Roy Palmer
Tod um Mitternacht
Aquino und Bernardo, zwei Soldaten des spanischen Stützpunktes Nueva
Gerona, gerieten...
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Roy Palmer
Tod um Mitternacht
Aquino und Bernardo, zwei Soldaten des spanischen Stützpunktes Nueva
Gerona, gerieten sich beim Würfelspiel in die Haare. Bernardo sprang
plötzlich auf und beschimpfte seinen Landsmann.
„Du hast den Würfel in der Hand umgedreht!" stieß er zornig hervor. „Ich
bab's genau gesehen!"
„Ich habe ihn nicht angerührt", beteuerte Aquino.
„Du bist ein Betrüger!"
„Du bist ja betrunken!"
Bernardo schlug über den Tisch hinweg mit der Faust nach seinem Gegenüber.
Aquino wich aus. Bernardo hieb ins Leere, verlor das Gleichgewicht und
knallte mit seinem Panzer auf den Tisch. Der Tisch kippte um. Würfel, Geld,
Becher und ein Krug Wein landeten auf den Bohlen. Bernardo packte Aquino
am Bein und riß ihn zu Boden.
Die beiden droschen mit den Fäusten aufeinander ein.
Plötzlich zückte Bernardo sein Messer.
„Dich bring' ich um!" brüllte er. Er war jetzt wie von Sinnen und raste vor Wut.
Die Hauptpersonen des Romans: Della Rocca - Der Korse glaubt, einem Phantom nachzujagen, was ihn wiederum daran hindert, noch klar zu denken. Moleta - Als neuer Kapitän der „Bonifacio" kennt er nur ein Ziel: den ehemaligen Kapitän zur Strecke zu bringen. Maradona - Ein kleiner Falschspieler, der sich auf eine Sache einläßt, die einen tödlichen Ausgang nimmt. Bernardo - Ein spanischer Soldat, der seine letzte Wache geht, die von einem Messer beendet wird. Philip Hasard Killigrew - Der Seewolf weiß, daß Vorsicht immer der bessere Teil der Tapferkeit ist.
1. Caravajo - so hieß der Wirt der einzigen Kneipe im Hafen von Nueva Gerona. Ein Schrank von Kerl, der sein Geschäft glänzend verstand. Natürlich hatte Caravajo den Streit zwischen Aquino und Bernardo entstehen sehen. Er hatte sofort geahnt, daß es Ärger geben würde. Aber er hatte keine Zeit, sich um die beiden Soldaten zu kümmern. Caravajo hatte genug mit den anderen Gästen zu tun. Jetzt war es soweit. Die beiden Streithähne wälzten sich am Boden. Ihre Brustpanzer gaben dumpfe, harte Laute von sich. Die Helme hatten sie verloren. Bernardo hatte an diesem Abend zuviel getrunken. Das wirkte sich bei ihm schlimm aus. Er wurde dann sehr leicht handgreiflich. „Moment mal", sagte Caravajo zu einer Gruppe von Männern, die sich bei ihm an der Theke versammelt hatten. Die Männer - zum größten Teil Soldaten - gehörten zu seinen Stammgästen und Freunden. Auch Aquino und Bernardo waren Stammgäste. Aber hin und wieder
mußte man ihnen auf die Finger klopfen. Besonders diesem streitsüchtigen Bernardo. „Ich bin gleich wieder da", sagte Caravajo. Hölle, jetzt hatte Bernardo auch noch sein Messer gezückt! Caravajo bewaffnete sich mit einem Kübel. Er trat hinter dem Tresen hervor und eilte quer durch seine Schenke. Unterwegs schöpfte er aus einem Faß Wasser. Das klatschte er Bernardo mit voller Wucht in den Nacken. Bernardo, der eben mit dem Messer auf Aquino hatte einstechen wollen, zuckte zusammen, als habe ihn ein Peitschenhieb getroffen. Er hielt in der Bewegung inne und japste. Caravajo schleuderte den Kübel von sich. Ein kleines Kerlchen, das Maradona genannt wurde, fing ihn geschickt auf. Maradona grinste und sagte: „Wenn Wein oder Bier drin gewesen wäre, wär's schade gewesen. Wasser, das kann man gerade noch verkraften." Mit einer Gewandtheit, die ein Fremder Caravajo nicht zugetraut hätte, bückte sich der Wirt nach den Streitenden. Er riß Bernardo das Messer aus der Hand, drehte sich um
und gab es Maradona, der nun grinsend hinter ihm stand. Dann zerrte Caravajo Bernardo von Aquino weg und zog ihn zu sich hoch. „Willst du wohl damit aufhören?" fuhr der Wirt den Soldaten an. „Nein! Ich bring' ihn um!" Zwei gewaltige Ohrfeigen warfen Bernardos Kopf hin und her. Caravajo stieß den Mann auf einen Stuhl. „Bist du jetzt nüchtern?" fragte er ihn drohend. Bernardo hatte das Gefühl, es habe ihm den Kopf von den Schultern gerissen. Aber der Kopf saß noch fest auf dem Hals. Nur dröhnte es in seinem Schädel, als schlage eine bronzene Glocke darin hin und her. „Bitte nicht mehr hauen", murmelte Bernardo. „Aha, er wird vernünftig", sagte Caravajo. Er stemmte die Fäuste in die Seiten und sah den Soldaten aufgebracht an. „Aber du mußtest mit dem Messer auf deinen Freund losgehen, was? Schämst du dich nicht?" „Er ist nicht mehr mein Freund", erklärte Bernardo dumpf. Aquino hatte sich aufgerappelt. „Hört nicht auf ihn", sagte er. „Er weiß nicht, was er redet." „Betrogen hat er mich", brummte Bernardo. „Kannst du das beweisen?" fragte Caravajo. „Nein." „Aquino hat ordentlich gespielt", sagte Maradona. „Ich habe es gesehen." Stimmen wurden laut. Einige andere Zecher wollten ebenfalls beobachtet haben, daß Aquino beim Würfeln ehrlich geblieben war. Es herrschte wieder Stimmung. Caravajo sorgte für Ordnung. Der
ließ nicht zu, daß sich in seiner Kneipe die Männer prügelten oder gar mit Messern aufeinander losgingen. Caravajo packte Bernardo wieder und zog ihn zu sich hoch. Ihre Gesichter waren nur wenige Zoll voneinander entfernt. „Du hast dich getäuscht", sagte der Wirt. „Und du wirst dich jetzt bei deinem Freund entschuldigen, sonst lernst du mich richtig kennen." „Niemals!" Caravajo holte mit der Hand aus. Bernardo duckte sich und hob abwehrend die Hände. „Willst du wohl vernünftig sein?" fuhr der Wirt ihn an. „Ja!" rief Bernardo. „Ja!" Caravajo schleifte ihn zu Aquino. Maradona und einige andere Zecher gingen mit. Sie konnten sich ihr Lachen kaum verkneifen. Der Wirt stellte Bernardo vor Aquino hin. „So", sagte er. „Und nun sag deinen Spruch auf." Bernardo wirkte verlegen. „Bitte - um Entschuldigung", brummelte er. Aquino wollte etwas erwidern, aber der Wirt winkte ab. „Lauter!" rief er. „Keiner hat was verstanden! Wird's bald?" „Aquino", sagte der Soldat Bernardo. „Es tut mir leid. Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist. Hab' mich vergessen. Bitte, entschuldige." „Das klingt schon besser", sagte Caravajo. „So, und jetzt gebt euch die Hände, ihr beiden." Aquino streckte seine Hand vor. Bernardo gab einen dumpfen Laut von sich, einem Grunzen nicht unähnlich. Er ergriff die Hand und drückte sie fest.
„Schon recht", sagte Aquino. „Ich nehm's dir ja nicht übel. Aber ich habe dich wirklich nicht reingelegt, glaube es mir." „Ich glaube es." „In Ordnung", sagte Caravajo, „und nachdem das geregelt ist, gebe ich für alle einen aus." Johlen und Beifallsgeschrei ertönten. Caravajo ging grinsend zur Theke zurück und nahm seinen gewohnten Platz ein. Die Männer drängten sich und hielten ihm ihre Becher hin. Caravajo füllte sie mit Wein. Er ließ sich nicht lumpen. Hin und wieder spendierte er eine Lokalrunde. Das kurbelte das Geschäft an. Die Welt war wieder in Ordnung. Die Soldaten setzten ihre Gespräche fort. An drei, vier Tischen wurde mit Würfeln gespielt. Aquino und Bernardo waren wieder die besten Freunde. Bernardo versuchte, es wieder auszugleichen, was er angerichtet hatte. Er holte zwei Humpen Bier und bot einen davon seinem Freund an. „Da, trink. Es ist ganz schön heiß heute nacht, was?“ „Kann man wohl sagen." Maradona gesellte sich zu ihnen und gab Bernardo das Messer zurück. „Von dieser Luft wird man durstig, wie?" „Ich habe schon viel zuviel gesoffen", erwiderte Bernardo. „Ach, ein bißchen Bier kann nicht schaden", meinte Aquino augenzwinkernd. „Es ist ja nicht so stark wie Wein." „Vom Schnaps ganz zu schweigen", fügte Maradona hinzu. Bernardo sah zunächst Aquino, dann das Kerlchen an. „Da habt ihr wohl recht." Er griff nach dem Humpen, hob ihn an die Lippen und
leerte ihn in einem Zug um mehr als die Hälfte seines Inhalts. Der Lärm in der Kneipe schwoll an. Neue Gäste waren erschienen, Soldaten, die seit zehn Uhr abends dienstfrei hatten. Caravajos Kaschemme füllte sich immer mehr. Bald war kein Platz mehr frei. Aquino, Bernardo und Maradona richteten den Tisch wieder auf, der bei dem Kampf umgekippt war. Sie hockten sich hin und würfelten ein paar Runden. Maradona verhielt sich sehr klug. Er war einer der besten Spieler auf der Insel und kannte auch eine Menge Tricks. Doch zunächst ließ er Bernardo gewinnen. Das stimmte den Soldaten friedlich. Nun war Aquino an der Reihe. Maradona richtete es so ein, daß auch er einige Silberlinge gewann. Zu vorgerückter Stunde aber, als die beiden Soldaten genug Bier getrunken hatten, knöpfte er ihnen das Geld wieder ab. Sie merkten es gar nicht mehr richtig. Sie waren voll des süßen Weines, des Bieres und des Rums. Maradona strich grinsend das Geld ein. Dann seufzte er und trank noch einen Humpen Bier. Was blieb ihm anderes übrig? Es gab ja sonst keinen Zeitvertreib auf der Isla de Pinos. Nueva Gerona war sozusagen das Ende der Welt. Die paar anderen Nester, die hier existierten, konnte man sowieso vergessen. Maradona war einer der wenigen Zivilisten im Hafen Nueva Gerona. Eines Tages war er mit einem Auswandererschiff eingetroffen, das hier Station eingelegt hatte. Der Kapitän hatte ihn an Land gesetzt, weil er dauernd Leute durch Falschspiel hereingelegt und somit für Streit an Bord gesorgt hatte. So war Maradona in Nueva Gerona
hängengeblieben. Seit über zwei Jahren war er schon hier. Ständig nahm er sich vor, die Insel wieder zu verlassen und nach Kuba zu gehen. Aber Handelsfahrer, die ihn mitnehmen konnten, kamen fast nie vorbei. Die spanischen Kriegsschiffe, die die Isla de Pinos anliefen, durften keine Zivilisten an Bord nehmen. Geld, sich einen eigenen Kahn zu kaufen, und sei es nur eine Jolle, hatte Maradona nicht genug. So mußte er notgedrungen warten. Irgendwann würde sich die Chance ergeben, von diesem Ort, den er haßte, zu verschwinden. Maradona wartete auf diesen Tag, auf diese Gelegenheit. Das schlimmste in Nueva Gerona war, daß es kaum Frauen gab. Die wenigen weiblichen Wesen, die den Mut hatten, hier zu leben, waren die Frauen von Offizieren. Sie wohnten also im Fort. Man konnte sie höchstens aus der Ferne bewundern. In Caravajos Kaschemme erschienen sie ohnehin nicht. Das schickte sich nicht für anständige Frauen. Und sie gingen auch höchst selten durch den Hafen, diese Paradiesvögel. Wenn sie es dennoch taten, wurden sie von einer Eskorte Soldaten begleitet. Natürlich konnte es sein daß ein paar gierige, lüsterne Küstenstrolche vor lauter Verlangen über sie herfielen. Dem mußte vorgebeugt werden. Caravajo versprach seinen Kunden immer das Blaue vom Himmel herunter. Angeblich hatte er schon vor langer Zeit eine Ladung Huren bei einem halb abgewrackten, verlausten Capitan bestellt, die irgendwann eintreffen mußten. Aber keiner glaubte mehr so recht daran. Nie würde es richtige
Liebesdienerinnen in Nueva Gerona geben. Hier herrschte Enthaltsamkeit. Wollte man sich richtig austoben, mußte man nach Batabano übersetzen oder gar nach Havanna segeln. Maradona hätte natürlich für ein Boot sparen können. Aber das Sparen entsprach nicht seiner Art. Hatte er mal Geld, mußte er es gleich wieder umsetzen - in flüssige Ware. Von den Silberlingen, die er gewonnen hatte, kaufte sich das Kerlchen Wein und Bier. Schließlich war Maradona so betrunken wie Aquino und Bernardo. Aber er konnte sich noch recht gut auf den Beinen halten. Als Aquino und Bernardo ins Freie wankten, um zum Fort zurückzukehren, folgte er ihnen. Die Soldaten schlugen die falsche Richtung ein und torkelten zum nahen Strand. Hier kippten sie in den Sand. „He", brummte Bernardo. „Wo sind wir denn?" „M-meer", lallte Aquino. „Das seh' ich." Bernardo hob die Stimme, um das Rauschen der Brandung zu übertönen. „Ja! Aber wo, zur Hölle, ist das Fort?" „Verschwunden", antwortete Aquino. Dann lachte er. „Abgesoffen!" „Schön wär's, was?" Maradona wankte auf die beiden zu. „Aber es steht noch da, das Fort. He, was macht ihr denn hier? Wollt ihr etwa baden?" „Baden?" tönte Bernardo. „Ich bin doch nicht verrückt! Wasser ist schädlich! Frißt Leib und Seele kaputt!" Aquino kicherte. Er nahm eine Handvoll Sand auf und schleuderte sie nach Bernardo. Bernardo kriegte
die Ladung voll ins Gesicht. Er fluchte, kroch bis zur Brandung und bewarf Aquino mit Schlick. Maradona hockte unterdessen unter den Palmen und verfolgte grinsend das Geschehen. Ja, so war das Leben auf der Isla de Pinos. Es gab eine Menge Sand, Palmen, Mangroven und natürlich Pinien - daher der Name der Insel. Mittendrin in dem Idyll standen das Fort, ein paar Baracken und die Kaschemme von Caravajo. Man lebte in den Tag hinein, die Soldaten scn Wachdienst und paßten aufhoben ihren öde die Proviant- und Waffenlager auf. Man aß, trank, schlief. Trotzdem mußte man in Nueva Gerona noch zufrieden sein. Im Inneren der Insel, an Orten wie Santa Fe, glich das Leben der Hölle auf Erden. Denn dort befanden sich die Marmorbrüche und die Gefangenenlager. Die Kerle in Ketten mußten wie Sklaven schuften. Manch einer starb im Marmorbruch, vor Erschöpfung oder unter einem dicken Block, der aus seinen Halteseilen brach und zu Boden krachte, was immer wieder passierte. Maradona erhob sich und überließ Aquino und Bernardo ihrem weiteren Schicksal. Sie würden sich noch ein wenig mit Sand bewerfen und dann ins Fort zurückkehren. Man kannte das schon. Das Wachlokal sowie das Proviantund Waffenlager waren dem Fort weit vorgelagert. Im Lokal befanden sich umschichtig immer ein Sargento und ein Dutzend Soldaten, die ihren langweiligen Dienst taten. Maradona schritt schwankend an der Hütte vorbei und grüßte den Sargento. Der grinste hinter ihm her.
Maradona ging in seine Behausung, eine Fischerhütte am Hafen. Er warf sich auf sein Lager und faßte, bevor er einschlief, einen heroischen Entschluß. Gleich am nächsten Tag - an diesem Tag würde er ein neues Leben beginnen. Entweder ging er einer redlichen Arbeit nach wie die Fischer, oder aber er kratzte genug Geld zusammen, um sich einen Kahn zu kaufen, der groß genug war, daß man damit nach Kuba gelangen konnte. Über diesem Vorsatz schlummerte Maradona ein. Es wurde hell. Es war der 22. Juli 1595, ein blasser Morgen in Nueva Gerona, Isla de Pinos.
* Cabo San Antonio war die westlichste Spitze der Insel Kuba. Ein schönes Stück Land mit sanft gebogenen Palmen. Ein Hort, der zum Verweilen einlud, allerdings ein wenig windig und manchmal sogar recht stürmisch. Am frühen Nachmittag dieses 22. Juli näherte sich eine Dreimastgaleone dem Kap. Es war die „Bonifacio", das Schiff des Piratenkapitäns della Rocca, der auch der „Perlen-Wolf" genannt wurde. Dies aus gutem Grund. Della Rocca, ein Mann aus Korsika, hatte es sich in den Kopf gesetzt, so viele Perlen wie irgend möglich zusammenzuraffen. Er war der Sohne eines Perlenfischers und hatte schon als Junge davon geträumt, einmal Herr eines ganzen Berges der kostbaren Kügelchen zu sein. Allerdings gelangte man nicht durch harte Arbeit zu dem ersehnten Reichtum, das hatte della Rocca
schnell begriffen. Arbeit schadete außerdem der Gesundheit. Wollte man etwas werden, dann mußte man plündern und brandschatzen. So hatte sich della Rocca in die Karibik begeben. Er hatte eine Bande von mehr als zwei Dutzend Kerlen zusammengestellt, mit der er seine Beutezüge unternahm. Der Schlupfwinkel der Bande befand sich auf der Insel Cozumel vor der Küste von Yucatan. Della Rocca war ein gerissener Hund. Er hatte seine Schätze in Truhen untergebracht und diese Truhen an geheimen Plätzen, die auf die Karibik verstreut waren, vergraben. Das Eingraben hatte immer jeweils einer seiner Kerle oder ein Eingeborener vornehmen müssen, den della Rocca anschließend ins Jenseits befördert hatte. So wußte nur einer von der Position der Perlenverstecke - der Korse. Um die genauen Positionen nicht zu vergessen, hatte della Rocca sie in einem Buch festgehalten, dem Perlen-Logbuch. Die Namen der Plätze hatte er in einen Zahlenschlüssel übersetzt, den wiederum auch nur er kannte. Das Buch befand sich in einem Versteck der Kapitänskammer auf der „Bonifacio". Jetzt war das Geheimversteck am Kopfende der Koje jedoch leer. Und auch della Rocca befand sich nicht mehr an Bord seiner Galeone. Er hatte es vorgezogen, heimlich mit einer Handvoll Kerle an Bord der Zweimastschaluppe zu verschwin den, die in der Bucht der Piraten auf Cozumel geankert hatte. Der Rest der Bande schäumte vor Wut. Moleta, der Bootsmann, hatte sich zum neuen Anführer erklärt.
Jetzt befand er sich mit seiner Meute auf der Suche nach della Rocca und den fünf anderen „Verrätern". Moleta hatte nicht den geringsten Zweifel daran, daß della Rocca mit dem Lotsen Manoel Ribas und vier anderen Komplicen Cozumel verlassen hatte, um die übrigen Spießgesellen hereinzulegen und zu betrügen. Man wollte sie um ihren Anteil prellen - um ihren Anteil an der Perlenbeute. Denn es war ja wohl klar, daß della Rocca wegen des Diebstahls seines Buches unsicher und nervös geworden war. Er hatte Angst, daß ihm der Dieb zuvorkam. Wer war der Dieb? Zardo - der Kerl, den sie aufgehängt hatten, nachdem er mit der Wahrheit nicht hatte herausrücken wollen? Moleta wußte es nicht. Aber das war egal. Della Rocca, dieser verdammte Bastard, hatte sie alle zum Narren gehalten. Man mußte ihn finden, um jeden Preis. Mit Schnaps hatte der Korse seine Kerle betäubt, damit er ungehindert und unbehelligt den Schlupfwinkel räumen konnte. Raffiniert - und doch nicht gerissen genug. Moleta war auch nicht auf den Kopf gefallen. Er konnte sogar lesen, schreiben und rechnen, im Gegensatz zu den anderen. Er konnte sich erinnern: Das dem Stützpunkt von Cozumel am nächsten gelegene Perlenversteck befand sich am Cabo San Antonio. So war die Bande aufgebrochen und mit der „Bonifacio" in See gegangen. Die Huren, die den Kerlen als Zeitvertreib gedient hatten, blieben auf Cozumel zurück. Um sie kümmerte sich keiner mehr. Sollten sie sehen, wie sie sich über Wasser hielten!
