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Roy Palmer
Im Treibsand gefangen
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Außer den Tagen, an denen buchstäblich alles schiefgeht – schwa...
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Roy Palmer
Im Treibsand gefangen
-3-
1.
Außer den Tagen, an denen buchstäblich alles schiefgeht – schwarze Tage –, gibt es auch Tage, an denen der Morgen von Mißerfolgen gezeichnet ist, während sich zum Abend hin dann alles zum Guten wendet – oder umgekehrt. Genau diese letzte Entwicklung bahnte sich an einem sonnigen, nahezu wolkenlosen Sommertag des Jahres 1583 auf der „Isabella VIII.“ und dem schwarzen Segler an. Das heißt: Anfangs herrschte an Bord beider Schiffe hervorragende Stimmung, doch später, am frühen Nachmittag, stellte sich der Verdruß in massiver Form ein. Grund zu Unbeschwertheit und Ausgelassenheit bestand zur Genüge. Das Abenteuer auf der Insel vor Bahia hätte Hasard und seine Männer den Kopf kosten können, aber dann hatten sie das Unheil abwenden und die spanischen Meuterer unter Pedro Salvez besiegen können. Gleichzeitig hatte der Seewolf den portugiesischen Siedlern zur Freiheit verholfen – sie hatten auf der Insel ein neues Leben begonnen. Bill sehnte sich immer noch ein bißchen nach dem Mädchen Magdalena, aber „das wird sich schon legen“, versicherte Ed Carberry ihm immer wieder mit väterlichem Schulterklopfen. Sogar nach dem Verlassen der Inselbucht hatte der Seewolf den Portugiesen noch einmal seinen Beistand geleistet. Er hatte eins der Kriegsschiffe, die nach den Siedlern forschten, von der Insel fortgelockt – und dann war er endlich wieder mit Siri-Tong und ihrem „Eiliger Drache über den Wassern“ zusammengetroffen. Der Sturm, von dem Hasard mit der „Isabella“ in die Bucht der Insel vor Bahia getrieben worden war, hatte vorher beide Schiffe getrennt. Angesichts einer solchen Übermacht hatte der spanische Verfolger schleunigst das Weite gesucht. Obwohl er Hasard als den gefürchteten „El Lobo del Mar“ identifiziert haben mußte, hatte er sofort eingesehen, daß er in einem Gefecht gegen zwei außergewöhnliche, gut armierte Schiffe wie diese auf jeden Fall den kürzeren gezogen hätte.
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Der Vorfall lag bereits vier Tage zurück, aber immer noch
lachten die Männer der „Isabella“ und der Roten Korsarin über
die dummen Gesichter, die die Spanier auf dem Kriegsschiff
gehabt haben mußten, als sie den schwarzen Segler plötzlich
wie einen finsteren Boten der Hölle auftauchen sahen.
Und gelegentlich wurde auch noch über Carberry geunkt, der
sich nur schwer an Neuerungen im Küchenzettel der „Isabella“
gewöhnen konnte. Der Kutscher hatte den Tapir, den sie auf
der Insel erlegt hatten, zubereitet. Der Profos hatte mit
argwöhnischer Miene davon gekostet und dann befunden:
„Schmeckt wie Schweinefleisch.“
„Ist aber nicht Schwein“, wandte Batuti ein.
„Weiß ich doch“, brauste Carberry auf. „Wer hat dir denn als
erster gesagt, daß der Tapir kein Schwein ist, was, wie?“
Wortwechsel dieser Art gaben immer wieder Anlaß zu
Heiterkeitsausbrüchen auf der „Isabella“. Und die gute Laune
hatte auf Siri-Tongs Mannschaft übergegriffen. An Bord des
Viermasters sorgten Männer wie Cookie, Missjöh Buveur und
Muddi dafür, daß der Stoff für immer neue Witze und Streiche
nicht ausging.
An diesem Mittag segelten die „Isabella“ und das schwarze
Schiff bei Wind aus Nord-Nord-West mit südlichem Kurs – also
mit Steuerbordhalsen auf Backbordbug liegend – im Abstand
von etwa dreißig Meilen an der Küste der Neuen Welt entlang.
Bahia lag über vierhundert Meilen hinter ihnen, und wenn der
Wind weiter so anhielt, würden sie bald den südlichen
Wendekreis erreicht haben.
Aber dann änderte sich das Bild des Friedens und der
Eintracht.
Der Wind sprang im Osten um, plötzlich und ganz unerwartet.
Kurz darauf drohte er völlig einzuschlafen, und eine brütende
Hitze senkte sich auf die Schiffe.
Genau dies war der Augenblick, in dem Cookie, der Koch des
schwarzen Seglers, mit einem bis zum Rand gefüllten
Abfallkübel an das Schanzkleid der Kuhl trat. Er setzte den
Kübel ab und schaute sich um. Er stand an der Backbordseite,
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blickte nach achtern zur Roten Korsarin und zu Thorfin Njal,
dem Boston-Mann, Arne, Eike und den anderen auf dem
Achterdeck. In ihren Mienen las er Besorgnis.
Cookie, der eigentlich Rod Bennet hieß, verzog bekümmert das
Gesicht. Mit der guten Laune schien es aus zu sein. Er wandte
den Kopf schob die Unterlippe ein wenig vor und spähte zur
„Isabella“ hinüber, die in schräg versetzter Kiellinie vor dem
schwarzen Schiff lief.
Nein, sie segelte nicht mehr richtig, sie dümpelte nur noch mit
hängendem Rigg in der lauen Trostlosigkeit. Es war ein
trauriger Anblick. Cookie legte den Kopf in den Nacken, sah die
schlaffen schwarzen Segel des eigenen Schiffs und schaute
noch betrübter drein.
Kein Windhauch, der die Schwüle aufwühlte und vertrieb, und
im Osten färbte sich der Himmel indigoblau.
Der dicke Koch fuhr sich mit der Hand über die öligen Haare.
Links hatte er keine mehr auf dem Schädel, darum borgte er sie
sich immer von rechts und pappte sie ordentlich mit Fett fest.
Es war eine Geste des Unbehagens, denn Cookie witterte
Unrat – nicht den, der da im Holzkübel vor sich hin muffelte,
sondern den, der von der offenen See her aufzog. Man
entwickelte einen Instinkt für so was. Außerdem hatten beide
Schiffsbesatzungen in letzter Zeit zu viele Stürme erlebt und
durchgestanden. Cookie traute dem Braten nicht, was ja auch
gewissermaßen zu seinem Metier gehörte und wozu er allen
Grund hatte, da er nach übereinstimmender Aussage der
Kameraden einen wahrhaft „abscheulichen Fraß“ bereitete.
Cookie hob den Kübel wieder an, peilte noch mal mißtrauisch
nach Osten und schickte sich dann an, den Abfall übers
Schanzkleid weg in die See zu entleeren.
„He“, sagte jemand hinter ihm. „Willst du das Zeug wohl nach
Lee kippen!“
Cookie drehte sich langsam um und musterte den Sprecher. Es
war Bill the Deadhead.
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„Kannst du bei der Flaute noch Luv und Lee unterscheiden?“
fragte Cookie lauernd. „Ist doch egal, wohin ich den Kram
schütte. Kümmre dich um deinen eigenen Dreck, ja?“
Sprach's und kippte den Kübel nach außenbords.
Flanagan, einer der von Siri-Tong auf Tobago neu
angeheuerten Männer, hatte das Pech, nicht weit entfernt am
Backbordschanzkleid zu lehnen, und zwar schätzungsweise
vier, fünf Schritte vor Cookie in der Nähe des Niedergangs zum
Vorderkastell. Auch seine Miene war alles andere als begeistert
wegen der plötzlichen Flaute. Aber innerhalb der nächsten
Sekunden verzerrte sie sich zu einer haßerfüllten Fratze.
Flanagan war ein leicht reizbarer Typ, der überall
Feindseligkeiten witterte.
Als Cookie den Kübel auskippte, erwachte jählings eine heftige
Bö zum Leben und fegte von Nordosten auf die Schiffe zu. Eine
böswillige Macht im Dunkeln schien ausgerechnet auf diesen
Moment gewartet zu haben – die Bö griff nach den in die Tiefe
plumpsenden Küchenabfällen, wirbelte sie hoch und an der
Bordwand des schwarzen Seglers entlang.
Flanagan kriegte eine Ladung davon ins Gesicht, bevor der
Unrat endgültig als Fischfutter in den Fluten verschwand.
Flanagan wischte sich mit der Hand übers Gesicht und stieß
einen schauderhaften Fluch aus. Ganz langsam wandte er sich
zu Cookie um. Der hielt noch den leeren Kübel und blickte
ratlos und verdattert drein.
„Du Sau!“ zischte Flanagan. „Das hast du absichtlich getan.“
Cookies Zunge fuhr hastig über die Lippen und verschwand
wieder. Er suchte nach Worten. Das belastete ihn noch mehr.
„Du gibst es also zu“, sagte Flanagan. Er löste sich vom
Schanzkleid, trat hinter einer der Kanonen hervor und schob
sich auf den Koch zu. „Du vergiftest uns mit deinem Fraß, du
Kombüsenratte, und in der Suppe, die aus Spülwasser besteht,
schwimmen Kakerlaken. Aber damit nicht genug. Jetzt
schmeißt du uns auch noch Dreck ins Gesicht.“
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Cookie gewann die Fassung wieder. „Aber nein – Augenblick, das ist ein Mißverständnis, ich…“
Flanagan ließ sich auf keine Diskussionen ein. Er zückte sein
Messer.
Es war eine lange Waffe, deren doppelschneidige, scharfgewetzte Klinge allein mehr als zehn Zoll maß, und jeder Mann an Bord wußte inzwischen, daß Flanagan ausgezeichnet damit umzugehen verstand. „Du Bastard“, sagte er. „Ich schlitz dich auf, wie du's mit den Ratten tust, die du uns als Schweinefleisch in den Eintopf schmuggelst.“ Cookie wich zurück. „Ich bin unschuldig, ich schwöre es. Flanagan, ich konnte doch nicht ahnen, daß ausgerechnet jetzt eine Bö einsetzt.“ Bill the Deadhead grinste. „Aber vorher hast du eine Zeitlang mit dem Entleeren deines blöden Kübels gewartet, oder nicht? Du hast auf eine Bö gewartet, um Flanagan diesen üblen Streich zu spielen.“ „Ich bring dich um“, stieß Flanagan aus.
„Nein!“ kreischte Cookie.
Bill the Deadhead trat neben den weiter vorrückenden
Flanagan und krempelte sich gemächlich die Ärmel auf. „Weißt du was, Flanagan? Ich hab diesen Fettsack auch schon seit einiger Zeit auf dem Kieker. Und richtig leiden kann ihn sowieso keiner hier an Bord. Ich schlag dir was vor. Setzen wir den Hund erst mal mit dem Hintern in sein Kombüsenfeuer, bis er rot wie ein Pavian ist. Anschließend murksen wir ihn ab. Dem weint doch keiner eine Träne nach.“ Cookie stieg es heiß und brennend in die Augen. Keiner eilte ihm zu Hilfe – hatte er denn wirklich keine Freunde an Bord? Er war felsenfest davon überzeugt, daß Flanagan und Bill the Deadhead es mit ihren Drohungen ernst meinten. Ihm war zum Heulen zumute. Flanagan, der immer noch Spuren des Abfall-Mißgeschicks im Gesicht trug, war tatsächlich auf eine Messerstecherei aus,
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während Bill dem dicken Koch nur mal wieder ordentlich
zusetzen wollte, um sich an seinen Ängsten zu weiden.
Aber Rod Bennet war auch kein Hasenfuß. Und wenn er sich in
die Enge getrieben sah, verlor er die Selbstbeherrschung. Mit
einem Wutschrei ließ er den leeren Kübel fallen, griff sich an
den Gurt und riß eins seiner schmuddeligen Küchenmesser
heraus.
„Also gut, Flanagan!“ schrie er. „Komm her, wir tragen es aus!“
„Siehst du“, preßte Flanagan zornig zwischen den Zähnen
hervor. „Er wollte mich reizen, Bill. Er sucht Streit und will Blut
sehen.“
Der Wind blies in kurzen, heftigen Böen aus Nordosten, dann
aus Osten. Er hieb in die Segel der beiden Schiffe, trieb die
indigoblaue Wand näher heran und weckte eine Dünung, die
die „Isabella“ und den schwarzen Segler ins Schlingern
versetzte.
Der Abfallkübel kollerte zwischen zwei schwere Geschütze auf
der Backbordseite des schwarzen Schiffes und berührte einen
etwas dicklichen, dunkelblonden Mann, der sich dort im
Schatten des Schanzkleides zusammengekauert hatte.
„Parbleu“, sagte er ärgerlich. „Könnt ihr nicht aufpassen, ihr
Zankhähne?“
„Misch dich da nicht ein, Missjöh Buveur“, fauchte Bill the
Deadhead.
„Wenn du nicht das Maul hältst, schneide ich dir auch die
Gurgel durch“, sagte Flanagan wild.
„Du hast wieder gesoffen, du Hund“, sagte Cookie keuchend.
„Verzieh dich bloß in deine Ecke und gerate mir nicht in die
Quere.“
Missjöh Buveur zerdrückte einen Fluch in seiner Muttersprache,
den außer ihm keiner verstand.
„Haderlumpen“, murmelte er. „Galgenstricke. Man tickt euch mit
dem kleinen Finger an, und ihr explodiert wie Pulverfässer. Die
Welt ist ein Jammertal, jawohl.“ Zum Trost setzte er die Flasche
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Rum an die Lippen, die er ergattert hatte, und ließ den letzten
Schluck die Kehle hinabrinnen.
Flanagan sprang auf Cookie zu und stand plötzlich geduckt und
angriffsbereit dicht vor ihm. Bill the Deadhead begriff, daß der
Mann mehr als einen rohen Schabernack plante, und ließ die
Arme sinken. Er war verdutzt. Flanagan meinte es ernst,
todernst!
„Halt!“ ertönte in diesem Augenblick ein Ruf vom Achterdeck.
„Aufhören, oder ich lasse euch auspeitschen – alle drei!“
Siri-Tong stand am vorderen Querabschluß des Achterdecks
und hielt die Hände aufgestützt. Ihre schwarzen Haare flatterten
in dem zunehmenden Wind, ihre Augen blitzten zornig.
Während sie die Streitenden anschrie, hatte Thorfin Njal bereits
den Niedergang zur Kuhl benutzt und schritt erbost auf die drei
zu.
Flanagan war von seinem Haß auf Cookie geradezu besessen,
er sah nichts mehr, hörte nichts, nahm nichts wahr außer dem
dicken Gegner. Er tänzelte auf Cookie zu und ließ sein langes
Messer vorzucken.
Etwas bremste ihn. Es schlug von unten her gegen seinen
Waffenarm und lähmte ihn für Sekunden. Flanagan sah zu
seinem größten Erstaunen das Messer außenbords wirbeln.
Thorfin Njal, der Wikinger, hatte seine Faust unter Flanagans
Arm krachen lassen. Während der Mann noch völlig verdattert
dastand und vor Schmerz die Zähne zusammenbiß, sah Njal zu
Bill the Deadhead und Cookie.
„Will sich noch jemand dem Befehl der Roten Korsarin
widersetzen?“ Seine Stimme dröhnte über Deck.
Cookie steckte schleunigst sein Küchenmesser weg.
Bill the Deadhead, ein grobschlächtiger Kerl, der sich sonst
gern herumprügelte, beeilte sich zu versichern: „Nein, natürlich
nicht.“ Er zog sich langsam zurück.
Thorfin Njal, der nicht nur Steuermann, sondern auch Miteigner
des schwarzen Seglers war, packte Flanagan und zog ihn zu
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sich heran. Flanagan hatte das Gefühl, in eine eiserne Klammer
geraten zu sein.
„Laß mich los“, sagte er immer wieder. „Zum Teufel, laß mich
los, ich will diese fette Sau abmurksen.“
„Flanagan!“ Siri-Tongs Stimme wehte schneidend vom
Achterdeck herüber. Sie stand in unveränderter Pose da, und
ihr Gesicht wirkte jetzt nicht mehr weich, fraulich – es war zu
einer Maske geworden. „Ich werde dir zeigen, was es heißt,
meine Befehle zu mißachten. Offenbar hast du noch nicht
begriffen, wie ich es auf meinem Schiff mit der Disziplin halte.
Sperrt ihn in die Vorpiek! Für vierundzwanzig Stunden!“
„Nein!“ Flanagan begann zu toben. „Nein, das könnt ihr mit mir
nicht tun! Ich bin im Recht!“
„Vorwärts“, sagte Thorfin Njal. „Erzähl keinen Quatsch. Nie und
nimmer hätte Cookie es gewagt, dir den Dreck ins Gesicht zu
schleudern. Sei vernünftig und laß dich abführen. An einem Tag
Vorpiek ist noch keiner gestorben…“
Flanagan wollte nicht vernünftig sein, er hieb dem Wikinger die
freie Faust unters Kinn.
Thorfin Njal schüttelte sein helmbewehrtes Haupt wie ein Büffel
– dann holte er aus und fällte den Widerspenstigen mit einem mächtigen Hieb in den Nacken. Flanagan ging zu Boden und streckte auf den Planken alle viere von sich. Er rührte sich nicht mehr. „Oleg, Stör“, befahl Njal. „Aufheben und wegtragen, diesen
Lümmel. Ab in die Vorpiek!“
Siri-Tong beobachtete die Szene aus schmalen
Augenschlitzen.
„Legt ihn in Ketten!“ ordnete sie an. „Er bleibt drei Tage in dem
Loch und kriegt nur Wasser und etwas Schiffszwieback. Wenn
er dann immer noch nicht weich geklopft ist, kenne ich andere
Mittel, um ihn zur Räson zu bringen.“
Bill the Deadhead und Cookie hatten sich schleunigst verdrückt, denn sie kannten die Härte der Roten Korsarin. Wer sich aufmüpfig benahm, wurde rigoros von ihr in die Knie
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gezwungen, das war auch früher schon so gewesen, als sie noch die Karavelle mit den roten Segeln geführt hatte. Und wer ausdauernd rebellierte oder sonst irgendwie aus dem Rahmen fiel, für den gab es unter Siri-Tong nur eine bittere Konsequenz: den Sprung über die düstere Schwelle ins Jenseits. Vorläufig war es jedoch lediglich Flanagans Los, den Vorhof zur Hölle zu erleben. Die Vorpiek war ein finsteres, stickiges Loch, und in den folgenden Stunden sollte er wegen des stinkenden Bilgewassers, das aufgrund der heftigen Schiffsbewegungen immer wieder dort eintrat und wieder ablief, fast ersaufen.
2. Im zunehmenden Schlingern und Rollen der „Isabella“ war es kein leichtes Stück Arbeit, in den Hauptmars aufzuentern. Hasard kletterte trotzdem wie eine große Katze in den Webeleinen der Luvwanten nach oben und scherte sich den Teufel um das Tanzen und Taumeln und das unablässige Auf und Ab. Er zwängte sich neben Dan O'Flynn in den Hauptmars und blickte nach Osten. Schwarzblau war der Himmel jetzt gefärbt. Eine immense Wolkenburg türmte sich auf und schien die Welt in zwei Hälften zu teilen: das Inferno und das sanfte, sonnendurchwebte Blau des Friedens, das mehr und mehr schrumpfte. Bald würde es ganz verschwinden, nach Westen, zum Festland hin. „Hast du mitgekriegt, was sich eben auf dem schwarzen Segler abgespielt hat?“ fragte Dan. „Ja, es hat mal wieder Aufruhr bei der Mannschaft gegeben.“ „Dieser Flanagan ist ein Idiot“, sagte Dan. „Was der sich einbildet! Na, Siri-Tong hat ja mal wieder hart durch gegriffen. Das muß sie auch, wenn sie ihre Kerle an der Kandare halten will.“ Der Seewolf wies nach Osten. „Dan, wir haben jetzt andere Sorgen als die Borddisziplin auf dem schwarzen Schiff.“
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„Mann, das wird doch nicht der erste Sturm, den wir abreiten!“
„Das wird ein Orkan, der es in sich hat, mein Lieber.“
„Vielleicht geraten wir nur in seine Randzone.“
Hasard schaute ihn an. Während der Wind in den Luvwanten
und Pardunen heulte und stärker an der „Isabella“ rüttelte,
erwiderte er: „Wir sollten uns keinen falschen Hoffnungen
hingeben. Ich sehe die Dinge im Augenblick ziemlich schwarz.
Und ich habe keine Lust, Kopf und Kragen zu riskieren – für
nichts und wieder nichts.“
„Was hast du vor?“
„Das kannst du dir doch denken, oder?“
„Die Küste anlaufen? Ein weiterer Zeitverlust. Wir wollen doch
so schnell wie möglich den Südzipfel der Neuen Welt erreichen
und runden“, entgegnete der junge Mann.
Mehr fügte er aber nicht hinzu, denn er sah es der Miene des
Seewolfes an, daß der nicht zu langen Erörterungen aufgelegt
war.
Hasard traf Anstalten, den Mars wieder zu verlassen.
„Du kannst noch abentern, wenn du willst!“ rief er gegen das
Jaulen und Pfeifen des Windes. „Ich zwinge dich nicht, hier
oben zu bleiben.“
„Ich bleibe“, antwortete Dan. „Man kann nie wissen, wozu das
gut ist. Ich binde mich auf jeden Fall fest, damit du dir keinen
neuen Ausguck zu suchen brauchst.“
Rasch kehrte der Seewolf auf die Kuhl zurück. Carberry hatte
auf seine Anweisung hin bereits die Manntaue spannen lassen,
jetzt kontrollierte er die Laschings und Zurrings der Beiboote
und überzeugte sich, daß auch die Brooktaue der Geschütze
ordnungsgemäß durchgeholt und belegt waren, kurz, er tat
alles, was zur Sicherung von Schiff und Mannschaft gehörte.
Hasard dachte an den materiellen Schaden, den er beim letzten
Sturm zu verzeichnen gehabt hatte. Er wollte nicht schon
wieder Lecks abdichten und andere Reparaturen durchführen –
er hatte die Nase voll.
„Al Conroy!“ rief er zum Vorschiff.
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„Sir?“
„Versuche, Siri-Tong ein Signal zu geben. Wir laufen die Küste
an!“
„Aye, aye, Sir!“
Die beiden Schiffe segelten nur knapp eine Kabellänge
voneinander entfernt. Es wäre keine Schwierigkeit für Hasard
gewesen, auf Rufweite an den schwarzen Segler
heranzumanövrieren, aber sosehr er auch gegen das
zunehmende Tosen angebrüllt hätte, die Rote Korsarin hätte
ihn nicht verstanden.
Al Conroys Bemühungen zeitigten bald den gewünschten
Erfolg. Siri-Tong ließ zurücksignalisieren.
Sie hatte keine Einwände gegen den Plan des Seewolfes.
Hasard turnte in den Manntauen bis zum Backbordniedergang,
der auf das Quarterdeck hinaufführte. Er arbeitete sich bis zu
Pete Ballie im Ruderhaus vor und rief: „Steuerbord, Pete, wir
fallen ab und gehen platt vor den Wind!“
„Aye, aye!“ schrie Pete Ballie zurück.
Hasard kletterte aufs Achterdeck und setzte Ben Brighton,
Ferris Tucker, Big Old Shane und Old O'Flynn auseinander,
was er vorhatte. „Wir nutzen den Ostwind aus, suchen das
Festland auf und laufen eine Bucht oder eine Insel an, die uns
vor dem Orkan schützt. Es ist unsere einzige Chance.
Verdammt, ich fühle, daß wir den Orkan in seiner ganzen Härte
zu spüren kriegen.“
Der alte Donegal spuckte aus und wetterte: „Himmel, was soll
ich denn sagen? Mein Beinstumpf schmerzt höllisch, das ist
das sichere Zeichen für den Weltuntergang!“
Die „Isabella“ übernahm die Führung und steuerte nun vor
„Eiliger Drache über den Wassern“ die Küste an. Es wurde ein
Wettlauf mit der Zeit. Hinter ihnen war die Schwärze der
Verdammnis, heulte der Wind, gischtete das Wasser zu immer
höheren Wogen hoch.
Hasard kehrte auf das Quarterdeck zurück, um Pete Ballie
jederzeit direkte Kommandos geben zu können. Gleichzeitig
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hielt er den Kontakt zu Ed Carberry, der die Crew mit seinem Gebrüll an den Brassen und Schoten dirigierte. Der Waghalsigkeit seines Unternehmens war sich der Seewolf voll bewußt. Selbst wenn er rechtzeitig vor dem endgültigen Ausbruch des Orkans das Festland erreichte, war die Gefahr noch nicht vorüber. Sie lauerte in mannigfacher Form auf sie, war steigerungs- und wandlungsfähig. Beispielsweise konnten sie auf Legerwall gedrückt werden, wenn sie nicht geschickt manövrierten. Unter diesem Gesichtspunkt war Hasards Entschluß nicht der glücklichste, zumal bei auflandigem Wind in Küstennähe der stärkste Seegang herrschte. Aber er war unbeirrbar. Er wußte, daß er recht behalten würde: Das Schicksal jagte das Zentrum des Orkans direkt auf sie zu. * Thorfin Njal hatte Oleg und den Stör bis tief ins Vorschiff begleitet und sich überzeugt, daß Flanagan auch weisungsgemäß festgekettet wurde – und daß er ja keine weiteren Dummheiten beging. Jetzt kehrte der wuchtige Steuermann mit seinen beiden Gefolgsleuten auf Oberdeck zurück. Die See war im Begriff, sich gegen sich selbst zu wenden und alle Fremdkörper auszuspeien. Sie rüttelte mit aller Macht am schwarzen Schiff. Es dröhnte und knackte bis in die letzten Verbände. Die drei Wikinger wurden in den Gängen hin- und hergeworfen. „Bei Odin und allen Göttern!“ brüllte Thorfin Njal. „Geht der Tanz schon wieder los? Stürme, Pampero, Orkan und Tornado – ich hab das Gefühl, in einem Tollhaus zu sein!“
„In einem Tollhaus zu sein!“ rief der Stör.
Thorfin Njal wandte sich erbost zu ihm um. „Du sollst nicht
immer meinen letzten Satz nachsprechen, du Barsch!“
„Meinen letzten Satz…“
„Untersteh dich!“
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„Jawohl“, stammelte der Stör.
