Friedericke Hardering Unsicherheiten in Arbeit und Biographie
Friedericke Hardering
Unsicherheiten in Arbeit und Bio...
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Friedericke Hardering Unsicherheiten in Arbeit und Biographie
Friedericke Hardering
Unsicherheiten in Arbeit und Biographie Zur Ökonomisierung der Lebensführung
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Dissertation RWTH Aachen, 2010 D 82 Das Dissertationsprojekt wurde durch ein Promotionsstipendium der Graduiertenförderung der RWTH Aachen gefördert.
. 1. Auflage 2011 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011 Lektorat: Dorothee Koch | Britta Göhrisch-Radmacher VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: STRAUSS GMBH, Mörlenbach Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-18351-0
Inhaltsverzeichnis
Einleitung .............................................................................................................................. 7 1
Die Ökonomie der Unsicherheit ............................................................................15 1.1 Einleitung ............................................................................................................15 1.2 Konturen der neuen Unsicherheitsproblematik ............................................20 1.3 Die Krise des Fordismus und das neue Regime des Marktes ............................38 1.4 Unsicherheit der Beschäftigung .......................................................................45 1.4.1 Problematisierungen von Prekarität ..................................................47 1.4.2 „Normalarbeit“, „prekäre Arbeit“ und Prekaritätskonstellationen ...................................................................54 1.4.3 Prekarität in der „Ökonomie der Unsicherheit“ ..............................59 1.5 Unsicherheit durch Subjektivierung ................................................................62 1.5.1 Die zwei Achsen der Subjektivierung ................................................62 1.5.2 Unsicherheitspotenziale in Subjektivierungsprozessen ...................69 1.6 Zwischenfazit .....................................................................................................74
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Fragile Anerkennung, verzeitlichte Zeit: Karriereskripte im Wandel ................77 2.1 Einleitung ............................................................................................................77 2.2 Die Normalbiographie ......................................................................................80 2.2.1 Die Normalbiographie: Lebenslaufmuster und Biographiemuster .................................................................................81 2.2.2 Das berufsbiographische Skript der Aufstiegskarriere ....................87 2.3 Die De-Institutionalisierung des Lebenslaufes ..............................................92 2.3.1 Der Wandel der Zeitordnung: Von der Langfrist-Logik zur Kurzfrist-Logik .....................................................................................95 2.3.2 Der Wandel der Anerkennungsordnung ........................................ 100 Exkurs: „Soziale Wertschätzung“ und Leistung ........................... 102 Von der Würdigung zur Bewunderung .......................................... 108 2.3.3 Das berufsbiographische Skript der boundaryless career ............ 112 2.4 Zwischenfazit .................................................................................................. 116
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Inhaltsverzeichnis
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Zum Wandel biographischer Skripte .................................................................. 121 3.1 Einleitung ......................................................................................................... 121 3.2 Biographie und biographisches Skript ......................................................... 122 3.2.1 Der Bedeutungsgewinn der Biographie ......................................... 122 3.2.2 Moderne und postmoderne Formen narrativer Identität ............ 127 3.2.3 Bezugsfelder biographischer Skripte .............................................. 133 3.3 Die Normalbiographie als biographisches Skript ....................................... 138 3.4 Erzählbarkeit von Diskontinuität? ................................................................ 140 3.5 Selbstthematisierung und Selbstdarstellung ................................................ 143 3.5.1 Biographiegeneratoren: Beichte, Psychoanalyse, emotionaler Kapitalismus....................................................................................... 145 3.5.2 „Arbeit“ als Biographiegenerator: Zur Selbstdarstellung ............ 153 3.6 Die Ökonomisierung der Biographie ........................................................... 158 3.6.1 Permanentes Umschreiben: Zur Zeitlogik der ökonomisierten Biographie .......................................................................................... 160 3.6.2 Authentizitätsverlust und biographische Unsicherheit................. 164
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Fazit: Biographische Unsicherheiten, revisited.................................................. 173
Literaturverzeichnis ........................................................................................................ 179
Einleitung
Die Diagnose „unsicherer Zeiten“1 zählt gegenwärtig zu einer der populärsten Zeitdiagnosen in den Sozialwissenschaften (Castel/Dörre 2009: 11; van Dyk/Lessenich 2008). Im Zentrum dieser Diagnose stehen insbesondere die neuen Unsicherheiten, die sich aus dem Wandel des Sozialstaates und den Veränderungen der Arbeitswelt ergeben. Zudem werden die neuen Unsicherheiten mit einer neuen sozialen Frage in Verbindung gebracht, die nicht länger als Problem am Rande der Gesellschaft, sondern als Problem gesamtgesellschaftlicher Kohäsion in Erscheinung tritt (vgl. Castel 2000; 2005; Kronauer 2002; Vogel 2006; 2009). Die soziale Frage, so die allgemeine These, sei in das Zentrum der westlichen Erwerbsarbeitsgesellschaften zurückgekehrt. Sie stellt sich innerhalb der verschiedenen gesellschaftlichen „Zonen“ (Castel 2000) je anders: In der Zone der Integration mit stabilen Beschäftigungsverhältnissen und stabiler Sozialintegration offenbart sie sich als Statusangst, als Gefühl der Verunsicherung darüber, inwieweit das Versprechen auf den Erhalt der eigenen Position noch Gültigkeit hat. In der Zone der Prekarität zeigt sich bereits eine strukturelle Unsicherheit in Gestalt prekärer Beschäftigungsverhältnisse und prekären Wohlstands, und in der Zone der Entkoppelung zeigt sich die soziale Frage als Problematik gesellschaftlichen Überflüssigseins (vgl. Bude/Willisch 2008). Als Ursache der Diffusion neuer Unsicherheiten wird die Zunahme von prekären Beschäftigungsverhältnissen angenommen, durch welche Unsicherheitsgefühle in alle gesellschaftlichen Bereiche ausstrahlen (Castel 2000; Dörre 2006). Prekarisierung und Prekarität stehen damit für die „fundamentale Verunsicherung aller Lebens- und Arbeitsbereiche“ (vgl. Rademacher/Lobato 2008: 118; Damitz 2007). In der aktuellen Prekarisierungsdebatte wird das Verhältnis von ‘objektiven’ und ‘subjektiven’ Unsicherheiten, Unsicherheitslagen und Unsicherheitsgefühlen verschiedentlich thematisiert und empirisch untersucht (Damitz 2007; Dörre 2005; Kraemer 2006). Als zentrale Quelle der Unsicherheit gilt die Verunmöglichung einer Normalbiographie: Durch die Instabilität des Beschäftigungsverhältnisses sei es prekär Beschäftigten unmöglich, berufliche und familiäre Planungssicherheit zu erlangen (Dörre 2006). Unsicherheiten stehen in dieser Herangehensweise für prekäre Beschäftigungsformen oder prekäre Haushaltslagen, mit denen nicht zwangsläufig, aber doch allzu häufig subjektive Verunsicherungen einhergehen. Je nach Position im sozialen Gefüge sinkt oder steigt demnach die Gefahr von Prekarität, 1
„Unsichere Zeiten“ war das Motto des 34. Soziologiekongresses in Jena 2008.
F. Hardering, Unsicherheiten in Arbeit und Biographie, DOI 10.1007/978-3-531-94048-9_1, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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und insofern liegt der Akzent dieser Studien auf der Frage nach der wachsenden Ungleichverteilung von Unsicherheiten. Zusammengenommen fasst die aktuelle Prekarisierungsdiskussion die Konsequenzen der Zunahme unsicherer Arbeit für die Subjekte deutlich pessimistisch: Prekarität wird mit eingeschränkter sozialer Teilhabe, gesundheitlichen Belastungen und Anfälligkeiten zu politischem Extremismus in Verbindung gebracht (Brinkmann et al. 2006; Dörre/Fuchs 2005; Flecker/Krenn 2009). Die Diagnose wachsender Unsicherheiten, die sich auf Lebensläufe und Biographien auswirken, ist keineswegs neu: Bereits in den 1980er Jahren wurden mit Ulrich Becks These von der Risikogesellschaft (1986) Unsicherheiten als zentrales Signum der zweiten Moderne hervorgehoben. Im Kontext dieser Forschungstradition2 werden Unsicherheiten und speziell „biographische Unsicherheiten“ als „Nebenfolge gesellschaftlicher Modernisierungs- und Individualisierungsprozesse“ begriffen (Bonß et al. 2001: 212), die gesamtgesellschaftlich in Form veränderter Spielräume für biographische Entscheidungen ihre Wirkung entfalten. Der Schwerpunkt der Untersuchungen über biographische Unsicherheiten liegt auf der Frage nach den Möglichkeiten der Herstellung biographischer Sicherheiten und der Differenzierung verschiedener Modi der Integration von Unsicherheit in biographische Konstruktionen (Bonß et al. 2001; Bonß/Zinn 2006; Pelizäus-Hofmeister 2006; Wohlrab-Sahr 1993). Wo in frühen Publikationen noch explizit die Frage nach den Folgen veränderter Beschäftigungsbedingungen und -formen für biographische Konstruktionen aufgegriffen wurde (Brose et al. 1987a; 1987b; Brose et al. 1993), setzen sich jüngere Untersuchungen verstärkt mit Sicherheitskonstruktionen und den Wertungen von Unsicherheit als Risiko bzw. Gefahr auseinander (Bonß et al. 2001; 2004; Bonß/Zinn 2005). Der Schwerpunkt liegt dabei auf solchen Unsicherheitsmomenten, die in allen Teilen der Gesellschaft gleichermaßen spürbar sind. Richtet man einen Blick auf die aktuelle Situation der als „postfordistisch“ charakterisierten Arbeitsgesellschaft, so scheinen sich biographische Unsicherheiten als mangelnde Vorhersehbarkeit des Lebenslaufes und Unsicherheit biographischer Orientierungs- und Selbstthematisierungsmuster pluralisiert zu haben: Prekäre Beschäftigungsformen sind längst keine Randerscheinung mehr; sie können aber neben weiteren Veränderungen der Organisation von Arbeit lediglich als eine Quelle biographischer Unsicherheiten angesehen werden. Gerade dem im Kontext der zunehmenden Vermarktlichung auftretenden Prozess der Subjektivierung der Arbeit kann ein enormes Unsicherheitspotenzial beigemessen werden (Nickel 2008): Die Unsicherheit resultiert hier vornehmlich aus entgrenzten Leistungsanforderungen sowie einer betrieblichen Anerkennungslogik, die während des Leistungsvollzuges Gemeint sind hier die Forschungen des SfB 536, München: Eßer/Zinn 2002; Zinn/Eßer 2002; Bonß et al. 2001; 2004; Bonß/Zinn 2005; Zinn 2006. Zudem: SfB 186 der Universität Bremen: Statuspassagen und Lebensverlauf (Brose et al. 1987a; 1987b; Brose et al. 1993).
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noch ungewiss ist und sich erst ex post mit dem Eintreten von Erfolg rekonstruieren lässt (vgl. Dröge et al. 2008; Boes/Bultemeier 2008). Zudem schlummert in der Grenzenlosigkeit und Unabschließbarkeit der Anforderungen an die Selbstoptimierung, die mit der gesteigerten Subjektivierung der Arbeit einhergehen, ebenfalls ein erhöhtes Unsicherheitspotenzial. Dies deutet darauf hin, dass für ein umfassenderes Verständnis biographischer Unsicherheiten auf die Analyse der veränderten Arbeitsorganisation, die unter den Schlagwörtern der Subjektivierung der Arbeit bzw. der Vermarktlichung verhandelt werden, kaum länger verzichtet werden kann. Ebenfalls erläuterungsbedürftig wird die gegenwärtig zu beobachtende Diffusion sozialer Unsicherheiten in gesellschaftliche Bereiche mit stabilen Beschäftigungsverhältnissen und finanziell gesicherten Haushaltslagen. Zur Beschreibung einer solchen Diffusion von Unsicherheiten werden gegenwärtig insbesondere die Thesen eines „Bumerang-Effektes“ (Castel 2000) bzw. eines „Spill-over-Effektes“ (Lengfeld/Hirschle 2009) herangezogen, die auf die Zukunftsängste und Sorgen der „Nichtbetroffenen“ (ebd.) verweisen, auf all jene sicher Beschäftigten also, deren sozioökonomische Lage nicht mit einer Prekaritätskonstellation korrespondiert. Diese Thesen benennen ausschließlich den Effekt der Diffusion, ohne sich näher mit einer Bestimmung der Verbreitungswege der neuen Unsicherheiten auseinanderzusetzen. So ist bisher weitgehend unklar, woraus sich die Ängste und Sorgen der verunsicherten Mittelschicht speisen. Die vorliegende Arbeit knüpft damit an Blindstellen der Problematisierung von Unsicherheiten an und fragt danach, wie biographische Unsicherheiten vor dem Hintergrund der genannten Wandlungsdynamiken der Arbeitswelt zu beschreiben sind. Dabei wird die Annahme vertreten, dass eine Perspektive auf biographische Unsicherheiten, die die These der sozialen Konstruiertheit von Unsicherheiten ebenso einbezieht wie das Wissen um die Ungleichverteilung von Unsicherheiten, ermöglicht, die aktuelle Dynamik der Verunsicherungen nachzuvollziehen. Insofern greift ein Verständnis von Unsicherheiten zu kurz, welches sich insbesondere auf die subjektive Verarbeitung ‘objektiver Unsicherheitslagen’ bezieht. Vielmehr bietet die Bestimmung aktueller Wandlungen kultureller Bezugsmuster, die Vertrauen und Stabilität verbürgt haben, eine Möglichkeit, die kulturellen Dynamiken biographischer Unsicherheiten einzufangen. Damit ist insbesondere der Wandel von Karrieremustern und von Zeit- und Anerkennungslogiken angesprochen, von Erwartungsstrukturen also, die jenseits struktureller Veränderungen das Wissen um diese Veränderungen bündeln. An diesen Transformationsprozessen lässt sich in Ergänzung zu der Analyse struktureller Unsicherheiten erst die Dynamik gegenwärtiger biographischer Verunsicherungen einfangen. Zudem bietet die Perspektive auf die Erosion von Erwartungssicherheiten in den Bereichen des Zeitregimes und der Anerkennungsordnung eine Möglichkeit, die in alle gesellschaftlichen Bereiche diffundierenden Unsicherheiten zu erklären. Die Bestimmung biographischer Unsicherheiten bleibt aber unvollständig, wenn nicht auch der Wandel des Biographie-
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musters selbst berücksichtigt wird: Denn erst anhand der Bestimmung veränderter biographischer Thematisierungsmöglichkeiten wird deutlich, inwieweit die neuen Unsicherheiten überhaupt biographisch aufgefangen werden können, oder durch eingeschränkte Plausibilisierungsmöglichkeiten noch radikalisiert werden. Um die verschiedenen Perspektiven auf Unsicherheiten näher bestimmen zu können, werden biographische Unsicherheiten, die aus der Prekarisierung und Subjektivierung der Arbeit resultieren, auf drei Ebenen verortet: Auf der ersten Ebene des „Systems permanenter Bewährung“ (Boes) resultiert biographische Unsicherheit aus der Rückbindung von Arbeitsplatzsicherheit an beruflichen Erfolg. Auf einer zweiten Ebene zeigt sich biographische Unsicherheit als Folge des Nebeneinanders berufsbiographischer Skripte, und zuletzt zeigt sie sich als Einschränkung der Selbstthematisierungskultur, durch welche die biographische Bearbeitung von Unsicherheit erschwert wird. Die Arbeit versteht sich so als Beitrag zu einer gesellschaftskritischen Bestimmung gegenwärtiger Veränderungsprozesse der Arbeitswelt und ihrer Konsequenzen für die Kultur der Selbstthematisierung. Sie schließt damit an die Erkenntnisse der Arbeits- und Industriesoziologie an, die sich in jüngster Zeit insbesondere mit dem tief greifenden Wandel hin zu einem „flexibel-marktzentrierten Produktionsmodell“ (Dörre 2003) und dessen Auswirkungen für die Organisation von Arbeit befasst hat. Trotz geschwächter Integrationspotenziale der Arbeitsgesellschaft und der daraus resultierenden massiven Verunsicherung, die sich in Statusängsten und Abstiegssorgen manifestiert (Böhnke 2006; Grabka/Frick 2008; Lengfeld/Hirschle 2009; Vogel 2007), wird dadurch die Bedeutung der Erwerbsarbeit als Ort sozialer Integration und Identitätsstiftung keineswegs gemindert: Wo Zugehörigkeiten erkämpft werden müssen, Arbeit ein „knappes Gut“ wird und soziale Exklusion nicht länger die Ausnahme, sondern eine allgegenwärtige Bedrohung darstellt, gewinnt die Erwerbsarbeit an Relevanz für die individuelle Selbstverortung. Insofern ist die Arbeitsgesellschaft gerade nicht am Ende, wie in den 1980er Jahren noch vermutet wurde (Offe 1984), vielmehr „setzen sich die Werte der ‘Arbeitsgesellschaft’ erst richtig durch“ (Voswinkel/Kocyba 2005: 73). Mit dem Bedeutungsgewinn von Arbeit für die Verortung der Individuen verändert sich zugleich das vormalig durch die Trennung von Arbeit und Leben charakterisierte Verhältnis von Arbeit und Subjektivität in Richtung einer intensiveren wechselseitigen Durchdringung. Der intensivierte Austausch zwischen Arbeit und Subjektivität wird in der Erforschung zeitgenössischer Subjektformen bzw. moderner Selbstverhältnisse reflektiert. Diese Untersuchungen bilden ebenfalls einen wichtigen Bezugspunkt der Arbeit, insofern hier die neu entstehenden Zugzwänge des Seins, die als „Kraftfelder“, „Leitbilder“ oder Semantiken ihre Wirksamkeit entfalten, reflektiert werden (Bröckling 2007). Wenngleich solche Arbeiten, die der Tradition der governmentalitystudies folgen, gegenwärtig äußerst populär sind, und das Verständnis von Prozessen der Subjektivierung dominieren, fokussieren sie doch insbesondere den veränderba-
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ren und variablen Aspekt von Subjektivität. Wie sich an verschiedenen jüngeren Untersuchungen über Sicherheits- und Interessensorientierungen zeigen lässt, findet allerdings bisher keine bruchlose Internalisierung der neuen Anforderungen an die Subjekte statt, wie sie in Figuren des „unternehmerischen Selbst“ und des „Arbeitskraftunternehmers“ kondensiert sind (Kämpf 2008; Manske 2006; Marrs 2007; Pongratz 2004; 2008). Es gibt offensichtlich Grenzziehungen und Widerstände der Individuen gegen die entgrenzten Anforderungen der Arbeitswelt, und die Freiheitsversprechen subjektivierter Arbeit können den „stummen Zwang von Marktrisiken“ (Dörre 2009: 201) nicht vollends überblenden. Folgt man dieser Einsicht in die Widerständigkeiten der Subjekte, so hat dies Konsequenzen für die Nutzung von „Ökonomisierungsthesen“, also den Thesen der Ökonomisierung der Subjektivität oder Ökonomisierung der Lebensführung, die einer governmentalitätstheoretischen Perspektive folgend (Foucault 2000; Bröckling et al. 2000; Bröckling 2007) solche Subjektivierungsmuster als dominant deklarieren, die die Anpassung an die Logiken der Marktherrschaft durch unternehmerisch-risikofreudiges Verhalten prämieren. Die prognostische Fassung der Arbeitskraftunternehmerthese3 wie auch die These eines Kraftfeldes des „unternehmerischen Selbst“ eint eine solche Vorstellung einer sich langfristig durchsetzenden Regierungswirkung der „Ökonomisierung von Subjektivität“: Bis in die letzten Winkel der Persönlichkeit erfolge demnach die Anpassung an die Effizienzkriterien der Ökonomie. Spitzt man die Ökonomisierungsthesen dergestalt zu, so sind sie in ihrer Fokussierung auf die Wirksamkeit von Regierungseffekten blind für die Wahrnehmung von Grenzziehungen. Allerdings wird eine solche Lesart dem Kern der Ökonomisierungsthesen nicht gerecht, insofern sie die Beschädigungen und Zumutungen durch das neue Leitbild durchaus im Blick haben. Deshalb versteht Bröckling (2007) das unternehmerische Selbst auch als überfordertes Selbst. Die Nutzung der Argumentationsfigur einer „Ökonomisierung der Subjektivität“, oder einer „Ökonomisierung der Biographie“ steht somit nicht in Konflikt zu dem Befund biographischer Unsicherheiten auf den drei genannten Ebenen; die biographischen Unsicherheiten lassen sich vielmehr als Ausdruck der Wirksamkeit ökonomisch geprägter Subjektivierungsformen werten, die in einem Spannungsverhältnis zu den Vorstellungen einer gelingenden Lebensführung stehen. Weiterhin knüpft die Arbeit an zwei zentrale Kritiken der Gegenwart an, an die Theorie der Anerkennungsverhältnisse (Honneth 1992; 2001; Voswinkel 2001, 2002; Wagner 2004) wie auch an die Theorie bzw. Kritik der Zeitverhältnisse (Rosa 2005, 2009a). Die mangelnde Stabilität und Transparenz einer AnerkennungsordUnter der prognostischen Fassung der Arbeitskraftunternehmerthese wird auf die Einschätzung von Voß und Pongratz in ihrer instruktiven Beschreibung des Arbeitskraftunternehmers von 1998 verwiesen, dass der Arbeitskraftunternehmer die bisher vorherrschende Form der Ware Arbeitskraft ablöse.
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nung sowie der Verlust von Zeitstabilität im Beschleunigungsregime lassen sich als zwei zentrale Quellen biographischer Unsicherheiten rekonstruieren. Der Wandel von Anerkennungs- und Zeitmustern findet im Bereich der Erwerbsarbeit seinen Niederschlag in Karriereskripten, die die wechselseitigen Erwartungen von Beschäftigten und Organisationen regulieren. Versprach das fordistische Unternehmen für die Loyalität der Beschäftigten die soziale und monetäre Gratifikation langfristiger Zugehörigkeit in Form von Arbeitsplatzsicherheit und steigendem Einkommen, so bietet das postfordistische Unternehmen für die Leistungsbereitschaft und Flexibilität der Beschäftigten keine Arbeitsplatzsicherheit mehr, sondern lediglich die Steigerung der eigenen Beschäftigungsfähigkeit. Diese Verschiebung gängiger Karriereskripte, die in der Karriereforschung als Abkehr von der Aufstiegskarriere hin zur boundaryless career (Arthur/Rousseau 1996) beschrieben wird, verdeutlicht ebenfalls die Erosion vormalig institutionell stabilisierter Erwartungssicherheiten. Zudem bezieht diese Arbeit Überlegungen und Erkenntnisse einer kultursoziologisch orientierten Biographieforschung ein: Biographien und Berufsbiographien stehen hier nicht als individuelle sinnhafte Konstruktionen im Fokus des Interesses, sondern vielmehr als objektivierte biographische Skripte, entlang derer sich individuelle Biographien formen. Mit Martin Kohli kann diese Betrachtungsperspektive zugespitzt als „eine nichtbiographische Konzeption von Biographie und eine nichtindividualistische Konzeption von Individualität“ (Kohli 1988: 41) bezeichnet werden. Die Nutzung dieser Ansätze ermöglicht, die gegenwärtige Diskussion um die „Ökonomisierung von Subjektivität“ aus einer unsicherheitstheoretischen Perspektive einzufangen: Dadurch werden nicht nur die organisatorisch eingeforderten Zugzwänge der Umstellung auf unternehmerisches Handeln transparent, sondern gleichermaßen die erzählerischen Zugzwänge der Selbstthematisierungskultur, die sich die Kriterien des Marktes als „Erfolgskultur“ (Neckel) längst einverleibt hat. Aus diesen Überlegungen ergibt sich die folgende Vorgehensweise: Im ersten Kapitel werden biographische Unsicherheiten als Konsequenzen einer veränderten Arbeitsorganisation nachgezeichnet. Dieser Rekonstruktion liegt die Annahme zugrunde, dass die hier vorzufindenden Unsicherheiten die Konsequenz einer gezielten Induktion von Unsicherheiten in die Organisation von Arbeit sind: Durch die Rückbindung von Arbeitsplatzsicherheit an beruflichen Erfolg werden biographische Unsicherheiten strategisch zur Disziplinierung und Leistungssteigerung der Beschäftigten eingesetzt. Der Rekonstruktion einer veränderten Arbeitsorganisation wird eine Bestimmung des Unsicherheitsbegriffs vorausgeschickt, um sodann über die Nachzeichnung der fortschreitenden Verschiebung von Marktgrenzen die unmittelbar im Arbeitskontext entstehenden Unsicherheitspotenziale von Prekarisierungs- und Subjektivierungsprozessen aufzudecken. Zur Kontextualisierung werden die gegenwärtigen Veränderungen der Organisation von Arbeit von der Krise des Fordismus ausgehend rekonstruiert. Die Rekonstruktion des Gestaltwandels der Arbeitsgesellschaft kann freilich nicht gelingen, ohne die Problematisierung der
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Wandlungstendenzen in der Forschungspraxis mit zu reflektieren. Insofern werden Prekarisierung und Subjektivierung der Arbeit zugleich als zwei zentrale Diskursstränge der Thematisierung des Wandels der Arbeit begriffen. Das zweite Kapitel behandelt das Brüchigwerden von Erwartungssicherheiten auf der Ebene berufsbiographischer Skripte: Mit dem Wandel der Organisation von Arbeit wird auch das Wissen über die Ausgestaltung einer den neuen Anforderungen entsprechenden Erwerbsbiographie fragil. Wo früher das berufsbiographische Skript der Normalarbeitsbiographie als Orientierungspunkt für die Gestaltung der eigenen Erwerbsbiographie herangezogen werden konnte, ist mit der Genese eines neuen und zugleich dominanten berufsbiographischen Skriptes der boundaryless career nun fraglich, welches dieser beiden Formate als Blaupause der Lebensplanung herangezogen werden soll. Das Fehlen eines stabilen berufsbiographischen Skriptes kann als ein weiterer Ausdruck der gegenwärtigen biographischen Unsicherheiten begriffen werden. Der Wandel von Karrieremustern impliziert zugleich einen Wandel von Zeit- und Anerkennungslogiken, der eine langfristige Planungsmöglichkeit und prospektive Anerkennung einschränkt. Die Verschiebungen hin zu einer Kurzfrist-Zeitlogik und einer Anerkennungsordnung, die lediglich besondere Leistungen und Erfolge honoriert, werden ebenfalls reflektiert, da Zeit- und Anerkennungsverhältnisse als Orte der Subjekt-Struktur-Synchronisation auch über die Arbeitswelt hinaus die Veränderung von Erwartungssicherheiten aufgreifen. Kapitel drei analysiert biographische Unsicherheiten auf der Ebene der Biographie bzw. der Selbstverhältnisse. Die These der Subjektivierung der Arbeit, die ja ein gesteigertes Austauschverhältnis zwischen dem Subjekt und der Arbeit beschreibt (vgl. Kleemann et al. 2002), impliziert zugleich eine veränderte Relevanzsetzung von Arbeit in Selbstthematisierungsprozessen: Die biographische Selbstthematisierung gewinnt in der Arbeit an Relevanz, zugleich wächst aber auch die Bedeutung der Arbeit für biographische Selbstthematisierungen. Das Konzept der Biographie ist ebenso schillernd wie dasjenige der Identität; es akzentuiert aber im Gegensatz zum Identitätsbegriff insbesondere die Temporaldimension und ist damit in besonderer Weise geeignet, die veränderten Anforderungen der Selbstvergewisserung und darstellung unter den Bedingungen unsicherer Zeiten einzufangen (FischerRosenthal 1999; Wohlrab-Sahr 2006). Zugleich hat die jüngere von ethnographischer Forschung inspirierte Biographieforschung begriffliche Mittel bereitgestellt, mittels derer die Biographie als Ort des Verwiesenseins von Fremdanforderungen und Selbstansprüchen positioniert wird, womit die Anerkennungsdimension biographischer Aushandlungsprozesse in den Blick tritt: doing biography wird als interaktiver Herstellungsprozess der Biographie gefasst, bei dem auf geteilte biographische Deutungsstrukturen und Muster, eben „biographische Formate“ oder „biographische Skripte“ zurückgegriffen wird (vgl. Bukow et al. 2006). Nimmt man nun die These des Bedeutungsgewinns der Arbeit für biographische Selbstthematisierungen ernst, so kann man in der gegenwärtigen Selbstthematisierungskultur die Tendenz
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einer Ökonomisierung der Biographie ausmachen: Damit ist gemeint, dass die Performanz von „Erfolgsfähigkeit“ (Krömmelbein) unter den Bedingungen gewandelter Bewährungsproben an Bedeutung für biographische Selbstthematisierungen gewinnt. Durch die Auflösung der Trennung von Berufsbiographie und Biographie erlangen zudem die Unsicherheiten berufsbiographischer Planung eine existentielle Dimension: Ausbleibender Erfolg in der Arbeitswelt wird damit als persönliches Versagen gedeutet. Damit lassen sich auf den Ebenen der Arbeitsorganisation, der erwerbsbiographischen Erwartungssicherheiten sowie der biographischen Selbstthematisierungen biographisch relevante Unsicherheiten identifizieren, die nicht voneinander isoliert, sondern nur in ihrer wechselseitigen Vermittlung die Dynamik aktueller Unsicherheiten widerspiegeln: So ist ohne die strategische Nutzung der Unsicherheit durch betriebliche Leistungspolitiken der Bedeutungsgewinn eines neuen berufsbiographischen Skriptes gar nicht plausibel zu beschreiben. Darüber hinaus bedingt der Wandel der Selbstthematisierungskultur hin zu einer „Ökonomisierung der Biographie“ eine Dramatisierung der auf der zweiten Ebene charakterisierten Probleme instabiler berufsbiographischer Skripte: Nämlich erst dadurch, dass auf der Ebene biographischer Selbstthematisierung der Stellenwert der Arbeit steigt, gewinnt die Instabilität der erwerbsbiographischen Erwartungssicherheiten an Virulenz für die Biographiekonstruktionen.
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1.1 Einleitung Bei der Suche nach einer einheitlichen Terminologie, mit der das qualitativ Neue des gegenwärtigen Kapitalismus benannt werden kann, stößt man auf eine immense Pluralität der Beschreibungskategorien, mit denen die Phase nach dem „kurzen Traum immerwährender Prosperität“ (Lutz 1984) bezeichnet werden soll. Hier stehen solche Begrifflichkeiten, die veränderte Rationalisierungslogiken der industriellen Fertigung benennen wie z.B. lean production, neben jenen, die bemüht sind, die Verschiebung dominanter Wirtschaftssektoren wie den Dienstleistungssektor in den Vordergrund der Analyse zu stellen (vgl. Bell 1985; Gartner/Riessmann 1978). Diagnosen wie die eines „Finanzmarktkapitalismus“ (Windolf 2005) oder Shareholder-Value-Kapitalismus, in denen die Entwicklung der Ökonomie und Gesellschaft zentral an das Geschehen auf den globalen Finanzmärkten rückgebunden wird, oder Diagnosen eines „neuen Marktregimes“ (Dörre/Röttger 2003) knüpfen an die Vorstellung an, dass in der „Verschiebung von Marktgrenzen“ (Brinkmann 2003) der deutlichste Kontrast zu früheren Konfigurationen des Kapitalismus liegt. Diese Einschätzung, dass der „Markt“ nunmehr die zentrale Bezugsgröße und auch semantische Bezugsfigur im aktuellen „postfordistischen“ Regime ist, gilt in der gegenwärtigen deutschsprachigen Debatte als äußerst populär.4 Die These der „Vermarktlichung“ besagt zunächst zweierlei: Einerseits wird die Marktlogik nunmehr zum internen Steuerungsmodell der Unternehmen. Dies zeigt sich sowohl an der Ausrichtung an der Konkurrenz mittels benchmarks sowie an der Dynamisierung von Leistungserwartungen, die für jedes Jahr eine weitere Gewinnsteigerung vorsieht. Die Hereinnahme solcher Steuerungslogiken funktioniert dabei über die informatorische Überformung der betrieblichen Realität. Andererseits werden die Beschäftigten nunmehr dazu aufgefordert, sich „unternehmerisch“ zum Markt zu verhalten. Moldaschl (1998) spricht hier von einer „Internalisierung des Marktes“ (vgl. auch Moldaschl/Sauer 2000; Sauer/Döhl 1996), wobei sich „Internalisierung“ sowohl auf die Einverleibung von Marktlogiken durch die UnterKonkurrenz erfährt die Semantik des Marktes gegenwärtig insbesondere durch die Figur des „Netzwerks“ in Der neue Geist des Kapitalismus von Luc Boltanski und Eve Chiapello (2003), mit der die AutorInnen auf die spezifischen Formen der Bindung und Kooperation im neuen Kapitalismus verweisen.
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F. Hardering, Unsicherheiten in Arbeit und Biographie, DOI 10.1007/978-3-531-94048-9_2, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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nehmen wie auch auf die gewandelten Anforderungen an die Beschäftigten hinsichtlich ihrer Qualifikationen, ihrer Zeitautonomie und ihres Berufsverständnisses bezieht (Moldaschl 1997). Der Prozess der „Verschiebung von Marktgrenzen“ bezeichnet damit -zugespitzt- die Ausblendung der vom Markt abgeschirmten ArbeitnehmerInnenposition: Wo früher der Dreischritt ArbeitnehmerIn, Unternehmen, Markt galt, und das Unternehmen gleichsam als Puffer zwischen Arbeitnehmer und Markt fungierte, steht nunmehr dem vermarktlichten Unternehmen das „unternehmerische Selbst“ (Bröckling 2002; 2007) unmittelbar gegenüber. Die Vermarktlichung wird in zahlreichen Ansätzen als eine entscheidende Ursache für den radikalen Wandel der Erwerbsarbeitsgesellschaft angeführt (vgl. Sauer 2005). Als Folgen der Vermarktlichung für die Erwerbsarbeit werden Prozesse der Entgrenzung, Subjektivierung, Flexibilisierung und Prekarisierung genannt. Und auch diese Wandlungstendenzen der Arbeitsorganisation werden häufig als dominante Beschreibungskategorien für die gegenwärtigen Erscheinungsformen des Kapitalismus ausgewiesen.5 Wo Richard Sennett von einem flexiblen Kapitalismus spricht, stellt er die zunehmend geforderte und aus seiner Sicht charaktergefährdende Flexibilität als entscheidendes Merkmal des Kapitalismus heraus. Ähnlich gewichtig positioniert auch Voß (1998: 473) die Flexibilität, wenn er formuliert, dass „die meisten Entwicklungen (im Bereich der Organisation von Arbeit, Anm. F.H) pauschal als ‚Flexibilisierung‘ umschrieben werden“ können. Voß ist durchaus zuzustimmen, wenn er das Ziel der gegenwärtigen betrieblichen Umstrukturierungsmaßnahmen darin sieht, „etablierte Strukturen aufzubrechen und mehr oder weniger dauerhaft zu dynamisieren und zu verflüssigen“ (1998: 473). Die Dynamisierung von betrieblichen Strukturen erfolgt aber allzu häufig unter der Berufung auf den Sachzwang des Marktes und hat Konsequenzen für die Beschäftigten, die gleichermaßen als Prekarisierung oder Entgrenzung (Döhl/Kratzer/Sauer 2000) beschrieben werden können. Bereits hier zeigt sich, dass solche Beschreibungskategorien erst dann ihr analytisches Potenzial entfalten, wenn sie als nebeneinander stehende und interdependente Elemente eines übergreifenden Wandels begriffen werden. Und es scheint nicht mehr als ein Ausdruck der Verlegenheit oder Verzweiflung um eine adäquate Benennung der Gesamtdynamik zu sein, dass einzelne dieser vernetzten Prozesse herausgegriffen und verabsolutiert werden. Wie also kann das Zeitalter der sogenannten „postfordistischen“ Ära angemessen charakterisiert werden? Es soll im Folgenden weniger darum gehen, den bisher vorhandenen Etiketten ein weiteres hinzuzufügen. Vielmehr ist das Ziel der nachstehenden Überlegungen, die Unsicherheit als dasjenige Charakteristikum der gegenwärtigen Transformationen der Arbeitsgesellschaft herauszuschälen, welches in verschiedenen AusprägunAls Beispiel kann hier die Formel des „subjektivierten Kapitalismus“ (Voß/Rieder 2007) genannt werden; innerhalb derer ein Strukturmerkmal der Arbeitswelt als genuines Merkmal des Kapitalismus herausgestellt wird.
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gen und Erscheinungsformen den heterogenen Wandlungstendenzen der Verfasstheit von Arbeit zu Grunde liegt. Prozesse wie Vermarktlichung, Subjektivierung und Prekarisierung der Arbeit sollen im Folgenden als Elemente einer „Ökonomie der Unsicherheit“ begriffen werden. Damit ist gemeint, dass die verschiedenen Trends und Wandlungstendenzen der Arbeit sich darin einen, dass zum einen strukturelle wie auch biographische Unsicherheit ein Erkennungsmerkmal der postfordistischen Konstellation darstellen, zum anderen aber die Unsicherheit (wieder) bewusst als Instrument der Leistungssteuerung eingesetzt wird. Die Formel einer „politischen Ökonomie der Unsicherheit“ (Hervorh. F.H.) findet sich bei Ulrich Beck ([1999] 2007: 28), der damit auf die zunehmende Deregulierung und Flexibilisierung der Arbeit in Deutschland seit den 1980er Jahren hinweist: „(...) Das Normalarbeitsverhältnis beginnt sich sowohl biographisch als auch betrieblich aufzulösen, und an die Stelle der sozialstaatlichen Ökonomie der Sicherheit tritt eine politische Ökonomie der Unsicherheit und der Entgrenzung“ (ebd.: 86).6 Die Zunahme prekärer Beschäftigungsformen sei eine Entwicklung der westlichen Gesellschaften der letzten vier Dekaden, die als „Brasilianisierung des Westens“ bezeichnet werden könne (ebd.: 28): „Es ist der Einbruch des Prekären, Diskontinuierlichen, Flockigen, Informellen in die westlichen Bastionen der Vollbeschäftigungsgesellschaft. Damit breitet sich im Zentrum des Westens der sozialstrukturelle Flickenteppich aus, will sagen: die Vielfalt, Unübersichtlichkeit und Unsicherheit von Arbeits-, Biographie- und Lebensformen des Südens.“ (ebd.: 28)
Die „politische Ökonomie der Unsicherheit“ beschreibt damit ein neues Stadium des Zusammenspiels von politischen und wirtschaftlichen Akteuren, welches durch einen Machtverlust des Staates gekennzeichnet ist. Auch Elmar Altvater und Brigitte Mahnkopf (2002: 349) nutzen die Formel der „politischen Ökonomie der Unsicherheit“ und sprechen von einer Rückkehr derselben. Galt im kurzen goldenen Zeitalter der stabilen Ausprägung sicherheitsgewährender Institutionen die Unsicherheit als eingedämmt oder gar überwunden, so ist sie nun in die vormals geschützten Bastionen der Arbeitsgesellschaft zurückgekehrt. Innerhalb der Diagnosen von Beck sowie von Altvater und Mahnkopf entfaltet sich die „Politische Ökonomie der Unsicherheit“ also dort, wo durch eine gewandelte Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik den Flexibilisierungsbestrebungen keine Begrenzungen mehr auferlegt werden. Unsicherheit erscheint ihnen als grundlegendes Charakteristikum der Arbeitsgesellschaft. In jüngerer Zeit ist die Formel der „Ökonomie der Unsicherheit“ zu der These einer „neuen Ökonomie der Unsicherheit“ weitergeführt worden (vgl. Marrs/Boes An anderer Stelle spricht Beck auch von der „politische(n) Ökonomie des Risikos“ (ebd.: 30), wobei Risiko hier im Sinne einer Gefahr gemeint ist.
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2003; Marrs 2007).7 Damit spielen Marrs und Boes auf einen neuen Kontroll- oder Herrschaftsmodus an, der auf einer systematischen Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse basiert. Die AutorInnen fokussieren dabei nicht den Rückbau des Sozialstaates, sondern vielmehr die Ebene betrieblicher Leistungspolitik. Der geschwächte Sozialstaat erscheint für sie als Ermöglichungs- oder Legitimationsrahmen einer gewandelten Leistungspolitik, welche die Beschäftigungssicherheit zu einer „abhängigen Variable“ des Markterfolges, und damit der Leistungsbeiträge macht (Marrs 2008: 169). Das bedeutet, dass den Beschäftigten über die Kopplung ihres Leistungsbeitrages an die Arbeitsplatzsicherheit nunmehr selbst die Verantwortung für den Erhalt ihres Arbeitsplatzes, der Abteilung und des Unternehmens zugeschrieben wird. Entspricht der Leistungsbeitrag der Beschäftigten nicht den betrieblichen Leistungsvorgaben, so schlägt sich dies nicht länger in ausbleibenden Gehaltssteigerungen und negativen Beurteilungen nieder; vielmehr erstrecken sich Konsequenzen auf das Arbeitsverhältnis selbst. Unsicher wird mit dieser Koppelungsstrategie für die Beschäftigten zweierlei: Der Leistungsbeitrag, bei dem man sich nie sicher sein kann, dass er den Anforderungen genügt, und das Beschäftigungsverhältnis, welches über die Unsicherheit des angemessenen Leistungsbeitrages kaum mehr als sicher wahrgenommen werden kann. Die Erzeugung eines Zustandes dauerhafter Unsicherheit ist damit elementarer Bestandteil einer neuen Herrschaftslogik (Menz 2009). Dieser Gedanke einer Herrschaft auf der Basis allgemeiner Unsicherheit findet sich bereits bei Bourdieu, der von einer bewussten Nutzung der von Unsicherheit geprägten Situation durch die Unternehmen spricht. Prekarität, so Bourdieu, sei nicht die zufällige Folge der Globalisierung, sondern das „Produkt eines politischen Willens“ (Bourdieu 1998: 99). Dabei würde die bestehende Unsicherheit von den Unternehmen ausgenutzt, um Rationalisierungsmaßnahmen durchzusetzen. ArbeitnehmerInnen würden also „der permanenten Drohung des Arbeitsplatzverlustes“ ausgesetzt, damit sie ihr Arbeitspensum dergestalt steigern, dass Einsparungen für das Unternehmen möglich werden (vgl. ebd.). Neben Bourdieu haben verschiedene weitere AutorInnen Unsicherheit in das Zentrum ihrer Gegenwartsdiagnosen gerückt; und dabei das Gravitationszentrum Marrs hat die Konturen einer „Ökonomie der Unsicherheit“ im Bereich von Film und Fernsehen untersucht. In diesem Beschäftigungssektor herrschen enorme Flexibilitätsanforderungen, die in dieser Form (bisher) kaum in anderen Beschäftigungsfeldern vorzufinden sind. Zugleich gelten die Filmschaffenden als selbstständige Dienstleistungsarbeiter als eine Art Avantgarde der Arbeitsgesellschaft, da sie mit Flexibilitätsanforderungen konfrontiert sind, die sich in Zukunft auch in anderen Sektoren vorfinden lassen. Und tatsächlich scheinen die Charakteristika, die die hoch entwickelte „Ökonomie der Unsicherheit“ in diesem Bereich aufweist, zugleich auch auf andere Branchen und Beschäftigungsfelder übertragbar zu sein: Denn auch in jenen Bereichen wird die Beschäftigungsfähigkeit zu einer zentralen Ressource, werden die Zukunftsperspektiven der Beschäftigung massiv beschnitten und materielle Unsicherheiten virulent (vgl. Marrs 2008: 170).
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der Unsicherheiten in den Wandlungen der Arbeitsgesellschaft ausgemacht. Die Diagnose einer wachsenden Unsicherheit und Ungewissheit, die bereits Gegenstand der Risikosoziologie der 1980er und 1990er Jahre war (Beck 1986; Bonß 1995), scheint gegenwärtig wieder an Popularität zu gewinnen. So sehen van Dyk und Lessenich (2008: 13) in der These der ‘Wiederkehr der Unsicherheit’ eine „populäre Zeitdiagnose“, und auch für Zygmunt Baumann (2008) ist das Leben in der „flüchtigen Moderne“ ein „Leben in der Ungewissheit“. Diese Ungewissheit werde aus verschiedenen Quellen gespeist: aus den amorphen Strukturen der Moderne, dem Auseinanderfallen von Macht und Politik, dem Rückbau des Sozialstaates und einem daraus resultierenden Gemeinschaftsverlust, sowie dem Ende der Langfristigkeit und den individuellen Risikozuweisungen durch Individualisierungsprozesse (Baumann 2008: 7f.). Baumann hat damit die zentralen Achsen der neuen Unsicherheitsproblematik benannt, deren Analyse auch andere Gesellschaftsdiagnosen prägen. So spricht Robert Castel (2000) von der Wiederkehr „sozialer Unsicherheit“ und analysiert unter diesem Schlagwort vor allem den Wandel des Sozialstaates und den Wandel der Arbeit, den Gemeinschaftsverlust und den Prozess der Ausweitung eines „negativen Individualismus“. Mit diesen Schlagwörtern ist freilich nur in groben Zügen umrissen, welche Aspekte die neue Unsicherheit umfasst. Verdichtet finden sich einige dieser Stränge unter der noch relativ jungen Diagnose einer Prekarisierung der Arbeit. Zentral für diese Diskussion ist die Frage nach neuen Bruchlinien und Ungleichheiten, deren Ursprünge in der sich transformierenden Arbeitswelt wurzeln. Dabei geht es neben der Verschärfung sozialer Ungleichheiten durch die Neujustierung des Wohlfahrtsstaates und die Zunahme prekärer Beschäftigungsverhältnisse gleichermaßen um das Gefühl, beruflich dauerhaft zur Disposition zu stehen, keinen festen Platz in der Gesellschaft mehr einzunehmen oder sich auf „rutschenden Abhängen“ (Rosa 2005) zu befinden. Der Begriff der Prekarisierung hat sich hier etabliert, um auf die Ausbreitung befristeter und nicht existenzsichernder Beschäftigungsverhältnisse und der damit einhergehenden Zunahme von Instabilitäten und Unplanbarkeiten von Erwerbsbiographien hinzuweisen. Die Prekarisierung der Arbeit ist allerdings nur ein Moment der neuen Ökonomie der Unsicherheit, das hier Beachtung finden soll. Neben dieser Prekarisierung der Beschäftigung steht gleichermaßen die Unsicherheit durch Subjektivierung sowie die Unsicherheiten durch veränderte Leistungspolitiken im Zuge des Vermarktlichungsprozesses, die das gegenwärtige Unsicherheitsregime auszeichnen. Diese verschiedenen Aspekte der Unsicherheit sollen im Folgenden genauer nachgezeichnet werden. Wie zu zeigen ist, können die biographischen Unsicherheiten, über die gegenwärtig verhandelt wird, erst durch das Zusammenspiel dieser verunsichernden Faktoren begriffen werden. Zuvor stellt sich allerdings die Frage, wie genau ein Begriff von Unsicherheit gefasst werden muss, damit er zu einer tragfähigen Analysekategorie wird.
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1.2 Konturen der neuen Unsicherheitsproblematik Die „Ökonomie der Unsicherheit“ näher zu charakterisieren bedeutet auch, den Begriff der Unsicherheit zu bestimmen. Diese Unternehmung wird dadurch erschwert, dass Sicherheit und Unsicherheit als Schlüsselbegriffe der Moderne gehandelt werden (vgl. Bonß 1995; Kaufmann 2003): So gilt die Moderne als Zeitalter der Kontingenz und des Wissens um diese Kontingenz; zugleich ist die Herstellung von Sicherheiten für die politische Theorie des modernen Staates ein Zentralthema. Innerhalb solcher Theorien, die um das „Ordnungsproblem“ kreisen, welches die sozialwissenschaftliche Theorie seit ihren Anfängen begleitet, erscheint Unsicherheit als Zustand, der überwunden werden will und Sicherheit als derjenige, der hergestellt werden soll. So sieht Hobbes in De Cive den „Ursprung aller großen und dauernden Verbindungen der Menschen nicht in gegenseitigem Wohlwollen, sondern in gegenseitiger Furcht“ (1977: 79). Furcht will er dabei verstanden wissen nicht als Schrecken, sondern als „ein gewisses Voraussehen von kommendem Unheil“. Misstrauen und Verdacht seien ebenso Elemente des Furchtsamen wie auch die „Fürsorge gegen die Gefahr“. Für Hobbes bedingt die „natürliche(n) Gleichheit der Menschen“ eine permanente Unsicherheit, die Einzelne auf sich allein gestellt nicht zu überwinden vermögen. Unsicherheit ist für Hobbes das zentrale Charakteristikum des Naturzustandes und damit das entscheidende Moment, welches durch die Figur des Leviathan überwunden werden soll. Mit dieser Fokussierung auf die Herstellung von Sicherheit dient die Unsicherheit zwar als Ausgangspunkt der Theoriebildung, tritt damit als genuiner Reflexionsgegenstand aber nicht in den Blick (vgl. Bonß 1995: 12). Bonß (1995:12) spricht gar von einer „Verdrängung des Problems von Risiko und Unsicherheit“, die aus der Fokussierung auf Ordnungsfragen resultiert. Die Soziologie des Risikos konnte sich dementsprechend erst durch eine Perspektivverschiebung auf die Unsicherheiten selbst entfalten, was zunächst über die Analyse technischer Risiken gelang. Erst in den 1980er und 1990er Jahren entwickelte sich so eine Soziologie des Risikos, die Unsicherheiten nicht länger als „Abweichung von der Ordnung“ (Bonß 1995: 13) einstufte.8 Im Rahmen der Risikosoziologie wurden auch die begrifflichen Mittel zur Differenzierung von Unsicherheitsphänomenen geschärft. Bonß, der das begriffliche Inventarium der Risikosoziologie entscheidend geprägt hat, differenziert zwischen Unsicherheiten und Ungewissheiten sowie zwischen „Risiken“ und „Gefahren“. Während Ungewissheit sich auf die Ebene des Wissens und der Erkenntnis bezieht und damit auf die kognitive Dimension, bezieht sich Unsicherheit auf die Dimension sozialer Handlungen (vgl.
Vgl. hierzu: Bechmann 1997; Evers/Nowotny 1987; Luhmann 1991; Lupton 1999; Hiller/Krücken 1997; Beck 1986; Bonß 1995; Bonß 1997; Zinn 2005, 2006, 2007; Zinn/TaylorGooby 2006.
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Bonß 1995: 35).9 Das Risiko gilt für Bonß als „spezifische Form der Konstitution und Aneignung von Ungewissheit und Unsicherheit“ (ebd.: 36). Der Begriff des Risikos entwickelte sich, wie Bonß im Rahmen einer Begriffsgeschichte deutlich macht, im Kontext neuer unternehmerischer Wagnisse, die in den italienischen Städten des 12. und 13. Jahrhunderts durch den neu florierenden Fernhandel getätigt wurden. Die Unsicherheiten, auf die sich die Kaufmänner in diesem Geschäft einließen, waren von ihnen kalkuliert und galten somit nicht als „Gefahren“ sondern eben als „Risiken“ (ebd.: 49f.). Aus diesem ursprünglichen Risikobegriff leitet sich denn auch das gegenwärtige Verständnis von Risiko ab: Risiken gelten im sozialen Kontext als Ereignisse, die dem eigenen Handeln, den eigenen Entscheidungen zugerechnet werden und somit als beeinflussbar erscheinen (vgl. Bonß et al. 2004: 215). Der Subjektbezug spielt damit für Risiken eine wesentliche Rolle; ohne ein Subjekt, was sich für die Unsicherheit entscheidet, gibt es kein Risiko. Gefahren dagegen gelten als „objektive“ Unsicherheiten, insofern sie „extern gesetzte, diffus und zugleich allgegenwärtige Bedrohung(en)“ beschreiben (Bonß 1995: 45). Es bedarf also keines Subjektes, welches die Unsicherheit herausfordert, damit Gefahren entstehen. Gefahren gelten in diesem Verständnis als unbeeinflussbar (vgl. Bonß et al. 2004: 215). So klar diese Differenzierung auch ist, umso schwieriger und uneindeutiger wird es bei der Zuordnung von „Risiken“ und „Gefahren“. Denn ob etwas als „Risiko“ oder „Gefahr“ eingestuft wird, hängt insbesondere damit zusammen, ob die Verantwortung für die Bekämpfung der Unsicherheit bestimmten Personen zugeschrieben werden soll, oder ob jene aus der Verantwortung genommen werden sollen. Eine Unsicherheit als „Gefahr“ auszuweisen bedeutet dann, dass die Personen als ohnmächtig betrachtet werden, gegen die Unsicherheiten Vorsorge zu treffen. Eine Unsicherheit als „Risiko“ zu beschreiben führt hingegen dazu, dass die Unsicherheit auch als bewältigbar angesehen wird. Ob etwas als „Risiko“ oder „Gefahr“ etikettiert wird, hängt damit einerseits an gängigen Deutungen und andererseits an strategischen Überlegungen von Akteuren, die Verantwortung von Personen oder Institutionen herauszustreichen, um dadurch die Verantwortung nicht selbst angelastet zu bekommen. In diesem Sinne sieht Castel in Becks „Risikogesellschaft“ eine Risikoideologie am Werk (2005: 89), durch welche Gefahren in Risiken umgedeutet würden. Die neuen technologischen oder gesundheitlichen Risiken, die sich in der „Risikogesellschaft“ zeigten, seien aber im eigentlichen Wortsinne keine Risiken, sondern „vielmehr verhängnisvolle Eventualitäten, Bedrohungen oder Gefahren“ (Castel 2005: 84), oder gar „Schädigungen oder Belastungen“ (Castel 2005: 82f.). Die Umdefinition von Unsicherheiten in Risiken et vice versa ist damit ein hochbrisantes Feld, wel9 So sinnvoll diese Differenzierung auch erscheint, wird sie in anderen Arbeiten im Kontext der Soziologie des Risikos und der Unsicherheit nicht konsequent durchgehalten.
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ches sowohl in der Debatte über den „aktivierenden Sozialstaat“ (Lessenich 2008) wie auch in der Individualisierungsdiskussion immer wieder zum Streitpunkt wird. Über die Zergliederung des Unsicherheitsbegriffes hinaus ist aber bisher über die Natur der Unsicherheit wenig gesagt. Der Begriff der Unsicherheit entzieht sich scheinbar einer Explikation. Eine Annäherung gelingt über den Gegenbegriff der Unsicherheit, den der Sicherheit. Hier sind vor allem die Ausführungen von Kaufmann (1973; 2003) fruchtbringend, der sich ausführlich mit der Sicherheitsproblematik befasst hat. Für Kaufmann resultiert die Attraktivität der „Wertidee“ der Sicherheit daraus, dass sie auf die Unsicherheit als grundlegendes Problem der Moderne scheinbar eine Antwort bietet. Sicherheit als Wertidee verweist auf eine lange Tradition und war bereits zur römischen Kaiserzeit ausgeprägt (vgl. Kaufmann 2003: 74f.). Neben einem politischen Verständnis der securitas, im Rahmen derer Sicherheit als „Zustand gesicherten und geregelten Weltfriedens“ gedeutet wurde (Ilberg 1909/15: 596; zit. nach Kaufmann 2003: 75), stand securitas auch für einen „Seelenzustand, der als Freiheit von Schmerz und Unwohlsein die Voraussetzung eines glücklichen Lebens ist“ (Makropoulos 1995: 745). Bereits hier zeichnet sich eine grundlegende Spannung des Sicherheitsbegriffes ab, auf die Kaufmann hinweist: „Sicher“ bezieht sich danach entweder auf Gefahrlosigkeit im Sinne eines „objektivierbaren Sachverhalt(s)“ oder auf einen „subjektiven Zustand der Ruhe, des Unbesorgtseins bzw. der Furchtlosigkeit“ (Kaufmann 2003: 78f.). Diesen Dimensionen „objektiver“ und „subjektiver“ Sicherheit entsprechen unterschiedliche Sicherheitskonzepte, die Kaufmann als „Systemsicherheit“ und „Selbstsicherheit“ bezeichnet (vgl. ebd.: 88). Unter dem Stichwort der „Systemsicherheit“ geht er auf verschiedene Formen der gesellschaftlichen Herstellung von Sicherheiten ein und nennt exemplarisch die Bereiche Politik, Versicherungswesen und Technik, innerhalb derer Sicherheiten auf ganz unterschiedliche Weisen hergestellt werden. Sicherheit im Konzept der Systemsicherheit erscheint als „wünschenswerte[r] Systemzustand“, als „Leitbild beherrschbarer Komplexität“ (ebd.: 90). „Selbstsicherheit“ definiert er dagegen als „personenbezogene Konzeption von ‘Sicherheit’ als Zustand des Bewusstseins und Gemütes, die durch Begriffe wie Ruhe, Freiheit von Angst und Furcht, aber auch Selbstvertrauen und Charakterfestigkeit erläutert werden kann“ (ebd.: 88). Erst mit der Selbstsicherheit würde die „menschliche Betroffenheit“ in den Blick rücken, die den Begriffen von Sicherheit und Unsicherheit anhaftet (ebd.: 94). Für das Verständnis dieser beiden Sicherheitskonzepte ist aber entscheidend, in welchem Verhältnis „Systemsicherheit“ und „Selbstsicherheit“ zueinander stehen. Diese Frage nach der Koppelung von objektiver und subjektiver Sicherheit ist zugleich ein Zentralthema des jüngeren Unsicherheitsdiskurses, weshalb die Überlegungen von Kaufmann hier aufgegriffen und neben den Positionen anderer UnsicherheitstheoretikerInnen diskutiert werden.
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Beim Verständnis der Bindung von objektiver und subjektiver Sicherheit greift Kaufmann auf eine Figur zurück, die dem Tocqueville-Paradox10 ähnlich ist: Ähnlich wie Tocqueville beobachtete, dass mit dem Rückgang von Ungleichheiten die Forderungen nach Gleichheit weiter steigen, beobachtet Kaufmann „dass nämlich Menschen umso mehr nach Sicherheit zu streben scheinen, je gesicherter die Bedingungen ihrer Existenz sind.“ (Kaufmann 2003: 93). Dieses sogenannte „Sicherheitsparadoxon“ findet sich auch in den Überlegungen von Castel: „Obwohl diese Gesellschaften von Sicherungssystemen umgeben und durchzogen sind, bleiben die Sorgen um die Sicherheit allgegenwärtig. Dieser beunruhigenden Einsicht kann man nicht einfach dadurch ausweichen, dass man das Gefühl der Unsicherheit zu einer bloßen Wahnvorstellung der Bessergestellten erklärt, die den Preis an Blut und Tränen vergessen und aus den Augen verloren haben, wie grausam und unerbittlich das Leben in früheren Zeiten war. Dieses Gefühl zeitigt derartige soziale und politische Wirkungen, dass es unbestreitbar Teil unseres Alltags ist und zu großen Teilen sogar unsere soziale Erfahrung strukturiert. Es lässt sich nicht leugnen: Obwohl die schlimmsten Auswüchse von Gewalt und sozialer Verelendung weitgehend eingedämmt wurden, beschäftigt die Sorge um die Sicherheit immer noch weite Teile der Bevölkerung.“ (Castel 2005: 8)
Mit dem Sicherheitsparadoxon wird ein Verhältnis innerhalb moderner Gesellschaften expliziert, welches der intuitiven Erfahrung zunächst entspricht: Das Bedürfnis nach Sicherheit kann keine Erfüllung finden, da sich bei jedem Fortschritt hin zu mehr Sicherheit auch die Erwartungen verschieben. Das neue Sicherheitsniveau wird zur Normalität, die als selbstverständlich erachtet wird. Zugleich bleibt die Idee der Sicherheit als Wertidee abstrakt und es gibt kein absolutes Maß, entlang dessen Werte als eingelöst betrachtet werden können. Kurzum: Es sind keine sozialen Verhältnisse denkbar, in denen Sicherheit, Freiheit oder Gleichheit absolut erfüllt sind. Die ganze Anlage des Sicherheitsparadoxons beruht damit auf dem Verständnis von der Sicherheit als Wertidee. Solche Wertideen sind mit Kaufmann (2003: 74) „wie Sterne: unerreichbar und doch richtungsweisend.“ Bei dem Versuch, die Frage nach dem Verhältnis objektiver und subjektiver Sicherheit auf das Paradoxon rückzubeziehen, gerät man durch die Werthaftigkeit des Sicherheitsbegriffes in Schwierigkeiten: Denn da beide Ebenen, Systemsicherheit wie auch Selbstsicherheit von der Idee der Sicherheit als unerreichbarem Wert durchkreuzt sind, wird 10 Diesen Begriff hat insbesondere Geißler (2006: 301) geprägt. Bei Tocqueville lautet es: „Sind die gesellschaftlichen Bedingungen alle ungleich, so fällt keine noch so große Ungleichheit kränkend auf; wogegen der kleinste Unterschied inmitten der allgemeinen Gleichförmigkeit Anstoß erregt; deren Anblick wird umso unerträglicher, je durchgehender die Einförmigkeit ist. Daher ist es natürlich, dass mit der Gleichheit selber die Liebe zu ihr unaufhörlich zunimmt; indem man sie befriedigt, steigert man sie.“ (Tocqueville 1835/1840: 791)
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über das Verhältnis eine objektiven Sicherheit bzw. Systemsicherheit und der Selbstsicherheit letztlich im Paradoxon nichts ausgesagt. Das Paradoxon führt damit durch seine Fixierung auf den Wert der Sicherheit vorbei an „objektiven“ Sicherheitslagen und „subjektiven“ Sicherheitswahrnehmungen und ist für das Verständnis des Zusammenspiels von unterschiedlichen Unsicherheitsdimensionen nicht besonders hilfreich (vgl. Kronauer 2008: 50).11 Wie aber kann nun die Differenz zwischen „objektiver“ und „subjektiver“ Unsicherheit näher bestimmt werden, und warum ist diese Differenzierung für die Bestimmung des Unsicherheitsbegriffs überhaupt so essentiell? Auf letztere Frage gibt besonders die aktuelle Prekarisierungsdiskussion eine Antwort, insofern hier im Anschluss an die Nutzung äußerst unscharfer Unsicherheitsbegriffe eine adäquate Relationsbestimmung von Unsicherheitsdimensionen immer wieder eingefordert wurde (vgl. Dörre 2005; Dörre/Kraemer/Speidel 2004; Kraemer 2006; 2007). Verständlich wird dieses Bestreben nach begrifflicher Differenzierung, sobald man einige Konnektionsversuche von objektiver und subjektiver Unsicherheit näher betrachtet. So findet sich in Bourdieus äußerst prominentem Essay über Prekarität folgende Formel: „Die objektive Unsicherheit bewirkt eine allgemeine subjektive Unsicherheit, welche mitten in einer hoch entwickelten Volkswirtschaft sämtliche Arbeitnehmer, einschließlich derjenigen unter ihnen in Mitleidenschaft zieht, die gar nicht oder noch nicht direkt von ihr betroffen sind“ (1998: 97f.).
Mit „objektiver Unsicherheit“ rekurriert Bourdieu auf die Zunahme unsicherer Beschäftigungsverhältnisse sowie auf die wachsende „industrielle Reservearmee“ und damit auf strukturelle Veränderungen des Inklusionspotentials der Arbeitsgesellschaft. Aus dieser „objektiven Unsicherheit“ resultiere eine allgemeine subjektive Unsicherheit, die über die Grenzen der von objektiver Unsicherheit Betroffenen hinausreicht. Es handelt sich also um ein Abbildungsverhältnis (objektive Unsicher-
Auf die Unschärfen der Anlage des Sicherheitsparadoxons in den Arbeiten von Robert Castel haben insbesondere van Dyk und Lessenich (2008) hingewiesen. Bei ihrer Rekonstruktion des Paradoxons in der Castelschen Lesart räumen sie aber dieser grundlegenden Problematik, dass es nämlich die Wertidee der Sicherheit und nicht eine institutionelle Sicherheitsleistung, die das Bestreben nach mehr Sicherheit innerhalb der Logik des Sicherheitsparadoxons generiert, zu wenig Raum ein. Die AutorInnen identifizieren ein „Haupt-Paradoxon“ in Castels Ausführungen, welches durch die Spannung zwischen institutionellen Sicherheitsleistungen und den Sicherheitserwartungen entsteht (van Dyk/Lessenich 2008: 19). Und obwohl van Dyk und Lessenich einräumen, dass Castel selbst den Angelpunkt des Paradoxons darin sieht, dass umfassende Sicherheit durch Maßnahmen, die soziale Sicherheit generieren, nie eingeholt werden kann, geht diese entscheidende Spannung in ihrer Argumentation unter.
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heit entspricht subjektiver Unsicherheit) wie auch ein Ausstrahlungsverhältnis der Unsicherheiten (individuelle Unsicherheit entspricht allgemeiner Unsicherheit). Ein solches Abbildungsverhältnis zum Verständnis des Zusammenspiels von objektiven und subjektiven Unsicherheiten erscheint äußerst unterkomplex und lädt zu dem Vorwurf des deterministischen Kurzschlusses ein. In diesem Sinne wurde von verschiedenen Seiten zu Recht eingewandt, dass das Verhältnis subjektiver und objektiver Prekaritätskonstellationen in einigen der Unsicherheitsanalysen nicht hinreichend expliziert wird (Rademacher/Lobato 2008: 120f; van Dyk/Lessenich 2008: 25). In der Tat scheint es insbesondere in vielen Untersuchungen über die Konsequenzen prekärer Beschäftigungsverhältnisse so, als bedingten Beschäftigungsformen, die entlang fordistischer Sicherheitsstandards als unsicher bewertet werden, auch gleichermaßen eine subjektive Verunsicherung bei den Beschäftigten in solchen prekären Beschäftigungsformen. Es findet damit eine implizite Gleichsetzung von Sicherheit mit dem fordistischen Normalarbeitsverhältnis statt und von Unsicherheit mit allen Beschäftigungsformen, die davon abweichen. Um der Gefahr solcher Gleichsetzungen zu entrinnen, ist verschiedentlich der Versuch unternommen worden, den diffusen Begriff der Unsicherheit zu konkretisieren (vgl. Wohlrab-Sahr 1991; Bonß/Zinn 2005). In den Ausführungen von Monika Wohlrab-Sahr (1991; 1993) findet sich ein Raster zur Bestimmung von Unsicherheiten im Kontext der Auseinandersetzung mit arbeitsweltlich bedingten Diskontinuitäten und der subjektiven Wahrnehmung derselben. Wohlrab-Sahr legt ihren Fokus dabei auf biographische Unsicherheiten und geht dabei von drei Ebenen der Unsicherheit aus: Sie spricht von 1) einem „gesteigerte[n] Maß an sozialer Komplexität, das es objektiv erschwert, das eigene Leben an der zu Normalbiographien geronnenen Normierung von Erwartungen auszurichten“, 2) einem gesteigerten „Wissen über diese Komplexität, mit dem auch das Bewusstsein der Kontingenz von Lebenswegen und Lebensformen wächst“ und 3) von „persönlichen Verunsicherungen, die bislang unhinterfragte Sicherheitskonstrukte als Fiktionen sichtbar werden lassen“ (Wohlrab-Sahr 1991: 220). In diesem Dreischritt taucht zunächst die Ebene sozialer Komplexität auf: es geht hier um strukturelle Veränderungen von Handlungskontexten und Lebenslaufoptionen infolge des Modernisierungsprozesses, die als „objektive“ Unsicherheiten begriffen werden. Die zweite Ebene bezieht sich auf das Wissen über diese „objektiven“ Veränderungen. Gemeint sind hier veränderte Erwartungssicherheiten, die sich in veränderten Normalitätsmustern niederschlagen. Die letzte Ebene bezieht sich nicht mehr auf Unsicherheiten, sondern auf Verunsicherungen, womit die Empfindung der Unsicherheit gemeint ist. Hier spielt Wohlrab-Sahr auf individuelle Unsicherheitssensibilitäten an, die durch kognitive und emotionale Unsicherheitsdispositionen beeinflusst sind. Wenngleich Wohlrab-Sahrs Differenzierung von Dimensionen der Unsicherheit in weitere Überlegungen eingeflossen ist (Zinn/Eßer 2003; Bonß/Zinn 2005; Pelizäus-Hoffmeister 2006) so bleibt diese Differenzierung doch streckenweise abstrakt: So kritisieren
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Eßer und Zinn (2002) an den Ausführungen Wohlrab-Sahrs, dass trotz der Zergliederung in „objektive“ und „subjektive“ Unsicherheitsmomente zwischen diesen beiden Ebenen eine Kausallogik hergestellt werde: Objektive Unsicherheit in Form von Deinstitutionalisierungsprozessen bedinge nach Wohlrab-Sahr gleichsam biographische Unsicherheit auf der subjektiven Ebene. Um die unterschiedlichen Unsicherheitsdimensionen schärfer zu differenzieren, entwerfen Eßer und Zinn (2002) ein Schema, welches auch für Bonß und Zinn (2005: 186, Abb.1) der Ausgangspunkt ihrer Differenzierung von Unsicherheitsdimensionen ist: Analyseebene:
Begriffe:
Begriffserläuterungen:
Struktur:
Strukturelle Un-/Sicherheit Optionsvielfalt und Mehrdeutigkeiten bzw. Eindeutigkeit oder Normalitätsmodelle auf allgemeingesellschaftlicher Ebene
Person:
Personale Un-/Sicherheit
aus der Perspektive des einzelnen wahrgenommene Optionsvielfalt und Mehrdeutigkeit oder Normalitätsmodelle
Perzeption/Reaktion
Persönliche Verunsicherung/Verunsicherung und (Selbst-)Sicherheit
Individuelle Unsicherheits/Sicherheitsgefühle
Tabelle 1: Dimensionen der Un- /Sicherheit (Bonß/Zinn 2005: 186).
