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Roy Palmer
Gestrandet vor Bahia
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Der Nebel schob sich von Südosten her über den Atlantik,
kroch ...
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Roy Palmer
Gestrandet vor Bahia
-3-
1.
Der Nebel schob sich von Südosten her über den Atlantik,
kroch auf das Festland, die „Tierra Firme“ der spanischen
Eroberer, zu und duckte sich wie ein gigantisches
Schemenwesen tief auf die Wogen der See. Plötzlich, ganz
unversehens war er da und schuf dicke, undurchdringlich
wirkende Barrieren zwischen den Schiffen des spanischen
Verbandes, der sich auf die Küste zu bewegte.
Ricardo Prado stand am Steuerbordschanzkleid auf der Kuhl
der Galeone „Santa Barbara“. Seine Miene war verschlossen,
seine ernsten grauen Augen beobachteten unentwegt.
„Sieh nur, Carlo“, sagte er zu seinem jungen Landsmann. „Die
vier Kriegsschiffe, die unsere altersschwachen Kähne
begleiten, verschwinden langsam im Nebel und verlieren die
Fühlung mit uns.“
„Unser Geleitschutz“, entgegnete Carlo. Hohn schwang in
seiner Stimme mit. „Wie gelangen wir ohne ihn sicher an unser
Ziel?“
„Nach Bahia? Willst du denn wirklich dorthin?“
„Keiner will es, Ricardo. Aber wir haben keine andere Wahl
mehr. Was willst du tun? Etwa ins Meer springen und kläglich
ersaufen? Dich mit denen vom Achterdeck anlegen?“ Carlo
lachte bitter auf. „Der Capitan ist ein alter Trottel und reif für die
Pensionierung, aber er würde jeden von uns mit Waffengewalt
stoppen lassen. Es sei denn…“
„Es sei denn?“ Ricardo Prado hob die Augenbrauen.
„Meuterei“, raunte Carlo. „Das wäre das einzige, was uns
weiterhelfen könnte. Wenn wir die Besatzung auf unserer Seite
hätten…“
„… wäre noch lange nichts gewonnen“, sagte der Ältere. „Mein
Gott, Carlo, während unserer Überfahrt haben wir doch genug
Gelegenheit gehabt, diese Burschen einzuschätzen. Es ist ein
Lumpenpack. Gesindel, Verbrecher, Galgenvögel, die keine
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Sekunde zögern werden, uns allen die Gurgel durchzuschneiden, sobald sich die Gelegenheit dazu bietet.“ Carlos Blick wanderte über Deck. Die „Santa Barbara“ hob und senkte ihren knarrenden, wurmstichigen Rumpf in milchig grünen Fluten. Auf dem schlingernden Oberdeck hatten sich Mannschaft und Passagiere versammelt. Alle – weil man es unter Deck nicht mehr aushalten konnte, weil die Luft dort unten stickig, fast ohne Sauerstoff und der Gestank unerträglich war. Vor etwas mehr als zwei Monaten hatte die Reise der sechs Schiffe in Lissabon begonnen, und seitdem hatten sich die Bedingungen an Bord von Tag zu Tag verschlechtert. Frauen hielten schützend ihre Kinder umklammert. Männer, denen das Meer ein fremdes, feindliches Element war, standen am Schanzkleid und schauten angstvoll in die aufgerührte See, und manch einer von ihnen opferte den Fluten. Und die Mannschaft? Prado hatte recht, es waren ausnahmslos Halunken, die ihren Dienst mit unglaublichem Schlendrian versahen, die meiste Zeit unter dem Einfluß von Wein und Branntwein standen und immer wieder unmißverständliche Blicke auf die Frauen warfen. Einige kannte Carlo mit Namen: Antonio Perez, Augusto Navidad und Pedro Salvez, der das große Wort führte. Und dann die Senores vom Achterdeck: ein abgetakelter Mittsechziger der Kapitän, verkrachte Existenzen seine Offiziere. Sie paßten auf, daß ihre Waffen geladen und schußbereit waren und hatten ein waches Auge auf die Besatzung. Es war alles in allem das Vernünftigste, was sie tun konnten. Drüben auf der „San Domingo“ ging es kaum besser zu. Dort hatte ein fieberkranker Bootsmann das Kommando. Es war ein Wunder, daß er die zum Abwracken reife Galeone überhaupt bis hierher gebracht hatte. „Von mir aus können diese Hunde von Spaniern alle verrecken“, sagte Carlo zu seinem Freund. „Warum bringen sie sich nicht gegenseitig um? Ich würde keinen von ihnen
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bedauern. Schließlich haben wir sie nicht gebeten, uns in dieses verdammte Land zu schaffen.“ „Nein, das haben wir wirklich nicht“, sagte Ricardo Prado. Carlo hatte ausgedrückt, was die Portugiesen auf den beiden Galeonen voll Grimm empfanden. Fünfzig Menschen waren auf der „Santa Barbara“ und der „San Domingo“ unter unwürdigsten Zuständen zusammengepfercht worden. Sie sollten die Neue Welt als Pioniere besiedeln - zwangsweise. Männer, Frauen und Kinder, die willkürlich ihrer Heimat entrissen worden waren, einem Land mit pittoresken Regionen und stolzen, selbstbewußten Bewohnern, die noch voll unverfälschtem Pathos waren. Sie alle hatten bei den Unternehmungen eines gewissen Vasco da Gama Pate gestanden. Aber ein paar Jahre, bevor dieser aufbrach, um nach Indien zu segeln, hatten ihre Herrscher sich einem anderen Mann mit ähnlichen Plänen verschlossen, einem, den sie Colòn nannten. Dieser Christopher Columbus hatte sich gekränkt Spaniens Ferdinand und Isabella zugewandt und schließlich an jenem bedeutungsvollen 3. August 1492 im Hafen Palos mit drei Karavellen ankerauf gehen können, um den anderen, westlichen Weg nach Indien zu suchen. Vielleicht rührte von damals noch die Abneigung der portugiesischen Bevölkerung gegen die Neue Welt her, wie auch immer, selbst heute, im Sommer 1583, war noch eine Kluft zwischen Portugal und Spanien. Und das, obwohl beide Länder inzwischen vereint waren und der Teilungsmeridian von Tordesillas praktisch keine Rolle mehr spielte. Die Spanier konnten die Portugiesen nicht leiden – und umgekehrt. So verwunderte es nicht, daß die Söhne der spanischen Conquista ihre „Freiwilligen“ für die Besiedlung eines abweisenden und menschenfeindlichen Gebietes südlich des Äquators bei den Portugiesen suchten und daß sie in ein Unternehmen dieser Art so wenig wie irgend möglich investierten.
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Deshalb waren die beiden Galeonen erbärmliche
Seelenverkäufer und ihre Mannschaften vom Kapitän bis zum
letzten Mann der Bodensatz aller Seeleute.
Der Seegang nahm zu. Der auflandige Wind, der die Schiffe in
Richtung Bahia drückte, pfiff in den Luvwanten und Pardunen
und begann an den alten Galeonen zu rütteln. Der Nebel zog
bis auf die Oberdecks und machte es bald unmöglich, von der
Kuhl aus überhaupt noch das Achterdeck oder die Back zu
erkennen.
Pedro Salvez, ein dunkelblonder Mann mit Stoppelbart und
kantigem Gesicht, nahm Augusto Navidad und Antonio Perez
beiseite.
„Das ist unsere Chance“, sagte er. „Wir verlieren unseren
Geleitschutz aus den Augen. Vielleicht gelingt uns noch vor
Bahia, was wir geplant haben…“
„Meuterei“, erwiderte Augusto.
„Still“, zischte Antonio. „Willst du, daß der Zuchtmeister uns
hört, dieser Hurensohn?“
„Ich habe das Gefühl, wir begehen einen Fehler“, sagte
Augusto vorsichtig.
Pedro stellte sich dicht vor ihn hin. „Hör zu. Du kannst
aussteigen, wenn du willst, wir finden genug Verbündete an
Bord dieses Kahns. Aber ich warne dich. Ein Sterbenswörtchen
an die Schweinehunde vom Achterdeck, und du springst über
die Klinge.“
„Ich bin auf eurer Seite“, entgegnete Augusto Navidad. „Was
denkt ihr denn? Ich will dir nur raten, nicht zu voreilig zu sein,
Pedro.“
Salvez' Grinsen war verschlagen. „Ach so. Dann ist es ja gut,
Companero. Ich dachte schon, du wolltest mir ein Messer in
den Rücken jagen.“
Der Sturmwind nahm noch mehr zu. Die Wogen bäumten sich
zu gischtenden, grollenden Wasserbergen auf, rissen die
„Santa Barbara“ und die „San Domingo“ auf ihre
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Schaumkämme und stießen sie in gähnende schwarze
Schluchten.
Die Frauen weinten, die Kinder schrien vor Angst.
Von den vier Kriegsschiffen, die die Galeonen schützen und
leiten sollten, war nichts mehr zu sehen. Der Nebel schien sie
geschluckt zu haben.
* Hasard enterte in den Luvhauptwanten zum Großmars der
„Isabella VIII“ auf und hörte unter sich seinen Profos brüllen.
„Sir John! He, Sir John, du Rabenaas, du Stinkstiefel, wo, in
aller Welt steckst du denn, du verlauster, zerrupfter Geier?
Verdammt, ich zieh dir die Haut in Streifen ab, wenn du nicht
sofort wieder aufkreuzt.“
Sehen konnte Hasard Edwin Carberry nicht, denn der Nebel
deckte das Oberdeck zu wie ein Bausch aus Gänseflaum. Sir
John, der rote Aracanga, hatte mal wieder von Carberrys
Schulter abgehoben, um eine Runde um die „Isabella“ zu
fliegen. Hatte er im Nebel die Orientierung verloren?
Der Seewolf hatte an Wichtigeres zu denken. Er kletterte über
die Segeltuchverkleidung des Großmarses und ließ sich neben
Dan O'Flynn und Arwenack nieder. Der Schimpanse leistete
Dan wie üblich Gesellschaft. Matt Davies hatte mal gesagt, sie
hätten jetzt bald eine gottverfluchte Tierschau und einen
Affenzirkus an Bord – dabei hätte er jedem seine
Eisenhakenprothese ins. Fell gehauen, der Arwenack ein
Härchen oder Sir John eine Feder gekrümmt hätte.
„Was ist?“ fragte Hasard seinen Ausguck. „Sag bloß, du hast
den schwarzen Segler aus den Augen verloren.“
„Verdammt, ja“, erwiderte Dan. „Dieser elende Mistnebel.“
„Ich hoffe doch, Siri-Tong wird den Kurs halten und in unserer
Nähe bleiben.“
„Sie hat bis zuletzt signalisiert, wir sollen auf dem alten Kurs
bleiben.“
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„Hart am Wind an der Küste entlang, Dan.“
„Aber wir kriegen Sturm, verflixt und zugenäht“, sagte Dan.
„Und der wird uns auseinandertreiben. Die Orientierung in
dieser Suppe fällt ja so schon schwer.“
„Wir können es nicht ändern“, sagte Hasard. „Jeder von uns
muß jetzt eigenständig handeln und zusehen, daß er nicht auf
Legerwall geworfen wird. Im übrigen kriegen wir schon wieder
Kontakt, sobald sich der Nebel verzogen hat.“ Er schickte sich
an, den Großmars wieder zu verlassen, verhielt am Rand aber
noch kurz. „Dan…“
„Sir?“
„Haltet die Ohren steif hier oben und krallt euch fest, ich glaube,
wir kriegen ein Wetter auf die Jacke, das nicht von schlechten
Eltern ist.“
Er hangelte wieder nach unten, sprang vom Schanzkleid auf die
Kuhl und hielt nach Carberry Ausschau. Die Gestalt des Profos
wuchs plötzlich vor ihm aus dem Nebel, fast prallten sie
zusammen.
„Ed, hast du Sir John wiedergefunden?“
„Ho, und ob ich das Mistvieh gepackt habe!“ dröhnte Carberrys
Baßstimme. Er streckte Hasard seine Pranke entgegen. Aus
der Faust ragte der Kopf des Papageis auf, zwei Knopfaugen
irrten verzweifelt hin und her.
„Ed, du zerquetschst ihn ja“, sagte der Seewolf.
Carberry grinste im dichten Milchschleier. „Ach was, das kann
das Biest ab. Wenn wir den Sturm aufs Haupt kriegen und er
naß wird, muß ich ihn nachher auswringen, aber das übersteht
er doch nicht, glaub ich. Also sorgen wir lieber vor.“ Sprach's
und stopfte sich den protestierenden Sir John in die Tasche.
Hasard tastete sich zum Niedergang vor, klomm zum
Quarterdeck hoch und suchte das Ruderhaus auf. Ein Blick auf
den Kompaß, ein paar knappe Anweisungen an Pete Ballie,
den Rudergänger, dann kehrte er wieder an Deck zurück, denn
die „Isabella“ begann in der quirligen See zu tanzen und zu
schlingern.
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„Ed, Manntaue spannen und Sturmsegel setzen!“
„Aye, aye, Sir!“
„Ben!“
„Hier, Sir!“ rief der Bootsmann und Erste Offizier der „Isabella“
vom Achterdeck.
Hasard hetzte zum Achterdeck hinauf. Die Umrisse von Ben,
Shane, Ferris Tucker und Old O'Flynn nahmen sich
gespenstisch vor ihm aus.
„Wir boxen uns durch den aufziehenden Sturm, danach sehen
wir weiter“, sagte Hasard. „Etwas anderes können wir in diesem
Nebel vorläufig nicht tun.“
„Der Teufel soll ihn holen“, kam grollend Big Old Shanes
Stimme.
„Wir müssen noch aufpassen, daß wir in diesem Schlamassel
nicht mit dem schwarzen Segler kollidieren.“
Kurze Zeit später schien sich Shanes düstere Ahnung zu
bestätigen. Die „Isabella VIII“ ritt den heranorgelnden Sturm ab.
Eine Riesenfaust schien sie zu packen und kräftig
durchzuschütteln. Sie schoß auf brüllenden Brechern dahin,
raste in Täler hinunter, drohte von herandonnernden
Wassermassen untergegraben zu werden – und schoß dann
doch immer wieder buchstäblich in letzter Sekunde schwarze,
flutende Mauern hoch, um auf neuen Gipfeln zu balancieren.
Hasard hielt sich an einer Nagelbank auf dem Achterdeck fest
und überlegte, ob er achtern eine Trosse ausbringen lassen
sollte. U-förmig im Schlepp der „Isabella“ gleitend, würde sie
dem Schiff mehr Stabilität verleihen. Es war ein alter Trick, den
er von seinem Alten, Sir John Killigrew, gelernt und bereits
mehrfach angewandt hatte.
Aber er kam nicht dazu, den Befehl zu geben.
Dan O'Flynns Ruf gellte durch das Brausen und Heulen des
Wetters: „Deck, ho, Schiff Steuerbord voraus!“
„Gespenster!“ schrie Luke Morgan von der Kuhl her.
„Red keinen Mist!“ brüllte Carberry.
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Der Sturmwind hatte die Nebelschwaden hochgewühlt und ein
Stück vor sich hergetrieben. Hasard und die anderen auf dem
Achterdeck konnten aber durch die sprühende Gischt gar
nichts, selbst Smoky und Al Conroy auf der Back kaum etwas
von dem erkennen, was vor ihnen lag. Nur Dan, der junge
Mann mit den extrem scharfen Augen, war es mal wieder, der
sie vor einem Unheil behütete.
„Hart Backbord!“ schrie Hasard Pete Ballie zu.
„Männer braßt an!“ brüllte der Profos. „Wir drehen in den
Scheiß-Südost, und wenn die verfluchten Segel killen und
knattern, zieht ihr gefälligst die Köpfe ein!“
Ja, sie luvten wirklich in einem haarsträubenden, waghalsigen
Manöver an und gingen fast ganz in den Wind, aber nur diese
gedankenschnelle Reaktion des Seewolfes bewahrte sie vor
dem Zusammenprall mit dem anderen Schiff.
Hasard klammerte sich am Steuerbordschanzkleid fest und
schaute in den dahinhuschenden Nebel, als das fremde Schiff
an ihnen vorbeizog. Gischt umhüllte ihn und durchnäßte ihn bis
auf die Haut. Ein Brecher rollte gegen die „Isabella“ an, hob sie
hoch, ließ sie nach Backbord krängen und verwandelte die
Decksplanken unter Hasard in eine glitschige, abschüssige
Bahn. Und doch hielt er sich und konnte einige Einzelheiten des
unbekannten Seglers registrieren, bevor dieser vorbei war und
in Gischt, Schaum und Nebel verschwand.
„Ein Spanier!“ rief Hasard seinen Männern zu. „Ein waschechter
Don, ich habe seine Flagge erkannt – und dazu noch ein gut
armierter. Ein Kriegsschiff, sage ich euch! In ruhigerer See
hätte er uns wahrscheinlich gefordert. So aber hatte er genug
mit sich selbst zu tun!“
„Und ich dachte, das wäre der schwarze Segler!“ schrie Old
O'Flynn von der Nagelbank her, um die er seinen Arm gehakt
hatte.
„Seit wann kann Siri-Tong denn hexen?“ fragte Shane. „Sie
kann uns doch nicht mitten im Sturm überholt haben.“
„Der ›Eilige Drache über den Wassern‹ kann noch viel mehr“,
orakelte der Alte. „Vergeßt nicht, woher der Kahn stammt, was
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wir damit schon alles erlebt haben und was noch im weiteren
passieren kann.“ Er stieß einen Fluch aus. „Es gibt fliegende
Schiffe, Spuklichter und den Fluch des Jonas auf See, aber das
ist alles nichts gegen die Hexereien, die die Zopfmänner
aushecken.“
Die Erinnerung an das, was sie nach dem Abenteuer bei den
Amazonen und Inkas im Amazonas-Delta erlebt hatten, war
noch frisch. Wer von ihnen würde jemals vergessen, wie die
Männer des plötzlich aufgetauchten Drachenschiffs Siri-Tong
und den Wikinger entführt hatten, wie die Vergangenheit der
Roten Korsarin aufgedeckt worden war, wie sie fast ihr Leben
verwirkt hätte!
Old Donegal Daniel O'Flynn traute Siri-Tong manchmal nicht so
recht über den Weg, aber damit tat er ihr unrecht.
„Er hat seine Schrullen“, pflegte Dan über seinen Alten zu
urteilen, wenn Old Donegal mal wieder mit seinen
Prophezeiungen vom Leder zog. Und jeder Mann an Bord
wußte die Worte des Alten richtig zu werten.
Nur eins blieb: der Aberglaube.
Hasard haßte Unkereien, er wandte sich zu Old O'Flynn um
und rief: „He, Donegal, sag mir lieber, was den Don in diese
Gegend treibt, statt so hohle Sprüche zu klopfen!“
„Der sucht uns, ist doch klar!“ schrie O'Flynn.
„Einer allein?“ rief Ferris Tucker.
„Unsinn, der gehört zu einem Geschwader“, sagte Big Old
Shane. „Hölle und Teufel, das heißt, daß wir auch auf die
anderen Schiffe stoßen und sie dann alle am Hals haben
könnten. Ich schätze, wir müssen mächtig auf der Hut sein.“
Hasard grinste in sich hinein. Daß sie mitten in einen
spanischen Kriegsschiffverband geraten waren, hielt auch er für
wahrscheinlich. Aber es fragte sich, ob den Dons der Sinn
danach stand, sich heute mit ihm anzulegen.
Egal, er hoffte, daß der Spanier ihn erkannt hatte. Das würde
ihn und seine Landsleute zu den verrücktesten Mutmaßungen
veranlassen. Auch die Dons waren abergläubisch, und vielleicht
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glaubten sie, einem Geisterschiff begegnet zu sein. Inzwischen mußte es sich herumgesprochen haben, wie dem spanischen Schiffskonvoi geschehen war, der zuletzt auf dem Amazonas nach der „Isabella“ und dem schwarzen Segler gefahndet hatte. Die „Isabella“ und der „Eilige Drache über den Wassern“ waren samt ihren Besatzungen verschwunden gewesen. In der „Selva“, dem Regenwald, der grünen Fieberhölle verschollen. Dies war das Verdienst der Versteck-, Tarnungs- und Fallenkünste der Amazonen. Enttäuscht und erbittert waren Hasards Todfeinde wieder umgekehrt, und von Cayenne und den anderen Häfen und Siedlungen an der Ostküste aus hatte die Nachricht über das Untertauchen des Seewolfes ihren Weg genommen. Hasard glaubte fest daran, noch weiteren Kriegsschiffen zu begegnen. Er nahm sich vor, sie gründlich zum Narren zu halten – soweit der Sturm es zuließ. Was Dan O'Flynn wenig später aber im verwehenden Nebel sichtete, waren alles andere als massive, gut bestückte Kriegssegler. Es handelte sich vielmehr um zwei jämmerlich abgetakelte Galeonen, die vor dem Sturmwind trieben. Sie schienen überhaupt nicht mehr manövrierfähig zu sein und waren zum Spielball der Wellen geworden. „Nun sieh dir das an“, sagte Hasard zu Ben. Er reichte ihm das Spektiv. „Und so was schwimmt noch. Allmächtiger, das Wetter wird sie zerschmettern.“ „Willst du sie verfolgen?“
Hasard schüttelte den Kopf. „Ich glaube, da gibt es wirklich
nichts zu holen. Außerdem habe ich im Moment andere
Sorgen.“
Die „Isabella“ lag inzwischen wieder hart am Wind, segelte also
mit Backbordhalsen auf Steuerbordbug liegend. Der Sturm tobte mit unverminderter Heftigkeit und drohte sie zur Küste zu drängen, so wie die beiden spanischen Galeonen, deren Namen und Bestimmung den Seewölfen nicht bekannt waren.
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2.
Mitten im Tosen der Naturgewalten hatten sich die portugiesischen Siedler doch wieder unter Deck der „Santa Barbara“ und der „San Domingo“ zurückgezogen. Ein Mann war außenbords gespült worden, als ein Brecher die „Santa Barbara“ überflutet hatte. Carlo hatte sich in die brodelnde See stürzen wollen, um dem armen Teufel zu helfen. Ricardo Prado hatte ihn jedoch zurückgehalten. Es gab nicht genügend Halt auf der taumelnden Plattform des Hauptdecks, alle, besonders die Frauen und Kinder, drohten das gleiche Schicksal wie der Schiffbrüchige zu finden. So nahmen sie es in Kauf, wie die Tiere unter Deck zu hocken, in Dreck, üblen Gerüchen und kaum sauerstoffhaltiger Luft, aneinandergeklammert, hin und her geworfen. Erschüttert sahen Ricardo und Carlo auf die Szene. „Es ist das Ende“, sagte eine Frau im Donnern der Sturmwogen. „Der Herr stehe uns bei.“ „Vater unser, der du bist im Himmel“, begann eine andere. Die anderen Frauen fielen mit ein, dann stimmten auch die Männer mit in das Gebet ein. Und je wütender Wind und Wasser auf die „Santa Barbara“ einhieben, desto lauter und flehender wurde der Chor der Todgeweihten. Dona Teresa, eine besonders mutige, stämmige Frau Ende der Vierzig, hielt zwei junge Mädchen an sich gepreßt und strich ihnen über die Köpfe. Die Mädchen weinten hemmungslos. Eine von ihnen kannte Carlo mit Namen, sie hieß Magdalena. An den Namen der anderen erinnerte er sich nicht. „Ave Maria“, riefen die Frauen. „Ave Maria, barmherzige Mutter Gottes, hilf uns…“ Urmächte richteten sich vor der. „Santa Barbara“ auf, Klauen der Finsternis schienen sich nach ihr auszustrecken, dann fiel das Verhängnis mit Brüllen und Tosen über die alte, reparaturbedürftige Galeone her. Ein Schlag traf sie, als hieben Riesen mit Hämmern gegen ihre Bordwände, sie erzitterte bis in die letzten Verbände.
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Männer, Frauen und Kinder schrien auf, bevor sie durcheinandergewirbelt wurden. Sie hörten nicht auf, „Ave Maria“ zu rufen. Sie klammerten sich in der Stunde des Todes nur noch fester aneinander, bekannten ihre Sünden, flehten um Gnade und Erbarmen. Carlo stieß sich den Hinterkopf an einem Balken. Es dröhnte in seinem Schädel, fast schwanden ihm die Sinne. Er wußte nicht, wo Ricardo war, was aus Dona Teresa und Magdalena und dem anderen Mädchen geworden war, er sah nur eine düstere, wogende Masse aus Leibern vor sich, hörte das Geschrei und das Heulen aller Dämonen der Hölle, das Orgeln von Höllenstürmen, und er glaubte, gleichzeitig Bronzeglocken dröhnen und die Apokalyptischen Reiter galoppieren zu hören. Auf dem Höhepunkt des rasenden Infernos splitterte und krachte der Rumpf der „Santa Barbara“ ohrenbetäubend. Alles brach zusammen, alles versank in erlösender Finsternis. Die Küste, dachte Carlo nur noch, Riffe… Er glitt auf einer schwarzen Rutschbahn geradewegs in den Höllenschlund, ein letzter Gedanke gab ihm ein, daß dieses Abtreten von der großen Weltbühne genauso war, wie er es sich in seinen finstersten Ahnungen immer vorgestellt hatte. Carlo tauchte in die Hölle ein, aber sie war nicht heiß, sondern kalt und ernüchternd. Er drehte sich, arbeitete mit Händen und Füßen wie ein verzweifelter, in den Fluß geworfener Hund, gewann Auftrieb und schoß nach oben. Konturen glitten an ihm vorbei, Düsteres, Undefinierbares – Felsen? Wrackteile? Menschen? Er geriet mit dem Kopf über Wasser, schnappte japsend nach Luft und griff instinktiv nach dem ersten Gegenstand, der ihm zwischen die Finger geriet. Es war ein Stück Schiffsbalken, morsch und verrottet wie alles auf der „Santa Barbara“. Für Carlo war er ein Geschenk des Himmels. Er klammerte sich an dem Holz fest und trieb im Sturm dahin. Wohin? Er wußte es nicht.
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Ein menschlicher Kopf tauchte neben ihm aus den Fluten hoch.
Carlo gewahrte ein schlankes Gesichtsoval mit
feingeschnittenen Zügen und langen schwarzen Haaren.
„Magdalena“, stieß er aus. Er streckte die Hand aus, rief noch
einmal ihren Namen, dann griff sie zu.
In ihrer Not riß sie ihn fast von dem Balken weg, aber Carlo
hatte die Geistesgegenwart, keinen von beiden loszulassen –
weder den Balken noch das Mädchen. Er zerrte Magdalena
mühselig zu sich heran, dann schossen sie zwischen
Wogenhängen und brüllenden Schlünden dahin und stammelten ihr „Ave Maria“.
