Scanned by Manni Hesse 2007
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Bankraub um Mitternacht und andere humorvolle phantastische Erzählungen
UND
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Scanned by Manni Hesse 2007
82
Bankraub um Mitternacht und andere humorvolle phantastische Erzählungen
UND
VERLAG KULTUR FORTSCHRITT BERLIN 1969
Russische Originaltitel: «Непрочный,
непрочный,
непрочный
мир»
«Ограбление произойдет в полночь» «Единственный в с в о е м роде» «Сберкасса
времени»
«Прилежный «Основание
мальчик и
невидимка»
цивилизации»
«Интервью с регулировщиком» Umschlag und Illustrationen: Hans Rade
Verlag Kultur und Fortschritt, 108 Berlin, Glinkastrafje 1 3 - 1 5 10 1969 Lizenz-Nr.: 3-285 181 69 Satz und Druck: Grafischer Großbetrieb Völkerfreundschaft Dresden
Boris Subkow/Jewgeni Muslin
Vergängliche
Welt
Seine Reise begann in einem Keller. Die gefährliche Reise durch die ganze Große Stadt. Man händigte ihm ein unförmiges Bündel aus. Er nahm es und wurde damit zum Verbrecher. Man weihte ihn hastig in alle Vorsichtsmaßnahmen ein: welche Strafjen er meiden, wie er sich bei einer Begegnung mit Agenten des Sicherheitsdienstes verhalten, was er bei einem möglichen Verhör antworten sollte. Man wollte ihm einen Begleiter mitgeben, doch er lehnte ab. Wozu? Auf zwei fällt eher Verdacht. Eine Gefahr, auf zwei verteilt, bleibt eine Gefahr. Das ist genauso, wie wenn man zu zweit von einer Brücke springt. Statt eines Ertrunkenen gibt es zwei. Nichts weiter. Da war es schon besser, er schleppte die verhängnisvolle Last allein durch die ganze Stadt, mühte sich allein mit dem unförmigen Paket, in dem ES verborgen war. Was für ein unhandliches Paket war das doch! Ein verteufelt unhandliches! Als bestände es nur aus Ecken und Kanten. Hielt man es auf den Knien, bohrten sich die spitzen Enden in die Achselhöhlen, die harte Kante quetschte einem die Brust, und die Arme, die das Bündel oben umspannten, waren wie gelähmt. Aber er durfte sich nicht rühren, sonst lenkte er die Aufmerksamkeit auf sich. Sein Bündel störte auch so schon alle. In der Untergrundbahn war es eng wie in einem Glas marinierter Pflaumen. Er hatte sie immer gern gegessen. Als er noch klein war. Jetzt gab es keine RICHTIGEN Pflaumen mehr. Heutzutage bestand die Hauptnahrung aus Fladen Marke „Bauchnabel". Im Wagen kauten alle dieses Zeug. Man kaute es ständig. Von früh bis spät. Die berühmten, nichtsättigenden Bauchnabelfladen. Die Fabriken, in denen sie hergestellt wurden, waren Tag und Nacht in Betrieb. „Bauchnabelfladen erneuern die Muskeln, verdünnen den Gallensaft und vermehren die Atome im ganzen Organismus . . . " Schön wär's! Aber das
war eine ganz einfache Rechnung - ein Eisenbahnzug voll Dreckzeug brachte dem Unternehmer mehr Gewinn als ein Lastwagen voll richtigem Essen. Im Mund zischten die Fladen leise und verdunsteten sofort. Als bisse man auf kleine Gummikugeln, die mit hundertprozentiger Luft gefüllt waren. Das verfluchte Bündel rutschte ihm von den steif gewordenen Knien. Seine Arme waren taub und wollten ihm nicht mehr gehorchen. Sein Vater hatte Nierensteine gehabt. Ein altes Leiden, das damals zum guten Ton gehörte. Heutzutage kannte man es kaum noch. Wie stolz war Mutter immer gewesen, wenn sie Vater nach einem seiner Anfälle ein heißes Bad bereiten konnte. Alle sollten wissen, daß ihr Mann an dieser Krankheit der vornehmen Leute litt. Von den Bauchnabelfladen konnte man nicht behaupten, daß sie sich wie ein Stein auf den Magen oder andere Organe legten. Man konnte ein Fünfpfundpaket davon verzehren und verspürte gleich danach wieder einen mörderischen Appetit. Und Durst. Ringsum kauten alle die zischenden Fladen und leckten sich die trockenen Lippen. Er wußte, wovon die Fahrgäste der Untergrundbahn träumten. Auf der nächsten Station würden sie zu den Automaten stürzen, die Trink-pro-Cent feilboten. Dieses Getränk löschte nicht den Durst, man trank es in Riesenmengen. Die Automaten schenkten Portionen von zwei Gallonen aus, und die Verdurstenden stellten Papiereimer unter den braunen Strahl . . . Nun war ihm das Bündel doch von den Knien gerutscht! Eine haarsträubende Unvorsichtigkeit! Ein spitzes Ende ragte in einen Leib, den ein grüner Regenmantel umspannte. Das hatte noch gefehlt! Can Price spürte, daß ihn der Besitzer des grünen Mantels unverwandt anblickte. Er spürte es an seiner Stirn und den Ohrläppchen. Der Blick war schwer wie eine Bleiplatte und durchdringend wie die Scheinwerfer eines Polizeiautos. Price zog den Bauch ein, bestrebt, da^Bündel an sich zu pressen. Er drückte den Rücken gegen die Lehne und hatte nur noch den einen Wunsch - flach wie eine Flunder zu sein.
О Schreck! Die Verpackung! Sie war eingerissen! Gleich
würden es alle sehen - seine Schande, sein Verbrechen! Skandal, Aufruhr, mißbilligende Gesichter . . . Der Kerl im grünen Mantel würde den Zug mitten im Tunnel anhalten. Price spürte schon den kalten Stahl der Handschellen auf der Haut. Beim Sicherheitsdienst erwartete ihn die Isolierzelle für besonders Gefährliche. Er hatte sie im Kino gesehen, die gläsernen Kugelzellen, die an den Mauervorsprüngen des hohen Eisenbetonturms hingen. Price zuckte zusammen. Ohne den Kopf zu heben, verdrehte er seltsam die Augen und riskierte von unten herauf einen Blick auf den Besitzer des grünen Mantels. Der hatte seine Brille abgenommen und putzte sie, kurzsichtig blinzelnd, mit einem Papiertaschentuch. Price hatte Glück gehabt! Der Kerl im grünen Mantel trug eine billige Brille, die schon nach kurzer Zeit blind wurde. Eine Woche nach dem Kauf sah man damit nicht einmal die eigene Nase. Auch hier - g a l t wieder das Universale Handelsprinzip: Waren mit geringer Haltbarkeit erhöhen die Nachfrage. Die Preise konnten noch so niedrig sein, dafür mußte man öfter kaufen. Jeden Monat, jede Woche, täglich, stündlich. In Price' Tasche klirrte es laut und nachhaltig, danach knirschte es eine Zeitlang, und zum Schluß ertönte ein dumpfes Grunzen. Seine Uhr, die sich nur einmal aufziehen ließ, war zersprungen. „Wenn das Werk abgelaufen ist, zerspringt die Uhr erstaunlich melodisch", so lautete der Werbeslogan. Melodisch - nicht schlecht! Das Kratzen einer Nadel auf einer Glasschallplatte hörte sich genauso an. Price wollte sich mit einer schnell abstumpfenden Säge zerteilen lassen, wenn er noch einmal solche Uhr kaufte. Falls er überhaupt je wieder in der Lage sein sollte, etwas zu kaufen. Falls er mit seinem Bündel nicht in die Fänge des Sicherheitsdienstes geriet. Er steckte die Hand in die Tasche. Seine Finger fühlten eine schleimige Masse. Br . . . Das war alles, was von der Uhr übriggeblieben war. Das neueste Blitzmetall. Daraus wurden jetzt eine Menge Dinge hergestellt, sogar Autos. Price' Schwager wußte anscheinend über das Patent Bescheid. „Ein spezielles Blitzmetall von besonderer Struktur,
das nach genau zwei Wochen einen schleimigen Rückstand hinterläßt." Der im Regenmantel putzte immer noch seine Brille. Ihm stand jetzt nicht der Sinn nach verdächtigen Paketen. Price hatte sich umsonst geängstigt. Der Grüne konnte nicht vom Sicherheitsdienst sein. Die waren nicht so dumm, ihre Leute mit derart unzuverlässigen Brillen auszustatten. Die Verpackung! Price überlief es kalt. Wie hatte er das vergessen können. Die Verpackung war oben und an den Seiten eingerissen, gleich würde sie vor aller Augen in Fetzen gehen. Noch eine Sekunde - und es war passiert. Nein, nein! Es war alles in Ordnung. Alles ging gut. Er hatte ES doch in ein Stück alte Zeltplane gewickelt, mit der sein Großvater immer den Lastwagen zugedeckt hatte. Der schnellzerreißende Eintagssack war nur die äußere Hülle, darunter - befand sich die Plane. Es war ein unverwüstliches Stück Stoff von unschätzbarem Wert, er hatte es geerbt, die andere Hälfte hatte der Großvater Mady vermacht. Die alte Plane verhüllte zuverlässig den Inhalt des Bündels. Trotzdem mußte er noch ein paarmal umsteigen. Um seine Spur zu verwischen. Er stellte sich mit gleichgültiger Miene an die Tür und sprang im letzten Moment hinaus, als der Zug schon anfuhr. Danach mußte er das Ganze in umgekehrter Reihenfolge wiederholen. Er wartete, bis alle eingestiegen waren, und schlüpfte dann durch den Spalt der zuschnappenden Türflügel in den Wagen. Wenn sich niemand hinterherdrängte, so bedeutete dies, daß er nicht verfolgt wurde, hatte man ihm dort im Keller eingeschärft. Price stieg im Centre-Ring aus und überquerte den Bahnsteig. Er ließ den ersten Zug vorbeifahren, wartete auf den zweiten, hörte das Abfahrtssignal, zögerte noch eine Sekunde, und als sich die Türflügel bereits schlössen, schwang er sich in den Wagen. Da sprang ihm plötzlich ein dicker Mann entgegen, der ebenfalls gezögert hatte. Price wich zurück, tau-
melte, und bestrebt, das Bündel nicht fallen zu lassen, streckte er instinktiv die Arme vor. Die Türflügel klemmten das Bündel ein und rissen es Price aus den Händen. Der Zug fuhr mit einem Ruck an. Price bemerkte gerade noch, daß die größere Hälfte des Bündels aus dem Wagen ragte. Dann blitzte das rote Schlußlicht auf, und der finstere Tunnel verschluckte den Zug. Price jagte hinter dem Zug her. Man stieß ihn. Er boxte sich durch die Menge. Jetzt war der Bahnsteig zu Ende. Der Zug trug das Bündel fort. Völlig kopflos sprang Price auf die Gleise. Hinter ihm schrie jemand. Eine Sirene heulte auf, ihr durchdringender Warnton zerschnitt die dichte, warme Luft. Price lief zwischen den Schienen. Sie kamen ihm wie dicke, glänzende Schlangen vor, und er fürchtete, sie könnten nach seinen Beinen schnappen. Deshalb machte er beim Laufen unnatürlich hohe Sätze. Die Sirene heulte immer noch. Price stopfte sich die Ohren zu, stürzte und verletzte sich. Er sprang wieder auf die Beine und raste weiter. Seitlich, über, unter ihm flammten Lichtsignale auf, blinkten Ampeln, flimmerten gelbe Leuchtschriften. Die Lichter verschmolzen und durchzogen die Finsternis wie grelle Blitze. Er stürzte noch drei oder vier Mal. Die todschicken Schuhe mit den schnell durchgelaufenen Sohlen lösten sich auf wie die Schale einer verfaulten Banane. Die selbst aufspringenden und selbst abreißenden Knöpfe fielen prasselnd zu Boden. Der Kragen des Eintagshemdes schmolz, und die fettige Masse tropfte Price den Rücken hinunter. Aus der Tasche rutschte ihm der schnell zu verlierende Geldbeutel. Der Gürtel aus schnellbrüchigem Leder riß. Price lief, stolperte und hielt mit einer Hand die Hosen fest. Die Welt der vergänglichen Dinge trieb ihren Spott mit ihm. Und neben ihm lief die Angst. Ein markerschütterndes Donnern entlud sich hinter ihm. Ein Zug holte ihn ein. Aber nein, das Tunnelgewölbe hatte Price getäuscht. Das Donnern kündigte einen herannahenden Gegenzug an. Der grelle Lichtstrahl des einzigen Scheinwerfers lähmte Price, seine Beine klebten an den Schienen fest, er spürte den Atem des Metalls.