Die Galeone steuerte in die Bucht am Cabo San Antonio. Moleta stand mit verschränkten Armen auf dem Achterdeck. Das Spektiv, dessen er sich vorher bedient hatte, hatte er zusammengeschoben und weggesteckt. Er blickte in die Runde und nickte grimmig. Cosmas, der Kerl, der das Ruder bediente, fragte: „Ist es die richtige Bucht?" „Ja. Erkennst du sie nicht wieder?" „Ich bin nicht ganz sicher." „Ich aber", sagte der Bootsmann. „Hier liegt die Truhe mit den Perlen vergraben." .Aber wo ist die "Schaluppe?" fragte Cosmas. „Keine Ahnung", erwiderte Moleta barsch. „Ich bin doch kein Hellseher. Vielleicht hat della Rocca sie irgendwo versteckt." „Wo?" Cosmas stieß einen Fluch aus. „Teufel, der Ausguck hat weit und breit keinen Kahn entdecken können. Ich schätze, der Korse ist schon wieder weg. Dieses Schwein! Hätten wir bloß gemeutert, solange wir noch Zeit dazu hatten. Das wäre besser gewesen." „Hätten, wäre", ahmte Moleta ihn hämisch nach. „Es lohnt sich nicht, über den Wein, den man verschüttet hat, Krokodilstränen zu vergießen. Wir werden den Korsen, diesen Bastard, schon finden. Und dann gnade ihm Gott. Oder der Satan in Person." Die Bande war sich einig. Zerfetzen würde sie della Rocca, wenn sie ihn fand. Der Korse würde sterben - aber auch für Manoel Ribas und die vier anderen Flüchtlinge gab es keine Gnade. Sie würden ebenfalls dran glauben. Denn sie steckten mit dem Korsen unter einer Decke. Sie waren
genauso dreckige Ratten wie della Rocca. Genau vierundzwanzig Kerle Moleta mitgerechnet - befanden sich an Bord der „Bonifacio". Mit finsteren Mienen standen sie an Deck. Sie hatten sich mit Säbeln, Entermessern, Messern, Musketen und Pistolen bewaffnet und fieberten dem Moment entgegen, in dem sie an Land übersetzen würden. Das Schiff drehte in der Bucht bei. Moleta ließ die Segel aufgeien. Der Anker klatschte ins Wasser. Der Bootsmann gab seine Befehle, und die Kerle hievten die Jolle von der Kühl hoch und schwenkten sie aus. Sie fierten das Boot an der Steuerbordseite der Galeone ab. Eine Jakobsleiter wurde ausgebracht. Moleta stellte einen Trupp von zwölf Kerlen zusammen. Er übernahm die Führung. Die Kerle enterten in die Jolle ab und nahmen auf den Duchten platz. Moleta setzte sich auf die achtere Ducht und griff nach der Ruderpinne. Die Jolle war überladen und lag tief im Wasser. Aber das kümmerte keinen. Die Distanz zum Ufer war kurz, man würde sie problemlos überbrücken. Die elf anderen Kerle blieben an Bord der Galeone und blickten dem Boot nach, wie es ablegte und zum Strand glitt. Moleta gab das Tempo an. Die Riemen tauchten ins Wasser, schwangen wieder hoch. Die Jolle wirkte träge und schwerfällig und schob sich langsam in die Uferbrandung. Sie wurde von den Wellen hochgehoben, beschleunigte etwas und drückte sich mit dem Bug auf den Sand. Rovigo, ein Mann mit einer Augenklappe, der an Bord der „Bonifacio" stand, brummte: „Ich würde mich nicht wundern, wenn uns
della Rocca einen Hinterhalt gelegt hätte." „Der?" sagte sein Nebenmann zur Rechten mit bösem Lachen. „Das soll er mal versuchen. Es geht übel für ihn aus. Wir sind ihm masthoch überlegen. Moleta und die anderen knallen ihn und die fünf Verräter ab, sobald sie auch nur ihre Ärsche aus der Deckung heben." „Viel Munition haben wir nicht", gab Rovigo zu bedenken. „Na und?" rief ein anderer Kerl. „Was heißt das schon?" „Daß wir sparsam damit umgehen müssen", entgegnete Rovigo. „Meinetwegen", sagte ein dicker Bursche. „Aber das heißt noch lange nicht, daß della Rocca uns an den Kragen kann. Wir spießen ihn mit unseren Säbeln auf." „Wenn wir die Schweinehunde bloß schnappen", sagte Rovigo. „Das wird ein Fest. Wir lassen sie langsam krepieren. Wie Würmer sollen sie verrecken." Moleta und die Piraten aus der Jolle waren unterdessen ausgestiegen und hatten das Boot aufs Ufer gezogen. Der Bootsmann ließ vorsichtshalber einen Kerl als Wachtposten bei der Jolle zurück. Dann machte er sich mit den anderen auf den Weg zu den Palmen und zur buschbestandenen Uferböschung. Die ganze Zeit über hielten sie die Augen nach allen Seiten offen. Schließlich konnte der Gegner - della Rocca und die fünf „Verräter" irgendwo im Dickicht lauern. Vielleicht zielten die Kerle schon mit ihren Musketen auf den Trupp? Moleta wurde ein wenig mulmig zumute. Riskierte er zuviel? Hätte er vorsichtiger sein und erst ein paar Kundschafter losschicken sollen?
Verdammt, verdammt, dachte er. Ganz so einfach, wie er sich das gedacht hatte, war es doch nicht, den Anführer einer solchen Horde zu spielen. Man mußte Verantwortung tragen und schnell Entscheidungen treffen können. Außerdem war man der Kritik der Kerle ausgesetzt. Moleta begann zu schwitzen. Zur Umkehr war es zu spät. Er durfte nicht wankelmütig werden und mußte durchhalten. Ihm fiel ein, daß ja auch noch der Ausguck der „Bonifacio" da war. Wenn sich im Dickicht etwas regte, würde der es schon melden. Hoffentlich paßte der Kerl auf. Oder pennte er jetzt etwa? Der Bootsmann warf einen Blick über die Schulter zurück. Deutlich konnte er die Gestalt des Ausgucks im Großmars erkennen. Nein, der Kerl schlief nicht. Das konnte er sich gar nicht erlauben. Er hielt die Augen offen. Hin und wieder spähte er sogar mit dem Spektiv in den Dschungel. „Wie weit ist es noch?" fragte einer der Piraten. „Mal sehen", brummte Moleta. „Du weißt es nicht genau?" erkundigte sich ein anderer lauernd. „Halt dein Maul!" fuhr Moleta ihn an. Er dachte: Was seid ihr doch für ein saublöder Haufen! Irgendwie begriff er in diesem Moment, warum der Korse immer zur Peitsche gegriffen hatte, wenn er sich anders nicht hatte durchsetzen können. Die Kerle waren wirklich zu dumm. Eine andere Sprache als die der Gewalt verstanden sie nicht. Heiß war es am Cabo San Antonio. Moleta wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. Wann kühlte es endlich ein wenig ab? Hölle, war es hier schwül. Wahrscheinlich würde es die ganze Nacht über schwül bleiben. Da half
nur eins - kräftig saufen. Aber so üppig waren die Vorräte an Bord nicht mehr. Ja, auch das stand Moleta noch bevor. Er mußte Proviant, Waffen und Munition besorgen. Della Rocca hatte sich reichlich eingedeckt, ehe er sich verdrückt hatte. So mangelte es der Bande jetzt an Eßwaren, Trinkbarem und Pulver. Eins nach dem anderen, dachte der Bootsmann, das kriegen wir schon noch hin. Er blieb abrupt stehen und duckte sich. War da nicht etwas - im Gestrüpp? Die Kerle hatten ebenfalls ein Geräusch gehört. Sie rissen ihre Waffen hoch und zielten auf das Dickicht. Es raschelte. Die Kerle fluchten. Moleta rief: „Della Rocca, komm raus, du Schwein! Wir haben dich gesehen!" Aber es flatterte nur ein großer Vogel aus dem Gestrüpp auf. Die Kerle lachten und ließen ihre Musketen und Pistolen wieder sinken. „He, wir machen uns ja gegenseitig verrückt", sagte einer von ihnen. „Weiter", sagte Moleta schroff. Sie stiefelten weiter. Moleta blickte in die Runde und überlegte, wo sich das Versteck befinden mochte. Della Rocca hatte die genaue Position ja wie ein Geheimnis gehütet. Die Kerle würden also suchen müssen, um die Truhe zu finden. Vielleicht mußten sie den ganzen Strand umgraben. Verflucht, dachte Moleta, bloß das nicht! Einer seiner Kerle verharrte. Moleta dachte sofort wieder an eine Falle. Aber der Kerl deutete auf den Boden. „Da!" rief er. „Spuren!" Jetzt sahen sie es alle. Eine Fährte zeichnete sich scharf im hellen
Ufersand ab - die Abdrücke von Füßen.
2. Moleta kniete sich hin und begann, die Fußspuren zu untersuchen. Es handelte sich um frische Abdrücke, daran gab es gar keinen Zweifel. Della Rocca, dachte der Bootsmann und knirschte mit den Zähnen. Du bist hiergewesen, aber wo steckst du jetzt, du Schuft? „Drüben!" stieß ein anderer Pirat aus. „Ein Loch!" Die Kerle richteten ihre Blicke in die von dem Kerl angegebene Richtung. Moleta folgte den Fußspuren. Sie führten genau zu dem Loch im Sand, das sich bei näherem Hinsehen als eine von Menschenhand ausgehobene Grube entpuppte. Die Kerle gruppierten sich um die Grube und starrten hinein. Einige von ihnen schauderten zusammen, als sie die Gebeine des Toten entdeckten. Sie waren höllisch abergläubisch, diese Kerle. Sie waren überzeugt, daß der bloße Anblick eines Skeletts Unglück brachte. „Beim Henker", sagte Moleta. „Da ist wirklich schon gegraben worden." „Und wo sind die Perlen?" fragte einer seiner Begleiter. „Sieh doch selbst nach", forderte ihn der Bootsmann barsch auf. „Warum springst du nicht in die Grube?" „Ich bin doch nicht lebensmüde." „Der Knochenmann ist tot", sagte Moleta hämisch. „Sein Kopf und der Rest liegen ja auch verstreut herum." „Trotzdem", sagte der Pirat. „Er kann ganz plötzlich wieder zum
Leben erwachen. Dann beißt er wie ein Hai um sich." „Ihr seid ja völlig bescheuert", sagte Moleta. Ein älterer Pirat trat vor. „Hör auf, uns zu beleidigen, Moleta. Verrate uns lieber, wo wir die Perlentruhe suchen sollen." „Nirgendwo", entgegnete der Bootsmann. „Das ist doch sonnenklar. Der Korse ist hier vor uns aufgekreuzt und hat sich die Perlen geholt." „Unsere Perlen!" schrie einer der Kerle. Zornig schüttelte er die Faust. Moleta fuhr fort: „Wir haben die Grube gefunden, aber es ist eine leere Grube. Es hat keinen Sinn, hier noch länger zu verweilen." „Della Rocca, dieser Hurensohn!" brüllte der ältere Pirat. „Das soll er mir büßen! Wenn ich ihn erwische, haue ich ihn in Stücke!" Ein Ruf wehte von der „Bonifacio" herüber. „Was ist los?" Moleta schrie zurück: „Alles in Ordnung!" „Habt ihr die Perlen?" „Nein!" brüllte der Bootsmann. Er war jetzt selbst wütend. Er fluchte mit seinen Kumpanen, und sie wünschten ihrem ehemaligen Kapitän della Rocca, daß er in den finstersten Schlünden der Hölle schmoren möge. Moleta wurde jedoch rasch wieder ruhig und sachlich. „Nun hört mal zu", sagte er zu den aufgebrachten Kerlen. „Eigentlich haben wir uns das ja denken können, nicht wahr? Wir haben es doch alle geahnt, gebt es zu." „Ja", erwiderte einer der Piraten. „Aber sich was denken, ist eine Sache - vor vollendete Tatsachen gestellt zu werden, 'ne andere."
„Sehr gut hast du das ausgedrückt", sagte Moleta. Der ältere Pirat fixierte ihn aus schmalen Augen. „Willst du uns zum Narren halten, Moleta?" „Warum sollte ich?" „Na ja, vielleicht hältst du dich für den großen Schlaukopf, weil du lesen und schreiben kannst. Und wir sind die Idioten." Moleta fuhr unversehens zu dem Kerl herum. Sein Gesicht war verzerrt. „Wer ist hier eigentlich der Anführer, du Ratte?" „Du natürlich." „Und du hast was zu meckern, wie?" zischte Moleta. Der Ältere steckte zurück. „Nein, natürlich nicht." „Dann halt deine Schnauze." Moleta wandte sich wieder den anderen zu. Seine Züge glätteten sich, er sprach in ruhigerem Tonfall weiter. „Wir kehren an Bord zurück. Alles andere hat keinen Sinn. Wir müssen beraten, was wir als nächstes unternehmen sollen, um diesen Schweinehund von einem Korsen zu packen." So begaben sie sich zurück zu der Jolle. Sie schoben sie ins Wasser, stiegen an Bord und pullten zur „Bonifacio" zurück, wo die Gesichter der wartenden Piraten inzwischen lang und länger geworden waren. Keine Perlen, kein della Rocca - die Fahrt zum Cabo San Antonio war also völlig sinnlos gewesen. Kaum an Bord der Galeone, hatte Moleta jedoch bereits wieder eine neue Idee. Er scharte die Kerle um sich und sprach auf sie ein. „Hört mal zu", sagte er. „Wir sollten nicht einfach die Flinte ins Korn werfen. Ich weiß schon, wie wir della Rocca doch noch einen überbraten können."
„Wie denn?" fragte einer der Piraten. Der Dicke stieß ihn mit dem Ellenbogen an. „Halt deine Klappe. Laß Moleta erst mal ausreden." „Eins ist ganz klar", sagte der Bootsmann. „Hier, im Bereich der südlichen Küste von Kuba, hat della Rocca noch mehr Perlenverstecke. Es liegt auf der Hand, daß er sie alle ansteuert und nacheinander aushebt." „Und dabei schnappen wir ihn", sagte Cosmas. „Ruhe!" fuhr Rovigo ihn an. „Keiner hat dich was gefragt." Moleta grinste. Die Kerle lauschten mit gespannten Mienen. Seine Autorität war also uneingeschränkt. Die Narren vertrauten ihm, sie verließen sich auf ihn. Mehr noch, sie brauchten einen Führer. Ohne den wußten sie nicht, was sie tun sollten. „Also, mit dem Ausräumen eines Geheimverstecks verliert der Korse natürlich Zeit", fuhr der Bootsmann fort. „Wenn er das erledigt hat, segelt er zum nächsten Versteck, das mir wieder bekannt ist. Meiner Erinnerung nach kann es sich nur um das Versteck an der Bucht von Rum Point handeln." „Aha, auf Grand Cayman", sagte Rovigo. „Richtig", bestätigte Moleta. „An der Nordspitze der mittleren Landzunge. Dort werden wir ihm zuvorkommen. Wir werden das Versteck finden und ausheben." „Holla!" stieß Cosmas lachend hervor. „Und dann folgt der Rest, nicht wahr?" „Ja!" rief ein anderer Kerl. „Dann greifen wir ihn uns, diesen Betrüger!" „Klarer Fall", erwiderte Moleta grinsend. „Wir warten auf den Korsen, bis er aufkreuzt. Wir legen
ihm einen Hinterhalt - und dann fallen wir über ihn her. Ich behalte mir persönlich vor, ihn durch die Mangel zu drehen." Seine Miene verfinsterte sich wieder. Er konnte sich entsinnen, wie della Rocca mit Zardo umgesprungen war. Ungefähr so würde es dem Korsen ergehen, wenn die Bande ihn zu fassen kriegte. „Auf diese Weise erfahren wir, wo die anderen Verstecke sind", sagte Rovigo. „Alles klar." Der Bootsmann grinste jetzt wieder. „Richtig. Im übrigen werden wir uns natürlich an den Perlen bedienen, die della Rocca dann bereits für uns ausgegraben hat. Insofern brauchen wir uns ja nicht mehr anzustrengen, was?" „So ist es!" grölten die Kerle. „Es lebe Moleta!" Es wurde Zeit, die ausgedörrten Kehlen zu benetzen. Moleta ließ Wein ausschenken. Die Kerle tranken, lachten und sprachen darüber, wie sie della Rocca, den Lotsen und die vier anderen Bastarde greifen und foltern würden. Ja, das würde ein Spaß für sie sein. Und Moleta hatte genau die richtigen Ideen. Er war eben doch ein toller Kerl, dieser Moleta. So waren die Galgenstricke und Schlagetots an Bord der „Bonifacio" wieder obenauf. Sie hatten zwar eine Schlappe erlitten. Aber was bedeutete das schon? Noch hatten sie ja die Chance, sich ihren ehemaligen Anführer zu schnappen. Er würde ihnen schon nicht durch die Lappen gehen. Die Perlenbeute wartete auf sie. Mit der kostbaren Beute würden sie ein feines Leben führen. Sie hatten ausgesorgt bis ans Ende ihrer Tage. Fast war es so, als hätten sie die Perlentruhen schon an Bord der „Bonifacio".
* Allerdings gab es doch noch ein Problem für die Piraten. Es mußte dringend bewältigt werden. Moleta warf das Thema auf, als sie noch auf der Kühl zusammenhockten und ihren Wein tranken. „Ihr wißt, daß es schlecht mit unserem Proviant steht", sagte er. „Und wir sollten auch die Wasserund Weinvorräte auffrischen." Cosmas deutete zum Ufer. „Warum gehen wir nicht auf die Jagd?" „Ja", sagt der Dicke höhnisch. „Wir haben ja soviel Munition, wir brauchen nicht damit zu knausern. Oder willst du die Vögel mit deinem Säbel erlegen?" „Ist ja nur ein Vorschlag", brummte Cosmas. „Vielleicht gibt's auf der Insel auch eine Wasserquelle", warf einer der Kerle ein. Moleta winkte ab. „Es hat keinen Sinn, daß wir damit Zeit vertrödeln. Es würde viel zu lange dauern, jagdbares Wild aufzustöbern und zu töten. Auch die Suche nach einer Quelle kann lange dauern. Dann müssen die Fässer gefüllt und an Bord gemannt werden. Das ist echte Arbeit." Arbeit? Die Kerle zuckten fast zusammen. Arbeit haßten sie wie die Pest. Es gab nichts Schlimmeres für sie. Lieber segelten sie durch den härtesten Sturm oder schlugen sich mit den wildesten Gegnern herum. Aber arbeiten - nein, das wollten sie um keinen Preis. Nur zu gut konnten sie sich entsinnen, wie sie auf Cozumel den Buschbrand hatten löschen müssen. Das war eine üble Schinderei gewesen. Ob es wirklich Zardo gewesen war, der das Feuer gelegt hatte, wußte
immer noch keiner. Aber das spielte auch keine Rolle. Sie hatten wie Sklaven schuften müssen. Della Rocca hatte sie mit der Peitsche angetrieben, dabei wären sie am liebsten ausgerissen. Auch dafür würde der verfluchte Korse bezahlen müssen. Moleta inspizierte die Vorratskammer der „Bonifacio". Anschließend sah er sich das Waffen- und Pulverdepot an. „Della Rocca hat sich gut eingedeckt", sagte er zu den Kerlen, die ihm gefolgt waren. „Hoffentlich bleibt ihm jeder Bissen im Halse stecken." „Hoffentlich schießt er sich selbst ins Bein", sagte einer der Piraten. Ja, es stand denkbar schlecht um den Proviant. Und von den Waffen samt Pulver hatte die Lumpenbande des Korsen noch im Stützpunkt der Insel Cozumel eine Menge auf die Zweimastschaluppe übernommen. Es mußte also dringend Nachschub her. Moleta kehrte mit seiner Gefolgschaft auf die Kühl der Galeone zurück. „Ich habe einen Plan", erklärte er. „Wir werden uns das, was wir brauchen, bei den Spaniern besorgen." „Willst du bei ihnen einkaufen?" erkundigte sich Cosmas. Der Bootsmann warf ihm einen verächtlichen Blick zu. „Natürlich nicht. Wir haben ja nichts auf der Naht, oder? Also können wir auch nichts kaufen. Nein. Wir holen uns das Nötige umsonst." Die Kerle lachten. Sie hatten verstanden. Ein kleiner Überfall auf die Spanier war mal wieder fällig. In der letzten Zeit hatten sie zwar Pech gehabt, weil die Spanier ihre Wachen
verstärkt hatten. Aber Moleta, dieser Teufelskerl, würde schon wissen, wo man ohne ein allzu großes Risiko über die Spanier herfallen konnte. Schon rückte Moleta mit seinem Plan heraus. „Wir werden ein Proviantlager der Dons überfallen", sagte er. „Das am Hafen von Nueva Gerona an der Nordküste der Isla de Pinos. Wir knacken das Lager, decken uns mit allem ein, was das Herz begehrt, und hauen wieder ab." Er grinste. Die Kerle stießen sich untereinander an und grinsten ebenfalls. „Ja, das ist ein guter Gedanke", sagte Rovigo. „Auf der Isla de Pinos kennst du dich ja bestens aus." „Das kann man wohl sagen." Moleta hatte einige Zeit auf der Insel zugebracht - als Gefangener in den Marmorbrüchen. Vor fünf Jahren war er aus dem Gefangenenlager geflohen und hatte sich abgesetzt. Es war eine dramatische Flucht voller Gefahren gewesen. Und doch hatte er es geschafft, den Verfolgern und ihren Hunden zu entkommen. Der Bootsmann hatte jene Zeit in den Marmorbrüchen nicht vergessen. Die Hölle konnte nicht schlimmer sein. Mit Meißeln, Keilen und Brechstangen wurden die Quader mühselig den Lagern abgewonnen. Manch einer war in der Gluthitze zusammengebrochen. Andere waren von herabstürzenden Blöcken zermalmt worden. Die Verlustrate in dieser Strafkolonie war mörderisch gewesen. Die Isla de Pinos südlich von Kuba war schon frühzeitig von den Spaniern als Gefangeneninsel benutzt worden. Kaum hatten sie die Neue Welt entdeckt, hatten sie auch die Marmorbrüche gefunden und
beschlossen, sie auszubeuten wie die Gold- und Silberminen. Folglich mußten Arbeitskräfte her - Sträflinge aus den Gefängnissen der Alten und Neuen Welt. Man behandelte sie wie Sklaven. Die Wärter schikanierten sie. Keiner hatte die Chance, das Lager lebend wieder zu verlassen. Moleta hatte stets vorgehabt, einen Überfall auf die Insel zu unternehmen und sich bei den Spaniern für das zu revanchieren, was sie ihm seinerzeit zugefügt hatten. Della Rocca war dagegen gewesen. Auf der Isla de Pinos gab es nichts zu holen - keine Perlen. Der Korse war auf Perlen fixiert, also war die Insel kein Angriffsziel für ihn. Moleta hatte, was dies betraf, immer zurückstecken müssen. Jetzt aber konnte er seinen Peinigern von damals eins auswischen. Zumindest die Offiziere würden noch jene sein, die auch vor fünf Jahren schon dort gewesen waren. Ihr werdet euch wundern, dachte Moleta, dann lachte er. In dieser Nacht, der Nacht vom 22. auf den 23. Juli, wurde an Bord der „Bonifacio" tüchtig gefeiert. Die Kerle stießen in Vorfreude auf das, was in Nueva Gerona geschehen würde, miteinander an. Della Rocca und der Haß, der in ihnen allen gärte, waren vorläufig in den Hintergrund gerückt. Jetzt ging es darum, die Depots der „Bonifacio" aufzufüllen. Ja, sie würden staunen, die Spanier von Nueva Gerona!