Sie gelangten an Oberdeck und sahen, wie die Mannschaft an
den Schoten und Brassen arbeitete, wie die letzten
Vorbereitungen getroffen wurden, um dem großen Wüten zu
trotzen. Thorfin Njal hatte – bevor er sich in die Vorpiek
begeben hatte – noch gesehen, wie der Seewolf signalisiert
hatte. Inzwischen hatte die „Isabella“ in direkter Kiellinie vor
dem schwarzen Schiff die Führung übernommen, und sie
hielten auf die Küste zu.
Thorfin Njal wandte sich dem Achterdeck zu. Er hangelte an
den Manntauen voran. Er wollte so schnell wie möglich auf
seinen vorherigen Posten zurückkehren, um den Rudergänger
zu kontrollieren sowie Position und Kurs zu überprüfen.
Schließlich war er der Steuermann, und er versah seine
Aufgabe mit Ehrgeiz und Akribie.
Plötzlich stockte er.
Er fuhr herum und glaubte seinen Augen nicht zu trauen. Der
große Viermaster hatte sich nach Steuerbord gelehnt, krängte
unter einem anrollenden Brecher – und etwas sauste quer über
die Kuhl.
Etwas? Jemand war so leichtsinnig, sich nicht an den
Manntauen festzuklammern. Das konnte nur einer sein, der
nicht mehr Herr seiner Sinne oder zumindest stark in seinen
Reflexen beeinträchtigt war.
„Missjöh Buveur“, stieß Thorfin Njal entgeistert hervor. „Geri
und Freki, Odins Wölfe, sollen dich beißen, Hugin und Munin,
die Raben, dir die Augen auspicken – ja, bist du denn von allen
guten Geistern verlassen, du Satansbraten?“
Er stürmte dem kollernden Franzosen nach, ehe Oleg und der
Stör richtig begriffen, was eigentlich los war.
Missjöh Buveur, total benebelt und kaum noch aufnahmefähig,
rollte unaufhaltsam der Steuerbordseite zu, und mit ihm rollte
die leere Rumflasche als Beweis dafür, daß er mal wieder
seinem liebsten Laster gefrönt hatte.
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Er sauste an einem der schweren Geschütze vorbei und dann – der Teufel wollte es so – genau auf die Stückpforte zu. Sie war keine verschließbare Luke, sie stand offen, und das war Missjöh Buveurs ausgesprochenes Pech. Mit dem Kopf zuerst glitt er durch die Öffnung. „Mann über Bord!“ schrie Thorfin Njal gegen das Sturmheulen an. Aber es war noch nicht soweit. Ein guter Geist schien den Franzosen doch noch nicht verlassen zu haben, es war der Schutzengel, der alle Betrunkenen begleitete. Missjöh Buveurs Höllenfahrt erfuhr jedenfalls eine Unterbrechung. Plötzlich stoppte er ab, steckte fest. Seine Füße waren so merkwürdig verkantet, daß sie einen Widerstand hinter dem Süll der Luke bildeten. Ja, es war absurd, verrückt, aber wahr: Das schwarze Schiff torkelte in den Wogen, und Missjöh Buveur hing wie eine Galionsfigur über den schwärzlichen Fluten. Die meisten Männer der Besatzung standen wie erstarrt. Der Boston-Mann war neben Siri-Tong und rief: „Verdammt, der Kerl ist wieder bis oben hin voll!“ Thorfin Njal hatte das Geschütz erreicht, glitt aus und schlitterte plötzlich ebenfalls über Deck. Er fing sich am Schanzkleid ab, erhob sich fluchend und arbeitete sich unter Herbeizitieren sämtlicher ihm geläufigen Gottheiten auf den Verunglückten zu. „Ersäufen sollte man dich!“ brüllte er. Missjöh Buveur blickte verblüfft in das tosende Wasser. Er hatte die leere Rumflasche an sich vorbei in die Fluten stürzen sehen, und jetzt wurde er allmählich nüchtern, denn er malte sich aus, wie es war, wenn er der Flasche folgte. Das schwarze Schiff krängte nach Backbord und dann wieder nach Steuerbord. Missjöh Buveur kriegte Salzwasser zu schlucken, spuckte es aus und wurde noch nüchterner. Thorfin Njal zerrte an den Füßen und Knöcheln des Franzosen, als wolle er sie abreißen. Inzwischen waren auch Oleg und der Stör sowie Pedro Ortiz und Diego Valeras, die beiden
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Portugiesen, als Verstärkung eingetroffen. Mit vereinten Kräften
befreiten sie den Franzosen aus seiner unglücklichen Lage und
zerrten ihn auf die Kuhl zurück.
Missjöh Buveur sah seine Retter an, dann verdrehte er gekonnt
die Augen. „Mon Dieu, der Teufel hat die Krallen nach mir
ausgestreckt und – und der andere, der mit der Sense – ich hab
schon die Klinge an meiner Gurgel gespürt!“
Unwillkürlich griff er sich mit beiden Händen an den Hals.
„Hör auf mit dem Theater“, fuhr Thorfin Njal ihn an. „Du solltest
nicht soviel saufen, du Schwamm, sonst gehst du eines Tages
wirklich vor die Hunde.“
Die anderen wußten nicht, ob sie lachen oder fluchen sollten.
„Missjöh Buveur!“ rief Siri-Tong plötzlich mit der gleichen
schneidenden Stimme, mit der sie sich auch an Flanagan
gewandt hatte. „Komm her! Ja, zur mir aufs Achterdeck!“
Der Mann aus dem fernen Frankreich hangelte an den
Manntauen nach achtern und schob sich schließlich sehr
kleinlaut auf die Rote Korsarin zu. In diesem Moment wußte er
nicht, was besser war: zu leben oder doch lieber in die
sprudelnden Fluten zu stürzen.
Siri-Tong sprach gerade laut genug, daß Missjöh Buveur es
noch verstehen konnte. „Hör gut zu. Wenn so etwas noch mal
passiert, lasse ich dir zwanzig Hiebe mit der Neunschwänzigen
überziehen. Zwanzig! Und danach wirst du an der Rahnock
aufgehängt, da kannst du dann zappeln, soviel du willst,
verstanden?“
„Ja, Madame“, antwortete Missjöh Buveur. Er wünschte sich,
eine Maus zu sein und irgendwo in einem Spundloch
verschwinden zu können.
So hart die Kerle auf diesem Viermaster auch waren – vor der
Roten Korsarin schrumpften sie alle gleichsam in sich
zusammen. Noch nie hatte es eine Frau gegeben, die einen so
elementaren Einfluß auf sie ausgeübt hatte.
*
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Es stellte sich als unschätzbarer Vorteil heraus, daß Dan O'Flynn seinen Posten im Hauptmars beibehalten hatte. Natürlich war er es, der als erster jenen düsteren Streifen entdeckte, der sich am Horizont entlangzog. „Land!“ Dan brüllte es, aber in dem Wüten des Wetters konnte ihn unten auf Deck niemand verstehen. Er mußte seine Pistole abfeuern, um sich verständlich zu machen. Fortan teilte er seinem Kapitän alles, was er sah, durch Gestikulieren mit. Land – Hasard wußte, daß sie sich ungefähr auf der Höhe des 22. Grades südlicher Breite befanden. Er hatte die Zeichnungen dieser Küstenregion fast bis zum Detail im Gedächtnis. Schon am Vortag hatte er sich ausgiebig mit seinem umfangreichen Kartenwerk befaßt. Eins war besonders haftengeblieben: Gerade an diesem Punkt gab es gefährliche Korallenriffe. Hasard gab Dan ein entsprechendes Zeichen. Der junge Mann war von jetzt an praktisch doppelt und dreifach auf der Hut. Das war kein einfaches Unternehmen in dem wild schwankenden Großmars, oder, treffender ausgedrückt: Nur ein Ausguck wie Dan konnte in diesen Augenblicken noch an etwas anderes denken als ans Festklammern und Beten. Der Schimpanse Arwenack hatte sich längst in einen sicheren Schlupfwinkel unter Deck begeben. Er haßte Stürme, und dieses Zürnen der entfesselten Naturgewalten flößte ihm Panik ein. Weglaufen konnte er nicht, also verkroch er sich. In Stunden wie diesen war er sogar zum Burgfrieden mit Sir John, dem Papagei, bereit, auf den er sonst glühend eifersüchtig war. Dan vollbrachte das gleichermaßen Unmögliche. Er sichtete rechtzeitig tückische Untiefen, konnte im Branden der Wogen bruchstückweise die lebensgefährlichen Gebilde erkennen – Korallenbänke! Rasch bedeutete er Hasard, wo sich die Barrieren befanden.
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„Zwei Strich Backbord, Pete!“ rief der Seewolf seinem Rudergänger zu. „Wir luven an, um nicht aufzulaufen!“ „Aye, aye, Sir!“ schrie Pete Ballie zurück, und gleichzeitig schickte er wie die übrigen Männer der Crew ein Stoßgebet zum Himmel, er möge sie vor dem furchtbaren Schicksal bewahren. Die Erinnerung an das Ende der spanischen GaLeónen „Santa Barbara“ und „San Domingo“ war noch frisch im Gedächtnis der Seewölfe. Die Segler hatten die portugiesischen Siedler nach Bahia bringen sollen und waren im Sturm auf einem Riff zerschellt. Auch Hasard dachte daran, aber er sagte sich auch, daß die „Isabella VIII.“ und das schwarze Schiff keine gottverdammten Seelenverkäufer wie die zum Abwracken reifen spanischen GaLeónen waren – und sie wurden von Crews geführt, die ihre Arbeit verstanden. Die „Isabella“ rauschte zwischen harten, scharfen Korallenformationen hindurch, die einen Schiffsrumpf mühelos aufschlitzen konnten. Sie führte den schwarzen Segler wie ein Lotse, und das dunkle Land rückte näher, immer näher. Hasard biß die Zähne zusammen. Er wußte, daß Cabo de Sao Tomé nicht fern war, ein Platz, an dem viele Schiffe auf Riffs gescheitert waren, als sie sich zu sehr in Küstennähe gewagt hatten. Er wußte es, aber er hielt an seinem Vorhaben fest. Er hatte das Durchhaltevermögen und die Härte seines leiblichen Vaters Godefroy von Manteuffel, und der alte Killigrew, sein Pflegevater, hatte jene Sturheit auf ihn übertragen, die man in gewissen Situationen brauchte. Das war keine sinnlose, blinde Halsstarrigkeit. Hasard kannte alle Alternativen, die ihm in diesem Kampf blieben, und wußte abzuwägen. Er mußte einen Zufluchtsort finden, denn das schlimmste Wüten des Orkans stand noch bevor. Er blickte nach oben – Dan signalisierte ihm wieder. Eine Einfahrt, las Hasard aus seinen Gebärden, eine Bucht!
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„Eine Bucht!“ rief er Ben Brighton zu. „Wir haben es geschafft!
Der Teufel soll mich holen, wenn jetzt noch etwas schiefgehen
sollte! Pete, abfallen! Wir steuern genau auf die Einfahrt zu. Ed,
schlaft da unten nicht ein – nicht jetzt!“
„Nein, Sir!“ brüllte Carberry, der nicht weit entfernt unterhalb
des Quarterdecks auf der Kuhl stand und die Segelmanöver
befehligte. Er war ein Koloß, eine eherne Statue, die kein
Brecher von den Planken fegen konnte; Inbegriff der Kraft und
eisernen Disziplin.
Wie ein Schemen löste sich die Einfahrt zur Bucht vor der
„Isabella“ aus Gischt und Dunst. Sie mochte dreißig, vierzig
Yards breit sein, auf keinen Fall mehr. An Steuerbord erstreckte
sich eine Landzunge, die nach Nordosten verlief und zur See
hin den Abschluß der Bucht bildete.
Hasard atmete tief, als sie hindurch waren. Er hielt den Blick
starr nach vorn gerichtet, rief aber Ben Brighton zu: „Ben, was
ist mit dem schwarzen Segler?“
„Er folgt uns!“
„Siri-Tong muß aufpassen, daß sie nicht aufläuft, verdammt
noch mal!“
„Sie ist auf der Hut!“
„Gott sei Dank“, sagte Hasard. „Pete, wir gehen hart
Steuerbord.“
„Aye, aye, Sir.“
„Profos, wir gehen in den Wind, geien die Segel auf und ankern
gleich an der Landzunge, verstanden?“ schrie der Seewolf. „Wir
wissen nicht, wie groß die Bucht ist und wie es mit der
Wassertiefe aussieht, vor allem im ufernahen Bereich!“
„An die Brassen und Schoten!“ brüllte Ed Carberry. „Wir luven
an, ihr Bastarde, ihr Kanalratten, ihr Stinkstiefel, merkt ihr nicht,
was hier läuft, was, wie? O ihr Säcke, ihr Hosenpisser, euch
muß man die Seefahrt noch mit Zangen beibiegen!“
So ging es pausenlos weiter. Carberry blieb mal wieder seiner
Devise treu, ohne Brüllen und Fluchen ginge es nicht.
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Aber dann begannen auch die anderen Männer zu fluchen, und zwar mordsmäßig. Der schwarze Segler hatte soeben die Einfahrt der Bucht passiert, da fegte eine Sturmbö unvergleichlicher Wucht über die Nehrung weg. Hasard konnte sehen, wie sie Palmen und andere Bäume buchstäblich abrasierte und entwurzelte. Ein auf dem Grund der Bucht schlummernder Gigant schien erwacht zu sein. Er hob beide Schiffe hoch und trug sie weiter auf das Festland zu, bevor sie ankern konnten. Ein Ruck lief durch die „Isabella“, gleichzeitig ertönte ein Knirschen, das den Männern einen eisigen Schauer über den Rücken trieb. Denn sie alle wußten, was das bedeutete. „Himmel, Arsch und Zwirn!“ brüllte Ferris Tucker. Weiter gelangte er nicht, denn er verlor die Balance und fiel hin. Als er sich wieder halb aufgerappelt und gesammelt hatte, schrie er: „Verdammt und zugenäht, jetzt sind wir doch aufgelaufen!“ „Du merkst aber auch alles“, sagte der alte O'Flynn bissig. Wäre er nicht Old Donegal gewesen, hätte der rothaarige Schiffszimmermann ihm in diesem Augenblick zweifellos einen Hieb verpaßt. Ja, sie saßen auf Grund. Hasard arbeitete sich bis zum Steuerbordschanzkleid vor und schaute zum schwarzen Schiff hinüber. Es war passiert, was er hatte vermeiden wollen – auch bei Siri-Tong und ihrer Mannschaft. Die gewaltige Sturmbö hatte auch den „Eiligen Drachen über den Wassern“ auf eine Untiefe gejagt, er war manövrierunfähig wie die „Isabella“. Hasard bezwang mit Mühe seine aufsteigende Wut. Ein Gemütsausbruch änderte auch nichts an den Gegebenheiten. „Fallen Anker!“ rief er Carberry zu. „Für den Fall, daß der Orkan uns noch weiter auf das Ufer drückt!“ Siri-Tong veranlaßte das gleiche. So verhinderten Hasard und sie wenigstens, daß sich die Schiffskiele noch tiefer in den Grund der Bucht schoben. Gleichzeitig sicherten die Anker den Schiffen eine gewisse Stabilität im Sturm. „Weg mit den Segeln!“ befahl Hasard.
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Er wandte sich Ben, Ferris, Shane und dem alten Donegal zu.
„Fragt mich nicht, was wir jetzt tun. Wir haben hier nur die eine
Möglichkeit.“
Shane nickte ernst. „Nämlich die, die Ohren anzulegen.“
„Du hast es erfaßt“, erwiderte der Seewolf. „Am besten gehen
wir alle Mann unter Deck und köpfen zur Feier des Tages ein
paar Flaschen. Wir haben allen Grund dazu, oder?“
Es wurde Nacht, bevor der eigentliche Abend überhaupt
angebrochen war. Die Seewölfe, Siri-Tong und ihre Männer
zählten die Stunden nicht, in denen der Orkan mit Donnern und
Gebrüll über sie hinwegorgelte. Sein Zentrum, das gefürchtete
„Zyklonenauge“, befand sich wirklich nicht weit entfernt von der
Bucht mit den beiden Schiffen.
In dieser Beziehung behielt Hasard also tatsächlich recht.
Wären sie draußen auf See geblieben, um den Sturm
abzureiten, wären sie zerschlagen worden oder hätten
zumindest schwere Havarien.
Wenigstens mit der Erkenntnis, nicht dieses bittere Ende
gefunden zu haben, konnten sie sich trösten.
3. Der Orkan dauerte die ganze Nacht über an. Erst gegen Morgen flaute der Wind ab, der sich wie eine Todessinfonie ausnahm und die Männer kein Auge hatte schließen lassen. Doch die schlimmste Überraschung stand noch bevor. Als es ruhiger wurde, stand Hasard auf dem Achterdeck und hielt nach allen Seiten Ausschau. Das allerwichtigste war, sich ein klares Bild von der Bucht zu verschaffen und nach einer Möglichkeit zu suchen, wie sie die Schiffe aus ihrer mißlichen Lage befreien konnten. Im Abflachen der Dünung und Davonziehen der Dunstschleier erkannte Hasard bald mit bloßem Auge die Ufer, die die Bucht begrenzten.
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„Eine Lagune“, sagte er zu Ben Brighton. „Aber wir haben keine
Chance, hier herauszukommen. Sieh dir das an.“ Er wies auf
das Wasser.
Ben trat neben ihn und blickte auf die mattblaue Fläche. Die
Wolkendecke riß auf, erste Sonnenstrahlen drangen durch und
setzten den Wellen schillernde Kronen auf.
„Der Grund schimmert durch“, sagte Ben. „Diese Lagune ist
verdammt flach, und außerdem haben wir ablaufendes
Wasser.“
„Die Ebbe setzt uns endgültig fest“, sagte Hasard. „Daran läßt
sich nicht rütteln.“ Er wandte sich um und spähte zur Nehrung.
„Entlang der Landzunge scheint eine Art Priel zu verlaufen, eine
Fahrrinne – wie ich angenommen habe. Aber selbst der
schwarze Segler liegt schon zu weit von der Einfahrt entfernt,
um die Rinne zu erreichen.“
„So ein Mist“, sagte Shane erbittert.
„Wir können nur eins tun“, erklärte Smoky, der sich ebenfalls
gerade auf dem Achterdeck befand. „Warten.“
„Auf die Flut“, entgegnete der Seewolf. „Hoffen wir, daß der
Tidenhub unserem Schiff dann so viel Auftrieb verschafft, daß
wir wieder freischwimmen.“
Er trat ans Heck, beugte sich übers Schanzkleid hinaus und
winkte zum schwarzen Segler hinüber. Siri-Tongs Viermaster
lag etwas schräg versetzt mit dem Vorsteven in Richtung
Nordwesten. Die Rote Korsarin hatte die Back aufgesucht und
erwiderte Hasards Geste.
„Siri-Tong!“ rief er. „Ich höre dich, Hasard!“
„Wie fest sitzt dein Schiff auf dem Grund?“
„Verflixt fest!“
„Kannst du nicht die Beiboote bemannen und den Segler in
tieferes Wasser schleppen?“
„Ich kann es versuchen!“ rief Siri-Tong mit heller, klarer Stimme.
„Aber ich verspreche mir wenig davon. Ich habe den Eindruck,
wir sinken immer tiefer ein – außerdem haben wir Ebbe.“
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„Dann müssen wir wohl oder übel in den sauren Apfel
beißen…“
„Ja, das müssen wir. Warten wir auf die Flut, und genießen wir
die Sonne.“
„Du machst mir Spaß“, murmelte Hasard. Er drehte sich um.
„Smoky, lote die Wassertiefe aus.“
Das war schnell getan. Smoky spulte den Faden mit dem
Senkblei in die Tiefe ab, zog ihn wieder hoch und meldete:
„Knapp mehr als ein Faden, Hasard.“
„Verdammt, und das Wasser läuft immer noch ab.“ Hasard legte
die Hände als Schalltrichter an den Mund und schrie zu „Eiliger
Drache über den Wassern“ hinüber: „Siri-Tong, ich fiere jetzt
ein Beiboot ab und lasse meine Männer zum Ufer pullen,
solange das noch geht. Ich will wenigstens die Gegend
erkunden!“
„Gut, ich tue das gleiche“, antwortete die Rote Korsarin.
Hasard wandte sich um, lief zur Schmuckbalustrade, die den
vorderen Querabschluß des Achterdecks bildete, und rief:
„Profos, ein Beiboot abfieren und bemannen. Ferris und Shane,
ihr begleitet Carberry. Außerdem entern Baltuti, Luke und Bob
in das Boot ab.“
„Aye, aye, Sir!“ riefen die Männer.
„Hasard“, sagte Ben Brighton. „Die ‚Isabella' beginnt nach
Backbord zu krängen.“
„Auch das noch! Los, wir müssen es durch
Gewichtsverlagerung aufhalten! Löst die Brooktaue der
Kanonen und schafft alle Geschütze zur Steuerbordseite
hinüber. Vier Mann 'runter in die Frachträume. Ihr räumt alles,
was als Ballast tauglich ist, nach Steuerbord – Smoky, Blacky,
Gary und Matt!“
Die vier liefen los und waren Sekunden später unter Deck
verschwunden. Carberry hatte inzwischen das Beiboot an der
Backbordseite abfieren lassen. Wegen der leichten Krängung
der „Isabella“ lag es zunächst frei im Wasser, um
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hineinzusteigen, mußten es die Männer an die Bordwand
heranziehen.
Das Beiboot des schwarzen Seglers lag inzwischen auch im
Wasser. Als Besatzung enterten Thorfin Njal und seine vier
Nordmänner sowie die beiden Portugiesen Pedro Ortiz und
Diego Valeras an der Jakobleiter ab.
„Habt ihr genügend Waffen und Munition dabei?“ fragte Hasard
seinen Profos, bevor dieser als letzter ins Boot
hinunterkletterte.
„Ja. Glaubst du, wir kriegen an Land Ärger?“
„Das weiß man nie“, erwiderte Hasard. „Aber etwas anderes.
Wir haben den portugiesischen Siedlern auf der Insel vor Bahia
einen Teil unseres Proviants belassen, jetzt brauchen wir
Nachschub. Seht euch nach jagdbarem Wild um. Vielleicht
findet ihr auch eine Süßwasserquelle, an der wir unsere Fässer
auffüllen können.“
„Aye, aye“, sagte Carberry, dann hangelte er nach unten.
Etwas löste sich von der Back und segelte hinter ihm her – Sir
John, der rote Aracanga. Er ließ sich außenbords absacken,
landete auf Carberrys Schulter, als dieser gerade auf der
Achterducht Platz nahm, und sagte: „Pullt, ihr Kakerlaken!“
Seit Edwin Carberry den Papagei auf dem Amazonas
„angenommen“ hatte, war einige Zeit verstrichen, und
mittlerweile hatte Sir John fast sämtliche Profos-Ausdrücke
gelernt.
Hasard sah den Booten nach, wie sie auf den Platz zuglitten,
an der sich die Landzunge mit dem Festland vereinte. Das Boot
des schwarzen Seglers befand sich mitten in der Fahrrinne,
Carberry und die anderen fünf Seewölfe steuerten darauf zu –
und die ganze Zeit über lief das Wasser weiter und weiter ab.
„Wir können kaum mehr tun, als abzuwarten“, sagte Hasard zu
Ben und Old O'Flynn. „Was bleibt uns anderes übrig? Aber in
der Zwischenzeit sollten wir jede Gelegenheit nutzen, um die
Langeweile und den Ärger zu verscheuchen.“
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Old O'Flynn schaute aus schmalen Augen auf die Sandbänke, die sich hier und da aus dem Wasser der Lagune hervorschoben. „Das würde ich auch sagen. Hölle, Tod und Teufel, wir stecken ja in einem richtigen Wattenmeer.“ „Hauptsache, die Boote erreichen noch das Ufer“, sagte Ben. „Wenn nicht, müssen die Männer eben marschieren“, erwiderte der alte O'Flynn. „Mist!“ rief sein Sohn aus dem Großmars. „Unser Boot sitzt fest!“ Und der Alte murmelte: „O Schande, man soll es eben nie berufen.“ Es stimmte. Siri-Tongs Boot mit den fünf Wikingern und den beiden Portugiesen an Bord gelangte noch bis an die Landzunge, aber das Beiboot der Seewölfe war aufgelaufen und rührte sich nicht mehr vom Fleck. Da half kein Pullen, da halfen auch die übelsten Verwünschungen des Profos' nichts. Die Ebbe sog schlürfend sämtliches Wasser vom flachen Bereich der Lagune. Binnen kurzer Zeit lag die „Isabella VIII.“ fast völlig auf dem Trockenen – und krängte noch stärker. „Die Ballastverlagerung hat uns nichts genutzt“, sagte Ben Brighton. Er war bleich geworden. „Das Übergewicht ist zu goß.“ Hasard hielt sich an der Handleiste der Schmuckbalustrade fest. Es knarrte und ruckte im Schiff, man mußte aufpassen, nicht das Gleichgewicht zu verlieren und auf dem abschüssigen Deck nach Backbord zu rutschen. „Wir müssen Taue ausbringen und auf der Nehrung befestigen“, sagte Hasard. Seine Stimme klang plötzlich heiser. „Wenn wir es geschickt anstellen, richten wir mit Hilfe der Spüle die ‚Isabella' wieder auf. Wir müssen es schaffen…“ Er unterbrach sich, denn draußen am Beiboot spielte sich etwas Ungeheuerliches, kaum zu Fassendes ab. Zunächst verschloß sich sein Geist den Tatsachen und wollte sie einfach nicht aufnehmen, aber dann erkannte er das Grauen in seiner ganzen Tragweite.
-27
*
Luke Morgan, wie immer hitzig und impulsiv, verließ als erster das Beiboot. Er nahm seine Muskete mit und wandte sich dem Ufer zu. „Wäre doch gelacht, wenn wir das nicht auch zu Fuß schaffen!“ rief er. „He, auf was wartet ihr noch? Hat jemand Angst, in einer Pfütze zu ersaufen?“ Es schien wirklich die einfachste Sache der Welt zu sein, die Distanz zum Land zu überbrücken. Die Ebbe hatte den hellgelben Sand der Lagune freigelegt, es waren nur noch ein paar flache Wassertümpel geblieben, die eher lächerlich wirkten. Ein lauer, vom Festland her wehender Wind hatte alle Wolkenfetzen fortgeschoben. Über Bucht und Schiffen spannte sich ein jetzt tiefblau gefärbter Himmel, die Sonne war höhergeklettert und gewann an Kraft. Nichts schien den Frieden des neuen Tages trüben zu können – und doch war alles nur ein Trugbild.