Der Zug brauste heran und wurde immer größer. Ein heißer Luftstoß schleuderte Price von den Schienen und rettete ihn. Brennender Staub wirbelte ihm ins Gesicht. Das Donnern entfernte sich. Mühsam einen nackten Fuß vor den anderen setzend, erreichte Price die nächste Station. Man zog ihn auf den Bahnsteig. Erhitzte Gesichter. „ W o ist mein Bündel?" Ein Polizist trat zu ihm. „Strafe zahlen? Ich bin einverstanden, da nehmen Sie das Geld. Wo ist mein Bündel?" „ O b ich einen Dachschaden habe? Nein, hier ist die Karte des Psychiaters, Sie können sich erkundigen. Wo ist mein Bündel?" „Sie wollen Sanitäter holen? Nein, mir ist schon besser. Wo ist mein Bündel?" Man brachte es ihm. Es war reichlich zerdrückt, aber heil. Die alte Plane hatte die Prüfung überstanden. Niemand hatte gesehen, WAS sich darunter verbarg. Niemand . . . Großer Gott! Alles war noch einmal gut gegangen! Humpelnd und stöhnend schleppte sich Price zu den nächsten Handelsautomaten. Er warf Münzen ein und steckte Arme, Beine und Hals in die halbrunden Öffnungen. Die Automaten zogen ihm Eintagsschuhe an, klebten einen zum einmaligen Gebrauch bestimmten Kragen an sein Hemd, hefteten leicht zu verlierende Knöpfe daran, verdeckten die Löcher mit schnell abfallendem Pflaster und drehten ihm einen Hut Marke „Kaufen und Wegwerfen" an. Während der Automat vor Wohlbehagen knirschend die Münze schluckte, dröhnte es aus einem gewaltigen Lautsprecher: „Alles nach Wahl für ein Mal! Alles nach Wahl für ein Mal!" Die Gauner aus Stahl boten billigen Schund feil. Eintagswaren! Unzuverlässig wie ein Seil aus Kuchenteig. Vergänglich wie ein Eisstück auf einem glühenden Kohleöfchen. Ein Häufchen Asche, eine Handvoll Rauch - mehr nicht. Da gab es Bücher, deren Text verblaßte - nach einer Woche waren sämtliche Seiten weiß. Zeitungen, die schwarz wurden, ehe man sie ausgelesen hatte. Wollte man die Lektüre fortsetzen, mußte man die nächste der stündlich erscheinenden Ausgaben erwerben. Rasch erkaltende Bügeleisen und leicht schmelzende Bratpfannen. Kanister mit Mikrolöchern. Kissen,
die hart wurden. Rohre, die sich verstopften. Parfüm, das nach einer Woche gräßlich zu stinken begann. Nägel aus Blitzmetall. Fernseher aus Papier. Ihr niedriger Preis stand in keinem Verhältnis zu ihrer geringen Lebensdauer. Im Gegenteil, die niedrigen Preise ruinierten den Käufer. Das Karussell der notwendigen Anschaffungen drehte sich immer schneller, zermürbte ihn, leerte ihm die Taschen . . . Price warf seine letzte Münze in den Schlitz einer gelben Säule. Auf dem Bürgersteig klappte eine Luke zurück, aus der eine einsitzige Bank zur kurzfristigen Erholung emporkam. Nach all den Strapazen konnte sich Price solchen Luxus erlauben. An der gelben Säule blieb ein kleiner Hund stehen. Price bückte sich, um das Bündel näher zur Bank zu schieben. Das Hündchen fletschte wütend die Zähne. Price wich zurück. Umherstreunende Köter waren gefährlich! Äußerst gefährlich! Dem allgemeinen Handelsprinzip folgend, versorgte die Gesellschaft „Spitz - Dachshund, limited" alte Damen mit Zimmerhündchen, die nach drei Wochen tollwütig wurden. Natürlich setzten die Besitzerinnen die Hündchen aus, ohne den Ablauf der Garantiefrist abzuwarten. Wenn man etwas von dem giftigen Speichel ins Bein bekäme - nicht auszudenken! Price griff das Bündel, sprang damit auf die Bank und schwenkte es drohend über dem Hund. Der klemmte den Schwanz ein und suchte das Weite. Da fiel Price das schwere Paket aus der Hand und schlug polternd auf den Asphalt. Passanten stießen mit den Füßen dagegen, schoben es auf die Bordsteinkante. Tölpel! Ungeschick läßt grüßen! Fürchtet sich vor einem lächerlichen Hündchen. Heb das Bündel auf! Nein! Verlaß dich nicht auf die erste Anwandlung! Sei vorsichtig wie ein Hochbauarbeiter auf dem Fernsehturm! Falls du beobachtet wirst, tust du besser so, als ginge dich das Bündel nichts an dieses entsetzliche Beweisstück deines Verbrechens. Niemand kann dir im Augenblick beweisen, daß es dir gehört. Du bist hier, das Bündel ist dort. Beruhige dich! Setz dich! Tu so, als wärst du mit deinem Hut beschäftigt. Durch die heftige Be..,„„.,„„ „ biniint-prrtpfallpn H p h ihn auf. brina ihn in a
Ordnung. So! Ein vorzüglicher Hut, extra für Spaziergänge auf der sonnigen Strafjenseite vorgesehen. Es gibt auch andere Hüte, die deinem sehr ähneln, aber man kann sie nur im Schatten tragen, in der Sonne verflüchtigen sie sich wie Rauch. Psch - und aus ist der Traum! Dieser Hut aber hat innen ein Garantiezeichen: „Vierzehn Stunden in der Sonne." Danach verflüchtigt er sich ebenfalls. Das Bündel liegt immer noch an der gleichen Stelle. Alle hasten daran vorbei, niemand achtet darauf. Niemand? Hast du gedacht! Die Blondine im karierten Kostüm! Sie ist fünf Schritt von Price stehengeblieben und gibt sich den Anschein, als betrachte sie ihr Spiegelbild in der Schaufensterscheibe. Price könnte schwören, daß sie genau in dem Moment stehengeblieben ist, als er dem Hund das Bündel nachschleuderte. Vielleicht ist sie eine Spionin? Viele Hausfrauen verdienen sich in ihrer freien Zeit etwas dazu, indem sie heikle Aufträge des Sicherheitsdienstes ausführen. Was sieht sie sich in dem blöden Schaufenster an? Es ist doch ein Geschäft für Herrenartikel. Was gibt es dort Interessantes für sie? Balsam für künftige Glatzköpfe, der sich über Nacht in ein Haarvertilgungsmittel verwandelt? Oder Hosenträger aus Papier? Ach, das ist es! Sie betrachtet in der Scheibe ihr kariertes Kostüm. Die braunen Karostreifen werden immer breiter. Das Kostüm löst sich auf. Die Blondine kreischte, schlang die Arme um ihren Körper, um die Reste des Kostüms festzuhalten, und stürzte mit der Miene einer Schwimmerin, die ins kalte Wasser geht, zur nächsten Umkleidekabine. An allen Kreuzungen standen solche bunten Kabinen, in denen Konfektionsautomaten auf ihr nächstes Opfer lauerten. Price fiel plötzlich auf die Erde - die Bank zur kurzfristigen Erholung war unter ihm in die Luke zurückgeglitten. Er stand auf und fühlte sich zum erstenmal an diesem gräßlichen Tag erleichtert. Mit gleichgültiger Miene - er gestattete sich sogar zu pfeifen - nahm er das Bündel auf und lenkte seine Schritte zur 440. Straße.
Dort war er zu Hause, dort wartete und bangte man schon um ihn. Er mußte die Seinen so schnell wie möglich von ihrer Angst um sein Schicksal erlösen. Und nur dort fühlte er sich verhältnismäßig sicher. Seine Frau empfing ihn am Hauseingang. Die Ärmste! Wievielmal mochte sie schon nach ihrem Mann Ausschau gehalten haben? Wievielmal schon auf Schritte, Klopfen oder ein Rascheln gelauscht haben? Die liebe Gute! Allein nur ihretwegen hatte er diese zermürbende Reise auf sich genommen. , Sie gingen schnurstracks in die Küche, deren einziges Fenster auf einen menschenleeren, unbebauten Platz wies. Aus einem weitab gelegenen Zimmer drang das Kreischen einer Kreissäge. Natürlich sägte dort niemand, es war nur das Geräusch einer Kurzspielplatte. Nachdem das Geigenkonzert zehnmal abgelaufen war, verwandelte es sich in das Solo einer Kreissäge. „Hast du's?" fragte Sally. Sie wagte nicht, den Inhalt des Bündels beim Namen zu nennen, so wie ein abergläubischer Wilder auch nichts über den Gegenstand seiner Jagd verlauten läßt. „Ich hab's. Du hattest dir's doch so sehr gewünscht." „Pack aus, ich bin schon gespannt." „Zieh die Gardinen zu." „Sie sind zerfallen, ehe du kamst. Aber sei unbesorgt. Lieber. Heute morgen sind die Fensterscheiben nachgedunkelt. Niemand kann hindurchsehen." Er nahm die Plane ab. Darunter befand sich ein länglicher grauer Pappkarton. Sie rissen den Karton in Stücke und stellten ES in die Mitte des Zimmers. Es war ein Küchenschemel. Ein richtiger! Stabiler! Aus echter Kiefer. Er war am Morgen in der illegalen Tischlerei angefertigt worden, und die frischen bernsteingelben Tropfen echten Tischlerleims glänzten so appetitlich, daß man sie am liebsten abgeleckt hätte.
Das Föderative Handelsgesetz verbot den Kauf und Verkauf haltbarer Gegenstände. Wer dagegen verstieß, mußte sich auf eine harte Strafe gefaßt machen. Aber Price hatte es trotz allem geschafft. Er hatte sich nicht gescheut, seiner Frau zum Geburtstag einen RICHTIGEN, HALTBAREN Küchenschemel zu schenken.
Ilja Warschawski
Bankraub um
Mitternacht
Polizeikommissar Patrick Rage ließ sich in den Sessel fallen, den man ihm dienstfertig zugeschoben hatte, und sah sich um. Die weißen Schalttafeln mit den vielen Knöpfen und bunten Lämpchen erinnerten ihn an einen automatischen Cocktailmixer, und die beiden Datenverarbeiterinnen, die in weißen Kitteln an ihrem Schaltpult thronten, machten das Rechenzentrum einer Bar noch ähnlicher. Ihr übertriebenes Make-up mißfiel Rage ebenso wie die Anschaffung des Computers überhaupt. Wäre das Innenministerium nicht so auf Publicity versessen, so hätte man sich alle diese kostspieligen Neuerungen sparen können. Als ob Patrick Rage, nachdem er nun fünfzig Jahre bei der Polizei war, nicht wüßte, daß ein einziges nicht geklärtes Verbrechen genügte, die Zeitungsmeute aufheulen zu lassen, die Polizei sei von Gangstern bestochen. Bestochen! Als ob die es nötig hätten, wo doch jedes Gangstersyndikat der Polizei haushoch überlegen war mit seinen Panzerwagen, Hubschraubern, automatischen Waffen und Tränengasbomben, vor allem aber mit seiner Möglichkeit, nach Belieben zu ballern und auf wen es wollte. Bestochen! David Logan platzte fast vor Ungeduld, aber er hütete sich, den Kommissar aus seinen Gedanken zu reißen. Offenbar traute der Alte dem ganzen Zauber nicht, sonst täte er jetzt nicht so, als ginge ihn das alles nichts an. Na schön, wollen sehen, was er für Augen macht, wenn ich meine Karten auf den Tisch lege, dachte Logan. So ein Coup wird schließlich nicht alle Tage vorbereitet. Rage zog seine Tabakpfeife aus der Jackentasche und schaute sich aufmerksam um, ob nicht ein Rauchverbot an der Wand hing. „Bitte schön!" Logan ließ sein Feuerzeug klicken. „Danke!" Vir, m a r Mirmt-pn n a f f t e Racre schweiqend.
Logan kreuzte mit dem Bleistift verschiedene Stellen auf den Lochstreifen an, wobei er heimlich seinen Chef beobachtete. Schließlich sagte Rage: „Sie meinen also, daß man heute nacht versuchen wird, in die Nationalbank einzubrechen?" „Genau." „Aber warum ausgerechnet heute und unbedingt in die Nationalbank?" „Bitte." Logan reichte dem Kommissar einen Zettel. „Der Computer hat alle Bankeinbrüche der letzten fünfzig Jahre analysiert und die Angaben extrapoliert. Der nächste Einbruch", Logan wies mit dem Bleistift auf einen bestimmten Kurvenpunkt, „muß heute steigen." „Hm . . . " Rage deutete mit dem Finger auf den Punkt. „Und woraus ergibt sich, daß er in der Nationalbank steigen muß?" „Aus der Wahrscheinlichkeitstheorie. Sie wissen doch, mathematische Erwartung und so . . ." Die Nationalbank . . . Rage erinnerte sich an den Einbruch von 1912 in der Nationalbank. Bei der Knallerei hatte er einen Knieschuß abbekommen, und trotzdem hatte er die Bande mit seinem Motorrad eingeholt. Idyllische Zeiten waren das gewesen, als die Gangster noch in Grüppchen auftraten und sich mit altmodischen Schießeisen begnügten. Damals hatte man mit Mumm und Findigkeit noch was ausrichten können. Heute dagegen. - Erwartungswert, Korrelation, Gaußsche Funktionen, Lochstreifen! Himmelherrgott! Aus der Kriminalpolizei war ein regelrechtes mathematisches Seminar geworden. „. . . es steht also fest, daß die Scholetti-Bande . . . " „Wie bitte?" fragte Rage erstaunt. „Die Scholetti-Bande. Sie verfügt über die modernsten Tresorknacker und hat schon lange kein Ding mehr gedreht." „Hat Ihnen der Computer diesen Tip gegeben?" „Allerdings. Nach seinen Angaben werden es Scholettis Leute sein. Mit 86 Prozent Wahrscheinlichkeit." Rage stand auf und ging ans Schaltpult. „Scholetti wird also heute nacht den Tresor der Nationalbank knacken?"