„Wir sterben“, stieß Magdalena aus.
„Wir schaffen es“, keuchte der junge Mann.
„Bis nach Bahia?“
„Bis nach Bahia.“
„Ave Maria“, rief sie schluchzend. „Gib, daß es wahr wird!“
„Magdalena – ich sehe Land!“
„Du bist verrückt, Carlo.“
„Ich sehe wirklich Land, eine Insel!“
„Ich erkenne nichts!“
„Gib, daß es kein Trugbild ist“, keuchte Carlo. Dann blickte er
mit vor Entsetzen geweiteten Augen auf einen Brecher, der
grollend und stampfend genau auf sie zurollte.
* Pedro Salvez spuckte Seewasser und Verwünschungen aus, ging unter, tauchte wieder auf und brüllte vor Wut und Verzweiflung. Er war überzeugt, daß sein verfluchtes Dasein ein Ende gefunden hätte. Er glaubte nicht mehr an Rettung und an die Pläne, die er sich so fein ausgemalt hatte. Röhrend stieß ihn das Meer vor sich her und trieb ihn ins Ungewisse. Wo die anderen, seine Kumpanen, waren, wußte er nicht, nur eines hatte er in allen Einzelheiten miterlebt, wie
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nämlich die „Santa Barbara“ und die „San Domingo“ auf Riffe
gelaufen und zerschellt waren.
Riffe – wie weit waren sie von der Küste entfernt?
Gab es noch eine Chance, bis dorthin zu gelangen?
Pedro Salvez hatte die Hoffnung aufgegeben. Nur sein
Selbsterhaltungstrieb suggerierte ihm noch, nicht mit dem
Schwimmen auszusetzen, sich nicht dem vernichtenden
Element auszuliefern.
Aber urplötzlich fühlte er Widerstand unter seinen Füßen. Ein
Brecher donnerte heran, türmte sich in seinem Rücken auf,
rollte über ihn weg und schmetterte ihn auf festes Land.
Land – Salvez lag bäuchlings für einen Moment auf flachen
Sand gepreßt, dann kam er wieder hoch und Spie das Wasser
aus, das er geschluckt hatte. Aber er lachte. Er lachte wie ein
Verrückter, watete im fußhohen Wasser voran und sah unter
den gleitenden Nebelstreifen Land liegen, Land! Die Wogen
hatten verhindert, daß er es vorher erspäht hatte, aber jetzt
hatte er es erreicht.
Kichernd taumelte er durch die Brandung. Die heftigen
Unterwasserströmungen packten seine Fußknöchel und
brachten ihn erneut zu Fall, aber er hörte nicht auf zu lachen.
Das Wasser wollte verhindern, daß er aufs Trockene lief, wollte
ihn zu sich zurückzerren und vertilgen. Pedro Salvez stieß die
lästerlichsten Flüche aus, kroch, lief, fiel, arbeitete sich
knurrend voran. Der Kampf mit der Natur verwandelte ihn in
eine rasende Bestie.
Dann, endlich, brach er erschöpft auf dem Ufersand
zusammen, dort, wo die Brandung ihn nicht mehr packen
konnte. Er drehte sich auf den Rücken. Sein Atem ging flach
und keuchend. Der Südostwind blies über ihn weg und
schleuderte ihm Sand und Salz ins Gesicht, aber es kümmerte
ihn nicht.
Etwas berührte seine linke Hand.
Salvez fuhr zusammen, hob den Kopf, drehte sich – und blickte
seinem Kumpanen Augusto Navidad ins Gesicht.
-17
Navidad war ein etwas untersetzter Mann mit verlebtem Gesicht
und großen dunklen Augen. Sie waren noch größer als
gewöhnlich, diese Augen, sie spiegelten das Entsetzen, das
ihm in den Knochen steckte.
„Augusto“, sagte Salvez. Er hatte sich bereits wieder gefangen,
er brauchte weniger Zeit dazu als der etwas phlegmatische
Navidad. „Wir haben's geschafft, Augusto, wir leben, kapiert?“
„Ja.“
„Wo sind die anderen – Antonio Perez und die, die mit auf
unserer Seite stehen?“
„Ich weiß nicht…“
Pedro wandte den Kopf und suchte mit dem Blick den Strand
ab. Jäh verharrte er. „Da! Da bewegt sich was im Wasser. Wer
sagt denn, daß außer uns alle anderen verrecken müssen, he?
Los, Augusto, beweg dich, du Bastard, wir wollen doch mal
sehen, ob wir ein paar von den unseren an Land ziehen
können.“
Mit torkelnden Schritten liefen sie gegen den Wind an und
suchten hart an der kochenden Brandung nach dem, den Pedro
soeben gesichtet hatte.
Schließlich entdeckten sie ihn wieder und brüllten ihm zu:
„Heda, Hombre, hierher!“
Der Mann schleppte sich ein Stück weiter auf sie zu, gab dann
aber einen würgenden Laut von sich und brach zusammen.
Pedro stolperte zu ihm, packte ihn an seiner zerfetzten
Kleidung und schrie: „Augusto, hilf mir, du Hundesohn, das ist
einer der Decksleute der ,San Domingo'!“
Mit vereinten Kräften schleiften sie ihn auf den Ufersand. Pedro
Salvez warf ihn auf den Rücken und gab ihm zwei Ohrfeigen,
damit er zu sich kam.
„Der Teufel soll dich holen“, sagte der Gerettete, als er die
Augen aufschlug.
Pedro schnitt eine Grimasse. „Du Halunke, dankst du es mir so,
daß ich dich aus der Brandung geholt habe?“
„Du warst das? Verdammt, ich nehme es ja schon zurück.“
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„Wie heißt du?“ fragte Augusto Navidad.
„Lucio.“
„Lucio, richtig“, sagte Pedro. „Was ist mit deinen Freunden
geschehen, mit den Passagieren, mit den Dreckskerlen vom
Achterdeck?“
Lucio wischte sich mit der Hand über den Mund. „Einige sind
ersoffen, darunter der Bootsmann, dieser fieberkranke Hund.“
„Um den ist es nicht schade“, sagte Pedro. „Je mehr von diesen
arroganten Kerlen absaufen, desto besser. Du erinnerst dich
doch an unseren gemeinsamen Pakt, Lucio? Sobald wir
unseren Bestimmungsort erreichen und den Geleitzug los sind,
wollen wir meutern.“
„Ja. Ich bin dabei.“
„Es bleibt bei der Abmachung. Wir lassen uns nicht mehr
herumkommandieren. Wenn jetzt noch jemand auftaucht und
glaubt, er könne uns seine verfluchte Disziplin einbleuen, der
hat sich getäuscht.“
„Da!“ rief Augusto. „Das ist ja unser Kapitän!“
Pedro und Lucio fuhren gleichzeitig hoch und schauten in die
von Augusto angegebene Richtung. Etwas weiter südlich
taumelte ein Mann gebückt über den Strand. Seine nur noch in
Fetzen erhaltene Uniform, seine Statur und sein Gebaren
wiesen ihn unverkennbar als den Kapitän der „Santa Barbara“
aus.
„Nichts wie hin“, zischte Pedro. „Dem werden wir's jetzt mal
zeigen.“
Sie rafften sich vom Boden auf und begannen zu laufen. Lucio
fuhr aber unversehens wieder herum, als er eine Bewegung
hinter sich bemerkte und jemand mit rauher Stimme rief: „He,
Companeros, Kameraden – wartet doch auf mich!“
Auch Pedro und Augusto blieben stehen und drehten sich
verblüfft um. Salvez stand gebückt und streckte den Kopf vor.
Er glaubte seinen Augen nicht zu trauen.
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„Träum ich?“ stieß er hervor. „Oder ist diese eingeweichte Lumpengestalt wirklich Antonio? Komm her und laß dich ans Herz drücken, du alter Hurensohn!“ Antonio Perez lachte, stolperte, stürzte fast, fing sich aber wieder. Er torkelte auf Pedro zu und fiel ihm um den Hals. Lachend klopften sie sich auf die Schultern. Sie waren zwei skrupellose, brutale Schufte, die sich von Anfang an an Bord der „Santa Barbara“ bestens verstanden hatten und die eigentlichen Urheber der Meuterei-Idee waren. Ein Herz und eine Seele. Augusto hatte sich ihnen eher zögernd angeschlossen, andere wieder waren inzwischen von dem gleichen fanatischen Eifer besessen wie Pedro und Antonio. Meuterei! Mord! „Kommt!“ rief Pedro. Er stürmte ihnen voran und führte sie direkt auf den Kapitän der „Santa Barbara“ zu. Der Mann lag, vor Erschöpfung bewußtlos zusammengesunken, mit dem Gesicht und Bauch nach unten auf dem Strand. Pedro verhielt mit einem triumphierenden Laut neben ihm. Seine Züge verzerrten sich zu einer Fratze, seine dunkelblonden Haare flatterten im Sturmwind. Er wirkte in diesem Augenblick wie der Leibhaftige höchstpersönlich. „So“, sagte er mit schneidender Stimme. „Jetzt zeige ich euch mal, wie ich mit Dreckskerlen Verfahre. So geht es allen Hunden vom Achterdeck, die ich hier zu fassen kriege!“ Er trat mit dem Fuß auf den Hinterkopf des Kapitäns und drückte dessen Gesicht tief in den Ufersand. * Die Insel war genauso überraschend vor den Seewölfen aufgetaucht wie vorher das spanische Kriegsschiff und dann die beiden erbärmlichen alten Galeonen. Dichter Nebel klebte noch wie ein Pfropfen auf den höchsten Erhebungen des Eilandes und verlieh ihm etwas Unheimliches. Die Atmosphäre war alles andere als einladend, außerdem
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hatten es Inseln so an sich, meistens mit üblen
Überraschungen aufzuwarten. Aber Hasard hatte keine Wahl.
Der Sturm drohte die „Isabella“ so dicht vor der Küste ernsthaft
in Gefahr zu bringen.
„Ben“, sagte er. „Wir halsen, laufen nach Norden ab und
wettern den Sturm im Windschatten der Insel ab, bevor es zu
brenzlig für uns wird.“
„Aye, aye, Sir.“ Ben Brighton gab den Befehl weiter.
Peter Ballie ließ das Ruderrad zwischen seinen Händen
wirbeln, Carberry brüllte seine Befehle und garnierte sie mit den
üblichen Flüchen. Die großen Rahsegel der „Isabella“ wurden
von der Crew fast genau in entgegengesetzte Richtung gebraßt
wie vorher, während das Schiff herumschwenkte. Zunächst
ging es vor den immer noch aus Südost heranorgelnden Wind,
schwenkte dann mit dem Heck ganz durch den Wind und erhielt
ihn schließlich raumschots von Steuerbord. Auf Backbordbug
liegend, rauschte die „Isabella“ nordwärts.
Wenig später gelang es dem Seewolf, sie an die nördliche,
windgeschützte Seite der Insel zu manövrieren und in eine
kleine Bucht zu verholen.
„Wir haben Glück“, sagte er zu seinen Männern auf dem
Achterdeck. „Die Wassertiefe scheint ausreichend zu sein. Wir
gehen hier vor Anker und warten, bis der Sturm abflaut.“
„Laßt fallen Anker!“ rief Ben Brighton.
„Fallen Anker!“ dröhnte Carberrys Baßstimme. „Muß ich euch
erst Feuer unter den Hintern machen, ihr müden Kakerlaken?“
Während der Buganker mit seiner schweren Trosse
ausrauschte, hob Big Old Shane den Kopf und blickte zum
Himmel auf.
„Lange werden wir wohl nicht zu warten brauchen“, sagte er.
„Tatsächlich“, erwiderte Old O'Flynn. „Es klart auf.“
„Die Wolken verziehen sich, vom Nebel ist nichts mehr zu
sehen“, fügte Ferris Tucker hinzu. „Ich glaube, der Wind läßt
auch langsam nach.“
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Der Seewolf trat ganz nach achtern ans Schanzkleid und ließ
den Blick schweifen. Ja, der Sturm ließ merklich nach. Der
Seegang draußen, außerhalb der geschützten Bucht,
verringerte sich ebenfalls. Und die Insel mit ihrer Nebelkrone
erschien plötzlich auch in einem freundlicheren Licht.
„Wir können bald wieder ankerauf gehen“, sagte er. „Wir
müssen Siri-Tong suchen. Hoffentlich ist ihr und ihren Männern
nichts zugestoßen.“
„Es gibt einige Sturmschäden zu reparieren“, meldete Ferris
Tucker. „Smoky hat mir gesagt, die Galion und der Bugspriet
hätten einen Knacks abgekriegt. Ein Fall ist gerissen, die Fock
hat ein Loch, die Laschings der Beiboote müssen überholt
werden, und auch die Brooktaue der 17-Pfünder haben eine
Inspektion dringend nötig, wenn uns die Dinger nicht
demnächst über die Füße rollen sollen. Wie es unten im Schiff
aussieht, muß ich noch kontrollieren.“
„Gut“, erwiderte Hasard. „Wir fangen sofort mit den
Ausbesserungsarbeiten an. Wir haben keine Zeit zu verlieren.
Wenn bloß die Sorge um Siri-Tong nicht wäre…“
„Es braut sich wieder was zusammen“, sagte der alte O'Flynn
plötzlich.
„Wie meinst du das?“ fragte Hasard. „Etwa im Hinblick auf den
schwarzen Segler und seine Besatzung?“
„Wir kriegen doch wieder Sturm.“
„Unsinn“, sagte Shane. „Die Wolkendecke reißt immer mehr
auf, bald haben wir klaren blauen Himmel, du alter
Miesmacher.“
„Redet, was ihr wollt, in meinem Beinstumpf sticht's und reißt's,
und das Reißen ist ein Zeichen für Wetterwechsel, ihr Heringe“,
sagte der Alte mit verkniffener Miene.
„Was mag aus diesen Spaniern geworden sein?“ fragte Ben.
„Wir haben sie nicht mehr gesehen. Hoffentlich kreuzen die
Kriegsschiffe nicht hier auf und bepflastern uns mit ihren
Geschützen.“
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Hasard lehnte sich rücklings gegen das Schanzkleid und verschränkte die Arme vor der Brust. „Das müssen wir schon dem Zufall überlassen, Freunde. Wenn die Dons aufkreuzen, zeigen wir ihnen, was eine Harke ist, soviel steht fest. Wir werden auch in der Richtung unsere Vorbereitungen treffen. Was die beiden alten Galeonen betrifft – ich glaube, von denen ist nicht viel übriggeblieben.“ Er wußte nicht, wie recht er hatte.
3. An der Südseite der Insel hatten sich inzwischen Seeleute von der „Santa Barbara“ und der „San Domingo“ zusammengerottet und beratschlagten unter Pedro Salvez' Oberkommando an einem trockenen Platz oberhalb der Uferböschung. Der junge Carlo und das Mädchen Magdalena lagen ermattet auf einem schmalen Streifen Strand zwischen zwei düsteren Felsenbarrieren, die bis ins Wasser verliefen und wahrscheinlich auf dem Grund ihre Spur bis zu den Riffen zogen, an denen die Galeonen gescheitert waren. Carlo richtete sich ein Stück auf, stützte sich auf die Ellenbogen und blickte zu dem Riff hinüber. Sowohl von der „Santa Barbara“ als auch von der „San Domingo“ waren nur noch Wrackteile übriggeblieben, klägliche Reste, die mit bloßem Auge vom Inselufer aus kaum zu erkennen waren. Alles andere war versunken. Die schäbigen Schiffe waren von dem scharfen Riff aufgeschlitzt worden, die „San Domingo“ war sogar in zwei Teile auseinandergebrochen. Da hätte keine Macht der Welt mehr Abhilfe schaffen können, da hatte nur noch eine Devise gegolten: rette sich, wer kann! „Carlo, du hast mir das Leben gerettet“, sagte das Mädchen. „Ich werde dir ewig dafür dankbar sein.“
Er wurde fast verlegen und zuckte mit den Schultern. „Das ist
doch nicht der Rede wert. Ich meine, jeder andere an meiner
Stelle hätte sich ebenso verhalten.“
„Das glaube ich nicht.“ Sie stand auf. Ihr Blick irrte über die Wasserfläche, über die schwärzlichen Steine, über den Strand. „Mein Gott, wenn ich doch nur wüßte, was aus Vater geworden
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ist – und aus Dona Teresa. Die Männer dort oben – ob sie bei
ihnen sind?“
„Kaum“, erwiderte Carlo. „Die da, das sind Pedro Salvez und
seine Spießgesellen. Ausgekochte Burschen, vor denen man
sich in acht nehmen muß.“ Plötzlich fuhr er herum. „Sag mal,
hast du Vater gesagt? Ich wußte gar nicht, daß du einen
Verwandten an Bord hast!“
Traurig schaute sie ihn an. „Wir haben es geheimgehalten, daß
wir Vater und Tochter sind, aber jetzt kann ich es ruhig
preisgeben. Ich habe mich unter einem falschen Nachnamen
mit an Bord der ,Santa Barbara' geschmuggelt, anders hätte ich
es nicht geschafft. Die Spanier wollten nur Vater in die Neue
Welt übersiedeln, ich sollte daheim bleiben und einen feisten
Kerl heiraten, der ein Handelskontor in Cadiz besitzt. Es war ein
abgefeimtes Spiel, verstehst du? Aber Vater und ich haben es
fertiggebracht, den Kapitän und alle Offiziere zu täuschen.
Siehst du, nicht einmal du hast herausgefunden, wer ich
wirklich bin.“
„Und wer bist du wirklich?“ .
„Magdalena Prado.“
„Allmächtiger!“ Carlo verschluckte sich vor Überraschung und
hustete. Als er sich halbwegs erholt hatte, stieß er erregt
hervor: „Ausgerechnet Ricardos Tochter! Daß mir die
Ähnlichkeit nicht aufgefallen ist! Und Dona Teresa? Welche
Rolle spielt sie?“
„Wir haben sie erst auf dem Schiff kennengelernt. Sie hat sich
so rührend um mich gekümmert.“ Magdalenas Augen weiteten
sich, sie schlug die Hände vors Gesicht. „O Gott, wenn ich
daran denke, was ihr zugestoßen ist. Wir – zuerst hielten wir
uns noch umklammert, dann wurden wir auseinandergerissen.
Ich war für kurze Zeit in Vaters Nähe, aber bei der Wucht des
Aufpralls auf das Riff wurden auch wir getrennt.“
Carlo nahm sie bei der Hand. Er zog sie mit sich, auf die im
Südwesten verlaufende Felsenbarriere zu. „Es hat keinen
Zweck, daß du dir die Augen ausweinst. Wir müssen die beiden
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suchen. Es hat eine Menge Überlebende gegeben, das siehst
du ja an den Seeleuten, die da hocken.“
„Warum suchen sie nicht auch?“
„Sie denken nur an sich, an ihren Vorteil. Komm!“
Es bereitete ihnen keine großen Schwierigkeiten, über das
schroffe Gestein zu klettern. Sie hasteten weiter, forschten,
sahen Schiffstrümmer antreiben und hielten Ausschau, ob sich
Menschen daran festklammerten.
Der Tag ging zur Neige, aber der Sturm flaute ab, und die
Wolkendecke riß auf, so daß Sonnenlicht auf das Meer und die
Insel fiel. Klar konnten Carlo und Magdalena alle Einzelheiten
erkennen.
Hinter der Felsenbarriere erstreckte sich etwa eine halbe Meile
Strand, bevor wieder eine der zerklüfteten, merkwürdigen
Mauern die Beschaulichkeit der Uferlandschaft unterbrach.
Magdalena stieß einen kleinen Schrei aus, als sie vor dieser
Barriere Gestalten erkannte. Carlo hatte sie gleichfalls erspäht.
Er rannte, was seine Beine hergaben, ließ das Mädchen dabei
aber nicht los.
Außer Atem erreichten sie den kleinen Trupp. Fast alle
Schiffbrüchigen hatten sich hingekauert und hockten verstört
vor den Steinen.
Nur einer stand hochaufgerichtet und blickte den beiden
gespannt entgegen: Ricardo Prado.
„Vater!“ rief Magdalena.
Weinend stürzte sie auf den ernsten, ungebrochenen Mann zu
und umarmte ihn. Carlo schloß auf, verlangsamte seinen Schritt
etwas und lächelte. Sein Blick glitt über die kauernden
Gestalten.
„Dona Teresa“, sagte er.
Die stämmige, energische Frau blickte ihn fast ärgerlich an.
„Dona Teresa! Was soll das heißen? Dachtest du, ich könnte
nicht schwimmen, Junge?“
„Ich – nein. Aber ich hab mir große Sorgen um Sie gemacht.
Um Sie und die anderen.“
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„Schnickschnack. Die meisten von uns sind mit einem blauen
Auge davongekommen, das siehst du doch.“
Es war eine glatte Übertreibung, Carlo wußte es. Aber Dona
Teresa tat alles, um die Moral der Schiffbrüchigen zu heben.
Sie strahlte Selbstsicherheit aus und konnte ihnen allen Mut
und Zuversicht einflößen. Sie und Ricardo Prado waren zwei
großartige Menschen.
„Carlo“, sagte Magdalenas Vater. „Jetzt weißt du ja über uns
Bescheid. Tut mir leid, aber ich konnte dich nicht eher ins
Vertrauen ziehen.“
„Das spielt doch keine Rolle“, entgegnete Carlo. „Hauptsache,
ihr lebt. Aber sag mir eins, Ricardo. Was ist mit Magdalenas
Mutter?“
„Sie starb vor vier Jahren.“
„Verzeih mir.“
„Es ist doch dein gutes Recht, danach zu fragen“, sagte Prado.
„Wir haben weiter keine Verwandten drüben in Portugal, Amigo,
verstehst du? Trotzdem wollten uns die Spanier
auseinanderreißen, Magdalena zu einer Heirat zwingen, die sie
nicht wollte, und mich unschädlich machen, indem sie mich auf
die ,Santa Barbara' verfrachteten. Somit hätte ich keinen
Einspruch gegen die Vermählung erheben können.“
„Die Spanier“, versetzte Carlo zornig. „Das sieht ihnen ähnlich.
Sie können nichts als Haß und Zwietracht säen und grausam
sein – selbst zu ihren Verbündeten. Ändert sich das denn nie?“
„Auch unter den Spaniern gibt es humane Leute.“
„Du stehst über den Dingen, nicht wahr, Ricardo?“
„Ich hoffe es.“
Carlo blickte auf den wertvollen Toledo-Dolch, den Prado in
einer Scheide an seiner Hüfte trug. „Trotzdem. Die Waffe da –
hüte sie wie einen Schatz. Wir könnten sie noch gebrauchen.
Pedro Salvez und eine Meute von Seeleuten brüten oben an
der Böschung bereits über ihren Plänen.“
Ricardo nahm den jungen Mann beiseite und sprach gedämpft
auf ihn ein. „Lassen wir die Dinge auf uns zukommen. Vorerst
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dürfen unsere Landsleute hier nicht noch mehr erschreckt
werden.“
„Sind das alle Überlebende?“
„Von den Siedlern ja.“
„Wie viele?“
„Zwölf Männer mit uns beiden, acht Frauen, vierzehn Kinder.“
„Fast zwanzig Verluste also. Mein Gott.“
„Carlo – wir müssen mit Salvez und den anderen Seeleuten
sprechen, ob wir wollen oder nicht. Welche Chancen haben wir,
die nächsten Tage zu überleben? Wir befinden uns auf einer
Insel. Proviant und Trinkwasser haben wir nicht mehr, unsere
Schiffe sind zerschmettert, die letzten Wrackteile für uns
unerreichbar. Wir haben kein Feuer. Wir müssen uns zuerst auf
Nahrungs- und Trinkwassersuche begeben, und das können
wir nur mit Hilfe der anderen Schiffbrüchigen tun.“
„Einigkeit macht stark“, sagte Carlo bitter. „Aber was ist
eigentlich mit dem Kapitän und den Offizieren der Schiffe? Hat
von denen keiner überlebt?“
Seine Frage wurde wenig später auf unerwartete, drastische
Weise beantwortet. Ricardo Prado und er kletterten über die
Felsenbarrieren. Die Siedler hatten sie an ihrem Sammelplatz
zurückgelassen. Sie hielten schnurstracks auf die Stelle hinter
der Böschung zu, an der Pedro Salvez vor seinen Kumpanen
mal wieder das große Wort führte.
Carlo blieb plötzlich wie vom Donner gerührt stehen. Zu seinen
Füßen lag der Kapitän der „Santa Barbara“.
Er bückte sich zu dem Reglosen, drehte ihn auf den Rücken –
und sah in zwei gebrochene Augen.
„Tot“, murmelte Ricardo Prado. „Aber wie kann ihn die
Brandung so weit auf den Strand gespült haben?“
„Er ist nicht ertrunken“, erwiderte Carlo ziemlich laut. „Er ist
erstickt. Er hat den Mund voller Sand, und er ist nicht freiwillig
auf diese furchtbare Weise umgekommen, ich meine, das war
keine höhere Gewalt.“
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„Sehr richtig“, sagte Pedro Salvez. Er hatte seinen Standort
unter Palmen und Pinien verlassen und stapfte auf sie zu. „Ich
habe dieses Schwein erledigt, Freunde, und wir haben noch ein
paar andere Hunde vom Achterdeck ins Jenseits befördert,
wenn ihr's genau wissen wollt.“
„Das ist Mord“, sagte Ricardo Prado.
Salvez blieb stehen und legte den Kopf ein wenig schief. Er
stemmte die Fäuste in die Seiten und sagte: „So? Paß auf, wie
du sprichst, alter Mann. Wir haben uns nur von einer Handvoll
Narren befreit, das ist es. Seid ehrlich, ihr hättet es auch getan.
Ihr wollt doch nicht nach Bahia, oder?“
„Nein“, antwortete Carlo.
„Dann spielt hier nicht die Engel.“
„Was hast du vor, Salvez?“ fragte Ricardo Prado. „Bist du als
Wortführer der Seeleute bereit, mit uns zusammenzuarbeiten?“
Salvez lachte wild auf. „Zusammenarbeiten ist gut. Hört zu. Wir
beabsichtigen, auf dieser Insel zu bleiben, sie scheint nicht so
schlecht zu sein, wie sie auf den ersten Blick aussieht. Wir
gründen hier ein neues, unabhängiges Reich, verstanden? Ihr
habt zu tun, was wir euch sagen.“
„Das ist nicht gerecht“, widersprach Prado. „Ihr habt uns nichts
zu befehlen. Wir sollten vielmehr zwei Anführer wählen, die
dann jeweils die Beschlüsse der Mehrheit in die Tat
umzusetzen versuchen.“
„Nein“, sagte Salvez scharf. „Ihr portugiesischen Tagediebe
habt hier nichts zu melden.“
Carlo wollte aufbrausen. Salvez hob die Hand und wandte sich
wieder an Prado. „Halte deinen Freund zurück. Ich kann
verdammt unangenehm werden, und ich habe eine kleine
Kompanie recht gut bewaffneter, kräftiger Männer hinter mir.