Carberry drehte sich um und wies erregt zur „Isabella“. „Zum
Donnerwetter, seht doch, sie liegt völlig auf dem Trockenen. Das nimmt kein gutes Ende!“ Shane, Ferris und Bob Grey wandten sich ebenfalls um. Erschüttert blickten sie zu ihrem Schiff. „Verdammt, daß uns das aber auch passieren mußte“, sagte Big Old Shane. „In letzter Zeit sind wir vom Pech verfolgt.“ Batuti stieß plötzlich einen kehligen, entsetzten Laut aus. Er war der einzige, der nicht zur „Isabella“, sondern zu Luke Morgan blickte. Auf seinen Ruf hin ruckten jetzt auch die Köpfe der anderen Männer wieder herum. „Mir nach“, hatte Luke Morgan noch gesagt – dann war er verstummt.
Er stand wie erstarrt im Sand, das linke Bein nach vorn gesetzt,
als wolle er jeden Moment weiterwaten. Aber da war etwas, das
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ihn daran hinderte. Er versuchte, das rechte Bein
nachzuziehen. Es gelang ihm nicht.
Sein Gesicht verfärbte sich dunkel. Voll Wut trachtete er, das
Körpergewicht nach vorn zu verlagern, aber auch das klappte
nicht. Er steckte fest.
Luke fluchte. Er riß den rechten Fuß einfach aus dem Stiefel
und setzte ihn wieder auf. Tief drückte sich der Fußballen in
den blanken Grund der Lagune, immer tiefer. Er fand keinen
Halt. Lukes Augen weiteten sich, er wollte sich herumwerfen,
konnte auch das nicht, er konnte nur den Kopf wenden.
„He!“ rief er. „Helft mir hier 'raus. Ich – ich komme aus eigener
Kraft nicht frei, verdammt noch mal!“
„Ich krieg zuviel“, sagte Bob Grey. „Er ist ja schon fast bis zu
den Knien eingesunken.“
„Los“, befahl der Profos. Er hob das linke Bein über das
Dollbord und setzte den Fuß außen sehr vorsichtig auf. Prüfend
wippte er ein paarmal, dann zog er das rechte Bein nach und
schlich mit schleichenden Bewegungen auf Luke Morgan zu.
„Los, Luke befreien! Ho, Luke, brauchst du neuerdings eine
Amme, wenn der Seewolf Landgang verordnet, was, wie?“
„Hör doch auf“, keuchte Luke. „Das ist kein normaler Sand. Du
müßtest mal fühlen, wie der an meinen Beinen saugt. Teufel,
beeil dich doch!“
Ferris Tucker war Carberrys Beispiel gefolgt. Sie wußten beide,
was es mit dem Sand auf sich hatte, aber der Profos wollte
durch sein bagatellisierendes Gerede ganz einfach verhindern,
daß Lukes Besorgnis in wilde Panik umschlug.
Etwas mehr als ein Schritt trennte die beiden jetzt noch von
Luke.
Auf der „Isabella“ klammerten sich die Männer an Schanzkleid,
Balustraden und Nagelbänken fest, um nicht abzurutschen, und
blickten verstört auf die Szene am Boot. Das Krängen der
GaLeóne war zu einem zweitrangigen Ereignis verblaßt.
Plötzlich konzentrierte sich alles nur noch auf Luke Morgan.
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Die Pfützen im Sand schienen tückisch zu glitzern und die
schwarzhaarige Frau und die Männer auf den Schiffen
anzugrinsen. Auch Siri-Tong und ihre Piraten schauten
betroffen auf den Mann, der mittlerweile fast bis zu den Hüften
eingesunken war.
Jenseits des Priels, dessen Verlauf nun deutlich entlang der
Nehrung zu verfolgen war, standen Thorfin Njal und seine
Begleiter aus dem Boot am Ufer und spähten ebenfalls zu
Luke, Carberry und Ferris Tucker.
Der Profos und der rothaarige Schiffszimmermann hatten
Morgan erreicht.
„Na, dann wollen wir mal“, sagte Carberry. Er packte als erster
zu und griff nach dem Arm des Kameraden. Ferris stand auf der
anderen Seite und faßte ebenfalls zu.
Carberry zerrte, fluchte, lief rot an, lachte und fluchte wieder,
und über seinem Kopf zog Sir John krächzend seine Kreise.
Ferris Tucker arbeitete mit der gleichen Anstrengung. Aber ihr
Unternehmen fruchtete nichts.
Luke sank nur noch tiefer ein.
Ferris blickte plötzlich an sich hinunter und registrierte zu
seinem Entsetzen, daß auch seine Stiefel bereits in dem Sand
untergingen.
„Schockschwerenot“, wetterte Carberry. „Nun mach doch kein
Theater, Luke. Laß dich 'rausziehen und hör auf, uns auf den
Arm zu nehmen.“
„Halt die Luft an, Ed“, sagte Luke.
„Hör mal, wie sprichst du mit deinem Profos…“
„Hör auf, du weißt ganz genau, was das hier ist.“
„Ein blöder Scheiß-Sand ist das.“
„Treibsand“, stieß Luke hervor.
Treibsand – das Wort schien über die Lagune zu geistern. Die
Männer der „Isabella“ sagten es, die Siri-Tong-Piraten flüsterten
es, Thorfin Njal stieß es auf der Landzunge wie eine
Verwünschung aus.
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„Treibsand!“ schrie Luke Morgan. „Himmel, er zieht mich in die
Tiefe! Ich verrecke, ihr Idioten, so helft mir doch!“
Hasard war auf der obersten Sprosse der Jakobsleiter, die er
an der Backbordseite der „Isabella“ hatte belegen lassen.
„Luke, dreh jetzt nicht durch!“ rief er zurück. „Behalte die Ruhe,
zum Teufel! Ed, Ferris, macht euch lang! Ja, ihr sollt euch
hinlegen, verdammt!“
Er hatte sich die Stiefel ausgezogen und trug nur noch ein
Hemd und eine kurze Hose. Er ließ jeglichen Ballast an Bord
zurück – auch seine Radschloßpistole.
„Was hast du vor?“ fragte Ben Brighton.
„Gebt mir ein Tauende“, sagte Hasard. „Das längste Tau, das
wir haben, schnell!“
Smoky trug das Tau ans Backbordschanzkleid und schob den
Tampen auf seinen Kapitän zu. Hasard packte zu, enterte ab
und ließ sich auf allen vieren auf dem Treibsand nieder, wobei
er das Tau nachzog.
* Luke Morgan schrie wieder auf. Er war ein harter Mann, keiner von der nen, die sich rasch aus der Fassung werfen ließen. Aber was ihm hier geschah, ließ ihn die Angst und die Panik in allen Phasen erleben. Seine Lage war furchtbar, aussichtslos, und jeder andere Mann an seiner Stelle hätte sich die Seele aus dem Leib gebrüllt. „Durchhalten, Luke, ich helfe dir!“ rief Hasard. Er kroch auf dem Bauch. Sein Vorhaben basierte auf einer simplen Berechnung. Luke war nicht gleich vor dem Beiboot steckengeblieben und eingesackt. Auch Carberry und Ferris hatten den Weg zu dem Verunglückten problemlos zurücklegen können. Es gab also einigermaßen feste sowie sumpfartige Bereiche in dem Treibsand. Mit einigem Glück hoffte Hasard, einen Weg zu Luke Morgan zu finden. Natürlich waren die Chancen eines kriechenden
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Mannes größer als die eines schreitenden Mannes, denn im ersten Fall war das Körpergewicht besser verlagert, während bei einem aufrecht Gehenden die Last praktisch auf einen Punkt konzentriert war. Auf die Füße. Hasard bewegte sich außerordentlich behutsam voran. Er traf alle möglichen Sicherheitsvorkehrungen, um nicht auch zum Opfer des tückischen Sandes zu werden. Scheiterte er, war Luke so gut wie verloren. Ferris Tucker hatte gerade noch verhindern können, daß auch er von dem saugenden Sand gepackt wurde. Nachdem er sich hatte hinsinken lassen, hatte er seine Stiefel aus dem Sand befreien können. Der Profos und der Schiffszimmermann lagen neben dem verzweifelten Luke und konnten nichts, aber auch gar nichts für ihn tun. „Hölle und Teufel!“ Shane richtete sich in der Jolle auf. „Ich halte das nicht aus. Wir können doch hier nicht wie die Götzen hocken und zusehen, wie Luke vor die Hunde geht. Batuti, gib mir einen Riemen, ich steige aus und versuche, Luke mit dem Ding 'rauszuziehen.“ „Gar nichts tust du!“ rief Hasard. Er befand sich in diesem Augenblick nicht mehr weit von dem Boot entfernt. „Bleib, wo du bist, Shane, oder es gibt Ärger. Meinst du, ich will dich auch noch herausholen?“ „Hasard – es gibt einen Weg bis zu Luke“, brüllte der ehemalige Schmied und Waffenmeister von Arwenack-Castle. „Ich weiß.“ Hasard schrie genauso laut wie der graubärtige Riese. „Ich bin näher dran als du…“ „Noch ein Wort, und ich lasse dich unter Arrest stellen, Shane“,
gab Hasard eiskalt zurück.
Shane verstummte daraufhin. Beim Seewolf herrschten
Kameradschaft und Demokratie, aber er war und blieb der Kapitän und ließ sich nicht in seine Entscheidungen hineinreden.
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Hasard war auf dem Weg, den Lukes, Eds und Ferris' Schritte
auf dem Sand gezeichnet hatten. Er folgte der Fährte und
robbte jetzt schneller. Er kroch hinter dem Boot hervor und
hatte den Blick auf Luke frei.
Hasard war auf alles vorbereitet, aber er kriegte in diesem
Moment doch einen Schreck, der ihm bis in die Knochen fuhr.
Luke Morgan war fast bis zur Brust eingesunken! Er japste
nach Luft.
„Der Sand“, preßte er hervor. „Er quetscht mir den Brustkasten
zusammen.“
„Ich komme, Luke.“
„Du schaffst es nicht, Hasard. Jagt mir eine Kugel in den Kopf.“
„Quatsch“, sagte Hasard brutal.
„Hält's Maul!“
Endlich war er neben dem kleinen, drahtigen Engländer und
schlang ihm das Tau um die Brust.
Hasard knüpfte einen Knoten, der sich unmöglich lösen konnte.
Er mußte unter fatalem Zeitdruck handeln und das Tau mit
fliegenden Fingern an Lukes Körper festbinden.
„Luke, halte dich zusätzlich mit den Händen am Tau fest“, sagte
er. „Mit beiden Händen, verstanden?“
„Ja, Sir“, erwiderte der kleine Mann stöhnend.
Hasard wälzte sich von ihm weg, richtete sich auf und gab ein
Zeichen zur „Isabella“ hin. Dan stieß einen Pfiff aus, Ben
Brightons Kommandoruf erklang – und dann straffte sich das
Tau.
Vierzehn Männer, darunter auch Dan O'Flynn und Ben
Brighton, hatten auf der GaLeóne zugepackt und zogen an dem
Tau. Sogar der Schimpanse Arwenack machte sich nützlich,
indem er sich zwischen die Männer mengte und seine
Affenhände um das Tau schloß.
Ein Ruck, und das kräftige Tau schloß sich wie eine Klammer
um Lukes Oberkörper. Unter Hauruck-Rufen stemmten sich die
Seewölfe auf dem schiefen Deck gegen das Schanzkleid,
zerrten, griffen nach und holten das Tau Zug um Zug durch.
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Es war eine beschwerliche Arbeit, denn der Treibsand wollte
sein Opfer um keinen Preis freigeben. Wie mit Saugnäpfen hing
er an Luke Morgan.
„Hältst du das durch?“ fragte Hasard besorgt. Er hatte nach
Lukes Arm gegriffen, und auch Carberry und Ferris Tucker
hatten sich inzwischen Plätze gesichert, von denen aus sie
Luke Morgan wenigstens ein bißchen Unterstützung leisten
konnten.
Luke nickte mit zusammengepreßten Lippen. Sein Mund war
ein weißer, blutleerer Strich in dem verkniffenen Gesicht.
Hasard empfand in diesem Augenblick tiefes Mitleid mit ihm.
Luke war seinerzeit aus der englischen Armee desertiert und
hatte dann bewegte Jahre als Pirat in der Karibik verbracht, bis
er zu den Seewölfen gestoßen war. Er war ein aufbrausender,
impulsiver, leicht jähzorniger Typ, und doch hatte er sich
hervorragend in die Crew der „Isabella“ gefügt und paßte zu ihr.
Ganz allmählich gewann Luke Auftrieb in dem teuflischen Sand.
„Wir schaffen es“, sagte Hasard.
„Halte durch. Luke!“ rief Ferris Tucker.
„Leg die Ohren an, Junge, das gibt weniger Luftwiderstand!“
schrie Carberry.
„Hau ruck!“ tönte es von der „Isabella“ herüber. Wenig später
schlugen die Rufe in ein rhythmisches „Hurra“ um, denn jetzt
sahen auch die Männer auf dem Schiff, daß sie mit ihren
Bemühungen Erfolg hatten.
Das Tau schnürte Luke die Brust zusammen. Als er bis zu den
Hüften befreit war und schon fast mit dem Oberkörper auf
festerem Untergrund lag, verlor er plötzlich das Bewußtsein.
„Schnell!“ schrie der Seewolf. „Um Gottes willen, holt durch!“
Es gab ein schmatzendes Geräusch. Auch Lukes Beine glitten
jetzt aus dem Schlickloch hervor. Seine Stiefel blieben im
Grund zurück, aber denen weinte keiner eine Träne nach, am
allerwenigsten Luke. Er war dem mörderischen Sog entronnen,
allein das zählte.
Hasard hob die Hand und rief: „Fest!“
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Sofort hielten die Männer vom Schiff inne. Das Tau erschlaffte.
Luke lag auf dem Bauch, reglos, zerschunden. Hasard schob
sich auf ihn zu, drehte ihn auf den Rücken und lockerte das
Tau. Er sah erleichtert, wie Luke wieder regelmäßiger atmete
und dann die Augen aufschlug.
„Wie fühlst du dich?“ fragte er ihn.
„Großartig“, flüsterte Luke. „Nie so prächtig in Form gewesen.“
„Kannst du selbst zur ‚Isabella' zurückkehren?“
Luke versuchte zu grinsen, aber es wurde nur eine Grimasse
daraus. „Natürlich. Wir kriechen doch, oder?“
„Ja, und zwar alle Mann“, sagte Hasard.
Kurz darauf robbten sie auf ihr Schiff zu – Hasard, dann Luke
Morgan, und hinter ihnen der Profos und die anderen vier aus
dem Beiboot. Das Tauende hatte der Seewolf von Lukes Brust
gelöst und an der Bugklappe des Beiboots belegt.
Auf demselben Weg, den Hasard zu Luke genommen hatte,
kehrten sie auf die „Isabella“ zurück. Hasard brauchte sich nur
an den Spuren zu orientieren, die er hinterlassen hatte.
Luke wurde mit großem Hurra und Gejohle begrüßt, als er die
Jakobsleiter hochklomm. Er ließ sich gleich hinter dem
Schanzkleid der Kuhl nieder. Der Kutscher verabreichte ihm als
Allheilmittel drei Daumenbreiten Rum in einer Muck.
Die Crew zog das Beiboot über den Sand bis zur „Isabella“
heran, bevor der Treibsand es festhalten konnte. Blacky
brauchte nur noch kurz anzuentern und die Heißleinen
anzuschlagen, die das Boot mit den Galgen verbanden, dann
konnte es zurück an Bord gehievt werden.
„Und damit sind wir wieder da, wo wir angefangen haben“,
sagte Luke Morgan grimmig.
4. Der Vorfall war nicht unbeobachtet geblieben, aber das ahnten Hasard und seine Gefährten zu diesem Zeitpunkt nicht.
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Hinter dem Nordwestufer der Lagune erstreckte sich ein
ziemlich weitläufiges Hügelland mit flachen Kuppen, dichtem
Busch- und Baumbewuchs und Senken, die großartige
Lagerplätze für Mensch und Tier abgaben.
Der Mann, der aus einem sicheren Versteck zwischen
hüfthohem Büschelgras heraus auf die Schiffe blickte, hatte ein
überlegenes Grinsen aufgesetzt. Er hielt ein ziemlich
verbeultes, schäbiges Spektiv und schaute fast unaufhörlich
durch die Optik. Nur hin und wieder gönnte er seinem Nachbarn
einen raschen Seitenblick.
„Nun, Miguel?“ sagte er herausfordernd.
„Was soll ich sagen, Herr…“
„Was du von diesen Leuten hältst, natürlich.“
„Sie haben verdammtes Glück gehabt, daß sie den kleinen Kerl
aus dem Treibsand ziehen konnten, jawohl, das haben sie
gehabt“, erwiderte Miguel.
Er war ein dunkelhäutiger Mann, seine eigentliche Heimat lag
im fernen Afrika, aber er hatte sich längst damit abgefunden,
nie wieder dorthin zurückzukehren. Er war ein Cimarrón, ein
entflohener Negersklave, ein „Wilder“, ein „Maroon“, wie die
Engländer diesen Schlag in Abwandlung des spanischen
Begriffs zu nennen pflegten.
Der Mann, den er als Herr titulierte und als Anführer
akzeptierte, hieß Alfiero León.
Welten trennten diese beiden so unterschiedlichen Männer, und
doch verband sie eins: der Wunsch, sich zu bereichern und es
„zu etwas zu bringen“. Dieses Streben hatte sie zu Verbrechern
beispielloser Brutalität und Gnadenlosigkeit geprägt.
Miguel trug nur einen Lendenschurz. Seine nackte Haut war
von Wind, Regen und Sonne gegerbt und von unzähligen
Narben durchsetzt. Alfiero León trug eine erbärmliche
Kostümierung zur Schau, eine Art Verballhornung und
aberwitzige Imitation der Konquistadoren-Kleidung: geflickte
Kürbishosen, selbstgefertigte Stiefel aus rohem Leder, einen
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Brustpanzer und einen Helm, der durch einen zerrupften
Federbusch gekrönt wurde.
Die letzten beiden Stücke hatte León selbst geschmiedet, und
er war ganz besonders stolz darauf. Kein Mitglied seiner Bande
stieß sich an diesem Aufzug. Und vielen Überfallenen war
gerade das absurde Äußere dieses Mannes zum Verhängnis
geworden – sie hatten ihn für eine Witzfigur gehalten und seine
Unbarmherzigkeit erst begriffen, als sein Schwert oder Speer
sie durchbohrt hatte.
León schnitt eine verächtliche Grimasse. „Du hast mich mal
wieder falsch verstanden, Miguel, du rabenschwarzes Aas. Ich
will wissen, wie du die Männer von den Schiffen als Gegner
siehst.“
„Sie sind stark, sehr stark.“
„Aber nicht unbesiegbar.“
„Sie sind mehr als doppelt soviel wie wir, haben Kanonen und
andere ausgezeichnete Waffen, Herr, und sie knallen uns wie
auf einem Präsentierteller ab, wenn wir 'runterreiten“, sagte
Miguel in seinem stark akzentgeladenen Spanisch.
„Ich wäre ja ein Narr, wenn ich das tun würde“, sagte León
arrogant. Angestrengt spähte er wieder durch sein Glas.
„Was hast du dann vor, Herr?“
„Es ist auch eine Frau dabei, Miguel.“
„Auf dem schiefliegenden Schiff?“
„Auf dem seltsamen Viermaster mit den schwarzen Segeln.“
„Willst du sie rauben, Herr?“
„Nein.“
„Was dann?“
„Du bist ein stockdummer Bastard, Miguel.“
„Ich weiß, daß wir ins Verderben laufen. Die Übermacht ist zu
groß…“
Alfiero León setzte das Spektiv mit einem Ruck ab und wandte
sein Gesicht dem Neger zu. Es war ein schmales,
stoppelbärtiges Gesicht mit grauen, kalten Augen. „Hör zu,
-37
Miguel. Ich habe erkannt, wer der Kapitän des Dreimasters ist, und das ist mehr wert als alles andere auf der Welt. Du kapierst nicht, wie? Auch egal. Hauptsache, ich behalte den Überblick. Ich schwöre dir, unsere Gelegenheit kommt noch. Wir brauchen nur Geduld zu haben.“ * „Der Teufel soll diesen verfluchten Treibsand holen“, sagte Old
O'Flynn. Er spuckte aus und trat wütend mit seinem Holzbein
auf.
Ben Brighton lehnte sich zum dritten oder vierten Mal über das
Backbordschanzkleid der Kuhl, richtete sich wieder auf und sah
Hasard an. Er war kalkweiß im Gesicht.
„Mein Gott, es stimmt – die ,Isabella' sinkt.“
„Ich habe es mir gedacht“, erwiderte Hasard. „Der schwarze
Segler sitzt auch auf Grund, aber der pure Zufall hat ihm einen
festeren Platz beschieden als uns. Wir könnten auf das Schiff
überwechseln, umsteigen – irgendwie würden wir es schon
schaffen.“
„Aber – aber dann geben wir die ‚Isabella' ja auf“, sagte Smoky.
„Hast du einen besseren Vorschlag?“ fragte der Seewolf.
Smoky schob sich am Schanzkleid entlang auf ihn zu. Die
gesamte Crew war hier auf der Backbordseite versammelt,
denn an Steuerbord konnte sich auf dem schrägen Deck keiner
mehr halten.
„Augenblick mal“, sagte Smoky. „Wir haben dieses Schiff
gekauft, aber das ist nicht der wichtigste Grund, es bis zum
letzten zu verteidigen. Es ist das erste Mal in unserem Leben,
daß wir wirklich etwas Reelles besitzen. Wir haben es mit
unserem Schweiß erarbeitet, haben dafür gelitten, geschuftet,
gekämpft, und wir haben das beste Schiff unter dem Hintern,
das je in England gebaut wurde. Stimmt's, Männer?“
„Jawohl“, sagte Carberry. „Wir dürfen die ‚Isabella' nicht im
Stich lassen.“
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Hasard nickte. „So weit, so gut. Das heißt aber, daß wir mit ihr
im Sand untergehen und einen scheußlichen Tod finden.“
Ben Brighton blickte ihn überrascht an. „Ich verstehe dich nicht.
Sprichst du wirklich aus Überzeugung? Es muß doch einen
Weg geben…“
„Welchen?“
„Darüber grübeln wir alle nach“, sagte Big Old Shane. „Und wir
finden die Lösung schon. Verdammt, Hasard, du bist doch
sonst nicht um Einfalle verlegen. Und du hast auch Luke
Morgan aus der Patsche geholfen, Hölle und Teufel noch
mal…“
„Ihr wollt das Schiff also um jeden Preis retten?“ fragte Hasard.
„Ja!“ riefen die Männer.
Er grinste. „Das hab ich nur hören wollen. Wißt ihr, manchmal
ist es gut, eine Bestätigung für das zu hören, was man selbst
empfindet.“ Er blickte sie der Reihe nach an. Jetzt endlich
hatten sie erfaßt, wie seine Worte zuvor zu verstehen waren.
Hasard sah zur Nehrung. Thorfin Njal und seine sechs Begleiter
standen nach wie vor ziemlich ratlos da. Sie konnten sich in ihr
Beiboot setzen und über den Priel zum schwarzen Schiff
zurückkehren, aber sie warteten noch darauf, sich mit Siri-Tong
und Hasard abzustimmen.
Damit war aber auch nichts gewonnen.
Hasard schaute zu „Eiliger Drache über den Wassern“ hinüber.
Sein Blick verharrte auf Siri-Tongs Gestalt. Die Korsarin stand
wieder auf der Back; es arbeitete in ihrem Geist, das konnte er
von seinem Standort aus mit bloßem Auge zu erkennen.
Das Vorschiff des schwarzen Seglers ragte gerade so weit vor,
daß vom Backbordschanzkleid der „Isabella VIII.“ aus zu
überblicken war. Der Rest des Viermasters lag für die Seewölfe
im toten Blickwinkel. Sie mußten eine akrobatische Kletterpartie
aufs Achterdeck unternehmen, um ihn in voller Größe liegen zu
sehen.
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„Eiliger Drache über den Wassern“ hatte eindeutig die
günstigere Position in der wasserleeren Lagune. Aber was
spielte das jetzt noch für eine Rolle?
Hasards Blick wanderte über den Treibsand. Es gab
schlüpfrige, alles verschlingende Zonen, aber auch etwas
festere Bereiche, soviel wußte er. Ließ sich damit etwas
anfangen? Nur, wenn sie die „Isabella“ verließen…
„Shane und Batuti!“
Die beiden Männer horchten auf und blickten ihren Kapitän an.
Ein Lächeln kerbte sich in die Mundwinkel des graubärtigen
Riesen.
„Nun schieß schon los“, sagte er. „Ich sehe dir doch an, daß dir
was eingefallen ist.“
„Ja. Du enterst in den Großmars auf, Batuti in den Vormars,
beide mit Pfeil und Bogen. Traut ihr euch das zu?“
„Zutrauen?“ Batuti sah empört aus. „Hasard sagt, was Batuti
tun soll, und Batuti haut Teufel in die Schnauze.“
„Paß auf, daß du dabei nicht wackelst“, wandte Old O'Flynn
gallig ein. „Du könntest aus dem Vormars fallen und dir die
Knochen brechen oder im Treibsand verschwinden, kapiert?“
„Ihr nehmt Wurfleinen mit hinauf und verbindet sie mit den
Pfeilschäften. Dann schießt ihr sie an Land, zu Thorfin Njal und
seinen Leuten“, erklärte der Seewolf. „Wir wählen die längsten
Wurfleinen, die wir haben, und an ihren Enden schlagen wir
Taue an. Klar?“
„Ich hab begriffen, was du vorhast“, sagte Shane begeistert.
„Los, Batuti, wir dürfen keine Zeit verlieren!“
Kurze Zeit darauf schwirrten die Pfeile auf die Landzunge zu.
Befehle wurden gerufen, verständigende Sätze schallten von
Schiff zu Schiff und zu den Wikingern und den beiden
Portugiesen. Thorfin Njal und seine Helfer rannten los, um die
auf der Landzunge niedergehenden Pfeile aufzunehmen.