* In der Nacht vom 23. auf den 24. Juli mußten die beiden Soldaten Aquino und Bernardo auf den gewohnten Besuch bei Caravajo
verzichten. Sie hatten Dienst, und zwar in dem Wachlokal beim Proviant- und Waffenlager. Die Nacht versprach, langweilig wie immer zu werden. Die zwölf Soldaten in dem Wachlokal durften sich zwar die Zeit mit Würfelspiel vertreiben, aber es herrschte striktes Alkoholverbot Der Sargento hielt die Augen offen. Er paßte auf wie ein Luchs. Nichts konnte seiner Aufmerksamkeit entgehen. Jede Stunde wurde ein neuer Einzelposten ins Freie geschickt, und der Mann, der bislang draußen Patrouille gegangen war, suchte das Lokal auf. Eine Stunde vor Mitternacht war Aquino an der Reihe. Er erhob sich von seinem Stuhl, nickte seinem Freund Bernardo zu und ging hinaus. Der andere Posten schritt auf ihn zu. Sie begrüßten sich durch Handzeichen, dann gingen sie aneinander vorbei. Aquino bewegte sich durch die Dunkelheit. Fast sehnsüchtig blickte er zu den Lichtern der Pinte. Wie gern hätte er jetzt einen Humpen Bier getrunken. Er hätte sogar einen Streit mit Bernardo in Kauf genommen wie neulich abend. Lieber ein wenig Aufstand, dachte er, als diese verdammte Langeweile. Der Soldat schritt zum Lager. Plötzlich verharrte er. Er hatte eine Regung wahrgenommen. Unwillkür lich nahm er die Muskete am Lederriemen von der Schulter und legte auf die Gestalt an, die da an der Palisadenwand entlangschlich. „Halt", sagte Aquino. „Wer da?" Die Gestalt blieb stehen und drehte sich zu ihm um. „Aquino, bist du es?" „Ja." Das Kerlchen im Dunkeln atmete auf. „Ich bin's, Maradona."
„Sag mal, was machst du denn hier?" fragte Aquino überrascht. „Ach, ich geh' nur ein bißchen spazieren", erwiderte Maradona. „Frische Luft schnappen." „Um diese Zeit?" „Jetzt ist es wenigstens ein bißchen kühl", sagte Maradona. „Da fällt einem das Atmen leichter. Ich hab's ein wenig auf der Lunge, wußtest du das nicht?" „Nein", antwortete Aquino. Maradona hustete. „Es muß an dem feuchten Klima liegen. Oder am vielen Saufen. Weiß der Henker." „Komm mal her", sagte Aquino. Das Kerlchen näherte sich ihm. Maradona hatte kein Geld mehr, er hatte in der Kaschemme alles in Flüssigware umgesetzt. Doch er hatte Hunger. Also hatte er beschlossen, dem Depot einen Besuch abzustatten. Vielleicht gelang es ihm, sich hineinzustehlen und etwas zu klauen. Leider hatte es nicht geklappt. Dauernd schlichen hier die Posten herum. Aber Maradona war jetzt froh, daß es ihm nicht gelungen war, etwas Eßbares zu „organisieren". Aquino hätte den Proviant bei ihm entdeckt und wäre gezwungen gewesen, ihn festzunehmen. „Du bist heute nacht also nicht bei Caravajo?" fragte Aquino. „Ich bin dort gewesen." „Und jetzt schnappst du frische Luft, was?" „Ja, so ist es", erwiderte Maradona mit der reinsten Unschuldsmiene. „So ganz allein?" „Mit wem soll ich sonst Spazierengehen?" „Ach, ich weiß nicht", sagte Aquino. „Ihr seid heute abend nicht mit von der Partie", sagte Maradona. „Das ist
schade. Irgendwie fühle ich mich allein." „Quatsch", sagte der Soldat. „So dicke Freunde sind wir nun auch wieder nicht. Hör mal, du wolltest doch wohl nicht ein bißchen klauen?“ „Ich? Nein! Bist du verrückt?“ „Ich bin voll bei Sinnen und ganz normal", entgegnete Aquino. „Paß bloß auf, Maradona. Langfinger können wir nicht leiden. Der Sargento versteht keinen Spaß." Das Kerlchen spürte, wie es zu schwitzen begann. „Ich bin kein Dieb", sagte er in fast flehendem Tonfall. „Du kannst mir glauben. Willst du mich durchsuchen? Tu's nur. Ich bin sauber." „Nein, das habe ich nicht nötig", sagte Aquino. „Aber ich warne dich. Laß dich hier nicht noch mal erwischen." „Gut", sagte Maradona. „Das verspreche ich dir." Er zog eine kleine Flasche aus der Tasche. „Aber wie wär's mit einem kleinen Schluck?" Aquino schüttelte den Kopf. „Du weißt genau, daß das Saufen auf Wache verboten ist. Der Sargento wird fuchsteufelswild, wenn er riecht, daß einer von uns eine Fahne hat." Das Kerlchen entkorkte die Flasche. Ein ploppender Laut war Musik in Aquinos Ohren. Maradona grinste. „Na, dann trinke ich eben allein." Er setzte die Flasche an und ließ sich den Inhalt - Rum gluckernd in die Kehle rinnen. „Verschwinde", sagte Aquino. „Du willst mich offenbar herausfordern." Maradona ließ die Flasche sinken, wischte sich, mit der Hand über den Mund und erwiderte: „Nein, das stimmt nicht. Du täuschst dich eben in mir." Ihm fiel ein, daß es nicht
falsch war, den Soldaten ein wenig zu schmieren. In einem Anflug von Großzügigkeit streckte er Aquino die Flasche entgegen. „Hier - ich schenke sie dir. Wenn nachher dein Dienst zu Ende ist, kannst du einen gluckern." Aquino überlegte nicht lange. Er griff zu und ließ die Flasche in seinem Wams verschwinden. „Besten Dank", sagte er. „Na klar, ich weiß, daß du ein anständiger Kerl bist, Maradona. Aber jetzt hau lieber ab. Wir sehen uns morgen." „Viel Spaß noch", sagte Maradona. Er wandte sich ab und verschwand in der Nacht - mit nach wie vor knurrendem Magen. Aber er war heilfroh, nicht beim Stehlen erwischt worden zu sein. Die Soldaten waren in dieser Beziehung rigoros. Es war schon passiert, daß sie einen Kerl an die Wand gestellt hatten, nur weil er ein paar Würste gestohlen hatte. Das mindeste, was einem blühte, wenn man festgenommen wurde, war der Abtransport ins Innere der Insel, zu den Marmorbrüchen. Maradona aber hatte nicht die geringste Neigung, zur Zwangsarbeit verpflichtet zu werden. So war er sozusagen mit einem blauen Auge davongekommen. Er hatte die Flasche Rum opfern müssen. Aber es war ein Opfer, das er gern brachte. Wenigstens hatte er Aquino friedlich gestimmt, und er brauchte keine Angst zu haben, daß die Angelegenheit noch ein Nachspiel hatte. Die Frage war, was er jetzt unternehmen sollte. Sollte er sich in seiner Hütte aufs Ohr legen? Oder sollte er versuchen, bei den Fischern etwas für den Magen zu ergattern? Ach, das hat keinen Zweck, dachte er. Lieber kehrte er zu Caravajo
zurück und sah zu, daß er beim Würfelspiel ein paar Silberlinge gewann. Dann konnte er sich bei dem Wirt noch einen Krug Wein und ein Stück Schinken kaufen. Aus den Vorsätzen, die das Kerlchen gefaßt hatte, war natürlich wieder einmal nichts geworden. Zum Arbeiten hatte er keine Lust. Zum Sparen auch nicht. Vielleicht war er dazu verdammt, ewig auf der Isla de Pinos zu verweilen. Dies schien sein Schicksal zu sein. Er mußte sich damit abfinden. Aquino beendete unterdessen seine Wachrunde. Als er einen prüfenden Blick zum Fort warf, glaubte er einen Soldaten zu sehen, der sich vom Wachlokal zum Fort entfernte. Vielleicht hatte der Sargento einen Mann losgeschickt, der Nachschub für das Wasserfaß holen sollte. Das Faß stand im Wachlokal, jeder konnte sich daraus bedienen, wenn er Durst hatte. Einmal in der Nacht mußte das Faß neu aufgefüllt werden. Dann ging ein Mann mit Eimern zum Fort. Auf dem Innenhof des Forts gab es einen großen Ziehbrunnen, aus dem man das Naß schöpfte. Nach Ablauf einer Stunde kehrte Aquino zum Wachlokal zurück. Bernardo war als nächster an der Reihe. Er stand auf und grinste seinem Freund zu. „Na, gibt es besondere Vorkommnisse?" fragte er. „Keine", erwiderte Aquino. Er schaute sich in dem langgestreckten Raum um. „Wo ist denn der Sargento?" „Der ist zum Fort gerufen worden", erwiderte Bernardo. „Seiner Frau scheint es nicht sonderlich gut zu gehen. Du weißt ja, sie erwartet ein Kind. Na, vielleicht kehrt der
Sargento heute nacht gar nicht mehr zurück." „Das wäre eine Gelegenheit", sagte ein anderer Soldat. „Wenn wir was zu saufen hätten, könnten wir getrost einen heben. Es passiert ja sowieso nichts." Aquino lachte. Dann förderte er wie durch Zauberei die kleine Flasche Rum zutage. „Da", sagte er und warf sie Bernardo zu. „Ein Engel hat die Pulle über dem Strand abgeworfen. Ich habe sie aufgefangen." „Verrückt", sagte Bernardo mit breitem Grinsen. „Den Bären kannst du mir nicht aufbinden." „Nun trink schon", forderte Aquino seinen Freund auf. Bernardo kostete von dem Rum. Die anderen hockten oder standen mit gierigen Mienen da. Bernardo setzte die Flasche wieder ab, schnalzte mit der Zunge und reichte sie weiter. „Ein guter Tropfen", urteilte er. „Genau das richtige für uns." Die Flasche ging reihum. Als Aquino sie zurückerhielt, war sie fast leer. Bernardo kriegte noch einen Schluck ab, dann begab er sich auf die Runde. Die anderen Soldaten lachten, hieben Aquino auf die Schultern und rissen Witze darüber, wie schön es wäre, wenn noch mehr fliegende Engel auftauchen und Flaschen herunterwerfen würden am besten gleich auf den Platz vor der Tür des Wachlokals. Bernardo marschierte durch die Nacht und kontrollierte routinemäßig die Lager. Aquino, du Schlitzohr, dachte er, wo hattest du die Flasche her? Er schaute sich um, ob irgendwo Flaschen herumlagen, wurde aber nicht fündig.
Maradona würfelte derweil in Caravajos Kneipe mit ein paar Fischern. Aber der Einsatz war nicht hoch, und die Kerle benahmen sich ziemlich mißtrauisch. Sie hatten schon des öfteren gegen Maradona verloren. Er mußte vorsichtig sein und durfte sich nicht verraten. Wenn irgend jemand herausfand, daß er mit seinen Tricks die Würfel manipulierte, war es um ihn geschehen. Das Kerlchen beschloß, sich mit einem Mindestgewinn von zwei Silberlingen zufriedenzugeben. Davon konnte er noch essen und trinken. Dann würde er nach Hause gehen. Schon bald würde das sein. Es war nicht viel los an diesem Abend. Eine miese, trostlose Nacht. Es wollte sich keine richtige Stimmung einstellen. Das beste ist, ich penne mal wieder richtig aus, dachte Maradona. Doch es sollte alles ganz anders kommen.
3. Eine halbe Stunde nach Mitternacht ging außerhalb der Sichtweite von Nueva Gerona eine Dreimastgaleone vor Anker - die „Bonifacio". Moleta und die Kerle ließen lautlos die Jolle zu Wasser. Der Bootsmann enterte mit sechs Kerlen ab, und kurz darauf pullten sie zum Ufer. Keiner bemerkte das Boot mit den Piraten. Es herrschte Stille. In Nueva Gerona schien alles zu schlafen. Moleta wußte aber, daß dieser Eindruck täuschte. Es wäre ein grober Fehler gewesen, wegen der Ruhe unvorsichtig zu werden. Unweit des Hafens, des Wachlokals und der Lagerbaracken landeten die Piraten mit ihrer Jolle. Es wurde kein Wort gesprochen. Moleta bedeutete
seinen Kerlen, was sie zu tun hatten. Zunächst sollten sie auf ihn warten. Er wollte erkunden, wie die Lage war. Schließlich kannte er sich aus. Er wußte am besten, wie man sich anpirschte, ohne gesehen zu werden. Moleta schlich zum Wachlokal. Er nutzte ein paar Felsen, die an dieser Stelle aus dem Wasser ragten, als Deckung aus. Vorsichtig watete er durch das Wasser. Zur Vorsorge zückte er auch sein Messer. Man konnte nicht wissen, was sich ereignete. Der Bootsmann bewegte sich an dem flachen, langgestreckten Bau des Wachlokals vorbei. Er konnte die Soldaten lachen hören. Sie schienen sich gut zu amüsieren. Einer von ihnen erzählte wohl gerade einen Witz, soviel konnte Moleta verstehen. Von denen droht keine Gefahr, dachte er. Moleta schob sich weiter zwischen den Felsen voran. Er konnte die Umrisse der Lagergebäude erkennen. Im Hintergrund erhob sich düster das Fort. Nichts hatte sich verändert, seit er damals geflohen war. Der Hafen war noch genauso, wie er ihn damals kennengelernt hatte. Moleta schnitt eine Grimasse. Er konnte sich an alles erinnern, als sei es gestern passiert. Nie würde er vergessen, wie man ihn behandelt hatte. Wäre es nach den Spaniern gegangen, hätten die Bluthunde ihn, Moleta, zerrissen. Nein, so etwas vergaß man nicht. Moleta haßte die spanischen Soldaten. Am liebsten hätte er sie reihenweise umgebracht. Er verspürte Lust, den Hafen mit der „Bonifacio" anzugreifen. Doch das war zuviel Aufwand. Außerdem hatte er nicht genug Munition. Es war
besser und ratsamer, heimlich vorzugehen. Doch da war der Posten, der auf das Proviant- und Waffenlager aufpaßte. Moleta verharrte in Kauerstellung zwischen den Felsen. Deutlich konnte er den Mann in der Nacht erkennen. Ein Einzelposten, dachte der Bootsmann, den müssen wir ausschalten. Der Soldat - Bernardo - schritt an den Palisaden des Lagers auf und ab. Er blieb wieder stehen, hob seine Muskete etwas an und blickte sich nach allen Seiten um. Blöder Hund, dachte Moleta. Er duckte sich tiefer, bewegte sich rückwärts und arbeitete sich zu dem Punkt zurück, von dem aus er sein Erkundungsmanöver begonnen hatte. Bald hatte er die Jolle wieder erreicht und unterhielt sich flüsternd mit seinen Kerlen. Sie sollten mit der Jolle die Felsen umrunden und auf die Lagerschuppen zuhalten. Moleta würde sich um den Einzelposten kümmern. Die Jolle entfernte sich im Dunkeln und wurde unsichtbar für Moleta. Er kroch zwischen den Felsen zu dem Soldaten, der nach wie vor auf demselben Platz wie vorher stand. Sehr viel Zeit verwendete der Bootsmann dieses Mal nicht darauf, den Mann zu beobachten. Er legte sich im flachen Wasser auf den Boden und robbte auf Bernardo zu. Bernardo glaubte, ein Geräusch vom Wasser her zu vernehmen. Das klang, als tauche ein Bootsriemen mit leisem Plätschern ins Wasser. Oder täuschte er sich? Gaukelte der Rum, den er getrunken hatte, ihm etwas vor? Mißtrauisch geworden, bewegte sich der Soldat auf das Wasser zu.
Blödsinn, dachte er, da kommt doch kein Boot. Hier kommt nie was. Aber er mußte doch nachsehen und sich vergewissern, daß er sich geirrt hatte. Bernardo ahnte nicht, daß er geradewegs in sein Unheil lief. Nie und nimmer hätte er damit gerechnet, daß Piraten Nueva Gerona überfielen. Das war noch nie geschehen. Die einzigen Schiffe, die hier erschienen, waren Galeonen, die neue Gefangene für die Marmorbrüche brachten, oder hin und wieder Kriegsschiffe. Oder aber der Frachtsegler aus Batabano traf mit frischem Proviant ein. Das war alles. Maradona hatte gelegentlich versucht, sich von diesem Frachtsegler mitnehmen zu lassen. Aber der Kapitän lehnte strikt ab. Er wollte keine Fremden an Bord. Keine Passagiere. Er wollte sich keinen Ärger einhandeln. Er hatte seine Prinzipien und Regeln, an die er sich stur hielt. Bernardo mußte daran denken, während er stehenblieb, seinen Blick auf das Wasser richtete und die Augen zusammenkniff. Armer Maradona, er wollte immer weg und blieb letzten Endes doch hier, auf der Isla de Pinos. Es waren die letzten Gedanken des Soldaten Bernardo. Jäh wurde er in seinen Überlegungen unterbrochen. Der Angriff erfolgte völlig überraschend für ihn. Er sah weder die Jolle draußen auf dem Wasser, noch bemerkte er den Mann, der sich ihm mit dem Messer in der Hand von den Felsen aus näherte - Moleta.
*
Lautlos schlich Moleta auf den Posten zu. Der Soldat war jetzt abgelenkt, er schien das Boot bemerkt zu haben. Um so besser, dachte Moleta. Dann war er dicht hinter Bernardo und richtete sich zu seiner vollen Größe auf. Moleta packte den Mann von hinten und stach mit dem Messer zu. Damit der Soldat nicht schreien konnte, preßte er ihm die eine Hand auf den Mund. Das Messer drang bis zum Heft in den Hals von Bernardo ein. Bernardo röchelte und wollte sich zur Wehr setzen. Doch die Kräfte verließen seinen Körper. O Gott, dachte er noch, hilf mir! Die Muskete fiel in den Sand. Bernardo sackte in den Knien zusammen. Moleta ließ ihn immer noch nicht los. Er hielt dem Soldaten nach wie vor den Mund zu und packte ihn so, daß er nur ganz langsam zu Boden sank. Aus dem Wachlokal tönte das Gelächter der anderen Soldaten herüber. Ihr Narren, dachte der Bootsmann, wenn ihr wüßtet. Bernardo sank zusammen und blieb reglos liegen. Moleta beugte sich über ihn. Er nahm das Messer wieder an sich und überzeugte sich davon, daß der Mann auch wirklich tot war. Er hob die Muskete auf, lief zum Ufer und winkte seinen Kerlen zu. Die Piraten hatten sich mit dem Boot weit genug genähert. Sie konnten ihren Anführer erkennen und grinsten sich zu. Moleta gab ihnen durch seine Gebärden zu verstehen, daß alles in Ordnung war. Er hatte den Posten ausgeschaltet. Jetzt konnten sie landen. Die Jolle schob sich auf den Ufersand. Die Kerle sprangen an Land. Moleta übernahm die Führung.
Geduckt liefen sie zu den Lagerschuppen. Das kleine Tor in der Palisade bereitete ihnen keine Schwierigkeiten. Es war nicht verriegelt. Moleta und seine Begleiter drangen in das Proviantlager ein. Sie sogen den Duft von Wurst, Schinken, Rosinen, Wein und Bier gierig ein. „Hier sind wir richtig", murmelte der Bootsmann. „Auf geht's!" Sie begannen mit der Arbeit und beluden sich mit Kisten, Säcken und Fässern. Im Eiltempo brachten sie ihre Last zum Boot. Moleta ließ einen Posten zurück, der das Wachlokal im Auge behielt. Dann pullte er mit seinen Kerlen zur „Bonifacio". Dort wurden sie von den anderen erwartet. „Wie sieht's aus?" zischte Rovigo. Er hatte sich weit über das Schanzkleid der Kühl gebeugt und spähte zur Jolle. Moleta lachte leise. „Gut sieht's aus. Wir haben einen Soldaten erledigt. In den Schuppen gibt es alles, was das Herz begehrt." „Auch was zu saufen?" fragte Cosmas. „Auch das", erwiderte der Bootsmann. „Dann ist ja alles klar", brummte der Kerl. Nun wurde die Fracht der Jolle gelöscht. Die Fässer, Kisten und Säcke schwebten an Tauen in die Höhe. Die Kerle hievten sie an Bord und verstauten sie sofort im Proviantraum der Galeone. Nur wenige Minuten dauerte das Manöver, dann kehrten Moleta und die Bootscrew zum Ufer zurück. Der Bootsmann sprang an Land und lief zu dem Kerl, der als Posten zurückgeblieben war.