Und ihr? Ihr solltet achtgeben, daß den Frauen und Kindern
nichts passiert. He, Prado, du alter Schwerenöter, ich habe
gesehen, wie du an Bord der ,Santa Barbara' ein paarmal mit
der kleinen Schwarzhaarigen getuschelt hast. Heimlich. Was
habt ihr für Geheimnisse? Ich kriege es schon noch 'raus.
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Könnte sein, daß ich auf die kleine Magdalena auch ein Auge geworfen habe.“ „Sei vorsichtig, Salvez“, sagte Carlo langsam. „Du kannst die Augen nicht überall haben. Reiz mich bloß nicht zu sehr. Auch ein portugiesischer Tagedieb kann dir zusetzen, daß dir das Lachen vergeht.“ Der Meuterer nickte. „Das stimmt. Also sehen wir das Ding mal von einer anderen Seite, ja?“ Er wies mit dem Daumen hinter sich. „Einige meiner zuverlässigsten Leute sind bereits in die Berge aufgestiegen und haben gute Nachrichten gebracht. Es gibt Früchte, Kleinwild, eine Süßwasserquelle, Höhlen, in denen man wohnen kann. Wahrscheinlich wird es uns auch gelingen, Feuer zu entfachen – eher als euch. Ihr wißt, was das bedeutet.“ „Sie haben uns in der Hand“, stellte Ricardo Prado nüchtern fest. „Es hat keinen Zweck, Widerstand zu leisten. Wir sind vom Regen in die Traufe geraten.“ * In den späten Nachmittagsstunden spannte sich ein metallblauer Himmel über der Ankerbucht der „Isabella“. Nur wenige Wolkenfetzen unterbrachen die intensive Färbung dieser Kuppel und trieben gemächlich dahin, weil der Wind nicht nur auf Nordosten gedreht hatte, sondern allmählich einzuschlafen schien. Es versprach, eine ruhige Nacht zu werden. Auf offener See kräuselte nur noch eine leichte Dünung die Wasseroberfläche. Hasard blickte vom Achterdeck mit dem Spektiv nach Norden, Dan O'Flynn tat vom Hauptmars aus das gleiche, aber ihre Bestrebungen führten immer wieder nur zu dem einen entmutigenden Ergebnis: von dem schwarzen Segler keine Spur. „Was ist mit den Reparaturarbeiten?“ fragte Hasard seinen Bootsmann.
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Ben trat neben ihn. „Die Galion und der Bugspriet sind in
Ordnung, die Fock von Will Thorne ausgebessert, die Beiboote
und die Kanonen neu festgezurrt, Brassen, Schoten und Fallen
geprüft, erneuert und klariert.“
„Und das Leck, das Ferris im Frachtraum entdeckt hat?“
„Er ist noch unten.“
Hasard schob das Fernrohr zusammen, steckte es ein und
stieg auf das Quarterdeck hinunter. „Bill, du flitzt in den
Frachtraum und siehst nach, wie weit Ferris mit der
Ausbesserung des Lecks ist.“
„Aye, aye, Sir!“ rief Bill, der Schiffsjunge. Er lief los, quer über
die Kuhl aufs Steuerbordschott des Vordecks zu, und Sir John
folgte ihm in elegantem Tiefflug.
„Ed!“
„Sir?“
„Ist die 'Isabella' gefechtsklar?“
„Alles klar!“
„Dann halte dich zu meiner Verfügung.“
Bill kehrte wieder auf Oberdeck zurück, er mußte wie der geölte
Blitz nach unten gesaust sein.
„Sir“, meldete er außer Atem. „Für die Abdichtung des Lecks
braucht Ferris noch gut eine Stunde, hat er gesagt.“
„Bis zum Dunkelwerden also“, sagte der Seewolf. „Danke, Bill.“
Er sah zu Carberry. „Los, wir fieren ein Beiboot ab und pullen
aus der Bucht. Ed, Shane, Blacky, Batuti, Gary – ihr begleitet
mich. Bill, du kannst auch mitkommen.“
„Danke, Sir!“ Bill strahlte vor Freude.
„Dan!“ rief Hasard zum Großmars hoch. „Halte die Augen offen,
auch zur Insel hin, verstanden?“
„Verstanden!“ rief Dan zurück.
„Ben“, sagte Hasard. „Du übernimmst während meiner
Abwesenheit das Kommando. Wenn die spanischen
Kriegsschiffe sich zeigen, wartest du ab, vielleicht entdecken
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sie uns nicht. Laufen sie aber die Bucht an, gehst du ankerauf,
verbaust die Einfahrt und eröffnest rigoros das Feuer.“
„Aye, aye. Was hast du vor?“
„Siri-Tong suchen. Wir runden mit dem Beiboot die Insel und
halten nach allen Seiten Ausschau. Noch haben wir eine reelle
Chance, das schwarze Schiff zu sichten und den Freunden ein
Zeichen zu geben.“
„Ja. Was meinst du, gibt es Wild auf der Insel?“
„Möglich, warum?“
„Der Kutscher hat gesagt, ein bißchen Frischfleisch würde
unsere Vorräte angenehm bereichern. Ich meine, das wäre
doch eine Gelegenheit…“
Hasard lächelte. „Natürlich. Wenn wir Pech haben und wieder
keine Spur vom schwarzen Segler entdecken, könnten wir
wenigstens landen und auf Jagd gehen, solange das
Büchsenlicht noch ausreicht.“
Old O'Flynn hob mahnend den Zeigefinger. „Aber nehmt euch
in acht! Ich sage dir, mein Beinstumpf brennt wie die Hölle, und
das ist ein untrügliches Zeichen für Verdruß.“
„Bei dem klaren Himmel?“ sagte Shane. „Mann, diesmal
vergaloppierst du dich aber, Donegal.“
Das Beiboot war abgefiert. Hasard und seine Begleiter enterten
auf der Steuerbordseite an der Jakobsleiter nach unten und
besetzten die Duchten des Bootes. Kurz darauf legten sie ab
und pullten zügig aus der Bucht.
4. Pedro Salvez und seine gut zwei Dutzend Gefolgsleute hatten sich in eine der Höhlen auf halber Höhe des Bergrückens, der das Rückgrat der Insel bildete, zurückgezogen. Wie Salvez angekündigt hatte, war es ihnen gelungen, Zunder aus trockenem Laub zusammenzutragen und durch das geschickte Reiben von Hölzern Feuer zu entfachen.
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Die Flammen zuckten in der Höhle und leuchteten sie aus, der Widerschein strich an den Wänden hoch und war bis zu den tiefer lagernden portugiesischen Siedlern hin zu sehen. „Dieses Lumpenpack“, sagte Dona Teresa. Sie hockte inmitten der anderen Frauen auf einer Waldlichtung und hatte einen Arm um Magdalena und den anderen um ein anderes Mädchen gelegt. Die Sonne hatte sie alle getrocknet und gewärmt, aber jetzt ging die Sonne unter. Sie schickte sich an, als glutroter Ball im Westen zu versinken, und es würde eine kühle Nacht werden, die vornehmlich den Kindern den Tod bringen konnte. „Ganz zu schweigen von den Tieren, die über uns herfallen werden“, sagte Dona Teresa. „Aber wartet nur, wir werden es diesen Strolchen da oben schon zeigen.“ „Wegen der Tiere haben wir weniger Angst“, entgegnete einer der Männer. „Aber machen wir uns nichts vor. Die Kerle in der Höhle haben alles. Früchte, die sie gesammelt haben, die aber nur weiter oben im Wald wachsen. Kleinwild, das sie mit Messern und Degen erlegt haben. Wasser.“ „Und sie versperren uns den Zugang zur Quelle!“ rief eine Frau. „Trotzdem können auch wir Beeren und Wurzeln sammeln und auf die Jagd gehen“, erklärte Carlo erregt. „Wer sagt denn, daß wir nichts finden?“ Einer der Männer, der auf einem Stein hockte, wies auf die untaugliche Feuerstelle zu seinen Füßen. „Carlo, wir sind vom Pech verfolgt. Sieh doch, es ist uns nicht mal gelungen, ein Feuer anzureiben, wie die Wilden es machen.“ „Die Seeleute sind aber auch keine Wilden“, wandte Dona Teresa ein. „Trotzdem haben sie's geschafft.“
„In den Höhlen ist es weitaus trockener als hier“, erwiderte
Magdalena. „Das ist es.“
Carlo tat zwei Schritte und stand mitten unter den Siedlern. „Wer sind wir denn, daß wir uns das gefallen lassen? Auf was warten wir noch? Gehen wir 'rauf zu diesen Bastarden und geben wir's ihnen. Sie haben ein paar Schußwaffen, aber das Pulver ist feucht und unbrauchbar, damit können sie uns nicht
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bedrohen. Und ihre Degen, Säbel, Messer? Habt ihr davor etwa
Angst?“
„Nein“, sagte ein hochgewachsener Mann. „Ich bin ganz deiner
Meinung, Carlo. Wir schleichen uns im Dunkeln nach oben,
verschaffen uns Respekt, brechen zur Trinkwasserquelle durch
und besetzen sie. Dann haben wir das Monopol und die Macht
auf der Insel.“
Weitere Stimmen wurden laut.
Ricardo Prado hob beide Hände, es sah beschwörend aus.
Tatsächlich trat sofort Ruhe ein. „Hört mich an, Freunde. Ich
bewundere euren Mut, aber was ihr vorhabt, läßt sich nicht
verwirklichen. Vergeßt nicht, daß wir Frauen und Kinder bei uns
haben. Nein, wir dürfen keine offene Gewalt anwenden. Wir
dürfen keine Dummheiten begehen, die wir später bitter
bereuen würden.“
„Sondern?“ rief der Hochgewachsene. „Wir werden verrecken,
einer nach dem anderen. Wer nicht verdurstet, stirbt vor
Hunger, wer nicht verhungert, kriegt das Fieber oder sonst
irgendeine verfluchte Krankheit.“
Einige Kinder begannen zu weinen. Dona Teresa schnitt eine
Grimasse, als wolle sie sich auf den Sprecher stürzen und ihn
ohrfeigen.
„Holzkopf“, sagte sie aufgebracht.
„Da, sieh doch, was du anrichtest. Findest du das gut?“
„Wir dürfen uns nicht von der Panik überwältigen lassen“, sagte
Ricardo Prado ruhig. „Ich bin der Älteste von euch, ihr dürft mir
ruhig vertrauen. Streit können wir allemal nicht gebrauchen.
Carlo, willst du dich etwa gegen mich auflehnen?“
Carlo blickte zu Magdalenas Vater. Ihre Blicke verfingen sich
ineinander. Es lag soviel Autorität in Prados grauen Augen, in
seinem ganzen Auftreten – man konnte nicht gegen ihn
rebellieren. Und Carlo hatte noch zwei andere Gründe,
zurückzustecken: Ricardo Prado war für ihn ein
neugewonnener Freund, und dann war da noch die schöne
Magdalena…
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„Wir hören auf dich“, sagte Carlo ernst.
„Zunächst sollten wir uns eine Höhle für die Nacht suchen“,
schlug Prado vor. „Wenn wir uns gut umsehen, finden wir schon
den geeigneten Unterschlupf. Dann brauchen wir nur noch dicht
zusammenzurücken und…“
„Vorsicht“, warnte plötzlich der Posten, den sie, am Rand der
Lichtung aufgestellt hatten. „Da kommt jemand.“
Prado tastete unwillkürlich mit der Hand nach seinem Toledo-
Dolch. Wer von den Männern Waffen bei sich trug, folgte
seinem Beispiel. Bange Sekunden verflogen, dann knackte und
brach es im Unterholz, und Pedro Salvez trat an der Spitze
eines zehnköpfigen Trupps Seeleute auf die Lichtung.
„Keine großen Vorreden“, sagte er. „Ich habe mir überlegt, daß
wir euch wohl doch etwas ungerecht behandelt haben. Einer
von euch kann jetzt zu uns 'raufkommen und sich am Feuer
wärmen. Anschließend geben wir ihm Wasser und was zu
essen, das er hier heruntertragen kann.“
Er sah zu den Kindern. „Die Bälger müssen was zu kauen
kriegen, sonst gehen sie noch ein. Wäre schade drum.“ Er
grinste, sein Blick verharrte auf Magdalena. „Ihr portugiesischen
Strolche habt ja auch einen ganz stattlichen Nachwuchs, das
muß man euch lassen.“
„Ich gehe mit“, sagte Ricardo Prado zu Pedro Salvez.
„Einverstanden?“
Salvez schüttelte den Kopf und schnalzte dabei mit der Zunge.
„Ganz und gar nicht. Ich bestimme, wer uns begleiten darf.“ Er
sah immer noch auf das schöne Mädchen. „Du, Magdalena.
Steh auf und komm her.“
Magdalena schaute ihn verwundert an, dann sah sie zu den
weinenden Kindern und den verzweifelten Frauen und erhob
sich mit einem Ruck. Dona Teresa schluckte empört und ratlos
zugleich, sie wußte nicht, wie sie sich verhalten sollte.
„Halt“, sagte Carlo. „Daraus wird nichts. Männer, merkt ihr denn
nicht, daß das nur einer von Salvez' üblen Tricks ist?“
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„Du beleidigst mich schon wieder, junger Freund“, erwiderte
Salvez leise. „Ich hab das nicht so gern. Du könntest dir die
Zunge verbrennen, weißt du das?“
„Ich pfeife darauf. Magdalena bleibt hier.“
„Nein“, sagte das Mädchen. „Tut mir leid, Carlo, aber es ist
unsere einzige Chance, nicht jämmerlich zugrunde zu gehen.“
Sie trat vor den Anführer der Meuterer hin und sah ihn offen an.
„Aber ich sage dir das eine, Salvez. Glaube bloß nicht, daß du
dich an mir vergreifen kannst. Das wäre kein Vergnügen für
dich, verlaß dich drauf.“
Salvez bezwang mühsam sein Lachen. „In Ordnung“, erwiderte
er. „Ich schwöre dir, daß ich dich wie eine Edeldame behandle.“
Magdalena sah zu ihrem Vater. Er nickte ihr schweigend zu.
Etwas später betrat Magdalena hinter Salvez die Höhle der
Meuterer. Gut zwanzig Augenpaare verharrten mit ihren Blicken
auf ihrem Gesicht, tasteten ihren makellos gewachsenen
Körper ab, ungeniert, unmißverständlich. Sie zogen sie förmlich
mit ihren Blicken aus.
Salvez wies grinsend auf das lodernde Feuer. „Schön, was? Du
darfst es bewachen, mein Täubchen. Du mußt aufpassen, daß
es nicht ausgeht. Ist das nicht nett von mir? Ich will dir was
Gutes tun, merkst du das nicht?“
„Danke für die Großzügigkeit“, erwiderte Magdalena mit
unverhohlenem Spott. „Ich schlage euch auch etwas vor. Ich
koche für euch. Ich verstehe etwas davon, ihr werdet staunen,
was für schmackhafte Gerichte ich zaubere.“
„Großartig“, sagte Antonio Perez. Er stand auf und klatschte in
die Hände. „Ich habe ein kleines Erdferkel erlegt. Das kannst du
brutzeln, Zuckerpuppe, und wie es nachher weitergeht,
besprechen wir dann noch.“ Er rückte auf sie zu und grinste sie
herausfordernd an.
„Ihr gebt mir Wasser und Proviant, dann steige ich wieder zu
meinen Landsleuten hinunter“, sagte Magdalena mit fester
Stimme.
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Salvez packte sie am Arm und riß sie von Perez fort. „Daraus
wird nichts. Du bleibst hier.“
Magdalena wand sich unter seinem Griff, konnte sich aber nicht
freikämpfen. „Betrüger! Das ist gegen unsere Vereinbarung!“
Salvez lachte roh. „Vereinbarungen sind dazu da, umgangen zu
werden. Wir können dich hier gut brauchen, und dein Vorschlag
mit dem Kochen war gar nicht so schlecht. Lucio!“
Lucio, der Mann von der „San Domingo“, erhob sich hinter dem
Feuer.
Salvez stieß Magdalena auf ihn zu und sagte: „Du und die
anderen, die hier in der Höhle bleiben – paßt auf, daß sie nicht
entwischt. Und noch etwas. Laßt eure Pfoten von ihr. Sie gehört
mir, verstanden?“
„Jawohl“, erwiderte Lucio. „Du kannst dich auf mich verlassen,
Pedro.“
„Ich will fort“, stieß Magdalena keuchend hervor. „Ihr dürft mich
hier nicht festhalten, ihr – ihr gemeinen Schufte!“
Salvez winkte einem Kumpanen zu, der hob etwas auf und warf
es ihm zu. Geschickt fing Salvez den Gegenstand auf. Es war
eine Peitsche. Er rollte sie aus und ließ sie einmal durch die
Luft knallen.
„Hör zu“, sagte er zu dem Mädchen. „Ich rate dir zu tun, was ich
dir befehle. Wenn du schreist, stopfe ich dir das Mäulchen und
lasse die Peitsche auf deinem Rücken tanzen. Wenn du hübsch
brav bist, werde ich mich erkenntlich zeigen.“
Magdalena sah ein, daß Widerstand sinnlos war. Mit finsterer
Miene fügte sie sich vorläufig in ihr Schicksal.
„Antonio, Augusto“, sagte Salvez. „Wir steigen in die Berge auf,
solange es noch hell ist.“ Er bestimmte noch zehn Männer, die
ihn begleiten sollten, dann wandte er sich um und verließ die
Höhle. Die Männer folgten ihm.
Sie schritten durch den Wald bis zur Trinkwasserquelle, die
rund fünfzig Yards über ihrer Wohnhöhle lag und von drei
Männern bewacht wurde.
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Pedro Salvez sagte: „Ihr bleibt noch bis zum Dunkelwerden hier, dann lasse ich euch ablösen.“ Als sie weitermarschierten, immer höher hinauf, über die Vegetationsgrenze hinaus, entging es Augusto Navidad nicht, wie Antonio Perez einigen aus der Gruppe ein heimliches Zeichen gab. * Hasard saß auf der Achterducht des Beibootes und bediente die Ruderpinne. Ed Carberry und Bill, der Schiffsjunge, hockten ihm gegenüber auf der Ducht und pullten, in ihrem Rücken waren Blacky, Batuti, Gary Andrews und Shane auf den beiden anderen Duchten. Nach dem Verlassen der kleinen Bucht an der Nordseite hatten sie westlichen Kurs genommen und rundeten jetzt die Insel an ihrem Westufer, also dort, wo sie bislang noch nicht gewesen waren. „Hast du wirklich gehofft, hier auf den schwarzen Segler zu stoßen?“ fragte der Profos. Sir John kauerte auf seiner mächtigen Schulter, zog ruckweise den Kopf nach unten und echote: „Schwarzer Segler, schwarzer Segler.“ „Möglich ist alles“, entgegnete der Seewolf. „Denk mal an die Sache im Mündungsdelta des Amazonas. Da dachten wir auch, der 'Eilige Drache' wäre weitergesegelt, als wir auf die Sandbank gerauscht waren.“ „Stimmt, und dabei war er hinter einer der Inseln vor Anker gegangen“, sagte Shane. „Wir sollten wirklich nichts unversucht lassen, um Siri-Tong aufzustöbern.“ Das Beiboot schob sich mit südlichem Kurs auf eine Landzunge zu, die aus schwärzlichem, zerklüftetem Gestein bestand. Dahinter begann in sanftem Bogen das Südufer der Insel. „Lavafelsen“, sagte Hasard. „Die Insel ist vulkanischen Ursprungs, vielleicht ist sie noch gar nicht so alt. Ich schätze, sie ist etwas kleiner als die Schlangen-Insel.“
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„Menschen scheint es hier nicht zu geben“, meinte Bill.
„Langsam“, sagte Carberry. „Sei nicht so voreilig mit deinem
Urteil, Junge. Vielleicht werden wir schon vom Busch aus
beäugt, von irgendwelchen nackten Wilden. Erinnerst du dich
an die Insel der Kannibalen?“
„Und ob.“ Bill zog unwillkürlich die Schultern hoch. Er konnte
sich eines Schauderns nicht erwehren.
„Batuti hält Pfeil und Bogen bereit“, sagte der Gambianeger.
„Für alle Fälle.“
„Ja, und wir anderen tun gut daran, das Ufer zu beobachten
und ebenfalls die Waffen bereit zu haben“, sagte Blacky.
„Der Wind springt um“, erklärte Gary Andrews. „Scheint auf
Westen oder Südwesten zu drehen. Vielleicht hat Old O'Flynn
doch recht, daß es mit der Beständigkeit des Wetters nicht weit
her ist.“
Sie hatten die Spitze der Landzunge erreicht und hielten sich in
respektvollem Abstand, um nicht etwa auf eine
Unterwasserbarriere zu laufen. Hasard stand von der
Heckducht auf, zog das Spektiv auseinander und hob es ans
Auge.
„Donnerkeil“, sagte er plötzlich.
„Was ist?“ Carberrys Gestalt straffte sich. „Siehst du etwa den
schwarzen Segler? Ho, wir müssen Siri-Tong und Thorfin Njal,
diesem behelmten Nordpolaffen, ein Zeichen geben…“
„Nein“, sagte Hasard. „Ich sehe was anderes. Vor dem Südufer
der Insel verläuft ein Saumriff, dessen Spitzen teilweise über
die Wasseroberfläche hinausragen. Und daran hängen
Wrackteile fest. Ich will einen Besen fressen, wenn das nicht
die Reste der beiden schäbigen Galeonen sind, die wir im
Sturm gesehen haben. Sie müssen genau auf die Insel
zugelaufen sein, und das war ihr Verhängnis.“
„Teufel auch“, erwiderte der Profos. „Ob das jemand mit heiler
Haut überstanden hat?“
„Zwischen den Trümmern bewegt sich nichts.“
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„Es könnten Leute vom Riff an Land gespült worden sein“, sagte Blacky. Batuti hatte sich hoch aufgerichtet. Er schaute an Hasard vorbei, stieß plötzlich die Hand vor und wies auf das Südwestufer. „Verdammich, da ist was. Batuti hat ganz deutlich gesehen!“ „Menschen?“ Gary Andrews reckte den Hals. „Nein. Tier. Kleines Schwein oder so, weiß nicht genau“, sagte Batuti. „Gutes Frischfleisch für Proviantkammer auf 'Isabella'.“ Hasard nagte an der Unterlippe. Was tun? Vom schwarzen Schiff war im ausklingenden Licht des Tages weit und breit nichts zu sehen. Er versprach sich auch wenig davon, zu den Wracks auf dem Riff zu pullen. Überlebende würde er dort nicht finden, höchstens würde das Beiboot auflaufen und sich den Rumpf aufschlitzen. „Wir wenden und gehen am Südwestufer an Land“, sagte er. „Eine Bereicherung für unseren Küchenzettel können wir wirklich gebrauchen. Also los, pullt und sperrt die Augen auf.“ Knirschend schob sich kurz darauf der Bug des Beibootes in den Ufersand. Die Seewölfe jumpten über das Dollbord an Land, zogen das Boot noch weiter auf den Strand und setzten sich in Marsch. Gary Andrews blieb als Bewacher beim Boot zurück, man konnte ja nicht wissen, was geschah. Hinter den Palmen, Pinien und hüfthohen Grasbüscheln, die eine Art Böschung bildeten, begann dichter Wald. Hasard zückte seinen Degen, um eine kleine Schneise hineinzutreiben. Carberry folgte seinem Beispiel, während die anderen ihre Waffen hielten, um bereit zu sein, wenn das Wild sich wieder zeigte. „Nach Möglichkeit nicht die Schußwaffen gebrauchen“, sagte Hasard. „Wir könnten damit schlafende Hunde wecken. Shane und Batuti, seht zu, daß ihr das Tier mit euren Pfeilen erlegt.“ „Ja“, entgegnete der Profos grimmig. „Vorausgesetzt, Batuti hat keine Tomaten auf den Augen gehabt, als er das Schwein
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gesehen hat. He, Bursche, hast du dir das vielleicht bloß
eingebildet? Hier ist doch nichts…“
„Batuti keine Tomaten“, verteidigte sich der schwarze Mann aus
dem fernen Gambia. „Tier hier verschwunden. Hier.“
Carberry stocherte mit seinem Schiffshauer im Gebüsch herum
und murmelte etwas Unverständliches.
Sir John duckte sich plötzlich auf seiner Schulter und gab ein
leises, warnendes „Krah“ von sich.
Sofort verhielten die Seewölfe. Es hatte sich mehr als einmal
erwiesen, wie nützlich die Instinkte des Aracanga im
Gefahrenfall waren. Einmal hatte er sie vor den
Krokodilmännern und den Jaguaren des grausamen Chano
gewarnt. Und jetzt? War Gefahr im Verzug, oder waren sie ihrer
Beute nahe?
Es raschelte, und dann brach es flach, fett und dunkel aus dem
Unterholz hervor – zwischen Edwin Carberrys Beinen hindurch
und an Hasard, Blacky, Bill und Shane vorbei. Mit ängstlichem
Quieken sauste es auf Batuti zu, gewahrte ihn, beschrieb einen
scharfen Knick – und in diesem Augenblick surrten fast
gleichzeitig die Pfeile von Big Old Shane und Batuti von den
Bogensehnen.
Beide Geschosse trafen. Das Tier brach zusammen,
überschlug sich und blieb liegen. Hasard und die anderen, die
schon ihre Schußwaffen angelegt hatten, grinsten sich an.
Batuti setzte Carberry gegenüber eine fast hochmütige Miene
auf.
„Batuti recht gehabt. Keine Tomaten auf Augen.“
Carberry schnitt eine Grimasse. „Schön, aber das Vieh ist kein
Schwein, das sieht doch ein Blinder.“
Hasard trat neben das erlegte Tier, bückte sich und drehte es
auf den Rücken.
„Ein Tapir“, sagte er.
„Halleluja“, sagte der Profos. „Da wird sich der Kutscher
freuen.“
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„Na denn.“ Hasard richtete sich auf und wies zum Beiboot. „Wir
schaffen den Tapir an Bord, ausnehmen und abhäuten können
wir ihn auf der 'Isabella'.“ Plötzlich versteifte sich seine Gestalt.