Wenig später brauchten die Nordmänner und die Portugiesen
nur noch an den Leinen zu ziehen, und von der „Isabella“ aus
klatschten vier Trossen auf den Sand. Ihre Enden bewegten
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sich auf den Priel zu, tunkten in das Wasser, glitten auf die
Nehrung zu.
„Die dicksten Baumstümpfe und Stämme aussuchen“, ordnete
Thorfin Njal an. Er selbst hievte eine Trosse an Land und
begann, sie um den dicken Stumpf einer im Sturm
abgebrochenen Palme zu wickeln.
Daß der Stumpf nicht entwurzelt worden war, bedeutete ganz
einfach, daß er besonders fest in der Erde steckte. Und damit
war er genau das richtige für Hasards Vorhaben!
Es gab noch ein paar Stümpfe und gedrungene, knorrige
Bäume, um die sich die anderen Trossen belegen ließen.
Thorfin Njal, Arne, Eike, Oleg, der Stör, Pedro Ortiz und Diego
Valeras arbeiteten wie die Besessenen und befestigten die
Trossen mit fachmännischem Geschick.
„So fest, daß sie nur durch Feuer zu lösen sind“, sagte Siri-
Tongs Steuermann grollend.
Auch er hatte längst erfaßt, was der Seewolf plante.
In der Zwischenzeit waren auf der „Isabella“ die anderen Enden
der Trossen an Spillen befestigt worden. Das war kein leichtes
Unterfangen gewesen, jede Arbeit wurde auf dem schrägen
Oberdeck zu einer Plage.
Thorfin Njal gab Hasard das Zeichen, daß sein Teil der Aktion
auf der Nehrung abgeschlossen war.
Hasard sagte: „Dann mal los!“
„'ran!“ brüllte Carberry. „Habt ihr nicht gehört, ihr Kakerlaken?
An die Spaken!“
Und die Seewölfe quälten sich im Schweiß ihres Angesichts.
Sie drückten gegen die Spillspaken, aber am Anfang brachten
sie die Winden nur so langsam in Drehung, daß Hasard sich
ernsthaft über den Ausgang des Unternehmens zu sorgen
begann.
Er packte selbst mit zu.
Endlich bewegten sich die Spille. Es knarrte und knackte,
quietschte und stöhnte bis tief in den Schiffsleib. Carberry
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brüllte in allen Tonlagen. Sir John flog von Schiff zu Schiff, die
nervliche Anspannung sprang sogar auf ihn über.
Hasard dachte daran, daß es besser wäre, Verstärkung vom
schwarzen Segler anzufordern, verwarf den Gedanken aber
wieder, als die „Isabella“ sich mit einem langgezogenen,
ächzenden Ton aufzurichten begann.
„Hurra!“ schrie Dan O'Flynn. „Wir schaffen es!“
„Hält's Maul und spar dir die Puste“, fuhr der Profos ihn an. Er
arbeitete selbst auch mit und vergeudete mit seinem Gebrüll
jedoch die meiste Atemluft, aber er war nun mal der Profos an
Bord.
Ganz langsam kehrte die „Isabella“ in ihre Normallage zurück.
Jubel tönte von Siri-Tongs Viermaster herüber. Die Rote
Korsarin selbst stand mit geballten Händen auf der Back und
sagte immer wieder: „Vorwärts, ihr schafft es, vorwärts…“
„Der Kiel preßt sich etwas tiefer in den Grund“, stellte der
Boston-Mann nüchtern fest. „Aber das ist noch zu verkraften.
Hauptsache, die ‚Isabella' krängt nicht mehr.“
Siri-Tong nickte. „Damit ist schon viel gewonnen. Hasard weiß
natürlich, daß er sein Schiff auf diese Weise nicht vom Sand
ziehen kann – das wäre zu schön, um wahr zu sein. Nein, so
bringt er es niemals fertig, bis in den Priel zu gelangen. Wir alle
müssen die Flut abwarten.“
„Aber er kann verhindern, daß die ‚Isabella' ein Opfer des
Sandes wird“, sagte der Boston-Mann ernst. „Immer, wenn die
Massen wieder am Rumpf zerren, wird er die Spills in Gang
bringen.“
So war es. Als die „Isabella VIII.“ gerade lag, wandte sich der
Seewolf an Carberry. Sie waren beide schweißgebadet.
„Ed“, sagte Hasard. „Du läßt jetzt nur noch das Spill auf dem
Vordeck arbeiten, verstanden?“
„Aye, Sir. Du hoffst, daß das Schiff sich im weichen Untergrund
ein Stück nach Osten dreht, nicht?“
„Genau. Und du teilst zwei Schichten Männer ein, die wie die
Schießhunde aufpassen und verhindern, daß wir tiefer sacken.“
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„Das walte Gott“, erwiderte Edwin Carberry mit großem Ernst.
Hasard lief auf das Achterdeck und winkte Siri-Tong und ihren
Männern zu. Die Korsarin erwiderte den Gruß, lachte und
wandte sich dann Thorfin Njal auf der Landzunge zu. Durch
eine Gebärde bedeutete sie ihm, jetzt die Umgebung zu
erkunden.
„Los, Männer“, sagte der Wikinger. „Wir marschieren auf der
Nehrung zum Nordufer, steigen in das Hügelland auf und
schauen uns nach Wild und Wasser um. Haltet die Augen offen
und pennt nicht, sonst gibt es was aufs Haupt.“
„Sonst gibt es was aufs Haupt“, wiederholte der Stör.
Im nächsten Augenblick schrumpfte er zusammen, denn der
vernichtende Blick Thorfin Njals traf ihn.
5. Alfiero León lag da und verfolgte wie gebannt das Geschehen
in und an der Lagune.
„Ein gewiefter Kapitän, eine gute Mannschaft“, stellte er mit
einem langen Blick auf die „Isabella“ fest. „Miguel, ich habe
keine Zweifel mehr – das ist er.“
„Wer?“ fragte der Cimarrón.
„El Lobo del Mar.“
„Der Seewolf?“
„Ja, so wird er genannt. Du wirst von seinen Taten gehört
haben, Miguel.“
„Nein.“
„Du bist der Bastard eines Maultiers und eines Hornochsen“,
sagte der behelmte Bandenführer. „Ich verfluche den Tag, an
dem ich dich gnädigerweise aufgenommen habe. Der Seewolf
– jener schwarzhaarige Teufel auf dem Achterdeck der GaLeóne da unten – ist der größte Schnapphahn zur See, den die Welt je gesehen hat. Er tut im Grunde, was auch wir tun: Er greift sich, was er kriegen kann, und erleichtert die spanische Krone um Gold, Silber und Edelsteine aus der Neuen Welt. Nur
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tut er es mit einem vorgeblich edlen Motiv, nämlich für die
englische Königin, kapiert?“
„Nein.“
León fluchte leise vor sich hin. Dabei hob er wieder das
verbeulte Spektiv ans Auge und beobachtete, wie die „Isabella“
vermittels der Trossen aufgerichtet wurde.
Sein Augenmerk konzentrierte sich immer wieder auf den
großen, breitschultrigen Mann, der zunächst an den Spillen
mitschuftete und sich dann auf das Achterdeck seines Schiffes
begab.
Schwarze Haare, die vom Wind zerzaust wurden, ein junges
Gesicht, kühn, verwegen, und doch schon alt, von einer Narbe
und anderen Spuren bitterster Erfahrungen gezeichnet, ein
Kreuz, so breit, daß man damit mühelos eine Tür verdecken
konnte, eisblaue Augen…
„Er ist es“, flüsterte León.
Gut zwei Dutzend übelster Schlagetots lagerten in der Senke
hinter Alfiero León und Miguel. Sie waren zum größten Teil
Indios und Cimarróns. Sie verstanden mit Pfeil und Bogen,
Speeren, Blasrohren und Bolas umzugehen, und alle besaßen
Pferde. Ihre Taten wurden von unglaublicher Skrupellosigkeit
beherrscht. Sie waren auch für die Spanier der Siedlungen in
der Neuen Welt eine ernste Bedrohung.
León dachte an all dies, und es erfüllte ihn mit ungeheurer
Selbstsicherheit und Überheblichkeit.
Er war der uneheliche Sproß eines spanischen Hidalgos –
eines abgetakelten, verarmten Adligen also – und einer Hure
von Sardinien. In Kastilien hatte er von klein auf als
Schweinehirte gedient. Als er aber eines Tages einen fetten
Eber gestohlen und geschlachtet hatte und es herauskam, blieb
ihm nichts anderes übrig, als heimlich zu verschwinden und auf
einer der GaLeónen anzuheuern, die in die Neue Welt
hinübersegelten.
Auf einem Schiff der Neu-Spanien-Flotte war er in die Karibik
gelangt. Er hatte sich auf den Inseln herumgetrieben, hatte
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versucht, sich bei den Bukaniers und Freibeutern anzubiedern,
war aber bald von ihnen verdrängt und gehaßt worden.
Auch auf Tortuga war kein Platz für ihn gewesen, die Piraten
hatten ihn nicht in ihre Reihen aufnehmen wollen. Er schien den
Geruch eines Aasgeiers an sich zu haben. Wieder hatte er sich
verstecken müssen, hatte Rache geschworen, haßte fortan alle
Freibeuter und Piraten und wünschte den Spaniern wie deren
Widersachern die Pest auf den Leib.
Aber dort, auf Tortuga, hatte er erfahren, wer der Seewolf war.
Es hatte genug Beschreibungen gegeben, anhand derer man
diesen Philip Hasard Killigrew erkennen konnte. Einige
spektakuläre Auftritte auf Tortuga hatten ihn auch unter den
Piraten berühmt und berüchtigt wie einen echten
Einzelgängerwolf werden lassen.
Aber er, León, glaubte sich aus einem anderen Holz geschnitzt
als alle anderen Seeräuber, Buschklepper und Strauchdiebe. Er
glaubte sich „zu Höherem geboren“. Er war von sich und seiner
Zielsetzung überzeugt. Eines Tages, so träumte er, würde die
Welt aufhorchen und erschauern, wenn sie nur seinen Namen
vernahm.
Alfiero León!
Auf der Tierra firme, dem Festland, angelangt, war es ihm
endlich gelungen, eine Meute Mörder und anderer
Galgenstricke zusammenzurotten. Die Indios und Cimarróns
waren echte Desperados, wenn sie in die Hände der Spanier
fielen, rollten unweigerlich ihre Köpfe. Allein die Tatsache, daß
sie sich frei auf dem Kontinent bewegten, war für die neuen
Herren ein Grund, sie zum Tode zu verurteilen. Ein Mann mit
roter, brauner oder schwarzer Haut durfte nicht frei sein.
León wußte die Situation auszunutzen. Seine Leute waren ihm
treu ergeben, sie gehorchten aufs Wort. Zum überwiegenden
Teil waren sie gemütsmäßig von größter Primitivität.
León sah, wie sich die sieben Männer auf der Landzunge jetzt
in Bewegung setzten und auf das Nordufer zuhielten. Er,
Alfiero, lag im Gras eines Hügels an der Nordwestseite der
Bucht.
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„Es geht los“, raunte er. „Miguel, lauf in die Senke und
verständige die Männer. Sie sollen die Pferde im Gehölz
verstecken. Die Hälfte rückt zu Fuß zu mir auf, die andere
Hälfte hält sich mit den Tieren zur Attacke bereit.“
„Ja, Herr.“
Miguel wandte sich ab und verschwand geräuschlos im hohen
Gras hinter dem Rücken des Anführers. León wandte
unterdessen nicht den Blick von den sieben anmarschierenden
Männern. Der erste, ein Klotz von einem Kerl, war in Felle
gekleidet und trug einen Kupferhelm. Er gab damit ein fast so
illustres Bild ab wie er, León. Er trug Riemensandalen, die um
die Waden festgeschnürt waren.
Woher stammte dieser seltsame Kerl?
Alfiero León stellte darüber keine weiteren Überlegungen an. Er
dachte nur an den Hinterhalt, den er legen würde, und an das,
was er über den Seewolf gehört hatte.
Dieser schwarzhaarige Engländer – schon zu seinen Lebzeiten
war er eine Legende. Er sollte sagenhafte Schätze gehortet
haben. Spanien hatte eine Belohnung auf seinen Kopf
ausgesetzt, eine hohe Belohnung, aber die Schergen des
Königs konnten seiner nicht habhaft werden.
Zuletzt hatte es in den Siedlungen geheißen, der Seewolf sei im
Amazonasgebiet verschollen. Kriegsschiffe, die Cayenne mit
dem Auftrag verlassen hatten, den Seewolf zu vernichten,
waren unverrichteter Dinge zurückgekehrt. Der stolze
Dreimaster und das schwarze Schiff mit den schwarzen Segeln,
das El Lobo del Mar seit einiger Zeit begleitete, sollten von der
grünen Hölle verschlungen worden sein, den Wilden zum Opfer
gefallen, von Krankheiten gemartert und aufgezehrt, versunken,
zerfressen, zerfallen…
Und doch – es stimmte nicht. León hatte die beiden Schiffe und
ihre Führer identifiziert. Wie die schöne Frau hieß, wußte er
nicht, aber auch von ihr hatte er schon vernommen.
War der Seewolf tatsächlich den Amazonas hinaufgefahren?
León glaubte daran. Er hatte seine Ohren überall und wußte
beispielsweise auch, daß ein Spanier namens Chano, den die
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Spanier tot geglaubt hatten, von Killigrew vernichtet worden
war. Tausend Gerüchte geisterten von Ort zu Ort, aber nicht
alles davon war erfunden.
Was konnte ein Mann dieses Formats am Amazonas suchen?
Alfiero León grinste. Er glaubte es zu wissen. El Dorado –
immer wieder wurde gemunkelt, es existiere ein Goldland tief im
Innern des Landes, verborgen, geschützt, den Weißen
feindlich. Hatte der Seewolf es gefunden?
León hatte immer gehofft, selbst auf El Dorado zu stoßen. Aber
wenn ihm einer wie dieser Killigrew das Forschen abnahm –
nun gut!
Das war der dritte Grund, den Seewolf zu überrumpeln: Kannte
er das Geheimnis von El Dorado, so mußte er es preisgeben.
Und die anderen beiden Gründe, Kopf und Kragen zu riskieren,
um ihn zu packen? Nun, zum ersten war da die Belohnung, und
zweitens war León überzeugt, auf den beiden Schiffen
immense Schätze zu finden.
Miguel kehrte zurück.
„Die Männer sind bereit“, flüsterte er.
„Wir warten, bis diese Narren dort die Hügelkuppe passiert
haben“, sagte León ebenso leise. „Wir überraschen sie im Gras
und sind gegen das Kanonenfeuer der Schiffe geschützt,
außerdem können der Seewolf und seine Leute unten nicht
sehen, was hier geschieht, weil sie die Kuppe vor der Nase
haben.“
„Die Männer dort“, raunte Miguel mit einem Fingerzeig auf die
fünf Wikinger und die beiden Portugiesen. „Sie haben
Feuerwaffen – Musketen, Tromblons, Pistolen. Was können wir
mit unseren wenigen Schießeisen gegen die ausrichten?“
„Seit wann bist du ein Hasenfuß, Miguel?“
„Ich spüre, daß das nicht gutgeht.“
„Der Teufel soll dich holen“, zischte sein Herr. „Dich – und wer
dich gezeugt hat.“
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Miguel setzte eine zerknirschte, unterwürfige Miene auf. „Herr,
ich gebe mir Mühe, so viele von diesen Hunden wie möglich zu
töten.“
León schüttelte den Kopf. „Nein. Den sieben Burschen dort darf
nicht viel passieren. Ich habe mich entschieden: Sie müssen
lebend und weitgehend unverletzt in unsere Hände fallen.
Kriech zurück in die Senke und melde das den anderen.“
Als Miguel ihn mit größter Verständnislosigkeit musterte, fügte
er lässig hinzu: „Wir lassen sie ganz gemächlich in unseren
Hinterhalt tappen, dann schlagen wir sie bewußtlos. Ich will sie
als Geiseln benutzen, um mit ihnen den Seewolf zu erpressen.“
Miguel hatte immer noch nicht begriffen, welche Pläne León
hatte, aber er schlich gehorsam davon.
León wandte den Kopf und verfolgte, wie die Hälfte seiner
Meute allmählich durch das hohe Gras zu ihm aufrückte. Er
lächelte selbstherrlich.
Mit Strategie vorgehen, dachte er, das ist der Schlüssel zum
Sieg und Erfolg. Alfiero, du bist zum Feldherrn geboren!
Er wußte selbst, daß es heller Wahnsinn gewesen wäre, eine
offene Schlacht gegen den Seewolf und seine Begleiter zu
führen. Den Bärtigen, Fellgekleideten und die anderen sechs
aus dem Beiboot des schwarzen Schiffes hätte er
niedermetzeln können, aber danach hätte die aufgebrachte
Übermacht der Gegner ihn und seine wilden Kerle dezimiert,
ausradiert.
Selbst bei Nacht wäre es noch Selbstmord gewesen, über die
beiden Schiffe herzufallen.
Rasch hatte León erkannt, daß hier Klugheit anstelle von
Courage und blinder Mordlust stehen mußte. Nur mit seiner
Taktik konnte es gelingen, Philip Hasard Killigrew zu packen.
Und er spann den Faden gleich weiter. Rio de Janeiro war die
nächste größere Siedlung der Spanier und Portugiesen. Dorthin
würde er den Seewolf schleppen, einen großen Auftritt
inszenieren und die Belohnung einheimsen.
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Voll Erwartung spähte er zu den heranmarschierenden Männern des schwarzen Seglers. Furcht verspürte er nicht. Bedenken, das Unternehmen könne ihm mißlingen, hatte er ebenfalls nicht. Alles wurde von der ungeheuren Vorfreude und dem Triumphgefühl überdeckt, das in ihm immer stärker wurde. Fast hätte er sich kichernd die Hände gerieben. * Thorfin Njal führte seinen kleinen Trupp und sicherte mißtrauisch nach allen Seiten, als sie die Hügelkuppe betraten. Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, daß auch der am harmlosesten wirkende Platz dieser Erde mannigfache Gefahren bergen konnte. Eike rückte auf und sagte: „Die Luft scheint rein zu sein. Ich glaube nicht, daß hier irgendwo Dons stecken. Sie hätten sich sonst längst gezeigt.“ „Wir müssen uns nicht nur vor Spaniern in acht nehmen, Eike.“
„Auch vor Portugiesen, ich weiß.“
„Das meine ich nicht“, sagte Thorfin Njal ziemlich grob. „Spanier
und Portugiesen sind für uns praktisch ein und derselbe Haufe, zumal beide Länder zusammengehören. Nein, ich spreche von Indianern, von Piraten und Wegelagerern, die in diesem verdammten Büschelgras lauern könnten.“ Er schoß einen wütenden Blick auf den Stör ab. Der hob nämlich gerade wieder an, seinen letzten Satz nachzusprechen. Jetzt biß er sich auf die Unterlippe, um den Drang zu bezwingen. Siri-Tongs Steuermann blieb stehen, stemmte die Fäuste in die Seiten und ließ den Blick wandern. Ein lauer, vom Binnenland fächelnder Wind wiegte das hüfthohe Büschelgras und schuf wellengleiche Bewegungen an den Hängen und in den Senken, die zwischen den Hügeln lagen. Niedrige, knorrige Bäume duckten sich in die Vertiefung, die sich zu den Füßen der
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Kundschafter erstreckte. Sie bildeten ein recht trostloses
Gehölz.
Über diesem blaßfarbenen Landschaftsbild stieg die Sonne, die
alles ausdörrte, höher und höher.
„Ausschwärmen“, befahl der Wikinger. „Wir gehen
nebeneinander in die Senke 'runter, sehen uns in dem
Wäldchen um und steigen dann den nächsten Hang hoch.“
„Ob wir wohl eine Quelle finden?“ sagte der Stör.
Pedro Ortiz, den sie an Bord des Viermasters alle „Pedro sin
obras“, also den „Pedro ohne Taten“ nannten, erwiderte: „Wenn
du mich fragst, nein. Hier gedeiht kaum was, hier gibt's nur
Gestrüpp, es ist eine magere, elende Gegend. Nicht mal die
Kleintiere finden hier genug zu fressen.“
„Tja“, sagte Oleg. „Hier bewegt sich tatsächlich nichts. Mit der
Jagd sieht's schlecht aus, meine ich.“
Thorfin Njal rückte seinen Helm zurecht. Er schwitzte darunter,
aber nichts und niemand auf der Welt würde ihn dazu bewegen,
das Ding jemals abzusetzen. „Behaltet eure Meinung für euch,
ihr Stinte. Ob's euch gefällt oder nicht, wir marschieren, bis wir
wenigstens eins von beiden gefunden haben – Wasser oder
Tiere.“
In kammartiger Formation schritten sie auf das Gehölz zu. Sie
hielten ihre Waffen schußbereit und stöberten durchs
Büschelgras. Ein Fremder in feindlichem Land konnte gar nicht
argwöhnisch und vorsichtig genug sein – sagte die Erfahrung.
Sie gelangten bis dicht vor den Krüppelhain und entdeckten
nichts Beunruhigendes. Thorfin Njal drehte sich ein paarmal
um, während er voranstapfte. Von der Lagune und den Schilfen
war nichts mehr zu sehen. Die Hügelkuppe behinderte den
Ausblick darauf. Aber Thorfin Njal fand, daß dies kein Problem
sei. Seine Besorgnis legte sich mit jedem Schritt, den sie
ungehindert taten, außerdem ließ sich der Kontakt zu den
anderen jederzeit wiederherstellen – durch einen Schuß in die
Luft.
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Das Pech war auf der Seite der fünf Nordmänner und der
beiden Portugiesen – nur wußten sie es zu diesem Zeitpunkt
noch nicht.
Das Glück fiel Männern zu, die dieses Land hervorragend
kannten und sich auch vor den gewieften Seeleuten zu
verbergen und zu tarnen verstanden.
Diego Valeras schaute nach links und gewahrte plötzlich eine
Bewegung, die gegen das Wogen des Büschelgrases anlief.
Sofort blieb er stehen und griff nach Pedros Arm.
„Da, sieh doch mal…“
„Was ist denn los? Siehst du Gespenster?“ Pedro Ortiz lachte
leise auf. „Wäre ja kein Wunder bei der Hitze.“
„Hör doch auf. Da steckt was im Gesträuch, sag ich dir.“
„Ein Tapir vielleicht“, meinte Arne. „Wäre nicht schlecht, so ein
Viech zu erlegen. Ich habe von dem Stück probiert, das uns der
Kutscher vorgestern überlassen hat. Schmeckte
ausgezeichnet.“
„Tapire brauchen Feuchtigkeit“, entgegnete Pedro. „Die gehen
hier vor die Hunde, ganz von allein, meine ich. Nein, das muß
ein Gürteltier oder so was in der Art sein…“
„Wollt ihr wohl endlich die Mäuler halten!“ sagte Thorfin Njal. Er
wollte noch etwas hinzufügen, aber in diesem Augenblick nahm
das Unheil seinen Lauf.
Es begann damit, daß nicht nur an dem einen Punkt, sondern
jetzt gleichzeitig an mehreren Plätzen Regungen im Gras zu
sehen waren. Die Männer waren für Sekunden verwirrt – und
das nutzte der Gegner aus.
Gestalten wuchsen aus dem Gesträuch hoch – hinter ihnen,
links und rechts neben ihnen.
Thorfin Njal riß das Tromblon hoch, das er aus dem Boot
mitgebracht hatte. Über den vorn trichterförmig ausgeweiteten
Lauf hinweg erkannte er nur, daß die Gestalten allesamt
dunkelhäutige, finstere Typen waren, zehn vielleicht oder auch
zwölf, ganz egal – er legte an und brüllte: „Ein Hinterhalt! In
Deckung und Feuer, Männer!“
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Er hatte es auf englisch geschrien, aber er verstand sehr wohl
auch die spanischen Worte, die nun von der Front der Gegner
zurückschallten. „Ergebt euch! Es hat keinen Zweck, ihr seid
umstellt!“
Thorfin erkannte den Sprecher als einen helmbewehrten,
merkwürdig herausgeputzten Kerl, der mit erhobenem Schwert
in Erobererpose dastand. Mehr sah er vorläufig nicht, denn aus
den Reihen der Feinde zuckte plötzlich etwas hoch und auf ihn
zu.
Ein runder Gegenstand, ein Schleudergeschoß.
„Achtung“, rief Diego Valeras. „Bolas!“
Sie duckten sich alle sieben, und trotzdem knallte der Stein auf
Thorfin Njals Helm. Er fand mit geradezu beängstigender
Präzision sein Ziel.
Das gab einen scheppernden Laut, mehr nicht, und der
Wikinger feuerte mit einem Wutschrei sein Tromblon ab.
Donnernd brach der Schuß. Der Waffenkolben hieb gegen
seine Schulter. Blei, viel gehacktes Blei stob auf die
heimtückischen Gegner zu. Eine weiße Wolke Pulverqualm
puffte hoch und stieg der brennenden Sonne entgegen.
Die Hölle brach los.
Zwei oder drei dunkelhäutige Kerle gingen schreiend zu Boden,
sie waren getroffen worden. Der Helmbewehrte war nicht dabei,
das sah Thorfin Njal noch ganz genau. Er hatte es verstanden,
sich rechtzeitig zu Boden zu werfen.
„Feuer!“ brüllte der Wikinger noch einmal.
Er warf das Trombon weg. Zum Nachladen war keine Zeit, eine
andere Schußwaffe trug er nicht bei sich. Er zückte das
Schwert, das er meistens als sein „Messer“ bezeichnete, und
rückte gegen die wüsten Fremden vor.
Arne, Eike und Pedro Ortiz schossen gleichzeitig mit ihren
Musketen, danach erfolgte die Salve aus Olegs Flinte und den
Pistolen des Störs und Diego Valeras'. Kugeln, gehacktes Blei
und Eisen rasten auf den Feind zu, aber die Schüsse hatten bei
weitem nicht mehr die Wirkung wie der von Thorfin Njal.
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Wieselflink hätten sich die Dunkelhäutigen ins Büschelgras
fallen lassen und die Standorte gewechselt. Sie waren schnell,
sehr sogar. Aus den Deckungen stieg ein wahrer Hagel von
Bolas auf. Er schwirrte gegen das Feuer der Wikinger und
Portugiesen an, stieß hindurch und prasselte auf die Männer
nieder.