Die Differenzierung zwischen „Struktur“ und „Person“ bildet den Ausgangspunkt dieses Schemas.12 Die Kategorie „Person“ wird dabei zergliedert in die personale Unsicherheit einerseits und die persönliche Verunsicherung andererseits. Personale Sicherheit oder Unsicherheit resultiert hierbei aus der individuellen Strukturwahrnehmung; die persönliche Verunsicherung oder Selbstsicherheit bezieht sich dagegen auf (Un-)Sicherheitsgefühle. Diese Unsicherheitsgefühle variieren mit der individuellen kognitiven und emotionalen Bewertung von Unsicherheiten (vgl. Bonß/Zinn 2005: 186). Als ein Element dieser Unsicherheitsperzeption könnte in diesem Sinne die Ungewissheitstoleranz begriffen werden. Ungewissheitstoleranz bezeichnet eine sozialisatorisch erworbene Orientierung hin zu uneindeutigen Situationen, ein Bedürfnis nach Verstehen und Wissen und allgemein die positive Konnotation von Ungewissheiten. Eine hohe Ungewissheitstoleranz (vgl. Dalbert 1996) oder Risikoorientierung kann als günstig für die Bearbeitung unsicherer Lebenssituationen gewertet werden, wohingegen Unsicherheitsvermeidunsgverhalten sich nachteilig auswirkt. Im Zusammenspiel mit anderen kognitiven Widerstandsquellen wirkt die Unsicherheitstoleranz zurück auf die individuelle Bewertung gesellschaftli12 Eßer und Zinn grenzen die Ebenen von Struktur und Person in ihrem Schema visuell noch deutlicher voneinander ab; sodass die Zusammengehörigkeit von personaler Unsicherheit und persönlicher Verunsicherung deutlicher hervortritt.
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cher Sicherheitsfiktionen. Die Ebene der „Person“ erscheint mit dieser Differenzierung plausibel zergliedert. Dahingegen lässt die Analyseebene der „Struktur“, ebenso wie die Ebene der „objektiven“ Unsicherheiten bei Wohlrab-Sahr, einen weiten Interpretationsraum: Eßer und Zinn sprechen zunächst von „strukturellen Veränderungen“, die auf dieser Ebene angesiedelt seien, um wenig später das Vorhandensein bzw. Fehlen von Normalitätsmodellen auf dieser Ebene zu verorten (Eßer/Zinn 2001: 17f.). Nun klingt in diesen beiden Begriffen doch jeweils ein anderer Aspekt der „Struktur“ an: Im Falle „struktureller Veränderungen“ wird stärker die Veränderung der objektiven Handlungskontexte betont, während mit der Einoder Mehrdeutigkeit der Normalitätsmodelle stärker die symbolische Dimension, bzw. die Dimension kulturell dominanter Deutungsfolien angesprochen wird. Diese Differenz ist vielleicht am besten mit einer Unterscheidung von Kaufmann in den Blick zu bekommen, der zwischen „wirtschaftlicher Unsicherheit“ und der „Unsicherheit der Orientierung“ unterscheidet.13 Während erstere auf die ökonomischen Lebensbedingungen in der Arbeitsgesellschaft zielt und damit auf die Furcht des Verlustes der Arbeitsmöglichkeit, bezieht sich die „Unsicherheit der Orientierung“ auf das Fehlen von „Lebensentwürfen“, nach denen Biographien zu gestalten sind (vgl. Kaufmann 1973: 15f.). Eine solche Differenzierung erscheint auch unter der speziellen Perspektive auf biographische Unsicherheiten zumindest in analytischer Hinsicht sinnvoll. Aber warum taucht diese Unterscheidung in den Unsicherheitsmodellen von Eßer und Zinn bzw. Bonß und Zinn nicht auf ? Ein Grund mag darin liegen, dass die AutorInnen aus einer handlungstheoretischen Perspektive argumentieren, weshalb diese Differenzierung nicht unmittelbar relevant wird. Ein Begriff der Sicherheit, der auf Handlungssicherheit zielt und dabei eine konstruktivistische Perspektive einschlägt, greift nicht bei einem Sicherheitsverständnis, welches bestimmte Struktureigenschaften der Arbeitswelt „objektiv“ als Unsicherheiten ausweist. Offenkundig greifen die AutorInnen in ihren Ausführungen auf ein Verständnis objektiver Unsicherheiten zurück, welches die Vorstellung der sozialen Konstruiertheit von Unsicherheiten bereits impliziert. Damit nutzen sie einen Unsicherheitsbegriff aus der Tradition der Risikosoziologie, der sich immer auf „normativ unterstellte soziale Gewissheiten“ und nicht auf „deskriptiv unverrückbare und eindeutige“ Sicherheiten (Bonß 1995: 91) bezieht, also auf intersubjektiv geteilte Erwartungssicherheiten (Luhmann 1984): „Wer das Stichwort Sicherheit durch den Begriff der Erwartungssicherheit ersetzt, geht letztlich davon aus, dass es keine absoluten Sicherheiten gibt, sondern immer nur Sicherheitsfiktionen, die zur Ermöglichung sozialen Handelns notwendig und unverzichtbar sind.“ (Bonß 1995: 13 Neben diesen beiden Unsicherheitsdimensionen nennt Kaufmann darüber hinaus noch die Dimension „politischer Unsicherheit“ und diejenige der „Selbstunsicherheit“. In jüngeren Publikationen taucht diese Differenzierung nicht mehr auf; die Dimensionen wirtschaftlicher und politischer Unsicherheit wie auch die Unsicherheit der Orientierung scheinen zusammengefasst unter dem Stichwort der Systemsicherheit (vgl. Kaufmann 2003: 88).
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91). In ihrem Schema nutzen sie aber die Differenz von „objektiven“ und „subjektiven“ Unsicherheiten. Beide Vorstellungen von Unsicherheiten lassen sich nicht integrieren, wie Bonß ausführt: „Zwar wird diese Abgrenzung von „objektiven“ und „subjektiven“ Momenten in soziologischen Analysen nicht selten übernommen, wobei dann die Rolle der Soziologie darin gesehen wird, die sozialstrukturellen (Hinter-)Gründe subjektiver WahrnehmungsVerzerrungen herauszuarbeiten. Aber betrachtet man die Diskussionsentwicklung der letzten zehn Jahre, so muss dieser Integrationsversuch als gescheitert angesehen werden. Denn der wohl wichtigste soziologische Beitrag zum Risikodiskurs, nämlich die These von der sozialen Konstruktion von Unsicherheit (vgl. Johnson/Covello 1978), steht eindeutig quer zu der Trennung von subjektiven und objektiven Momenten.“ (Bonß 1995: 43).
Unsicherheiten können aus dieser Perspektive, wie Bonß im Anschluss an Krohn und Krücken ausführt, niemals „objektiv“ sein, ohne zugleich kulturell durchzogen zu sein; sie sind „ebenso objektiv wie sozial konstruiert“ (Krohn/Krücken 1993: 5; zitiert nach Bonß 1995: 43). Die Integration von kulturtheoretischen Ansätzen des Risikos und einem Ansatz, der zwischen objektiven Risiken und Risikowahrnehmungen differenziert (so z.B. Fritzsche 1986), kann also kaum gelingen. Entscheidend ist hier, dass, sobald man die kulturelle Konstruiertheit von Unsicherheiten ernst nimmt, man die Unterscheidung von subjektiven und objektiven Risiken nur noch in dem folgenden Sinne verwenden kann: Objektive Risiken sind dann solche, die im Rahmen vorherrschender Deutungsmuster als Risiken gewertet werden. Die subjektive Wahrnehmung bezieht sich dann lediglich auf die Akzeptanz dieser kulturell vorherrschenden Risikodefinitionen vor dem Hintergrund eigener Risikodispositionen.14 In der aktuellen Diskussion um eine „neue Unsicherheit“ scheint aber auf einen etwas anders gelagerten Sicherheits- bzw. Unsicherheitsbegriff abgehoben zu werden als auf den Sicherheitsbegriff, der im Kontext der Analysen der reflexiven Moderne relevant wird. Wie oben bereits mit dem Zitat von Bourdieu angedeutet, dreht sich die jüngere Diskussion um die „Rückkehr der Unsicherheit“ (Castel 2005: 54) um einen Unsicherheitsbegriff, der bestimmte Strukturmerkmale des gegenwärtigen Kapitalismus per se als Unsicherheiten ausweist. Ein solchermaßen absoluter Unsicherheitsbegriff, der die gesellschaftliche Strukturiertheit von Unsicherheitsproblemen kurzzeitig vergessen lässt, und gleichsam essentialistisch erscheint, ist einerseits Ausgangspunkt der Diskussion über die Prekarisierung der Arbeit, ebenso 14 Die Analyse der unterschiedlichen Risikodiskurse mit ihrem je eigenen Vokabular ist bisher nur unzureichend erfolgt. Ansätze einer Systematisierung finden sich bei Zinn (2007; 2008), der kulturtheoretische, gouvernementalitätstheoretische und systemtheoretische Perspektiven sowie die These der Risikogesellschaft als divergierende Ansätze der Soziologie des Risikos vorstellt.
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wie er in dieser Debatte zum Gegenstand der Kritik geworden ist. So kritisieren van Dyk und Lessenich einen solchen Unsicherheitsbegriff bei Castel: „Castel (konstatiert, Anm. F.H.) eine „Wiederkehr der Unsicherheit“ in der Spätmoderne, die im Gegensatz zur Unsicherheit des Sicherheitsparadoxons so etwas wie eine „wirkliche“, „tatsächliche“ Unsicherheit zu sein scheint und von ihm -wie von so vielenvor allem auf externe polit-ökonomische Zwänge wie die europäische Einigung oder die Globalisierung zurückgeführt wird.“ (van Dyk/Lessenich 2008: 23)
Van Dyk und Lessenich entwerfen im Dienste der Kritik insbesondere an Castels Unsicherheitsbegriff die folgende Matrix, um mittels dieser Ausdifferenzierung verschiedener Unsicherheitsbegriffe populäre Irrtümer der aktuellen Prekaritätsdebatte aufzudecken. Materiell
a) Vergangenheit b) Gegenwart c) Zukunft
Symbolisch
a)Vergangenheit b) Gegenwart c) Zukunft
institutionell
1 Sicherheitsleistung
2 Sicherheitsvermittlung
individuell
3 Sicherheitslage
4 Sicherheitserwartung
5 Sicherheitsgefühl Tabelle 2: Dimensionen der Sicherheitsproblematik (van Dyk/Lessenich 2008: 17)
Im Gegensatz zu dem Modell von Bonß und Zinn findet sich hier die Differenzierung zwischen „materiellen“ und „symbolischen“ sowie zwischen „institutionellen“ und „individuellen“ Sicherheiten bzw. Unsicherheiten. Zudem wurde in die Matrix eine Zeitdimension integriert, die ermöglicht, Verhältnissetzungen vergangener und zukünftiger Sicherheitsleistungen und Erwartungen darzustellen.15 Der Anspruch dieses Modells erstreckt sich dementsprechend nicht auf die Klärung verschiedener Dimensionen biographischer Unsicherheiten, sondern besteht vielmehr darin, die „Sicherheitsproblematik“ insgesamt zu reflektieren. Dass die Sicherheitsfrage hier vornehmlich an die sozialpolitische Herstellung von Sicherheit rückgebunden ist, zeigt sich zudem daran, dass nicht Unsicherheiten, sondern eben (herstellbare) Sicherheiten den Bezugspunkt der Matrix darstellen. Unter der Sicherheitsleistung (1) verstehen die AutorInnen dementsprechend „die wohlfahrtsstaatlichen Sicherungssysteme im Allgemeinen und spezifische Leistungen (Transfers und Dienste) im Konkreten“ (ebd.: 18). Diese Sicherheitsleistungen entfalten ihre Wirkung insbesondere über die Bedeutung, die ihnen als „Sicherheitsversprechen“ beigemessen wird. (2) Auf der Ebene der Sicherheitsvermittlung sehen die AutorInnen „symbolische 15 Die Zeitdimension kann als dritte Dimension der Matrix begriffen werden, insofern als alle fünf Felder in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu denken sind.
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Sicherheitsversprechen“. Damit sind Schlagwörter gemeint, die eine Vorstellung des (Ideal)-Zustands der Gesellschaft einfangen, und sich dadurch auf die Sicherheitswahrnehmung auswirken.16 Bei der Definition der Sicherheitslage (3) bleiben van Dyk und Lessenich etwas unspezifisch; es wird lediglich darauf hingewiesen, dass die individuelle Sicherheitslage vom „gesellschaftlichen Leistungsniveau abweichen kann“ (ebd.: 18). Zu vermuten ist, dass die AutorInnen damit ein Ensemble von verschiedenen Faktoren meinen, die jeweils auf die Sicherheit von Lebenslagen einwirken. So haben Bude und Lantermann (2006: 238) im Rahmen ihres Prekaritäten-Ressourcen-Modells die Prekarität der Lage für folgende Lebenssegmente erfasst: individueller Wohlstand, Erwerbssituation, soziale Vernetzung, Gesundheit und institutionelles Vertrauen. In ähnlicher Weise könnten auch van Dyk und Lessenich die Sicherheitslage als Zusammenspiel von verschiedenen Marginalisierungsrisiken begreifen. Die Sicherheitserwartung (4) bezieht sich auf das individuell erwartete, bzw. „beanspruchte“ Sicherheitsniveau (ebd.: 18). Die Sicherheitserwartung zielt dabei immer auf das Leistungsniveau und die Sicherheitsvermittlung, wenngleich es keine Übereinstimmung zwischen diesen Dimensionen geben muss. Problematisch ist hier, dass die AutorInnen zunächst von einer Erwartung sprechen, um sodann mit der Rede von einem Sicherheitsanspruch17 den Einforderungscharakter viel deutlicher zu betonen. Das Sicherheitsgefühl (5) ist nach van Dyk und Lessenich weder der materiellen noch der symbolischen Dimension zuzuordnen; vielmehr resultiere das Sicherheitsgefühl aus dem Zusammenspiel beider Ebenen.18 Was ist mit dieser Fünf-Felder-Matrix nun gewonnen? Zunächst einmal fällt die Integration der Zeitdimension auf, die in den bisher skizzierten Matrizen fehlt. Durch die Möglichkeit zur Differenzierung verschiedener Zeitpunkte können insbesondere die Sicherheitserwartungen in ihrer Fixiertheit auf die Vergangenheit begriffen werden. Insofern verdeutlicht die Zeitdimension die Eingebundenheit von Erwartungen in Zeitkontexte, was die Integration der zeitlichen Dimension in ein Modell von Unsicherheitskonstellationen unabdingbar macht.19 Sodann fällt die Bei der Beschreibung der Sicherheitsvermittlung bleiben van Dyk und Lessenich äußerst vage, insofern sie als Beispiel einer solchen Rhetorik lediglich das Schlagwort der „Chancengleichheit“ anführen. Ein weiteres gesellschaftspolitisches Schlagwort, welches einen direkten Bezug zur Sicherheitsthematik hat, wäre an dieser Stelle hilfreich. 17 van Dyk und Lessenich (2008: 18) formulieren es so: „Die individuell-symbolische Dimension (4) hingegen bezieht sich auf die subjektive Sicherheitserwartung, also auf das für die eigene Person beanspruchte Sicherheitsniveau“ (Hervorh. F.H.). 18 Innerhalb der Matrix ist das Sicherheitsgefühl lediglich in der materiell-individuellen Dimension erfasst. Sinnvoller wäre, das Zusammenspiel von materiellen und symbolischen Aspekten des Sicherheitsgefühls durch eine mittige Anordnung innerhalb der Matrix deutlich zu machen. (vgl. auch Burzan 2008: 61). 19 Auch Wohlrab-Sahr (1993: 8) hat die Bezogenheit von Unsicherheit auf Zeit gleich zu Beginn ihrer Ausführungen herausgestellt: „Der Begriff der Unsicherheit steht in unmittelba16
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Differenzierung zwischen „materiellen“ und „symbolischen“ Sicherheiten bzw. Unsicherheiten auf, die in den zuvor angeführten Schemata keine Rolle zu spielen scheint. Diese Differenzierung erscheint plausibel und schärft die Sensibilität für unterschiedliche Qualitäten von Sicherheits- und Unsicherheitslagen. Allerdings bleiben van Dyk und Lessenich bei der genauen Bestimmung dieser Unterscheidung äußerst vage: So sprechen sie von dem materiellen Sicherheitsversprechen, welches aus den Sicherheitsleistungen (1) erwächst. Hier erscheint uneindeutig, wie ein Versprechen, welches erst auf der Grundlage gesellschaftlicher Wertvorstellungen denkbar ist und damit „symbolisch“ strukturiert, der materiellen Ebene zugeordnet sein kann. Zudem ist die Matrix, die „Dimensionen der Sicherheitsproblematik“ umfassen soll, in besonderem Maße auf die soziale Sicherheit fokussiert. Die institutionelle Sicherheitsleistung ist für die AutorInnen vornehmlich an sozialstaatliche Transferleistungen rückgebunden. Dass aber andere Institutionen wie z.B. die Erwerbsarbeit ebenfalls Sicherheitsleistungen und ein materielles Sicherheitsversprechen generieren, bleibt in dieser Reduzierung auf die sozialstaatlichen Leistungen außer Acht. Wie bereits angedeutet, bleibt auch die individuelle Sicherheitslage wie auch die Sicherheitserwartung in den Ausführungen unterbestimmt. Für das Verständnis von Unsicherheitsdynamiken ist es aber unverzichtbar, dass die Kategorien über ein gewisses Maß an Eindeutigkeit verfügen, und genau hier schwächelt auch die Matrix von van Dyk und Lessenich. Nichtsdestoweniger leisten die AutorInnen einen entscheidenden Beitrag dazu, Licht in das Dunkel von Unsicherheitsleistungen, -lagen und -erwartungen zu bringen dadurch, dass sie die Wahrnehmung schärfen für die heterogenen Aspekte der Unsicherheit. Wenngleich der Blick auf Modelle der Unsicherheitsdynamik nicht so ertragreich ausfiel, wie er zunächst zu versprechen schien, kann doch die Matrix von van Dyk und Lessenich für sich in Anspruch nehmen, das gegenwärtig sehr prominente Sicherheitsverständnis von Robert Castel zu dekonstruieren. In den Ausführungen von Castel findet sich die Vorstellung „tatsächlicher“ Unsicherheiten wieder. So versteht er das Fehlen oder die Schwäche sozialer Sicherungssysteme, also die mangelnde Absicherung gegen Krankheit, Arbeitsunfähigkeit und Armut, als Ursache von Unsicherheit (Castel 2005: 33). Die Interpretation dieses unzureichenden Schutzes gegen soziale Risiken als gleichsam grundsätzliche Unsicherheiten fällt bei Castel in eins mit dem Gefühl der Unsicherheit: „Umgerer Verbindung mit dem der Erwartung und verweist damit auf die Zeitdimension. Unsicherheit besteht im Hinblick darauf, ob Erwartungen eintreffen werden, ob künftige Entwicklungen sich antizipieren lassen, ob Erfahrungen aus der Vergangenheit sich in die Zukunft hinein fortschreiben lassen oder nicht.“ Bei der Differenzierung biographischer Unsicherheiten spielt diese Unterscheidung aber insofern keine Rolle, als hier mögliche Sicherheitsversprechungen der Vergangenheit außer Acht gelassen werden und insofern die Zeitdimension für das angesprochen Verhältnis von unsicheren Lebenssituationen und unsicheren Biographieentwürfen keine unmittelbare Relevanz hat.
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kehrt ist also das Gefühl der Unsicherheit gleichbedeutend mit dem Bewusstsein, dass man solchen Ereignissen schutzlos ausgeliefert ist.“ (Castel 2005: 33). Der essentialistische Unsicherheitsbegriff umfasst bei Castel also verschiedene Aspekte: Zunächst wird ein Zustand der Sicherheit als Referenzmaß gesetzt, entlang dessen dann jedwede Abweichung als Unsicherheit begriffen wird. Den Inbegriff der Sicherheit bildet für Castel das Abgesichtertsein gegen soziale Risiken. Die Schaffung von Sicherheit, dies macht Castel (2000) insbesondere in seiner Monographie über die Metamorphosen der sozialen Frage deutlich, ist für ihn unmittelbar verknüpft mit der Beantwortung der sozialen Frage: Soziale Kohäsion ist für ihn nur unter den Voraussetzungen kollektivierter Sicherungssysteme denkbar (vgl. Castel 2000; 2005: 55). Eingelöst erscheint ihm dieses Versprechen der Sicherheit nach dem 2. Weltkrieg mit der Entwicklung des Industriekapitalismus: „Die Arbeiter, die sich zu großen Verbänden zusammenschließen und von ihnen vertreten werden, beugen sich den Anforderungen des sich entwickelnden Industriekapitalismus und profitieren im Gegenzug von umfassenden Sozialleistungen auf der Basis stabiler Beschäftigungsbedingungen.“ (Castel 2005: 55)
Das fordistische Normalarbeitsverhältnis ist damit für Castel das Paradigma der Sicherheit: In den materiellen Sicherungsgaranten dieser Beschäftigungsform scheint ihm der Schutz gegen soziale Risiken gelungen. Neben der tatsächlichen Abgesichertheit ist für Castel das Wissen um diesen Schutz zentral. Denn erst das Zusammenspiel von faktischem Schutz und dem Wissen um die Absicherung gegen soziale Risiken ermöglicht eine Lebensplanung, die über einen kurzfristigen Zeithorizont hinausreicht: „Sich in einer Situation ständiger Unsicherheit zu befinden bedeutet, weder die Gegenwart meistern noch die Zukunft positiv gestalten zu können“ (ebd.: 39). Zusammengenommen ist der „absolute“ Unsicherheitsbegriff, der in den Castelschen Ausführungen immer wieder aufscheint, nur zu begreifen durch das Zusammenspiel einer materiellen Unsicherheit und der Unsicherheit der Orientierung, die aus der materiellen Unsicherheit hervorgeht.20 Gegen diesen Unsicherheitsbegriff wurde eingewandt, dass materielle Mangellagen per se als Unsicherheit, und damit zugleich als subjektive Unsicherheit ausgewiesen werden (vgl. van Dyk/Lessenich 2008: 17; 21). Damit stellt sich die Frage, inwieweit Unsicherheit überhaupt sinnvoll auf einer materiellen Ebene positioniert werden kann. In seiner Kritik an den Ausführungen von van Dyk und Lessenich hat Martin Kronauer genau diese Frage nach der Materialität sozialer Unsicherheit aufge20 Für das Verständnis des Castelschen Unsicherheitsbegriffes ist neben diesen beiden Aspekten entscheidend, dass er an dieser Stelle in seiner Argumentation nicht davon ausgeht, dass jenseits der sozialen Sicherungssysteme für die Individuen irgendeine Form der Absicherung besteht. Er geht in seinen historisierenden Ausführungen von Besitzlosen aus, die, sobald es keine kollektiven Sicherungen gibt, vor den Scherben ihrer Existenz stehen.
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griffen, und kommt zu folgender Aussage: „Berechenbarkeit und Gestaltbarkeit der Zukunft über den Tag hinaus haben materielle Voraussetzungen. Ihr Fehlen erzeugt Unsicherheit.“ (Kronauer 2008: 56). Kronauer führt hier empirische Untersuchungen an, die das Auftreten von Gefühlen der Verunsicherung dort belegen, wo materielle Unsicherheit vorherrscht (z.B. Böhnke 2006).21 Der Rückbezug auf die materiellen Lebensumstände ist also für die Thematisierung von Unsicherheitsphänomenen essentiell. Die gesellschaftliche Dimension der Unsicherheit blendet Kronauer dabei keineswegs aus: „Da die Menschen durch und durch gesellschaftliche Wesen sind, werden auch ihre Sicherheitsbestrebungen ebenso wie die Ereignisse, die Unsicherheiten hervorrufen, notwendigerweise gesellschaftlich geprägt sein und sich verändern im Lauf der sozialgeschichtlichen Entwicklung. Gerade deshalb lässt sich individuelle Sicherheit aber auch nur kraft gesellschaftlich-solidarischer Formen gewährleisten. So ist beispielsweise Arbeitslosigkeit ein typisches Ereignis, das erst seit den Frühzeiten des Kapitalismus die Berechenbarkeit und Beeinflussbarkeit der Zukunft für die Betroffenen durchkreuzt hat.“ (Kronauer 2008: 56)
Anhand des Beispiels der Arbeitslosigkeit wird sehr deutlich, dass die materielle Unsicherheitsdimension erst in der Moderne und damit vor dem Hintergrund der Idee wie auch partiellen Möglichkeit der Verfügbarmachung der Zukunft an Relevanz gewinnen konnte. Verunsicherungen haben damit einen materiellen Kern; dennoch belegen einige Untersuchungen aus der Prekarisierungsforschung, dass Verunsicherungsgefühle auch jenseits materieller Notlagen auftreten können (Kraemer 2008; Brinkmann et al. 2006). Dass Verunsicherungen häufig gekoppelt sind an materielle Problemlagen bedeutet im Umkehrschluss nicht, dass Verunsicherungen nur dort auftreten können. Wie Untersuchungen über Arbeitsplatzunsicherheit und Lebenszufriedenheit zeigen, können die Ängste auch ohne direkte objektive Problemlagen Auswirkungen auf die Zufriedenheit und die psychische Gesundheit haben. Die Betroffenheit von einer materiellen Notlage ist damit nur ein Treiber der Verunsicherung. Geishecker (2010) hat in einer jüngeren Studie darauf hingewiesen, dass bei den Treibern von subjektiven Verunsicherungsgefühlen die Einflussfaktoren klarer differenziert werden können: Denn einerseits fließe in die Unsicherheitswahrnehmung die Wahrscheinlichkeit des Arbeitsplatzverlustes ein, andererseits aber auch die Abschätzung möglicher Folgen. Folgt man dieser Differenzierung, treten neben die materiellen Problemlagen noch weitere „objektive“ Einflussfaktoren, die das subjektive Unsicherheitsempfinden beeinflussen. Bemerkenswert ist, dass Castel diese Dynamiken keinesfalls ignoriert. In seiner These des Bumerang Effektes geht er von einer Ausstrahlung der Probleme aus den 21 Irritationen um diesen Zusammenhang zwischen Marginalisierung und Verunsicherungsgefühlen sind insbesondere im Kontext der These der Ausstrahlung von Unsicherheit aufgetreten, für die es auch empirische Nachweise gibt.
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sozialen Randlagen auf andere Bereiche aus, und betont damit den sozialen Charakter der Verunsicherungen. Allerdings ist diese Ausstrahlungsthese mit dem von ihm skizzierten „absoluten“ Unsicherheitsbegriff kaum vereinbar. Für das Verständnis der Verunsicherungsdynamiken scheint insofern sinnvoll, den Begriff objektiver Unsicherheiten zu differenzieren und die subjektive Verunsicherung als soziale Dynamik zu begreifen. Neben der Kritik an der Verbindung materieller Sicherheitslagen mit Unsicherheitsgefühlen wurde die Aufwertung der Sicherheitsleistungen im Fordismus kritisiert (vgl. van Dyk/Lessenich 2008: 25). Für Castel scheint die Hochphase des Fordismus zugleich die Phase der ausgeprägtesten institutionellen Sicherheitsleistungen, der sichersten Individuallagen und einer allgemeinen sicheren Grundstimmung zu sein. Diese Aufwertung des fordistischen Zeitalters als Zeitalter der Sicherheit erscheint dort berechtigt, wo auf die unmittelbaren Sicherheitsgaranten der Arbeit einerseits und der Sozialleistungen andererseits geschaut wird. Tatsächlich war die Phase des „sozialen Kapitalismus“ (Schmidt) gekennzeichnet durch einen qualitativen wie auch quantitativen Höhepunkt des Sozialversicherungssystems, was sich nicht zuletzt an der hohen Sozialleistungsquote zeigte. Im Zuge verschiedener arbeitsrechtlicher Gesetzesänderungen verbesserte sich auch die Lage der Arbeitnehmer. Allerdings darf nicht übersehen werden -und darauf wurde immer wieder in der Debatte um das Normalarbeitsverhältnis hingewiesen-, dass die Vorzüge dieser Sicherheitsinstrumente lediglich dem männlichen Normalarbeitnehmer zukamen (Ostner 1995). Ausbrüche aus der male-breadwinner-Logik wurden sanktioniert mit einer mangelnden Absicherung. Eine Schönfärberei dieser Epoche ist insbesondere vor dem Hintergrund der „diskriminierenden Wirkung“ des Normalarbeitsverhältnisses (vgl. Mayer-Ahuja 2003) aus einer gesellschaftskritischen Betrachtungsperspektive nicht zu rechtfertigen. Eine Schwierigkeit an dieser Kritik ist allerdings, dass Castel keineswegs der Einzige ist, der bei dem Rückblick auf das „goldene Zeitalter“ die Sicherheiten des Fordismus hervorhebt. Vielmehr trifft er damit den Nerv zahlreicher öffentlicher wie auch fachwissenschaftlicher Debatten, die allesamt die Sicherheitsleistungen der Hochphase des Fordismus herausstreichen. Sind nun diese Betonungen der Sicherheitsleistungen als „nostalgische Reserven“ (Bude 2008c) oder „retrospektive(n) Mystifizierungen“ (van Dyk/Lessenich 2008: 29) des Fordismus einfach ad Acta zu legen? Bereits die nachhaltende Wirksamkeit der positiv konnotierten Retrospektive auf eine Zeit, die als stabil, sicher und planbar galt, gibt Anlass, dieses Phänomen des „verklärten Blicks zurück“ ernst zu nehmen. Als Ankerpunkt für die Einschätzung der fordistischen Epoche als sicher muss insbesondere das Zeitregime angesehen werden:22 So betont Dörre (2009a: 48; vgl. auch Dörre 2009b: 20), dass die 22 Ausführlicher wird dieser Gedanke, dass gerade die Stabilität des Zeitregimes eine wesentliche Grundlage des fordistischen Sicherheitsversprechens ist, in Kapitel 2.3.1 ausgeführt.
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Hoffnung auf die Inklusion in ein stabiles Zeitregime, welches die Planbarkeit des Lebens ermöglicht, in den kapitalistischen Gesellschaften des Westens als ein entscheidender Grund für die Akzeptanz des fordistisch geprägten Kapitalismus gewertet werden kann. In diesem Sinne bleibt auch die vorherrschende Deutung innerhalb des Diskurses über die neue Unsicherheit die, dass die „materiellen Normen des „alten“ Wohlfahrtsstaates nach wie vor von Bedeutung für die sicherheitsbezogenen Erwartungen der Menschen sind“, und dass sich daraus zwangsläufig eine „Erwartungsfrustration“ entwickeln muss (van Dyk/Lessenich 2008: 36). Neben der materiellen Norm, so ist mit van Dyk und Lessenich zu betonen, sind es aber vor allem auch die „‘Nachwehen’ des symbolischen Sicherheitsversprechens des Fordismus“ (ebd.: 46), die nachhaltig Erwartungsfrustrationen herbeiführen. Auch empirisch ist dieser Rückbezug auf das fordistische Normalarbeitsverhältnis und die Normalbiographie als Ideal der Abgesichertheit gut belegt (Dörre 2005; 2006; Ebert 2005; Kraemer/Speidel 2004, 2005; Pongratz 2004; Schiek 2008); ebenso wie die gegenwärtige Erwartungsfrustration in Form von Verunsicherungen dokumentiert ist (z.B. Müller-Hilmer 2006). Bude bilanziert hierzu: „Es spricht schon einiges für die Diagnose, dass wir es im Abschied von einer im Ganzen als glücklich wahrgenommenen Nachkriegszeit mit einem Wechsel in der Auffassung sozialer, politischer und persönlicher Sicherheit zu tun haben.“ (Bude 2008: 48). Hinzu kommt eine Dimension, die in den Ausführungen von Vogel (2007; 2009) angelegt ist: Die der längerfristigen gesellschaftlichen Perspektiven auf Wandlungsprozesse als Kontinuitäts, -Aufstiegs, -oder Abstiegsgeschichten.23: Lag der fordistischen Epoche noch eine Aufstiegs- oder Fortschrittsgeschichte zugrunde, so hat sich nunmehr die Sichtweise auf die nachfordistische Epoche verschoben: Vogel versucht, diese Blickrichtungen mit dem Begriff der „Minusvisionen“ einzufangen. Damit ist eine Perspektive auf die Zukunft angesprochen, nach der es nichts mehr zu gewinnen, aber umso mehr zu verlieren gibt.24 Vogel identifiziert den Ort sozialer Minusvisionen in der Gesellschaftsstruktur innerhalb zweier Mittelklassemilieus, der industriellen Facharbeiterschaft und dem öffentlichen Dienst. Beide Milieus bezeichnet er als „zentrale Trägerschichten der bundesrepublikanischen Wohlstandsökonomie“ und damit als „ehemalige Aufsteigermilieus“ (Vogel 2007: 86). Minusvisionen finden sich damit nach Vogel vor allem dort, wo eine langanhaltende Bewegung zum Stillstand kommt oder gar eine Änderung der Richtung einsetzt: Die Erzählung des Aufstieges stagniert dann zunächst kurz, um sodann zu kippen in eine Erzählung des Abstieges. Das Abklingen des Aufwärtsmobilität in den dominanten Milieus hat auch Konsequenzen für andere Milieus: der Mythos des „Auf23 Diese Begriffe reflektieren das, was Gergen und Gergen „Stabilitätserzählungen“, „progressive“ und „regressive“ Erzählungen genannt haben (vgl. Gergen/Gergen 1989). 24 Das Schlagwort der Minusvision entlehnt er dabei Niermann (2003), der diesen Begriff allerdings in einem anderen Sinne verwendet: Minusvisionen bezeichnen hier visionäre Projekte, die nur im Minus, also im Soll realisiert werden können.
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steigerlandes“ Deutschland wird brüchig. Die mangelnde gesellschaftliche Aufwärtsmobilität zeigt sich aber nicht nur in veränderten Chancenstrukturen, vielmehr verändert sie auch die Unsicherheitsperzeptionen. So sieht Bude (2008c) eine besondere Relevanz von Aufstiegsmythen für gesellschaftliche Sicherheitsfiktionen. Die Sicherheit, die solche Aufstiegsmythen lieferten, liege allerdings weniger in der Absicherung, sondern eher in einer „langanhaltende(n) Resonanz von Selbstwirksamkeit“ (ebd.: 49). Zu wissen, wie der Aufstieg gelingen kann, welche Bildungszertifikate, welche Fähigkeiten und welche Einsatzbereitschaft dabei gefordert sind, sind damit für das Sicherheitsgefühl zentral. Auch für Vogel (2007: 94), hier Lorenz von Stein folgend, ist die Aufwärtsmobilität ein „Lebensprinzip“ offener und freier Gesellschaften. In Anlehnung an Castels Begriff eines „negativen Individualismus“ argumentiert Vogel, dass sich mit prekären Aufstiegshoffnungen auch „eine gewisse soziale Mitleidlosigkeit, die Erfolge und Niederlagen individualisiert und aus dem Versagen der anderen neue eigene Kräfte zu schöpfen versucht“ durchsetzt (ebd.: 95). Neben der Unsicherheit darüber, inwieweit Leistung sich lohnt, entstehen also neue Unsicherheiten daraus, dass das Scheitern nicht dem Fehlen von Aufstiegsmöglichkeiten, sondern den Individuen selbst zugerechnet wird. Was lässt sich nun über die neue Unsicherheit sagen? Zunächst einmal wurde hinsichtlich der Thematisierung der Unsicherheiten, der jüngeren Unsicherheitsdebatten und -diskussionen deutlich, dass das Sicherheitsparadoxon zur Erklärung der neuen Unsicherheit nur bedingt hilfreich ist. Darüber hinaus zeigte sich eine wachsende Distanz zu solchen Spiegelbildtheorien, die aus der objektiven vorschnell eine subjektive Unsicherheit ableiten. Der Entwurf heuristischer Modelle, die verschiedene Unsicherheitsdimensionen differenzieren, kann dabei helfen, den Blick für die einzelnen Ebenen der Unsicherheit zu schärfen. Ob nun als „objektiv“, „strukturell“ oder „institutionell“ bezeichnet, taucht innerhalb dieser Schemata immer eine Dimension der Unsicherheit auf, die auf Veränderungen der gesellschaftlichen Organisation, beispielsweise auf die strukturellen Wandlungstendenzen der Arbeitswelt oder den Wandel sozialstaatlicher Leistungen, hindeutet. Die Rede von „objektiven“ Unsicherheiten bleibt aber abstrakt, wenn nicht die dahinter stehenden Unsicherheitsmomente präzisiert werden: Denn zu den objektiv messbaren Unsicherheitstreibern können verschiedene Phänomene wie eine erhöhte Arbeitslosenquote, eine angespannte internationale Finanzsituation, eine veränderte Sozialgesetzgebung oder auch das individuelle Haushaltseinkommen gleichermaßen zählen. Als zentral für das Verständnis von Unsicherheiten wurde die Zeitperspektive hervorgehoben (Kaufmann 2003; van Dyk/Lessenich 2008), mittels derer Sicherheitsund Unsicherheitslagen in ihrer dynamischen Dimension betrachtet werden können. Allerdings lösen diese Schemata noch nicht durch ihre Rasterlogik allein die Frage nach dem Interdependenzverhältnis verschiedener Unsicherheiten. Hinsichtlich der Sicherheitserwartungen zeigt sich, dass diese nach wie vor strukturiert sind durch das „fordistische Versprechen“ auf soziale Sicherheit, Arbeit,
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Massenkaufkraft und eine allgemeine Anhebung des Lebensstandards. Wenngleich offenkundig ist, dass vor dem Hintergrund einer globalisierten Wirtschaftskrise diese Erwartungen als unrealistisch erscheinen, entsteht doch eine „Erwartungsfrustration“ (van Dyk/Lessenich 2008), die geschürt wird durch die berechtigten und auch teilweise erfüllten Sicherheitserwartungen in der Vergangenheit, aber auch durch das Nebeneinander sicherer und äußerst unsicherer Lebenslagen in der Gegenwart. Es geht dabei weniger um die Frage, ob der Fordismus tatsächlich gleichmäßig Sicherheiten verteilte (das war gewiss nicht der Fall), sondern vielmehr um die Wirksamkeit der Versprechungen, die mit dieser Rationalisierungslogik einhergingen.25 Ein zentrales Element des fordistischen Versprechens war die Versprechung gesellschaftlicher Aufstiegsmöglichkeiten. Ein solches Versprechen gibt es in der nachfordistischen Konstellation nicht länger; die „Verheißungen“ von kontinuierlichem Wachstum und fortschreitendem Statusgewinn haben sich als leere Prophezeiungen erwiesen, weshalb eine Quelle der neuen Unsicherheiten das Fehlen von Aufstiegschancen, aber auch von Ausfstiegsmythen ist. In der „Kultur des Zufalls“26, wie Castel eine Kultur mit uneindeutigen Erfolgsregeln nennt, gibt es keine verbindlichen Strategien mehr, denen zu folgen sich sicher lohnt. Damit sind grundlegende Charakterzüge der neuen Unsicherheit benannt. Wie sich bereits an dieser allgemeinen Perspektive auf die neuen Unsicherheiten zeigt, sind es neben materiellen Unsicherheitslagen insbesondere biographische Unsicherheiten, die sich gegenwärtig Bahn brechen: Statt Aufstiegsmythen dominieren Abstiegsängste, und wie der eigene Erwerbsverlauf optimal zu rüsten ist gegen die Unwegsamkeiten der postfordistischen Epoche, bleibt uneindeutig. Spezifischer treten aber die Konturen der Ökonomie der Unsicherheit hervor, sobald man den Blick unmittelbar auf die Arbeitswelt richtet. In den Wandlungsprozessen der Arbeit und der zunehmenden Vermarktlichung liegt ja gleichsam ein Epizentrum der neuen Unsicherheiten. Zunächst sollen dabei die Veränderungen nachgezeichnet werden, die in Folge der Krise des Fordismus das Verhältnis von 25 Eine umfassende Analyse solcher Versprechungen und deren Enttäuschung müsste sich freilich von der Fixierung auf die Fordismus-Kategorie lösen. Alternative Bezugspunkte für eine solche Beschreibung wären die „Erfolgsgeschichte des Modells Deutschland“ (Rödder 2006) und ihr Niedergang, oder auch, wie Leisering es formuliert hat, die „Desillusionierungen des modernen Fortschrittglaubens“ (Leisering 2004). 26 Das Schlagwort der „Kultur des Zufalls“ steht aber neben uneindeutigen Inklusionsperspektiven zugleich für individuelle Orientierungslosigkeit, die sich aus dem wachsenden Einfluss des Zufalls bei der Lebensführung ergibt, und die als belastend wahrgenommen wird: „Es ist weniger die Arbeit, die abgelehnt wird, als vielmehr die diskontinuierliche und buchstäblich bedeutungslose Beschäftigungsform, die keinerlei Basis für den Entwurf einer gelungenen Zukunft abgibt. Diese Lebensweise verlangt Überlebensstrategien, die auf der Gegenwart aufbauen. Von da aus entwickelt sich eine Kultur, die, dem gelungenen Ausdruck Laurence Rouleau- Bergers zufolge, eine ‘Kultur des Zufalls’ ist.“ (Castel 2000: 358).
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Markt, Unternehmen und Beschäftigten neu strukturieren. Dabei wird sich ein weiterer Aspekt der neuen Unsicherheiten zeigen, nämlich derjenige der strategischen Nutzung der Unbestimmtheiten des Marktes zur Leistungsmotivation. 1.3 Die Krise des Fordismus und das neue Regime des Marktes In der Arbeits- und Industriesoziologie wird gegenwärtig darüber diskutiert, inwieweit die Krise des Fordismus (Altvater/Mahnkopf 2002: 12) als „epochaler Strukturwandel“ (Diewald & Konietzka 1998: 269; auch Kratzer et al. 2008: 11) aufzufassen ist, welcher bereits ein neues Produktionsmodell hervorgebracht hat. Während die Krisendiagnose des Fordismus eine breite Zustimmung erfährt, divergieren die Einschätzungen über den Reifegrad eines nachfordistischen Modells (Bischoff/Detje2003; Boes 2003; Dörre/Röttger 2003). In ihrer weitest reichenden Ausprägung vertreten Brinkmann und Dörre die These der Entstehung eines flexibel-marktgetriebenen Produktionsmodells, welches sie als „Gravitationszentrum eines „neuen Kapitalismus““ auffassen (Dörre 2003: 7). Diesen neuen Typ des Kapitalismus bezeichnen die Autoren als „Finanzmarkt-Kapitalismus“, da sie den globalen Finanzmärkten eine strukturierende Wirkung im Hinblick auf die Entstehung des neuen Produktionsmodells einräumen (vgl. Windolf 2005). Dieses Produktionsmodell sei zwar noch nicht durchgängig ausgeprägt; dennoch sei die nachfordistische Arbeitsgesellschaft bereits maßgeblich von dessen Logiken durchzogen (vgl. Dörre 2003: 7). Dagegen betonen Kratzer und Sauer (2003: 99), dass sich aktuell weniger die Überwindung der Krise des Fordismus durch ein neues Produktionsmodell abzeichne, sondern vielmehr Versuche der „Anpassung“ an die Krise zu beobachten seien. Die verschiedenen Diagnosen knüpfen jeweils an das Schema Fordismus – Postfordismus an, wenngleich damit unterschiedliche Konzepte verbunden werden: So erscheint der Postfordismus einstweilen als Abkehr von tayloristischen Prinzipien der Arbeitsorganisation27; anderenorts wird stärker auf eine neue historische Formation der Bezogenheit von „Akkumulationsregime“28 und „Regulationswei27 In diese Richtung geht die Definition von Bechtle und Sauer, die den Postfordismus folgendermaßen charakterisieren: „Postfordismus heißt in erster Linie die Aufhebung der fordistischen Herrschafts-, Kontroll- und Steuerungsform, in dessen Zentrum die Organisationsform Betrieb und dessen „Kommandosystem“ standen“ (Bechtle/Sauer 2003: 35). 28 Das Akkumulationsregime steht nach Lipietz für einen „Modus der systemischen Verteilung und Reallokation des gesellschaftlichen Produkts, der über eine längere Periode hinweg ein bestimmtes Entsprechungsverhältnis zwischen den Veränderungen der Produktionsbedingungen (dem Volumen des eingesetzten Kapitals, der Distribution zwischen den Branchen und den Produktionsnormen) und den Veränderungen in den Bedingungen des Endverbrauchs (Konsumnormen der Lohnabhängigen und anderen sozialen Klassen, Kollektivausgaben usw.) herstellt“ (Lipietz 1985: 120).
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se“29 hingedeutet, und zuletzt wird mit dem Etikett auf das veränderte Verhältnis zwischen Arbeit und Kapital verwiesen. Darüber stößt man in der Debatte auf unterschiedliche Sensibilitätsgrade bei der Nutzung dieses Kontrastschemas: Zwar wird das Schema Fordismus/Postfordismus als „verkürzte Konstruktion“ (Bechtle/Sauer 2003: 35) gewertet, dennoch bleibt der Rückgriff darauf auch jenseits der unmittelbaren „Postfordismus-Debatte“30 äußerst populär. Wenngleich „Post“ als das „Codewort für Ratlosigkeit“ gehandelt wird (Beck 1986: 12), so bietet doch eine solchermaßen unspezifische Begrifflichkeit zunächst einmal den Raum, den verschiedenen Dynamiken des Wandels Rechnung zu tragen. Wenn im Folgenden auf eben dieses Schema rekurriert wird, dann erfolgt dies unter dem speziellen Fokus auf die phänotypischen Erscheinungen, die sich für die Organisation von Arbeit ergeben. Prozesse wie die Subjektivierung der Arbeit, die Flexibilisierung, Prekarisierung werden damit als Ausdrucksformen des Postfordismus gewertet. Zugleich soll hier mit dem Etikett des Postfordismus auf die Übergangsprozesse von der Krise des Fordismus hin zu einem neuen Produktionsmodell verwiesen werden. Ebenso wenig, wie der Fordismus je als stabile oder widerspruchsfreie gesellschaftliche Formation angesehen wurde (Gramsci 1967) kann der Postfordismus diese Stabilität und Widerspruchsfreiheit einlösen. Vielmehr sind die Entwicklungslogiken im Postfordismus in den Bereichen der Arbeitsorganisation und Leistungssteuerung äußerst uneinheitlich. Voswinkel und Kocyba (2008: 32) bringen diese Heterogenität auf den Punkt: „Ebenso wenig wie alle Bereiche der Arbeitswelt in Zeiten des Fordismus fordistisch geprägt waren, sind sie heute postfordistisch geprägt.“ Den Kern der Postfordismusdiagnose, und hier kommen die AutorInnen für und wider ein neues Produktionsmodell zusammen, bildet die „Unterordnung der Produktionsunter die Marktökonomie“ (Kratzer/Sauer 2003: 99). An der „Verschiebung von Marktgrenzen“ (Brinkmann) zeige sich die Abkehr von der tayloristisch-fordistischen Syndromatik am deutlichsten (vgl. Dörre/Röttger 2003: 313). Daneben können zahlreiche weitere Aspekte des Postfordismus genannt werden, die ebenfalls dessen Struktur prägen. Peter (2003) nennt, hier Boyer (1992) folgend, neben einem veränderten Verhältnis von Produktions- und Marktökonomie die 1) Optimierung international vernetzter Wertschöpfungsketten, 2) die Integration von Forschung und Entwicklung in die Produktion, 3) neue Managementkonzepte und flache Hie29 Die Regulationsweise bezieht sich auf die institutionelle Stabilisierung und normative Regulierung der industriellen Beziehungen, sowie den Ideenkontext und die Wert- und Orientierungsmuster, die die Institutionen legitimieren. Aglietta (2000: 11) definiert die Regulationsweise als: „Gesamtheit von Vermittlungen, welche die von der Kapitalakkumulation hervorgerufenen Verwerfungen so eingrenzt, dass sie mit dem sozialen Zusammenhalt innerhalb der Nationen vereinbar sind.“ 30 Mit dem Etikett der „Postfordismus-Debatte“ bezeichnet Amin (1994) die Diskussion darüber, inwieweit die Krise des Fordismus bereits eine neue gesellschaftliche Formation herbeigeführt habe.
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rarchien, 4) Dezentralisierung von Entscheidungen und 5) Identifikation der Beschäftigten mit Unternehmen und Betrieb (Peter 2003: 173). Diese Kriterien beinhalten nahezu durchgängig die Folgewirkungen der „Vermarktlichung“, also „die Öffnung der Unternehmen zum Markt, marktliche Sanktion anstelle hierarchischer Kontrolle (marktorientierte Anreizsysteme) und faktische oder fiktive Konkurrenz von Unternehmenseinheiten (Cost-, Profit-Center)“ (Sauer/Döhl 1997: 22). Wenn im Folgenden ein kurzer Blick auf den Wandel von fordistischen hin zu postfordistischen Rationalisierungslogiken gerichtet wird, liegt der Schwerpunkt auf diesem Prozess der Vermarktlichung. Hinter dem von Gramsci entlehnten Begriff des „Fordismus“ steht eine komplexe Syndromatik, die in Begriffen der Regulationsschule (vgl. Hirsch/Roth 1986; Demirovic et al. 1992; Brand/Raza 2003) als „Produktionsmodell“ also als Zusammenspiel von Managementprinzipien, Arbeitsorganisation, industriellen Beziehungen und dem Bildungswesen begriffen werden kann. Dörre nennt im Anschluss an Boyer und Durand vier Basisprinzipien des fordistischen Produktionsmodells: „Es verfolgte die Reduktion und Rationalisierung operativer Zeit durch die Aufspaltung von Arbeitsaufgaben und deren Technisierung; es umfasste eine strikte hierarchische Organisation von Konstruktion, Entwicklung, Produktion und Vertrieb; es realisierte den Primat der Produktions- über die Marktökonomie, wobei unterstellt wurde, dass niedrigpreisige Waren immer einen Käufer finden und es nutzte den Dualismus von Großindustrie und Kleinbetrieben, indem große Firmen stabile Massenbedürfnisse befriedigten, während kleinbetriebliche Produktion die variable Nachfrage bediente“ (Dörre 2001: 695; vgl. auch Dörre/Brinkmann 2005).
Zugleich ist der Fordismus charakterisiert durch relativ hohe Löhne und die Ermöglichung einer dauerhaften Beschäftigungsform auf der Basis stabiler Massenproduktion und einem hohen Konsumniveau. Das Arbeitsorganisationsprinzip des Fordismus, der Taylorismus, zeichnet sich zentral durch die rigide Kontrolle des gesamten Arbeitsprozesses aus. Interessiert daran, den Arbeitsprozess zu optimieren, griff Taylor auf in den Naturwissenschaften angewendete Methoden der Beobachtung und des Experiments zurück, um Arbeitsabläufe exakt zu bemessen. Im Detail fußt dieses „scientific management“ auf der klaren Konturierung von Aufgaben und einer Formung von Arbeitsabläufen sowie der detaillierten Messung von Arbeitsleistungen. Insofern sprechen Boes und Bultemeier (2008: 59) treffend von einem „bürokratisch-tayloristischen Kontrollmodus“, durch den die Transformation von Arbeitskraft in Arbeitsleistung geleistet wurde. Eingebettet war dieses fordistische Produktionsmodell in den 1970er Jahren in (West) Deutschland in ein Modell des kooperativen Kapitalismus (Windolf/Bayer 1995). Bereits zu Beginn der 1970er Jahre zeichnete sich an der Erschöpfung von Produktivitätsressourcen sowie an einem neuartigen internationalen Konkurrenz-
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kampf die Krise des Fordismus ab.31 Es wurde deutlich, dass das fordistische Regulationsmodell keine Antworten auf die neuen Herausforderungen bot, die sich durch die Sättigung der Märkte und der nunmehr sich einstellenden Dominanz des Kunden stellten. Um auf Nachfrageschwankungen reagieren zu können, musste die Produktion dahingehend flexibilisiert werden, dass sie auf spezifische Kundenwünsche eingehen konnte. Diese hatten sich im Zuge der Diversifizierung von Lebensstilen und der Individualisierung pluralisiert, und waren nunmehr unvereinbar mit der Angebotspalette standardisierter Massenproduktion. Im Kontext dieser „flexiblen Spezialisierung“ (Piore/Sabel 1985) musste auch die Rolle der Beschäftigten im Produktionsprozess überdacht werden. Auf die Phase der Krise folgte diejenige der Suchbewegungen nach neuen Rationalisierungskonzepten in den 1980er Jahren.32 „Neue Rationalisierungstypen“ (Altmann et al. 1986) wurden ausprobiert und ebenso „neue Produktionskonzepte“ (Kern/Schumann 1984). Was Kern und Schumann im Rahmen ihrer viel diskutierten Studie „Ende der Arbeitsteilung“ über den Wandel von Rationalisierungslogiken diagnostizierten, war ein „grundlegender Wandel der Produktionskonzepte“ (Kern/Schumann 1984:19) und damit einhergehend ein gewandelter Blick auf die „lebendige Arbeit“: Diese wurde im Rahmen der neuen Produktionskonzepte als Produktivitätspotenzial gewertet, da ein „restriktiver Zugriff auf das menschliche Arbeitsvermögen wichtige Produktivitätspotentiale verschenkt“ (Kern/Schumann 1984: 19). Der erweiterte Zugriff auf Subjektivität erschien damit als neue ökonomische Ressource.33 Kern und Schumann (1894: 322) verknüpften mit diesem Bedeutungsgewinn von Subjektivität auch eine Aufwertung der Qualifikation sowie einen „pfleglicheren, „aufgeklärteren“ Umgang mit der lebendigen Arbeit“. Wenngleich spätere Studien andeuteten, dass sich die neuen Produktionskonzepte nicht in dem Maße durchgesetzt haben, wie Kern und Schumann prognostiziert hatten (vgl. Schumann 1994), so war doch eine Trendwende hin zu neuen Managementkonzepten unaufhaltsam. 31 Freilich darf eine Krisendiagnose hier nicht unsensibel gegenüber der Mehrdimensionalität und den Ungleichzeitigkeiten einzelner Krisensymptomatiken sein. So bedeutet die Krise des Fordismus nicht zwingend eine Krise des tayloristischen Arbeitsorganisationsprinzips, sondern kann auch mit einer Re-Taylorisierung oder, wie Matuschek, Kleemann und Voß (2008, 49) nahelegen, einer „subjektivierten Taylorisierung“ einhergehen. 32 Sauers (2005: 180) Unterscheidung von drei Phasen des Umbruchprozesses dient hier als Raster, entlang dessen sich der Wandel hin zu neuen Produktionskonzepten nachvollziehen lässt. Er unterscheidet die Krise des Fordismus in den 1970ern (1.) von der „Inkubationszeit“ in den 1980ern, in welcher die neuen Strategien ausprobiert wurden (2.), und grenzt diese Etappen ab von den 1990er Jahren, die er als „Umschlagsphase“ bezeichnet. Erst in dieser Phase setzten sich die neuen Produktionskonzepte flächendeckend durch. 33 Diese Sichtweise auf die lebendige Arbeit wurde im Rahmen der „neuen Rationalisierungstypen“ nicht geteilt; hier wurde zunächst davon ausgegangen, dass die Handlungsspielräume für die Beschäftigten sich verengen (Sauer/Döhl 1994: 208ff.).
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Die Studie des Massachusetts Institute of Technology (MIT) über die deutlich höhere Produktivität japanischer Automobilhersteller führte schließlich zu einem radikalen Umdenken (Womack/Jones/Ross 1990): Unter den Stichwörtern der lean production und des lean managements wurde diese neuartige Organisationsform der Produktion nunmehr verhandelt, die vor allem auf flachen Hierarchien und Entbürokratisierung (lean administration) sowie einer offeneren Form der Kommunikation zwischen den involvierten Akteuren basiert (vgl. ebd.). Das zentrale Prinzip der schlanken Produktion ist die Dezentralisierung, also die Verlagerung von vormals zentral gebündelten Kompetenzen hin zu operativen Einheiten, die nunmehr stärker an Entscheidungsprozessen partizipieren. Mit dem Aufkommen der neuen, partizipativen Managementkonzepte war zunächst auch die Hoffnung auf einen neuen Kompromiss zwischen der Organisation und den MitarbeiterInnen verknüpft: Um die Beschäftigten zu ihren neuen, erweiterten Aufgaben motivieren zu können, wurde im Rahmen eines „New Deal“, wie Dörre es nennt, erwartet, dass den Forderungen der Beschäftigten nach höheren Löhnen und besseren Arbeitsbedingungen nachgegangen würde (vgl. Dörre 2003: 8). Was sich aber im Laufe der Jahre zeigte, war eher ein „arbeitspolitisches roll back“ (ebd.: 9): Die direkte Partizipation der Beschäftigten war freilich nicht mit dem Ziel der Humanisierung der Arbeitsbedingungen eingeführt worden, sondern diente lediglich der Effizienzsteigerung. Von einem neuen Kompromiss zwischen Beschäftigten und Organisation, innerhalb dessen auch den Bedürfnissen der Beschäftigten Rechnung getragen wurde, kann deshalb keine Rede sein. Zudem zeigte sich, dass auch partizipative Managementformen nur in begrenzten Bereichen Anwendung fanden (vgl. Müller-Jentsch/Ittermann 2000: 225). Im Bereich der Industrie kann man deshalb von einem Prozess der „Re-Taylorisierung“ oder gar von einem „Ultrataylorismus“ (Dörre) sprechen. Der Begriff der Re-Taylorisierung zielt allerdings auf mehr, als es in den Debatten über die Hartnäckigkeit des Taylorismus nahegelegt wurde (vgl. Schumann et al. 1994). Zwar haben sich tayloristische Organisationsstrukturen in einigen Bereichen konsequent gehalten, in anderen Bereichen hingegen, in denen zeitweilig an der Überwindung tayloristischer Arbeitsteilung gearbeitet wurde, kam es zu einer regelrechten „Renaissance“ des tayloristischen Prinzips. Im Dienstleistungssektor, mit dessen Expansion ja ebenfalls deutliche Hoffnungen auf eine Humanisierung der Arbeit verknüpft waren (vgl. Offe 1984), zeichnete sich ebenso eine bemerkenswerte Tendenz ab: Gerade der Bereich der Dienstleistungen galt lange Zeit als nicht standardisierbar; zu komplex, spezifisch und an die Interaktionssituation rückgebunden erschien das immaterielle Gut der Dienstleistung. Aber auch hier konnte in den letzten Jahren eine Tendenz zur Taylorisierung und damit zur „Industrialisierung“ von Dienstleistungsarbeit“ (Kratzer et al. 2008: 18) festgestellt werden. Die Rationalisierung setzt dabei, wie Kratzer et al. (2008) bemerken, allerdings nicht länger an der Tätigkeit, sondern an der Organisation des Arbeitsprozesses, an den „Strukturen, Systemen und Prozessen“ (ebd.: 19)
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an.34 Seit den 1990er Jahren hat die Krise des Fordismus eine neue Dynamik entfaltet; nunmehr zeichnet sich nach einer Phase der „Entdeckung“ und „Inkubationszeit“ der Krise (Sauer 2005: 180) ein „neues Übergangsregime“ ab (Kratzer et al. 2008: 11), welches auf einer „marktzentrierten Produktionsweise“ (vgl. Dörre 2001) basiert. Der „Markt“ ist dabei zunächst als semantische Figur zu sehen, als eine „Metapher“ für „eine weitergehende Durchsetzung der kapitalistischen Verwertungslogik und des Konkurrenzprinzips“ (Sauer 2005: 180; Hervorh. F.H.). Die These der Vermarktlichung ist damit im Kern die These einer Radikalisierung der Vermarktlichungstendenzen: „Man kann diesen Zusammenhang als eine Radikalisierung der Vermarktlichung (Hervorh. im Orig.) bezeichnen: Während es in der Perspektive fordistischer Unternehmen darum ging, die konkreten Produktionsabläufe gegenüber den Unwägbarkeiten des Marktes abzuschotten, setzen neue Konzepte darauf, den Markt zum Motor der permanenten Reorganisation der Binnenstrukturen zu machen. Mit seiner Internalisierung wird der Markt in seiner Kontingenz und Dynamik zum Strukturierungsmoment der betrieblichen Organisation. Umgekehrt wird im Zuge dieser Prozesse jedoch auch der Markt selbst organisatorisch gestaltet. Marktprozesse werden instrumentalisiert und inszeniert, die Unbestimmtheit und Dynamik des Marktes wird auf diese Weise strategisch genutzt“ (Sauer 2007: 206).
Die Radikalisierung der Vermarktlichung zeigt sich damit insbesondere an einem anders gelagerten und eben strategischen Umgang mit den Kontingenzen der Ökonomie. Diese werden von der Organisation transformiert und in Form von geänderten Leistungsanforderungen an die Beschäftigten „weitergereicht“ (vgl. Voswinkel 2005). Hinter diesem anders gelagerten Umgang mit Marktkontingenzen steht ein komplexer Formwandel der Herrschaft bzw. Kontrolle, die auch als „Abstraktifizierung“ von Herrschaft bezeichnet wird: Wo früher die Kontrollform der „personale(n) Herrschaft“ genutzt wurde, wird heute auf die „objektivierte Herrschaftsform des Sachzwangs, des Marktes, der Konkurrenz, der Kapitalrendite“ zurückgegriffen (Moldaschl/Sauer 2000: 212).35 Entscheidendes Moment dabei ist die Nutzung von 34 Zu der Ausweitung tayloristischer Prinzipien im Dienstleistungsbereich, die als „subjektivierte Taylorisierung“ (Matuschek et al. 2008) bezeichnet werden, vgl. Kapitel 1.5.1. 35 Boes und Bultemeier unterscheiden in historischer Perspektive drei Modi der Kontrolle im Kapitalismus: Der „personale Kontrollmodus“ wird einer frühkapitalistischen Phase zugeordnet; hier wird die Kontrolle mittels „direkter personaler Beziehungen“, z.B. durch einen „Werkmeister“ ausgeübt. Daran schloss sich nach Boes und Bultemeier die Phase des „organisierten Kapitalismus“ an mit einem weitgehend subjektunabhängigen Kontrollmodus: „Er entfaltet seine Steuerungswirkung über ein Set von einheitlichen Regeln und Verfahren, welche vermittels der eingesetzten Technologie und auf der Basis organisatorischer Festlegungen Wirkung entfalten.“ Die AutorInnen sprechen hier von einem „bürokratischtayloristischen Kontrollmodus“. Den gegenwärtigen Kontrollmodus bezeichnen sie, hier
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Informationssystemen, durch welche die Marktanforderungen in Kennziffern und Zielvorgaben transformiert werden. Gemeint ist damit, dass das Prinzip der „Rechenhaftigkeit“ in die Unternehmen hinein geholt wird: Mittels Controlling- und Management-Informationssystemen wird eine Art zweiter betrieblicher Wirklichkeit generiert, die sich in Kennziffern niederschlägt (vgl. Boes/Bultemeier 2008: 62). Solche Informationssysteme, deren Nutzung unter dem Stichwort der „Informatisierung“36 diskutiert wird, gelten als „Rückgrat“ der Vermarktlichung (ebd.). Neben dem strategischen Umgang mit den Kontingenzen der Ökonomie bedeutet die Radikalisierung der Vermarktlichung zugleich eine gesteigerte Ökonomisierung sozialer Lebensbereiche. Die „Verschiebung von Marktgrenzen“ findet nicht ausschließlich zwischen Ökonomie und Organisation statt, sondern betrifft gleichermaßen das Feld der Gesellschaft wie auch dasjenige des Subjekts: So wurde insbesondere in den gouvernementality-studies die These einer „Ökonomisierung des Sozialen“ diskutiert (Bröckling 2000; Bröckling/Krasmann/Lemke 2000; Foucault 2000), und auch die Figur des „Arbeitskraftunternehmers“ (Pongratz/Voß 1998) unterliegt dem Zwang einer (Selbst-)Ökonomisierung. Mit der gesteigerten Ökonomisierung sind neue Anforderungen an das Arbeitshandeln der Individuen verbunden, die in der Formel „Handle unternehmerisch!“ (Bröckling 2007) zugespitzt werden. Um diesen Typ des Arbeitshandels zu erzeugen, greifen die Organisationen auf einen Steuerungsmodus der „indirekten Steuerung“ zurück (Sauer/Döhl 1997; Peters/Sauer 2005). Vom Management werden dabei lediglich Rahmenbedingungen genannt und Zielvorgaben gesetzt. Wie die konkrete Bearbeitung im Einzelnen auszufallen hat, ist von den Beschäftigten selbst zu organisieren. Die Selbststeuerung, die durch indirekte Steuerungsmechanismen provoziert wird, beinhaltet damit über die Koordination und Ausführung der Arbeitsaufgabe zugleich die Anforderung der eigenständigen „Lösung“ des Transformationsproblems. Die gegenwärtige Radikalisierung der Vermarktlichung, die hier in groben Zügen skizziert wurde, fußt also zentral auf einer „Implementierung von Unsicherheit“ (Nickel et al. 2008; vgl. auch Boes/Bultemeier 2008: 84) mit dem Zweck einer Leistungssteuerung, die unternehmerisches Handeln bei den Beschäftigten provozieren soll. Damit ist eine genuine Eigenschaft der „Ökonomie der Unsicherheit“ ausgemacht, auf die bereits in der Einleitung hingewiesen wurde: Es ist die gezielte Nutzung ökonomischer Unbestimmtheiten, die zumindest auf der Ebene des Kontrollmodus eine Neuerung zum fordistischen Unternehmen darstellt. Zwar sind die einen Terminus von Dörre (2001: 23) aufgreifend, als „marktzentrierte Kontrolle“ (Boes/Bultemeier 2008: 59f.). 36 Boes und Bultemeier setzen einen Begriff der Informatisierung voraus, der über die Nutzung von Computertechnologien hinausgeht. Informatisierung ist nach Boes ein „sozialer Prozess des bewussten, systematischen Umgangs mit Informationen (...), welcher darauf zielt, Informationen vom konkreten Subjekt unabhängig nutzen zu können.“ (Boes 2005: 214-215, zitiert nach: Boes/Bultemeier 2008: 62)
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veränderte Leistungsteuerung, die informatorische Überformung der betrieblichen Realität sowie die an Zielvorgaben ausgerichtete Arbeitsorganisation lediglich Teilaspekte des umfassenderen Prozesses der Vermarktlichung. Sauer nennt als weitere Kennzeichen der Vermarktlichung noch die Flexibilisierung der Beschäftigung sowie der Arbeitszeit und die Ausrichtung der Prozesse am Kunden (Sauer 2005: 180). Nichtsdestoweniger zeigen diese Prozesse noch unmittelbarer als Flexibilisierungbestrebungen die strategischen Aspekte der Nutzung von Unsicherheit . Wie sich an dieser Skizze der „nachfordistischen“ Wandlungsprozesse aufzeigen lässt, deutet zwar vieles auf eine neuartige Formation hin; allerdings sind die Veränderungen beispielsweise auf dem Gebiet der Arbeitsorganisation so heterogen (hier die Nutzung indirekter Steuerungstechniken, dort Retaylorisierung), dass es verfrüht wäre, von einem radikalen Umbruch auszugehen. Anders stellt sich der Wandel hin zu einer nachfordistischen Ökonomie auf dem Gebiet der Leistungssteuerung dar, auf welchem sich bereits deutlich ausgeprägte Züge des Neuen andeuten (Menz 2009). Somit scheint die Formel von der „Gleichzeitigkeit von Kontinuität und Umbruch“ (Kratzer/Sauer 2003: 101) am besten die gegenwärtigen Veränderungen in den Bereichen der Produktion, der Unternehmensorganisation und der Strukturierung der Arbeitsorganisation zu treffen. Die strategische Nutzung von Unsicherheit zeigt sich weiterhin besonders deutlich an den gegenwärtigen als Prekarisierung bezeichneten Wandlungen der Beschäftigungsverhältnisse, die im Folgenden fokussiert werden. 1.4 Unsicherheit der Beschäftigung Prekarität ist eine noch recht junge Beschreibungskategorie, die erst in den letzten Jahren im deutschsprachigen Diskursraum zu einem zentralen Begriff sozialwissenschaftlicher Forschung avancierte. Die rasche Etablierung des Begriffs ist darauf zurückzuführen, dass mit dem Etikett der Prekarität sowohl in der öffentlichen wie auch in der sozialwissenschaftlichen Diskussion eine begriffliche Leerstelle gefüllt wurde. Das Auftreten dieser Leerstelle kann als Konsequenz verschiedenartiger Transformationen der Arbeitsgesellschaft aufgefasst werden, die zu einer Zunahme von Unsicherheiten auf dem Arbeitsmarkt geführt haben. Diese neuen Unsicherheiten, die sich zentral aus der Zunahme atypischer Beschäftigungsverhältnisse speisen, werden gemeinhin als Prekarität bezeichnet. Neben diesen strukturellen Veränderungen kann die neue Popularität des Prekaritätsbegriffs zugleich auf eine „diskursive Schieflage“ zurückgeführt werden, die mittels der Prekaritätskategorie nunmehr korrigiert würde (Castel/Dörre: 11). Diese Schieflage resultiert laut Castel und Dörre (2009: 11) aus der Fehlprognose, „dass Verteilungskämpfe von den „Problemen der dicken Bäuche“ (Beck 1986: 4) überlagert oder gar verdrängt würden“. Durch die Zentralthesen der Risikogesellschaft wie auch durch die Diskussion
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über ein Ende der Arbeitsgesellschaft (Offe 1984; Rifkin 1997; König 1990) sei das Auseinanderklaffen der Arbeitsgesellschaft also unterthematisiert worden. Erst infolge der rapiden Zunahme unsicherer Arbeit und einer diskursiven Trendwende, die sich besonders durch eine intensivierte Auseinandersetzung mit der französischen Sozialphilosophie ergab, konnte Prekarität zu einem Zentralthema im öffentlichen wie fachwissenschaftlichen Diskurs werden. Dabei können mindestens drei verschiedene Felder ausgemacht werden, innerhalb derer je ein anderer Aspekt der Prekarität in den Fokus tritt. Erstens: Die Prekarisierungsdiskussion dreht sich um das Aufkommen neuartiger Beschäftigungsformen. Die Zahl atypischer Beschäftigungsformen wie Leiharbeit, befristete Beschäftigung oder Mini-Jobs hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen und das Antlitz der Arbeitsgesellschaft völlig verändert (vgl. Hoffmann/Walwei 2002; Dietz/Walwei 2006; Dietz/Walwei 2007; McGinnity/Mertens 2002; Promberger 2006). Diese Beschäftigungsformen werden als prekär bezeichnet, um damit die Abweichung vom Normalarbeitsverhältnis sowie Unterschreitung materieller, rechtlicher und sozialer Standards zu markieren. Die Zunahme prekärer Beschäftigungsformen wird in der Prekaritätsdebatte als Ursache einer Diffusion von Unsicherheiten gehandelt. Zweitens: Auch die Frage nach dem Wandel des Wohlfahrtstaates ist ein zentrales Feld der Prekarisierungsdiskussion. Denn dieser Wandel von einem „vorsorgenden“ zu einem „gewährleistenden“ oder „aktivierenden“ Sozialstaat, der mal als Demontage, als neoliberale Transformation oder bei Lessenich (2003; 2008) als „neosozialer Wandel“ bezeichnet wird, wird ebenfalls als Ursache für die neue soziale Unsicherheit genannt. Zudem ist die Zunahme atypischer Beschäftigungsformen auf Veränderungen der Arbeitsmarktpolitik im Rahmen der Agenda 2010 zurückzuführen. Drittens: Prekarität steht zudem für einen neu entstehenden Zwischenbereich zwischen sozialer Inklusion und Exklusion und beschreibt damit eine neue Kategorie sozialer Differenzierung. Dieser Aspekt wird besonders in den Arbeiten von Robert Castel deutlich, der von einer Gliederung der Arbeitsgesellschaft in drei Zonen ausgeht. Die Zone der Prekarität liegt für ihn im Bereich zwischen Integration und Entkoppelung (vgl. Castel 2000: 13). Prekarität zielt damit auf die Zwischenräume und Grauzonen zwischen dem sozialen „drinnen“ und „draußen“ sowie dem „oben“ und „unten“. Das impliziert zugleich, dass eine einfache Zuordnung gesellschaftlicher Teilhabe bzw. der Arbeitsmarktinklusion nicht mehr möglich ist. Arbeit und Nichtarbeit, Inklusion und Exklusion werden damit als bipolare Beschreibungskategorien obsolet und ersetzt durch die Vorstellung eines Kontinuums einer Vielzahl von Graden sozialer Integration. Mit der Ausweitung atypischer Beschäftigungsformen, der Veränderung des Wohlfahrtsstaates und der Diskussion von Prekarität als „Zone“ im Gefüge sozialer Ungleichheiten sind drei zentrale Achsen der gegenwärtigen Prekaritätsforschung
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umrissen, die je einen anderen Prekaritätsbegriff implizieren: Im ersten Fall steht Prekarität für die Abweichung oder Unterschreitung von der Normalarbeit, im zweiten für eine Veränderung rechtlicher Regulierung von Beschäftigungsformen und im dritten für eine neu entstehende unsichere Zone der arbeitsgesellschaftlichen Integration. Neben diesen spezifischen Verwendungsweisen des Prekaritätsbegriffes steht Prekarität zugleich für die „fundamentale Verunsicherung aller Lebensund Arbeitsbereiche bis weit in die Mitte der Gesellschaft hinein“ (Rademacher/Lobato 2008: 118; vgl. auch Damitz 2007: 67). Dieses allgemeine Verständnis von Prekarität, welches auf komplexe Unsicherheitslagen verweist, findet sich insbesondere in den Ausführungen von Bourdieu und Castel. Für Castel ist das Resultat dieser fundamentalen Verunsicherung eine „Kultur des Zufalls“: „Das Verblassen von kollektiven Rahmen und allgemeingültigen Bezugspunkten ist nicht auf die Arbeitssituation beschränkt. Flexibel wird auch der Lebenslauf durch die Ausdehnung einer oft der Kultur der Zufälligkeit überlassenen ‘Post-Adoleszenz’, die Wechselfälle einer ramponierten Berufsbiographie und eine nachberufliche Phase, die sich oft vom vorzeitigen Ausstieg bis an die immer weiter nach hinten ausgedehnten äußersten Ränder des ‘vierten Alters’ zieht. Eine Art Deinstitutionalisierung im Sinne einer Loslösung von den objektiven Rahmen, die das Leben der Subjekte strukturieren, zieht sich durch das gesamte gesellschaftliche Leben.“ (Castel 2000: 407)
Ein solcher Prekaritätsbegriff zielt genau auf das, was oben unter dem Stichwort der neuen Unsicherheit verhandelt wurde: Denn für Castel geht es um weit mehr als die Veränderung der Erwerbsarbeit, für ihn ist der kulturelle Wandel, der sich in veränderten Erwartungssicherheiten und in der Folge in veränderten Mentalitäten niederschlägt, entscheidend. Um Prekarität aber zunächst als Unsicherheit der Beschäftigung zu fassen bietet es sich an, diesen weiteren Radius einzugrenzen und den Fokus auf den Wandel der Beschäftigungsformen zu legen und dabei die Konsequenzen für die soziale Integration mit in den Blick zu nehmen. Da der Begriff der Prekarität allerdings noch „in Bewegung“ ist, soll zunächst auf die begriffliche Entwicklungsgeschichte eingegangen werden. 1.4.1 Problematisierungen von Prekarität Zu Beginn des 21. Jahrhunderts zeichnet sich in den Sozialwissenschaften ein neues Interesse am Phänomen des gesellschaftlichen Ausschlusses oder Überflüssigseins ab (vgl. Kronauer 2002; Baumann 2005; Bude/Willisch 2008).37 Daran anknüpfend und zugleich als Korrektur dieses bipolaren Schemas rückte jene Grauzone der 37 Zur „Unterschichtsdebatte“ in den Medien vgl. Süddeutsche Zeitung, 5.10.2006, S. 47; 17.10.2006, S. 2; 17.10.2006, S. 4; 18.10.2006, S. 24; 18.10.2006, S. 13; 21.10.2006, S. 13; 23.10.2006, S. 4.