Carberry wollte ihn fragen, was denn los sei, aber in diesem
Moment lief Bill wie von Sinnen in den Busch und rief: „He, ich
hab noch so ein Vieh gesehen – einen Tapir. Batuti, Shane, los,
wir können ihn noch erwischen!“
Hasard fuhr herum. „Verdammt noch mal, Bill!“
Bill antwortete nicht, er fuhrwerkte im Dickicht herum, war nicht
mehr zu sehen und schien vollauf mit der Verfolgung des Tapirs
beschäftigt zu sein.
„Ed, Shane, Batuti“, sagte der Seewolf. „Lauft ihm nach und holt
ihn zurück. Merkt ihr nicht, wie windstill und stickig es plötzlich
geworden ist? Seht mal!“ Er wies nach Südwesten.
Dort, wo sich das Festland befinden mußte, stand eine dichte,
ockerfarbene Wolke. Drohend schob sie sich heran.
„Old O'Flynn“, sagte Hasard. „Du hast den Nagel auf den Kopf
getroffen, wir kriegen wieder Verdruß. Diesmal ist es ein
Pampero.“ Das Wort bedurfte keiner Erläuterung, sie alle
wußten, daß damit der Staubsturm gemeint war, der direkt aus
der Pampa wehte.
Hasard wirbelte herum und rief: „Bill, zurück! Wir müssen so
schnell wie möglich zur 'Isabella', ehe der verfluchte Sand alles
zudeckt!“
Carberry, Big Old Shane und der Gambianeger waren bereits
im Gehölz untergetaucht, um den Jungen beim Kragen zu
packen. Carberry wühlte sich wie ein Stier durchs Dickicht und
murmelte: „Warte nur, wenn ich dich erwische. Dann kriegst du
eine Abfuhr, die sich gewaschen hat, du Lausebengel.“
Er hielt nach Sir John Ausschau, aber der war plötzlich auch
verschwunden. Es war zum Verrücktwerden.
5. Pedro Salvez drehte sich um und wies mit ausholender Gebärde stolz auf seine Entdeckung. „Na, ist das nichts? Wir
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befinden uns auf dem höchsten Punkt der Insel. Von hier aus
können wir die ganze Umgebung überblicken.“
Sie hatten nach einer ziemlich anstrengenden Klettertour ein
fast unzugängliches Plateau erreicht, das in seinem
Durchmesser etwa hundert Yards maß und von niedrigen,
gezackten Felsen gesäumt war. Der Nebel, der die Inselberge
wie eine Krone umgab, befand sich jetzt unter ihnen.
„Gut“, sagte Antonio Perez. „Wir werden also einen
Ausguckposten hier zurücklassen. Aber warum hast du gleich
die Hälfte unserer Mannschaft hier heraufgeführt? Es hätte
doch genügt, wenn wir drei Anführer und ein Posten
heraufgeklettert wären, um uns die Plattform anzusehen.“
Salvez schüttelte den Kopf. „Ich habe das Plateau selbst
entdeckt und dann sofort meinen Entschluß gefaßt. Wir teilen
die Gruppe auf. Eine Hälfte zieht sich nach hier oben zurück.
Die vier Kriegsschiffe könnten irgendwann wieder auftauchen.
Wenn ihr Kommandant den toten Kapitän und die toten
Offiziere findet, weiß er Bescheid. Im übrigen werden auch die
Portugiesen nur zu bereitwillig ausplaudern, wie die Dinge hier
gelaufen sind. Daher ist es gut, wenn wir uns dieses ideale
Versteck ausreichend sichern.“
Antonio trat auf ihn zu. „Augenblick mal, da sehe ich aber einen
Haken. Wir können die Toten verscharren und uns auch die
Portugiesen vom Hals schaffen – bis auf Magdalena und die
anderen jüngeren Frauen natürlich.“
„Trotzdem zieht sich die Hälfte der Gruppe hierher zurück“,
sagte Salvez. „Du, Antonio, du, Augusto, und ihr anderen. Ich
kehre allein nach unten zurück.“
„Du bist ja nicht bei Trost!“ fuhr Antonio ihn an. „Das willst du
also! Uns abschieben, nicht wahr, damit wir nichts mehr zu
melden haben und du tun kannst, was du willst, he? Aber da
hast du dich getäuscht. Ich spiele nicht mit!“
„Nimm dich in acht, Antonio“, sagte Salvez leise, gefährlich
leise, aber der andere hörte nicht auf zu protestieren.
„Freunde, wie? Ein schöner Freund bist du, uns so
hereinzulegen!“
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„Du beleidigst mich“, stieß Salvez hervor.
„Du Intrigant! Du Dreckskerl!“
„Und du, Antonio? Schmiedest du nicht selbst ein Komplott, um
die Macht auf der Insel an dich zu reißen?“ fragte Salvez
lauernd. „Du willst auch das Mädchen, ich weiß es.“
Augusto hatte sich unschlüssig verhalten, jetzt aber trat er
neben Pedro Salvez und sagte: „Ich glaube, das stimmt. Vorhin
habe ich gesehen, wie Antonio einigen von uns ein Zeichen
gegeben hat.“
„Du Hund!“ zischte Perez. Sein langes, knochiges Gesicht war
eine einzige Grimasse. „Was geht denn dich das alles an?“ Er
drehte sich zu den anderen um. „Wer auf meiner Seite ist, zu
mir! Jetzt zeigen wir es diesen eingebildeten Bastarden mal.“
Er beging einen Fehler. Er wandte seinem besten Freund
Pedro, mit dem ihn auf der „Santa Barbara“ eine
verschwörerische Kumpanei zusammengeschmiedet hatte, den
Rücken zu.
Pedro Salvez zögerte nicht. Er sprang vor, zückte sein Messer
und rammte es Antonio zwischen die Schulterblätter. Antonio
riß die Arme hoch, gab einen erstickten Laut von sich und
knickte in den Knien ein. Dann kippte er vornüber, zuckte noch
ein paarmal mit den Gliedern und streckte sich schließlich. Er
lag auf dem Bauch, das Messer ragte aus seinem Rücken.
Pedro Salvez sprang einen Schritt zurück und riß den Säbel
aus der Scheide. Eine Windbö fuhr durch seine Haare,
zerzauste sie und zerrte an seiner Fetzenkleidung. Augusto
Navidad sah, daß er wieder den gleichen Gesichtsausdruck
hatte wie unten am Strand, als er den Kopf des Kapitäns in den
Sand getreten hatte.
„Und jetzt zu uns!“ schrie Salvez. „Wer gegen mich ist, zieht
seine Waffe. Wer sich unterordnet, kommt zu mir herüber!“
Einige der heruntergekommenen bärtigen Gestalten trugen
Pistolen, aber sie konnten sie nicht benutzen, weil das Pulver
immer noch feucht war. Was blieb? Sich im Fechten mit Salvez
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messen? Keiner wagte es. Der Mann war als ausgezeichneter
Säbel- und Degenkämpfer bekannt.
Zug um Zug begaben sich die Männer auf Salvez' Seite.
Der Wind nahm zu und heulte über das Plateau. Pedro Salvez
kümmerte sich nicht darum.
„Gut so“, sagte er. „Das nenne ich Treue. Danke, Freunde. Und
jetzt weiter im Text. Ich ändere meinen Plan ein wenig. Wir
kehren alle wieder nach unten zur Höhle zurück und nehmen
Perez, dieses Schwein, mit, um ihn auch den anderen zu
zeigen. Nur einer bleibt hier. Du, Augusto.“
Verwirrt blickte Navidad den Kumpanen aus seinen großen,
dunklen Augen an. „Ich? Warum ich? Was soll ich…“
„Ein Feuer entfachen und es unterhalten“, entgegnete Salvez.
„Außerdem betätigst du dich als Ausguck. Ich setze mein
ganzes Vertrauen in dich. Du hast ja als erster bewiesen, auf
wessen Seite du stehst.“
„Ja“, antwortete Navidad. Mehr nicht. Was sollte er tun? Sich
auflehnen? Er verspürte nicht den Drang danach.
Ihm war aber sehr wohl bewußt, warum Salvez ausgerechnet
ihm befahl, auf dem Plateau zu bleiben. Perez war
ausgeschaltet, jetzt blieb nur noch er, Augusto, als Störfaktor
zurück. Er war nie so richtig von der Meuterei überzeugt
gewesen, und trotz seiner Loyalität Salvez gegenüber konnte er
zu einer Gefahr werden.
Warum sonst sollte Augusto ein Feuer entfachen und in der
Nacht den Ausguck spielen? Es war eine reine
Beschäftigungstaktik. Salvez wußte, daß Augusto zu weich und
zu nachsichtig war, und das konnte ihm Ärger einbringen,
besonders was das Schicksal von Magdalena und den anderen
portugiesischen Siedlern betraf.
Im zunehmenden Sturmwind trugen die Meuterer Antonio
Perez' Leiche vom Plateau zur Höhle hinunter.
*
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Mit dumpfem Laut landete der schlaffe, leblose Körper vor dem Höhleneingang. Magdalena, die sich inzwischen mit der Zubereitung des Erdferkels beschäftigt hatte, ließ das primitive Kochgeschirr fallen, das die Meuterer ihr beschafft hatten. Es kippte um, das kleine Tier fiel heraus, kollerte vor das Feuer und wurde an den Beinen versengt. Die Meuterer fuhren von ihren Sitzplätzen hoch. Lucio stürzte allen voran auf den Eingang zu. Die Flammen warfen gespenstisch zuckende Muster auf die Gesichter der Männer. Pedro Salvez, der draußen vor der Leiche stand, sagte: „So springe ich mit Verrätern um. Laßt euch das eine Warnung sein. Perez wollte die Führung an sich reißen. Jetzt hat er sein Fett. Hat jemand was zu sagen?“ „Geschieht ihm recht“, sagte Lucio. „Er war ein Lumpenhund. Ich habe ihn nicht leiden können. Und er wollte sich auch an dem Mädchen vergreifen.“ „Solche Ratten können wir in unserem Bund nicht gebrauchen“, erwiderte Salvez. Er trat aus dem Sturmwind, der Sand und Blätter durcheinanderzuwirbeln begann, in die Höhle, zwängte sich an den Männern vorbei und ging zu Magdalena, die verstört die Reste der Mahlzeit zusammensuchte und wieder in das Geschirr füllte. Er blieb stehen. „Da, sieh nur, was du angerichtet hast.“ Sie schaute zu ihm auf. „Mörder! Dieser Antonio mag ein Schuft gewesen sein, aber er war auch dein bester Freund, das weiß ich von Bord der ,Santa Barbara'. Mörder! Wie viele hast du schon auf dem Gewissen? Willst du uns alle umbringen?“ „Du“, sagte er mit heiserer Stimme. „Sei vorsichtig. Ich kann es nicht leiden, wenn man mich beleidigt.“ „Ich weiß, was du vorhast.“ Magdalena flüsterte fast. „Einen nach dem anderen wirst du beseitigen, bis nur ein paar Schwachköpfe übrigbleiben, die dir keine Schwierigkeiten mehr bereiten – und die Frauen. Damit du deinen Spaß hast, nicht wahr?“
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Pedro Salvez trat zornig in das Feuer und trampelte es mit
seinen Stiefeln aus.
„Da!“ rief er. „Jetzt hast du auch noch das Feuer ausgehen
lassen, du Schlampe. Hatte ich dir nicht gesagt, du sollst
aufpassen? Warte, dir werde ich's zeigen!“
Sie wich vor ihm aus, aber er kriegte sie doch zu fassen, zerrte
sie mit sich und klaubte auch die Peitsche vom Höhlenboden
auf. Fluchend zog er sie mit sich ins Freie, in den Pampero
hinaus, der sich immer noch nicht zu seiner vollen Gewalt
entwickelt hatte.
„Lucio, du zündest das Feuer wieder an“, stieß Salvez aus. „Wir
sind gleich wieder da.“
Er achtete nicht auf das Grinsen der Männer, er dachte nur an
das eine: dieses stolze Mädchen zu erniedrigen. Sie sträubte
sich, versuchte ihn zu kratzen und zu beißen. Er stoppte ab,
wandte sich um und gab ihr eine Ohrfeige.
Magdalena duckte sich, kriegte die Maulschelle aber doch voll
zu spüren. Sie glitt aus und geriet auf dem abschüssigen
Gelände ins Rutschen. Schluchzend schlidderte sie vor dem
wild lachenden Spanier her. Nein, es gab keine Möglichkeit,
ihm zu entwischen, sie konnte sich seinem unbarmherzigen
Griff nicht entwinden – sie war verloren.
Unter dem anschwellenden Heulen des Windes verschleppte er
sie in ein dichtes Gebüsch.
Die Blätter glänzten feucht, sie waren groß und schwer und
umgaben sie beide wie eine undurchdringliche Mauer. Und
doch stob der Wind auch durch dieses Dickicht und wirbelte
ihnen Sand in die Gesichter.
Salvez drehte sich um, zog das Mädchen dicht zu sich heran
und wies ihr drohend die Peitsche.
„Du hast es erfaßt“, fuhr er sie an. „Ich bin brutal und kenne
keine Skrupel. Ich prügle dich windelweich, wenn du nicht tust,
was ich will.“
„Du kannst mich nicht zwingen, Salvez!“
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„Ich kann.“ Sein finster verkniffenes Gesicht schob sich noch
dichter vor das ihre. Sie spürte seinen heißen Atemhauch auf
ihrer Wange, und der Widerwille in ihr stieg übermächtig auf.
„Wer bist du?“ fragte er sie. „Magdalena. Und weiter? Ich weiß
es. Soll ich raten?“
Er lachte grölend gegen das Sturmtosen an. „Prado. Ja, du bist
eine Prado, die Tochter des alten Bockes da unten, der sich
einbildet, so ungeheuer schlau zu sein.“ Er verstummte für
einen Moment, dann fuhr er fort: „Siehst du, du schweigst. Du
gibst es also zu. Ich hätte dich schon auf der ,Santa Barbara'
verraten können, denn mir war klar, daß du unter deinem
wahren Namen niemals mitgenommen worden wärest. Ich hab
dir also einen Gefallen getan. Warum wohl?“
„Ich weiß es nicht“, stammelte sie. „Ich will es nicht wissen.“
„Weil ich dich mag!“
„Geh weg, Salvez!“
„Sei ein bißchen nett zu mir, verdammt. Laß dich doch nicht so
lange bitten. Warum zierst du dich?“
Sie trat ihm gegen das Bein und schrie: „Weil du häßlich bist –
und gemein! Und weil du stinkst! Du bist ein häßlicher,
stinkender Mörder, Salvez!“
„Du Miststück!“ Er stieß sie zu Boden und warf sich auf sie.
„Dann nehme ich mir eben, was mir gebührt. Du willst es ja
nicht anders haben. Warte nur, dir besorge ich es.“
Magdalena schrie, aber der Pampero entfaltete sich jetzt zu
seiner vollen Kraft und deckte ihre Hilferufe zu.
* Carlo hatte eine Höhle unterhalb des Unterschlupfes der Meuterer entdeckt, in der sie alle Platz fanden. Ricardo Prado hatte die Frauen losgeschickt, um Früchte, Wurzeln und eßbare Pflanzen zu sammeln. Das war zum Zeitpunkt der drückenden Schwüle und der plötzlichen Windstille gewesen.
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Dona Teresa war eine der Frauen, die sich am weitesten zum
Strand hinunterbegeben hatte. Als der Pampero vom Festland
herüberzuheulen begann, spähte sie aus einem Gebüsch zum
Südwestufer der Insel – und glaubte ihren Augen nicht zu
trauen.
Eine Handvoll Männer war damit beschäftigt, in aller Hast ein
kleines Tier in einem Beiboot zu verstauen und das Boot weiter
auf den Strand zu verholen. Der große Schwarzhaarige, der die
beiden anderen kommandierte, fiel ihr besonders auf.
„Was für ein Bild von einem Kerl“, murmelte Dona Teresa. Sie
konnte sich nicht erklären, was die Männer im einzelnen
vorhatten, aber eins war gewiß: Das Boot gehörte zu einem
Schiff. Vielleicht zu einem der Kriegsschiffe, die die „Santa
Barbara“ und die „San Domingo“ als Geleitschutz begleitet
hatten.
„Das muß ich Ricardo Prado melden“, flüsterte die stämmige
Frau. „Sofort.“
Sie drehte sich um und schlich durch das Dickicht davon. Die
Schürze, in der sie Beeren und andere Früchte gesammelt
hatte, raffte sie energisch zusammen. Ihre Gedanken jagten
sich. Ein Boot, fremde Männer – ihr Schiff konnte nicht weit
sein. Wer immer sie waren, Ricardo Prado und die anderen
Männer sollten entscheiden, was zu tun war.
Es gab zwei Möglichkeiten: sich vor ihnen zu verstecken oder
sie um Hilfe zu bitten.
Was aber, wenn sie Piraten waren?
In diese Erwägungen hinein fiel der Schrei, der plötzlich an ihr
Ohr drang. Dona Teresa blieb stehen. Das Heulen und Pfeifen
des Sandsturmes nahm immer mehr zu, aber sie glaubte,
deutlich eine Frauenstimme erkannt zu haben – und auch, wem
sie gehörte.
„Magdalena“, stieß sie erschüttert aus.
Sie wandte sich in die Richtung, aus der der Schrei ertönt war.
Sie lief, so schnell sie ihre Beine trugen, keuchte, schimpfte,
verlor, was sie mühsam zusammengetragen hatte.
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Wieder hörte sie einen Schrei.
Vergessen war das Boot unten am Strand, vergessen die
fremden Männer – nur noch ein drängender Wunsch beseelte
sie. Sie mußte Magdalena helfen, ganz sicher befand sich das
arme Ding in Gefahr. Dona Teresa dachte an den Halunken
Pedro Salvez, sein Grinsen, sein niederträchtiges Gerede, und
an die Tatsache, daß Magdalena schon längst wieder bei ihrem
Vater hätte sein müssen.
Schneller, als sie selbst es sich jemals zugetraut hätte, stürmte
Dona Teresa durch Gebüsch mit dicken Dornen und Wurzeln,
die als Fußfallen aus dem Boden ragten. Es war ein kleines
Wunder, daß sie nicht stürzte, daß sie keinen Schaden nahm.
Es wurde stockfinster. Unheimlich nahm sich das Klagen des
Pamperos aus. Dona Teresa verspürte weder Furcht noch
Panik, sie fühlte nur kalte Wut in sich aufsteigen, ein
Empfinden, wie sie es noch nie erlebt hatte.
Wieder erklang ein Schrei – diesmal aus nächster Nähe!
„Magdalena“, stieß Dona Teresa japsend hervor. „Madre de
Dios, was treiben diese elenden Hunde bloß mit dir?“ Sie
brauchte sich keine Antwort darauf zu geben, sich keine
Hoffnungen zu verschaffen. Sie wußte ja so genau, was
gespielt wurde.
Sie stieß mit dem Fuß gegen einen dicken Ast und hob ihn auf.
Der Sturm blies ihr Sand in den Nacken, auf den Körper, in die
Augen. Dona Teresa fluchte wie ein Seemann. Geduckt bahnte
sie sich ihren Weg, und dann – ja, dann vernahm sie ein
klägliches Wimmern, das ihr tief ins Herz schnitt.
Sie zog den Kopf noch ein wenig tiefer. So stieß sie durch
dichter werdendes Gestrüpp und sah Salvez' wuchtige Gestalt
vor sich, wie er gerade Anstalten traf, sich der Beinkleider zu
entledigen.
„Versuche nicht wegzulaufen“, sagte er zu der liegenden
Magdalena. „Ich lasse dich nicht entwischen.“
Dona Teresa hob den Ast. Sie war eine wutschnaubende
Rachegöttin, und sie legte all ihre Kraft in den Hieb, den sie nun
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führte. Schwer sauste der Ast auf Salvez' Nacken nieder. Ein
dumpfer Laut, und der Kerl fiel hin. Er blieb stöhnend liegen.
Dona Teresa ließ den Ast los, stürzte auf Magdalena zu und
half ihr hoch. „Mädchen“, sagte sie. „Hat dieser Schweinehund
dir was angetan?“
„Nein. Du bist rechtzeitig erschienen, Dona Teresa.“
„Los, schnell weg von hier.“ Die Frau packte das Mädchen am
Arm und zog sie mit sich fort. Sie hasteten im wirbelnden,
immer noch zunehmenden Pampero in die Richtung, in der sie
ihre Landsleute wußten.
Der wüste Ruf, der plötzlich hinter ihnen ertönte, entging ihnen
nicht. Dona Teresa spürte einen kalten Schauer über ihren
Rucken laufen.
„Salvez“, stieß sie entsetzt hervor. „Al diablo, dieser Kerl ist
härter im Nehmen, als ich gedacht habe. Er ist schon wieder
auf den Beinen und verfolgt uns.“
* Carberry, Shane und Batuti waren plötzlich wieder da. Sie
waren aus dem Wald zurückgekehrt und halfen Hasard, Blacky
und Gary Andrews, das Beiboot der „Isabella“ mit Segeltuch
abzudecken, damit es sich nicht mit Sand füllte.
Der Pampero tobte und hieb ihnen den Sand um die Ohren. Es
wäre heller Wahnsinn gewesen, in diesem Wetter mit dem Boot
zur Ankerbucht zurückkehren zu wollen.
„Wo ist Bill?“ rief der Seewolf gegen das Orgeln des Sturmes
an.
„Keine Ahnung“, sagte der Profos kleinlaut. „Wir haben wie die
Irren gesucht, aber der Bengel ist wie vom Erdboden
verschluckt. Himmel, er wird schon wieder auftauchen.“
„Wir müssen weitersuchen!“ schrie Hasard. Gebückt lief er zu
den Palmen und Pinien, die sich unter dem Pampero bogen.
„Los, mir nach.“ Er drang ins Unterholz des Waldes ein,
wartete, bis seine Männer dicht hinter ihm waren und suchte
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dann eine winzige Lichtung auf, auf der das Sturmwüten nicht ganz so arg zu spüren war.
„Hört zu“, sagte er. „Es ist ein Unding, daß wir aufhören, nach
Bill zu forschen. Dem Jungen könnte Gott weiß was
zugestoßen sein.“
„Recht so“, entgegnete Carberry zornig. „Das wird ihm eine Lehre sein. Wie oft hab ich dem Bengel eingeschärft, nie den Kontakt zur Crew zu verlieren.“ „Ed, du weißt genau, daß Bill noch die Erfahrung fehlt, alle Situationen richtig zu beurteilen. Er ist der Schiffsjunge, der Moses, und wir sind für ihn verantwortlich“, sagte Hasard. „Hast du vergessen, welches Versprechen ich seinem sterbenden Vater gegeben habe? Überhaupt, es wundert mich, wie du urteilst. Gerade du kümmerst dich doch sonst um den Jungen, als wäre er dein leiblicher Sohn.“ Carberry kratzte sich verlegen am Kinn. „Stimmt, aber es will mir nicht in den Kopf, daß er wegen eines blöden Tapirs einen solchen Zirkus veranstalten muß.“ „Du kannst ihm nachher von mir aus eine Strafpredigt halten“, sagte Hasard. „Aber jetzt kämmen wir systematisch den Wald durch. Wir bleiben dicht beieinander, sonst verlieren wir uns auch noch gegenseitig aus den Augen. Ich bin froh, daß wir mit der 'Isabella' noch nicht aus der Bucht gelaufen waren. Hätte der Pampero uns unter voller Besegelung gepackt, wäre uns Hören und Sehen vergangen.“ Zu Gary sagte er: „Du bewachst unser Boot.“ Er übernahm die Spitze des Trupps. Was sie im Inselinneren erwartete, ahnte er nicht, aber er war auf alles gefaßt.
6. Der Tapir war im Dickicht untergetaucht und ließ sich nicht mehr blicken. Bill schimpfte vor sich hin. Er hatte sich bei der Verfolgung des Tieres verlaufen und jegliche Orientierung verloren. Jetzt stand er da und wußte nicht, wo es zum Südufer ging. Das Heulen des Pamperos zerrte an seinen Nerven, und
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noch wütender stimmte ihn der Sand, der unausgesetzt in sein
Gesicht blies.
Stehenbleiben hatte keinen Sinn, also wandte er sich nach
einigem Überlegen in eine Richtung und behielt sie strikt bei.
Entweder stößt du auf den Seewolf und die anderen aus dem
Boot, dachte er, oder du marschierst quer über die Insel und
landest bei der „Isabella“.
Es war ein simples Konzept, aber Bill vertraute darauf. Er
strebte unter Bäumen voran, die wie Gerten gebogen wurden,
durch sturmgepeitschtes Gebüsch, durch einen gewaltigen
Sandstrudel, der ihn nicht weiter als einen Yard blicken ließ.
Fast verlor er den Boden unter den Füßen, als das Gesträuch
plötzlich endete und der Untergrund in einem scharfen Abbruch
in die Tiefe führte. Der Pampero zerrte und rüttelte an ihm, er
ruderte mit den Armen, um sein Gleichgewicht zu halten.
Mit Mühe schaffte er es. „Teufel auch, heute ist ein
Unglückstag“, sagte er. „Bill, reiß dich zusammen, sonst läßt du
auf dieser elenden Insel noch Federn.“
Er tastete sich am Rand des Abgrundes entlang und hörte
Wasser unter sich rauschen. Plötzlich begriff er.
„Ein scharfer Einschnitt am Westufer“, murmelte er. „Wir haben
ihn vom Boot aus entdeckt, als wir die Insel rundeten. Wenn ich
in dieser Richtung weiterlaufe, gelange ich zur Küste. Dann
brauche ich bloß noch nach Süden zu gehen und finde unser
Boot wieder.“
Bevor er seinen Weg fortsetzte, gewahrte er unter sich im
Steilfelsen etwas und legte sich auf den Bauch, um Genaueres
erkennen zu können.
„Donnerwetter“, sagte er. „Es gibt einen Abstieg. Wind und
Wetter müssen ihn in den Felsen getrieben haben. Und wenn
mich nicht alles täuscht, gibt's da unten auch eine Höhle. Ist ja
toll.“
Mehr konnte er nicht erkennen. Es wurde immer dunkler. Die
Dämmerung war noch nicht ganz vorüber, aber der Pampero
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deckte die Insel mit seinem Sand zu und nahm die letzten
Helligkeitsschimmer endgültig fort.
Bill wollte schleunigst zum Westufer gehen, da stoppte ihn
wieder etwas - der Schrei einer Frau.
* Dona Teresa schrie entsetzt auf, und gleich darauf schrie auch
Magdalena. Pedro Salvez' Gebrüll hatte die Meuterer alarmiert,
es mußte so sein, denn inzwischen waren drei, vier oder noch
mehr Männer hinter ihnen her. Deutlich konnten sie auch durch
den Sturm ihr Grölen und Fluchen vernehmen.
„Wir sind verloren“, jammerte Magdalena. „Mein Gott, wo ist
denn nur unsere Höhle?“
„Ich weiß es nicht!“ rief Dona Teresa.