„Hinlegen!“ schrie Thorfin Njal immer wieder. „Zu Boden, sonst
erwischen sie uns an den Köpfen!“
Arne sank plötzlich mit einem klagenden Laut rechts neben ihm
zusammen. Thorfin sah aus den Augenwinkeln den runden
schwarzen Stein, der von Arnes Körper rollte, als er hinfiel.
Thorfin fluchte laut und voll Haß – und mußte als nächsten
Pedro Ortiz straucheln sehen.
Im Büschelgras surrten die Lederschlingen, mit denen die
gefährlichen Geschosse abgegeben wurden. Jetzt, nach dem
Verstummen des Feuers, konnte man es deutlich vernehmen.
Den Männern des schwarzen Schiffes war die Munition
ausgegangen, sie hatten alle nur Waffen mit jeweils einem Lauf
getragen. Kein Mensch, nicht einmal der beste aller Schützen,
konnte in einer Situation wie dieser nachladen.
Aber den Gegnern ging die Munition nicht aus! Der Steinhagel
setzte keine Sekunde aus. Er war gleichbleibend dicht. Thorfin,
Eike, Oleg, der Stör und Diego Valeras konnten ihn nicht
durchdringen, um die wilden Kerle vor ihre Schwerter, Säbel
und Degen zu holen. Immer wieder zuckten sie vor den
verheerenden Geschossen zurück.
Thorfin Njal traute seinen Ohren nicht mehr, als er hinter sich
plötzlich Rufe und Hufgetrappel vernahm. Er duckte sich vor
den Bolas, wandte kurz den Kopf – und sah die Reiter, die jetzt
aus dem Gehölz in der Senke hervorpreschten.
Er begriff. Der Behelmte, der der Anführer der Bande zu sein
schien, hatte eine Bola-Kugel sehr hoch in die Luft schleudern
lassen, fast steil. Das war das Zeichen für die Berittenen
gewesen, in den Kampf einzugreifen.
„Schlagt zu, wehrt euch“, brüllte der Wikinger. „Laßt euch nicht
unterkriegen, wir werden es diesen Hunden schon zeigen!“
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Dabei konnte er sich eines Schauers nicht erwehren. Er lief ihm
kalt über den Rücken, denn er wußte, was die Stunde
geschlagen hatte, und gab sich bereits keinen Illusionen mehr
hin.
Mit donnerndem Huflärm raste die Phalanx durch das
Büschelgras heran. Es waren noch mal zwölf oder auch mehr
Kerle. Thorfin Njal zählte sie nicht.
Gegen diese Übermacht hatten sie keine Chance.
Stöhnend knickte plötzlich der Stör in den Knien ein. Er hatte
eine Bola gegen den Kopf gekriegt, blutete und brach
ohnmächtig zusammen.
Thorfin und seine Männer saßen mittendrin in der gemeinen
Falle und konnten sich nicht zur Wehr setzen. Und jetzt fing das
Kesseltreiben erst richtig an.
Auch die reitenden Banditen begannen Wurfschlingen über
ihren Häuptern zu wirbeln.
Thorfin Njal und seine Begleiter hatten nur noch eine Hoffnung:
daß vom schwarzen Schiff und der „Isabella VIII.“ aus noch
rechtzeitig Verstärkung eintraf. Wenn nicht, war dies hier das
Ende.
6. Beim ersten Schuß hinter dem Hügel hatten Siri-Tong und die Männer auf beiden Schiffen die Köpfe gehoben, gelauscht und angestrengt Ausschau gehalten. Hasard stand auf der Back der „Isabella“. Unter den unausgesetzten Anstrengungen seiner Crew hatte sich das Schiff bereits etwas nach Osten gedreht, der Bugspriet wies auf den oberen Schenkelansatz der Nehrung, die Verbindung mit dem eigentlichen Festland. Hasard sah die weiße Qualmwolke über der Kuppe des Hügels aufsteigen, dann vernahm er den Schrei Thorfin Njals und sagte: „Verdammt, da stimmt was nicht, Männer! Keiner brüllt so, wenn er auf die Jagd geht, auch der Wikinger nicht.“ Er konnte nicht verstehen, was Thorfin Njal gerufen hatte, der
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Wind trug die Laute vor den Schiffen aufs offene Meer hinaus.
Aber ganz deutlich hatte er vernommen, daß es das Organ des
Wikingers war.
Im nächsten Moment wurde drüben, hinter dem Hügel, ein
Mordsgeschrei angestimmt. Wieder krachten Schüsse.
Hasard wirbelte herum. „Ein Überfall! Zum Teufel, irgend
jemand hat ihnen eine Falle gestellt! Es kann nicht anders sein.
Siri-Tong!“
„Ich höre dich, Hasard!“ rief die Rote Korsarin zurück. Sie war
vom Vorschiff des Viermasters in die Fockwanten auf geentert,
klomm höher und hielt Ausschau zum Nordufer. „Verdammt, ich
kann nicht sehen, was da los ist!“
„Dan!“ schrie Hasard.
Der junge O'Flynn antwortete aus dem Großmars: „Hasard, der
Hügel ist zu hoch, und wir liegen zu weit entfernt, ich kann
weder Thorfin Njal noch die anderen sechs entdecken!“
„Wir fieren das zweite Beiboot ab“, befahl Siri-Tong ihren
Männern. „Wir pullen durch den Priel zur Landzunge und
schlagen Thorfin und seine Begleiter heraus – mein Gott, sie
brauchen Hilfe!“
Das Geschrei fremder Stimmen, das sich hinter dem Hügel in
das Brüllen ihrer Besatzungsmitglieder mischte, schien es zu
bestätigen. Die fünf Wikinger und die beiden Portugiesen
steckten in der Klemme.
Das Beiboot wurde abgefiert. Siri-Tong schickte sich an, mit
dem Boston-Mann, Bill the Deadhead, Juan und einigen
anderen abzuentern. Sie nahm so viele Leute und Waffen mit,
wie das Boot fassen konnte.
Hasard hielt nach einer Möglichkeit Ausschau, sich an dem
Unternehmen zu beteiligen.
Der Treibsand zwischen den Schiffen schien ihn wieder
anzugrinsen. Eine stille Botschaft ging von ihm aus: Versuch's
doch, schreite über mich weg bis zu Siri-Tong, Seewolf, du wirst
es schon schaffen…
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„Verdammt“, sagte Hasard. „Das ist mir zu riskant, Ben. Wenn
wir im Sand steckenbleiben, helfen wir Thorfin und den anderen
nicht – wir zwingen nur unsere Crew und auch Siri-Tongs
Männer, sich unserer Rettung zu widmen.“
„Ich verstehe, was du meinst“, erwiderte Ben verbissen. Er
stand am Steuerbordniedergang, der auf die Kuhl
hinunterführte. „Aber wir könnten ein Tau zum schwarzen Schiff
hinüberschießen, es spannen und dann daran zu Siri-Tong und
ihrem Boot hangeln.“
„Das dauert zu lange.“
„Verflucht, können wir denn nichts tun?“ sagte Shane.
Hasard erwiderte nichts, er handelte. Mit zwei, drei raschen
Griffen hatte er die Pistole tiefer in den Gurt gestopft und seinen
Degen gesichert – dann schwang er sich übers Schanzkleid
und klammerte sich an der Trosse fest, die die GaLeóne vom
Spill aus mit der Nehrung verband.
Er hielt sich mit den Händen fest, schlug auch die Beine um die
Trosse und hangelte mit dem Kopf voran in Richtung Land.
Unter ihm glänzten die trügerischen Wasserpfützen im Sand,
unter ihm war der Tod. Abrutschen und stürzen hieß jetzt,
unweigerlich zu versinken, denn selbst, wenn er eine der
festeren Regionen traf, mußte sie unter der Wucht seines
Aufpralls nachgeben.
„Profos!“ rief Hasard. „Setzt die Trosse durch, sie hängt!“
„Aye, aye, Sir!“ Carberry stand mit fünf Männern am Spill – mit
Smoky, Blacky, Batuti, Bob und Will.
Alle sechs stemmten sie sich jetzt gegen die Spillspaken. Unter
Knarren und Rucken straffte sich die Trosse zum Ufer hin. Ihr
mittlerer Teil hatte die Wasseroberfläche berührt, jetzt hob er
sich und ließ Tropfen in den Priel zurückplätschern.
„Mir nach“, stieß der Seewolf aus. „Ben, Ferris, Shane – auf
was wartet ihr noch?“
Sie hatten sekundenlang verblüfft dagestanden, keiner hatte
ernsthaft daran gedacht, die Trosse als Brücke zum Ufer zu
benutzen. Aber jetzt ließ sich Ben Brighton als erster übers,
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Schanzkleid gleiten, folgte dem Beispiel seines Kapitäns und
klomm ihm nach.
Ferris Tucker und Big Old Shane waren die nächsten, dann
folgten der Kutscher, Pete Ballie, Gary Andrews, Matt Davies –
und Arwenack, der quietschvergnügt mitmachte, wie es ihm
seine Affennatur eingab.
Das Geschrei am Ufer dauerte fort, aber es knallten keine
Schüsse mehr.
Hasard schob sich über die Sohle der Treibsandzone weg und
war über dem Wasser der Fahrrinne. Er hangelte dicht über
den Fluten. Die Trosse hing wegen seines Gewichtes wieder
stärker durch – er holte sich einen nassen Rücken.
Doch die Pistole blieb trocken und damit einsatzfähig. Hasard
rutschte auf die Nehrung zu, befand sich bald auf gleicher Höhe
mit Siri-Tongs Boot und gelangte an Land, bevor sie anlegte.
Er richtete sich auf und wandte sich um.
„Ed!“
„Sir?“ rief Carberry von der Back der „Isabella“.
„Wenn wir alle hier auf der Landzunge sind und ihr die Trosse
nicht mehr durchzusetzen braucht – dann Klarschiff zum
Gefecht!“
„Aye, aye!“
Hasard drehte sich zum Nordufer der Bucht um und lief los. Er
zückte seine doppelläufige Radschloßpistole und spannte beide
Hähne. Er jagte, so schnell ihn seine Beine trugen, und achtete
nicht mehr auf das, was hinter ihm vorging.
Siri-Tong und ihre Mitstreiter sprangen aus dem Beiboot an
Land. Ben, Ferris und Shane hatten die Trosse verlassen und
gesellten sich zu ihnen, die anderen Seewölfe folgten dicht auf
in der Reihenfolge, in der sie auf festem Boden anlangten.
Hasard hatte die Hügel noch nicht erreicht, als das Geschrei
hinter den Kuppen plötzlich verstummte.
Er fühlte, wie eine eisige Hand nach seinem Herzen griff.
-57
*
Es war ein kurzer, heftiger Kampf mit ungerechter
Kräfteverteilung gewesen. Die Cimarróns und Indios von Alfiero
León brauchten ihre wenigen Feuerwaffen nicht mehr zum
Einsatz zu bringen. Es genügten die Bolas, um die Männer des
schwarzen Schiffes niederzuringen.
Eike war getroffen zu Boden gesunken, und jetzt brach plötzlich
auch Oleg zusammen – nur einen Schritt hinter Thorfin Njal.
„Diego“, keuchte Siri-Tongs Steuermann. „Zu mir. Wir
müssen…“
Eine Schleuderkugel knallte gegen seinen Kupferhelm, so hart,
daß sein Kopf hin- und herruckte und er für einen Moment
benommen war. Er sprach nicht weiter, sondern wankte nur
noch mit erhobenem Schwert voran, ein antiker Held, der die
faire Auseinandersetzung suchte.
Diego Valeras war jetzt neben ihm. Er hielt einen mächtigen
Schiffshauer in der rechten Hand, ein Ding, dessen Schneide
einem Gegner mit einem einzigen Streich den Kopf vom Rumpf
trennen konnte.
Diego erblickte einen Cimarrón, der sich allzusehr in seine
Nähe gewagt hatte. Er stürzte sich auf ihn. Der Neger war
gerade dabei, eine neue Bola in seine Wurf schlinge zu legen,
schaffte es aber nicht mehr. Entsetzt wich er zurück.
Diego riß den Schiffshauer hoch. Nichts konnte ihn mehr
aufhalten.
Aber dann, dicht vor dem Feind, rammte etwas mit Wucht
gegen seinen Hinterkopf. Diego wurde nach vorn geschleudert,
doch sein Arm hatte nicht mehr die Kraft, die Waffe zu führen.
Sie entglitt seinen Fingern.
Er fiel bäuchlings hin und hatte dabei noch Glück, nicht in die
Klinge des Schiffshauers zu stürzen. In seinem Schädel
dröhnte es, als habe ihn ein Gaul getreten oder als wäre ein
Pulverfaß ganz in seiner Nähe explodiert.
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Die Ohnmacht war ein dicker, schwarzer Mantel, der sich
schützend über Diego Valeras ausbreitete. Er verdrängte nicht
nur die Wahrnehmung, er erstickte auch vorübergehend die
Schmerzen.
Thorfin Njal konnte noch aufrecht gehen und sich wehren, weil
er den Kupferhelm trug.
Er hatte gesehen, wie einer der Reiter, seine Bola gegen
Diegos Hinterkopf gewirbelt hatte. Auf diesen Kerl sprang er
jetzt zu. Es war ein Indio, ein grinsender, niederträchtiger
Halunke, auf den sich im Augenblick Thorfin Njals ganzer Zorn
ausrichtete.
„Bei Odin, stirb!“ stieß er hervor.
Die Reiter umtänzelten ihn. Aber er beachtete sie nicht,
ignorierte sie, hatte nur den einen fest ins Auge gefaßt. In einer
spektakulären Aktion wollte er ihn außer Gefecht setzen. Zwei,
drei Schritte trennten ihn noch von dem Kerl.
Diese Distanz genügte den Wegelagerern, ihr Werk zu
vollenden. Thorfin Njal fühlte sämtliche Bolas auf sich
einprasseln. Ein Peitschenschlag schien die Luft zu zerreißen,
aber es war eine der Schlingen, die knallte. Jählings stoppte
der Wikinger ab. Es geschah gegen seinen Willen. Etwas hatte
ihn oberhalb des rechten Wangenknochens getroffen, fast an
der Schläfe unterhalb des Helmrandes. Der Schmerz fraß sich
in seinen Kopf, trieb einen Keil in seinen Geist und legte alles
lahm.
Thorfin Njal stürzte hin.
Sofort war Alfiero León auf den Beinen. Er erhob sich aus dem
Büschelgras, drückte sich den Helm mit dem zerrupften
Federbusch fester aufs Haupt und lief auf den Wikinger zu. Er
stolperte, fing sich wieder, hetzte weiter und war versucht, vor
Freude über den Sieg auf dem Körper des Nordmannes
herumzutrampeln.
Er beherrschte sich. Als hätte er selbst ihn niedergeschlagen,
baute er sich neben Thorfin Njal auf und stellte den einen Fuß
auf dessen Brust.
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„Gut so“, sagte er mit geringschätzigem Blick auf den
Bewußtlosen. „Wir haben noch einiges miteinander vor, du
Koloß.“
„Herr!“ rief Miguel, der sich mit einigen Männern der Fußtruppe
auf der Kuppe des Hügel befand. „Es kommen noch mehr
Männer von den Schiffen. Die Frau ist auch dabei. Sie haben
den Kampflärm gehört und…“
León schnitt seine Worte durch eine herrische Geste ab.
„Überlaß die Narren mir. Man gebe mir ein Pferd! Und dann
fesselt einen dieser sieben Hunde hier so, wie ich es euch
aufgetragen habe – den, der als erster wieder aufwacht. Den
dort!“
Er wies auf den Stör.
Der Stör blutete aus einer Schramme am Kopf, die ihm eine
Bola gerissen hatte. Er stöhnte, weil er Schmerzen hatte,
stützte sich aber soeben auf seine Arme und hob den Kopf. Er
traf Anstalten, sich ganz aufzurichten.
Das war sein Pech.
* Hasard hatte als erster den Fuß des Hanges erreicht und hetzte jetzt hinauf. Er wollte die Kuppe stürmen, ganz gleich, was ihn dort erwartete. Er spürte, daß die Wikinger und Portugiesen seine Unterstützung bitter nötig hatten, daß jede Sekunde kostbar war – daß es um das Leben der sieben ging. Etwa auf halber Höhe angelangt, blieb er plötzlich stehen. Oben auf dem Hügel war eine Bewegung. Eine Silhouette ragte aus dem Gras auf und richtete sich der gleißenden Sonne entgegen. Es war eine absonderliche Erscheinung, eine Witzfigur – und doch brachte sie den Seewolf zum Erstarren. Ein Reiter, aber was für einer! Der Mann trug die skurrilste Rüstung der Welt – einen verrotteten Haufen rostigen Eisens. Es schien sich um die Relikte einer Soldatenmontur zu handeln, und doch war alles
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anders daran. Grotesk. Der Aberwitz wurde noch durch die
überhebliche Miene gesteigert, die der stoppelbärtige Fremde
aufgesetzt hatte.
Sein Pferd war ein erbärmlicher Klepper, der auf den ersten
Blick zusammenzubrechen drohte. Hasard ahnte aber, daß in
diesem mageren, verwahrlosten Tier mehr Kraft steckte, als er
vermutete.
Ein Ritter von der traurigen Gestalt – und doch konnte der
Seewolf nicht lachen.
Denn der Fremde trieb einen blutenden Mann vor sich her. Er
hatte ihm ein Halseisen angelegt und hielt die Kette, die mit
diesem höllischen Kragen verbunden war. Er ließ seinen
Gefangenen zu Fuß dahintraben und hieb ihm hin und wieder
die Fußspitzen in den Rücken.
„Stör“, sagte Hasard. „Mein Gott.“
Der Stör knickte in den Knien ein und fiel hin. Staub wirbelte
auf, als auch der Reiter hielt. Er riß an der Kette, zerrte den
Stör auf diese Weise wieder auf die Beine und dirigierte ihn
weiter voran, auf Hasard und dessen Freunde zu.
Siri-Tong und ihre Begleiter waren ebenfalls zur Stelle. Sie
verharrten erschüttert. Hinter dem Boston-Mann, Juan, Bill the
Deadhead und den anderen Männern des schwarzen Schiffes
blieben Ben, Ferris, Shane und die übrigen Seewölfe stehen.
„Mann“, sagte Juan. „Seht euch dieses gemeine Schwein an!
Den hole ich von seinem Gaul.“ Er wollte mit der Muskete auf
den Reiter anlegen, aber Siri-Tong legte die Hand auf den Lauf
und drückte ihn nach unten.
„Juan, siehst du nicht, daß er den Stör jederzeit erledigen
kann?“
„Ja, aber davon laß ich mich nicht beirren.“
„Du wirst nicht schießen, Juan.“
„Der Hampelmann“, stieß ihr Bootsmann mit einem wilden Blick
auf den seltsamen Ritter aus. „Den stecken wir doch in die
Tasche, von dem lassen wir uns nicht auf der Nase
herumtanzen! Los, auf was warten wir noch?“
-61
Siri-Tong stellte sich vor ihn hin und wandte ihm ihre Rückenpartie zu. Sie wollte nicht diskutieren. Und im Gegensatz zu Juan hatte sie erfaßt, was auch Hasard sofort begriffen hatte. Der Mann auf dem Pferd mochte äußerlich zum Lachen anregen – in ihm steckte ein eisenharter Kern. Seine Absichten waren todernst, und als Gegner durfte man ihn auf keinen Fall unterschätzen. Er verhielt sein Pferd am Hang. Ein Ruck an der Kette, und auch der Stör verharrte. Nur noch etwa zehn Yards trennten beide Parteien. Hasard konnte jetzt deutlich die Steinschloßpistole in der Faust des Reiters erkennen. Ihre Mündung war auf den Kopf des Nordmannes gerichtet. Es handelte sich um ein veraltetes Waffenmodell, aber Hasard bezweifelte nicht, daß es funktionierte. „Keinen Schritt weiter und herhören!“ rief der Mann auf dem Pferd. „Ihr habt die Ehre, mit dem großen Alfiero León zu sprechen, und ich rate euch dringend, euch dementsprechend zu verhalten.“ Er sprach reines Kastilisch und mußte seinem Wortschatz und seinem Gebaren nach so etwas wie ein abgetakelter Adliger sein. „Ihr wollt mir eure Ehrerbietung nicht zeigen?“ fuhr er fort. „Ihr werdet schon noch vor mir auf den Knien durch den Staub rutschen.“ Der Stör stand auf unsicheren Beinen. Er stöhnte, seine Miene war verzerrt. Das Blut hatte grausige Spuren in sein Gesicht gezeichnet. „Da hört doch alles auf“, sagte Matt Davies wütend. „Hier steht mehr als ein Dutzend Männer mit Waffen in den Händen, wir haben zwei Schiffe im Rücken, die eben gerade klar zum Gefecht gestellt werden – und lauschen dem dämlichen Gequatsche dieser Mißgeburt! Hasard, laß mich mal 'ran, ich zeig ihm meinen Haken.“ Er trat einen Schritt vor und schwang unmißverständlich seine Prothese.
-62
Im selben Augenblick hielt Alfiero León seine Pistole noch ein
Stück näher an den Kopf des Störs. „Noch so eine Dummheit,
und der Mann ist des Todes!“
„Matt, zurück“, sagte Hasard.
Matt gehorchte, und León zeigte wieder sein blasiertes Grinsen.
„So ist es recht. Ich habe von Anfang an angenommen, daß du
der Vernünftigste in dieser Piratenbande bist, Lobo del Mar.“
„Woher kennst du mich?“
„Du sprichst ja gut Spanisch. Donnerwetter!“
„Das ist keine Antwort auf meine Frage.“
„Wirst du auch unverschämt?“ rief León. „Zügle deine Zunge,
sonst mache ich meine Drohung wahr und schieße diesen Kerl
hier nieder!“
Hasard spürte wieder die eisige Hand an seinem Herzen. Er
legte sich seine Worte genau zurecht, bevor er etwas erwiderte.
„Großer León, wenn du mir verrätst, wo wir uns schon mal
getroffen haben und was du von uns willst, können wir uns
vielleicht einigen. Warum hast du unseren Freund geschlagen
und in Eisen gelegt? Wo sind die anderen sechs?“
„Eine Menge Fragen“, erwiderte León. „Laßt zuerst eure Waffen
fallen, dann sehen wir weiter. Na los, laßt sie fallen – wird's
bald?“
Hasard gab den Freunden ein Zeichen. Die Waffen fielen in den
Sand.
Unbarmherzig brannte die Sonne auf die Rote Korsarin und die
Männer nieder. Ihr grelles Licht leuchtete die Szenerie aus und
verlieh ihr etwas Bizarres, Unwirkliches.
„Wir haben uns nie zuvor gesehen, Seewolf“, sagte León.
„Eigentlich finde ich das schade. Aber ich habe von dir gehört,
auf Tortuga und anderswo. Ich weiß genug über dich, um dich
jederzeit erkennen zu können. Leugne jetzt nicht, El Lobo del
Mar zu sein, du hast dich eben selbst verraten, indem du auf
diesen Namen geantwortet hast.“
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Hasard hob die Hand und ließ sie wieder sinken. „Schon gut,
ich habe keinen Grund, mich zu tarnen oder zu lügen. Was
willst du?“
„Dich, Seewolf.“
„Mich? An mir beißt du dir die Zähne aus.“
Der Spanier lachte auf. „Großartig! Seewölfe sind ungenießbare
Fische, nicht wahr? Aber mich schüchterst du nicht ein.“
„Denk doch, was du willst“, entgegnete Hasard mit plötzlicher
Schärfe.
Er hatte das Um-den-heißen-Brei-Schleichen und
Schattenboxen satt. „Heraus mit der Sprache: Was versprichst
du dir davon, mich gefangenzunehmen?“
„Ich liefere dich an die Vertreter der spanischen Krone in der
Neuen Welt aus.“
„Du bist ja verrückt!“ rief Hasard.
Alfiero León duckte sich plötzlich im Sattel und verengte die
Augen zu Schlitzen. „Sag das nicht noch mal“, stieß er hervor.
„Sag das nicht wieder, du Bastard, oder ich vergesse mich!“
Hasard hob beschwörend beide Hände. „Ich habe das nicht so
gemeint. Jawohl, du sprichst mit einem Bastard, und der
Bastard hat nicht die Umgangsformen, die man einem
Caballero deiner Klasse entgegenzubringen hat. Verzeih.“ Er
wunderte sich selbst darüber, wie er auf die makabre Posse
dieses Mannes einging. „Laß den Wikinger leben, tu ihm nichts
an. Es würde dir nur Verdruß bringen.“
„Der hier?“ rief León zurück. Er wies auf den Stör. „Das ist einer
dieser wagemutigen Nordmänner, die einst mit ihren
Langschiffen die Meere verunsichert haben? Und seine
Kumpane – das sind dann wohl auch Wikinger!“
„Wo sind sie?“
„In meiner Gewalt.“
Hasard schüttelte den Kopf. „Das nehme ich dir nicht ab.“
„Ich werde es dir beweisen…“
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„León“, sagte Hasard beinahe sanft. „Gib den Wikinger frei. Ich
rate es dir. Du weißt nicht, was dir passieren kann, wenn mein
Geduldsfaden reißt. Genug jetzt mit dem Spiel. Siehst du
unsere Schiffe? Nun, sie sind klar zum Gefecht. Ein einziger
Kanonenschuß, und von dir und deinem Gaul bleibt nicht viel
übrig.“
„Aber dann verreckt auch dieser Hund!“ schrie Alfiero León.
„Ja!“ brüllte der Stör plötzlich. „Das Opfer bringe ich! Siri-Tong,
Seewolf – nehmt auf mich keine Rucks…“
Weiter gelangte er nicht, denn León trat ihm mit voller Wucht in
den Rücken. Der Stör gab einen gurgelnden Laut von sich und
stürzte vornüber. Die Kette rasselte, er sank in den Staub.
Juan, Bill the Deadhead, Matt Davies und Pete Ballie wollten
wutentbrannt auf den größenwahnsinnigen Spanier stürzen.
Aber Leóns gellende Stimme stoppte sie.
„Halt! Ich töte ihn, ich töte ihn!“
Sie verharrten, weil es wirklich so aussah, als wolle er auf den
Stör abdrücken.
„Das hat der schon zu oft angedroht“, murmelte Shane. „Er
wagt es nicht. Auf was warten wir noch?“
„Unterschätzen wir ihn nicht“, warnte Siri-Tong gedämpft.