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„perforierten Arbeitslosigkeit“ (Ganßmann/Haas 1999), also des Bereiches zwischen „Drinnen“ und „Draußen“, stärker in den Fokus des Interesses. In der öffentlichen Diskussion konnte man in Deutschland in den letzten Jahren -gleichsam parallel zu der wissenschaftlichen Erforschung- die Karriere eines für den deutschen Sprachraum wenig geläufigen Begriffs beobachten, des Begriffs der Prekarität. Der öffentliche Aufstieg des Prekaritätsbegriffs kann an drei Debatten fixiert werden, die in je unterschiedlichem Umfang zur Popularität dieses Begriffs beitrugen. War die Rede von „Prekarität“, „Prekariat“ und „Prekarisierung“ noch im Sommer 2005 sehr wenig verbreitet, führten die Ausschreitungen in den Banlieues in Frankreich im Herbst 2005 zu einer ersten Aufmerksamkeitswelle: Die gewaltsamen Proteste der Jugendlichen zeugten von einer neuen „gefährlichen Klasse“, die an den Rändern der urbanen Zonen zu wachsen schien. Die Ursachen für diese Ausschreitungen wurden neben kulturellen Integrationsproblemen vor allem in der Perspektivlosigkeit der Jugendlichen gesehen: Es rebellierten Jugendliche, für die offenbar kein Platz in der Gesellschaft vorgesehen war. Erneut Aufmerksamkeit erlangte die Diskussion über Prekarität zum „Tag der Arbeit“ 2006, als die Organisation „Génération précaire“ in zahlreichen deutschen Städten mit ihren weißen Masken das Bild der Demonstrationen entscheidend mitprägten. Prekarität wurde in der Folge ein beliebtes Thema der Feuilletons. Ausgelöst durch die Studie Gesellschaft im Reformprozess der Friedrich-Ebert-Stiftung flammte im Spätherbst 2006 die Unterschicht-Debatte auf: In der Studie war der Begriff des „abgehängten Prekariats“ gefallen. Damit wurde ein „politischer Typ“ umschrieben, der von Abstiegserfahrungen geprägt und mit der Arbeit der Großen Koalition höchst unzufrieden sei. Im Anschluss an diese Debatte wurde „Prekariat“ zu einem Wort des Jahres der Gesellschaft für deutsche Sprache 2006 gekürt. An der nunmehr zu beobachtenden freizügigen Nutzung des Prekaritätsbegriffs (z.B. „Fernseh-Prekariat“, „HartzPrekariat“, „Sing-Prekariat“) zeigt sich, dass Prekarität und Prekariat im Wortschatz angekommen sind. Jenseits der öffentlichen Diskussion sind für die Etablierung des Prekaritätsbegriffs in der sozialwissenschaftlichen Diskussion zwei französische Autoren zu nennen, die die Debatte über die Entstehung einer Zone der Prekarität maßgeblich vorangetrieben haben: Pierre Bourdieu und Robert Castel. Bourdieu thematisiert in seinem Essay La précarité est aujourd‘hui partout, dass die Prekarisierung als ein Prozess aufzufassen ist, der durch die Zunahme unsicherer Beschäftigungsverhältnisse zu verschärften Problemlagen führt und dadurch Verunsicherung letztlich in alle Teile der Gesellschaft bringt. Die Erzeugung dieser kollektiven Unsicherheit sei eine Strategie der Unternehmen, um dadurch die Einsparung von Personal und Kosten zu legitimieren. Um von den eigenen Rationalisierungsstrategien abzulenken, würde als Ursache der Unsicherheit auf den Megatrend der Globalisierung verwiesen. Für Bourdieu ist klar, dass die Unsicherheit nicht als ungewollte Nebenfolge, sondern als ein Produkt eines „politischen Willens“ zu deuten ist (ebd.:). Mit der groß angelegten Studie Das Elend der Welt liefert Bourdieu
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die empirische Fundierung seiner kritischen Untersuchungen (Bourdieu et al. 1997). Um das „alltägliche Leiden(s) an der Gesellschaft“ einzufangen, führten Bourdieu und KollegInnen zahlreiche qualitative Interviews. Diese Interviews und Kommentare liefern das Bild einer fragmentierten Gesellschaft, deren Kohäsionskraft an nahezu jeder Konfrontationslinie (jung/alt; beschäftigt/arbeitslos; urban/rural) auf die Probe gestellt wird. Allerorten wird die wahrgenommene Unsicherheit und soziale Haltlosigkeit thematisiert, die besonders durch die Problematik prekärer Beschäftigung befeuert wird.38 Die Monographie Les métamorphoses de la question sociale von Robert Castel (2000) kann ebenfalls als wichtiger Beitrag zur Diskussion über Prekarität aufgefasst werden. Castel unternimmt hier eine historische Untersuchung über die Institutionalisierung der Lohnarbeit. Den Wandel der Lohnarbeit deutet er als Ausdruck einer sich verändernden sozialen Frage. Castel grenzt hier drei geschichtliche Etappen voneinander ab, innerhalb derer sich die soziale Frage auf eine je andere Art stellt: Musste sich die Lohnarbeit zunächst aus traditionellen vormundschaftlichen Beschränkungen lösen, stellte sich sodann das Problem mangelnder sozialer Absicherung. Als Antwort auf dieses Defizit etablierten sich die sozialen Sicherungssysteme, wodurch die Lohnarbeit eine Aufwertung erfuhr und zur zentralen Vergesellschaftungsinstanz avancierte. Seit den 1970er Jahren zeichnet sich nach Castel eine tiefgreifende Krise der Lohnarbeitsgesellschaft ab: Die „soziale Verwundbarkeit“, die zuvor ein Problem an den Rändern der Gesellschaft darstellte, rücke nun vor in das Zentrum der Gesellschaft. Für Castel wird durch solche Prozesse der Prekarisierung und Individualisierung nicht weniger als der Status der Lohnarbeit infrage gestellt (ebd.: 336). Er vermutet, dass nunmehr eine neue, vierte Etappe angebrochen sei, die nicht ausschließlich auf ökonomischen Krisenerscheinungen basiere, sondern eine „Krise der Integration durch Arbeit“ markiere (ebd.: 390). Prekarität tritt in Castels Untersuchung anschaulich in Gestalt der Ausdehnung einer Zone der Prekarität (ebd.: 13) auf; jenes gesellschaftlichen Bereiches zwischen „Integration“ und „Entkoppelung“. Sowohl Bourdieu als auch Castel können dem Zweig politischer Intellektueller zugerechnet werden, die jenseits ihrer wissenschaftlichen Arbeit politischem Engagement einen hohen Stellenwert einräumen. Sie fügen sich damit in die Traditionslinie französischer kritischer Sozialphilosophie ein, die aufgrund einiger kultureller Differenzen stärker ausgeprägt ist als in Deutschland.39 Besonders Bourdieu kann 38 Für die Erforschung von prekären Beschäftigungsformen ist vor allem der Beitrag von Michel Pialoux und Stéphane Beaud zu nennen, in dem das Verhältnis von Stammarbeitern und Leiharbeitern in einer Automobilfabrik detailliert beschrieben wird. Vgl. Pialoux, Michel /Beaud, Stéphane: Stammarbeiter und befristet Beschäftigte. (Bourdieu et al. 1997: 307f). 39 Neben einem anderen Selbstverständnis der französischen Soziologie nennen Moebius und Peter weitere Gründe für die in Frankreich deutlich ausgeprägtere Parteinahme der Soziologie, die in der französischen Gesellschaftsarchitektur begründet sind: So seien kultu-
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durch seine Einflussnahme auf politische Prozesse als exemplarisch für diesen Typus des „französischen Intellektuellen“ gewertet werden. In seinen Schriften seit den 1980er Jahren ging Bourdieu mehr und mehr auf aktuelle politische Probleme ein und avancierte auch durch sein Engagement zu einem prominenten Kritiker des Neoliberalismus. Sein politisches wie auch wissenschaftliches Engagement und die Verquickung dieser beiden Bereiche erschließt sich insbesondere darüber, welche Rolle Bourdieu der Soziologie für die Gesellschaftskritik beimisst.40 Für Bourdieu kommt der politischen Soziologie vor allem eine Aufgabe zu: Zu stören (vgl. Bittlingmayer/Eickelpasch 2002: 13; Schultheis 2004: 11). Bereits die Aufklärung über die Struktur gesellschaftlicher Machtverhältnisse berge in sich ein Potential, die eigenen Lebensumstände gesellschaftlichen Fehlentwicklungen zuzuschreiben und nicht sich selbst anzulasten: „Die Mechanismen, die das Leben leidvoll und oft unerträglich machen, zu Bewusstsein zu bringen, heißt noch keineswegs, sie auszuschalten. Widersprüche sichtbar zu machen, bedeutet nicht, sie zu lösen. Aber bei aller Skepsis hinsichtlich der gesellschaftlichen Wirksamkeit soziologischer Botschaften kann man ihnen dennoch nicht jegliche Wirkung absprechen, eröffnen sie doch jenen, die leiden, einen Weg, ihr Leiden auf gesellschaftliche Ursachen zurückzuführen und sich solcherart vom Gefühl eigenen Verschuldens zu befreien. Und bringen sie doch die kollektiv verdunkelte gesellschaftliche Bedingtheit des Elends in all seinen auch noch so intimen und noch so geheimen Formen zu Bewusstsein.“ (Bourdieu et al. 1997: 826)
Nicht auf den sozialen Ursprung verschiedener Formen des Leidens zu verweisen und diese politisch zu bekämpfen, ist für Bourdieu „unterlassene Hilfeleistung“ (ebd.: 826): „Nichts ist weniger unschuldig, als den Dingen einfach ihren Lauf zu lassen“. Solche Positionen erzeugten freilich vielfältige Kritik. Es wurde angemerkt, die Vermengung von politischer Stellungnahme und sozialwissenschaftlicher Forschung sei ein Verstoß gegen das „Reinheitsgebot“ der Wissenschaft (Schultheis 2004: 12). Besonders heftige Kritik erzeugte einerseits die Textsammlung Gegenfeuer sowie die Sozialstudie La misère du monde. Dieser Sozialreport kann als Versuch gelerelle Segmentierungen wie auch die Distanz zwischen Masse und Elite deutlicher ausgeprägt. Darüber hinaus präge die scharfe Differenz urbaner und ruraler Räume die französische Gegenwartsgesellschaft. (vgl. Moebius/Peter 2004: 66). 40 Celikates (2009: 52ff.) bringt Bourdieus Sichtweise auf die besondere Position des Sozialwissenschaftlers für die Kritik sozialer Verhältnisse mit Bourdieus Algerienstudien über den Gabentausch in Verbindung. An der Deutung dieses Phänomens werde offenkundig, dass die Teilnehmerperspektive nicht hinreichend ist, um den sozialen Prozess des Gabentausches in vollem Umfange zu begreifen. Ebenso wenig aber genüge die Außenperspektive zum Verständnis des Gabentausches, wie sie in objektivistischen Ansätzen ausschließlich herangezogen wird. Aus dieser Einsicht leite sich Bourdieus Verständnis der Aufgabe des Sozialwissenschaftlers ab, „die Aufklärung der Akteure und (die) Auflösung ihrer doxa voranzutreiben“ (ebd.: 69).
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sen werden, den verschiedenen Formen des Elends Beachtung zu schenken und sie verstehen zu lernen. Denn für Bourdieu liegt auf der Hand, dass die geringe Aufmerksamkeit, die zeitweise den Problemen der sozialen Marginalisierung geschenkt wurde, ein zentraler Bestandteil des Elends selbst ist. Während Das Elend der Welt in Frankreich sehr stark rezipiert wurde, erzeugte es in der deutschen Soziologie anfänglich nur geringe Resonanz (vgl. ColliotThélène/François/Gebauer 2005: 10). Dies zeigt sich nicht zuletzt daran, dass die deutsche Übersetzung erst vier Jahre nach der Veröffentlichung von La misère du monde erfolgte. Auch Bourdieus Schriften gegen den Neoliberalismus wurden in Deutschland sehr zögerlich aufgenommen. Dies ist auf den Umstand zurückzuführen, dass in der deutschen Bourdieu-Rezeption zunächst der Fokus auf seinen Untersuchungen über Lebensstil und Habitus lagen (vgl. Hartmann 2005: 255). Die Entdeckung des „politischen Bourdieu“41 erfolgte erst in den 1990er Jahren, zu einer Zeit also, in der die Kritik an problematischen Globalisierungseffekten immer lauter wurde. Freilich tat sich insbesondere das deutsche Publikum mit einer solchen Art von Sozialforschung, wie sie im Elend der Welt praktiziert wurde, äußerst schwer. Denn gerade hier ist die Sensibilität für Widerspiegelungstheorien, die äußere Problemkonstellationen als Ursache für subjektive Empfindungslagen veranschlagen, besonders ausgeprägt. Die Distanz gegenüber derartigen Ansätzen lässt sich nicht zuletzt an der Entwicklung der Arbeitslosenforschung in Deutschland ablesen. Hier zeigt sich von den frühen Marienthal-Studien bis hin zur „differentiellen Arbeitslosenforschung“ (Wacker) eine Abkehr von verallgemeinernden Einschätzungen der Folgen von Arbeitslosigkeit hin zu differenzierenden Typisierungen, die die Arbeitslosigkeit als Phase in eine je spezifisch ausgeprägte biographische Situation einzubetten suchte (vgl. Vonderach 2002; Bude 2008b; Vogel 2008a).42 Bourdieu war sich der Vorbehalte des deutschen Publikums bewusst und appellierte in seinem Vorwort zu Gegenfeuer an die Wissenschaft, ihre „Zurückhaltung ab(zu)legen, um die drängenden Fragen der Zeit mit den Waffen der Wissenschaft angehen zu können“ (Bourdieu 2004: 17f.). Alles andere sei „Weltflucht im Namen der Wertfreiheit“ (ebd.: 17). Hinsichtlich der Kapitalismuskritik und Appellation der Intellektuellen zeigt sich Robert Castel zurückhaltender, wenngleich er in seinen Veröffentlichungen deutlich Position bezieht. Dies zeigt sich einerseits in den Metamorphosen, in Krais sieht die Entdeckung des „politischen Bourdieu“ als letzten Schritt einer dreigliedrigen deutschen Bourdieurezeption. Dieser Rezeptionsphase gingen einerseits die Annäherung über die Bildungssoziologie und anschließend die Rezeption seiner Untersuchungen über Klassenlage und Geschmack, insbesondere Die feinen Unterschiede voraus. (vgl. Krais 2005: 79f.) 42 Im Gegensatz zur frühen Arbeitslosenforschung, die die Belastungen durch Arbeitslosigkeit in ihr Zentrum stellt, arbeitet die „differentielle Arbeitslosenforschung“ mit CopingTheorien, innerhalb derer protektive Faktoren oder Ressourcen für die Bewältigung von Arbeitslosigkeit ermittelt werden. 41
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denen er die integrierende Funktion der Arbeit herausarbeitet, andererseits an seiner Kritik des Exklusionsbegriffes (vgl. Castel 2000b). Die Bändigung allgemeiner Unsicherheiten kann aus der Perspektive von Castel und Bourdieu nur über die Verteidigung und Stabilisierung sozialstaatlicher Strukturen erfolgen. Castel vermutet in seinen Metamorphosen, dass nur der Sozialstaat in der Lage sei, das Aufkommen eines „negativen Individualismus“ (ebd.: 407), also einer Vereinzelung aufgrund des „Fehlens von Rahmen und nicht aufgrund einer Übertreibung subjektiver Investitionen“ (ebd.: 407) einzugrenzen und den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken. Castel ist wichtig, die negativen Konsequenzen der Individualisierung sauber von den positiven zu trennen. Diese Abgrenzung ist ihm auch beim Begriff des Risikos wichtig: Unsicherheiten sollten klar als „Schädigungen oder Belastungen“ in den Blick treten (Castel 2005: 82f.). Castel vermutet eine Risikoideologie (2005: 89), durch welche Gefahren in Risiken umgedeutet würden. Die Individuen seien nun alleinige Träger des Risikos und ein gemeinsames Aufbegehren gegen die Unsicherheiten sei so unmöglich. Für Bourdieu ist klar, dass hier der Soziologie eine entscheidende Rolle bei der Aufklärung über die gesellschaftlichen Machtverhältnisse zukommt: Denn die soziologische Diagnostik ermögliche bereits, die eigenen Lebensumstände gesellschaftlichen Fehlentwicklungen zuzuschreiben und nicht sich selbst anzulasten (vgl. Bourdieu 1997: 826). Castel und Bourdieu sprechen sich damit für eine klarere Semantik in der Risiko- und Individualisierungsdiskussion aus, und weisen nachdrücklich auf die wichtige Rolle der Intervention durch Intellektuelle hin. Obschon die Prekaritätsforschung in den letzten Jahren einen regelrechten Boom erlebt, reicht die Diskussion über Prekarität sowohl in Frankreich als auch in Deutschland gut drei Jahrzehnte zurück. Im Laufe der Zeit wandelten sich dabei die Verwendungsweisen des Begriffs, wie Barbier (2002) im Rahmen einer Begriffsgeschichte für das französische précarité nachzeichnet. Über einen Zeitraum von ca. 30 Jahren differenziert er vier verschiedene Verwendungsweisen des Begriffs précarité: Zunächst bedeutete précarité „a social condition, a situation, a state of families/ households, and also a process potentially leading to poverty“ (1) (ebd.: 6). Mit der Einsicht, dass solche prekären Zustände in unmittelbarer Verbindung zu der Erwerbssituation standen, die für eine wachsende Zahl der Beschäftigten immer unsicherer wurde, verschob sich die Bedeutung weg von Familienkontexten hin zur Identifizierung prekärer Arbeit (emploi précaire). Der Prekaritätsbegriff bezog sich nun auf einen sozialen Status, der unmittelbar mit dem Arbeitsverhältnis verknüpft ist (2) (ebd.: 6). In den frühen 1980er Jahren fand der Prekaritätsbegriff Eingang in die Rechts- und Verwaltungssprache. Im Code du travail bezeichnet précarité einen unsicheren Arbeitsvertrag (3)(ebd.: 7). Zu Beginn der 1990er Jahre lockerte sich die Verwendung des Prekaritätsbegriffs dergestalt, dass Prekarität verstärkt auf die Unsicherheitssituation als Folge instabiler Arbeit bezogen wurde. Darüber hinaus löste
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sich der Begriff von einer spezifisch individuellen Prekaritätskonstellation und beschreibt nunmehr eine allgemeine Unsicherheit, die sich über die gesamte Gesellschaft erstreckt (4) (ebd.: 7). In diesem Kontext wurde auch der Begriff der précarisation, der Prekarisierung als Prozess der Ausbreitung von Unsicherheit, populär (ebd.: 7). An diesem kurzen Überblick der semantischen Veränderungen zeichnet sich bereits die Schwierigkeit ab, Unsicherheitsproblematiken an einzelne Lagen, familiäre Konstellationen oder eben Beschäftigungsverhältnisse rückzubinden. Die verschiedenen Bedeutungskomponenten des Prekaritätsbegriffs finden sich, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, auch in den aktuellen deutschsprachigen Prekaritätsanalysen wieder. Seit den 1980er Jahren tauchte das Adjektiv prekär im deutschsprachigen Diskurs vereinzelt auf, um Arbeitsbeziehungen ohne Garantien zu beschreiben (vgl. Mayer-Ahuja 2003: 11). Es waren hier auch verstärkt Untersuchungen aus dem Bereich der Biographieforschung, innerhalb derer prekäre Beschäftigungsformen, insbesondere die Zeitarbeit, untersucht wurden.43 Die jüngeren deutschsprachigen Diskussionen über Prekarität sind entscheidend durch die Untersuchungen von Klaus Dörre und Berthold Vogel geprägt (vgl. Dörre 2005; 2006; Dörre/Kraemer/Speidel 2004; Vogel 2004, 2007, 2008b; 2008c; Vogel/Grimm 2008). Dörre et al. untersuchen Prekarität bzw. prekäre Beschäftigung mit Blick auf die Desintegrationspotenziale solcher Beschäftigungsformen. Dörre (2005) greift dabei das Castelsche Zonenmodell auf, und ermittelt auf der Grundlage eigener Untersuchungen44 eine Typologie von neun Integrationsmodi, die sich den drei Zonen
43 Hier besonders: Sonderforschungsbereich 186 der Universität Bremen: Statuspassagen und Lebensverlauf, vgl. Brose et al. 1987a; 1987b; Brose et al. 1993. Brose et al. (1993: 47) betonen hier, dass die Etikettierung bestimmter Beschäftigungsformen als prekär durchaus zutreffend ist: „Unter dem Sammelbegriff der vom Normalarbeitsverhältnis abweichenden Beschäftigungsverhältnisse werden nämlich durchaus sehr unterschiedliche soziale Bedingungen zusammengefaßt. Damit wird auf Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen Bezug genommen, die von den als „normal“ definierten, unbefristeten und vollzeitigen Beschäftigungsverhältnissen abweichen und die tarif- und arbeitsvertraglich einen geminderten Schutz haben. Beispiele sind, neben der Zeit-/Leiharbeit, die wir in das Zentrum unserer Untersuchung gestellt haben, die Praxis der Befristung von Arbeitsverträgen, die in der letzten Dekade ebenfalls quantitativ zugenommen hat, die abhängige Selbständigkeit, geringfügige Beschäftigungsverhältnisse und Heimarbeit. Diese Beschäftigungsverhältnisse werden häufig als prekär bezeichnet. Für die bisher genannten trifft dies sicherlich - wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß - grundsätzlich zu.“ 44 In dem Teilprojekt „Prekäre Beschäftigung – Ursache von sozialer Desintegration und Rechtsextremismus“ des Forschungsverbundes „Desintegrationsprozesse- Stärkung von IntegrationsPotentialen einer modernen Gesellschaft“ (Universität Bielefeld) wurden auf der Grundlage von 88 halbstrukturierten Interviews, Gruppenbefragungen und Expertengesprächen diese neun Formen der Desintegration durch Erwerbsarbeit ermittelt (vgl. Dörre 2005).
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unterordnen lassen.45 Ein zentrales Ergebnis seiner Untersuchungen ist, dass sich die Castelschen Zonen tatsächlich im Bewusstsein der Beschäftigten wieder finden. Berthold Vogel analysiert neben seinen Untersuchungen über Leiharbeit (2004; Noller/Vogel/Kronauer 2004) insbesondere die Verunsicherung der Mittelklassen sowie prekarisierte Erwerbsverläufe (2007; 2008b; 2009). Innerhalb dieser Untersuchungen über Prekarität kommt jeweils dem Normalarbeitsverhältnis bzw. der These der Erosion desselben (vgl. Mückenberger 1985) eine zentrale Stellung zu. 1.4.2 „Normalarbeit“, „prekäre Arbeit“ und Prekaritätskonstellationen Prekarität wurde in der arbeitssoziologischen Diskussion zunächst als „prekäre Arbeit“ bestimmt, die sich in Abgrenzung zum „Normalarbeitsverhältnis“ definiert (vgl. Dörre/Kraemer/Speidel 2004; vgl. Mayer-Ahuja 2003). Als prekär gilt eine Beschäftigung, sobald soziale und rechtliche Standards der Normalarbeit unterschritten werden. Nicht unproblematisch an dieser relationalen Definition ist allerdings die Unschärfe des Konzeptes der Normalarbeit: Obwohl der Begriff „Normalarbeitsverhältnis“ seit mehr als zwei Jahrzehnten im arbeitssoziologischen Diskurs gängig ist (vgl. Bosch 2001; Dombois 1999; Hoffmann/Walwei 2002; Mückenberger 1985; Wagner 2000), finden sich sehr heterogene Definitionen: Die Normalarbeit wird ausführlich beschrieben als unbefristete, existenzsichernde, sozialversicherungspflichtige, von einem männlichen Arbeitnehmer ausgeführte Vollzeittätigkeit, die außer Haus erledigt wird, zeitlich begrenzt und gleichmäßig auf die Wochenarbeitstage verteilt ist. Neben dieser ausführlichen Definition existiert auch eine schlankere, die dem Umstand Rechnung trägt, dass die Normalarbeit selbst sich im Zuge wandelnder Arbeitsrealitäten verändert hat: Im Zuge der Tertiarisierung, Flexibilisierung und Feminisierung der Arbeit werden in minimalistischeren Definitionen Aspekte wie Arbeitsort, gleichmäßige Arbeitszeit und Geschlecht außer Acht gelassen. Gerade diese Unterschiede hinsichtlich der Detailliertheit bei der Bestimmung der Normalarbeit sorgen dafür, dass sich auch bei der Frage einer Erosion des Normalarbeitsverhältnisses (vgl. Mückenberger 1985) kein einheitliches Bild zeigt: Denn je genauer die Normalarbeit definiert wird, desto eher kann auch ihre Erosion beobachtet werden. Auch jenseits der Diskussion über die Definitionsweite ist die Rede von der Normalarbeit äußerst umstritten.46 Nichtsdestoweniger nimmt der Begriff der Normal45 Zu bemerken ist hier, dass der von Dörre, Kraemer und Speidel verwendete Integrationsbegriff sich zwar entlang des Castelschen Zonenmodells orientiert, gleichzeitig aber stark durch den Bielefelder Desintegrationsansatz geprägt ist (vgl. Anhut/Heitmeyer 2000; 2005; Kraemer und Speidel im selben Band 2005). 46 Hier nennt Mayer-Ahuja zunächst die wissenschaftliche Kritik am Normalarbeitsverhältnis, die sich auf die Disziplinierungswirkung (2003: 42) dieser Form der abhängigen Beschäfti-
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arbeit eine zentrale Stellung in der Prekaritätsdebatte ein, obschon er dabei in unterschiedlicher Perspektive angeführt wird: Als historisch-empirische Realität, die in der Hochphase des Fordismus ausgeprägt war und nun „erodiert“, als arbeitspolitische Orientierungsgröße für „gute Arbeit“ (Fuchs 2003) oder als Idealform der Beschäftigung aus einer normalbiographischen Erwartungsperspektive. Inwieweit man von einer Erosion der Normalarbeit reden kann, wird dabei äußerst kontrovers diskutiert (vgl. Bosch 2000; Döhl/Kratzer/Sauer 2000). Wenngleich auch in der empirischen Forschung die Meinungen über das Verhältnis standardisierter und nichtstandardisierter Beschäftigungsformen auseinandergehen, ist doch eine deutliche Tendenz der Zunahme nicht-standardisierter Beschäftigungsformen ablesbar (vgl. Dörre/Fuchs 2005; Dietz/Walwei 2007; Hoffmann/Walwei 2002; Promberger 2006), wobei die Normalarbeit die empirisch dominanteste Beschäftigungsform bleibt (IAB 2000). So zeigt auch Erlinghagen (2005: 34), dass der Anteil der sozialversicherungspflichtigen und unbefristeten Beschäftigungsverhältnisse im Jahr 2000 zwei Drittel der Beschäftigungsverhältnisse ausmachte und bei Einbeziehung aller Beamten und Auszubildenden von rund drei Viertel aller Beschäftigten in Normalarbeitsverhältnissen gesprochen werden kann. Auch die Stabilität von Beschäftigungsverhältnissen habe sich in Westdeutschland in den Jahren 1984 bis 2000 nicht verringert (Erlinghagen 2005: 35). Gegen diese Werte als Indikatoren für die Stabilität der Normalarbeit ist aber anzuführen, dass mit der Fokussierung auf sozialversicherungspflichtige Beschäftigung und Beschäftigungsstabilität wesentliche Kenngrößen für die Normalarbeit, wie z.B. ihre existenzsichernde Funktion, gar nicht erfasst werden.47 Dagegen kann die dramatische Ausdehnung des Niedriglohnsektors als ein wichtiges Indiz des Rückgangs von Normalarbeit gewertet werden (Bosch/Kalina 2007). Zudem zeigt sich eine rapide Zunahme ‘atypischer’ Beschäftigungsformen, insbesondere der Leiharbeit, erst in den letzten Jahren (Promberger 2006). Zusammengenommen dürfen also weder die Dominanz des Normalarbeitsverhältnisses noch der Trend hin zu einer Ausdehnung ‚atypischer‘ Beschäftigungsverhältnisse außer Acht gelassen werden.
gung bezieht. Dadurch, dass um das Normalarbeitsverhältnis sich soziale Sicherungssysteme etablierten, bedeutete die Abkehr von dieser Beschäftigungsform häufig auch den Ausschluss aus diesen Sicherungssystemen. Diese Tatsache trug (allerdings nur während eines bestimmten historischen Ausschnittes) dazu bei, dass Beschäftigungsformen außerhalb der Lohnarbeit deutlich benachteiligt wurden. Ein zweiter Kritikpunkt befasst sich mit der diskriminierenden Wirkung des Normalarbeitsverhältnisses (ebd.: 44). Fokussiert wird hier die rechtliche Benachteiligung atypisch Beschäftigter, durch welche sich eine Insider – Outsider Konstellation herausbildete. 47 Sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsformen als Kriterium für Normalarbeit anzuführen bringt insofern Schwierigkeiten mit sich, da ja auch befristete Beschäftigungsformen und Leiharbeitsverhältnisse sozialversicherungspflichtig sind.
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Sicherlich kann man im Hinblick auf das „rechtspolitische Leitbild“ der Normalarbeit einen Rückgang der Geltungskraft desselben konstatieren. Allein die rechtliche Aufwertung atypischer Beschäftigungsformen wie der Leiharbeit ist ein deutlicher Indikator hierfür. Etwas uneindeutiger verhält es sich bei der Frage nach der Strukturierung normalbiographischer Erwartungen durch die Normalarbeit, wenngleich sich hier die Tendenz abzeichnet, die Strukturierungsleistung der Normalarbeit für biographische Perspektiven als hoch einzuschätzen (Pongratz 2004; Bonß 2006). So unterschiedlich diese drei Bedeutungskontexte der Normalarbeit sind, so einen sie sich doch darin, dass Normalarbeit eher positiv konnotiert, und der empirische Rückgang, die Abkehr vom rechtspolitischen Leitbild und das Fehlen einer normalbiographischen Erwartungsperspektive tendenziell negativ behaftet sind. Der Begriff der Normalarbeit taucht beinahe durchgängig im Kontext einer Verlustgeschichte auf, innerhalb derer die positiven Aspekte aufgewertet und die negativen Aspekte, wie z.B. die diskriminierende Wirkung, ausgeblendet werden.48 Freilich birgt eine solche Betrachtungsperspektive vielfältige Schwierigkeiten; dennoch liegt der Grund für die Idealisierung der Normalarbeit im Kontext der Prekarisierungsdebatte auf der Hand: Es sind insbesondere die sicherheitsverbürgenden Momente in Gestalt von gesetzlichen Schutzrechten und der beruflichen Planungssicherheit, die durch einen unbefristeten Vertrag gewährleistet werden, welche die Aufwertung der Normalarbeit begründen. Langfristige berufliche und familiale Planungssicherheit stehen in der Prekaritätsdebatte als Chiffre für eine volle Integration in den Arbeitsmarkt. Auf der Basis dieses Ideals arbeitsmarktlicher Inklusion wurde eine Negativfolie entworfen, die auf sämtliche Faktoren verweist, die dieser vollen Integration entgegenstehen. Hier wurden zunächst objektive Merkmale benannt, entlang derer ein Beschäftigungsverhältnis als prekär bewertet werden kann (Mayer-Ahuja 2003: 15; Dörre 2004: 379): Prekär ist eine Beschäftigung dann, wenn das Einkommen aus dem Beschäftigungsverhältnis nicht existenzsichernd ist. Ein weiteres Merkmal prekärer Arbeit ist die Unterschreitung gängiger „betrieblicher Integrationsstandards“ (Mayer-Ahuja 2003: 15), also die mangelnde betriebliche Integration in soziale Netze, die in einer mangelnden gewerkschaftlichen Interessensvertretung ihren Ausdruck findet (ebd.: 15). Zudem gelten Arbeitsverhältnisse, die arbeits- und sozialrechtliche Standards unterschreiten, als prekär. Konkret bedeutet das: mangelnde Schutz- und Sicherungsrechte im Bereich des Kündigungsschutzes oder der Rentenversicherung.
48 Eine Ausnahme bilden insbesondere die Beiträge aus der Geschlechterforschung. Hier wurde der jüngeren Prekaritätsdiskussion vorgeworfen, erst die Zunahme ‘männlicher Prekarität’ zu registrieren, und dabei die in der Genderforschung schon länger thematisierte ‘weibliche Prekarität’ in der Vergangenheit zu ignorieren (Aulenbacher 2009).
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Über diese Kriterien kann Prekarität definiert werden. Allerdings können entlang dieser Definition keine Aussagen über die subjektive Wahrnehmung einer Benachteiligung der Beschäftigten getroffen werden. Deshalb wurden die subjektiven Bewertungen in die Analysen von Prekarität einbezogen (vgl. Dörre 2005): „Der Prekarisierungsbegriff greift (nämlich) zu kurz, wenn er lediglich auf ein objektiv messbares, erhöhtes Risiko instabiler und ungeschützter Beschäftigung Bezug nimmt“ (Kraemer/Speidel 2004: 122). Unter den subjektiven Verarbeitungsformen von Prekarität werden damit alle Aspekte erfasst, die mit den Erfahrungen und subjektiven Einschätzungen prekärer Arbeit in Zusammenhang stehen. Diese Erfahrungen zeigen sich besonders in der Planungs- und Statusdimension sowie in der arbeitsinhaltlichen Dimension (Dörre et al. 2004: 380). So wird Arbeit subjektiv häufig als prekär gedeutet, wenn sie nur eingeschränkte Anerkennung mit sich bringt. Auch Beschäftigungen, die keine langfristige Planungssicherheit gewährleisten, werden oftmals als prekär eingestuft. Bei der subjektiven Beurteilung der eigenen Beschäftigung ist entscheidend, inwiefern sich die Beschäftigten an der Normalarbeit orientieren und sich entlang dieses Maßstabes als benachteiligt empfinden, oder sich an alternativen Deutungskonzepten orientieren. Nun wurde von verschiedenen Seiten eingewandt, dass das Verhältnis subjektiver und objektiver Prekaritätskonstellationen in einigen der Prekaritätsanalysen (z.B. von Dörre) unterkomplex behandelt wird (Rademacher/Lobato 2008: 120f.). Die Kritik lautet hier, dass „der in den gängigen Prekaritätskonzepten erhobene Anspruch einer Vermittlungsleistung zwischen Struktur und Praxis (...) nicht hinreichend eingelöst (wird)“ (ebd.: 120). Dieses Vermittlungsproblem scheint, wie bereits in den Ausführungen über die neuen Unsicherheiten angedeutet, ein zentrales Problem der gegenwärtigen Prekaritätsdebatte zu sein. Vergegenwärtigt man sich Robert Castels Überlegungen zum „negativen Individualismus“, einer Haltung, die gleichsam als Folge beruflicher Prekarität und Perspektivlosigkeit sich entwickelt, wird deutlich, dass hier die Handlungen der Subjekte unter den Bedingungen einer strukturellen Dominanz erfolgen. Die Individuen erscheinen als Opfer struktureller Zwänge und ihre Handlungen lediglich als strukturell nahegelegte Ausführungen. Diesen unmittelbaren „Kurzschluss“ umgehen allerdings bereits sämtliche Untersuchungen, die die subjektive Perspektive gehaltvoll in ihre Überlegungen integrieren. In den Arbeiten von Dörre et al. wird, wie oben angedeutet, die subjektive Perspektive einbezogen und es wird explizit betont, dass die subjektiven Bewertungen prekärer Beschäftigung äußerst heterogen ausfallen (Dörre 2006: 14). Zugleich wird aber prekären Beschäftigungsformen ein Desintegrationspotenzial zugeschrieben, womit der Belastungsdruck für die Individuen herausgestrichen wird (vgl. Brinkmann et al. 2006). Damit wird der Anspruch der Überwindung einer strukturdeterministischen Sichtweise nur bedingt eingelöst. Rademacher und Lobato plädieren aufgrund der unzureichenden Überwindung der Dichotomien von subjektiv und objektiv, Struktur und Praxis dafür, den Milieuansatz bei der Untersuchung von
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Prekarität stärker zu machen. Diese Forderung erscheint sinnvoll, ist aber zugleich in zahlreichen Untersuchungen über Prekarität bereits umgesetzt. So betont Kraemer unter Verweis auf Simmels Abhandlung „Der Arme“, wie stark die Wahrnehmung von Prekarität rückgebunden ist an das „soziale(n) Selbstverständnis der jeweiligen Schicht, Klasse oder Berufsgruppe (...), der man sich selbst zurechnet (Kraemer 2008: 146). Auch verschiedene Untersuchungen über hochqualifizierte prekär Beschäftigte zeigen mittels ressourcentheoretischer Ansätze auf, wie abweichend Unsicherheit in verschiedenen Milieus wahrgenommen und bewertet wird (vgl. Betzelt 2006; Manske 2007; 2009). Solche Untersuchungen bestätigen gerade, „dass Bewältigungsformen unsicherer Beschäftigung erfolgreich sind, wenn sie sich auf die jeweiligen milieuspezifischen Traditionen stützen, die umgestaltet und modernisiert werden können (...). Erfolglos sind die Bewältigungs- und Bearbeitungsformen prekärer Lebenslagen, wenn sie einen Bruch mit den Milieupfaden bedingen und die Dispositionen des Habitus dysfunktional werden.“ (Rademacher/Lobato 2008: 135)
Analog zu solchen Überlegungen, die die soziale Verfasstheit der Unsicherheitswahrnehmung einbeziehen, hat sich in jüngeren Publikationen verstärkt die Einschätzung durchgesetzt, dass Prekarität mehr umfasst als das Beschäftigungsverhältnis. Denn die Wahrnehmung beruflicher Unsicherheit ist in den Erfahrungshorizonten der Beschäftigten nicht zu trennen von ihrer Haushaltssituation und ihrem bisherigen Erwerbsverlauf. Zudem spielt auch die konjunkturelle Lage in die Bewertung der eigenen Lage hinein. Besonders in der Erforschung sozialer Exklusion wurde der Begriff der Prekarität für „objektive Exklusionskonstellationen“ wie Wohlstand, Erwerbsstatus, die Eingebundenheit in soziale Netze, das Institutionenvertrauen sowie den psychophysischen Gesundheitszustand verwendet (Bude/Lantermann 2006) und reicht damit über die Fokussierung auf das Arbeitsverhältnis hinaus. Prekarität steht dann für ein Ensemble von Problemlagen, die in ihrem Zusammenspiel das Gefühl des Ausgeschlossenseins hervorrufen können (ebd.). Diese Prekaritätskonstellationen stellen eine sinnvolle Erweiterung des Prekaritätsbegriffes dar, insofern sie den Blick für die Unsicherheit der Lebenslage eröffnen. Berthold Vogel (2007: 81) spricht zudem von „prekärem Wohlstand“ als weitere Größe für die Vermessung der „Zone der Prekarität“. Prekärer Wohlstand meint eine Einkommenszone, die weder der verfestigten Armut noch des stabilen Wohlstands zuzurechnen ist. Immerhin 25% der Bevölkerung gehören dieser Zone zu (vgl. ebd.). Der Wohlstandsbegriff fokussiert allerdings lediglich die materielle Dimension, und lässt damit die anderen Probleme sozialer Exklusion außer Acht. Auch kann der Prekaritätsbegriff auf Erwerbsverläufe bezogen werden. Damit wird der Blick verlagert auf individuelle Erwerbsverläufe, in denen Phasen prekärer Beschäftigung sich mit Phasen der Hilfebedürftigkeit abwechseln. In den 1990er Jahren hat sich hierfür die Rede von „diskontinuierlichen Erwerbsverläufen“ etab-
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liert (vgl. Mutz et al. 1995). Damit sind Erwerbsverläufe gemeint, die durch Arbeitslosigkeit oder eben prekäre Beschäftigungsinseln „perforiert“ sind und so vom Normalitätsmuster des institutionalisierten Lebenslaufes abweichen (vgl. Kohli 1985). In diesem Kontext ist auch die Rede von „diskontinuierlichen Erwerbsbiographien“ (vgl. Behringer et al. 2004). Die Prekarität solcher Erwerbsverläufe lässt sich über die Dauer und die Häufigkeit der Beschäftigungsunterbrechungen bestimmen. So lassen sich die Erwerbsverläufe typischen biographischen Verlaufsmustern zurechnen. Vogel (2008b) spricht hier von Grenzgängern, einer Gruppe neuer ArbeitsmarktakteurInnen, deren Erwerbsbiographien gekennzeichnet sind durch eine dauerhafte Fragilität. Prekarität ist, wie sich an prekären Haushaltslagen und prekarisierten Erwerbsverläufen zeigt, mehr als die Charakterisierung eines Beschäftigungsverhältnisses. Immer geht es um die Einbettung des Arbeitsverhältnisses in den jeweiligen Lebenskontext. Neben der individuellen Berufs- und Haushaltssituation wirken zudem Arbeitsmarktindikatoren wie auch gesellschaftliche Narrative über die soziale Sicherheit in Deutschland auf die Prekaritätskonstellation ein. 1.4.3 Prekarität in der „Ökonomie der Unsicherheit“ Prekarität ist sicherlich dasjenige Schlagwort, unter welchem wesentliche der neuen Unsicherheitsproblematiken in der „Ökonomie der Unsicherheit“ verhandelt werden. Dabei verweist die Rede von der Prekarität selbst auf verschiedene Unsicherheitslagen, die allesamt in Verbindung mit den Wandlungstendenzen der Arbeitsgesellschaft wie auch der veränderten sozialstaatlichen Konfiguration stehen. Neben prekärer Beschäftigung und prekärem Wohlstand wird in der Prekaritätsdebatte immer wieder der Blick auf Gefühle der Verunsicherung gerichtet. So spricht Vogel im Anschluss an Castel von „sozialer Verwundbarkeit“, und meint damit die „gefühlte soziale Ungleichheit und Unsicherheit“, die „soziale Empfindlichkeit des modernen Daseins“ (Vogel 2007: 78). Er referiert damit auf das Castelsche Zonenmodell, welches nicht allein auf stabile, instabile oder nicht vorhandene Beschäftigungsverhältnisse zielt, sondern vielmehr auf „Zone(n) sozialer Wahrscheinlichkeiten“, innerhalb derer soziale Emotionen angesiedelt sind: „Deklassierungssorgen“, „Aufstiegshoffnungen“, aber keine „Exklusions- oder Inklusionsgewissheiten“ (ebd.: 78). Die Betonung von Gefühlslagen, von Sorgen um den Erhalt der eigenen Statusposition und Ängsten vor dem Abrutschen in die „Zone der Exklusion“ ist ein wesentlicher Bestandteil des Prekaritäts- bzw. Verwundbarkeitsbegriffes. Die Ängste, Sorgen und Unsicherheiten prekär Beschäftigter sind Gegenstand verschiedener empirischer Untersuchungen geworden, die den Zusammenhang „objektiver“ Prekaritätskonstellationen und „subjektiver“ Verunsicherungsgefühle klären. So wurde nach dem „prekären Potenzial“ von Leiharbeit gefragt (Dörre/Kraemer/
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Speidel 2003; Noller et al. 2004). Kraemer und Speidel kommen hier zu dem Ergebnis, dass LeiharbeiterInnen ihre Situation „als unbefriedigend, belastend, eben als prekär“ auffassen (2004: 129).49 Noller et al. (2004) heben die divergierenden Einschätzungen zur Leiharbeit hervor. Sie unterscheiden in ihrem Sample, in welchem LeiharbeiterInnen und befristet Beschäftigte befragt wurden, vier Typen mit unterschiedlichen Bewertungsmustern voneinander: Typ 1 „Streben nach betrieblich-sozialem Aufstieg“, Typ 2 „Suchen nach Einstieg in stabile Erwerbsarbeit“, Typ 3 „Durchhalten in dauerhafter Gefährdung“ und Typ 4 „Absteigen in beruflich und sozial deklassierende Beschäftigung“. In dieser Untersuchung taucht Typ 3 mit 44% am häufigsten auf, danach folgt Typ 2 mit 29%. Von einem Großteil der Befragten werden demzufolge die Zukunftsperspektiven negativ eingestuft. Auffällig ist, dass häufig Beschäftigte über 35 dem Typus „Durchhalten in dauerhafter Gefährdung“ zuzuordnen waren (ebd.). Die resignierte Haltung kann damit in Korrelation zu der Menge tatsächlich gesammelter Erfahrungen am Arbeitsmarkt gesehen werden. Je größer der Anteil an Leiharbeit oder anderen unsicheren Beschäftigungsformen der beruflichen Laufbahn ist, desto größer die Unzufriedenheit und Hoffnungslosigkeit der Beschäftigten. In ihrer Studie konnten Noller et al. (2004) ähnliche Bewertungen für befristet Beschäftigte hinsichtlich der „sozialen Position“ ermitteln wie für LeiharbeiterInnen: Gerade im Bereich befristeter Arbeitsverhältnisse wäre häufig bis zum letzten Moment unklar, ob das Beschäftigungsverhältnis verlängert wird oder nicht. Befristet Beschäftigte erleben diese „Hinhaltetaktik“ (ebd.: 65) als Strategie, um höchste Arbeitsleistungen auch am eventuellen Beschäftigungsende von ihnen erwarten zu können. Die Ergebnisse dieser und weiterer Untersuchungen über die Wahrnehmung von Prekarität können folgendermaßen zugespitzt werden: Erstens: Prekarität geht einher mit einer eingeschränkten Lebensplanung und pessimistischen Zukunftserwartungen. Ob nun als direktes Resultat aus eigenen Prekaritätskonstellationen oder als Ausstrahlungseffekt der zunehmenden betrieblichen Prekarisierungspraxis belegen zahlreiche Untersuchungen diesen Zusammenhang. Zu diesem Ergebnis kommt auch die Studie von Ebert et al. (2005: 323f.), in der Teilzeitbeschäftigte, befristet Beschäftigte und in Leiharbeit Beschäftigte befragt wurden. Die Befragten schätzten ihre Absicherung im Alter gegen Arbeitslosigkeit wie auch die Möglichkeit, im Alter ihren Lebensstandard halten zu können gering ein. Zudem beurteilten befristet Beschäftigte wie auch LeiharbeiterInnen ihre Möglichkeiten der langfristigen Planung als äußerst eingeschränkt. Flecker und Krenn (2004) betonen, dass die Arbeitsplatzsicherheit und die damit einhergehende materielle Absicherung die zentralen Grundlagen für die Planung der Zukunft und auch 49 Kraemer und Speidel beziehen sich hier auf die Ergebnisse des Projekts: Prekäre Beschäftigungsverhältnisse – Ursache von sozialer Desintegration und Rechtsextremismus? (Dörre/ Kraemer/Speidel 2003). In dieser Studie wurden verschiedene „Motivationsbündel“ voneinander abgegrenzt: 1. Befristeter Ausweg aus der Dauerarbeitslosigkeit, 2. Sprungbrett in „normale“ Dauerbeschäftigung, 3. Normalisierung des „Nicht-Normalen“.
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für einen Anstieg der Lebensqualität sind. Gerade durch die finanzielle Planbarkeit würde eine „(Vor)Verlegung der Zukunft in die Gegenwart möglich“ (ebd.: 13). Die Ausarbeitung von Zukunftsprojekten sehen die Autoren unmittelbar verknüpft mit der aktuellen Sicherheitslage. Auch in der Studie von Dörre et al. (2004) wird die Enttäuschung prekär Beschäftigter über eingeschränkte Planungsmöglichkeiten hervorgehoben. Eingeschränkte Planungsmöglichkeiten münden aber den Autoren zufolge nicht zwangsläufig in Prekarisierungsängsten, denn solche Ängste seien nicht als „unmittelbarer Reflex realer Bedrohung“ aufzufassen (Brinkmann et al. 2006: 58). Zweitens: Existenzielle Verunsicherungen zeigen sich am stärksten dort, wo geringe materielle Sicherheit herrscht. Diese Einschätzung steht vordergründig der Diffusionsthese entgegen, die von einer Ausstrahlung der Unsicherheit in alle Teile der Gesellschaft ausgeht. Auch für die These der Diffusion oder Entgrenzung von Unsicherheiten finden sich einige Belege, die deutlich die Zunahme von Unsicherheitsgefühlen jenseits von Prekaritätskonstellationen belegen (Lengfeld/Hirschle 2009). Häufig sind es aber hier weniger manifeste Existenzängste, sondern vielmehr Ängste darum, den Lebensstandard nicht halten zu können oder generelle Verunsicherungsgefühle (Müller-Hilmer 2006), die in die gesicherten Bereiche diffundieren.50 Existenzielle Verunsicherungsgefühle zeigen sich besonders im Zusammenhang mit hohen Prekaritätskonstellationen (Groh-Samberg 2004; Ebert et al. 2005; Böhnke 2006), was als Indikator für das Zusammenwirken von Marginalisierungsrisiken und Verunsicherungsgefühlen gewertet werden kann. Entscheidend ist hier, dass solche Verunsicherungen, die durch die Furcht vor der Ausweitung von Prekarität entstehen („Infektionsängste“)51 und solche Verunsicherungen, die eine existenzielle Dimension annehmen („Existenzängste“), nicht in eins gesetzt werden. Erst das Zusammenspiel dieser beiden Verunsicherungstypen erklärt aber die Dynamik der neuen Unsicherheiten. Wie sich zeigt, kann der Prekarisierungsdiskurs als Epizentrum der Debatte um die neuen Unsicherheiten begriffen werden. Und ebenso, wie die Prekaritätsdebatte den strukturellen Kern der neuen Unsicherheiten benennt, wird auch der Blick Eine trennscharfe Grenze zwischen solchen existenziellen Ängsten und Prekarisierungsängsten bzw. „Infektionsängsten“ zu ziehen ist schlichtweg unmöglich, da auch die Ansteckungsängste eine existenzielle Dimension annehmen können. Nichtsdestoweniger hilft diese Differenzierung in analytischer Hinsicht, den doch unterschiedlichen Charakter dieser Ängste für die Lebensplanung herauszustreichen. Die Unterscheidung zielt auf die heterogenen Ursachen der Ängste, nicht auf den Intensitätsgrad. Empirisch wäre zu klären, inwiefern diese Angstformen unterschiedliche Wirkungen auf die Lebensqualität und Gesundheit haben. 51 Lengfeld und Hirschle (2009) sprechen von einem „Spill-Over-Effekt“, um so die sich auch unter Nichtbetroffenen ausdehnende Sorge um die eigene materielle Existenz begrifflich zu fassen. 50
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auf die Ausstrahlungseffekte gerichtet. Für ein Verständnis der Unsicherheitslogiken und der geschwächten Integrationspotenziale der Arbeitsgesellschaft ist eine solche Doppelperspektive unverzichtbar. Zugleich zeigte der Blick auf empirische Ergebnisse über die „subjektiven Verarbeitungsformen“ von Prekarität, dass die neuen Unsicherheiten tatsächlich häufig mit Verunsicherungsgefühlen einhergehen, sodass berechtigt von neuartigen Belastungen für die Individuen gesprochen werden kann. Als gegensätzlich zum Prozess der Prekarisierung wurde ein anderer Gestaltwandel der Arbeitswelt zunächst begriffen, der Prozess der Subjektivierung der Arbeit. Nach der Logik „Ihr da oben, wir da unten“ (Engelmann/Wallraff) schien die Subjektivierung der Arbeit, also das intensivierte Wechselverhältnis zwischen Arbeit und Subjektivität, ein Phänomen zu sein, welches in erster Linie hochqualifizierte WissensarbeiterInnen betrifft (vgl. Dörre 2005), wohingegen von der Zunahme prekärer Beschäftigung vor allem niedrig qualifizierte Beschäftigte betroffen schienen. Die Subjektivierung der Arbeit wurde auch zunächst nicht unter dem Aspekt einer Zunahme an Unsicherheiten diskutiert; vielmehr drehte sich die Forschung zunächst um Fragen der Passung individueller Subjektivierungswünsche und betrieblicher Subjektivierungsanforderungen. Dass aber auch der Prozess der Subjektivierung für das Verständnis der Herrschaftslogiken in der „Ökonomie der Unsicherheit“ unabdingbar ist, soll im Folgenden gezeigt werden. 1.5 Unsicherheit durch Subjektivierung 1.5.1 Die zwei Achsen der Subjektivierung Unter der Subjektivierung der Arbeit kann allgemein eine intensivierte Wechselwirkung zwischen Subjekten und der Arbeit verstanden werden (vgl. Kleemann et al 2002: 57). Die Subjektivierungsdebatte, wie sie in der Industrie- und Arbeitssoziologie geführt wird52, zielt dabei auf zwei Aspekte der Subjektivierung: Auf die „systematische Intensivierung der Nutzung subjektiver Potenziale in der Erwerbstätigkeit“ (Voß/Pongratz 2003: 216), sowie auf gesteigerte subjektive Ansprüche an die Arbeit durch die Beschäftigten (Kratzer et al. 2005; Kropf 2005). Die Subjektivierung vollzieht sich damit in der Logik eines „push“ and „pull“ (Kleemann et al. 2002: 58), weshalb Kleemann, Matuschek und Voß von einem Prozess der „doppelten Subjektivierung“53 sprechen. Die erste Achse der Subjektivierung der Arbeit bezieht sich bei genauerer Betrachtung auf zwei verschiedene Aspekte: Zum einen auf die Nutzung 52 Einen Überblick bieten der Sammelband von Moldaschl und Voß (2002) sowie SubAro (2005). 53 Im Anschluss an Kleemann et al. hat sich die Rede von der „doppelten Subjektivierung“ in der aktuellen arbeitssoziologischen Debatte etabliert. Vgl. hierzu: Voswinkel 2002; Kocyba 2005; Nickel et al. 2008.
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subjektiver Potenziale, die sich im Zuge der Abkehr von fordistisch-tayloristischen Logiken gewandelt hat (1) und zum anderen auf die neu eingeforderten Subjektivitätspotenziale, die durch die Ausweitung des Dienstleistungsbereiches an Bedeutung gewinnen (2). 1) Unter den Bedingungen tayloristischer Arbeitsorganisation galten bestimmte Aspekte der Subjektivität als bedeutungslos für den Arbeitsprozess, andere gar als Störfaktor, den es zu bekämpfen galt. Die Formel, dass die Beschäftigten im Taylorismus „den Kopf beim Pförtner abgeben“ mussten (Kocyba/Schumm 2002: 54), verdeutlicht diese Ausklammerung bestimmter Fähigkeiten und Wissensbestände der Beschäftigten für den Arbeitsprozess. Da das one-best-way Prinzip des Taylorismus (Taylor 1947) vorsah, dass das Management die beste Lösung des Arbeitsschrittes vorgibt, war also nur ein begrenztes Maß an Subjektivität zur Bewältigung der Aufgaben vonnöten. Nichtsdestoweniger ist die Nutzung subjektiver Potenziale auch im Taylorismus gängige Praxis, nämlich insofern dass Beschäftigte bei der Ausführung ihrer Aufgaben auf ihren Erfahrungsschatz zurückgreifen (Kocyba 2005: 80). In welchem Maße aber die Arbeitsorganisation von einer gezielten Nutzung subjektiver Potenziale profitieren konnte, zeigte sich spätestens in den Hawthorne-Experimenten der Western Electric (Roethlisberger/Dickson 1939).54 Bei der Überprüfung, welchen Einfluss die Veränderung von Lichtverhältnissen auf die Arbeitsleistung hat, zeigte sich ein überraschender Effekt: Sowohl in der Experimentalgruppe als auch in der Kontrollgruppe, die bei unveränderten Lichtverhältnissen arbeiteten, zeigten sich Leistungssteigerungen. Das zunächst irritierend anmutende Ergebnis der Untersuchung wurde einerseits als Hawthorne-Effekt gedeutet, also als ein Beleg dafür, dass bereits die Aufmerksamkeit für die ArbeiterInnen deren Leistungssteigerung bedingt, zum anderen aber traten informelle Gruppen in den Fokus der Aufmerksamkeit, innerhalb derer das Leistungsverhalten einzelner Gruppenmitglieder reguliert wird. Durch diese Befunde wurde die Relevanz sozialer Faktoren bei der Arbeit, die sich in Kommunikations- und Anerkennungsprozessen niederschlagen, sichtbar. Die Hawthorne-Experimente gelten als Ursprung der „Human-Relations-Bewegung“, deren Intention es war, nunmehr den „ganzen Menschen“ im Arbeitsprozess in den Blick zu nehmen. Denn offenkundig spielen Faktoren wie Anerkennung, Aufmerksamkeit aber auch intragruppale Dynamiken eine entscheidende Rolle für das Verhalten am Arbeitsplatz. Subjektivität und die Frage nach der Nutzung derselben sind damit als Untersuchungsgegenstände der Arbeitssoziologie wohl bekannt. Zu fragen ist dann aber, warum die Debatte um die Subjektivierung der Arbeit erst in den letzten zwei Dekaden an Dynamik gewonnen 54 Die Hawthorne-Experimente stehen nahezu unangefochten für einen Paradigmenwechsel in der betrieblichen Praxis, wenngleich es sich um einen „der größten ‘fakes’ in der Geschichte der Sozialwissenschaften handelt“ (vgl. Moldaschl 2002: 25). Tatsächlich gibt es zahlreiche Einwände gegen Methode und Interpretation der Hawthorne-Experimente.
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hat. Eine Antwort darauf liefert Hermann Kocyba: Das bemerkenswerte am gegenwärtigen Subjektivierungsprozess sei weniger „die tagtägliche Ausbeutung dieser subjektiven Potenziale“, sondern vielmehr, dass Subjektivität unter den Bedingungen der Vermarktlichung „gezielt stimuliert und aktiviert“ (Kocyba 2005: 80) werde. Damit wird deutlich, dass es nicht um das „Maß“ an Subjektivität geht, welches im Rahmen betrieblicher Verwertungslogiken genutzt wird, sondern vielmehr um die Modifikation von Subjektivität selbst. Wo es in den Hawthorne-Experimenten noch um die Erkenntnis ging, dass Arbeitswelt und Lebenswelt nicht voneinander abzugrenzen sind und Emotionen, Kommunikation und Gruppendynamiken über diese Grenzen hinweg wirken, so geht es bei den jüngeren Subjektivierungsbestrebungen vielmehr um die Freilegung von Kreativität und Einzigartigkeit; so beispielsweise im Leitbild des unternehmerischen Selbst (Bröckling 2007). Subjektivität soll also nicht länger berücksichtigt und ‘eingerechnet’, sondern in veränderter und leistungsstärkerer Form hergestellt werden. Bei der Nutzung von Subjektivitätsressourcen seitens der Organisationen wird also auf ein Mehr an Subjektivität abgezielt, das unter den Bedingungen des Marktregimes von den Beschäftigten abverlangt wird. Eigenverantwortung, Kreativität und die Fähigkeit der Selbststeuerung zählen zu eben jenen Eigenschaften, die im Rahmen der „neuen Produktionskonzepte“ als zentrale Ressourcen der Subjektivität für den Produktionsprozess angesehen werden. Man kann insofern von einer „neue(n) Logik der Rationalisierung“ (Moldaschl/Sauer 2000: 216) sprechen. Es geht um die „Anrufung“ eines spezifischen Verständnisses von Arbeitskraft, welches in der Figur des „Arbeitskraftunternehmers“ deutliche Konturen angenommen hat. 2) Neben der Einsicht, dass subjektive Potenziale auch im Rahmen der Produktionsarbeit an Relevanz gewinnen, wurde die Subjektivierungsdiskussion in entscheidendem Maße durch die Expansion des Dienstleistungssektors vorangetrieben. Mit dem Wandel von der Industrie- zur Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft (vgl. Baethge 2001; Bell 1985), der mit einer rapiden Zunahme von Informations- und Kommunikationstechnologien und einer wachsenden Bedeutung des Wissens für den Arbeitsprozess in Verbindung zu bringen ist, kommt es zu neuen Anforderungen an die Qualifikation der Beschäftigten. Allerdings zeichnet sich hier kein einheitlicher Trend der wachsenden Bedeutung von Subjektivität ab, vielmehr hat sich im Bereich der einfachen und mittleren Dienstleistungstätigkeiten eine neue Arbeitsorganisationsform mit einer eingeschränkteren Form der Subjektivität durchgesetzt, wohingegen bei hochqualifizierten modernen WissensarbeiterInnen noch weitergehende subjektive Potenziale eingefordert werden. Von Amitai Etzioni geprägt, machte der negativ konnotierte Begriff der „McJobs“ eine rasche Karriere als Etikett für eine neue Klasse von Dienstleistungstätigkeiten, die sich neben schlechter Bezahlung durch ein hohes Maß an Standardisierung und einer tayloristischen Arbeitsorganisation auszeichnen. Tayloristische Prinzipien werden hier sowohl bei der Fertigstellung der Nahrungsmittel sowie im
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Bereich der Kommunikation eingesetzt; so sind Zutaten und Bratzeiten für bestimmte Schnellimbissgerichte gleichermaßen exakt bemessen, wie einzelne Gesprächssequenzen den MitarbeiterInnen für die Kundenkommunikation nahe gelegt werden (vgl. Brüsemeister 2007: 279). Die Anwendung tayloristischer Arbeitsprinzipien im Dienstleistungsbereich hat aber auch andere, deutlich kommunikationslastigere Branchen erobert. So sind beispielsweise Call-Center-Dienstleistungen, die ein hohes Maß an kommunikativer Kompetenz und Belastbarkeit seitens der Beschäftigten voraussetzen, mittels technischer Kontrollsysteme hochgradig standardisiert, sodass gar das Bild einer „assembly line in the head“ (Taylor/Bain 1999: 101) bemüht wird. Matuschek et al. sprechen hier von einer neuen Form der Nutzung von Arbeitskraft, die sie als „subjektivierte Taylorisierung“ (Matuschek et al. 2008: 49) bezeichnen. Darunter kann „eine Verbindung tayloristischer Formen rigider Fremdbestimmung mit Elementen selbstorganisierter und dadurch Subjektivität verstärkt nutzender Arbeit“ (ebd.: 50) verstanden werden. Wurde Subjektivierung zuvor noch als eine Art Ablösung der tayloristischen Arbeitsorganisation begriffen, so zeigen sich jetzt neuartige Verschränkungen beider Prinzipien: Tayloristische Prinzipien bleiben dort erhalten, wo es um die Trennung von Planung und Ausführung und die Kontrolle der Arbeitsausführung geht (vgl. ebd.: 58). Dahingegen wird die tayloristische Logik der rigiden Vorgabe einzelner Arbeitsschritte durchbrochen, da eine allzu exakte Bestimmung im Bereich der Kommunikationsarbeit eher hinderlich ist. An dieser Stelle werden nun subjektive Kompetenzen wie die Fähigkeit zur Selbstorganisation eingefordert (vgl. ebd.: 58). Über die Kontrolle der Arbeitsergebnisse ist der Spielraum dieser Selbstorganisation allerdings äußerst begrenzt.55 Etwas anders scheint es sich noch in den höher qualifizierten Berufen zu verhalten, in denen in noch höherem Maße kommunikative Fähigkeiten, Problemlösekompetenz und die Fähigkeit zum Wissensmanagement vorausgesetzt werden. Doch auch im Feld der höher qualifizierten „WissensarbeiterInnen“ (Bollmann 2000) zeigen sich mehr und mehr Tendenzen einer Standardisierung, die durch Zielvereinbarungen und einer Orientierung an Kennziffern erreicht wird (Brinkmann 2003). In der Zusammenschau offenbart sich nun ein äußerst diffuses Bild des Zusammenspiels von Subjektivierung und Taylorisierung: So zeigen sich einerseits Tendenzen der verstärkten Nutzung von tayloristischen Formen der Arbeitsorganisation auch in höher qualifizierten Segmenten, wohingegen der Trend der Nutzung subjektiver Potenziale nun auch in den Segmenten mit niedrig qualifizierten Beschäftigten Einzug erhalten hat. Ohne die Heterogenität dieser verschiedenen und 55 Matuschek et al. (2008: 58) sprechen hier von einer zeitweiligen Öffnung des tayloristischen Kontrollmodus, um die Subjektivitätspotenziale der Beschäftigten zu nutzen. Anschließend erfolge die Schließung der Kontrolle durch den Abgleich der Leistungen der Beschäftigten entlang von Kennziffern.
