ist wunderbar. Alles ist wunderbar. Es war das wunderbarste Horoskop der Welt.« »Was?« Tine ließ die Zeitung sinken. »Welches Horoskop?« »Na meins, das du mir gestern früh vorgelesen hast. Alles, aber auch alles ist eingetroffen – und noch mehr.« Ich schloß verzückt die Augen. »Dein Horoskop? Quatsch, du bist doch Schütze. Ich hab dir meins vorgelesen, Krebs.« Ich hörte Tine mit Zeitungsseiten rascheln, während sie in dem Stapel neben sich nach der gestrigen Ausgabe suchte. »Deins – warte mal, hier ist es, das ging so: Sie müssen sich gelegentlich unterordnen, und momentan gilt es, eine Pechsträhne durchzustehen. Das gelingt Ihnen am besten, wenn Sie sich zurückhalten und vorerst anderen den Vortritt lassen. Nicht jeder Konkurrent ist ein Feind.«
Felix Huby Trio infernal
»Ich glaube nicht an Handlesen, Horoskope und Traumdeuterei«, sagte er, »ich bin Schütze, und Schützen sind skeptisch!« Das paßte zu Bienzle, eine feste Meinung zu postulieren und sich ein Hintertürchen offenzulassen. Begierig hatte er zugeschaut, wie Rosemarie Keindel seine Handlinien untersucht und die Geldlinie als mager, die Lebenslinie als fett und die Liebeslinie als zerfasert bezeichnet hatte. »Ich geh nach dem gesunden Menschenverstand«, sagte er und gab ihr bereitwillig sein Geburtstagsdatum an, damit sie sich an sein Lebenshoroskop machen konnte. Seit jeher glaubte er, was ihm gefiel, und alles andere verbannte er ins Reich des Aberglaubens, dem er, wie er lauthals behauptete, niemals anhängen könnte. Schon gar nicht bei seinem Beruf. Daß er sich vor der Tür eines Fahrstuhls zurechtlegte: Wenn der Lift bis in das oberste Stockwerk durchfährt, ohne anzuhalten, wird an diesem Tag alles gelingen, hätte er niemandem erzählt. Nicht einmal Hannelore. Schon als kleiner Junge hatte er sich solche Orakel gemacht. Wenn ich von der Bushaltestelle bis zur Schule auf keine Ritze zwischen den Bordsteinen trete, hab ich in Mathe eine Eins geschrieben, trete ich einmal drauf, eine Zwei und so weiter. Wenn er dann sechs Mal auf eine Ritze getappt war, beschloß er, daß das alles sowieso nur Humbug sei. Und er blieb auch hartnäckig bei dieser Überzeugung, wenn unter der MatheArbeit wieder mal eine Sechs stand.
Rosemarie Keindel hatte drei Monate zuvor als Sekretärin bei der Abteilung K (wie Kapitalverbrechen) angefangen. Sie war eine hochgewachsene Rothaarige Mitte 30, mit langen Beinen, einem zu üppigen Busen und grünen Augen. So hatte sich Bienzle als kleiner Junge eine Hexe vorgestellt. Mit dem Bild der alten krummen, hakennasigen Frau, die sich auf einen Besen stützte, hatte er nie etwas anfangen können. Eine Hexe, so dachte er damals schon, mußte doch in der Lage sein, Männer und kleine Jungen zu verführen. Frau Keindel war gleich richtig in den Stiefel hineingekommen, denn die Zahl der »nicht normalen Todesfälle« hatte im letzten Vierteljahr Rekordhöhe erreicht. Es waren keine spektakulären Fälle. Messerstechereien, Gattenmord, Mord bei einem Einbruch. Die Täter waren leicht zu fassen gewesen, wenn sie nicht gar gleich am Tatort ausgeharrt hatten, bis die Polizei gekommen war – starr vor Schreck über die eigene Untat. Aber es war halt eine Menge Arbeit gewesen. Jeder von ihnen hatte in den letzten vier Wochen mindestens 40 Überstunden angesammelt, auch Frau Keindel. »Die unglücksvolle Sternenkonstellation des Sommers wird sich jetzt mit dem Neumond vom 9. September beruhigen«, sagte Rosemarie Keindel. »Jetzt übt nämlich der Saturn seinen stabilisierenden Einfluß aus. Das nächste negative Ereignis für Sie als Schützen erwarte ich nicht vor Ende November.« »Ja, dann könnt ich ja jetzt Urlaub machen«, sagte Bienzle. »Ohne Probleme«, antwortete die neue Sekretärin. Im selben Moment klingelte das Telefon. Am Neckarufer kurz unterhalb von Plochingen war eine Leiche angeschwemmt worden. Bienzle sah seine Sekretärin an und knurrte: »Die Sterne lügen nicht, gell?!«
Am Neckarufer traf Bienzle ein kleines Polizeiaufgebot an. Froschmänner tauchten aus dem Wasser auf und senkten den Daumen nach unten. Nichts gefunden. An der Böschung lag unter einer Plane die Wasserleiche. Ein junger Mann stieg aus einem Auto aus und kam zu Bienzle herüber. »Neigenfindt«, stellte er sich vor. Er studiere Jura im siebten Semester und habe sich für ein Praktikum bei der Mordkommission beworben. Er freue sich sehr, daß er genommen worden sei. Beide fröstelten. »Warum haben Sie eigentlich nie studiert?« fragte Neigenfindt. Bienzle sah den jungen Mann unter seinen buschigen Augenbrauen hervor an. »Was ist?« »So bleiben Sie doch ewig auf A 12 hängen.« Bienzle schenkte sich eine Antwort und ging zur Uferböschung hinunter. Ein uniformierter Beamter begrüßte Bienzle, wie man einen alten Bekannten begrüßt, dann zog er die Plane zur Seite. »Also an den Anblick kann ich mich nie gewöhnen«, sagte Bienzle. »Wenn’s nun mal zum Dienst gehört…« hörte er Neigenfindt vom oberen Rand der Böschung her murmeln. Der junge Praktikant kam die paar Schritte die Böschung herunter und beugte sich über den aufgedunsenen Körper. Plötzlich quollen Neigenfindts Augen aus den Höhlen, er wurde bleich, krümmte sich und mußte schnell zur Seite rennen, um sich zu übergeben. »Wenn’s nun mal zum Dienst gehört…« sagte Bienzle und sah den uniformierten Polizisten dabei augenzwinkernd an. »Wie lange hat er denn im Wasser gelegen?« wollte Bienzle wenig später von Dr. Kocher wissen.
»Mindestens zehn Tage«, antwortete der Gerichtsmediziner. Er deutete auf ein schwärzliches Loch in der Brust der Leiche. »Schuß ins Herz. Das Projektil hab ich entnommen.« Bienzle seufzte. »Wir haben keine Vermißtenmeldung!« Er zog einen Stuhl heran, setzte sich darauf. Er starrte weiter die Leiche an. »Da geht einer im Jogginganzug aus dem Haus, läuft ein paar Runden, wird erschossen, landet im Neckar, und kein Schwein scheint ihn zu vermissen.« »Er trägt einen Ehering«, sagte Kocher. »Man sieht ihn allerdings kaum in dem aufgequollenen Fleisch.« Hans Joachim Retzlaff war Frühaufsteher. Schon vor sechs Uhr war er heute morgen durch das Werktor gefahren. Er liebte es, alleine in der großen Halle zu sein. Durch die Glasgiebel in der Mitte des Flachdachs drang diffus das Morgenlicht herein. Die Maschinen warfen unscharfe Schatten auf den Stirnholzboden. Retzlaff stand vor dem Kilopondmeter. Er hatte ein Werkstück eingespannt. Mit der rechten Hand fuhr er langsam den Druck hoch, mit der linken zog er die Schutzmaske über das Gesicht. Jetzt lasteten schon über 2000 Kilopond auf dem kleinen Werkstück, das kaum 20 Zentimeter lang, 5 Zentimeter breit und nur 15 Millimeter dick war. Bei 2500 Kilopond waren die anderen Stücke gebrochen. Schon das war eine gute Leistung gewesen. Dieser neue kohlenfaserverstärkte Kunststoff war leichter als Aluminium und stabiler als jeder Stahl. Hajo Retzlaff arbeitete seit sieben Jahren in der Werkstofforschung. Ihm war schon so manches gelungen, aber diese neue Werkstoffkombination sollte die Krönung sein. Für den Fahrzeug- und Flugzeugbau eine Revolution. 3200. Das Werkstück schien sich jetzt leicht zu verformen, eine kleine, kaum wahrnehmbare Veränderung, die den nahen Bruch ankündete. Retzlaff schwitzte. Seine Augen waren
schmal. Er preßte die Lippen zusammen und hielt unwillkürlich den Atem an. 3450, 3560, 3710. Es war nicht zu fassen, noch immer hielt das Werkstück stand. Retzlaff hörte die Schritte nicht, die durch die Halle kamen. Dann dieser ohrenbetäubende Schlag. Das Werkstück brach in zwei Teile, die Kanten zerfasert wie bei einem alten Teppich. »Der Herr Retzlaff, wie immer der erste!« Retzlaff fuhr herum und sah Eduard Dichgans ins Gesicht. Professor Dichgans, um genau zu sein, dem Chef der Konstruktionsabteilung – nach Retzlaffs Meinung eine technisch-wissenschaftliche Null, dumm und arrogant. »Morgen, Dichgans«, sagte Retzlaff abweisend. Dichgans, der schon weitergegangen war, wandte sich mit einem bösen Blick um und herrschte Retzlaff an: »Meinetwegen sparen Sie sich den Professor. Aber ich sage auch Herr Retzlaff zu Ihnen.« »Professor! Ein gekaufter Titel.« Retzlaff spuckte die Worte förmlich aus und wandte sich wieder seiner Arbeit zu. Dichgans stand einen Moment unschlüssig da, als überlege er, ob er auf die Unverschämtheit antworten solle. Statt dessen sagte er dann aber nur: »Die Herrschaften vom Wirtschaftsministerium kommen um 11 Uhr 30. Sie bereiten bitte alles vor, ja?!« Feige ist er auch noch, dachte Retzlaff bei sich. Dann fragte er ohne aufzusehen: »Warum warten wir eigentlich nicht, bis Dr. Kurz wieder da ist?« Fabian Kurz war Dichgans’ Stellvertreter und leitete die Werkstoffneuentwicklung. »Ich habe das mit der Geschäftsleitung so abgesprochen. Mehr ist dazu nicht zu sagen.« Damit ging Dichgans in sein Büro, das sich an der Stirnseite des großen Raums hinter kleinteiligen Glasscheiben befand. Retzlaff räumte das zerborstene Werkstück in eine verschließbare Schublade. Er war froh, daß Dichgans nicht so
genau hingesehen hatte. Aber wann schaute der schon einmal genau hin, dieser Versager, der seine Karriere in der PRAbteilung begonnen hatte und hier so gut herpaßte wie ein Vogel ins Aquarium? Bienzle saß an seinem Schreibtisch, die Beine weit von sich gestreckt, die Daumen in den Hosenbund gehakt. Er hatte noch den Mantel an, auch den Hut hatte er aufbehalten und nur weit in den Nacken geschoben. Es war so ein Tag, an dem man nicht wußte, ob man schon heizen oder lieber eine zusätzliche Wolljacke anziehen sollte. Da im Präsidium gespart wurde, wie überall, hatte ihm die Verwaltung die Entscheidung abgenommen. Rosemarie Keindel brachte ein Bild herein und legte es vor ihm auf den Schreibtisch. »Irgend so ein Künstler hat da aufgemalt, wie die Wasserleiche wohl ausgesehen hat, als sie noch gesund gewesen ist.« Bienzle senkte den Blick, schaute auf das Bild und hielt den Atem an. »Den Mann kenne ich. Und der Kocher hätt ihn eigentlich auch erkennen müssen. Der hat letztes Jahr einen Vortrag bei uns gehalten. Spurensicherung bei Metallen oder so. Wart amal…« Bienzle kramte in der untersten Schublade seines Schreibtischs. »Irgendwo muß doch das Programm noch sein.« Er zog ein Schriftstück heraus. Das paßfotogroße Bild am Kopf des Textes hatte eine überraschende Ähnlichkeit mit der Zeichnung, die auf Bienzles Schreibtischplatte lag. Rosemarie Keindel beugte sich über ihn. Sie sollte dringend ihr Parfüm wechseln, dachte Bienzle, so süß und so schwer müßt’s ja nicht unbedingt sein. »Fabian Kurz. Dr. Fabian Kurz.« »Wenn man wüßte, wann er geboren ist, könnte man feststellen, ob man ihm den Tod hätt voraussagen können«, sagte Rosemarie Keindel. Bienzle hatte keine Lust darauf einzugehen.
Eine knappe halbe Stunde später öffnete Frau Annemirl Kurz Bienzle die Tür des ansehnlichen Einfamilienhauses am Hang über Gablenberg. Man hatte von hier einen schönen Blick auf Gaisburg und im Hintergrund sah man den Neckar als graues Band. Von hier führte ein gewundener Weinbergweg zum Fluß hinab. Wahrscheinlich war das die Joggingstrecke von Fabian Kurz gewesen. Die Witwe des Wissenschaftlers war ungefähr vierzig Jahre alt, hatte eine pralle, üppige Figur und trug hochhackige Pantöffelchen, die ihre kurzen Beine vermutlich strecken sollten. Frau Kurz hatte die Todesnachricht mit großen Augen angehört, aber sie schien noch nicht bis zu ihr durchgedrungen zu sein. Sie redete ohne Punkt und Komma. »Am Dienstagabend letzter Woche wollte er für vierzehn Tage nach Detroit fliegen. Am Morgen ist er wie immer joggen gegangen, schon früh um sieben. Das hat er sich nicht nehmen lassen. Er geht jeden Tag joggen. Auch auf Reisen. Immer. Er braucht das, weil er hat ja so einen schweren Job…« »Haben Sie mir zugehört, Frau Kurz?« unterbrach sie der Kommissar. »Wie? Ja, ja, natürlich. Er ist tot, sagen Sie.« Bienzle starrte die Frau perplex an. Entweder war sie eiskalt, oder der Schock hatte sie paralysiert. »Sollen wir einen Arzt rufen?« fragte er. »Warum denn?« Bienzle räusperte sich. »Haben Sie eine Vorstellung, wer Ihren Mann umgebracht haben könnte?« Annemirl zuckte die Achseln, sie blieb unbeirrt in der Gegenwartsform. »Mein Mann ist nicht sehr beliebt. Nicht, daß Sie mich falsch verstehen: Er hat sehr viel Charme, ist witzig – ein Kavalier. Aber er ist auch sehr erfolgreich. Der
Beste in seinem Fach. Da hat er natürlich eine Menge Neider. Und mit dummen Menschen kann er sehr ungeduldig sein.« »Frau Kurz, ich muß Sie leider bitten, Ihren Mann zu identifizieren.« Annemirl antwortete wieder mit einem Schulterzucken. »Na gut.« Als Dr. Kocher eine Stunde später das Laken über dem Kopf des Toten wegzog, schien Annemirl Kurz einen Moment zu wanken. Bienzle griff nach ihrer Schulter, aber sie entzog sich seiner Berührung. Dann nickte sie nachdrücklich und sagte mit fester Stimme: »Ja, das ist er, das ist mein Mann!« Kocher deckte die Leiche wieder zu. Schon Minuten später verließen Bienzle und Frau Kurz das schmucklose Gebäude der Gerichtsmedizin wieder. »Sie waren sehr tapfer«, sagte der Kommissar. Sie blickte zu ihm auf. »Er sieht ja furchtbar aus. Und er war doch eigentlich immer ein schöner Mann.« Bienzle fuhr Annemirl Kurz danach nach Hause. Sie bat ihn noch zu einem Kaffee herein. Als sie die Wohnung betraten, hakte Bienzle noch einmal nach: »Ihnen fällt wirklich niemand ein, der mit Ihrem Mann verfeindet war, ein Konkurrent in seinem Beruf vielleicht?« Sie machte zunächst ein nachdenkliches Gesicht, kringelte eine ihrer Locken um den Zeigefinger und sagte schließlich: »Ich muß mir erst einmal Kleider kaufen. Man hat ja für so einen Fall nichts im Schrank.« »Ihr Mann war offenbar in einer wichtigen Position«, sagte Bienzle. »Wie macht man das überhaupt? Geht man zu irgendeinem Beerdigungsunternehmen? Oder zum Pfarrer? Wir sind ja nicht aus der Kirche ausgetreten wie so viele, aber wir haben uns auch nie um die Kirche gekümmert.«
Bienzle baute sich vor Frau Kurz auf und faßte nach ihren Armen. »Bitte nicht«, sagte sie und zog die Arme zurück. Bienzle trat einen Schritt zurück. »‘tschuldigung«, murmelte er. »Frau Kurz. Bitte erzählen Sie mir doch mal ein bißchen was über Ihren Mann, über seine Arbeit, seine Freunde, seine Kollegen, seine Vorgesetzten…« Jetzt, da sie den Toten gesehen hatte, redete Annemirl in der Vergangenheitsform über ihn. »Anderen Menschen ist er möglichst aus dem Weg gegangen. Meistens war er ziemlich in sich gekehrt. Partys, Empfänge und sowas hat er gemieden.« »Und Sie?« fragte Bienzle. »Bei mir ist das anders. Und manchmal habe ich mich auch richtig darüber geärgert, daß er sich für meine Wünsche so absolut nicht interessiert hat.« Bienzle fragte behutsam: »Was haben Sie denn gemacht am Dienstagmorgen letzte Woche?« »Ich weiß nicht… Wahrscheinlich das gleiche wie immer. Eine Viertelstunde Yoga, während er joggen war, danach ein kurzes Frühstück. Gemeinsam. Ich trinke da immer nur einen frisch gepreßten Grapefruitsaft… Er liest die Zeitung… Ach so, das war ja der Tag, wo er nicht zurückkam…« »Das war der Tag, an dem er nach Detroit fliegen wollte«, sagte Bienzle nachdrücklich. »Ja, ja… ja natürlich. Als er nicht zurückkam, bin ich los. Ich kann ja nicht einfach meine Termine sausen lassen. Ich bin dann zu meiner Kosmetikerin.« »Wie heißt die?« Annemirl sah ihn überrascht an. »Warum wollen Sie das denn wissen?« »Wir müssen alle Aussagen überprüfen«, gab Bienzle zurück. Plötzlich war Annemirl Kurz hellwach. »Aber das bedeutet doch nichts anderes, als daß Sie mich…«
Bienzle unterbrach sie. »Wie heißt Ihre Kosmetikerin?« Aber Annemirl Kurz war nicht die Frau, die sich so leicht unterbrechen ließ. Unbeirrt fuhr sie fort: »Das heißt, Sie verdächtigen mich!« »Das heißt nur, daß wir Ihre Angaben überprüfen wie alle anderen Angaben auch«, sagte Bienzle. Annemirls Stimme bekam einen beleidigten Ton. »Guntrum, Cordula Guntrum. Sie ist sehr gut. Wenn Sie kein Mann wären, würd ich sie Ihnen empfehlen.« Bienzle wurde einer Antwort enthoben, denn es klingelte an der Wohnungstür. Frau Kurz öffnete und stand einer jungen Frau gegenüber. Sie war dunkelhaarig, schlicht gekleidet und hatte die Haare streng nach hinten gekämmt. »Ich bin Kathrin Lehmann.« Sie sagte das so, als müßte der Name Frau Kurz etwas sagen. »Ja, und?« »Ich weiß nicht… Sind Sie… sind Sie nicht Frau Kurz?« »Doch, sicher.« »Ich bin Kathrin Lehmann«, wiederholte sie. »Ich weiß nicht, ob Ihnen der Name etwas sagt…« »Nein, nichts. Absolut nichts.« Bienzle achtete darauf, daß Kathrin Lehmann ihn nicht sehen konnte. Er hörte sie sagen: »Ich hätte gerne Ihren Mann gesprochen…« Annemirl Kurz antwortete nicht. Bienzle machte sich auf den. Weg zur Wohnungstür. Da hörte er die junge Frau an der Tür sagen: »Ist… ist ihm… ist ihm etwas passiert?« »Warum interessiert Sie das?« »Warum mich das interessiert??« Bienzle trat in den Korridor. »Herr Kurz ist tot«, sagte er kühl. »Er wurde ermordet. Schon am Dienstag letzter Woche.« Die junge Frau starrte ihn an. Sie schnappte nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen, und es dauerte eine ganze Zeit, bis
sie etwas sagen konnte. »Ich… ich hab an dem Tag auf ihn gewartet.« Erst dann schien sie die Tragweite von Bienzles Worte zu begreifen. Plötzlich schrie sie los: »Das ist nicht wahr! Das ist nicht wahr!« Und immer wieder. »Das ist nicht wahr.« Sie wurde von einem trockenen Schluchzen geschüttelt. Ihr Das-ist-nicht-wahr wurde immer weiter verstümmelt. Sie brach wimmernd in die Knie. Bienzle half ihr auf und führte sie zu einem Sessel. Annemirl bewegte seltsam flatternd ihrer Hände und ging im Wohnzimmer auf und ab. Plötzlich begann sie hysterisch zu lachen. »Das glaubt uns ja keiner! Sie haben gedacht, er ist bei mir und will nichts mehr von Ihnen wissen?« Kathrin nickte. »Und ich denke, er ist bei irgendeiner anderen… so einer…« »Einer anderen Frau«, ging Bienzle rasch dazwischen. »… und er hat mich endgültig satt.« »Ja, das hat er gesagt«, kam es leise von Kathrin Lehmann. »Wo wohnen Sie?« fragte Annemirl streng. »Ammergasse sieben.« Annemirl lachte auf. »Praktisch! Ach wie praktisch! Keine fünf Minuten von hier.« Frau Kurz stand jetzt mit gekreuzten Armen da und schaute auf Kathrin hinab. »Wollen Sie mir bei der Formulierung der Traueranzeige helfen?« Bienzle fuhr erneut dazwischen: »Frau Kurz, bitte!« Aber sie legte nach: »Ich meine ja nicht, daß wir sie gemeinsam unterzeichnen sollten.« Und dann wieder zu Kathrin: »Sie haben ihn ja auch ziemlich gut gekannt, oder? Wer weiß, vielleicht besser als ich. Was würden Sie denn schreiben…?« Kathrin rannte fluchtartig aus der Wohnung. Bienzle schaute Annemirl kopfschüttelnd an, dann folgte er Kathrin. Unterwegs zur Tür sagte er noch zu Annemirl. »Sie kommen ja wohl alleine zurecht.«
Sie starrte ihn regungslos an, dann knallte sie die Tür hinter ihm zu. Vor dem Haus holte Bienzle Kathrin Lehmann ein. Sie mußte sich am Gartenzaun festhalten, sonst wäre sie zusammengebrochen. Aber sie weinte jetzt nicht mehr. »Geht’s wieder?« fragte Bienzle. Kathrin Lehmann nickte nur, drückte das Kreuz durch, holte Luft und fragte nun erstaunlich ruhig. »Wie ist er… gestorben?« »Er wurde erschossen. Ich nehme an, als er auf dem Weg zu Ihnen war. Dienstagmorgen letzter Woche.« »Sie hat ihn erschossen?« »Sie meinen, seine Frau?« »Natürlich meine ich seine Frau!« Um den Experimentierplatz, an dem Retzlaff schon am Morgen gearbeitet hatte, gruppierte sich eine Delegation – fünf Anzugträger und eine Frau im Kostüm. Während Retzlaff die Versuchsanordnung aufbaute, erklärte Dichgans: »Mit diesem Gerät können wir genau feststellen, wie hoch die Belastung ist, die unser neuer Werkstoff aushält. Um Ihnen die Einschätzung zu erleichtern, haben wir auf der Skala jeweils eingezeichnet, wo die anderen Werkstoffe wie herkömmlicher Stahl, mehrfach gehärteter Stahl, Aluminium, Titan und verschiedene Kunststoffe sowie Kunststoff-Metall-Verbindungen den Geist aufgegeben haben.« Retzlaff verzog das Gesicht. Er mochte diese saloppe Ausdrucksweise nicht. Ihre wissenschaftliche Disziplin ließ sich am besten in klaren, sachlichen und neutralen Begriffen darstellen.