„Das nicht“, raunte Hasard. „Aber er wird langsam
unaufmerksam. Ich reize ihn weiter mit meinem Gerede – ihr
seit auf der Hut und haltet euch bereit. Wenn ich euch das
Zeichen gebe, rafft ihr die Waffen vom Boden auf, und wir
hauen den Stör heraus. Wir müssen nur sofort feuern, versteht
ihr? Sofort…“
„Ich weiß, was ihr denkt!“ schrie León mit überkippender
Stimme. „Daß ich euch nur etwas vorgaukle, daß ich schwach
bin und ihr mich überwältigen könnt.“
„Du irrst dich“, erwiderte Hasard. Er gab sich jetzt Mühe,
besänftigend zu sprechen. Das war das Rezept: einmal León
gut zureden, um ihm im nächsten Moment Paroli zu bieten. Es
verunsicherte ihn. Hasard wollte Zeit gewinnen, den Kerl
hinhalten.
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Aber daraus wurde nichts.
„Miguel!“ rief der Spanier. „Führe die Gefangenen vor, wie ich
es dir befohlen habe! Beeil dich, sie sollen sehen, mit welch
mächtigem Gegner sie es zu tun haben!“
Wieder war auf der Hügelkuppe eine Regung zu registrieren.
Hasard und seinen Freunden stockte der Atem.
„Allmächtiger“, flüsterte Ben Brighton.
Besser hätte Alfiero León nicht demonstrieren können, daß
seine Darstellung der Wahrheit entsprach. Durch nichts
anderes hätte er seinen Worten einen besseren Nachdruck
verleihen können.
Thorfin Njal, Eike, Arne, Oleg, Pedro und Diego – sie standen
im hüfthohen Gras, aneinandergekettet, blutend, zerschunden,
Wut und Verzweiflung in den Gesichtern. Neben ihnen tauchten
nun auch zerlumpte Gestalten mit Waffen in den Fäusten auf.
Teils waren sie zu Fuß, teils saßen sie auf Pferden.
„Cimarróns“, sagte Siri-Tong. „Und Indios. Das also ist die
Bande, die uns diesen Hinterhalt gelegt hat.“
„Wir bringen die sieben Gefangenen um, einen nach dem
anderen“, drohte Alfiero León. „Wenn du nicht gefügig bist,
Seewolf, strecke ich als erstes diesen Hund hier nieder und
lasse dann den Kerl mit dem Kupferhelm langsam und qualvoll
sterben. Sein Schreien wird über die Lagune hinaus zu hören
sein.“
„Nein“, hauchte Siri-Tong entsetzt.
„Nehmt auf uns keine Rücksicht!“ brüllte Thorfin Njal. „Das
wollen diese Dreckskerle ja nur erreichen! Schont uns nicht.
Schießt sie zusammen, und wenn wir tausendmal dabei
draufgehen. Wir müssen ja so oder so krepieren!“
„Er spricht im Fieber“, sagte León lächelnd. „Liefere dich aus,
Lobo del Mar, und die sieben werden leben. Ich gebe dir mein
Ehrenwort.“
„Du läßt sie also frei?“
„Ja. Wenn ich dich in Rio de Janeiro abgeliefert habe.“
„In Rio?“
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„Man wird mich feiern und mir die Belohnung aushändigen, die
auf deinen Kopf ausgesetzt wurde.“
„Wer garantiert mir, daß mein Opfer den fünf Wikingern und
den beiden Portugiesen tatsächlich die Freiheit bringt?“
León zerrte den Stör wieder hoch, dann trieb er sein Pferd ein
Stück weiter voran.
„Ich!“ rief er. „Genügt dir das nicht? Das feierliche Gelübde
eines Edelmannes hat mehr Gültigkeit als alle anderen
Vereinbarungen. Ich habe noch nie mein Ehrenwort
gebrochen.“
„Warum befreist du die sieben dann nicht gleich von den
Ketten?“ sagte Hasard hartnäckig. „Ich gehe bis zu dir, im
selben Augenblick dürfen die Gefangenen den Hügel verlassen,
und du nimmst mich mit.“
„Ich brauche noch ein Faustpfand für meine Sicherheit“,
erwiderte der Spanier. „Ich kann nicht mit der ganzen Bande
nach Rio reiten, das würde den Leuten dort Angst einjagen, sie
würden mein Erscheinen mißverstehen. Während wir also nach
Rio aufbrechen, Seewolf, bleiben meine Getreuen noch eine
Weile hier und warten auf meine Rückkehr. Um gegen Angriffe
deiner Leute geschützt zu sein, bewachen sie die sieben
Geiseln so lange, bis ich wieder zurück bin.“
„Ich glaube dir nicht“, sagte Hasard.
„Wie du willst. Trotzdem hast du keine andere Wahl.“
„León, willst du es zur Zerreißprobe kommen lassen?“
„Ich weiß, daß der Sieg mir gehört.“
Es hatte keinen Zweck, ihn irreführen zu wollen. Hasard sah es
ein.
León war mehr auf der Hut, als er angenommen hatte, er ließ
sich nicht ablenken. Und er, Hasard, hatte nicht das Recht,
sieben Menschenleben leichtsinnig in die Waagschale zu
werfen. Es mußte einen anderen, besseren Weg geben.
León war ein ausgekochter Halunke, ein Galgenstrick von
Format, der keinen Zoll von seinem Vorhaben abwich. Daß er
auch noch eiskalt dabei war, hatte Hasard zur Genüge
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festgestellt. Die emotionalen Ausbrüche des Mannes konnten
nicht darüber hinwegtäuschen. Hinter der Schau, der
Selbstdarstellung, die er betrieb, war eine knallharte
Persönlichkeit verborgen.
Hasard ging zu ihm. Er trat neben sein Pferd, schnitt eine
zerknirschte Grimasse und sagte: „Bitte, du hast gewonnen,
León.“
„Das ist sehr vernünftig von dir, Lobo del Mar.“
„Was willst du sonst noch?“
León lachte auf. „Das kannst du dir doch denken, oder?“
„Erhoffst du dir Reichtümer? Ich bin arm wie eine
Kirchenmaus.“
„Geschwätz!“
„Du wirst ja sehen, daß unsere Schiffe leer sind…“
„Und El Dorado?“ flüsterte der Spanier plötzlich. Er beugte sich
dabei im Sattel vor. Es sah aus, als würde er jeden Augenblick
zu Boden stürzen.
Hasard spielte mit dem Gedanken, ihn zu packen. Aber er
stand zu weit entfernt. Es hatte keinen Zweck. Er durfte nicht
überstürzt handeln. Außerdem waren da Thorfin und die fünf
anderen auf der Hügelkuppe.
„Ich weiß nicht, wovon du sprichst“, erwiderte er.
„Das Goldland. Du bist doch am Amazonas gewesen.“
„Ich habe kein Gold gesehen.“
„Lüge. Ich erfahre es noch.“
„Genügt es dir nicht, wenn du mich an meine Todfeinde
auslieferst? Oder hast du deine Pläne geändert?“
„Nein“, erwiderte León. „Ich habe sie erweitert. Ich glaube, du
hast mir die Kastanien aus dem Feuer geholt und mir bereits
den Weg nach El Dorado geebnet. Ich bin klug, vergiß das
nicht.“
Hasard sagte darauf nichts. Aber er mußte eins eingestehen.
León litt zwar an krankhafter Selbstüberschätzung, doch in
einem hatte er den Nagel auf den Kopf getroffen. Er, der
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Seewolf, hatte wirklich El Dorado entdeckt. Gelang es Alfiero León, ihm das Geheimnis durch Folter zu entlocken oder ihn durch Erpressung zum Sprechen zu bringen, dann würde der Kerl keine Schwierigkeiten haben, bis ins letzte Reich der Inkas vorzudringen, sie zu vernichten und ihre Schätze zu rauben. Er zwang sich, nicht daran zu denken.
7. Fassungslos standen Siri-Tong und die Männer am Fuß des Hügels. Sie konnten einfach noch nicht begreifen, was geschah. Sie wollten es nicht tun. Ihr Geist verschloß sich den Tatsachen, und doch mußten sie nach und nach die bittere Realität hinnehmen. Hasard in der Hand von skrupellosen Galgenvögeln! Die Auslieferung an den Alkalden von Rio, ein schnelles Gericht, der Urteilsspruch! O ja, León würde seine Drohung erfüllen. Denn die erwähnte Belohnung existierte tatsächlich, das wußten auch die Seewölfe. Siri-Tong schloß die Augen, als sie an dieses unrühmliche Ende des Seewolfes dachte. Sie liebte ihn, lebte aber auch mit der Wahrscheinlichkeit, daß einer von ihnen einmal das gemeinsame Abenteuer nicht überlebte – oder sie blieben beide auf der Strecke. Aber das war das einkalkulierte Risiko. Die Möglichkeit, in den Händen der Spanier zu enden, gehörte indes zu den Dingen, gegen die sie alle von der „Isabella“ und „Eiliger Drache über den Wassern“ sich am meisten sträubten. „Warum tun wir nichts?“ flüsterte Matt Davies. „Verdammt, wir können doch nicht zulassen, daß Hasard ins Gras beißt!“ „Im Augenblick sind uns die Hände gebunden“, sagte Ben ebenso leise. „Das mußt du einsehen.“ „Mein Gott, ich hoffe nur, er hat bereits einen Plan, wie er diesen Schweinehunden wieder entwischen kann“, sagte Ferris Tucker mit einem starren Blick auf Hasard.
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Hasard hätte ihn enttäuscht, hätte er auf diesen Satz antworten
müssen. Er hatte keinen Plan. Er überließ alles dem Zufall und
betete, daß sich bald die Chance einstellte, auf die er wartete.
Er schritt neben Leóns magerem Pferd her. León dirigierte
immer noch den Stör an der Kette vor sich her, und zwar an der
Hasard entgegengesetzten Flanke des Tieres, doch die
Steinschloßpistole hielt er jetzt auf seinen kostbarsten
Gefangenen gerichtet.
Sie erreichten die Hügelkuppe. Die Cimarróns und Indios hatten
sich inzwischen wieder ein Stück zurückgezogen und dabei
auch ihre Geiseln mitgenommen. Von unten konnte man sie
nicht mehr sehen. Hasard mußte erst den Scheitelpunkt der
Kuppe passieren, um Thorfin Njal und die anderen fünf wieder
vor Augen zu haben.
Sie boten ein Bild des Jammers. Sicherlich muteten die
Wunden gefährlicher an, als sie in Wirklichkeit waren, aber
nicht das war es, was den Seewolf so sehr bedrückte.
Sie hatten resigniert, Hasards Kapitulation war ein weiterer
Nackenhieb für sie gewesen, obwohl er dadurch ihr Leben
gerettet hatte.
„Du hättest es nicht tun sollen“, sagte Thorfin Njal. „Du weißt
doch, wie wir zu dir stehen. Für dich beißen wir jederzeit gern
ins Gras. Und irgendwann geht's mit jedem mal zu Ende.“
„Tut mir leid, ich konnte es nicht“, sagte Hasard.
„Schluß mit dem Geschwätz“, fuhr León sie an. „Wer von euch
Gefangenen jetzt noch ein Wort spricht, ohne dazu aufgefordert
zu sein, wird niedergeschlagen. Miguel!“
„Herr?“
„Komm her und durchsuche den Seewolf nach Waffen.“
„Er hat sie doch unten schon weggeworfen.“
„Du Narr!“ schrie der Spanier. „Er könnte doch noch Messer
und andere Dinge versteckt auf dem Leib tragen, oder?
Leuchtet dir das nicht ein, du Hurenbalg?“
„Ja, Herr.“ Miguel trat hinter Hasard und tastete ihn ab. Am
Ende beförderte er auch wirklich ein Messer zutage.
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León hatte den Stör zu den anderen Wikingern gestoßen und
war abgesessen. Jetzt trat er zu Hasard und musterte ihn aus
schmalen Augen. „So. Hereinlegen wolltest du mich also.“
„Keineswegs. Ich spiele fair.“
„Was ist das – fair?“
„Du würdest es nie begreifen, selbst wenn ich es dir erklären
würde.“
Alfiero León holte zu einem Hieb in Hasards Gesicht aus,
besann sich aber im letzten Augenblick. „Nein.
Ich schlage dich nicht. Die Spanier und ihre portugiesischen
Verbündeten in Rio wollen einen kerngesunden, unbesudelten
Seewolf sehen. Was wolltest du mit dem Messer? Es mir in den
Leib rammen?“
„Du hättest mich so oder so durchsucht, León. Ich hätte also
keine Gelegenheit dazu gehabt – so oder so.“
„Lassen wir das“, erwiderte der Bandenführer wütend. „Ich habe
keine Lust, Haarspaltereien zu betreiben. Miguel, paß diesem
Schurken die Halskrause an wie den anderen – und lege ihm
zusätzlich Handfesseln an.“
Miguel tat seine Pflicht. Während er das Halseisen um die
Gurgel des Seewolfs schloß und ihm die Arme mit Ketten
zusammenband, hatte dieser Gelegenheit, sich die Bande
genauer anzusehen.
Es waren mehr als zwei Dutzend Kerle, von denen die meisten
Pferde besaßen. Ihre Bewaffnung war mehr als armselig, aber
der Mangel an Musketen, Pistolen und anderen Schießprügeln
wurde durch die Bolas ausgeglichen. Hasard wußte jetzt, wieso
es gelungen war, Thorfin Njal und seinen Trupp zu
überrumpeln. Die Cimarróns und Indios mußten Meister im
Umgang mit den Bolas sein. Sie konnten mit den runden
Schleudersteinen Menschen betäuben, aber auch töten.
„Stör“, sagte Hasard. „Wie fühlst du dich?“
„Schon besser. Ich glaub, ich kratze nicht ab wegen der einen
Kopfwunde – falls du das meinst.“
„Ja, das meine ich.“
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„Unkraut vergeht nicht“, sagte Thorfin Njal. „Wir sind alle
angeschrammt und haben Schmerzen, aber das ist in ein paar
Stunden vorüber.“
Miguel trat plötzlich zu. Er stand hinter dem Seewolf, sein Fuß
traf dessen Kniekehlen – Hasard knickte in den Beinen ein und
kippte vornüber. Reflexartig streckte er die Arme aus und fing
seinen Sturz mit den Händen ab. Er drehte sich und versuchte,
sich wieder aufzurichten, schaffte es im ersten Ansatz aber nur
halb. Die Ketten behinderten ihn zu sehr.
„Still sein“, sagte Miguel. „Maul halten. Was ist das für eine
Sprache, Englisch? Ihr wollt was miteinander aushecken, ihr
Hundesöhne.“
León war ausnahmsweise mal mit Miguels Handlungsweise
einverstanden.
„Gut gemacht“, lobte er. „Geschieht dir recht, Seewolf. Ich hab
nicht nur was dagegen, daß ihr englisch sprecht – ich habe
verboten zu reden. Rede nur, wenn du gefragt wirst.“
Hasards Blick richtete sich auf Leóns Gesicht und traf dessen
Augen. Es lagen so viel kalter Haß und Verachtung in diesem
Blick, daß der Spanier erschrak und unwillkürlich einen Schritt
zurückwich.
Hasard äußerte nichts. Er sah nur unentwegt in Leóns Augen –
und der Bandenführer hielt nicht stand. Er wich dem Blick aus.
Dann aber fing er sich wieder und sagte: „Herhören, Männer,
wir führen jetzt den ersten Teil meines großartigen Planes aus,
bevor ich mit El Lobo del Mar nach Rio aufbreche.“
* Siri-Tong und alle Männer, die sich mit ihr an Land begeben hatten, mußten auf Leóns Anweisung hin wieder auf die Schiffe zurückkehren. Unter der ständigen Drohung, er werde sich an den Geiseln schadlos halten, falls man nicht pariere, mußten sich die Seewölfe und die Mannschaft des schwarzen Seglers beugen.
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So nahmen sie zähneknirschend hin, was der Spanier ihnen
auferlegte. Und das war allerhand – zuviel, um es auf die Dauer
zu ertragen.
Carberry, der neben Ben Brighton, Ferris Tucker und ein paar
anderen am Steuerbordschanzkleid der „Isabella“ stand,
schaute zorngrollend zu dem eitlen Spanier, der jetzt über die
Landzunge anrückte und wieder den Stör vor sich
herscheuchte.
„Was sollen wir uns denn noch alles gefallen lassen?“ sagte er.
„Uns der Reihe nach abstechen lassen vielleicht? Darauf läuft
es doch hinaus, oder?“
„Abwarten“, erwiderte Ben leise. „Was Hasard entschieden hat,
ist für uns gleichzeitig ein Befehl. Wenn wir losschlagen sollen,
muß er uns das Zeichen dazu geben, andernfalls haben wir hier
auszuharren und gute Miene zum bösen Spiel zu zeigen.“
„Aber abmurksen laß ich mich nicht“, sagte Carberry.
„Sollst du ja auch nicht“, erwiderte Ferris.
„Was geschieht, wenn ich mich wehre?“
„Ed, ich glaube, der Kerl kreuzt nicht auf, um hier ein Gemetzel
zu veranstalten“, wandte Big Old Shane ein. „Er ist allein. Er ist
doch kein Amokläufer.“
„Der? Der ist zu allem fähig.“
„Er hat was anderes vor.“
„Was denn?“
Shane grinste freudlos. „Mensch, das liegt doch auf der Hand.
Er will unsere Schiffe inspizieren, besonders die Frachträume
natürlich.“
„Die Blattern soll er kriegen“, sagte der alte O'Flynn gepreßt.
„Jawohl, die Blattern – und den großen Durchmarsch, so daß er
langsam und elendig krepiert.“
„Profos“, sagte eine helle Stimme hinter ihnen. „Sir!“
Carberry wandte sich langsam um. Hinter ihm stand Bill, der
Schiffsjunge, den sie vor ein paar Monaten auf Jamaika
aufgelesen hatten. Er war fünfzehn Jahre alt und wollte erst
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noch ein richtiger Seewolf werden. Die Ereignisse auf der Insel
vor Bahia hatten ihn aber um einige Erfahrungen reicher
werden lassen, und deshalb nahm er jetzt seinen ganzen
Schneid zusammen, um einen Vorschlag zu unterbreiten.
Normalerweise hatte ein Schiffsjunge an Bord eines
Segelschiffes nichts zu melden und durfte nur sprechen, wenn
ihn „jemand was fragte“. Aber Carberry gegenüber, der zum
väterlichen Berater des Jungen geworden war, wagte Bill es
schon mal.
„Ich würde es mir zutrauen, diesem Kerl ein Bein zu stellen,
wenn er an Bord der ‚Isabella' erscheint“, sagte er. „Ich bin der
Moses, von mir erwartet er so was nicht. Ich meine, wenn Sie
mir die Erlaubnis dazu geben, Profos, könnte ich es versuchen.
Wir befreien den Stör und dann…“
„Und dann sind da immer noch Hasard, die anderen Wikinger
und die beiden Portugiesen in der Gewalt der Halunken“,
entgegnete Edwin Carberry. „Was tun die Lumpen wohl, wenn
sie ihren Anführer hier in der Klemme stecken sehen, was,
wie?“
„Ich – darüber hab ich noch nicht nachgedacht…“
„Schon gut. Laß man sein, Junge“, sagte Carberry. „Danke für
dein Angebot, aber das läßt sich nicht in die Tat umsetzen. Du
hältst dich zurück, verstanden?“
„Jawohl.“
Carberry sah wieder zur Nehrung. Alfiero León hatte seinen
erbärmlichen Klepper gezügelt und rief: „Man schicke mir ein
Boot! Ich will übersetzen!“
„Ersaufe“, sagte Carberry. „Warum tust du uns diesen kleinen
Gefallen nicht, du Stinkstiefel?“ Er kraulte den Papagei Sir
John, der auf seiner Schulter saß, beobachtete, wie das
Beiboot des schwarzen Seglers von vier Siri-Tong-Piraten zur
Landzunge gepullt wurde, und überlegte, warum auf der Welt
manchmal alles so verdammt verquer gehen mußte.
„Kann der Papagei nicht was unternehmen?“ fragte Smoky. „Ist
doch ein intelligenter Bursche, unser Sir John.“
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„Schon“, sagte der Profos. „Aber wie stellst du dir seinen
Einsatz vor? Soll er León die Augen auspicken?“
„Er könnte zu Hasard fliegen, und…“
„Und? Ihm die Ketten lösen?“
„Das nicht, Ed, aber er könnte eine schriftliche Botschaft
überbringen oder so.“
Carberry schüttelte den Kopf. „Das ist nicht drin, Smoky. Die
Kanaillen da oben sind mächtig auf der Hut. Sie würden jede
Nachricht abfangen, Sir John den Hals umdrehen und die
Geiseln quälen.“
„Seht mal“, sagte Ben Brighton.
Er wies auf den Grund der Lagune. Die Männer zu seiner Seite
reckten die Hälse, schauten ebenfalls hinunter und sahen, daß
die Pfützen im Treibsand größer geworden waren.
„Gezeitenwechsel“, sagte Shane. „Die Flut setzt ein.“
„Männer!“ rief der Profos. „Schnappt euch die Handspaken und
holt die Trossen durch, damit wir auf keinen Fall absacken!“
„Vielleicht kriegen wir die ‚Isabella' frei“, sagte Gary Andrews.
„Ja“, sagte Old O'Flynn gedehnt. „Aber wir haben jetzt keinen
Grund mehr, uns darüber zu freuen.“
Als Alfiero León übersetzte und das schwarze Schiff betrat, hielt
er den Stör ständig als lebenden Schutzschild vor seinen Leib.
Er dirigierte ihn vor sich her, in den mächtigen Schiffsleib
hinunter, durch sämtliche Räume – es gab die ganze Zeit über
keine Möglichkeit, ihm eine Falle zu stellen. Er war zu gerissen.
Siri-Tong und der Boston-Mann mußten ihn auf sein Geheiß hin
begleiten. Sie schritten vor ihm.
In der Vorpiek kauerte ein übelriechender, gefesselter Mann –
Flanagan. Er interessierte León nicht, wohl aber das, was in
einem Frachtraum gehortet lag.
„Gold und Silber“, sagte er ergriffen. „Das habe ich mir doch
gedacht. Vorwärts, Korsarin, laß das alles nach oben hieven
und in die Boote mannen, sobald ich dir den Befehl dazu gebe.“
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„Sehr wohl, großer León“, erwiderte Siri-Tong mit verhaltenem
Zorn.
„Willst du mich verhöhnen?“ fragte er drohend. „Paß auf, was
du tust! Sieh dir den Nordmann hier gut an, vielleicht fehlt ihm
bald ein Ohr oder die Nase – oder die Zunge, wenn du
versuchst, mich zu verhöhnen. Willst du ihn schreien hören?“
„Nein.“
Siri-Tong mußte sich wirklich bezwingen, nicht den Degen zu
zücken und sich auf diesen Kerl zu stürzen. Er hielt ja die
Steinschloßpistole gegen den Rücken des Störs gedrückt. Nicht
einmal der Wikinger erhielt eine Chance, seinen Bezwinger zu
überrumpeln.
„Nein“, sagte sie noch einmal. „Laß ihn in Ruhe. Ich werde
nichts tun, das die Geiseln in irgendeiner Weise gefährden
kann.“
„Sehr vernünftig“, entgegnete Alfiero León. Sein Blick musterte
die schöne Frau ungeniert von oben bis unten. „Ich habe
geahnt, daß du eine kluge Frau bist, Korsarin. Nur hast du
leider den falschen Partner gewählt. Du solltest dich mit dem
Stärkeren verbünden – das bin ich.“
Sie antwortete nicht darauf und war froh, als er das Thema
wechselte.
Etwas später kehrte León an Oberdeck zurück. Kisten, Truhen
und Schatullen mit glitzernden Reichtümern darin wurden von
Siri-Tongs Leuten durch die Luken nach oben gehievt.
„Bringt den Schatz mit dem anderen Boot an Land“, ordnete er
an. „Ich besichtige inzwischen die GaLeóne des Seewolfes.“
Er begab sich wieder in das Beiboot hinunter. Mike Kaibuk,
Tammy, Barry Winston und der taube Jonny, die vier
Bootsgasten von vorher, mußten ihn auch diesmal befördern.
Sie legten auf seinen Wink hin ab.
Ben Brighton schaute mit zusammengepreßten Lippen zu, wie
das Boot näherglitt. Die anderen Männern hatten ähnliche
Mienen aufgesetzt, mancher verspürte Lust, einen gezielten
Schuß auf den Spanier abzugeben. Aber da war der Stör, da
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waren die Gedanken an den Seewolf und die anderen Geiseln
an Land.
„Dieser Bursche hat doch ein geradezu unverschämtes Glück“,
sagte Ben. „Die Pfützen haben sich miteinander verbunden,
das Wasser steigt und steigt – es reicht jetzt bereits aus, um
das Boot passieren zu lassen.“
Das Boot schor an Steuerbord längsseits und verhielt an der
Bordwand. Alfiero León erhob sich von seiner Ducht und zerrte
den Stör mit hoch. Er fühlte sich ganz als Eroberer – Pizarro,
Cortez und andere Konquistadoren in einer Person.
„Rutsch aus und kipp ins Wasser“, wünschte Carberry ihm
leise. „Der Treibsand wird dich packen und verschlingen.“
Aber León stürzte nicht, er bewegte sich mit größter Sicherheit
die Jakobsleiter herauf, während der Stör als erster an den
Sprossen über ihm aufenterte. An Bord angelangt, stellte er
sich sogleich wieder hinter sein Faustpfand und bohrte ihm die
Pistolenmündung in den Rücken.
„Ist das eine Versammlung“, sagte León. „Und was für ein
Schiff! Großartig, einfach großartig. Ich hätte die Schiffe nach
Rio manövrieren können, sobald ich sie um ihre Schätze
erleichtert habe, aber das dauert mir zu lange. Wer weiß, wie
lange sie hier noch festsitzen. Nein, der Landweg ist mir
angenehmer. Und nun zu den Frachträumen, Engländer. Ich
werde auch diesen Segler ausnehmen wie ein Huhn, das
schwöre ich euch.“
„Tu, was du nicht lassen kannst“, sagte Ben Brighton.
„Du!“ León sah ihn an, wandte dann den Kopf und blickte zu
Ferris Tucker. „Und du! Ihr marschiert vor mir her, verstanden?