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teilweise widersprüchlichen Trends verkennen zu wollen, zeigt sich doch quer durch die verschiedenen Branchen und Qualifikationsgruppen eine Entwicklung hin zu einer anders gelagerten, intensiveren Nutzung subjektiver Potenziale. Neben dieser Dimension der Einforderung subjektiver Potenziale durch die Organisation ist für die Subjektivierungsdebatte eine zweite Dimension von zentraler Bedeutung, nämlich diejenige der gestiegenen Einforderungen der Beschäftigten an die Arbeit. Diese Dimension ist insbesondere geprägt durch Martin Baethges (1991) Ausführungen über eine „normative Subjektivierung der Arbeit“, die er an den Prozess des gesellschaftlichen Wertewandels rückgebunden sieht. Baethge versteht den Prozess der normativen Subjektivierung als „Geltendmachung persönlicher Ansprüche, Vorstellungen und Forderungen in der Arbeit“ (Baethge 1991: 7, Fn. 1), und setzt diese scharf von der „gezielte(n) Anpassung der Organisation der Erwerbsarbeit an die subjektiven Bedürfnisse der Beschäftigten seitens des betrieblichen Managements“ (ebd.: 7) ab. Belege für seine These sieht Baethge im von Schumann beschriebenen neuen Typs von FacharbeiterInnen, den „Systemregulierern“, deren Arbeitsverständnis zentral durch Freude an der Arbeit, Selbstverantwortung und Kompetenzsteigerung geprägt sei. Ein ähnliches Arbeitsverständnis zeigt sich nach Baethge aber auch bei ArbeiterInnen, Angestellten sowie Un- und Angelernten (ebd.: 7). Die Ansprüche der Beschäftigten charakterisiert Baethge so: „Man will innerlich an der Arbeit beteiligt sein, sich als Person in sie einbringen können und über sie eine Bestätigung eigener Kompetenzen erfahren. Man will sich in der Arbeit nicht wie ein Jedermann, sondern als Subjekt mit besonderen Fähigkeiten, Neigungen und Begabungen verhalten können und die Tätigkeit in der Dimension persönlicher Entfaltung und Selbstverwirklichung interpretieren können.“ (ebd.: 7-8)
Zwar habe es diese Einforderungen an die Arbeit in bestimmten Qualifikationsgruppen schon immer gegeben; nichtsdestoweniger seien aber sowohl die Breite der Streuung solcher Einforderungen neu wie auch die Offenheit, mit der diese Bedürfnisse kommuniziert würden (vgl. ebd.: 10). Die Ursachen für diese Entwicklung sieht Baethge in drei strukturellen Wandlungen der Erwerbsarbeit: In der Ausdehnung vorberuflicher Sozialisation, wodurch die Einstellungen der Subjekte stärker von lebensweltlichen Einflüssen geprägt seien, in der Zurücknahme rigider Arbeitsteiligkeit, wodurch sich „neue Realisierungschancen“ für subjektive Einforderungen an die Arbeit böten, sowie in der zunehmende(n) Erwerbsbeteiligung von Frauen, die eine normative Subjektivierung dadurch befördert, dass Frauen aufgrund ihrer Sozialisation und Bildung andere Vorstellungen an die Erwerbsarbeit herantragen (ebd.: 12).56 Dieser Punkt darf nicht dahingehend missverstanden werden, als dass Frauen per se andere Vorstellungen von und Ansprüche an die Arbeit haben. Baethge argumentiert hier historisch und verweist darauf, dass die männliche Sozialisation viel intensiver und hartnäckiger von den Anforderungen der Arbeitswelt geprägt ist (vgl. Baethge 1991: 13).
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Auf einer allgemeineren Ebene wurde die normative Subjektivierung als Konsequenz des sogenannten Wertewandels (Inglehart 1977) begriffen, der im Bereich der Arbeit zu einer Verschiebung der Wertpräferenzen weg von Sicherheit und Stabilität hin zu arbeitsinhaltlichen Wertpräferenzen geführt hat. Wurde der Wertewandel zunächst noch in den Inglehartschen Kategorien57 als Wandel vom Materialismus und Postmaterialismus beschrieben, so wird der Wandel in der deutschsprachigen Debatte als Abkehr von Pflicht- und Akzeptanzwerten hin zu Selbstentfaltungswerten diskutiert (vgl. Klages 1984, 1988). Wichtig scheint auch in dieser Diskussion, die Heterogenität dieses Wandels nicht durch die Reduktion auf lineare Trends auszublenden: So zeigen verschiedene Untersuchungen, die den Inglehart-Index als Untersuchungsinstrumentarium verwenden, dass es keine einheitliche Bewegung hin zum Postmaterialismus, sondern vielmehr eine Zunahme von Mischtypen gibt, die Werte aus den verschiedenen Wertkomplexen individuell verbinden. Zugleich deutet sich in den letzten Jahren ein Trend an, der als Richtungswandel des Wertewandels interpretiert wird: Entgegen der These der normativen Subjektivierung der Arbeit wird hier eine Zunahme von „materialistischen“ Arbeitswerten konstatiert, die mit der Zunahme von Unsicherheiten in der Arbeitswelt assoziiert werden (vgl. Hradil 2002; Klein 2003, 2005; Klein/Ohr 2004; Noelle-Neumann/Petersen 2001). Folgt man dieser Einschätzung, so muss damit keineswegs die Durchschlagkraft des Prozesses einer normativen Subjektivierung negiert werden: Dass nämlich subjektbezogene Ansprüche an die Arbeit äußerst selbstverständlich von den Beschäftigten formuliert werden, ändert sich durch die Einsicht auf die begrenzte Erfüllbarkeit solcher Anforderungen nur bedingt. Nach dieser Beschreibung der zwei Achsen der Subjektivierung, der Anforderungen an die Subjekte und der Einforderungen der Subjekte an die Arbeit ist nun zu fragen, wie sich diese Dynamiken zueinander verhalten und wie beide Prozesse gewertet werden können. Beide Subjektivierungsprozesse stehen in einem komplexen Interdependenzverhältnis, zugleich aber betonen Kleemann et al. (2002) zu Recht, dass die „Motivationen und Zielsetzungen [des Subjektivierungsprozesses, Anm. F.H.] überwiegend als gegenläufig anzusehen“ sind (ebd.: 58). Die in der aktuellen Managementratgeberliteratur so häufig formulierte These einer Art winwin-Situation bezüglich der Subjektivierungsdynamiken, in der die Vorstellung des Zusammenlaufens beider Achsen der Subjektivierung genährt wird, ist allerdings nicht allein Ausdruck einer auf Passung bedachten Verwertungslogik. Vielmehr zeigten sich im Zuge der Ausweitung des tertiären Sektors ebenfalls verschiedene VertreterInnen der Arbeitssoziologie äußerst optimistisch gegenüber den Chancen, Gemeint ist hier insbesondere der sog. Inglehart-Index, der für den Materialismus die Variablen „Wichtigkeit von Ruhe und Ordnung“ und „Wichtigkeit von Inflationsbekämpfung“, und für den Postmaterialismus die Variablen „Wichtigkeit von Bürgereinfluß“ und „Wichtigkeit von freier Meinungsäußerung“ nutzt.
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die eine Arbeit, die eine „reichere Subjektivität“ erfordert, für die Beschäftigten bietet. Die Hoffnung auf eine tatsächliche „Humanisierung der Arbeit“, wie sie einstmals die „Human-Relations-Bewegung“ einforderte, wurde bereits von Claus Offe (1984) formuliert, der Chancen auf eine Harmonisierung der Werte der Arbeitsgesellschaft mit denen der Lebenswelt vermutete. Ähnliche Hoffnungen hatten ja auch Kern und Schumann (1894: 322) an die Subjektivitätsspielräume der „neuen Produktionskonzepte“ geknüpft. Warum aber solche Positivsummenspiele (zumindest größtenteils) ins Leere laufen, wurde insbesondere in den Überlegungen von Boltanski und Chiapello im Neuen Geist des Kapitalismus offengelegt. In ihrer Analyse von Managementkonzepten stellten sie fest, dass es in den 1990er Jahren in den Managementtheorien zu einer Absorption der Künstlerkritik durch den Kapitalismus gekommen sei. Unter der Künstlerkritik verstehen Boltanski und Chiapello (2003) die kritische Bewertung solcher Arbeit, die für Kreativität und Autonomie keinen Raum lässt. Darüber hinaus werden im Rahmen der Künstlerkritik sämtlichen Formen der zeitlichen und räumlichen Vorstrukturierung durch Arbeit abgelehnt. In einem allgemeineren Sinne ist die Künstlerkritik eine Kritik am Kapitalismus, die nicht nur innerhalb der Arbeitswelt greift: „Im Zentrum dieser Kritik steht der Sinnverlust und insbesondere das verloren gegangene Bewusstsein für das Schöne und Große als Folge der Standardisierung und der triumphierenden Warengesellschaft“ (ebd. 2003: 81). Galten in den 1960er Jahren noch Gerechtigkeit und Sicherheit als zentrale Schlüsselkategorien, um das Engagement der Beschäftigten für die Arbeit zu sichern, so verlagerte sich die Managementliteratur in den 1990er Jahren auf Werte wie Freiheit und Entwicklung, also auf genau jene Werte, die in der Künstlerkritik propagiert wurden. Nun ist die Künstlerkritik am Kapitalismus nur eine Form der Kritik; daneben steht die Sozialkritik, deren Fokus auf der Gleichheit liegt. Die Sozialkritik wurde von der Arbeiterbewegung getragen, die Künstlerkritik sehen Boltanski und Chiapello von den Studierenden der 1968er Jahre und von Kreativen getragen. Hinter beiden Kritiken stehen also unterschiedliche Trägergruppen und die Kritiken sind nur bedingt miteinander vereinbar. Ein erster Grund dafür, warum die Absorption der Künstlerkritik durch die Managementtheorien nun nicht zu einer win-winSituation führen kann liegt also darin, dass die Künstlerkritik zu keiner Zeit für sich beanspruchen konnte, die dominante und damit alleinige Linie der Kritik am Kapitalismus zu sein. Auch die These des postmaterialistischen Wertewandels hin zu einer Zunahme von Selbstentfaltungswerten greift hier nicht, da, wie die empirische Werteforschung in der jüngeren Zeit immer wieder verdeutlicht hat, der Wertewandel sich nicht als Abkehr von den „alten“ Werten deuten lässt. Vielmehr stehen „alte“ und „neue“ Werte nebeneinander (Klein/Ohr 2004). Und für all jene, denen an der Künstlerkritik der Arbeit (Boltanski/Chiapello 2003) und damit an einer subjektivierten Arbeit im Sinne von Selbstverwirklichung und gesteigerten Autonomiespielräumen nicht viel gelegen ist, erscheint diese als „Zwang zum Selbst-
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zwang“. Voswinkel deutet dies als Paradoxie: „Die Paradoxie von Subjektivierung besteht darin, dass die Erfüllung von Fremdanforderungen als Eigenbedürfnis dargestellt, normativ erwartet und womöglich auch von den Subjekten so begriffen wird.“ (2002: 81). 1.5.2 Unsicherheitspotenziale in Subjektivierungsprozessen Entscheidende Unsicherheitspotenziale im Prozess der Subjektivierung der Arbeit sind also in den gestiegenen Anforderungen an die Subjekte zu vermuten: Einerseits wird die Qualität und Quantität der Leistungsanforderungen uneindeutig, andererseits befördern gerade die koordinierenden und planenden Aufgaben, die nunmehr selbsttätig gestaltet werden müssen, vielfältige Unsicherheiten. Weniger als Ambivalenz und stärker als Belastung sind Subjektivierungsprozesse dort zu werten, wo die Subjektivierungsgewinne für die Einzelnen wie beispielsweise gesteigerte Autonomiespielräume eingeschränkt werden; gleichzeitig aber mehr Subjektivität bei der Regulierung der stark formalisierten Beschäftigung eingefordert wird. Zu dieser Bewertung kommen auch Kleemann et al. (1999: 36): „Auf der anderen Seite ergibt sich durch eine zunehmende Technisierung von Produktions- wie Dienstleistungstätigkeiten in vielen Bereichen durch rigide Festlegung von Arbeitsprozessen eine Reduktion von subjektiven Entfaltungsspielräumen bei gleichzeitig hohen Qualifikationsanforderungen: Die Individuen müssen in hohem Maße durch kompensatorische subjektive Leistungen den arbeitsteiligen Betriebsablauf sicherstellen helfen. Damit steigen die durch die Arbeit hervorgerufenen Belastungen für die Individuen.“
In ihrer Untersuchung über den Reorganisationsprozess der Deutschen Bahn konnten Nickel et al. (2008) genau diesen Effekt als Asymmetrie zwischen Führungskräften und Beschäftigten ausmachen: Während die Führungsebene tatsächlich über Gestaltungsspielräume verfügt und diese vor dem Hintergrund der eigenen Ressourcenausstattung auch zu nutzen vermag, sind die Beschäftigten auf eine Form von Subjektivierung zurückgeworfen, innerhalb der sie lediglich die Störungen im Arbeitsablauf kompensieren (Nickel et al. 2008: 13). Diese eingeschränkte Form der Subjektivierung erzeugt vielfältige Widerständigkeiten bei den Beschäftigten, die sich insbesondere in der Abgrenzung gegen die „Übergriffe des Unternehmens auf die ‘ganze’ Person“ zeigen (ebd.: 14). In ihren Untersuchungen heben Nickel et al. auch den Konnex von Subjektivierung und Unsicherheit bzw. Verunsicherungen hervor (ebd.: 105ff.). Als ein zentrales unsicherheitsgenerierendes Moment machen sie die Forderung an die Beschäftigten aus, „unternehmerisch zu denken und zu handeln“ (ebd.: 216). Diese Forderung entfaltet den AutorInnen zufolge eine unmittelbare Wirkung dergestalt, dass die Beschäftigten bemüht sind, ihren eigenen
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Wert-Beitrag zu erhöhen und dadurch den Gebrauchswertaspekt wie auch den Verwertungsaspekt zu sichern. Nickel et al. resümieren: „Beide Aspekte bringen offenbar Anforderungen und Überforderungen sowie Unsicherheit(en) bis hin zu Existenzängsten neuer Art mit sich“ (ebd.: 217). Neben den Untersuchungen von Nickel et al. belegen weitere Untersuchungen die neuen Belastungen wie auch Verunsicherungen aus Subjektivierungsprozessen. Besonders deutlich zeigen sich die unsicherheitsgenerierenden Effekte der Subjektivierung in Studien, die die neuen Anforderungen an die Subjektivität im Arbeitsprozess den individuellen tatsächlichen Einforderungen gegenüberstellen. Insbesondere die Arbeitskraftunternehmerthese wurde für vielfältige empirische Untersuchungen in den verschiedensten Berufsfeldern herangezogen, um die Idealgestalt der „Ware Arbeitskraft“ mit der tatsächlichen Verfasstheit von Arbeitskrafttypen zu konfrontieren. Bevor die Figur des Arbeitskraftunternehmers näher skizziert wird (2), soll zunächst die Forderung an die Beschäftigten, unternehmerisch zu handeln, als unsicherheitsgenerierend nachgezeichnet werden (1). 1) Bereits in den Ausführungen über die doppelte Subjektivierung wurde deutlich, dass je ein unterschiedliches Verständnis von Subjektivität relevant wird: Mal kommt Subjektivität als ökonomisch verwertbare Ressource in den Blick, mal erscheint Subjektivität als widerständiger Faktor, der sich von den Vereinnahmungen durch die Ökonomie abzugrenzen sucht. Kleemann et al. (2002: 84) haben vor dem Hintergrund dieses pluralen Verständnisses von Subjektivität systematisch drei bzw. vier Formen von Subjektivität unterschieden: (1) Die kompensatorische Subjektivität, die besonders im Rahmen der tayloristischen Arbeitsorganisation und im Zuge der Technisierung relevant wird, dient dem regulativen Eingriff in den Arbeitsprozess, um Störungen, die durch die gesteigerte Formalisierung von Arbeitsabläufen auftreten, zu vermeiden bzw. auszugleichen. Die kompensatorische Subjektivität erscheint damit als „einseitige Anpassungsleistung(en) der Individuen“ (Kleemann et al. 2002: 107). (2) Bei der strukturierenden Subjektivität geht es insbesondere um die Fähigkeit der Individuen, selbst Strukturen zu generieren. Diese Anforderung der Strukturbildung bezieht sich einerseits auf die Arbeitstätigkeit, wo die Selbstorganisation der eigenen Tätigkeit eingefordert wird; andererseits bezieht sich die Strukturierungsaufgabe gleichermaßen auf den Bereich der „alltäglichen Lebensführung“ (vgl. Behringer 1998; Keupp et al. 2006). Denn hier gleicht die strukturierende Subjektivität die Verflüssigung von Strukturen aus, die durch den weitreichenden Wandel der Erwerbsarbeit bedingt ist. Diese beiden Formen der Subjektivität beziehen sich auf die Ebene konkreten Handelns, also auf die „Praxis“, wohingegen die folgenden Formen der Subjektivität sich auf die Ebene „diskursiver Sinndeutungen“ beziehen. (ebd.: 86). (3) Die reklamierende Subjektivität steht für die Deutung und Auseinandersetzung mit Sinn-Strukturen sowie deren Reformulierung durch die Individuen und bezeichnet damit die Einforderungen der Subjekte. (4) Die letzte Form der Subjektivierung, die Kleemann et al. als ideologisierte Subjektivität bezeich-
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nen, bezieht sich auf die Prägung der Individuen durch diskursive Sinnstrukturen. Gemeint ist damit gleichsam die Gegenseite der „reklamierenden Subjektivität“, nämlich die „Zurichtung“ der Individuen durch diskursiv geformte Vorstellungen von Individualität. Diese Form der Subjektivität haben Kleemann et al. vor dem Hintergrund des damaligen Literaturstandes noch sehr vorsichtig formuliert; nunmehr liegen ausführliche Untersuchungen über diese ideologisierte Subjektivität vor (vgl. Bröckling 2007). Bröckling hat mit der Figur des „unternehmerischen Selbst“ eine Form ideologisierter Subjektivität nachgezeichnet. Er geht dabei im Unterschied zu der ähnlichen Figur des Arbeitskraftunternehmers, der einen Idealtypus der „Ware Arbeitskraft“ (Voß/Pongratz 1998) beschreibt, von einem präskriptiven Charakter des „unternehmerischen Selbst“ aus. Das unternehmerische Selbst sei „ein Subjekt im Gerundivum – nicht vorfindbar, sondern hervorzubringend“ (Bröckling 2007: 47). Subjekte werden nach Bröckling mittels verschiedener Programme und Strategien als unternehmerische Subjekte angerufen; ihr unternehmerisches Handeln wird also über verschiedene Techniken zu mobilisieren gesucht. Die Quelle der Anrufung ist dabei nicht der Staat allein, wenngleich mit der Figur der Ich-AG dem unternehmerischen Selbst ein starker Partner auf der Ebene der Deskription zur Seite gestellt wurde. Vielmehr geht es in der Logik der gouvernementality-studies um einen weiter gefassten Begriff des Regierens, weshalb auch theoretische Einflüsse aus der Soziologie und Psychologie das Kraftfeld gleichermaßen mitformen wie auch verschiedene Programme und Praxisanleitungen aus den Bereichen des Managements und der Kommunikation (ebd.: 10). Die Summe dieser Anrufungen mit dem Ziel der Ökonomisierung münden dann in ein „höchst praktisches Anforderungsprofil, das angibt, wie sich Menschen als Personen zu begreifen und wie sie zu agieren haben, um am Marktgeschehen partizipieren zu können (ebd.: 38).58 Freilich reicht die Anrufung an unternehmerische Potenziale über den engeren Bereich der Arbeit hinaus und erstreckt sich gleichermaßen auf sämtliche Aspekte der alltäglichen Lebensführung, womit der Wirkradius des „Kraftfeldes“ des unternehmerischen Selbst auch jenseits der Arbeitswelt zu verorten ist. Richtet man den Blick nun erneut auf die Definition der ideologisierten Subjektivität von Kleemann et al., so zeigt sich, dass das unternehmerische Selbst genau mit dieser Definition übereinstimmt: Bröckling stellt die Frage danach, wie diskursive Formationen Einzug nehmen in alltagspraktisches Handeln, und nutzt hierfür in Anlehnung an Hutter und Teubner (1994) den Begriff der „Realfiktion“. Mit dem Begriff der Realfiktion geben Hutter und Teubner eine Antwort auf die Frage nach dem ontologischen Status von Figuren wie dem homo oeconomicus. Dieser sei weder ein „bloßes Konstrukt“ der Wirtschaftswissenschaft noch eine „Verdichtung empirisch überprüfbarer Motive oder Verhaltensmuster handelnder Menschen“, sondern eine Figur, die dadurch hergestellt wird, dass sie an bestimmte menschliche Eigenheiten anknüpft, diese verabsolutiert und anthropologisiert und damit genau die Akteure erst konstruiert, die sie adressiert hat.
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Die Ökonomie der Unsicherheit „Erfasst werden dadurch (durch die ideologisierte Subjektivität, Anm. F.H.) (sowohl unreflektierte als auch intentionale, d.h. von kollektiven Akteuren gezielt angestrebte) diskursive Überformungen faktischer Prozesse des Wandels von Arbeit und Beschäftigung – beispielsweise im Zuge der allseits zunehmenden Debatten über „Individualität“ und „individuelle Verantwortung“, „Marktförmigkeit“ und „Wettbewerb“, „Flexibilität“ und „Innovativität“, „Selbständigkeit“ und „Unternehmertum“ usw.“ (Kleemann et al. 2002: 87)
Mittels der Figur des unternehmerischen Selbst kann also eine Ausgestaltung der ideologisierten Subjektivitätsform näher gefasst werden. Auf die problematischen Effekte, die mit dem Subjektivierungsprogramm des unternehmerischen Selbst einhergehen, geht Bröckling in seinem Schlusskapitel ein: „Gemessen an ihrem Anspruch ist die Produktion unternehmerischer Individuen wie andere Subjektivierungsprogramme auch zum Scheitern verurteilt. Weil die Anforderungen unabschließbar sind, bleibt alles Bemühen ungenügend; weil sie unvollständig und widersprüchlich sind, zeitigen sie nicht intendierte Effekte.“ (Bröckling 2007: 283)
Wenngleich diese Uneinholbarkeit für das Subjektivierungsprogramm selbst kein Indiz des Scheiterns ist, sondern vielmehr ein entscheidendes Element des Wirkmechanismus, ist die Uneinholbarkeit für die reklamierenden Subjekte doch ein massives Problem. Und so geht auch Bröckling abschließend auf drei mögliche „Gegenströmungen“ ein, die als Reaktion auf die totalitären Anforderungen des unternehmerischen Selbst entstehen können: Depression, Ironisierung und passive Resistenz (ebd.: 288). Von diesen Gegenströmungen ist erstere abzusetzen, da das „unzulängliche Individuum“, die Kehrseite des erfolgreichen Unternehmers ja gleichsam durch das Kraftfeld des unternehmerischen Selbst miterzeugt wird. Automatisch erscheinen all jene, denen das Glück der Selbstunternehmung verwehrt bleibt, vor der Folie des strahlenden Unternehmers als Verlierer. Und diejenigen, die trotz ständiger Bemühung, hohem Einsatz und großen Ambitionen nicht zu irgendeiner Art von Erfolg kommen, finden sich unversehens zugeordnet zu denen, die wenig anfangen, wenig besitzen und wenig erwarten. Das Kraftfeld des unternehmerischen Selbst vergrößert damit zugleich den Raum des Scheiterns, was Unsicherheiten generiert. Das „erschöpfte Selbst“, welches Bröckling im Anschluss an Ehrenberg (2004) skizziert, ist damit nicht als Gegenströmung, sondern als Konsequenz für die Individuen aus dem Totalitätsanspruch des unternehmerischen Selbst anzusehen. Wenngleich in Bröcklings Ausführungen den tatsächlichen Wirkungen des Kraftfeldes des unternehmerischen Selbst kein Raum geboten wird, so arbeitet er doch die Spannung für die Individuen allein durch die Präsenz der skizzierten Form ideologisierter Subjektivität heraus. Fruchtbringender für die empirische Analyse ist die These vom Arbeitskraftunternehmer, entlang derer die Orientierungen, Widerstände und Verunsicherungen der Beschäftigten vor dem Hintergrund neuer Anforderungsstrukturen deutlich werden.
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2) Voß und Pongratz (1998) haben mit der Figur des „Arbeitskraftunternehmers“ einen Idealtypus von Arbeitskraft skizziert, der sich durch Selbst-Rationalisierung der Lebensführung, Selbstkontrolle im Sinne der eigenverantwortlichen Koordinierung und Planung der Tätigkeiten sowie Selbst-Ökonomisierung im Sinne der gezielten und effizienten Nutzung der eigenen Arbeitskraft auszeichnet. Der Arbeitskraftunternehmer ist damit die Idealbesetzung in subjektivierten Arbeitswelten. Die Autoren prognostizierten in ihrem Artikel über Eine neue Grundform der Ware Arbeitskraft, dass die bisher dominante Form der „Ware Arbeitskraft“, der „verberuflichte Arbeitnehmer“, durch den neuen Typ des „Arbeitskraftunternehmers“ zurückgedrängt wird (Voß/Pongratz 1998: 131f). Ein elementarer Unterschied zwischen diesen beiden Arbeitskrafttypen ist der beim Arbeitskraftunternehmer ausgeprägte „Zugriff auf die Arbeitsperson als ganze“ (Voß/Pongratz 1998: 151). Die Arbeitskraftunternehmerthese ist Bezugspunkt vielfältiger empirischer Untersuchungen geworden.59 Im Rahmen eigener Studien zeigten Voß und Pongratz auf, dass sich die Erwerbsorientierungen der Beschäftigten teilweise dem Ideal des Arbeitskraftunternehmers entsprechen, hier aber zu differenzieren ist zwischen den Entsprechungen in den Bereichen der Selbstkontrolle, Selbstökonomisierung und Selbstrationalisierung (Pongratz/Voß 2003). Insbesondere im Bereich der Selbstrationalisierung60, innerhalb dessen es um die Fähigkeit geht, den eigenen Lebenszusammenhang entlang ökonomischer Erfordernisse zu arrangieren, konnten Abweichungen vom der Figur des Arbeitskraftunternehmers nachgewiesen werden. Wie die Untersuchung zeigt, lassen sich die Anforderungen an die Beschäftigten, die im Ideal des Arbeitskraftunternehmers gebündelt sind, nicht nahtlos in das Verhalten übersetzen. 59 Die Kritik aufgreifend, dass die Figur des Arbeitskraftunternehmers als „ausführendes Organ betrieblicher Vorgaben“ erscheine und so ein „latenter Funktionalismus“ in dieser Figur angelegt sei (Matuschek et al. 2004: 117), stellen die Autoren den Dimensionen der Selbstökonomisierung, -rationalisierung und -kontrolle die Dimensionen der Eigenökonomisierung, -rationalisierung und -kontrolle gegenüber. Damit würde eine Perspektive auf die Wahrnehmungen und Sinnwelten, eben auf die „Einforderungen“ der Subjekte möglich (ebd.: 121f.). 60 Selbstrationalisierung ist eine andere Formel für die „Verbetrieblichung der alltäglichen Lebensführung“ (Voß/Pongratz 1998). Diese befördere eine „zunehmende Gleichgültigkeit des Arbeitenden gegenüber seinen nicht marktgängigen Qualitäten“ (Moldaschl 1998: 233). Im Idealtypus des Arbeitskraftunternehmers ist damit eine Tendenz angelegt, die eigenen Arbeitsmarktchancen zu erweitern und die Beschäftigungsfähigkeit zu fördern. Von „konkurrierenden individuellen Orientierungen und Bestrebungen“, die dieser Marktgängigkeit entgegenstehen, müssten sich die Beschäftigten autonomisieren (Voß/Pongratz 1998: 144). Anzumerken ist, dass insbesondere die Dimensionen der Selbstökonomisierung und Selbstrationalisierung nicht trennscharf voneinander abzugrenzen sind. So kann die Selbstrationalisierung im Sinne der Ausrichtung des gesamten Lebenszusammenhanges auf die Arbeit als Grundlage für das zu der Dimension der Selbstökonomisierung zählende Selbstmarketing zählen.
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Auch Preißer sieht auf der Basis empirischer Untersuchungen in der Figur des Arbeitskraftunternehmers stärker die Gefahr einer Überforderung für die Beschäftigten angelegt (Preißer 2004: 296). In der Zusammenschau verschiedener Forschungsergebnisse über die Arbeitskraftunternehmerthese resümieren auch Pongratz und Voß: „Dominant bleibt aber in den meisten Untersuchungsbereichen der Druck, der von veränderten betrieblichen und gesellschaftlichen Anforderungen ausgeht“ (Pongratz/Voß 2004: 25). Mit dem „unternehmerischen Selbst“ als herzustellendem Subjekttyp und dem „Arbeitskraftunternehmer“ als Idealform von Arbeitskraft konnten zwei Typen nachgezeichnet werden, die optimal an die Bedingungen subjektivierter Arbeit angepasst sind. In der Grenzenlosigkeit und Unabschließbarkeit der Anforderungen an die Selbstoptimierung zeigten sich die Probleme, die ein Leitbild wie das unternehmerische Selbst bei der individuellen Umsetzung der Anforderungen mit sich bringt. Entlang der Arbeitskraftunternehmerthese verdeutlichen empirische Studien die Probleme bei der individuellen Realisierung der intensivierten Anforderungen an Selbst-Rationalisierung, -Ökonomisierung und -Kontrolle. Im ambivalenten Prozess der Subjektivierung der Arbeit sind damit zahlreiche Momente der Überforderung angelegt, die Verunsicherungsgefühle der Beschäftigten hervorrufen. In den Reportagen aus der subjektivierten Arbeitswelt, mit denen Moldaschl und Voß ihren Sammelband über die Subjektivierung von Arbeit beschließen, bringt eine Projektleiterin den Link von Überforderung und Angst auf den Punkt: „Unabhängig von der Frage, ob durchschnittlich 9 Stunden Tagesarbeit besonders viel sind, stellt sich heraus: Die Situation ist nun beinahe unerträglich geworden. Eine grundsätzliche Entlastung ist jedoch nicht in Sicht. Im Gegenteil steigt der Druck noch dadurch, dass ich inzwischen (notgedrungen) so viele Dinge vernachlässigt habe, dass ich nun Angst haben muss, die Kontrolle über meine Projekte zu verlieren. Mich regiert die blanke Angst.“ (zit. nach Moldaschl/Voß 2002: 315f.)
An diesem Auszug lässt sich exemplarisch zeigen, dass weniger die Selbstverwirklichungspotenziale als Bestandteile einer neuen Arbeitsüberzeugung ihre Wirkung bei der Bewertung der Arbeitssituation entfalten, sondern vielmehr die Fügung innerhalb indirekt gesteuerter Arbeit durch die Angst vor dem Scheitern bestimmt ist. 1.6 Zwischenfazit Mit der Prekarisierung und Subjektivierung der Arbeit wurden zwei gegenwärtige Diskurse über die Wandlungstendenzen der Arbeitsgesellschaft im Postfordismus nachgezeichnet, die auf je unterschiedliche Weise die neuen Unsicherheiten in der Arbeitswelt für die Subjekte thematisieren. Wo der Prekaritätsbegriff auf eine wachsende Unsicherheit durch den Wandel der Beschäftigungsverhältnisse zielt, steht der
Zwischenfazit
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Begriff der Subjektivierung der Arbeit für einen von Ambivalenzen durchzogenen Wandel betrieblicher Leistungspolitik, der sich durch eine erweiterte Inbetriebnahme subjektiver Potentiale auszeichnet: Neben den größeren Chancen auf Selbstverwirklichung in der Arbeit entstehen zugleich gesteigerte Anforderungen an die Selbstorganisation und Leistungssteuerung. Die Unsicherheiten der Planung und Durchführung werden somit den Beschäftigten übertragen, denen im Moment der Leistungsausführung aber die Honorierung der Leistung noch ungewiss ist. Subjektivierung und Prekarisierung der Arbeit stehen zugleich in je unterschiedlicher Weise für die Aufweichung der Trennung von Arbeit und Leben, die noch für die fordistische Formation kennzeichnend war. Die mit prekärer Beschäftigung häufig einhergehende eingeschränkte materielle Sicherheit, die eine langfristige Planung des Lebens verhindert, sorgt dafür, dass Unsicherheiten der Arbeit in erhöhtem Maße relevant für die alltägliche Lebensführung werden. In der These der Subjektivierung der Arbeit zeigt sich die Entgrenzung als fortschreitende „Landnahme“ subjektiver Potentiale und zugleich als Relevanzgewinn von Arbeit im privaten Bereich: Arbeit ist zu einer zentralen Sinnressource avanciert und Markttauglichkeit und Wettbewerbsfähigkeit finden als ‘gerechte’ Selektionskriterien auch jenseits der Arbeitswelt immer mehr Anerkennung. Durch diese zunehmende Verschränkung von Arbeit und Subjektivität sind Leistungen bzw. Erfolge nicht länger nur in der ökonomischen Sphäre relevant, sondern gelten als Ausdruck und Bewertungsmaßstab der Person. Die Verschärfung von Unsicherheiten zeigt sich besonders am Zusammenspiel von Prekarisierungs- und Subjektivierungsprozessen: Wenn eine kontinuierliche und existenzsichernde Beschäftigung zu einem knappen Gut wird, und zugleich die Leistungen und Erfolge der Arbeit als Bewertungsmaßstäbe der Person wichtiger werden, verschärft sich die Anforderung, beschäftigt oder zumindest ‘beschäftigungsfähig’ zu sein. Damit verschärft sich subjektiv das Problem beruflicher Unsicherheit, insofern als die fehlende oder instabile Beschäftigung nicht nur als Defizit in der Erwerbsbiographie, sondern als persönlicher Makel gewertet wird. Wie sich an Untersuchungen über die subjektiven Wahrnehmungen von Prekarität und Prozessen der Subjektivierung der Arbeit zeigen ließ, nehmen die Individuen beide Veränderungen der Organisation von Arbeit als problematischen Eingriff in ihre Lebensführung wahr: Wo bei der Prekarität stärker die Zukunftsungewissheit und die daraus resultierende mangelnde Planbarkeit beklagt wird, ist bei der Subjektivierung der Arbeit die Überforderung eine zentrale Wahrnehmung. Diese Wahrnehmungen können als Ausdruck einer grundlegend als gefährdet eingestuften Integration gewertet werden: Ob das Maß an Flexibilität, welches individuell aufzubringen ist, und die maximale Leistung hinreichend ist, um nicht ‘überflüssig’ zu werden, kann im Vorhinein kaum kalkuliert werden. Prekarisierung und Subjektivierung der Arbeit stehen zudem für Prozesse, die auch jenseits des unmittelbaren Arbeitskontextes gesellschaftliche Erwartungssicher-
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Die Ökonomie der Unsicherheit
heiten infrage stellen. Besonders deutlich wird dieser Verlust von Erwartungssicherheiten, sobald man den Blick auf die Umbruchprozesse von Inklusionsmechanismen legt, die gleichsam dem Wandel der Beschäftigung zugrunde liegen: Denn hinter den Veränderungen steht eine gewandelte Sichtweise auf die Nutzung der Zeit wie auch eine gewandelte Anerkennungslogik. Beide Prozesse schlagen sich in der Veränderung von Karrieremodellen nieder. Dieser Umbruch auf der Ebene von Erwartungen hinsichtlich grundlegender Inklusionslogiken ist Gegenstand des nächsten Kapitels.
2 Fragile Anerkennung, verzeitlichte Zeit: Karriereskripte im Wandel
2.1 Einleitung Dem Vorschlag Richard Sennetts (1998), gegenwärtigen Kapitalismus als „flexiblen Kapitalismus“ auszuweisen, sind zahlreiche Gesellschaftsdiagnosen gefolgt (Dörre 2003). Im flexiblen Menschen nutzt Sennett daneben auch die Formel des „kurzfristig agierende(n) Kapitalismus“ (1998: 31) und zielt damit insbesondere auf die veränderte Zeitordnung des Kapitalismus, die als charaktergefährdend eingestuft wird. Der flexible Kapitalismus verhindere durch seine Zeitstruktur die Festigung eines Charakters, da dessen Entwicklung auf Langfristigkeit angewiesen sei (ebd.: 31). In einer Gesellschaft, die aus „Episoden und Fragmenten“ besteht, sei es unmöglich, seine Identität und Lebensgeschichte zu einer Erzählung zu bündeln“ (ebd.: 31), so Sennett. An diesen Formulierungen zeigt sich die enge Verbindung zwischen den Zeitrhythmen der Arbeitswelt und der zeitlichen Dimension des Selbst. Man muss nun nicht Sennetts Vorschlag folgen, der eine Parallelität von Zeitlogiken des Kapitalismus und des Selbst annimmt, insofern er berufliche Diskontinuität als biographische Diskontinuität und damit als ‘unerzählbar’ interpretiert, um doch zu der Einschätzung zu gelangen, dass insbesondere die Umstellung auf eine KurzfristLogik mit zahlreichen Konsequenzen für die Lebensführung verbunden ist. Überlegungen zu Zeitlogiken und der strukturierenden Wirkung von Arbeit für ebendiese finden sich in zahlreichen Zweigen der Soziologie; und oft genug ist auch der Wandel der Zeitstrukturen Gegenstand soziologischer Gegenwartsdiagnosen. Insbesondere aber haben sowohl die Soziologie der Zeit wie auch die Biographie- und Lebenslaufforschung die Zusammenhänge zwischen sozialer Zeit (Brose et al. 1993) und „Eigenzeit“ (Nowotny 1989) zu erhellen gesucht. Zeitstrukturen werden hier als Schnittstelle zwischen Struktur und Subjekt aufgefasst (Rosa 2002; 2005): Erst über die Vermittlungsprobleme der verschiedenen Zeitlogiken, des Zeitregimes des Kapitalismus, der sozialen Zeit in Form sozial geformter zeitlicher Normalitätsmodelle wie auch von individuellen Zeitrhythmen, die an die Leiblichkeit rückgebunden sind, lassen sich die Unsicherheitsmomente für die Lebensführung, und damit für die Biographie aufzeigen. Wesentlich für die Untersuchung der Zunahme biographischer Unsicherheiten ist die Erosion von kulturell verfügbaren Zeitordnungsschemata. Wie die Zeitsoziologie an verschiedenen Stellen eindrucksvoll belegt hat,
F. Hardering, Unsicherheiten in Arbeit und Biographie, DOI 10.1007/978-3-531-94048-9_3, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Fragile Anerkennung, verzeitlichte Zeit: Karriereskripte im Wandel
unterscheiden sich diese auch je nach Reifegrad kapitalistischer Vergesellschaftung.61 Die Biographie- und Lebenslaufforschung hat mit dem Konzept des Lebenslaufes bzw. dem Konzept der Normalbiographie je ein institutionalisiertes Zeitordnungsschema vorgeschlagen, welches im Zuge des Rückgangs ständisch geprägter Ordnungsschemata an Relevanz gewann. Die Bedeutung solcher Schemata ist aber nicht begrenzt auf die Strukturierung und Ordnung von Zeit; vielmehr besitzen solche Normalitätsfolien normativen Charakter. Insofern kann der Rückgang kultureller Zeitordnungsschemata immer auch als Verlust gesellschaftlicher Orientierungslinien gedeutet werden. Hartmut Rosa (2005: 190) hat das „Daseinsgefühl“ des Verlustes stabiler Orientierungslinien aus einer verbindlichen Zeitordnung als Gefühl, auf slipping slopes, auf rutschenden Abhängen zu stehen, charakterisiert, und streicht so heraus, dass Veränderungen der Zeitordnung im Wahrnehmungshorizont der Individuen reflektiert werden, und das nicht als bloße und wertfreie Veränderung, sondern eben als Verunsicherung und als Verlust. Neben Zeitstrukturen stellen Anerkennungsstrukturen ebenfalls einen wesentlichen Ort der Übersetzung systemischer Anforderungen in lebensweltliche Perspektiven, und damit einen Ort der Subjekt-Struktur-Synchronisation dar, und auch im Bereich der Anerkennung haben sich im Zuge der Ablösung taylorfordistischer Strukturen weitreichende Wandlungen ergeben: Soziale Anerkennung, die in Arbeitsgesellschaften maßgeblich an die Erwerbsarbeit rückgebunden ist, und die in fordistischen Unternehmen für Leistung wie auch für Zugehörigkeit gezollt wurde (Holtgrewe 2000: 64) wird infolge organisationaler Transformationen stärker an Leistungen bzw. Erfolge geknüpft. Im Zuge dieser Verschiebung hin zu einer „marktlichen Honorierung von Leistung“ verschiebt sich die Anerkennung in die Zukunft, und wird von dort aus nur für erfolgreiche Leistungsbeiträge ex post gezollt (ebd.: 64). Durch die Rückbindung an den Markterfolg werden Anerkennungschancen so knapper und ungewisser (ebd.). Die Transformation von Zeit- und Anerkennungsverhältnissen ist, wie an dem veränderten Zeitpunkt des Anerkennung-Zollens deutlich wird, interdependent und führt zu einer wechselseitigen Verschärfung von Exklusions- und Beschleunigungsgefahren (Rosa 2005: 482). Insofern bietet der 61 Exemplarisch können hier Bourdieus Studien über die algerische Übergangsgesellschaft genannt werden. In seinen Studien in der Kabylei werden Zeitvorstellungen gleich zu Beginn zum Thema: „Der vorkapitalistischen Wirtschaft (ist) nichts fremder als die Vorstellung von einer Zukunft als einem Feld des Möglichen, dessen Erforschung und Beherrschung dem Kalkül anheimgestellt wäre“ (Bourdieu 2000, 32). Damit ist freilich nicht gemeint, dass der Gesellschaft jedwede Form der Vorstellung von Zukunft fehle. Nach Bourdieu sei aber in dieser Gesellschaft eine Vorstellung von Zukunft vorherrschend, die stark an den in der Gegenwart auftretenden Bedürfnissen sowie an Traditionen verhaftet ist (ebd.: 32f.). Das vorsorgende Verhalten, das Vorsehen, wie Bourdieu es nennt, sei also stark durch die Gegenwart sowie durch in der Vergangenheit Erfahrenes geprägt. Was aber bei diesem Vorsehen fehlt, ist ein Ziel, entlang dessen es ausgerichtet ist.
Einleitung
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Nachvollzug dieser beiden Wandlungsprozesse die Möglichkeit, den Rückbau von Erwartungssicherheiten auf einer ‘intermediären Ebene’ zu rekonstruieren: Zeitund Anerkennungsordnungen sind in Arbeitsgesellschaften maßgeblich durch die Organisation von Arbeit geprägt; sie wirken aber über diese hinaus durch zeitliche Gliederungslogiken wie die Aufteilung von Arbeit und Freizeit und durch Anerkennungslogiken, die auch jenseits der Arbeit nicht unabhängig von betrieblichen Anerkennungsprinzipien organisiert sind. Wechselseitige Anerkennungserwartungen und Zeitvorstellungen zwischen Organisationen und Individuen sind ein wesentlicher Bestandteil berufsbiographischer Skripte oder „Karriereskripte“, die als Formen impliziten Wissens Anforderungen und Erwartungen strukturieren. Aus Sicht der Individuen liefern solche Skripte Vorstellungen über gelingende Anerkennung, angemessene Zeitperspektiven und fungieren so zugleich als biographische Plausibilisierungsmuster. Berufsbiographische Skripte gelten dabei als Orientierungshilfe für die Gestaltung einer anerkennungsfähigen und gelingenden Biographie; sie sind damit der Bezugspunkt individueller Karriereplanung. Insofern lässt sich der Wandel von Zeit- und Anerkennungslogiken auch im Kontext des Wandels berufsbiographischer Skripte nachzeichnen: Er stellt sich dann als Abkehr von der „organisationalen Karriere“ bzw. der Aufstiegskarriere dar, die auf fordistischen Zeit- und Anerkennungslogiken fußte, und als Wandel hin zu einer neuen „Projektkarriere“ oder „boundaryless carreer“, die eine veränderte Zeitund Anerkennungsordnung für sich in Anspruch nimmt. Eingebettet ist dieser Wandel von Karriereskripten in den Prozess der De-Institutionalisierung des Lebenslaufes, der zugleich für die Schwächung der Normalbiographie als Lebenslauf- und Biographiemuster steht. Um diesen vielschichtigen Wandel mit dem Fokus auf den Veränderungen von Erwartungssicherheiten nachzuzeichnen, soll zunächst auf die Genese der Normalbiographie eingegangen werden. Hier zeigt sich, dass die Normalbiographie neben einer biographischen Perspektive der Langfristigkeit und Kontinuität, also neben der Dimension der Sicherheit, auch mit einer bestimmten Form stabiler Anerkennung einher ging. Das biographische Skript der Normalbiographie hat diese Integration von Sicherheit und stabilen Anerkennungsstrukturen zu leisten vermocht. Mit der Erosion der Normalbiographie, die auf einem fundamentalen Wandel der Sozialpolitik fußt wie auch auf einem grundlegenden Wandel betrieblicher Mitgliedschaftsverhältnisse, ist zunächst fraglich, inwieweit zeitstabile biographische Perspektiven und Formen von Anerkennung überhaupt gewährleistet werden können. Welche Konsequenzen die De-Institutionalisierung des Lebenslaufes für Zeitordnungsschemata und die Herausbildung biographischer Perspektiven hat und welche Anerkennungsproblematiken mit der Abkehr von der Normalbiographie einhergehen, soll in einem nächsten Schritt erörtert werden. Sodann werden die Karrie-
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Fragile Anerkennung, verzeitlichte Zeit: Karriereskripte im Wandel
reskripte der „organisationalen Karriere“ und der „Projektkarriere“ vorgestellt sowie der Wandel der Zeit- und Anerkennungsordnung. Auf der Grundlage Abgrenzung von alten und neuen berufsbiographischen Skripten, und damit von je unterschiedlichen Inklusionslogiken, soll gefragt werden, wie biographische Unsicherheit auf dieser intermediären Ebene zu deuten ist: Ist sie als einfacher Verlust von Orientierungen zu deuten oder resultiert die biographische Unsicherheit nicht vielmehr aus der Uneindeutigkeit, auf welches erwerbsbiographische Skript es sich zu beziehen lohnt? 2.2 Die Normalbiographie Wenn im Folgenden die Normalbiographie als Ermöglichungsraum einer individuellen biographischen Perspektive bzw. einer biographischen Langsicht vorgestellt wird, muss bei einem so schillernden Begriff wie dem der Normalbiographie zunächst geklärt werden, welche Bedeutungskomponenten er über diese Ermöglichungsfunktion hinaus hat. Zudem bietet sich an, dabei zugleich den Blick auf die theoretischen Diskussionen und eben auch Unschärfen zu richten, die im Kontext der Diskussion um die Normalbiographie immer wieder aufgetreten sind. Wie auch das Normalarbeitsverhältnis erst in den Fokus der Betrachtung rückte, als es bereits in Auflösung begriffen war, so trat auch das Konstrukt der „Normalbiographie“ erst dann in Erscheinung, als sich bereits deutliche Tendenzen einer De-Institutionalisierung des Lebenslaufes (Kohli 1994; vgl. Osterland 1990) zeigten. Allgemein wird unter der „Normalbiographie“ einerseits ein statistisch dominanter Typ von (je männlichen und weiblichen) Lebensläufen wie auch die normgerechte Ausprägung dergleichen bezeichnet. Diese Definition knüpft an René Levys Verständnis einer Normalbiographie als „eine(r) sozial standardisierte(n), also institutionalisierte(n) Konfigurationssequenz“ mit normativer Geltung und faktischer Vorkommnis an (Levy 1977: 81).62 Daneben ist der fiktionale Charakter der „Normalbiographie“ immer wieder herausgestrichen worden (vgl. Osterland 1990). Fiktion ist die Normalbiographie insofern, als sie nur in einem sehr kurzen Zeitraum und auch nur für bestimmte Gruppen statistisch dominant war. Lediglich in den Jahren des Wirtschaftswunders kann man von einer deutlichen Verbreitung der Normalbiographie insbesondere bei männlichen Industriearbeitern sprechen. Nur in dieser sehr kurzen Epoche fielen Idealtyp und Realtyp für einen kurzen Moment zusammen (vgl. Bolder 2004: 19). Bolder argumentiert aufgrund dieser Tatsache dafür, die Normalbiogra62 Normalität und Normativität werden im Konzept der Normalbiographie, wie Link betont, „nicht bloß gekoppelt, sondern auch konzeptuell vermengt“ (Link 1997: 392), was in der Diskussion über die „Normalbiographie“ zu zahlreichen Irritationen geführt hat (vgl. Bolder 2004; 2006).
Die Normalbiographie
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phie in erster Linie als Idealtyp im Weberschen Sinne zu betrachten, als einen „Fixpunkt (...) für Abstandsmessungen der realen Verhältnisse“ (Bolder 2004: 18). Entlang dieser Definitionen ist aber keineswegs eindeutig, was mit dem Begriff der Normalbiographie in Abgrenzung zu dem des Lebenslaufes eigentlich gemeint ist: So könnte man zur Differenzierung von Normalbiographie und Lebenslauf diejenige zwischen Biographie und Lebenslauf heranziehen, die spätestens mit den Untersuchungen von Alois Hahn (1987) an Popularität gewonnen hat und für Lebenslauf- und Biographieforschung essentiell ist. Der Lebenslauf meint dann die „objektiven“ Merkmale von Lebensverläufen, wie z.B. Geburt, Schulbildung, Beruf, Berufswechsel usw. Die Biographie steht für die „subjektive“ Seite und damit für die individuelle Interpretation des Lebens entlang dieser äußeren Merkmale. Aber diese Differenzierung kann schon deshalb nicht hinreichend sein, da es sich ja nicht nur um Individualbiographien handelt, über die unter dem Schlagwort der „Normalbiographie“ diskutiert wird. Vielmehr wird auf das Allgemeine der Individualbiographien rekurriert, auf die Deutungsstrukturen, die den Individualbiographien gemein sind. 2.2.1 Die Normalbiographie: Lebenslaufmuster und Biographiemuster Für ein tieferes Verständnis bietet sich ein Blick auf die Ausführungen von Martin Kohli an, der mit der These von der Institutionalisierung des Lebenslaufes den wohl elaboriertesten Vorschlag für ein adäquates Verständnis von Lebenslauf und Normalbiographie vorgeschlagen hat. Kohli hat die Normierung der Erwerbsverläufe durch institutionelle Regulierungen und Karrieremuster zu charakterisieren gesucht, wie sie sich in der Hochphase des Fordismus zeigte. Die Herausbildung des Lebenslaufes positioniert er dabei als ein zentrales Merkmal der Moderne. Infolge der fortschreitenden Institutionalisierung des Lebenslaufes habe sich eine Normalbiographie herauskristallisiert, die als ein „Gerüst der Lebensführung“ fungierte und die Erwartbarkeit des Lebenslaufes ermöglichte (Kohli 1988). Nach Kohli ist der Lebenslauf eine soziale Institution; er kann damit als „eigenständige gesellschaftliche Strukturdimension“ (Kohli 1985: 1) begriffen werden. Kohli nennt fünf Charakteristika des Lebenslaufes: 1) Verzeitlichung: Lebenszeit ist begrenzt, das Alter besitzt damit eine strukturierende Wirkung, 2) Chronologisierung: Nicht mehr die Zuordnung zu einer bestimmten Altersgruppe ist relevant; vielmehr wird Alter als chronologisches Alter begriffen. 3) Daraus folgt, dass der Lebenslauf als „Vergesellschaftungsprogramm, das an den Individuen als eigenständig konstruierten sozialen Einheiten ansetzt“ (ebd.: 3), seine Wirkung entfaltet und damit die Individualisierung der Individuen erst ermöglicht. 4) Der Lebenslauf ist eine Kerninstitution der Arbeitsgesellschaft. 5) Er leistet als solche nicht nur die „Regelung des sequentiellen Ablaufs des Lebens“, sondern auch die „Strukturierung der lebensweltlichen Hori-
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zonte bzw. Wissensbestände, innerhalb derer Individuen sich orientieren und ihre Handlungen planen“ (Kohli 1985: 2). Kohli hat diese Dimensionen unter drei Schlagwörter subsumiert, die noch pointierter die zentralen Aspekte des Lebenslaufes als sozialer Institution hervorheben. Die grundlegende Strukturiertheit des Lebenslaufes durch die Erwerbsarbeit, die eine Zergliederung von drei Phasen der Ausbildung, der Erwerbsarbeit sowie des Ruhestandes vorgibt, taucht dabei als Prämisse auf. Der Lebenslauf liefert nach Kohli Sequenzialität im Sinne eines chronologischen Ablaufs wie auch, gleichsam daraus resultierend, Kontinuität auf der materiellen Ebene wie auch auf der Ebene der Erwartungssicherheiten. Darüber hinaus spricht Kohli von der Herausbildung eines Codes der Biographizität, welcher auf der Ebene der kulturellen Überzeugungen den Individuen eine Vorstellung eines Ablauf- bzw. Entwicklungsschemas liefert. Mit Biographizität63 meint Kohli also ein bestimmtes Biographiemuster, welches sich im Zuge der Institutionalisierung des Lebenslaufes herausbildet. „Der Code besteht in der Anregung oder gar Verpflichtung, sein Leben teleologisch zu ordnen, d.h. auf einen bestimmten biographischen Fluchtpunkt hin (das verwirklichte Selbst, die entfaltete Lebensstruktur); und (damit verwandt) in einer narrativen Erfahrungsstruktur, in der das eine dem anderen folgt, also einer Sequenz- bzw. Entfaltungslogik gehorcht“ (Kohli 1994: 221).
An dem Dreischritt aus Sequenzialität, Kontinuität und Biographizität fällt auf, dass hier sowohl Aspekte dessen, was üblicherweise als Lebenslauf angesprochen wird wie auch Aspekte der Biographie als sinnhafter Konstruktion ihren Raum finden. Es sind also einerseits Muster des Lebenslaufes und andererseits Muster biographischer Beschreibung, auf die Kohli hier abzielt. Eine ähnliche Differenzierung findet sich bei Geissler und Oechsle (1996: 141), die zwischen der „Herausbildung bestimmter Muster von Lebensphasen und Statuspassagen“ und „Schema(ta) biographischer Orientierung“ differenzieren. Warum diese in der gängigen Diktion unterschiede63 Auch in den Arbeiten von Alheit wird der Begriff der „Biographizität“ verwendet (vgl. Alheit/Morten 2006; Alheit 2008). Für Alheit ist Biographizität unmittelbar mit einem klassisch modernen Biographieformat verknüpft, welches gleichsam durch die Idee der persönlichen Entwicklung geprägt ist. Biographizität wird von Bettina Dausien, die an Alheits Konzeption anknüpft, als „dialektische(r) Gegenpol zur Sozialität“ verstanden (Dausien 1996: 578): „Er (der Begriff der Biographizität, Anm. F.H.) bezeichnet vielmehr die grundsätzlich an das Subjekt gebundene Strukturierung von sozialen Erfahrungen im prozeßhaften Verhältnis von biographischem Hintergrundwissen und aktuellen biographischen Konstruktionen, und er bezeichnet damit zugleich die Potentialität zur Erzeugung und Veränderung sozialer Strukturen im biographischen Gestaltungsprozeß.“ (ebd.: 578). Indem der Begriff der Biographizität so auf das grundlegende Interpretationsverhältnis des Sozialen durch den ‘biographischen Filter’ anspielt, beinhaltet er theoretische Implikationen einer Sozialisationstheorie, und reicht damit über das von Kohli vorgelegte Verständnis von Biographizität hinaus.
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nen Dimensionen der Biographie und des Lebenslaufes hier zusammenfallen wird dort deutlich, wo Kohli sein Verständnis der Aufgabe der Biographieforschung formuliert. Zusammen mit Fischer formuliert er zunächst so: „Wir sind der Ansicht, dass Biographieforschung sich dieses Aspekts ‘subjektiver’ Prozessierung sozial vorgegebener ‘objektiver’ biographischer Schemata nicht begeben darf. Das Grundkonzept von Biographie als Orientierungsmuster muss vielmehr die dichotome Begrifflichkeit ‘objektive Struktur’ – ‘subjektive Verarbeitung’ (...) integrieren.“ (Fischer/Kohli 1987: 29).
In späteren Publikationen wird dieses integrative Verständnis von Biographie und Lebenslauf noch deutlicher: „Biographieforschung hat es (...) keineswegs nur mit ‘Biographisierung’ im Sinn von eigenständiger Konstruktion zu tun, sondern ebenso mit der Rekonstruktion der objektivierten biographischen Schemata und ihrer Geschichte. Dies ist das Feld eines weniger subjekt- oder handlungstheoretischen als kultursoziologischen Zugriffs auf Biographie und Individualität. Es geht darin – wie man zugespitzt sagen könnte – um eine nichtbiographische Konzeption von Biographie und eine nichtindividualistische Konzeption von Individualität. (…) Es müsste eigentlich einleuchten, dass das Problem der Übernahme und individuellen Handlungskonstituierung von kulturell gegebenen Schemata nicht auf eine der beiden Seiten hin reduziert werden kann. Praktisch lässt sich von beiden Seiten her ansetzen: der kulturellen Genese und Dynamik objektivierter Schemata oder der Realisierung solcher Schemata durch das Subjekt in der Konstruktion seiner eigenen Biographie; konstitutionstheoretisch müssen aber beide Seiten zugleich gefasst werden (‘uno actu’, vgl. Fischer/Kohli 1987)“ (Kohli 1988: 41f.).
Kohlis Verständnis von Lebenslauf und Biographie ist damit zwischen Strukturalismus und Subjektivismus angesiedelt. Die methodische Entscheidung für eine solche kultursoziologische Perspektive64 bedingt, dass die Unterscheidung Lebenslauf: objektiv, Biographie: subjektiv für ihn völlig unzureichend ist. Damit erklärt sich auch, dass der Begriff der Normalbiographie gelegentlich fast synonym mit demjenigen des Lebenslaufes verwendet wird.65
Kohli selbst bezeichnet diesen Blickwinkel als „kultursoziologisch“. Da diese Perspektive aber an der Übersetzungspraxis von Individualbiographien in biographische Deutungsschemata et vice versa orientiert ist, könnte man auch von einer praxeologisch orientierten Perspektive sprechen. 65 Darin zeigt sich auch Kohlis Bezugnahme auf René Levy, der ja Normalbiographien aus makrosoziologischer Perspektive, und damit „Lebensläufe“ untersucht hat. Ein Beispiel für die synonyme Verwendungsweise bei Kohli findet sich in der Einleitung von Normalbiographie und Individualität: „Danach gehe ich auf den Zusammenhang von Individualisierung und Institutionalisierung des Lebenslaufs – und damit auf das Spannungsverhältnis von Normalbiographie und Individualität – ein (Kohli 1988: 34). 64
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Der Vorwurf, Kohlis Arbeiten wiesen „eine gewisse Seitenlastigkeit im Hinblick auf die Bewertung des traditionellen Themas der Lebenslaufforschung, die objektiven Strukturen“ auf (Saake 2006: 205; vgl. auch Bolder 2004), ist insofern nicht gerechtfertigt, als dass Kohli zwar an den objektiven Strukturen interessiert ist, aber nicht in einem Verständnis, wie es die Lebenslaufforschung von objektiven Strukturen hat. Zwar mag insbesondere die Popularität seiner Ausführungen über die Institutionalisierung des Lebenslaufes eine solche objektivistische Lesart bestärkt haben, nichtsdestoweniger zeigen seine Arbeiten, wie oben bereits angedeutet wurde, dass ohne kulturelle Deutungsschemata die Bedeutung der Institutionalisierungsthese nicht zu erschließen ist. Insofern erscheint es verkürzt, unter der Normalbiographie lediglich den „faktische(n) Verlauf nach dem Drei-Phasen-Modell“ zu verstehen (Bolder 2004: 66). Wie sich an Formulierungen wie „objektivierte biographische Schemata“ (Kohli 1988: 41) oder dem „Code“ der „Biographizität“ (Kohli 1994: 221) ablesen lässt, liegt sein Interesse vielmehr auf der Ebene der kulturell geteilten Deutungen, die sich an der Schnittstelle von Subjekt und Struktur finden. Die Normalbiographie im Kohlischen Sinne ist also nur zu verstehen über das Zusammenspiel von Sequenzialität, Kontinuität und Biographizität, also von chronologischen Ablaufmustern, einer kontinuierlichen im Sinne einer vorhersehbaren und materiell abgesicherten Lebensspanne und einem kulturellen Deutungsmuster, innerhalb dessen ein Verständnis eines biographischen Ablaufes („biographischer Perspektiven“) sedimentiert ist. Die Institutionalisierung des Lebenslaufes erscheint damit als strukturelle Voraussetzung der Normalbiographie wie auch als genuiner Bestandteil derselben. Wenngleich die methodischen Setzungen Kohlis seine Akzentuierung der Gleichzeitigkeit von Lebenslaufmustern und Biographiemustern rechtfertigen, so bietet es sich doch in einer analytischen Perspektive an, die Differenz zwischen diesen beiden Strukturierungsmustern aufrechtzuerhalten. Denn nur so eröffnet sich die Möglichkeit einer klaren Differenzierung zwischen äußeren der Strukturiertheit von Lebensläufen und der sinnhaften Konnotation. Und auch die Frage, wie sich bei veränderten Lebenslaufmustern die Biographiemuster wandeln, die sich ja unter den Bedingungen der De-Institutionalisierung stellt, kann nur durch eine solche Differenzierung sinnvoll behandelt werden. Aber noch bevor das Verhältnis von Biographie- und Lebenslaufmuster für die Phase der De-Institutionalisierung bestimmt wird, ist nach dem Zusammenspiel dieser beiden Muster vor dem Hintergrund der Institutionalisierung des Lebenslaufes zu fragen. Die Überlegung, die die Arbeiten von Kohli durchzieht, ist diejenige einer Verbindung eines „Lebenslaufregimes“ mit einem speziellen Identitätsmuster. Erst unter den Bedingungen einer als kontinuierlich angenommenen Zeitordnung könne sich das Identitätsmuster einer „reflexiven Identität“ entwickeln, da die biographische Reflexion notwendig auf die Verfügbarkeit der Zukunft angewiesen sei. Die Einheit von Kontinuität, Sequenzialität und Biographizität spiegelt dieses Verständnis wider.
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Dabei erscheint es zunächst so, als untermauere die Biographizität das durch Institutionen geformte Lebenslaufprogramm auf der Ebene biographischer Beschreibung. Die Lebensempfehlung, die das Biographiemuster vermittelt, wäre dann bestimmt durch eine Parallelität von kontinuierlicher, also verlässlicher und abgesicherter Lebensspanne und einer ebenso kontinuierlichen Selbstentwicklung. Diese Parallelitätsannahme zeigt sich bei Kohli explizit dort, wo er, Giddens folgend, das Identitätsmuster skizziert: „Das moderne Individuum denkt autobiographisch, erzeugt eine kohärente, kontinuierende Identität, indem es seine Lebensgeschichte gestaltet, seine Zukunft in einer strategischen, kalkulierenden Haltung antizipiert, einen Lebensplankalender hat“ (Kohli 1986: 185, zit. nach Rosa 2005: 358).
Bei genauerer Betrachtung aber mündet die Vorstellung einer Gleichzeitigkeit dieser drei Elemente in einem Widerspruch, der Kohli durchaus präsent ist. Der Widerspruch besteht darin, dass mit Kontinuität und Sequenzialität eine Ablauflogik beschrieben wird, wohingegen dem Code der Biographizität eine Entwicklungslogik eingeschrieben ist. Der Code der Biographizität, anderenorts auch als „Code der allgemeinen Individualität“ bezeichnet (Kohli 1988: 39), ist ähnlich der Struktur des Bildungs- oder Entwicklungsromans auf Entfaltung hin angelegt.66 Im Code der Biographizität ist damit zugleich ein Potenzial angelegt, welches über die Normalität des Ablaufprogramms hinausweist. Denn die „Anregung oder gar Verpflichtung, sein Leben teleologisch zu ordnen“ (Kohli 1994: 221), die dem Code der Biographizität eingeschrieben ist, befördert zugleich die Möglichkeit, sich vom Normalprogramm abzustoßen. Damit ist ein entscheidendes Spannungsverhältnis benannt, welches das Verhältnis von Lebenslauf- und Biographiemuster charakterisiert: „Lebenszeit als Ordnungs- und Integrationsdimension steht im Widerspruch zu Lebenszeit als Entwicklungs- und Entfaltungsdimension. Dieser Widerspruch ist inzwischen krisenhaft fühlbar geworden: die in der Institution des Lebenslaufs verankerten Ansprüche auf individuelle Entfaltung erodieren dessen Normalprogramm. Daß die Ansprüche in dieser Weise wirksam werden konnten, setzt andererseits die Institutionalisierung des Normalprogramms voraus“ (Kohli 1994: 221).
66 Die Annahme einer solchen Entfaltungslogik, einer „immanenten Teleologie“, kritisiert insbesondere Wohlrab-Sahr (1992: 10f.). Die Kritik bezieht sich auf den Eindruck, dass Kohli die „teleologische Chronologisierung gewissermaßen als universelle Tendenz voraussetzt, die sich jenseits ihrer sozialen Formung immer wieder durchsetzt“ (ebd.: 11). Aus einer solchen Sichtweise heraus wären Veränderungen oder eine mögliche Abkehr von dieser Teleologie im Prozess der De-Institutionalisierung nicht erklärbar. Dieser Einwand schränkt allerdings die Erklärungskraft des Konzeptes der Normalbiographie für die fordistische Epoche keineswegs ein.
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Die Spannung, die hier zwischen Lebenslauf- und Biographiemuster beschrieben wird, ist damit im Kern nichts anderes als die Spannung von Institutionalisierungsund Individualisierungsprozessen.67 Denn einerseits wird Individualität durch den Institutionalisierungsprozess gebunden, andererseits ermöglicht erst die Institutionalisierung des Lebenslaufes eine gewisse Erwartbarkeit des Lebenslaufes, die wiederum Voraussetzung dafür ist, sich selbst als Handlungszentrum oder „Planungsbüro“ (Beck 1986: 217) seines Lebens zu begreifen. Kohli bringt es auf den Punkt: „Institutionalisierung von Individualität und Institutionalisierung des Lebenslaufes sind Teile desselben historischen Prozesses“ (Kohli 1994: 221). Mit diesem Spannungsverhältnis von Institutionalisierung und Individualisierung deutet Kohli bereits den Prozess der De-Institutionalisierung an. In der ersten Moderne konnte diese Differenz zwischen Kontinuität, Sequenzialität und Biographizität im Lebenslaufregime noch ausgeglichen werden, erst in der reflexiven Moderne bricht diese zeitweilige Übereinstimmung von Biographie- und Lebenslaufmuster auseinander. Dasjenige Element, welches die Bindung von Lebenslaufmuster und Biographiemuster in der ersten Moderne leisten konnte, scheint nun zugleich die Instanz zu sein, welche die Normalbiographie als stabil und darüber hinaus als Ermöglichungsrahmen einer gelingenden Lebensführung erscheinen ließ. Diese Bindung leistete das, was Elias (1976) als „Zwang zur Langsicht“ bezeichnet hat: Damit ist die aus Individualisierungsprozessen erwachsende Verantwortung für die Gestaltung der Zukunft angesprochen, die wiederum einen veränderten Blick auf die Zeit bedingt. Zukünftiges rückt damit in den Horizont des wenn auch nur begrenzt Gestaltbaren. Der „Zwang zur Langsicht“ wurde schnell umgedeutet als ein Ermöglichungsrahmen biographischer Langsicht, und als solcher schien er die Ablauf- und Entwicklungslogik zu vereinen. Der ermöglichende Charakter der Normalbiographie ist damit aber noch nicht hinreichend skizziert. Noch verständlicher wird die retrospektive Aufwertung der Normalbiographie dann, wenn man den Blick auf die für den Fordismus charakteristischen „Karriereskripte“ richtet. Insofern die Erwerbsarbeit als zentraler Strukturgeber der Normalbiographie fungiert, können die erwerbsbiographischen Orientierungsmuster, die für den Fordismus charakteristisch sind, zugleich als Herzstück der Normalbiographie aufgefasst werden. „Karriereskripte“ oder „berufsbiographische Skripte“ (Corsten 2004) können als Strukturierungshilfe einer gelingenden bzw. ‘erfolgreichen’ Erwerbsbiographie aufgefasst werden. Sie umfassen konkrete Handlungsanleitungen ebenso wie Deutungsmuster und sind damit Orientierungspunkt für die individuelle „Karrierepolitik“68 (Vormbusch/Kels 2008: 143). Zugleich ste67 Wohlrab-Sahr (1992: 9) hat hier treffend angemerkt, dass das Verhältnis von Institutionalisierungs- und Individualisierungsprozessen bei Kohli als Steigerungsverhältnis angelegt ist, welches sich in ein Widerspruchsverhältnis umkehrt. 68 „Karrierepolitik“ definieren Vormbusch und Kels als den „reflexiven Modus, mittels dessen Erwerbspersonen – aufbauend auf dem bisherigen Verlauf ihrer Berufsbiographie
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hen sie für ein implizites Wissen über die Ausgestaltung von Anerkennungslogiken. Das für den Fordismus paradigmatische Karriereskript ist dasjenige der „Aufstiegskarriere“ oder der „organisationalen Karriere“. Dieses auf das fordistische Normalarbeitsverhältnis verweisende Karriereskript gilt als „die paradigmatische Form berufsbiographisch gelingender Identität“ (Rosa 2005: 361). Wie im folgenden zu zeigen ist, bezieht sich diese Einschätzung in besonderem Maße auf die Zeitstabilität des Karriereskripts wie auch auf dessen Ermöglichung der Erwartbarkeit stabiler Anerkennungsverhältnisse. 2.2.2 Das berufsbiographische Skript der Aufstiegskarriere Der Normalbiographie liegt ein spezifisches berufsbiographisches Skript zugrunde, welches den Karriereverlauf innerhalb einer Organisation (idealtypisch) beschreibt. Im angelsächsischen Sprachraum ist hierfür der Begriff der „organizational career“ (van Mannen 1977) herangezogen worden, der auf eine Karriere innerhalb hierarchisch gegliederter Organisationen zielt. Solche „organizational careers“, „traditionellen Karrieren“ (Becker 1996) oder eben „Aufstiegskarrieren“ galten als die typische Karriereform in der Hochphase des Fordismus. Innerhalb der Großunternehmen, die die Unternehmensstruktur der Nachkriegsphase entscheidend prägten, definierten und steuerten die Organisationen die Karrieren der Beschäftigten. Als zentrale Merkmale solcher traditionellen Karrieren galten Kontinuität und Linearität (Andresen 2006: 415): Die Beschäftigen durchliefen mit steigendem Alter und wachsenden Qualifikationen die Hierarchien in Form einer Aufstiegsbewegung. Die Karriere war begrenzt auf ein bis maximal zwei Unternehmen, die zu erwerbenden Qualifikationen waren unmittelbar auf das Unternehmen ausgerichtet und für Karriereaspirationen war insbesondere das Angebot auf dem internen Arbeitsmarkt des Unternehmens relevant. Als Gegenleistung für die Loyalität der Beschäftigten boten die Unternehmen Arbeitsplatzsicherheit und die Möglichkeit des Zugewinns an Geld, Anerkennung und Verantwortung. Damit zeigte die Aufstiegskarriere als Karriereskript eine mögliche Lebensplanung auf, in der sowohl durch die Kontinuität des Beschäftigungsverhältnisses Zeitstabilität gewährleistet wurde wie auch zeitlich überdauernde innerbetriebliche Anerkennung. Durch regelmäßige und auch vorhersehbare Beförderungen war zudem ein stabiler finanzieller Rahmen abgesichert, auf dessen Grundlage die materielle Lebensplanung erfolgen konnte. In diesem Sinne ist auch für Mayrhofer et al. (2002: 393) die „organisationale Karriere“ bzw. ihrer ausgebildeten Arbeitsidentität – berufliche und private Pläne und Vorstellungen entwickeln und diese unter Mobilisierung verfügbarer personaler und betrieblicher Ressourcen (Kompetenzen, Qualifikationen, soziale Netzwerke etc.) mehr oder weniger konsequent in entsprechende Handlungsstrategien zu übersetzen versuchen“ (Vormbusch/Kels 2008: 145).