Am anderen Ende der Halle trat Bienzle durch eine Schwingtür aus Glas und Stahl. Er wies sich bei einem Mitarbeiter aus. Der deutete auf die Gruppe um Retzlaff. Die einzige Dame in der Delegation fragte Retzlaff: »Ist das Ihre Entwicklung?« Doch bevor Retzlaff, glücklich über die Frage, nicken konnte, sagte Dichgans: »Wissen Sie, so eine Entwicklung ist heute nicht mehr die Sache eines einzigen genialen Kopfes. Das ist immer Teamarbeit. Es kommt darauf an, wie man die Begabungen der einzelnen Mitarbeiter bündelt…« Das konnte Retzlaff nicht so stehen lassen. »Ich arbeite zusammen mit Dr. Kurz seit drei Jahren daran«, sagte er. Die Dame sah sich suchend um. »Professor Kurz…?« »… ist auf einer Studienreise in den Staaten«, antwortete Dichgans rasch. Retzlaff hatte inzwischen mit dem Versuch begonnen, rascher als am Morgen steigerte er den Druck. Einige seiner Kollegen sahen besorgt herüber. »Treten Sie bitte ein paar Schritte zurück«, rief Retzlaff den Zuschauern zu. »Was machen Sie denn da?« schnappte Dichgans, der zu spät entdeckte, was Retzlaff vorhatte. Die Versuchsanordnung detonierte förmlich. Das Werkstück flog in Tausenden von kleinen Einzelteilen durch die Luft. Die Mitglieder der Delegation sprangen erschrocken zurück. Die Männer rissen die Hände vors Gesicht, die Frau kreuzte schützend die Arme vor der Brust. Retzlaff fuhr ruhig den Kilopondmeter wieder herunter. Dichgans schrie ihn an. »Herr Retzlaff, wie kann so etwas passieren? Ich wußte ja, Ihnen kann man so etwas nicht anvertrauen. Wir hätten warten sollen, bis Dr. Kurz wieder zurück ist.«
Retzlaff zischte zurück: »Tun Sie doch nicht so! Sie haben doch diesen Termin bewußt so gelegt, daß er gar nicht dabei sein konnte!« Dann änderte er seinen Ton sofort und wandte sich wieder an die Delegation. »Es tut mir leid. Das hätte wirklich nicht passieren dürfen, da hat Herr Dichgans ganz recht. Und wenn Dr. Kurz wieder da ist, könnte er natürlich…« »Nein, das könnte er nicht. Nicht mehr! Wenn Sie Dr. Fabian Kurz meinen. Der wurde heute morgen im Neckar gefunden. Tot. Ermordet. Seine Leiche hat schon seit Dienstag letzter Woche im Wasser gelegen.« Bienzle trat zwischen die Mitglieder der Delegation. »Tut mir leid, wenn ich unterbreche, aber unsere Ermittlungen haben leider Vorrang.« In Dichgans’ Büro standen überall glattpolierte Werkstücke, die allerdings eher eine dekorative Rolle spielten. Die Wände schmückten Konstruktionszeichnungen, die alle wirkten wie Grafiken eines hochtalentierten Zeichners. Dichgans ging nervös auf und ab. Bienzle hatte sich in einen Besucherstuhl gesetzt und beobachtet ihn. »Fabian Kurz war ein guter Mann. So einen Stellvertreter kann man sich nur wünschen. Seine Arbeitsgruppe hat er sehr souverän geleitet. Selbst so einen notorischen Querulanten wie Retzlaff hatte er fest im Griff«, sagte Dichgans, ohne seine ruhelosen Bewegungen zu unterbrechen. »Retzlaff ist der Mann, der draußen den Versuch geschmissen hat?« fragte Bienzle. »Ja, mutwillig geschmissen!« »Und warum mutwillig?« wollte Bienzle wissen. Dichgans lachte auf. »Er hatte doch tatsächlich geglaubt, man würde ihm die Leitung der Gruppe übertragen, solange Kurz weg ist.« »Und wer leitet sie jetzt?« »Ich habe sie in Personalunion mit übernommen.«
Später sprach Bienzle auch mit Hans Joachim Retzlaff, der verstört an seinem Schreibtisch saß. »Ihr Chef sagt…« »Er ist nicht mein Chef«, blaffte Retzlaff. Bienzle verbesserte sich. »Herr Dichgans sagt, Sie hätten den Versuch mutwillig platzen lassen.« »Soll er doch sagen, was er will!« Damit wandte sich Retzlaff abrupt von Bienzle ab und seinem Computer zu. Der Kommissar zuckte nur die Achseln und ging davon. Es würde noch Zeit und Gelegenheit genug geben, mit dem Konstrukteur zu sprechen. Ein Mitarbeiter trat an Retzlaffs Tisch. »Sie wollten mir noch die Unterlagen…« Retzlaff fuhr ihm schroff in die Parade: »Wie oft soll ich noch sagen, daß ich nicht gestört werden will, wenn ich arbeite.« »Ich wollte doch nur…« setzte der andere kleinlaut an. Aber Retzlaff ließ ihn nicht weiterkommen. »Jaja, Sie wollen alle doch nur… Ich weiß genau, was Sie wollen, täuschen Sie sich nicht!« Bienzle war stehengeblieben und hatte den kleinen Disput mit angehört. Der Mitarbeiter ging aus dem Raum. Bienzle folgte ihm. Draußen im Korridor schloß er zu ihm auf. »Mit Ihrem Kollegen Retzlaff ist wohl nicht gut Kirschen essen.« Das Namensschild an der Brusttasche seines grauen Arbeitsmantels wies den jungen Mann als Dr. Keitel aus. »Ich kann ihn ja verstehen«, sagte Keitel und zuckte mit den Schultern. »Warum?« fragte Bienzle. »Weil Dichgans ihn schikaniert?« »Retzlaff ist ein Überflieger, ein geradezu genial begabter Mann… und wenn er’s dann mit Dilettanten zu tun hat, und die kassieren auch noch alle Lorbeeren, die eigentlich ihm zustehen…« Der junge Mann ließ den Satz in der Luft hängen.
»Aber mit Ihnen springt er doch auch nicht grade freundlich um«, sagte Bienzle. »Mal so, mal so… Es gibt genug andere Leute, die mich mögen.« Bienzle lächelte Keitel an. »Beneidenswert! Wen haben Sie denn mit Dilettanten gemeint, Dichgans oder noch jemand anderen?« Ein sympathisches Grinsen breitete sich in Keitels Gesicht aus. »In unserem Job gibt es meistens drei Sorten: den begnadeten Tüftler, der ganz in seiner Arbeit lebt. Retzlaff zum Beispiel. Den unbegabten Techniker, der aber ein genialer Verkäufer ist und nach außen eine komplette Fassade aufbauen kann. Und die Trittbrettfahrer, die von beidem keine Ahnung haben. Die letzten kommen am besten durch, weil sie kaum auffallen.« »Und zu welcher Gruppe gehört Dichgans?« »Zur zweiten: erstklassiger Verkäufer – eloquent, weltläufig, mit besten Manieren. Aber er macht einen großen Fehler: Er beutet die genialischen Tüftler aus. Besser – viel besser – wäre eine vernünftige Symbiose, aber damit kann sich der Herr nicht bescheiden. Dr. Kurz war da anders.« »Fabian Kurz hat also mit Retzlaff kooperiert?« »Ja. Und deshalb hätt er am Ende auch gewonnen.« »Wie gewonnen?« »Dr. Kurz stand vor seiner Beförderung und zwar an Dichgans vorbei ganz nach oben.« Bienzle bat Hannelore selten um einen Gefallen, wenn es um seine Ermittlungen ging. Aber in diesem Fall war das etwas anderes. Es war ihm ohne lange Überzeugungsarbeit gelungen, sie für die Recherchen zu interessieren. Jetzt lag Hannelore auf einer bequemen Liege, und Cordula Guntrum massierte mit
geschmeidigen, gleichmäßigen Bewegungen ihre Kinnpartie. »Und wer hat mich empfohlen?« fragte sie. »Frau Kurz. Annemirl Kurz«, sagte Hannelore, und es klang wie das wohlige Schnurren einer Katze. »Ach ja… mein Gott, die Arme… haben Sie das mitgekriegt…?« »Sie meinen das mit ihrem Mann?« »Wenn man sich das vorstellt. Sie liegt hier, wie Sie jetzt, und ihr Mann joggt wie jeden Morgen und dann…« Sie erschauerte. »Ach, die Annemirl war bei Ihnen? Das hat sie mir gar nicht erzählt.« »Sie kommt jeden Dienstag um die gleiche Zeit.« »Letzte Woche auch?« Cordula hielt in ihrer Bewegung inne. »Ja sicher. Warum wollen Sie das überhaupt wissen?« Hannelore versuchte abzulenken: »Was war das eigentlich für einer, ihr Mann. Ich hab den nie zu Gesicht bekommen.« »Kein Wunder, der Fabian war doch völlig auf seinen Beruf fixiert. Da mußte schon Weihnachten und Ostern auf einen Tag fallen, damit Annemirl ihn mal überreden konnte, mit ihr auszugehen.« »Kann man sich bei ihr gar nicht vorstellen.« »Ja, nicht wahr. So eine lebenslustige Frau.« »Und trotzdem hat er eine Freundin gehabt«, sagte Hannelore betont beiläufig. Cordula verrutschten die Hände. »Der Fabian Kurz?« »Das überrascht Sie?« »Das haut mich glatt um! Bei dem war ich doch nie auf die Idee gekommen.« Hannelore sagte kokett: »Sonst hätten Sie’s vielleicht selber mal versucht, hm?«
»Sie haben ihn ja nicht gekannt…. Von dem Mann ging was aus! Der hatte ein Geheimnis. Wenn der so versonnen vor sich hingelächelt hat… und dann diese dunklen braunen Augen und immer diese leichte Melancholie… Und er war ja so genial. Ein guter Freund von mir hat immer gesagt: ›Du wirst sehen, der kriegt noch mal den Nobelpreis!‹« »Tscha«, sagte Hannelore lakonisch, »damit ist es ja nun wohl vorbei.« »Ich versteh das nicht«, sagte Cordula Guntrum. »Annemirl und ich haben an dem Morgen unsere Horoskope verglichen und auch seins angeschaut. Er war Skorpion. Da war ganz deutlich, daß er eine reizvolle Aufgabe vor sich hatte – die Jupiter-Uranus-Konstellation war super. Merkur signalisierte höchste Anerkennung. Uranus war positiv. Das heißt, sein Erfindungsgeist würde sich endlich auszahlen. Man konnte sogar eine besondere Geldprämie erwarten…« »Und das alles verrät so ein Horoskop?« »Ja sicher, wenn man in den Sternen lesen kann. Was sind Sie für ein Sternbild?« »Schütze«, log Hannelore. Sollte die Sternendeuterin doch mal sagen, was Bienzle bevorstand. Frau Guntrum ging zu ihrem Computer und öffnete per Mausklick ein neues Programm. »Saturn und Jupiter positiv, Mars und Pluto negativ. Was Sie erreichen wollen, geht nicht so schnell wie erhofft. Suchen Sie Verbündete für Ihren Plan.« »Schau, schau, wer hätte das gedacht«, sagte Hannelore, während die Kosmetikerin begann, eine Maske auf ihr Gesicht aufzutragen. Bienzle saß in seinem Büro und hatte Sehnsucht nach Gächter. Sein Kollege war auf einem Lehrgang, und Neigenfindt, der ihn vertrat, sorgte schon, wenn er zur Tür hereinkam, dafür, daß sich in Bienzles Bauch eine Drahtbürste aufstellte. Im
Augenblick erstattete der junge Jurist Bericht, als ob er eine Rede im Bundestag hielte – oder doch eher vor seinen Kommilitonen in der Burschenschaft. »Also der Schuß wurde aus nächster Nähe abgegeben. Der Schütze muß sehr dicht vor Kurz gestanden haben. Jemand, den Dr. Kurz gut kannte und ohne…« Bienzle unterbrach: »Den Doktor können Sie in dem Fall weglassen. Spart Zeit!« Neigenfindt gab sich indigniert. »Der Doktortitel ist für mich ein Teil des Namens. Gerade wenn man selber vorhat zu promovieren.« Bienzle wollte sich auf keine Diskussion über akademische Titel einlassen. Er selber hatte nicht einmal Abitur und knabberte bis heute daran. »Sie haben recht, Kollege Neigenfindt, der Täter muß jemand gewesen sein, gegen den das Opfer kein Mißtrauen hegte.« Neigenfindt fuhr zufrieden fort: »Die Waffe war eine Pistole. Heckler und Koch, Kaliber 0,8. Das Geschoß konnte von Dr. Kocher entnommen werden. Es ist kaum verformt, also wenn wir die Waffe dazu finden…« »Schöne Aufgabe für Sie! Kriegen Sie raus, wer eine solche Waffe besitzt«, sagte Bienzle mit einem feinen Lächeln. »Und wo soll ich suchen?« »Bei den üblichen Verdächtigen: Frau, Geliebte, Rivalen beruflich wie privat, andere Leute, die von seinem Tod profitieren, vielleicht ja sogar die geschäftliche Konkurrenz.« Neigenfindt atmete tief durch. »Alles die übliche Polizeiarbeit«, sagte Bienzle, »nicht spektakulär, selten erfolgreich, aber unabdingbar, Herr Kollege.« Hans Joachim Retzlaff hatte den Betrieb früher als sonst verlassen. Er fuhr nicht nach Hause, sondern über die
Pischekstraße hinauf zur Wangener Höhe und dann über den Bergrücken fast bis ans Ende eines schmalen betonierten Sträßchens, über dem mächtige Laubbäume ihre dichten Blätterarme wie zu einem Tunneldach wölbten. Die Grundstücke, die sich hier hinter den Straßenbäumen aneinanderreihten, nannten die Schwaben »Gütle«. Anderswo in Deutschland bezeichnete man sie als Schrebergärten oder Laubenpiepergärten. Retzlaff stellte sein Auto ab. Seltsamerweise war das grüne Gartentor nur angelehnt, obwohl er immer sorgsam darauf achtete, daß abgeschlossen war. Als er an die Tür zu der flachgiebligen Hütte kam, die so kunstvoll eingewachsen war, daß man sie von der Straße her kaum sehen konnte, erstarrte er. Der Riegel war aus der Verankerung gerissen. Die Tür hing schräg in den Angeln und schwang leise ächzend im leichten Wind auf und zu. Auf Zehenspitzen trat Retzlaff über die Schwelle. In der Hütte sah es aus wie immer… Eigentlich hatte Bienzle Feierabend. Und eigentlich hatte er ja auch nach Hause fahren wollen, aber dann fand er sich doch in der Ammergasse wieder. Kathrin Lehmann bat ihn ohne Umschweife herein. Es war erstaunlich, wie beherrscht sie jetzt wirkte. »Am vorletzten Dienstagmorgen – waren Sie da zu Hause?« fragte der Kommissar. »Ja sicher. Ich habe doch auf ihn gewartet.« »Und haben Sie dafür irgendwelche Zeugen?« »Nein, natürlich nicht.« »Sie waren auch nicht beim Bäcker Brötchen holen, oder am Zeitungskiosk oder so?« »Nein. Ich habe mich schön gemacht, den Tisch gedeckt, mich hingesetzt und gewartet. So gegen acht Uhr wußte ich
dann: Er kommt nicht. Und plötzlich hab ich angefangen furchtbar zu heulen. Weil ich das Gefühl hatte, er kommt überhaupt nicht mehr. Nie mehr!« »Hat er mit Ihnen irgendwann einmal über eine gemeinsame Zukunft gesprochen?« »Das wollte ich nicht. Männer sind Meister in falschen Versprechungen!« Bienzle zog eine Grimasse und wechselte das Thema. »Was machen Sie denn beruflich?« »Ich bin an der Uni. Ich hab einen Lehrauftrag in Informatik.« »Also waren Sie eine adäquate Gesprächspartnerin für Fabian Kurz.« Kathrin nickte. »Ich habe sogar bestimmte Arbeiten für ihn übernommen.« »Ach ja?« »Er war ein guter Techniker und ein noch besserer Marketingmann, aber ein schwacher Mathematiker. Und mit den fortgeschrittenen Computerprogrammen hatte er ganz schöne Probleme!« Bienzle war nun auf die vorderste Sesselkante vorgerutscht. »Wußte jemand davon, daß Sie für ihn arbeiten?« »Um Gottes willen! Bitte erzählen Sie’s auch niemandem!« Bienzle winkte begütigend ab. »Sie haben Frau Kurz gestern beschuldigt, ihren Mann erschossen zu haben«, sagte er unvermittelt. »Ach, nein, das glaube ich nicht wirklich. Für die Frau ist es ja auch ein Verlust.« »Und Sie? Wie kommen Sie damit zurecht?« Kathrin schlug die Beine übereinander. »Wissen Sie, für mich hat es immer auch Momente gegeben, in denen ich mir überlegt habe, ob es nicht besser wäre, die Beziehung
aufzugeben. Geliebte zu sein ist eine so beschissene Sache. Sie werden jetzt gleich fragen, warum machen Sie’s dann?« »Warum machen Sie’s dann?« fragte Bienzle. »Weil es mich zu diesem Mann so unglaublich hingezogen hat. Manchmal habe ich gedacht, ich lebe nur in den Momenten, in denen wir zusammen sind.« Bienzle nickte verständnisvoll. »Da fällt es natürlich schwer, ein Mordmotiv zu unterstellen.« Zum ersten Mal lächelte auch Kathrin Lehmann. »Könnte man aber auch gerade andersrum sehen, oder?« Die ganze Zeit schon hatte Bienzle immer wieder zu einem Bild hingesehen, das alleine an der größten Wand des Raumes hing. Es hatte genau diese Eigenschaft, den Blick immer wieder auf sich zu ziehen. Dabei war er sich gar nicht sicher, ob es ein Foto oder ein Gemälde war. Vielleicht die Teleskopaufnahme eines Spiralnebels aus dem Weltraum in lauter Rottönen vor einem tiefen Blau, das sich nach hinten zu verlieren schien bis in die Unendlichkeit. Jetzt sagte Bienzle: »Ich habe ein ganz ähnliches Bild bei Frau Kurz gesehen.« »Es ist ein Geschenk von Fabian. Der Maler ist Cornelius Reiners.« Weit hinten in Bienzles Gedächtnis regte sich etwas. Er hatte den Namen schon gehört. Hannelore würde ihn aufklären können. Sie war in der Szene zu Hause, wenngleich sie immer behauptete, sie sei nur eine Gebrauchskünstlerin, eine Illustratorin, die nur Auftragsproduktionen herstelle. Dabei hatte sie wunderschöne Bilder gemalt, die sie freilich nur ihm gezeigt hatte. »Cornelius Reiners ist ein guter Freund von Fabian… gewesen«, sagte Kathrin. Plötzlich ging in Bienzles Gedächtnis ein Türchen auf. Der Name Cornelius Reiners war kürzlich in einer Polizeiakte aufgetaucht. Aber in welcher? Es war nicht bei der Mordkommission, es war in einer benachbarten Abteilung
gewesen… Ein unnatürlicher Todesfall. Kein Mord… kein Totschlag… »Der Mann lebt nicht mehr«, sagte Bienzle plötzlich. Kathrin verstand ihn falsch. »Ja, natürlich, darüber reden wir doch die ganze Zeit.« Sie schaute Bienzle erstaunt an. Doch der war ganz in Gedanken vertieft und starrte mit glasigen Augen vor sich hin. »Nein, nein, nicht Fabian Kurz – dieser Maler. Ich komm jetzt bloß nicht drauf. Wartet Se amal. Haben Sie vielleicht ein Glas Rotwein für mich?« »Ein Nordheimer Trollinger mit Lemberger, wäre der recht?« »Der war wunderbar!« Beim zweiten Glas kam er drauf. Cornelius Reiners war vor der Küste Korsikas tauchen gegangen und nicht zurückgekommen. Seine Frau war bei der Polizei gewesen, nachdem sie zwei Tage nichts von ihrem Mann gehört hatte. Der Kollege Keuerleber hatte mit der französischen Polizei in Bastia Kontakt aufgenommen – Keuerleber sprach ein lupenreines Französisch. Nach den Ermittlungen der Franzosen lag der Fall klar: Dort, wo Reiners auf eigene Faust tauchen war, versuchten es nur Verrückte. Die Strömungen dort waren teuflisch. Und es standen genug Warntafeln in allen einschlägigen Sprachen am Strand. Aber Deutsche ließen sich ja nichts sagen. Da hätten sie genügend leidvolle Erfahrungen, hatte der Commissaire aus Bastia gesagt. Am Ufer hatte man Reiners Kleider gefunden, dazu eine Brieftasche mit etwas französischem Geld, einen Personalausweis, eine Packung Kondome, Hustenpastillen und die Haus- und die Autoschlüssel. Alles deutete daraufhin, daß der Mann ertrunken war. »Ist das nicht komisch«, sagte Bienzle, »zwei so unterschiedliche Todesfälle. Und nun berühren sich die beiden. Halten Sie das für einen Zufall?«
»Es gibt keine Zufälle«, sagte Kathrin Lehmann. »Ja, ja, ich weiß. Alles steht in den Sternen.« Bienzle deutete auf den wilden Sternennebel auf Reiners Bild. »Das habe ich nicht gemeint«, sagte Kathrin. »Ich glaub ja auch nicht dran«, sagte Bienzle. »Wenigstens ned richtig.« Als er das Haus verließ, war er seltsam unruhig und trotz der beiden Gläser schweren Rotweins hellwach. Aber das kannte er bei sich. Plötzlich kam diese Unruhe. Er spürte, daß sich etwas bewegte… Er wußte noch nicht was, aber er wußte, daß es sich demnächst zeigen würde. Dann packte ihn diese Rastlosigkeit. Es wäre ihm jetzt unmöglich gewesen, sich irgendwo hinzusetzen und auch nur die Zeitung zu lesen. Sofort hätte er wieder aufspringen und herumtigern müssen wie ein gefangenes Tier in einem Käfig. Er empfand es geradezu als Erleichterung, als sein Handy klingelte. Retzlaff war am Apparat. In seinem versteckten Gartenhaus auf dem Gütle hatte Hans Joachim Retzlaff das Analyseprogramm auf dem Computer hochgefahren. Es war eindeutig, daß ein anderer im Programm gewesen sein mußte. Der Techniker stand auf und ging zu einem altertümlichen Stahlgeldschrank, der in der Wandverkleidung verborgen war. Er öffnete ihn, nahm ein Tablett mit verschiedenen Werkstücken und ein Bord mit Reagenzgläsern heraus. Wenigstens waren die Werkstücke und Proben nicht gestohlen worden. Aber was nützte ihm das? Wer in sein Computerprogramm eingedrungen war, hatte auch alle Angaben über die Zusammensetzung des Stoffes. Es klopfte an der Tür, die im selben Augenblick leicht knarrend aufschwang. Bienzle stand auf der Schwelle. Retzlaff schaute auf. »Na endlich!« sagte er. »Haben Sie’s leicht gefunden?«