Und versucht nicht, etwas vor mir zu verstecken. Ich bin ein
Fuchs im Aufstöbern von verborgenen Kostbarkeiten. Wagt es
bloß nicht, mir etwas vorzuenthalten.“
Ben trat dicht vor ihn hin, so nah, wie León es gestattete. „León,
ich spreche im Namen der versammelten Mannschaft. Wir sind
bereit, dir die ‚Isabella VIII.' zu überantworten, wenn du unseren
Kapitän zusammen mit den anderen Geiseln freiläßt.“
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„Niemals. Ich habe doch schon gesagt: Ich will die Schiffe
nicht.“
„Dann nimm uns auch gefangen“, entgegnete Ben. Es klang
leidenschaftlich. „Alle.“
Der Spanier lachte schrill. „Hängt ihr so sehr an eurem Lobo del
Mar? Nun, ich Will auch auf dieses Anerbieten nicht eingehen.
Ich habe nicht genügend Männer, um euch Kerle ausreichend
bewachen zu können. Außerdem genügt es den Oberen von
Rio vollauf, wenn ich ihnen den Seewolf übergebe.“
„Du überschätzt unsere Geduld, León“, sagte der rothaarige
Schiffszimmermann rauh. „Treib es nicht auf die Spitze.“
León legte dem Stör den freien Arm um den Hals, drückte ihm
die Pistolenmündung fester in den Rücken und stieß hervor:
„Ein Wort noch, eine Dummheit, und ich vergesse mich. Und
wenn meine Leute diesen Nordmann schreien und meine Waffe
krachen hören, fangen sie auch beim Seewolf und den anderen
sechs an.“
„Genug“, sagte Ben. „Haltet euch zurück, Männer. León, wir
können gehen. Bringen wir es hinter uns.“
Ferris und er schritten voran, zum Vordeckschott, das ins
Schiffsinnere und in die Frachträume führte. Es war das
Absurdeste, Unglaublichste, das ihnen je widerfahren war – ein
Feind auf der „Isabella“, den sie nicht bekämpfen konnten. Gab
es denn keinen Ausweg?
Nein. Sie konnten die Sache drehen und wenden, wie sie
wollten, es existierte nicht der Schimmer einer Hoffnung.
Batuti unternahm den vorläufig letzten Versuch, ehe die vier
Männer im Vordeck verschwanden.
Er verließ die Back, auf der er gestanden hatte, ging einfach zu
Alfiero León und sagte: „Herr – auf ein Wort!“
Der Spanier blieb stehen. Er hielt den Stör fest und blickte
argwöhnisch zu dem riesigen Gambia-Neger. „Keinen Schritt
weiter! Was willst du?“
„Mit dir gehen, Herr…“
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„Ach, schau mal einer an“, sagte León höhnisch. „Da haben wir
also einen Überläufer.“
Batuti nickte ernst. „Batuti hat schwarze Brüder oben auf Hügel
gesehen, Männer aus Afrika. Batuti gehört zu ihnen.“
„Bist du auch ein Cimarrón?“ fragte León lauernd. „Ein vor den
Spaniern weggelaufener Sklave?“
„Jawoll“, sagte der schwarze Goliath.
„Und bei diesen Piraten hier fühlst du dich nicht mehr wohl,
wie?“
„Jawoll – verdammich, nein.“
„Hau ab!“ schrie Alfiero León. „Ich weiß, daß du ein elender
Lügner bist. Aber mich legst du nicht 'rein. Einschleichen willst
du dich bei uns, überlisten willst du uns, damit du deinen
Seewolf und die anderen Kerle herauspauken kannst. Aber du
hast dich getäuscht, wenn du denkst, ich gehe dir auf den Leim,
schwarzer Bastard!“
Batuti wich langsam zurück. Seine Augen waren geweitet,
schimmerten weiß und bedrohlich, aber auch er wagte es nicht,
offen gegen den Kerl vorzugehen.
Ben und Ferris gingen weiter und tauchten im Dunkel des
Vorschiffs unter. Sie lenkten damit den Spanier von Batuti ab.
Er folgte ihnen.
Smoky sagte: „Das war eine gute Idee von dir, Batuti. Es ist
nicht deine Schuld, daß es schiefgegangen ist.“
„Schief?“ wiederholte der Mann aus Gambia traurig. Er hob die
Schultern und senkte sie wieder. „Schief für Hasard.“
8. Kurze Zeit später wurden auch die Ladeluken der „Isabella VIII.“ geöffnet. Ben Brighton mußte ein Beiboot abfieren lassen und verfrachten, was der gierige Spanier gefunden hatte: Gold und Silber, das sie Chano, dem Herrscher vom Amazonas, abgenommen hatten, Geschenke der Amazonen – und die
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Gaben des Gott-Kaisers Tupa Poyana, die sie aus dem
sagenhaften Goldland mitgebracht hatten.
Zwar war es nur ein geringer Teil ihrer Gesamtbeute. Das
meiste lagerte auf der Schlangen-Insel, so gut versteckt, daß
kein Uneingeweihter es jemals entdecken würde.
Und doch: Die Seewölfe schauten voll ohnmächtiger Wut zu,
wie der Spanier ihr Eigentum davonschaffte.
Ein Kleinod aus Inkagold, einen Anhänger mit Kette, hielt
Alfiero León Ben triumphierend vors Gesicht. „Glaubst du, ich
weiß nicht, was das ist? Gold, ja, aber eine Besonderheit unter
allen Schätzen.“
„Wir haben eine spanische GaLeóne gekapert“, erwiderte Ben
ruhig. „Vor Cayenne.“
„Lüge.“
„Warum sollte ich die Unwahrheit sagen?“
„Ich kenne mich mit Gold aus. Ich rieche, daß ein Geheimnis an
diesem und anderen Stücken aus eurer Beute haftet.“
Ben zuckte mit den Schultern. „Danach mußt du die Dons von
der GaLeóne fragen. Ich sage dir noch mal, wir haben das
Zeug bei denen an Bord gefunden.“
„El Dorado“, zischte León. „Gib es zu. Ihr seid dort gewesen.“
„Schön wär's“, sagte Ben.
„Ich kriege es noch 'raus.“ Leóns Augen schimmerten in einem
eigentümlichen, entrückten Glanz. „Ich werde den Seewolf
foltern.“ Er fuhr herum und blickte zur Crew, die auf der Kuhl
versammelt stand. „Nun? Will es keiner von euch freiwillig
ausplaudern? Noch könnt ihr es euch überlegen.“
„Männer“, sagte Ben Brighton. „Weiß jemand etwas über El
Dorado, das sagenhafte Goldland?“
Totenstille brach herein. Keiner meldete sich zu Wort.
„Ihr wollt es nicht anders, ich nehme den Seewolf ins Verhör,
bevor ich ihn in Rio abliefere.“ Mit diesen Worten verließ der
Banditenführer das Schiff.
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Die Seewölfe schauten ihm nach, als er im Boot zur Landzunge fuhr.
„Ich frage mich, ob das richtig von uns war“, sagte Ferris
Tucker.
„Vergiß nicht, daß wir Tupa Poyana gegenüber ein Gelübde abgelegt haben“, erwiderte Ben. „Wir dürfen ihn und sein Volk nicht verraten. Hasard würde es uns niemals verzeihen, wenn wir die Lage von El Dorado verraten.“ Die Schätze von der „Isabella“ und dem schwarzen Segler waren bald auf die Nehrung gebracht worden und wurden von Leóns berittenen Helfern abgeholt. Alfiero León führte seinen Trupp den Hügel hinauf. Er glich in diesem Augenblick dem Geist eines Konquistadors – möglicherweise Francisco Pizarro höchtpersönlich – und weckte Erinnerungen an jene Tage, in denen die neuen Machthaber zum erstemal diesen fremden Boden betreten hatten. „Fahr zur Hölle“, murmelte Carberry. „Wenn ich dich in die Finger kriege, kenne ich keine Gnade, du Hundesohn von einem Don. Dann bringe ich dich um.“ * In dem knorrigen Gehölz war es schattig, aber keineswegs kühl. Alfiero León saß auf seiner Mähre, nahm den Helm ab und wischte sich mit der Hand über die Stirn. Hasard sah zum erstenmal, daß Leóns Haare kurz und licht waren. Sie unterstrichen das Asketische in ihm. Gleichzeitig verliehen sie ihm das Aussehen eines rücksichtslosen Fanatikers. Und das war er ja letztlich auch: fanatisch, von sich selbst besessen, größenwahnsinnig. Die Truhen, Kisten und Schatullen mit den Kostbarkeiten von den beiden Schiffen waren im Zentrum einer winzigen Lichtung des Hains abgesetzt und zueinandergeräumt worden.
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León saß ab, nahm alles nochmals genau in Augenschein und sagte schließlich: „Miguel, du und drei andere Männer, ihr begleitet mich und den Seewolf nach Rio de Janeiro. Die übrigen bleiben hier, vergraben den Schatz, um ihn vor möglichen Dieben zu sichern, und passen auf unsere Geiseln auf.“ Miguel durfte die drei anderen selbst aussuchen. Er entschied sich für einen Cimarrón und zwei Indios – finstere Kerle wie er, mit narbenübersäten Gesichtern und Oberkörpern. Sie gehörten zu den Härtesten der Bande. León hatte den Stör wieder zu Thorfin Njal und den anderen fünf Besatzungsmitgliedern des schwarzen Schiffes gestoßen. Jetzt trat er zu Hasard, griff nach der Kette, die von dem Halseisen herabhing, und ruckte daran. „Wir brechen auf, Lobo del Mar. Du darfst dich von deinen Freunden verabschieden.“ Hasard sah der Reihe nach Thorfin Njal, Eike, Arne, Oleg, den Stör, Pedro Ortiz und Diego Valeras an, dann glitt sein Blick wieder zurück zu Njal. Es lag eine stumme Botschaft darin, der Wikinger las sie und begriff. In der Zeit, die sie gemeinsam zu Wasser und zu Land verbracht hatten, hatten sie sich aufeinander eingespielt. Jeder konnte aus dem Mienenspiel und den Blicken des anderen ersehen, was es zu tun galt. Da bedurfte es keiner Worte. Hasards Nachricht lautete: Ich werde alles, aber auch alles unternehmen, um mich zu befreien. Warte du, bis du ein Zeichen von mir erhältst. „Leb wohl, Thorfin“, erklärte Hasard. „Einmal mußte es ja aus sein, wie du vorhin so richtig gesagt hast.“ Er sprach spanisch, damit die Gegner nicht den Verdacht schöpften, sie heckten ein Komplott aus. „Ich gehe mit“, erwiderte der Wikinger heiser. „Das kann mir keiner verbieten.“ „O doch“, sagte Alfiero León. „Ich! Ich habe versprochen, dich und die anderen sechs wieder freizulassen, sobald ich aus Rio
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zurück bin. Und das werde ich tun. Das Ehrenwort eines
Edelmannes zählt mehr als hundert Dokumente.“
„Ich danke dir“, entgegnete der Seewolf. „So wirst du
wenigstens meine Freunde verschonen. Ich bringe das größte
Opfer, dessen ich fähig bin, aber ich weiß, wofür ich es tue.“
León zerrte an der Kette. Hasard mußte ihm folgen, wenn er
nicht hinfallen wollte.
„Auf jetzt!“ rief der Spanier. „Ich will morgen vor der
Abenddämmerung in Rio sein. Die Zeit drängt.“
Er saß auf und stülpte sich mit einer Hand wieder den Helm
auf. Die Kette ließ er nicht mehr los. Er drückte seinem Gaul die
Hacken in die Flanken und trieb ihn aus dem Gehölz. Hasard
mußte nebenherlaufen. Miguel, der zweite Cimarrón und die
beiden Indios folgten ihrem Anführer – dreiundzwanzig
Halunken umringten Thorfin Njal und seine Begleiter.
„Diese Schmach und Schande“, stieß der Wikinger grollend
hervor. „Bei Odin, wenn es diesen Hurensöhnen tatsächlich
gelingt, den Seewolf bis nach Rio zu schleppen, töte ich hier
jemanden mit meinen Ketten. Ja, wenigstens einen dieser
Schurken nehme ich mit in die Hölle.“
Er hatte es in seiner Muttersprache gesagt. Nicht einmal die
beiden Portugiesen hatten ihn verstanden. Die Banditen
standen da und fuchtelten mit ihren Waffen, um den bärtigen
Riesen einzuschüchtern, aber der lachte ihnen ins Gesicht.
„Wir tun das gleiche“, entgegnete Eike ernst. „Stirbt der
Seewolf, opfern wir uns. Er kann es uns dann nicht mehr
verbieten.“
„Sei doch still“, sagte Oleg. „Noch ist nicht alles verloren.“
Sie verstummten erst, als einige der Indios und Cimarróns ihre
Wurfschlingen kreisen ließen. Sie wollten nicht schon wieder
Bolas gegen die Köpfe kriegen.
*
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Hasard mußte wie ein Hund vor Alfiero León herlaufen. Der Kerl hatte sich einen Speer geben lassen und tickte ihn damit hin und wieder an, wenn es ihm nicht schnell genug ging. Er lachte dann jedesmal. Hasard lief unter der sengenden Sonne dahin, ohne Pause, mit wachsendem Haß und zunehmend brennender Kehle. Es war die schimpflichste Art der Fortbewegung, die ihm jemals ein Mann aufgezwungen hatte. León schien es Spaß zu bereiten, ihn zu quälen. „Oh, das wird ein Fest!“ rief er hin und wieder. „Was für einen großartigen Auftritt wir in Rio haben werden – eine Parade!“ Hasard war versucht, sich umzudrehen und die Kette zu packen. Ein Ruck nur, und der Kerl flog aus dem Sattel. Und weiter? Hasard konnte sich auf ihn werfen, das Überraschungsmoment ausnutzen – und doch würde er dabei verlieren. Denn bevor er sich des Speers bemächtigt hatte, waren Miguel und die drei anderen heran. Es war eine reine Frage der Zeit. Alle Berechnungen, die Hasard anstellte, brachten immer nur das eine Ergebnis: Er konnte es nicht schaffen. Gewiß, er konnte es versuchen, auf Teufel komm 'raus. Aber dabei handelte er sich Hiebe ein und wurde zusätzlich geschwächt. Und noch etwas: León und seine Spießgesellen würden fortan besser auf der Hut sein. Damit verspielte er dann alle weiteren Chancen. Also ertrug er die mörderische Strapaze, solange es ging. Er wollte sie in Sicherheit wiegen und den überzeugenden Eindruck hinterlassen, daß er bereits aufgegeben hatte. Ein wenig Schauspielerei gehörte dazu. Ihr Weg führte quer durch das Hügelland, in südwestlicher Richtung. Hasard orientierte sich an der Sonne. Und er wußte ja auch, wo Rio lag, die Siedlung an der Bucht, die die Portugiesen 1502 entdeckt und irrtümlich für eine Flußmündung gehalten hatten. Der Name Rio de Janeiro – Fluß des Januar – wurde wenig später auf die winzige Ansammlung von Häusern übertragen, die dort entstand.
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León war ein gesuchter Verbrecher, aber Spanier und
Portugiesen würden ihm zweifellos huldigen, wie er sich
ausmalte. In dieser Beziehung übertrieb er nicht. Er brachte
den Mann, der den beiden vereinten Ländern in der Karibik und
auf dem südlichen Teil des neuen Kontinents am meisten
geschadet hatte. Er war der Meistgehaßte, Meistgesuchte, der
Feind Nummer eins, nicht Alfiero León.
Also würden die Dons Prioritäten setzen, möglicherweise dem
Schurken verzeihen und ihm einen Titel und ein Amt verleihen.
Möglich war alles, das wußte Hasard aus Erfahrung. Und nichts
lag den Männern von der iberischen Halbinsel mehr als
Begünstigung und Vetternwirtschaft, auch wenn sie dabei den
Bock zum Gärtner machten.
Nein, Illusionen gab er sich nicht hin. Wenn er sich erst in Rio
befand, war an Flucht kaum noch zu denken. Siri-Tong, Ben
und die anderen konnten ihm nicht helfen. Sie mußten auf
Thorfin Njal und dessen Gefährten warten. Außerdem lagen die
Schiffe nach wie vor auf Grund, es war undenkbar, daß sie
schnell freikamen und vor León in Rio eintrafen.
Hasard spürte die Speerspitze plötzlich wieder in seinem
Rücken.
„Weiter!“ schrie León. „Schneller! Schlaf nicht ein, Lobo del
Mar! Zeig, was für ein Kerl du bist. Du willst doch wohl nicht
schlappmachen, wie?“
„Nein!“ rief Hasard.
„Lauf, Seewolf – zu deiner Hinrichtung!“
Ja, der Alkalde und seine Berater, Honoratioren und
Goldbetreßte würden sehr rasch über ihn entscheiden. Sie
durften ihn richten, sie hatten die Befugnis dazu. Also keine
Wartezeiten, kein Kerkeraufenthalt, bis der König von Spanien
oder einer seiner Vizekönige entschieden hatten – kein
Abtransport nach Spanien.
Es würde ein Standgericht sein, und am Ende standen
Garrotte, Henkersschwert oder Tod durch Füsilieren. Ganz
nach dem Willen des Feindes.
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Bei alledem bewahrte sich León sein Mißtrauen. Er war
gerissen. Er hatte Miguel und die drei anderen nicht nur
mitgenommen, um besser auf seinen Gefangenen aufpassen
zu können, er wollte auch in Rio de Janeiro gegen eventuelle
Fallen geschützt sein. Sollten die Machthaber darauf verfallen,
auch ihn gefangenzusetzen, dann würden seine Kerle mit ihren
Bolas eine Bresche öffnen und den Fluchtweg ebnen.
„León!“ rief Hasard.
„Was willst du?“ tönte es von dem trabenden Pferd zurück.
„Was tust du, wenn der Alkalde von Rio dich festnimmt? Du bist
ein Galgenstrick, ein Vogelfreier, vergiß das nicht!“
„Ich denke daran. Deshalb werde ich den Alkalden zunächst
überzeugen, daß er tunlichst auf mein vorgeschlagenes
Tauschgeschäft einzugehen hat. Ich werde die Belohnung
kassieren – und dich erst dann ausliefern.“ León lachte
schallend. „Ist das nicht großartig?“
Hasard antwortete nicht darauf.
Hinter dem Hügelland erstreckte sich im Landesinneren ein
ausgetrocknetes Flußbett. Dahinter erhoben sich zerklüftete
Felsenregionen, die kurze, scharfe Schatten warfen.
Hasard mußte im Flußbett nach Süden laufen. Hier war es noch
heißer als auf den Hügeln. Der Schweiß rann ihm in Bächen
über den Körper, seine Zunge lag wie ein pelziger Klumpen in
der Gaumenhöhle. Er hatte Hunger und Durst und den Wunsch,
sich einfach fallen zu lassen und nicht mehr zu laufen.
Er dachte an die Felsen. Konnte er ihnen dort entwischen, sich
verstecken, sie überlisten?
Er mußte es versuchen.
Plötzlich stolperte er gewollt und tat so, als wolle er den Sturz
abfangen, schaffte es aber nicht – absichtlich. Er schlug der
Länge nach hin. Der Schmerz, den er dabei in den Knochen
spürte, war echt.
León zügelte fluchend seine Mähre. Fast wäre das Tier über
den Seewolf getrampelt.
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„Al diablo!“ schrie León. „Willst du wohl aufspringen, Lobo del
Mar! Bist du ein Waschweib, eine Memme? Ich verachte
dich…“
Warte, dachte Hasard, warte, bis wir uns auf du und du
unterhalten, Auge um Auge, Zahn um Zahn.
Der Speer traf ihn, ratschte über seine Schulter. Hasard biß die
Zähne zusammen, um nicht aufzustöhnen.
„Auf!“ brüllten León und seine Kerle. „Hoch mit dir!“
Hasard rappelte sich auf und wankte weiter. Die Kette rasselte,
seine eisernen Armfesseln schepperten im Takt mit, die Sonne
wollte sich mit ihren Strahlen in sein Hirn fressen. Er begann
jetzt wirklich zu leiden, es war nicht mehr viel Schauspielerei
dabei.
Zum zweitenmal fiel er hin. Erneut zwang León ihn auf die
Beine, aber als Hasard dann ein drittes Mal in den Staub des
Flußbetts sank, war er fest entschlossen, nicht mehr
nachzugeben.
Alfiero León setzte ihm mit dem Speer zu, bis fast sein ganzer
Rücken mit blutigen Schrammen übersät war. Er drehte den
Speer um und schlug mit dem Schaft auf seinen Körper, aber
Hasard rührte sich auch diesmal nicht.
„Ich bring dich um!“ schrie der Spanier. „Willst du schon vor Rio
verrecken?“
Hasard erwiderte nichts. Sein Handeln wurde vom Mut der
Verzweiflung bestimmt. Jetzt, dachte er immer wieder, jetzt
oder nie, wer weiß, ob du wieder eine Gelegenheit wie diese
findest!
Miguel war auf seinem tänzelnden Pferd dicht neben León.
„Herr, er markiert nur Schwäche. Der Hund! Er ist gesund,
stark, quicklebendig. Soll ich ihn mir vornehmen?“
„Warte“, sagte León.
Er blickte über das Felsland, dann faßte er seinen Entschluß.
Er riß an den Zügeln seines Kleppers, lenkte ihn nach
Nordwesten und hielt auf die bizarre Landschaft zu. Die Kette,
die er inzwischen am Sattelknauf befestigt hatte, straffte sich.
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Hasard packte mit beiden Händen zu, ehe ihm das Halseisen
den Kopf abriß. Er klammerte sich an der Kette fest. León
lachte schrill. Ein Ruck, ein Zerren, Schrammen – Hasard
schleifte über den staubigen Untergrund.
Seine Wunden brannten wie Feuer. Er stieß sich den Kopf und
sämtliche Körperpartien und glaubte in diesem Moment
wirklich, sterben zu müssen. León, der Mörder, Fanatiker und
Ritter von der erbärmlichen Gestalt schleppte ihn bis zu einem
V-förmigen Einschnitt der Felsen, hielt dann an und saß ab.
„Nun, wie gefällt dir das?“ fragte er. „Hier kannst du dich ein
bißchen verschnaufen.“
Er grinste. Miguel und die drei anderen ritten ebenfalls heran,
aber ihre Mienen zeigten, daß sie nicht begriffen.
León wußte indes sehr wohl, warum er diese Rast einlegte. El
Dorado, dachte er, ich bin dir näher, als du denkst.
Hasard wollte den Kopf ein wenig anheben, aber in diesem
Augenblick wurde er von der Ohnmacht übermannt. Die Welt
stürzte in sich zusammen, alles versank in wohltuender,
lindernder Finsternis.
9. Er vernahm Alfiero Leóns Stimme wie durch Watte, und gleichzeitig stellten sich auch die Schmerzen wieder ein. Sie wurden von einem Dröhnen und Mahlen in seinem Schädel begleitet, etwas wollte ihn zermalmen, ein Gewicht auf seinem Kopf, das nur in seiner Einbildung existierte. Es war fürchterlich. Hasard fragte sich, wie lange ein Mensch eine solche Tortur aushalten konnte. „… und ich sage euch, es ist keine Finte“, erklärte León soeben. „Er ist fix und fertig, und auch seine Bewußtlosigkeit ist nicht gespielt. Vergeßt nicht, daß er und seine Kumpane sich vor einem Orkan in die Lagune gerettet haben. Sie haben den Sturm halb abreiten müssen, bevor die Nacht kam, dann haben sie gewacht – so etwas schlaucht. Schließlich haben auch wir
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in der Senke Schutz vor dem Sturmwind gesucht und sind nicht
ausgeschlafen.“
„Ja, Herr, das stimmt“, entgegnete Miguel, der Cimarrón. „Aber
wir verbringen noch zwei Nächte auf freier Strecke, wenn wir
nicht gleich wieder aufbrechen. Wir schaffen es nicht, Rio de
Janeiro vor morgen abend zu erreichen.“
„Miguel“, sagte León gefährlich leise. „Wie oft soll ich dir noch
sagen, daß ich es nicht leiden kann, wenn man mir
widerspricht? Eines Tages ertrage ich deine Unbotmäßigkeiten
nicht mehr. Was soll ich dann tun, hm, was meinst du?“
„So hab ich das nicht gemeint, Herr“, stammelte Miguel.
Hasard lag auf der Seite. Er schlug vorsichtig die Augen auf
und spähte zu Alfiero León, der sich auf einem platten Stein
niedergelassen hatte.
León hielt mit der linken Hand die Kette von Hasards Halseisen.
Mit der freien Rechten tastete er nach dem Kolben seiner
Steinschloßpistole. Es war eine unzweideutige Geste zu Miguel
hin. Die Pistole war schnell gezückt, das Steinschloß rasch
gespannt – so schnell konnte sich der Cimarrón mit seiner
Steinschleuder und seinem Messer gar nicht zur Wehr setzen.
O doch – León verstand es, sich Respekt zu verschaffen.
„Miguel, opfere etwas von dem Trinkwasser in deinem
Ziegenschlauch“, sagte er. „Wir wecken El Lobo del Mar auf.
Ich möchte mich ein wenig mit ihm unterhalten. Wir sind weit
genug von der Küste entfernt, so daß man in der Lagune sein
Schreien nicht hört, wenn ich ihn martere.“
„Er ist schon wieder bei sich“, sagte der eine Indio.
León zog an der Kette. Hasards Kopf ruckte, das Dröhnen und
Mahlen und Stechen steigerte sich ins Unerträgliche. Diesmal
konnte er ein Stöhnen nicht zurückhalten.
„Stimmt, er ist bei Sinnen und guter Dinge“, bemerkte der
Bandenführer hämisch. Er zerrte heftiger an der Kette – Hasard
mußte zu ihm kriechen, ob er wollte oder nicht.
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„Brav“, sagte León. Er zog etwas aus der Tasche und ließ es
vor Hasards Gesicht pendeln – den goldenen Anhänger, den er
sich von der „Isabella“ geholt hatte.
„Kennst du das, Seewolf?“
„Ja – es gehört mir.“ Hasard sprach mit rauher, heiserer
Stimme.
„Jetzt nicht mehr. Woher stammt es, du Hund?“
„Von – einem spanischen Schiff.“
Alfiero León riß an der Kette, und Hasard verlor den Halt. Er
knickte mit den Armen ein und fiel hin. In seinem Kopf toste es
höllisch.
„Du lügst!“ schrie ihn der Kerl an.
„Du mußt mir glauben, León…“
„Nein! Miguel, gib mir dein Messer! Ich will sehen, wie lange der
Bastard durchhält, wenn ich ihn kitzle.“
Hasard stemmte sich unter unsagbaren Anstrengungen hoch.