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ein „kontinuierlicher hierarchischer, finanzieller und damit gesellschaftlicher Aufstieg bis zu einem bestimmten Plateau“. Die Aufstiegskarriere in Organisationen dominierte für lange Zeit zumindest im deutschsprachigen Raum das Verständnis von Karrieren (vgl. Becker 1996; Hartmann 2003). Der Karrierebegriff ist in dieser spezifischen Bedeutung immer rückgebunden an das Kriterium des Erfolges, weshalb Giegel auch von „Erfolgskarrieren“ spricht (Giegel 1995). Erfolg wird dabei in einem an objektiven Kriterien ausgerichteten Sinne verstanden, als „Sich-Durchsetzen in der Konkurrenz“ (Giegel 1995: 215).69 Das „Sich-Durchsetzen“ bezieht Giegel auf die „Konkurrenz um höhere Berufspositionen“ (ebd.: 215). Nach Giegel gibt es „Kriterien für diesen (beruflichen, Anm. F.H.) Erfolg, die fast überall in der Gesellschaft Geltung besitzen“ (Giegel 1995: 215). Giegel sieht in diesen objektiven Kriterien gar den entscheidenden Unterschied zwischen Biographien und Erwerbsbiographien: „Biographien als ganze lassen den Individuen viel Spielraum, um zu definieren, was Erfolg ist. Dagegen ist dieser Spielraum im Fall der Berufsbiographie vergleichsweise stark eingeschränkt.“ Er geht von „Minimalbedingungen“ (1995: 214) für eine erfolgreiche Berufsbiographie aus, die durch ein ökonomistisch geprägtes Wertesystem vermittelt werden. Vor dem Hintergrund dieses Wertekanons sei es äußerst problematisch, eine von Arbeitslosigkeit und Prekarität durchzogene Erwerbsbiographie noch als „gelungen“ auszuweisen. Karrieren sind nach diesem Verständnis also unmittelbar auf das Kriterium des Erfolges bezogen, wobei Erfolg als objektives Kriterium aufgefasst wird. Die Tatsache, dass eine klare Definition für Erfolg im berufsbiographischen Skript der Aufstiegskarriere vorliegt, besitzt den offenkundigen Nachteil, dass abweichende Erwerbsbiographien, die nicht den starren Kriterien des Erfolges genügen, als gescheitert gelten. Andererseits befördert eine rigide Definition des Erfolgs auch die Möglichkeit der Orientierung: Insofern eindeutig ist, was als erfolgreiche Karriere gilt und wie diese zu erreichen ist, liefert das berufsbiographische Skript der Aufstiegskarriere stabile Erwartungssicherheiten und damit berufsbiographische Perspektiven. Als eine Sonderform des berufsbiographischen Skripts der Aufstiegskarriere, innerhalb dessen ein hohes Maß an Erwartungsstabilität realisiert ist, kann das Laufbahnmodell des öffentlichen Dienstes genannt werden, welches in den Laufbahnverordnungen des Bundes und der Länder geregelt ist. Bereits Karl Mannheim hat als Idealtyp der Karriere die bürokratische „Amtskarriere“ herangezogen und die Strukturiertheit der Karriere durch die bürokratische Verwaltung betont (2008 [1930]: 474f.). Das Laufbahnprinzip knüpft an die schulische und akademische 69 Der Aspekt des „Sichdurchsetzens“ liegt auch dem Erfolgsbegriff von Karl Mannheim zugrunde (Mannheim [1930] 2008). Mannheim sieht aber als Indikator des Erfolgs das soziale Prestige; Erfolg sei „eine Verwirklichung im Gebiete des Sozialen“. Wo Mannheim den Ort des „Sichdurchsetzens“ als den sozialen Raum bestimmt, siedelt Giegel das erfolgreiche „Sichdurchsetzen“ unmittelbar in der beruflichen Sphäre an.
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Vorbildung an; der berufliche Aufstieg innerhalb des Laufbahnsystems ist dann aber weniger durch individuelle Ressourcen bestimmt, sondern orientiert sich an organisationalen Strukturen wie auch zahlreichen Regelungen und Prinzipien, die die Karrieren steuern. Die äußere Strukturiertheit von Karrieren durch formalisierte Aufstiegspfade befördert dabei auch die Möglichkeit einer externen Zurechnung von Karrierechancen: Es hängt also nicht (nur) von individuellen Leistungen sondern gleichermaßen von strukturellen Voraussetzungen ab, inwieweit Karrieren möglich sind. Steuernde Prinzipien innerhalb des Laufbahnmodells sind das Leistungsprinzip, das am Alter orientierte Senioritätsprinzip, das am Dienstalter orientierte Anciennitätsprinzip sowie das Lebenszeitprinzip, das Prinzip der Anstellung auf Lebenszeit (vgl. Wagner 2004: 224ff.). Zudem gelten Mindestverweildauern, sodass die vertikale Mobilität durch formale Regelungen begrenzt und damit vorhersehbar ist. Mit dem Senioritätsprinzip wie auch mit dem Anciennitätsprinzip, darauf hat Wagner aufmerksam gemacht, wird das Leistungsprinzip als reines Reziprozitätsverhältnis abgefedert. Durch die an langfristiger Bindung orientierten Prinzipien der Seniorität und Anciennität erwerben die Beschäftigten moralökonomische Ansprüche gegenüber der Organisation (ebd: 224f.), was sich auch auf die Vorhersehbarkeit und Erwartungssicherheit der Karriere auswirkt: Denn es sind gerade diese „langfristigen moralische(n) Verpflichtungen“, die mäßigend auf „kurzfristige Interessenmaximierungskalküle“ zurückwirken, die neben der Formalisierung zu einem hohen Maß an Erwartungsstabilität führen (ebd.: 225). Die Stabilität des Laufbahnmodells ist damit ohne den Rückbezug auf übergreifende und auch stabile Gerechtigkeitsnormen nicht zu denken. Das Laufbahnmodell, so kann resümiert werden, ermöglicht auf der Grundlage streng formalisierter Promotionslogiken und auf Langfristigkeit angelegter Strukturierungsprinzipien der Beschäftigung berufliche Sicherheit und Erwartbarkeit.70 Nun ist das „Super-Normalarbeitsverhältnis“ (Brose et al. 1997: 64; zit. nach Wagner 2004: 222) welches auf dem Laufbahnmodell aufbaut, in Relation zu den berufsbiographischen Skripten, die organisationale Karrieren üblicherweise formen, als idealtypische Ausprägung von langfristigen Anerkennungslogiken und der Herstellung zukünftiger Erwartungssicherheiten einzustufen. Prinzipien wie das Leistungsprinzip, das Senioritätsprinzip und das Anciennitätsprinzip sowie stark formalisierte Karrieremuster bildeten auch die Grundlage „fordistischer“ Karriereskripte innerhalb großer Organisationen, sodass am Laufbahnmodell in zugespitzter Form die Mechanismen der Herstellung langfristiger biographischer Zeitperspektiven wie auch stabiler Anerkennungsverhältnisse nachgezeichnet werden konnten. Die stabi70 Freilich dürfen hier nicht die Änderungen außer Acht gelassen werden, die sich durch das Dienstrechtsneuordnungsgesetz ergeben. Zentrale Änderungen stellen hier u.a. die Aufwertung des Leistungsprinzips bei gleichzeitiger Abkehr vom Senioritätsprinzip und Anciennitätsprinzip dar. Zur „Ökonomisierung des öffentlichen Dienstes“ vgl. Czerwick 2007.
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litätsverbürgenden Momente des berufsbiographischen Skriptes der Aufstiegskarriere können abschließend noch einmal zusammengefasst werden. 1) In der „organisationalen Karriere“ wird die Karriere durch das Unternehmen definiert. Aus der fixierten Laufbahn, die die Unternehmen als Karrieren vorgeben, können die Beschäftigten im Vorhinein absehen, in welche Richtung sie ihre Kompetenzen erweitern müssen, um von den Promotionslogiken zu profitieren. Innerhalb hoch formalisierter Promotionslogiken werden Karrieren nicht allein den Individuen zugerechnet, sondern werden immer in Zusammenhang mit den Karrierechancen innerhalb des Unternehmens betrachtet. Daraus folgt ein nicht individualisierter Zurechnungsmodus: Die Beschäftigten müssen sich die Verantwortung für mangelndes Vorankommen nicht selber anlasten. Dennoch bleibt ihnen die Möglichkeit, berufliches Fortkommen als individuellen Erfolg zu verbuchen (vgl. Wagner 2004: 225). 2) Mit der Definition der Karriere durch das Unternehmen wird auch der Erfolg zu einem „objektiven“ Kriterium. Es gibt damit eine vergleichsweise rigide Erfolgsdefinition innerhalb des berufsbiographischen Skripts, deren kleinster gemeinsamer Nenner in der Arbeitsmarktinklusion liegt. Daraus resultiert eine Orientierungsfunktion insofern, als Erfolg auf im Vorhinein erkennbaren Pfaden zu erreichen ist. 3) Durch die Ergänzung des (reinen) Leistungstausches mit zeitstabilen, generalisierten Reziprozitätsverhältnissen wird den Beschäftigten eine berufsbiographische Perspektive innerhalb der Organisation ermöglicht, die als Grundlage einer biographischen Perspektive gelten kann. 4) Innerhalb der zeitstabilen Reziprozitätslogiken ist auch Anerkennung über den jeweils unmittelbaren Leistungsbeitrag hinaus gewährleistet. Senioritätsprinzip und Anciennitätsprinzip ermöglichen durch die Honorierung von Erfahrungswissen und Betriebszugehörigkeit auch zukünftige Anerkennung. Die Anerkennungserwartungen der Beschäftigten sind damit in die Zukunft hinein stabilisiert. Das berufsbiographische Skript bietet, wie anhand dieser Kriterien deutlich wird, vor allem stabile Erwartungssicherheiten durch das Versprechen stabiler Integration und damit von Planbarkeit. Zugleich kann das Karriereskript der Aufstiegskarriere auf Individualebene als Möglichkeit der Realisierung des Wunsches nach gesellschaftlichem Aufstieg gedeutet werden. „Das Aufstiegsstreben der ‘bürgerlichen Schichten’ (Bahrdt 1958) und das Aufstiegsversprechen, das auf institutionalisierte Karrierewege angewiesen ist, gehen so Hand in Hand“ folgert auch Faust (2002: 70). Aber neben der Erwartungssicherheit und der Aufstiegshoffnung ist dem berufsbiographischen Skript der Normalbiographie noch ein wesentliches Element eingeschrieben, welches es auch in seiner kulturellen Relevanz als Blaupause gelingender Lebensführung bestärkt. Das Skript wird auch im Bereich der Vereinbarkeit von Familie und Beruf als vermittelnde Größe zwischen den Interessen
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der Beschäftigten und der Organisationen angesehen. So hat Levy mit der „weiblichen Normalbiographie“ als Phasenabfolge von Beruf, Familie und Beruf ein Modell der Kombination von Familie und Beruf vorgeschlagen, welches trotz mangelnder Realisierbarkeit, wie Bettina Dausien hervorhebt, nach wie vor normative Gültigkeit besitzt.71 Die Gründe dafür sind für Dausien eindeutig: „Es (das Drei-Phasen-Modell, Anm. F.H.) suggeriert eine Lösung des Vereinbarkeitsproblems von Beruf und Familie durch das harmonische Nacheinander von Lebensphasen, ohne die gesellschaftliche Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern anzutasten. (...) Das Modell ist nicht nur geeignet, je nach Bedarf arbeitsmarkt- und gesellschaftspolitische Steuerungen ideologisch abzusichern, es besitzt auch für die Frauen selbst zweifellos eine hohe Attraktivität zumindest in der Phase der Lebensplanung. Angesichts fehlender Alternativen bietet es scheinbar eine praktikable Möglichkeit, ‘beides’ zu leben, eine doppelte Lebensplanung überhaupt zu wagen.“ (Dausien 1996: 41f.).
Nach dieser Deutung ist die weibliche Normalbiographie in erster Linie ein Modell einer gelingenden Vereinbarkeit von Familie und Beruf; ein Ablaufskript dessen, wie Frauen idealerweise Karriere und Kinder vereinbaren können. Die weibliche Normalbiographie, hier verstanden als Drei-Phasen-Modell, erscheint aus dieser Perspektive auch für Frauen mit Kinderwunsch als ein Gerüst der Lebensplanung, welches die Verwirklichung von familiären Gestaltungsinteressen mit beruflichen Aufstiegschancen zu verbinden vermag. Anhand der genannten Charakteristika der „organisationalen Karriere“ zeigt sich die Schwerpunktsetzung dieses biographischen Skripts auf Sicherung einer kontinuierlichen Erwerbsarbeit und damit auf die Sicherung einer planbaren Zukunft, um über dieses Versprechen eine Anreizstruktur zur Bereitstellung von Arbeitsvermögen zu schaffen. Diese Tauschlogik hat sich unter den Vorzeichen der „Ökonomie der Unsicherheit“ in ihr Gegenteil verkehrt: Wie im vorangegangenen Kapitel bereits angedeutet, laufen die Prinzipien der „Ökonomie der Unsicherheit“ genau auf ein entgegengesetztes berufsbiographisches Skript hinaus, welches auf einer hoch individualisierten Selbstzurechnung, instabilen Zeitperspektiven und instabilen Anerkennungsverhältnissen fußt. Die zunehmende Vermarktlichung bedingt die Ausrichtung an kurzfristigen Erfolgen, was für die Beschäftigten in eine Intransparenz erwerbsbiographischer Erfolgskriterien mündet. Das „fordistische Versprechen“ auf stabile Integration, Aufstieg, Sicherheit und Planbarkeit des Lebens hat sich nunmehr aufgelöst, und an dessen Stelle werden Exklusionsängste, Abstiegsängste und Unsicherheiten spürbar. Diese Veränderung vom Versprechen auf Sicherheit hin zur permanenten Drohung mit Unsicherheit lässt sich als eine Verschiebung von Antriebskräften des Kapitalismus deuten: Rosa sieht, hier Max Weber folgend, Angst und Verheißung als die „kulturellen Triebfedern des ‘kapitalistischen Ethos’“ (Rosa 2005; 2009b: 94). Die Angst vor 71 In ähnlicher Form hatten zuvor Myrdal und Klein (1971) ein solches „Drei-PhasenModell“ vorgestellt.
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Exklusion als Motivationsstruktur ‘von unten’ wird durch eine positive Anreizstruktur, der des Versprechens von Autonomie und Authentizität, ergänzt (ebd.). Hielten sich diese beiden motivationalen Pole in der fordistischen Epoche noch in der Waage, so sei nunmehr ein Ungleichgewicht entstanden: „Der angsterzeugende Aspekt des Systems gewinnt stetig an Gewicht (Wettbewerbszwänge verschärfen sich, die Absturz- und Ausschlussgefahr wächst, die Fallhöhe steigt), während der Verheißungsaspekt immer mehr zu verblassen scheint. Die Hoffnung, eine Position (der Sicherheit und des materiellen Reichtums) zu erreichen, von der aus eine selbstbestimmte, unabhängige Lebensgestaltung möglich wird, schwindet.“ (Rosa 2009b: 111)
Rosa blendet in dieser Kontrastierung mögliche neue Verheißungen, wie die auf wachsende Selbstverwirklichungsräume, aus, die das Gleichgewicht der Motivationsfaktoren wieder korrigieren könnten. Gerade aber an dieser scharfen Kontrastierung zeigen sich die Verluste hinsichtlich vormaliger Sicherheiten besonders deutlich. Die Zunahme an Unsicherheiten soll in einem nächsten Schritt an der DeInstitutionalisierung des Lebenslaufes verdeutlicht werden. Die De-Institutionalisierung als Auflösung der Normalbiographie wird im Folgenden insbesondere am Verlust stabiler Anerkennungslogiken und Zeitperspektiven skizziert. Zugleich wird die Entstehung eines neuen Karrieremusters nachgezeichnet, entlang dessen sich der Wandel von Inklusionslogiken nachzeichnen lässt. 2.3 Die De-Institutionalisierung des Lebenslaufes Unter dem Stichwort der De-Institutionalisierung fasst Kohli die Wandlungstendenzen der Erwerbsarbeit, welche die Kontinuität des Lebenslaufes infrage stellen (vgl. Kohli 1994: 219f.). Mit diesem Wandel, den Kohli entlang der Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit, dem Wandel der Qualität der Arbeit hin zu einer „ganzheitlichen Nutzung“ der Individuen sowie der Zunahme prekärer Beschäftigungsformen skizziert, kommt es zu einer „partielle[n] Auflösung der bisher institutionalisierten Verlaufsmuster des Lebens“ (Kohli 1994: 232). Mit dieser Einschätzung stimmt Kohli mit verschiedensten TheoretikerInnen der reflexiven Moderne überein, die die Auflösung stabiler Lebenslaufmuster als einen zentralen Beleg für den Epochenwandel anführen (Beck 1986; Giddens 1995). Ging der erste Modernisierungsschub noch mit einer Institutionalisierung im Sinne vorhersehbarer und strukturierter Verlaufsmuster einher, so erodiert der zweite Modernisierungsschub diese Verlaufsmuster und raubt damit die Möglichkeit der Planbarkeit der Zukunft. Dieser Prozess der De-Institutionalisierung, der der reflexiven Moderne so grundlegend eingeschrieben ist, bezieht sich auf die Erosion verschiedener ehemaliger Stabilitätsgaranten. Und ebenso wie der Prozess der Institutionalisierung ist auch derjenige der De-
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Institutionalisierung grundlegend mit dem Prozess der Individualisierung verquickt, eben mit einem zweiten Individualisierungsschub, der nach Kohli die logische Konsequenz der Ermöglichungen der Institutionalisierung des Lebenslaufes ist. Der Individualisierungsprozess seit den 1960er Jahren, auf den hier rekurriert wird und der elementar mit dem Wandel der Arbeitsgesellschaft verknüpft ist, wird im Anschluss an Beck (1986) üblicherweise als Prozess der „dreifachen Individualisierung“ charakterisiert: Einerseits handelt es sich bei der Individualisierung um einen Freisetzungsprozess im Sinne einer Auflösung von bestimmten historisch gefestigten Lebensund Sozialformen. Beck hat diese „Freisetzungsdimension“ an veränderten familiären Bindungen exemplifiziert (Beck 1896: 208). Einher geht damit das Aufbrechen traditionaler Verweiszusammenhänge. Übergreifende Orientierungsrahmen und Normalitätsvorlagen verlieren an Geltung und sozial geteilte Gewissheiten als Basis für Handlungsentscheidungen schwinden („Entzauberungsdimension“) (ebd.: 206f.). Andererseits provoziert die Individualisierung auch neue Einbindungen im Sinne von Individualisierungszwängen („Kontrolldimension“) (Beck/Beck-Gernsheim 1994: 14). Die Inszenierung und Gestaltung des Selbst treten damit als Anforderungen an das individualisierte Individuum heran. Beck hat dies mit dem Begriff des „Planungsbüros“ (Beck 1986: 217) umschrieben: Den Individuen würden nunmehr aktive Koordinierungsleistungen abverlangt, da der Rekurs auf ehemalige Selbstverständlichkeiten nicht gegeben ist. Der schillernde Begriff der Individualisierung72 steht damit für die rapide Zunahme biographischer Wahlmöglichkeiten wie auch für die Zunahme der Möglichkeit, biographische Entscheidungen zu revidieren: Wo keine eindeutigen Karrierelogiken vorliegen, können Karrierepläne auch immer umgestellt oder revidiert werden. Damit nimmt auch unweigerlich auch das Kontingenzbewusstsein zu. Die Folgen dieses Rückgangs von Lebenslaufmustern fasst Kohli als „Biographisierung der Lebensführung“ (Kohli 1994: 232); Brose und Hildenbrand sprechen hier von der „Biographisierung von Erleben und Handeln“ (1988: 11f.). Damit wird auf die Ablösung des Konzeptes der lebensweltlich geprägten Identität durch die „Dauerreflexion von Individualität“ (Brose/Hildenbrand 1988: 18) abgehoben, und somit auf einen zentralen Aspekt dessen, was üblicherweise als Individualisierungsprozess beschrieben wird. „Biographisierung“ meint also den „Zwang zu einer subjektiven Lebensführung“ (Kohli 1994: 233), da seitens der Institutionen keine eindeutigen Anhaltspunkte hinsichtlich des Lebenslaufes mehr geboten werden. Dabei darf Biographisierung nicht pauschal mit gesteigerten Gestaltungsfreiheiten 72 Zu Recht hat Honneth (2002) die Etikettierung der Individualisierung als klar konturierbaren Entwicklungsprozess kritisiert. Bereits die dem Begriff innewohnende Ambivalenz, ob es sich bei der Individualisierung als eines objektiven Prozesses der Zunahme von Gestaltungsmöglichkeiten gleichzeitig um eine individuelle Freiheitssteigerung handelt, verweise nur auf ein grundsätzliches Spannungsverhältnis, welches innerhalb der Individualisierungsthese als einheitlicher Diagnose erörtert werden müsse.
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der eigenen Lebensgeschichte gleichgesetzt werden; sie ist zunächst eine Gestaltungsanforderung, deren Spielräume durchaus begrenzt sind. Beck hat die Herausforderung an die biographischen Gestaltungsleistungen im Kontext der Individualisierung prägnant formuliert: „Die Menschen sind zur Individualisierung verdammt. Individualisierung ist ein Zwang, ein paradoxer Zwang allerdings, zur Herstellung, Selbstgestaltung, Selbstinszenierung nicht nur der eigenen Biographie, sondern auch ihrer Einbindungen und Netzwerke (…).“ (Beck 1986: 14).
Fragt man nun nach den Konsequenzen der Biographisierung für das Verhältnis von Lebenslaufmustern und Biographiemustern bei Kohli, so stößt man auf einen eigenwilligen Effekt: Denn das Verschwinden von Mustern des Lebenslaufes erzeugt nach Kohli keineswegs eine Leerstelle. Vielmehr rückt die Biographisierung, also die Suche nach Individualität, an die Stelle der erodierten Lebenslaufmuster, und damit gleichsam an die Stelle der Institution. Brose und Hildenbrand (1988: 18) sprechen gar von der „Institutionalisierung dieses Thematisierungsschemas“. Mit „Biographisierung“ ist also in erster Linie ein Zurechnungsschema gemeint, nämlich die neuerliche Verantwortungszuschreibung auf das Individuum und damit der Zwang zur Selbstthematisierung. Offen bleibt dann freilich, entlang welcher Kriterien das Biographiemuster gestaltet ist. Kohli unterscheidet hier zwischen der Handlungsstruktur, also der Suche nach Individualität, und dem Handlungsresultat, welches unbestimmt und offen ist (Kohli 1994: 234). Zusammengenommen gehen also Kohli wie auch Brose und Hildenbrand und auch Beck davon aus, dass die Gestaltung der eigenen Biographie als je individuell einzulösendes „biographisches Projekt“ institutionalisiert ist. Wie das Ergebnis dieses biographischen Projektes ausfallen soll, ist nicht vorgegeben. Sicher ist nur, dass Fehlentscheidungen ebenso wie Erfolge bei der biographischen Planung abschließend dem Individuum zugerechnet werden. Greift man die oben getroffene Unterscheidung zwischen Lebenslaufmuster und Biographiemuster auf, um entlang dieser Kriterien den Prozess der DeInstitutionalisierung zu beschreiben, fällt auf, dass die im Falle der Normalbiographie vorhandene Bindung von Lebenslaufmuster und Biographiemuster, die über die Kontinuität gegeben war, nunmehr wegbricht: Die stabilen Lebenslaufmuster führten als Begleittext immer „die Auffassung des Lebens als gerichteter Bewegung“ mit (Rosa 2005: 365), und deren Erosion bedingt auch, so ist zu vermuten, das Verschwinden eines solchen teleologischen Modells. Wo nun die „Biographisierung der Lebensführung“ zur Verhaltensanforderung wird, scheint für ein eindeutiges Biographiemuster kein Raum mehr zu sein. Das Fehlen eines Biographiemusters ist von verschiedenen AutorInnen als biographische Unsicherheit beschrieben worden (Beck/Bonß 2001; Wohlrab-Sahr 1991; 1993). Wohlrab-Sahr fasst biographische Unsicherheiten im Anschluss an Kohli als „Aufbrechen institutionalisierter Sinn- und Verweisungszusammenhänge,
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das Problematischwerden diachroner und synchroner Verknüpfungen und Passungen.“ (Wohlrab-Sahr 1991: 220). Die Konsequenzen dieser Wandlungen für die Biographie, die „biographischen Prozesse“, die mit der De-Institutionalisierung einhergehen seien dabei die eigentlichen biographischen Unsicherheiten (ebd.: 220). Biographische Unsicherheiten, verstanden als „biographische Prozesse“ zielen damit auf die Wahrnehmung des Verlustes von Orientierungen. Folgt man dieser Überlegung, so wäre zu fragen, anhand welcher Veränderungen der Orientierungsverlust für die Individuen in besonderem Maße wahrnehmbar ist, wo also das Brüchigwerden der Erwartungssicherheiten spürbar wird. Wie sich an den Überlegungen zur Normalbiographie zeigen ließ, können der Verlust von Zeitstabilität wie auch der einer stabilen Anerkennungslogik als diejenigen Momente herausgestrichen werden, an denen die Unsicherheiten in besonderer Weise spürbar werden. 2.3.1 Der Wandel der Zeitordnung: Von der Langfrist-Logik zur Kurzfrist-Logik Die De-Institutionalisierung des Lebenslaufes kann ebenso wie die Institutionalisierung des Lebenslaufes als Veränderung gesellschaftlicher Temporalstrukturen gelesen werden. Mit einem solchen Wandel der Zeitstrukturen, darauf haben verschiedene Zeitdiagnosen hingewiesen, geht immer die Gefahr einer Desynchronisation einher: Wo sich die Zeitstrukturen der Ökonomie der Unsicherheit auf eine Logik der Kurzfristigkeit umgestellt haben ist unklar, inwieweit sich diese Temporalstrukturen übertragen lassen auf die Zeitstrukturen der Lebenswelt. Diese Gefahr der Desynchronisation, der nicht gelingenden Übersetzung zwischen den Zeitstrukturen verschiedener gesellschaftlicher Bereiche, sieht auch Rosa für den Prozess der sozialen Beschleunigung (2005: 44f.). Als Kontrastfolie wird die gelingende Synchronisierungsleistung in der „ersten Moderne“ oder „klassischen Moderne“ genutzt. Wie diese Synchronisation geleistet wurde, haben Brose et al. (1993) in ihrer Untersuchung über „Soziale Zeit“ herausgearbeitet. Sie begreifen die soziale Zeitstruktur in industrialisierten Gesellschaften in Abgrenzung zu der „zyklischen Zeitstruktur“ der Vormoderne als „lineare Zeit“ (Brose et al. 1993: 28), und knüpfen damit an die in der Literatur häufig genannte und mit einem kritischen Unterton versehene Unterscheidung von „zyklischer“ und „linearer“ Zeit an; innerhalb derer die zyklische Zeit als ‘natürliche’ Zeit beschrieben wird. Die „lineare Zeit“ nutzt das Bild eines von der Vergangenheit über die Gegenwart in die Zukunft laufenden Zeitstrahls. Die „lineare Zeit“ ist orientiert an Ausgangszeitpunkten, die als Richtwerte fungieren; von dort fließt die lineare Zeit ohne Repetition fort. Kennzeichen der „linearen Zeit“ sind nach Brose et al. Zukunftsorientierungen, die Vorstellung von Entwicklung, Beschleunigung und das Vorhandensein von Normalbiographien, innerhalb derer die Gestaltung der Lebenszeit und der biographischen Zeit idealtypisch vorgezeichnet sind. Die „lineare Zeit“ ist auch messbare Zeit und damit diejenige Zeitlogik, die dem Industriali-
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sierungsprozess zugrunde liegt. Die Internalisierung der „linearen Zeit“ wird bei Weber oder auch bei Thompson (1967) als Anpassung an den Rhythmus der Maschinen beschrieben.73 So schreibt Weber in Wirtschaft und Gesellschaft: „Die höchsten Triumphe feiert die darauf (auf die Betriebsdisziplin, Anm. F.H.) aufgebaute rationale Abrichtung und Einübung von Arbeitsleistungen bekanntlich in dem amerikanischen System des „scientific management“, welches darin die letzten Konsequenzen der Mechanisierung und Disziplinierung des Betriebs zieht. Hier wird der psychophysische Apparat des Menschen völlig den Anforderungen, welche die Außenwelt, das Werkzeug, die Maschine, kurz die Funktion an ihn stellt, angepaßt, seines, durch den eigenen organischen Zusammenhang gegebenen Rhythmus entkleidet und unter planvoller Zerlegung in Funktionen einzelner Muskeln und Schaffung einer optimalen Kräfteökonomie den Bedingungen der Arbeit entsprechend neu rhythmisiert.“ (Weber 1980: 686).
Dass die neue Rhythmisierung dabei als Anpassungsprozess zu deuten ist, die dem organischen Rhythmus zuwider läuft, darauf hat auch Thompson (1967) in seiner Untersuchung über Zeit, Arbeitsdisziplin und Industriekapitalismus verwiesen. Für die Frühphase der Industrialisierung wird in der Untersuchung die Durchsetzung des Zeitrhythmus der Maschinen gegen die noch vom zyklischen Zeitmodell strukturierten Zeitvorstellungen der Alltagszeit, und damit die Anpassungsschwierigkeiten der Alltagszeit an die Wachstumslogik des Kapitalismus nachgezeichnet. Die industrielle Zeit bedingte aber nicht nur die Abkehr von der zyklischen Zeit und den damit einhergehenden Differenzierungen von Zeitqualitäten, sondern führte auch die Trennung von Arbeitszeit und Freizeit erst ein und entkoppelte darüber hinaus die Arbeitszeit von der zu bewältigenden Arbeitsaufgabe. Die Durchsetzung der „linearen Zeit“ am Übergang von zyklischen Zeitvorstellungen kann also als konflikthaft beschrieben werden; auch hier offenbarten sich Synchronisationsprobleme, wie sie für jeden Wandel von Zeitvorstellungen anzunehmen sind.74 Erst nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Ausbildung eines „industriellen Zeitmanagements“ der fordistischen Ära zeigte sich die Stabilisierung der „Zeit73 Eine alternative Interpretation des Übergangs von der zyklischen zur linearen Zeit liefert Bachtin (2000). 74 Die Überlegungen zur Durchsetzung der „linearen Zeit“ können auch aus einer anderen Perspektive, nämlich einer an der Notwendigkeit einer ‘verbindlichen’ Zeitordnung orientierten, beschrieben werden. So geht Garhammer davon aus, dass auf der Ebene der Gesellschaft eine Zeitordnung etabliert werden müsse, die die je abweichenden Zeitlogiken der Subsysteme integriert (vgl. Garhammer 1999). Garhammer spielt hier auf Luhmann (1990: 125) an: „Als Ausgangspunkt muß genommen werden die absolute Gleichzeitigkeit der Welt, eingeteilt durch die gemessene Zeit, garantiert durch die Uhr. Sie ist nur Schema der Synchronisation. (...) Gerade diese monochrone Zeit, die jedem Zeitpunkt garantiert, daß gleichzeitig mit ihm die Welt existiert, und die alle anderen Zeitpunkte im Verhältnis zu diesem Jetzt ungleichzeitig werden läßt, läßt völlig verschiedene Dringlichkeiten und Tempi zu“.
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rhythmen von Produktion und Reproduktion“, die über die Bindung an den Fortschrittsmythos: „immer so weiter, immer mehr und immer schneller“ gelang (Brose et al 1993: 30). Neben diesem Aufstiegsmythos bedingte, darauf hat Deutschmann (2002: 204) verwiesen, das Lebensformideal der Kleinfamilie die Akzeptanz des fordistischen Zeitregimes. „Die vorherige Kluft zwischen der kapitalistischen Betriebszeit und den traditionalen Zeitorientierungen der Arbeiter wurde (damit) in die subjektive Trennung von ‘Arbeitszeit’ und ‘Freizeit’ transformiert. Es war eben diese Verlagerung der Zeitdifferenz in die Subjektivität, die es dem Arbeiter ermöglichte, sich mit dem Rhythmus der Industriearbeit zu identifizieren und ihn als subjektiv sinnvoll zu erleben. So erklärte sich das auf den ersten Blick paradox anmutende Phänomen, dass die von den Arbeitern erkämpften kürzeren Arbeitszeiten nicht etwa zu geringeren, sondern zu höheren Leistungen führten“ (ebd.: 204).
Die Zeitzwänge der Arbeit, so kann es für die Phase des Fordismus zugespitzt werden, zeigten vor dem Hintergrund von Veränderungen im Lebensstil auch ihre positive Kehrseite, die Zeitgewinne der Freizeit, die sie ermöglichten. Stabilität konnte aber das fordistische Zeitregime nur dadurch erlangen, dass es sich von den Zeitlogiken der Ökonomie und damit von den Kontingenzen und nachfragebedingten Schwankungen isolierte. Brose et al. charakterisieren diese für die Massenproduktion gängige eigenständige Etablierung von Zeitlogiken treffend als „Stabilisierung der Zeitökonomie gegenüber der Marktökonomie“ (Brose et al. 1993: 37). Die Folgen dieser Abschottung von der Marktzeit waren „Handlungsspielräume und Sicherheitsüberhänge, die sich auch in der Minderung von Beschäftigungsrisiken und der Verstetigung von Berufsverläufen ausdrückten“ (ebd.: 37). Erst das Primat der Zeitökonomie sowie das gelungene Zusammenspiel der Betriebszeiten und der Zeitbedürfnisse und Zeitverwendungsinteressen der Beschäftigten dürften maßgeblich zu der Wahrnehmung einer hohen Stabilität des „fordistischen Zeitregimes“ (Sauer) beigetragen haben (vgl. auch Dörre 2009a). Der Verweis auf die Stabilität des fordistischen Zeitregimes soll allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass dieses Zeitregime äußerst umstritten und auch umkämpft war. Dies zeigte sich sowohl in der industriesoziologischen Auseinandersetzung mit eben diesem Zeitregime als auch in konkreten Arbeitskämpfen um die Verkürzung der Arbeitszeit. Zudem ist der Geschlechtertext des fordistischen Zeitregimes zu berücksichtigen; denn, wie Garhammer (1999) anmerkt, war insbesondere die Lebensweise von Männern durch das industrielle Zeitregime geprägt. Die Stabilität dieses Zeitregimes ist spätestens seit den 1970er Jahren in Bedrängnis geraten. Just-in-Time Produktion, Flexibilität und Projektarbeit stehen für ein Zeitverständnis, innerhalb dessen die sequenzielle Logik aufgebrochen wird. An deren Stelle tritt nun eine Logik der „Simultanität“, der Gleichzeitigkeit, die unter den veränderten Marktbedingungen Wachstum verspricht (vgl. Brose et al 1993: 38).
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Mit dem oben umrissenen Strukturwandel der Arbeitswelt dringt, so deutet es zumindest die Vermarktlichungsthese an, die Zeit der Ökonomie mit ihren Kontingenzen und Unwägbarkeiten zurück in die betriebliche Realität. Die Flexibilisierung und Prekarisierung der Beschäftigung wie auch die tendenzielle Aufweichung von Arbeitszeit und Freizeit durch Prozesse der Subjektivierung der Arbeit und der Entgrenzung greifen bereits auf ein nicht-lineares Zeitverständnis zurück: Wo alle betrieblichen Entscheidungen der Zeitlogik der kurzen Dauer folgen, scheint ein lineares Zeitverständnis, welches immer auch den Blick auf Zukünftiges öffnet, durchbrochen. Damit wird die Frage virulent, inwieweit das Ende des fordistischen Zeitregimes auch als ein Ende des linearen Zeitverständnisses gelesen werden kann. Von Manuel Castells (1996) stammt die Deutung, dass die Zeitform des Informationszeitalters als zeitlose Zeit beschrieben werden kann, die über keine einheitlichen sozialen Rhythmen mehr verfügt, sondern immer durch die Dauer der in der Zeit stattfindenden Handlungen bestimmt ist. Mit dem Begriff der zeitlosen Zeit beschreibt Castells eine Zeitvorstellung, die anderenorts als Verzeitlichung der Zeit beschrieben wurde. Unter der Verzeitlichung der Zeit75 wird eine Zeitvorstellung gefasst, innerhalb derer über „Dauer, Sequenz, Rhythmus und Tempo von Handlungen, Ereignissen und Bindungen erst im Vollzug, und das heißt: in der Zeit selbst entschieden wird“ (ebd.: 365). Die Zeitvorstellung der Verzeitlichung der Zeit entspricht damit einer Zeitwahrnehmung, innerhalb derer alle Veränderungen schneller, unvorhersehbarer und unabhängig gängiger Zeitraster erfolgen. Die Verzeitlichung der Zeit verhindert damit eben jene Planungsmöglichkeiten, die mit der Genese von Normalbiographien und Lebensläufen assoziiert waren (Kohli 1986) und als Verzeitlichung des Lebens beschrieben werden. Mit der Verzeitlichung des Lebens wird durch einen chronologischen Ablaufplan das Leben in einer zeitlichen Dimension planbar. Pläne für die Zukunft können also dadurch prospektiv entworfen werden, dass durch die Chronologie ein fiktionaler Zeitrahmen entworfen wird, der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft einschließt. Die Verzeitlichung der Zeit verhindert damit eben jene Planungsmöglichkeiten, die die Verzeitlichung des Lebens noch ermöglichte. Rosa spitzt dieses konfligierende Verhältnis beider Verzeitlichungslogiken folgendermaßen zu: „Verzeitlichung der Zeit bedeutet daher also Rücknahme der Verzeitlichung des Lebens im Sinne eines zeitlich erstreckten Projekts“ (ebd.: 365). Die Verzeitlichung der Zeit steht damit quer zu Zeitvorstellungen, innerhalb derer vom Standpunkt der Gegenwart aus auf der Grundlage von Erwartungssicherheiten Entscheidungen für die Zukunft getroffen werden können. Damit geht die biograRosa benutzt den Begriff der Verzeitlichung der Zeit in Anlehnung Sandbothe (1997) und an Hörning, Ahrens und Gerhard (1997). Die AutorInnen haben in ihrer Untersuchung über „Zeitpioniere“ herausgearbeitet, dass durch die zunehmenden Differenzen zwischen den verschiedenen Zeitabschnitten der Vergangenheit und der Zukunft „nur in der Zeit über Zeit verfügt werden kann“ (ebd.: 168).
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phische Langsicht als Möglichkeit der Planung der Zukunft verloren. Was bedeutet das Zeitverständnis der Verzeitlichung der Zeit nun für die Frage nach der (gelingenden) Synchronisation? Von einer gelingenden Synchronisation kann mit Rosa nur dann gesprochen werden, wenn die Veränderung von Temporalstrukturen nicht nur in einem Bereich erfolgt, sondern auch „ohne Reibungsverluste“ sich auf andere Bereiche ausdehnt (Rosa 2005: 44). Dass dies bei der Verzeitlichung der Zeit nicht der Fall ist, zeigt das bereits angedeutete slipping-slope Syndrom, das „Daseinsgefühl“, auf rutschigen Abhängen zu stehen (ebd.). Die einseitige Beschleunigung oder auch Aufhebung der linearen Zeitlogik scheint bisher nur vereinzelt Entsprechungen auf Seiten der Individuen provoziert zu haben. Einen Grund für die nicht gelingende Synchronisation kann aus dem Vergleich mit dem Übergang vom zyklischen zum linearen Zeitmodell herangezogen werden. Sich dem Diktat der neuen Zeitlogik zu unterwerfen war am Übergang zur „industriellen Zeit“ mit dem Versprechen auf materielle Gratifikationen verbunden. In der Folgezeit traten neben diese materiellen Gratifikationen auch zeitliche Gratifikationen in Form von Freizeit, aber auch von Erwartbarkeit, sodass der Anpassungszwang abgefedert wurde und das neue Zeitmodell sich auch als vorteilhaft für die Individuen erwies. Wo Integration in das Regime der organisierten und berechenbaren Zeit (Sennett 1998) noch einen unmittelbaren Nutzen für die Lebensführung in Form von Autonomiegewinnen versprach, rechtfertigt sich dagegen das nachfordistische Zeitregime nicht länger über Versprechungen, sondern über die Drohung mit Exklusion. Insofern ist es kaum verwunderlich, dass das „Lebenslaufregime der diskontinuierlichen Zeit“ (Dörre 2009b: 22) als Belastung gedeutet wird. Bevor in Kapitel 2.4. auf die Wahrnehmungen und Interpretationen des veränderten Zeitregimes eingegangen wird, soll noch ein weiterer und nicht weniger fundamentaler Wandel, den die Abkehr von der Normalarbeit und der Normalbiographie impliziert, beleuchtet werden. Denn die veränderten Zeitlogiken der Kurzfrist-Ökonomie bedingen nicht nur einen Wandel der Zeitwahrnehmung des Lebenslaufes, sondern äußern sich auch in veränderten Mitgliedschaftsverhältnissen in Organisationen und damit und auch darüber hinaus in veränderten Anerkennungslogiken. Im Schlusskapitel seines Beschleunigungsbuches macht Rosa auf diesen Link zwischen der Theorie sozialer Beschleunigung und der Anerkennungstheorie aufmerksam: „Nahezu jede Form der sozialen Anerkennung (mit Ausnahme vielleicht der rechtlichen Dimension) steht unter wachsendem zeitlichen Vorbehalt: Liebes- und Freundschaftsbeziehungen geraten unter Kontingenzverdacht, und Leistungen müssen unaufhörlich erneuert und verbessert werden, wenn sie ihre Funktion der Sicherung sozialer Wertschätzung nicht verlieren sollen.“ (Rosa 2005: 482)
Die Erneuerung und Verbesserung der Leistung bezieht sich auf die soziale Wertschätzung, eine der drei Sphären sozialer Anerkennung, die Honneth in seiner Theo-
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rie voneinander geschieden hat.76 Gerade in der Arbeitswelt zeige sich eine Umstellung vom „Positionskampf“ um einmal erlangte Statuspositionen auf den „performativen Kampf“, innerhalb dessen Leistungen im halb- oder ganzjährigen Abstand evaluiert werden (Rosa 2009: 111f.). Anerkennungsbeziehungen besitzen damit einen deutlicheren Zeitindex als noch im fordistischen Zeitregime: Einmal begründete Anerkennungsverhältnisse haben damit nicht länger die Gewähr, dauerhaft zu existieren. Immer wieder muss zur Stabilisierung der Anerkennungsbeziehungen ein Beleg der Rechtfertigung abgegeben werden, sodass sich über diese „Einzelnachweise“ ein kontinuierliches Anerkennungsverhältnis entwickeln kann. Fehlen die „Einzelnachweise“, wird das Anerkennungsverhältnis porös. Wie am Beispiel der Normalbiographie gezeigt wurde, zeichneten sich Beschäftigungsverhältnisse der fordistischen Ära dadurch aus, institutionalisierte Anerkennungslogiken bereitzustellen, die über diese Logik des Leistungsnachweises hinausgehen, und eher ein Vertrauensverhältnis als ein reines Leistungstauschverhältnis darstellen. Ebenfalls an der Langfristigkeit der Bindung interessiert, wurden seitens der Organisation Prinzipien beherzigt, die das langfristige Anerkennungsverhältnis stabilisieren, wie das Senioritätsprinzip und das Anciennitätsprinzip. Die Stabilität der Anerkennung war Teil des psychologischen Vertrages, der in der fordistischen Epoche den formalen Vertrag ergänzte. Das Unternehmen gewährte den Beschäftigten prospektive Anerkennung, also das Wissen um zukünftige materielle und soziale Gratifikationen. Nunmehr zeichnen sich aber auch auf der Ebene der Anerkennung Wandlungstendenzen ab, die die Erosion prospektiver Anerkennung, und damit Unsicherheit bezüglich künftiger Anerkennung bedingen. 2.3.2 Der Wandel der Anerkennungsordnung Anerkennungsbeziehungen können ebenso wie Zeitstrukturen als Ort der Synchronisation von Subjekt und Struktur begriffen werden. Beide Bereiche wirken ihrer je eigenen Logik folgend auf die soziale Inklusion zurück: Zeitordnungen verfügen über eine starke normative Bindekraft (vgl. Brose et al. 1993: 26). Sich gesellschaftlichen Zeitordnungen, Geschwindigkeiten und Rhythmen zu entziehen, birgt immer die Gefahr der sozialen Exklusion (vgl. Rosa 2005: 481). Anerkennung als „Medium sozialer Integration“ (Voswinkel 2002) kann dagegen als Basisprinzip der Integrati76 Auch in Familienverhältnissen, und damit in der Anerkennungsdimension der Liebe, vermutet Rosa (2009: 112) einen zeitlichen Index der Anerkennung: Wo früher Paare ihre Legitimität aus Eheverträgen bezogen haben, müsse heutzutage in Partnerschaften das tagtägliche gelingende Zusammenleben den Erhalt der Beziehung rechtfertigen. Allerdings ist fraglich, inwieweit sich der Wandel in der Sphäre der Liebe ähnlich drastisch vollzieht wie in der Arbeitswelt.
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on begriffen werden.77 Das Streben nach gesellschaftlicher Anerkennung und damit nach sozialer Integration schließt die Anpassung an Zeitlogiken78 ein, es erstreckt sich aber darüber hinaus auch auf andere Bereiche, deren jeweilige Normen dann handlungsleitend werden. Die Suche nach Anerkennung in Gestalt sozialer Wertschätzung im Bereich der Erwerbsarbeit bedingt beispielsweise über die Achtung der Zeitlogiken hinaus auch das Einlassen auf die jeweils vorherrschenden Leistungsvorstellungen. Die Annahme, dass gesellschaftliche Anerkennungsbeziehungen maßgeblich die Subjekt-Struktur-Synchronisation prägen, kann für verschiedene Gesellschaften mit je unterschiedlichen Graden der kapitalistischen Vergesellschaftung geltend gemacht werden. Dass aber solche gesellschaftlichen Anerkennungsbeziehungen, innerhalb derer die soziale Wertschätzung an Leistung rückgebunden ist, die soziale Inklusion maßgeblich mitprägen, ist ein spezifisches Charakteristikum von Erwerbsarbeitsgesellschaften, innerhalb derer die Teilhabe an der Arbeitswelt ein entscheidender Faktor der Inklusion ist.79 Folgt man dieser engen Verknüpfung von Logiken der Arbeitsmarktinklusion und der gesellschaftlichen Inklusion, erstrecken sich Wandlungen der Anerkennungsverhältnisse immer auf beide Bereiche, auf die Systemintegration wie auch auf die Sozialintegration. Transformationen auf der Ebene der Anerkennungsverhältnisse sind dann nicht nur als systemisch vorgegebene Wandlungen zu interpretieren, die dann selbstverständlich Effekte auf der Ebene der Sozialintegration erzeugen. Vielmehr geht ein Wandel der Anerkennungslogiken immer auch mit einem Wandel der Anerkennungslogiken auf der Ebene der Sozialintegration einher, es handelt sich dann also um einen substantiel-
Insbesondere im Rahmen der Theorie der sozialen Desintegration wird Anerkennung als Element von Integrationszuständen betrachtet (Anhut/Heitmeyer 2000: 48). Anhut und Heitmeyer verstehen unter der positionalen Anerkennung, die im Bereich der individuellfunktionalen Systemintegration relevant wird, die Anerkennung der beruflichen Position, die wiederum die Lösung des Problems der Teilhabe an den materiellen und kulturellen Gütern der Gesellschaft ist. 78 Brose et al. (1993: 25) sprechen von einem Aufschichtungs- und/oder einem Durchdringungsmodell von sozialer Zeit und Lebenszeit und verweisen auf Schütz und Luckmann, die von sozialen Zeitstrukturen sprechen, die dem einzelnen „auferlegt“ sind. Die AutorInnen vermeiden, die Synchronisationslogiken auf einen Mechanismus zu reduzieren, und gehen lediglich auf die „Chancen“ der Durchsetzung bestimmter sozialer Zeitstrukturen ein. 79 Inwiefern aber die Erwerbsarbeit die zentrale Dimension für Logiken der Inklusion und Exklusion ist, wird in der Debatte über soziale Exklusion äußerst kontrovers diskutiert (vgl. Bude/Willisch 2008; und hier insbesondere das Gespräch zwischen Baecker, Bude, Honneth und Wiesenthal). Während Bude hier von einem „zusammenhängenden Cluster von Problemen“ spricht, das „Arbeit, Familie, Institutionen und Körper zusammenbindet“ (31) und damit von einem Ensemble von Exklusionsfaktoren ausgeht, vermutet Honneth, dass weitere Exklusionseffekte nur Folgeerscheinungen unverschuldeter Arbeitslosigkeit sind. 77
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len Wandel der Anerkennungskultur.80 Um also den Wandel der Anerkennungsordnung auch in seinen Konsequenzen für Selbstverhältnisse angemessen zu deuten, ist dieser Wandel immer auch als (natürlich nicht immer bruchloser) Wandel der Anerkennungskultur zu interpretieren. Überlegungen zum Wandel der Anerkennungsordnung haben im Anschluss an die Anerkennungstheorie von Axel Honneth (1992; 2003; 2005) insbesondere Stephan Voswinkel (2001; 2002) und Sighard Neckel (2002; 2008) vorangetrieben. Während Voswinkel in seiner Analyse Anerkennung als Reaktion auf bestimmte (Leistungs-) beiträge untersucht, und hier die Anerkennungsformen der Bewunderung und Würdigung identifiziert, befasst sich Neckel vielmehr mit dem sich wechselnden Bezugspunkt der Anerkennung: der Leistung bzw. dem Erfolg. Beide Autoren identifizieren in der Hinwendung zur modernen „Erfolgskultur“ (Neckel 2008) einen fundamentalen Wandel der Anerkennungsordnung. Bevor dieser Wandel der Anerkennungsordnung nachgezeichnet wird, ist zunächst im Rahmen eines Exkurses auf den Anerkennungsbegriff bei Axel Honneth und auf den Leistungsbegriff einzugehen. Dabei geht es weniger um die Relevanz der Anerkennung für die Ausbildung einer gelingenden Identität als um die Frage nach den gesellschaftlichen Aushandlungslogiken, mittels derer definiert wird, was als Leistung in einer Gesellschaft anerkannt ist. Exkurs: „Soziale Wertschätzung“ und Leistung Der Wunsch nach Anerkennung in der Erwerbsarbeit kann sich auf verschiedene Bereiche erstrecken. Rössler (2005: 408) hat hier vier Ebenen differenziert: 1) Die allgemeine Eingebundenheit in Erwerbsarbeit und damit das Anerkanntsein als Arbeitssubjekt, 2) die Anerkennung im direkten Arbeitsumfeld, beispielsweise im Kontakt mit Kollegen, 3) die Höhe der Bezahlung und 4) das mit einem Beruf verknüpfte Sozialprestige81. Das Bedürfnis nach Anerkennung bezieht sich damit auf soziale wie monetäre Gratifikationsformen; es zeichnet sich zudem durch von unterschiedlichen Bezugspersonen je anders eingeforderte Grade der Anerkennung
80 In ähnlicher Form findet sich dieser Gedanke bei Wagner (2008: 22), die im Anschluss an Kocyba (2000) die mangelnde Berücksichtigung der Wandlungen auf der Sozialebene bei der Analyse von Änderungen Anerkennungsordnung als Wiederauflage der „Kolonialisierungsthese“ liest. 81 Das Allensbacher Institut ermittelt regelmäßig das Prestige von Berufen in einer Berufsprestigeskala. Zu den prestigereichsten Berufen im Jahr 2008 zählen nach dieser Skala: Ärzte, Geistliche, Hochschulprofessoren, Grundschullehrer, Unternehmer, Rechtsanwälte, Ingenieure, Botschafter, Atomphysiker, Apotheker. Vgl. http://www.ifd-allensbach.de/news/prd_0802.html.
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aus. Aber die Anerkennung im Feld der Erwerbsarbeit ist nur ein Teilbereich des allgemeinen Anerkennungsstrebens. In Kampf um Anerkennung hat Axel Honneth eine Systematisierung von Anerkennungsverhältnissen vorgenommen, die nicht nur die deutschsprachige Diskussion über Anerkennung nachhaltig geprägt hat (vgl. Fraser/Honneth 2003; Zurn 2005). Honneth führt hier die Überlegung aus, dass Individuen für eine gelingende Identitätsentwicklung darauf angewiesen sind, soziale Anerkennung zu erfahren. In Auseinandersetzung mit Heikki Ikäheimo und Arto Laitinen hat Honneth seinen Anerkennungsbegriff präzisiert und vier Merkmale hervorgehoben (Honneth 2003a: 318ff.): Anerkennung sei erstens die „Affirmierung von positiven Eigenschaften menschlicher Subjekte oder Gruppen“ (ebd.: 318). Zweitens handle es sich um eine „Haltung“, die über einen einzelnen sprachlichen oder symbolischen Akt hinausgeht.82 Drittens zielt der Anerkennungsbegriff lediglich auf jene Akte, deren „primärer Zweck in irgendeiner Weise affirmativ auf die Existenz der anderen Person oder Gruppe gerichtet ist“ (ebd.: 319). Anerkennung kann insofern niemals „Nebenprodukt“ sein. Viertens umfasst Anerkennung als Gattungsbegriff drei Unterarten: die Liebe, den rechtlichen Respekt und die soziale Wertschätzung. Diese drei „Stufen“ der Anerkennung entwickelt Honneth im Anschluss an Hegel und Mead.83 Jede dieser Anerkennungsweisen zielt auf eine bestimmte Ebene des praktischen Selbstverhältnisses: emotionale Zuwendung (Liebe) auf Selbstvertrauen, kognitive Achtung (Recht) auf Selbstachtung und soziale Wertschätzung (Solidarität) auf Selbstschätzung (ebd.: 211). Diese drei Sphären der Anerkennung haben sich historisch ausdifferenziert, und immer waren es Deutungskämpfe zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen, durch welche sich Anerkennungssphären und damit subjektiv erwartbare Anerkennungsformen gewandelt haben. Honneth exemplifiziert diese Wandlungsfähigkeit von Anerkennungssphären an der durch das Bürgertum initiierten DurchFür Honneth stellen anerkennende Einzelhandlungen (ein Lächeln oder eine Willkommensgeste) lediglich einen Ausschnitt der dahinter stehenden Haltung dar. Gleichsam repräsentiert aber die anerkennende Einzelhandlung, dass auch zukünftig solche anerkennenden Handlungen erfolgen werden; dass also seitens des Anerkennungsgebers eine grundlegende Anerkennungsbereitschaft vorhanden ist: „In derselben Weise, in der das Lächeln gegenüber dem Säugling symbolisch für das liebevolle Halten einsteht, bringt die Willkommensgeste unter Erwachsenen zum Ausdruck, daß im weiteren Verlauf mit wohlwollenden Handlungen zu rechnen ist.“ (Honneth 2003b: 20f.). Insofern handelt es sich bei expressive Anerkennungsakten um „Metahandlungen“ (ebd.: 21). 83 Fand er zunächst in Meads intersubjektiv angelegter Konzeption von Identität einen zentralen Anknüpfungspunkt seiner Anerkennungstheorie, so bedient er sich in den letzten Jahren zunehmend entwicklungspsychologischer Konzepte und Überlegungen aus der Objektbeziehungstheorie, um seinen Anerkennungsbegriff zu fundieren. (vgl. hierzu das Nachwort in Honneth: 2003a: 312, sowie 2003b und 2005.) 82
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setzung der Idee individueller Leistung gegen das vom Adel geprägte Ehrsystem als Bezugspunkt sozialer Wertschätzung. Fielen in der ständischen Gesellschaft noch über das Ehrprinzip rechtliche Anerkennung und die Anerkennung von Verdiensten zusammen, so differenzierten sich diese beiden Anerkennungsformen auf Initiative des Bürgertums aus. Es entwickelten sich nun die verschiedenen Anerkennungssphären des Rechts, wodurch jeder Bürger gleichermaßen Achtung findet und die Sphäre sozialer Wertschätzung, eine meritokratische Anerkennungsform, in der Verdienste oder Leistungen anerkannt werden und „Ansehen“ bzw. „Prestige“ erlangt werden können (ebd.: 199). Bereits an diesem Kampf um das Ehrprinzip deutet sich an, wie gesellschaftliche Gruppen erfolgreich eigene Wertprinzipien durchsetzen konnten. Zugleich kann Honneth an der Ablösung des Ehrprinzips aufzeigen, dass Anerkennung nicht zwingend an die Zugehörigkeit zu einer Gruppe gebunden sein muss, sondern sich eben, wie es für die sich neu etablierende Sphäre der sozialen Wertschätzung zutreffend ist, auf die „lebensgeschichtlich entwickelten Fähigkeiten des einzelnen“ (ebd.: 203) beziehen kann, und somit nicht auf eine Gruppe, sondern eben auf Individuen zielt.84 Als Folge der Ausdifferenzierung der beiden Sphären des Rechts und der sozialen Wertschätzung bzw. der Solidarität und später der Leistung entbrannte wiederum ein Deutungskampf um das Prinzip der Leistung, dessen aktuelle Ausläufer sich nicht zuletzt in der Diskussion um die Managergehälter und Boni zeigen: Denn auch in dieser Diskussion zeigt sich, wie die selbsternannten ‘Leistungseliten’ der Wirtschaft den Leistungsbegriff so besetzen und umdefinieren, dass er auf ihre Beiträge zugeschnitten ist, und somit gleichzeitig die Beiträge anderer abgewertet werden.85 Semantisch schlägt sich dieser Kampf in Begrifflichkeiten wie „Minderleister“ oder „Leistungsverweigerer“ nieder, die zur Entwertung bisheriger Leistungsvorstellungen eingesetzt werden. Seit jeher ist das Leistungsprinzip also ein umkämpftes. Um die Definition von Leistung wird von Gruppen und Individuen permanent gerungen. Zum Verständnis der Auseinandersetzungen um die Definitionshoheit von Leistung ist es notwendig, sich die Differenz zwischen der Anerkennungssphäre des Rechts und derjenigen der sozialen Wertschätzung zu vergegenwärtigen. Während das Recht als Medium der Anerkennung auf die „allgemeinen EigenDem Anerkennungsprinzip der Ehre liegen sehr konkrete Anforderungen an die Lebensführung und den Habitus zugrunde. Nur über die Fügung unter diese rigiden Verhaltenszumutungen können Einzelne, vermittelt über die kollektive Gruppenidentität, Anerkennung erfahren (ebd.: 207). Die Gruppe bietet in dieser ständischen Konstellation überhaupt erst den Ermöglichungsrahmen der Erfahrung von Anerkennung, die hier in Gestalt von „Gruppenstolz“ oder „kollektiver Ehre“ vermittelt wird (ebd.: 208). 85 Neben dieser Leistungsdiskussion sind für Menz (2009: 10) gegenwärtig zwei weitere Leistungsdiskussionen von Bedeutung, von denen eine sich auf die mangelnden Leistungsanreize für Eliten und die andere auf den unzureichenden Leistungswillen von Transferempfängern bezieht. 84
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schaften menschlicher Subjekte“ zielt, werden auf der Ebene der sozialen Wertschätzung „besondere Eigenschaften“ anerkannt (Honneth 2003a: 197). Hier geht es um die Anerkennung der Gleichheit, dort um die Anerkennung der Differenz. Die Anerkennung von Differenz ist allerdings sehr voraussetzungsreich; es müssen Kriterien entwickelt werden, welche die Differenz in irgendeiner Weise validierbar und damit intersubjektiv anerkennungsfähig machen. Für Honneth ist eine solche Form der Anerkennung nur dann plausibel, wenn „als (seine) Voraussetzung die Existenz eines intersubjektiv geteilten Werthorizontes hinzugedacht wird; denn Ego und Alter können sich wechselseitig als individuierte Personen nur unter der Bedingung wertschätzen, daß sie die Orientierung an solchen Werten und Zielen teilen, die ihnen reziprok die Bedeutung oder den Beitrag ihrer persönlichen Eigenschaften für das Leben des jeweils anderen signalisieren.“ (ebd.: 196)
Ein intersubjektiv geteilter Werthorizont, in dem abstrakte Ideen wie diejenige eines „gelingenden Lebens“ verankert sind, stellt allerdings nur den weiteren Rahmen der möglichen sozialen Wertschätzung dar. Innerhalb dieses weiteren Rahmens muss gleichsam ein „soziales Medium“ bereitgestellt werden, mittels dessen die „Eigenschaftsdifferenzen“ der Subjekte auf intersubjektiv verbindliche Werte heruntergebrochen werden können (ebd.: 197). Als ein solches Medium fungiert nach Honneth ein „symbolisch artikulierter, stets aber offener und poröser Orientierungsrahmen, in dem diejenigen ethischen Werte und Ziele formuliert sind, deren Insgesamt das kulturelle Selbstverständnis einer Gesellschaft ausmacht; als ein Bezugssystem für die Bewertung von bestimmten Persönlichkeitseigenschaften kann ein solcher Orientierungsrahmen dienen, weil sich deren sozialer „Wert“ an dem Grad bemisst, in dem sie dazu in der Lage erscheinen, zur Verwirklichung der gesellschaftlichen Zielvorgaben beizutragen.“ (ebd.:198)
Soziale Wertschätzung kann nach dieser Definition nur für diejenigen Persönlichkeitseigenschaften gewährleistet werden, die als „Werte“ in der Gesellschaft anerkannt sind. Insofern existiert auch in der Sphäre sozialer Wertschätzung keine allgemeine Anerkennung von Differenz. Durch die Bemessung der Beiträge Einzelner entlang eines intersubjektiv geteilten Horizontes werden nur bestimmte Persönlichkeitseigenschaften oder Leistungsbeiträge, die den abstrakten Zielvorstellungen der Gesellschaft entgegen kommen, mit Anerkennung honoriert. Insofern bietet der geteilte Werthorizont gleichermaßen Integration wie Differenzierung (vgl. Voswinkel 2001: 45). Als einen zentralen „Wert“, entlang dessen sich die soziale Wertschätzung in der Abkehr vom Ehrprinzip nun zu orientieren beginnt, ist der Wert der individuellen Leistung (Honneth 2003c: 165). In Kampf um Anerkennung spricht Honneth noch relativ unspezifisch von Leistungsbeiträgen des einzelnen, die der Umsetzung abstrakter gesellschaftlicher Ziele dienen. Als Leistungen werden hier „lebensgeschicht-
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lich entwickelte Fähigkeiten“ (ebd.: 203) bezeichnet, also „Form(en) der Selbstverwirklichung“ (ebd.: 204), die diesen Zielen entsprechen. In späteren Publikationen konkretisiert Honneth seinen Leistungsbegriff dahingehend, dass nun von „Leistung im Gefüge der industriell organisierten Arbeitsteilung“ die Rede ist (Honneth 2003c: 166). Damit wird der zuvor eingeführte auch Fähigkeiten einschließende Leistungsbegriff zugunsten eines mit der Erwerbsarbeit assoziierten Leistungsbegriffes preisgegeben. Honneth ist sich der Problematik eines solchen auf die Arbeitsteilung zugerichteten Leistungsbegriffes bewusst und spricht deshalb treffend von einer „zweischneidigen Legitimationsinstanz“ (ebd.: 174): Es handle sich bei diesem Leistungsbegriff um das Produkt einer „wirkungsmächtigen Ideologie“ (ebd.: 174), da die Bemessung von Leistung auf der Basis von Kriterien erfolge, die von herrschenden Sozialgruppen durchgesetzt wurde. Er nennt hier die „wirtschaftliche Tätigkeit des ökonomisch unabhängigen, männlichen Bürgertums“ als normativen Bezugspunkt des Wertmaßstabes, nach dem Leistung definiert wird (Honneth 2003c: 166). Darüber hinaus wirkten auf die Leistungsbewertung auch langlebige Deutungsmuster ein, die bestimmte Leistungen oder Fähigkeiten lediglich als Ausdruck einer „‘angeborenen’ Natur“ codierten (ebd.: 175).86 Warum das Leistungsprinzip sich trotz dieser Schwierigkeiten als normatives Prinzip der Rechtfertigung von Anerkennung einsetzen ließ, begründet Honneth damit, dass das Leistungsprinzip „die einzige normative Ressource (sei), die der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftsform zunächst zur Verfügung steht, um die extrem ungleiche Verteilung von Lebenschancen oder Gütern moralisch zu rechtfertigen“ (ebd.: 175). Zusätzlich komme dem Leistungsprinzip als Rechtfertigungsinstanz zugute, dass es zumindest auf normativer Ebene den Anspruch der Fairness und Angemessenheit impliziert. Gegen die Nutzung des Leistungsbegriffes als zentrale Kategorie der Gesellschaftskritik wurde eingewendet, dass lediglich der Markt die Honorierung von Leistung bestimmen würde und nicht ein Prinzip (Rössler 2005: 407). Für das, was nun als Leistung in der Gesellschaft anerkannt wird, sind insbesondere die „sekundären Deutungspraxen“ von elementarer Bedeutung, mittels derer die herrschenden Sozialgruppen ihre Leistungsvorstellung durchsetzen. Honneth begreift die sekundären Deutungspraxen als wesentlichen Filter bzw. als Konkretisierung der abstrakten Prinzipien, ohne die die nunmehr vorherrschende individualisierte Anerkennungsordnung ungreifbar bleibt (ebd.: 205): „Die abstrakt gewordenen Leitideen geben so wenig schon ein allgemeingültiges Bezugssystem ab, in dem der soziale Wert bestimmter Eigenschaften und Fähigkeiten zu messen wäre, daß sie erst immer durch kulturelle Zusatzdeutungen konkretisiert werden müssen, um Anwendung in dieser Sphäre der Anerkennung zu finden; daher bemißt sich 86 In diesem Lichte sei die Reproduktionsarbeit der Frau kein Leistungsbeitrag im kulturell definierten Sinne und damit auch keine Quelle sozialer Wertschätzung.