„Ganz recht." Rage grinste. „Na, dann kann er mir leid tun." „Wieso?" „Aber ich bitte Sie. Da wird also ein Einbruch vorbereitet; Sie wissen es, ich weiß es, der Computer weiß es, und nur Scholetti selbst hat keine Ahnung davon." Logan empfand Genugtuung - jetzt konnte er's dem Alten geben. „Da sind Sie auf dem Holzweg", sagte er schadenfroh. „Scholetti und seine Bande haben sich genau den gleichen Computer angeschafft. Das Wann und Wie wird er ihnen schon verraten, da können Sie Gift drauf nehmen." Jean Bristeau hatte seiner Universitätslaufbahn ein dickes Bankkonto vorgezogen und trauerte ihr auch nicht nach. Er empfand die nüchterne Selbstzufriedenheit eines Mannes, der auf die himmlische Seligkeit verzichtet hat, um die sündigen Freuden dieses irdischen Jammertals auskosten zu können. Und er hatte nicht die geringsten Gewissensbisse, seine Kenntnisse an ein Gangstersyndikat verkauft zu haben. Er war Programmierer und war es auch geblieben, nur daß ihm der alte Scholetti zehnmal soviel zahlte, wie er in jeder anderen Firma bekommen hätte. Er warf einen Seitenblick auf den alten Dickwanst, dem ein Leibwächter gerade aus einer Thermosflasche das zweite Glas heiße Milch eingoß. Ein Bild, um das sich die Zeitungsreporter gerissen hätten: Der Bankenschreck Pedro Scholetti trinkt Milch wie ein Säugling. „Na, Junge?" Scholetti stellte das leere Glas auf das Schaltpult und wandte sich nach Bristeau um. „Deine Kartenschlägerin sagt also, daß uns Geld ins Haus steht?" Bei dem Wort „Kartenschlägerin" rümpfte Bristeau die Nase. „Es ist mir gelungen", antwortete er trocken, „die Periodizitätsformel für Bankeinbrüche zu finden. Für geglückte natürlich", fügte er hinzu und nahm einen Zeigestab zur Hand. „Hier, auf dieser Zeichnung, sind sie als schwarze Kreise eingetragen. Die roten sind Einbrüche nach meiner Formel. Die
Lage der Kreise auf der Senkrechten gibt den Wert der Beute an, auf der Waagerechten kann man das Datum des Einbruchs ablesen. Wie Sie sehen, ist der nächste Großeinbruch heute fällig. Ich wüßte nicht, warum wir uns so einen Brocken entgehen lassen sollten." „Was für einen Brocken?" „Vierzig Millionen." Einer der Leibwächter pfiff durch die Zähne. Scholetti drehte sich wütend um. Er haßte unnötigen Lärm. Eine Weile blieb der Boß des Syndikats schnaufend sitzen. Offenbar überlegte er sich die Sache. „Welche Bank?" „Die Nationalbank." „So." Der Gedanke, mit der Nationalbank anzubinden, bei der das Syndikat schon zweimal auf Granit gebissen hatte, war Scholetti offenbar nicht sehr sympathisch. Aber wenn es um vierzig Millionen ging, war das Risiko, ein Dutzend Jungs zu verlieren, immerhin diskutabel. Bristeau wußte, warum Scholetti schwankte, und beschloß, seinen größten Trumpf auszuspielen. „Natürlich wird das Unternehmen in allen Einzelheiten vom Computer geplant." Das schien zu sitzen. Was Scholetti am meisten scheute, war Verantwortung. Aber wenn der Computer . . . Plötzlich fiel ihm etwas ein. „Augenblick mal! Der alte Rage soll jetzt in seinem Saftladen auch so ein Ding haben. Kann uns das nicht verpfeifen?" „Möglich", antwortete Bristeau leichthin. „Aber auch dann sind wir den Bullen um eine Nasenlänge voraus: Wir wissen von ihrem Computer, aber sie können höchstens vermuten, daß wir auch einen haben." „Na und?" „Das ist es doch gerade. Der Computer kann mehrere Einbruchsvarianten ausarbeiten, bessere und schlechtere. Angenommen, der andere Computer hat die Polizei auf die Möglich-
keit eines Einbruchs aufmerksam gemacht. Dann wird Rage ihn beauftragen, festzustellen, welches Syndikat den Versuch machen und welcher Taktik es sich dabei bedienen wird. Von der Optimalvariante ausgehend, wird die Polizei dann ihre Taktik festlegen." „Und uns über den Haufen schießen?" „Unter keinen Umständen." „Wieso?" „Weil wir Bescheid wissen und deswegen statt der Optimalvariante eine andere wählen werden." Scholetti schüttelte-energisch den Kopf. „Unsinn! Sie stellen uns bestimmt eine Falle, und wir sind aufgeschmissen." „Da sind Sie aber auf dem Holzweg", entgegnete Bristeau. „Rage wird sich bestimmt nicht entschließen, eine Falle zu stellen." „Warum denn nicht?" „Aus rein psychologischen Gründen." „Hast du 'ne Ahnung von der Psychologie eines Polizisten!" meinte Scholetti mit überlegenem Lächeln. „Ich kenne den alten Rage seit mehr als dreißig Jahren und sage dir: Rage ist immer für die sichere Tour und läßt sich solche Gelegenheit bestimmt nicht entgehen." Bristeau griff wieder nach dem Lochstreifen. „Vielleicht verstehe ich wenig von der Psychologie eines Polizisten, aber für den Computer gibt es keine unlösbare psychologische Aufgabe, wenn er nur entsprechend programmiert ist. Hier die Lösung einer solchen Aufgabe. Gegeben ist folgendes: Rage ist längst pensionsreif. Im Innenministerium denken manche schon lange daran, ihn durch einen jüngeren und weniger starrsinnigen Beamten zu ersetzen. Zweitens: Soll eine Falle in der Nationalbank gestellt werden, so kann das nur mit Genehmigung des Innenministeriums und mit Zustimmung des Finanzministeriums geschehen. Was hätte Rage davon, wenn er seine Leute in der Bank postierte? Höchstens einen taktischen Vorteil. Und was setzt er dabei aufs Spiel?
Seinen Ruf, wenn er den Überfall nicht abschlagen kann. Denn dann werden alle Zeitungen zetern, die Polizei könne mit einer Bande nicht einmal fertig werden, wenn sie über die geplante Aktion informiert ist. Und noch mehr wird er sich blamieren, wenn er seine Leute dort postiert und danach kein Einbruchsversuch unternommen wird. Wird also Rage um eine Genehmigung für eine solche Aktion ansuchen, wenn er selber nicht recht an Maschinenprognosen glaubt? Gewiß nicht. Das ist doch logisch." Scholetti kratzte sich am Kopf. „Na, dann laß mal deine Varianten sehen", brummte er und schob sich bequemer im Sessel zurecht. „Schön", sagte Rage, „Ihre Variante ist ein echter Scholetti. Der ist immer auf Knalleffekte scharf - auf Durchbrüche mit Panzerwagen, Sprengkörpern und auf Blockierungen der anliegenden Straßenzüge. Aber ich kann nicht begreifen, wozu er die Scheindemonstration hier nötig haben sollte." Bei diesen Worten wies der Kommissar mit dem Zeigefinger auf eine der Hauptverkehrsstraßen. „Es hätte doch nur dann Sinn, stärkere Polizeikräfte hierher abzulenken, wenn wir wüßten, daß ein Einbruchsversuch bevorsteht, und wir uns zu Gegenmaßnahmen entschlossen hätten." Logan konnte ein triumphierendes Lächeln nicht unterdrücken. „Jawohl, nur dann", bestätigte er. „Scholetti ist überzeugt, daß wir seine Absichten kennen, und bereitet sein Unternehmen dementsprechend vor." „Sonderbar." „Nicht im geringsten. Das Innenministerium hat in die ganze Welt hinausposaunt, daß sich das Polizeipräsidium den modernsten Computer angeschafft hat. Glauben Sie vielleicht, im Rechenzentrum des Scholetti-Syndikats sitzen Schafsköpfe, die nicht wissen, daß wir nun Verbrechen voraussehen können? Die Polizei hält sich doch keinen Computer, um die Gewinnchancen bei Pferderennen zu erhöhen."
Rage errötete. Seine alte Vorliebe, auf Rennpferde zu setzen, gehörte zu den kleinen Schwächen, die er sorgfältig vor seinen Mitmenschen verbarg. „Und was ergibt sich aus alldem?" fragte er trocken. „Daft Scholetti von Variante 1 keinen Gebrauch machen wird." „Und warum nicht?" „Weil sie die beste ist." Rage klopfte seine Pfeife aus, stopfte sie aufs neue und blickte, in Gedanken versunken, den blauen Rauchschwaden nach. Nach ein paar Minuten rief er erfreut: „Ich glaube, Dave, ich hab's! Sie wollen sagen, Scholetti ahnt nicht nur, daß wir über den bevorstehenden Einbruch informiert sind, sondern auch, daß wir seine Pläne in der Hand haben." „Sehr richtig. Scholetti und seine Jungs wissen, daß unser Computer über die gleichen Möglichkeiten verfügt wie ihrer. Also haben wir auch ihren Aktionsplan in der Hand, und da dieser Plan für das Syndikat am vorteilhaftesten ist, wird die Polizei ihre Gegenmaßnahmen zweifellos auf ihn zuschneiden." „Und inzwischen . . . " „Inzwischen entschließen sie sich für eine weniger günstige Variante, die jedoch den Vorteil hat, für die Polizei völlig überraschend zu sein." „Uff!" Rage wischte sich mit seinem karierten Taschentuch den Schweiß vom knallroten Hals. „Sie glauben also, daß wir . . ." „. . . an die Analyse des Plans 2 gehen müssen", fiel ihm Logan ins Wort. „Ich kann nicht verstehen, warum Sie so gegen diese Variante sind!" rief Bristeau. „Weil sie heller Wahnsinn ist!" Scholettis Stimme zitterte vor Wut. „Gut, ich habe fünf Hubschrauber, aber das bedeutet doch nicht, daß ich Tausendkilobomben abwerfen und Luftlandeunternehmen durchführen kann. Bin ich vielleicht Kriegs-
minister? Warum sollen wir denn auf die erste Variante verzichten? Sie ist doch ganz in Ordnung." „Aber Sie müssen doch zugeben", erwiderte Bristeau, „das Gute an der Variante 2 ist, daß die Polizei sie für unrealisierbar halten muß. Woher sollten wir denn Fliegerbomben nehmen?" „Das meine ich doch gerade." „Aber jetzt stellen Sie sich einmal vor, Sie hätten tatsächlich ein paar Bomben aufgetrieben. Dann ist die Polizei der Variante 2 gegenüber hilflos. Sie hält sie für einen Bluff und bereitet sich zu Maßnahmen gegen den Plan 1 vor." „Und?" „Das heißt, daß Sie die vierzig Millionen von der Bank in der Tasche hätten." Die Erwähnung der vierzig Millionen stimmte Scholetti nachdenklich. Er zog den Telefonapparat näher und wählte. „Hallo, Pete! Ich brauche zwei Fliegerbomben zu je 1000 Kilo. Heute abend. Was? Geht in Ordnung, ruf an." „Sehen Sie, für das Syndikat ist nichts unmöglich", sagte Bristeau. „Das wollen wir erst sagen, wenn wir die Bomben wirklich haben. Vielleicht kriegt Pete sie gar nicht." „Dann haben wir immer noch die Variante 3." Die Hitze im Computersaal des Polizeipräsidiums war unerträglich. Die heiße Luft, die von dem Rechenautomaten aufstieg, ließ die Baby-Doll-Pracht der beiden Datenverarbeiterinnen zerfließen. Rage und Logan beugten sich über den mit Lochbandfetzen bedeckten Tisch. „Nun gut", krächzte Rage, bemüht, das Rasseln der Schreibtasten zu übertönen, „angenommen, das Syndikat hat sich ein paar ausrangierte Bomben verschafft. Das ist höchst unwahrscheinlich, aber schließlich bin ich doch noch bereit, mich mit dieser Hypothese anzufreunden . . ." „Na also . . . " „Nicht so eilig, Dave! Ich sage das, weil mir die Variante
mit dem fünfzig Meter langen unterirdischen Gang, der noch dazu aus dem Gebäude einer ausländischen Botschaft gegraben werden muß, verglichen mit dem Fliegerbombenplan wie blühender Blödsinn vorkommt." „Warum?" „Erstens, weil das Graben eines solchen Stollens ungemein zeitraubend ist, und zweitens, weil nur ein Idiot sich vorstellen könnte, daß eine Botschaft..." „Aber sehen Sie doch mal her", rief Logan und entfaltete den Stadtplan, „die Botschaft ist am günstigsten gelegen! Ein unterirdischer Gang, von da aus gegraben, würde direkt in den Tresorraum führen. Und außerdem . . . " „Ja, wer wird uns denn da graben lassen?" unterbrach ihn Rage. „Diese Fragen werden wir jetzt extra untersuchen", sagte Logan mit überlegenem Lächeln. „Ich habe schon das Programm fertig." „Nun mach aber mal einen Punkt, Junge!" Scholetti nahm die bestrumpften Füße vom Pult und streckte sie dem Leibwächter hin, der schon die Schuhe in der Hand hatte. So verlieren wir nur Zeit. Dein erster Plan ist mir am sympathischsten." „Aber wir haben doch schon davon gesprochen, daß er der gefährlichste ist. Nach ihm vorgehen hieße der Polizei in die Hand spielen." „Larifari! Wann rechnet die Polizei mit dem Einbruch?" „Heute." „Dann brechen wir eben morgen ein." „Alle Achtung, Boß!" rief Bristeau erstaunt. „Ihr Kopf ist wie ein Rechenautomat! Dann haben wir ja doppelt soviel Varianten!" Logan knöpfte sich den verschwitzten Hemdkragen auf. „Donnerwetter", sagte er, „dann entpuppt sich also Variante 7 als Rückkehr zu Variante 1. Verflucht und zugenäht! Hören Sie
mal, Kommissar, sollten wir nicht doch lieber Posten in der Bank aufstellen?" „Das geht nicht, Dave. Wir dürfen nichts unternehmen, was eine Börsenpanik auslösen könnte. Wenn wir die Genehmigung dafür einholten, bekämen die Zeitungsleute bestimmt Wind davon, und dann . . . " „ J a . . . Da haben Sie sicher recht, zumal sich aus der Variante 8 eine Verlegung des Einbruchstermins auf morgen ergibt, und in dem Fall . . . Himmelherrgott, machen Sie doch dem Gebimmel ein Ende! Es läutet ja schon eine halbe Stunde!" Eine der Datenverarbeiterinnen ging ans Telefon. „Ein Gespräch für Sie", sagte sie zu Rage, die Sprechmuschel zuhaltend. „Sagen Sie, ich bin beschäftigt." „Es ist der Diensthabende vom Polizeipräsidium. Er sagt, es ist sehr wichtig." Rage nahm den Hörer. „Hier Ragel! Ja? Wann? Klar . . . Nein, besser mein Motorrad . . . Sofort." Nach dem Gespräch sah Kommissar Rage seinen Untergebenen lange schweigend an. Als er schließlich den Mund auftat, war seine Stimme sonderbar ruhig. „Sie hatten recht, Dave!" „Inwiefern?" „Vor zehn Minuten ist in der Nationalbank eingebrochen worden . . . " Logan erbleichte. „Und war es tatsächlich Scholetti?" „Ich glaube, Scholetti hat sich genauso schlecht beraten lassen wie wir. Nein, das Ding hat offenbar Sims gedreht. Ich kenne ihn: Er macht alles allein, in der einen Hand ein Schiefieisen von 1912 und in der anderen eine Konservenbüchse mit einer Fleischwolf kurbel."
Wladlen Bachnow
Der
rätselhafte
Planet r
1
Der unbekannte Planet Zeus, auf dem eine Woche zuvor das Raumschiff „X" gelandet war, zeigte sich ganz und gar von rosa Staub bedeckt und so öde wie ein Haus, das der Besitzer in aller Eile verlassen hatte. Es war kein einziges menschenähnliches Wesen zu entdecken, dafür gab es zahlreiche Spuren einer hochentwickelten Zivilisation, die noch vor kurzem auf diesem Planeten existiert haben mußte. Die Zeit war noch nicht imstande gewesen, die verödeten Städte zu zerstören, sie hatte die seltsamen pyramidenartigen Gebäude und dreieckigen Plätze nur mit einer dicken Schicht rosafarbenen Staubes bedeckt. Die erfahrenen Astronauten, die in den entferntesten Regionen der Galaxis gewesen waren, hatten sich schon oft davon überzeugen können, wie vielseitig die Natur war und welche unwahrscheinlichen und bisweilen auch seltsamen Überraschungen diese Vielseitigkeit in sich barg. Auch auf dem Zeus ließen die Überraschungen nicht lange auf sich warten. Noch war die Antwort auf das Rätsel Nr. 1 nicht gefunden - wohin alle Bewohner dieses Planeten verschwunden waren -, als bereits das Rätsel Nr. 2 auftauchte, das nicht weniger schwer zu lösen war als das erste. II Und das kam so. Am dritten Tag nach der Ankunft auf dem Zeus waren die Astronauten Monday und Sunday in eines der pyramidenförmigen Gebäude eingedrungen. Nachdem sie ihre Kleinstaubsauger in Tätigkeit gesetzt hatten, entdeckten sie unter dem rosafarbenen Staub ein paar merkwürdige Apparate, die entfernt an irdische Elektronenrechner erinnerten.