„Warte.“
„Der große Seewolf“, höhnte León. „Man droht ihm ein bißchen,
und schon wird er weich. Du gibst also zu, daß dieser Anhänger
Inkagold ist?“
Hasard mimte den Erstaunten. „Was sagst du da? Die Inkas
sind doch von den Spaniern unterdrückt, ausgerottet, ausradiert
worden. Ihr Gold ist samt und sonders eingeschmolzen
worden.“
León brüllte einen Fluch, riß wieder an der Kett und sprang auf,
als Hasard vor ihm lag. Er trat ihm in die Seite. Hasard sah aus
schmalen Augenschlitzen, wie der Stiefel des Kerl wieder
zurückschwang, einen Moment verhielt und von neuem auf ihn
zuzuckte. Er schloß die Augen.
Der Schmerz fraß sich tief in seinen Leib und tobte darin. Er
drohte wieder das Bewußtsein zu verlieren.
„Und jetzt kriegst du das Messer zu spüren“, sagte León.
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Hasard gelang es, sich auf den Rücken zu drehen. „Tu das
nicht, León. Die Oberen von Rio werden dir für einen toten
Seewolf vielleicht keine Belohnung zahlen.“
„Wer sagt dir das?“
„Auf jeden Fall bewerten sie mich lebend höher.“
„Und ich will wissen, wo El Dorado liegt.“ León streckte wieder
die Faust vor, in der er die kleine Kette mit dem Anhänger hielt.
„Dieses Kleinod, diese hervorragende Arbeit – ich weiß, daß es
Inkahandwerk ist. Ein Beweis, daß sich die letzten Inkas
irgendwo versteckt haben. Am Amazonas! Sie haben dort ein
neues Goldland gegründet, dort, wo sie keiner überraschen und
besiegen kann. Ist es so?“
Wie er doch den Nagel auf den Kopf getroffen hatte!
„Du täuschst dich“, sagte Hasard.
León bückte sich ein wenig, das Messer blitzte im Sonnenlicht
auf.
„Kameraden“, sagte er. „Wir, nur wir fünf werden das
Geheimnis erfahren. Die anderen beteiligen wir nicht daran.
Warum sollten wir? Sie sollen sehen, wie sie zurechtkommen,
wenn wir sie im Stich lassen und nach El Dorado aufbrechen.“
„León“, stieß Hasard keuchend aus. „Ist das dein gepriesener
Edelmut? Die Ehre eines Hidalgos – oder die Niederträchtigkeit
eines Verrückten?“
Leóns Gesicht verfärbte sich um eine Nuance. Ein gefährliches
Feuer glomm in seinen Augen. Er wurde fuchsteufelswild, wenn
man an seinem Verstand zweifelte.
Hasard wollte ihn reizen und zu einer überstürzten Handlung
zwingen. Er spannte sämtliche Muskeln an und wartete darauf,
dem Spanier die eisernen Handfesseln um den Nacken
schlingen zu können. Dann würde er ihn zu Boden reißen und
ihn als Faustpfand gegen die anderen benutzen.
„So, wie du deine Kumpane hintergehen willst, so wirst du auch
dein Ehrenwort brechen“, fuhr Hasard fort. „Niemals gibst du
den fünf Wikingern und den beiden Portugiesen vom
schwarzen Schiff die Freiheit wieder.“
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„Ja!“ schrie León. „Du hast es erfaßt! Mitnehmen werde ich sie,
tief ins Innere des Landes, damit keiner von deinen
verdammten Freunden auf die Idee verfällt, uns zu verfolgen.
Erst wenn wir weit genug von der Lagune weg sind, werde ich
sie töten.“
„Und dann reiten wir nach El Dorado!“ rief Miguel. „Bring ihn
zum Reden, Herr, zwinge ihn!“
„Ja. Du wirst es ausspucken“, sagte Alfiero León. „Auf die
Felsen. Jetzt. Du hast keine andere Wahl.“
Seine Augen glitzerten wie im Fieber. Er wie die anderen – sie
waren von dem Gedanken an El Dorado in einen unheimlichen
Bann gerissen worden. Allein davon! Wieder einmal zeigte sich,
welche ungeheure Wirkung das Wort Gold auf die Menschen
ausübte.
Als Hasard schwieg, stach León plötzlich und ohne weitere
Vorwarnung zu. Er wollte Hasards rechten Arm treffen, aber der
Seewolf rollte sich zur Seite.
„Hund!“ brüllte León. „Du setzt dich also zur Wehr? Miguel, ihr
anderen drei – packt ihn und fesselt ihn so, daß er sich nicht
mehr bewegen kann!“
Hasard lag da und wartete auf die Cimarróns und die Indios. Er
setzte alles auf eine Karte. Verkauf dein Leben so teuer wie
möglich, sagte er sich immer wieder.
Aber jäh wehte eine fremde Stimme von den Felsen auf sie zu.
„Halt!“ rief sie auf spanisch. „Laßt den Seewolf in Ruhe! Ihr tötet
ihn sonst nur durch euer Ungeschick. Er gehört mir. Rührt euch
nicht von der Stelle!“
Hasard drehte sich langsam auf den Rücken und erkannte vier,
fünf Gestalten, die sich oben an den beiden Seiten der kleinen
Schlucht placiert hatten und mit Musketen und Arkebusen auf
die Banditen anlegten. Wer der Sprecher war, konnte er wegen
der starken Reflexe des Sonnenlichts nicht sehen, aber er
registrierte, daß die Männer genauso zerlumpt und brutal
aussahen wie León und seine Kerle. Es waren Wegelagerer,
die dem Häscher die Beute abjagen wollten.
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Es wimmelte hier von solchen Banden.
Falls León sich ergab, hieß Hasards Schicksal, vom Regen in
die Traufe zu geraten.
Aber Alfiero León kapitulierte nicht. Er riß seine Pistole aus dem
Gurt, fuhr herum und schrie: „In Deckung! Tötet diese
Bastarde!“
Miguel, der zweite Cimarrón und die zwei Indios zückten
ebenfalls ihre Waffen, und dann brach das Inferno aus.
* Der fremde Bandenführer schoß als erster. Donnernd hallte es
von den Felsenwänden wider. Die Musketenkugel fuhr
zwischen Hasard und León. León brüllte auf und feuerte
zurück. Hasard rollte sich wieder zur Seite fort.
Ein wahres Stakkato von Schüssen siebte den Rastplatz. León
und seine vier Begleiter suchten hinter Steinen Deckung, sie
liefen wie die aufgescheuchten Hühner hin und her. Hasard
befand sich immer noch wie auf dem Präsentierteller, er hatte
die geringsten Chancen, dem Überfall zu entgehen, denn die
Eisenketten behinderten ihn in seiner Bewegungsfähigkeit.
Er wälzte sich weiter und weiter und achtete nicht auf die
Schmerzen.
Hinter einem Felsenquader schrie plötzlich der eine Indio auf.
Getroffen sank er zusammen. Die drei anderen León-Banditen
griffen, sobald sie ihre Waffen leergefeuert hatten, zu den Bola-
Schlingen.
Hasard kollerte direkt auf Miguel zu. Der schwarze Bandit hatte
sich hinter einem bizarr geformten Stein verschanzt. Sein Pferd
tänzelte nicht weit entfernt von ihm neben den anderen Tieren
und drohte auszubrechen.
Miguel schwang seine Wurf schlinge und war ganz auf die
Verteidigung konzentriert. Erst als er Hasard an seiner Seite
gewahrte, fuhr er herum und wollte sich auf ihn stürzen.
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Hasard lag im Schatten des Steines. Er hielt die Kette des Halseisens mit beiden Händen, riß sie hoch und schleuderte sie gegen Miguels Kopf. Er legte alle Kraft, die ihm noch zur Verfügung stand, in diesen Hieb – und der Cimarrón brach gurgelnd zusammen. Hasard entwand ihm die Wurfschlinge und einen Stein, rappelte sich auf und hetzte auf die Pferde zu. Hinter ihm schrie Alfiero León auf. Er hatte gesehen, was sich abgespielt hatte. Aber er konnte nicht auf Hasard schießen, weil er noch nicht wieder nachgeladen hatte – und seine Deckung durfte er auch nicht verlassen, sonst streckten ihn die Gegner nieder. So mußte er voll ohnmächtiger Wut zusehen, wie sich der Seewolf auf den Rücken von Miguels Pferd schwang. Hasard trieb das Tier an und duckte sich tief über seinen knochigen Widerrist. Die Mähne flatterte ihm ins Gesicht. Das magere Pferd hetzte los und verfiel sofort in Galopp. Es schien froh zu sein, die kleine, höllische Schlucht verlassen zu können. Eine Bola schwirrte haarscharf über Hasards Rücken weg. Oben am Schluchtrand krachte ein Schuß, das Pferd wieherte entsetzt auf und schoß noch schneller voran – und genau das rettete den Seewolf. Das gehackte Blei aus einer Muskete der anderen Banditen schlug dicht hinter dem Vierbeiner ein. Der Schütze wollte aus der Felsenregion absteigen, sich auf sein irgendwo verstecktes Pferd werfen und Hasard nachjagen. Aber eine Bola hinderte ihn daran. Von einem der beiden Indios geschleudert, traf sie ihn, als er nur für einen Augenblick den Kopf hob. Mit einem Aufschrei sank er zurück. Hasard trieb sein Beutepferd durch das ausgetrocknete Flußbett auf das Hügelland zu. Er war frei, aber er hatte noch schwer an seinen Ketten zu schleppen. Die Kette, an der León ihn die ganze Zeit über geführt hatte, hing schwer an dem Halseisen. Er nahm sie in die Hände, um wenigstens eine kleine Erleichterung zu haben. Liebend gern hätte er mit dem Spanier abgerechnet, aber dazu bot sich keine Gelegenheit. Außerdem gab es eine
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vordringliche Aufgabe: Thorfin Njal und die anderen Geiseln zu befreien. * Die beiden Posten – ein Cimarrón und ein Indio – hockten nördlich der Senke und des knorrigen Gehölzes, in dem das Gros der Bande lagerte. Sie hatten sich im Büschelgras auf der Kuppe eines Hügels niedergelassen. Sie sollten die Umgebung scharf im Auge behalten, aber sie dösten fast in der heißen Nachmittagssonne. „Und ich sag dir, ich habe vorhin Schüsse gehört“, erklärte der eine träge. „Ich habe gute Ohren.“ „Du glaubst an Gespenster“, erwiderte sein Kumpan. Der erste bewegte plötzlich ruckartig den Kopf, dann lehnte er sich seufzend auf die Seite. Der andere hatte ihn beim Sprechen nicht angeschaut, er starrte stumpfsinnig in die Landschaft, und deshalb gewahrte er nur oberflächlich, was geschah. „Narr“, zischte er. „Du weißt, daß wir nicht einschlafen dürfen. Wenn León…“ Weiter gelangte er nicht. Etwas traf seinen Hinterkopf mit der Wucht eines Rammklotzes. Er begriff noch, daß es sich um einen Stein gehandelt haben mußte, der flach übers Gras herangesaust war, dann wurde auch er besinnungslos. Kurz darauf war Hasard neben ihnen und nahm ihnen ihre Waffen ab: eine Muskete, eine Pistole, zwei Messer. Er grinste. „Nicht nur ihr könnt mit den Bolas umgehen“, murmelte er. „Und es gibt in dieser Gegend genug runde Steine, die man nur aufzusammeln braucht.“ Er ließ sie liegen und schlich durch das hüfthohe Gras den Hang hinunter. Das Pferd Miguels hatte er weit hinter sich zurückgelassen und angehobbelt, damit es ihn ja nicht verraten konnte.
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Unter ihm erstreckte sich das Gehölz. Als er einmal kurz den
Kopf hob, entdeckte er einige Banditen. Er sah auch ihre
Pferde, die bis zu den Bäuchen im Gebüsch standen, die
Häupter gesenkt hielten und gemächlich ganze Büschel Gras
ausrupften.
Auf sie kroch er zu.
Unterwegs ließ sich plötzlich etwas Rotes, Schwirrendes aus
der Luft auf ihn nieder. Unwillkürlich drehte er sich um und legte
mit der erbeuteten Pistole darauf an.
Im nächsten Augenblick atmete er aber auf.
„Sir John“, flüsterte er. „Himmel, du verflixter Kerl, wie hast du
mich bloß entdeckt?“
Sir John landete auf seiner Brust und gab einen leisen,
zärtlichen Laut von sich. Er wollte Hasards Nase mit dem
Schnabel kraulen, aber der Seewolf wehrte sanft ab.
„Laß das jetzt. Flieg lieber wieder weg – in das Wäldchen, zu
Thorfin Njal. Zu dem Wikinger, verstehst du? Wenn er dich
sieht, wird er begreifen, daß es das Zeichen ist…“
Sir John verstand nicht, aber irgendwo in seinem kleinen
Papageienhirn begriff er doch unterschwellig, daß eine
dramatische Verbindung zwischen dem dahinpirschenden
Seewolf und den Gefangenen im Gehölz bestand.
Er hob wieder ab und steuerte in kreisenden Flugbahnen auf
den Lagerplatz der Banditen zu. Für etwaige Beobachter mußte
es so aussehen, als habe er sich für kurze Zeit im Gras
niedergelassen, um Futter aufzupicken.
Hasard robbte weiter.
Wenig später lag er mitten zwischen den Pferden und löste die
Lumpen, mit denen die Banditen ihnen die Fesseln
zusammengebunden hatten. Die häßlichen, zerschundenen
Gäule konnten nur kleine Schritte tun, waren sie nicht
angehobbelt, bestand die Gefahr, daß sie ausbrachen,
durchgingen und davonliefen.
Mit einem der ergatterten Messer zertrennte Hasard die
Stoffetzen – einen nach dem anderen. Danach kroch er wieder
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so leise und unauffällig weg, wie er erschienen war. Die weiter zum Gehölz hin postierten Wachen bemerkten ihn nicht. Sie rechneten einfach nicht damit, daß sie gestört werden konnten. Hasard schwang seine Wurfschlinge. Als er den Stein freigab, raste er tief über die Grasspitzen weg und prallte gegen die Hinterhand eines Schecken. Das Tier wieherte und keilte aus. Hasard beförderte noch einen Stein in die Herde – und dieses Mal stellte sich der Erfolg ein. Die Pferde wurden wild, die Panik, die von den Getroffenen ausging, sprang auf die anderen über. Sie drängten sich wiehernd und schnaubend gegeneinander, dann galoppierten sie in nördlicher Richtung los. Hasard kroch auf das Gehölz zu. Die Banditen schrien durcheinander. Sie fluchten und riefen den Tieren Befehle nach, aber das nutzte nichts. Sie rannten ihren Mähren nach, versuchten sie aufzuhalten – und das war der Augenblick, in dem der Seewolf in das Gehölz eindrang. Er schlug einen verdatterten Wächter von hinten nieder. Dann war er mitten unter den Banditen und feuerte zunächst die Muskete, dann die Pistole ab. Thorfin Njal, der durch Sir Johns Auftauchen alarmiert worden war, stieß einen wilden Laut aus, sprang auf und auf die Schlagetots zu und ließ seine Ketten wie einen Kreisel wirbeln. Eike, Arne, Oleg, der Stör, Pedro und Diego warfen sich gleichfalls auf die Kerle. Als er die Muskete und die Pistole leergeschossen hatte, warf Hasard sie einfach weg und setzte die Messer ein. Eines rammte er einem anstürmenden Cimarrón in die Brust. Das andere warf er. Es zuckte durch die Luft und erwischte einen Indio am Hals, der gerade mit der Muskete auf Thorfin Njal abdrücken wollte. Hasard ließ die Wurfschlinge kreisen, raffte zwei Gegner durch gezielte Steinwürfe dahin – und als er nicht mehr die Zeit hatte, neue Steine aufzulesen, setzte auch er seine Ketten als mörderische Waffen ein.
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In dem Getümmel konnten sie sich schließlich Luft verschaffen,
bevor die anderen Banditen zurückkehrten – die Kerle, die die
Pferde einfingen.
„Weg!“ schrie Hasard. „Zu den Schiffen!“
Er hetzte voran, den Hang hinauf, der sie von der Landzunge
der Lagune trennte. Thorfin Njal und seine Wikinger waren
hinter ihm, Pedro Ortiz und Diego Valeras bemühten sich
ebenfalls, den Anschluß nicht zu verlieren, aber sie hatten den
Feind dicht im Rücken.
Einige Banditen hatten sich auf ihre Pferde geschwungen. Sie
heulten vor Wut, wollten Rache üben und die kostbaren
Gefangenen, wieder packen. Sie fürchteten Alfiero Leóns
Strafe, sonst hätten sie in diesem Moment wahrscheinlich das
Weite gesucht.
Denn hinter der Hügelkuppe, unten in der Bucht, lauerten die
kampfbereite „Isabella VIII.“ und der „Eilige Drache über den
Wassern“. Siri-Tong, Ben Brighton und die beiden
Mannschaften hatten bange Minuten durchgestanden, denn sie
wußten ja nicht, wie es in dem Gefecht zuging, dessen Lärm sie
hörten.
Dann aber schrie die Rote Korsarin auf. Sie erkannte Hasard,
Thorfin Njal und die anderen.
„Da sind sie!“ rief sie triumphierend. „Auf der Kuppe des
Hügels! Der Seewolf lebt, ist zurückgekehrt, die Geiseln sind
unversehrt! Gebt ihnen Feuerschutz!“
Zwei berittene Banditen hielten von hinten auf Hasard zu, sie
wollten ihn als ersten greifen. Aber als sie sich neben ihn
drängten, richtete sich der eine plötzlich kerzengerade auf und
fuhr sich mit den Händen an die Brust. Ein Pfeil hatte sich
hineingebohrt, zitternd ragte der Schaft auf. Der Kerl, ein Indio,
stürzte vom Pferd.
Sein Kumpan duckte sich, aber dann rammte sich ein zweiter
Pfeil in seine Seite, hob ihn aus dem Sattel und warf ihn zu
Boden.
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„Tod den Halunken!“ brüllte Big Old Shane aus dem Hauptmars
der „Isabella“. Er legte schon wieder einen neuen Pfeil in die
Bogensehne.
„Nieder!“ schrie nun auch Batuti, der zweite Bogenschütze im
Vormars. Und dann erklang der alte Kampfruf der Seewölfe.
„Ar-we-nack! Ar-we-nack!“
Hasard lachte auf, als er das vernahm. Er gelangte als erster
auf die Nehrung, aber die Wikinger und die Portugiesen folgten
immer noch dicht auf.
Die Banditen zögerten. Zwischen ihnen und den entflohenen
Geiseln wuchs plötzlich die Distanz. Ben Brighton nutzte das
aus. Die „Isabella“ lag inzwischen mit dem Vorsteven zur
Landzunge, präsentierte dem Nordufer der Bucht also ihre
Backbordbreitseite – und er lief keine Gefahr mehr, Hasard und
die anderen zu verletzen, wenn er den Feuerbefehl gab.
„Feuer!“ schrie er.
Vier Culverinen wummerten auf, die Kugeln heulten von
Feuerlanzen gestoßen aufs Land zu. Zwei Einschläge lagen
dicht unter der Hügelkuppe, die beiden anderen direkt darauf.
Rauch stieg auf, Erde und Gras wirbelte, und mittendrin schrien
die getroffenen Banditen.
Hasard drehte sich um. Er sah, was die 17-Pfünder-Kugeln
angerichtet hatten, und stellte mit grimmiger Genugtuung fest,
daß die Überlebenden sich eilends zurückzogen, bevor das
Massaker auch sie erreichte.
Aber ihm entging auch nicht die Gestalt, die sich plötzlich aus
dem Gras am Nordwestufer löste. Ein verbeulter, rostiger
Panzer, verrottete Stiefel und Hosen, ein häßlicher Helm, auf
dem der Federbusch nur noch ein lächerlicher Stumpen war –
Alfiero León galoppierte auf seinem Klepper am Ufer entlang
und hielt auf die Nehrung zu.
Hasard hob die Hand.
„Ben!“ rief er. „Nicht schießen! Shane, Batuti – überlaßt ihn mir,
verstanden?“ Zu Thorfin Njal und seinen Männern sagte er:
„Lauft an mir vorbei. León ist als einziger dem Überfall
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entgangen, und er hat sein Pferd einfangen können. Jetzt kommt er, weil er Rache üben will – und weil die Verlockung, die von El Dorado ausgeht, übermächtig ist. Es ist die letzte Phase einer grausigen Komödie.“ León preschte heran und verhielt sein Pferd dicht vor Hasard. Sand sprühte hoch. Leóns Gesicht war gerötet, seine Augen weiteten sich im Haß und Wahn. „Seewolf – ergib dich!“ schrie er. Hasard hatte seine Halskette wieder mit beiden Händen gepackt. „Du verrückter Narr, siehst du nicht, wie die Partie ausgegangen ist? Nur ein Irrer wie du konnte mir folgen und mich erneut herausfordern. Ich gebe dir eine letzte Chance, du Spinner – hau ab!“ León stach mit dem Speer zu. Hasard wich zur Seite, riß die Kette hoch und traf. Sie wickelte sich um den Hals des Spaniers und holte ihn aus dem Sattel. Schwer prallte der Mann zu Boden. Er sprang auf, griff sich den Speer und rückte wieder auf den Seewolf los. „Keiner nennt Alfiero León einen Wahnsinnigen, keiner tut es ungestraft, hörst du?“ Er holte aus und wollte die Spitze der Waffe in Hasards Unterleib rammen, aber auch diesmal traf er sein Ziel nicht. Er handelte blindlings. Hasard hingegen war eiskalt. Hasard hieb erneut mit der Kette zu. Es schepperte, als sie gegen den Brustpanzer des Spaniers schlug. León wankte. Hasard führte eine neue Attacke, und diesmal verlor León den Speer und taumelte rückwärts. Er geriet ins flache Uferwasser, ruderte mit den Armen, torkelte aber noch weiter zurück. Sie befanden sich am Schenkelpunkt der Nehrung, dort, wo auch der Priel so sehr abgeflacht war, daß man ihn durchwaten konnte. Durchwaten – Leóns Augen spiegelten plötzlich keinen Haß mehr, der Ausdruck war in etwas anderes umgeschlagen. In Panik.
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„Der Treibsand!“ schrie er. „Er hat mich gepackt und hält mich
fest. Nein! Hilf mir, Lobo del Mar! Ich – ich werde dich fürstlich
belohnen…“
Er sackte tatsächlich ein, und zwar sehr schnell. Schon stand er
bis zum Bauch im Wasser, konnte sich nicht rühren, brüllte und
gestikulierte. Gluckernd füllte sich seine Rüstung mit dem Naß.
Hasard schritt vorsichtig auf ihn zu. Er hatte den Speer
aufgelesen.
„Wenn ich dir den Schaft reiche, greifst du zu“, sagte er. „Ich
versuche, dich 'rauszuziehen, du Idiot.“
Aber so weit kam er nicht. Mit einemmal steckte auch er fest.
Der Treibsand zerrte mit unglaublicher Kraft an seinen Füßen.
Thorfin Njal stieß einen empörten Laut aus und stürmte los.
Seine Männer folgten ihm auf dem Fuß. Sie packten den
Seewolf zu siebt, an den Ketten, an den Armen und Beinen, am
Speer – und sie konnten es gerade noch schaffen, ihn auf die
Landzunge zurückzuholen.
Leóns letzter Schrei erstarb in einem gräßlichen Gurgeln.
Erschüttert blickte der Seewolf auf die Stelle, an der zuletzt sein
Kopf mit dem Helm zu sehen gewesen war. Jetzt sprudelte es
dort nur noch ein bißchen, und Wellenringe liefen auseinander.
„Aus“, sagte Hasard. „Er hat es nicht anders gewollt.“
* Dank Tidenhub und emsiger Windenarbeit schwamm die „Isabella“ wieder frei. Der schwarze Segler hatte sich von selbst vom Grund der Lagune gelöst, er hatte sich in einer treibsandfreien Zone befunden. Die Schätze, die die Banditen im Gehölz vergraben hatten, wurden an Bord zurückbefördert, die Beiboote wurden hochgehievt und festgelascht, dann gingen beide Schiffe ankerauf und verließen schleunigst die gefährliche Bucht. Als sie durch die Einfahrt in die offene See segelten, drehte sich der Seewolf noch einmal um und schaute zu Alfiero Leóns
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Todesstätte zurück. „El Dorados Fluch – ich hoffe, daß er uns nicht weiterverfolgt, daß wir nur seinen Segen zu spüren kriegen. Aber ich weiß genau, daß es nicht so ist.“ An der „Isabella“-Crew, Siri-Tong und ihren Männern war das Geschehen dieses Tages nicht ohne tiefe Spuren vorübergegangen. Wer nicht wie Hasard, Thorfin Njal und seine Wikinger sowie die beiden Portugiesen Wunden davongetragen hatte, der stand jetzt doch zumindest betroffen und zutiefst erschöpft am Schanzkleid und sah zu, wie die Lagune und das Festland allmählich hinter ihnen verschwanden. Die Schiffe nahmen südlichen Kurs, in Richtung Rio de la Plata. Nur einer hatte an dem ganzen Abenteuer keinen Anteil gehabt: Flanagan, der immer noch festgekettet in der Vorpiek des schwarzen Seglers hockte. Er mußte seine Strafe absitzen, SiriTong war unerbittlich. ENDE
Nächste Woche erscheint SEEWÖLFE Band 104 Rebellion am Silberstrand von Fred McMason Die ranke und kampfstarke GaLeóne, mit der die Seewölfe südwärts segelten, war die „Isabella VIII.“, aber am Rio de la Plata hörten sie zu ihrer Verblüffung, daß in diesem Gebiet eine spanische GaLeóne gleichen Namens erwartet werde – um Silberbarren zu übernehmen. Englische „Isabella“ hin – spanische „Isabella“ her, die Seewölfe witterten Beute, man brauchte, sich ja nur als die spanische „Isabella“ auszugeben. Und so geschah es, daß eine Ladung Silberbarren nach der anderen in den Frachträumen der „Isabella“ verschwanden – bis der Schwindel platzte. Und da sagte Philip Hasard Killigrew nur kurz und lakonisch: „Schiff klar zum Gefecht…“ Diesen Roman mit einem neuen spannenden Abenteuer des Seewolfs und seiner Crew erhalten Sie bereits in der nächsten
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Woche bei Ihrem Zeitschriftenhändler Bahnhofsbuchhandlungen.
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