»Als alter Stuttgarter…« Bienzle schloß die Tür hinter sich und setzte sich auf einen Hocker. »Wenn man von hier oben auf die Stadt Stuttgart hinunterschaut, sieht sie aus wie eine lichtbekränzte Königin. Das hat der Manfred Esser in seinem Ostend-Roman geschrieben«, sagte Bienzle versunken, als er den Blick aus dem von grünen Ranken eingerahmten Fenster ins Tal hinuntergleiten ließ. Retzlaff gestand, seit seinem Abitur nie mehr eine Zeile Literatur gelesen zu haben. Dann sagte er unvermittelt: »Man hat mich bestohlen!« »Wer?« fragte Bienzle. »Dichgans oder einer seiner Handlanger. Keitel vielleicht, was weiß denn ich?! Ich war denen mindestens um ein Jahr voraus.« »Jetzt amal langsam. Sie waren wem voraus? Etwa Ihrer eigenen Firma?« »Ja, verdammt noch mal. Und ehe Sie mir einen Vorwurf machen: Die haben mich selbst für das, was ich Ihnen geliefert habe, noch viel zu schlecht bezahlt.« »Und das andere, was hatten Sie damit vor?« Retzlaff merkte, daß er sich schon viel zu weit vorgewagt hatte, und schwieg. »Ihre Firma hat Konkurrenten, Herr Retzlaff«, sagte Bienzle. »Was geht Sie das überhaupt an?« schnappte Retzlaff. »Mich interessiert das nur, wenn’s mit dem Tod von Fabian Kurz zu tun hat. Wußte er davon?« Retzlaff schwieg. Bienzle sagte: »Ich habe gehört, ohne Sie wäre der gar nichts gewesen – ein guter Verkäufer vielleicht, aber in allen technischen Fragen war er auf Sie angewiesen.« Retzlaff nickte nur, sagte aber weiter nichts. »Haben Sie sich gut verstanden, Kurz und Sie?« bohrte Bienzle weiter.
»Wenigstens hat er mein Genie erkannt. Und anerkannt!« »Und was wollte er damit erreichen? Wollte er bei Ihrer Firma ganz nach oben, oder wollte er Ihr Wissen teuer verkaufen und den Gewinn mit Ihnen teilen?« Retzlaff lächelte mit schmalen Lippen. »Wir können ihn leider nicht mehr fragen.« Bienzle stemmte die Hände auf die Knie und stand schwerfällig auf. »Sie waren also so eine Art Kompagnons, Sie und der Fabian Kurz.« »Wir hatten uns arrangiert. Er wollte in Amerika alles klarmachen. Aber da ist er ja gar nicht mehr hingekommen. Irgendwer hat es gerade noch rechtzeitig verhindert.« Es war schon fast Mitternacht, als Bienzle am Tor zu der Jugendstilvilla am Bubenbad klingelte. Elaine Reiners öffnete. Sie hatte eine Mähne aus leuchtend roten Haaren, lange Beine und schob beim Gehen das Becken weit nach vorne. Daß sie keine grünen, sondern graue Augen hatte, enttäuschte ihn. Er zeigte seinen Ausweis, stellte sich kurz vor. Fast im gleichen Atemzug erwähnte er Fabian und Annemirl Kurz. Als er die Namen nannte, rang Frau Reiners erkennbar um ihre Fassung. Aus ihrem Wohnzimmer erklang das Lachen zweier Frauen. Offensichtlich wollte Elaine Reiners den Kommissar nicht hereinlassen. »Ich habe mit zwei Freundinnen zu Abend gegessen, und jetzt trinken wir noch ein Gläschen zusammen. Das ist alles sehr privat. Wenn Sie mich sprechen wollen, komme ich gerne morgen ins Präsidium. Oder Sie können auch in meine Galerie kommen. Nur jetzt, jetzt kommen Sie sehr ungelegen.« Bienzle sagte, das könne er gut verstehen. Er werde dann morgen in der Galerie vorbeischauen. Ob sie ihm eine Karte geben könne…
Elaine ging ins Wohnzimmer, um eine Visitenkarte zu holen. Bienzle folgte ihr unaufgefordert. An der Tür verbeugte er sich ein wenig linkisch. »Tut mir leid, daß ich gestört habe.« Er lächelte Annemirl Kurz freundlich zu und prägte sich das Gesicht der dritten Frau ein. Ihm blieb nicht verborgen, daß das Trio ihn verwirrt anstarrte. Hannelore schlief schon, als er nach Hause kam, und sie reagierte äußerst ungnädig, als er sie weckte. Bienzle stand mit einer Flasche Trollinger und zwei Gläsern am Fußende des Bettes, dachte nicht daran, schlafen zu gehen, und wollte mit ihr reden. Hannelore setzte sich auf. »Laß es lieber, ich kann eh nichts mehr aufnehmen.« »Aber ich«, sagte Bienzle. »Wie war’s bei der Kosmetikerin?« Hannelore stöhnte auf. »Deshalb weckst du mich?« »Halb so schlimm«, sagte er, »ich hab grad schon einen Staatsanwalt und einen Richter geweckt.« »Warum das denn?« »Weil ich eine Telefonüberwachung gebraucht hab.« »Du weißt genau…« »Ja, du bist dagegen. Und eigentlich bin ich auch dagegen, aber in dem Fall… Sag amal, wie sieht die Kosmetikerin aus…?« »Ja, wie sieht die aus… mußt du das jetzt wirklich wissen?« Bienzle sagte: »Zirka fünfunddreißig Jahre alt, etwa 1,75 groß, brünett, kleiner Busen, breite Hüften, muskulöse Beine. Kurzhaarschnitt, Lachfältchen um die Augen, eine etwas zu dicke Nase, aber trotzdem ziemlich hübsch, was wahrscheinlich von den hohen Wangenknochen und den leicht schräg liegenden Augen kommt.« Hannelore reagierte überrascht. »Das ist sie!«
»Ich hab sie grade noch bei Elaine Reiners getroffen.« »Bei der Galeristin?« »Ja, genau. Jetzt müßte man wissen, ob die Frau Kurz am Dienstag letzter Woche wirklich bei ihr war, oder ob die Frau Guntrum ihr nur ein Alibi gibt.« Hannelore musterte ihn genau. Langsam wurde ihr Blick wacher. »Saturn und Jupiter positiv, Mars und Pluto negativ. Was Sie erreichen wollen, geht nicht so schnell wie erhofft. Suchen Sie Verbündete für Ihren Plan.« »Hä?« machte Bienzle. »Ich hab sie heute morgen…« sie verbesserte sich, »gestern morgen nach deinem Horoskop gefragt.« »Gehst du für mich noch mal zu ihr hin?« fragte Bienzle. »Tut mir leid, ich hab den ganzen Tag Termine, und außerdem muß ich am Freitag meine Zeichnungen abgeben.« Bienzle nickte. »Ja, das Leben ist hart. Muß ich halt selber zur Kosmetikerin gehen.« Bienzle hatte nur drei Stunden geschlafen, aber er fühlte sich nicht müde. Schon kurz vor sieben Uhr war er wieder auf den Beinen, kochte einen starken Kaffee, duschte heiß und kalt. Dann rief er Neigenfindt an, er solle Elaine und Cornelius Reiners bei seiner Waffenrecherche mit einbeziehen. Punkt acht Uhr stand er vor dem Kosmetikstudio Guntrum. Die Besitzerin traf kurz nach ihm ein. Bienzle stellte sich vor und begrüßte sie mit den Worten: »Wir haben uns ja schon gestern abend kurz gesehen. Jetzt müßt ich Ihnen ein paar Fragen stellen.« Cordula Guntrum antwortete nicht darauf. Sie schloß die Tür auf und ging voraus in ein helles, freundliches Büro. An der Wand hing eine grafische Darstellung zum Thema Fußzonenreflexmassage sowie ein Terminplaner mit farbigen Täfelchen.
»Sie sind mit Frau Kurz gut befreundet?« fragte Bienzle. Cordula Guntrum war auf der Hut. »Wir kennen uns schon ein paar Jahre, und sie ist eine gute Kundin.« »Und sie kommt immer dienstags zu Ihnen zur Behandlung?« Bienzle war vor den Planer getreten. »So ist es.« »Haben Sie noch ein Planungsbuch oder so etwas?« »Ja, aber da steht auch nichts anderes drin.« »Darf ich das Buch trotzdem mal sehen?« Cordula reicht Bienzle das Buch und sagte unfreundlich: »Sie halten mich von der Arbeit ab!« Bienzle blätterte in dem Buch. »Dienstag 8.30 Uhr. Da ist was rausradiert. Hatten Sie da zuerst eine andere Kundin?« »Nein, ich habe mich bloß verschrieben.« Sie wurde zunehmend ärgerlicher und nervöser. Unbeeindruckt studierte Bienzle weiter in dem Buch. »Donnerstag: A. Kurz. 18 Uhr«, las er laut. »Das war ein zusätzlicher Hausbesuch bei Annemirl.« Bienzle hielt die Seite, auf der die Bleistiftschrift radiert worden war, gegen das Licht. »Da stand, warten Sie mal, irgendwas mit Wein… Weinzig oder Weinzierl oder so…« Er blätterte weiter. »Ach, da taucht der Name ja auch auf: Weinzierl, genau!« Er legte das Buch hin und schaute Cordula direkt an. »Frau Guntrum, wenn ich jetzt Frau Weinzierl ausfindig mache, was wird sie mir bestätigen? Daß Sie abgesagt haben? Wahrscheinlich nicht! Und wenn ich Ihre Buchhaltung überprüfen lasse, finde ich da für Dienstag eine Rechnung für Frau Weinzierl oder für Frau Kurz?« Cordula schaute zu Boden und biß sich auf die Lippen. »Schon gut! Aber Sie ziehen die falschen Schlüsse.« Bienzle setzte sich und betrachtete die Kosmetikerin nicht ohne Sympathie. »Und welche wären das?« »Annemirl hat nichts mit dem Mord an ihrem Mann zu tun.«
»Aber trotzdem brauchte sie ein Alibi?« Cordula starrte Bienzle überrascht an. Offenbar hatte er ins Schwarze getroffen. Sie nickte langsam. »Frau Kurz hat also einen Freund? Und Sie waren ihr Alibi, wenn sie ihn getroffen hat?« »Fragen Sie Frau Kurz. Von mir erfahren Sie den Namen jedenfalls nicht.« »Was sind Sie für ein Sternbild?« fragte Bienzle. »Steinbock, warum?« »Und wie ist Ihr Horoskop für diese Woche?« »Jupiter und Uranus signalisieren mir, daß ich auch gegen harte Gegner bestehen kann.« »Danke.« sagte Bienzle. »Und Frau Heiners, was ist die für ein Sternzeichen?« »Wassermann…« Frau Guntrum ging zum Computer und öffnete ihr Astroprogramm. »Der störende Einfluß des Mars verschwindet und wird durch eine starke Sonne-JupiterKonjunktion abgelöst. In der zweiten Wochenhälfte werden Sie sich so frei fühlen wie schon lange nicht mehr. Mit Elan stürzen Sie sich in die Arbeit und setzen sich durch. MarsMerkur positiv. Vorsicht: Partner könnte sich vernachlässigt fühlen.« »Den stört’s nicht mehr«, sagte Bienzle grob, »der ist ja ertrunken.« »Elaine hat die Hoffnung noch nicht aufgegeben«, sagte Frau Guntrum. Bienzle fuhr ins Präsidium. Neigenfindt erwartete ihn bereits aufgeregt. Noch bevor der Kommissar guten Morgen sagen konnte, schob der junge Jurist ein Blatt Papier über den Tisch. »Das Ergebnis der Telefonüberwachung.« Bienzle hängte seinen Mantel in den Schrank. »Lesen Sie vor!«
»Liebling, ich bin’s!« Bienzle hob die Augenbrauen, sagte aber nichts. Rosemarie Keindel kam herein. »Weiter«, sagte Bienzle. »Das war der Anrufer. Dann die Frauenstimme: Wo bist du jetzt? Und er: In Caracas. Alles ist gutgegangen. Was sagt denn der Anwalt? – Es wird ein Jahr dauern. Mindestens. Das war jetzt wieder die Frau. Ich kann mir allerdings nicht vorstellen, was sie damit meint«, fügte Neigenfindt noch hinzu. »Solange dauert es mindestens, bis einer für tot erklärt wird. Und dann zahlt auch erst die Lebensversicherung«, sagte Bienzle. Rosemarie Keindel sagte zu ihrem Chef: »Sie sollten heute nichts unternehmen. Ihr Horoskop hat für heute eine sauschlechte Sternenkonstellation beieinander.« »Ach Quatsch«, sagte Bienzle grob. »Saturn und Jupiter sind positiv, Mars und Pluto negativ. Was ich erreichen will, geht nicht so schnell wie erhofft. Ich muß mir Verbündete suchen. Aber ich hab ja euch!« Rosemarie starrte Bienzle mit großen Augen an. Neigenfindt schaute irritiert von einem zum anderen. Dann fuhr er unbeirrt fort: »Der Anrufer hat dann noch gefragt, wann die Beerdigung sei und ob… warten Sie, ich lese es wörtlich vor: Ist auf dieser Flanke alles in Ordnung!« Bienzle biß sich auf die Unterlippe. »Mein lieber Herr Gesangverein«, sagte er leise. Neigenfindt war noch nicht am Ende. »Die Tatwaffe ist möglicherweise registriert«, sagte er. »Wieso, wir haben bisher keine Tatwaffe gefunden.« Bienzle sah den jungen Mann forschend an. »Das Geschoß stammte aus einer Heckler und Koch 0,8 Millimeter. Eine Waffe dieses Fabrikats und dieses Kalibers ist auf den Namen Cornelius Reiners zugelassen. Natürlich wissen
wir nur, daß es die gleiche Waffe ist, ob es dieselbe ist, muß erst noch geklärt werden.« »Natürlich«, knurrte Bienzle. Die Tüchtigkeit dieses Neulings ärgerte ihn. Trotzdem sagte er: »Gute Arbeit!« Neigenfindt winkte ab. »Routine. Sollen wir eine Durchsuchungsanordnung für die Wohnung Reiners beantragen?« »Ich bin davon ausgegangen, daß Sie das längst gemacht haben«, sagte Bienzle und schämte sich gleich ein bißchen für seine Gehässigkeit. Staatsanwalt und Richter ließen sich Zeit mit der Durchsuchungsanordnung. Aber Frau Reiners lief ihm nicht davon. Bienzle fuhr nach Bad Cannstatt zu der Fabrik, in der Retzlaff beschäftigt war… gewesen war. Dichgans hatte ihn fristlos gekündigt und war damit auch bei der Personalabteilung durchgekommen. Für den Dienstagmorgen der vorausgegangenen Woche hatte Dichgans ein Alibi. Dr. Keitel auch. »Der Dichgans wird schon sehen, was er davon hat«, sagte Hans Joachim Retzlaff. Er saß vor einem Bier in der Kantine und war der einzige Gast. Kein Wunder, um diese Zeit. Bei der aktuellen Beschäftigungssituation ging niemand außer der Reihe in die Kantine. »Was wollen Sie denn jetzt machen?« fragte Bienzle. »Wenn in der Branche bekannt wird, daß ich frei bin, hab ich am nächsten Tag wieder einen Job«, sagte Retzlaff. »Und warum haben Sie dann nicht schon viel früher gewechselt?« Mit einem trostlosen Blick sagte Retzlaff: »Wir haben ja gedacht, daß wir gewinnen – der Kurz und ich!« Die Galeristin Elaine Reiners saß über dem Umbruch eines Ausstellungskatalogs, der sich ausschließlich mit den Werken
ihres Mannes befaßte. An der Wand lehnten gut zwanzig seiner Werke. Eine Mitarbeiterin hängte gerade die Bilder eines anderen Malers ab. »Sie vergeuden keine Zeit«, sagte Bienzle von der Tür her. Elaine sah nur kurz auf. »Cornelius wäre damit einverstanden gewesen, daß ich jetzt eine große Retrospektive mache.« »Wird das eine Verkaufsausstellung?« fragte Bienzle. »Ja sicher, das Leben muß ja weitergehen…« »Naja, wie man’s nimmt. Das von Fabian Kurz mußte ja auch nicht weitergehen. Bei Ihrem Mann Cornelius sieht das allerdings ein bißchen anders aus.« Die junge Frau, die an der Rückwand gerade ein Bild abstellen wollte, hielt mitten in ihrer Bewegung inne. Elaine Reiners wurde bleich. Gleichzeitig sah Bienzle, wie sich ein feiner Film aus Schweiß auf ihrer Stirn breitmachte. »Ich verstehe nicht, was Sie meinen«, sagte sie. »Ich habe eine richterliche Durchsuchungsanordnung«, Bienzle legte das Papier vor Elaine auf den Tisch. »Meine Kollegen werden gleich da sein.« »Sie haben was?« Elaine sprang so heftig auf, daß der Stuhl umfiel. »Oder können Sie uns die Waffe Ihres Mannes aushändigen?« »Die Waffe? Welche Waffe?« »Eine Heckler und Koch 0,8 Millimeter. Gekauft am 16. März letzten Jahres bei der Waffenhandlung Hiebeier. Dabei hat Ihr Mann einen gültigen Waffenschein vorgelegt. Die Waffe ist auf seinen Namen registriert.« »Ich verstehe kein Wort. Mein Mann ist ertrunken!« »Aber Fabian Kurz wurde erschossen, und zwar genau mit einer solchen Waffe.« Bienzle wich einen Schritt zurück. Elaine sah so aus, als wollte sie ihm gleich mit ihren langen grün lackierten Fingernägeln ins Gesicht fahren. Ihre
Augenfarbe hatte sich verändert und schimmerte jetzt wie Granit. »Ich habe keine Ahnung, was Sie sich da zusammenreimen«, zischte Elaine. »Ich will’s Ihnen sagen: Als der Plan geschmiedet wurde, daß Ihr Mann den eigenen Tod vortäuschen sollte, damit Sie beide gemeinsam in den Genuß seiner Lebensversicherung kommen konnten, hatten Sie und Ihre Freundin Annemirl Kurz die Idee, daß man zwei Fliegen mit einer Klappe… – naja, des isch jetzt koi so schöner Vergleich…« »Mein Mann ist tot«, schrie Elaine Reiners. »Ihre Freundin Cordula Guntrum sagt, Sie hätten noch Hoffnung. Und das kann man ja auch verstehen, wo Sie heut nacht um 2 Uhr 47 noch mit ihm telefoniert haben.« Er zog ein Papier aus der Tasche. »Da, Ihr Gespräch ist genau protokolliert.« Bienzle zog mit dem Fuß einen Stuhl heran und setzte sich. »Eigentlich war ja die Idee gar nicht so schlecht. Wenn einer, der eh gleich selber stirbt, noch schnell einen Mord begeht, wie will man da den Täter erwischen? Sie haben es zu dritt ausbaldowert: Sie, Annemirl Kurz und Ihr Mann Cornelius Reiners. Ein Trio infernal. Steinbock, Wassermann und… – Was ist Ihr Mann eigentlich für ein Sternzeichen?« »Schütze«, kam es von der Helferin aus dem Hintergrund. »Wie ich«, sagte Bienzle. »Ja, ja, der störende Mars-Einfluß. Und dann noch der Pluto mit seinen negativen Auswirkungen. Da hätt er dran denken müssen!« »Das sind doch alles Hirngespinste«, stieß Frau Reiners hervor. Aber Bienzle ließ sich nicht beirren. »Am Dienstag letzter Woche kam dem Herrn Kurz auf seinem Joggingpfad plötzlich sein alter Freund Cornelius Reiners entgegen. Die beiden begrüßten sich, redeten ein bißchen miteinander, vielleicht hat Ihr Mann seinem Freund ja noch erzählt, daß er am gleichen
Tag zum Tauchen nach Korsika fliegen wollte. Dann hat er seine Waffe gezogen und abgedrückt. Ins Neckarwasser war’s ja dann au nimmer weit.« »Ich sage nichts mehr. Kein Wort!« Es klang trotzig, aber schwach. Die Augen der Frau zeigten jetzt wieder ein stumpfes Grau. Ihre Hände zitterten. Bienzle bemerkte es, obwohl Frau Reiners die Hände fest ineinander verschränkt hatte. »Jetzt fragt sich nur noch, warum. Daß Sie’s miteinander geplant haben, und daß Ihr Mann den Kurz erschossen hat, ist klar. Aber warum? Ich meine, warum hat Cornelius Reiners ihrer Freundin Annemirl den Gefallen getan?« »Wir hatten Pläne«, sagte Elaine Reiners. »Mein Mann, Annemirl und ich. Wir hätten ja zwei Lebensversicherungen kassiert. Geld genug, irgendwo anders ganz neu anzufangen. Meinen Mann hat diese miese Provinz hier angeödet. Annemirl hat ihren Mann schon lange nicht mehr ausstehen können, und ich…«, ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, »ich mag beide sehr. Wir hätten es uns ganz schön gemacht. Aber dann muß so ein Spießer dazwischenkommen…« »Ich nehm an, damit bin ich gemeint«, sagte Bienzle. »Aber«, er hob fast entschuldigend die Schultern, »ich bin gern in der Provinz.« Er erhob sich ächzend. Draußen fuhren mehrere Polizeiwagen vor. In der Tür drehte sich der Kommissar noch einmal um und sagte: »Schöne Bilder malt Ihr Mann!«
Jerry Oster Ein Amerikaner in Florenz
Cullen wachte um vier Uhr nachts von einem Geräusch auf – mein Gott, vier Uhr. Hoffentlich war das keine Ratte. Schließlich gab es in Florenz genug davon. Firenze. Ziemlich große. Sie hatten sie vom Ponte Vecchio aus gesehen, wie sie im Arno herumschwammen und Brotstücke verschlangen, die Touristen in den Fluß geworfen hatten. Janet hatte sie Bisamratten genannt. »Das sind ordinäre Ratten«, hatte Cullen geantwortet, »große ordinäre Ratten.« Janet erschauerte und trat vom Geländer zurück. »Das hättest du mir nicht sagen sollen.« Du Ratte. Das Hotel stand fünfzig Yards vom Arno entfernt. Das heißt, fünfzig Meter natürlich. Für eine dieser großen Ratten war das nur ein Kinkerlitzchen. Raus aus dem Arno, die Mauer hoch, rüber über den Luggarno Boulevard – um vier Uhr war es natürlich völlig ruhig – an der Vorderfront der Albergo Raleigh vorbei, links in die Via dei Malcontenti hinein, und dann die Regenrinne zum ersten Stock empor, die Wand hoch bis zu einem schmalen Sims, noch eine Wand hoch bis zu einem breiteren Sims unter dem Fenster im zweiten Stock, das weit geöffnet war, um die laue Frühlingsluft hereinzulassen – notte di primavera –, ein kleiner Sprung auf den kostbaren Teppich, am Bettpfosten vorbei, ein Klimmzug nach rechts, rauf auf den kleinen Nachttisch auf Janets Seite, die Wand hoch zum Zimmersafe. La cassetta.