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der Wert, der den verschiedenen Formen der Selbstverwirklichung zuerkannt wird, aber auch bereits an der Art, wie die entsprechenden Eigenschaften und Fähigkeiten definiert werden, grundsätzlich an den Interpretationen, die historisch jeweils von den gesellschaftlichen Zielvorstellungen vorherrschen.“ (ebd.: 205)
Da diese Interpretationen wiederum insbesondere von denjenigen sozialen Gruppen geleistet werden, die ihren Lebensstil als wertvoll ausweisen können, entsteht ein „kultureller Dauerkonflikt“, innerhalb dessen unter Einsatz symbolischer Gewalt und auch der Erzeugung medialer Aufmerksamkeit um die Akzeptanz der eigenen Lebensform gerungen wird (ebd.: 206). Diese Deutungskämpfe finden im Bereich des Leistungsprinzips in allen gesellschaftlichen Teilbereichen statt: Diese Bereiche verfügen über je eigene Kriterien der Leistungsbewertung. Wo im Schulsystem gute Noten als Beleg von Leistung gelten, werden Universitäten anhand von Rankings bemessen (vgl. Voswinkel/Kocyba 2008). Immer wird in diesen Bereichen an bestimmte gesellschaftliche Leistungsvorstellungen angeknüpft, um auf dieser Grundlage einen eigenen Leistungsbegriff zu etablieren. So schließen auch betriebliche Leistungspolitiken an gesellschaftliche Leistungsvorstellungen und damit an Vorstellungen von Leistungsgerechtigkeit an, und transformieren so wiederum das Leistungsverständnis (Menz 2009). Zudem konkurrieren Leistungsbegriffe seitens der Organisation mit den Leistungsverständnissen der Beschäftigten sowie einzelner Berufsgruppen. In allen Bereichen ist jeweils ein eigenes Leistungsverständnis entlang bestimmter Kriterien wie der Härte der Arbeit, des Krafteinsatzes, der Genauigkeit, der Nutzung von Kreativität usw. ausgebildet. So zeigt Wagner (2004: 123) unter Rückgriff auf die Arbeiten von Mahnkopf (1987) auf, wie distinkte gesellschaftliche Gruppen zwar an der allgemeinen Norm des Leistungsprinzips partizipieren, dabei allerdings unterschiedliche Leistungsdefinitionen zugrundelegen. So bildeten Industriearbeiter eine umgedeutete Version der Leistungsnorm aus, in der sie innerbetriebliche Einkommensunterschiede akzeptieren, die sie auf Leistungsdifferenzen zurückführen können. Dagegen hielten sie andere Leistungsbemessungskriterien, beispielsweise bei Beamten, für ungerecht. Diese milieuspezifischen Auslegungen des Leistungsbegriffes belegen auch jüngere Studien, die im Rahmen von Gruppendiskussionen abweichende Leistungsbegriffe unterschiedlicher Milieus nachweisen konnten (vgl. Neckel/Dröge/Somm 2008; Dröge/Neckel/Somm 2005). So ist das Leistungsverständnis niedrig qualifizierter Gruppen insbesondere dadurch gekennzeichnet, dass die Arbeit als „schwer“ eingestuft wird und korrekt und ausdauernd geleistet wird (Neckel/Dröge/Somm 2008: 48). Hier wird also ein sehr klassisches Verständnis von Leistung bemüht, in dem der Aufwand und die körperliche Verausgabung im Vordergrund stehen. Dagegen ist das Leistungsverständnis höher Qualifizierter stark durch den Markterfolg sowie die Entfaltung eigener Potenziale und Ziele gekennzeichnet, wenngleich diese beiden Bewertungsrahmen teilweise miteinander konfligieren (ebd.: 54). Ebenfalls
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zeigte sich im Rahmen der Untersuchung von Neckel et al., dass diese Deutungen nicht gleichrangig nebeneinander existieren, sondern sich bestimmte Leistungsverständnisse stärker gegenüber anderen behaupten konnten. So konnten höher Qualifizierte ihren Leistungsbegriff effizienter durchsetzen und damit anderen Leistungsverständnissen ihre Legitimation entziehen. Bei der Rechtfertigung ihres Leistungsbegriffes kommt den höher qualifizierten Gruppen freilich zugute, dass dieser Leistungsbegriff demjenigen der Unternehmerseite in hohem Maße entgegenkommt und somit eine Kritik daran ins Leere führt. Was sich an dieser Untersuchung abzeichnet, ist einerseits die hierarchische Logik, innerhalb derer dominante Gruppen es vermögen, ihren Leistungsbegriff zu stabilisieren und so die Leistungen anderer abzuwerten. Andererseits zeigt sich ebenfalls, dass das „marktzentrierte Leistungsverständnis“ sich mehr und mehr etabliert, wodurch Gerechtigkeitsvorstellungen, die an das Leistungsprinzip geknüpft sind bzw. waren, verletzt werden. Mit der Durchsetzung eines marktzentrierten Leistungsverständnisses werden einfache Tätigkeiten mehr und mehr abgewertet, womit die Chance zur Erlangung von sozialer Wertschätzung sich für viele Berufsgruppen verschlechtert. Hier zeigt sich deutlich die Spannung zwischen den zwei wohl dominantesten Leistungsdefinitionen, der an Aufwand und Mühe orientierten und der am Erfolg orientierten. Unter den Bedingungen radikalisierter Marktzwänge verschärft sich diese Spannung nun dergestalt, dass einer dieser Leistungsbegriffe zugunsten des anderen an Relevanz verliert. Dabei ist aber nicht nur die inhaltliche Umcodierung des Leistungsverständnisses für zunehmende Anerkennungsdefizite in der Arbeitswelt zu verantworten, sondern ebenso die Erosion anerkennungsstiftender Prinzipien, die das fordistische Unternehmen noch bereitstellte. Von der Würdigung zur Bewunderung Wie am Beispiel der Aufstiegskarriere gezeigt wurde, geht mit diesem Karriereskript ein moralökonomisches Versprechen seitens der Organisation einher: Die Organisation honoriert über das Leistungsprinzip, das Senioritätsprinzip und das Anciennitätsprinzip die Leistungen der Beschäftigten über einen auf Langfristigkeit angelegten Zeithorizont. Damit werden die Zugehörigkeit zum Unternehmen sowie das Engagement und die Bemühungen der Beschäftigten zum zentralen Bezugspunkt von Anerkennung seitens der Organisation (Voswinkel 2002: 41). Voswinkel hat diesen fordistisch-tayloristischen Anerkennungsmodus als Würdigung bezeichnet: „Würdigung erfährt derjenige, der in einer langfristig angelegten Arbeitsbeziehung Verpflichtungen auf sich nimmt, indem er sich in den Betrieb einordnet, seine Lebensplanung unter Außerachtlassen alternativer Opportunitäten auf das Unternehmen ausrichtet und auch zu einem „Dienst nicht nur nach Vorschrift“ bereit ist. Würdigung ist also
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an längerfristig angelegte Arbeitsbeziehungen gebunden, sie setzt Beiträge voraus, die gewissermaßen als Kredit geleistet werden und die moralischer Erwartung begründen, dass sie in Zukunft gewürdigt werden.“ (Voswinkel 2000: 41)
Der Charakter der Würdigung zeigt sich also darin, dass die Beschäftigten nicht ausschließlich an ihrem Leistungsbeitrag gemessen werden. Vielmehr wird ihre Leistungsfähigkeit und -bereitschaft antizipiert. Um diese Kontinuität der Bindung zu stützen, zeigt die Organisation verschiedene Formen der Würdigung über ihre Beschäftigungspolitik, materielle Gratifikationen und eine kontinuierliche Würdigung auch im Falle abnehmender Leistungskraft oder im Falle der Krankheit (vgl. ebd.: 41). Es handelt sich bei der Würdigung letztlich um eine Form der „Rücksichtnahme“, um eine „moralische Verpflichtung und Erwartung“ (ebd.: 41). Der Anerkennungsmodus der Würdigung bezieht sich auf „Leistungen“, und zwar in einem Verständnis von Leistungen, welches sich am Aufwand, am Arbeitseinsatz der Beschäftigten, also an der Anstrengung und Belastung wie auch an den individuell eingebrachten Talenten und Qualifikationen bemisst. Es ist dieser Anerkennungsmodus der Würdigung, der dem berufsbiographischen Skript der organisationalen Karriere Stabilität im Hinblick auf Zugehörigkeit, kontinuierliche materielle Gratifikationen und prospektive Anerkennung bot. Voswinkel diagnostiziert nun eine Abnahme dieses Anerkennungsmodus und einen Bedeutungsgewinn des Anerkennungsmodus der Bewunderung (vgl. ebd.: 43).87 Bewunderung steht für die Anerkennung besonderer Leistungen und ist weniger am Leistungsbeitrag als an Erfolgen orientiert: „Bewunderung in der Arbeit wird Aspekten des Humankapitals, Qualifikationen und Fähigkeiten entgegengebracht. Man erhält sie für eine hohe Produktivität der Arbeit, für wirtschaftlichen Erfolg, für Kompetenz und Entscheidungsfähigkeit, auch für körperliche Kraft und Geschicklichkeit.“ (ebd.: 41)
Unter Bewunderung kann also solche Anerkennung begriffen werden, die üblicherweise für Leistungen in Bereichen des Sports, der Kunst oder der Musikindustrie gezollt wird: Gemeinsames Kennzeichen der in diesen Bereichen gezollten Anerkennung ist, dass sie lediglich dann erfolgt, wenn der sportliche Beitrag zum Sieg führt oder das produzierte Liedgut ein Hit wird. Für eine solche Anerkennung zählen damit nicht die Mühen und Anstrengungen, sondern ausschließlich das Ergebnis in Form eines erfolgreichen Abschlusses. In der Arbeitswelt ist Bewunderung abhängig von Berufssegmenten und Berufspositionen. Entscheidend für das Ernten von 87 Voswinkel (2002) sieht im der Phase des Fordismus-Taylorismus beide Anerkennungsformen als nebeneinander existierend. Er nennt drei Gründe für die Erosion der Würdigung und damit das Ende des Nebeneinanders von Würdigung und Bewunderung: Erstens habe das Pflichtethos an Bedeutung verloren, zweitens habe dies zum Anerkennungsverlust einfacher Tätigkeiten geführt und drittens habe der Subjektivierungsprozess die berufliche Anerkennungsmöglichkeit der Bewunderung befördert.
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Bewunderung ist die Fähigkeit, seine Erfolge auch sichtbar als Erfolge zu vermarkten (Voswinkel 2002). Insofern die Bewunderung eine Art Gefälle zwischen Bewunderer und zu Bewunderndem entstehen lässt, kann diese Anerkennungsform als vertikale Beziehung charakterisiert werden, die nicht wie die Würdigung Verbundenheit, sondern Distanz erzeugt (ebd.: 41). Mit seinen Überlegungen zum Wandel der zentralen Anerkennungsmodi knüpft Voswinkel an die Diagnose zunehmender Vermarktlichungstendenzen und an diejenige einer Subjektivierung der Arbeit an: Die Orientierung an kurzfristigen Erfolgsmaßstäben, wie sie eine starke Marktorientierung der Organisationen bedingt, erzeugt eine veränderte Erwartung seitens der Organisation gegenüber den Beschäftigten; nämlich diejenige der Selbstökonomisierung: So wie sich das Unternehmen im Dienste der Gewinnmaximierung zügig und flexibel an die Marktanforderungen anpassen will, sollen auch die Beschäftigten ihre Arbeitskraft nach dieser KurzfristLogik organisieren. Was aber bedeutet der Wandel des dominanten Anerkennungsmodus für die Beschäftigten und ihr Streben nach sozialer Wertschätzung? An der Verschiebung der Anerkennungsordnung sind mindestens drei Aspekte problematisch: Erstens schließt die Erosion der Anerkennungsform der Würdigung und die nunmehr verbleibende Anerkennungsform der Bewunderung zahlreiche Beschäftigungsformen bzw. Berufsgruppen aus: Galt harte körperliche Arbeit früher häufig als Inbegriff von Leistung und damit als Bezugspunkt von Anerkennungserwartungen, so hat sich die Selbstverständlichkeit der Anerkennung von harter Arbeit verflüchtigt. „Nicht-Anerkennung“ und „Geringschätzung“88 (Voswinkel 2001: 51) droht vor allem jenen Beschäftigtengruppen, deren Arbeit nur geringe Spielräume für Autonomie und Selbstverwirklichung lässt. Die Umstellung auf den Modus der Bewunderung macht Anerkennung zu einem knappen Gut und vergrößert den Raum der von Anerkennung Exkludierten. Für eine Vielzahl der Beschäftigten resultieren daraus Anerkennungskrisen (Krömmelbein 2000). Zweitens, darauf hat insbesondere Wagner (2008) hingewiesen, entstehen mit dem Wandel der Anerkennungsordnung Würdigungs- und Bewunderungsfallen, die ebenfalls in Anerkennungskrisen münden können. Würdigungs- und Bewunderungsfallen Voswinkel unterscheidet eine aktive von einer passiven Form der Nicht-Anerkennung: „Im Falle passiver Negation unterbleibt eine erwünschte oder erwartete Handlung, im Falle aktiver Negation geschieht ihr Gegenteil. Passive Negation der Anerkennung ist reine „NichtAnerkennung“, aktive Negation der Anerkennung ist die aktive Äußerung von NichtAnerkennung, die ich „Missachtung“ nennen möchte“ (Voswinkel 2001: 42f.). Die Unterscheidung erweist sich deshalb als sinnvoll, weil beide Formen der Nicht-Anerkennung unterschiedliche Reaktionen hervorrufen: Im Falle der Nicht-Anerkennung geht Voswinkel davon aus, dass aus dieser Enttäuschung resultiert, Missachtung dagegen rufe Gefühle von Wut und Scham hervor. Eine noch explizitere Anerkennungsverweigerung ist die „Geringschätzung“ „Der Betroffene wird nicht ausgeschlossen, aber als minderwertig, wenig schätzenswert usw. disqualifiziert“ (ebd.: 51).
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können als Konsequenz betrieblicher Reorganisationsprozesse auftreten, innerhalb derer die Anforderungen an die Selbststeuerungskompetenz und Eigenverantwortlichkeit der MitarbeiterInnen steigen. Durch eine allgemeine Anhebung der Erwartungen hinsichtlich solcher Fähigkeiten verlieren sie ihre ‘Besonderheit’: Zeichneten sich früher insbesondere Hochqualifizierte durch eben solche Kompetenzen aus und wurden dafür gewertschätzt bzw. bewundert; so bricht diese Bewunderung nun weg, weil alle MitarbeiterInnen diese Kompetenzen aufweisen (sollen) und nur das Bewunderung findet, was besonders und damit selten ist. Für Hochqualifizierte ergibt sich daraus das Problem, an die Anerkennungsordnung der Bewunderung nicht länger erfolgreich appellieren zu können, weshalb sie sich auf die für sie und auch für das Unternehmen nicht mehr greifende Anerkennungsordnung der Würdigung beziehen, was ebenfalls mit Blick auf ihre Anerkennungserwartungen zu Enttäuschungen führen muss (ebd: 30f.). Neben dieser Würdigungsfalle lauert die Bewunderungsfalle dort, wo sich die Führungskräfte nicht von der neuen marktzentrierten Anerkennungsordnung abgrenzen können und ihre eigenen fachlichen Maßstäbe entlang der neuen Ordnung ausrichten. Mit dieser Selbstbeschneidung ihrer eigenen fachlichen Fähigkeiten rauben sie sich selbst die Grundlage für Bewunderung (vgl. ebd.: 35). Drittens werden mit der Fokussierung auf den Markterfolg die Kriterien für soziale Wertschätzung intransparent. Zwar mobilisieren die diffusen Anrufungen des „unternehmerischen Selbst“ (vgl. Bröckling 2007) die Vorstellung sozialer Anerkennung, sobald die Erfordernis des unternehmerischen Denkens und der Kreativität gewahrt wird. Auch die Figur des Arbeitskraftunternehmers bekräftigt die Vorstellung, dass bei der Befolgung von Selbstökonomisierung, -rationalisierung und kontrolle der Erfolg und damit die soziale Wertschätzung garantiert ist. Da aber der Erfolg der jeweiligen Strategie letztlich ökonomischen Imperativen unterworfen ist, zeigt sich Gelingen oder Scheitern der berufsbiographischen Entscheidung erst im Nachhinein. Insofern erscheint es irritierend, von einem Anpassungszwang zu sprechen, dem die Subjekte bei ihren berufsbiographischen Entscheidungen ausgesetzt sind, denn dadurch wird suggeriert, dass es klar erkennbare Strukturierungsvorgaben gibt. Vielmehr zeichnen sich die Anforderungsstrukturen aber durch ihre „Unlesbarkeit“ aus (Sennett 1998: 81): Sie bleiben dem Arbeitssubjekt, dass seine Aktivitäten durch planenden Vorgriff strukturiert, im Moment des Planens undurchsichtig und werden erst nach Vollendung eines Projekts schemenhaft erkennbar, um sodann ihre Gültigkeit zugunsten anderer, wieder erst im Nachhinein bestimmbarer Erfolgskriterien, zu verlieren. Damit bleibt Anerkennung ständig prekär. Das Fehlen von prospektiver Anerkennung, also von im Vorhinein ersichtlicher Anerkennung, entlang derer sich erwerbsbiographische Perspektiven ausrichten können, impliziert einen weitreichenden Wandel im Verhältnis von Beschäftigten und Organisation. Zugleich geht es bei dem Wandel der Anerkennungsordnung nicht nur um einen Wandel der Mitgliedschaftsverhältnisse, sondern um einen fundamentalen Wandel
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der kulturell verankerten Wertvorstellungen dessen, was heutzutage als Leistung gilt und wofür soziale Wertschätzung gezollt wird. Wie gezeigt werden konnte, sind es in besonderem Maße die Wandlungen des Zeitregimes wie auch der Anerkennungsordnung, die eine Verschärfung biographischer Unsicherheiten provozieren. Beide Wandlungsprozesse sind auf die veränderten Bedingungen der „Ökonomie der Unsicherheit“ zurückzuführen; sowohl Zeitlogiken wie Anerkennungsverhältnisse scheinen sich diesen Veränderungen gefügt zu haben, weshalb von einer weiteren Durchsetzung der „Marktvergesellschaftung“ gesprochen werden kann. Der Umbruch innerhalb der Anerkennungsordnung wie auch die Veränderung der Zeitstrukturen spiegeln sich in einem neuen Karriereskript wider. Das Karriereskript der grenzenlosen Karriere greift die Diskontinuität und die mangelnde prospektive Anerkennung auf und formt daraus einen Karrierefahrplan, der subjektive Erfolgskriterien stark macht und „Employability“ zur neuen Währung für die Beschäftigten macht. 2.3.3 Das berufsbiographische Skript der boundaryless career Mit dem Prozess der De-Institutionalisierung des Lebenslaufes ist ein weitreichender Wandel gängiger Karriereskripte verbunden, der auch als Destandardisierung des Skripts der organisationalen Karriere begriffen werden kann. In der Karriereforschung werden gegenwärtig zwei Karrierekonzepte diskutiert, die das Konzept der „organisationalen Karriere“ ablösen: Die proteische Karriere (protean career) von Douglas Hall (1976; 2004) und die grenzenlose Karriere (boundaryless career) von Arthur und Rousseau (1996).89 Beide Konzepte sind aus der Beobachtung eines neuen Organisationstypus entstanden, der zunächst im Silicon Valley entstand und später als Inbegriff der Organisation des Informationszeitalters galt: Charakteristisch für diese „boundaryless organizations“ (Ashkenas/Ulrich/Jick/Kerr 1998) ist das Fehlen „traditionelle(r) ‘Grenzziehungen’, und zwar vertikaler (Hierarchie), horizontaler (Funktionen) und externaler (Geographie) Natur“ (Mayrhofer et al. 2002: 393). Zudem greifen für die „boundaryless organizations“ eben jene neuen Steuerungsmechanismen, die oben als Subjektivierung der Arbeit und als Vermarktlichung charakterisiert worden sind. Beide Karrierekonzepte, protean und boundaryless career, heben die individuelle Gestaltungsverantwortung der eigenen Karriere hervor: Karrieren seien nicht länger durch die Organisationen vorgeprägt und würden von Individuen „durchlaufen“; vielmehr beschreiben die neuen Karrieretypen die eigen89 In der deutschen Karriereforschung spricht Manfred Becker (1996) von einem „revidierten Karriereverständnis“, welches das „traditionelle Karriereverständnis“ ablöst. Ebenso wie bei den neuen Karrieretypen der boundaryless carreer bzw. der protean carreer schließt dieses neue Karriereverständnis an die Beobachtung des Wandels von Unternehmen an, die einem stärkeren Wettbewerbsdruck ausgesetzt sind und über flachere Hierarchiestufen verfügen.
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verantwortliche Bewegung zwischen verschiedenen Organisationen ohne einen im Vorhinein definierten Karrierepfad. Die Verantwortung für die Karriereentwicklung verlagert sich stärker zum Individuum hin, da den „boundaryless organizations“ selbst durch die Unsicherheit über künftig notwendige Personalressourcen nicht mehr in der Lage sind, Karrierefahrpläne für die Beschäftigten vorzudenken (Mirvis/Hall 1996: 241). Bereits 1976 hat Douglas Hall das Konzept der protean career vorgeschlagen und definiert diese folgendermaßen: „The protean career is a process which the person, not the organization, is managing. It consists of all of the person's varied experiences in education, training, work in several organizations, changes in occupational field, etc. The protean person's own personal career choices and search for self-fulfillment are the unifying or integrative elements in his or her life. The criterion of success is internal (psychological success), not external.“ (Hall 1976: 201)
Nicht länger ist es also die Organisation, die die Karriere zusammenhält, sondern die Person. Die Person managt aber nicht nur die Karriere, sie ist vielmehr der Referenzpunkt, entlang dessen auch der Erfolg der Karriere bestimmt wird: Hall nennt das Kriterium des psychologischen Erfolges als neues Erfolgskriterium, welches die Erfolgskriterien der Berufsposition und des finanziellen Erfolges ersetzt. Der psychologische Erfolg bemisst sich nach den eigenen Zielen und Wertpräferenzen; erfolgreich ist die Karriere demnach dann, wenn sie in hohem Maße den eigenen Vorstellungen und Idealen, aber auch den eigens an sich hoch geschätzten Talenten entspricht. Dabei betont Hall, dass der innere „Kompass“ als richtungweisende Instanz immer im Blick behalten werden müsse.90 Ein starkes Selbstwertgefühl und eine deutliche Vorstellung davon, wo die eigenen Interessen und Stärken liegen, ist für Hall eine Art Voraussetzung dafür, dass die proteische Karriere gelingen kann. Ohne die eigenen Ziele also fest im Blick zu haben und sich dabei getreu seiner eigenen Wertvorstellungen zu verhalten, sei psychologischer Erfolg nicht zu erreichen. Halls protean career ist also stark an subjektive Erfolgskriterien rückgebunden, wie auch die ganze Anlage der proteischen Karriere an die Subjektperspektive rückgebunden ist. Es geht also weniger um die objektiven Bewegungen durch verschiedene berufliche Positionen, weniger also um die Erwerbsverläufe als um den subjektiven Blick auf die (äußeren) Realitäten entgrenzter Karrieren. Hall betont in seinen Ausführungen auch immer wieder, dass es sich bei der proteischen Karriere um eine „One important implication for the individual in a continuously changing organization is that he or she must have a clear sense of personal identity, to provide an internal „compass“, keeping him or her headed on the „path with a heart“ in the midst of all the turbulence. In fact, one of the ironies here is that one has more opportunities, not fewer, to pursue one´s own path with a heart when the ground is constantly shifting because important new opportunities are always opening up. If the person lacks that internal compass, however, he or she will be constantly tempted and diverted form the path with a heart“. (Hall 2002: 32)
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individuelle Karriereorientierung handelt, die man übernehmen kann, nicht aber übernehmen muss. Damit benennt Hall mit der Unterscheidung von subjektivem Blickwinkel und der Beschreibung objektiv veränderter Verläufe den zentralen Unterschied zwischen dem Konzept der protean career und dem der boundaryless career (Briscoe/Hall 2006). Abschließend bleibt zu Halls Karrieremodell festzuhalten, dass es stark am Modell einer uneingeschränkten Selbstverwirklichung orientiert ist, damit über den Bereich des Berufes hinausreicht und sich somit auf den Bereich der alltäglichen Lebensführung ausdehnen lässt. Zudem ist das proteische Karrieremodell zwar eine Orientierung, die übernommen werden kann; Hall lässt aber keinen Zweifel daran, dass es sinnvoll ist, die grundlegenden Kompetenzen des Selbstbewusstseins (self-awareness) und der Anpassungsfähigkeit (adaptability), die eine proteische Karriere erst ermöglichen, zu stärken. Die proteische Karriere wird damit explizit als Modell einer erstrebenswerten Karriereorientierung nachgezeichnet, eben als Karriereskript, welches den Bedingungen der boundaryless organizations optimal entspricht. Das Konzept der boundaryless career, der grenzenlose Karriere, kann ebenso wie die proteische Karriere als idealtypisches Karrierekonzept innerhalb gewandelter Organisationsstrukturen gelesen werden.91 Sie ist definiert als „a sequence of job opportunities that go beyond the boundaries of a single employment setting“ (DeFillippi/Arthur 1996: 116). Der in dieser Definition zugrunde gelegte Karrierebegriff gleicht zunächst demjenigen der proteischen Karriere, insofern als Karriere hier wie dort die zeitliche Abfolge beruflicher Episoden meint. Wo der deutsche Begriff der Karriere auf eine Aufwärtsbewegung innerhalb hierarchischer Strukturen bei gleichzeitigem Zuwachs an Erfolg zielt, bezieht sich das angelsächsische „career“ stärker auf den Erwerbsverlauf selbst, unabhängig seiner Richtung.92 Im Anschluss an dieses Karriereverständnis definieren auch Mayrhofer et al. (2002: 394) Karrieren als „im Zeitablauf festzustellende Bewegungen eines Akteurs in der sozialen Struktur“. Neben der Verlaufsstruktur bezeichnet die boundaryless career eine horizontale Karrierebewegung (laterale Mobilität) innerhalb mehrerer Unternehmen. Besondere Bedeutung für die grenzenlose Karriere hat das erworbene und über die Organisation hinweg transferierbare Wissen. In diesem Sinne stellt auch Bird (1996: 150) die Verfügbarkeit von Wissen und Informationen in das Zentrum seines Karrierebegriffs, und definiert Karrieren als „accumulation of information and know91 Kritik am Konzept der boundaryless career hat insbesondere das Adjektiv „boundaryless“ auf sich gezogen: Zu Recht wurde eingewandt, dass so eine scheinbare Barrierefreiheit suggeriert wird, wo sich zahlreiche neue Beschränkungen und Selektionsmechanismen ergeben (Gunz/Evans/Jalland 2000). 92 Michael B. Arthur und Denise M. Rousseau (1996: 3) definieren „career“ dementsprechend so: „[...] everyone who works has a career.“ Dagegen ist der deutsche Karrierebegriff stärker an der Aufwärtsbewegung und an Kriterien des Erfolgs orientiert (vgl. Hartmann 2003).
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ledge embodied in skills, expertise, and relationship networks that are acquired through an evolving sequence of work experiences over time“. Es geht bei der boundaryless career also weniger um ein organisationsspezifisches als um ein generelles Wissen, welches notwendig wird. Die Verantwortung für den Wissenserwerb wie auch den Ausbau sozialer Netzwerke trägt das Individuum selbst. Im Rahmen der empirischen Überprüfung beider Karrierekonzepte (Briscoe et al. 2006) wurden die proteische Karriere als selbstgesteuertes Karrieremanagement und wertorientierte Karriereorientierung und die grenzenlosen Karriere als physische und psychische Mobilität operationalisiert. In der Untersuchung zeigten sich zahlreiche Überschneidungen beider Karrierekonzepte. Durch die je unterschiedlichen Operationalisierungen zeigen sich aber auch Differenzen: die Identitäts- und Wertgebundenheit von Halls Konzept und die Flexibilität und Ungebundenheit innerhalb des Konzepts der grenzenlosen Karriere. In der deutschsprachigen Rezeption findet das Konzept der boundaryless career stärkeren Anklang (Mayrhofer et al. 2002; Strassenberger 2006; Wagner 2004), wenngleich die Abgrenzung zum Konzept der proteischen Karriere streckenweise diffus bleibt. Ebenso wie die Aufstiegskarriere sich durch ein Tauschverhältnis von Arbeitsplatzsicherheit für die Loyalität gegenüber dem Unternehmen auszeichnet, verfügen auch die letztgenannten Karriereskripte über ein solches implizites Tauschverhältnis, einen psychologischen Vertrag93, innerhalb dessen die gegenseitigen Vorstellungen und Erwartungen bezüglich des Austauschverhältnisses zwischen Beschäftigten und der Organisation angesiedelt sind. Dieser neue psychologische Vertrag, von Rousseau (1995) als „transactional contract“94 bezeichnet, beschreibt einen Tausch von Leistungsbereitschaft und Flexibilität seitens der Beschäftigten gegen Employability sowie die Möglichkeit zur Erweiterung von Kompetenzen seitens der Organisation (Rousseau 1989; Rousseau/Wade-Benzoni 1995; Raeder/Grote 2001). Arbeitsplatzsicherheit, die von der Organisation gewährleistet wird, ist in diesem neuen psychologischen Vertrag keine relevante Größe mehr. Hingegen wird dem Individuum über die Selbstverantwortung für seine Karriere und seine Beschäftigungsfähigkeit auch die Verantwortung für die Arbeitsplatzsicherheit überantwortet, bzw. es wird Der psychologische Vertrag wurde als Konstrukt zum besseren Verständnis von Mitarbeiterbindungen an die Organisationen in die Organisationsforschung eingebracht (Schein 1970). Der psychologische Vertrag kann als implizite Ergänzung zum juristischen Arbeitsvertrag begriffen werden (Raeder/Grote 2001; Raeder/Grote 2004). 94 Bei Hall und Mirvis (1996: 247) findet sich eine an Rousseau (1990) angelehnte Definition der zwei Kontrakttypen: „A transactional contract is defined in terms of a monetary exchange over a specified period of time, with the employer contracting for specific skills used for specific tasks, and then compensating the skill holder for a satisfactory performance. A relational contract, by comparison, is not time bound; rather, it establishes an ongoing relationship between the person and the organization, and involves the exchange of both monetary and nonmonetary benefits, including mutual loyalty, support, and career rewards.“ 93
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von den Beschäftigten Flexibilität im Sinne von Unsicherheitstoleranz erwartet (Raeder/Grote 2001). Der Zurechnungsmodus, der hinter diesem Karriereskript steht, ist damit ein hoch individualisierter. Was aber leisten die neuen Karrieremodelle im Hinblick auf die Gewährung prospektiver Anerkennung und die Ermöglichung einer biographischen Perspektive? Wie sich am Wandel des psychologischen Vertrages zeigen ließ, ist das Karriereskript auf Kurzfristigkeit hin angelegt: Die Organisation bietet keine Arbeitsplatzsicherheit mehr und verlangt zudem auch keine längerfristigen Loyalitätsbeziehungen und kein intensiv ausgeprägtes Commitment seitens der Beschäftigten, sie ist an der Flexibilität sowie an Leistungen und besonders an Erfolgen interessiert. Zudem ist die Abfederung des reinen Leistungsprinzips, wie sie im fordistischen Karriereskript durch die Prinzipien der Anciennität und der Seniorität gegeben war, nicht länger in gleichem Maße gegeben. Dadurch gewinnt der Leistungstausch selbst an Relevanz; dies aber mit problematischen Effekten für die Beschäftigten: Denn durch die Umstellung auf das Erfolgsprinzip können erbrachte Leistungen der Beschäftigten noch im Nachhinein abgewertet werden. Umgekehrt führt die Honorierung von Erfolg dazu, im Vorhinein keine exakte Aussage über die später eintreffende Belohnung in Form von materiellen und sozialen Gratifikationen treffen zu können. Erwerbsbiographische Erfolgskriterien werden damit intransparent und die auf die Zukunft gerichteten Anerkennungserwartungen der Beschäftigten laufen ins Leere. Es ist aber nicht das neue Karriereskript allein, welches als Quelle von berufsbiographischen Unsicherheiten ausgemacht werden kann. Denn entscheidend für die Verunsicherung biographischer Perspektiven ist auch das fehlende „framing“ des neuen Karriereskriptes durch ein biographisches Skript, welches als stabile biographische Erwartungsstruktur die Unsicherheiten des Karriereskripts einbettet in ein Plausibilisierungsformat. Wo die Normalbiographie ein solches Biographiemuster noch mitlieferte, und damit das fordistische Karriereskript gleichsam rahmte, ist nun ein solches das Karriereskript einschließendes und damit auch eindämmendes Biographiemuster bisher nicht auszumachen. 2.4 Zwischenfazit Wie sich am Übergang von der Normalbiographie zur De-Institutionalisierung des Lebenslaufes und am Wandel berufsbiographischer Skripte zeigen ließ, liegen die neuen biographischen Unsicherheiten insbesondere in der Veruneindeutigung biographischer Zeitperspektiven, Karriereperspektiven und Anerkennungsperspektiven: Welchen Zeitindex also die aktuelle Beschäftigungssituation hat und welche Anerkennungschancen damit verbunden sind, wie lange und mit welcher Verbindlichkeit die Integration in den Arbeitsmarkt anhält, bzw. welche Wahrscheinlichkeiten der Integration sich für diejenigen ergeben, die gegenwärtig nicht inkludiert
Zwischenfazit
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sind, bleibt unvorhersehbar. Zugleich erodiert der durch die Institutionalisierung des Lebenslaufes und durch das fordistische „Regime der organisierten Zeit“ (Dörre 2009c: 57) stabilisierte verlässliche Zeithorizont, der die Antizipation zukünftiger Sequenzen gewährte und so Lebensplanung überhaupt erst ermöglichte. Mit diesem verlässlichen Zeithorizont, an dessen Stelle nun die Herrschaft der Kurzfristigkeit tritt, verblasst zugleich das ‚fordistische Versprechen’ auf soziale Sicherheit, Kontinuität und Planbarkeit der beruflichen Zukunft. Zugleich stehen die Subjekte durch die instabile Anerkennungsordnung und das Zurückgeworfensein auf eigene Entscheidungen infolge der Biographisierung der Lebensführung bei der Suche nach Planungsalternativen vor der paradoxalen Aufgabe, planen zu müssen, wo keine Orientierungslinien, Erfolgsrezepte oder Planungshilfen bereit liegen. In einer solchen Situation ist hinsichtlich der Wahrnehmungen der Subjekte von einem massiv gesteigerten Kontingenzbewusstsein auszugehen, welches sich aus den verschiedenen Uneindeutigkeiten der Sicherung von Anerkennung, der zeitlichen Strukturierung und der beruflichen Karriereperspektive speist. Die Ursachen dieses gesteigerten Kontingenzbewusstseins können aber nicht ausschließlich im Verlust vormaliger Sicherheitsgaranten gesehen werden: Vielmehr kann das Kontingenzbewusstsein auch auf die Wahrnehmung eines Nebeneinanders heterogener Erwartungen und Karriereskripte zurückgeführt werden: Erstens: Wenngleich die Erosion des Normalarbeitsverhältnisses voranschreitet (vgl. Promberger 2006; Hoffmann/Walwei 2002; Dietz/Walwei 2006; Dietz/Walwei 2007), ist das Normalarbeitsverhältnis nach wie vor empirisch dominant (Diekmann/Jann 2003). Die Normalbiographie, die auf diesem Normalarbeitsverhältnis aufsattelt, ist damit noch nicht am Ende, sondern lediglich in ihrer Erreichbarkeit eingeschränkt. Ähnliches gilt für das berufsbiographische Skript der organisationalen Karriere. Denn auch hier ist die Entwicklung hin zum Skript der grenzenlosen Karriere noch nicht so weit voran geschritten, dass das Skript der organisationalen Karriere keine Gültigkeit mehr besitzt und damit automatisch ins Leere läuft. Die „Implosion“ des Normalarbeitsverhältnisses, also die innere Aushöhlung der Normalarbeit und damit die Preisgabe des Sicherheitsversprechens (vgl. Wagner 2004: 219f.) erfolgt ebenso uneinheitlich und zeitverzögert wie die langwierige Erosion der Normalarbeit. Somit existieren Formen der älteren und der neueren Skripte nebeneinander. Daraus resultiert auch eine die Wahrnehmung der Wählbarkeit des Karrieremusters: Durch das Nebeneinander zweier berufsbiographischer Skripte bleibt für die Subjekte uneindeutig, welches zum Aufbau biographischer Perspektiven herangezogen werden soll. Zusätzliche Unsicherheiten bei der Entscheidung darüber, welches berufsbiographische Skript als Orientierungslinie dienen kann, könnten auch daraus resultieren, dass der Erfolg bei der Verfolgung einer dieser biographischen Strategien unsicher ist. Noch auf die Kontinuitäten der Normalbiographie zu vertrauen scheint ein heikles Unterfangen. Nicht weniger unsicher ist aber der Rückgriff auf das jüngere Skript der grenzenlosen Karriere. Damit bedingt
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Fragile Anerkennung, verzeitlichte Zeit: Karriereskripte im Wandel
das Nebeneinander zweier in ihrer Gültigkeit fragwürdiger biographischer Skripte biographische Unsicherheiten. Zweitens: Zudem kann biographische Unsicherheit auch aus dem neuen Karriereskript der boundaryless career selbst erklärt werden. Diese scheint zwar vordergründig ein Inklusionsskript mitzuliefern, schlussendlich bietet sie aber kein stabiles Biographiemuster mit vorhersehbaren Inklusionsperspektiven. Wie bereits in den Ausführungen über das Karriereskript angedeutet, ist ein wesentlicher Grund für die Unsicherheit dessen zeitliche Logik: Ob sich die im Skript vorgeschlagene biographische Strategie schlussendlich auszahlt, ist immer erst ex post zu bestimmen. Damit ist auch die Anerkennung durchgängig prekär. Holtgrewe (2000: 65) spitzt diese Unvorhersehbarkeit folgendermaßen zu: „Anerkennung bemisst sich zunehmend am Erfolg, der eintreten kann oder nicht (...)“. Innerhalb dieses Skripts sind alle „Garantien“ der Beschäftigten in der „Employability“ gebündelt; nur über die Beschäftigungsfähigkeit müssen Beschäftigte die Kontinuität ihres Erwerbsverlaufes herstellen. Jeder Arbeitgeberwechsel bleibt damit prekär. Eine weitere Quelle von Uneindeutigkeit ist die Aufwertung subjektiver Kriterien bei der Bestimmung von beruflichem Erfolg, die aber lediglich die Unbestimmbarkeit des Markterfolges kaschieren soll. Mittels ihrer Beschäftigungsfähigkeit und eines starken ‘inneren Kompasses’ sollen die Beschäftigten den erhöhten Bedarf an berufsbiographischer Koordination und Planung leisten, um so zu einer subjektiven Erfolgsbewertung zu gelangen. Dass diese subjektive Erfolgsbewertung aber in kein Passungsverhältnis zu den Erfolgskriterien des Marktgeschehens zu bringen ist, und damit rein individualbiographische Wirkkraft entfaltet, bringt die Beschäftigten spätestens dann in Schwierigkeiten, wenn es um die Erfüllung ihrer Anerkennungserwartungen geht. Das neue Karriereskript ist damit bei Weitem nicht so grenzenlos, wie es dem Namen nach erscheint. Die Grenzen sind zwar nicht länger als starre Hierarchien erkennbar, sie haben dafür aber eine neue Qualität, wie Mayrhofer et al. plastisch veranschaulichen: „Vielmehr ist von mehrstöckigen, verwinkelten Labyrinthen mit teils durchsichtigen, teils opaken, teils glasharten, teils zähen und nachgiebigen Wänden auszugehen, in denen selbst Ein- und Ausgang nicht mehr klar erkennbar sind. (...) Der Ariadnefaden, der den Weg weist, und die Kompetenzen, die zum Erfolg führen, sind erst undeutlich erkennbar. Es wird sich aber wohl um andere als die traditionellen Tugenden des Organisationszeitalters handeln.“ (Mayrhofer et al. 2002: 410).
Beide hier genannten Unsicherheitsquellen, das Nebeneinander gültiger Skripte wie auch die mangelnde sicherheitsstiftende Leistung des neuen Karriereskriptes, sorgen, wie abschließend zu zeigen ist, zu erratischen Suchbewegungen nach einem passenden berufsbiographischen Skript, die oftmals in den Wunsch nach der Ermöglichung von Normalarbeit und Normalbiographie münden.
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Besonders deutlich wird dieser Wunsch nach Normalarbeit und die damit einhergehende Orientierung an der Normalbiographie bei prekär Beschäftigen (Dörre et al. 2003; Dörre 2006). Selbst bei der empirischen Überprüfung berufsbiographischer Orientierungen entlang der Arbeitskraftunternehmerthese wurde deutlich, dass sich eher eine ‘Mentalität berufsbezogener Absicherung’ zeigt (Pongratz 2004: 35), als dass sich ein alternatives berufsbiographisches Skript mit von der Normalbiografie abweichenden Unsicherheitskonnotationen durchsetzt. Entgegen der Erwartung, dass sich in entgrenzten Arbeitsformen wie Gruppen- und Projektarbeit schon verstärkt moderne Arbeitskraftunternehmer mit einer robusten Unsicherheitstoleranz finden lassen, zeigte die Untersuchung vielmehr, dass gerade die Sicherheitsorientierungen stark durch den Typ der Laufbahnorientierung und des Statusarrangements geprägt sind, und damit durch zwei Orientierungen, die auf der Normalbiographie und ihren Stabilitätsversprechen aufsatteln. Pongratz nutzt hier den Mentalitätsbegriff, um das „unbeirrte Vertrauen in die Stabilitätsversprechungen“ „trotz erkennbarer (und zum Teil subjektiv reflektierter) Funktionsschwierigkeiten und Erosionstendenzen“, und damit die Hartnäckigkeit und mangelnde Reflektiertheit, die er in dieser Haltung sieht, zu unterstreichen (Pongratz 2004: 35). Auch in den Vorreitermilieus der flexibilisierten Arbeitswelt, in der „kreativen Klasse“ (Florida 2002), innerhalb derer die Ablehnung von Normalarbeit und Normalbiographie Bestandteil des kreativen Ethos sind95, zeigen sich im Rahmen verschiedener empirischer Untersuchungen Hinweise auf die Belastung durch biographische Unsicherheit96 und auf den Wunsch nach einem Mindestmaß beruflicher Planbarkeit (Manske 2006; 2009; Marrs 2007). Dieser Verweis auf die biographischen Sicherheitsorientierungen deutet darauf hin, dass der Wandel von Zeit- und Anerkennungslogiken wie auch der Wandel berufsbiographischer Skripte bisher nicht zu einer bruchlosen Fügung unter die neuen Logiken geführt hat. Nichtsdestoweniger können diese Befunde auch nicht als Beleg für einen noch nicht hinreichend ausgeprägten Ökonomisierungszwang gewertet werden. Denn wie bereits gezeigt wurde, ist die Wahrnehmung der neuen Anforderungen und Zumutungen und ihre Wertung als Druck, Überforderung und Belastung allgegenwärtig. Marrs zeigt auf, dass die Ablehnung von Normalarbeit und Normalbiographie differenziert zu betrachten ist: Denn die Abgrenzung erfolge insbesondere gegen das Leben eines „Normalbürgers“ (2007: 157) und gegen die tagtägliche Wiederkehr fester Arbeitszeiten (158), und damit die „standardisierte und herrschaftliche Seite des ‘Normalarbeitsverhältnisses’, nicht aber die damit verbundenen arbeits- und sozialpolitischen Schutzstandards, welche positiv bewertet werden“ (157). 96 Marrs (2008: 164) nennt die „Tabuisierung von Krankheit und Alter“ als Ausdruck der wahrgenommenen Unsicherheiten in der Medienbranche. Sie resümiert: „Die Arbeits- und Leistungsbedingungen zeichnen sich also aus durch Fremdbestimmung, hohe Belastungen und zahlreiche Unsicherheiten“ (165). 95
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Fragile Anerkennung, verzeitlichte Zeit: Karriereskripte im Wandel
Der Wandel von Karriereskripten, Anerkennungslogiken und Zeitmustern, wie er in diesem Kapitel nachgezeichnet wurde, impliziert zugleich einen Wandel der Biographiemuster, der mit Kohli als Aufbrechen der Chronologie und Kontinuität der Normalbiographie beschrieben wurde: Wenn die Gestaltungsverantwortung für die Karriere mehr und mehr den Individuen zugeschrieben wird und sie sich der Planungsaufgabe nicht entziehen können, bedingt dies ein gesteigertes Maß an biographischer Reflexivität. Diese geht, wie von den TheoretikerInnen der reflexiven Moderne immer wieder betont wird, nicht nur einher mit einer veränderten Teilidentität der Arbeit, sondern mit einem grundlegend veränderten Selbstverhältnis. Dieses neue Selbstverhältnis offenbart sich in einem veränderten Umgang mit der eigenen Lebensgeschichte. Nicht nur die Reflexion über die Berufsbiographie verändert sich, sondern die Selbstwahrnehmung als biographisches Subjekt ist einem grundlegenden Wandlungsprozess unterworfen. Man könnte diese Überlegung in der These zuspitzen, dass mit der subjektivierten Arbeit ein wirkmächtiger „Biographiegenerator“ (Hahn) die Reflexion und auch die Thematisierung der eigenen Identität neu strukturiert. Die mangelnden Erwartungssicherheiten hinsichtlich der Karriere, der Anerkennung und auch der Zeitlogiken schlagen sich dann in einem veränderten Umgang mit der Biographie nieder, der sich durch den beständigen Nachweis von Erfolgsfähigkeit auszeichnet.
3 Zum Wandel biographischer Skripte
3.1 Einleitung Der Prozess der De-Institutionalisierung des Lebenslaufes steht nicht allein für den Wandel von Mustern des Lebenslaufes und der Karriere, sondern gleichermaßen für die Erosion des dominanten Biographiemusters oder biographischen Skripts. Damit ist der Wandel von kulturellen Mustern angesprochen, die die Normalform der Biographie bestimmen. Bei Martin Kohli (1994: 221) wurde dieser Wandel des Biographiemusters mit dem Aufbrechen des Codes der Biographizität in Verbindung gebracht: Das Leben sei nach Kohli nicht länger als gerichtete Bewegung hin zu einem biographischen Ziel zu deuten. Die teleologische Perspektive, die auf „das verwirklichte Selbst“ oder auf „die entfaltete Lebensstruktur“ (ebd.: 221) hinauslaufe, sei ebenso wenig möglich wie die „narrative(.) Erfahrungsstruktur, in der das eine aus dem anderen folgt“, in der also verschiedene vorgezeichnete Sequenzen aneinander gefügt werden. Damit verliert das Biographiemuster seine Richtung und Chronologie. Was an die Stelle der biographischen Perspektive tritt, ist Individualität und die „permanente Suche nach ihr“ (ebd.: 233). Insofern ist das neue Biographiemuster inhaltlich ausgehöhlt, es verfügt über keine integrierende Zeitperspektive mehr und verweist die Subjekte bei der Orientierungssuche auf sich selbst. Mit Kohlis Ausführungen über die permanente Selbstreflexion sind aber nur einige Orientierungspunkte genannt, entlang derer der Wandel von Biographiemustern nachvollzogen werden kann. Eine andere Sichtweise auf den Wandel von Biographiemustern liefern beispielsweise Untersuchungen, die sich mit modernen und postmodernen Formen „narrativer Identität“ befassen (Kraus 2002; Straub /Zielke 2005). Hier wird angenommen, dass sich durch die abnehmende Planbarkeit neue Erzählweisen etablieren, innerhalb derer Kontinuität und Kohärenz situativ hergestellt werden, wodurch sich subjektive Plausibilisierungsspielräume erweitern. Liegt der Fokus bei Kohli auf der Frage nach der zeitlichen Verknüpfung innerhalb des Biographiemusters, so stehen hier die narrativen Formen, die Erzählweisen, Sprachspiele und Plausibilisierungslogiken stärker im Vordergrund. In beiden Fällen wird ein Wandel diagnostiziert, der mal mit der Veränderung des Lebenslaufregimes verbunden und mal an die Diagnose der Postmoderne geknüpft ist. Auch kann der Wandel von Biographiemustern mit der Diagnose einer Verschärfung von Marktzwängen in Verbindung gebracht werden, die sich in sämtlichen Bereichen des Lebens als „Verbetrieblichung der alltäglichen Lebensführung“ F. Hardering, Unsicherheiten in Arbeit und Biographie, DOI 10.1007/978-3-531-94048-9_4, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Zum Wandel biographischer Skripte
(Voß/Pongratz 1998) niederschlägt. Sofern die Vermarktlichung eine „zunehmende Gleichgültigkeit des Arbeitenden gegenüber seinen nicht marktgängigen Qualitäten“ (Moldaschl 1998: 233) provoziere, könnte auch die biographische Gestaltung in den Sog dieses Veränderungszwanges geraten. Die „marktgängigen“ Qualitäten gewinnen dann an Einfluss für die Selbstverortung, das Biographiemuster nimmt die neuen Gestaltungsimpulse der Ökonomie auf. Damit verändern sich die Wertbezüge für Biographien in fundamentaler Weise. Denn an die Stelle der teleologischen Perspektive und der Abfolgelogik rückt nun die kurzfristige Orientierung an den Markterfordernissen. Diese Überlegung kann in der These gebündelt werden, dass es im Zuge einer ökonomisch geprägten Selbstthematisierungskultur zu einer Ökonomisierung der Biographie kommt. Berufsbiographische Gestaltungskriterien gewinnen für die gesamte Biographie an Relevanz: Das entscheidende Kriterium von Erwerbsbiographien, der Erfolg, wird somit zu einem strukturierenden Prinzip für Biographien im Allgemeinen. Die These impliziert weitreichende Veränderungen des Biographiemusters, die im Folgenden näher zu erläutern sind. Dazu muss zunächst der Begriff des Biographiemusters bzw. biographischen Skripts näher erläutert werden. Anschließend wird kurz auf das normalbiographische Skript eingegangen, wie es in Zeiten des institutionalisierten Lebenslaufes in Erscheinung trat. Anschließend werden über den Wandel der Selbstthematisierungskultur Kristallisationspunkte des neuen biographischen Skripts, welches wesentlich auf die Beweisführung von Erfolgsfähigkeit ausgelegt ist, aufgezeigt. 3.2 Biographie und biographisches Skript 3.2.1 Der Bedeutungsgewinn der Biographie Zur Klärung des Skriptbegriffs bietet es sich an, zunächst den Biographiebegriff näher zu beleuchten. Hier zeigt sich bereits, dass durch die aktuelle Konjunktur der Biographieforschung ein einheitlicher Biographiebegriff kaum auszumachen ist: Vielmehr steht der Biographiebegriff neben seiner Bedeutung als Konzept der Biographieforschung zugleich für den Versuch, das Problem der Identität unter den Bedingungen der reflexiven Moderne einzufangen (Beck 1986). Zunächst soll kurz auf den Biographiebegriff als spätmodernes Äquivalent des Identitätsbegriffs eingegangen werden. Anschließend wird dieser Bedeutungsgewinn der Biographie anhand des Konzeptes der narrativen Identität verdeutlicht. Sodann wird das Konzept der Biographie aus der Perspektive der Biographieforschung näher skizziert. Alois Hahn (1987) hat in seinen Arbeiten über die Biographie betont, dass es zu jedem historischen Zeitpunkt biographische Normalformen gäbe, die durch Institutionen geformt sind. Diese Normalformen sind als Wissen über die Gestal-
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tung einer Biographie in der jeweiligen Gesellschaft präsent. Solche Schemata gelten als Voraussetzung für die Darstellung von Identität und Individualität unter den Bedingungen der Individualisierung und funktionalen Differenzierung (Bohn/Hahn 1999). Ebenso wie solche Schemata Identität und Individualität ermöglichen, limitieren sie auch die Darstellungsweisen des Selbst. „Geteilte biographische Erzählmuster haben ermöglichenden und restriktiven Charakter“, so fassen es Dausien und Mecheril (2005: 161), und sie betonen damit sowohl die Entlastungs- und Orientierungsfunktion solcher Erzählmuster wie auch ihre normierende und exkludierende Funktion. Das Konzept der „Biographie“ steht somit für ein charakteristisches Darstellungsformat von Individualität, weshalb Wolfram Fischer in seinem viel zitiertem Essay über die Melancholie der Identität (Fischer-Rosenthal 1999) auch eine Umstellung von der Identitätssemantik auf diejenige der Biographie fordert. Die Biographiesemantik würde „den gegenwärtigen lebenslangen Orientierungsprozessen von Individuen in modernen funktional differenzierten Gesellschaften und ihren Selbstbeschreibungen umfassender gerecht (...) als das Identitätskonzept.“ (FischerRosenthal 1999: 146). Den prägnantesten Unterschied zwischen der Semantik der Identität und derjenigen der Biographie sieht Fischer in der Zeitdimension: Während der Identitätsbegriff ein „zeitloser Gleichungsbegriff“ (ebd.: 160) sei, stehe der Biographiebegriff für eine „lineare und zirkuläre Prozesskategorie“ (ebd.: 160). In biographischen Erzählungen würde Zeit in ihrer Ablauflogik präsent, wobei in der Erzählung der Lebensgeschichte eine Fixierung des Ablaufes wie auch ein gleichzeitiges Offenhalten im Sinne der Ermöglichung von Anschlüssen stattfindet (vgl. ebd.). Die Forderung Fischers, der Temporaldimension des Selbst ein stärkeres Gewicht einzuräumen, erscheint plausibel: Denn sofern die Beschleunigung, die Dynamisierung der Zeitstrukturen also, als eine entscheidende Wandlung der modernen Gesellschaft begriffen wird und zudem die Zeitstrukturen als Ort der „SubjektStruktur-Synchronisation“ aufgefasst werden (Rosa 2005), muss die zeitliche Dimension auch in den Reflexionsbegriffen über das Selbst deutlich zur Geltung kommen. Dieser Einschätzung folgend ist das Identitätskonzept, gerade unter den Vorzeichen seiner Wandlung durch gesellschaftliche Modernisierungsprozesse, mit Adjektiven versehen worden, die diese Dimension veränderter Zeitlichkeit akzentuieren: Von Joachim Renn und Jürgen Straub (2002) ist das Konzept der „transitorischen Identität“ vorgeschlagen worden, „um auf die Momente der Beweglichkeit, der Zeit, des Handelns und der sozialen Prägung jener notorisch vorläufigen, immer noch ausstehenden, aufgegebenen Identität hinzuweisen“ (Renn/Straub 2002: 13). Dieses Konzept der transitorischen, der vorübergehenden Identität beinhaltet damit zugleich die Verabschiedung der Vorstellung von Identität als substantieller Einheit. Gleiches gilt für das Konzept der „situativen Identität“, welches ebenfalls den vorläufigen, vorübergehenden und unfertigen Charakter der Identität herausstreicht (Rosa 2002; 2005: 352f.).
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Zum Wandel biographischer Skripte
Neben Konzepten der transitorischen und situativen Identität steht das Biographiekonzept für ein Strukturmodell von Identität, welches die Veränderungen von Zeitlichkeit wie auch die Veränderungen der Selbstdarstellung moderner Subjekte reflektiert. Auch der Begriff der biographischen Identität (Wohlrab-Sahr 2006) greift diesen Shift hin zu dem Bedeutungsgewinn der Biographie für die Identität auf. Zinn fasst den Aufschwung des Biographiekonzepts folgendermaßen: „Da Identität und eine aktuelle soziale Position immer weniger dazu ausreichen, das Verhältnis von Person und Gesellschaft hinreichend zu bestimmen, tritt die Biographie an die Stelle des Identitätskonzepts. Um Erwartungssicherheit in sich vergleichsweise schnell wandelnden gesellschaftlichen Interaktionszusammenhängen zu gewährleisten, wird es immer wichtiger, sich selbst als Individuum mit einer Biographie darzustellen.“ (Apitzsch/Fischer/Koller/Zinn 2006: 54).
Zinn knüpft die These des Bedeutungsgewinns der Biographie an die Einsicht, dass Identität in funktional differenzierten Gesellschaften in keinem Subsystem mehr als einheitliche Figur thematisierbar sei (ebd.: 54; Bohn/Hahn 1999). Die Biographie erscheint hier als Ort der Multiinklusion; als letzter Ort, an dem die Person als Ganze sichtbar wird. In eine ähnliche Richtung argumentiert Beck ebenfalls unter Bezugnahme auf die Systemtheorie, dass die Biographie quer zur Trennung von unterschiedlichen Teilsystemen liege: In der Biographie würden damit die Grenzen zwischen den Systemen irrelevant. Ob nun Bildung, Verwaltung, Medizin oder Konsum; die Institutionenabhängigkeit der Individuallagen bedinge, dass alle Rationalitäten der Teilsysteme in der Biographie aufeinandertreffen. Daraus folgert Beck (1986: 219): „Lebensführung wird unter diesen Bedingungen zur biographischen Auflösung von Systemwidersprüchen (...).“ Aus der neuen Position der Biographie folgert Beck auch Konsequenzen für die Biographieforschung: „Biographieforschung wäre in diesem Sinne -zumindest der Anforderung nach- so etwas wie eine überdisziplinäre Gesellschaftsforschung aus der Perspektive des Subjekts – eine Forschung, die gerade quer zu dem Schema der speziellen Soziologien liegt“ (Beck 1986: 219, Fn.). Bereits diese kurzen Anmerkungen zum Aufschwung der Biographie deuten an, dass die Selbstverortung von Individuen gegenwärtig ohne den Verweis auf die Lebensgeschichte kaum gelingen kann. Wohlrab-Sahr (2002: 16) spitzt diesen Gedanken zu: „Lebensgeschichtliche Erzählungen und andere Formen biographischer Thematisierung gehören sicherlich zu den wichtigsten sozialen Ressourcen, die Personen unserer Zeit haben, um personale Identität zu gewinnen und aufrecht zu erhalten.“ Der Bedeutungsgewinn der Biographie zeigt sich am „Biographieboom“, der sowohl für historische Biographien wie auch für Autobiographien prominenter Persönlichkeiten diagnostiziert und von den Feuilletons verschiedentlich themati-
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siert wurde.97 Auch dieser Biographieboom wird mit dem Verlust von Orientierungspunkten in Verbindung gebracht. Die Biographie würde dort, wo die Kontingenz des Daseins allgegenwärtig erscheint, zu einer „Quelle der Selbstidentifikation“ (Zirfas/Jörrissen 2007: 168). Auch anderenorts wird die „Rückkehr der Biographien“98 diagnostiziert: So geht Grunenberg (2002) von einem Bedeutungsgewinn von Biographien aus, zielt dabei aber auf Biographien, die ein „öffentliches Leben“ thematisieren. Ihre Definition von Biographie ist dementsprechend eng mit dem Aspekt der allgemeinen Relevanz verquickt: „Sie (die Biographie, Anm. F.H.) erfordert ein Leben, das in der Öffentlichkeit stattgefunden hat. Denn mit einer Biographie wird nicht nur das Leben, sondern das öffentliche Wirken eines Menschen zum Erscheinen gebracht.“ (Grunenberg 2002: 12). Ob nun historische oder öffentliche Biographien: Bei beiden bezieht sich die These des Biographiebooms auf verschriftlichte, in Buchform erschienene Biographien. Ihre Wirkkraft entfalten sie darüber, dass sie als Leitfaden oder Orientierungshilfe für eine „gelingende Biographie“ gelesen werden können. Die Einstufung als „gelungen“ speist sich dabei in hohem Maße bereits aus der Tatsache, dass ein bestimmtes Maß an Relevanz genau dieser Lebensgeschichte beigemessen wird, sodass sie veröffentlicht wird. Zudem ist gerade für historische Biographien zu vermuten, dass ihre Attraktivität durch die Zurschaustellung der Pfadabhängigkeiten gespeist wird: Es geht in historischen Biographien weniger um die Möglichkeitsräume, die das „es hätte so oder eben auch anders kommen können“ betonen, sondern vielmehr um die Verdeutlichung eines bestimmten Pfades, der das Leben dann zu einem thematisierenswerten macht. Gerade in Zeiten der Unsicherheit erscheinen dann solche Biographien, die von einem roten Pfaden, einem besonderen Interesse oder einer Leidenschaft durchzogen sind, als Orientierungspunkt. Wo aber bei solchen Biographien die Antwort auf das Identitätsproblem gleichsam von „Außen“ geliefert wird in dem Sinne, dass die Biographie anderer als Muster für die eigene Lebensführung herangezogen wird, deutet ein anderer Trend auf die Annäherung des Identitätsproblems aus einer anderen Richtung an. So ist seit einigen Jahren eine Zunahme sogenannter „Nobody-Autobiographien“ zu verzeichnen (Adams 2002; zitiert nach Kraus 2006). Nicht nur die zahlreichen Autobiographie-Ratgeber und Institute, die Biographien auf Wunsch anfertigen, bestärken diesen Trend, die eigene Geschichte zu einer verschriftlichten Biographie ausgestalten zu lassen. Vielmehr scheinen die Biographien von „Jedermann“ nur ein weiterer Ausdruck der sich ausdehnenden Kultur der Selbstthematisierung zu sein. Die verschriftlichte Biographie, die textuelle Formung und an97 Beispielhaft für die Diagnose des Biographiebooms: FAZ vom 09.08.2004, Nr. 183 / Seite 27. Bemerkenswert ist, dass das vermehrte Interesse an Biographien keineswegs erst in jüngster Zeit auftritt. So sollte bereits das Jahr 1976 als „Jahr der Biographie“ gekürt werden (Spiegel 18/1976). 98 So lautet das Thema der Zeitschrift Kursbuch im Juni 2002.
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schließende Veröffentlichung des eigenen Lebens, kann dabei auch durch den Wunsch nach Anerkennung des eigenen Lebensweges und der eigenen Lebensform motiviert sein. Kraus (2006: 242) bringt den Wunsch nach der eigenen verschriftlichten Autobiographie mit dem schrumpfenden Vorrat an „Ready Mades für die subjektive Kohärenzkonstruktion“ in Verbindung: Die fehlenden Blaupausen der Lebenserzählung machten individuelle biographische Entwürfe erforderlich. Neben dieser Interpretation kann auch der Wunsch nach der Produktion von Biographischem als Versuch gedeutet werden, sich zwischen neuartigen Ready Mades, also Versatzstücken neuer Biographiemuster zu plausibilisieren. Eine solche Lesart legt die jüngere Biographieforschung nahe, innerhalb derer der enorme Stellenwert von „biographischen Formaten“ für den biographischen Aushandlungsprozess des doing biography herausgestrichen wird (Bukow et al. 2006: 9f.). An diesen Untersuchungen, die die Nutzung biographischer Formate an die verunsichernde Situation im ‘globalisierten Alltag’ binden, zeigt sich zugleich der enorme Umbruch, der sich gegenwärtig in der Biographieforschung vollzieht: „Biographie“ steht nicht länger ausschließlich für ein „theoretisches Konzept“, einen „historisch-empirischen Gegenstand“ und eine „komplexe method(olog)ische Strategie“ (Dausien 2009: 354), sondern zugleich für eine Basiskategorie der Zeitdiagnose. Explizit wird dieser Anspruch dort, wo die Nutzung biographischer Strukturierungshilfen mit der unsicheren Position des flexiblen Menschen in Verbindung gebracht wird: Im gemeinsamen Prozess des Herstellens einer Lebensgeschichte vollziehe sich ein Aushandlungsprozess, „in dem der flexible Mensch in einer hoch individualisierten Gesellschaft Zuflucht bei Ordnungs- und Zurechnungsmustern“ sucht (Bukow/Spindler 2006: 30). Anhand dieser Formulierung wird deutlich, dass die Aushandlung einer legitimen Geschichte nicht ausschließlich als Anforderung an die Subjekte nach einer konsistenten Erzählung zu verstehen ist, sondern vor dem Hintergrund ihrer Unsicherheit und Suche nach Anerkennung zu interpretieren ist. Insofern reflektiert dieser identitätstheoretisch aufgeladene Biographiebegriff bereits den Wandel vom ‘alten’ hin zum ‘neuen’ Biographiemuster, der sich hier als gewachsene Notwendigkeit der biographischen Thematisierung und Reflexion zeigt. Das gesteigerte Bedürfnis wie auch der größere Zwang der Thematisierung der eigenen Biographie ist ebenfalls Gegenstand der Diskussion um eine narrative Identität. Hier wird neben der Kontroverse um moderne oder postmoderne Erzählformate über die Möglichkeiten der Integration der neuen Anforderungen an die Erzählung in ein Strukturmodell narrativer Identität verhandelt.
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3.2.2 Moderne und postmoderne Formen narrativer Identität Überlegungen zu einer „narrativen Identität“ oder einem „narrativen Selbst“ (Gergen&Gergen 1989; Kraus 1996, 2007; Ricoeur 1988) entstammen insbesondere der narrativen Psychologie, die der Erzählung eine Schlüsselstellung bei der Welterschließung und Lebensführung einräumt (Sarbin 1986; Bruner 1990). Die VertreterInnen der narrativen Psychologie sehen in der Erzählung „das primäre strukturierende Schema (...), durch das Personen ihr Verhältnis zu sich selbst, zu anderen und zur physischen Umwelt organisieren und als sinnhaft auslegen“ (Polkinghorne 1998: 15). Zahlreiche weitere Disziplinen wie die Sprach- und Literaturwissenschaften, die Narratologie, Sozialphänomenologie und Sozialtheorie teilen gegenwärtig die Vorstellung, dass der Erzählung eine Schnittstellenfunktion bei der Identitätsgewinnung zukommt, weshalb mittlerweile gar die Rede von einem „narrativistischen Paradigma“ (Meuter 2004: 140) bzw. einem narrative turn in den Kulturwissenschaften ist: Gemein ist den verschiedenen Ansätzen innerhalb dieses Paradigmas, dass der Erzählung eine zentrale Rolle für das soziale Leben zugesprochen wird und damit gelingende Identitätsarbeit an das Medium des Erzählens rückgebunden wird (Bruner 1990; Kerby 1991; Ricoeur 1988; Straub 1998; Straub/Zielke 2005; Kraus 1996; 2007). Um eine gelingende Identität herzustellen, ist die sinnhafte und auf Kohärenz zielende Strukturierung der Lebensereignisse und der Lebenserfahrungen von elementarer Bedeutung: „Das Ergebnis des narrativen, kognitiven Verarbeitungsprozesses ist eine Geschichte, welche die Funktion übernehmen kann, dem Selbst eine integrierende Identität und den eigenen Handlungen und Lebenserfahrungen Bedeutung zu verleihen“ (Polkinghorne 1998: 28). Narrationen übernehmen damit sowohl eine Sinnstiftungs- als auch eine Ordnungsfunktion. Straub (2000; Straub/Zielke 2005) geht davon aus, dass die Fertigung von Selbstgeschichten zunächst reflexionsfähige Subjekte voraussetzt, deren Identität dann wiederum durch die Erzählungen stabilisiert wird.99 Die Subjekte müssen nach Straub über „narrative Kompetenzen“ verfügen, die es einem gestatten, „erzählte Geschichten verstehen und selbst bilden zu können“ (Straub 2000: 144). Ohne diese kognitiven und sprachlichen Fähigkeiten sei Autonomie schlichtweg undenkbar (Straub/Zielke 2005: 176). Während bei den VertreterInnen der Theorie narrativer Identität in der Frage des Zusammenhanges von Erzählung und Leben noch Einigkeit herrscht, wird kontrovers darüber diskutiert, welchen Stellenwert die Erzählung für das Leben hat: Ist das Leben selbst narrativ strukturiert oder geben wir durch Erzählungen dem 99 Damit betont Straub den konstruktivistischen Charakter von Selbsterzählungen: „Lebensgeschichtliche Erzählungen schaffen Wirklichkeiten, und zwar Wirklichkeiten sui generis. Sie artikulieren, was sie im Medium der Sprache erst bilden. Sie produzieren die Biographie als eine Wirklichkeit, die sich durch Kontinuität auszeichnet und deswegen die Persistenz und Identität einer Person „sichert“.“ (Straub 2000: 138)
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Leben eine Form? Diese Frage zielt auf den ontologischen Stellenwert der Erzählung. Die Vertreter einer strong theory of narrative Identity gehen von einer narrativen Struktur des Erlebens und Handelns aus (z.B. Bruner, Carr, Hardy, Kerby, MacIntyre). So formuliert Hardy (1968: 5): „Wir träumen narrativ, tagträumen narrativ, erinnern, antizipieren, hoffen, verzweifeln, glauben, zweifeln, planen, revidieren, kritisieren, konstruieren, klatschen, hassen und lieben in narrativer Form.“ Ein so verwendeter Begriff des Narrativs bezeichnet dann kein rein sprachliches Ordnungsprinzip, welches auf sprachliche Entäußerungen angewiesen ist, sondern vielmehr eine Erfahrensdimension: Das ganze Selbstsein ist dann durchdrungen von narrativen Strukturen, man erfährt sich selbst nur durch Erzählungen, womit die aktive Anforderung, sich erzählen zu müssen, überflüssig wird. Wenn das Leben selbst über eine narrative Struktur verfügt, sei Narrativität als ein „z.T. bereits vorsprachliches Organisationsprinzip des Erlebens und Handelns“ zu interpretieren, so Meuter (2004: 142). Allerdings geht es den AutorInnen der strong theory weniger um einen „vorsprachlichen“ Zustand, sondern vielmehr um die nicht auf permanente Artikulation angewiesene Durchdrungenheit sozialer Interaktionen durch die Sprache.100 Dagegen gehen die VerfechterInnen einer weak theory of narrative Identity von einer Trennung von Erzählung und Leben aus (z.B. White, Mink). So formuliert Mink (1987): „Geschichten werden nicht gelebt, sondern erzählt. Das Leben hat keine Anfänge, Mittelstücke und kein Ende. Narrative Eigenschaften werden von der Kunst ins Leben transferiert.“ Narrativität steht hier für ein Ordnungsprinzip, mittels dessen das Leben in eine künstlerische Form überführt wird. Die Position von Ricoeur (1988) wird in dieser Debatte als vermittelnde Position gewertet (Meuter 2004). Anstatt die strong und weak theory of narrative identity als bloße Gegensätze aufzufassen, können sie auch als Antworten auf je andere Problemstellungen gedacht werden. So betont die strong theory sehr explizit den Kerngedanken des sozialen Konstruktionismus, dass vor ihrer kulturellen Formung von einer Realität gar nicht zu sprechen sei. Es geht also um die Hervorhebung grundlegender sprachbzw. medientheoretischer Überlegungen, wie sie ausgehend von Wittgensteins Spätwerk den linguistic turn charakterisieren. Für die weak theory steht die Ordnungsund Formgebungsfunktion der Erzählung im Vordergrund.101 Sie ist damit auch anschlussfähiger für zeitdiagnostische Fragestellungen, die nach der Relevanz der So ist auch Bruners (1990: 90) Ausführung zu deuten, dass Narrativität „der Praxis der sozialen Interaktion bereits inhärent (ist)“. 101 Diese Ordnungsfunktion der Erzählung, die für das Zurechtfinden in der eigenen Biographie und die individuelle Sinnstiftung von hoher Relevanz ist, blendet Gergen als ein Vertreter der strong theory weitgehend aus. „Für ihn birgt die Tatsache, dass Selbsterzählungen die Einheit einer scheinbar völlig 'fragmentierten' Persönlichkeit als Einheit über die Zeit repräsentieren könnten, in erster Linie das Moment des Zwangs zu Kontinuität und Kohärenz“. (Zielke 2004: 291) 100
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Erzählung für moderne Selbstverhältnisse zu einem bestimmten historischen Moment fragen. Für den hier interessierenden Zusammenhang ist sowohl der Verweis auf die grundlegende Medialitätsgebundenheit der Sprache wie auch auf die ordnungsstiftende Funktion von Narrativität von Relevanz. Nun stellt sich aber insbesondere vor dem Hintergrund der strong theory die Frage, warum gerade der Erzählung ein so hohes Gewicht für die Identitätsarbeit beigemessen wird. Denn die im Anschluss an die pragmatische Wende des linguistic turn ausgebildeten Identitätstheorien streichen zwar allgemein die Bedeutung der Sprache, nicht aber die Bedeutung nur einer sprachlichen Darstellungsform heraus. Es scheinen hier insbesondere drei Kriterien zu sein, auf die sich die Vertreter narrativistischer Identitätskonzepte berufen: 1) Die temporale Dimension: In seinem umfassenden Werk über „Zeit und Erzählung“ hat Paul Ricoeur die These ausgeführt, dass zwischen der Erzählung und der menschlichen (nicht-chronometrischen) Zeiterfahrung ein Korrelationsverhältnis besteht.102 Selbsterzählungen haben danach eine zeitpräsentierende Funktion, indem Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als Dimensionen des Selbstseins in der Zeit in Beziehung zueinander gesetzt werden. Zudem haben Selbsterzählungen eine zeitverarbeitende Funktion in dem Sinne, dass erst über die Präsentation der Zeit in der Selbsterzählung die Zeit als Lebenszeit erfahrbar wird. Die Erzählung und die Selbsterzählung können damit als Konzepte begriffen werden, die einen Zugang zu Zeitlichkeit überhaupt erst gewährleisten. 2) Die soziale Dimension: Wurde Identität in älteren Identitätstheorien noch mit der „Erreichung eines bestimmten Bewußtseinszustandes“ assoziiert (Gergen/ Gergen 1989: 36), so greift das Konzept der narrativen Identität die Überlegungen der sprachpragmatischen Wende auf und betont die Angewiesenheit auf den sozialen Austausch bei der Identitätsgewinnung und damit die Zentralfunktion der Sprache (Mead; Habermas 1994). Soziale Interaktionen ermöglichen dabei erst die narrative Selbstkonstruktion und limitieren sie zugleich.103 Die Herstellung einer Selbsterzählung gilt als gemeinschaftliche Produktion von Autor und Co-Autor, wobei der Co-Autor die Rolle eines generalisierten Anderen übernimmt, der die soziale Bewertung der Selbsterzählung übernimmt (Dausien/Kelle 2005: 206). In diesem Sinne sind Selbsterzählungen immer als „Produkte diskursiver Regelsysteme“ zu begreifen (Apitzsch/Fischer/ Koller/Zinn 2006: 50). 102 Ricœur hierzu: „Die Zeit wird in dem Maße zur menschlichen, wie sie narrativ artikuliert wird; umgekehrt ist die Erzählung in dem Maße bedeutungsvoll, wie sie Züge der Zeiterfahrung trägt.“ (Bd. 1, 13) 103 In der Positioning Theorie, wie sie von Langenhove und Harré (1999) vorgelegt und in der deutschsprachigen Biographieforschung weitergeführt wird (Lucius-Hoene/Deppermann 2000), wird eben dieser dialogische Charakter der Identität und die Gebundenheit an Raumund Zeitkonstellationen betont.