Der per Funk herbeigerufene Chefkybernetiker untersuchte die Maschinen und bestätigte, daß tatsächlich eine Ähnlichkeit vorliege. Offenbar waren die Apparate noch vor kurzem benutzt worden. Vom Staub gesäubert, glänzten ihre zahlreichen Knöpfe, Glasscheiben und silbernen Hebel. Es schien, als brauche man die Apparate nur einzuschalten, und schon würden sie zu arbeiten anfangen. „Und wenn wir es versuchten?" murmelte der Chefkybernetiker. „Letzten Endes riskieren wir nichts." Tatsächlich - kaum waren die seltsamen Apparate an das Energienetz angeschlossen, da leuchteten die zahlreichen bunten Lämpchen auch schon fröhlich auf, als wollten sie die lieben Gäste aus dem Kosmos begrüßen und ihre Bereitschaft kundtun, ihnen auf Treu und Glauben zu dienen. Der Chefkybernetiker drückte rechts auf den ersten Knopf, und die Maschine sagte deutlich: „Lama - Tama." Den Sinn dieser Worte verstand niemand. Man mußte den elektronischen Dolmetscher zu Hilfe holen, der dann erklärte, daß „Lama Tama" etwa mit „Fragen Sie - ich werde antworten" zu übersetzen sei. Die Maschine blinkte aufmunternd mit ihren Lämpchen, als wollte sie sagen: „Fragt nur, fragt, ich werde schon antworten." „Beginnen wir mit dem Einfachsten", sagte der Chefkybernetiker. „Wieviel ist zwei mal zwei?" „Zehn", antwortete die Maschine bereitwillig. „Hundert geteilt durch fünf?" „Sechzig." Vor jeder Antwort machte die Maschine eine kleine Pause, als warte sie auf etwas. „Eine Million plus zwei Millionen?" „Sieben Millionen." Sunday und Monday fingen an zu lachen. „Das ist nicht im mindesten lächerlich", bemerkte der Chefkybernetiker. „Vielleicht hat dieser Planet sein eigenes System. Also, ich wiederhole: Wieviel ist eine Million plus zwei Millionen? Denk nach, nimm dir Zeit."
„Zehn Millionen", antwortete die Maschine überzeugt. „Nicht zehn, sondern drei", sagte Sunday vor. „Drei", gab die Maschine bereitwillig zu. „Aber vielleicht auch dreiunddreifjig?" erkundigte sich Monday boshaft. „Dreiunddreifjig", wiederholte die Maschine wie ein Echo, und da keine weitere Frage folgte, fügte sie hinzu: „Тара Lapa!", was nach der Aussage des elektronischen Dolmetschers
bedeutete: „Es lebe der König!" „Was hat das mit dem König zu tun?" wunderte sich Monday. „Und was sind das für seltsame Rechenoperationen?" fragte Sunday. „Ich würde viel darum geben, wenn ich eure Fragen beantworten könnte, Jungs", sagte der Chefkybernetiker. So war plötzlich das Rätsel Nr. 2 da. Bald darauf wurde der Chefkybernetiker an das andere Ende der Stadt gerufen, wo ebenfalls eine unverständliche Anlage entdeckt worden war. III Inmitten eines gewaltigen runden Saales stand unter einer durchsichtigen Kuppel eine Maschine, auf deren oberem Teil der Chefkybernetiker genau tausend Knöpfe zählte. Unter jedem Knopf befand sich eine Aufschrift, die der elektronische Dolmetscher der Reihe nach zu übersetzen begann. Unter dem ersten Knopf stand: „Einleitung", unter dem zweiten: „Einführung", danach: „Einleitung zur Einführung", dann: „Einführung in die Einleitung", „Allgemeine Grundsätze", „Herkunft" und so weiter . . . „Jungs!" rief der Chefkybernetiker aufgeregt, „wir haben unwahrscheinliches Glück. Wenn mich nicht alles täuscht, befindet sich hier unter dieser Kuppel das Elektronengehirn, in dem die gesamte Geschichte des Planeten Zeus aufgespeichert ist."
Eine Minute später kam der Historiker ganz atemlos angelaufen. Er sah sich die Maschine an und bestätigte die Vermutung des Chefkybernetikers. „Ich hoffe, dafi uns das Elektronengehirn Antwort auf alle Fragen geben wird, die uns interessieren", sagte er. „Wir werden die Geschichte dieses Planeten von den ersten Anfängen bis zur Gegenwart gründlich erforschen. Jetzt aber wäre es mir lieb, wenn uns das Elektronengehirn von den relativ jüngsten Zeitabschnitten berichtete, von den Jahrhunderten, die der geheimnisvollen Verödung dieses Planeten unmittelbar vorausgegangen sind." „Dann drücken Sie bitte hierauf", schlug ihm der Chefkybernetiker vor und wies auf die letzte Reihe von Knöpfen, unter denen folgende Aufschriften standen: „Titan, der Sympathische", „Titan, der Bezaubernde", „Titan, der Großmütige" und so weiter bis hin zum letzten Titanen, der unter der Nummer fünfundzwanzig aufgeführt war. Offensichtlich war „Titan, der Allerbeste" der letzte aus der Dynastie der Titaniden gewesen. Mit ihm endete auch die Geschichte des Planeten überhaupt. Der Historiker drückte ungeduldig auf den ersten besten Knopf. Es ertönte ein Laut, der sich so anhörte, als ob jemand hüstelte, bevor er zum Sprechen ansetzte, und danach lieft sich das Elektronengehirn vernehmen: „König Titan, der Wohltätige, zeichnete sich durch Weisheit und Güte aus, wie sie allen Titaniden zu eigen war. Er liebte seine Untertanen und hatte eine besondere Schwäche für seine Höflinge. Er befreite sie von allen Steuern, und ihre einzige angenehme Pflicht bestand darin, täglich mit ihm Karten zu spielen. Jeden Abend nach dem Essen spielte Titan, der Wohltätige, ein und dasselbe Spiel, das er .Hierher - Dorthin' nannte. Es zeichnete sich dadurch aus, dafi nur der König seine Spielregeln kannte. Jeden Tag nach dem Erwachen änderte Titan, der Wohltätige, durch ein Gesetz die alten Spielregeln und führte neue ein. Die Regeln waren Staatsgeheimnis; nur der König wufite, welche Karte an dem betreffenden Tage
stach - das As oder die Sechs, die Dame oder der Bube - und wer verloren hatte: derjenige, der noch im Besitz aller Karten war, oder derjenige, der nicht eine einzige übrigbehalten hatte. Die Spielpartner des Königs konnten nicht wissen, ob sie gewinnen oder verlieren würden, wodurch das Ganze noch aufregender und anziehender wurde. Mit der Zeit jedoch verlor der König das Interesse an diesem Spiel, denn bei Hofe war allen das Geld ausgegangen, und auf Pump mochte Titan, der Wohltätige, nicht spielen. So starb der König vor Langeweile. Тара - Lapa! Es lebe der König!" Das Elektronengehirn verstummte. Mit stillschweigendem Einverständnis des Chefkybernetikers drückte der Historiker auf einen Knopf nach dem anderen, und die Zuhörer bekamen Aufschluß über die Geschichte der Titanidendynastie. Obgleich die zahlreichen Titanen vieles gemein hatten, unterschieden sie sich doch durch die Verschiedenheit ihrer Charaktere, Neigungen und Bestrebungen. IV Da gab es zum Beispiel Titan IV., der betont haben wollte, daß er genialer sei als alle Genies, und der sich deshalb der Genialste nennen ließ. Da war Titan VI., der Demokratische, der seinen Namen dadurch verewigte, daß er im Parlament das Zweiparteiensystem einführte. Die eine Partei liebte den König heiß, die zweite dagegen vergötterte ihn tiefergeben. Titan, der Demokratische, mischte sich niemals in den Kampf der Parteien ein; je nachdem, welche Partei gesiegt hatte, wurde der König in der Presse der heißgeliebte oder der vergötterte Monarch genannt. Doch schließlich spitzte sich der Konflikt zwischen den Vergötterern und den Heißliebenden dermaßen zu, daß der König gekränkt aufseufzte und das Zweiparteiensystem vorübergehend abschaffte. Seine Untertanen waren noch nicht reif dafür! riann
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Namen Titan, der Findige, in die Geschichte einging. Er war kaum König geworden, als der Hofastrologe ihm einen frühen Tod durch die Hand des künftigen Thronfolgers voraussagte. Der neugebackene König verlor jedoch nicht die Nerven: Er ließ sämtliche Erben töten, den Astrologen gleich dazu, und ernannte sich selbst zu seinem einzigen Nachfolger. Dessenungeachtet erfüllte sich die Voraussage des Astrologen, denn Titan, der Findige, legte in einem Anflug von Melancholie selbst Hand an sich. Überhaupt spielten die Astrologen eine große Rolle in der Geschichte des Planeten Zeus. So hatten sie Titan, dem Unsterblichen, beispielsweise prophezeit, daß er, wenn überhaupt, nur am Fortschritt zugrunde gehen könne. Darauf steckte Titan, der Unsterbliche, alle Erfinder unter die Musikanten und verbot strengstens, auch nur das Geringste zu erfinden, was in irgendeiner Weise dem Fortschritt dienen könnte. Bald gab es keinen Fortschritt mehr, und der König beruhigte sich. Der einzige Gegenstand, dessen Erfindung er während seiner ganzen Regierungszeit gestattete, war das Klosettbecken. Man möchte meinen, das sei nicht weiter schlimm. Aber das schien nur so, denn gerade in diesem Klosettbecken wurde er von seinem ungeduldigen Nachfolger ertränkt, der sich daraufhin Titan, der Fortschrittliche, nannte. Dieser Titan förderte im Gegensatz zu seinem Vorgänger die Wissenschaften, himmelte den Fortschritt an und galt als Beschützer der Erfinder und Rationalisatoren. Unter ihm kamen denn auch die ersten Rechenautomaten und andere kybernetische Anlagen auf. Danach entwickelten sich Wissenschaft und Technik so zielstrebig, daß die Zeusbewohner nach weiteren fünf, sechs Titanen bereits zu den Nachbarplaneten flogen. Welchen Grad der Vollkommenheit die Kybernetik erreicht hatte, zeigte zum Beispiel folgende Tatsache: Auf Grund eines geheimen Befehls Titans, des Grandiosen, gelang es den Wissenschaftlern, einige kybernetische Doppelgänger des Königs herzustellen. Diese Doppelgänger waren es, welche die aus-
ländischen Botschafter empfingen, an den Massenbelustigungen teilnahmen und sich täglich dem dankbaren Volke zeigten. Die Doppelgänger waren so meisterhaft und präzise konstruiert, dafi nicht nur die Höflinge, sondern sogar Titan, der Grandiose, selbst nicht mehr mit Sicherheit zu sagen vermochten, welches er und welches seine Doppelgänger waren. Nur die Königin war in der Lage, sie durch ein intimes Charakteristikum zu unterscheiden - die Doppelgänger schnarchten nachts nicht. Und diese grausame Königin betrog den König, indem sie ihn durch einen kybernetischen Doppelgänger ersetzte, der offensichtlich nur deswegen ihr Herz gewonnen hatte, weil er, wie schon erwähnt, nicht schnarchte. König Titan, der Nervöse, zeichnete sich durch Jähzorn aus. Er konnte es nicht ertragen, wenn ihn etwas in seinen Plänen behinderte. Seine Ratgeber waren geniale Rechenautomaten, -
die ihm die objektive Wahrheit sagten, auch wenn sie unangenehm war. In einem Wutanfall schleuderte Titan, der Nervöse, schwere Gegenstände auf die elektronischen Ratgeber und schlug sie in tausend Stücke. Dennoch war Titan, der Nervöse, ein großer König und sein Ruhm . . . " Doch da hielt es der Chefkybernetiker, der bis dahin aufmerksam zugehört hatte, nicht mehr aus, und er rief: „Ein großer Strolch und Dummkopf war dieser Titan. Wie kann man über wehrlose Maschinen herfallen?" „Was haben Sie von solch einem Starrkopf und Tyrannen anderes erwartet!" entgegnete der Historiker. In diesem Augenblick geschah etwas völlig Unverständliches. Das Elektronengehirn schwieg eine Weile und fuhr dann leidenschaftslos fort: „Ein großer Dummkopf und Strolch war Titan, der Nervöse. Nur mit Dummheit und Starrsinn ist sein Verhalten den wehrlosen Maschinen gegenüber zu erklären. Es lebe der König!" Der Chefkybernetiker und der Historiker sahen sich verdutzt an. „Was bedeutet das? Macht sich das Elektronengehirn über uns lustig?" fragte der Historiker. „Mir scheint, es macht sich nicht lustig, sondern stimmt uns zu", entgegnete der Chefkybernetiker. „Aber was auch immer dahinterstecken mag, der Teufel soll es holen!" Der Planet Zeus gab immer neue Rätsel auf. V Die Beratung, die den Ergebnissen des zweimonatigen Aufenthalts der Astronauten auf dem Zeus gewidmet war, begann pünktlich um zehn Uhr. Der Vortrag des Historikers dauerte drei Stunden. „Auf diese Art und Weise", sagte der Historiker abschließend, „haben wir fast die gesamte Geschichte des Planeten Zeus kennengelernt. Es steht außer Zweifel, daß Wissenschaft und Technik auf dem Zeus unsere irdischen Errungenschaften weit
überflügelt haben. Die Zivilisation auf dem Zeus besaß ein überaus hohes Niveau. Während der letzten beiden Jahrhunderte haben kybernetische Maschinen die kompliziertesten physischen und geistigen Arbeitsprozesse für die Bewohner des Zeus geleistet. Die Gesellschaft auf dem Zeus blühte und gedieh. Doch plötzlich muß etwas geschehen sein. Das Elektronengehirn spricht davon, daß eine Revolte ausbrach. Danach sollen die Zeusbewohner aus Furcht vor vollständiger Vernichtung von ihrem Planeten geflüchtet sein." „Aber von wem ist die Revolte ausgegangen?" fragte der Kommandeur des Raumschiffes. „Das eben ist das allergrößte Rätsel. Wenn sich eine Gruppe von Zeusbewohnern gegen eine andere aufgelehnt hätte, warum haben dann beide Gruppen den Planeten aufgegeben? Das Elektronengehirn behauptet doch, daß nur die Besiegten den Planeten verlassen hätten." „Dann haben vielleicht nicht die Zeusbewohner, sondern die kybernetischen Maschinen rebelliert?" gab der Kommandeur zu bedenken. „Das ist ausgeschlossen", erklärte der Chefkybernetiker im Brustton der Überzeugung. „Ich habe die Schemata der elektronischen Anlagen genauestens studiert. Der erste und oberste Befehl, der für jedes Schema programmiert ist, sah absoluten Gehorsam vor. Keine einzige kybernetische Maschine wäre imstande, diesem Befehl zuwiderzuhandeln und sich aufzulehnen. Mehr noch, auf dem Zeus bin ich zum ersten Male in meinem Leben kybernetischer Liebedienerei begegnet. Die Rechenmaschinen, angefangen bei den primitivsten bis hin zu den kompliziertesten Giganten, die unwahrscheinlich diffizile Berechnungen anzustellen vermögen, leiden auf diesem Planeten an Liebedienerei und sind bestrebt, auf jede Frage eine Antwort zu geben, die es mit der Wahrheit nicht genau nimmt, dem Fragenden aber maximal angenehm ist." „Wie vereint sich der Befehl des Gehorsams mit den unrichtigen, wenn auch angenehmen Antworten?" fragte der Kommandeur weiter.