Der Safe. Was hatte eigentlich eine fette, beschissene Ratte am Safe verloren? Sie… oder er… sollte eigentlich drüben auf diesem Ding da – ja richtig, der Kommode – sein. Auf der Kommode sollte sie sein. Es waren schließlich Fressalien auf der Kommode: Bananen und Orangen von der frutteria aus der Via dei Malcontenti Richtung Santa Croce, dann ein Kanten Brot aus dem Korb vom Abendessen in dem Restaurant in Oltrarno, wo Janets Eltern vor dreißig Jahren schon gespeist hatten und wo Janet und Cullen gestern abend gewesen waren, sozusagen in den elterlichen Fußstapfen. Il Cinghiale Bianco, der weiße Eber. In Italien muß man für das Brot zahlen. Es kostet ungefähr so viel wie das Trinkgeld. Es stand auch auf der Speisekarte. Pane e coperto – Brot und Gedeck. Cullen ging seit einem halben Jahrhundert in New York zum Essen ins Restaurant und hatte noch niemals ein Gedeck gekriegt. Wenn man keinen Ärger haben will, gibt man fünfzehn Prozent Trinkgeld, und zwanzig, wenn man eine bestimmte Kellnerin im Auge hat. Niemals wäre es ihm dort eingefallen, ein Stück Brot einzustecken. Aber irgendwie verführte ihn die Tatsache, daß er dafür bezahlt hatte, dazu, das Brot in eine Serviette einzuschlagen und Janet zu geben, damit sie es in ihre Schultertasche tat. »Das ist nicht dein Ernst, oder?« »Es sieht gerade niemand hin. Mach es jetzt!« »Du kannst doch morgen früh wieder frisches Brot kaufen.« »Dazu müssen wir extra aufstehen, uns anziehen und auf die Straße gehen. Steck es jetzt ein.« Sie tat wie ihr geheißen, benahm sich aber derart auffällig, daß der Kellner auf sie aufmerksam wurde. Il cameriere. Er machte auf so eine typisch europäische Art »ts, ts«. Natürlich hatte er alles gesehen. Die Ratte zog einen Reißverschluß auf, wahrscheinlich den an Janets Brieftasche, wo sie auch den Paß drin hatte.
Warum wachte sie nicht auf und kümmerte sich darum? Schließlich war es auf ihrer Seite des Betts. Sie hatte diese Seite ja extra beansprucht. »Das ist meine Seite«, hatte sie gesagt und ihre Schultertasche dort plaziert. »Nah am Bad.« In ihrer Wohnung galt die gleiche Regel; sie schlief immer auf der Badseite, weil sie nachts oft zum Pinkeln aufstehen mußte. Er hatte nicht etwa vorgeschlagen, daß sie weniger Wasser trinken sollte – sie trank nämlich eimerweise Wasser, immer stand an ihrem Bett ein Glas aqua minerale naturale; nein, er versuchte, sein Leben nach den Regeln des berühmten Golflehrers Harvey Pennick einzurichten (Culien spielte keineswegs Golf, las aber gern Golfgeschichten), der gesagt hatte, man solle erst dann Ratschläge in der Kunst des Golfspielens geben, wenn man danach gefragt werde. In seiner Wohnung hatten sie nie übernachtet, sie kannten sich noch nicht allzu lange. Außerdem lebte er in Queens und sie in Jersey. Und jetzt waren sie hier in Florenz zusammen in einem Hotel ziemlich nah am Arno. Firenze. Sie arbeitete in einem Reisebüro und hatte sich um alles gekümmert. Culien streckte den Fuß aus und stieß sie mit der Ferse an, damit sie aufwachte. Die Ratte hatte Cullens Bewegung gehört und verhielt sich ganz still. Einige Zeit später öffnete die Ratte das Metallfutteral von Janets Sonnenbrillen-Etui. Cullen warf sich herum. Es waren genaugenommen zwei Ratten in Trainingsanzügen. Die im roten Trainingsanzug beugte sich über Janets Bettseite, die Ratte im schwarzen Trainingsanzug stand auf Zehenspitzen, um besser im Wandsafe herumstöbern zu können. Cassetta. »He«, schrie Cullen. Als er sich die Sache später noch einmal in Ruhe vergegenwärtigte, fand er es bemerkenswert, daß er geschrien hatte. Sogar im fraglichen Augenblick hatte ein Teil von ihm darüber reflektiert und es… wunderlich, bubenhaft, ja
sogar einfältig gefunden, daß er schrie: »He! He du! Was treibst du hier eigentlich, du, du… Ratte.« Irgendwie mußte er furchteinflößend oder wenigstens einschüchternd geklungen haben, denn die Ratten flohen am Bettpfosten vorbei, auf die Fensterbank und hinaus. Es waren junge, schnelle Ratten, und Cullen war langsam. Dazu trug er auch noch mitternachtsblaue Boxershorts mit dicken weißen Tupfen und ein schwarzes Chumbawamba-T-Shirt (I get knocked down, but I get up again. You’re never going to keep me down.). In einem solchen Aufzug hüpft man normalerweise nicht aus dem Bett, wenn Fremde im Schlafzimmer stehen. Aber Cullen sprang trotzdem aus dem Bett und kam noch rechtzeitig beim Fenster an, um die schwarze Ratte am Kragen des Trainingsanzugs – Adidas – zu packen, bevor sie an der Regenrinne auf die Straße hinuntergleiten konnte, der roten Ratte hinterher. Dazu muß man ein paar Worte über das Fenster verlieren. Es war im zweiten Stock, aber die Stockwerke waren keine zwei Meter hoch wie die in New York, sondern vier bis sechs Meter. Also baumelte die schwarze Ratte jetzt zehn, vielleicht sogar fünfzehn Meter über dem schmalen Bürgersteig der Via dei Malcontenti und war völlig einem Mann in komischen Unterhosen und einem Macho-T-Shirt ausgeliefert, der sie mit den Fäusten am Trainingsanzug gepackt in der Luft hielt. »Joe?« Jetzt endlich war sie wach. »Ruf die Bullen.« »Joe, was ist passiert?« »Ruf die Bullen.« Cullen klemmte sich an die Fensterbrüstung. Seine Oberarme waren außerhalb des Fensters an den Putz gepreßt, sein Brustkorb gegen das Fensterbrett, sein Torso gegen die Innenwand, er lag fast auf den Knien.
Janet kam zum Fenster und legte ihm die Hand auf die Schulter. Sie sah über seinen Kopf nach unten und sagte: »Oh, mein Gott.« »Janet, ruf die Bullen.« Die rote Ratte war noch immer unten. Der Junge stand auf der Via dei Malcontenti und sah zu seinem Freund hoch. Er überlegte, ob er wegrennen sollte. Immer wieder ging er leicht in die Knie, die Füße drehten schon auf dem Absatz, die Arme streckten sich, die Augen richteten sich in die Ferne, sein ganzer Körper war Fluchtimpuls. Dann hielt er wieder kurz an und sah über die Schulter nach seinem Freund. »Ruf die Bullen. Ich hab den anderen am Genick.« »Welchen anderen?« »Ruf die Bullen.« »Warum schreist du nicht? Schrei doch was.« »Janet, ruf die Bullen.« Statt dessen rief sie den Portier an. Sie war eben eine Reisebürotante. »Rezeption, ich bin auf due cento cinque. Hier war ein Raubüberfall. Rufen Sie die Polizei. La polizia. Wir brauchen Hilfe. Aiuto. Zwei null fünf. Verstehen Sie mich? Capisce?… Ja… Ja… Danke schön. Grazie. Sie kommen, Joe. Die Polizei kommt.« »Hol das Wörterbuch«, sagte Cullen. »Was bitte?« »Hol das Wörterbuch. Ich kann den Typen nicht mehr lange festhalten.« »Das Wörterbuch?« »Tu es einfach, Janet.« Unten am anderen Ende der Via dei Malcontenti glitt die rote Ratte langsam außer Sicht. Er sah zwar noch immer zur schwarzen Ratte hoch und bewegte auch den Oberkörper ein bißchen in Richtung Hotel, aber seine Seitwärtsschritte wurden immer größer, und er machte sich immer mehr davon, wobei er
sich ganz von selbst immer weiter vom Tatort entfernte, immer weiter weg von seinem baumelnden Freund. Amico. Der baumelnde amico sah, wie sein Freund verschwand. Er sagte kein Wort. »Ihr seid Profis«, sagte Cullen. »Keine Namen, kein Akzent, keine Indizien. Ihr seid gut. Woher wußtet ihr von dem Wandsafe, der cassetta? Habt ihr im Hotel gearbeitet? Oder arbeitet ein Freund von euch hier? Un tuo amico lavoro qui?« Die schwarze Ratte wurde schwerer, als hätte jemand eine zusätzliche Bürde auf die Schulter des Jungen geladen. »Hier!« Janet quetschte sich ebenfalls an die Wand und stieß das Wörterbuch in seine Richtung. »Hier ist dein verdammtes Wörterbuch.« Cullen verkniff sich eine bissige Antwort. Er sagte bloß: »Schlag Zeichen nach. Astrologisches Zeichen. Zeichen aus dem Tierkreis.« Janet zuckte mit den Händen. »Also gut. Welches willst du? Welches Wort? Sternzeichen, Tierkreis, was denn?« »Janet, ich kann diesen Typen nicht mehr lange halten. Bitte schlag das Wort für Sternzeichen nach.« »Sternzeichen.« Sie blätterte im Wörterbuch herum. »Sternzeichen…« Sie blätterte etwas zielgerichteter. Sie hielt inne. »Sternzeichen…« Sie schlug eine Seite auf, dann blätterte sie wieder zurück. »Stern, Stern…. Sternzeichen… Segno.« »He, du Arschloch«, sagte Cullen zu der schwarzen Ratte. Die schwarze Ratte hing absolut ruhig. Sie wußte ebensogut wie Cullen, daß es sehr dumm wäre, sich zu winden, weil sich dann Cullens Griff lockern und sie zehn Meter tief, vielleicht sogar mehr, auf den schmalen Bürgersteig stürzen würde. Vielleicht würde er auch auf dem Dach des kleinen roten Autos aufschlagen, das auf der Via dei Malcontenti direkt unter dem Fenster parkte.
»He, du Arschloch«, sagte Cullen. »Quale è il tuo segno? Was ist dein Sternzeichen?« »Joe«, sagte Janet. »Qual’ e il tuo segno?… Capisci?« »Joe?«
»Qual’ è il tuo segno?« fragte Joe und fügte hinzu:
»Arschloch. Il tuo segno zodiacale?« »Sagittario«, sagte die schwarze Ratte. »Sag’s noch mal«, sagte Cullen. »Ancora una volta.« »Sagittario.« »Schütze also.« »Sagittario.« »Janet?«
»Was willst du? Ich glaub das einfach nicht. Was willst du?«
»Guck nach, was Geburtstag heißt.«
»Compleanno«, sagte die Ratte.
»Compleanno«, sagte Cullen. »Quando e il tuo compleanno?
Capisci?« »Si, capisco«, sagte die schwarze Ratte. »Allora, quando?« »Il ventidue di novembre«, sagte die schwarze Ratte. »Was für ein Jahr?« »Come?« »Ich kann dich nicht mehr lange halten. Was für ein Jahr? Anno? Quale anno?« »Mile novecent ‘ottanta.« »Neunzehnhundertachtzig. Du bist also – laß mich rechnen – neunzehn. Mein Sohn ist neunzehn.« »Tuo figlio?«
»Si. Ho una figlia anche. Ha venticinque anni.«
»Come si chiama Lei?«
»Io, o la mia figlia?«
»Tu – e lei.«
»Mi chiamo Joe. Lei si chiama Stephanie. Alle nennen sie Tenny.« »Joe«, sagte Janet. »Ich kann ihn nicht mehr sehr lange halten. Ich kann dich nicht mehr halten. Non posso… hold you.« »Joe, kann ich denn nicht irgend etwas tun?« »Wie sagt man, daß es einem leid tut?« »Was?« »Vergiß es.« »Es tut mir leid? Wovon sprichst du eigentlich? Es tut dir leid. Was tut dir leid?« »Mann, vergiß es. Ich hab doch gesagt, vergiß es.« »Signore«, sagte die schwarze Ratte. »Mi dispiace.« »Genau so heißt es«, sagte Cullen. »Mi dispiace.« Dann ließ er die Ratte los. Die schwarze Ratte fiel nicht ganz gerade, ihre Füße schlugen auf dem Dach des kleinen roten italienischen Autos auf, das auf der Via dei Malcontenti parkte. Er überschlug sich und landete mit dem Rücken auf dem Bürgersteig. Sein Kopf knallte mit einem üblen Geräusch auf den Asphalt. Einer der poliziotti sah wie Peter McNichol aus, der andere wie ein Dolce&Gabana-Modell. Der erste nannte sich Tedeschi, der zweite Archangeli. Falls Archangeli irgendeine Sprache beherrschte, gab er es nicht zu erkennen. Tedeschi sprach ein altmodisches Englisch. »Schön ist es hier, nein?« sagte er, als er die beiden in ein Büro auf der Polizeiwache schob. Der Raum wirkte weniger wie ein Büro, als vielmehr wie ein Lagerraum für überdimensioniertes Büromobiliar. Es gab zwar einen riesigen Schreibtisch, aber alle Schubladen waren verschlossen. Tedeschi mußte in einen anderen Raum gehen, um ein Formular und einen Kugelschreiber zu holen. Hinter dem
Schreibtisch stand ein riesiger Stuhl, aber es gab keine weiteren Stühle, also mußte Tedeschi Archangeli in den Vorraum schicken, damit er Stühle für Cullen und Janet holte. Es gab auch einen riesigen Stahlschrank, aber die Türen standen offen, und es war lediglich eine riesige Schuhschachtel mit riesigen Karteikarten zu sehen. Es gab auch ein riesiges Telephon auf dem Schreibtisch, aber wenn Tedeschi telephonieren wollte, mußte er in einen anderen Raum gehen und den dortigen Apparat benutzen. An der Wand hing eine riesige Karte. Es war eine Karte von Florenz. Mit bunten Filzstiftstrichen war die Stadt in fünf Bezirke aufgeteilt. Cullen füllte das Formular aus, das in Englisch, Französisch und auch Deutsch gehalten war, gab es Tedeschi zurück, der damit wiederum in den Vorraum ging, um eine Kopie an dem riesigen Kopierer anzufertigen. Die Maschine hatte Papierstau, also lief Tedeschi den Flur hinunter und die Treppe hinauf. Er war ziemlich lange weg. Archangeli rauchte. Cullen berührte die Kuppe seines linken Zeigefingers mit seinem linken Daumen. Janet lümmelte sich auf einen Stuhl und betrachtete intensiv die Spitze eines gespaltenen Haares. Tedeschi kam zurück, in der einen Hand die Zeugenaussage, in der anderen die Kopie. Er erhob seine Hand zu einem Siegeszeichen. Cullen lächelte, Archangeli ebenfalls. Janet ließ ein verächtliches Schmatzen vernehmen. Nachdem Tedeschi die Aussage gelesen hatte, strich er sie glatt und legte sie akkurat vor sich auf den Schreibtisch. »Sie sind ein giornalista… ein Reporter?« »Ich bin ein Cop. Ein Detective Sergeant.« Cullen legte seine Marke auf den Tisch. Er setzte sich zurück und legte die Fingerspitzen aneinander. Archangeli, der eine silberne Killer-Loop-Sonnenbrille trug, verrenkte den Hals, damit er die Polizeimarke sehen konnte.