„Wir haben die Orientierung verloren!“
„Salvez will sich an mir rächen“, stieß die stämmige Frau aus.
„Ich habe ihm seinen Spaß verdorben. Was immer auch
passiert – du rennst weiter, verstanden, Mädchen?“
„Was hast du vor?“
„Frag nicht.“
Sie liefen, ohne stehenzubleiben. Dona Teresa spürte das Herz
bis zum Hals hinauf klopfen, und sie hatte Seitenstiche. Lange
konnte sie nicht mehr so weiterhetzen, das wußte sie.
Verzweifelt suchte sie nach einer Lösung. Gab es denn kein
Versteck? Hatten ihre Landsleute ihre Schreie nicht
vernommen? Wo waren sie - wo?
Rechts oberhalb von Teresa und Magdalena knackte es im
Gestrüpp, als pflüge sich ein Bulle hindurch. Teresa riskierte
einen Blick, es war dunkel, nur schemenhaft nahm sie die
Gestalt wahr, die da über ihnen herumturnte. Aber sie erkannte
sie!
„Salvez“, stöhnte sie. „Allmächtiger!“
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Magdalena lief jetzt vor ihr, sie war jünger, langbeinig,
leichtfüßig. Dona Teresa fiel zurück. Sie glaubte, ihr Herz
müsse zerspringen. Die Seitenstiche wuchsen ins
Unerträgliche. Sie mußte aufhören zu laufen, es ging nicht
mehr anders.
Pedro Salvez war hinter ihr. Sie spürte es mehr, als daß sie es
sah. Er keuchte, fluchte, lachte wild – und dann warf er sich auf
sie.
Teresa war um eine Sekunde schneller, indem sie sich
instinktiv einfach zu Boden sinken ließ. Ihre Hände gruben sich
in den feuchten Untergrund. Es gab nicht nur Gestein auf der
Insel, es gab Sand, Erde, Lehm.
„Verfluchte alte Vettel!“ rief der Spanier. „Jetzt kriegst du, was
du verdienst!“ Er packte einen ihrer Fußknöchel.
Dona Teresa drehte sich halb und hielt beide Hände geballt.
Durch das Unterholz näherten sich andere Männer. Sie wartete,
bis Pedro Salvez sich aufrichtete, um auf sie einzuschlagen,
dann schossen ihre Hände vor und öffneten sich. Schmutz
schleuderte in Salvez' Verbrechervisage, mehr Dreck, als der
Pampero ihm jemals in die Augen drücken konnte.
„Fahr zur Hölle!“ brüllte der Spanier.
Er mußte ihren Knöchel loslassen. Dona Teresa raffte sich vom
Boden auf. Während er sich verzweifelt die Augen rieb, hetzte
sie weiter, schlug einen Haken nach rechts und hastete unter
Aufbietung ihrer letzten Kräfte am Hang hoch.
Die anderen Meuterer stießen zu ihrem Anführer, aber sie
verloren kostbare Zeit und sahen Dona Teresa nicht mehr. Sie
begingen den Fehler, sich in gespielter Besorgnis über Pedro
Salvez zu beugen, statt nach den Frauen zu fahnden. So
gewährten sie beiden einen Vorsprung.
Dona Teresa wagte es nicht, nach Magdalena zu rufen. Sie
wußte nicht, wo das Mädchen steckte, aber sie betete zum
Himmel, daß auch sie sich den Verfolgern entzogen hatte.
Magdalena war vorangestolpert und hatte sich dabei immer
wieder nach Dona Teresa umgedreht. Warum hatte Dona
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Teresa ihr befohlen weiterzulaufen? Warum durfte sie nicht
umkehren?
Magdalena stoppte abrupt, als der Boden vor ihr wegsackte.
Sie konnte gerade noch erkennen, daß ein Abgrund vor ihr
gähnte. Wäre es um eine Nuance dunkler gewesen, wäre sie
zweifellos in die Tiefe gestürzt. Weinend stand sie an dem
Abbruch. Hinter ihr knackte, prasselte und rumorte es, der
Pampero pfiff sein schauriges Lied dazu. Die Meuterer hatten
Dona Teresa und holten nun auch sie, Magdalena…
„Nein“, stöhnte sie entsetzt. „Nur das nicht. Lieber stürze ich
mich nach unten.“
„Hallo“, sagte plötzlich eine fremde Stimme links neben ihr. Sie
war ganz nahe. Magdalena erschrak zu Tode. Die Stimme
gehörte einem Jungen oder einem jungen Mann, sie formulierte
spanische Worte mit einem seltsamen Akzent.
Mit einem erstickten Laut wollte sie sich vornüberkippen lassen.
Doch der junge Mann war neben ihr und hielt sie fest. „Nicht
doch, Sie dürfen keine Angst vor mir haben, Senorita. Ich bin
ein Freund, kein Feind!“
Aus weit aufgerissenen Augen starrte sie ihn an. Der Junge
hatte schwarze Haare und eine etwas schmächtige Statur,
soweit es sich im Dunkeln feststellen ließ. „Wer – wer sind Sie?“
stammelte sie.
„Ich heiße Bill.“
„Ire.?“
„Nein, Engländer.“
„Dios…“
„Ich tue Ihnen nichts“, versicherte er noch einmal. „Wer ist denn
hinter Ihnen her? Sie sehen ja aus, als hätten Sie alle Teufel
der Hölle am Hals.“
„Pedro Salvez und seine Spießgesellen – Salvez will mich
vergewaltigen“, stotterte sie.
Bill vernahm das Prasseln und Fluchen im nahen Unterholz. Er
begriff die Lage und fackelte nicht lange.
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„Los“, sagte er.
Er zog Magdalena mit sich. Sie sträubte sich, als er den
schmalen Naturpfad in den Abgrund hinuntersteigen wollte,
aber er grinste sie so überzeugend an, daß sie ihm doch folgte.
Der Pfad war glitschig, der Pampero drohte sie aus der Balance
zu werfen. Magdalena stand schreckliche Augenblicke durch,
aber sie flößte sich Mut ein, indem sie sich immer wieder eins
sagte: Nichts konnte furchtbarer sein, als von Salvez gestellt
und geschändet zu werden.
Die Höhle lag fast im Seewasser, Wellen leckten über die
Eingangsschwelle. Bill geleitete das Mädchen ein Stück ins
Innere; dann kauerten sie sich hin und harrten der Dinge, die
nun folgen mußten.
„Du hast mir deinen Namen noch nicht verraten“, raunte er ihr
zu.
„Magdalena.“
„Ein schöner Name.“
„O Gott, was mag nur aus Dona Teresa geworden sein?“
wisperte Magdalena. „Ich fühle mich so – so niederträchtig. Ich
habe sie im Stich gelassen.“
Bill legte ihr die Hand auf den Unterarm. „Still. Hörst du die
Stimmen? Dieser Salvez und seine Kumpane scheinen genau
über uns zu sein. Hoffentlich entdecken sie den Abstieg nicht.“
„Wenn ja, sind wir geliefert“, flüsterte Magdalena. „Hört denn
das nie auf?“
* Wie ein Wolf strich Pedro Salvez an dem Steilufer auf und ab.
„Diese dreiste kleine Hure“, stieß er immer wieder aus. „Ich
krieg sie schon, und dann gnade ihr Gott. Oh, was für ein Narr
bin ich doch gewesen!“
„Was machen wir mit der alten Vettel, wenn wir sie erwischen?“
wollte einer seiner Begleiter wissen.
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„Laßt sie bloß nicht wieder entkommen!“ brüllte Salvez. Die
Tatsache, daß Dona Teresa ihm entwischt war, mißachtete er
völlig. „Ich will sie töten, töten!“
„Wir brauchen nur das eine zu tun – zum Sammelplatz der
Siedler zu laufen und sie alle fertigzumachen“, schlug ein
anderer Meuterer vor.
„Vielleicht hat Magdalena sich aber hier irgendwo versteckt“,
stieß Salvez aus. „Sie ist schlau. Sie wird vorläufig nicht zu
ihrem Alten laufen. Aber ich will sie, sie als allererste!“
Er wurde durch Lucio unterbrochen, der völlig unerwartet von
unterhalb des Hanges heranstürmte.
„Pedro!“ rief er schwer atmend. „Ich bin bis zum Südufer
abgestiegen und habe ein Boot entdeckt! Ein Boot mit einem
Segeltuch über den Duchten und einem erlegten Tapir an
Bord!“
Salvez fuhr herum. „Was? So ein verfluchter Mist!“
„Was sollen wir tun?“ fragte Lucio drängend.
„Wir brechen hier ab“, sagte Salvez. „So gern ich die Weiber
auch packen und durchwalken würde, die Sache mit dem Boot
geht jetzt vor. Ist es eine Schaluppe? Ein Beiboot? Wie groß?
So rede doch, du Narr!“
„Es ist meiner Meinung nach das Beiboot eines Schiffes“,
erwiderte der Mann von der „San Domingo“.
„Aha, also sind die vier Kriegsschiffe doch zurückgekehrt – wie
ich es erwartet habe. Jetzt wird's ernst.“
„Ich glaube nicht, daß es ein spanisches Beiboot ist“, sagte
Lucio im Heranrasen einer neuen Sturmbö. Er hatte Mühe, sich
auf den Beinen zu halten.
„Was sagst du da?“ brüllte Pedro Salvez ihn an. „Kein Spanier?
Was dann? Piraten? Hölle, Tod und Teufel, laufen wir sofort
'runter zum Strand, ich will mir das Ding selbst ansehen. Haltet
eure Waffen bereit. Einer läuft zur Höhle hoch und
benachrichtigt die anderen.“
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Sie wandten sich von dem Steilufer ab. Unten in der Höhle grinste ein erleichterter Bill und drückte innig die Hand des Mädchens. * Carberry hatte Mühe, seinen Kapitän in der Dunkelheit und durch den über die Insel fegenden Sand überhaupt noch zu erkennen. Aus zusammengekniffenen Augenlidern spähte er nach links, dorthin, wo er den Seewolf wußte. Sie streiften langsam durch den Wald. Shane, Blacky und Batuti befanden sich rechter Hand. Von Bill gab es immer noch keine Spur. „Der Teufel soll die Insel und den Scheiß-Pampero holen“, murmelte der Profos. „Ich hab's satt, aber endgültig. Warum muß uns das alles bloß passieren, was, he, warum?“ Etwas flatterte plötzlich von links auf ihn zu, prallte ihm gegen die linke Wange, kratzte, krächzte und sagte: „Rübenschwein!“ Dann ließ es sich auf seiner Schulter nieder. „Halleluja“, sagte Carberry. „Da bist du ja wieder, Sir John, du alter Affenarsch. Wo ist Bill?“ „Bill – Bill!“ krächzte Sir John.
Dann war mit einemmal auch der Seewolf dicht neben Carberry
und bedeutete ihm durch eine Gebärde, sich zu ducken.
Der Profos warf sich hin, Hasard huschte weiter und verständigte auch Big Old Shane, Blacky und Batuti. Binnen Sekunden hatte das Gebüsch die Gestalten der fünf Männer geschluckt. Sie lagen auf den Bäuchen und hielten den Atem an. Etwas stapfte durchs Dickicht auf sie zu.
Bill? Ein wildes Tier?
Hasard beobachtete aus schmalen Augenschlitzen und sah als
erster die Gestalten, die sich aus dem sanddurchwogten Dunkel vor ihm lösten. Zum Greifen nahe zogen sie an ihm vorbei – drei, vier, mehr als ein halbes Dutzend.
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Durfte er sich ihnen zu erkennen geben?
Der Mann an der Spitze der kleinen Schar, ein großer, robust
gebauter Bursche, wandte sich zu den anderen um und sagte
auf spanisch: „Die Siedler kaufen wir uns später. Es ist das
beste, wenn wir sie zur Hölle schicken, sonst haben wir doch
nur laufend Ärger mit diesem Gesindel.“
„Das wird ein Fest, Pedro“, sagte sein Hintermann.
Sie waren vorbei, schlüpften in dichtes Gestrüpp und entzogen
sich den Blicken der Seewölfe. Hasard richtete sich als erster
wieder auf. Er schaute zu Carberry. Carberry hatte sich den
Papagei in die Tasche gesteckt und blickte verdrießlich drein.
„Also doch“, sagte er gedämpft. „Das sind also die
Überlebenden des Schiffsunglücks. Ein feiner Haufen.“
Hasard erwiderte ebenso leise: „Anscheinend haben sich die
Schiffbrüchigen in zwei Gruppen gespalten. Vielleicht sollten wir
denen, die umgebracht werden sollen, helfen.“
„Hoffentlich ist Bill diesen Kerlen nicht in die Hände gefallen“,
zischte Shane. „Hölle, das scheint ja der Abschaum vom
niedrigsten Schiffsvolk zu sein.“
„Ja“, sagte Hasard. „Verbrecherpack, das nur auf
Seelenverkäufern wie den beiden alten Galeonen dienen kann.
Ich glaube, hier auf der Insel bahnt sich eine zweite
Katastrophe an. Shane!“
„Sir?“
„Ich habe den Verdacht, diese Spanier marschieren
geradewegs auf unser Boot zu. Du und Batuti, ihr kehrt zu Gary
zurück. Wenn die Kerle ihn angreifen, kann er sich allein nicht
gegen sie behaupten.“
„Geht in Ordnung“, sagte Shane. „Los, Batuti, wir dürfen keine
Zeit verlieren.“
Sie sonderten sich von der kleinen Gruppe ab und waren
binnen Sekunden in Nacht und Sturm verschwunden.
Hasard führte Carberry und Blacky das ansteigende Gelände
hinauf. Ins Ungewisse. Er hatte seine doppelläufige
Radschloßpistole gezogen. So, wie die Dinge standen, hatte
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diese Insel ihnen nur Feindseligkeit und offene Gefahr zu
bieten. Er versetzte sich in die Lage der Schiffbrüchigen. Sie
litten Hunger, wahrscheinlich auch Durst, waren verzweifelt –
und zu allem fähig. Letzteres traf in erster Linie für die Meute
dieses Pedro zu, wie die Siedler sich verhielten, würde sich erst
noch herausstellen.
Sie hatten den Hang bis auf gut zwei Drittel seiner Höhe
erklommen, als Hasard unvermittelt stehenblieb. Carberry und
Blacky griffen ebenfalls sofort zu den Waffen.
Hasard glaubte seinen Augen nicht zu trauen, als vor ihm ein
Kind aus dem Gebüsch stürzte und entsetzt die Augen aufriß.
Es war ein Mädchen, schätzungsweise neun, zehn Jahre alt,
dunkelhaarig und hübsch, soweit er in der Dunkelheit erkennen
konnte.
Das Mädchen schlug die Hände vors Gesicht und begann
jämmerlich zu weinen.
Hasard ging in die Hocke, steckte seine Pistole weg und zog
das zurückweichende Kind zu sich heran.
„Hab keine Angst“, sagte er auf spanisch. „Ich tue dir nichts. Ich
bin dein Freund. Wo ist deine Mami?“
„Weiß nicht“, schluchzte das Mädchen. „Bin weggelaufen.“
„Wie heißt du?“
„Ilaria.“
„Gehörst du zu den Siedlern, Ilaria?“
„Ja.“
„Du sprichst aber Spanisch mit portugiesischem Einschlag“,
sagte der Seewolf lächelnd. Er stand auf, hob sie hoch und trug
sie die Anhöhe hinauf. Carberry und Blacky folgten ihm
verdutzt.
„Ich bin auch eine Portugiesin“, gab Ilaria zurück. Ihre Tränen
versiegten, sie schaute ihn offen und stolz an. „Was denkst du
denn? Etwa, daß ich eine Spanierin bin?“
„Um Himmels willen“, erwiderte er in gespieltem Entsetzen.
„Das würde mir nie einfallen.“
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Er schritt aufs Geratewohl voran, aber kurze Zeit später hatte er
eine Höhle mit flachem, halb zugewachsenem Eingang
entdeckt und bückte sich, um hineinzuschlüpfen. Carberry und
Blacky waren dicht hinter ihm.
„Vorsicht“, zischte der Profos. „Es könnte eine Falle sein.“
„Affenarsch“, krächzte Sir John.
Hasard blieb unbeirrt. Er tat einen Schritt in die düstere Höhle,
aber dann stoppte ihn eine scharfe weibliche Stimme. „Keine
Bewegung, Hombre, oder ich schlag dich nieder!“
„Langsam“, sagte Hasard. „Ich bringe nur Ilaria zurück.“
„Ilaria“, stieß eine zweite weibliche Stimme erleichtert aus.
„Komm zu mir, Kind, mein Gott, warum bist du denn nur
weggelaufen? Ich habe dich gesucht und nicht gefunden, und
dann hat mich Dona Teresa zurückgeholt.“
Ilaria krabbelte aus Hasards Armen zu Boden, hastete durch
die Finsternis und schluchzte: „Mami, Mami, ich wollte doch nur
zu Vater!“
Hasard sah es nicht, aber er konnte sich vorstellen, wie die
beiden sich umarmten. Er hörte die erste Frau dicht vor sich
atmen und sagte: „Dona Teresa – sind Sie das, Senora?“
„Ja, und ich habe einen dicken Ast, mit dem ich dich fälle, wenn
du auch nur noch einen Schritt tust. Du wärest nicht der erste,
dem ich heute abend eins überziehe.“
„Wer ist denn der Glückliche, den Sie vertrimmt haben?“ fragte
Blacky.
„Pedro Salvez.“
„Dieser Pedro scheint ja ein übler Galgenvogel zu sein“, sagte
der Seewolf. „Aber wir haben mit ihm nichts zu schaffen,
Senora. Und wir sind auch keine Piraten, falls Sie das
annehmen.“
„Wer dann? Ihr gehört doch zu dem Boot, oder?“
„Wir sind englische Korsaren“, antwortete Hasard. „Wir suchen
einen unserer Decksleute, den wir im Pampero verloren haben
– den Schiffsjungen Bill. Uns mit Frauen und Kindern anzulegen, würde uns niemals einfallen.“
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„Hm“, sagte Dona Teresa.
„Halleluja“, krähte Sir John fröhlich.
„Ich will dir glauben“, sagte Dona Teresa zu Hasard. „Ich habe
euch am Boot gesehen und dachte, ihr wärt Männer der vier
spanischen Kriegsschiffe, die uns nach Bahia begleiten sollten
– oder eben Piraten. Wenn ihr uns täuscht und hereinlegt, sind
wir geliefert. Ihr sprecht sehr gut Spanisch, wie könnt ihr da
Engländer sein?“ Es schwang immer noch Mißtrauen in ihrer
Stimme mit.
„Man kann alles lernen“, erwiderte Carberry. „Und ich gebe
Ihnen mein Ehrenwort, Madam, wir sind keine Schufte.“
Dona Teresa trat aus dem Dunkel der Höhle und warf einen
prüfenden Blick auf den Profos. „Dein Spanisch ist allerdings
schauderhaft, Amigo. Ich habe noch keinen Spanier ein solches
Kauderwelsch reden hören.“
„Die Männer sind in Ordnung“, sagte die zweite Sprecherin
hinter ihr – die Mutter von Ilaria. „Niemals hätten sie mir sonst
mein Kind zurückgebracht.“
„Vertrauen wir euch also“, sagte Dona Teresa. „Aber wo sind
eure Freunde? Ich habe mehr als drei Männer unten am Boot
gesehen.“
„Einer steht Wache am Boot, zwei habe ich zurückgeschickt,
weil Pedro und seine Halunken an uns vorbeizogen und
offensichtlich auch zum Boot unterwegs sind“,' erklärte der
Seewolf ihr ruhig.
„Dios!“ Dona Teresa schlug sich mit der flachen Hand vor die
Stirn, die Frauen und Kinder in der Höhle wurden merklich
unruhig. „Das gibt ein Unheil“, stieß sie hervor. „Die Meuterer
werden nicht nur mit deinen Begleitern zusammenstoßen,
Engländer – da ist noch etwas…“
„So rede doch“, sagte Hasard.
Dona Teresa berichtete über die Begebenheiten mit
Magdalena, dann schloß sie: „Ich habe hierher zur Höhle
zurückgefunden, wo Magdalena steckt, weiß ich nicht. Ricardo
Prado, Carlo und die anderen Männer haben beschlossen, das
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Boot an sich zu reißen, als ich davon erzählte. Sie sind
aufgebrochen, um es zu erobern. Es ist unsere einzige Chance,
Salvez und seinem Verbrechergesindel zu entwischen –
dachten wir.“
„Verdammt und zugenäht“, sagte Ed Carberry. „Das gibt dicken
Verdruß.“
„Wir müssen sofort zum Ufer“, sagte Hasard.
7. Die Meuterer kauerten im Dickicht unweit der Böschung des
Südwestufers und spähten zu dem Mann hinüber, der sich
unter eine Pinie gekauert hatte und das Beiboot bewachte.
„Er hat eine Muskete“, raunte Pedro Salvez. „Unsere
Feuerwaffen funktionieren immer noch nicht, zum Teufel.“
„Im Boot liegen bestimmt noch andere Waffen“, sagte Lucio,
der Mann von der „San Domingo“, verhalten. „Und das Boot
gehört zu einem Schiff, das garantiert vor dem Nordufer der
Insel ankert, um sich dort vor Sturm und Pampero zu schützen.
Es lohnt sich für uns, das Boot zu erobern. Auf was warten
wir?“
„Wir müssen das Boot kapern, die Insel runden und uns dann
auch das Schiff schnappen“, murmelte Pedro Salvez. „Ja, das
wäre ein Schlag, mit dem alle unsere Probleme gelöst wären.
Ich schätze, das Schiff ist ein Piratensegler. Wir könnten damit
spanische Galeonen kapern, Schätze erbeuten und die Insel
als Schlupfwinkel benutzen.“
Es raschelte leise in ihrem Rücken. Der Mann, den Pedro zur
Höhle der Meuterer zurückgeschickt hatte, erschien.
„Neuigkeiten“, zischte er. „Der Posten, den du zum Nordufer
abkommandiert hattest, hat in einer Bucht ein Schiff entdeckt.
Einen großen Dreimaster, auf dem sich nicht viele Leute zu
befinden scheinen.“
„Was habe ich gesagt?“ flüsterte Lucio triumphierend.
„Der Pampero flaut ab“, wisperte ein anderer Mann. „Wir
können das Boot nehmen und um die Insel herumpullen.“
-63
„Gut“, raunte Pedro. „Den Posten da drüben schalten wir schon
irgendwie aus. Du!“ Er wandte sich dem Melder zu. „Du wartest
hier, während wir anderen losstürmen. Wenn wir das Boot
haben und lospullen, läufst du zu unserer Höhle und sagst den
anderen, sie sollen zur Ankerbucht des Schiffes absteigen.
Sobald wir mit dem Boot in die Bucht laufen, schwimmt ihr
anderen mit Messern und Säbeln bewaffnet los und greift von
der anderen Seite an, kapiert?“
„Kapiert“, erwiderte der Mann.
Dann trat etwas ein, das niemand erwartet hatte.
* Gary Andrews stellte beruhigt fest, daß der Pampero allmählich abklang. Er hoffte, daß Hasard und die anderen Bill inzwischen gefunden hatten, sie würden zurückkehren, man würde zur „Isabella“ pullen und das Morgengrauen abwarten, um wieder nach dem schwarzen Segler zu suchen. Gary lehnte seine Muskete gegen den Pinienstamm. Der Wind schaffte es schon nicht mehr, sie umzureißen. Gary rieb sich den Oberkörper. Er hatte Sand auf der Brust, auf dem ganzen Leib, sogar in den Stiefeln, im Haar, in Augen, Ohren und Mund. Es gab nichts, daß der Pampero nicht zu durchdringen vermochte. Plötzlich war da ein Geräusch. Gary wandte den Kopf nach links, von dorther war der Laut gedrungen. Sofort war er auf der Hut. Seine Hand streckte sich nach der geladenen, schußbereiten Muskete aus. Dort drüben im Gebüsch war etwas, das stand fest. Es konnte sich um einen Tapir, irgendein anderes Tier, um die Seewölfe – oder um Feinde handeln. Gary wollte seine Position verändern, aber in diesem Augenblick spürte er eine Gefahr hinter sich. Er fuhr herum, aber es war schon zu spät, er brachte diese Bewegung nur noch im Ansatz zustande.
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Er sah das Gesicht eines alten Mannes, grauweiße Haare, eine
verbissene Miene, einen Arm, der hochzuckte. Heftig traf ihn
der Schlag. Es war ein dicker Knüppel, den der alte Mann als
Waffe benutzte.
Im Schwinden seiner Sinne begriff Gary Andrews noch, daß
dieser Mann sich nur aus einem nahen Gebüsch hatte
anschleichen können, weil er, Gary, durch das Geräusch zu
seiner Linken abgelenkt gewesen war.
Er sank zu Boden.
Ricardo Prado ließ den Knüppel sinken. Carlo war neben ihm,
glitt auf die Muskete zu und riß sie an sich. Im Dickicht wuchsen
die Gestalten der anderen acht Portugiesen hoch.
„Verdammt – dort“, stieß der Vater von Ilaria plötzlich aus.
Ricardo und Carlo fuhren nach links herum und blickten auf die
Schatten, die sich auf das Boot zu bewegten und hinter seiner
Bordwand verschwanden. Gleich darauf geriet das Boot ins
Rutschen. Ja, es schob sich auf die schäumende Brandung zu.
Carlo hatte den bewußtlosen Gary Andrews fesseln wollen,
aber dazu kam er jetzt nicht mehr. Mit verzerrtem Gesicht
spannte er den Hahn der Muskete, rannte zwei, drei Schritte
vor, stoppte und legte auf das Boot an.
„Die Meuterer!“ rief Ricardo Prado. „Salvez und seine Kerle!“
Carlo drückte ab.
Der Schuß brach donnernd, es war eine starke Pulverladung,
sie rammte den Waffenkolben heftig gegen Carlos Schulter.
Von einer feurigen Lanze getrieben, jagte die Kugel auf das
Boot zu. Eine der Gestalten, die es schob, richtete sich plötzlich
hoch auf, vollführte eine groteske Gebärde und brach
zusammen.
„Auf sie!“ rief Carlo.
Die Männer stürmten aus dem Gebüsch. Sie liefen mit Ricardo
Prado und Carlo dem Boot nach, aber das befand sich bereits
im Wasser. Die Meuterer rissen das schützende Segeltuch von
den Duchten und kletterten ins Boot. Es taumelte in der
Brandung, die Kerle hatten Mühe, die Riemen in die Dollen zu
-65
legen und mit dem Pullen zu beginnen. Einige, allen voran
Pedro Salvez, zückten ihre Messer und warfen sie auf die
heraneilenden Portugiesen.