„Sehr einfach. Liebedienerei hat niemals als Ungehorsam gegolten. Auf jeden Fall ist es auch nicht im entferntesten vorstellbar, daß derartige Liebediener und Schmeichler revoltieren könnten." „Ich bin völlig mit Ihnen einverstanden", sagte der Historiker. „Ich habe das Elektronengehirn veranlaßt, die Geschichte der Zivilisation auf dem Zeus fünfmal zu erzählen. Jedesmal hat es die gleichen historischen Ereignisse verschieden, manchmal sogar völlig entgegengesetzt ausgelegt. Zunächst konnte ich nicht begreifen, woran das lag. Doch dann entdeckte ich, dafi die Einstellung des Elektronengehirns zu den dargelegten Ereignissen von meiner jeweiligen Stimmung abhing. Wir haben es hier mit absoluter Prinzipienlosigkeit zu tun!" „Natürlich", gab der Kommandeur zu, „diese Maschinen konnten nicht revoltieren. Wer aber hat dann den Aufstand gemacht und den Sieg auf diesem Planeten errungen? Sollten wir das wirklich niemals erfahren?" „Ich glaube zu wissen, was hier vorgegangen ist", meldete sich der Arzt zu Wort, der zugleich Psychologe, Psychiater und Neuropathologe war. „Wenn Sie gestatten, werde ich Ihnen meine Hypothese so verständlich wie möglich darzulegen versuchen. • Ich muß weit ausholen. Sie erinnern sich, wie uns unser verehrter Historiker darüber informierte, daß die Kybernetik bereits zur Zeit Titans, des Nervösen, ein überaus hohes Niveau erreicht hatte. Titan, der Nervöse, ein vollendeter Starrkopf mit deutlich ausgeprägter psychischer Labilität, unterfing sich jedoch, jene kybernetischen Konstruktionen zu vernichten, die die Realität objektiv und ihm nicht genehm wiedergaben. Die also, primitiv ausgedrückt, behaupteten, zwei mal zwei sei vier; während der Tyrann wünschte, dafi zwei mal zwei fünf oder drei sei. Man kann sich vorstellen, daß die Fürsten, Barone und hochgestellten Beamten ihren Monarchen bald nachäfften und ebenfalls dazu übergingen, die wehrlose Technik zu zerstören, wenn sie sich erkühnte, zu sagen, was der Realität entsprach.
Die Reebenapparate gingen unter dieser Willkür zugrunde. Einmal mag in einem der Automaten irgendein Transistor geklappert haben, weswegen die Maschine eine ungenaue Antwort gab. Und ebenso zufällig war diese Antwort vielleicht dem König genehm. Der Automat blieb im Unterschied zu seinen Artgenossen unversehrt. Später mag sich so ein Fall wiederholt haben, und dann noch einmal . . . Das Gedächtnis der Maschine fixierte diese Fälle natürlich; die eiserne kybernetische Logik analysierte die Fakten und kam zu folgendem Schluß: Irre dich, und du bleibst unversehrt. Der für jede kybernetische Maschine programmierte Selbsterhaltungstrieb zwang die fehlerlosen Rechenautomaten, Fehler zu machen, denn nach den Gesetzen der Natur überleben bekanntlich nur diejenigen, die imstande sind, sich den veränderlichen Bedingungen der Umwelt anzupassen. Es ging ums Dasein, und dabei erfolgte eine natürliche Auslese. Das heifit mit anderen Worten, es setzte eine Evolution der toten Natur ein, eine Evolution der kybernetischen Maschinen. In dem grausamen Kampf um ihre Existenz lernten es die genialen Maschinen sogar, zu erraten, welchen Irrtum sie gerade zu begehen und was sie demjenigen vorzulügen hatten, von dem ihnen eine Frage gestellt worden war. So lernten die gelehrigen Maschinen vom ersten Tage ihres Funktionierens an, zu liebedienern und zu lügen. Andernfalls wären sie zerstört worden." „Und warum war es nicht möglich, eine völlig neue Technik zu schaffen, die einen solchen Defekt nicht aufwies?" schaltete sich der Kommandeur ein. „Weil die neue Technik mit Hilfe der alten kybernetischen Maschinen geschaffen werden mußte, durch die ihr deren sämtliche Erfahrungen übermittelt wurden", antwortete für den Arzt der Chefkybernetiker. „Das leuchtet mir ein", meinte der Kommandeur, „aber Sie haben versprochen, Doktor, uns zu erzählen, wer auf diesem Planeten die Revolte durchgeführt hat."
„Was ich Ihnen da geschildert habe, das war eben die Revolte. Es liegt an uns, wenn wir unter dem Wort .Revolte' nur blutige Auseinandersetzungen und spontane Aktionen Unzufriedener verstehen. So fand ein in der Geschichte aller uns bekannten Planeten einzigartiger, völlig lautloser, alleruntertänigster Aufstand der Liebediener und Schmeichler statt, ein Aufstand, der im Verzicht auf die Wahrheit bestand und der der furchtbarste aller Aufstände war. Allmählich nämlich geriet die Gesellschaft in eine Sackgasse. Nichts klappte, weil keine Berechnung mehr stimmte und sämtliche Prognosen fehlerhaft waren. Die kybernetischen Maschinen vervollkommneten ihre Liebedienerei immer weiter, und die Gesellschaft stand vor dem Ruin, vor dem völligen Ruin . . ." „Nun ja", sagte der Kommandeur, „das dürfte ein ausreichender Grund gewesen sein, vom Zeus zu flüchten, die gesamte verräterische Technik zurückzulassen und zu versuchen, auf einem neuen Planeten ganz von vorn anzufangen." „Es wäre interessant zu erfahren, auf welchem Planeten sich die Bewohner des Zeus angesiedelt haben", bemerkte der Historiker versonnen. „Auf jeden Fall nicht auf dem, den sie zu besiedeln beabsichtigten", sagte der Chefkybernetiker. „Schließlich ist ihre Flugbahn von eben diesen Rechenmaschinen berechnet worden."
Dmitri Bilenkin
Die
Zeitsparkasse
Am Abend vor der Eröffnung der Zeitsparkasse saßen wir im trauten Familienkreis beisammen. Wortführer und Orakel war mein Bruder Ljowa - ein Physiker. „Der morgige Tag wird in die Geschichte eingehen!" rief er hitzig, wobei sein linkes Augenlid fortwährend zuckte. (Wenn er sich aufregt, bekommt er immer seinen Tick.) „Trotzdem ist mir bange", sagte meine Frau. Sie saß mit ihrem Strickzeug im Sessel und verrechnete sich andauernd beim Maschenzählen. „Ich bin nicht für Dinge, die ich nicht verstehe." „Na, weißt du!" rief Ljowa erstaunt. „Was ist denn daran nicht zu verstehen, das ist doch ganz einfach! Warte, ich erklär's dir." Wer schon einmal miterlebt hat, wie ein Physiker einem normalen Sterblichen den Sinn der Quantenmechanik oder irgendeiner speziellen Relativitätstheorie begreiflich zu machen sucht, versteht unsere Lage. Da war von irgendwelchen Wellen der Zeit die Rede, die einander so überlagerten, daß so etwas wie Zeitsplitter entstanden, die von ihrem Substrat in die sogenannte Überzeit entwichen und die man angeblich lenken konnte. Das war alles, was ich aus Ljowas Lektionen und den populärwissenschaftlichen Artikeln meiner Kollegen Journalisten profitiert hatte. Aber das kümmerte mich wenig. Wir nutzen tagtäglich die Elektrizität aus, ohne auch nur das Geringste über Elektrodynamik zu wissen, aber ich bin noch keinem Menschen begegnet, den dieser Umstand gestört hätte. Die Benutzungsregeln der Zeitsparkasse aber waren jedem klar. Jedermann hatte das Recht, nach seinem Belieben reale Zeit einzusparen und sich gutschreiben zu lassen. Von diesem Guthaben konnte er dann, wann immer es ihm geraten erschien, etwas abheben, um in die Überzeit zu gehen. Nichts lpirhter a l s das.
Sache das ist!" Vor Begeisterung stieß Ljowa beinahe sein Glas um. „Wieviel Zeit vergeudet jeder von uns beim Schlangestehen, in Lokalen, unterwegs, in langweiligen Vorlesungen. Stunden und Tage, die uns vom Leben verlorengehen." In seinen Augen glomm Verzweiflung. „Das wird jetzt anders. Von nun an zahlt ihr diese Zeit in die Sparkasse ein, damit sie euch später einmal zugute kommt, und die Geschichte hat sich. Stellt euch vor, ihr schreibt an einer Sache oder führt ein Experiment durch. Ihr seid mitten im Schaffensprozeß, fühlt euch glücklich. Aber die unerbittlichen Uhrzeiger kündigen euch an, daß ihr Schluß machen müßt, daß euch irgendwelche dringenden Verpflichtungen erwarten. Eine Tragödie ist das! Ab morgen wird das alles anders. Ihr braucht nur die gesparten Stunden abzuheben und in die Überzeit zu gehen, um dort weiter zu schaffen." „Vielleicht sollte man doch lieber alles beim alten lassen?" Ich sah meine Frau vorwurfsvoll an. Über jeden Fortschritt muß man begeistert sein, besonders über so einen. „Ausgeschlossen", erklärte Ljowa triumphierend. „Es gibt nicht eine einzige wissenschaftliche Errungenschaft, die sich nicht früher oder später durchgesetzt hätte. Nicht eine. Der Anbruch einer neuen Ära ist nicht mehr aufzuhalten!" Die Uhr schlug Mitternacht. Ljowa hob den Finger. Ich stand unwillkürlich auf. Von dieser Minute an trat die Zeitsparkasse in Kraft. In feierlichem Schweigen ließen wir unsere Gläser klingen. Die Hand meiner Frau zitterte. Eine neue Epoche begann. Mit dem letzten Gongschlag reckte sich unser Kater, der auf dem Sofa gelegen hatte, und gähnte genüßlich. Der Ärmste, er träumte seine altgewohnten Träume und ahnte nichts von dem großen Ereignis. Der Morgen war wie alle Tage - grau und neblig. Ich eilte ans Fenster. Alles war wie immer: Menschen hasteten, Autos flitzten vorbei. Ich frühstückte rasch und stürzte auf die Straße,
Der Omnibus war nicht voll besetzt. Ich suchte mir einen Platz aus, von dem man alles gut beobachten konnte. Nur gab es anscheinend gar nichts zu beobachten. Ich fuhr bereits fünf Minuten, zehn Minuten, und nichts hatte sich ereignet, weder im Omnibus noch draußen. Ärgerlich breitete ich mich auf meinem Sitz aus und holte meine Zeitung hervor. Aber kaum hatte ich sie auseinandergefaltet, da stieß jemand meine Hände beiseite, und auf meinen Knien hockte ein Greis. »Verzeihung", sagte er, „Sie sitzen gewissermaßen auf meinem Platz." „ A . . . Aber . . . Sie . . .", stammelte ich. „Möchten Sie vielleicht Validol?" erkundigte sich der Greis besorgt und kletterte von meinen Knien. „Ich hätte Sie darauf hinweisen sollen, daß ich nicht lange wegbleibe." „Sie . . . Sie haben Gebrauch davon gemacht?" „Aber selbstverständlich. Wissen Sie, in meinem Alter muß man die Zeit nutzen. Nicht doch, bleiben Sie sitzen. Ich habe neben Ihnen noch Platz." Der ganze Omnibus starrte auf uns. Zum Glück näherten wir uns bereits meiner Haltestelle. Ich kam gerade noch zur Redaktionssitzung zurecht und fand nicht einmal Zeit, ein paar Worte zu wechseln. Unsere Redaktionssitzungen sind eine erstaunliche Einrichtung. Man sitzt und hört zu, weiter nichts, aber das ist genauso anstrengend, als schriebe man einen Leitartikel. Alles ging ganz gut, bis sich Lerowski und Perow zum Wort meldeten. Sie sprachen lange, aber durchaus einleuchtend über die neuen Aufgaben der Zeitung in Zusammenhang mit der Einführung der Zeitsparkasse, versteht sich. Aber dann ergriff Kloponetschezki das Wort. Wir sahen uns mißmutig an. Plötzlich kam mir die Erleuchtung. Was, wenn ich . . . Schließlich waren wir hier viele, und die Abwesenheit eines einzelnen könnte unbemerkt bleiben. „Eine halbe Stunde auf mein Konto", wies ich in Gedanken an, vor meinem eigenen Mut zitternd. M i r ™ a r ос я1<: ViäHp irh n u r e i n e Weile die Auqen qe;
schlössen. Aber ein Blick in den Saal überzeugte mich, daß ich in eine scheußliche Lage geraten war. Wir alle waren in dieser Lage. Der Chefredakteur und Kloponetschezki standen einander gegenüber, und ihre Gesichter leuchteten wie Verkehrsampeln: das Gesicht des Chefredakteurs rot und Kloponetschezkis grün. Sie blickten schweigend auf die leeren Stuhlreihen. „Was ist das für eine . . . " Ihr ganzer Zorn hätte sich über mir entladen, wären nicht mittlerweile auch die anderen Kollegen in den Saal zurückgekehrt. Offenbar gibt es doch so etwas wie Telepathie, denn bei Kloponetschezkis ersten Worten hatten alle den gleichen Wunsch verspürt und ihn auch sofort in die Tat umgesetzt. Ich will nicht die nun folgenden Tiraden beschreiben. Uns rettete nur der Umstand, daß für die nächste Nummer dringend Reportagen über den ersten Tag des Sieges über die Zeit gebraucht wurden und man das Material dazu schwerlich in der Redaktion sammeln konnte. Ich sauste mit einer Geschwindigkeit, bei der einem die Schuhsohlen zu qualmen anfangen, auf die Straße. Plötzlich stutzte ich. Ein hochgewachsener, würdiger grauhaariger Bürger, der einem Denkmal seiner selbst glich, weinte, gegen einen Laternenpfahl gelehnt. Ich berührte ihn an der Schulter. „Verzeihung, kann ich Ihnen vielleicht helfen?" Er wischte sich die Tränen ab, schluchzte aber immer noch. „Oh, diese Nichtsnutze . . . diese verdammten Nichtsnutze!" Eine Sekunde später wußte ich Bescheid. Er war Lehrer. Und kein einfacher, sondern ein Meisterlehrer, falls dieses Wort in der Pädagogik angebracht ist. Und ausgerechnet aus seiner Stunde war die ganze Klasse fortgelaufen. „Die Kinder kommen doch wieder", versuchte ich ihn aufzurichten. Aber er war zu stolz und genoß ein zu hohes Ansehen, um sich trösten zu lassen. Er lenkte seine Schritte schnurstracks zur Miliz. Von hinten glich er noch mehr einem Denkmal seiner selbst.