„Alles in Ordnung?" flüsterte Moleta. „In Ordnung", erwiderte der Pirat. Tatsächlich hatte sich nichts geändert Bernardo, der Soldat, lag tot im Sand. Aus dem Wachlokal ertönte das Gelächter der Spanier. Keiner von ihnen warf mal einen Blick vor die Tür. Sie fühlten sich völlig sicher. Dazu hatten sie auch allen Grund. Was sollte hier, auf der langweiligen, öden, stumpfsinnigen Isla de Pinos schon passieren? Moleta und die Jollencrew schritten wieder zur Tat. Sie drangen in das Lager ein und holten sich Fässer voll Wein, Säcke mit Mehl und Kisten voll Pökelfleisch. Dauerwürste und Schinken hängten sie sich an den Bändern, mit denen sie gebündelt waren, über die Schultern. So ging es weiter. Völlig unverfroren räumten die Kerle der „Bonifacio" das Lager aus. Immer wieder blickten sie zum Wachlokal. Aber dort war das Gelächter verstummt. Aquino und die anderen Soldaten waren eingeschlafen - eine Folge des Rums, den Aquino verteilt hatte. Moletas Spießgesellen hielten nicht viel von harter Arbeit. Aber in diesem Fall legten sie sich mächtig ins Zeug. Schließlich ging es um ihr persönliches Wohlergehen. Sie träumten bereits davon, wie sie sich in dieser Nacht den Bauch vollschlagen würden. Wein und Rum würden reichlich fließen. Ja, das waren die Dinge, die das Leben wirklich lebenswert machten. Nach dem Proviantlager war das Munitions- und Waffenlager an der Reihe. Moleta und die Kerle waren nicht wählerisch. Sie schleppten Pulverfässer ins Freie, rollten sie durch den Sand und wuchteten sie in
die Boote. Sie rissen Musketen, Tromblons, Pistolen, Säbel und Schiffshauer an sich. Auch in diesem Lager gab es alles, was das Herz begehrte. Die Bande würde in der nächsten Zukunft keine Probleme mehr haben. In genau acht Fahrten brachten sie mit der Jolle alles an Bord der „Bonifacio". Alles lief schneller ab, als von Moleta erwartet. Er war in dieser Nacht sehr zufrieden mit seinen Kerlen. Vielleicht waren sie doch nicht so blöd und so faul, wie es immer den Anschein hatte. Allerdings wurden die Piraten doch beobachtet, aber davon ahnten sie nichts. Sie behielten zwar auch die Kneipe im Auge, wo gezecht und gelärmt wurde, aber es tauchte keine Gestalt in der Nacht auf. Keiner der Kaschemmengäste dachte ans Heimgehen. So schien auch von jener Seite keinerlei Gefahr zu drohen. Nueva Gerona war der richtige Platz - Moletas Idee war hervorragend gewesen. Man konnte hier ungestört alles ausplündern. Die Spanier schliefen mit offenen Augen.
* Maradona hatte sich in die Küche von Caravajos Kneipe gesetzt und verschlang heißhungrig eine einfache Mahlzeit - Brot, Käse, Wurst und ein gekochtes Ei. Mit Rotwein spülte er nach. Er hatte Caravajo dafür zwei Silberlinge in die Hand gedrückt. Der Wein gluckerte aus einem bauchigen Krug in den Becher - eine ganze Gallone. Den Rest, so hatte das Kerlchen beschlossen, würde er mit nach Hause nehmen. Noch ein Schlummertrunk, und er würde wie tot aufs Lager sinken. Was der
nächste Tag dann brachte, war ganz dem Zufall überlassen. Maradona verließ die Pinte durch die Hintertür. Das tat er oft - immer dann, wenn er in der Küche noch ein spätes Mahl verzehrte. Er trottete mit seinem Krug durch die Nacht, steuerte auf seine Hütte zu und warf dabei einen Blick zum Wachlokal und zu den Lagerschuppen. Einen Posten konnte er dieses Mal nicht entdecken. Aber plötzlich sah er zwei, drei Gestalten, die geduckt durch das Dunkel huschten. Sie schienen etwas zu tragen. Diebe, durchzuckte es Maradona. Was kümmerte es ihn? Am besten hielt er sich da heraus. Es war nicht seine Angelegenheit, was geschah. Doch warum hatte der Posten keinen Alarm geschlagen? Hatten die Diebe ihn etwa - abgemurkst? Maradona beschloß, der Sache doch auf den Grund zu gehen. Irgendwie, so fand er, war er es zumindest Aquino und Bernardo schuldig, sich um den Vorfall zu kümmern. Und wenn die Wachtposten nichts bemerkt hatten? Dann war es seine Pflicht und Schuldigkeit, sie zu informieren. Sie würden ihn deswegen sogar belobigen. Das war gut für Maradona, denn es warf ein glänzendes Licht auf ihn und räumte jeden Zweifel aus, daß vielleicht er selbst auf das Proviantlager scharf gewesen sein könnte. Maradona setzte den Weinkrug im Sand ab, schlich zu den Schuppen und verharrte an der Palisade. Vorsichtig spähte er zu dem Eingang des Lagers. Da sah er sie wieder Gestalten, die schwer beladen ins Freie traten und über den Strand zu den Felsen eilten.
Das Kerlchen legte sich flach auf den Boden. Besser so, dachte er. Die Diebe schienen Fremde zu sein. Er hatte sie jedenfalls nie zuvor in Nueva Gerona gesehen. Er zählte sechs, sieben Kerle. Bis an die Zähne waren sie bewaffnet. Wenn sie ihn, Maradona, erwischten, konnte er sein letztes Gebet sprechen. Staunend verfolgte Maradona, wie die Kerle zunächst das Proviantlager plünderten und sich dann mit dem Waffenlager befaßten. Die haben Nerven, dachte er. Und wenn ein Wachtposten auftaucht? Maradonas Augen hatten sich zunehmend an die Finsternis gewöhnt. Jetzt sah er plötzlich auch die reglose Gestalt auf dem Strand. Ein Soldat. Wer war es? Aquino? Nein, der mußte inzwischen abgelöst worden sein. Bernardo, dachte Maradona, ja, es ist Bernardo. War er tot? Es ließ sich nicht feststellen. Bernardo konnte genausogut auch nur bewußtlos sein. Maradona konnte nicht zu ihm kriechen, solange die Diebe am Werk waren. Und er konnte auch nicht zum Wachlokal pirschen. Sie hätten ihn auf jeden Fall entdeckt. Der Kerl, der der Anführer zu sein schien, hatte nämlich einen Aufpasser postiert, der ständig zum Wachlokal hinüberspähte. Maradona überlegte, was er tun sollte. Das Ratsamste schien zu sein, zum Fort zu laufen. Wenn er dort Alarm schlug, waren die Soldaten im Handumdrehen zur Stelle und schossen die Diebe nieder. Es sei denn, die Diebe nahmen mit ihrer Jolle Reißaus.
Wohin? Maradona beobachtete, wie sie mit dem Boot verschwanden und wieder zurückkehrten. Das bedeutete, daß sie ihre jeweilige Fracht auf ein größeres Schiff umluden, das draußen vor Anker lag. Eine Galeone oder eine Karavelle. Plötzlich hatte Maradona eine Idee. Warum nutzte er nicht die Chance? Er konnte sich als blinder Passagier an Bord schleichen. Sie nahmen ihn mit, und er kehrte der verfluchten Isla de Pinos für alle Zeiten den Rücken. Ja, das war ein guter Plan. Oder? War er denn verrückt? Wenn die Kerle ihn an Bord entdeckten, war er geliefert. Dann murksten sie ihn ab und schickten ihn zu den Haien. Maradonas Vorhaben war waghalsig. Und wie sollte er an Bord des Schiffes gelangen? Schwimmen, dachte er. Er war ein recht guter Schwimmer. Das war also kein Problem. Haie? Die gab es nur weiter draußen. Sie drangen nie bis in den Hafen von Nueva Gerona vor, soviel war ihm bekannt. Ein zweiter wichtiger Punkt war, daß die Diebe jede Menge Wein, Bier und Rum an Bord ihres Schiffes beförderten. Das bedeutete mit anderen Worten, daß sie bald sternhagelvoll sein würden. Denn Maradona hatte keinen Zweifel daran, daß sie nach dem erfolgreichen Beutezug sogleich „Kostproben" vornehmen würden. Im betrunkenen Zustand würden sie kaum auf den Gedanken verfallen, ihr Schiff einer gründlichen Inspektion zu unterziehen. Maradona faßte seinen Entschluß. Er kroch zu seinem Weinkrug zurück und leerte ihn mit hastigen Schlucken. Nein, den Wein wollte er auf keinen Fall auf der Insel
zurücklassen. Schließlich hatte er dafür bezahlt, nicht wahr? Es war ihm jetzt völlig egal, was mit Bernardo geschehen war. Und es kümmerte ihn auch nicht, ob die Soldaten auf die Diebe aufmerksam wurden oder nicht. Besser war, wenn der Diebstahl unentdeckt blieb. Somit hatten die Diebe den Fluchtweg frei. Ungehindert entkamen sie - und er, Maradona, segelte mit ihnen fort. Somit wurde er gewissermaßen ihr Komplice. Aber auch das war ihm egal. Wer half ihm denn sonst, diese Hölleninsel zu verlassen? Hatte jemals irgend jemand auch nur einen Finger für ihn gekrümmt? Nein. Jeder dachte nur an sich. Also beging er kein Verbrechen, wenn auch er nur an sich dachte. Maradona schlich zu seiner Hütte. Er raffte seine wenigen Habselig keiten zusammen, entkleidete sich bis auf eine kurze Hose und formte ein Bündel aus seinen Sachen. Er wickelte das Bündel in ein Stück gewachstes Segeltuch ein. Dann pirschte er von der Hütte auf einen Steg und glitt ins Wasser. Schwimmend stieß er das wasserdichte Bündel vor sich her. Bald hatte er sich weit genug vom Ufer entfernt - dort waren jetzt nur noch die Lichter des Forts, des Wachlokals und der Kaschemme zu erkennen. Caravajo, ade, dachte Maradona, von mir kriegst du keinen Silberling mehr. Konturen schälten sich vor Maradona aus der Nacht - die Umrisse eines großen Schiffes. Fast hätte er einen leisen Pfiff der Überraschung ausgestoßen. Eine Dreimastgaleone! Ein prächtiger Kahn, der auch sehr gut armiert zu sein schien. Eigentlich hatte er nicht
erwartet, daß Diebe einen so großen Segler ihr eigen nannten. Maradona glaubte plötzlich zu begreifen. Das sind keine Diebe, dachte er. Das sind Piraten! Die Erkenntnis traf ihn wie ein Hieb. Er bereute seinen Entschluß. Für einen Moment war er versucht, wieder umzukehren. Aber die Galeone stellte eine Versuchung für ihn dar. Warum jetzt noch aufgeben? Die Galeone segelte vielleicht nach Kuba. Lange würde die Überfahrt nicht dauern. Vielleicht konnte er, Maradona, schon am Morgen wieder von Bord gehen. Dann war er ein freier Mann. Er suchte den nächsten Hafen auf, wahrscheinlich Batabano, setzte sich in eine Kneipe und legte ein paar Kerle beim Würfeln herein. Dort kannte ihn ja noch keiner. Keiner würde mißtrauisch sein. Und er würde sehr bald ein wohlhabender Mann sein. Er schwamm also doch weiter. Im Schutz der Dunkelheit gelangte er unter das Heck der „Bonifacio". Von da aus verfolgte er, wie die Jolle eintraf und entladen wurde. Er lauschte dem Gemurmel der Kerle. Spanier, dachte er, aha. Selbst wenn sie ihn entdeckten, würde es wohl gar so arg nicht für ihn ausfallen. Immerhin waren diese Kerle Landsleute. Die Jolle legte wieder ab und glitt zum Ufer zurück. Die Piraten holten eine neue Ladung. Auf der Kühl stand die Crew am Schanzkleid und folgte dem Boot mit dem Blick. Maradona konnte am Ruderblatt hochklettern und die Heckgalerie des Schiffes entern. Von hier aus betrat er die Kapitänskammer. Das Außenschott war nicht verriegelt. Es
ging alles leichter, als er gedacht hatte. Im Innern der Kammer legte Maradona sein nasses Bündel auf die Planken, richtete sich wieder auf und schaute sich um. Donnerwetter, sagte er sich, das ist ja ein toller Kahn. Die Wände waren holzgetäfelt. Alles wirkte teuer und vornehm. Wem mögen sie dieses Schiff abgenom men haben? fragte er sich. Maradona hörte, wie die Kerle auf der Kühl sich unterhielten. Sie schienen sehr guter Laune zu sein. Maradona grinste, durchsuchte die Schapps der Kammer und fand eine Flasche Rum. Die entkorkte er. Er roch an der Öffnung. Ein guter Tropfen, dachte er. Dann trank er. Wenig später verließ er die Kammer, schlich durch das Achterschiff und stieg ein Deck tiefer. Hier stieß er auf einen leeren Raum, in dem er sich in eine Koje packte, die Flasche halb leerte und über seine weiteren Schritte nachdachte. Alles klar, sagte er sich, hier findet mich keiner. Der Rum mundete ihm vorzüglich. Bald war die Flasche leer. Maradona schlief ein. Er schnarchte verhalten. Aber keiner der Piraten hörte ihn.
* Noch vor dem nächsten Wachwechsel kehrten die Piraten, die mit der Jolle die Plünderfahrten unternommen hatten, an Bord der „Bonifacio" zurück. Die letzten Fässer mit Pulver wurden an Bord gehievt und verstaut. Dann enterten auch Moleta und seine Begleiter auf. Die Jolle wurde an Bord geholt und festgelascht. Der Bootsmann gab seine knappen Befehle. Kurz darauf
lichteten die Kerle den Anker, und die Galeone ging in See. Moleta ließ sich nicht lumpen. Sogleich ließ er ein Faß Wein auf die Kühl rollen und stach es an. Er hielt seinen Becher in den Strahl, der aus dem Spundloch schoß. Dann kostete er. Einer der Kerle rammte inzwischen einen Zapfhahn in das Loch. „Der Wein ist gut", sagte Moleta. „Er schmeckt weder nach Schimmel noch nach Essig. Ein feiner Tropfen." „Es lebe Moleta!" rief einer der Kerle. Rovigo stieß ihn mit dem Ellenbogen an. „Halt doch das Maul, du Idiot!" zischte er. „Willst du, daß die Soldaten uns doch noch hören? Womöglich schicken sie uns Schiffe nach." „Ich habe im Hafen keine Schiffe gesehen", erwiderte der Kerl. Er hatte zu der Jollencrew gehört. „Es gibt noch anderes Stützpunkte auf der Isla de Pinos", sagte Rovigo. „Von dort könnten sie Kriegsschiffe anfordern. Ich finde, es ist nur richtig, wenn wir vorsichtig bleiben." „Ich glaube zwar nicht, daß sie Schiffe haben", sagte Moleta. „Aber sonst gebe ich dir recht, Rovigo. Man soll nicht zu übermütig sein. Los, Leute, sauft! Ihr habt euch den Wein verdient." Die Piraten füllten ihre Becher und Mucks und kippten den roten, süffigen Wein herunter. Moleta nahm für kurze Zeit an der Trinkerei teil. Dann begab er sich in seine Kammer. Er wollte ruhen. Die Versorgungsfrage war gelöst. Am nächsten Tag würde ihn die Suche nach della Rocca und dessen Kumpane in Anspruch nehmen. Da wollte er frisch und ausgeruht sein.
In der Kapitänskammer entfachte Moleta eine Öllampe. Die „Bonifacio" war jetzt weit genug von der Insel entfernt. Man würde den schwachen Lichtschein von dort aus nicht mehr sehen können. Moleta wollte sich sofort in seine Koje legen, stutzte dann aber. Da war etwas auf dem Boden - ein Fleck. Moleta untersuchte den Fleck genauer und registrierte, daß es sich um eine Wasserlache handelte. Er runzelte die Stirn. Was hatte das zu bedeuten? Der Bootsmann entdeckte Spuren, die zum achteren Schott führten. Nasse Spuren. Er verfolgte sie bis auf die Heckgalerie. Sein Gesicht war jetzt verzerrt. Er beugte sich über die Balustrade der Galerie und spähte nach unten. Nichts. Aber jemand schien an Bord gestiegen zu sein. Heimlich. Wo steckte er jetzt? Wer war es? Moleta nahm die Öllampe zur Hand. Er verfolgte die Wasserspuren in umgekehrter Richtung und schlich bis auf den Mittelgang des Achterkastells. Nun stellte er fest, daß die Fährte zum nächsten Niedergang verlief. Bevor der Bootsmann nach unten stieg, betrat er die Kühl und winkte seinen Kerlen zu. Sie schauten ihn fragend an. War etwas nicht in Ordnung? Moleta legte den Zeigefinger auf die Lippen und bedeutete den Kerlen auf diese Weise, zu schweigen. Er gab Rovigo und Cosmas ein Zeichen. Flüsternd setzte Moleta ihn auseinander, was er entdeckt hatte. „Ein blinder Passagier?" zischte Rovigo. „Von der Insel?" „Mit Sicherheit", raunte Moleta. „Vielleicht ein entflohener Sträfling", murmelte Cosmas.