Ilarias Vater stürzte neben Ricardo Prado zu Boden. Ricardo
stoppte, bückte sich nach dem Stöhnenden und sah, daß er ein
Messer in der Schulter stecken hatte.
Die Siedler warfen mitgebrachte Steine auf die spanischen
Meuterer. Aber das nutzte wenig, sie konnten Salvez das Boot
nicht wieder abjagen, er war bereits zu weit entfernt.
Carlo stieß plötzlich einen warnenden Ruf aus und wies
landwärts.
Zwei Männer stürzten aus dem Dickicht – große Männer, ein
Weißer mit mächtigem grauen Bartgestrüpp und ein schwarzer
Goliath. Sie sahen Gary Andrews neben der Pinie liegen,
fluchten und legten Pfeil und Bogen an.
Ricardo Prado fuhr hoch und lief auf sie zu.
„Nicht schießen“, rief er immer wieder. „Wir ergeben uns. Nur
nicht schießen…“
„Stehenbleiben!“ brüllte Big Old Shane. „Keiner rührt sich vom
Fleck!“
Batuti sandte dem Beiboot der „Isabella“ einen Pfeil nach.
Surrend strich er durch die Nacht, stieß zwischen die Meuterer
und traf. Ein Mann sank über das Dollbord. Pedro Salvez
packte ihn und beförderte ihn ganz in die Fluten. Er hatte zwei
Männer verloren, aber es befanden sich immer noch sechs auf
den Duchten, die das Boot mit hastigen Schlägen vom Ufer
fortbrachten.
„Mein Gott“, stöhnte Ricardo Prado. „Wir haben unsere einzige
Chance vertan, uns von der Tyrannei der Meuterer zu befreien.“
„Wer bist du?“ rief Shane. „Was wird hier gespielt? Was habt ihr
mit unserem Freund getan?“
Batuti sah ein, daß es keinen Zweck mehr hatte, auf das Boot
zu schießen. Es befand sich außer Reichweite seiner Pfeile.
Während Big Old Shane die Siedler weiter in Schach hielt, lief
der Gambianeger zu Gary. Erleichtert stellte er fest, daß dieser
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nur besinnungslos war. Er gab Shane ein entsprechendes
Zeichen.
Shane wußte deswegen aber immer noch nicht, zu welcher
Partei Prado und die anderen gehörten.
„Rührt euch nicht!“ rief er ihnen mit grollender Stimme zu. „Wer
Dummheiten versucht, kriegt einen Pfeil in die Brust. Das
Beiboot sind wir los, aber ihr werdet uns wenigstens erzählen,
was auf dieser verdammten Insel läuft. Du da.“ Er wies mit dem
Bogen zu Carlo. „Laß die Muskete fallen.“
„Sie ist leergefeuert.“
„Laß sie trotzdem fallen. Ihr anderen werft die Waffen auch hin,
verstanden?“
Ricardo Prado zog seinen wertvollen Toledo-Dolch und
beförderte ihn neben der Beutemuskete in den Sand.
„Mehr Waffen besitzen wir nicht“, sagte er. „Außerdem gibt es
da ein Mißverständnis zu klären, glaube ich…“
„Ich kann dazu beitragen“, sagte eine Stimme vom Dickicht her.
„Hasard!“ rief Shane.
Hasard, Carberry und Blacky traten aus dem Gebüsch. Der
Seewolf ging an Shane vorbei und sagte: „Du brauchst nicht
mehr auf diese Leute zu zielen. Das sind harmlose
portugiesische Siedler, die gegen ihren Willen auf die Galeonen
verfrachtet worden waren.“
„Harmlos?“ wiederholte Shane empört. „Der junge Bursche da
hat Garrys Muskete, also muß er ihn wohl auch
niedergeschlagen haben.“
„Nein, das war ich“, stellte Ricardo Prado richtig.
Hasard schritt auf ihn zu. „Wir haben soeben mit euren Frauen
und Kindern gesprochen. Wir kennen also sämtliche
Hintergründe.“ Er bückte sich nach dem Mann mit dem Messer
in der Schulter. „Gehörst du zu den Meuterern oder zu den
Siedlern?“
„Zu den Siedlern…“
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„Reiß die Zähne zusammen, ich ziehe das Messer heraus.“ Hasard griff zu, holte die Waffe mit einem Ruck aus der Wunde – und der Portugiese wurde ohnmächtig. Hasard richtete sich wieder auf. „Blacky, verbinde ihn, so gut es
geht.“
„Hier liegt noch einer“, sagte Blacky.
„Verletzt?“
„Nein, tot.“
„Einer von Salvez' Leuten“, erläuterte Ricardo Prado. „Ihr habt
doch sicher die Muskete krachen hören. Die Kugel hat den Kerl
erwischt.“
„Liegenlassen“, ordnete Hasard an. Er drehte sich der See zu
und sah das Beiboot der „Isabella“ mit Kurs nach Südwesten in
der Nacht verschwinden. Der Pampero legte sich ganz, und er
konnte auch das Bündel Mensch sehen, das unweit der
Brandung auf den Wogen schaukelte.
„Batuti getötet“, sagte der Gambianeger hinter ihm. „Aber mehr
unmöglich. Schweinehunde sind immer noch sieben.“
Hasard drehte sich zu ihm um. Gary Andrews stand neben
Batuti. Er wankte noch ein bißchen und rieb sich die Beule, die
sich an seinem Hinterkopf gebildet hatte.
„Schöner Mist“, sagte er. „Der Schlag war nicht von schlechten
Eltern, aber ich hätte besser aufpassen müssen. Melde mich
freiwillig zum Arrest, Kapitän.“
„Red doch keinen Stuß“, sagte der Seewolf.
„Ich muß mich entschuldigen“, sagte Ricardo Prado. „Ich habe
heute nacht wohl den größten Fehler meines Lebens
begangen.“
„Schwamm drüber“, entgegnete Gary mit gequältem
Gesichtsausdruck. „Habe schon Schlimmeres durchgestanden.
Aber kann mir mal jemand erklären, was hier eigentlich
vorgeht?“
Hasard setzte es ganz kurz auseinander, dann fügte er hinzu: „Ich fürchte, die Meuterer haben die ,Isabella' inzwischen
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entdeckt, ihre Posten stehen bestimmt auch schon am
Nordufer. Sie werden jetzt versuchen, unser Schiff zu entern.“
„Hölle und Teufel“, sagte Shane. „Wir müssen Ben Brighton und
die anderen warnen.“
„Wie denn?“ fragte Blacky.
„Wir feuern ein paar Schüsse ab.“
„Sie haben den Musketenschuß gehört und sind wahrscheinlich
bereits auf der Hut“, erwiderte Hasard. „Aber wenn das Beiboot
in die Bucht läuft, werden sie glauben, wir sitzen darin. Das ist
das Problem. Die Meuterer können sie glatt überrumpeln.“
„Moment mal“, entgegnete Carlo. „Die Dreckskerle haben doch
keine Schußwaffen. Ich meine, als wir im Sturm baden gingen,
wurde ihnen das Pulver naß, und selbst wenn sie Pistolen bei
sich tragen…“
„Da ist eine Kleinigkeit“, unterbrach ihn Carberry. „In dem Boot
liegen fein säuberlich verpackt drei oder vier Tromblons und
zwei Musketen. Für alle Fälle. Munition ist auch an Bord. Wenn
die Schweine es schaffen, bis an die 'Isabella' zu gelangen,
richten sie ein Unheil an.“
„Los!“ rief Hasard. „Helft dem Verwundeten auf die Beine und
schleppt ihn mit. Gary, du kannst schon wieder laufen, oder?“
„Ja, Sir.“
„Dann kehren wir jetzt so schnell wie möglich zu den Frauen
und Kindern zurück. Wir nehmen sie mit zum Nordufer, ich
fürchte, die auf der Insel zurückgebliebenen Meuterer könnten
sie angreifen. Wir laufen also alle zur Ankerbucht der 'Isabella'
und warnen die Crew.“
„Und was wird aus meiner Magdalena?“ fragte Ricardo Prado.
„Ich weiß nicht“, erwiderte Hasard. „Unseren Schiffsjungen
haben wir auch nicht finden können, aber ich hoffe, die beiden
sind irgendwo untergekrochen und befinden sich in Sicherheit.
Bei Tagesanbruch werden sie sich bestimmt melden.“
Es klang überzeugt, als er das sagte, dabei hatte er kaum noch
Hoffnung, Bill lebend wiederzufinden. Und was Magdalena
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betraf, so wagte er sich kaum auszumalen, was ihr alles
zugestoßen sein konnte.
Magdalenas Finger krampften sich um Bills rechte Hand. „Da“,
flüsterte sie erregt. „Was ist das? Ich höre Geräusche – über
uns!“
„Schritte“, murmelte der Junge.
„Von Menschen?“
„Ganz bestimmt.“
„Gerechter Himmel, das sind die Meuterer.“
„Das glaube ich nicht, Magdalena.“
„Aber ich. Salvez will mich um jeden Preis. Er hat sich
überzeugt, daß von dem Beiboot keine große Gefahr drohen
kann, jetzt kehrt er zurück, um das Werk zu vollenden, das
er…“
Sie sprach nicht weiter, die Stimme versagte ihr den Dienst.
„Still“, raunte Bill. „Ich höre Stimmen.“
Er lauschte angestrengt, konnte aber nur undefinierbare
Wortfetzen durch das Rauschen des Seewassers und das
abklingende Pfeifen des Windes aufnehmen. Er hatte immer
noch die Hoffnung, der Seewolf und die anderen fünf aus dem
Beiboot hätten sich auf die Suche nach ihm begeben, aber er
gab sich keinen Illusionen hin.
Die Stimmen da oben ließen sich nicht einwandfrei als die von
Hasard, Carberry, Shane, Blacky, Batuti oder Gary erkennen.
Er mußte darum annehmen, daß es sich um die Meuterer
handelte, die am Rand des Steilufers nach dem Mädchen
forschten.
„Verflixt und zugenäht“, preßte er hervor.
Magdalena klammerte sich an ihm fest. Sie zitterte, aber er
wußte ganz genau, daß sie nicht fror. Sie hatte ungeheure
Angst.
„Ich sterbe“, wisperte sie. „Ich weiß, daß ich bald sterbe.“
„Sag doch so was nicht“, flüsterte er zurück.
„Die Schritte…“
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„Ich höre sie nicht mehr, Magdalena.“
„Die Stimmen?“
„Sie sind jetzt fort.“
Sie seufzte, aber dann fuhr sie wieder zusammen und hauchte:
„Bill, ich weiß, daß Salvez keine Ruhe gibt, bis er mich
gefunden hat. Ich halte dieses Warten einfach nicht mehr aus,
ich – ich kann nicht mehr.“
„Du darfst jetzt nicht die Nerven verlieren“, versuchte Bill sie zu
beschwichtigen. Im stillen gab er ihr jedoch recht.
Pedro Salvez, dieser Halunke, würde nichts unversucht lassen,
um das Mädchen aufzustöbern. Ein so hübsches Wesen –
Kerle wie dieser Spanier vergaßen über ihre Gier sogar Gold,
Silber und alles andere, was ihnen von Bedeutung war. Trotz
seiner fünfzehn Jahre wußte auch Bill schon, daß solche
Halunken sich für abgetakelte Hafenhuren oftmals Kämpfe bis
aufs Messer lieferten. Ein Mädchen wie Magdalena mußte
einen Pedro Salvez schlechthin um den Verstand bringen.
Und noch etwas. Wenn es wirklich die Meuterer waren, die da
im Wald herumstreiften und also nicht mehr durch das Beiboot
abgelenkt waren, so hieß das: Hasard und die anderen hatten
das Südwestufer bereits wieder verlassen.
Pullten sie zur „Isabella“ zurück? Jetzt, da der Pampero sich
gelegt hatte, konnten sie es tun. Sicherlich nahmen sie an, er,
Bill, sei auf dem Landweg zur Ankerbucht zurückgekehrt.
Und wenn die „Isabella“ ohne ihn ankerauf ging und wegsegelt?
Er zwang sich, nicht daran zu denken.
„Warum gehen wir hier nicht weg?“ sagte Magdelena. „Wir
sitzen in einer Falle, wenn Pedro Salvez den Zugang zur Höhle
findet.“
„Also gut“, erwiderte Bill. „Riskieren wir's.“
Er stand auf und verließ als erster die Grotte, um den Naturpfad
emporzukriechen und oben nach etwaigen Feinden Ausschau
zu halten.
Als sich niemand blicken ließ und die Luft seiner Meinung nach
rein war, winkte er dem Mädchen zu. Magdalena klomm auf
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dem Pfad hoch. Einmal rutschte sie fast aus und stieß einen erstickten Ruf aus. Aber dann schaffte sie es doch. Oben angelangt, atmete sie auf. „Die Nacht ist kühl und klar geworden“, raunte sie Bill zu. „Endlich behindert der Sand nicht mehr die Sicht. O Bill, wenn wir doch nur auf Rettung hoffen könnten!“ „Komm“, sagte er nur. Er griff nach ihrer Hand und führte sie. Wohl war ihm nicht zumute, als sie durch den Wald pirschten. Eine Schußwaffe hatte er nicht aus dem Boot mitgenommen, er trug nur ein kleines Messer bei sich. Wie gut wäre es jetzt gewesen, eine Muskete oder einen Blunderbuss zu haben, eine Waffe, mit der man einen Gegner auf zehn Fuß Distanz noch regelrecht zersägen konnte. Er verdammte sich selbst, daß er so unbekümmert gewesen war, den Tapir erlegen zu wollen. Bill, Bill, dachte er, Ed Carberry hat recht, du mußt wirklich noch eine Menge lernen. Magdalena schob sich plötzlich an ihm vorbei und übernahm die Führung. „Die Gegend hier kommt mir bekannt vor“, wisperte sie. „Das wird doch nicht… Himmel, Bill, ich glaube, wir sind in der Nähe der Höhle, die wir Siedler als Lager für die Nacht entdeckt hatten.“ Kurz darauf standen sie vor dem Höhleneingang. Magdalena sagte zweimal „Vater“ und einmal „Dona Teresa“, aber es antwortete ihr niemand. Zu rufen wagte sie nicht - wegen der Meuterer, die sich immer noch in der Umgebung aufhalten konnten. Sie lief in die Höhle und stieß einen entsetzten Laut aus. Bill tastete sich hinter ihr her. „Fort“, sagte sie. „Alle. Warum sind sie so plötzlich aufgebrochen? Und wohin?“ „Ich würde mir darüber nicht den Kopf zerbrechen.“ „Bill, ist das dein Ernst?“
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„Hör zu“, sagte er leise. „Ich halte es für möglich, daß dein
Vater oder irgendein anderer Landsmann von dir mein Schiff in
der Bucht am Nordufer gesichtet hat. Oder deine Leute haben
meinen Kapitän getroffen. Hasard ist ein großartiger Mann, er
hilft ihnen bestimmt. Kann sein, daß er sie auf die ,Isabella'
gebracht hat.“
„Das glaubst du doch selbst nicht.“
„Warum sollte ich dir was vorschwindeln, Magdalena?“
„Ich weiß nicht.“ Sie zuckte ratlos und resignierend mit den
Schultern. „Also, was tun wir? Hier können wir auch nicht
bleiben.“
„Weiter“, sagte Bill.
„Wohin? Zu deiner 'Isabella'?“
„Ja. Ich glaube, ich weiß, welche Richtung wir einschlagen
müssen.“
So bahnten sie sich wieder einen Weg durch das Unterholz und
arbeiteten sich mühsam voran. Zu ihrem großen Erstaunen
trafen sie wenig später auf die leere Wohnhöhle der Meuterer.
Da schwelten noch die Reste des Lagerfeuers, da lagen ein
paar Knochen des inzwischen verzehrten Erdferkels. Ein
Haufen aufgeschichteter Steine nahe des Höhleneinlasses
kündete davon, daß die Meuterer Antonio Perez wenigstens ein
Grab bereitet hatten.
„Die sind auch auf und davon“, stellte Bill nüchtern fest. „Wir
haben Glück.“
„Glück?“ Sie lachte bitter. „Sie jagen meine Leute. Sie wollen
uns alle umbringen. Das nennst du Glück?“
„Ich finde, du siehst die Dinge zu schwarz.“
„Ach, Bill, du kennst Salvez nicht.“ Magdalena strich ihm
flüchtig mit der Hand über die Wange. Sie mochte diesen
aufrichtigen, mutigen Jungen, aber ihr war auch bewußt, daß er
mit seinen fünfzehn Jahren manche Dinge nicht richtig
einschätzte.
„Der Weg zum Nordufer führt über die Bergkuppen“, sagte Bill
mit einem Blick nach oben.
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Der Sandsturm hatte auch die letzten Nebelfetzen
weggetragen, die die höchsten Erhebungen wie eine Krempe
umschmiegt hatten. Im fahlen Mondlicht zeichneten sich jetzt
deutlich die Konturen der Berggipfel ab.
Sie stiegen in das vegetationslose Gebiet auf und suchten nach
einem Paß. Fanden sie keinen, so wollten sie über den Grat
des Gebirgsrückens klettern. Bill freute sich schon jetzt auf den
Augenblick, in dem er von hoch oben die „Isabella VIII“ in der
versteckten Bucht liegen sehen würde.
Er hoffte inständig, daß der Seewolf nicht doch schon
aufgebrochen war.
Nach etwa einer halben Stunde angestrengten Kletterns
erreichten sie den Grat an einem Plateau. Bill blickte forschend
auf die im Durchmesser gut hundert Yards große Plattform.
„Das ist ja ein toller Aussichtspunkt“, sagte er. „Komm,
Magdalena, von der anderen Seite aus können wir
wahrscheinlich das gesamte Nordufer überblicken.“
Er schob sich über den Rand gezackter Felsen und half auch
dem Mädchen, das Hindernis zu überbrücken. Dann schritten
sie quer über das Plateau.
Zu spät nahm Bill den herben, brenzligen Geruch wahr, der
vom Zentrum des Plateaus aufstieg. Er bremste das Mädchen,
wollte zurückweichen, aber da tauchte hinter einem
abgeflachten Felsquader bereits eine Gestalt auf.
„Herrgott“, stöhnte Magdalena auf. „Ein Mann – Augusto
Navidad.“
„Wer ist das?“ fragte Bill heiser.
„Einer von Pedro Salvez' Leuten…“
Navidad ging langsam auf sie zu, er hatte seinen Säbel
gezückt.
„Ich habe euch heraufkommen hören und das Feuer gelöscht“,
sagte er. „Versucht nicht wegzulaufen. Es wäre ein
unverzeihlicher Fehler. Junge, laß bloß das Messer stecken. Du
machst dich unglücklich, wenn du mich angreifst.“
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8.
Mit zügigem Riemenschlag trieben die Meuterer das Boot
voran. Mit Pedro Salvez und Lucio, dem „San-Domingo“-Mann,
waren es sieben Kerle. Sechs nahmen die Plätze auf den
Duchten ein und pullten. Salvez kniete vorn im Bug. Er hatte die
Einfahrt zur versteckten Bucht entdeckt und spähte lauernd
nach vorn.
Vier Tromblons und zwei Musketen hatten sie unter den
Duchten gefunden. Während sie das Westufer der Insel
passiert hatten, hatte Pedro Waffe um Waffe geladen und
immer wieder dabei gelacht.
„Es ist soweit“, raunte er jetzt. „Wir werden diesen Narren eine
feine Überraschung hinzaubern. Sie warten ja darauf, daß das
Boot zurückkehrt und werden uns keine Schwierigkeiten
bereiten. Daß sich die falschen Leute an Bord befinden, ahnen
sie noch nicht.“
„Wie viele sind es wohl?“ fragte Lucio.
„Höchstens ein Dutzend, mehr auf keinen Fall.“
„Und die Insassen des Bootes?“
„Die befinden sich irgendwo auf der Insel und können uns nicht
gefährlich werden“, erwiderte Salvez unwillig. „Hör doch auf, so
idiotische Fragen zu stellen.“
Er hatte die Ruderpinne gepackt. Das Boot zog etwas
schwerfällig herum, als sie in die Einfahrt manövrierten.
Fasziniert, beinahe ergriffen, blickte Salvez auf das Schiff, das
da majestätisch vor Anker lag. Wie riesige Bäume ragten die
drei Masten mit den Rahen auf, sie waren überraschend hoch.
Auch die flache Konstruktionsweise der Aufbauten entging dem
Anführer der Meuterer nicht.
„Was ist das für ein Schiff?“ flüsterte er. „So einen Typ habe ich
meinen Lebtag noch nicht gesehen.“
„Ist was nicht in Ordnung?“ fragte einer der Kerle.
„Still“, zischte Salvez.
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„Hoffentlich haben die keine besonders aufmerksame
Deckswache“, murmelte Lucio. „Wenn wir die Hunde im
Mondlicht sehen können, können sie auch uns beäugen und
vielleicht feststellen, daß wir ihren Kameraden ganz und gar
nicht ähnlich sehen.“
„Maul halten!“ Pedro hatte sich zu ihm umgedreht. „Was soll die
Unkerei? Hast du die Hosen voll?“
„Nein. Ich will nur sagen - diese Piraten sind bestimmt keine
Tölpel.“
„Aber wir haben das Überraschungsmoment auf unserer Seite.
Wir gehen längsseits, entern wie die Affen auf und schießen
erst, wenn wir sie vor den Läufen haben, verstanden?“
„Ja“, sagten die Männer gedämpft.
Das Boot der Verschwörer schob sich auf die „Isabella“ zu,
leise klatschten die Wellen gegen die Bordwände. Mit
verhaltenem Schmatzen tunkten die Riemenblätter ein und
zuckten wieder hoch. Die Distanz zwischen beiden Gefährten
war fast überbrückt.
Pedro Salvez hatte ein Messer und einen Säbel im Gurt
stecken, außerdem trug er die zusammengerollte Peitsche bei
sich, mit der er Magdalena hatte geißeln wollen. Seine Rechte
umspannte das Tromblon, die kurzläufige Steinschloßflinte,
deren Lauf vorn trichterförmig ausgeweitet war. Auf geringe
Entfernung hatte die Waffe eine enorme Streuung, man konnte
mit mehreren solchen Flinten in Sekunden ganze Decks
leerfegen.
Bis auf einen Mann hatte jeder der Meuterer im Boot eine
Schußwaffe. Der auf diese Weise Benachteiligte sollte auf
Salvez' Anweisung erst als letzter entern und die Nachhut
bilden.
Schwarz und wuchtig ragte die Bordwand der „Isabella“ vor den
Spaniern auf.
*
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Ben Brighton und der Rest der Crew an Bord der „Isabella“ hatten sehr wohl den Musketenschuß vernommen, der nach dem Abebben des Pamperos von der Insel herübergeweht war. Als es aber bei dem einen Schuß geblieben war, hatte Hasards Bootsmann angenommen, daß der Seewolf tatsächlich „zur Bereicherung des Küchenzettels“ ein Stück Wild erlegt hätte und nun bald zurückkehren würde. Der Großteil der Mannschaft hatte sich unter Deck zurückgezogen. Als Wachen befanden sich Will Thorne auf der Back und Luke Morgan auf dem Achterdeck. Luke hielt weisungsgemäß den Blick zum Nordufer gerichtet. Will beobachtete die Bucht, die Einfahrt und die offene See, soweit das im Dunkeln möglich war. Will hatte bis zum Dunkelwerden defekte Segel repariert. Er war jetzt ein bißchen müde und hatte sich gegen die Nagelbank gelehnt, um es im Stehen ein wenig bequemer zu haben. Er spielte mit dem Gedanken, sich auf der Gräting niederzulassen, verwarf ihn aber wieder. Von der Gräting aus konnte er die Bucht nicht überblicken. Sein etwas träger Blick konzentrierte sich auf das Beiboot, als es den Zugang passierte und zügig auf das Schiff zuhielt. „Na endlich“, murmelte er. „Wurde aber auch Zeit. Was habt ihr bloß so lange getrieben? Na, wir werden's ja gleich erfahren. Die Jakobsleiter ist ausgebracht, ihr braucht bloß noch aufzuentern.“ Er wandte sich ab, trat an die Balustrade, die den Querabschluß der Back zur Kuhl bildete und gab Luke Morgan ein Zeichen. Luke schaute zur Insel und bemerkte den Wink nicht sofort. Erst bei Wills zweitem Versuch gelang die Verständigung. Luke blickte herüber, nickte und trat nach Steuerbord, um das Anlegen des Bootes zu verfolgen. Das Boot schor aber bereits längsseits und befand sich völlig im Dunkeln, so daß es nur schemenhaft zu erkennen war. Luke schlenderte über den Steuerbordniedergang des Achterdecks zunächst auf das Quarter-, dann auf das
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Hauptdeck und suchte die Stelle am Schanzkleid auf, wo das obere Ende der Jakobsleiter an zwei Klampen belegt worden war. Er beugte sich vor und lehnte sich ein Stück mit dem Oberkörper über, weil er die Freunde begrüßen wollte. In diesem Augenblick ließ ihn irgend etwas stutzig werden. Will Thorne sah es ganz deutlich. Ein dumpfer Laut war von der Bordwand zu vernehmen, so, als ob jemand mit dem Fuß gegen die Beplankung trete, jemand, der sehr hastig aufenterte. Luke zuckte zurück und wandte den Kopf. Will Thorne sah das Entsetzen in seinem Gesicht, das weiße Mondlicht reichte aus, um eine solche Feststellung zu treffen. Luke stieß einen Schrei aus und zückte die Pistole. Will Thorne schüttelte in dieser Sekunde seine Müdigkeit wie einen lästigen Mantel ab. Er reagierte, griff sich eine Muskete, die an der Querbalustrade lehnte, und raste den Niedergang zur Kuhl hinunter. In diesem Augenblick schrie Luke Morgan auch schon: „Alarm!“ Will rannte und sah einen Kopf hinter dem Schanzkleid hochzucken. Das war nicht Hasard, auch keiner seiner Begleiter, das war ein fremder, wüst aussehender Kerl, der ein
Messer zwischen die Zähne geklemmt hatte.
Luke drückte auf ihn ab. Weißlicher Pulverqualm puffte hoch,
im Krachen des Pistolenschusses riß der Kerl am Schanzkleid die Arme hoch und verlor das Tromblon, das er hatte anlegen wollen. Will sah einen zweiten, der von der Jakobsleiter aus über die Berghölzer geturnt sein mußte und jetzt ein Stück rechts von dem ersten erschien. Rasch hob Will die Muskete. Aber jetzt richteten sich gleichzeitig mehrere Gestalten an der Außenseite des Schanzkleides hoch und schwangen ihre Waffen. Luke konnte nicht mehr schießen. Er hatte nur die eine Pistole, und selbst ein geübter Schütze benötigte lange, viel zu lange, um nachzuladen. Luke warf die Pistole fort und riß seinen Degen aus der Scheide.