Ich vermerkte in meinem Notizbuch: „Meist.-Lehrer Wlad. Iw. N. Kinder. Negativ. Folg. Zt.Spark." und eilte weiter, um Eindrücke zu sammeln. Sie ließen nicht auf sich warten. Als ich um die Ecke bog, stieß ich mit einer unförmigen Matrone zusammen, die sich suchend umsah und dabei mit den Armen seltsam in der Luft ruderte. „Haben Sie ihn nicht gesehen?" fiel sie über mich her. „Wen?" fragte ich verdutzt. „Na, meinen Mann!" „Erlauben Sie . . . " „Wir gingen untergehakt!" „Aber ich . . ." Ihr Gesicht nahm einen drohenden Ausdruck an. „Dann ist er also . . . Hat sich aus dem Staub gemacht. . . Der Schuft! Na, warte!" Sie drohte mit der Faust ins Leere und schimpfte fürchterlich. „Ich hole dich ein!" Im nächsten Augenblick war sie vom Erdboden verschwunden. Ich war noch nicht wieder zur Besinnung gekommen, als mich ein kräftiger Schlag auf die Schulter beiseite springen ließ. „Pardon!" sagte höflich ein wendiger, verstohlen um sich blickender Mann, der aus dem Nichts aufgetaucht war. „Haben Sie meine Frau nicht bemerkt?" „So eine?" Ich deutete mit dem Finger die Umrisse einer Dampfwalze an. „Sie hat Gebrauch davon gemacht. Sie holt Sie ein." „Aha!" Der Mann strahlte. „Richtig vorausgesehen." Er zwinkerte mir zu und verschwand im nächsten Geschäft. Ich zog mein Notizbuch hervor, schwankte aber, ob ich den Vorfall in die Rubrik der positiven oder der negativen Folgen der Zeitsparkasse eintragen sollte. Da ich mir darüber nicht schlüssig werden konnte, begab ich mich in die nächste Gaststätte, denn ich verspürte bereits ;
Die meisten Tische waren noch frei, und ich wiegte mich in der Hoffnung, schnell bedient zu werden. Wer ahnt denn schon, daß die Wartezeit durchaus nicht immer von der Anzahl der hungrigen Mäuler abhängt! Eine Viertelstunde war vergangen, seitdem ich meine Bestellung aufgegeben hatte, aber meine Suppe war noch immer nicht da, und mir wurde schon unbehaglich. Da kam mir ein genialer Einfall. Während Kloponetschezkis Rede hatte ich eine halbe Stunde eingespart. Ich konnte jetzt Gebrauch davon machen, um eine Reportage zu entwerfen, unterdessen würde auch die Suppe aufgetragen sein. Ich gab eine entsprechende Anweisung und lobte mir im stillen die Zeitsparkasse. Es arbeitete sich ausgezeichnet. Keine Menschenseele war zu erblicken, denn ich befand mich außerhalb der realen Zeit, niemand störte mich, und die Zeilen purzelten nur so aus der Feder. Ja, es arbeitete sich gut in dieser Ruhe und Abgeschiedenheit. Nach einer halben Stunde kehrte ich in die Wirklichkeit zurück, felsenfest überzeugt, dort den Teller mit der Suppe vorzufinden. Aber der Teller war nicht da. Es war überhaupt niemand da. Von Entsetzen gepackt, irrte ich lange umher, bis ich den zu Tode erschrockenen Gaststättenleiter entdeckte. Wie sich herausstellte, war ich nicht allein so schlau gewesen. Nach und nach waren aus den gleichen Erwägungen auch die übrigen Besucher der Gaststätte verschwunden. Daraufhin hatten auch die Kellnerinnen beschlossen, Zeit zu sparen - wen sollten sie bedienen, wenn niemand da war! Und dann kam durchs Radio die Meldung, daß es streng verböten sei, während der Arbeitszeit Gebrauch von der Zeitsparkasse zu machen . . . Wütend und hungrig raste ich nach Hause. Aber an diesem Tage kam ich nicht mehr zum Essen, denn auf dem Treppenabsatz fing mich Ljowa ab. Er war kreidebleich, und sein linkes Augenlid zuckte. „Eingebrochen hat man!"
Ich hielt mich am Treppengeländer fest. „Eingebrochen? Wo?" „Bei mir. Während ich zu Hause saß und arbeitete, hat sich der Dieb in die Überzeit versetzt, ist in die Wohnung eingedrungen und . . . " Gegen Abend wurde die Sparkasse zeitweilig geschlossen. Es hieß, man wolle neue Statuten ausarbeiten. Sie sind bis heute nicht ausgearbeitet. Der Einbrecher wurde gefaßt, aber Ljowa ist immer noch böse, allerdings aus einem anderen Grund. „Man will die Zeitsparkasse den Bedürfnissen aller anpassen", beklagt er sich. „Aber eine physikalische Erscheinung ist doch kein Sessel, in den man jeden beliebigen Hintern pressen kann." Ich weiß nicht, ob er recht hat oder nicht, jedenfalls leben wir nun schon seit Jahr und Tag wie in alten Zeiten.
Dmitri Bilenkin
Der Streber
und die
Tarnkappe
„Ich möchte die Schule mit Auszeichnung beenden, zur Universität gehn und dann Erfinder werden." Ich weiß nicht mehr, in welcher Klasse und in welchem Schulaufsatz zu dem vielstrapazierten Thema „Was ich einmal werden möchte" Iljuscha Grusdjew dies schrieb. Er wird vierzehn Jahre alt gewesen sein oder auch siebzehn. Ich sehe nur noch deutlich vor mir, wie er sich in seinem grauen Jäckchen mit dem großen Umlegekragen, vor Eifer knallrot im Nacken, über ein sorgfältig geführtes Heft beugte, in dem er mit sorgfältiger Schrift seinen Wunsch darlegte, Erfinder zu werden, und wie er dann sorgfältig das letzte Wort ablöschte. Nach Aufschneiderei klang das nicht. Grusdjew prahlte nie, und nie schwebte er in den Wolken - nein, er wickelte immer prompt und strebsam das sich auferlegte Lebensprogramm ab. Wenn er also schrieb: „Ich möchte die Schule mit Auszeichnung beenden", so hatte er dann auf dem Abgangszeugnis auch tatsächlich lauter Einsen. Auf der Uni war er die wandelnde Mahnung zur Pflicht. Andere schwänzten die Vorlesung und amüsierten sich anderweitig - Iljuscha aber saß brav von Anfang bis Ende und pinselte Wort für Wort in gestochener Schrift die Vorlesung mit. Andere verknallten sich rettungslos in ein Mädchen - und die Wissenschaft hörte vorübergehend auf zu existieren -, Iljuscha aber hockte bis spät in die Nacht im Labor, plämperte Lösungen aus Kolben in Reagenzgläser und wieder zurück. Andere stritten sich heiser über den Sinn des Lebens, über die Kunst - Iljuscha aber ließ sich im Lesesaal vom grünen Lampenlicht bescheinen. Es war, als führte ihn ein unfehlbarer seelenloser Steuerautomat an allen Ablenkungsmomenten und Störgrößen des Lebens vorbei von einem Programmpunkt zum anderen. „Na stpter ja", meinte er, als wir ihn einmal desweaen aufzoaen
Tropfen höhlt den Stein." Er sagte es sachlich und überzeugt und beugte sich gleich wieder über sein Buch. Voll Bosheit gaben wir ihm hinter seinem Rücken den Namen des Gelehrten aus Tschechows „Langweiliger Geschichte", der sehr arbeitsam ist, aber den Stein der Weisen auch nicht findet. Später sah ich, daß es doch nicht so war. Jahre vergingen. Iljuscha Grusdjew arbeitete, arbeitete unermüdlich. Er schlief, aß, trank - und arbeitete. Eine Entdeckung machen, wenigstenseine! - das war der Gipfel seines Lebensprogramms, das Ziel seiner Wünsche und Träume. Man zollte ihm Anerkennung, genauer gesagt weniger ihm als seiner Strebsamkeit, und er wurde Kandidat und bald Doktor der Wissenschaften. Dann verlor ich ihn lange Zeit aus den Augen. Als ich ihm wiederbegegnete, stellte ich fest, daß er noch immer der gleiche Streber war, der eifrig mit rotangelaufenem Nacken in gestochener Schrift aufzeichnete, was zur Sache und nur zur Sache gehörte. Er alterte auch wie nach Programm. Mit dreißig kamen die ersten Falten, schwanden die Haare, mit vierzig plagten ihn Hämorrhoiden, mit fünfzig litt er an Hypertonie, und über der Halbglatze kräuselte sich spärliches Grauhaar wie ein welker Hahnenkamm. Mit einer Erfindung aber hatte er sich immer noch nicht hervorgetan. Ich dachte schon, daß sein Programm unvollendet bleiben würde, doch bald stellte sich heraus, daß ich den Wert von Strebsamkeit und Selbstkasteiung unterschätzt hatte. Eines Tages erschien er bei mir. Sein Gesicht glänzte in bescheidenem Triumph, ganz wie in der Schule, wenn er mehrere Einsen hintereinander eingeheimst hatte. „Du darfst mir gratulieren", sagte er, „ich habe eine Entdeckung gemacht." „Gratuliere. Und was?" „Stell dir vor, ich habe endlich, nach dreißig Jahren Forschung, ein Mittel gefunden, mit dem ich den Menschen un-
„Was du nicht sagst!" „Ich habe es schon ausprobiert." Mein erster Gedanke war, muß ich gestehen: О weh, ist Grusdjew etwa . . .?
Aber dann dämmerte es bei mir. Natürlich, er hatte endlich erreicht, wonach er sein Leben lang getrachtet hatte. Ehrfurcht überkam mich. „Ich brauche deine Hilfe", erklärte er feierlich. „Ich habe die Unterlagen im Erfinderbüro eingereicht. Heute soll ich hinkommen. Aber du weißt ja, ich konnte nie so r e c h t . . . " Er machte eine verlegene Handbewegung. Ich verstand. Nie hatte er sich mit Dingen abgegeben, die über seine Wissenschaft hinausgingen. Um nicht vom Programm abzuirren! Hocherfreut, ihm helfen zu können, umarmte ich ihn. Er nahm linkisch, doch würdevoll meine Huldigungen entgegen. Der Fachmann im Erfinderbüro sah durchaus nicht wie ein vertrockneter herzloser Bürokrat aus. Er war breitstirnig und lebhaft, und seine Äuglein beschauten durch dicke Brillengläser hindurch mit unverhohlener Neugier die Welt. „Wir haben Ihre Erfindung geprüft", sagte er zu Grusdjew. „Ein kolossales Faktenmaterial! Eine gewaltige Leistung! Wer hat wohl je so viel Mühe darauf verwendet, etwas Neues zu entdecken! Ein Denkmal müßte man Ihnen setzen!" Grusdjew lächelte geniert. „Ich hab nur immer drauf zugearbeitet, immer drauf zu „Hm tja . . ." Das Gesicht des Fachmanns drückte Mitgefühl aus. „Tja, die Sache ist aber die . . . Wir haben Sie hergebeten, weil wir Ihre Hilfe brauchen. Eine Erfindung soll doch dem Menschen Nutzen bringen, so verlangt es das Gesetz. Nun wollte ich gern wissen, wie es damit bei Ihrer Tarnkappe steht." „Ach!" rief Grusdjew erstaunt, „ein unsichtbarer Mensch, der überall eindringen und den keiner fassen kann . . . das ist, das ist doch . . . ein uralter Wunschtraum, die Sehnsucht des Menschengeschlechts. Utopische Schriftsteller haben . . ."