Moleta schüttelte den Kopf. „Das glaube ich nicht", flüsterte er. „Ungesehen wäre er aus den Marmorbrüchen nicht entkommen. Die Soldaten wären mit den Hunden hinter ihm hergewesen. Nein, das ist irgend so ein Strolch aus dem Hafen. Der will eine kostenlose Reise rausschinden, vielleicht nach Kuba." Rovigo grinste. „Auf was warten wir?" „Los", entgegnete Moleta. „Wir kaufen uns den Kerl." Zu dritt stiegen sie den Achterdecksniedergang hinunter. Sie konnten das Schnarchen vernehmen, das aus einem der Räume drang. Und da war noch ein anderes Geräusch - eine Art verhaltenes Poltern, als rolle eine leere Flasche über die Planken. Moleta grinste seinen beiden Begleitern zu. Sie nickten. Moleta ging auf das Schott des Raumes zu und trat mit dem Fuß dagegen. Das Schott flog auf und knallte gegen die Wand. Der Bootsmann drang in den Raum ein und richtete seine Pistole auf Maradona, der benommen von der Koje hochfuhr. Cosmas und Rovigo waren ebenfalls in der Kammer. Rovigo hob die leere Flasche auf und roch an der Öffnung. „Rum", sagte er trocken. „Rum vom besten", sagte Moleta. „Aus meinen Beständen." „Moment mal", sagte Maradona rasch. Er war betrunken, wurde aber sehr schnell nüchtern. „Ich kann alles erklären." „Ach?" erwiderte Moleta lauernd. „Na, dann leg mal los, du Bastard. Wer bist du, und was willst du hier?" „Ich bin - ein Landsmann von euch." „Das höre ich", sagte der Bootsmann. Er hakte seinen Daumen
hinter den Gürtel, blickte den Fremden drohend und herausfordernd zugleich an. „Aber ich kann Spanier auf den Tod nicht leiden. Sie stinken mir. Ehrlich, am liebsten wäre ich selber keiner." Cosmas und Rovigo grinsten. Maradona versuchte, ebenfalls zu grinsen, doch es mißlang ihm. „Ich hab' euer Schiff gesehen, als ich die Kneipe verließ", erklärte er mit heiserer Stimme. „Da hab' ich mir gedacht, na, das ist mal eine Chance, von dieser verdammten Isla de Pinos zu verschwinden." Moleta kniff die Augen zusammen. „Unsere Galeone war vom Ufer aus überhaupt nicht zu sehen." „Das stimmt", berichtigte sich das Kerlchen. „Also, das war so. Ich habe euch mit der Jolle gesehen. Da habe ich gefolgert, daß draußen auf der Reede ein Schiff ankern müsse." „Du bist ja ein schlauer Bursche", sagte Rovigo. „Ja, ein richtiger Schnellmerker", fügte Cosmas hämisch hinzu. „Ihr müßt das verstehen", sagte Maradona. „Ich habe auf der Insel ein elendes Dasein geführt. Ich hab's nicht mehr ausgehalten. Aber ich hatte Angst, euch offen zu fragen, ob ihr mich mitnehmt." „So ist das", sagte Moleta gedehnt. „Und was hast du noch alles gesehen?" „Nichts", beeilte sich Maradona zu versichern. „Ich habe nichts gesehen und weiß von nichts." „Klug", urteilte der Bootsmann. „Und sehr vernünftig." „Das finde ich auch", pflichtete Cosmas ihm bei. „Warum nehmen wir ihn nicht bei uns auf?" Maradona begann zu hoffen. Wenn die Kerle ihn in ihre Bande aufnahmen, war alles gerettet. Er
würde so tun, als willige er ein. Bei der erstbesten Gelegenheit, im nächsten Hafen oder auch nur in der Nähe der Südküste von Kuba, empfahl er sich dann. So einfach war das. „Du hast sie ja nicht mehr alle", erwiderte Moleta. Was sollte er mit einem zusätzlichen Esser an Bord anfangen? Nein, das kam überhaupt nicht in Frage. Die Crew war groß genug. Er kannte die Kerle und wußte, wie er sie zu nehmen hatte. Dieser blinde Passagier hingegen war seiner Meinung nach ein Schlitzohr. Leicht konnte er Unruhe und Unfrieden stiften. Außerdem hatte er in Nueva Gerona zuviel gesehen, wie es den Anschein hatte. Maradona rutschte von der Koje und verlegte sich aufs Flehen. „Gib deinem Herzen einen Stoß, Kapitän", sagte er zu Moleta. „Hilf mir. Ich werde deine Erwartungen nicht enttäuschen." „Wie heißt du?" fragte Moleta barsch. „Das hast du mir noch nicht verraten." „Maradona." „Maradona, du bist ein dummer Hund!" zischte der Bootsmann. „Außerdem kann ich blinde Passagiere genausowenig leiden wie Spanier! Am meisten aber hasse ich Kerle, die einfach meinen Rum aussaufen!" „Erbarmen!" jammerte Maradona. „Ich bitte um Vergebung!" Moleta verzog angewidert den Mund und gab Cosmas und Rovigo einen Wink. „Abräumen, den Kerl!" Rovigo und Cosmas packten Maradona und beförderten ihn auf den Gang. Das Kerlchen begann zu zappeln. Rovigo verpaßte ihm eine Maulschelle. Cosmas nahm Maradona vorsichtshalber das
Messer ab, das dieser im Gurt stecken hatte. Auf Moletas Geheiß hin stießen Rovigo und Cosmas Maradona zum Niedergang und schleppten ihn nach oben. Dann dirigierten sie ihn durch die Kapitänskammer auf die Heckgalerie. Moleta war den Männern gefolgt und gab Rovigo ein rasches Zeichen. Rovigo griff zum Messer. Maradona mußte sterben. Er hatte zuviel gesehen. Wenn er durch ein Wunder heil zur Isla de Pinos zurückgelangte und den Soldaten meldete, daß Piraten den einen Posten niedergestochen und das Lager ausgeräumt hatten, konnte es sein, daß bald Kriegsschiffe die Verfolgung der „Bonifacio" aufnahmen. Das mußte verhindert werden. Maradona sah, wie Moleta eine eindeutige Geste beschrieb, und schrie auf. Er packte das Messer, das Cosmas im Hosenbund stecken hatte, und riß es an sich. Er wollte auf Cosmas einstechen, doch Rovigo war schneller. Die Klinge seines Messers blinkte matt im Mondlicht. Maradona stöhnte auf. Es war der letzte Laut, den er von sich gab. Er dachte noch: Ich wäre doch besser in Nueva Gerona geblieben. Dann dachte er nichts mehr. Der Bootsmann grinste verächtlich. „So ein Narr. Los, weg mit ihm!" Rovigo und Cosmas hoben den Toten hoch und schoben ihn über die Balustrade. Sie ließen ihn los Maradona stürzte ins Kielwasser der Galeone und tauchte unter. „Die Haie werden sich freuen", sagte Moleta. Damit wandte er sich ab und kehrte auf die Kühl zurück. Cosmas und Rovigo folgten ihm. Die Kerle auf
dem Hauptdeck blickten ihren Bootsmann fragend an. „Ist was los?" fragte einer von ihnen. „Wir haben einen Schrei gehört." Moleta grinste. „Alles in bester Ordnung. Los, gebt mir noch einen Schluck Wein." Zum selben Zeitpunkt fand in Nueva Gerona der Wachwechsel statt. Der Soldat, der Bernardo ablösen sollte, trat aus dem Wachlokal ins Freie. Er schaute sich um, konnte Bernardo aber nicht entdecken. Er rief nach dem Kameraden, erhielt jedoch keine Antwort. Auch Aquino und die anderen Soldaten kamen nun heraus. Sie schwärmten aus und suchten den verschwundenen Bernardo. Dann war es Aquino, der seinen Freund tot am Strand vorfand. Wenig später entdeckten die Soldaten auch, daß das Proviantund Waffenlager ausgeräumt worden war. Zwei Mann stürmten zum Fort und schlugen Alarm. Kurz darauf war in Nueva Gerona der Teufel los. Daß aber auch Maradona verschwunden war, sollte man erst am Morgen erfahren. Großes Rätselraten herrschte, wer die Mörder und Diebe gewesen sein konnten. Alles mutete wie ein Spuk an. Moleta und dessen Bande waren unbemerkt und ungesehen entkommen. Inzwischen steuerten sie mit der „Bonifacio" auf Grand Cayman zu.
4. Della Rocca war verwirrt und aufgebracht. Seine anfängliche Euphorie war verflogen. Voll Zuversicht und Optimismus hatte er
sein Unternehmen begonnen, jetzt aber sank seine Stimmung auf den Nullpunkt. Er begriff nicht, was hier vor sich ging. Alles war wie verhext. Seine Perlen - sie waren verschwun den. Am Vormittag des 22. Juli waren der Korse und seine fünf Begleiter am Cabo San Antonio gelandet. Hier hatten sie das Perlenversteck, das della Rocca hatte ausheben wollen, bereits geplündert vorgefunden. Unfaßbar - und doch wahr! Della Rocca, Manoel Ribas und die vier anderen Piraten standen vor einem Rätsel. Wer hatte ihnen die Perlen vor der Nase weggeschnappt? Zardo war tot - hatte er einen Komplicen? Wer konnte es sein? Della Rocca, Manoel Ribas und die vier anderen Kerle zogen entmutigt vom Cabo San Antonio ab und setzten ihre Fahrt mit der Zweimastschaluppe fort. Das nächste Ziel des Korsen war Punta Frances an der südwestlichen Landzunge der Isla de Pinos. Bis dorthin waren es an die hundert Seemeilen. Die Piraten mußten gegen den Ostwind aufkreuzen. Am Morgen des 23. Juli meldete der Kerl, der am Bug der Schaluppe den Ausguck innehatte, das Auftauchen der Insel. Della Rocca hatte es nun eilig. Er ankerte dicht unter Land und war als erster auf dem Strand. Doch wieder traf ihn die Überraschung wie ein Hammerschlag: Auch hier war der unheimliche Perlenräuber bereits gewesen. Er hatte ein Loch ausgehoben und wieder zugeschüttet. Spuren im Sand, die Gebeine eines Toten - das waren die Überreste der Schatzsuche. Der Unbekannte - oder die Unbekannten - schien sehr zielstrebig vorgegangen zu sein. Er
hatte die Peilung richtig vorgenommen und keine Probegrabungen durchführen müssen. So hatte er auch diese Perlentruhe gehoben und war damit verschwunden. Er hatte das „Logbuch der Perlen", daran bestand kein Zweifel. Er hatte es auch entschlüsselt und segelte von einem Versteck zum anderen. „Nein!" brüllte della Rocca außer sich vor Wut. „Dieses Schwein! Ich werde ihn köpfen!" „Wen willst du köpfen?" fragte Manoel Ribas. „Ich werde ihn erwischen!" stöhnte der Korse. In ohnmächtigem Zorn ballte er die Hände zu Fäusten. „Wer ist es?" fragte nun auch einer der vier anderen Kerle, die inzwischen näher getreten waren. „Wenn ich das wüßte", sagte Ribas. „Ich würde ihn hetzen - rund um die Welt." „Dieser dreckige Bastard!" schrie della Rocca. Er wurde schier wahnsinnig und tobte auf dem Strand herum. Die Kerle blickten sich untereinander an. Hatte della Rocca jetzt den Verstand verloren? Aber auch sie waren verstört. Selbst Manoel Ribas, der sich sonst am besten von allen in der Gewalt hatte, wirkte erschüttert und ratlos. Die Frage, wer ihnen die Perlen vor der Nase wegstahl, blieb ungeklärt. Es gab nicht einmal Vermutungen, wer es sein könnte. Die Piraten tappten völlig im dunkeln. Nur eines war sicher: ein Unbekannter hatte das Perlenbuch. „Jetzt steht es fest", sagte Ribas. „Unumstößlich." Della Rocca fuhr zu ihm herum und blickte ihn aus unnatürlich geweiteten Augen an. „Was?"
„Daß hier jemand nach Plan vorgeht." „Das sehe ich, das sehe ich!" „Er räumt ein Versteck nach dem anderen aus", sagte der Lotse. „Der Vorfall am Cabo San Antonio hätte ja noch reiner Zufall sein können. Das hier aber ist kein Zufall mehr." Della Rocca wanderte rastlos am Strand auf und ab. Jemand hatte das Logbuch der Perlen. Aber das war noch lange nicht das schlimmste. Dieser Jemand hatte auch einen messerscharfen Verstand. Er konnte lesen, schreiben, rechnen. Es war ihm gelungen, die verschlüsselten Zahlen zu entziffern. Aber wer? Wer? Und welches Versteck plünderte er jetzt gerade aus? Etwa das am Cayo Largo? Es war heiß. Die Kerle wischten sich den Schweiß von der Stirn. Sie fluchten. Was sollte jetzt geschehen? Della Rocca hatte ihnen Reichtum versprochen. Statt dessen, so schien es, gingen sie leer aus. Della Rocca hatte zwar nie vorgehabt, die Kerle an seinem Schatz zu beteiligen. Von Anfang an war er darauf aus gewesen, seine Bande um ihren Anteil zu prellen. Deshalb hatte er sich die fast dreißig Verstecke ausgesucht und dort seine Truhen vergraben. Der einzige von der kleinen Schaluppencrew, der wirklich belohnt werden sollte, war Manoel Ribas. Auf ihn mochte der Korse nicht verzichten. Ribas war ein zu wichtiger Mann für ihn, gescheit und umsichtig. Er kannte sich in der Karibik bestens aus. Auf die vier anderen aber konnte der Korse verzichten. Er hatte vor, sie auszuschalten, sobald er sie nicht mehr brauchte.
Doch jetzt brauchte della Rocca die Crew. Er mußte den unheimlichen Perlenräuber finden. Wie konnte er das am besten anstellen? Wütend und verzweifelt grübelte er nach. Das Denken fiel ihm schwer. Er glühte vor Zorn und Haß. „Was tun wir jetzt?" fragte einer der Kerle. „Hast du einen Vorschlag?" fuhr della Rocca ihn an. „Nein. Darum frage ich ja.“ „Ach, halt doch dein Maul", sagte der Korse wütend. Er schritt wie ein gereizter Tiger auf und ab. Manoel Ribas gab den vier Kerlen ein Zeichen. Es war besser, della Rocca jetzt in Ruhe zu lassen. Erst mußte sich der Korse wieder beruhigen. Dann konnte man vielleicht einigermaßen vernünftig mit ihm reden. Della Rocca blieb plötzlich stehen und blickte seine Kumpane an. „Cayo Largo", sagte er. „Sehen wir dort nach?" erkundigte sich Ribas. „Ja." „Und wenn wir wieder vor einem geplünderten Versteck stehen?" fragte einer der Kerle. „Was ist dann?" „Dann haben wir Pech gehabt!" brüllte der Korse. Fast hätte er sich in einem jähen Wutanfall wieder auf den Boden geworfen, wie er es am Cabo San Antonio getan hatte. Aber er konnte sich wenigstens darin beherrschen. Wütend starrte er seine Kumpane an. „Wir segeln zum Cayo Largo!" stieß er hervor. „Vielleicht können wir den Hundesohn dort noch abfangen!" Della Rocca war derart rasend vor Zorn, daß er nicht mehr nüchtern und sachlich denken konnte - im Gegensatz zu Moleta, der ihm
gegenüber zumindest diesen Vorteil hatte. Denn wenn der unbekannte „Plünderer" und „Perlenräuber" della Rocca immer um eine Nasenlänge voraus war, würde es sich anbieten, ihm den Weg abzuschneiden, und zwar am übernächsten Versteck. Und das lag an der Bucht am Rum Point von Grand Cayman, wie Moleta ganz richtig erkannt hatte. Aber zu logischen Schlüssen reichte es bei della Rocca nicht mehr. Er war zur Zeit geistig sozusagen weggetreten. Nur eines signalisierte sein Hirn: Rache! Er wollte Vergeltung um jeden Preis. Und er wollte seine Perlen. Die würde er dem unheimlichen Halunken schon wieder abjagen! Und wenn er den Kerl erwischte, würde er ihn gleich zweimal kielholen und niedersäbeln! So kehrten die sechs Piraten zu ihrer Zweimastschaluppe zurück. Sie segelten davon und nahmen Kurs auf den Cayo Largo östlich der Isla de Pinos. Im Morgengrauen des 24. Juli erreichten sie das Versteck, das sich an einer westlichen Nordbucht der Insel befand. Della Rocca fiel beim Verlassen der Schaluppe um ein Haar ins Wasser, so aufgeregt war er. Aber auch dieses Unternehmen war nicht vom Erfolg gekrönt. Della Rocca begann bereits zu brüllen, als er die üblichen Fußspuren im Sand entdeckte. Dann blieb er stehen und blickte auf die etwas dunklere Stelle, die sich deutlich vor ihm abhob. Hier war der Sand ausgehoben und umgegraben worden, anschließend hatte man die Grube wieder eingeebnet - der Ordnung halber. Man hätte sie ja auch offen lassen können. Aber der Perlenräuber wollte wohl nicht, daß jemand in die Grube stolperte und sich die Knochen
brach. Dies dachte Ribas, als er hinter seinem Anführer über den Strand schritt. Della Rocca erlitt wieder einen seiner Tobsuchtsanfälle. Er brüllte und fluchte, bis ihm der Schaum vor dem Mund stand. Er stieß die lästerlichsten und gemeinsten Verwünschungen aus, aber es nutzte ihm alles nichts. Auch diese Perlentruhe war spurlos verschwun den. Ribas und die anderen Kerle hoben die Grube natürlich noch einmal aus, um sich Gewißheit zu verschaffen. Aber sie entdeckten nur die Bestätigung. Da lagen die Knochen eines Toten, sonst nichts. Keine Truhe. Wieder gingen sie leer aus. „Leer", sagte einer der Kerle überflüssigerweise. „Wieder zu spät", brummte sein Nebenmann. „Was jetzt?" wollte jener wissen, der schon auf der Isla de Pinos so dumm gefragt hatte. „Wir bohren uns in der Nase", erwiderte Ribas sarkastisch. Er schaufelte die Grube selbst wieder zu. Dann setzte er sich in den Sand. Die anderen folgten seinem Beispiel. Sie sahen zu, wie sich della Rocca nach und nach austobte. Der Korse suchte nach einer Lösung. Immerhin war es möglich, daß bei ihm jetzt die Vernunft einsetzte - indem er auf das vierte Versteck am Rum Point verzichtete und statt dessen das nächstgelegene fünfte Versteck ansteuerte: die Bloody Bay an der Negril Beach auf Jamaika. Dieser Platz befand sich an der Westküste der Insel. Dort hatte della Rocca zumindest eine Chance, seinen unbekannten Gegner abzufangen.
Aber nein. Della Rocca blieb stur wie ein Büffel. „An Bord!" schrie er. „Segel setzen! Wir nehmen Kurs auf Grand Cayman!" Manoel Ribas wollte dem etwas entgegenhalten. Aber es hatte keinen Zweck. Der Korse war außer sich vor Wut. Leicht konnte es passieren, daß er Ribas einfach über den Haufen schoß, wenn dieser einen Gegenvorschlag wagte - nämlich sofort Jamaika anzulaufen. Also ließen die Kerle es bei dem bewenden, was der Korse ihnen befahl. Sie kehrten zurück an Bord der Schaluppe und nahmen Kurs auf Rum Point, Grand Cayman.
* Zwei Schiffe waren zwei Tage zuvor - am Vormittag des 22. Juli 1595 - in die westliche Nordbucht von Cayo Largo gesegelt: die „Isabella IX." und die „Empress of Sea II.". Philip Hasard Killigrew, der Seewolf, ließ die Anker werfen. Kurz darauf pullten acht Männer der „Isabella" mit der Jolle zum Ufer. Hasard führte seinen Trupp selbst an. Bei ihm waren Shane, Ferris Tucker, Dan O'Flynn, Roger Brighton, Blacky, Matt Davies und Stenmark. Sie gingen an Land und verfuhren auf die gleiche Weise, wie sie auch am Cabo San Antonio und auf der Isla de Pinos vorgegangen waren. Dan O'Flynn und Ferris Tucker peilten die Orientierungspunkte an, die im „Logbuch der Perlen" angegeben waren. Am Kreuzungspunkt der sich ergebenden Linien konnte gegraben werden. Big Old Shane, Roger und Matt waren
als erste mit dem Schaufeln an der Reihe. Etwas später lösten Ferris, Blacky und Stenmark sie ab. Blacky war es schließlich, der mit seinem Spaten auf etwas Hartes stieß. „Truhe oder Totenkopf, das ist hier die Frage", sagte er mit dunkler Stimme. Dan mußte unwillkürlich lachen. „Laß das bloß meinen Alten nicht hören, sonst fängt er wieder an zu orakeln." „Bei Leichen soll man entweichen", sagte Shane trocken. „Wenn's sich um Perlen handelt, packt man am besten schnell zu." Die Männer grinsten. Blacky grub weiter und legte den Deckel einer Truhe frei. Die anderen halfen fleißig mit, und kurz darauf waren sie in der Lage, die Truhe aus der Grube auf den Strand zu hieven. Hasard öffnete den Deckel. Die Männer stießen Pfiffe und Erstaunensrufe aus. Auch diese Kiste war bis zum Rand mit Perlen gefüllt und mit was für Perlen! Der Seewolf nahm ein paar Perlen in die Hand. „Beste Qualität", urteilte er. „Della Rocca kennt sich wirklich aus. Er wählt nur das Feinste vom Feinen." „Nicht zu fassen, was der alles zusammengerafft hat", sagte Ferris Tucker. „Aber wir stehen erst am Anfang. Wenn wir sämtliche Perlenverstecke ausgeräumt haben, bringen wir einen immensen Schatz zur Cherokee-Bucht. Ich schätze, unsere Freunde werden ganz schön die Augen aufreißen." „Das ist sicher", sagte Hasard. Er blickte zu Blacky, der inzwischen noch ein wenig weitergegraben hatte. „Was ist los, Blacky? Hast du noch was gefunden?" „Knochen", erwiderte Blacky.
Old O'Flynn, der wie alle Männer an Bord der beiden Schiffe das Geschehen am Ufer verfolgte, hatte bereits ein beruhigtes Lächeln aufgesetzt. „Na also", sagte er. „Hier befindet sich keine Leiche als Zugabe. Das ist ein gutes Zeichen." „Warte mal ab", sagte Martin Correa, der neben ihm stand. „Ich glaube, da tut sich noch was." „Wirklich?" Das Lächeln des Alten zerbröckelte. Er nahm ein Spektiv zu Hilfe, zog es auseinander und spähte hindurch. Jetzt hatte er die acht Männer am Ufer zum Greifen nah vor sich. Interessiert beobachtete er, wie Blacky mit seinem Spaten in der Grube herumstocherte. Dann kullerte etwas über den Sand - ein Totenkopf. Gleich darauf flogen ein paar Knochen hinterher. „Sapperlot!" entfuhr es Old O'Flynn. „Da soll mich doch der Henker holen! Schon wieder eine tote Leiche!" „Ein Skelett", korrigierte ihn Martin Correa. „Noch dazu ein zerfallenes", fügte Hasard junior grinsend hinzu. „Das spielt keine Rolle", sagte der Alte mit verkniffenem Gesicht. „Aber ihr wollt mir ja nicht glauben." „Liegt tief im Sand die tote Leiche, schnell zur Sonne hin entweiche", sagte Philip junior. „Richtig?" „Ja, richtig", erwiderte Old O'Flynn. Aber das ist noch lange nicht alles. Skelett am Morgen, Kummer und Sorgen. Siehst du am Strand ein Gerippe, droht Gefahr für die ganze Sippe. Das gibt noch Ärger, Leute, und was für welchen." „Ach wo", sagte Carberry drüben auf der „Isabella". Er hatte jedes Wort deutlich genug verstanden. „Allenfalls kann uns passieren, daß uns dieser della Rocca mit seinem Schiff
verfolgt. Aber da wird er schon sehen, was er davon hat." „Die Geister werden uns verfolgen", sagte der Alte. „Tote oder lebendige Geister?" rief der Profos. „Du kannst mich mal kreuzweise!" Während an Land die Männer die Truhe bargen und das Sandloch wieder zuschütteten, unternahm der Seewolf mit Dan O'Flynn einen kurzen Inspektionsgang. Hinter der Uferböschung, die von Palmen und Gestrüpp gesäumt war, blickten sie in eine fruchtbare Senke, die von einem schmalen Wasserlauf zerteilt wurde. „Sieh mal einer an", sagte Dan. „Süßwasser. Die Quelle des Baches kann nicht weit entfernt sein." „Das kommt wie gerufen", sagte Hasard. „Wir nehmen die Gelegenheit wahr und füllen unsere Wasserfässer auf." „Wir bunkern?" fragte Dan. „Natürlich", erwiderte der Seewolf. „Wir nehmen uns soviel Zeit, wie wir brauchen. Einen ganzen Tag, wenn es nötig ist." „Und die Piraten?" „Ich weiß schon, was du meinst. Für den Fall, daß sie tatsächlich hinter uns her sind, sichern wir uns entsprechend ab." Kurz darauf brachten die Männer die Perlentruhe mit der Jolle an Bord der „Isabella". Anschließend fand auf dem Quarterdeck der „Isabella" eine kurze Besprechung statt. Die Männer waren sich rasch einig. Die „Empress of Sea" sollte als erste mit Frischwasser versorgt werden. Danach würde sie die Bucht abschirmen, damit die Männer der „Isabella" unbehelligt ihre Fässer füllen konnten. Die Fässer wurden an Land gebracht. Dan O'Flynn entdeckte die
Quelle des Baches sehr bald, sie lag eine halbe Meile im Inneren der Insel. Hier schöpften die Männer das frische, sprudelnde Naß. Danach wurden die Fässer wieder an Bord der Schiffe gemannt - zuerst auf die „Empress", wie sie vereinbart hatten. Einen ganzen Tag dauerte die Pause, die die Männer auf Cayo Largo einlegten. Hasard sah nicht ein, warum er seine Männer wie besessen zur Eile antreiben sollte. Die Arbeit mit den Fässern verlief zügig, aber auch nicht zu hastig. Während die Fässer an Bord der „Isabella" gebracht wurden, versah die „Empress" ihren Dienst als Patrouillenschiff. Sie schirmte die Bucht ab, indem sie westlich der Insel eine Vorpostenposition einnahm. Denn von Westen mußte della Rocca aufkreuzen, falls er seine Verstecke kontrollieren oder ausräumen wollte. Die Arwenacks rechneten die ganze Zeit über mit dieser Möglichkeit. Schließlich waren es Dan O'Flynn und Ferris Tucker gewesen, die sich auf Cozumel heimlich an Bord der „Bonifacio" geschlichen hatten. Sie hatten das Logbuchversteck gesucht und gefunden - in einem Geheimfach am Kopfende der Koje in der Kapitänskammer. Später hatten der Kutscher und die Zwillinge in Zusammenarbeit mit Dan den Kode geknackt, nach dem della Rocca die Positionen seiner Perlenverstecke eingetragen hatte. Dann hatte die Mannen nichts mehr gehalten - sie waren aufgebrochen, um ein Versteck nach dem anderen „auszuräumen". Della Rocca mußte inzwischen das Verschwinden seines sorgsam gehüteten Büchleins sicherlich
bemerkt haben. Wenn er seine Wut ausgetobt hatte, würde er gewiß damit beginnen, die Verstecke eins nach dem anderen abzuklappern. Immerhin konnte möglich sein, daß der „Finder" des Perlenbuches den Schlüssel enträtselte. Die Gefahr bestand. Della Rocca war sich dessen sicherlich bewußt. Daß der Korse seine Horde betrogen hatte und mit fünf Kerlen an Bord der Zweimastschaluppe losgesegelt war, um seine Perlenschätze zu heben, konnten die Männer der „Isabella" und der „Empress" nicht ahnen. Und so hatten sie auch keine Vorstellung davon, daß dreiundzwanzig Kerle unter dem Bootsmann Moleta „auf dem Marsch" waren, um ihrem abtrünnigen Kapitän die Suppe zu versalzen. Hasard und seine Männer gingen nach wie vor von der Voraussetzung aus, daß die Bande eine Einheit war. Und als solche konnten die Kerle den Arwenacks zur Gefahr werden. Es wäre ein Fehler gewesen, sie zu unterschätzen. Ihre Galeone war gut armiert. Stießen sie auf die „Isabella" und die „Empress", dann konnte es ein hartes Gefecht geben. Vorläufig aber tauchte kein Feind auf. Keine Mastspitzen zeigten sich an der Kimm. Den ganzen Tag über und auch während der Nacht blieb alles ruhig. Ohne Aufenthalt und Zwischenfälle transportierten die Männer der „Isabella" die vollen Wasserfässer an Bord ihres Schiffes. Dann suchten sie ihre Kojen auf. Bevor es weiterging, fanden sie in dieser Nacht Zeit, im Schlaf ihre Energien zu erneuern.