Tedeschi nahm sie in die Hand und inspizierte sie von allen Seiten. »Ihr Bericht. Er hat viele Einzelheiten«, sagte Tedeschi. »Wie ein Polizeibericht.« Er nahm die Aussage vom Tisch und las vor: »Täter A war zwischen 168 und 175 Zentimeter groß, wog 60 bis 65 Kilo, schwarzes Haar, dunkle Augen, keine besonderen Kennzeichen. Schwarzer Adidas-Trainingsanzug, schwarze Adidas-Samba-Schuhe…« Er legte die Aussage auf den Tisch. »Sie konnten sogar la marca, die Marke erkennen?« »Das Logo«, sagte Cullen. »Da sind Logos. Sie sind so entworfen, daß man sie gut erkennen kann. Meine Kinder haben Soccer gespielt… Fußball. Sie haben Sambas getragen.« Tedeschi nickte. »Diese… Täter, wie Sie sagen, haben sie nie miteinander gesprochen?« »Nie. Sie waren gut.« »Also wissen Sie nicht, ob sie waren… Albanese?« »Sie sahen italienisch aus. Wie Jungs von Bay Ridge.« Cullen berührte seine Fingerkuppe. »Bey Rich?« fragte Tedeschi. »Ein Viertel in New York, Brooklyn. Ein italienisches Viertel.« »Brooklyn«, sagte Tedeschi. Dann sagte er es noch einmal, als hätte er das schon immer einmal sagen wollen, aber nie die Gelegenheit dazu gehabt. »Brooklyn.« Archangeli lächelte. »Brooklyn«, sagte auch er und versank dann wieder in seine teilnahmslose Starre. »Der Typ an der Fensterbank hat etwas gesagt. Er sprach italienisch. Es klang wie seine Muttersprache. Scheint so, als wollten Sie, daß es – Albaneser waren, aber ich glaube, es waren Italiener.« Tedeschi runzelte die Stirn, weil Cullen seinen Fehler nachgemacht hatte… Albaneser… und weil er sich die
Situation vorzustellen versuchte. »Er… er hat geschrien, hat gebrüllt, als er gefallen ist?« »Nein, ich habe mit ihm geredet… ich habe ihm eine Frage gestellt.« Janet rückte vor und versuchte, in die Testosteronblase einzudringen, die den Schreibtisch umgab. »Er hat ihn nach seinem Sternzeichen gefragt.« Tedeschi sank in den Stuhl zurück und preßte Daumen und Fingerspitzen zusammen. »Sternzeichen?« »Sein astrologisches Zeichen. Sein verdammtes segno.« Tedeschi sah zu Archangeli hinüber, der zwischenzeitlich versteinert oder zumindest in einen tiefen Schlaf gefallen war. »Das hat er meinetwegen gemacht«, sagte Janet. »Er wollte mir eins auswischen.« »Janet«, sagte Cullen. Sie rückte von ihm weg, als hätte er sie berühren wollen. Aber er hatte sich nicht bewegt. Tedeschi räusperte sich. »Sie haben mit diesem jungen Mann… über astrologia gesprochen?« Janet beugte sich erneut vor. »Ja, wegen mir. Wegen unserer ersten Verabredung… wir hatten ein Blind date, man hat uns zusammengebracht. Eine Freundin von ihm ist in meinem Buchklub. Sie dachte, wir hätten einiges gemeinsam… bei unserem ersten Treffen hab ich ihn sofort nach seinem Sternzeichen gefragt. Es war ein Scherz, so was hat man sich in den Sechzigern gefragt. Er hat bei mir geklingelt. Ich wohne in Hoboken und er in Queens. Geographisch passen wir überhaupt nicht zusammen, aber er sagte, es würde ihm nichts ausmachen, nach Jersey zu fahren. Das hat mich sehr angesprochen. Ich dachte, daß er wirklich nett war. Also, er hat bei mir geklingelt, und bei mir im Haus gibt es keinen automatischen Türöffner. Ich mußte die Treppe runterkommen. Ich meine, wir wären sowieso weggegangen, in ein Restaurant
natürlich. Also, ich bin runtergelaufen, und er stand auf der Schwelle, ich konnte ihn durch die Glastür sehen. Er hat mir sofort gefallen, es war eine schöne Frühlingsnacht, das Licht war schön, er sah gut aus, ich sah gut aus. Ich hatte meine neuen, engen Ann-Taylor-Hosen an, ich habe nämlich großartige Beine, Sie haben das sicher bemerkt, Kommissar Tedeschi, er jedenfalls hat es bemerkt…« – Archangeli wachte auf oder verwandelte sich in Fleisch und Blut zurück und verdrehte den Hals – »… ich habe das mit dem Sternzeichen als Scherz gemeint, aber er hat gedacht, daß ich es ernst meine, er dachte, daß Sternzeichen mir wichtig sind. Damals hat er nichts gesagt, aber nun stellt sich heraus, daß ihm das total auf den Wecker geht. Wir sind seit sechs Monaten zusammen, und es macht ihn völlig verrückt, daß ich ihn nach seinem verdammten Sternzeichen gefragt habe. Sechs Monate tut er, als sei alles in Ordnung… Ach, leck mich«, sagte Janet, schrammte den Stuhl über den Fußboden, stand auf und verließ den Raum. Archangeli saß auf der Stuhlkante. Tedeschi sah Cullen an. »Es ist noch nicht hell. Es ist zwar nicht weit zum Hotel, aber sie sollte nicht allein auf der Straße laufen.« »Zu viele Albaneser?« fragte Cullen. Tedeschi verschränkte beleidigt die Arme vor der Brust. »Tut mir leid«, sagte Cullen. »Mi dispiace.« »Non c’è diche.« Cullen berührte seine Fingerspitzen. »Wären Sie so freundlich, Sie nach Hause zu bringen?« Tedeschi sah zu Archangeli hinüber. Archangeli stand auf und verließ den Raum. Im anderen Zimmer klingelte ein Telephon. Tedeschi betrachtete das riesige Telephon auf seinem Tisch, als wünschte er, daß es ebenfalls läuten würde. Das andere
Telephon klingelte und klingelte. Tedeschi stand auf und verließ den Raum. Das Klingeln hörte auf. Tedeschi sagte: »Si?… St… Si… Si… Si. Ciao.« Er kam zurück und setzte sich. Er sah Cullen nicht an. Er betrachtete ein paar Papiere auf dem Tisch, die nicht ihm gehörten. »Er ist tot«, sagte Cullen. Tedeschi zuckte die Schultern. Cullen berührte seine Fingerspitze. »Ihre Hand… tut es weh?« sagte Tedeschi. »Ich… Ich glaube, ich habe mich am Putz geratscht, an der Wand, am Hotel. Ich wollte ihn erreichen. Den toten Mann.« »Ho un’impiastro«, sagte Tedeschi. »Ja«, sagte Cullen. »Das wäre nett.« Tedeschi hatte gemeint, daß er in den Hosentaschen seiner Uniform ein Heftpflaster hatte. Er fummelte es heraus, zog die Schutzfolie ab und wickelte es um Cullens Finger. Es war deutsches Heftpflaster. Hansaplast. »Guter Verband«, sagte Cullen. »Danke… Ihr Name… er bedeutet ›Deutsche‹.« Tedeschi zuckte die Schultern. »Sie haben Italienisch gelernt, für die Reise?« »Ein paar Vokabeln«, sagte Cullen. »Uscita, entrata, dogana, bagno, aperto, chiuso. Chiuso per restauro.« Tedeschi lachte. »Chiuso per restauro.« »Wir wollten Caravaggios sammeln«, sagte Cullen. »Aber der Caravaggio-Saal in den Uffizien war chiuso per restauro.« »Sammeln«, sagte Tedeschi in einem Tonfall, als sei er gerade über den Kunstraub des Jahrhunderts gestolpert. »Wir wollten uns so viele ansehen, wie wir können. In New York gab es eine Ausstellung – wir sind nämlich aus New York – Caravaggio and the Caravaggisti – , und da gab es nur einen echten Caravaggio und einen Haufen schlechter
Imitationen. Also haben wir beschlossen, uns so viele echte anzusehen, wie wir auftreiben können. In Rom haben wir sechs gesehen – zwei davon in Santa Maria del Popolo: Die Bekehrung des Heiligen Petrus und die Kreuzigung des Paulus; drei hingen in San Luigi di Francesi: Szenen aus dem Leben des Matthäus; einer im Vatikanischen Museum: die Kreuzabnahme. Dann haben wir sogar einen als Bonus gekriegt, das war erst gestern, in der Santa Maria del Carmine. Wir sind eigentlich hingegangen, um die Fresken von Masaccio und Filippino Lippi zu sehen, aber da hing auch ein Caravaggio, Salome und Johannes der Täufer. Normalerweise ist das Bild in Malta. Caravaggio hat nämlich in Malta gelebt, aber das Bild ist hier, weil es restauriert werden muß – restauro. Es wird nur einen Monat lang ausgestellt. Es ist ein außergewöhnliches Gemälde. Riesengroß und voller Leben und Energie. Blutig, sehr blutig, aber, mein Gott… haben Sie es gesehen?« Tedeschi zuckte die Schultern und errötete. »Ich war nie in der Carmine-Kirche.« »Wirklich? De vero?« Ein weiteres Zucken. »Sono di Firenze. Ich bin hier zu Hause. Non sono turista.« »Es tut mir leid. Mi dispiace. Das war keine Kritik. Ich bin nur überrascht. Das sollte ich natürlich nicht sein. In New York gibt es viele Orte, an denen ich nie gewesen bin. In dreißig Jahren bin ich nicht ein Mal im Frick-Museum gewesen, obwohl es eines der besten kleinen Museen der Welt ist.« Tedeschi zuckte mit den Händen und hob fragend den Kopf: »Das Freek?« Cullen schüttelte den Kopf: »Es ist nicht wichtig.« Sie setzten sich hm. Dann sagte Tedeschi: »Und jetzt Sie haben das Wort segno gelernt?«
Cullen hörte in seinem Tonfall etwas heraus: »Glauben Sie denn daran… an Astrologie?« »Glauben?« Cullen wedelte mit den Fingern. »Ehm, credere.« Tedeschi stand auf und ging in den Vorraum. Er kam mit einer Zeitung zurück. Er schlug sie auf und breitete sie mit beiden Händen aus, als wolle er damit losfliegen. Dann faltete er sie auf einer bestimmten Seite und legte sie auf den Schreibtisch. »Was war sein segno? II morto?« »Sagittario. Schütze.« Tedeschi las vor: »›Sagittario. Ventidue di novembre a ventuno di dicembre. Lavoro: comincia pure un nuovo progetto o un nuovo lavoro, ti darà soddisfazioni e possibilità di crescita professionale.‹… Capisce?« »Das meiste. Fangen Sie ein neues Projekt oder einen neuen Job an. Es wird Ihnen große Zufriedenheit und die Möglichkeit von beruflichem… also… Fortkommen bieten.« »Molto bene. Ecco… ›Soldi: è un buon giorno per fare investimenti o aprire nuovi conti.‹« »›Aprire nuovi conti‹?« fragte Cullen. »Soll ich neue Konten eröffnen?« »Giusto. Ecco… ›Amore: ti aspetta un piccolo dolore, ma ne uscirai più forte diprima. Riusciraia colmare la distanza con qualcuno con cui avevi rotto I rapporti.‹« Cullen schüttelte den Kopf. »Das versteh ich nicht. Non capisco.« »Ein kleiner Kummer wartet auf Sie, aber danach werden Sie stärker sein als vorher. Es gelingt Ihnen, jemandem wieder näherzukommen, mit dem Sie gebrochen hatten.« Cullen sah auf die Uhr. »Na ja, es ist noch früh. Wenn er es überlebt hätte, hätte er noch die Chance gehabt und wäre vielleicht auf jemanden zugegangen, von dem er sich getrennt
hat. Das Horoskop kündigt einem schließlich nicht an, daß man sterben wird.« »Wann sind Sie denn geboren?« fragte Tedeschi. »Am zweiundzwanzigsten Januar. Wassermann.« Tedeschi las: »Acquario. Lavoro: Attento: si presentera una questione che rimarrà in stallo finchè una delle due parti non si decida a fare il primo passo per sbloccarla. Sii flessibile el disponibile (nei limiti del ragionevole, naturalmente).« Cullen lachte. »Seien Sie flexibel und offen für alles, mehr hab ich nicht verstanden.« »Das ist ausgezeichnet. Disponibile. Ausgezeichnet.« »In Französisch ist es das gleiche Wort«, sagte Cullen. »Disponible. Frei, unvoreingenommen. Und was heißt der Rest?« Tedeschi übersetzte: »Attento kennen Sie, nicht? Vorsicht. Seien Sie vorsichtig, wenn Sie auf ein Problem stoßen, daß in stallo ist. In stallo bedeutet…« »Patt? Man kann sich weder in die eine noch in die andere Richtung bewegen?« »Ecco… ein Problem bleibt im Patt, bis sich die eine oder andere Partei entscheidet, den ersten Schritt zu machen, um…?« »Das Patt aufzulösen.« »Ecco. Gut, genau. Ihr Italienisch ist sehr gut…. Amore: ti aspetta una sorpresa, qualcosa di inaspetto che potrebbe persino cambiare la tua vita. Cosa sarà? Haben Sie verstanden?« »Eine Überraschung. Etwas Unerwartetes. Es könnte mein Leben ändern. Was könnte das sein?« »Cosa sarà?« sagte Tedeschi. Sie setzten sich. Cullen spreizte die Hände. »Wie auch immer. Ich glaube eigentlich, daß…«
Tedeschi hob ermutigend sein Kinn. »Was?« »Das ist einfach zu allgemein. Das kann man auf alles applizieren.« Tedeschi schüttelte hilflos den Kopf. »Applizie…« »Es paßt auf alle. Das kann sich auf das Leben von jedem Menschen beziehen. Das ist… so vage, so unspezifisch«, Cullen fuchtelte mit den Händen, »das ist… ach, einfach Bullshit.« Tedeschi lachte. Cullen lachte. Sie setzten sich. Tedeschi hob die Hand und zeichnete mit dem Zeigefinger einen Kreis in die Luft. »Was heißt das, auf Ihrem T-Shirt?« Cullen sah an seinem Bauch herunter. »Chumbawamba ist eine Band, eine britische Band. ›Tubthumping‹ heißt ein Song von ihnen.« Tedeschi malte weiter Kreise in die Luft. »Und was heißt das auf dem Rücken…?« Cullen stand auf und drehte den Kopf, so daß er auf seinen Rücken sehen konnte. Tedeschi entzifferte: »›I get knocked down, but I get up again. You’re never going to keep me down.‹« Cullen setzte sich wieder. »Das ist eine Zeile aus dem Song. Im letzten Sommer war das ein großer Hit.« »Singen Sie vor.« »Nein, das mache ich nicht. Ich singe überhaupt nicht, außer wenn ich allein bin.« »Aber Sie sind ein Musiker. Sie lieben Musik.« »Ich liebe Musik, aber ich bin kein Musiker.« »Aber Sie sind ein gebildeter Mann. Sie sprechen Französisch.« »Nur ein paar Worte. Mehr als Italienisch, aber nicht viel mehr.«
Tedeschi zuckte die Schultern. »Sie sind ein conoscitore. Sie wissen viel über Malerei.« »Nur ein bißchen. Die Bilder in ihrem kulturellen Kontext zu sehen war eine Art von Offenbarung. Ich habe viele von ihnen vorher nur in Büchern und als Dias gesehen, aber ich hatte keine Vorstellung davon, wie sie ausgestellt waren. Wir haben in Rom die Bekehrung des heiligen Paulus der Santa Maria del Popolo fast übersehen. Es ist vermutlich Caravaggios berühmtestes Bild, aber es ist kein Hinweis zu sehen, nichts an den Kirchenwänden, keine Zeichen, keine Hinweisschilder. Wir sind direkt an der kleinen Kapelle vorbeigelaufen, weil es dunkel war, völlig dunkel. Beinahe wären wir wieder gegangen. Aber an der Tür hing ein Verkaufsautomat. Mit Postkarten. Ein antiker Automat, sehr alt. Er hat mich an solche alten Selbstbedienungsautomaten erinnert… wie früher in diesen Automatenrestaurants in New York. Da hat man Geld in den Schlitz geworfen, ein kleines Glasfenster hochgehoben, und das Essen stand dann in einem kleinen Kästchen. Und dort in der Kirche war auf einer Postkarte der heilige Paulus, wie er auf dem Weg nach Damaskus von seinem Pferd geworfen wird. Also sind wir zurückgegangen und haben das Gemälde schließlich gefunden. Wir haben eine Münze in den Geldautomaten für die Beleuchtung geworfen, und es war einfach unglaublich. Absolut herrlich. So war es auch in der Carmine… völlig unerwartet, auf dieses Gemälde zu treffen.« »Sie möchten da gerne hin?« fragte Tedeschi. »Also… haben Sie denn keine Fragen mehr? Sind wir hier fertig?« »Sie müssen noch mit dem Staatsanwalt reden. Das ist eine Formalität. Aber sein Büro ist nicht vor zehn geöffnet. Also könnten wir zusammen gehen… in die Carmine.« »Zur Carmine?«
»Giusto. Ja… Sie sind nicht sicher? Sorgen Sie sich um Ihre Freundin? Sie können sie anrufen.« Cullen schüttelte den Kopf. »Ich glaube, sie hat die Koffer gepackt und ist weg. Nachdem…« »Nachdem…?« »Ich glaube, daß sie vielleicht mit Ihrem Kollegen geschlafen hat.« Tedeschi nickte. »Er würde sicher gerne mit ihr schlafen.« Cullen sah auf die Uhr. »Da muß ich ja noch ein paar Stunden totschlagen, also warten, Zeit verbringen.« »Zeit totschlagen, ja, diesen Ausdruck kenne ich«, sagte Tedeschi. Er erhob sich und setzte seine Mütze auf. »Dann auf zur Carmine.« »Wird denn offen sein?« »Wir werden öffnen lassen. Wir sind die Polizei.« Cullen lachte und stand ebenfalls auf. »Zur Carmine.« An der Kirche der Santa Maria del Carmine arbeitete ein amerikanisches Fernsehteam. Kleinlaster, Zugmaschinen und ein Winnebago-Brave-Wohnwagen. Ein Party-Service hatte ein Zelt aufgebaut, und die Fernsehleute standen mit Styroporbechern und süßen Stückchen herum. Aus ihren Hüfttaschen ragten Mineralwasserflaschen, die sie für später eingesteckt hatten. Sie trugen Turnschuhe, Jeans, schwarze TShirts und schwarze Baseballkappen, auf denen vorne in weißen Buchstaben DAWN PATROL stand. »Bullshit«, sagte Tedeschi. Cullen lachte. »Wenn man ärgerlich oder enttäuscht ist, dann sagt man bloß ›shit‹.« »Shit«, sagte Tedeschi. Cullen lachte. »Joe?« sagte eine Frau.