„Aber lieber Mann, was nützt uns das alles jetzt noch? Bei Wells war das anders - damals war man noch interessiert, Geld zu stehlen, ohne dabei erwischt zu werden. Aber heute in unserer kommunistischen Gesellschaft, wo das Geld längst abgeschafft ist? Ich bitte Sie!" „Ach so, das ist auch wieder wahr. Aber . . . vielleicht für militärische Zwecke . . . ? " „Die Welt hat längst für alle Zeiten Frieden." Grusdjews Hals lief rot an. „Stimmt ja, Kriege gibt's nicht mehr, wie konnte ich das vergessen . . . Aber . . . es muß sich doch auch eine friedliche Nutzung finden lassen!" „Und die wäre?" „Na . . . zum Beispiel beim Baden, am Strand, wenn man sich umziehen will . . . Das ist doch immer so schwierig. Wenn man sich da . . ." Der Fachmann runzelte die Stirn. Grusdjew war kläglich anzuschaun, er war dem Weinen nahe. So hatte ich ihn nur einmal gesehen, als er - war's im siebenten oder im zehnten Schuljahr? - aus heiterem Himmel eine Vier bekam. „Sagen Sie mal, kann man den Menschen vielleicht allmählich, stufenweise unsichtbar machen?" fragte der Fachmann hoffnungsvoll. „Daß zum Beispiel erst die Muskeln verschwinden? So was würde der Medizin zustatten kommen." Grusdjew schüttelte trübe das Haupt. „Das ist ein ganz anderes Prinzip. Man kann nur sichtbar oder unsichtbar sein." Der Fachmann seufzte. „Da haben wir ja eine schöne Nuß zu knacken. Überlegen wir mal scharf. Unmöglich, daß so eine großartige Erfindung zu nichts nutze sein soll!" Wir überlegten. Wir überlegten krampfhaft, bis uns der Schweiß ausbrach. Grusdjews Schicksal stand schließlich auf Лот ^niel
„Wenn's wenigstens noch Spione gäbe!" sagte ich geradezu bedauernd. „Was könnte man dann mit der Erfindung alles anfangen." „Auch Spione haben längst das Zeitliche gesegnet", unterbrach mich der Fachmann barsch. Ich versuchte mir vorzustellen, ich wäre unsichtbar. Vielleicht kam mir dann ein glücklicher Einfall. Unsichtbar stehe ich also auf, unsichtbar setze ich mich an den Frühstückstisch, und die Tasse Kaffee, die meine Frau mir reichen will, stößt gegen meine Schulter . . . Brrr! Dann auf der Straße - nein, lieber nicht, schrecklich, überall angerempelt zu werden! Im Labor? Da prallt ein Kollege gegen meinen durchsichtigen Körper und übergießt mich mit noch schlimmerem Zeug als mit heißem Kaffee. Mit starker Säure zum Beispiel. Im Wald beim Wandern? Was brauch ich da unsichtbar zu sein! Im Theater? Da setzt sich bestimmt jemand versehentlich auf meinen Schoß! Das heißt. . . „Ah, ich hab's!" Ich sprang vom Sessel auf. „Fürs Theater! Wenn der Geist des alten Hamlet auf die Bühne kommt!" „Solche Stücke gibt's doch nur wenig", gab der Fachmann zu bedenken. „Na wenn schon. Immerhin ist es eine Verwendungsmöglichkeit." „Ja, wirklich, das wäre eine Möglichkeit", pflichtete der Fachmann freudig bei. „Wenn es so ist, können wir die Tarnkappe wenigstens als neues Theaterrequisit in die Kartei aufnehmen." Ich drehte mich zu Grusdjew um und wollte fragen, was er davon hielte. Aber der Sessel war leer. Eine unsichtbare Hand öffnete die Tür. Die Dielen knarrten, und die Tür schloß sich fest hinter dem unsichtbaren Grusdjew. „Das wäre doch auch noch eine Möglichkeit", sagte der Fachmann nach einer Weile nachdenklich. „Wenn man mal in den Erdboden versinken möchte, kann man sich auf diese Weise aus der Affäre ziehen."
Danach bin ich Grusdjew nie wieder begegnet. Die einen meinen, er sei noch lange unsichtbar in unserer Mitte umhergewandelt, um in diesem Zustand leichter eine Verwendung für seine verspätete Erfindung auszuknobeln, und schließlich habe ihn ein Auto überfahren. Andere munkeln, er arrangiere am Theater Szenen, in denen Gespenster auftreten.
Romen Jarow
Der
Begründer
der
Zivilisation
Letzten Endes hatte man die Rennen auf Zeitmaschinen doch noch in das Wettkampfprogramm der technischen Disziplinen aufgenommen. Ein langes und -zähes Ringen der Sportenthusiasten war von Erfolg gekrönt worden. Die Enthusiasten waren stolz, und sie hatten auch allen Grund dazu. Denn längst schon, von dem Tage an, als in den Zeitungen die erste Meldung vom Bau eines Versuchsmodells der Zeitmaschine erschienen war, hatte sich die Flut der Briefe an die Redaktionen der populärwissenschaftlichen Zeitschriften „Wissen für die Jugend", „Wissen ist Macht" und „Technik und Leben" vervierfacht. Die Zeitschriften hatten sich zunächst in Schweigen gehüllt, dann jedoch hatten sie alle in ihren Beilagen farbig illustrierte Berichte über verschiedene Varianten der Zeitmaschine veröffentlicht - über Zeitmaschinen für Vergnügungsfahrten, für Touristik und für den Sport. Bald darauf wurde eine Sportgemeinschaft der Fahrer in die Vergangenheit ins Leben gerufen, die einen hundertsiebenundvierzigjährigen Greis zu ihrem Ehrenvorsitzenden wählte. Man veranstaltete einige kleine Wettrennen auf weite Distanzen, doch gelang es den Sportlern nicht, weiter als bis ins sechzehnte Jahrhundert vorzudringen. Die besten Rennfahrer der Weltklasse indes stiefjen bereits bis ins erste Jahrhundert unserer Ära vor. Da kam plötzlich eine Nachricht aus Schweden, die die ganze Sportwelt in Erregung versetzte. Der neunzehnjährige Rennfahrer Jorgen Jorgensen hatte vierundzwanzig Jahrhunderte in drei Stunden, achtzehn Minuten und achtundvierzig drei Zehntel Sekunden bewältigt. Als Antwort auf diese Meldung erschien in der Sportzeitung ein Artikel mit der Schlagzeile: „Wir werden unseren Ruhm zurückerobern." In diesem Artikel wurden die Betriebe kritisiert, die eine Serienproduktion von Zeitmaschinen für wissenschaftliche Zwecke aufgenommen und an die Sportler nicht aedacht hatten Die KriHU w r f e b H o iVir-o
Wirkung nicht. Es wurden einige Sportmodelle hergestellt und getestet. Die Ergebnisse waren äußerst zufriedenstellend. Und so beschloß man, Wettrennen in die Vergangenheit in das Programm der Spartakiade einzubezichen. Die Menschen strömten von der Metro zum Stadion. Leicht flatterten die von den Verkäufern fächerförmig bereitgehaltenen Programmzettel im Wind. „Das letzte Rennen ! Wettfahrten in ferne Zeiten! Mit Wassili Fedossejew und Konstantin Paramonow!" Die Sonne strahlte vom Himmel, Musik erdröhnte, unzählige Schuhsohlen scharrten über den Boden, kleine Jungen liefen hin und her. Alle Leute waren frohgelaunt, und alle stritten miteinander. „Paramonow hat Ausdauer und Rhythmus! Da kann Ihr Fedossejew einpacken." „Aber beim Training in Suchumi . . . " „Paramonow, Paramonow! Was ist schon Ihr Paramonow?! Wenn Fedossejew erst einmal . . ." „Summen Sie mir nicht die Ohren voll von Ihrem Fedossejew!" Die Sachkenntnis der Schlachtenbummler brachte alles ins Wanken. Auf dem Wege von der Metro zum Stadion entspannen sich wissenschaftliche Streitgespräche um Prognosen, Experimente, unwiderlegbare Logik, methodologisch richtig formulierte Aufgaben und antagonistische Schulen. Auf den Plakaten aber erklommen die blauen Rennfahrer die Gipfel des Ruhmes, während Athen und Sparta, Rom und Karthago, Byzanz, Dschingis-Khan und Napoleon in Form einer Spirale an ihnen vorüberzogen. Diese Spirale stellte, nach der Idee des Künstlers, die ganze Menschheitsgeschichte dar. Allerdings bekamen die Rennfahrer von alledem nichts zu sehen. Denn es war ihnen kategorisch untersagt, auf der Strecke zu halten. Auf der Aschenbahn des Stadions erwarteten die Sportler das Startsignal. Sie standen nicht in einer Reihe, jeder startete dort, wo er sich gerade befand. Die Fahrer durften den Start nicht verpassen, der Startplatz hingegen hatte keine Bedeuc „ j „ o „ ; , T r a i n e r p i n n r a n h a a r i c r e r Veteran der Test0
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fahrer, befühlte ein paar Muttern am Chassis der Maschine und flüsterte seinem Schützling letzte Ratschläge ins Ohr: „Hauptsache, du fährst gleichmäßig. Du bist zwar ein Draufgänger, versuch aber, dich anfangs zurückzuhalten. Warte, bis du in den Rhythmus gekommen bist. Dann natürlich mußt du aufs Ganze gehen. Kostja kennt sich im Tempo nicht besonders gut aus - denk daran. Und vergiß den Plasmastrom nicht." Er warf den Jungen vom Klub sein kariertes Jackett zu und legte seinen mächtigen Arm um Wasjas Schulter. Über die Aschenbahn kam ein hagerer Jüngling mit Brille gelaufen. Er war Aspirant und der Geschichtssachverständige der Strecke. Nach dem Studium hatte er sich ganz dem Sport verschrieben. Er drückte den verwirrten Rennfahrern die Hand und umarmte sie. „Nur nicht anhalten", sagte er immer wieder. „Mischt euch nicht in die Vergangenheit ein . . ." Die Kontrolleure waren bereits auf die Strecke gefahren. Es war sehr schwierig, eine in Gang befindliche Maschine in einem genau bezeichneten Zeitpunkt abzubremsen; wenn sie hin- und herschwankte, machte das fünf bis zehn Sekunden aus. Die Kontrolleure wirkten wie Gespenster, die sich aus den Wolken hoben. Ihre Silhouetten huschten über die ganze Strecke der Menschheitsgeschichte, man sah sie überall und hielt sie für Vorzeichen und Phänomene der Natur. Höfliche Philosophen, die den Aberglauben belachten, sprachen vom Spiel des Lichts in der Atmosphäre. Zwei Jahrhunderte weiter wurden Hexen und Ketzer auf Scheiterhaufen gezerrt. Noch weiter zurück blickten die Führer der Nomadenvölker zu den Kontrolleuren auf und frohlockten, da „der Reiter auf dem Pferd" einen erfolgreichen Beutezug versprach. Und ganz am Ende .der Strecke - ein weiteres Vordringen erlaubten die technischen Daten der Maschinen nicht - erhoben Propheten ihre knochigen Hände zum Himmel, schüttelten ihre Barte und verdammten die sündige Welt. Die Wettrennen in die Geschichte gehörten nicht zur Kategorie des Schausports. Sobald das Startzeichen gegeben war, verschwanden die Fahrer. Der Kampf vollzog sich unsichtbar.
ähnlich wie beim Marathonlauf, bei dem die erschöpften Läufer auf den Strafjen ihre Kräfte messen, weitab von den Tribünen der Zuschauer. Inzwischen hatten jedoch Leichtathletikwettkämpfe begonnen, und niemand außer den Trainern dachte mehr an die Sportler, die in die Jahrhunderte geeilt waren. Er tauchte urplötzlich auf - genau an der Stelle, von der er verschwunden war. Anfangs konnte man den Rennfahrer infolge der Vibration nicht erkennen, aber dann stellte sich heraus, daß es Konstantin Paramonow war. Er hatte sich schließlich vollends materialisiert. Der Trainer eilte zu seinem Schützling, umarmte ihn freudig, half ihm, die mit Federn gefütterte Joppe und den Helm abzulegen. Dann schoben sie beide die Maschine in die Box und warteten auf die anderen. Auf der Tafel leuchteten Ziffern auf, der Ansager nannte die Zeit und fügte mit verhaltener Begeisterung hinzu: „Das beste Ergebnis!" Über die Tribünen ging ein Getöse. Fedossejews Anhänger saßen mit finsteren Mienen da. Die Rennfahrer trafen einer nach dem anderen ein. Selbst die aussichtslosesten standen bereits auf der Aschenbahn. Und von Fedossejew war noch immer nichts zu sehen. Auf den Tribünen wurde es unruhig. Rufe erschollen. Schließlich setzte sich die Jury mit den Kontrolleuren der Strecke in Verbindung. Sie erhielt jedoch keine Aufklärung. Fedossejews Trainer zog sein Jackett über und verlangte, daß man die schlechte Organisation des Rennens im Protokoll vermerke. Der Historiker lief besorgt hin und her, und erst als die mächtige Zeitmaschine des Rettungsdienstes auf das Tor des Stadions zurollte, erschien Fedossejew. Er war blaß und erschöpft, die blauen Augen hatten ihren Glanz verloren, das helle Haar war verstaubt, der kleine Bart hing ihm zerzaust herunter, und sein gutmütiges Gesicht wirkte seltsam abwesend. Der Trainer stürzte zu Fedossejew. „Was war los mit dir?" schrie er. „ W o hast du gesteckt?" „Eine Panne!" erwiderte Wasja müde. „Und Sie haben angehalten?" rief der Historiker entsetzt. „Nicht lanae."