*
Am nächsten Morgen, dem Vormittag des 23. Juli, ging es wieder ankerauf. Die „Isabella" und die „Empress" segelten Kurs Süden, Richtung Grand Cayman. Knapp hundertfünfzig Seemeilen lagen vor ihnen - etwas mehr als ein Etmal, also eine Tagesleistung. Doch an diesem Abend sollte es eine herbe Überraschung für die Männer vom Bund der Korsaren geben. Zunächst verlief die Fahrt zügig und ohne Zwischenfälle. Den ganzen Tag über erschien kein anderes Schiff an der Kimm. Die „Isabella" und die „Empress" - so hatte es zumindest den Anschein waren weit und breit die einzigen Segler. In der Nacht vom 23. auf den 24. Juli aber war gewissermaßen „Ende der Fahnenstange". Die Schiffe hatten ungefähr die Hälfte ihrer Route zurückgelegt, da schlug Old O'Flynn auf der „Empress" Alarm. „Was ist los?" rief Hasard hinüber. „Ruderschaden!" erwiderte der Alte wütend. „Verdammter Mist!" „Sag jetzt bloß nicht, daß das die Schuld der toten Leichen ist!" tönte der Profos im Dunkeln. „Ach, kratz mich doch!" versetzte der Alte schroff. „Ich schicke dir Shane und Ferris!" rief der Seewolf. „Sie sollen sich den Schaden ansehen!" „In Ordnung!" rief der Alte ziemlich brummig. Kurz darauf setzten Big Old Shane und Ferris Tucker mit der kleinen Jolle der „Isabella" zur „Empress" über. Der Empfang fiel frostig aus typisch Old O'Flynn. Shane und der rothaarige Schiffszimmermann hielten sich lieber an den Rest der glorreichen Crew.
„Na los", sagte der ehemalige Schmied von Arwenack. „Nun erzählt mal. Laßt euch die Würmer nicht einzeln aus der Nase ziehen. Wie ist das passiert?" „Also, das war so", erwiderte Nils Larsen und räusperte sich. „Das Ganze ist passiert, als ich einmal, um eine Bö abzufangen, hart Ruder gelegt habe. Plötzlich hab' ich gewissermaßen nur noch die Pinne in der Hand gehabt." „Die Pinne ist also abgebrochen?" fragte Ferris. „Abgebrochen, so ein Quatsch", sagte Old O'Flynn. „Wie kann denn so ein gewachsenes Stück Holz brechen? O Mann, was für ein seltener Blödsinn." Nils wies den beiden Männern die Pinne vor. Das Ruderblatt hing an der Pinne. Shane beugte sich außenbords. Ferris war neben ihm. Sie richteten sich wieder auf und drehten sich zu den Mannen der „Empress" um. „Die Fingerlinge sind weggebrochen", erklärte Shane. „Du meine Güte", sagte Nils. „Da haben wir die Bescherung", meinte Martin Correa. „Wie kriegen wir das bloß wieder hin?" „Das laß mal unsere Sorge sein", entgegnete Ferris grinsend. „Ich frage mich bloß, wie das geschehen konnte", sagte Nils. „Ich glaube, das liegt an der Geisterfahrt", erwiderte Martin Correa. „He", sagte Shane. „Fängst du jetzt auch schon mit dem Kram an?" „Der Kram hat was Wahres", sagte Old Donegal dumpf. „Aber ihr wollt mir ja nicht glauben. War es vielleicht keine Geisterfahrt - die Reise meine ich, die unsere ,Empress' ohne Mannschaft oben bei den Cat Cays
westwärts in die Florida-Straße unternahm?" „Ach ja", entsann sich Ferris. „Da ist sie ganz allein auf und davon gegangen." „Ohne ihren Kapitän", fügte Old Shane grinsend hinzu. „Da gibt es nichts zu grinsen, ihr Holzböcke!" zischte der Alte. „Das war höhere Gewalt!" „Jedenfalls war das im Sturm gewesen", sagte Martin Correa. „Und der hat offenbar das Ruderblatt derart gebeutelt, daß durch das harte Schlagen die Fingerlinge nachgegeben haben." „Da ist Materialschwund eingetreten", sagte Shane. „Ganz klarer Fall." „Und wie gedenkt ihr den Schwund zu beheben?" fragte Old O'Flynn. Shane und Ferris hörten gar nicht hin. Ferris erklärte: „Das Ruderblatt ist an drei Fingerlingen aufgehängt. Aber es sind nicht nur die Fingerlinge, die dünner geworden sind, sondern auch die jeweiligen Ösen sind ausgeleiert. Da hat Metall gegen Metall gerieben." „So", sagte der Alte mit galliger Miene. „Wollt ihr uns jetzt vielleicht noch darüber belehren, was Fingerlinge sind?" „Ja", erwiderte Shane mit der freundlichsten Miene der Welt. „Der Fingerling ist ein eiserner Ruderzapfen, der von oben in die Öse des Ruderbeschlages am Achtersteven gesteckt wird, so daß das Ruderblatt frei schwingen kann. Und die drei Fingerlinge sind nun weggebrochen. In Ordnung?" „Da ist gar nichts in Ordnung", sagte der Alte. „Aber du weißt jetzt wenigstens, was ein Fingerling ist", entgegnete
der graubärtige Riese. „Das ist auch was wert." Kurze Zeit darauf pullten Shane und Ferris zur „Isabella" zurück, um Hasard Bericht zu erstatten und mit ihm zu beraten, was geschehen sollte. Wie es um das Ruder der „Empress" bestellt war, hatte Hasard schon aus dem „friedlichen Gespräch" hören können, das an Bord der „Empress" stattgefunden hatte. Jetzt ging es darum, den Schaden so schnell wie möglich zu beheben. „Aufslippen können wir den Kahn ja nicht", sagte Ferris. „Aber wir schaffen das auch so. Mit Bordmitteln." „Dann geht an die Arbeit", sagte der Seewolf.
5. Old O'Flynn trat an das Schanzkleid seines Schiffes, verschränkte demonstrativ die Arme vor der Brust und fragte laut: „Und? Darf man erfahren, was die Beratung ergeben hat?" „Natürlich", erwiderte der Seewolf. „Ich wollte es dir gerade mitteilen, Donegal." „Sehr freundlich." „Ich an deiner Stelle würde ganz friedlich bleiben", sagte der Profos zu dem Alten. „Es ist Pech, was da passiert ist, aber jetzt helfen uns nur Geduld und Spucke weiter." „Was du nicht sagst", höhnte der Alte. „Und mit Spucke pappen wir die Fingerlinge wieder zusammen, was?" „Dich soll doch der Teufel holen", brummte Carberry. „Da meint man es mal gut, und schon wird man angenörgelt."
„Wir haben beschlossen, drei neue und etwas dickere Ruderzapfen zu schmieden", sagte Hasard. „Shane und Ferris werden das besorgen." „Da sehe ich schwarz!" motzte Old O'Flynn. „In einer Stunde ist das Ruder wieder kaputt!" „Donegal, hör mit dem Lästern auf", sagte der Seewolf. „Das reicht jetzt." „Aye, Sir", brummelte der Alte. „Später, wenn wir wieder im Stützpunkt an der Cherokee-Bucht sind, sollten auch die entsprechenden Ösenbeschläge ausgewechselt werden", fuhr Hasard fort. „Aber dazu ist erforderlich, daß die ‚Empress' aufgeslippt wird." „So ist es", sagte Old O'Flynn mit finsterer Miene. „Bis dahin muß das Ruder halten. Aber es sind die Seelen der toten Leichen, die sich dafür an uns rächen, daß wir sie in ihrer Ruhe gestört haben, das schwöre ich euch." „Wie war das?" fragte der Seewolf. „Ich habe das eben nicht richtig verstanden, Donegal." „Ach, schon gut. Ich habe nur laut gedacht." „Shane und Ferris", sagte Hasard. „Ihr könnt jetzt anfangen." „Aye, Sir", sagten die beiden. „Wenn die drei Zapfen fertig sind, muß einer von uns außenbords", erklärte Big Old Shane noch. „Das läßt sich nicht verhindern. Das Bad ist erforderlich, um die beiden unteren Fingerlinge in die Ösen zu treiben, da die unter Wasser liegen." „Das ist mir schon klar", sagte der Seewolf. „Dann drückt uns mal die Daumen, daß die Haie heute nacht schlafen", sagte Ferris grinsend. „Von treibenden toten Leichen ganz zu schweigen", sagte Dan O'Flynn fröhlich.
„Aufhören", stöhnte Carberry. „Ich kann das nicht mehr hören." Bald darauf lagen die „Isabella" und die „Empress" vor Treibanker. Hasard hatte sie miteinander längsseits vertäuen lassen. Nun ging es an die Arbeit. Als erstes mußte der neue Durchmesser der Ösen genau festgestellt werden. Shane nahm seine Messungen vor. Dann ging es an das Schmieden der Fingerlinge. Dies geschah an Bord der „Isabella". Shane heizte kräftig das Feuer an, packte einen Fingerling mit der Zange und hielt ihn in die Glut. Als das Stück Eisen rot glühte, legte Shane es auf den Amboß, hielt es weiter mit der Zange fest und bearbeitete es mit dem Hammer. Die anderen Männer schauten ihm dabei zu. Es war immer wieder erstaunlich, wie geschickt der Riese mit seinem Handwerkszeug umzugehen verstand. Bald war der nächste Zapfen an der Reihe. Natürlich dauerte der Vorgang seine Zeit. Man durfte die Ruhe dabei nicht verlieren. Doch ein Mann mit etwas schwachen Nerven konnte sehr leicht in Rage geraten, wenn er den Kommentaren Gehör schenkte, die Old Donegal Daniel O'Flynn von sich gab. „Geht das nicht schneller?" fragte der Alte herausfordernd. „Ich habe das schon fixer gesehen." „Dann komm doch rüber!" rief Ferris ihm zu. „Bitte", sagte Shane. „Ich überlasse dir gern meinen Platz." „Hab' ich gesagt, daß ich ein Hufschmied bin?" tönte Old O'Flynn. Big Old Shane ließ den Hammer auf den zweiten Zapfen knallen, dann schaute er sich an Deck um.
„Das hat keiner behauptet", erwiderte er. „Und überhaupt, ich kann hier keinen einzigen Hufschmied entdecken." Er blickte zu den grinsenden Kameraden. „Ihr vielleicht?" fragte er. „Nein", antwortete Blacky. „So was haben wir hier nicht. Es gibt ja auch keine Pferde. Ist ja logisch, nicht?" „Wir haben aber einen Leichenbeschauer", sagte Carberry und deutete zu dem alten O'Flynn. „Da drüben steht er." „Wie nennst du mich?" schrie der Alte. „Da hört sich aber alles auf!" „Donegal!" stieß der Profos hervor. „Wie wär's, wenn du deine große Klappe endlich mal halten würdest?" „Den Teufel werde ich tun!" „Geh lieber in die Pantry und glucker einen", empfahl Ferris Tucker. „Das ist besser." „Du hast mir auch gerade vorzuschreiben, was ich zu tun habe, du alter Bohrwurm!" rief Old Donegal. „Achtung!" schrie Carberry. „Da treibt eine tote Leiche!" Unwillkürlich warf Old O'Flynn einen Blick außenbords. Aber da war nur das dunkle Wasser, keine treibende Leiche war zu entdecken. Wütend sah der Alte wieder zum Profos - und der lachte donnernd. Old Donegal schüttelte die Fäuste. „Ihr wollt mich auch noch verhöhnen, was? Aber das könnt ihr mit mir nicht tun! Da müßt ihr früher aufstehen, ihr Schlafmützen! So langsam, wie ihr die Fingerlinge zusammenhämmert, so langsam seid ihr auch im Denken!" Ferris Tucker trat ans Schanzkleid der „Isabella" und fixierte den Alten. „Jetzt reicht's mir aber! Wenn du jetzt nicht still bist, Donegal, vernagele ich dir deine Kotterschnauze mit ein paar glühenden Ruderzapfen, klar?"
Big Old Shane tauchte gerade den glühenden Fingerling in das Wasserbecken, das neben dem Amboß bereitstand. Ein lautes Zischen ertönte. Weißer Dampf quoll hoch. Das Gesicht des bärtigen Riesen wirkte im rötlichen Licht der Flammen gespenstisch. Old O'Flynn zog es vor, zu schweigen. Er biß sich auf die Unterlippe. Vielleicht war er zu weit gegangen. Ferris und Shane wirkten sehr entschlossen, was die soeben von Ferris ausgesprochene Drohung betraf. So suchte der alte Zausel denn tatsächlich die Pantry der „Empress of Sea II." auf, entkorkte eine Flasche und gönnte sich einen ordentlichen Schluck. Er fluchte und brummelte eine Weile herum, dann raffte er sich zu einem heroischen Entschluß auf. Er nahm noch eine zweite Flasche aus dem Schapp und kehrte auf die Kühl der „Empress" zurück. Die bereits angebrochene Flasche ließ er unter seinen Mannen kreisen. Die andere warf er zur „Isabella" hinüber. „Friedensangebot!" rief er. Ferris Tucker fing die Flasche geschickt auf. „Angenommen!" rief er zurück. Er drehte sich zu seinen Kameraden um. „Kerls, Donegal stiftet eine Extraration Schnaps!" „Es lebe Old Donegal!“ johlten die Männer. Old O'Flynn grinste sich eins. Verrückte Kerle, dachte er. Aber insgeheim war er mächtig stolz auf die Bande. Natürlich sprach er das nicht laut aus. Am Ende bilden die Kerle sich noch was darauf ein. Die Arbeit ging voran. Bald waren die drei Zapfen für das Ruder der „Empress" fertig. Ferris Tucker unternahm selbst das Tauchmanöver und trieb die beiden unteren
Fingerlinge in die Ösen am Achtersteven. Die guten Wünsche und Ratschläge der Kameraden begleiteten ihn. Carberry warnte den rothaarigen Riesen grinsend vor beißenden Haien und Wasserleichen. Ganz perfekt waren die Zapfen noch nicht. Sie mußten erneut bearbeitet werden. Ferris kletterte an Bord der „Empress" und reichte die Fingerlinge weiter. Martin Correa nahm sie entgegen und warf sie Dan O'Flynn an Bord der „Isabella" zu. Dan händigte sie Shane aus, und der setzte wieder seine Bordschmiede in Betrieb. So ging es weiter - fast die ganze Nacht über. Um vier Uhr ordnete Hasard jedoch eine Freiwache an. Die Männer legten sich schlafen. „Um acht Uhr machen wir weiter", sagte der Seewolf. Dann suchte auch er die Kapitänskammer der „Isabella" auf. Blacky, Stenmark, Jeff Bowie und Higgy blieben als Deckswachen an Oberdeck zurück. Auf der „Empress" hielt Martin Correa Wache. Die Männer waren auf der Hut, sie dachten an della Rocca und dessen „Bonifacio". Aber es geschah nichts. Die Nacht blieb ruhig.
* An Bord der „Bonifacio" brach in dieser Nacht Streit aus. Nach dem gelungenen Überfall auf das Proviant- und Waffenlager von Nueva Gerona hätten die Kerle eigentlich zufrieden sein müssen, zumal Moleta großzügig ein Faß Wein spendiert hatte. Aber zwei Piraten schien der Rebensaft zu Kopf gestiegen zu sein. Sie verließen das Logis, traten auf die Kühl und pöbelten einen der
sechs Kerle an, die zu dieser Zeit ihren Decksdienst versahen. Der Kerl grinste, als er die beiden auf sich zuwanken sah. „He", sagte er. „Was wollt ihr denn hier? Ist euch schlecht?" „Quatsch", erwiderte der eine, ein schwarzhaariger Krauskopf. „Aber vielleicht mußt du ja gleich kotzen." Das Grinsen des anderen erstarb. „Werd' bloß nicht frech." „Wir nehmen jetzt 'ne Kursänderung vor", sagte der zweite Betrunkene, ein etwas untersetzter, mittelgroßer Andalusier. „Spinnst du?" fragte der Decksmann verblüfft. Rovigo, der am Ruder stand, rief: „Was ist denn da vorn los?" „Wir woll'n nach Kuba!" brüllte der Schwarzhaarige. „Wir haben die Schnauze voll!" „Wir mustern ab!" schrie der Andalusier. „Zur Hölle mit della Rocca und seinen Scheißperlen!" stieß der Schwarzhaarige hervor. „Davon sehen wir sowieso nichts mehr! Der ganze Plunder ist zum Teufel!" „Haut ab!" brüllte Rovigo. „Verkriecht euch, ihr Ratten, oder es gibt Zunder!" Moleta wurde von dem Geschrei geweckt. Er glitt aus der Koje, streifte sich seine Hosen über und eilte barfuß an Deck. Als er das Achterdecksschott öffnete, sah er, wie die beiden Streithähne auf den Backbordniedergang zumarschierten, der zum Achterdeck hochführte. Rovigo war direkt über Moleta. Er hatte das Ruder festgelascht und wandte sich jetzt den Kerlen zu. „Ihr seid wohl übergeschnappt, was?" schrie er sie an. „Kurs auf Kuba!" brüllte der Schwarzhaarige.