»Gibt es eine Hintertür? Vielleicht können wir dort hineinkommen?« fragte Cullen. »Joe!« »Wir können nachsehen«, sagte Tedeschi. Sie gingen von den Fernsehleuten weg auf eine Ecke der Kirche zu. »Joe Cullen!« Cullen hatte diese Situation in den letzten sieben Jahren immer mal wieder geprobt; geübt, wie er sich zum Ton ihrer Stimme umdrehen würde, und wie er die Augen ein wenig zusammenkneifen würde, ein wenig ungläubig und unsicher; wie sich seine Lippen zu einem kleinen Lächeln verziehen würden, nur zu einem kleinen, nicht zu einem breiten Lächeln; wie er bewegungslos stehenbleiben, sich weder zu ihr hin, noch von ihr weg bewegen würde. Er hatte geübt, was er sagen würde… nur ihren Namen, Ann; nicht etwa Annie (Hatte er sie jemals Annie genannt? Er erinnerte sich nicht mehr. Sie würde sich erinnern. Wenn er sie Annie nennen würde und das niemals zuvor getan hätte, würde sie das kommentieren und sagen: »Ach, sind wir jetzt bei Annie? Du hast mich nie Annie genannt.«)… und wie er Ann sagen würde, ohne Betonung, nur mit einem kleinen Anflug von Überraschung, so als sei er über sich selbst überrascht, wirklich, daß er überhaupt noch ein Interesse daran zu haben schien, sich mit ihr zu unterhalten. Er drehte sich um. Sie gehörte zu den Leuten mit Turnschuhen, Jeans, schwarzem T-Shirt und schwarzer Baseballkappe mit der dicken weißen DAWN PATROLAufschrift. Wie immer trug sie eine farbig getönte Sonnenbrille, diesmal verwischte halbdunkle Gläser. »Ann.« Seine Lippen zitterten, als er ihren Namen aussprach, ihm versagte die Stimme, seine Zunge verdickte sich und wurde groß und trocken. Soviel zum Erfolg von Proben. Soviel
für den Gedanken, daß es vorbei ist; dabei ist es nie vorbei, bevor es wirklich vorbei ist. »Mein Gott.« »Mein Gott«, sagte Ann Jones. Sie kam zu ihm herüber und legte die Hand auf seinen Arm. »Du siehst großartig aus. Es ist so schön, dich zu sehen.« »Du siehst großartig aus.« »Es ist so schön, dich zu sehen.« »Es ist schön, dich zu sehen.« Tedeschi legte die Hand vor den Mund und räusperte sich lautlos. »Entschuldigung«, sagte Cullen »Ann Jones, das ist… Entschuldigung, ich kennen Ihren Dienstrang nicht.« Tedeschi nahm Anns Hand, hob sie leicht an und beugte sich für einen Handkuß darüber. »Ich heiße Tedeschi, Paolo.« Ann errötete. Sie faßte sich an den Hals. »Ann Jones. Piacere!« »Ilpiacere è da parte mia«, sagte Tedeschi. Ann sah Cullen an. Cullen sah Ann an. Sie lachten. Dann sagten sie gleichzeitig: »Was machst du denn hier?« Sie lachten beide noch einmal. Cullen sagte: »Du arbeitest hier. Das ist leicht zu erkennen. Dawn Patrol? Zuletzt habe ich gehört, du seist in Kalifornien. Wird Dawn Patrol nicht in New York produziert?« »Ich bin schon seit einem Jahr zurück… nächste Woche ist es ein Jahr. Ich bin gerade zur Produktionsleiterin ernannt worden. Das ist meine erste Show. Wir drehen ein paar Szenen in Italien, das ist ja kaum zu übersehen, alle über Kunst, die seit Jahren nicht mehr ausgestellt war und jetzt zum Heiligen Jahr aufpoliert wird. Hier hängt ein außergewöhnlich schöner Caravaggio. Du mußt ihn dir unbedingt ansehen.« Ein ganzes Jahr, wo er sie zufällig hätte treffen können, aber es war nicht passiert.
Ein Kabelträger trat zu ihnen, oder ein Elektriker oder ein Tontechniker. »Noch zehn Minuten, Annie.« Cullen hatte das Bedürfnis, ihn zu Boden zu werfen und ihm den Fuß an die Kehle zu setzen. Ihr Name war Ann. »Das ist Brad«, sagte Ann. »Brad, das ist Joe, ein Freund aus New York. Und Paolo, ein neuer italienischer Freund.« Cullen starrte drohend zu Tedeschi hinüber, damit er nicht auf die Idee kam zu lächeln. »Hallo, Jungs«, sagte Brad und schüttelte ihnen beiden kumpelhaft die Hand. Ann bat Cullen mit einem Blick, etwas Unverbindliches zu sagen. Schließlich lachte sie und sagte: »Also, wenn man in Florenz ist, dann…« Cullen hob die Augenbrauen. »Na, du weißt schon, das Sprichwort, wenn man in Rom ist, soll man sich wie die Römer benehmen. Wenn du in Florenz bist, dann treibst du dich eben mit den Cops rum, wenn du schon mal ein Cop bist. Bist du wegen der Arbeit hier?« Sie wandte sich zu Tedeschi. »Tut mir leid, ›Cop‹ meint nichts Böses…« Er verneigte sich erneut. »Ja, wir sind Cops. Poliziotti.« Dann verbeugte Tedeschi sich noch einmal. Wenn sie weiter so hingerissen war, dann würde Cullen ihn umbringen. »Ich arbeite hier nicht. Ich bin… also… ich bin vorläufig festgenommen.« Sie wich zurück. »Was?« »Zwei Männer sind in unser Hotelzimmer eingebrochen, in der Nacht, wir haben geschlafen. Ich… also… ich habe einen von ihnen getötet.« »Joe.« Sie griff wieder nach seinem Arm und hielt seine Hand.
Er hatte sich nie von ihr trennen wollen. Er hatte alles mögliche ausprobiert, um ihr Mitleid zu erregen, aber Mord war ihm nie eingefallen. Was für ein Blödmann er doch war. Er hätte nur zum Serienkiller, Massenmörder, Attentäter werden müssen, und sie hätte ihn überall gestreichelt. Aber sie ließ ihn los. »Unser Hotelzimmer… Also bist du mit jemandem hier?« »Das war ich. Ich glaube, sie hat mich verlassen. Sie war sauer.« »Sauer, warum?« Dann winkte sie ab. »Das geht mich natürlich nichts an.« »Hast du dein Horoskop gelesen?« fragte Cullen. »Mein Horoskop?« »Gott, wie sehr mir die täglichen Horoskope in Italien fehlen«, sagte Brad. Brad stand immer noch herum. »Wo haben Sie denn hier ein Horoskop gefunden?« Cullen sagte zu Tedeschi. »Sie ist auch Schütze. Fünfzehnter Dezember, nicht wahr?« Sie gab sich Mühe, ihre Freude darüber, daß er sich daran erinnerte, nicht allzu offensichtlich zu zeigen. »Fünfzehnter Dezember.« Zu Tedeschi sagte er: »Es ist ihr Horoskop und nicht das von dem Albaneser.« »Dem Albaneser?« fragte Ann. »Ich bin Fische«, sagte Brad. Zu Ann sagte Cullen: »Du wirst ein neues Projekt anfangen oder einen neuen Job. Es wird dir Zufriedenheit bringen und die Möglichkeit von…« Er fragte Tedeschi: »Wie hieß es?« »Crescita professionelle.« Zu Ann sagte er: »Berufliches Fortkommen.« »Aha«, sagte Ann.
Er wandte sich wieder an Tedeschi. »Das Zeug über Geld ist nicht so wichtig, aber was stand da über die Liebe?« »Geld soll nicht wichtig sein?« fragte Brad. »Entschuldigen Sie, mein Freund«, sagte Tedeschi. »Vergessen Sie nicht… aprire nuovi conti. Das könnte una metafora sein.« Cullen schnippte mit den Fingern. »Sie haben recht. Giusto.« Zu Ann sagte er: »Es ist der richtige Tag, neue Investitionen zu tätigen oder neue Konten zu eröffnen.« »O.k.«, sagte Ann. »Das werde ich tun. Ich ruf meinen Broker an, wenn wir hier einpacken.« Cullen sah ihr direkt in die Augen. Sie zeigte ihm die Uhr. »Jetzt kann ich nicht anrufen. Es ist ein Uhr nachts in New York.« »Unsere Broker schlummern jetzt süß«, sagte Brad. »Außer denen, die in Tokio Handel treiben.« Cullen nahm Anns Arm und sah sich die Uhr an, ein Imitat einer alten Bulova mit rosa Ziffernblatt und braunem Armband. Er hatte sie ihr zum Geburtstag geschenkt. Sie zog den Arm zurück und errötete. »Ich muß zur Arbeit.« »In der Liebe«, sagte Cullen, »erwartet dich ein wenig Kummer.« Sie berührte seine Hand. »Joe, du solltest zum Arzt gehen. Vielleicht hast du einen Schock.« »Das ist wahr«, sagte Tedeschi. »È vero.« Ann nickte nachdrücklich. »Siehst du?« Tedeschi sprach weiter. » Ti aspetta un piccolo dolore, ma ne uscirai più forte diprima.« »Danach wirst du stärker sein als zuvor«, sagte Cullen. Brad schlug die Hand vor den Mund. »Das paßt auf Francois! Du bist zwar jetzt traurig, aber ohne ihn bist du viel besser dran.« Cullen kratzte im Geiste Francois die Augen aus.
Ann biß sich auf die Lippe. »Seit wann sprichst du Italienisch?« Sie trat einen Schritt zurück. »Ich muß arbeiten.« Tedeschi hob die Hand, als wolle er sie segnen wie ein Priester. »Sein Horoskop…« »Aber Joe, wirklich, auf Horoskope hat man in den Sechzigern was gegeben.« »Sein Horoskop«, fuhr Tedeschi unbeeindruckt fort, »sagt, daß ihn in der Liebe eine Überraschung erwartet, die sein ganzes Leben ändert. Cosa sarà?« »Was soll das sein?« »Sie sind das«, sagte Tedeschi zu Ann. »Das finde ich toll«, sagte Brad. »Hört sofort auf damit«, sagte Ann. »Alle drei. Brad, wir müssen jetzt drehen. Joe«, sie schüttelte seine Hand, »es war schön dich zu sehen. Viel Glück bei deiner kleinen Polizeiangelegenheit. Officer Tedeschi…« »Paolo«, sagte Tedeschi. »Es war mir ein Vergnügen. Piacere.« Sie schüttelten sich die Hände. Ann drehte sich um und lief die Treppen zur Santa Maria del Carmine hoch. Brad folgte ihr, drehte sich noch einmal um, zupfte eine Visitenkarte aus der Brusttasche seines T-Shirts und sagte: »Ihre Nummer.« Dann kreuzte er die Finger ermutigend und lief Ann nach zur Kirche. Cullen sah zu Tedeschi hinüber, der sagte: »Allora.« »Da sehen Sie es.« sagte Cullen. »Es ist Bullshit. Sie war nicht die Überraschung, die mein Leben ändern wird. Und es wird auch niemand anderen geben.« »Der Tag ist noch jung«, sagte Tedeschi, »jung, aber schon voll.« »Jung?« fragte Cullen.
»Ecco, sie hat noch viele Stunden, um ihre Meinung zu ändern.« »Kommen Sie, wir trinken einen ristretto«, sagte Cullen. »Ich lade Sie ein.« »Wir sollten noch nicht weggehen.« »Wir können doch nicht in die Kirche. Lassen Sie uns gehen.« »Nur noch einen Moment.« Cullen wandte sich trotzdem zum Gehen. »Ich finde schon was die Straße runter. Sie können ja nachkommen.« Tedeschi sah auf die Uhr. »Sie hat noch drei Minuten, bevor sie auf Sendung geht.« Cullen setzte sich in Bewegung. »Das ist alles Bullshit.« Ann stürzte aus einer Seitentür der Kirche, die Baseballkappe war verschwunden. Jetzt sah er, daß sie ihr ehemals langes Haar mit den französischen Zöpfen kurzgeschnitten hatte und eine fast knabenhafte Frisur trug. »Joe!« Cullen trat zurück, aber sie rannte auf ihn zu, genau auf ihn zu. Sie legte die Arme um seinen Hals und preßte sich an ihn: »Joe.« »Ann.« Sie küßten sich. Sie löste sich aus dem Kuß, ließ ihn los und drückte ihn weg. »Ich muß jetzt aber wirklich. Brad hat dir meine Nummer gegeben.« »Ja.« »Ruf an. Ruf um vier an.« Sie küßte ihre Fingerspitzen und legte sie an die Lippen. »Ruf an.« Sie drehte sich um und rannte in die Kirche. Tedeschi trat zu Cullen. »Allora. Es ist doch kein Bullshit.« »Un ristretto!« sagte Cullen. »Sie bezahlen?« sagte Tedeschi. »Mein Horoskop sagt, heute ist mein Glückstag.« Aus dem Amerikanischen von Gabriele Dietze
Carmen Korn Rickie Under Ground
»Es gab schließlich eine Grenze im Nachgeben,
dachte er mit einem schwachen Anflug von Humor;
die Grenze war sein eigenes Leben. Hör doch auf jetzt –
schon gut! Er glaubte, die Worte laut
geschrien zu haben, doch alles blieb still.«
Patricia Highsmith, Ripley Under Ground
Eine wilde Seele, hatte sie gewispert. Rickie glaubte, sich an ihr Gesicht zu erinnern, wie sie über sein Gitterbett gebeugt stand und wisperte, doch es war wohl weniger die eigene Erinnerung als die Erzählung seiner Tante. Immer wieder hatte sie es Rickie vorgebetet, wie sich seine Mutter über das Bett beugte und den Zweijährigen beschwor. Eine wilde Seele. Er nahm es als eine Liebeserklärung, auch wenn er sich davon kaum ein Leben lang nähren könnte. Doch es war nicht Tante Lenis Absicht gewesen, ein liebevolles Andenken in ihm wachzuhalten. Sie wollte es als Mahnung verstanden wissen, daß Rickie dieser Beschwörung nicht nachgäbe. Er sollte nicht werden wie seine Mutter. Eine wilde Seele, die ihr kleines Zuhause verriet, um in die Welt zu gehen und sich nicht mehr um ihn zu kümmern. Eine Klingel schrillte durch seine Gedanken, und Rickie sprang vom Hocker hoch und wußte in den ersten Sekunden
nicht, ob es die Klingel an der Ladentür gewesen war oder die aus Tante Lenis Wohnung. Er guckte in den Laden hinein, der in mittäglicher Stille lag, wie die Straße vor dem Schaufenster. Ein unsinniges Vorhaben, hier durchgehend offenzuhalten. Ihm waren die beiden freien Stunden genommen, und es hatte kaum einen Kunden mehr gebracht. Vielleicht, daß mal ein Kind nach der Schule kam, um ein Päckchen Tintenpatronen zu kaufen. Rickie ging zum Schaufenster und schob den Werbeständer für die neuen Malkästen weiter nach vorne und hoffte auf das Schweigen der Klingel. Das Herz klopfte ihm ziemlich heftig, während er hoffte. Die Szenen, die ihm Tante Leni machte, waren schlimmer geworden, seit er den Karton im Keller gefunden hatte. Warum nur quatschte sie ihm jahrelang die Ohren von der wilden Seele voll, wenn sie Angst hatte, er könnte eine in sich haben? Warum gab sie ausgerechnet diese Beschwörung weiter, während sie alles andere verschwieg? Er war schon auf der Treppe, ehe die Klingel aufhörte, und lieber hätte er die Tür eingetreten, als den Schlüssel aus seinen Jeans zu ziehen. Er schloß auf und stand im Flur, um gleich Lenis Stimme zu hören, die heiser geworden war, als sei die Tante am Kehlkopf operiert worden und nicht an der Galle. Er sah in den Spiegel, der über der Konsole hing, und versuchte, den Grimm aus seinem Gesicht zu lächeln. Immer daran denken, daß sie für ihn gesorgt hatte, nachdem seine Mutter auf und davon war, voller Sorge und Güte, ihn von allen Gefahren fernhielt, und ihm auch jetzt noch den sicheren Hort ihres Schreibwarenladens bot. »Daß du endlich kommst«, sagte Leni schon zum zweiten Mal, als Rickie ins Schlafzimmer trat. Er nahm ihr das leere Glas aus der Hand und guckte in das gelbe Gesicht. Die Kröte, die den Schatz im Brunnen bewacht, dachte Rickie, und es tat ihm sofort leid. Sie war noch nicht sechzig und schon ziemlich
am Ende, auch wenn die Ärzte über Lenis Leiden die Köpfe schüttelten und den Tumor nicht fanden, den sie zu haben glaubte. »Nur ein Klumpen Lügen«, sagte Rickie und hörte seinem Satz erstaunt nach. Er war nicht daran gewöhnt, seine Gedanken laut auszusprechen, und dieser hatte sich einfach herausgedrängt, ohne daß es Rickie bewußt gewesen war. »Was sagst du da?« Die Stimme hatte eine Spur ihrer alten Brillanz. Leni setzte sich auf und schob sich ein Kissen in den Rücken. Dann betrachtete sie ihren Neffen genauer. »Du trägst es wieder«, sagte sie, »Männer sollten keinen Schmuck tragen.« Rickie griff nach der dünnen Kette um seinen Hals, an der ein goldener Zentaur mit gespanntem Bogen hing. Das einzige, was seine Mutter ihm je geschickt hatte. Einen Talisman, wie sie selber einen besaß. Ein Zeichen der Verbundenheit. »Ich dachte, die Kette sei zerrissen«, sagte Leni. »Ich habe sie löten lassen«, sagte Rickie. Leni ließ sich wieder tiefer in das Kissen sinken. »Im Dezember wirst du vierundzwanzig«, sagte sie. »Da sollten Söhne längst aufgehört haben, um ihre toten Mütter zu weinen.« Rickie schwieg. Erst einmal die Fundstücke im Karton weiter sichten, bevor er Leni mit der Wahrheit konfrontierte. »Warum bist du nicht im Laden? Haben wir nicht geöffnet?« »Weil du geklingelt hast«, sagte Rickie, »darum bin ich hier.« Leni ließ den Kopf zur Seite fallen, als wolle sie jetzt mit dem Sterben anfangen. »Saft«, sagte sie, »du sollst Saft bringen.« Rickie nickte und ging in den Flur hinaus zur Küche. Um sechs durfte er den Laden schließen und ihr dann das
Abendessen hochbringen. Danach konnte er in den Keller gehen. Rickie zog die Tür zu seinem Zimmer hinter sich zu und drehte den Schlüssel im Schloß. Eine symbolische Tat, denn Leni hatte einen zweiten Schlüssel und keine Scham, ihn zu benutzen. Es war kaum Privatsphäre zu nennen, was er sich mit dem Zimmer hinter dem Laden erkämpft hatte. Doch wenigstens lebten sie nicht mehr gemeinsam in einer Wohnung. Er mußte nicht mehr nachts aufwachen und seine Tante sehen, wie sie sich über ihn beugte und seinem Atem lauschte, als habe sie Angst, er könne am plötzlichen Kindstod gestorben sein. Er ging ins Treppenhaus und fühlte die kühlen Terrazzosteine unter den nackten Füßen. Leise sein. Kein Geräusch machen. Mucks, hatte Leni früher gesagt. Keinen Mucks. Er öffnete die Kellertür, deren gut geölte Scharniere seit heute morgen satt glitten, und ignorierte den Lichtschalter, der mit einer zu laut tickenden Zeituhr aufgerüstet war. Lenis Gehör funktionierte fabelhaft, das stellte nicht einmal sie in Frage. Rickie griff nach der Taschenlampe, die seine Hosentasche ausbeulte, knipste sie an und stieg die Kellertreppe hinunter. Die Lampe und das Fahrtenmesser waren seine einzigen Besitztümer, die er geheimhalten konnte. Sie lagen hinter der Sammlung von Fantasy-Romanen versteckt, doch wenn er in den Keller ging, trug er beides stets mit sich. Es war noch nicht lange her, daß er eine heftige Scheu vor dem alten Gemäuer gehabt hatte. Der vordere Keller war schon zu Zeiten seines Großvaters ein Warenlager gewesen. Leni hatte nichts daran geändert, sie hing an allem Gewohnten, und er war sich nicht sicher, ob sie es aus Starrsinn tat oder in der Hoffnung, etwas von dem zu bewahren, was sie für ihre gute Zeit halten wollte. Kassenbücher und Quittungsblöcke, die kaum einer mehr kaufte, lagen in staubigen Stapeln zwischen Ware, die leidlich
ging, obwohl Leni stets hinter dem Trend herhinkte. Er hatte noch mit keinem der Vertreter sprechen dürfen. Rickie ließ den Schein der Taschenlampe über die Regale und Kisten gleiten und leuchtete dann noch einmal jede einzelne Stufe der Treppe ab, als könnte Tante Leni auf einer sitzen. Schon länger hielt er ihre ganze Hinfälligkeit für bloße Tarnung, doch seit er vorgestern den hinteren Keller betreten hatte, fühlte er sich geradezu verfolgt von ihr. Er hatte gar nicht vorgehabt, da zu stöbern. Ihm war nur diese große Kiste aufgefallen, die den Durchgang zum hinteren Teil blockierte. Sie stand hier sicher erst seit kurzem, sonst hätte er sie längst bemerkt. Er hatte sie geöffnet und war enttäuscht gewesen, nur Bücher zu finden. Das Große Jahreshoroskop 1975 – das Jahr seiner Geburt. Eine ganze Kiste voller Jahreshoroskope für alle Sternzeichen. Von Januar bis Dezember. Vielleicht hatte seine Mutter sie bestellt. Aus lauter Sentimentalität. Zu der Zeit hatte sie wohl noch mitgemischt im Laden. Er hatte eines der Bücher aufgeschlagen und schließlich den Schützen darin gefunden. Freiheitsdrang und Geltungssucht. Wilde Seele. Leni mußte das gelesen haben und genügend beeindruckt gewesen sein, um erzieherisch einzuwirken auf seine natürlichen Anlagen zum Abenteurer. Es war ihr gelungen. Rickie stieg über die Kiste, die er absichtlich hatte stehen lassen, und kam zu nah an die Mauer heran und schürfte sich dabei die Haut der rechten Hand auf. Rauhe Feldsteine, die einer seiner Vorfahren hier hatte aufeinanderstapeln lassen. Der hintere Teil mit dem Lehmboden war eher eine Grotte als ein Keller, auch wenn die viel später gelegten Heizungsrohre ihn zu einem staubtrockenen Lager machten. Rickie bückte sich, obwohl er immer noch stehen konnte, ein Reflex auf die niedrigere Decke im hinteren Raum, dessen eine Hälfte auch nur wieder von Kisten vollgestellt war. Schwarze Schulhefte.