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Will feuerte auf den Kerl, auf den er gezielt hatte. Die Schotts des Vor- und Achterkastells flogen auf, und die übrigen Seewölfe stürmten heraus. Ben Brighton, Ferris Tucker, der Kutscher, Smoky, Pete Ballie, Matt Davies, Al Conroy, Dan O'Flynn und sein Vater, Jeff Bowie, Sam Roskill, Bob Grey und Stenmark – sie übersahen die Lage mit einem Blick und jagten wutentbrannt heran. „Auf sie!“ schrie Pedro Salvez in seiner Muttersprache. „Nieder mit ihnen!“ „Das sind Dons!“ rief Ben Brighton. „Drängt sie zurück, diese Hundesöhne!“ Der Mann, auf den Will Thorne geschossen hatte, ließ das Schanzkleid los und kippte mit verzerrtem Gesicht hintenüber. Er schaffte es noch, den Abzug seiner Muskete zu betätigen, aber sie ging nach oben los, der Schuß entlud sich steil in den Nachthimmel und verursachte nicht mehr als ein gewaltiges Krachen. Will sah, daß es noch fünf Kerle waren, die das Deck zu stürmen versuchten. Er drehte seine Muskete um, sprang vor und benutzte den Kolben als Schlagwaffe. Gleichzeitig waren auch Luke, Ben und sechs andere Männer neben ihm. Pedro Salvez huschte zur Seite fort, nach achtern. Er balancierte plötzlich über das Schanzkleid auf den Steuerbordniedergang zu – und legte sein Tromblon auf die Crew der „Isabella“ an. Old O'Flynn sah es rechtzeitig. Er wirbelte herum, wie man es ihm wegen seiner Krücken und seines Holzbeines kaum zutraute. Der gedrungene Schiffshauer entglitt seiner Hand, huschte auf Salvez zu und bohrte sich dicht neben dessen Füßen in die Stufen des Niederganges. Salvez riß vor Schreck das Tromblon etwas hoch und krümmte den Zeigefinger. Donnernd entlud sich die Waffe. Die Schrotkörner, die die Seewölfe auf die geringe Distanz zerfetzt hätten, pfiffen wirkungslos über die Köpfe der Männer weg. Salvez fluchte und warf das Tromblon fort.
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Zur selben Zeit war die Crew noch weiter gegen die Spanier vorgerückt und verhinderte, daß die Kerle auf die Kuhl gelangten. Der Tschakan, eine türkische Wurfaxt, die Big Old Shane diesmal an Bord zurückgelassen hatte, war in Ferris Tuckers Hand ein verheerendes Mordwerkzeug. Er schleuderte ihn – einer von Salvez' Kumpanen stürzte mit gespaltenem Schädel dorthin zurück, woher er gekommen war. Salvez riß seinen Säbel hoch und schwang ihn gegen Smoky. Smoky führte eine heftige Parade mit seinem Entermesser und brüllte dabei: „Du Bastard, wer hat dich bloß losgelassen? Dir werd' ich's zeigen!“ Ein weiterer Spanier, der rechts neben dem fechtenden Lucio stand, wollte aus der Hüfte mit dem Tromblon auf Will, Luke, Bob und den jungen O'Flynn feuern, als sie auf ihn eindrangen. Plötzlich sauste etwas aus dem Großmars nieder und fand mit geradezu unheimlicher Präzision sein Ziel – ein Belegnagel. Der Kerl kriegte ihn auf den Kopf, stöhnte, taumelte. Oben im Großmars keckerte triumphierend der Affe Arwenack. Dan stieß den alten Kampfruf der Seewölfe aus: „Arwenack!“ Er sprang vor und stieß dem Don seinen Degen in den Leib. Mit noch geladenem Tromblon fiel auch dieser Gegner. Lucio hatte noch einen Mitstreiter zur Seite. Er blickte zu Salvez und sah, daß der vollauf mit dem einen dieser verdammten Engländer zu tun hatte – von Salvez war keine Unterstützung zu erwarten. Lucio tänzelte auf der Handleiste des Schanzkleides nach achtern, wich vor zwei Säbelklingen aus, duckte sich und entging einem Pistolenschuß. Der letzte Meuterer, der noch die Position an der Jakobsleiter verteidigte, schnellte mit einem kühnen Satz auf Deck – mitten zwischen die Seewölfe. Es war der, der über keine Schußwaffe verfügte. Ben Brighton holte ihn sich vor die Degenklinge. Er lieferte ihm einen kurzen, heftigen Zweikampf, dann fiel die Verteidigung des Spaniers. Ben ging rigoros und ohne Kompromiß vor. Er stach zu. Als er
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den Degen wieder zurückzog, sank der Angreifer mit blutender
Herzwunde auf die Planken.
„Zurück!“ schrie Lucio, der sich bis aufs Quarterdeck hatte
zurückziehen können. „Pedro, es hat keinen Zweck, wir müssen
hier weg, wenn wir nicht auch krepieren wollen!“
„Ja!“ brüllte Smoky auf spanisch. „Du hast es erfaßt, Don
Felipe, aber die Sache hat einen Haken – so leicht lassen wir
euch Hurensöhne nicht abziehen!“
Lucio sprang neben Salvez und unterstützte ihn. Smoky mußte
vor ihren Säbelklingen zurückfedern, und diesen Augenblick
nutzten die beiden. Sie liefen am Ruderhaus vorbei, nahmen
den Steuerbordniedergang und hetzten aufs Achterdeck.
„Ihnen nach!“ schrie Ben Brighton.
Hinter Smoky jagte er aufs Quarterdeck, und die gesamte Crew
war ihnen auf den Fersen. Auf dem Niedergang zum
Achterdeck ließ Smoky sich aber plötzlich fallen.
„Kopf weg!“ brüllte er. „Der eine hat noch sein Tromblon!“
Die Seewölfe zogen die Köpfe ein und warfen sich platt an
Deck oder duckten sich am Niedergang. In diesem Augenblick
dröhnte auch schon das Tromblon des „San-Domingo“-Mannes.
Fauchend raste die geballte Schrotladung über sie weg. Sie
vernahmen das Poltern, mit dem die Flinte aufs Achterdeck fiel
– und schwangen wieder hoch.
Pedro Salvez und Lucio flankten über die Heckreling.
„Feuer!“ befahl Ben Brighton.
Eine ganze Batterie aus Musketen, Arkebusen und Tromblons
richtete sich auf die Flüchtigen. Die Seewölfe zogen durch. Ein Schrot- und Eisenkugelhagel raste Salvez und seinem Komplicen nach, aber er richtete nichts mehr aus, die Kerle hechteten bereits ins Wasser. Ben und seine Männer stürzten an die Heckreling. Sie hörten es klatschen und sahen nur noch die Stellen, an denen Salvez und Lucio eingetaucht waren. „Verdammt“, knurrte Old O'Flynn. „Sagt bloß, wir lassen diese elenden Bastarde mit heiler Haut entwischen.“
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„Drehbasse!“ rief Ben Brighton. „Al, pflanz den Kerlen einen
sauberen Schuß zwischen die Kiemen, sobald sie wieder
auftauchen.“
„Mit Vergnügen“, sagte Al Conroy.
In diesem Augenblick peitschten am Inselufer Schüsse auf. Ben
schaute hinüber. Er sah Feuerblitze aufzucken und weißen
Qualm hochpuffen. „Ich fresse meinen Hut, wenn das nicht
Hasard und die anderen sind, die sich gegen andere Spanier
wehren müssen!“
Al Conroy fluchte mit den anderen um die Wette, während er an
der Drehbasse arbeitete. Der Kutscher hatte ein Kupferbecken
angeschleppt, in dem Holzkohlefeuer glomm. Al brauchte nur
noch das Luntenende hineinzustoßen. Die Basse war wie alle
anderen Geschütze der „Isabella“ ja schon auf Hasards Befehl
hin gefechtsklar gemacht worden. Al brauchte sie nur noch zu
justieren und zu zünden.
Er brachte die Zündschnur zum Glimmen.
„Da!“ rief Dan O'Flynn. „Die Kerle tauchen zum Luftholen auf!“
Al korrigierte die Stellung der Basse in der drehbaren
Gabellafette, arretierte sie wieder und zündete.
Der Schuß wummerte, die Basse ließ das Schanzkleid
vibrieren. Die Kugel fuhr auf die beiden schwimmenden Spanier
zu, aber genau in diesem Moment zogen sie bereits wieder die
Köpfe unter Wasser.
„Hol's der Teufel“, wetterte Smoky. „Ich kann nicht sehen, ob du
getroffen hast, Al.“
„Ich auch nicht“, erwiderte Al grimmig.
„Wir werden ja sehen, ob die Leichen an die Wasseroberfläche
kommen!“ rief Ben Brighton. „Al, feure auch die zweite
Drehbasse ab, falls die beiden Hundesöhne unverletzt sind.“
„Aye, aye.“
„Diese Kanaillen!“ stieß der alte O'Flynn aus. „Ich hoffe, sie
haben zumindest die Hosen voll.“
„Ferris, Kutscher, Smoky, Matt, Jeff Bowie, Sam Roskill“, sagte
Ben Brighton. „Ihr entert wie die Teufel in das Beiboot ab und
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pullt zum Ufer. Stellt fest, was da los ist und helft Hasard und
den anderen. Seht zu, daß euch keiner was auf den Pelz
brennt.“
„In Ordnung.“ Ferris stürmte an der Spitze des sechsköpfigen
Trupps zum Steuerbordschanzkleid der Kuhl, enterte als erster
an der Jakobsleiter ab, saß im nächsten Moment auf der Ducht
und feuerte die Männer mit Rufen an: „Los, los, beeilt euch, wir
haben keine Zeit zu verlieren, dalli, dalli, vielleicht steckt Hasard
in der Klemme!“
Matt Davies räumte fluchend einen toten spanischen Meuterer
aus dem Boot. Der Kerl war nach seinem Sturz vom
Schanzkleid hier gelandet und hatte mit nach außen
überhängendem Kopf und Armen dagelegen. Jetzt verschwand
seine Leiche mit glucksendem Laut in den Fluten.
Die Männer nahmen Platz und griffen nach den Riemen.
Am Ufer krachten immer noch vereinzelte Schüsse.
„Holla, was ist denn das?“ sagte der Kutscher. Er war mit dem
Fuß gegen etwas Weiches gestoßen.
„Ein Schwein“, erwiderte Jeff Bowie.
„Nein, das ist ein Tapir“, meinte Smoky. „Ich hab's ja gesagt,
Hasard ist doch auf die Jagd gegangen.“
„Was kümmert mich jetzt der Scheiß-Tapir?“ zischte Ferris
Tucker. „Los, pullen wir, ehe es drüben zu spät ist.“
Das Boot löste sich von der Bordwand der „Isabella“, glitt zum
Heck, rundete es und hielt auf die Insel zu.
Auf dem Achterdeck der Galeone stand Al Conroy ziemlich
ratlos hinter der zweiten Drehbasse und sagte: „Ben, wenn ich
jetzt auf die beiden Dons im Wasser feure, gefährde ich auch
die Männer am Strand. Das ist mir zu riskant.“
„Ja“, pflichtete Ben ihm bei. „Die beiden Kerle sind bereits zu
nahe am Ufer. Wir haben keine Wahl, wir müssen sie abhauen
lassen.“
Old O'Flynn stieß einen ächzenden Laut aus. „Holle und Teufel,
täusche ich mich – oder sind die zwei Kanalratten wirklich
unverletzt?“
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„Du täuschst dich nicht, Pa“, sagte sein Sohn. „Ich sehe sie auch gerade wieder auftauchen – und sie schwimmen wie die Besessenen.“ „Geschützführer an die Kanonen der Backbordbatterie“, ordnete Ben an. „Wir können nicht zum Ufer hin feuern, aber die Situation könnte sich auch ändern, und dann schießen wir die Insel zusammen, das schwöre ich euch!“ Keiner sprach es aus, aber es lag auf der Hand, was Ben Brighton konkret meinte. Wenn Hasard und seine sechs Begleiter auf der Insel getötet wurden, würde die Restcrew Rache üben – gnadenlos.
9. Die Frauen und Kinder der Siedlergruppe befanden sich in einem ziemlich sicheren Dickichtversteck unweit des Nordufers, und auf Hasards strikte Anweisung hin waren sowohl der verwundete Vater Ilarias als auch fünf weitere Portugiesen zur Bewachung dortgeblieben. Hasard, Ed, Shane, Blacky, Batuti, Gary, Ricardo Prado, Carlo und vier andere Portugiesen hatten sich im Ufergestrüpp versteckt und auf Salvez' Kumpane gewartet, die sich nach Ricardo Prados Bericht noch auf der Insel befanden und zweifellos an dem Angriff auf die „Isabella“ teilnehmen würden – vom Ufer aus. Sich auf den Strand zu stellen und die Bordwachen der „Isabella“ durch Rufe zu warnen, wäre unter diesem Gesichtspunkt also äußerst unklug gewesen. Die Meuterer
hatten ihnen in den Rücken fallen können.
Hasard hatte seinen ursprünglichen Plan also aufgegeben, aber
es war ihm nicht leichtgefallen.
Schüsse waren von der „Isabella“ her ertönt – und Geschrei.
„Es ist geschehen“, sagte der Seewolf. „Allmächtiger, ich habe
doch einen Fehler begangen…“ „Dort“, raunte Carlo plötzlich.
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Es blieb keine Zeit für Überlegungen oder Selbstvorwürfe, die
restlichen Meuterer erschienen tatsächlich auf dem Strand und
schickten sich an, ins Wasser zu laufen – mehr als ein Dutzend.
Hasard gab das Zeichen. Seine Männer brachen aus dem
Gestrüpp vor und stürmten auf die Feinde los. Hasard und
seine Männer hatten sechs Pistolen sowie zwei Musketen, eine
hatten sie am Versteck der Frauen und Kinder zurückgelassen.
So stellten sie sich den Gegnern zwar relativ spärlich
bewaffnet, befanden sich aber doch in der Übermacht, weil die
Schußwaffen der Meuterer immer noch nicht funktionsfähig
waren.
Hasard lief allen voran, ihm folgte Carberry auf dem Fuß. Über
dem bulligen Haupt des Profos' flatterte der aufgebrachte Sir
John. Der Resttrupp stürmte in dichtgeballter Formation hinter
ihnen her.
„Arwenack!“ scholl der alte Kampfruf der Seewölfe von der
„Isabella“ herüber – und Hasard wußte, daß sich seine Crew
nicht hatte übertölpeln lassen.
„Stehenbleiben!“ rief er den im Wasser watenden Spaniern zu.
„Ergebt euch, oder wir schießen euch nieder!“
„Auf sie!“ brüllte einer der Kerle.
Sie wandten sich um und trachteten, sich die Verfolger vom
Leib zu halten. Zwei, drei wild entschlossene Kerle
schleuderten ihre Messer. Sie waren zuckende Blitze unter dem
Mondlicht, die auf die Seewölfe und ihre neuen Verbündeten
zustachen.
„Deckung!“ rief Hasard.
Neben ihm stöhnte plötzlich Carberry auf. Hasard schoß mit der
Radschloßpistole auf die Meuterer, dann blickte er zu seinem
Profos. Carberry legte mit verkniffenem Gesicht seine Pistole
an.
„Nicht der Rede wert, nur ein Kratzer!“ brüllte er. Im selben
Augenblick drückte er ab.
Ein Stakkato von Schüssen fegte über den Strand.
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„Arwenack!“ schrie der Seewolf, und seine Männer stimmten mit ein. „Ar-we-nack!“ Jetzt hielt sie nichts mehr, jetzt gingen sie gnadenlos gegen die Spanier vor. Fünf, sechs Kerle waren bereits unter den Schüssen gefallen. Der Rest versuchte sich entweder ins Wasser zu retten oder warf sich den Widersachern mit Degen oder Säbel entgegen. Auf der „Isabella“ wummerte ein Drehbassenschuß. Hasards Kopf ruckte herum, er versuchte, etwas zu erkennen, sah aber nur, daß einer seiner Männer auf etwas im Wasser gefeuert hatte. Eine kleine Fontäne stob hoch. Hasard schloß daraus, daß einige Meuterer aus dem geraubten Beiboot ihr Heil in der Flucht suchten. Das Schießen und Schreien auf der „Isabella“ war verstummt. Der Kampf fand jetzt nur noch am Strand statt. Carberry drang mit schwingendem Säbel gleich auf zwei Gegner im hüfthohen Uferwasser ein. Das Messer hatte seine linke Schulter geritzt, er war außer sich vor Wut. Heulend wichen die Kerle vor seinen Klingenhieben zurück. Shane, Blacky, Batuti und Gary verfeuerten ihre letzten Schüsse. Sie warfen die Waffen weg und stürzten sich mit gezückten Degen, Säbeln und Entermessern auf die Spanier. Ricardo Prado, Carlo und die übrigen Portugiesen hatten kaum noch Gelegenheit, ihren Kampfgeist zur freien Entfaltung zu bringen – der Kampf schien bereits entschieden zu sein. Und dann erschien auch noch das Beiboot der „Isabella“ und hielt auf die beiden Parteien zu. Die Seewölfe an Land begrüßten es mit Johlen und Pfeifen. Die spanischen Meuterer sahen endgültig ihre Felle davonschwimmen und ließen jede Hoffnung sinken, die Dinge noch für sich entscheiden zu können. , Zwei nahmen Reißaus und warfen sich ins tiefere Wasser. Sie wollten davonschwimmen. Aber plötzlich richtete sich die Gestalt von Ferris Tucker hoch im Boot auf. Er warf einen Gegenstand, der zischend ins Wasser tauchte, dann blähte
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eine Detonation die Fluten auf, schlug Wellen und ließ das Boot
heftig schaukeln.
Die Leichen der Meuterer trieben an die Oberfläche, Hasard
konnte sie deutlich erkennen.
Carberry lachte dröhnend auf. „Ho, Ferris hat mal wieder eine
seiner Flaschenbomben losgelassen! Recht so, weiter so!“
Damit trieb er seinen Säbel dem vorletzten Gegner ins Herz.
Der letzte Meuterer wurde durch Batutis Pfeil getötet, als er sich
anschickte, sein Messer auf Gary Andrews zu schleudern.
Hasard erblickte zur selben Zeit zwei Gestalten, die in einiger
Entfernung aus dem Wasser wateten. Ihre Konturen
verschmolzen fast mit der Dunkelheit, es hätte nicht viel gefehlt,
und keiner hätte sie entdeckt.
Hasard duckte sich und lief über den Strand nach Westen,
denn in diese Richtung wollten sich die beiden Kerle absetzen.
Es mußten jene sein, denen die Flucht von der „Isabella“
gelungen war.
Hasard war ein guter, ausdauernder Läufer. Er legte sein
beinahe größtes Tempo vor, bewahrte sich aber noch
Kraftreserven. Dumpf trommelten seine Füße über den
Sandstrand.
Bald hatte er die Flüchtigen so weit eingeholt, daß er ihre
Gesichter sehen konnte. Den Beschreibungen nach, die
Ricardo Prado ihm gegeben hatte, mußte es sich um Pedro
Salvez und um den Mann von der „San Domingo“ handeln –
Lucio. Sie waren die beiden brutalsten, heimtückischsten
Männer der Bande, nachdem Antonio Perez nicht mehr am
Leben war.
Hasard holte noch weiter auf.
„Salvez!“ rief er. „Lucio! Gebt auf, oder ihr seid verloren!“
Beide wirbelten aus dem Lauf herum. Pedro Salvez stieß eine
Verwünschung aus. Lucio sagte gar nichts, er riß nur mit
verzerrter Miene das Entermesser aus dem Gurt. Er stellte sich
dem Seewolf als erster, während Salvez noch unschlüssig
verhielt.
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Hasard zückte seinen Degen. Er wippte in den Knien und
tänzelte über den Strand auf Lucio zu. Sie kreuzten die Klingen.
„Du Bastard“, zischte Lucio. „Du hältst dich wohl für besonders
stark, wie?“
„Ihr habt gespürt, mit wem ihr es zu tun habt“, entgegnete
Hasard in seinem perfekten Spanisch. „Was ihr geplant hattet,
war eine Nummer zu groß für euch. Warum gibst du nicht auf?“
„Niemals!“ schrie Lucio.
„Wer bist du?“ rief Salvez.
„Philip Hasard Killigrew.“
„Den Namen hab ich schon mal gehört“, stieß der Anführer der
Meuterer keuchend hervor. „Sie nennen dich El Lobo del Mar –
den Seewolf.“
„Seewolf?“ Lucio lachte wild. „Mir jagst du keine Angst ein, du
Hurensohn. Streich die Flagge, oder ich schlage dich in
Stücke!“
Hasard antwortete nicht. Er wich ein Stück zurück, fintierte, fing
Lucios derbe Attacke auf und legte nun alles in eine neue,
rasend schnell durchgeführte Parade. Er trieb ihn vor sich her
und hielt ihn in Atem. Dann zerfetzte seine wirbelnde Klinge die
Verteidigung des Gegners.
Lucio zog den Kopf ein, beugte sich vor und stach mit dem
Entermesser nach Hasards Unterleib.
Hasard wich blitzschnell zur Seite. Gleichzeitig stieß auch er mit
dem Degen zu.
Lucio traf sein Ziel nicht, er stach ins Leere. Plötzlich fühlte er
einen glühenden Schmerz in der Brust. Er wollte aufschreien,
reagierte, sich erneut gegen diesen tobenden Seewolf werfen,
aber die Glieder versagten ihm den Dienst.
Als Hasard ihm den Degen aus der Brust riß, kippte Lucio mit
geöffnetem Mund vornüber und blieb reglos liegen.
Hasard wollte sich Pedro Salvez zuwenden. Aber plötzlich war
ein Surren in der Luft. Hasard duckte sich instinktiv, reagierte
jedoch zu spät. Ein Strang wand sich wie eine Schlange um
seinen Waffenarm und riß daran. Er verlor das Gleichgewicht,
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stürzte und geriet dabei beinahe mit seinem eigenen Degen ins Gehege. Salvez lachte auf. „Jetzt zu uns, Lobo del Mar! Ehe deine verfluchten Freunde zur Stelle sind, habe ich dich vernichtet!“ Hasard lag auf dem Bauch, hob den Kopf und konnte Salvez stehen sehen. Er hatte mit einer Peitsche zugeschlagen, die er zusammengerollt in seinem Gurt getragen hatte. Hasards rechter Arm war lahmgelegt, der Degen entglitt seinen Fingern. Triumphierend griff Salvez zu seinem Säbel. Hasard drehte sich halb, packte mit der linken Hand an seinen Gürtel und riß die Radschloßpistole hervor. Sie hatte einem bretonischen Freibeuter gehört und war als sächsische Reiterpistole ein höchst wertvolles Stück, aber der überragende Vorzug an ihr waren die zwei Läufe. Einen hatte Hasard leergeschossen, der andere war noch geladen. Er legte mit links auf Salvez an und drückte ab. Schnurrend lief das Rad ab, der Schwefelkies sprühte Funken – die Pulverladung zündete. Da er mit der Linken angelegt hatte, war es mit seiner Zielfähigkeit nicht weit her. Der Schuß krachte und fegte um eine Handspanne an Salvez' Kopf vorbei. Doch es genügte, um den Kerl abzuschrecken. Er wich zurück, ließ die Peitsche los und geriet ins Stolpern. Die Männer der Crew stürmten über den Strand heran, geführt von Carberry und Ferris Tucker, der mit den Seinen inzwischen gelandet war. Salvez drehte sich fluchend um und gab Fersengeld. Ehe Hasard sich aufgerappelt hatte, war er im Dickicht verschwunden. Hasard richtete sich auf. Er wickelte die Lederpeitsche von seinem Handgelenk und ließ sie auf den Sand sinken. Grinsend sah er zu seinen Männern, die in höchster Besorgnis auf ihn zu liefen. Sir John schwebte in eleganter Kurve durch die Luft heran und landete auf Hasards Schulter.
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„Ihr bleibt hier!“ rief Hasard seinen Männern zu. „Kümmert euch um die Siedler, sie haben Hunger und Durst, außerdem gibt es einen Verwundeten. Der Kutscher soll ihn verarzten. Ich nehme Salvez' Verfolgung auf.“ Er schickte Sir John zu Carberry hinüber, schnappte sich seinen Degen und tauchte im Wald unter. * Mit klopfendem Herzen und heftigen Atemzügen klomm Pedro Salvez die Berge der Insel empor. Er war überzeugt, etwaige Verfolger abgehängt zu haben, aber dennoch war er sich seiner mißlichen Lage völlig bewußt. Sie würden ihn suchen. Wenn der Seewolf und seine Männer vielleicht auch kein großes Interesse daran hatten, ihn zu stellen – die Portugiesen, die sich mit den Seewölfen verbündet hatten, würden darauf dringen. Salvez wußte nur eine Lösung. Er wollte seinen geheimen Schlupfwinkel aufsuchen. Warum hatte er Augusto dort zurückgelassen? Ganz einfach: damit kein anderer das Plateau vereinnahmen konnte. Wie Salvez Augusto Navidad einschätzte, würde der Mann das Feuer unterhalten haben, auf kleiner Flamme, damit kein verräterischer Rauch aufstieg. Auf keinen Fall würde Navidad seinen Posten verlassen haben, denn er hatte Angst vor seinem Anführer. Das allein zählte. Salvez malte sich einige Chancen aus, dort oben den Fahndungen der Feinde zu entgehen. Er brauchte sich nur lange genug versteckt zu halten, dann würden sie's aufgeben. Wahrscheinlich würden sie annehmen, er habe sich ganz von der Insel abgesetzt und versuche, nach Bahia hinüberzuschwimmen – oder zu einem anderen Punkt des Festlandes.
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Salvez befand sich fünf, sechs Yards unterhalb des
Plateausaumes, als er plötzlich gedämpfte Stimmen vernahm.
Zuerst glaubte er, seinen Ohren nicht zu trauen, aber dann
identifizierte er klar Navidads Stimme.
Aber mit wem unterhielt sich der Mann?
Pedro Salvez war gewarnt. Seine Augen verengten sich, sein
Gesicht wurde zu einer Grimasse. Navidad war nie ein
überzeugter Meuterer gewesen, darum hatte er ihn auch auf
das Plateau abgeschoben. Er konnte dort oben keinen
Schaden anrichten und nicht gegen ihn, Salvez, vorgehen.
Oder? Die düstersten Zweifel keimten in Salvez auf. Was war,
wenn dieser Hund ihn hereingelegt und längst mit den
Seewölfen paktiert hatte? Jetzt warteten sie oben auf ihn.