„Scheiß auf die Perlen!" röhrte der Andalusier. Moleta handelte blitzschnell. Er war mit einem einzigen Satz bei den beiden Kerlen und griff sich den Andalusier. Der Andalusier sah den Bootsmann erst im letzten Moment. Er fuhr herum und stieß einen Laut der Überraschung aus. Da flogen bereits Moletas Fäuste. Stöhnend sank der Andalusier auf die Planken. Moleta verpaßte ihm noch einen Fußtritt gegen den Kopf, und der Kerl verlor das Bewußtsein. Rovigo war am Niedergang und trat dem Schwarzhaarigen, der zu ihm hochstürmte, mit voller Wucht gegen die Brust. Der Schwarzhaarige verlor fluchend das Gleichgewicht, kippte hintenüber und polterte die Stufen des Niederganges hinunter bis auf die Planken. Er rollte Moleta genau vor die Füße. „Kuba, wie?" höhnte Moleta, zerrte den Schwarzhaarigen zu sich hoch und verpaßte ihm ein paar brettharte Hiebe. Dem Schwarzhaarigen erging es wie dem Andalusier. Er brach zusammen und streckte alle viere von sich. Inzwischen war es auch im Logis lebendig geworden. Die Kerle näherten sich mit trappelnden Schritten. Sie rissen die Vordecksschotts auf und blickten verdattert auf die beiden Ohnmächtigen. Moleta stand mit gespreizten Beinen auf der Kühl und stemmte die Fäuste in die Seiten. „Hat noch jemand Lust zum Meutern?" fragte er herausfordernd. „Was ist denn passiert?" wollte Cosmas wissen. Rovigo sagte es ihm und den anderen. Die Kerle murmelten durcheinander. Dann holten vier von
ihnen den Schwarzhaarigen und den Andalusier und schleppten sie nach unten. „Wenn so was noch mal passiert, kriegen die Haie was zu futtern", sagte Moleta grimmig. Damit war für ihn der Fall erledigt. Er hatte sich sehr wohl überlegt, ob er ein Exempel statuieren sollte. Aber erstens waren die beiden Piraten betrunken, und zweitens war es taktisch nicht klug, sie wegen ihres Ungehorsams abzuservieren. Moleta brauchte jeden Kerl, um die „Bonifacio" zu manövrieren - und auch, um für einen Kampf gegen della Rocca gerüstet zu sein. Im übrigen sollte die Bande hinter ihm stehen. Er wollte sie nicht gegen sich aufbringen. Der Schwarzhaarige und der Andalusier schienen aber noch nicht genug zu haben. Kaum hatten sie im Logis das Bewußtsein wiedererlangt, fingen sie erneut an zu lärmen. „Schweinerei!" fluchte der Schwarzhaarige. „Moleta ist ein Sauhund! Er hat uns zusammen geschlagen!" „Er ist schlimmer als della Rocca!" zischte der Andalusien „Zur Hölle mit ihm!" wetterte der Schwarzhaarige. Ein dritter Pirat meldete sich zu Wort. „Warum reißen wir nicht selbst das Kommando an uns? Dann können wir tun und lassen, was wir wollen." Cosmas protestierte. „Ihr seid ja total behämmert, ihr Affen! Wir brauchen einen Anführer! Moleta ist der richtige Mann!" „Jawohl!" pflichtete ihm ein anderer bei. „Und ihr Narren könnt noch froh sein, daß er euch nicht über die Klinge springen läßt!"
„Della Rocca hätte das längst getan!" rief ein dicker Kerl. „Ihr feigen Säcke!" brüllte der Andalusien „Ihr habt wohl Angst, was?" Cosmas rückte auf ihn zu und rammte ihm die Faust unters Kinn. Der Andalusier prallte gegen das Schott und wankte. „Mich nennt keiner ungestraft einen Feigling!" stieß Cosmas grollend hervor. Ein Wort ergab das andere. Im Nu herrschte Wuhling im Logis, und die Kerle gingen aufeinander los. Das Durcheinander entwickelte sich zu einer handfesten Schlägerei, und am Ende lagen die beiden Streithähne und der dritte, der ihnen recht gegeben hatte, mit verbeulten und verschrammten Köpfen und Leibern auf den Planken. Moleta erschien selbst, um nach dem Rechten zu sehen. „Na, was ist denn hier los?" fragte er lauernd, als er das Logis betrat. Cosmas hob abwehrend die Hände. „Alles in bester Ordnung." „Keine Meuterei?" „Nein. Du bist unser Kapitän, Moleta." Der Bootsmann deutete auf die drei Bewußtlosen. „Und was ist mit denen?" „Ach, die sind gestolpert", erwiderte der Dicke. „Im Dunkeln fällt man ja leicht mal hin. Außerdem sind sie besoffen." „Es gibt also keine Probleme", sagte Moleta. „Keine", antwortete Cosmas. „Wir jagen della Rocca und holen uns seine Perlen", sagte der Bootsmann. „Jawohl!" riefen die Kerle. Moleta suchte die Kapitänskammer auf. Er konnte beruhigt sein. Die
Kerle hielten zu ihm. Und sie hatten den Aufsässigen selbst eine Lektion erteilt. Das war das beste Mittel. Die Hunde würden nicht mehr wagen, aufzumucken. Wenn man erst auf Grand Cayman war und della Rocca und dessen fünf Kumpane tatsächlich erwischte, würden die Bastarde noch heilfroh sein, daß sie bei Moleta und der Bande geblieben waren.
* Am Abend des 24. Juli war der Ruderschaden der „Empress of Sea II" behoben. Old O'Flynn war froh. Er bedankte sich sogar bei Ferris und Shane. Sie schüttelten sich die Hände und grinsten sich an. „Das habt ihr gut hingekriegt, Freunde", sagte der Alte. „Jetzt können wir endlich weitersegeln." „He, Donegal!" rief Carberry. „Paß auf, daß dir die vorbeischwimmenden Wasserleichen das Ruder nicht wieder abbeißen!" Der Alte stöhnte auf. „Da habe ich mir was Feines eingebrockt." „Geduld", erwiderte Big Old Shane lachend. „Ed wird das mit den Leichen schon wieder vergessen." Kurze Zeit darauf wurden die Treibanker gelichtet und die Vertäuungen der Schiffe gelöst. Die Crews setzten die Segel - es ging weiter südwärts. Die Nacht verstrich ohne Zwischenfälle. Die Fingerlinge und Ösen am Ruder der „Empress" bestanden jede Belastungsprobe. Old O'Flynn und seine Mannen konnten wirklich beruhigt sein. Den Stützpunkt an der Cherokee-Bucht erreichten sie allemal. Sie brauchten sich nicht zu sorgen.
Am Morgen des 25. Juli stand Gary Andrews als Ausguck im Großmars der „Isabella". Er war es, der gegen neun Uhr eine Entdeckung meldete. „Deck!" rief er. „Mastspitzen Steuerbord achteraus!" Die Männer richteten ihr Augenmerk auf die nördliche Kimm. Dan O'Flynn enterte auf Hasards Anweisung hin zu Gary in den Großmars auf und hielt mit dem Kieker Ausschau nach den weit achteraus befindlichen Mastspitzen. „Eine Dreimastgaleone", stellte er fest. „Welchen Kurs segelt sie?" wollte der Seewolf wissen. „Sie scheint in etwa auf gleichem Kurs wie wir zu liegen", erwiderte Dan nach einem neuerlichen Blick durch den Kieker. „Anluven!" befahl Hasard. Old O'Flynn folgte sofort seinem Beispiel. Die „Isabella" und die „Empress" gingen höher an den aus Osten wehenden Wind. Ihr Kurs lag nun auf Südosten an. „So weichen wir der Galeone aus", sagte der Seewolf. „Und wir vermeiden eine weitere Annäherung." „Hast du eine Ahnung, um was für ein Schiff es sich handelt?" fragte Ben Brighton. Hasard schüttelte den Kopf. Er schaute zu Dan und Gary auf. „Könnt ihr sehen, welches Schiff es ist?" fragte er. „Nein", entgegnete Dan. „Es könnte die ‚Bonifacio' sein", sagte der Seewolf zu seinen Männern. „Wir müssen auf jeden Fall damit rechnen." „Und wenn sie's ist, könnte es durchaus angehen, daß della Rocca uns ebenfalls entdeckt hat und die Verfolgung aufnimmt", sagte Ben.
„Mal abwarten", sagte Hasard. „Wir werden ja sehen, wie die Besatzung der Galeone sich verhält. Danach richten wir unsere Taktik ein." Nachdem die „Isabella" und die „Empress" jedoch die Kursänderung vorgenommen hatten, geriet das andere Schiff allmählich wieder außer Sicht. „Der Pott scheint auch langsamer als wir zu sein", sagte Shane. „Ja", pflichtete Hasard ihm bei. „Er hat nur aufgeholt, weil wir bis gestern abend mit dem Ruder der ‚Empress' beschäftigt waren." Vorsicht schien aber auf jeden Fall ratsam zu sein. Am späten Nachmittag dieses Tages erreichten die „Isabella" und die „Empress" Grand Cayman. Hasard verzichtete darauf, Rum Point sofort direkt anzusteuern. Erst wollte er Gewißheit haben, was es mit dem fremden Dreimaster auf sich hatte. So liefen die Schiffe des Bundes der Korsaren eine südlichere Bucht der Insel an. Es handelte sich um eine versteckte Bucht an der westlichen Landzunge oder Halbinsel -, die am Rum Point auslief. Diese Halbinsel bildete an ihrem nördlichen Ende drei fingerartige, nach Westen umgekrümmte Landzungen und somit jeweils drei Buchten. An der nördlichsten Bucht so wußten die Männer durch das „Logbuch der Perlen" - befand sich das Perlenversteck. Als die beiden Schiffe an dieser Bucht vorbeisegelten, war sie noch leer. Aber das kann schnell anders werden, dachte der Seewolf. Die „Isabella" und die „Empress" passierten auch die zweite, mittlere Bucht. „Ebenfalls leer", brummte Ferris Tucker. „Viel los ist hier ja nicht.
Vielleicht war die Galeone, die wir sichteten, auch bloß irgendein spanischer Handelsfahrer." „Allein?" fragte Shane. „Das halte ich für ziemlich ausgeschlossen. Die segeln doch meistens im Geleit." „Oder es war doch ein Piratenschiff", sagte Ferris. „Aber nicht die ‚Bonifacio'." „Auch das ist möglich", entgegnete der Seewolf. „Wir wollen mal sehen, was sich weiter ergibt." Kurze Zeit darauf gingen die Schiffe in der letzten, südlichen Bucht vor Anker. Hasard ließ Old O'Flynn zu sich an Bord kommen, und sie beratschlagten, wie sie sich verhalten sollten. „Wir könnten gleich mit einem Trupp zum Schatzversteck pirschen", sagte der Alte. „Aber es wird bald dunkel." „Warten wir lieber bis morgen früh", sagte Hasard. „Dann sollten wir die Bucht und Rum Point aber wenigstens beobachten", empfahl Ben Brighton. „Das tun wir auch", sagte der Seewolf. „Ich halte es für das beste, einen Einzelposten loszuschicken. Batuti - er ist bei Nacht der geeignete Mann." Der schwarze Herkules aus Gambia grinste, als er wenig später den Befehl entgegennahm. „Mich sieht im Dunkeln keiner", sagte er. „Nicht mal meine Augen sieht man, wenn ich sie schließe." Dan lachte. „Die sollst du aber offenhalten." „Das tu' ich auch", versicherte der Gambia-Mann treuherzig. „Batuti kriegt alles mit, was sich tut, keine Sorge." Etwas später brach er auf. Jack Finnegan und Paddy Rogers brachten ihn mit der kleinen Jolle der
„Isabella" an Land. Batuti sprang auf den Strand, winkte den Freunden noch einmal zu und verschwand zwischen den Dünen. Die Dunkelheit warf ihre Schatten. Es würde bald dunkel werden. Was brachte die nächste Nacht an Ereignissen? Hasard hatte die dumpfe Ahnung, daß einiges geschehen würde auf Grand Cayman. Er war ziemlich sicher, daß es sich bei der fremden Galeone um die „Bonifacio" des della Rocca gehandelt hatte.
6. Batuti wanderte durch die Dünen. Immer wieder blickte er sich nach allen Seiten um. Grand Cayman mochte noch so menschenleer und verlassen wirken - überall konnte jemand im Hinterhalt liegen oder eine Falle drohen. Der Sand war heiß, von der Sonne den Tag über aufgewärmt. In der Nacht würde er allmählich abkühlen. Der Gambia-Mann fühlte sich an seine Heimat erinnert. Dort war der Strand im Sommer so heiß, daß er wie ein Teppich glühender Kohlen wirkte. Man konnte barfuß nicht darauf gehen, es sei denn, man hatte eine starke Hornhaut an den Fußsohlen. Batuti hatte diese Hornhaut. Ihm konnten weder Hitze noch Kälte etwas anhaben. Er war abgehärtet. Er konnte stundenlang in der Sonne marschieren, ohne zu ermüden. Nachts wußte er sich vor den Unbilden der Witterung zu schützen. Er war ein Naturmensch und daher imstande, unter extrem schlechten Bedingungen zu überleben, wo andere Männer verhungerten,
verdursteten oder an Krankheit starben. Als Waffen trug Batuti an diesem Abend seinen Langbogen aus englischer Eibe, einen Köcher mit Pfeilen sowie einen Schiffshauer bei sich. Auf Schußwaffen hatte er absichtlich verzichtet. Was immer auch geschah, während er als Posten unterwegs war - er durfte keine Geräusche verursachen. Wurde er angegriffen, durfte er nicht schießen, sondern mußte sich mit Pfeil und Bogen und der blanken Klinge verteidigen. Auch durfte er keine Schüsse als Signale für die Kameraden an Bord der Schiffe abgeben. Jedes Krachen einer Muskete oder einer Pistole würde verräterisch sein, wenn die Piraten tatsächlich nach Rum Point segelten. Aus diesem Grund hatte der Gambia-Mann seine Muskete und seine Pistole auf der „Isabella" zurückgelassen. Sie hätten ihn jetzt nur behindert. Hasard schien überzeugt zu sein, daß es sich bei dem fremden Schiff, das sie am Morgen gesichtet hatten, um die „Bonifacio" des Korsen handelte. Demzufolge war della Rocca nach dem Verlust seines Perlenbuches tatsächlich aufgebrochen, um seine Verstecke zu kontrollieren. Legte man diese logischen Erwägungen zugrunde, dann ergab sich zwangsläufig der Schluß: früher oder später mußten die Piraten von Cozumel hier aufkreuzen. Dann mußten die Arwenacks den Kerlen einen gebührenden Empfang bereiten. Oder aber sie schnappten della Rocca die Perlentruhe wieder vor der Nase weg. Aus einem Versteck würden sie beobachten
können, wie er sich grün und schwarz ärgerte. Batuti lachte leise. Della Rocca konnte ja nicht ahnen, daß sie ihm seit Kuba auf den Fersen saßen. Der sterbende Pirat aus seiner Crew hatte Hasard und seinen Freunden alles verraten, was sie wissen wollten. Perlen-Wolf - so wurde della Rocca von seinen Kerlen genannt. Perlen-Hai wäre aber der bessere und treffendere Ausdruck gewesen. Der Korse war wie besessen von seiner Perlengier. Er raffte und raffte und verbarg seine Schätze an Plätzen, die er für absolut sicher hielt. Ab und an grub er die eine oder andere Truhe wieder aus, wenn er Mittel brauchte, um Nachschub für seinen Schlupfwinkel einzukaufen. Eben das hatte della Rocca auf Kuba vorgehabt. Er hatte mit den Perlen, die er westlich von Havanna hob, in Havanna bei Gonzalo Bastida alles einkaufen wollen, was das Herz begehrte - Wein, Bier, Rum, Pulver und Eßwaren. Aber Bastida war tot. Nach einem wüsten Aufstand, bei dem die Residenz belagert worden war, hatte man die Rädelsführer kurzerhand aufgehängt, weithin sichtbar für alle anderen Halunken, die in Havanna gemordet, geplündert und gebrandschatzt hatten. So hatten die Ratten die Stadt wieder verlassen - und die Soldaten veranstalteten in Havanna Jagd auf jeden Strolch und Galgenstrick. Della Rocca hatte dies von einem der Soldaten, die er bei Havanna überfallen hatte, erfahren, ehe dieser sein Leben ausgehaucht hatte. Also hatte der Korse die Stadt und den Hafen meiden müssen. Unverrichte ter Dinge waren die Piraten wieder davongesegelt - gefolgt von der „Isabella" und der „Empress".
Die „Golden Hen" und die „Le Griffon" waren noch in der Bucht bei Havanna zurückgeblieben. Ribault und Bayeux sollten so lange die Lage peilen, bis sie sicher sein konnten, daß Arne von Manteuffel, Jörgen Brunn, Jussuf und Isabella Fuentes in der Faktorei keine Gefahr mehr drohte. Danach, so lautete die Order des Seewolfes, sollten sie mit den Schiffen zum Stützpunkt an der Cherokee-Bucht zurückkehren. Della Rocca hatte sich mit seinen Kerlen zum Schlupfwinkel auf Cozumel zurückbegeben. Dort hatten die Arwenacks ihm dann einen Streich gespielt: Hasard hatte ein Buschfeuer legen lassen. Die Kerle waren wie von Sinnen gewesen - um ein Haar hätte der Brand auf ihre Hütten an der Bucht übergegriffen. So hatten sie das Feuer löschen müssen. Eine harte Arbeit. Viel lieber wären sie getürmt, aber della Rocca hatte sie mit seiner Peitsche angetrieben. Da hatten sie parieren müssen. Während des Brandes auf Cozumel hatten Ferris Tucker und Dan O'Flynn der „Bonifacio" heimlich einen Besuch abgestattet. Der Ankerwächter hatte nur Augen für das Feuer gehabt. Dan und Ferris hatten ungestört arbeiten können. Sie waren in die Kapitänskammer eingedrungen und hatten alles durchsucht. Ferris als alter, ausgefuchster Schiffszimmermann hatte schließlich das Geheimfach hinter der Wandvertäfelung entdeckt. Und in diesem Fach hatten die beiden das „Logbuch der Perlen" gefunden. Der Rest war kein Kinderspiel gewesen, aber Dan, dem Kutscher und den Zwillingen war es schließlich
doch gelungen, die Zahlengruppen in dem Perlenbuch zu entziffern. Batuti mußte wieder grinsen, als er daran dachte. Was mußte dieser della Rocca für ein Gesicht gemacht haben, als er das Geheimfach leer vorgefunden hatte! Der GambiaMann konnte es sich vorstellen. Der Korse verstand die Welt nicht mehr. Bis er keine plausible Erklärung für das Verschwinden seines so sorgsam gehüteten Buches gefunden hatte, geriet er sicherlich an den Rand des Wahnsinns. Im Verblassen des Tageslichtes erreichte Batuti einen erhöht liegenden Platz, von dem aus er Rum Point und die Bucht genau im Blickfeld hatte. Zwischen Büschen ließ er sich nieder und richtete sich auf eine längere Wartezeit ein. Vielleicht geschah auch gar nichts. Jedenfalls würde er bis Mitternacht Wache schieben. Dann wollte Hasard ihn ablösen lassen. Batutis Blick glitt über den Strand. Nichts erregte seine Aufmerksamkeit. Er sah weiter nach links und beobachtete auch das Innere der Insel. Der Dschungel war wie eine tief grüne Mauer und wirkte verfilzt und undurchdringlich. Ein paar Vögel flatterten in der Dämmerung auf. Zikaden zirpten. Sonst tat sich nichts. Grand Cayman war, so betrachtet, ein idyllisches Plätzchen Erde. Die Insel mutete wie das Paradies schlechthin an. Die Arwenacks waren nicht zum ersten Mal hier. Sie kannten sich recht gut aus. Vielleicht wäre Grand Cayman sogar ein recht brauchbarer Schlupfwinkel gewesen für den Bund der Korsaren. Nur hatte das Eiland einen wesentlichen Nachteil. Es war zu klein. Hier gab es nicht genug Platz. Drüben, auf den Bahamas, waren die Verhältnisse
besser. Und auch das Nahrungsproblem konnte wesentlich vorteilhafter gelöst werden. Batuti sann darüber nach. Ja, alles in allem gesehen hatte der Seewolf den neuen Stützpunkt richtig ausgewählt. Besser als an der Cherokee-Bucht hätte man es nicht treffen können. Und was die Beobachtung der Geleitzüge betraf, die mit ihren Goldund Silberladungen durch die FloridaStraße segelten, so war Great Abaco strategisch hundertmal besser als die Schlangen-Insel. Doch Wehmut packte den GambiaMann, wenn er an die SchlangenInsel zurückdachte. So ging es ihm immer, wenn er sich der Tage erinnerte, in denen sie mit Arkana, den Schlangen-Kriegern und den Timucuas zusammengewesen waren. Aber dann waren die Schlangen-Insel und Coral Island wie ein Spuk versunken. Es hatte lange gedauert, bis die Männer des Bundes den Verlust der treuen Freunde überwunden hatten. Jetzt hatten sie diesen Teil ihrer Vergangenheit bewältigt. Aber es versetzte ihnen immer wieder einen Stich, wenn sie sich des ehemaligen Stützpunktes entsannen. Nicht nur Batuti, auch den anderen ging es so. Batuti wurde in seinen Überlegungen unterbrochen. Er kniff die Augen zusammen und spähte über die Bucht auf die See. War da nicht etwas? Doch - richtig, er hatte sich nicht getäuscht. Ein Schiff näherte sich Grand Cayman. Eine Galeone mit drei Masten. Im Büchsenlicht konnte der GambiaMann ihre Umrisse noch deutlich genug erkennen. Kein Zweifel, die Galeone nahm Kurs auf Rum Point! Batuti erhob sich
und zog sich zurück, sobald er dies registriert hatte. Dann lief er, so schnell er konnte, zur Ankerbucht der „Isabella" und der „Empress". Hasard wollte von jeder Neuigkeit sofort unterrichtet werden.
* Dan meldete das Auftauchen des Gambia-Mannes. Jack Finnegan und Paddy Rogers holten Batuti mit der Jolle an Bord, und Batuti berichtete, was er gesehen hatte. „Eine Dreimastgaleone?" wiederhol te Hasard. „Das ist die ,Bonifacio', da gehe ich jede Wette ein." „So genau habe ich das Schiff nicht erkennen können", sagte Batuti. „Das ist nicht schlimm", erwiderte der Seewolf. „Dann schauen wir es uns jetzt eben noch mal an." Kurze Zeit darauf brach der Seewolf mit einem Dutzend Männern, darunter Shane, Ferris Tucker, Dan und Batuti, zu Fuß in Richtung Rum Point auf. Der Trupp ging dort, wo der Gambia-Mann seinen Posten eingerichtet hatte, in Deckung. Jetzt konnte man verfolgen, wie die Drei mastgaleone in die Bucht einlief. Hasard murmelte: „Wie gut, daß wir mit dem Heben der vierten Schatztruhe noch nicht begonnen haben." „Ja, das war schlau von dir", raunte Shane. „Es wäre heikel geworden, wenn uns die Kerle dort in die Quere geraten wären." „Seht euch das Schiff an", flüsterte Hasard. „Es ist wirklich die ‚Bonifacio'." „Dann war sie's auch heute früh", brummte Ferris.