Liniert. Kein Kind schrieb mehr auf solchen Linien. Es fehlte noch, daß er hier auf ein paar Dutzend Schiefertafeln stieß. »Feinstes Graphit« stand auf dem Karton, den Rickie von der Kistenburg nahm. Er war handlich im Vergleich zu den anderen. Rickie klemmte ihn unter den Arm und leuchtete sich den Weg zu der sicheren Ecke, die er bereitet hatte. Ein alter Drehstuhl hinter den Kisten. Ein Schreibmaschinenkoffer, auf dem eine Flasche Johnny Walker stand. Rickie setzte sich und hob den Deckel des Kartons und sah erleichtert, daß noch alle Bündel da waren, vier gleich dicke, von Gummibändern zusammengehalten. Er legte die leuchtende Lampe neben der Flasche ab und tat eines der Bündel beiseite, um dann das Gummi eines anderen zu lösen. Rickie seufzte auf und griff nach dem Whisky. Doch auch nach ein paar großen Schlucken fing er noch nicht an, zu lesen, sondern dachte darüber nach, warum ihm Tante Leni den Klumpen Lügen hatte durchgehen lassen. Er verschlief das Läuten des Weckers, aber nicht Lenis Klingel. Es war halb acht und noch eine Stunde Zeit, bis er die Rolläden des Ladens hochzuziehen hatte. Rickie hob den Kopf und ließ ihn gleich wieder sinken. Langsam erinnerte er sich, daß er den Johnny Walker ausgetrunken hatte. Diese einsame Sauferei war gefährlich, er verlor zu schnell die Kontrolle, nuckelte an der Flasche, als sei es die Mutterbrust. Und dann der schrille Ton, der ihm die Gedanken sprengte. Wichtige Fragen, die er lösen mußte. Ob er noch Pfefferminz unten hatte, und wie er das Gespräch da oben anfangen sollte. Verhör, dachte Rickie und unternahm einen neuen Versuch, aus dem Bett zu kommen. Er stand ziemlich fest auf dem Vorleger und sah an sich hinunter. Im Unterhemd zu schlafen war nahe an Verkommenheit. Nicht einmal in den Schlafanzug hatte er es geschafft. Rickie griff nach den Jeans und benutzte
die jäh eintretende Stille für einen Augenblick des Durchatmens. Vermutlich tat Leni der Daumen weh. Die Tür öffnete sich, ehe er den Schlüssel ins Schloß stecken konnte, und vor ihm stand Leni im weißen Leinenhemd, das das Gelb ihres Gesichts hervorhob. »Ich hatte eine Kolik«, sagte sie. »Du hast doch gar keine Gallenblase mehr«, sagte Rickie. Es war die falsche Antwort. Er wußte es, ohne sie anzugucken. »Pfefferminz«, sagte Tante Leni, »wer nach Pfefferminz riecht, ist ein Trinker, und nur noch eine halbe Stunde, bis wir öffnen.« »Dann denk drüber nach, was du zum Frühstück willst.« »Ich hatte eine Kolik«, sagte Leni. Rickie wandte sich zum Badezimmer. »Wir müssen darüber sprechen, was auf die Gräber soll«, sagte er. Nicht gerade der geschickteste Anfang. Er sollte wirklich erst kalt duschen. »Allerheiligen ist noch nicht«, sagte Leni. »Aber Großvaters Geburtstag«, sagte Rickie. Leni sah irritiert aus. Das immerhin war ihm gelungen. »Hast du dich nie gefragt, wo Mutter liegt?« fragte er. Welch ein Morgen. Er ließ wirklich nichts aus heute. »Sie wird schon irgendwo ihr Gärtchen haben«, sagte Leni. Rickie drückte die Hand auf die Klinke und öffnete die Tür. Noch einen Augenblick, und er war entkommen. »Ich möchte es wissen«, sagte er. »Und davorstehen.« Er ging ins Bad und sah in den Spiegel. Er fand, daß er anfing, härter auszusehen. Leni war vor der Tür stehengeblieben, und die Heiserkeit ihrer Stimme nahm ihr etwas vom Jammer, den er gut kannte, doch sie war immer noch laut genug, daß er alles hörte, was sie zu sagen hatte. »Länger als zwanzig Jahre tot. Und verlassen hat sie dich.«
Rickie stieg in die Wanne, drehte den Wasserhahn voll auf und hielt sich die Handbrause über den Kopf. »Entdecker auf der Suche nach Heil und Wahrheit«, sprach er in das laufende Wasser hinein. Auch das hatte er über den Schützen gelesen. Die alte Dame sah sich die Briefmappen seit zwanzig Minuten an, und es war noch keine Entscheidung in Sicht, obwohl das Angebot sicher den Geschmack einer Achtzigjährigen traf. Doch Rickie hatte sich darauf trainiert, Geduld zu haben. Er legte eine weitere Mappe vor, die er zurückgehalten hatte, weil ihm schon ein leichter Gilb darin zu sein schien. Vielleicht sah er inzwischen nur noch Gelbtöne, die Teerosen auf dem Dekor der Briefmappe, Lenis Gesicht. Die Alte wandte sich der neuen Mappe zu und schlug sie auf. Rickie zuckte zusammen. Es war das gleiche Papier, auf dem auch die Briefe geschrieben worden waren, die er gestern abend gelesen hatte. Ein Papier in einem gebrochenen Weißton, mit einer kleinen Rose in der oberen rechten Ecke. Seine Mutter mußte eine dieser Mappen im Koffer gehabt haben, als sie ihn und Leni und den Laden verließ. Rickie schob einen großen Briefkarton mit den Szenen einer Fuchsjagd in eine günstigere Position und hoffte, daß sich die Alte dafür entschied. Er wollte die Teerosen behalten, als seien sie ein Beweisstück, dabei waren nur die Briefe unten im Keller wichtig und das Datum, das auf ihnen stand. Doch sie tippte auf die gelben Rosen, trotz des Gilbs, und Rickie nahm sie mit einem Seufzer und packte sie ein. Er wurde allmählich sentimental, das, was Leni seiner Mutter nachsagte, als sei es die Pest, die an ihr geklebt habe. Tante Leni war davon überzeugt, das härtere Leben absolviert zu haben, am Anfang des Krieges geboren und vierzehn Jahre älter als seine Mutter, Lenis kleine Schwester. Die sich getraut hatte, mit einem Balg nach Hause zu kommen, von einem Mann, den keiner kannte,
und dann war sie einfach davongegangen, als hätte das alles nichts mit ihr zu tun. Die Nachlässigkeit der Nachgeborenen. Rickie war zwei Jahre alt gewesen, als sie ging, um ein anderes Leben anzufangen. Immer weiter war sie gegangen auf der Suche nach dem noch besseren Ort. Den Hals nicht vollkriegen, sagte Leni dazu. Länger als zwanzig Jahre tot. Das sagte sie auch. Es gab also keinen Grund, ihren Aussagen zu vertrauen. Viel zu lange hatte er das getan. Er sollte nachlesen, ob Schützen zu übertriebener Dankbarkeit neigten. Die Schulkinder zogen am Schaufenster vorbei, und danach waren die fallenden Blätter das einzige, was sich da draußen bewegte. Müde hatte seine Mutter den Ort in einem der Briefe genannt, doch eher noch lag die ganze Gegend im Koma. Wäre bei all den Briefen ein Kuvert mit einem Absender gewesen, er hätte sich schon auf die Reise begeben. Weg von hier. Die Spuren seiner Mutter aufnehmen. Doch so blieb ihm nur, Leni mürbe zu machen, bis die Wahrheit aus ihr bröckelte. Leni sah lustlos auf den Teller, der auf dem Tablett stand. »Das vertrag ich nicht«, sagte sie und klang beleidigt. »Eine Schlemmerschnitte«, sagte Rickie, »Fisch ist gesund.« »Bestell ein Chrysanthemengesteck«, sagte Leni. »Du wirst nicht gleich daran zugrunde gehen.« »Sei nicht albern. Ich spreche vom Grab deiner Großeltern.« »Wir könnten doch wenigstens Mutters Lebensdaten in den Stein meißeln lassen. Da ist noch genügend Platz.« »Der ist für mich«, sagte Leni. Rickie betrachtete seine Tante. Die Bitterkeit in ihr schien sich Tag für Tag weiter auszubreiten. Doch er wollte sie nicht länger schonen. »Ich weiß nicht mehr, wann sie gestorben ist«, sagte er. »War es im Dezember?«
Leni zögerte. »Zwei Tage vor ihrem Geburtstag«, sagte sie, »und du solltest wissen, wie schmerzlich das alles für mich ist.« »Du weißt nicht zufällig auch noch das Jahr?« fragte Rickie. Leni war auf einmal wachsam. »Was soll das?« fragte sie. »War ich sechs oder acht?« fragte er. »Du warst vier Jahre alt. Das weißt du genau. Und sie hatte schon lange ohne dich gelebt und sich nicht den Teufel um dich geschert.« »Wilde Seele«, sagte Rickie. »Du hast auch eine. Ich hab es immer geahnt.« »Du hast sie mir eingeflüstert.« Leni schüttelte den Kopf. »Nimm das hier mit«, sagte sie und ihr Kinn deutete auf den Teller. »Ich will es nicht essen.« Rickie griff nach dem Tablett und bezwang sich, still zu sein. Über Schlemmerschnitten wollte er die Schlacht nicht eröffnen. »Du hast dich verändert. Schlägst du dich neuerdings auch?« »Wie kommst du darauf?« fragte Rickie. »Deine Hand ist ganz zerschunden.« Er hätte leicht lügen können. Doch er tat es nicht. »Ich hab sie mir aufgeschürft«, sagte er, »an den rauhen Wänden im Keller.« »Wonach suchst du denn da unten?« fragte Leni. Dann stöhnte sie auf und drückte die Hand auf die Narbe an ihrem Bauch. Vor Feuer hatte sich Leni immer gefürchtet. Oft war er ihr als kleiner Junge nachgetappt, wenn sie in der Nacht aufstand und ins Treppenhaus ging, weil sie glaubte, das Knistern von Flammen zu hören, die sich unten im trockenen Keller durch das Papier fraßen. Von Feuer ließ Lern sich einschüchtern wie ein Tiger, den die lodernde Fackel zurückhielt. Sie hatte ihm
nie erlaubt, im Frühling das alte Laub und die verwehten Zweige zu einem Haufen zu schichten und zu verbrennen. Rickie roch den Rauch im Treppenhaus und folgte dem Geruch zu Leni hinauf und schloß die Tür auf, ohne sich groß anzukündigen. Er warf einen Blick ins Schlafzimmer, das leer war. Dann hörte er die Klospülung und sah die Tür zum Badezimmer halb offen stehen. Leni bemerkte ihn nicht. Sie kniete vor dem Becken und hielt andächtig die Streichhölzer in der Hand, als böte sie an einem feierlicheren Ort ein Opfer dar. Was immer sie auch verbrannt hatte, es war schon weggespült. Er konnte davonschleichen und sie nicht wissen lassen, daß er Zeuge der Szene geworden war. Rickie zögerte und stieß dann die Tür auf. Leni zuckte zusammen. »Rauchst du heimlich auf dem Klo?« fragte er. Leni kam ächzend hoch und suchte Halt an der Türklinke. Er half ihr nicht. »Du schnüffelst mir nach«, sagte sie. »Das ist doch mal ein Rollentausch«, sagte Rickie. »Ich habe den Rauch gerochen und wollte dich retten. Wer Angst vor Feuer hat, darf nicht mit Streichhölzern spielen, vor allem, wenn er nicht schnell genug rennen kann.« »Das geht dich nichts an«, sagte Leni. Rickie streckte den Arm aus, um sie ins Schlafzimmer zu geleiten. Es lag weit zurück, daß er Leni hatte leiden können. Als er ein kleines Kind gewesen war, und sie noch nicht so steinhart. Er wußte nicht mehr genau, wann sie es geworden war, doch sicher erst Jahre nach dem Weggang seiner Mutter. »Hast du heute gut verkauft?« »Nein«, sagte Rickie. »Du hast keinen Geschäftssinn. Deine Mutter war auch so.« »Leg dich hin und sei friedlich.« »Gehst du schlafen?« fragte sie. Rickie sah zur Uhr, die auf Lenis Nachttisch stand. Es war noch keine halb neun. »Ja«, sagte er, »ich gehe schlafen.«
»Das ist gut«, sagte Leni. »Was hast du verbrannt?« fragte Rickie. So leicht sollte sie nicht davonkommen. Leni schwieg. Natürlich schwieg sie. Er hatte es auch nicht anders erwartet. »Ich muß mich noch waschen«, sagte Rickie. Er ging ins Bad, schloß die Tür ab und ließ das Wasser fließen. Er klapperte mit dem Zahnputzbecher und ärgerte sich, daß er dachte, all diese Tarnung nötig zu haben, um in das Klo zu gucken. Als er es dann endlich tat, sah er unten Papier schwimmen. Rickie krempelte den rechten Hemdsärmel hoch und griff hinein. Ein nasser Klumpen, der einmal Millimeterpapier gewesen sein mußte; Papier, das Leni als Schmierzettel benutzte, weil die Stapel, die davon im Keller lagen, kaum noch abgetragen wurden. Rickie faltete den Klumpen auseinander und fand nur eine Ahnung von Tinte darauf. Er ließ ihn fallen und drückte die Spülung. Er hatte etwas anderes erwartet. Doch er war dankbar, nichts von den Briefen seiner Mutter aus dem Klo gefischt zu haben. Es war zehn Uhr vorbei, als Rickie in den Keller kam. Leni war noch lange in der Wohnung herumgelaufen und einmal auch im Treppenhaus gewesen. Das Feuerchen schien Energien in ihr angefacht zu haben. Er nahm keine Veränderung wahr, als er über die Kiste stieg, die noch immer vor dem Durchgang stand. Die neue Flasche Johnny Walker, die er gestern nacht aus seinem Vorrat genommen hatte, stand noch auf dem Schreibmaschinenkoffer, der Karton mit den Briefen war dort, wo er ihn gestern versteckt hatte. Er nahm ihn, holte das letzte Bündel hervor und zog das Gummiband ab. Die Abstände zwischen den Briefen waren viel größer geworden, und es gab keine Rose mehr. Inzwischen schrieb seine Mutter auf grauen Bögen. Liebster Rickie, ich bitte Dich sehr, diesen Brief nicht auch zu verweigern. Ich weiß ja schon lange von Leni, daß Du
keinen Kontakt willst. Rickie sah noch einmal auf das Datum. Januar 1985. Neun war er da gerade gewesen und hatte seine Mutter schon fünf lange Jahre für tot gehalten. Alles ein Fehler. Dich bei Leni zu lassen. Darauf einzugehen, Dich niemals zu sehen. Deine Tante dachte immer, sie wisse es besser. Rickie ließ den Brief sinken. Er öffnete die Flasche und nahm einen tiefen Schluck und glaubte, die Stimme seiner Tante zu hören, die von Schande sprach, und ihre Schwester aus dem Haus warf. Leni hatte sich der Unterschlagung schuldig gemacht, ihm eine sehr lebendige Mutter unterschlagen. Rickie sah die restlichen Briefe durch, doch alle waren sie aus demselben Jahr, der letzte am 30. November geschrieben. Vierzehn Jahre war das her. Doch er zweifelte nicht, daß seine Mutter noch lebte. Sie hatte nur die Hoffnung aufgegeben, von ihm zu hören. Und er saß hier und schlug sich mit Leni herum und gab den letzten Getreuen und hielt sich für ein Waisenkind. Rickie hob die Flasche, als trinke er jemandem zu. Er würde Leni schon weichklopfen, er war sich sicher, daß sie wußte, wo er seine Mutter zu suchen hatte. Rickie hörte das Ticken des Lichtschalters nicht und nahm auch kaum wahr, daß der vordere Keller hell geworden war. Er saß da und spann seine Gedanken. Die Veränderung an Kellerraum schob er auf eine Hutschachtel, die ihm erst jetzt auffiel, und nicht auf das Licht vorne, das auch den hinteren Teil ein wenig aufhellte. Leni überraschte ihn, als er gerade wieder zum Whisky griff. Sie sah aus wie ein Gespenst in dem weißen Leinenhemd und mit ihren aschblonden Haaren, die durch das lange Liegen aussahen wie angeschwemmter Tang. Doch Rickie schrak nicht nur deshalb zusammen. Er hatte sich die Stunde der Wahrheit noch eine Weile aufbewahren, daran herumschmecken und Pläne machen wollen. Das dauernde Leben hinter dem Ladentisch hatte ihm ein langsames Tempo
vorgegeben, so daß er nichts überstürzen wollte. Leni war gerade dabei, ihm wieder alles zu verderben. »Ich wußte ja, daß du trinkst«, sagte sie und sah ihn dabei gar nicht an, sondern suchte mit ihrem Blick den hinteren Keller ab, als wolle sie das Mobiliar überprüfen. »Und ich wußte nicht, daß du dich weiter als bis zum Badezimmer schleppen kannst«, sagte Rickie. »Du hättest mich gerne tot«, sagte Leni, »mausetot wie deine Mutter. Dann könntest du den Laden deines Großvaters endgültig in Grund und Boden wirtschaften.« »Meine Mutter lebt«, sagte Rickie, »und du weißt das genau.« Er griff in den Karton und sprang auf und schwenkte die beiden Bündel Briefe, die er zu fassen bekommen hatte. Es lief falsch, er wollte nicht die Kontrolle verlieren, während Leni stand, als sei sie Frau Lot. Doch vielleicht war es der Schock über seinen Fund, der sie so still sein ließ. Sie kniff die Augen zusammen. »Was sind das für Briefe?« fragte sie. Luder, dachte Rickie. War sie ihm deswegen nicht hinterher getappt? »Deine Schwester hat sie geschrieben«, sagte er, »zu einer Zeit, wo sie schon mausetot war.« Leni atmete tief durch. Er konnte den Luftzug ihres Atems spüren, und es gefiel ihm, daß sie endlich schwer getroffen schien. »Was beweist das?« fragte sie. »Daß du mich belogen hast. Sie lebt. Sie hat noch gelebt, als du sie schon lange für tot erklärt hast.« »Das ist lange her«, sagte Leni, »und seitdem warst du ihr wohl einen Dreck wert. Oder hast du noch andere Briefe gefunden?« »Sie hat aufgegeben«, sagte er. »Weil du ihr geschrieben hast, daß ich nichts von ihr wissen will.«
Leni nickte. »So ist das«, sagte sie, »dann lebt sie wohl. Wenn auch mit gebrochenem Herzen.« »Hast du von den Schmerztabletten genommen?« fragte Rickie. Irgend etwas stimmte nicht mit Leni. Er hätte gedacht, daß sie unter ihrer Schuld zusammenbräche. Doch sie kehrte um, als habe sich alles erledigt damit, und ging zur Kellertreppe. »Warum hast du das getan?« schrie Rickie und riß eines der Jahreshoroskope aus der Kiste und warf es nach ihr. »Geh sie suchen«, sagte Leni noch von der Tür. »Wo war sie zuletzt?« fragte Rickie. Doch Leni verschwand ins Treppenhaus, ohne ihm eine Antwort zu geben. Das Licht verlosch, als hätte sie ihren Auftritt mit der Zeitschaltung abgestimmt. Der Schein seiner Taschenlampe kam Rickie auf einmal schwach und unzulänglich vor, und er tastete herum, bis er seine Schätze eingesammelt hatte. Den Johnny Walker. Den Karton. Er konnte alles nach oben in sein Zimmer nehmen, die Zeit der Heimlichkeiten war zu Ende, und das tat ihm fast leid. Er beleuchtete die Stufen der Treppe und stieg hinauf. Dort lag das Buch, das Leni nicht getroffen hatte, und er hob es auf. Wenn er lange genug dann las, würde er vielleicht doch noch zu dem Abenteurer werden, der in jedem Schützen schlummerte. Rickie schloß sein Zimmer auf, schaltete das Licht ein und legte alles auf dem schmalen Bett ab. Jugendbett, sagte Leni. Er schaute sich um und spürte eine freudige Spannung, fortzugehen. In diesen Briefen mußte es irgendeinen Hinweis auf den Aufenthaltsort seiner Mutter geben, auf den letzten wenigstens, von dort aus konnte er die Spur aufnehmen. Er war sich sicher, daß er viel überlesen hatte, er war so aufgeregt gewesen. Das Foto seiner Mutter lag in dem Buch, das er gerade las, Merlins Abschied. Rickie hatte es aus einer Schublade in Lenis