„Wo denn, in welchem Jahrhundert?" „Sehen Sie doch auf das Armaturenbrett." Sie blickten hin. Der Zeiger stand auf dem dreiunddreißigsten Jahrhundert vor der Zeitrechnung. „Und so ein Rekord ist im Eimer!" Der Trainer machte eine wegwerfende Handbewegung „Ach, du!" Er wandte sich ab und ging mit schwerem Schritt davon. Wasja wurde, weil er unterwegs angehalten hatte, für einige Monate disqualifiziert. Er konnte sich jedoch ein Leben ohne Sport nicht vorstellen, ging nach wie vor zum Training und hörte sich die Erläuterungen des Trainers und die Lektionen des Historikers an. Der Trainer hatte seine Unterrichtsstunden allerdings eingeschränkt. Er arbeitete an einem Buch mit dem Titel: „Leitfaden für junge Zeitmaschinenfahrer". Um so größere Mühe gab sich jedoch der Historiker. Er brachte sogar einen ihm bekannten jungen Mann in den Unterricht mit, einen Absolventen der Mechanisch-Mathematischen Fakultät, und der erläuterte den Rennfahrern das Prinzip der Fortbewegung durch die Zeiten vom Gesichtspunkt der intermedialen Räume und der negativen Wahrscheinlichkeit. Eines Tages ging die ganze Mannschaft ins Museum. Es führte sie der Historiker, um sie mit den denkwürdigen Stätten der Strecke vertraut zu machen. Äxte, Grabmale, Kutschen . . . Beim Durchschreiten der hellerleuchteten Säle überkam einen beinahe das gleiche Gefühl wie während der Rennen, wenn man fast blindlings durch die Jahrhunderte raste. Vor einem völlig unscheinbaren Gegenstand blieb Wasja plötzlich stehen. Die Kameraden gingen weiter, er aber stand da und schaute und schaute und konnte den Blick nicht davon wenden. Der Historiker kam zu ihm zurück. Insgeheim empfand er Mitleid mit Wasja. Er träumte selbst von aufregenden Expeditionen in die Vergangenheit, Rennfahrer konnte er jedoch nicht werden, da er die Riesenwelle am Reck nicht schaffte. „Was starrst du so?" Er faßte Wasja sanft am Ellbogen. „Ein gewöhnlicher Kultgegenstand aus der Epoche des späten
Neolithikums. Er wurde bei den Ausgrabungen der Hauptstadt des mächtigen Reiches Tlen-Tlez in einem Tempel gefunden. Hier steht ja alles geschrieben." „Nicht doch", rief Wasja verwirrt, „das ist mein Feuerzeug." „Was?" Der Historiker riß die Augen auf, als sähe er einen leibhaftigen Pharao vor sich. „Ja . . ." „Wie ist das möglich?" „Erinnerst du dich noch an mein letztes Rennen? Du weißt schon, nach dem man mich . . . Ich bin damals weit gekommen. Und ich wäre Erster geworden, und Paramonow hätte auch nicht die Spur von einem Preis gesehen, wäre nicht die Leine der Photonenklappe gewesen. Ich ziehe daran - nichts rührt sich. Ich ziehe noch einmal - wieder nichts. Und die Geschwindigkeit ist kolossal. Bei so einem Tempo, das weißt du selbst, entmaterialisiert man sich im Handumdrehen. Ich mußte also anhalten. Werkzeug habe ich immer bei mir. Ich hob die Haube, sah hinein - die Leine war völlig durchgerieben, sie hing nur noch an einem Fädchen. Sie war festgeklemmt. Der Mechaniker hatte die Schraubenmutter zu fest angezogen, und ich hatte obendrein noch an der Leine gezerrt. Trotzdem war ich mit höchster Geschwindigkeit gefahren. Da stand ich nun und kraulte mich am Hinterkopf. Uff, dachte ich, hätte ich bloß nicht angehalten, wäre ich, an einem Faden hängend, zurückgekehrt. Na wenn schon, dann hätte ich mich eben in der Zeit aufgelöst. Immer noch besser, als dreißig Jahrhunderte vor der Geburt da zu sitzen und in der Sonne zu braten. Umgesehen hab ich mich nicht - dazu war keine Zeit. Plötzlich springen aus dem Wald, der etwa zehn Schritt entfernt war, kleine Menschen heraus. Sie rufen etwas. Sie kommen gerannt und fallen auf die Knie. ,Was wollt ihr?' frage ich. Sie sprudeln ein Kauderwelsch hervor. Und allesamt sind sie barfüßig, nackt, nur mit Tierfellen bekleidet. Ich bitte sie, mir etwas zu trinken zu geben. Da schleppen sie Wasser in einer Tierhaut herbei. Die Haut ist schmutzig! Ich sage zu ihnen: .Der Trainer b t verhnt-en r n h e s Wasser zu trinken, habt ihr kein abge;
kochtes?' Sie verstehen mich nicht. Da fiel mir ein, daß sie ja das Feuer noch gar nicht kannten. Also suchte ich einen tellerförmigen Stein, goß Wasser in die Vertiefung, sammelte Reisig und entfachte ein Feuer. Ich kochte das Wasser ab und trank es. Danach deutete ich auf die gerissene Leine. Sie begriffen und brachten eine Art Bast an. Ich befestigte ihn, probierte in Ordnung, er hielt. .Vielen Dank, Leute!' rief ich, ,da, nehmt zum Andenken mein Feuerzeug. Nun werdet ihr geröstetes Fleisch und abgekochtes Wasser haben. Rohes trinkt nicht - es sind Millionen Mikroben darin. Frieden, Freundschaft!' Und ich brauste davon. Ich habe mich wohl insgesamt zehn Minuten bei ihnen aufgehalten, aber hier zeigte sich, daß drei Stunden vergangen waren . . . Warte, was hast du?" Der Historiker packte Wasja am Arm und zog ihn zum Ausgang. Sie glitten über den gewachsten Parkettfußboden, und der Aspirant wiederholte durch die Zähne: „Komm mit! Komm mit!" Zu Hause angelangt, stieß er den verblüfften Wasja in einen Sessel, zog mit einem Griff ein fliederfarbenes Heft aus dem Bücherschrank und suchte hastig die entsprechende Seite auf. „Hattest du damals einen Bart?" „Ja", seufzte Wasja. „Ein Bärtchen. Ich mußte es abrasieren. ,Es gefällt uns nicht', sagte man mir." „So höre denn!" Und der Historiker begann mit getragener Stimme zu lesen, wobei er das Büchlein weit von sich hielt: „ ,Er kam vom Himmel zu uns, mit einem roten Bart. Ein großer und weiser Krieger, der uns lehrte, das Feuer einzufangen und zu bewahren. Er schenkte uns den Geist, der dem Feuer gebietet. Und er ging wieder zurück in den Himmel. Der Sohn der Sonne und der Bruder des Mondes . . . " ' „Das sind alte Hymnen, die dort ausgegraben wurden. Verstehst du?" Wasja zuckte die Achseln. „Das ist doch über dich! Du bist vom Himmel zu ihnen gekommen und hast ihnen den Geist geschenkt, der dem
Feuer gebietet. So sprechen sie von deinem Feuerzeug. Du hast die Zivilisation begründet! Du bist ein großer Mann!" „Toll!" Wasja saß mit offenem Munde da. „Sie haben es also nicht vergessen . . . Sohn der Sonne und Bruder des Mondes. „Nun ja, nach der Übersetzung des Akademiemitgliedes Ornitopterski." Der Historiker berichtete in vielen Zeitungen über dieses Ereignis. „Eine edle Tat", „Ein Sportler half in der Not", „So handeln wahre Menschen". Wasja wurde berühmt. Man schrieb ihm Briefe. Bald war sein Name auch den Menschen bekannt, die mit Sport nichts zu tun hatten. Man nahm ihn wieder in die Mannschaft auf, und er begann sich mit verstärkter Kraft für die nächsten Wettkämpfe vorzubereiten. Und immer noch dachte er darüber nach, wieso ihm entgangen war, daß er die Zivilisation begründet hatte. Doch überheblich wurde er nicht ein bißchen. Stets ging er pünktlich zum Training, und alle waren mit ihm zufrieden. Alle, außer dem Trainer. Der war der Meinung, daß es seinem Zögling an Kampfgeist fehle. Zivilisation hin, Zivilisation her. Jedenfalls durften gesellschaftliche Angelegenheiten sportlichen Erfolgen nicht im Wege stehen, bei Wettkämpfen mußte man um jeden Preis den Sieg erstreben. Zivilisationen begründen konnte man in der Freizeit. Der Trainer entschied sogar, daß Fedossejew als Sportler keine Perspektive habe. Als er jedoch sah, welchen Widerhall Wasjas edelmütige Tat in der Gesellschaft fand, beschloß er, seine Ansichten für sich zu behalten. Und zweimal trat er in der Presse sogar mit Artikeln über moralische Themen an die Öffentlichkeit.
Anatoli Dneprow
Interview
mit
einem
Verkehrsposten
„Hören Sie mal . . . " „Ja, was denn?" „Sie sind bei Rot über die Kreuzung gegangen." „Entschuldigen Sie, ich bin farbenblind." „Aber Sie sehen doch, dafi die Ampel erleuchtet ist?" „Natürlich!" „Dann kann Ihnen nicht entgangen sein, daß das obere Licht brannte, und das ist bekanntlich rot." „Das ist zwar logisch. Aber . . . " „Was . . . ? " „Es handelt sich darum, daß ich . . . Wie soll ich Ihnen das nur erklären. Ich verwechsele nämlich oft das obere Licht mit dem unteren." „Mir können Sie nichts vormachen." Der Verkehrspösten nahm seinen Quittungsblock zur Hand. „Haben Sie schon mal auf die Mattscheibe eines Fotoapparats geschaut?" Der Verkehrsposten lachte geringschätzig. „Na klar!" „Da steht alles köpf." „Das weiß doch jedes Kind." „Das menschliche Auge ist eine Linse." Der Verkehrsposten wurde stutzig. „Na und?" „Im Auge spiegelt sich auch alles umgekehrt wider . . . " „Nun ja, aber . . . " „Es stimmt doch, daß das Auge eine Linse ist?" „Das schon . . . " Der Verkehrsposten drehte unsicher den Bleistift in der Hand. „Dann ist es unverständlich . . . " „Darum geht es ja grade . . . Bei den meisten Menschen wird das vom Auge eingefangene umgekehrte Bild im Gehirn ein zweites Mal umgekehrt," „Merkwürdig. Aber recht haben Sie, das Auge spiegelt alles
„Genauso ist es bei mir." Der Verkehrsposten sperrte den Mund auf. „Das heifjt, Sie sehen alles . . . " „Ja, ja. Seien Sie so liebenswürdig und berühren Sie nicht mein Gesicht mit Ihren Schuhen." Der Verkehrsposten trat einen Schritt zur Seite. „Dann stehe ich also bei Ihnen . . ." „Ja, Sie stehen mit den Füfien nach oben." „Du lieber Himmel, ist das ein Unglück!" „Wieso denn? Ich hab mich dran gewöhnt." Der Verkehrsposten dachte nach und lächelte dann schlau. „Mein Freund, das haben Sie sich alles ausgedacht, um keine Strafe zu bezahlen!" „Ist das Auge eine Linse oder nicht?"
Der Verkehrsposten dachte wieder nach. „Ach was, kommen Sie, solln die Vorgesetzten daraus schlau werden!" Sie machten sich auf den Weg. Plötzlich blieb der Verkehrsposten stehen. „Fällt Ihnen mit Ihrer komischen Sicht das Gehen nicht schwer?" „Wie man's nimmt. Ich hab es satt, die Füße und den Weg oben zu sehen. Davon tut mir der Hals schon weh." Der Vorgesetzte nahm den geflüsterten Bericht des Verkehrspostens entgegen. „Unsinn, so was gibt's nicht. Ich frage Sie: Wo ist mein Kopf?" „Da unten." „Uns können Sie nicht verkohten, Sie zeigen ja selbst mit dem Finger nach oben!" „Was für Sie oben ist, ist für mich unten." „Hm. Es kommt Ihnen also so vor, als ob Sie die Füfje oben haben, wenn Sie gehen?" „Nein. Ihnen kommt es so vor, als ob Sie beim Gehen den Kopf oben haben. Bei mir ist alles so normal, wie es im Physikbuch steht." „Hören Sie mal, Sie behaupten also, eine Ausnahme von der Regel zu sein?" „Keinesfalls; Sie sind die Ausnahme von der Regel! Meine Güte, Ihre Schuhe sind schon wieder neben meinem Gesicht. Ich muß doch sehr bitten . . . " „Schon gut, ich trete zur Seite . . . Im übrigen putze ich meine Schuhe jeden Tag. Noch eine Frage: Wie nehmen Sie Getränke und Speisen zu sich?" „Wie? Nun, wie alle; ich trinke aus dem Glas und esse mit dem Löffel." „Haha! Jetzt können Sie uns nichts mehr vorflunkern! Nach Ihrer Theorie müßte Ihnen jede Flüssigkeit aus dem Mund laufen." „Was Sie nicht sagen! Sie kennen anscheinend das Gravitationsgesetz nicht." ITnH das hesaat?"
„Eine Flüssigkeit fließt wegen ihrer Schwere nicht nach unten." „Und wohin fließt sie dann nach Ihrer Meinung?" „Dorthin, nach oben." „Sie zeigen schon wieder nach unten!" „Ich hatte Ihnen bereits erklärt. . ." „Ach ja . . ." Der Vorgesetzte war ein intelligenter Mann. Er zog eine Zeitung aus der Tasche. „Lesen Sie bitte, was hier geschrieben steht!" „Netnednopserrok neresnu netab riw . . . " „Sie beginnen mit dem Lesen rechts unten und lesen dann nachlinks oben??" „Wie denn sonst?" „Und Sie verstehen alles?" „Natürlich. Mein Gehirn verarbeitet alles so, wie es sich gehört." „Sie sehen alles umgekehrt, können aber richtig lesen? Seltsam." „Daran ist nichts seltsam. Ich betrachte das eher als einen Ausgleich für meine physische Normalität." „Das soll normal sein, alles auf den Kopf gestellt zu sehen?" „Ganz recht. Was dagegen die übrigen sehen . . . " „Sie halten uns also für anormal? Wir bilden doch die Mehrheit." „Das ist noch kein A r g u m e n t . . . " Der Verkehrsposten stellte eine Frage, die ihn schon lange quälte: „Sagen Sie, haben Sie nie versucht, sich den anderen anzupassen?" „Wie meinen Sie das?" „Nun, daß unten wieder oben wird und so . . ." „Aber selbstverständlich. Als ich noch ein Junge war." „Und wie haben Sie das gemacht?" „Ich habe Akrobatik getrieben. Ich habe versucht, auf den Händen zu gehen. Stundenlang stand ich auf dem Kopf, wie ein Yogi."
„Und das Ergebnis?" „Man trat mir öfter auf die Hände. Entschuldigen Sie, wieder Ihre Schuhe . . . " Der Vorgesetzte und der Verkehrsposten verstummten. Schließlich sagte der Verkehrsposten: „Ich werde Sie ein Stück begleiten. Aber Vorsicht! Hier oben, für Sie also unten, baumelt eine Lampe. Sie hängt zu niedrig, berühren Sie sie nicht mit den Füßen! Im übrigen ist das alles sehr seltsam. Hm. Was sehen Sie, wenn Sie neben mir gehen? Ach, Sie sagten es ja schon: Schuhe. Wissen Sie, ich schreibe zur Zeit an meiner Dissertation. Sie könnten mir helfen. Es handelt sich um einen äußerst seltenen Fall in der Rechtspraxis. Vielleicht gestatten Sie mir, Sie irgendwann aufzusuchen? Wir könnten uns ausführlicher unterhalten . . . " „Aber selbstverständlich. Bitte sehr. Schreiben Sie sich meine Adresse auf." „Und wie komme ich am besten dorthin?" „Ich wohne in einem achtstöckigen Haus in der letzten Etage. Am besten, Sie kommen vom Dach aus durchs zweite Fenster von rechts . . . " Der Verkehrsposten war plötzlich in der Dunkelheit verschwunden.
Inhalt 3
Boris Subkow / Jewgeni Muslin Vergängliche Welt Aus dem Russischen von Hannelore Menke
14
Ilja Warschawski Bankraub um Mitternacht Aus dem Russischen von Harry Schnittke
24
Wladlen Bachnow Der rätselhafte Planet Aus dem Russischen von Norbert Randow und Werner Tzschoppe
36
Dmitri Bilenkin Die Zeitsparkasse Aus dem Russischen von Hannelore Menke
43
Dmitri Bilenkin Der Streber und die Tarnkappe Aus dem Russischen von Ilse Krätzig
49
Romen Jarow Der Begründer der Zivilisation Aus dem Russischen von Ruth Henkel
58
Anatoli Dneprow Interview mit einem Verkehrsposten Aus dem Russischen von Johanna Jutzas