Nein, das kann nicht sein, sagte er sich. Unmöglich konnte
Augusto Navidad abgestiegen sein – die Meuterer hätten es
bemerken müssen. Nein, etwas anderes war eingetreten,
etwas, das Salvez sich noch nicht erklären konnte.
Etwas später begriff er, denn er vernahm deutlich die Stimme
des Mädchens. Magdalena Prado! Er grinste. Hierher also hatte
sie sich zurückgezogen! Kein Wunder, daß er sie im Wald nicht
mehr gefunden hatte.
Aber da war noch eine dritte Stimme. Salvez hörte sie hell und
in einem leicht fehlerhaften, akzenthaltigen Spanisch sprechen.
Wer war das? Noch ein Portugiese?
Dem Klang nach – eine Frau vielleicht? Dona Teresa? Salvez
zerdrückte einen Fluch auf den Lippen. Er geriet in Raserei,
wenn er nur an die Frau dachte, aber unmöglich konnte die
Stimme ihr gehören. Dona Teresa verfügte über ein Organ, das
manchem Mann zur Ehre gereicht hätte.
Salvez begriff, daß es sich bei dem dritten dort oben um einen
Jungen handeln mußte. Er grübelte darüber nach, wer dieser
Bursche sein mochte. Die Portugiesen hatten keinen Jungen
bei sich, soweit er sich entsann.
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Pedro Salvez dachte darüber nicht weiter nach. Wer auch immer, er würde ihn schon erledigen. Er hatte als Waffen noch den Säbel und das Messer. Er schlich sich an, langsam, sehr behutsam, peinlich darauf bedacht, keinen Laut zu verursachen. Vor allem achtete er darauf, daß er mit den Händen und Füßen keine kleinen Steine löste, die am Hang hinabkollern und ihn verraten konnten. Schließlich gelang es ihm, zwischen zwei Felsenzacken am Südrand des Plateaus hindurchzuspähen. Seine Hand senkte sich auf den Säbelgriff, er war auf alles gefaßt. Er gewahrte Augusto, Magdalena und einen Jungen, den er noch nie in seinem Leben gesehen hatte. Wer war das? Sein Alter schätzte der Anführer der Meutererbande auf etwa fünfzehn Jahre. Sie sprachen leise, aber ziemlich aufgeregt miteinander. Salvez ging schließlich auf, daß der Junge nur einer von dem Schiff sein konnte – von den Seewölfen, die dort unten an der Bucht einen so glänzenden Sieg errungen hatten. Glühender Haß bemächtigte sich seiner, er wartete nur auf eine Gelegenheit, sich auf diesen Jungen zu stürzen. Sein Tod würde die Männer vom Schiff sicherlich schmerzen, und so konnte Salvez Rache üben, bittere Rache! Er schickte prüfende Blicke auf das Trio und stellte fest, daß keiner im Besitz einer Schußwaffe war. Augusto sowieso nicht, der hatte nur seinen Säbel. Das Mädchen hatte inzwischen auch keine Pistole oder eine Flinte ergattern können – wo denn auch? Und der Junge? Der hatte nur ein Messer im Gürtel stecken. Salvez empfand grimmige Genugtuung. Er würde leichtes Spiel haben, obwohl es sich um drei Gegner handelte. Er war ein ausgezeichneter Säbelkämpfer. Auch mit dem Seewolf hätte er sich geschlagen, wenn nicht dessen Mannschaft zur Verstärkung angerückt wäre. Salvez dachte nicht mehr an die Schmach. Er verdrängte die Erinnerung an das soeben Geschehene und dachte nur noch an das, was vor ihm lag.
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Er lauschte angestrengt und verstand, was das Mädchen, der
Junge und sein Kumpan Augusto sprachen.
„Du hast es ja eben gesehen“, sagte der Junge. „Deine
Mitstreiter wollten mein Schiff überfallen, aber sie sind
gescheitert.“
„Bist du ganz sicher?“ fragte Augusto zweifelnd.
„Na klar“, prahlte Bill, der Schiffsjunge. „Sogar mit der
Drehbasse haben meine Freunde auf der 'Isabella' geschossen,
und ich hab den Kampfruf 'Arwenack' bis hier herauf gehört.“
„Und wenn es umgekehrt ist?“ wandte Magdalena ein. „Wenn
die Meuterer das Schiff bereits in der Hand haben und einen
nach dem anderen niedermetzeln? Mein Gott…“
„Ich habe dir doch gesagt, du siehst die Dinge zu schwarz“,
erwiderte Bill. „Ein Kapitän wie der Seewolf läßt sich von so
einer Bande dahergelaufener Strolche nicht fertigmachen. Ganz
bestimmt nicht. Sonst wäre er nicht der Seewolf.“
„Egal, wie die Dinge gelaufen sind“, erklärte Augusto Navidad.
„An meiner Entscheidung ändert sich nichts. Ich komme mit
euch, falls eure Leute mich haben wollen. Sicher, ich habe
stillschweigend geduldet, was passiert ist, aber ich persönlich
habe keinem was zuleide getan. Und hier oben hatte ich
genügend Zeit, über alles noch einmal nachzudenken.“
„Der Seewolf wird dich nicht an Bord aufnehmen können“,
sagte Bill. „Die Crew ist schon komplett. Aber wenn Magdalena
mit ihrem Vater spricht und ihm sagt, daß du uns hier oben
verschont hast, statt uns niederzustechen, dann bist du
bestimmt herzlich willkommen.“
„Tja“, erwiderte Augusto. „Aber wenn der Kampf anders
verlaufen ist, als wir denken, blüht mir das gleiche wie Antonio
Perez.“
„Nein. Wir werden jederzeit bestätigen, daß du uns
gefangengenommen hast“, sagte Magdalena.
„Und ich steige jetzt nach unten, um nach dem Rechten zu
sehen“, sagte Bill. „Das wollte ich schon eher tun.“
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Augusto lachte freudlos auf. „Um dich töten zu lassen? Nein,
Junge, kommt gar nicht in Frage. Und auch jetzt gehen wir alle
drei – oder keiner von uns.“
„Keiner von euch!“ rief Pedro Salvez. Er war plötzlich da, hatte
sich hinter sie geschlichen und richtete sich mit gezücktem
Säbel am Saum des Plateaus auf.
Sie fuhren herum. Navidad zog sofort auch den Säbel aus der
Scheide.
„Also doch“, sagte er. „Ich habe es geahnt. Wo sind die
anderen, Pedro?“
„Du Heuchler“, stieß Salvez verächtlich aus. „Überläufer. Ich
hab's gewußt, daß man dir nicht trauen kann.“ Er sprang von
den Felsenbacken und trat näher. Magdalena wich zurück.
„Täubchen“, höhnte Salvez. „Jetzt wirst du doch mein. Oh, wie
ich auf diese Stunde gewartet habe. Aber noch sind wir nicht
ganz soweit, warte noch.“ Seine Miene verfinsterte sich wieder.
„Erst muß ich mit diesem Hurensohn Augusto abrechnen. Ihr
braucht euch keine Mühe zu geben, ihn zu verteidigen, ich
habe alles gehört.“ Langsam hob er die Klinge und ging auf
Navidad zu. „Aber ich will euch was anvertrauen. Wir haben
verloren. Ja, ich bin der einzige Überlebende unter den
Meuterern. Du grinst, Bürschchen?“ Er blickte zu Bill. „Dir wird
das Grinsen noch vergehen. Mit euch als Geiseln wird keiner es
wagen, mich anzurühren. Wir werden ein Boot nehmen,
vielleicht sogar das Schiff, und uns zum Festland absetzen. Wie
findet ihr das?“
Augusto versperrte ihm den Weg. „Hundsgemein und
miserabel. Magdalena, Bill – haut ab! Na los, lauft schon nach
unten, bringt euch in Sicherheit, ich komme nach, wenn ich mit
dem Kerl hier fertig bin.“
Damit drang er auf Pedro Salvez ein.
Salvez lachte und parierte mit seinem Säbel. Klirrend kreuzten
sich die Klingen. Keuchend kamen die Atemstöße beider
Männer, als sie quer über das Plateau kämpften.
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„Lauf du“, sagte Bill zu Magdalena. „Keine Widerrede, sonst hau ich dir eine 'runter.“ Er schob sie zum Rand des Plateaus, und sie hastete tatsächlich nach unten. Bill zückte sein Messer. Er hatte noch nicht viel Erfahrung, schon gar nicht im Zweikampf. Aber er spürte, daß Augusto es nicht schaffen würde, gegen den Teufel Salvez zu bestehen. Er hatte sie fortgeschickt, um sie zu retten. Das war heldenmütig, mehr als das! Augusto, der in seinem Leben nie etwas Sinnvolles zustande gebracht hatte, wie er ihnen gesagt hatte – Augusto opferte sich jetzt für sie beide. Augusto geriet in die Bredouille. Er stand hart am Abgrund und hielt sich nur noch schwankend. Salvez lachte wieder. Er ließ ihm keine Chance. „Nieder!“ sagte er nur. Dann stieß er zu. Augusto Navidad stürzte gurgelnd hintenüber, bevor Bill ihn erreichen konnte. Außer sich vor Wut stürzte Bill auf den Anführer der Meuterer zu. „Salvez! Jetzt unterhalten wir uns, du elender Bastard!“ Fast überrascht drehte sich der Spanier zu ihm um. „Du? Du willst dich mit mir messen? Daß ich nicht lache!“ Er stieß ein Glucksen aus und hieb sich dabei auf den Oberschenkel. Bill rückte mit erhobenem Messer auf ihn zu. „Steck den Säbel weg und nimm das Messer, wenn du ein Mann bist.“ Salvez' Gesicht verzog sich zu einer gnädigen Grimasse. „Wirklich? Also gut, ich will dir beweisen, daß ich auch fair sein kann.“ Er schob den Säbel in die Scheide und zückte das Messer. Bill raffte all seinen Mut zusammen, ging einen Schritt weiter und holte aus, daß die Messerklinge durch die Luft zischte. Pedro Salvez lachte wieder, und das machte Bill fast verrückt vor Wut. Er verlor die Kontrolle über sich und ließ sich von seinen aufwallenden Gefühlen hinreißen. Wieder senste sein Messer durch die Luft. Salvez traf keine Anstalten, ihn anzugreifen. Er ließ Bill heran und wollte ihn in die tödliche Falle tappen lassen.
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Aber in diesem Moment glitt eine Gestalt hinter den Felsen
hervor.
„Salvez!“ rief eine sonore Männerstimme. „Laß den Jungen und
nimm es mit einem auf, der wirklich ein Gegner für dich ist!“
„Hasard!“ rief Bill.
Der Seewolf sprang heran – gerade noch rechtzeitig, um Bill
vor einer tödlichen Attacke des Meuterers zu bewahren. Salvez
nutzte Bills Unaufmerksamkeit aus, duckte sich und zuckte auf
ihn zu.
Hasard stieß Bill, daß er zu Boden stürzte, dann parierte er
Salvez' Messerstoß. Verwirrt rappelte sich der Junge wieder
vom Boden auf. Salvez wich vor dem Seewolf zurück.
„Ich gebe dir Zeit, das Messer mit dem Säbel zu vertauschen“,
sagte Hasard. „Schließlich habe ich einen Degen.“
Salvez folgte der Aufforderung. „Wer hat dich hier
heraufgeschickt?“ stieß er haßerfüllt hervor.
„Ich bin dir gefolgt, du hast mich nicht bemerkt. Aber dann
verlor ich deine Spur“, sagte Hasard. „Zum Glück stieß ich auf
Magdalena, die mir alles berichtete.“
„Verrecke!“ brüllte Salvez. Er stürmte auf Hasard zu. Er wußte
ganz genau, daß er einen gleichwertigen Gegner vor sich hatte
und trachtete, die Situation durch einen Blitzeffekt für sich zu
entscheiden.
Aber Hasard riß den Degen hoch und knallte ihn gegen die
Unterseite der Säbelklinge. Der Säbel ruckte hoch. Hasard
drückte nach und wehrte Salvez' Angriff meisterhaft ab. Dann
standen sie sich dicht gegenüber und preßten mit den Waffen
gegeneinander.
„Mit dem Säbel zerschlage ich deinen Zierdegen“, stieß der
Spanier hervor. „Überlege es dir. Gib auf, ehe es zu spät ist.“
Hasard lachte nur, drückte ihn von sich weg und ließ die Klinge
in einer neuen, glänzenden Attacke surren. Salvez versuchte
ihn mit einer Finte zu täuschen, aber Hasard fiel nicht darauf
herein.
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In den nächsten Hieb jedoch legte Pedro Salvez alle Kraft. Sein
Säbel schepperte gegen Hasards Degen, die Klinge brach
tatsächlich, ein Stück wirbelte den Hang hinunter – Hasard
stand mit zerbrochenem Degen da.
„Ich hatte dich gewarnt“, sagte Salvez. „Jetzt ist es aus.“
„Kämpfen wir mit den Messern.“
„Das könnte dir so passen. Nein.“
Salvez holte zum mörderischen Streich aus.
„Hasard!“ schrie Bill.
Hasard ließ sich fallen, rollte sich dabei um die
Körperlängsachse ab. und sprang katzengewandt wieder auf.
Der Säbel senste ins Leere. Hasard streckte den rechten Arm
vor. Sein Degen mit dem Klingenstumpf zuckte vor. Hinter der
Bewegung steckte so viel Wucht, daß die Klinge sich trotz
fehlender Spitze in Salvez' Brust bohrte.
Salvez taumelte. Er stellte einen grotesken Versuch an, den
Säbel doch noch in Hasards Hals zu hauen, aber es wurde nur
eine absurde, schwächliche Geste daraus, in der er die Waffe
halb hob und sie dann, ein Stück voranwankend, wieder sinken
ließ.
Sie entglitt seinen Fingern. Salvez knickte in den Knien ein,
sank langsam zu Boden und blieb auf der Seite liegen. Hasard
näherte sich ihm vorsichtig. Es war nicht ausgeschlossen, daß
der Spanier es mit einem niederträchtigen Trick versuchte und
doch noch sein Messer zückte.
Aber mit jedem Schub Blut, der aus Salvez' Wunde trat, näherte
er sich der düsteren Schwelle, die das Diesseits vom Jenseits
trennt. Als Hasard sich schließlich über ihn beugte, hatte er die
Schwelle bereits passiert.
„Tot“, sagte der Seewolf. „Bill, wo steckt dieser Augusto?“
Bill wies stumm den Hang hinunter. Hasard kletterte nach
unten, fand einige Minuten später Augusto Navidad und trug ihn
bis nach unten zur Bucht des Nordufers.
„Er wird leben“, sagte der Kutscher nach einer kurzen
Untersuchung. „Salvez hat ihm in die Brust gestochen, aber die
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Lunge scheint nicht verletzt zu sein. Das Herz auch nicht. Ich
meine, dieser Mann hat ein geradezu unerhörtes Glück gehabt.
Er wird leben.“
„Und der Vater der kleinen Ilaria?“
„Der ist schon fast wieder genesen“, antwortete Ricardo Prado,
der seine Tochter überglücklich in die Arme geschlossen hatte.
„Verluste im Kampf?“ fragte Hasard.
„Keine“, erwiderte Ed Carberry – und schielte grimmig zu Bill
hinüber.
Hasard atmete auf. „Na, dann haben wir ja wirklich gewaltiges
Glück gehabt.“
* Am Morgen war die „Isabella VIII“ zum Auslaufen bereit. Es gab
einen kurzen, herzlichen Abschied, und Magdalena kullerten
die Tränen über die Wangen, als sie das große Schiff ankerauf
gehen und aus der Bucht laufen sah.
Bill stand am Schanzkleid der Kuhl und winkte. Er kämpfte mit
so einem verdammten Brennen in den Augen. Seewölfe heulen
nicht, sagte er sich im stillen immer wieder.
Carberry trat neben ihn und legte ihm väterlich die Hand auf die
Schulter. „Was gewesen ist, ist gewesen, der Seewolf hat
gesagt, ich soll nicht sauer sein, weil du einfach hinter dem
Tapir hergelaufen und abgehauen bist.“
„Danke, Sir.“
„Und was das Mädchen betrifft - du bist zu jung für sie. Warte
noch ein bißchen, noch ein paar Jahre, und du erfährst, wie
Liebe wirklich ist.“
„Ja“, erwiderte Bill leise, dann - zum Profos gewandt – mit fester
Stimme: „Ein Seewolf sollte sich nie richtig verlieben, jedenfalls
nicht so weit, daß er heiratet und der Seefahrt ade sagt.
Stimmt's?“
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„Manchmal bist du doch nicht so grün hinter den Ohren, wie ich
es mir einbilde“, sagte Carberry grinsend.
Die Siedler blieben auf der Insel, um dort eine dauerhafte
Existenz zu gründen. Es gab Süßwasser, Tiere, Früchte – und
Hasard hatte ihnen einen Teil seines Proviants dagelassen.
Augusto Navidad wurde von den Portugiesen gepflegt, er
würde mit ihnen leben können.
Der Wind blies nach wie vor vom Festland, aber es bestand
keine Gefahr, daß der Pampero wieder zu neuem,
fürchterlichen Wüten erwachte.
„Mein Beinstummel zwickt nicht“, sagte Old O'Flynn grinsend.
„Wir können also beruhigt segeln.“
Hasard rundete die Insel an ihrem Ostufer, dann ging er auf
südlichen Kurs.
„Ich setze alle Hoffnung darauf, daß Siri-Tong an der Insel
vorbeigesegelt ist“, sagte er zu Ben Brighton. „Was ich tun soll,
wenn ich sie weiter südlich nicht finde, weiß ich aber noch
nicht.“
„Schiff Backbord achteraus!“ meldete Dan O'Flynn plötzlich aus
dem Großmars.
„Der schwarze Segler?“ rief Hasard.
„Weiß nicht…“
„Lassen wir ihn heran“, sagte Hasard.
Wenig später gab es eine herbe Enttäuschung. Der Segler
entpuppte sich als robuster Dreimaster spanischer Bauart, und
Dan sichtete auch das unvermeidliche Holzkreuz, das bei dem
Don unter der Galion baumelte.
„Verdammt“, sagte der Seewolf, als er das Spektiv sinken ließ.
„Das kann nur eins der Kriegsschiffe sein, das die ,Santa
Barbara' und die ,San Domingo' zusammen mit den drei
anderen Kähnen des Geleitzuges begleitet hat. Wahrscheinlich
liegen die Schiffe jetzt in Bahia.“
„Aber einer läuft von Zeit zu Zeit aus, um nach den Siedlern zu
forschen“, sagte Big Old Sahne grimmig. „Jetzt, bei Tageslicht,
könnte der Hund die Wrackteile auf dem Riff vor der Insel
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entdecken. Bevor unsere Freunde die Trümmer nicht entfernt haben, besteht die Gefahr, daß die Dons sie doch noch entdecken und nach Bahia verschleppen.“ „Drehbasse!“ rief Hasard Ferris Tucker zu. „Ferris, pflanz diesem eingebildeten Philipp mal ein Ding vor den Bug.“ Kurze Zeit später stieg eine Fontäne vor dem Vorsteven des Kriegsschiffes hoch. Sofort reagierten die Spanier auf den Schuß. Sie nahmen Kurs auf die „Isabella“. Die Verfolgung begann. „Vollzeug setzen, wir segeln hart am Wind mit unverändertem Kurs!“ befahl Hasard. „Ed, wir hissen unsere Flagge!“ Die weiße Flagge mit dem Georgskreuz stieg im Großtopp der „Isabella“ auf, noch ein Grund mehr für den Spanier, hartnäckig an der englischen Galeone dranzubleiben. An die Insel dachte sein Kapitän nicht mehr – und das war es, was der Seewolf vorgehabt hatte. Er lockte den Spanier auf gut zehn Meilen von der Insel fort, dann, im gleißenden Licht der höhersteigenden Sonne, erspähte Dan plötzlich wieder ein Schiff. „Deck!“ brüllte er. „Das ist der schwarze Segler!“ Jubelgeschrei brach an Bord der „Isabella“ aus. Wenig später hatte auch die Rote Korsarin den Verbündeten einwandfrei identifiziert. Sie drehte mit aufgegeiten Segeln bei und wartete. Etwa eine halbe Stunde verging, dann hatten sich die beiden außergewöhnlichen Schiffe zu einer furchteinflößenden Einheit zusammengefunden. Sie wandten ihre Backbordbreitseiten dem Spanier zu. SiriTong hatte die Situation erfaßt, sie signalisierte, daß sie gefechtsbereit sei. Plötzlich brach der Seewolf in Gelächter aus. „Unser Freund kriegt es mit der Angst zu tun!“ rief er. „He, ho, Siri-Tong, er hat es sich anders überlegt.“ Während er zum schwarzen Schiff hinüberwinkte, fuhr das spanische Kriegsschiff eine Halse und ging auf Nordostkurs. Es entzog sich dem bevorstehenden Gefecht, weil der Kapitän rechtzeitig
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erkannt hatte, daß er gegen eine derartige Übermacht nicht bestehen konnte. ENDE
Nächste Woche erscheint SEEWÖLFE Band 103
Im Treibsand gefangen von AI Frederic In Höhe des 22. südlichen Breitengrades packte sie der Orkan, aber mit knapper Not schafften sie es, die Küste anzulaufen und in einer Lagune Schutz zu finden. Doch sie waren vom Regen in die Traufe geraten, denn als der Orkan über sie weggeorgelt war, griff ein neuer furchtbarer Feind an – Treibsand. Einer der Seewölfe, Luke Morgan, wurde fast sein erstes Opfer. Mit knapper Not zogen sie ihn aus dem tückischen Lagunensand. Dann setzte die Ebbe ein – und die Männer der „Isabella“ packte das nackte Grauen. Unter ihrem eigenen Schiff begann der Lagunenboden zu schmatzen und zu saugen… Diesen Roman mit einem neuen spannenden Abenteuer des Seewolfs und seiner Crew erhalten Sie bereits in der nächsten Woche bei Ihrem Zeitschriftenhändler und in allen Bahnhofsbuchhandlungen.
Die seemännische Sprache von A-Z Korvette
im 18. Jahrhundert Kriegsschiffe, die als Vollschiffe (drei Masten mit Rahsegeln) getakelt waren und eine Lage Geschütze – höchstens 20 – auf dem Oberdeck führten. Sie wurden im Vorpostendienst und zur Aufklärung eingesetzt, dienten aber auch als Kaper und zum Begleitschutz. Bis in die achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts baute man dann auch sogenannte gedeckte Korvetten, die wie die Fregatten (siehe dem) eine Lage Geschütze unter Deck und mehrere Geschütze auf dem Oberdeck führten. Die Bezeichnung Korvette entstand in der französischen Marine. In der englischen Marine nannte man diesen Typ „Sloop“. In den modernen Marinen wird die Korvette zur U-BootBekämpfung eingesetzt.
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Krähennest
Kranbalken
ein kaum noch üblicher Ausdruck für einen Ausguckstand auf halber Höhe des Fockmastes, speziell auf den früheren Walfangschiffen. auch Krahnbalken, auf den alten Segelschiffen ein am Bug außenbords befindlicher sehr starker Balken, von dem aus der Anker fiel oder aufgeholt wurde.
Krängen
das Neigen eines Schiffes nach Backbord oder Steuerbord infolge des Winddrucks, des Seegangs oder anderer Einflüsse. Bei einem längeren Krängen des Schiffes spricht man von einer Schlagseite. Um kleinere Reparaturen oder Arbeiten am Schiffsrumpf vornehmen zu können, kann man z. B. ein Segelschiff krängen, indem man mittels des Großfalls, das im Masttopp angreift, das Schiff so weit neigt, daß die eine Rumpfseite aus dem Wasser kommt. Krängungsfehler Änderung in der Deviation (siehe dem) eines Kompasses infolge Krängen eines Schiffes. Krängungsmagnet Kompensationshilfe bei einem Kompaß in Form eines Dauermagneten, der senkrecht im Kompaßhaus unter der Mitte der Kompaßrose angebracht ist. Damit sollen die bei Schräglage auftretenden Krängungsfehler aufgehoben oder verkleinert werden. Krängungsmesser siehe Klinometer. Krappe See kurze, hohe See. Kreiselkompaß siehe Kompaß. Kreisfunkfeuer Sender auf Feuerschiffen oder markanten Punkten an Land, der ständig auf der Frequenz von 285 bis 325 Kilohertz bzw. auf 1050 bis 920 in Wellenlänge sendet. Da die Position der Sender auf Karten und in Leuchtfeuerverzeichnissen eingetragen ist, kann mit Funkpeilungen (siehe dem) der jeweilige Standort bestimmt werden. Der Sender strahlt rundum mit derselben Feldstärke. Kreuzballon siehe Genua. Kreuzen das Zickzack-Segeln auf Backbord- bzw. Steuerbordbug am Wind (siehe dem), um ein in Richtung des Windes liegendes Ziel zu erreichen oder gegen die Windrichtung voranzukommen. Die Strecke von der einen Wende zur anderen, bei der durch den Wind auf den anderen Bug gegangen wird, nennt man Schlag. Mehrere Schläge ergeben den Kreuzkurs zum angestrebten Ziel. Die Kunst des Kreuzens (vor allem bei Regatten) besteht darin, bei guter Geschwindigkeit soviel Höhe wie
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möglich zu laufen, aber dabei nicht zu „kneifen“ (siehe dem). Die Faustregel beim Kreuzen besagt, bei räumendem Wind (er fällt etwas achterlicher ein) den Kurs beizubehalten und mehr Höhe herauszusegeln, dagegen aber bei schralendem Wind (er fällt spitzer ein) zu wenden und auf den anderen Bug zu gehen. Diese Faustregel trifft natürlich nur für länger andauernde „Raumer“ oder „Schraler“ zu. Kreuzen vor dem Wind bei achterlichem Wind abwechselnd auf Backbordbug und Steuerbordbug segeln, um nicht platt vor dem Wind laufen zu müssen. Vorteile: 1. keine Gefahr einer Patenthalse (siehe Halse), 2. höhere Geschwindigkeit, 3. bei Regatten taktische Vorteile. Vor allem bei den modernen Gleitjollen, die ihre höchsten Geschwindigkeiten auf Raumschotskursen entwickeln, ist das Kreuzen vor dem Wind üblich. Zwar wird bei dieser Methode eine längere Strecke zurückgelegt, was aber durch die höhere Geschwindigkeit ausgeglichen wird. Kreuzende Kurse von solchen Kursen spricht man, wenn sich die eigene Kurslinie mit der eines anderen Schiffes schneidet. Unter Umständen führen sich kreuzende Kurse zum Kollisionskurs (siehe dem). Kreuzen der Rahen die aufgeheißten Rahen mittels der Toppnanten (siehe dem) in eine horizontale Lage bringen.
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