Eichenschrank genommen, in der sonst nur lauter alte Lieferscheine lagen. Er wußte nicht, ob sie es je vermißt hatte, es war darüber geschwiegen worden, wie über alles hier im Haus. Rickie nahm das Bild aus dem Buch und betrachtete es. Sah eine junge Frau in einem Straßencafe sitzen. Wer hatte das Foto wohl aufgenommen? Sie guckte nachdenklich und lachte doch und schien das Leben gern zu haben. Nur als eine Erinnerung hatte er dieses Foto bisher gesehen, auf den Halsausschnitt geguckt, in dem der kleine goldene Zentaur hing, der gleiche Talisman, den auch er besaß, und sich zugehörig gefühlt zu einem Menschen, den er längst für tot gehalten hatte. Doch jetzt hielt er ein Fahndungsfoto in der Hand. Studierte die Tafel im Hintergrund. Flämische Schrift. Oder holländisch. Sicher war er sich nicht. Doch das ließ sich in Erfahrung bringen. Alles konnte er in Erfahrung bringen, wenn er erst einmal der Enge entkommen war. Rickie stellte den Whisky ins Regal und nahm das Horoskopbuch, um es zu den Fantasy-Romanen zu legen. Er stutzte, als er sah, daß es aus dem Jahr 1986 war. Die Bücherkiste da unten konnte dann kaum eine sentimentale Tat seiner Mutter sein. Vielleicht hatte Leni vorübergehend auf Horoskope gesetzt. Es war weit nach Mitternacht, als er die Bettdecke aufschlug und aus purer Gewohnheit nach oben lauschte. Doch bei Leni war es still. Kein Mucks, dachte Rickie und grinste. Er würde ihre Sprüche, ihre Weisheiten schnell hinter sich lassen, wenn er seine Mutter gefunden hatte und ihr gemeinsames Leben anfing. Er lehnte sich zurück und öffnete den Karton und zog den ersten Brief heraus und fing noch einmal zu lesen an. Die Rolläden waren längst hochgezogen. Rickie schaute in den Regen hinaus den Schulkindern nach und wartete auf Lenis Klingel. Er war kurz nach acht oben gewesen und hatte die Tür zum Schlafzimmer geschlossen gesehen und sich den
kurzen Tagtraum erlaubt, daß Leni mit weiten Augen im Bett lag, leere Röhrchen neben sich, in denen Schlaftabletten gewesen waren. Leni besaß gar keine. Sie schlief gut. Schlaf der Gerechten, sagte sie. Doch Rickie erinnerte sich nicht, daß sie einmal länger als bis sechs Uhr geschlafen hätte. Er hatte es vermieden, in ihr Schlafzimmer zu gehen. Was er am wenigsten sehen wollte, war die lebendige Leni, der es auch nach der letzten Nacht noch gelang, ihm Undankbarkeit vorzuwerfen. Doch er ging in den Laden hinunter und öffnete und verkaufte die ersten Tintenpatronen. Er wollte noch nicht an der Routine rühren. Sie tat ihm gut in diesen Tagen des Abschieds. Um halb zehn ließ er eine Kundin zurück, die sich über die ersten Adventskalender beugte, und ging hinauf, um nach Leni zu sehen. Er rief schon im Flur nach ihr, überrascht über sich selbst, weil er auf einmal Angst hatte vor dem, was er vorfinden würde. Doch es war kaum vorstellbar, daß Leni länger als drei Stunden still war, ohne tot zu sein. Er öffnete die Tür und stieß sie weit auf und sah Leni. Sie saß aufrecht und lehnte an der weißen Wand und sah viel gelber und starrer aus, als je zuvor. »Hol den Doktor«, sagte sie, und ihre Stimme war nicht mehr heiser, eher noch ein Krächzen. »Ich hab es gewußt, daß er mich kriegt, alle sind sie daran gestorben.« »Auch meine Mutter?« fragte Rickie und legte Sarkasmus in seine Stimme. Doch Leni gab keine Antwort. »Wo sitzt er diesmal?« fragte er. »Auf deinem Gewissen?« Leni sah ihn an. »Wovon redest du?« fragte sie. »Von deinem Tumor.« »Hol den Doktor«, sagte Leni. »Klar«, sagte Rickie, »wir wollen doch die Wahrheit wissen.«
Er kehrte um und ging in den Laden zurück und griff zum Telefon. Es sah Leni ähnlich, dieser Versuch, seine Fessel jetzt noch straffer anzuziehen. Leni weigerte sich, ins Krankenhaus zu gehen. Natürlich weigerte sie sich. Der Arzt sah ihn an, und Rickie nickte. Natürlich nickte er. Zwanzig Jahre Gehorsam ließen sich nicht leicht abstreifen. »Ich will hier sterben«, sagte Leni. Das sollte sie haben. Rickie bezog das Bett und gab ihr Tabletten und stellte sich vor, wie er das Fahrtenmesser nahm. Er kochte ein Huhn und stach in dessen Brust. Versuchshalber. Es erleichterte ihn für einen Augenblick. Danach servierte er Leni die Suppe. Abends saß er in seinem Zimmer und flößte sich jedes Wort ein, das seine Mutter geschrieben hatte, und tippte einmal auf Lüttich und ein andermal auf Antwerpen. Er würde sie finden, sobald er Leni hinter sich gebracht hatte. Auf dem Ladentisch lag ein großes Gesteck aus Kiefern und Stechpalme. Es würde die Glasscheibe, unter der die Federmappen zu sehen waren, zerkratzen. Rickie hatte für Allerheiligen nicht schon wieder Chrysanthemen nehmen wollen. Er stellte ein Grablicht dazu, das Leni seit je her im Sortiment hielt, auch wenn es unüblich war, doch schließlich hatte sie es auch mal mit Jahreshoroskopen versucht. Rickie nahm sich vor, in aller Frühe zum Friedhof zu gehen und den Großeltern das Gesteck aufs Grab zu legen, eher würde Leni doch keine Ruhe geben. Er schaltete das Licht im Laden aus und ging in sein Zimmer, um sich das Horoskopbuch von 1975 vorzunehmen, das er aus dem Keller geholt hatte, tatsächlich das einzige Exemplar in der Kiste, die anderen waren alle von 1986 gewesen. Rickie hatte sich angewöhnt, erst darin zu lesen, bevor er zu den Briefen griff, es entspannte ihn wie die Fantasy-Geschichten,
die er alle schon kannte. Er las von der Neigung des Schützen, ein Familiengeheimnis anzugehen. Rickie griff sich das letzte Bündel Briefe. Diese Nacht zu Allerheiligen schien ihm die richtige zu sein, um endlich eine Antwort zu finden. Die letzten Sätze buchstabierte er beinah, in der Hoffnung, die Lösung doch noch herauszulesen. Doch schließlich legte er den Brief beiseite und fing an zu weinen. Flennbruder, sagte Leni dazu. Die Klingel schrillte, und er beschloß, noch nicht nach oben zu gehen und seine roten Augen zu zeigen. Doch es war wieder er, der die Nerven schneller verlor, und er stieg hinauf. Leni stöhnte, als er die Tür öffnete. Doch dann sah sie ihn an, und ein Lächeln kam ihr auf das Gesicht und grub sich tief und verzerrte es. »Du hast noch nichts gefunden?« fragte sie. »Was?« fragte Rickie. Er fühlte sich schrecklich erschöpft. »Eine Spur deiner Mutter. Du bist doch auf dem Wege zu ihr.« »Belgien«, sagte er, »ich werde nach Belgien fahren.« »Da ist sie auch gewesen«, sagte Leni. Vielleicht war sie tatsächlich todkrank. Ihr Lächeln hatte etwas Seltsames. »Sag es mir doch«, sagte Rickie und hörte, daß er bettelte. »Du warst ein so süßes Kind. Ich hab dich immer geliebt.« »Ja«, sagte Rickie, »darum hast du mich dann in den Käfig getan.« »Einmal habe ich dich eine Reise machen lassen. Mitten im Winter. Mit deiner ganzen Klasse. Vier Tage lang.« »Hör auf. Ich fange gleich an zu kotzen.« »Du flennst doch eher«, sagte Leni. »War es das, weshalb du geklingelt hast?« »Mir geht es schlecht«, sagte sie, »bring mir die Tabletten. Es kann sein, daß ich noch öfter klingele heute nacht.« »Skorpione treiben immer alles bis zum Äußersten. Ich werde dir dein Horoskop vorlesen, wenn ich wieder hochkomme.«
»Was soll das?« fragte Leni. »Du hast eine Kiste mit Horoskopen in deinem Keller stehen.« »Ich erinnere mich«, sagte sie, »ich habe Kisten gebraucht.« Das Lächeln zerriß ihr fast das Gesicht. Rickie hatte kaum noch Zweifel, das sie irre geworden war. Wenn sie wirklich einen Tumor hatte, dann saß er in ihrem Kopf und nicht in der Leber. Rickie ging in den Keller. Er wollte das Klingeln nicht hören. In der einen Hand hielt er die Taschenlampe, den Johnny Walker in der anderen. Das Fahrtenmesser steckte in seiner Jeans. Der Drehstuhl stand noch dort und auch der Schreibmaschinenkoffer. Rickie setzte sich. Die alten Felssteine würden jedes Klingeln fernhalten. Er nahm einen Schluck aus der Flasche und führte den Schein der Taschenlampe über die Kisten und fühlte Geborgenheit. Die Hutschachtel stand vor ihm, und er dachte, daß seine Mutter vielleicht Hüte getragen hatte, große Hüte, keine weichen, karierten, wie Leni sie trug. Doch eigentlich war auch seine Mutter nicht der Jahrgang für große Hüte, eher für Baskenmützen. Französisch. Belgisch. Er lehnte sich vor und stand dann auf und nahm die Schachtel, und sie schien ihm zu leicht zu sein, um etwas zu enthalten. Rickie hob den Deckel und sah einen Schal. Einen Hauch von Schal. Chiffon vielleicht. Er kannte sich damit nicht aus. Weiß war er und sah aus wie eine Schwade dichten Nebels, und nichts sonst war auffällig an ihm, nur das Schildchen, das in den Rand genäht war. Rinquet, las er. Liege. Rickies Herz fing so heftig an zu klopfen, daß es zu laut für seine Gedanken wurde. Liege. Der Schal kam aus Lüttich. Seine Mutter mußte ihn getragen haben. Er ließ ihn durch die Hände gleiten und in die Hutschachtel sinken und holte ihn wieder hervor und sah dann erst das weiße Kuvert auf dem Kartonboden liegen. Lenis
Name stand darauf und die Adresse des Ladens. Rickie drehte das Kuvert und traute sich kaum hinzusehen, doch da stand der Name seiner Mutter und eine Adresse in Liege. Er zog den Brief heraus. 8. Dezember des Jahres 1985, zehn Tage vor seinem zehnten Geburtstag. Ich werde kommen und Rickie mitnehmen. Das ist das Geschenk, das ich ihm und mir mache, zu seinem und meinem Geburtstag, daß ich ihn nie mehr allein lassen werde. Ich hätte nicht so lange warten dürfen und hoffe nur, daß er mir verzeiht. Rickie riß die Tür auf und schüttelte Leni aus dem Schlaf, in den sie gefallen war. »Wo ist sie«, schrie er, »sag mir, wo sie ist!« Er wedelte ihr das Kuvert ins Gesicht. Leni kam hoch und schien doch nicht so tablettenschwer, wie er es vermutet hatte. Sie setzte sich auf und sah den Umschlag. »Die Kisten«, sagte sie und klang fast erleichtert dabei. Er stieß sie um, diese Kisten. Schwarze Schulhefte fielen hinaus. Mit dicken Linien, auf denen kein Kind mehr schreiben würde. Kartons mit Kohlepapier fielen hinaus und Bücher mit Jahreshoroskopen. Rickie schob alles beiseite und sah den Lehmboden, der gemartert aussah, nicht mehr festgestampft. Er wühlte die Erde auf. Mit all dem Gartengerät, das er finden konnte. Mit der Schaufel. Und den Händen. Er hörte auf, als er die ersten Knochen fand, und stand still und faßte sich an den Hals, griff in die Kette hinein und hielt den kleinen goldenen Zentaur fest, dessen Pendant unten im Lehmboden glänzte. Rickie schrie so laut, daß man es durch die Felssteine hindurch hören konnte. Leni ahnte die Wucht, mit der gleich die Schlafzimmertür auffliegen würde. Doch als er dann vor ihr stand, war er ganz leise. »Mitten im Winter«, sagte er, »und du hast mich weggeschickt auf die Reise mit der Schule, damit du sie umbringen konntest.« »Jetzt hast du ihr Gärtchen gefunden«, sagte Leni.
»Hast du sie mit dem Schal umgebracht?« »Ja«, sagte Leni, »sie war so überrascht. Hast du ihn nicht mitgebracht, den Schal aus Lüttich?« »Du kannst alleine sterben«, sagte Rickie. Er hatte alles schnell zusammen, als habe er jahrelang das Kofferpacken geübt. Das Gesteck aus Kiefer und Stechpalme schimmerte in dem Lichtschein, der aus seinem Zimmer fiel, und er ging hinüber in den Laden und nahm es, um es zu Leni hochzutragen. Leni lag still und wächsern da, und er erwartete kaum noch eine Antwort, als er sie ansprach. »Was hast du im Klo verbrannt?« fragte er. Lern drehte den Kopf und sah ihn an. »Ich hatte dir aufgezeichnet, wo deine Mutter liegt«, sagte sie. »Und warum verbrannt?« »Du warst so ungehörig. Ich war dir nichts mehr schuldig«, sagte Leni. »Ein sterbender Drache«, sagte Rickie. Doch Leni antwortete ihm nicht mehr. Er legte das Gesteck zu ihren Füßen und ging hinaus und dachte einen Augenblick lang daran, das Haus anzuzünden. Er hätte ihr ein Feuer gegönnt. Rickie drehte sich nicht mehr zu den dunklen Fenstern um. Er ging weiter und wirbelte das Laub auf und hatte keine Ahnung, wie er wegkommen sollte von diesem müden Ort, mitten in der Nacht zu Allerheiligen. Doch seine Reise hatte begonnen.
Die Autorinnen und Autoren
Am späten Abend des 9. Juni 1955 wird Jean M. Redmann (»Geisterfahrer«) in Biloxi, Mississippi geboren. Ihr Zeichen: Zwillinge. Sie schreibt vier Romane über die Privatdetektivin Micky Knight, darunter ›Mississippi‹ und ›Stein der Waisen‹. Redmann wird für ›The Intersection of Law and Desire‹ mit dem amerikanischen ›Lambda Literary Award‹ ausgezeichnet. Mit dem von ihr für die Astrokrimis auserwählten Zeichen des Schützen verbindet sie, laut eigenen Angaben, nur ihre Phantasie. Redmann tendiert mehr zu den Kritikern der Astrologie, beantwortet die Gretchenfrage jedoch vorsichtshalber mit »Aber wer weiß?« Frank Göhre (»Mord in der Leitung«) kommt am 16. Dezember 1943 als optimistischer Schütze in Tetschen zur Welt. Später wird er Buch- und Kunsthändler, Werbetexter, Verlagsmitarbeiter und freier Autor für Buch und Film. Zu seinen größten literarischen Erfolgen gehören ›Schmetterling. Samurai. Skorpion.‹, ›St. Pauli Nacht‹, ›Frühstück mit Marlowe‹ und ›Kreuzverhör‹ (mit Jürgen Alberts). Göhre wird ausgezeichnet mit dem ›Roten Elephanten‹, dem RMIDrehbuchpreis und den Literaturförderpreisen NordrheinWestfalen und Hamburg. Göhre hält von Astrologie viel, will aber mehr nicht verraten. Über das schmutzige Geschäft mit Mord, Geiselnahme und Erpressung weiß niemand mehr als Nina Schindler (»Schützenfest«). Sie gibt ›Das Mordsbuch – alles über Krimis‹ heraus, das mit über 1 000 besprochenen Büchern und Autoren
umfangreichste deutsche Nachschlagewerk der Krimiliteratur. Die am 17. August 1946 früh morgens in Lüdenscheid geborene Löwefrau ist Übersetzerin (unter anderem von Agatha Christie) und Autorin und veröffentlicht Jugendromane wie ›Wundertüte‹ und ›Die Schöne und der Boss‹. Ausgezeichnet wird die Bremerin unter anderem mit der ›Silbernen Feder‹ und dem ›Luchs‹. Schindler bezeichnet sich selbst als manische Leserin und gilt unter den Expertinnen ihres Freundeskreises als »typisch Löwe…«. Keine Schauspielerin konnte bislang an Felix Huby (»Trio infernal«) vorübergehen, ohne nach seinem Sternzeichen zu fragen. Kein Wunder, denn der am 21. Dezember 1938 um 6 Uhr 40 geborene Drehbuchautor ist Schütze. Nach einer klassischen Journalistenkarriere, unter anderem beim Spiegel, beginnt er 1979 als freier Autor zu schreiben. Das Resultat sind 37 Kinderbücher, 12 Sachbücher, 740 Stunden Film, davon 24 Tatorte, Serien, Hörspiele und 14 Kriminalromane mit seinem Serienhelden Bienzle. Huby gewinnt unter anderem den ›Geissendörfer Preis‹ und den ›Ehrenglauser‹. Von Astrologie hält der Wahlberliner schlicht »nichts«. Neben den Höhlen von Carlsbad im US-Bundesstaat New Mexico kommt Jerry Oster (»Ein Amerikaner in Florenz«) am frühen Morgen des 22. Januar 1943 zur Welt. Später arbeitet er als Journalist und Autor in New York und veröffentlicht elf Romane, von denen der New York Times Book Review ›Dschungelkampf‹ und ›Saint Mike‹ unter die wichtigsten Bücher des jeweiligen Jahres zählt. Weitere Erfolge: ›Dirty Cops‹, ›Time Love‹ und ›Sturz ins Dunkel‹, das 1999 den Internationalen Deutschen Krimipreis gewinnt. Seine nächsten Werke: ›Kiss Di Foxx Good Night‹ und ›Black is the New Black‹. Nach seinem Verhältnis zur Astrologie
befragt, erzählt Oster, wie er einmal drei Freunden gegenüber erwähnte, daß er nicht gern unebenes Geschirr benutze. Schließlich könne man nie sicher sein, daß es beim Spülen wirklich sauber wird. Alle drei hätten sich lächelnd angeschaut und gesagt: »Ah, du bist Wassermann.« Am 28. November 1952 erblickt Carmen Korn (»Rickie Under Ground«) um 14 Uhr 05 in Düsseldorf als Schütze mit Aszendent Fische das Licht der Welt. Nach Besuch von Schauspielschule und englischem College läßt sie sich zur Journalistin ausbilden und arbeitet als Redakteurin beim Stern. 1989 erscheint mit ›Thea und Nat‹ ihr erster Roman, der zwei Jahre später verfilmt wird. Zu ihren weiteren Veröffentlichungen zählen ›Das singende Kind‹, ›Barmbeker Blues‹ und ›Der Tod in Harvestehude‹, das 1999 mit dem ›Marlowe‹ ausgezeichnet wird. Korn hält sich mit ihrer Mischung aus Wahnsinn und Wagemut für eine typische Schützefrau, die sich aus Angst auch einmal auf die Toilette flüchtet. Die Astrologie ist für die Journalistin eine nette Spinnerei.
Die Herausgeberinnen
Ursprünglich als Jungfrau geplant, zieht Thea Dorn intuitiv ein doppeltes Feuerzeichen vor und kommt – vier Wochen zu früh – am 23. Juli 1970 in Offenbach zur Welt. Die Löwefrau mit Aszendent Schütze geht nach dem Abitur ins antarktische Südgeorgien, um dort das Verhalten der Kaiserpinguine zu erforschen. Später arbeitet sie als Dozentin für Philosophie an der Freien Universität Berlin und hält Seminare zu Fragen der modernen Ethik und Ästhetik. Sie veröffentlicht die Kriminalromane ›Berliner Aufklärung‹, ›Ringkampf‹ erhält den Marlowe und für ›Die Hirnkönigin‹ den Deutschen Krimipreis 2000. Ihr Theaterstück ›Marleni‹ wird im Januar 2000 in Hamburg uraufgeführt. Nach einem für Feuerzeichen typischen anfänglichen Skeptizismus nähert sich Dorn durch die intensive Arbeit an den Astrokrimis der Weisheit der Sterne. »Seit ich weiß, daß fast kein Krimiautor Fische ist, schaue ich bei manchen Menschen genauer hin.« Als die Sonne am 13. August 1966 über dem Rhein am höchsten steht, erblickt Uta Glaubitz in Bad Godesberg das Licht der Welt. Als nicht ganz umgängliche Mischung aus Löwe mit Aszendent Skorpion wächst sie in Köln auf und beginnt, sich für den FC, Kölsch und Karneval zu interessieren. Glaubitz studiert Philosophie, Anglistik und Chaostheorie und unterstützt heute als Berufsfindungsberaterin andere darin, ihren Traumjob zu finden. Sie gibt Seminare, veranstaltet Konferenzen und veröffentlicht unter anderem den Bestseller ›Der Job, der zu mir paßt‹. Ihr Verhältnis zur Astrologie konzentriert sich vor allem auf die Beschäftigung
mit schwierigen Konstellationen. Glaubitz ist der festen Überzeugung, daß man nur lange genug in der Kneipe sitzen muß, um auch die letzten Geheimnisse der Astrologie aufzuklären. Als Waage mit Aszendent Krebs wird Lisa Kuppler am 7. Oktober 1963 im schwäbischen Eßlingen geboren. Während eines vierjährigen USA-Aufenthalts studiert sie amerikanische Geschichte und Literatur und schließt mit einem Magister in amerikanischer Umwelt- und Frauengeschichte ab. Sie entdeckt ihre Liebe zu Hollywoodkino und Populärkultur, zu Trash, Camp und Star Trek. Ihr Mars im Skorpion prädestiniert sie zu einer Karriere im hard boiled Krimigeschäft. Sie arbeitet als Lektorin von Krimi-Reihen und widmet sich der Neuübersetzung von Altmeister Mickey Spillane. Kuppler glaubt, daß die Astrologie ein magisches Ordnungssystem der menschlichen Wesensarten ist, das heute durch laienpsychologische Deutungen völlig verwässert wird. Die passionierte Kampfsportlerin lebt in Berlin-Mitte. Daß die nach eigenen Angaben typische Waage sich privat wie beruflich mit Löwefrauen umgibt, schreibt sie einem abstrusen Winkelzug der Astrologie zu.