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3) Die Dimension des Selbstbezuges: Neben dem Medium der sprachlichen Verständigung ist Identitätsbildung immer auch auf das „Medium der lebensgeschichtlich-intrasubjektiven Verständigung mit sich selbst“ verwiesen (Habermas 1994: 440). Erzählungen bilden in diesem Sinne nicht nur die Schnittstelle für die Außendimension der Identitätsarbeit; sie sind zugleich das Medium der Selbstverständigung in einer intrasubjektiven Perspektive. Der Begriff der Selbsterzählung steht damit sowohl für die Fähigkeit des Erzählens über sich selbst in einem intersubjektiven Kontext als auch für den inneren Austausch des Selbstverhältnisses. Solche inneren Aushandlungsprozesse werden durch biographische Kommunikation im sozialen Austausch angeregt. In der Folge wird ein selbstreflexiver Prozess angestoßen, der die Sichtweise auf das eigene Gewordensein verändert. Lucius-Hoene spricht hier von der Anregung „autoepistemischer Prozesse“, innerhalb derer Erfahrungen auf der Basis veränderter Sichtweisen neu verarbeitet werden, und damit ein neues Wissen über das Gewordensein der eigenen Person generiert wird (Lucius-Hoene 2000). Mit der Rede von solchen autoepistemischen Prozessen ist zugleich die „heilende Funktion“ der Erzählung angesprochen, auf die Walter Benjamin ([1932] 2007) in Erzählung und Heilung nachdrücklich hingewiesen hat. Mit Verweis auf die Psychoanalyse hat Benjamin die Relevanz der Erzählung für die psychosoziale Verarbeitung von Kontingenzerfahrungen hervorgehoben: Nach ihm kommt die Erzählung einem reißenden Strom gleich, der bei starkem Gefälle alle Blockaden oder Probleme „ins Meer glücklicher Vergessenheit zu schwemmen (vermag)“ (ebd.: 197f.). Mit der Anamnese würde also bereits ein Heilungsprozess eingeleitet, durch den Symptome „wegerzählt“ werden können. Diese kathartische Wirkung des autobiographischen Erzählens wird innerhalb der Biographieforschung wie auch den Disziplinen der „narrativen Therapie“ bzw. der „narrativen Bewältigung“ postuliert. (Brody 1994).104 Mit diesen drei Dimensionen, dem Zeitverhältnis, dem sozialen Austausch und der Selbstverständigung, wird die Relevanz der Erzählung für die Identitätsarbeit deutlich. Das Verständnis von der Erzählung ist dabei sprachwissenschaftlich geprägt: „Erzählung“ steht für die Produktion und das Ergebnis einer sprachlichen Einheit oder Textsorte, deren Inhalt die Wiedergabe von Geschehnissen oder Geschichten ist (vgl. Straub 2000).105 Verstanden als eine solche Textsorte fordert die Erzählung, Ziel der therapeutischen Interventionen im Bereich der narrative-based-medicine ist, diese Brüche mittels Techniken des biographischen und Revidierens zu bewältigen („restorying a life“, to reauthor daily lifes“ (White 1995), „to come to story-revisions“ (Parry&Doan 1994). Die Erzählung wird damit als Mittel zur Krankheitsbewältigung angesehen (Lucius-Hoene 2008). 105 Damit folgt Straub in Teilen einer in den Literaturwissenschaften gängigen Definitionen einer Erzählung. Der Begriff der Erzählung gliedert sich nach Genette (1998: 15) in mindestens drei Aspekte: 1) die „narrative Aussage, den mündlichen oder schriftlichen Diskurs 104
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ebenso wie jede andere Textsorte (z.B. die Argumentation) bestimmte Kriterien, durch die erst die spezifische Struktur einer Erzählung gewahrt wird. Meuter (2004: 140) nennt hier im Anschluss an die aristotelische Poetik, die er als „Urtext der kulturwissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Phänomen der Narrativität“ bezeichnet, die triadische Struktur von Anfang, Mitte und Ende als zentrales Charakteristikum einer Erzählung. Dieser Einschätzung schließt sich Straub (2000: 148) insofern an, als dass er das Vorhandensein von Anfang, Mitte und Ende als „einfachste Formulierung der Basisstruktur, Normalform beziehungsweise des Grundschemas einer Erzählung“ nennt. Neben dieser Basisstruktur der Erzählung wird innerhalb der Theorie narrativer Identität über die „Gelingenskriterien“ einer Erzählung, eines „well formed narrative“ (Gergen/Gergen 1989) diskutiert. Aus den verschiedenen Ansätzen, die die Kriterien einer wohlgeformten Narration zu definieren suchen, können besonders im Anschluss an Gergen und Gergen (1989) und Kraus (2002) fünf Charakteristika des „well formed narrative“ kondensiert werden: 1) Eine Erzählung benötigt einen sinnstiftenden Endpunkt. Ohne ein Ziel, auf das die Erzählung hinausläuft, fehlt jeder Erzählung die Richtung. 2) Ein well formed narrative bedarf der Einengung auf relevante Ereignisse. Was für die Geschichte relevant ist, lässt sich nur ermitteln, sofern ein sinnstiftender Endpunkt gegeben ist. 3) Eine Erzählung verfügt über eine narrative Ordnung der Ereignisse nach dem Prinzip zeitlicher Linearität. 4) Die Elemente der Erzählung stehen in einer Kausalverbindung; jedes Ereignis ist die Konsequenz eines vorangegangenen und 5) Zur Markierung von Anfang und Ende der Erzählung werden Grenzzeichen verwendet. Sind nun diese Kriterien eines „well formed narrative“ als unabdingbare Charakteristika im Sinne von Erkennungsmerkmalen oder normativen Anforderungen an eine Selbsterzählung einzuordnen? Die postmoderne Erzähltheorie hat zahlreiche Einwände gegen die Nennung von Strukturmerkmalen einer wohlgeformten Erzählung angeführt. Eine fundamentale Kritik lautet, dass das alltägliche Produzieren von Selbstgeschichten sich viel komplexer gestalte, als die Kriterien einer wohlgeformten Narration zuließen. Darauf deuteten insbesondere die empirischen Studien über narrative Identität hin (Kraus 2007).
[discours], der von einem Ereignis oder einer Reihe von Ereignissen berichtet“, 2) „die Abfolge der realen oder fiktiven Ereignisse, die den Gegenstand dieser Rede ausmachen“ und 3) der „Akt der Narration selber“. Um diese „drei Aspekte des Narrativen“ klar voneinander scheiden zu können, schlägt Genette eine einheitliche Benennung vor: „Ich schlage vor, ohne weiter auf den im übrigen evidenten Gründen für diese Wahl zu insistieren, das Signifikat oder den narrativen Inhalt Geschichte zu nennen (auch wenn dieser Inhalt nur von schwacher dramatischer Intensität und ereignisarm sein sollte), den Signifikanten, die Aussage, den narrativen Text oder Diskurs Erzählung im eigentlichen Sinne, während Narration dem produzierenden narrativen Akt sowie im weiteren Sinne der realen oder fiktiven Situation vorbehalten sein soll, in der er erfolgt“ (ebd.:16.).
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Worauf diese Kritik zielt, ist die Vorstellung einer Gesamtlebensgeschichte, die alle idealtypischen Kriterien des well formed narrative, und darunter besonders die Kriterien des sinnstiftenden Endpunktes und der Kausalverbindungen, in sich vereinigt. Gegen diese Vorstellung, dass das Leben in einer Gesamtlebensgeschichte gebündelt werden müsse, argumentiert Dieter Thomä (2007): Für ihn ist die Vorstellung absurd, dass in einer liberalen Gesellschaft Menschen darauf festgelegt werden sollen, einen Lebensplan oder eine Lebensgeschichte zu haben.106 Sowohl bei John Dewey ([1920] 1989) als auch bei Hannah Arendt sieht Thomä diesen Gedanken angelegt, dass narrative Strukturen nicht nur zum Leben dazugehören, sondern sich das Leben als Gesamtlebensgeschichte ordnet.107 Folgt man nun der Zurückweisung der Vorstellung einer Gesamtlebensgeschichte, rückt die Frage wieder in den Vordergrund, wie narrative Identität jenseits einer Gesamtlebensgeschichte vorstellbar ist. Wie bereits oben angedeutet wurde, wird die Herstellung narrativer Identität im Modus situationaler Selbstthematisierungen gedacht (Keupp et al. 2006): Es ist also die Vielzahl von immer wieder neuen Selbsterzählungen in verschiedenen Kontexten, die in ihrer Gesamtheit die narrative Identität erst ausmachen. Bamberg (2004) spricht in diesem Zusammenhang von „small stories“, also kleinen oder kurzen Erzählungen, mittels derer die narrative Positionierung erfolgt.108 Wenngleich oftmals sogenannte „big stories“ (Bamberg 2004), also Erzählungen der Lebensgeschichte in einer Interviewsituation in der narrativen Psychologie und der Biographieforschung als Beispiel für den Konstruktionsprozess der narrativen Identität angeführt wurden, gehört die Vorstellung des immer neuen Über- und Umschreibens der Lebensgeschichte durch Selbstthematisierungen seit Beginn der Erforschung narrativer Identitäten in den genannten Disziplinen zu den Kernbeständen. Insofern Thomä (2007: 79) führt hier aus: „Umgekehrt darf eine liberale Gesellschaft ihre Mitglieder nicht, scheinbar neutral, darauf festlegen, Personen mit „Lebensplänen“ zu sein. Dies ist nicht etwa nur fragwürdig, weil damit in das individuelle Leben über Gebühr eingegriffen wird; es lässt sich vielmehr gar nicht plausibel beschreiben, wie eine „Person“ denn vorgehen müsste, wenn sie ihre „Persönlichkeit“ planen und „herstellen“ wollte.“ 107 Das folgende Zitat Hannah Arendts ([1958] 1981: 89f.) bündelt genau diese Vorstellung einer (Gesamt)Lebensgeschichte, gegen die Thomä argumentiert: „Das Hauptmerkmal des menschlichen Lebens, dessen Erscheinen und Verschwinden weltliche Ereignisse sind, besteht darin, dass es selbst aus Ereignissen sich gleichsam zusammensetzt, die am Ende als eine Geschichte erzählt werden können, die Lebensgeschichte, die jedem Menschen zukommt (...).“ 108 Es handelt sich um Erzählungen laufender Ereignisse, zukünftiger oder hypothetischer Ereignisse, aber auch Anspielungen auf (vorherige) Erzählungen. Der Begriff der „small stories“ zielt zudem nicht auf explizite Selbstthematisierungen in dem Sinne, dass der Erzähler sich selbst und seine Interessen zwingend artikuliert; vielmehr geht es um alltägliche und banale Begebenheiten, von denen berichtet wird. Entscheidend ist, dass mit der Rede von „small stories“ nicht mehr die Erzählung im Zentrum der Analyse steht, sondern vielmehr das Erzählen als Performanz (Bamberg 2004). 106
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scheint es auch eigenwillig, den Imperativ des narrare necesse est dergestalt zu interpretieren, dass er eine Aufforderung zur Erzählung einer Gesamtlebensgeschichte sei. Entscheidend scheint an dieser Stelle die Differenzierung zwischen der Prozesslogik, innerhalb derer biographische Thematisierungen erfolgen und der Frage nach einer übergreifenden Richtung, auf die die Erzählungen -auch als „small stories“- hinsteuern: Hier liegt der eigentliche Unterschied zwischen modernen und postmodernen Ansätzen einer narrativen Identität: Denn wo moderne Ansätze eine übergreifende Richtung der Geschichte annehmen, und damit auch ein Idealbild dessen, wie die Erzählung auszufallen hat, akzentuieren postmoderne Ansätze analog zu der Prozesslogik situationaler Thematisierungen auch situationale biographische Ziele, die ein Scheitern an einmal gesteckten biographischen Zielen verhindern würden. Der Aufschwung postmoderner Ansätze kann somit den oben beschriebenen Überlegungen zugeordnet werden, die Biographie als zeitdiagnostische Kategorie einzuführen, mittels derer die instabile Situation flexibler Menschen angemessen reflektiert wird. Was sich gesellschaftlich als gesteigertes Interesse an Biographien zeigt, findet also theoretisch seinen Niederschlag sowohl in dem Bedeutungsgewinn des Biographiekonzeptes als auch in dem Konzept der narrativen Identität. Mit der These vom Bedeutungsgewinn von Biographien ist aber bisher -jenseits des Verweises auf die Zeit und die Darstellungsdimension- noch wenig darüber ausgesagt, was eigentlich hinter der Biographie als theoretischem Konzept steht.109 3.2.3 Bezugsfelder biographischer Skripte Um den Wandel des Biographiemusters begrifflich fassen zu können, bietet sich ein Blick auf die Biographie als heuristische Kategorie an. Hier geht es weniger um zeitspezifische Ausprägungen von Normalbiographien, sondern vielmehr um allgemeine Bezugsfelder biographischer Thematisierungen. Das Konzept der Biographie als Lebensbeschreibung (griech. bios = Leben und graphein = beschreiben) steht im Spannungsfeld von Lebenslauf und Lebensgeschichte. In dieser Spannung bildet der Lebenslauf den ‘Rahmen’, also das Bezugnahmegebiet biographischer Erzählungen: „Die Biographie macht für ein Individuum den Lebenslauf zum Thema“ (Hahn 1987: 12 ). Wie die in der Biographieforschung sehr intensiv diskutierten Fragen nach der „biographischen Wahrheit“ (Bruder 2003) bzw. der „biographischen Illusion“ (Bourdieu 1990) nahelegen, ist aber keineswegs Zugespitzt könnte auch der Trend innerhalb der Biographieforschung, Biographie als zeitdiagnostische Kategorie auszubauen, als Grund dafür gesehen werden, warum Fragen der Prozesslogik von Biographien, die besonders in den 1980er und 1990er Jahren behandelt wurden, mehr aus dem Blick geraten. 109
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eindeutig, wie genau die Bindung zwischen dem gelebten Leben und der biographischen Erzählung vorstellbar ist.110 In der Biographieforschung gilt die Biographie stets als selektive Rekonstruktion der ‘objektiven’ Ereignisse oder des „tatsächlich Geschehene(n)“ (Brose 1986: 7), und anders kann sie schon deshalb auch nicht gedacht werden, da es so etwas wie objektive Lebensereignisse gar nicht geben kann, insofern die Datenmenge des faktisch Geschehenen schlichtweg unüberschaubar ist (Hahn 1987: 15). Neben diesem Rückbezug auf den Lebenslauf ist die individualbiographische Thematisierung abhängig von kulturell vorfindbaren Biographisierungsweisen. In Kapitel zwei wurde bereits auf die Spannung von Lebenslaufund Biographiemustern hingewiesen, auf den Dualismus von ‘äußeren’ Verlaufsmustern und ‘inneren’ Interpretationslogiken, die Kohli gerade in seinem Biographieverständnis überwinden möchte. Als Konzept liegt das Biographiekonzept damit an der „Schnittstelle von Subjektivität und gesellschaftlicher Objektivität“ (Krüger/Marotzki 2006: 8); es zielt auf ein Verständnis der kulturellen Mechanis-
110 Ein besonderer Stellenwert kommt hier auch der Debatte um die Homologiethese Schützes zu, entlang derer grundlegende Probleme der Biographieforschung im Allgemeinen und des narrativen Interviews im Besonderen deutlich gemacht werden können. Schütze geht von der Annahme aus, dass die Erzählung im Rahmen eines narrativen Interviews am ehesten die Orientierungsstrukturen des Handelns reproduziere, dass also die Erzählung als Schema der Darstellung am ehesten der kognitiven Aufbereitung des Ereignisablaufs nahekommt. Voraussetzung dafür ist, dass sich der Informant darauf einlässt, sich „dem narrativen Strom des Nacherlebens seiner Erfahrungen zu überlassen“, und nicht eine vorgefertigte Erzählfolie zu benutzen (Schütze 1984: 78f.). Sofern sich diese Interviewsituation auch durch die Zurückhaltung des Interviewers herstellen lässt, entstünde ein Klima, in dem der Erfahrungsstrom „analog“ dargestellt würde, und erst sekundär „digital“ bearbeitet würde. Die analogen Elemente zeichneten sich dadurch aus, dass sie „in ihrem Kern nicht auf die interaktive Dynamik und Gesprächsorganisation der kommunikativen Situation“ zurückzuführen seien, wohingegen die digitalen Elemente dagegen stärker durch die Interaktionssituation bestimmt seien (ebd.: 78f.). Weiterhin geht Schütze davon aus, dass sich im Rahmen des Interviews bestimmte „Zugzwänge des Erzählens“ ergeben, wie z.B. der Gestaltschließungszwang, der den Abschluss einmal aufgegriffener Erzählfäden fordert, oder der Relevanzfestlegungszwang, der die Gewichtung einzelner Aspekte für den Gesamtkontext fordert (Kallmeyer/ Schütze 1977). Sowohl gegen die Homologiethese als auch gegen die Annahme von „Erzählzwängen“ wurden zahlreiche Einwände vorgetragen. Es wurde kritisch angemerkt, dass vor dem Hintergrund des gemeinsamen Interesses von Sozialforscher und Erzählendem an einer „gute Geschichte“ über eine dahinter liegende biographische Realität wohl kaum eine Aussage getroffen werden könnte (Bude 1985). Eine „biographische Wahrheit“ könne auch deswegen nicht ermittelt werden, so räumt Welzer ein, da der konzeptuelle Rahmen, in den die Erinnerung heute eingebettet ist, ein anderer sei als derjenige der Erfahrungssituation (Welzer 2000; 2003).
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men, die das Wissen um ähnliche Verlaufsstrukturen mit Deutungs- und Erzählmustern verknüpfen.111 Fasst man Biographie in dieser kultursoziologischen Perspektive, so zielt der Biographiebegriff bereits auf Strukturvorlagen, Deutungs- und Erzählmuster der biographischen Selbstdarstellung; auf biographische Skripte. Im Fokus steht dann das implizite Wissen, welches zur Bearbeitung, zur Deutung und auch zur Sinnstiftung in der Individualbiographie herangezogen werden kann. Der Skriptbegriff, wie er in der Biographieforschung verwendet wird, speist sich einerseits aus der Schematheorie112 und zielt somit auf spezifische kognitive Wissensstrukturen; andererseits greift er in seiner interaktionistischen Fassung als „Rollenskript“ wechselseitige Erwartungen verschiedener Akteure auf.113 Letztere (postkognitivistische) Bedeutung114 ist auch im vorliegenden Zusammenhang relevant, da der Fokus auf den handlungs- und orientierungsleitenden Funktionen des Skripts liegt. Zu klären ist, in welchen Bereichen biographische Skripte als Ordnungsinstrument dienen. Hier können insbesondere vier Elemente herausgestrichen werden: Erstens beinhaltet das Skript Sichtweisen auf das Leben, die in Metaphern gebündelt sind; zweitens steht es für übergreifende Zeitperspektiven und Zeitordnungsschemata, drittens rekurriert es auf narrative Muster, und viertens steht es für ein Selbstthematisierungsschema, welches die Häufigkeit, Intensität und narrative Ausgestaltung von Selbstthematisierungen vorzeichnet. Gemein ist diesem Wissen, dass zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt lediglich bestimmte Erzählweisen, Sichtweisen und Zeitverständnisse mit sozialer Anerkennung honoriert werden. Diese Spannung von Ordnung, Orientierung und Ermöglichung auf der einen und Unkenntlichkeit und Ausschluss auf der anderen Seite werden in sämtlichen Ausführungen über biographische Schemata (Hahn 1982), Erzählmuster (DauÄhnlich formuliert Fischer (1999: 158): „Auf der Ebene soziologischer Konzepte betrachtet liegt das Biographiekonzept im Kreuzungsbereich des Konzepts persönlicher Identität und sogenannter strukturaler gesamtgesellschaftlicher Bedingungen.“ 112 Der Schemabegriff steht in der Schematheorie entweder als Sammelbegriff für Frames und Skripts, oder es wird zwischen diesen Subformen noch unterschieden: Dann können unter Skripts eher handlungsleitende und unter Schemata eher kognitionsstrukturierende Einheiten verstanden werden (Schank/Abelson 1977). Ein für die Biographieforschung wichtiges Schema ist das „Geschichtenschema“, welches Straub (2000: 153) folgendermaßen charakterisiert: „Geschichten als kognitive Schemata sind organisierte, abstrakte und formal fixierte Gestalten beziehungsweise Ablaufmuster, die festlegen, wie spezielle sprachliche Handlungen strukturiert sind. Sie typisieren gewisse Vorgänge in einer vom konkreten Fall losgelösten Form und stellen damit Ordnungsmuster dar, deren Verwendung inhaltlich ganz unterschiedliche Erfahrungen, Erinnerungen und Erwartungen strukturiert.“ 113 Deutliche Bezüge zur Schematheorie finden sich bei Straub (2000); dagegen setzen Bukow et al. (2006), Fischer-Rosenthal (1995), Griese (2008) und Hahn (1987) den Skript- bzw. Schemabegriff voraus, ohne ihn näher zu bestimmen. 114 Zum Postkognitivismus vgl. Zielke (2004). 111
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sien/Mecheril 2005), biographische Formate (Alheit 2006; 2008) oder biographische Skripte (Fischer-Rosenthal 1995; Griese 2008) angesprochen. Im Folgenden sollen die Aspekte der Biographiegestaltung, für welche das Skript Orientierungslinien bietet, näher bestimmt werden: 1) Sichtweisen, Verlaufsstrukturen, Metaphern: Für Griese (2008: 136) sind die von Fritz Schütze (1977; 1984) herausgearbeiteten Prozessstrukturen des autobiographischen Stehgreiferzählens „wesentliche Skripts, die das autobiographische (Stehgreif-)Erzählen strukturieren“. Zu den Prozessstrukturen zählen: 1) die Verlaufskurve, die „für das Prinzip des Getriebenwerdens durch sozialstrukturelle und äußerlich-schicksalhafte Bedingungen der Existenz“ steht (Schütze 1983: 288). Bei der Verlaufskurve handelt sich um eine Verkettung von Ereignissen, die dem Individuum als nicht mehr steuerbar erscheint. Schütze differenziert hier „Fallkurven“ und „Steigkurven“, wobei sowohl die negativen wie positiven Verläufe immer mit einem Verlust von Handlungsmacht einhergehen. 2) Die Prozessstruktur des institutionellen Ablaufmusters bezeichnet die Erfahrungsaufschichtung entlang standardisierter Normallebenslaufmodelle. 3) Biographische Handlungsschemata strukturieren die Erfahrungsaufschichtung durch Handlungspläne, die verfolgt werden. 4) Wandlungsprozesse erfolgen für den Biographieträger überraschend, wenngleich sie ihre Wurzeln in der „Innenwelt“ des Biographieträgers haben. Mit Wandlungsprozessen geht ein veränderter Handlungsspielraum einher (Schütze 1984: 92). Unter diesen Prozessstrukturen im Schützschen Sinne sind nicht nur Verläufe, sondern insbesondere Haltungen gegenüber Lebensereignissen zu verstehen (Wohlrab-Sahr 2002: 11). Es geht mit Schütze also um die „systematischen elementaren Aggregatzustände der Verknüpfungen der Ereigniserfahrungen, die in der Erzählkette berücksichtigt werden“ (Schütze 1984: 93; Hervorh. im Orig.). Gemeint ist damit die generelle Strukturierungsart der Ereignisse in der Erzählung: Man erzählt entlang eines Planes, den man gefasst hat, entlang einer normalbiographischen Folie, ordnet die Erzählung als Kette von ungewollten Ereignissen, die nicht zu beeinflussen sind oder berichtet von einem Erlebnis, was zu einer Veränderung der Persönlichkeit und der Handlungsmöglichkeiten geführt hat. Gerade der Begriff der Verlaufskurve zeigt die Nähe zu bildlichen Vorstellungen des Lebens: Eine auf- oder absteigende Linie, eine oder mehrere Kurven, Schleifen und Kreise oder auch das Leben als „Werk“, als „Kampf“ oder als „endloser Prozess“ (Brose et al. 1993) sind Vorstellungen über die Verlaufsform des Lebens, die den Prozessstrukturen sehr nahe kommen. Prozessstrukturen sind damit wesentliche Bestandteile biographischer Skripte, die abhängig von der Anerkennungsstruktur eine je unterschiedliche Wertigkeit besitzen. So ist zu vermuten, dass vor dem Hintergrund der Anforderung an Subjekte, sich als Handlungszentrum oder „Planungsbüro“ zu positionieren, insbesondere solche Verläufe honoriert werden, die die individuelle Autonomie im Prozess des Gewordenseins herausstreichen. Von Autonomie ist le-
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diglich bei den Prozessstrukturen des biographischen Handlungsschemas und des Wandlungsprozesses zu sprechen, institutionelle Ablaufmuster und die Verlaufskurve zeichnen sich dagegen durch Heteronomie aus (Wohlrab-Sahr 2002: 11). 2) Zeitmodelle und Ordnungsprinzipien: Biographische Skripte reflektieren Vorstellungen von Zeitlichkeit, die als Grundlage der biographischen Zeitkonstruktion dienen. So kann beispielsweise die Zukunft als offen oder geschlossen wahrgenommen werden: In einem Gefüge aus Kontinuität und teleologischer Ausrichtung erscheint die Zukunft eher geschlossen, wohingegen sie bei der Akzentuierung permanenten Wandels eher offen erscheint (Brose et al. 1993: 32). An die Zukunftsvorstellung ist auch die Vorstellung der Gegenwart geknüpft, die im Modell linearer Zeit als „Umschaltpunkt“ (ebd.: 54) einer offenen Zukunft in eine „bestimmte Vergangenheit“ (ebd.) betrachtet wird. In einer „nicht-mehrlinearen“ Zeitkonzeption dagegen sei nach Brose et al. die Gegenwart als „dauernde Gegenwart“ zu konzipieren, innerhalb derer noch Entscheidungen getroffen werden können und zugleich die Reversibilität von Entscheidungen gegenwärtig ist. 3) Gestalt und Intensität von Selbstthematisierungen: Das biographische Skript verweist auf legitime Formen der Selbstdarstellung, die sich in der Geschichte aus verschiedenen Quellen gespeist haben: Von religiösen Thematisierungsbeschleunigern bis hin zu dem Vokabular der Ökonomie, welches die gegenwärtige Selbstthematisierungskultur kennzeichnet, beeinflussen jeweils dominante Institutionen mit ihren Semantiken die Thematisierungsweisen des Selbst. Zu diesen Institutionen zählen neben den populärsten Biogaphiegeneratoren der Beichte, der Psychoanalyse und der Erwerbsarbeit, die später noch näher bestimmt werden: die Sprache als zentrale Institution, die Geschichtsschreibung, biographische Formate aus dem Rechtsbereich, medizinische Formate, Formate aus der Sozialarbeit, der Literatur, den Medien und den Sozialwissenschaften (Griese 2008: 145f.). Zugleich reguliert das Skript die Häufigkeit und Offenheit der Selbstthematisierung. 4) Narrative Form: Für jede Epoche lässt sich so eine typische narrative Form biographischer Thematisierungen benennen, entlang derer der Einfluss maßgeblicher Biographiegeneratoren sichtbar wird, insofern als die Selbstthematisierung die Werte und Deutungslogiken der jeweiligen Einflusssphären reflektiert. Gemein ist diesem Wissen, dass es historisch kontingent ist, und zu jeder Zeit andere Sichtweisen und Deutungsmuster zum Verständnis von Biographien vorherrschend sind. Die in biographischen Skripten eingelagerten Vorstellungen sind in ihrer Relevanz für Individualbiographien aus zwei Richtungen zu verstehen: Als Strukturierungshilfe innerhalb biographischer Konstruktionsprozesse und zugleich als Deutungshilfe für bereits bestehende biographische Selbstthematisierungen. Zum Verständnis des hier umrissenen Skriptbegriffes ist anzumerken, dass er keineswegs die Pluralität der verschiedenen bereichsspezifischen Biographieskripte
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negiert: Bestimmten Ereignissen oder Problemen bleiben damit spezifische Erzählformate zugeordnet. Biographische Kommunikation findet in Settings wie einer Anamnese, der Beichte oder dem 10-jährigen Abiturtreffen je anders statt; und ebenso unterscheiden sich die medialen Formate erheblich.115 Neben diesen spezifischen Erzählformaten zielt der hier ausgeführte Skriptbegriff auf ein Gesamtdeutungsmuster des Lebens, welches über die einzelnen Bereiche hinaus die Sichtweise auf das Leben zu verschiedenen Zeitpunkten rahmt. Nach dieser formalen Beschreibung biographischer Skripte kann nun das Skript der Normalbiographie näher skizziert werden, um in einem weiteren Schritt die Entstehung eines neuen Skripts zu bestimmen. 3.3 Die Normalbiographie als biographisches Skript Die Annahme einer engen Bindung von Biographie- und Lebenslaufmuster, die sich in Kohlis Konzept der Normalbiographie zeigt, impliziert, dass sich aus dem Lebenslaufmodell charakteristische biographische Orientierungen entwickeln. Diese fasst Corsten (Corsten/Hillmert: 35) folgendermaßen: „Erstens macht es (das institutionalisierte Lebenslaufmodell; FH) die zeitliche Unterscheidung zwischen Lebenszielen möglich. Nicht alles muss gleich hier und jetzt geschehen, Bestimmtes kann kurzfristig realisiert werden, manches lässt sich verschieben. Zweitens wird darüber die Kalkulation des Einsatzes von Mitteln zur Erreichung bestimmter Lebensziele sinnvoller. Wer weiß, dass er vieles auch später realisieren kann, wird den Zeitpunkt, zu dem er etwas erreicht hat oder nicht, abwägen und vergleichen können. Drittens ermöglicht dies auch die Bilanzierung des Erreichten zu bestimmten Lebenszeitpunkten, die zudem durch die institutionalisierte Ordnung spezifischer Übergangsereignisse als gesellschaftlicher Normal-Standard eine orientierende Stützung erfährt.“
Das Lebenslaufmuster bietet damit als biographischen Skript ein Zeitmodell, welches konkrete Planbarkeit entlang der Dreiteilung des Lebenslaufes ermöglicht: Jede Phase eröffnet eigene Planungsspielräume und eigene Bilanzierungslogiken, wodurch Zukunft nicht als unstrukturierter, sondern eben als sequentiell vorstrukturierter Raum greifbar wird. Damit der Transfer des Lebenslaufmusters auf biographische Zeitperspektiven gelingen kann, ist die Verlässlichkeit der sequentiellen Logik von enormer Bedeutung (Kohli 1994). Allerdings eröffnet der Lebenslauf nicht nur die Möglichkeit der Planung der Zukunft; es entsteht zugleich der Zwang, zukünftiges vorwegzunehmen.116 Dieser Zwang resultiert vornehmlich aus der Einen Überblick über verschiedene Formate und Orte biographischer Kommunikation bietet Fuchs-Heinritz (2005). 116 Die These vom ‘Zwang zur Langsicht’ findet Kohli bei Elias: „Für Elias (...) ist der zunehmende ‘Selbstzwang’ auch ein ‘Zwang zur Langsicht’, das heißt die Notwendigkeit zu 115
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neuartigen Verantwortung der Subjekte für ihre Lebensgestaltung im Zuge der Individualisierung. Hinter diesem Zeitmodell steht das Konzept linearer Zeit, welches mit einem bestimmten narrativen Thematisierungsschema in Verbindung gebracht wird: Mit der Fortschritts- und Entwicklungsgeschichte (Kohli 1988; Bonß/Zinn 2005: 188), innerhalb derer das Individuum im Laufe der Zeit die eigene Persönlichkeit ‘entfaltet’. Bonß und Zinn (2005: 188f.) nennen als Beispiel für eine solche Entwicklungsgeschichte Goethes Bildungsroman Wilhelm Meisters Lehrjahre, in dem Wilhelm Meister lernt, verschiedene Interessen und Identitätsbausteine in der Zeit zu integrieren. Die Entwicklung verläuft damit von Unsicherheit, Zweifel und Mehrdeutigkeit zu biographischer Sicherheit in Form von Kohärenz und Eindeutigkeit. Die hier beschriebene Entwicklungslogik entspricht dem „klassisch-modernen Format der Autobiographie“ (Alheit 2008: 33), welches Alheit folgendermaßen skizziert: „Der Fokus der Lebensgeschichte ist (...) die Idee einer in ihrer Entwicklung und Einzigartigkeit unverwechselbaren Persönlichkeit. (...) Die dominante Konstruktionslogik ist daher ein ‘innerer Modus’, eine -im aktuellen Jargon gesprochen- selbstreferentielle Aktivität.“
Innerhalb dieses Formats entwickle sich „Biographizität“117, also die Fähigkeit eigenständiger Deutung sozialer Erfahrungen, durch die sich erst ein Identitätsgefühl entwickelt. Damit ist die Entwicklungs- oder Entfaltungsgeschichte unmittelbar an die Verwirklichung von Authentizität geknüpft (Rosa 2005: 360; Taylor 1995). Die Entwicklung hin zum ‘eigenen Leben’ oder ‘verwirklichten Selbst’ markiert somit die Zielvorgabe, die im ‘modernen Format’ angelegt ist. Innerhalb solcher Entwicklungsgeschichten seien Umwege oder Richtungsänderungen durchaus legitim, sofern sie sich narrativ als Entwicklung hin zum besseren und wahreren Leben rekonstruieren lassen (Rosa 2005: 360). Übergreifendes Kennzeichen des Entwicklungsskripts der ersten Moderne ist aber, dass die Entfaltung als einmaliger Prozess aufgefasst wird (ebd.: 359) und dass dementsprechend der Prozess der Selbstverwirklichung118 mit steigendem Lebensalter weiter fortschreitet. Analog zu Eriksons Vorstellungen der Entwicklung von Ich-Identität wird also eine verzeitlichte Logik angenommen, innerhalb derer sich der Selbstentfaltungsprozess vollzieht (Erikson längerfristiger Perspektivität und darauf gestützter Regelung des Verhaltens.“ (Kohli 1985: 11). 117 Vgl. Fn. 60. 118 Eine Kritik an der Idee der Selbstverwirklichung liefert Thomä (2007: 69): „Sie (die Rede von der Selbstverwirklichung, Anm. F.H.) unterstellt, dass sich ein erst mögliches Selbst nur realisiert. Dann müsste aber auch ein Abgleich möglich sein, bei dem man Verwirklichtes und Mögliches miteinander vergleicht, und das Selbst, das sich erst verwirklichen will, wäre zu dem frustrierenden Eingeständnis gezwungen, dass es derzeit nur möglich, aber vorerst abwesend sei.“
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1973). Nicht zuletzt daran zeigt sich die weitgehende Übereinstimmung des biographischen Skripts der Normalbiographie mit klassischen Identitätsvorstellungen. Im Zuge der De-Institutionalisierung des Lebenslaufes wurde nun ein Wandel des Biographiemusters angenommen, welcher eine erhöhte Plausibilisierbarkeit von Unsicherheiten zulässt. 3.4 Erzählbarkeit von Diskontinuität? Gerade im Rahmen der Individualisierungsdebatte, innerhalb derer die Zunahme von biographischen Gestaltungsspielräumen diskutiert wurde, wurde die Frage aufgeworfen, inwieweit aus der Verbreitung biographischer Unsicherheit nicht wieder ein neues und auch stabiles Biographiemuster hervorgeht (vgl. Kohli 1994; Beck 1986). Insbesondere Arbeitslosigkeit und prekäre Beschäftigungsformen wie die Zeitarbeit wurden hier als Erfahrungsräume herangezogen, innerhalb derer sich exemplarisch alternative Biographisierungsweisen zeigten. Dieser Überlegung folgend haben verschiedene AutorInnen das Herausfallen aus den üblichen Integrationsstrukturen als Möglichkeitsraum für die Genese neuer biographischer Skripte interpretiert, die in einem günstigeren Passungsverhältnis zu der beruflichen Diskontinuität stehen. Von diesen alternativen Umgangsweisen mit Unsicherheit und Diskontinuität wurde angenommen, dass sie als Ausdruck eines veränderten Inklusionsmodus der Arbeitsgesellschaft gewertet werden können. Dahinter stand die Überlegung, dass die „postindustrielle Arbeitslosigkeit“ nicht länger als „Ausnahmesituation“, sondern als neue Normalität gewertet werden muss (Mutz et al 1995: 295). Weil diskontinuierliche Erwerbsverläufe zur Regel würden, veränderten sich auch die Bewertungen von Unsicherheit. So gehen Mutz et al. (1995: 299f) davon aus, dass es bereits „strukturierte Deutungsmuster gibt, die sich für eine Normalisierung des Arbeitslosigkeitsereignisses und der Diskontinuitätsphase eignen.“ Die Forscher konnten in ihren Untersuchungen von Erwerbsbiographien bei Arbeitslosigkeit Erzählweisen aufspüren, die auf Deutungsmuster der Interpretation von Arbeitslosigkeit verweisen. Diese Deutungsmuster119 enthielten Wissen über die Erklärbarkeit von Diskontinuität und Arbeitslosigkeit, die den Untersuchten half, sich auf Brüche im eigenen Erwerbsverlauf anders zu beziehen und „Diskontinuitätsmanagement“ (Mutz et al. 1995: 309) zu betreiben. Entscheidend für die gelungene Integration von Arbeitslosigkeit in die erwerbsbiographische Erzählung seien so wissenschaftliche Deutungslogiken, innerhalb derer die Tendenz zur Zunahme Mutz et al. (1995: 301) bestimmen diese Deutungsmuster so: „Es handelt sich um ein wissenschaftsnahes, theoretisches Interpretationswissen, das nicht unbedingt auf eigenen Erfahrungen beruht, aber im Verlaufe der biographischen Entwicklung angeeignet wurde.“ Dieses Wissen würde für die Verarbeitung und Deutung der Arbeitslosigkeit nutzbringend verwendet; es werde ‘kapitalisiert’ (ebd.). 119
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erwerbsbiographischer Unsicherheit verallgemeinert wird. Dadurch werde Diskontinuität für jeden antizipierbar und verliere so zugleich ihre Bewertung als Makel. In eine ähnliche Richtung weisen die Untersuchungen von Wohlrab-Sahr (1992; 1993; 1995) über die biographischen Konstruktionen bei Zeitarbeiterinnen. Wohlrab-Sahr konnte hier verschiedene Formen des Umgangs mit biographischer Unsicherheit ermitteln, die sich allesamt durch einen je unterschiedlichen Bezug auf das Normalmodell auszeichnen. Gemein ist diesen Forschungsergebnissen, dass sie von einem Vorhandensein alternativer und eben plausibler Erzählformate ausgehen, die einen prospektiven Bezug auf Unsicherheit ermöglichen. Unsicherheit wird nicht länger pathologisiert, sondern vielmehr in die Lebenskonstruktion integriert. Allerdings räumt insbesondere Wohlrab-Sahr ein, dass solche Biographisierungsleistungen nicht anschlussfähig sind an die für den institutionalisierten Lebenslauf gültigen Definitionen von Erfolg (Wohlrab-Sahr 1995: 234). Diese seien geprägt durch das Modell einer vertikalen Karriere wie auch durch die Vorstellung „linearer biographischer Entwicklung“, die wiederum mit der Vorstellung von „Kontinuität und Integration“ assoziiert sei.120 Nunmehr geht Wohlrab-Sahr aber von einer Veränderung der Erfolgsdefinitionen unter den Bedingungen der DeInstitutionalisierung des Lebenslaufes aus: Weil „die Möglichkeiten für klassische „Karrieren“ auf einen insgesamt kleiner werdenden Teil von Beschäftigten beschränkt“ seien, dürften nicht länger all diejenigen, die aus dieser Karrieredefinition herausfallen, als „Erfolglose“ bezeichnet werden (ebd.: 235): „Im Zuge solcher Entwicklungen verändert sich aber potentiell die Definition von „Erfolg“. Die als erfolgreich angesehene Biographie wäre dann nicht allein die, die es am ehesten schafft, institutionelle Karrierepfade ohne größere Brüche zu durchlaufen, also Kontinuität zu wahren und sich gewissermaßen nicht aus der Bahn werfen zu lassen, sondern vielleicht gerade die, der es gelingt, geeignete Formen des Umgangs mit Unsicherheiten und Strukturbrüchen zu finden, also Diskontinuität zu handhaben. Je weniger Personen aber in ihrer Erwerbsbiographie an vorweg definierte Karrierepfade anschließen können, und je weniger „Erfolg“ ohne weiteres darüber zu definieren ist, um so mehr dürfte die Leistung der Bewältigung der Unsicherheit als zentrales Merkmal der Biographie in den Vordergrund rücken.“ (Wohlrab-Sahr 1995: 236).
Das „Diskontinuitätsmanagement“, welches für Wohlrab-Sahr das neue Erfolgskriterium für Biographien ist, bezieht sich, wie anhand ihrer Fallstudien zu entnehmen ist, auf die Stabilisierung des Lebensarrangements und damit sowohl auf die berufAufstiegskarriere und Normalbiographie sind damit auch für Wohlrab-Sahr unmittelbar verbunden, wie die weitere Erfolgsdefinition zeigt (Wohlrab-Sahr 1995: 234): „Erfolg ist demnach im landläufigen Verständnis eng gekoppelt an das, was Kohli als ‘Institution des Lebenslaufes bezeichnet hat, einer kulturell etablierten und bereichsspezifisch ausgeformten Zeitordnung inklusive der damit verbundenen regulativen Normen wie Verbindlichkeit, Zielstrebigkeit, Beharrlichkeit etc.“
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liche Dimension wie auch auf die private. Erfolg ist, wenn man den Blick auf die erste Fallstudie richtet (ebd.: 237), das Vermögen, aus einer negativen Verlaufskurve herauszutreten (ebd.: 238). Die hier angeführten Untersuchungen werten die Situation von Massenarbeitslosigkeit und neuer flexibler Beschäftigungsformen als Raum der Entstehung neuer Normalitäten und damit veränderter Erfolgsdefinitionen: Bereits das Wissen darum, dass Unsicherheit die neue Normalität der Beschäftigung darstelle, ermögliche eine andere Thematisierung individuell erlebter berufsbiographischer Diskontinuität. Auch für den Erfolg wird eine Neudefinition bereits deshalb angenommen, weil frühere Erfolgsmodelle, die an den institutionalisierten Lebenslauf geknüpft waren, schlichtweg immer seltener werden. Die neue Erfolgsdefinition greift zudem ein Dominantwerden subjektiver Kriterien und damit eine Aufweichung rigider Gestaltungszwänge für die Berufsbiographie auf. Erfolg erscheint bei Wohlrab-Sahr demnach als subjektives Kriterium.121 Neben diesen Untersuchungen, die eine Vermehrung von Plausibilisierungsmöglichkeiten beruflicher Diskontinuität sehen, verweisen andere Studien darauf, dass nach wie vor begrenzte Deutungsmuster von Diskontinuität vorhanden sind, die die Einschätzung von Arbeitslosigkeit und prekärer Beschäftigung bestimmen. Kronauer und Vogel (1993: 3), die die Erfahrung von Arbeitslosigkeit untersuchten, kamen im Gegensatz zu Mutz et al. zu dem Ergebnis, dass eine Normalisierung des Arbeitslosigkeitsereignisses bisher nicht stattfindet. Vielmehr werten die Arbeitslosen ihre Position als problematisch (ebd.: 4): „Wollte man dieses Gefühl bündig charakterisieren, dann am ehesten als eine mehr oder weniger tief reichende Verunsicherung. Sie betrifft einzelne Lebenspläne, ganze Lebenskonzepte oder gar fundamental die eigene soziale Identität. Die Verunsicherung ist, trotz der individuellen Züge, in denen sie auftritt, wesentlich sozialer Natur. In ihr macht sich die Furcht vor einem sozialen Abstieg bemerkbar, die, wie die Risikofaktoren am Arbeitsmarkt und die spezifische Lebenssituation der Arbeitslosen erkennen lassen, in der Regel durchaus begründet ist. Die Arbeitslosen fühlen sich in ihrer Erwerbsbiographie und sozialen Laufbahn bedroht, wenn und weil sie tatsächlich bedroht sind.“
Die Deutung des Arbeitslosigkeitsereignisses ist hier maßgeblich geprägt durch die Erwartung fortdauernder Unsicherheit und die Antizipation weiterer Marginalisierung. Eine Nutzung neuer Deutungsfolien zur Interpretation von Arbeitslosigkeit findet sich hier nicht. Ähnliche Ergebnisse über die Erfahrungen und die Verarbeitung prekärer Beschäftigung wurden oben bereits angeführt. Auch hier ist die Wahrnehmung einer tief reichenden Verunsicherung dominant (Dörre 2006; Kraemer/Speidel 2005; Vogel 2006) und der Wunsch nach der Normalbiographie allgeIn dieser Verschiebung hin zu subjektiven Erfolgskriterien zeigt sich eine deutliche Parallele zu dem oben skizzierten Wandel der Karriereskripte: Auch für die protean career wurde betont, dass der psychologische Erfolg das eigentliche Richtmaß erfolgreicher Karrieren sei.
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genwärtig (Flecker/Krenn 2004; Noller/Vogel/Kronauer 2004). Die Ausweitung der Erfahrung beruflicher Unsicherheit mündet damit nicht selbstverständlich in die Möglichkeit einer souveräneren Deutung. Insofern scheint sich auch die Erfolgsdefinition bisher nicht von klassischen Karrierevorstellungen und vom institutionalisierten Lebenslauf abgekoppelt zu haben. Bleibt damit, so wäre nun zu fragen, unter veränderten Rahmenbedingungen hinsichtlich der biographischen Skripte nun doch alles beim alten? Bleiben also die Sichtweisen, Zeitvorstellungen und narrativen Muster der Normalbiographie bestehen, bleibt die teleologische Ausrichtung die vorherrschende Strukturierungslinie, wenngleich ihr der Boden entzogen wird? Die hier angeführten Thesen kreisen jeweils eng um das Problem des Umgangs mit Diskontinuität; sie stellen damit einen wichtigen Aspekt der Frage nach dem Wandel von Biographiemustern dar, können aber nicht als generalisierte Antwort für einen möglichen Wandel gelesen werden. Jenseits der Hoffnung auf die Zunahme an Deutungsweisen und Plausibilisierungsräumen gibt es zudem Indizien dafür, dass sich gegenwärtig ein anders gelagerter Wandel des biographischen Skripts ergibt. Diese Deutungsweise eröffnet sich allerdings erst, sofern der Wandel von Biographiemustern nicht vornehmlich an die Diagnose der Diskontinuität rückgebunden wird. Die soeben verhandelten Untersuchungen und Interpretationsansätze thematisieren in je unterschiedlicher Weise diese Frage der Zunahme von alternativen Erwerbsverläufen. Neben diesem dominanten Trend des Wandels werden aber die Folgen der gewandelten Bedeutung der Arbeit für das Leben in diesen Deutungsansätzen nur unzureichend reflektiert. Wie also die Subjektivierung der Arbeit sich in Biographiemustern niederschlägt, bleibt durch die Fokussierung auf Fragen von Kontinuität und Diskontinuität zunächst unbeantwortet. Um den Blickwinkel auf den Wandel biographischer Skripte zu erweitern, bietet sich die nähere Betrachtung der Diskussion um den Wandel der Selbstthematisierungskultur an: Denn gerade hier sind in jüngster Zeit verschiedentlich Bezüge zwischen den Veränderungen der Arbeitswelt und der Selbstthematisierung hergestellt worden, die nicht auf das Problem der Plausibilisierbarkeit von Diskontinuität verweisen, sondern an dem Problem der Verschränkung von Ökonomie und Kommunikation ansetzen (Illouz 2006; Sasse 2006; Senghaas-Knobloch 2008). Zudem bietet die Diskussion um die „Ökonomisierung der Subjektivität“ selbst zahlreiche Anschlussstellen für die Bestimmung des neuartigen Biographiemusters. Im Spannungsfeld dieser beiden Debatten sollen im Folgenden die Konturen eines neuen Biographiemusters skizziert werden. 3.5 Selbstthematisierung und Selbstdarstellung Sich selbst und die eigenen Interessen und Bedürfnisse eruieren und thematisieren zu müssen, wird im Kontext der Theorie reflexiver Modernisierung als Konsequenz der
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„Biographisierung der Lebensführung“ und damit als Folge des Individualisierungsprozesses begriffen (Beck 1986; Bohn/Hahn 1999: Kohli 1988; Rosa 2002). Die Zuschreibung von Verantwortung hin zum Subjekt als „Planungsbüro“ des eigenen Lebens ist mit der Vorstellung eines intensiveren Gewahrwerdens der eigenen biographischen Wahlmöglichkeiten, Pfadabhängigkeiten und auch Risiken in Verbindung gebracht worden (Beck 1986). Dieses Kontingenzbewusstsein wird als Ursache eines verstärkten Selbstthematisierungsbedürfnisses wie auch eines gewachsenen Zwangs zur Thematisierung des Selbst eingestuft. Hinter dieser These eines gesteigerten Selbstthematisierungszwanges bzw. einer veränderten Bekenntniskultur, wie sie besonders von Burkart (2006), Willems (2006; 2009) und Schroer (2006) ausgeführt wurde, steht sowohl die zeitdiagnostische Beobachtung einer bisher nicht gekannten Art der öffentlichen Selbstpräsentation, wie sie durch Talkshows oder andere Formate bestärkt wird, als auch die Beobachtung der Zunahme von Selbstthematisierungszwängen, die sich in zahlreichen Tipps zur Selbstoptimierung niederschlagen. Einst populäre Fernsehformate wie die mittäglichen Talk-Shows sowie Internet-Blogs oder die Nutzung von Chatrooms gelten als Indikator eines Trends hin zum öffentlichen Selbstbekenntnis (Burkart 2006: 13). Diese Thematisierungsforen werden von Burkart als Medium der Beförderung wie auch als Ausdruck einer neuartigen Kompetenz gewertet, der Kompetenz zum „selbstreflexive(n) Problemgespräch im Alltag“ (ebd.: 13), welche den Individuen erlaubt, „mehr oder weniger virtuos über sich selbst zu sprechen, (...), weil immer und überall Gespräche und andere Praktiken stattfinden, in denen das eigene Selbst zum Thema werden kann“ (ebd.: 13). Die Ausweitung der Selbstthematisierungskultur wird auch bei Burkart mit der Verallgemeinerung des Vokabulars und der Methoden der Psychotherapie in Verbindung gebracht (vgl. Hahn 1987; Illouz 2006). Das therapeutische Gespräch als Grundform des biographischen Interviews habe dabei die Funktion eines „Biographiegenerators“ eingenommen und die Art des biographischen Nachdenkens und Sprechens über sich selbst maßgeblich geprägt (vgl. Burkart 2006: 12). Man könne „nicht mehr unbefangen (unreflektiert) mit anderen über sich selbst reden, man (tue) es immer schon in einer quasi-therapeutischen Einstellung“ (ebd.: 13). Ein Blick auf die jüngste Geschichte der Selbstthematisierung, die allgemein mit dem Wertewandel der 1960er und 1970er Jahre und besonders mit der Frauenbewegung, der Studentenbewegung und dem Therapie-Boom eingeleitet wird, veranschaulicht die Zunahme von immer neuen Themenkomplexen (Sexualität, Erziehungsmethoden usw.), die nunmehr öffentlich thematisiert werden konnten (vgl. hierzu Bruder 2005: 197f.; Burkart 2006: 21f.). Die Selbstthematisierung fungierte in dieser Zeit laut Bruder (2005) als Mittel zur Selbsterfahrung und Selbstverwirkli-
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chung und damit als Methode, das ‘wahre Selbst’ aufzudecken.122 Zugleich rückte durch die Nutzung therapeutischer Gesprächsmethoden die Thematisierung, die Versprachlichung der eigenen Lebensgeschichte selbst stärker in den Vordergrund. Dies führte laut Burkart (2006) zu der folgenreichen Verschiebung des Imperativs der Selbsterkenntnis hin zur Maxime „Erzähle dich selbst“ (Thomae 2007). Was sich bereits hier am Übergang von der Suche nach Selbsterkenntnis hin zur Selbsterzählung zeigt, ist die historische Variabilität der Selbstthematisierungen, die sich aus den kulturellen Voraussetzungen wie auch aus den Identitätsfragen, die sich in der jeweiligen Zeit stellen, ergibt. Im Folgenden soll in Form einer kurzen Rückschau auf die Entwicklung der modernen Formen der Selbstthematisierung eingegangen werden. Was sich an den aufgezeigten Etappen der Beichte, der Psychoanalyse und der Arbeitswelt als Selbstthematisierungskontexte nachzeichnen lässt, ist die Verschränktheit der dominanten Institutionen der Selbstthematisierung: So wird die Psychoanalyse von Castel (1987, 1988) in die Tradition „religiöser Behandlungen“ eingeordnet, und anhand der Ausführungen von Illouz wird die Verknüpfung einer durch die Psychoanalyse mitgeformten emotionalen Kultur mit der modernen Arbeitswelt aufgezeigt. Anzumerken ist, dass die hier angeführten Institutionen lediglich exemplarische Orte der Formung des Thematisierungsschemas darstellen, denen in der Erforschung der Selbstthematisierungskultur eine besondere Aufmerksamkeit beigemessen wird. Ziel der Nachzeichnung des Wandels von Selbstthematisierungsformen ist, zu rekonstruieren, wie die Selbstthematisierung mehr und mehr zu einem Raum der Selbstdarstellung werden konnte. An der Selbstdarstellung lässt sich sodann die veränderte Deutung und Nutzung der Lebensgeschichte aufzeigen, die bereits ein verändertes Verständnis von Biographie impliziert. 3.5.1 Biographiegeneratoren: Beichte, Psychoanalyse, emotionaler Kapitalismus Sich selbst zum Thema erfolgt nicht „aus sich selbst heraus“ (Hahn 1987: 12): Sichtweisen auf sich selbst und Arten, darüber zu sprechen, sind rückgebunden an institutionelle Formen der Darstellung. Auf diese Rückbindung von Selbstverhältnissen an Darstellungsinstitutionen hat zunächst Foucault mit seinen späteren Schriften über die „Kultur seiner selber“ hingewiesen (Foucault 1989). In der deutschsprachigen Forschung sind es vor allem die Arbeiten Alois Hahns, in denen die Erforschung von Selbstthematisierungsprozessen vorangetrieben wurde (1982; 1987). Für Hahn und Kapp (1987) ist die Vorstellung der Zunahme von Selbstthe122 In den USA, wo der „Psychoboom“ eine intensive Wirkkraft entfaltete, wurde die Suche nach Authentizität schnell verdrängt von der Suche nach Selbstoptimierung (Castel/Castel/Lovell 1970).
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matisierungsprozessen der Idee der „Individualisierung“ oder des „Individualismus“ eingeschrieben: Was Individualität in bestimmten Gesellschaften ausmache, sei maßgeblich durch Institutionen der strukturierten Selbstthematisierung, durch „Biographiegeneratoren“ (Hahn 1987) geprägt. Als Biographiegeneratoren können biographische Darstellungsformen wirksam werden, die auf einer basalen Ebene die „Modi des Sagens und Schreibens“ (Hahn 1987: 16) biographischer Inhalte eingrenzen. Wie offen oder diskret über bestimmte biographische Inhalte gesprochen wird und welchen Anstrich diese Erzählungen erhalten, wird so durch ein Biographisierungsregime bestimmt, welches nicht zuletzt seine Variationsspielräume aus literarischen Gattungen bezieht.123 Daneben sind unter Biographiegeneratoren Institutionen zu verstehen wie die Beichte, die Autobiographie und die Psychoanalyse (Hahn 1987: 18). Willems (1999: 63) ergänzt noch die Psychiatrie sowie die Gruppentherapie: Diese sozialen Institutionen regen auf eine je eigene Weise reflexive Prozesse an, durch die Sichtweisen auf sich selbst oder „Selbstbilder“ (Hahn 1987: 18) erzeugt werden, die dann sozial verbindlich werden. Der Blick nach innen ist also immer ein geschulter. Dabei ist der Innenblick als solcher keine anthropologische Konstante, sondern bereits Ergebnis der Einübung einer kulturellen Praxis. Hahn fasst diese grundlegende Einsicht in das Verständnis des Selbstbezuges so: „Menschen neigen nicht von Natur aus dazu, sich über ihr Leben Rechenschaft abzulegen. Ob sie das tun und in welcher Form, hängt davon ab, ob es Institutionen gibt, die die Individuen zwingen oder es ihnen gestatten, ihre Vergangenheit zum Thema zu machen. Solch ein Rückblick auf die eigene Vita ist nie ohne Anleitung der Aufmerksamkeit möglich.“ (Hahn 1987: 18)
Als einen für die europäische Kultur zentralen Biographiegenerator nennt Hahn die Beichte: Mit der Institutionalisierung dieser Bekenntnisform wurde das Individuum dazu aufgefordert, zunächst seine Taten und anschließend seine Absichten kritisch zu hinterfragen (vgl. Hahn 1987: 18). Wurden zunächst noch Handlungen entlang von Sündenkatalogen bewertet, verschob sich im 12. Jahrhundert die Sündenanalyse verstärkt auf Intentionen. Eine Konsequenz der so geschulten Introspektion liegt für Hahn in der Empfindung individueller Besonderheit (vgl. Hahn 1987: 20). Freilich ist die Institutionalisierung der Beichte nicht ausschließlich vor dem Hintergrund eines Interesses an einem klareren Selbstverständnis zu begreifen. Vielmehr kann die Genese dieses Biographiegenerators auf ein Kontrollproblem zurückgeführt werden, nämlich das Problem mangelnder ‚äußerer Kontrolle’, weshalb ein System ‘innerer Kontrolle’ etabliert wurde (ebd.: 20). Was sich an der Beichte exemplarisch zeigen lässt, ist die besonders im Werk Foucaults nachgezeichnete Verinnerlichung von Fremdkontrollen, die dann als Selbstkontrollen wirksam werSo werden auch biographische Erzählweisen der Gegenwart analog zu postmoderner Literatur als postmodern im Sinne fragmentarischer Offenheit gedeutet. 123
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den. Foucault spricht von der „Pastoralmacht“ als einer Machttechnik, in der es weniger um Schuld als um die Einsicht in die Abweichung von einer Normalität und das anschließende Geständnis der Abweichung geht. Das Pastorat nutzte zur Beförderung des Geständnisses der „inneren Wahrheit“ bestimmte Techniken der Analyse und Führung (vgl. Lemke 2001). Voraussetzung der Anwendung der Pastoralmacht ist ein Wissen davon, „was in den Köpfen der Menschen vor sich geht“. Erst wenn man durch das Geständnis die „intimsten Geheimnisse“ hervorlockt, ist man in der Lage, diese Regierungsform zu nutzen (Foucault [1982] 2007: 89). Freilich geht es bei der Pastoralmacht um weit mehr als eine geschickte Machttechnik, die uns zu der Selbsterkenntnis unserer Fehlbarkeiten bemächtigt. Denn Foucault betont immer wieder ihre Ausrichtung auf das „Seelenheil“; und auch die Opferbereitschaft des Hirten im Kampf um die „Wahrheit des Einzelnen“ (ebd.: 88f.). Nicht nur Kontrolle, sondern immer auch Erkenntnis und das Heil der Menschen im Jenseits bilden den Agitationsrahmen dieser Regierungstechnik.124 Diese Technik löste sich im 16. und 17. Jahrhundert von dem religiösen Kontext und es kam zu einer „Verallgemeinerung der Pastoralmacht“ (Lemke 2001: 111). Diese Verallgemeinerung reicht für Foucault so weit, dass er die aus der Pastoralmacht hervorgehenden Subjektivierungstechniken als Grundlage des modernen Staates auffasst. Zwar zielt diese säkularisierte Variante der Pastoralmacht nicht länger auf das Heil der Menschen im Jenseits, sondern auf das diesseitige Heil im Sinne von Gesundheit und Sicherheit. Trotz der Ausweitung der Ziele der Pastoralmacht blieb aber eine zentrale Aufgabe immer die „Entwicklung des Wissens über den Menschen“ (Foucault [1982] 2007: 90). Foucault hat die Pastoralmacht auch als „individualisierende(n) Machtform“ (ebd.: 89) bezeichnet, was noch einmal ihre Wirkkraft als Biographiegenerator untermauert: Erst durch die Anleitung zum Innenblick konnte sich eine Form des Selbstverhältnisses entwickeln, innerhalb dessen das Subjekt in die Position des Beobachters seiner selbst rückt, und sich damit zugleich zum Objekt seiner Beobachtungen macht. Die Einübung des Innenblicks lässt sich auch an der Entwicklung der modernen Therapiekultur zeigen. Diese sehen Willems (1999) wie auch Castel (1987) als Biographiegenerator in der Tradition religiöser Behandlungen. Wie vormals die Beichte produziere das therapeutische Dispositiv Deutungsmuster und Reflexionsformen, die die Vorstellung jenseitigen Heils ersetzten durch die Vorstellung individueller Gesundheit oder Selbstverwirklichung (ebd.: 65). Verschiedene AutorInnen vertreten hier die These, dass infolge der Verallgemeinerung der Therapiekultur in den 1960er Jahren die Thematisierung des Selbst gegenwärtig einen vorläufigen Höhepunkt erreicht hat und sich eine „Veralltäglichung der Selbstreflexion“ (Bur124 Dementsprechend sind auch die unterschiedlichen Zugangsweisen zu der Beichte als Biographiegenerator -als effizientere Form des ‘Sündenmanagements’ wie auch als neuartige Ebene der Selbstreflexion- legitim.