„Klar", erwiderte Dan grinsend. „So schnell kann sich nicht mal ein Geisterschiff verwandeln." „Hör doch mit dem Quatsch auf", wisperte der rothaarige Riese. „Ich will sagen, daß es heute morgen die ,Bonifacio' war, die wir gesichtet haben." Hasard bedeutete seinen Männern, zu schweigen. Die „Bonifacio" befand sich jetzt in der Bucht. Stimmen waren an Bord zu vernehmen. Ein Kerl stieß barsche Befehle aus. Der Anker der Galeone fiel. Die Segel waren ins Gei gehängt worden. Ein Beiboot wurde klariert und abgefiert. All das vermochten die Männer der „Isabella" trotz der zunehmenden Dunkelheit zu verfolgen. Gestalten enterten hinunter in die Jolle. Das Boot legte von der Bordwand des Schiffes ab und glitt unter zügigen Riemenschlägen auf das Ufer zu. Hasard beobachtete den Kerl, der auf der achteren Ducht saß und die Kommandos gab. War das della Rocca? Nein... „Wo ist denn der Korse?" zischte Dan. „Still!" flüsterte Shane. „Er ist nicht dabei", murmelte der Seewolf. „Dann muß er an Bord geblieben sein", meinte Shane mit gedämpfter Stimme. „Er schickt wohl erst mal seine Kerle an Land, damit sie wittern, ob die Luft rein ist." Diese Vermutung lag auf der Hand. Und doch - Hasard konnte den Korsen auch an Bord der „Bonifacio" nirgends entdecken. Della Rocca hätte doch wohl zumindest auf dem Achterdeck stehen müssen. Die Stimme, die schon vorher beim Einlaufen der Galeone die Befehle gegeben hatte, schien indes mit der
des Bootsführers identisch zu sein. Hasard fragte sich, wie das zusammenpaßte. Aus schmalen Augen verfolgte er, was weiter geschah. Das Boot landete. Die Piraten sprangen an Land und hielten ihre Waffen schuß- und stichbereit. Rechneten sie mit einem Hinterhalt? Nun, man mußte ja auch das Unmögliche ins Kalkül einbeziehen. Vorsicht war immer angebracht und nie fehl am Platze, das wußten die Kerle natürlich. Langsam rückten die Piraten vor und schauten sich nach allen Seiten um. Der Bootsführer gab wieder Anweisungen. Hasard nahm ihn noch genauer in Augenschein. „Della Rocca ist nirgends zu sehen", flüsterte Dan. „Auch an Bord des Schiffes nicht." „Der Bootsführer gibt den Ton an", sagte Hasard gedämpft. „Ein Kerl mit einem harten Gesicht", urteilte Ferris. „Merkwürdig", raunte Shane. „Wo steckt della Rocca?" fragte nun auch Batuti. „Vielleicht ist er krank", zischte Old O'Flynn, der ebenfalls mit von der Partie war. „Oder tot", murmelte Hasard. „Möglich ist alles. Vielleicht haben seine Kerle ihn abserviert." „Oder der Korse hat sich abgesetzt", meinte Ferris. „Auch das könnte ich mir vorstellen." „Warte mal ab", flüsterte Hasard. „Vielleicht erfahren wir es noch." Sie verstummten wieder und beobachteten, was sich weiter am Strand von Rum Point abspielte. Vier Piraten hatten Spaten mitgebracht. Sie begannen jetzt, an verschiedenen Stellen zu graben. Der Bootsführer trieb sie zur Eile an.
Er stieß Flüche aus, als es ihm nicht schnell genug ging, dann griff er selber zum Spaten und drängte den Kerl weg, der bislang damit im Sand herumgefuhrwerkt hatte. „Ziellos sieht das aus", brummte Shane. „Merkwürdig." Hasard glaubte mit einemmal zu wissen, was die Glocke geschlagen hatte. „Della Rocca kann nicht dabei sein", raunte er seinen Kameraden zu. „Er hätte sich auch so, ohne sein Buch, an den genauen Platz erinnert, an dem man graben muß. Das bedeutet, daß della Rocca sich tatsächlich nicht an Bord der Galeone befindet." „Hölle und Teufel", sagte Old O'Flynn. „Dann haben die Hunde ihn wohl doch abgemurkst. Zimperlich sind die ja nicht, wie die treibende tote Leiche schon bewiesen hat." Shane seufzte. Carberry, der etwas weiter rechts lag, stöhnte. Dan raunte: „Dad, fang nicht wieder davon an. Wir können das nicht mehr hören." „Ach, ihr könnt mich", brummte der Alte. „Es gibt immer noch die andere Möglichkeit", gab der Seewolf zu bedenken. „Daß sich della Rocca nämlich von seiner Bande abgesetzt hat. Ich könnte mir vorstellen, daß er auf eigene Faust nach seinen Perlen forschen will." „Wie dem auch sei, die Kerle haben Schwierigkeiten", sagte Ferris halblaut. Hasard nickte. „Sie wissen, daß sich hier ein Perlenversteck befindet. Aber die präzise Position ist ihnen nicht bekannt." „Na, dann mal los", sagte Dan grinsend. „Da, wo sie zur Zeit am
Schwitzen sind, können sie lange buddeln." Die Männer grinsten. Sie wußten ja, wo sich das Versteck von Rum Point befand - hinter einem Dünenhügel, der an die achtzig Schritte von den Plätzen entfernt war, wo die Kerle zur Zeit mit dem Spaten ihr Glück versuchten. „Ja", sagte der Seewolf, „so einfach ist das eben alles nicht. Sie suchen die berühmte Stecknadel im Heuhaufen." „Die können lange graben", murmelte Old O'Flynn schadenfroh. „Sie finden nichts. Nicht mal ein lausiges Skelett." „Du kannst es wohl nicht lassen, wie?" fragte der Profos drohend. Old O'Flynn sah ihn verdutzt an. „Was, zum Henker, habe ich denn jetzt schon wieder Falsches gesagt?" „Lassen wir das Thema", erklärte der Seewolf. „Eins steht jedenfalls fest. Wenn die Kerle so weitermachen wie bisher, können sie auch morgen den ganzen Tag über buddeln. Sie stoßen auf nichts." „Denen wird die Lust an der Sache schon noch vergehen", meinte Ferris. Die Zeit verstrich. Es wurde zusehends dunkler. Bald hörten die Piraten unter Fluchen und Wettern mit dem Graben auf. Sie schulterten die Spaten, kehrten zu der Jolle zurück, schoben das Boot ins Wasser und pullten zur „Bonifacio". „Feierabend", sagte der alte O'Flynn. Er kicherte. „Morgen geht's weiter. Eine feine Arbeit." Wenig später staunten die Mannen aber doch. An Bord der Galeone wurden Vorbereitungen zum Aufbruch getroffen. Und wirklich: die Piraten lichteten den Anker, setzten die Segel und verließen mit dem Schiff die Bucht.
„Da brat mir doch einer einen Hecht", sagte Shane. „Was soll denn das bedeuten?" „Geben die so schnell auf?" fragte Dan verblüfft. „Das glaube ich nicht", erwiderte Hasard. Er richtete sich vorsichtig auf. „Mal sehen, vielleicht segeln sie gar nicht weit davon." „Die werden die Perlen doch nicht einfach sausen lassen", sagte Carberry. „So blöd sind sie nun auch wieder nicht. Ich schätze, daß sie wenigstens morgen noch hier herumwühlen." „Warum bleiben sie aber nicht in der Bucht?" wollte Old O'Flynn wissen. „Na, rate doch mal", sagte der Profos. „Bin ich ein Hellseher?" „Das behauptest du doch immer." „Deshalb kann ich noch lange nicht hinter die Kimm schauen", sagte der Alte. „Ich will dir was verraten", brummte Carberry in einem Anflug von Großzügigkeit. „Das Manöver da hängt mit della Rocca zusammen. Der ist nämlich nicht tot. Und es könnte gut sein, daß er heute nacht noch hier aufkreuzt." „Der Meinung bin ich auch", sagte Hasard. Kurz darauf konnten die Männer sehen, wie die „Bonifacio" in eine Bucht auf der Ostseite der Halbinsel verholte. Aber sie mußten dem Schiff schon zu Fuß folgen, um es nicht aus den Augen zu verlieren. Die Bucht, in der die Piraten nun ankerten, war weder von Rum Point aus noch von der See her einzusehen. Die Kerle hatten sich ein hervorragendes Versteck ausgesucht.
Hasard beratschlagte mit seinen Mannen, was weiter zu unternehmen war. „Wir ziehen uns am besten wieder zurück", sagte er. „Batuti, du hältst wie vereinbart bis Mitternacht Wache. Dann ist Dan an der Reihe. In der Frühe löst Luke Dan ab." „Aye, Sir", sagte Luke Morgan. „Wir können nichts mehr ausrichten", sagte der Seewolf. „Ob della Rocca nun kommt oder nicht ich glaube, daß wir erst am Morgen mehr Gewißheit darüber erhalten. Es hat keinen Sinn, daß wir alle Mann hier auf der Lauer liegen bleiben." Die Männer kehrten zur Ankerbucht ihrer Schiffe zurück. Batuti blieb an Land und beobachtete die Piraten.
* Bis Mitternacht geschah nichts von Bedeutung. Batuti hörte lediglich, wie die Kerle an Bord der „Bonifacio" sich unterhielten. Sie fluchten, mehr konnte er nicht heraushören. Er hätte sich näher anschleichen müssen, um jedes Wort zu verstehen. Aber das wollte er nicht. Hasard hatte ihm keine entsprechende Order gegeben. Es war die Aufgabe des Postens, sowohl die „Bonifacio" als auch Rum Point im Auge zu behalten. Der Gambia-Mann richtete es sich so gemütlich wie irgend möglich ein. Die Zeit verging jetzt schleppend langsam. Aus dem Inselurwald ertönte das Zirpen der Zikaden und das Quaken der Frösche. Sonst war alles ruhig. Auch an Bord der Piratengaleone trat bald Stille ein. Batuti versuchte, in Gedanken nachzuvollziehen, wie die Entscheidungen des jetzigen Bandenführers waren. Die Suche
nach der Perlentruhe hatte abgebrochen werden müssen. Man mußte den neuen Tag abwarten. Etwas anderes blieb den Kerlen nicht übrig. Und falls della Rocca, der sich offensichtlich von seiner Meute getrennt hatte, während der Nacht auftauchte, befand sich die „Bonifacio" an einem Platz, wo er sie nicht so leicht entdecken würde. Somit hatten die Kerle die Möglichkeit, dem Korsen eine Falle zu stellen. Nichts geschah. Batuti harrte auf seinem Posten aus. Er blickte zum Ankerplatz der Piratengaleone. Dort tat sich nichts. Er schaute immer wieder in die Bucht hinunter, aber auch da rührte sich nichts. Kein anderes Schiff traf ein. Endlich, um Mitternacht, erschien Dan, um den Gambia-Mann abzulösen. „Na, mein Alter?" sagte Dan grinsend. „Ist es dir langweilig geworden?" „Ja." „Mal sehen, was der Tag bringt." Batuti lächelte. „Bestimmt eine Überraschung. Dieser della Rocca hat ja noch was auf Lager, wenn mich nicht alles täuscht." Dan ließ sich neben Batuti nieder. „Ja. Wir können das nur dem Zufall überlassen. Vielleicht kommt della Rocca auch gar nicht hierher. Dann können wir den Kerlen von der ,Bonifacio’ nur wieder beim Buddeln zuschauen." Sie wechselten nur noch wenige Worte, dann erhob sich der GambiaMann. Er verabschiedete sich von Dan und kehrte zur Ankerbucht der Schiffe zurück. Die Jolle, mit der Dan zum Ufer gepullt war, lag auf dem Sand. Batuti schob sie ins Wasser,
stieg hinein und begab sich zur „Isabella". Auf der „Isabella" und an Bord der „Empress" brannten keine Ankerlaternen. Der Vorsicht halber. Die Piraten konnten von ihrem Ankerplatz aus zwar nichts von den beiden Schiffen sehen. Aber man mußte damit rechnen, daß sie während der Nacht mit ihrem Boot eine Kontrollrunde unternahmen. Folglich war es nur richtig, die beiden Schiffe völlig im Dunkeln zu belassen. Batuti enterte an der Jakobsleiter auf. Er schwang die Beine über das Schanzkleid und betrat die Kühl. Dann erstattete er Hasard seinen kurzen Bericht. „Keine besonderen Vorkommnisse, Sir", sagte er. „Sie haben kein Boot losgeschickt?" fragte der Seewolf. „Nein." „Um so besser", sagte Hasard. „Sie scheinen sich sicher zu fühlen. Dann wünschen wir ihnen, daß sie eine geruhsame Nacht verbringen. Sie brauchen ihre Kräfte für die Arbeit, die auf sie wartet." Batuti lachte leise. Er verstaute seine Waffen, dann suchte er seine Koje auf. Auch er konnte eine „Muck voll Schlaf", wie man so schön sagte, jetzt gut brauchen. Die Stunden verstrichen. Dan O'Flynn konnte von seinem Posten aus bald das Erwachen des neuen Tages verfolgen. Erste graue Schleier kündigten den Morgen an. Vögel bewegten sich im Unterholz und flatterten auf. Die Helligkeit nahm zu. Im Sand regte sich etwas. Eine Eidechse kroch dicht an Dan vorbei. Sie schien ihn nicht zu sehen und war noch benommen. Dan lächelte.
Wie spät war es? Dan schätzte, daß es drei Uhr geworden war. Noch eine Stunde, dann würde Luke Morgan ihn ablösen. Dan riß einen Grashalm ab und zerpflückte ihn. Es fiel ihm nicht gerade leicht, die Augen offenzuhalten. Luke Morgan erschien pünktlich. Schweigend begrüßten sich die Männer. Dann fragte Luke: „Alles in Ordnung?" „Bestens", erwiderte Dan nicht ohne Ironie. „Die Kerle scheinen wie die Seebären zu pennen." „Bei uns gibt es auch nichts Neues", raunte Luke. „Na, dann wünsche ich dir viel Spaß." „Ich dir auch." Sie trennten sich. Dan ging zur Bucht und pullte zur „Isabella". Luke spähte unterdessen im Licht des heraufziehenden Morgens mit dem Kieker zu der Piratengaleone. Dort rührte sich nichts. Auf der Back hockte eine zusammengesunkene Gestalt. Die Ankerwache. Der Kerl schläft, dachte Luke, so ein Hundesohn. Er grinste. Wenn man jetzt die „Bonifacio" hätte überfallen wollen, hätte man die beste Gelegenheit dazu gehabt. Aber das wollte Hasard ja nicht. Und er hatte recht. Es wäre eine völlig überflüssige Aktion gewesen. Es war der 26. Juli. Ein wolkenloser Tag. Luke betrachtete die Umgebung. Bald konnte er seinen Blick auch über die See schweifen lassen. Die Kimm war als schwacher Strich zu erkennen. Nichts. Kein Schiff, kein Boot. Nichts geschah. Doch an Bord der „Bonifacio" wurden die Kerle allmählich wach. Luke beobachtete den Kerl mit dem harten Gesicht, wie er das Achterdeck enterte, sich reckte,
gähnte und seine Befehle gab. Bootsmann Moleta. Nach und nach erschien die ganze Bande an Oberdeck. Zwei Dutzend Kerle zählte Luke Morgan. Er sah zu, wie Moleta zehn auswählte und die Jolle aussetzen ließ. Dann schickte er die Männer in das Boot. Er selbst übernahm die Führung des Trupps. Sie pullten los und begaben sich wieder zu der Bucht. Hier gingen sie an Land. Die Spaten wurden in Bewegung gesetzt - und die Kerle gruben und gruben im Schweiße ihres Angesichts. Luke hielt es für angebracht, Hasard und die anderen über die neue Entwicklung zu informieren. Er harrte noch eine Weile in seiner Deckung aus. Dann suchte er die Ankerbucht auf und erstattete Meldung. Hasard zögerte nicht lange. Er wählte drei Männer aus - Dan O'Flynn, Batuti und Sam Roskill. „Ihr kommt mit", sagte er. „Wir wollen mal sehen, ob unsere Freunde heute mehr Glück haben." Lukes Wache war beendet. Hasard, Dan, Batuti und Sam begaben sich zu dem Platz in den Dünen, von wo aus sie alles beobachten konnten. Eine Stunde lang geschah nichts weiter. Die Piraten arbeiteten wie die Besessenen. Moleta trieb sie mit seinen Rufen und Flüchen an. Dann aber, gegen zehn Uhr, erfolgte ein abrupter Situationswechsel.
* Von der „Bonifacio" wehte ein Alarmruf herüber. Moleta hob sofort den Kopf. Auch seine zehn Begleiter
ließen ihre Spaten sinken und schauten auf. „Schiff in Sicht!" schrie der Posten im Großmars der Galeone. „Nördliche Kimm! Zweimastschalup pe!" Moleta grinste wild. „Della Rocca! Das wurde aber auch Zeit." „Dieses Schwein!" stieß ein Pirat hervor. „Jetzt haben wir ihn!" „Noch haben wir ihn nicht", warnte Moleta. „So blöd, daß er uns wie ein Narr in die Arme läuft, ist er ja nun auch wieder nicht." „Wir brechen ihm die Knochen!" rief einer der Kerle. „Ruhe jetzt!" befahl Moleta scharf. „Spuren verwischen! Wir gehen in Deckung!" Die Zweimastschaluppe segelte auf die Bucht von Rum Point zu. Auch das meldete der Posten im Großmars noch. Dann trat Ruhe auf der Galeone ein. Moleta bedeutete auch seinen zehn Kerlen an Land, den Mund zu halten. Die Piraten beeilten sich, ihre Spuren zu beseitigen. Hastig schütteten sie die gegrabenen Löcher wieder zu und ebneten alles ein. Dann gingen sie mit ihrem Bootsmann hinter dem Strandgebüsch in Deckung. Natürlich hatten sie ihre Waffen dabei. Mit grimmigen Gesichtern brachten sie Musketen und Tromblons in Anschlag auf das Ufer, wo della Rocca eintreffen mußte. Die Waffenhähne knackten, als sie gespannt wurden. Hasard war inzwischen endgültig klargeworden, was sich zwischen den Kerlen abgespielt haben mußte. An Bord der heransegelnden Zweimastschaluppe waren insgesamt sechs Kerle zu erkennen. Einer von ihnen, soviel konnte man inzwischen
durch den Kieker sehen, war der Korse. Della Rocca hatte sich also mit fünf Kerlen seiner Mannschaft von den anderen - die weitaus in der Mehrzahl waren - getrennt, um sein eigenes Süppchen zu kochen, nachdem sein Logbuch verschwunden war und er damit rechnen mußte, daß seine Verstecke von dem „Dieb" oder aber sogar von Kerlen seiner eigenen Mannschaft geplündert wurden. Die Schaluppe hielt auf die Bucht zu. Della Rocca schien nichts Arges zu ahnen. Er gab seinen Kerlen den Befehl, die Segel zu bergen und den Anker zu werfen. So ging die Zweimastschaluppe des Korsen in der Bucht vor Anker. Die „Bonifacio" war von See aus nicht zu sehen gewesen. Della Rocca
hegte nicht den Verdacht, daß etwas nicht stimmen könne. Von der Bucht aus war die Galeone ebenfalls nicht zu erkennen. Moleta hatte also völlig logisch und richtig gehandelt, als er den Ankerplatz gewechselt hatte. Della Rocca und seine fünf Kerle setzten das Beiboot aus. Sie enterten über und pullten an Land. Della Rocca spähte unausgesetzt zum Strand. War der unheimliche Perlendieb auch hier schon gewesen? Nein, das schien nicht der Fall zu sein. Die Gier packte ihn. Auch die vier anderen Kerle waren wie besessen. Nur Manoel Ribas, der Lotse, wurde den dumpfen Verdacht nicht los, daß Grand Cayman für sie zum Grab werden könnte. Das geht nicht gut aus, dachte er...
Nächste Woche erscheint SEEWÖLFE Band 527
Und die See ging hoch...
von Fred McMason Eine gläserne Walze rollte auf die „Bonifacio" zu. Ihr Wasser war allerdings pechschwarz, auf dem Kamm stand weißer Schaum. Fauchend und donnernd raste sie heran. Die Galeone wurde hochgehoben und wild durchgeschüttelt. Eine Riesenfaust hämmerte auf sie ein. Unglaubliche Mengen Wasser ergossen sich über die Decks und donnerten schäumend nach achtern. Die Kerle, die am Niedergang standen, wurden überspült und von den Beinen gerissen. Brüllend klammerten sie sich irgendwo fest. Die nächste Walze schlug von Backbord zu. Sie waren noch nicht richtig auf den Beinen, als die Galeone so weit nach Steuerbord überkrängte, daß die Rüsten durchs Wasser schleiften... Diesen Roman mit einem neuen spannenden Abenteuer des Seewolfs und seiner Crew erhalten Sie bereits in der nächsten Woche bei Ihrem Zeitschriftenhändler sowie in allen Bahnhofsbuchhandlungen. Wenn nicht, dann wenden Sie sich bitte an die Vertriebsabteilung des Erich Pabel Verlags GmbH, Postfach 1780, 7550 Rastatt.