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kart 2006: 13) abzeichnet. Eva Illouz spricht für die amerikanische Kultur gar von einem neuen „emotionalen Stil“125, der durch die Sprache der Therapie gekennzeichnet sei (llouz 2006: 15). Die emotionale Seite des Menschen sei nunmehr in therapeutischen Begriffen und Schematisierungen fassbar, wodurch sich ein neues Verständnis des Selbst abzeichne. Gleichzeitig lösten sich die Grenzen zwischen der Privatsphäre und der ‘emotionsfreien Sphäre’ des Öffentlichen auf, und es zeichne sich ein „emotionaler Kapitalismus“ ab, der nunmehr den ‚ganzen Menschen’ einbeziehe (ebd.: 13). Die Frage nach der Veränderung der Selbstthematisierungskultur wird insbesondere über die Popularität des Begriffes der Kommunikation wie auch über das „Narrativ der Selbstverwirklichung“, welches in eigenwilliger Weise verknüpft ist mit dem Narrativ des psychischen Leidens, beantwortet. Kommunikation oder „kommunikative Kompetenz“ steht bei Illouz vor allem für die in der Arbeitswelt seit mehreren Dekaden verstärkt eingeforderte Fähigkeit, das Gegenüber mit einer offenen und emotionalen Sprache am eigenen Innenleben teilhaben zu lassen, und auch auf Gefühlsäußerungen der anderen sensibel zu reagieren (vgl. ebd.: 33). Besonders von Führungskräften wird unter Verweis auf ihre kommunikative Kompetenz erwartet, „sich selbst „objektiv“ zu evaluieren, um so zu verstehen, wie andere einen sehen (...)“ (ebd.: 34f.). Die Selbstevaluation dient dabei einerseits der Möglichkeit der Kontrolle und Optimierung der eigenen Außendarstellung; andererseits werden die Führungskräfte zu Rollenvorbildern im Betrieb hinsichtlich ihrer Selbstreflexion. Neben der Offenheit und der Preisgabe emotionaler Inhalte ist Kommunikation aber stets gebunden an Mechanismen sozialer Anerkennung und damit weit weniger herrschaftsfrei, als sie durch den Austausch über Emotionen zunächst scheint. Illouz sieht aber zunächst eine symmetrische Dynamik hinsichtlich des Bedeutungsgewinns emotionaler Kommunikation und sozialer Anerkennung. „Kommunikation ist folglich ein kulturelles Repertoire, das Kooperation fördern, Konflikte lösen oder verhindern und das eigene Selbstverständnis stützen soll. Im gleichen Augenblick also, in dem die sozialen Interaktionen am Arbeitsplatz dem Selbst zunehmend abverlangen, seine authentische Innerlichkeit zu inszenieren (in Form von Emotionen und Bedürfnissen), etabliert der therapeutische Diskurs einen Mechanismus der sozialen Anerkennung, durch den sich das derart exponierte Selbst schützen lässt. So ist Kommunikation ein Weg, um einen Modus des sozialen Umgangs zu definieren, in dessen Rahmen ein stets zerbrechliches Selbstverständnis stabilisiert werden muss. Kommunikation definiert auf diese Weise eine neue Form der sozialen Kompetenz, in der das emotionale und linguistische Selbstmanagement darauf zielt, Muster sozialer Anerkennung zu etablieren.“ (Illouz 2006: 38)
Der „emotionale Stil“ ist für Illouz (2006: 15) „die Art und Weise, in der das emotionale Leben – seine Ätiologie und Morphologie – der Kultur des 20. Jahrhunderts zum „Anliegen“ wird und die Art und Weise, in der sie spezifische „Techniken“ entwickelt – linguistische, wissenschaftliche und interaktive-, um diese Emotionen zu verstehen und zu handhaben.“ 125
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Nun schwingt in diesen Formulierungen die Vorstellung mit, dass sich bereits die soziale Anerkennung dahingehend gewandelt habe, nahezu ausschließlich eine solche Art des emotionalen Kommunikationsstils als anerkennungswert zu bestimmen. Diese Überlegung wirkt allerdings irreführend, solange nicht die „Gegenseite“ von Illouz Überlegungen einbezogen wird: Dass nämlich die Emotionen bereits selbst „instrumenteller“ geworden sind (ebd.: 41). Illouz knüpft hier an die für die Soziologie der Emotionen populäre These eines Auseinanderfallens, eines ‚unauthentischWerdens’ von emotionaler Kommunikation und der „ursprünglichen“ Emotion an, die besonders durch die Arbeiten Hochschilds über die Kommerzialisierung der Gefühle populär wurde (Hochschild 1990).126 Rechnet man diese Manipulation der Gefühlsausdrücke ein, so wird offensichtlich, dass lediglich eine bestimmte Form emotionaler Kommunikation mit sozialer Anerkennung prämiert wird, und sich damit keine allgemeine Erweiterung der Anerkennungsspielräume einstellt. Unabhängig von der Frage einer Manipulation authentischer Gefühlskommunikation lässt sich dennoch Akzentuierung von ‘Kommunikation’ in der Arbeitswelt als eine Logik identifizieren, die allein durch den Verweis auf die zu leistende Kommunikationsarbeit Selbstthematisierungen anfacht. Noch prägnanter aber lässt sich der Boom von Selbstthematisierungen an der Verschmelzung der zwei wirkmächtigen Narrative, der Selbstverwirklichung und des Leidens, verdeutlichen. Nach Illouz konnte der neue emotionale Stil der amerikanischen Kultur sich erst im Anschluss an Freud und seine Clark Lectures entwickeln, in denen Freud die Grundzüge der Psychoanalyse schilderte (ebd.: 14).127 Die Chancen für eine breitenwirksame Anwendung der Psychoanalyse als Therapie stufte Freud aufgrund des „Übermaß(es) von neurotischem Elend“ und den geringen finanzielHochschild analysierte in ihrer Untersuchung moderne Dienstleistungsberufe hinsichtlich ihres Gefühlsmanagements und kam zu dem Schluss, dass Beschäftigte in diesen Branchen (so z.B. Flugbegleiter) beständig aufgefordert sind, sichtbar und beständig positive Gefühle zu kommunizieren, und das unabhängig von ihrer eigenen Gefühlslage. Die Coachings in diesen Bereichen zielten aber keineswegs auf die Produktion von Unauthentischem, vielmehr gehe es darum, die Gefühle der Dienstleister selbst zu verändern (vgl. Hochschild 1990). 127 Den Einfluss der Psychoanalyse auf die amerikanische Kultur beschreiben Castel und Lovell mit einem Zitat von Morton Prince, einem der entscheidenden Wegbereiter der Psychologie als akademischer Disziplin: „Die Freudsche Psychologie hat wie eine Flutwelle den Bereich der Psychologie und Psychiatrie überschwemmt, und wir sind wie Muscheln, die bei Ebbe gestrandet sind, im Sand zurückgeblieben“ (Prince 1929: 10; zitiert nach Castel/Castel/Lovell 1982: 44). Die AutorInnen nennen als Gründe für den Erfolgszug der Psychoanalyse in der amerikanischen Kultur zwei Dinge: Erstens habe „die Psychoanalyse (...) für eine interne Krise der psychiatrischen Medizin eine Lösung bereitgestellt“, und zweitens gab sie „eine Antwort auf die Krise der amerikanischen Sitten“, denn sie sei „in einem entscheidenden Moment der Transformation der amerikanischen Gesellschaft als neue Beziehungstechnologie integriert worden“ (Castel/Castel /Lovell 1982: 44ff.; Hervorh. im Orig.). 126
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len Ressourcen als äußert gering ein (Freud 1975: 248f., zit. nach Illouz 2006: 65). Darüber hinaus sei die Bereitschaft zur Therapie in den armen Bevölkerungsschichten nicht besonders ausgeprägt, da die Behandlung der Neurosen letztlich das Elend der Armen steigern würde. Illouz sieht in Freuds pessimistischer Sichtweise auf die Heilungschancen einen gewichtigen Beitrag zum Diskurs über das Selbst. Freuds Vorstellungen von den komplexen Zusammenhängen psychischer Gesundheit und den komplizierten und nicht willentlich zu beeinflussenden Logiken ihrer Heilung positioniert Illouz in Kontrast zu den im 19. und frühen 20. Jahrhundert in der amerikanischen Kultur dominanten Vorstellungen über die Selbsthilfe (Self-Help), die maßgeblich durch Samuel Smiles Buch mit gleichnamigem Titel geprägt wurden. Die Idee der Selbsthilfe fußt auf einem grundlegenden Fortschrittsoptimismus und geht von nahezu uneingeschränkten Möglichkeiten der Verwirklichung eigener Interessen aus. Wer nur will, so die nach wie vor gängige These sämtlicher Selbsthilfe-Ratgeber, könne im Leben alles erreichen. Diese überbordend optimistische Vorstellung von den Möglichkeiten der Selbstgestaltung sieht Illouz in scharfem Kontrast zu den pessimistischen Einschätzungen Freuds. Freilich: Wo es bei Smiles in erster Linie um die Möglichkeit geht, aus schlechten familiären und finanziellen Voraussetzungen dennoch durch Selbstverantwortung und Einsatzbereitschaft sozialen Erfolg zu erzielen, geht es bei Freud um die Herstellung einer gesunden Psyche. Dennoch haben sich laut Illouz genau diese beiden so unterschiedlichen und dennoch wirkkräftigen Narrative zu einem einzigen Identitätsnarrativ zusammengefügt, weshalb sie kaum mehr unterschieden werden könnten (ebd.: 68). Die Verschmelzung skizziert Illouz anschließend präziser als Einverleibung des Selbsthilfenarrativs durch das therapeutische Narrativ, wodurch das Leid, für welches es im Selbsthilfe-Narrativ keinen Raum gibt, wieder zentraler Bestandteil des neuen, zusammengefügten Narrativs wurde. Mit diesen Erläuterungen konnte bisher nur angedeutet werden, welche grundlegende Struktur die neue Sichtweise auf das Selbst hat: Die Ziele des Selbst, die im neuen Selbsthilfe-und-Therapie-Narrativ formuliert werden, sind Normalität und Selbstverwirklichung. Diese Ziele zu verfolgen setzt voraus, sich mit der Geschichte des eigenen Leidens auseinanderzusetzen. Dass wir überhaupt über eine Leidensgeschichte verfügen, ist gleichsam eine Prämisse des Selbsthilfe-und-Therapie-Narrativs, denn das Selbst erscheint hier immer als ein krankes, noch nicht normales oder unfertiges Selbst (vgl. ebd.: 84): „Das Narrativ des psychischen Leidens skizziert Biographien als Biographien, in denen das Selbst nie ganz „fertig“ ist und in denen das Leiden konstitutiv für die eigene Identität wird“ (ebd.: 83). Nun könnte gefragt werden, wie sich überhaupt ein so wirkmächtiges neues Narrativ entwickeln konnte und welche Faktoren dessen Wachstum begünstigt haben. Zu nennen wären dann sämtliche Institutionen, die von einer Selbstthematisierung als unfertiges und leidendes Selbst profitieren würden. Zugleich müsste man auf die unscharfen Konturen verweisen, über die ein solches Narrativ verfügt, wel-
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ches ebenso wie die Figur des „unternehmerischen Selbst“ als „Kraftfeld“, als ein „Regime der Subjektivierung“ verstanden werden kann (vgl. Bröckling 2007: 10). Tatsächlich ist aber nicht nur eine Ähnlichkeit in der Funktionslogik zwischen dem Narrativ der Therapie und Selbstverwirklichung und dem „unternehmerischen Selbst“ auszumachen, vielmehr bereitet das von Illouz skizzierte Narrativ ja gerade dem unternehmerischen Selbst als neuer Subjektivierungsform den Boden. Bevor diese Überlegung aber später ausgeführt wird, kann noch nach dem „Nutzen“ des neuen Narrativs für die SelbstarbeiterInnen gefragt werden. Warum, so fragt Illouz, funktioniert das therapeutische Narrativ überhaupt (Illouz 2006: 104)? Begreift man das Narrativ als Subjektivierungsregime, ist die Frage nach dem Nutzen des Narrativs für die Individuen trivial: Denn ohne sich in dem sprachlichen Gefüge dieses Narrativs zu bewegen, können die Individuen dann keine anerkennungsfähigen Formen ihrer Identität mehr entwerfen. Sie benötigen das Vokabular des Narrativs für eine gelingende Selbstthematisierung. Wenngleich die rückbindende Wirkung an das Subjektivierungsregime über die Anerkennung bei Illouz etwas zu kurz kommt, so sieht sie doch den entscheidenden Nutzen des Narrativs in der Ermöglichung einer „emotionalen Kompetenz“, die den Individuen bei ihrer Biographiegestaltung unter den Bedingungen biographischer Unsicherheit hilft: „Vielmehr eignet sich das therapeutische Modell „gut“ für den Umgang mit der flüchtigen Natur des Selbst und den sozialen Beziehungen in der späten Moderne. Es eignet sich „gut für“ das Strukturieren divergenter Biographien, es liefert eine Technologie, um Individualität mit den Institutionen zu versöhnen, in deren Rahmen sie agiert, um mit den Brüchen zurechtzukommen, die für moderne Biographien kennzeichnend sind, und, vielleicht am wichtigsten, um die Stellung des Selbst und sein Sicherheitsempfinden zu bewahren, das genau in dem Maße verletzbar geworden ist, wie das Selbst beständig inszeniert und durch andere bewertet und bestätigt wird.“ (Illouz 2006: 108)
Nun ist Illouz zuzustimmen, dass ein größerer Wortschatz im Bereich des Emotionalen und Therapeutischen wie auch ein Wissen über die Techniken der Selbstoptimierung und die Kenntnis erfolgreicher Selbstmodelle hilfreich dabei sein können, eigene Gefühle zu identifizieren und zu artikulieren und damit Selbstorientierung in der allgemeinen Unsicherheit zu stiften. Zugleich aber darf die „emotionale Kompetenz“, von der hier gesprochen wird, nicht als „Zugewinn“ in dem Sinne begriffen werden, dass sie ein mehr an Ressource in einer Kultur darstellt, die nicht ohnehin schon diese Ressource voraussetzt.128 Die „emotionale Kompetenz“ ist eben
128 Bemerkenswerterweise argumentiert Illouz hier im Gegensatz zu ihren vorherigen Ausführungen, die auch sehr stark an der These der Entfremdung von Gefühlen verhaftet sind, nun in eine umgekehrte Richtung und geht von einer Pluralisierung von emotionalen Ausdrucksmöglichkeiten aus. Wo zuvor noch die „Spaltung zwischen einem intensiven subjektiven Leben einerseits und einer zunehmenden Objektivierung der Mittel des Ausdrucks und
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keine Bereicherung, sondern Voraussetzung unserer Selbstthematisierungen in einer vom emotionalen Stil geprägten Selbstthematisierungskultur. Wir stehen, um es mit Butler zu formulieren, in einer „grundlegenden Abhängigkeit von einem Diskurs, den wir uns nicht ausgesucht haben, der jedoch paradoxerweise erst unsere Handlungsfähigkeit ermöglicht und erhält“ (Butler 2001: 8). Im Lichte dieser Logik der Subjektivation oder Subjektivierung, auf die Butler hinaus will, erscheint der emotionale Stil als komplexe Machtstruktur, innerhalb derer sich die Subjekte als emotionale Subjekte positionieren müssen. Sie wollen es aber zugleich, da erst über diesen Weg soziale Anerkennung erreichbar erscheint. Der neue emotionale Stil als Selbstthematisierungschema ist damit nicht länger durch eine Entscheidung für die These der wachsenden Entfremdung von Emotionen oder für die These gesteigerter Pluralisierungsmöglichkeiten zu begreifen, sondern kann nur dann in seiner Widersprüchlichkeit erschlossen werden, wenn man beide Aspekte, gesteigerte emotionale Ausdrucksmöglichkeit und gesteigerte Kontrolle eben als Paradoxon zusammendenkt. Die Biographiegeneratoren der christlichen Beichte und der therapeutischen Selbstthematisierungskultur sind damit als Subjektivierungsregime zu begreifen, innerhalb derer das Modell eines selbstreflexiven Subjektes, welches sich über sich selbst vergewissern will, maßgeblich geformt wurde. Sich selbst zum Gegenstand zu machen im Sinne einer Selbst-Thematisierung setzt die Fähigkeit innerer Distanznahme voraus, die durch solche Biographiegeneratoren geschult wird: Man muss sich selbst zum „Objekt“ seiner Beobachtungen machen, also den Versuch unternehmen, sich gleichsam von Außen, aus den Augen eines externen Betrachters wahrzunehmen. Illouz spricht hier treffend von einem „Meadschen Umgang mit sich“ (Illouz 2006: 35) und meint damit in Anlehnung an die Meadsche Abgrenzung von „me“ und „I“ die Fähigkeit des Abgleichs von Selbst- und Fremdbild. Entscheidend ist, dass bei diesem Prozess der inneren Distanznahme man nicht nur sich als Beobachtungsgegenstand, als Objekt, sondern im gleichen Moment sich als Subjekt, als „Selbstarbeiter“ erzeugt, der in einen Dialog zum Objekt tritt (Rosa 2002). Diese Figur des „Selbstarbeiters“ nimmt auf der Ebene des Selbstverhältnisses die Position von TherapeutInnen oder ManagerInnen ein: Gerüstet mit Interpretationsschemata und Organisationstechniken wird das Selbst als Objekt zu bestimmen versucht. Selbstthematisierung scheint dann weniger denn je auf Selbsterkenntnis oder Selbstkontrolle zu zielen, dafür aber umso mehr auf die Selbstdarstellung (vgl. Burkhart 2006: 19).129 des Austauschs von Emotionen“ kritisiert wurde, ist nun die emotionale Kompetenz gar nützlich, „um im Privaten glücklich zu werden“ (Illouz 2006: 106). 129 Was Burkart hier als Selbsterkenntnis bezeichnet, muss freilich unter dem Vorbehalt gesehen werden, dass Selbsterkenntnis als geschulter Selbstthematisierungsprozess lediglich die Dimension eines explizit-reflexiven Selbstverständnisses abdeckt. Davon zu scheiden sind die impliziten Annahmen über uns selbst, die nur partiell durch reflexive Prozesse ergründet
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3.5.2 „Arbeit“ als Biographiegenerator: Zur Selbstdarstellung In der aktuellen Selbstthematisierungskultur scheint sich mit der Verschiebung hin zur Selbstdarstellung die Funktion von Selbstthematisierungen auf den Prozess, die Performanz der „Mitteilung der Selbsterkenntnisse“ (Burkart 2006: 19) verändert zu haben: Die Selbstthematisierung dient dann nicht länger dem Zweck der Erkenntnis oder der Kontrolle, sondern allein dem Vollzug der Thematisierung, und damit der Sichtbarmachung des Selbst. So verstanden kann die Selbstdarstellung eine Reaktion auf die Angst vor wachsender Unsichtbarkeit und mangelnder Aufmerksamkeit gewertet werden (Schroer 2006: 65). Diese Angst vor Unsichtbarkeit ist dabei nicht ausschließlich das Problem einer Darstellungselite, sondern betrifft zugleich und vielleicht sogar in verstärktem Maße diejenigen, die noch elementarer von den Mechanismen der Exklusionsgesellschaft erfasst werden (ebd.). „Inszenierung“, „Dramatisierung“ oder „Theatralisierung“ (Hahn/Willems 1998; Willems 1998; Willems 2009) des Selbst sind damit die Kehrseite einer Gesellschaft, in der die Erzeugung von Aufmerksamkeit von elementarer Bedeutung für die Inklusion ist. Wendet man diese Beobachtung um in die Frage nach den aktuell wirkmächtigen Biographiegeneratoren, in die Frage also, welche Mechanismen gegenwärtige Selbstthematisierungen maßgeblich befeuern und prägen, so zeigt sich, dass das SelbstreferentiellWerden der Selbstthematisierung in direkter Verbindung steht zu den aktuellen Anforderungen an die Selbstthematisierung aus der Arbeitswelt. So sind die Fähigkeiten zur Darstellung der eigenen Person als Marke den Figuren des „unternehmerischen Selbst“ und des „Arbeitskraftunternehmers“ unmittelbar eingeschrieben. Die Darstellungskompetenzen werden für die aktive Vermarktung der eigenen Arbeit notwendig; es entsteht also nach Voß und Pongratz eine „individuelle Marktökonomie“ (Voß/Pongratz 1998: 142f.), weil das Arbeitsvermögen nicht länger passiv abgerufen, sondern aktiv beworben werden muss. Selbst-Marketing versteht sich dabei als elementarer Bestandteil des Selbstmanagements, und auch die Nutzung von Emotionen gehört zur geforderten Darstellungskompetenz. Warum die Anforderung an Selbstdarstellung überhaupt den Bereich der Selbstthematisierungen dermaßen erobern konnte, ist auf die abnehmende Trennung zwischen der Sphäre der Arbeit und der Lebenswelt, die wachsende Subjektivierung der Arbeit und Entgrenzung zurückzuführen. Sowohl in der These der „Ökonomisierung von Subjektivität“ bzw. der „Ökonomisierung der Lebensführung“ wie auch in derjenigen These über das Instrumentell-Werden von Emotionen (Hochschild 1983; Illouz 2006; Neckel 2005) werden die Effizienzkriterien der Ökonomie nunmehr auch als Gestaltungsrichtlinie für gelingende Subjektformen herangezowerden können und dem expliziten Selbstverständnis immer vorgängig sind. (vgl. Rosa 2002; Butler 2001).
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gen. Weil nicht nur die Lebenswelt für die Arbeit als Bereich erweiterter Landnahme dient, sondern zugleich die Arbeit mit Selbstverwirklichungspotenzialen und damit mit subjektivem Sinn aufgeladen wird, verschränkt sich die Person auf eine intensivere Weise mit ihrer Arbeitskraft. Die These eines Relevanzgewinns beruflicher Aspekte für die biographische Selbstthematisierung findet sich bei Silvia Krömmelbein formuliert als These einer „abnehmenden Rollendistanz“ (2005: 183). Krömmelbein folgt in ihrer Argumentation der These der Subjektivierung der Arbeit und sieht in der Zunahme von horizontaler Kommunikation in der Arbeit einen Grund dafür, „dass die soziale Rolle als unmittelbarer Ausdruck der eigenen Persönlichkeit wahrgenommen und artikuliert wird“ (Krömmelbein 2005: 195). In subjektivierten Arbeitswelten mit vergrößerten Selbststeuerungsanforderungen sei kooperatives Handeln und „Schnittstellenkommunikation“ nicht länger nur von Führungskräften gefordert, sondern zähle zum normalen Aufgabenspektrum der subjektiviert Arbeitenden (vgl. ebd.: 191). Bereits durch den erhöhten Bedarf an Kommunikation im betrieblichen Ablauf erhielten die sozialen und identitätsrelevanten Aspekte, die mit Kommunikation immer einhergehen, in der Arbeitswelt einen erweiterten Ort der Durchsetzung.130 Damit würde die „Ich-Identität stärker an die berufliche Rolle (gebunden)“ (ebd.: 195) und somit Arbeitswelt zu einem, wenn nicht dem zentralen Ort der Aushandlung von Identität: „So trägt der kommunikative Wandel dazu bei, dass die Selbst- und Lebensentwürfe der Subjekte durch die Arbeitswelt geformt und zugleich als Ausdruck individueller Verwirklichung behauptet werden“ (ebd.: 195). Krömmelbein zeichnet hier eine ähnliche Paradoxie nach, wie sie bereits oben am Beispiel des therapeutischen Narrativs aufgezeigt wurde: Weil immer auch durch die Hereinnahme von Kommunikation in die Arbeitswelt mehr subjektive Eigenschaften für die Arbeit relevant werden, löst sich die Trennung zwischen Arbeit und Subjektivität mehr und mehr auf, und die Kriterien der Arbeit werden für die Subjekte identitätsrelevanter. Ähnliche Überlegungen zu den Auflösungserscheinungen der Trennung zwischen der Arbeit und dem Privaten finden sich auch bei Boltanski und Chiapello dort, wo die AutorInnen den Wandel der menschlichen Beziehungen unter den Bedingungen des Netzkapitalismus nachzeichnen (Boltanski/Chiapello 2003:
Die Arbeitswelt als (zusätzlicher) Ort des kommunikativen Austausches ist für Krömmelbein nicht nur Ort beruflicher Sozialisation, sondern Ort der Sozialisation an sich. Die sich auf die Sozialisation auswirkende Arbeitskommunikation kann dabei einmal gleichberechtigte Kommunikation sein; darüber hinaus aber kann sie auch Kommunikation auf der Basis sozialer Rollen sein. Gerade in dieser zweiten Form der Arbeitskommunikation sind somit hierarchische Differenzen eingeschlossen, die dann wiederum identitätsrelevant sind (vgl. ebd.: 187). 130
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493ff.).131 Nicht länger könne in der Netzwerkökonomie „zwischen uneigennützigen Beziehungen, die bisher allgemein dem persönlichen Gefühlsleben zugeordnet wurden, und Berufsbeziehungen, die durchaus interessengeleitet sein konnten, unterschieden“ werden (ebd.: 493). Dieser Verlust der Differenzierungsfähigkeit resultiert den AutorInnen zufolge aus der Gleichzeitigkeit der Sorge um die Arbeitsmarktintegration und dem Wissen, dass in der Netzwerkgesellschaft potenziell jeder private oder berufliche Kontakt eine mögliche Anschlussstelle für ein neues Projekt sein könnte: „Wenn alle Kontakte, unabhängig davon, wie sie zustande gekommen sind, zur Arbeitsplatzsuche oder zur Projektbildung genutzt werden können, werden die unterschiedlichen Lebenssphären in einem Netz uniformiert, das allein auf Aktivitäten zur Sicherung des wirtschaftlichen Fortbestandes der Menschen ausgerichtet ist.“ (Boltanski/Chiapello 2003: 471)
Innerhalb dieses uniformierten Netzes sei die Beziehungsherstellung zudem nur in einer Weise möglich, die gewöhnlich Freundschaftsbeziehungen charakterisiert: Da es keine standardisierten Kontaktpfade innerhalb der „projektbasierten Polis“132 mehr gäbe, müssten sich die Kontaktpartner über „Sympathie, gemeinsame Vorlieben, Interessen oder Neigungen“ zusammenfinden, die dann ein Mindestmaß an notwendigem Vertrauen als Basis der Austauschbeziehung liefern (ebd.: 493). Zwar ist das Streben nach Profit nach wie vor der Ausgangspunkt des Kontakts, nichtsdestoweniger überschreitet seine praktische Ausgestaltung allzu häufig die Grenzen vormalig gängiger Arbeitskontakte. Das führt die Individuen in die verwirrende Position, den Gehalt von Kontaktbemühungen selbst kaum mehr einschätzen zu können: Ist man nun als Mensch oder als Kontaktperson angesprochen? Boltanski und Chiapello sehen in dieser fehlenden Abgrenzung zwischen der beruflichen und privaten Sphäre die Auflösung von Rollenvielfalt (ebd.: 473) und beschreiben damit, ähnlich wie Krömmelbein mit ihrer These der „abnehmenden Rollendistanz“, die Die Plausibilität der Kontaktlogik im Netz erschließt sich auch dann, wenn man nicht wie Boltanski und Chiapello (2003) von der Existenz einer neuen Rechtfertigungsordnung und eines „neuen Wertesystem(s)“ ausgeht (ebd.: 149). Zur Diskussion der „Projektpolis“ vgl. Kocyba/Voswinkel 2008; Wagner 2007. 132 Unter der „projektbasierten Polis“ verstehen Boltanski und Chiapello die Rechtfertigungsordnung (polis) der Netzwerkökonomie (2003: 147ff.). Die AutorInnen gehen davon aus, dass zur Sicherung seiner Funktionsfähigkeit der Kapitalismus immer auf die Einbettung in Rechtfertigungsordnungen angewiesen sei. Die „Projektpolis“ leistet diese Einbettung der Netzwerkökonomie, da das Netz selbst aufgrund seiner schwachen Integrationsleistung nicht als Ort der Durchsetzung von Gerechtigkeitsvorstellungen oder Werten fungieren kann. Das Projekt als „ein Teilbereich des Netzwerkes in hohem Aktivitätsstatus, Hervorh. im Orig.“ (ebd.: 149) dagegen könne als Träger der Rechtfertigungsordnung dienen, da das Projekt zumindest temporäre Bindungen zulasse. 131
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zunehmende Tendenz, Individuen auf die in der Arbeit angesprochenen Identitätsaspekte herunterzukürzen. Sofern die Individuen in dieser Kontaktlogik, die einer permanenten Bewerbungssituation gleicht, noch als attraktive NetzpartnerInnen erscheinen wollen, kommen sie nicht umhin, ihren Wert durch den Ausweis ihrer Erfolge zu betonen. „So entstehen aufgrund des neuen Leitbildes von „Selbständigkeit“, des „Arbeitskraftunternehmers“ neue kommunikative Anforderungen an die Selbstvermarktung und Selbstpräsentation der Subjekte als erforderliche Marketingstrategie beruflichen Erfolgs und erhöhen damit den Zwang, die Fähigkeiten einer erfolgreichen Persönlichkeit zu kommunizieren. Eine Leistung, die von jemandem erbracht wird, oder eine Qualifikation, die sich jemand erworben hat, muss in der Selbstdarstellung verdoppelt werden in den Beitrag und in die Persönlichkeit, die diesen Beitrag ermöglicht hat. Es findet eine Verschiebung der Selbstpräsentation von bestimmten Leistungen oder Fähigkeiten hin zur Erfolgsfähigkeit statt. Diese bezieht sich auf die Inszenierung einer Persönlichkeit, die sich durchsetzen kann, die über Ressourcen verfügt, die sie berechtigen und qualifizieren, Erfolg zu haben und auf persönliche Aspekte, mit denen diese Ressourcen und ihr „Einsatz“ gemanagt werden. Die Selbstpräsentation der eigenen Persönlichkeit als „erfolgsfähig“ impliziert somit zugleich die Darstellung externer Anforderungen als dem eigenen Selbst gemäß.“ (Krömmelbein 2005: 195f.)
Das Kriterium der Erfolgsfähigkeit133 erscheint damit als bereichsübergreifendes, allgemeines Ziel der Selbstdarstellung. Nicht einzelne Leistungen müssen dargestellt werden, sondern die grundlegende Fähigkeit zu Leistung und Erfolg, die bereits in der Persönlichkeit angelegt ist. Ein solches Verständnis von Erfolgsfähigkeit geht damit über die „symbolische Kompetenzdarstellungskompetenz“ als „dramaturgische(n) Inszenierung(en) der eigenen Professionalität“, wie sie beispielsweise Suchanek und Hölscher (2009: 600) im Sinn haben, hinaus. Unter den Vorzeichen einer verallgemeinerten, permanenten Bewerbungssituation, die besonders bei Boltanksi und Chiapello skizziert wird, sind zwar Fähigkeiten der „Darstellung seines Bündels an sozialem Kapital, bzw. die Kompetenz, soziales Kapital anzuwerben“ (Suchanek/Hölscher 2009: 603) notwendig, aber nicht hinreichend. In dem von Krömmelbein skizzierten Kriterium der Erfolgsfähigkeit laufen Momente objektiven und subjektiven Erfolges zusammen: Objektiver und damit wirtschaftlicher Karriereerfolg hängt in subjektivierten Arbeitswelten, wie Krömmelbein nachzeichnet, an der Fähigkeit, die Erfolgsorientierung als inneres Bedürfnis und eigenes Identitätsziel auszuweisen. Sich als erfolgreich oder erfolgsorientiert Der Begriff der Erfolgsfähigkeit kann als modernes Äquivalent des von Gustav Ichheiser genutzten Begriffs der „Erfolgstüchtigkeit“ aufgefasst werden (vgl. Ichheiser 1930, zitiert nach Neckel 2008: 74). Ichheiser meint damit die Fähigkeit der „Durchsetzung der Leistung und zuletzt der eigenen Persönlichkeit“ (ebd.: 74), und damit die Kompetenz, eigene Leistungen als besondere Erfolge auszuweisen und gleichzeitig die erzielten Erfolge auf die eigene Leistungsfähigkeit zurückzuführen. 133
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darzustellen, zu plausibilisieren, ist damit bereits ein wesentlicher Bestandteil des Erfolges selbst. Diese Überlegung führt auch Rosa mit Bezug auf die Wettbewerbsfähigkeit aus: „Die Individuen sind gezwungen, als liebens- und vertrauenswürdig, als kenntnisreich, kultiviert und leistungsbereit (oder kurz: als wettbewerbsfähig) zu erscheinen; und (...) sie sind genau dann am erfolgreichsten, wenn sie all dies tatsächlich sind, d.h. wenn sie jene Eigenschaften in der Tat verinnerlicht haben.“ (Rosa 2006: 90f.).
Bröckling spitzt diesen Gedanken noch zu, indem er nicht nur ein mehr an Erfolg durch die Verinnerlichung erwartet, sondern sie als genuines Gelingenskriterium ausweist, da „als bloßes Rollenspiel (...) das Selbstmarketing seine Wirkung verfehlen“ würde: „der Einzelne muss sein, was er darstellen will“ (Bröckling 2007: 72). Eine authentische Internalisierung der Spielregeln der Erfolgskultur (Neckel 2008) oder des Wettbewerbs als Interaktionsmodus (Rosa 2006) avanciert damit zum zentralen Kriterium der Erfolgsfähigkeit. Die gegenwärtige Selbstthematisierungskultur ist damit, so kann resümiert werden, maßgeblich geprägt durch die Anforderung, sich als erfolgsfähig darzustellen, und damit auch erfolgsfähig zu sein. Was damit schwindet, ist die Distanz zur beruflichen Rolle; was also wächst, ist Rollenkonformität. Das Subjekt als „Rollengestalter“ und „Rollengestalter“ (Krömmelbein 2005: 194; Hervorh. im Orig.) wird somit besonders auf die Aufgabe des Rollengestaltens festgelegt, da die ursprünglich individuell angelegte Gestaltung nunmehr Teil der Anforderung an die Rollengestaltung selbst ist. Krömmelbein sieht in der Tatsache, dass „die eigenständige Definition und Gestaltung von Rollen (...) keine Differenz mehr (...) zu den institutionalisierten Handlungsverpflichtungen“ markiert, die Gefahr angelegt, dass dadurch die „Entwicklung einer autonomen Ich-Identität“ behindert wird (ebd.: 194). So liegt in dem beständigen Nachweis von Erfolgsfähigkeit die Gefahr, nicht länger autonome Ziele erfolgreich durchzusetzen, sondern schlussendlich diese Ziele zugunsten des Erhalts der Wettbewerbsfähigkeit aus den Augen zu verlieren (vgl. Rosa 2006: 101). Erfolg und Erfolgsfähigkeit werden damit zum Selbstzweck. Wenn die Logiken der Ökonomie also unter den Bedingungen der Entgrenzung von Arbeit und Leben Einzug erhalten in die Sphäre der Selbstthematisierung, avanciert die authentische Selbstdarstellung der eigenen Erfolgsfähigkeit zur einzig legitimen, und damit inklusionssichernden Selbstpräsentation. Damit wird, und das ist eben das entscheidende Kennzeichen der Erfolgskultur, der Nachweis von Erfolgsfähigkeit in der Biographie als Beleg der erfolgsfähigen Persönlichkeit gefordert, wie er zugleich im Lichte der Möglichkeit von Inklusion für die Individuen als wünschenswert erscheint.
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3.6 Die Ökonomisierung der Biographie Sofern die Kriterien der Ökonomie mehr und mehr auch im Bereich der Subjektformen Geltung beanspruchen, verändert sich das Identitätsziel dahingehend, dass nunmehr der „Erfolg“ der zentrale Fluchtpunkt von Selbstthematisierungsbemühungen wird. Das zentrale Gelingenskriterium berufsbiographischer Skripte, der Erfolg, gewinnt damit an Relevanz für die Biographiegestaltung im Ganzen. Man kann diesen Prozess der Veränderung der Relevanzkriterien biographischer Selbstthematisierung auch als Ökonomisierung der Biographie bezeichnen. Die These der Ökonomisierung der Biographie schließt damit nahtlos an die zahlreichen Ausgestaltungen der These der „Ökonomisierung von Subjektivität“ an; sie ist gewissermaßen als Konsequenz oder auch Subkategorie der allgemeineren Ökonomisierungsthese zu denken, die sich auf „alle Aspekte des Lebens – Gesundheit, Aussehen, Kleidung, Fitness, Bildung, Kenntnisse, Fertigkeiten, Beziehungen usw.“ (Rosa 2009b: 119) und damit insbesondere auf die Ebene der alltäglichen Lebensführung bezieht. Sie behandelt die Ökonomisierungsproblematik auf der diachronen Ebene. Meint die These der „Ökonomisierung von Subjektivität“, dass mehr und mehr Eigenschaften der Subjekte ökonomisch verwertet werden und sich die Lebensführung entlang von Wettbewerbslogiken ausrichtet, so legt die These der Ökonomisierung der Biographie den Akzent auf der Veränderung der Biographiekonstruktionen: Selbst das Gewordensein zwischen Lebensverlauf und erzählender Vergegenwärtigung muss nun als Beleg von Erfolgsfähigkeit dienen; die Biographie muss, zugespitzt formuliert, die Gestalt einer Geschichte annehmen, die als Basis oder Anschlussstelle einer Erfolgsgeschichte dienen kann. Selbstdarstellungen in Form von Selbsterzählungen, die den zeitlichen Horizont des Gewordenseins und Werden-Sollens einschließen, sind nunmehr die erweiterte „Angriffsfläche“ für ökonomische Gestaltungsansprüche. Mit der Rede von der Biographie wird damit neben dem bereits ausgeführten Aspekt der performativen Dimension vor allem die zeitliche Dimension der Selbstarbeit in den Fokus gerückt. Zweifelsohne sind für die Selbstdarstellung der Erfolgsfähigkeit, beispielsweise in Bewerbungssituationen, gerade die Fähigkeiten von Relevanz, die in der aktuellen Situation unmittelbar abgerufen werden können: Kommunikative Kompetenz, fachliche Kompetenz, und das visuelle Erscheinungsbild prägen bekanntermaßen den ‘ersten Eindruck’. Zudem gehört aber zu der Fähigkeit, sich selbst als erfolgreich auszuweisen, die kompetente Nutzung der Lebensgeschichte, über die die eigene Besonderheit herausgestrichen werden kann. Der Spagat, der freilich hier zu leisten ist, besteht darin, innerhalb kürzester Zeit sowohl Flexibilität und Anpassungsbereitschaft wie auch Charakter, „Rückgrat“ und Entscheidungsfähigkeit zu präsentieren. Boltanski und Chiapello (2003: 494ff.) deuten diesen Spagat als Spannung zwischen der „Flexibilitätsnorm“ bzw. der „Anpassungs- und Mobilitätsnorm“ und der „Authentizitätsnorm“.
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Einerseits seien Netze in ihrer Fokussierung auf die Beziehungen zwischen Elementen blind für die Betonung von Differenz und ein authentisches Selbst insofern anachronistisch. Andererseits zählten aber gerade Offenheit und Zuverlässigkeit zu wichtigen Eigenschaften eines Netzpartners, und in diesen Kompetenzen sehen Boltanski und Chiapello eine Referenz an die Authentizitätsnorm (ebd.: 495). Zudem bestehe in Netzwerken immer die Gefahr, gar nicht wahrgenommen zu werden, sodass die Erzeugung von Aufmerksamkeit zum unhintergehbaren Kriterium erfolgreicher Netzwerkarbeit wird: „Wenn der Netzwerkmensch mit anderen in Kontakt bleiben möchte, muss er etwas zu bieten haben, gerade wenn die anderen einem entfernten Universum angehören. Insofern er in seiner Person, in seiner Persönlichkeit ‘Etwas’ besitzt, das sie interessieren und anziehen könnte, kann er ihre Aufmerksamkeit gewinnen und von ihnen Informationen oder Unterstützung erhalten. Dazu muss er jedoch Individualität besitzen, d.h. Elemente mit sich führen, die ihrer Welt fremd sind und in einzigartiger Weise mit ihm identifiziert werden.“ (ebd.: 500)
Auch jenseits der Sphäre des „Netzwerkkapitalismus“ würde die Spannung zwischen den Normen der Flexibilität und der Authentizität bestehen; es gelte also immer die Anforderung, „polyvalent“ zu sein (ebd.: 500). Nun ist aber ein solcher Authentizitätsbegriff insofern problematisch, als Authentizität unmittelbar verquickt damit ist, ‘etwas interessantes’ in seiner Persönlichkeit vorweisen zu können. Damit wird eine bestimmte Form Authentizität gefordert, die nicht auf die wahren Interessen oder Neigungen der authentisch sein sollenden Person zielt, sondern auf die Interessen des je Anderen. Dies gleicht der häufig in Personalrekrutierungssituationen angetroffenen Forderung nach Authentizität, die lediglich darauf zielt, dass das ‘performt’ wird, was PersonalerInnen unter Authentizität verstehen. Was bedeutet nun eine solch paradoxale Forderung nach Authentizität für die Biographie? Zunächst sind die biographischen Selbstthematisierungen ein wichtiger Ort, an dem überhaupt so etwas wie Authentizität bemessen werden kann: Die Selbstthematisierungen müssen im Sinne der Authentizitätsforderung über ein Mindestmaß an Kohärenz verfügen, die Selbsterzählungen dürfen also nicht ein allzu plurales und nicht mehr greifbares Bild der Persönlichkeit konstruieren, da ansonsten die geforderte Zuverlässigkeit in Frage gestellt ist. Zugleich müssen die biographischen Selbstthematisierungen so vielfältig sein, dass für die heterogenen Erwartungen möglicher Netzpartner Anschlussstellen gefunden werden können. ‘Geschlossenheit’ und ‘Offenheit’ der biographischen Erzählung werden also gleichermaßen gefordert, und das nicht nur für die retrospektive Dimension, sondern ebenfalls für die prospektive Dimension der Lebensplanung. Bemerkenswert ist, dass die heterogenen Forderungen von Authentizität hier bereits als widersprüchlich erscheinen, ohne dass die Frage nach der Bedeutung einer authentischen Selbsterzählung für das Individuum überhaupt aufgeworfen ist. Die bisherigen Ausführun-
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gen verdeutlichen, dass die Einforderung von Authentizität, wie sie charakteristisch für die Netzwerkökonomie ist, nicht weniger paradox ist als die ermunternde Aufforderung, spontan zu sein. Neben den paradoxalen Anforderungen der Netzwerkökonomie an die Authentizität darf nicht aus dem Blick geraten, welche Bedeutung die Authentizität für die subjektive Wahrnehmung der Stimmigkeit der eigenen biographischen Selbstthematisierung hat. Bevor aber diese Problematik oder Gefahr des Inauthentisch-Werdens später beleuchtet wird, soll zunächst auf die Zeitlogik des neuen Thematisierungsmusters eingegangen werden. 3.6.1 Permanentes Umschreiben: Zur Zeitlogik der ökonomisierten Biographie Der Anforderung des Nachweises von Erfolgsfähigkeit, wie sie eben mit Krömmelbein und Boltanski und Chiapello nachgezeichnet wurde, können die Individuen nur dann gerecht werden, wenn sie auf eine längerfristige Orientierung zugunsten einer flexiblen Anpassbarkeit ihrer Biographie verzichten: „Das Problem besteht darin, dass auf Basis stets wechselnder Anforderungen und abnehmender Planbarkeit der eigenen Berufsbiographie die Stimmigkeit des Zusammenfallens von Selbst und beruflichen Rollen stets aufs neue konstruiert werden muss. Diese Konstruktionen können keinem biographischen Selbst- und Lebensentwurf folgen, der von beständigen Entwertungen bedroht ist, sondern verselbständigen sich in der Form. Sie werden abstrakter und prinzipieller, weil sie keinen bestimmten arbeits- oder lebensweltlichen Entwurf, sondern die Geltung des Selbst zum Inhalt haben.“ (Krömmelbein 2005: 196).
Der Abgleich von beruflicher Rolle und individueller Rollengestaltung muss permanent erfolgen, da erstere keine Konstanz aufweist, sondern selbst durch Marktmechanismen bestimmt ist und somit einer beständigen Veränderung unterliegt. Durch diese Unvorhersehbarkeit berufsbezogener Erwartungen werden die Individuen auf die permanente Reorganisation der Ausgestaltung ihrer Rolle zurückgeworfen. Zur gelungenen Aktualisierung von Erfolgsfähigkeit zählt zudem, dass in regelmäßigen Abständen greifbare Erfolge die Fähigkeit zum Erfolg verdeutlichen müssen: „Die Erfolge von gestern zählen bei der Positionierung im sozialen Wettbewerb in dem Maße immer weniger, in dem der soziale Wandel sich beschleunigt“, formuliert Rosa (2006: 98), und Bröckling spitzt diese Überlegung zu: „Anders als das traditionelle Disziplinarsubjekt, das niemals aufhört anzufangen, wird der Unternehmer in eigener Sache nie mit irgendetwas fertig. Permanente Weiterbildung, lebenslanges Lernen, persönliches Wachstum – die Selbstoptimierungsimperative implizieren die Nötigung zur kontinuierlichen Selbstverbesserung. Angetrieben wird dieser Zwang zur Selbstüberbietung vom Mechanismus der Konkurrenz. Weil jeder seine Position stets nur für den Moment und in Relation zu seinen Mitbewerbern behaupten kann,
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darf niemand sich auf dem einmal Erreichten ausruhen. Das Erfolgsrezept von heute ist morgen schon der sichere Weg in die Pleite.“ (Bröckling 2007: 71f.)
Die Bemühungen, sich und seine Leistungen als erfolgreich auszuweisen und auch neue Markterfolge vorzuweisen, dürfen unter dem Druck einer dermaßen veränderten Selbstthematisierungskultur also zu keinem Zeitpunkt zurückgeschraubt werden; andernfalls droht der Verlust sozialer Anerkennung. Der permanente Nachweis von Erfolgsfähigkeit lässt somit auch lediglich bestimmte Vorstellungen von Zeitlichkeit zu: Zukunft muss immer offen gehalten werden; eine Vorwegnahme ist durch permanente Veränderungen nicht möglich. Die Gegenwart ist damit nicht länger der Punkt, an dem eine „bestimmte Vergangenheit“ (Brose et al. 1993: 54) hergestellt und daraus eine planbare Zukunft entworfen wird. Vielmehr entsteht durch die Anforderung der Planung des Unplanbaren die Wahrnehmung einer Ausdehnung oder Erweiterung der Gegenwart.134 In dieser gedehnten Gegenwart bleibt die Vergangenheit der beständigen Neuformatierung ausgesetzt, sie bleibt unbestimmt und weist somit keine Richtung mehr auf. Dies scheint zunächst keine qualitative Änderung zu dem üblichen Verständnis der Plastizität von Erinnerungen zu sein; Vergangenheit ist immer auf Gegenwart bezogen und wird von ihr aus retrospektiv-reflexiv entworfen. Der Unterschied zu diesem allgemeinen Verständnis der Zeitwahrnehmung und der Vorstellung des Zugriffs auf Vergangenheit besteht nun darin, dass nicht aus einer stabilen Gegenwart und mit Blick auf eine antizipierte Zukunft die Vergangenheit entworfen wird. Vielmehr wird die Vergangenheit aus einer zerdehnten und fragilen Gegenwart und mit Blick auf die Unplanbarkeiten der Zukunft als multioptional anschlussfähig konstruiert. Die Vorstellung des Lebens als Linie, die auf ein biographisches Ziel ausgerichtet ist, wird damit obsolet. Die Sichtweise, die sich somit auf die Wahrnehmung der Zukunft ergibt, kann mit Weidenhaus (2008) als „blasenhaft“ bezeichnet werden: In diesem Modus der Biographisierung stehen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nebeneinander; die Zukunft wird in Form von Projekten entworfen, die nicht unmittelbar an die bisherige Lebensgeschichte anschließen. Bröckling (2007: 251) betrachtet im Anschluss an Luhmann Projekte als „zeitlimitierende Ordnungen“, die einen Anfang und ein Ende markieren, jedoch nicht funktionsfähig sind, ohne in eine andere (Zeit-)Ordnung integriert zu sein: Ein Projekt kann also nur gestartet werden, wenn seine Erfolgschancen zuvor und damit jenseits der ‘ProjektDie „gedehnte Gegenwart“ steht freilich nicht Konflikt mit der These der Gegenwartschrumpfung, wie sie sich bei Rosa findet. Vielmehr ist je ein unterschiedliches Verständnis von Gegenwart angesprochen: Bei der These der Gegenwartsschrumpfung geht es um „die generelle Abnahme der Zeitdauer, für die Erwartungssicherheit hinsichtlich der Stabilität von Handlungsbedingungen herrscht“ (Rosa 2005: 184), und damit nicht um die individuelle Zeitwahrnehmung, sondern um die Wahrnehmung sozialer Zeitrhythmen. 134
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zeit’ evaluiert sind. Bezieht man diese Überlegungen nun auf die blasenhafte Biographisierungsleistung, werden schnell die Probleme einer solch entkoppelten Zeitlogik sichtbar: Ohne Referenzzeit, die ein Mindestmaß an Kontinuität gewährleisten kann, kann ein solcher Biographisierungsmodus nicht gelingen. Diese Spannung mündet in das Problem, dass selbst oder gerade für das Jonglieren in Diskontinuität Kontinuität und Langfristigkeit Voraussetzungen sind (Bröckling 2007: 264). Die vom Gewordensein entkoppelte Vorstellung der Zukunft als Projekt vermag so zwar eine denkbare, aber eben kaum praktikable Zeitvorstellung und Biographisierungslogik moderner Subjekte sein. In einer solchermaßen entkoppelten Zeitlogik, in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft unvermittelt nebeneinander stehen, ist eine teleologische Ausrichtung hin auf Selbstverwirklichung oder -entfaltung nicht länger möglich (Brose et al. 1993). Entwicklungsgeschichten, wie sie oben beschrieben wurden, werden damit problematisch, wohingegen solche Erzählweisen, die eine „endlose Entwicklung“ (Wohlrab-Sahr 2002: 14) aufzeigen bzw. den Mythos des permanenten Neuanfangs aufgreifen (Haubl 2004), möglich werden: Die Entwicklung steuert dann nicht in eine Richtung, sondern es kommt zu einem Verharren in permanenter Umwälzung. Die treibende Kraft des beständigen Re-Arrangierens bleibt dabei das Bestreben, die Fähigkeit zum Erfolg ausweisen zu können. Das Erzählschema, welches nun an die Stelle der Entwicklungsgeschichte tritt, scheint dasjenige der Erfolgsgeschichte zu sein. Neckel (2008: 111) spricht von modernen „success storys“, mittels derer die eigene Erfolgsfähigkeit narrativ präsentiert wird: „Dem Erzählmuster des volkstümlichen Märchens gleich, beginnt eine solche Biographie des Erfolgs am besten im tiefsten Elend, um von dort aus auf dem Weg nach oben alle Wendungen des Schicksals zu nehmen“. Ebenso wie die großen brands heutzutage ohne eine erzählte Unternehmensgeschichte kaum auskommen135, kommt auch die Marke Ich nicht ohne die eigene Erfolgsgeschichte aus. Dieser Trend zur eigenen Erfolgsgeschichte zeigt sich besonders in der Popkultur136 wie auch in autobiographischen Darstellungen der Celebrities von Boris Becker bis Dieter Bohlen.137 So finden sich auf den Seiten der Adidas-Group oder auf den Seiten von Porsche ausgeschmückte Unternehmensgeschichten. 136 Dass solche Erfolgsstorys tatsächlich dem Erfolg dienlich sind, zeigt sich in zahlreichen Biographien oder auch autobiographisch genährten Filmen wie 8 Mile von Eminem oder Get Rich or Die Tryin von 50 Cent. Aber nicht nur in der Hip-Hop Kultur genießt die Erzählung der Erfolgsgeschichte, die bei den amerikanischen Rappern gerne im Ghetto und bei ihren deutschen Kollegen dann Bochum Wattenscheid oder in Berlin Tempelhof beginnt, eine außerordentliche Popularität. Auch das Format Deutschland sucht den Superstar sucht bereits während der Castings nicht nur nach vermeintlichen Gesangstalenten, sondern auch immer nach Menschen mit einer problembehafteten Vorgeschichte, die der optimale Nährboden für die spätere Erfolgsgeschichte ist. 137 Zur Deutung der Bohlen-Biographie siehe Alheit (2008). 135
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Was für Celebrities und Fernsehformate gilt, lässt sich freilich nur in abgewandelter Form auf die Realitäten der Arbeitswelt übertragen. Hier werden die Darstellungsund Inszenierungskünste besonders in Situationen der Personalentscheidung relevant. Wie soeben anhand der Ausführungen von Boltanski und Chiapello gezeigt wurde, zeichnet sich eine Erfolgsgeschichte moderner ArbeitnehmerInnen eher dadurch aus, dass sie vielfältig anschlussfähig und zugleich bestimmt ist, und sich Erfolgsfähigkeit in allen Lebensbereichen und -phasen ausweisen lässt. Eine solchermaßen für den Ausweis von Erfolgsfähigkeit verwendete Biographie könnte mit Corsten als instrumentelle Nutzung der Lebensgeschichte, als „Beschreibung des Lebens zur Realisierung außerbiographischer Ziele oder Funktionen“ (Corsten 1994: 201) gedeutet werden. Im Zentrum einer solchen Selbstthematisierung steht dann eben nicht die bloße „Inszenierung von Leben“ (ebd.), deren Zweck selbstbezüglich ist, sondern eben die Inszenierung eines erfolgsfähigen Lebens. Dass eine solchermaßen instrumentelle Nutzung der Biographie hochgradig virtuell ist, sieht auch Luhmann (1993: 251), der von einer „notfalls fingierte(n), oder doch ergänzte(n) Biographie“ spricht, die das Individuum benötigt. Der andauernde Zwang zur Selbstinszenierung und die Auffassung von sich als „Selbstarbeiter“, dessen Arbeit am Projekt der Selbstverwirklichung keine Grenzen kennt, und der die Lebensgeschichte instrumentalisiert, können als deutliche Belege einer zunehmenden Verschränkung biographischer und berufsbiographischer Skripte gelesen werden: Erfolg als Referenzkriterium des Karriereskripts wird damit gleichsam zum zentralen Bezugsprinzip des aktuellen Biographiemusters. Der Einfluss von Vorstellungen eines ‘guten Lebens’ innerhalb biographischer Skripte hat sich nun durch die Ausweitung der Erfolgskriterien reduziert, was als Beleg einer weiteren Durchsetzung der Erfolgskultur gedeutet werden kann (Neckel 2008). Die moderne Erfolgskultur, wie sie besonders von Neckel (2008) und von Rosa (2006) als Konkurrenzgesellschaft nachgezeichnet wurde, schlägt sich so selbst im Umgang mit der Biographie nieder. Kennzeichen der Erfolgskultur ist, dass Erfolg sich nicht länger auf die „Verwirklichung von autonomen Zielen“ (Rosa 2006: 101) bezieht, sondern der Erfolg zum Selbstzweck wird. Für die hier ausgeführte These der Ökonomisierung der Biographie ist entscheidend, dass die Aktualisierung der neuen Relevanzkriterien immer durch die Subjekte erfolgt, und damit die Ökonomisierungsthese nicht als einseitige Besiedelung oder Grenzverschiebung zugunsten einer erweiterten Marktsphäre gelesen werden darf. Die Subjekte erscheinen vielmehr als „reflexive Mitspieler“ (Neckel 2008; 2005), sie aktualisieren in ihrer alltäglichen Lebensführung und im gemeinsamen doing biography permanent die neuen Erfolgsprinzipien.138 Anzeichen für die eigene Aktualisierung der Erfolgslogik wie auch für die Wahrnehmung der neuen Wertschätzung des Erfolges finden sich in medialen Auseinandersetzungen über den Stellenwert von Erfolg. So antwortete jüngst Charlotte Roche auf die Frage des
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3.6.2 Authentizitätsverlust und biographische Unsicherheit Der soeben beschriebene instrumentelle Umgang mit der Biographie, in dem die Biographie herangezogen wird, um ‘äußere’ Ziele zu verwirklichen, beinhaltet die Gefahr, dass ‘innere Ziele’ wie die authentische Selbstthematisierung nicht länger in der Biographie realisiert werden. Das daraus resultierende Gefühl ist als Verlust der Autorenschaft der eigenen Lebensgeschichte, als biographischer Drift (Sennett 1998) oder als „biographische Entleerung“ (Krömmelbein 2005) beschrieben worden. Insbesondere von postmodernen Ansätzen139 ist diese skeptische Deutung kritisiert worden, da sie auf ein unzeitgemäßes Verständnis von Identität, Biographie und Subjektivität rekurriere. Kritisiert wird eine Vorstellung von Subjektivität, die am „starken Subjekt“ verhaftet sei. Dieser Kritik schließen sich auch Diagnosen aus dem Umfeld der reflexiven Moderne an. So machen die AutorInnen des Konzepts der Patchworkidentität (Keupp et al. 2006) zu Beginn ihrer Ausführungen deutlich, warum moderne Subjektvorstellungen zu dekonstruieren sind, und nutzen als Kontrastfolie zum spätmodernen Patchwork das Bild eines reibungslosen Prozesses moderner Subjektwerdung. Als reibungslose bzw. als „bruchlose Integration des Subjekts in das jeweilige soziokulturelle Feld“ (Keupp et al. 2006: 16) aber ist der Prozess der Identitätsherstellung auch zu anderen Zeiten von den Begründern des Identitätskonzeptes nicht gedacht worden.140 Patchworking, verstanden als die Verbindung oder Synthese verschiedener Teilidentitäten, gilt in einer Vielzahl der Identitätstheorien als eine grundlegende Prozesskategorie. Abweichende Meinungen gibt es lediglich darüber, wie viel Differenz in der Identität zugelassen werden soll bzw. wie viel Kohärenz notwendig ist, um sich überhaupt als handlungsfähiges Subjekt wahrzunehmen (Kraus 2002). Umgekehrt kritisieren skeptischere Diagnosen an postmodernen wie auch reflexiv- modernen Ansätzen, dass sie die Fähigkeit zur Flexibilität und zum Patchworking überbetonen, und dabei grundlegende Strukturmerkmale, die für eine „gelingende Biographie“ notwendig sind, außer Acht lassen. So wurde dem Modell der SPIEGEL, ob der Verkaufserfolg von Feuchtgebiete eine Leistung sei, auf die sie stolz ist: „Es ist komisch, aber um das Buch geht es gar nicht mehr. Die Leute sagen nicht mehr: tolles Buch, sondern Glückwunsch zum Erfolg. Es ist der Erfolg, der die Leute fasziniert.“ (SPIEGEL 36/2009: 145) 139 Für solche dekonstruktivistischen bzw. poststrukturalistischen Subjektkonzepte stehen insbesondere Derrida, Foucault und Butler. 140 Die Kritik von Honneth an der aktuellen Identitätsdebatte nimmt genau diesen Gedanken auf (2001: 141): „(...) mit den Begriffen wie „Identität“ oder „Selbst“ waren doch in den avancierteren Strömungen der soziologischen Tradition stets nur jene Syntheseleistungen gemeint, die ein Subjekt aufzubringen hat, um eine Vielzahl von zeitlich und sozial disparaten Erlebnissen, Überzeugungen und Handlungen als kohärente Vollzüge eines Ich erleben zu können.“
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Patchworkidentität „die Konstruktion einer geschmeidigen Affirmationsfigur“ vorgeworfen, die sich den Anforderungen des flexiblen Kapitalismus mühelos anpasse (Keupp 2006: 8). Wenngleich dieser Vorwurf gerade für das Konzept der Patchworkidentität nicht angemessen ist, da die AutorInnen explizit „Gelingensbedingungen“141 anführen, so erscheint diese Kritik doch mit Blick auf postmoderne Ansätze plausibel. Gerade die oben vorgestellten postmodernen Ansätze einer „narrativen Identität“ beanspruchen für sich, ein Verständnis des Selbst vorzulegen, welches an die gegenwärtigen Bedingungen wie Pluralität, Flexibilität und Fluidität angepasst ist. Die hier kurz angedeutete Spannung aktueller Identitätskonzepte142 macht die Schwierigkeiten einer Bestimmung gegenwärtiger biographischer Herausforderungen deutlich. Jenseits des übergreifenden Problems, dass hier deskriptive, normative und psychosoziale und psychostrukturelle Modelle zugleich verhandelt werden, steht im Zentrum der Identitätsdebatte die Frage nach der Rolle der Biographie: Ist die Lebensgeschichte auf Gelingenskriterien angewiesen? Gibt es also Unerzählbarkeiten? Oder sind solche Kriterien belanglos, und gilt es ausschließlich zu eruieren, wie Erzählbarkeit heute möglich ist? Nachdem mit dem Wandel des Biographiemusters eine Antwort auf die letzte Frage geliefert wurde, soll es nun darum gehen, die Strukturmerkmale einer gelingenden Biographie herauszustreichen. Daran lässt sich aufzeigen, in welcher Weise die aktuelle Selbstthematisierungskultur einen stimmigen Umgang mit der eigenen Geschichte beeinträchtigt. Im Fokus stehen damit bereits genannte Konzepte der Autonomie, Authentizität und Kohärenz. Der Anspruch auf Selbstbestimmung oder Autonomie143 gilt als ein Charakteristikum moderner Gesellschaften (vgl. Taylor 1994). Das moderne Autonomieversprechen steht dabei für die Freiheit, „dass wir selbst darüber bestimmen dürfen und können, wer wir sein und wie wir leben möchten“ (Rosa 2009a: 39). Zugleich beinhaltet es auch die Wahrnehmung anderer als selbstbestimmt: „Autonomie bedeutet im vorliegenden Zusammenhang vor allem die sich selbst und anderen zugestandene und auch zugemutete Freiheit und Fähigkeit, sich von überkommenen Vorgaben und Autoritäten, Werten, Normen und Orientierungen kognitiv distanzieren und eigene, reflektierte Entscheidungen treffen und handelnd verwirklichen zu können.“ (Straub/Zielke 2005: 165). 141 Keupp (2006: 17f.) nennt als Kompetenzen einer gelingenden Lebensbewältigung: einen „kohärenten Sinnzusammenhang“ in der eigenen Lebenserzählung, die Fähigkeit zum „boundary management“, „einbettende Kulturen, eine „materielle Basissicherung“, die „Erfahrung der Zugehörigkeit“, „Kontext(e) der Anerkennung“, die „Beteiligung am alltäglichen interkulturellen Diskurs“ und „zivilgesellschaftliche Basiskompetenzen“. 142 Zum Identitätsdiskurs vgl.: Keupp/Hohl 2006; Reckwitz 2001; Straub/Renn 2002. 143 Wenngleich Autonomie und Selbstbestimmung begriffshistorisch nicht als Synonym gelten; so werden sie doch üblicherweise und auch hier synonym verwendet. (vgl. Straub/Zielke 2005: 165, Fn. 1).
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Wenn in jüngeren sozialpsychologischen Ansätzen, wie dem von Jürgen Straub (Straub/Zielke 2005; Straub 2002; 2006) von Autonomie die Rede ist, dann handelt es sich um eine von Heteronomie und Kontingenz „durchkreuzte“ Autonomie. Diese Durchkreuztheit erklärt sich schon daraus, dass Autonomie erst in biologischen und soziokulturellen Rahmenbedingungen erworben werden kann (Straub/Zielke 2005). Aber nicht nur die Rahmenbedingungen des Autonomieerwerbs lassen das Verständnis von einer „reinen“ Autonomie obsolet werden; auch aus den Handlungen des vermeintlich freien Subjekts ist Kontingenz nicht herauszustreichen (vgl. ebd.).144 Der Autonomiebegriff steht damit nicht länger für die in der Subjekt-Philosophie angelegte politische Idee eines „starken“ und substantialistischen Subjekts, sondern vielmehr für ein durch die Sozialisationstheorie und Sozialisationsforschung bereinigtes Verständnis von Autonomie (ebd.). Straub (2002, 2006) greift daher zur Verdeutlichung dieses Autonomieverständnisses auf Axel Honneths (1993) Konzept der dezentrierten Autonomie zurück, welches sich genau von solchen „klassischen“ Autonomiekonzeptionen abgrenzt. Dezentrierte Autonomie steht dabei für eine Form von Subjektivität, die die „subjektübergreifende(n)“ Mächte als Konstitutionsbedingungen von Subjektwerden einbezieht: „Die persönliche Freiheit oder Selbstbestimmung von Individuen wird hier in der Weise verstanden, dass sie nicht als Gegensatz zu, sondern als bestimmte Organisationsform der kontingenten, jeder individuellen Kontrolle entzogenen Kräfte erscheint“ (Honneth 1993: 151). Die Dezentrierung bezieht sich dabei insbesondere auf drei Dimensionen: Erstens müsse das individuelle Verhältnis zu eigenen (unbewussten) Motivationsquellen anders gedacht werden: Weder verfüge das Subjekt über eine klare Kenntnis der eigenen Bedürfnissituation noch sei es sich den Folgen seiner Handlungen bewusst (vgl. Honneth 1993). Daraus folgt für Honneth: „Das klassische Ziel der Bedürfnistransparenz muß (...) durch die Vorstellung der sprachlichen Artikulationsfähigkeit ersetzt werden“ (Honneth 1993: 158).145 Zweitens wird in dem Konzept der dezentrierten Autonomie die Vorstellung einer biographischen Konsistenz des Lebensvollzuges im Sinne einer durchgängig geordneten Lebensführung verabschiedet: „(...) an ihre Stelle [die der biographischen Konsistenz, F.H.] hat die Idee zu treten, sein Leben so als einen kohärenten Zusammenhang darstellen zu können, dass dessen disparate Teile als Ausdruck der reflektierten Stellungnahme ein und derselben Person erscheinen“. (ebd.: 159) 144 Die Überlegung, dass Handlungen immer durch zahlreiche Einflüsse gebrochen werden und deshalb das Subjekt nicht als unabhängiges Handlungszentrum begriffen werden kann, findet sich auch in den Ausführungen von Wadenfels (1990). 145 Mit dieser Öffnung des Autonomiebegriffs geht Honneth insbesondere auf die psychoanalytische wie auch die sprachphilosophische Kritik an der philosophischen Subjektkonzeption ein.
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Diese Fähigkeit zur „narrativen Kohärenz“ ermögliche, Erfahrungen durch Versprachlichung immer wieder neu zu interpretieren und zu arrangieren (ebd.: 159). Drittens beinhaltet die Konzeption der dezentrierten Autonomie die Vorstellung eines veränderten Umganges mit den moralischen Ansprüchen der Umwelt. Diese sollen sensibel und reflektiert aufgenommen werden, ohne dabei auf starren moralischen Prinzipien zu beharren. Damit soll „die Idee der Prinziporientierung schließlich durch das Kriterium der moralischen Kontextsensibilität ergänzt werden“ (ebd.: 158). Autonomie, verstanden als dezentrierte Autonomie, gilt als ein entscheidendes Identitätsziel von Subjekten in modernen Gesellschaften. Die Erlangung von Autonomie ist dabei neben anderen Faktoren gebunden an die Fähigkeit zur „narrativen Kohärenz“ (Honneth). Denn bei dieser Fähigkeit, so wird im Folgenden zu erläutern sein, handelt es sich um eine Kernkompetenz moderner Subjekte, sich selbst als „innere Einheit“ in einem nicht essentialistischen Sinne zu begreifen. Auch Straub und Zielke (2005) sehen in der Fähigkeit des Erzählens von SelbstGeschichten, in der narrativen Kompetenz, einen zentralen Baustein der Autonomie handlungsfähiger Subjekte. Narrative Kompetenz als Fähigkeit, die eigene Lebensgeschichte zu thematisieren, Autonomie und die Frage der Identität stehen somit nicht in einer Mittel-Zweck-Relation zueinander: Vielmehr lässt sich das Verhältnis nur dann angemessen deuten, wenn die Erzählfähigkeit als Medium begriffen wird: Sie setzt dann eine autonome, authentische und auch kohärente Lebensführung voraus und reproduziert diese in biographischen Selbstthematisierungen. Noch unmittelbarer auf die biographische Thematisierung bezogen sind die Kriterien der Authentizität und der Kohärenz. Damit ist zunächst gemeint, dass unabhängig von äußeren Darstellungszwängen der Biograph selbst die Erzählung vor dem Hintergrund seines Gewordenseins als stimmig empfindet. Charles Taylor (1995), der sich im Unbehagen an der Moderne sehr ausführlich mit dem Begriff der Authentizität befasst, findet frühe Spuren des Authentizitätsideals schon bei Herder, der davon sprach, dass jeder sein eigenes „Maß“ habe. Für Taylor ist Authentizität als Bestandteil von Autonomie aufzufassen, weshalb die Authentizität selbst zu einem Ideal werde (1995: 36f.). So verstandene Authentizität beschreibt er folgendermaßen: „Es gibt aber eine bestimmte Weise, Mensch zu sein, die meine Weise ist. Ich bin dazu aufgefordert, mein Leben in ebendieser Weise zu führen, ohne das Leben irgendeiner anderen Person nachzuahmen. (...) Sich selbst treu sein heißt nichts anderes als: der eigenen Originalität treu sein, und diese ist etwas, was nur ich selbst artikulieren und ausfindig machen kann. Indem ich sie artikuliere, definiere ich zugleich mich selbst.“ (Taylor 1995: 38f.)
Das Medium der Herstellung von Authentizität ist damit für Taylor die Selbstthematisierung. Diese muss, um der eigenen Originalität treu sein zu können, eben an die eigenen Werte und Ideale und damit an das eigene Leben anschlussfähig sein.
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Was mit dieser Anschlussfähigkeit an das Leben gemeint ist, wird besonders in Wohlrab-Sahrs Ausführungen über das Konzept der biographischen Identität deutlich. Biographische Identität, darauf hat Wohlrab-Sahr (2006: 91) hingewiesen, ist immer auch als ein Strukturbildungsprozess zu verstehen. Verschiedene Erfahrungen im Leben werden im Laufe der Zeit zu Strukturen verdichtet, die schlussendlich die Identität einer Person ausmachen: „Die Veränderungsprozesse und Instabilitäten, denen Personen im Verlauf des gesellschaftlichen Wandels ausgesetzt sind bzw. die sie auch selbst mit hervorbringen, treffen auf solche bereits aufgebauten Strukturen und führen zu deren Reproduktion, partieller Revision, bisweilen auch zum Strukturwandel.“
Bezieht man diese Überlegungen der Verfestigung einer biographischen Struktur durch biographische „Pfadabhängigkeiten“ (Schimank 2000) auf die Möglichkeitsspielräume der Selbsterzählungen, wird deutlich, dass diese durch das Gewordensein, durch die Kontingenzen des Lebensverlaufes limitiert sind. Es muss also ein Mindestmaß an „Stimmigkeit zwischen Selbstdarstellung, körperlicher Repräsentation und im Lebenslauf verdichteter Ereignisverkettung“ vorhanden sein (WohlrabSahr 2006: 89). Zusammengenommen steht Authentizität für einen verantwortungsvollen Umgang mit der eigenen Biographie in dem Sinne, dass die Erfahrungen des Lebensverlaufes und die damit verbundenen Ausformungen einer biographischen Struktur als wie auch immer geartete Elemente der Erzählung einbezogen werden. Dabei ist der Referenzpunkt nicht die Fiktion einer „biographischen Wahrheit“ (Bruder 2003), die auf einen Wahrheitsbegriff jenseits individueller Setzungen zielt. Ebenso wenig steht Authentizität für einen extramedialen, uninszenierten Zugriff auf das Subjekt. Vielmehr beschreibt der Authentizitätsbegriff die Suche nach und Bewegung hin zu Widerspruchsfreiheit in der Performanz. Die Elemente des Gewordenseins müssen auch deshalb zumindest implizit Gegenstand von Selbstthematisierungen sein, da ansonsten für die InteraktionspartnerInnen der Eindruck einer inneren Dissoziation entstehen kann. Die Person könne heute nicht einfach abspalten, was sie gestern war, „weil sie -als soziales Wesen- immer Gefahr läuft, von den anderen daran ‘erinnert’ zu werden“ (WohlrabSahr 2006: 91).146 Wohlrab-Sahr sieht einzelne nicht zuletzt durch den Blick anderer als auf ein Mindestmaß von Kontinuität und Kohärenz festgelegt (ebd.: 90). Gerade die Forderung nach Kohärenz wird durch poststrukturalistische Positionen immer wieder angegriffen, da hinter dem Kohärenzpostulat ein anachronistisches Werksverständnis, welches auf Einheit und Geschlossenheit des Textes fußt, ver146 Einen ähnlichen Gedanken führt Habermas dort aus, wo er von einer verantwortlichen Übernahme der eigenen Biographie bzw. von einer Bürgschaft für die eigene Lebensgeschichte spricht (Habermas 1981: 151; 1988: 207)
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mutet wird. Im Fokus der Kritik steht hier also ein linguistischer bzw. narratologischer Kohärenzbegriff, der mit Gestaltungsanforderungen moderner Literatur in Verbindung gebracht wird. Neben diesem an der Stimmigkeit von Texten orientierten Kohärenzbegriff ist für die Identitätstheorie und Psychologie ein etwas anders gelagerter Kohärenzbegriff relevant, der sich auf die Vermeidung von Dissoziation, also auf das Empfinden einer sinnhaften Struktur des Lebens bezieht.147 Kohärenz steht in diesem Sinne für eine Verknüpfungsleistung der Fragmente des Lebens, die nicht im Erzählen einer Gesamtlebensgeschichte aufgeht, sondern vielmehr in der Wahrnehmung einer Stimmigkeit und eben Authentizität des Lebensvollzuges. Der hier angesprochene Kohärenzbegriff ist maßgeblich durch die Arbeiten Antonowskys (1998) über das Kohärenzgefühl, den sense of coherence, geprägt. Für Antonowsky steht ein ausgeprägter Kohärenzsinn für die Fähigkeit, in Ereignissen einen Sinn zu erkennen sowie für die Zuversicht, dass das eigene planvolle Handeln aufgeht. Der Kohärenzsinn ist damit als Bewältigungsressource einzustufen, insofern als er bei einer starken Ausprägung die Individuen in Situationen der Unsicherheit widerstandsfähiger macht. Für biographische Thematisierungen ist Kohärenz aber weniger als additive Ressource der Bewältigung von Stress zu verstehen, sondern als eine basale Strukturierungsleistung, die Handlungsfähigkeit und das Gefühl von Sinnhaftigkeit im Leben überhaupt erst möglich macht. Die hier angeführten Identitätsziele beschreiben strukturelle Voraussetzungen einer gelingenden Identitätsarbeit, die ohne einen angemessenen, eben einen authentischen und kohärenten Bezug auf die eigene Lebensgeschichte nicht gelingen kann. Nun setzt die Ermöglichung einer solchen authentischen und kohärenten biographischen Selbstthematisierung einen Kontext bzw. eine Kultur der Selbstthematisierung voraus, innerhalb derer diese Art der Selbstpräsentation nicht mit anderen in biographischen Skripten eingelagerten Formatierungsregeln kollidiert. Diese Forderung impliziert, dass die genannten Ideale in einer nicht-verfremdeten oder eingeschränkten Form innerhalb der Selbstthematisierungskultur präsent sein müssen. Wie mit der These der „Ökonomisierung der Biographie“ gezeigt wurde, wird durch den verstärkt geforderten instrumentellen Gebrauch der Biographie die Selbstthematisierungskultur dergestalt eingeschränkt, dass eine authentische Erzählung verunmöglicht wird. Die Tragweite der Einschränkung der Selbstthematisierungskultur lässt sich besonders deutlich an Sennetts Überlegungen zu den Möglichkeiten des narrativen Einbettens von Unsicherheitserfahrungen zeigen. Sennett legt in dem Kapitel über das Scheitern den Schwerpunkt seiner Überlegungen zu der Bedeutung von ErzähGerade diese beiden Lesarten des Kohärenzbegriffs sorgen in der Diskussion um eine „narrative Identität“ für Verwirrung; insofern als ungenau zwischen den textuellen Anforderungen an Selbstnarrationen und deren psychologischer Funktion unterschieden wird.
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lungen nicht länger auf die Frage des Verhältnisses von kontinuierlich erfahrener Lebenszeit und einer kontinuierlichen Geschichte, sondern fragt vielmehr nach den Möglichkeiten einer „heilenden Arbeit des Narrativen“ (Sennett 1998: 184). Eine solche „Selbstheilung“ beobachtet er bei einer Gruppe von Programmierern, die ihre jeweilige Geschichte des Jobverlustes in ihrer Gruppe in verschiedenen Variationen durchdeklinieren und so lange umerzählen, bis schlussendlich eine Deutungsweise übrig bleibt. Von den drei Deutungsperspektiven, die sie auf ihren Jobverlust haben, bleibt am Ende diejenige bestehen, die ihr je eigenes Versagen betont. Sennett sieht in diesem narrativen Aushandlungsprozess einen Weg der Programmierer, „das Scheitern untereinander zur Sprache zu bringen“ (ebd.: 185), und so wieder die Autorenschaft über die eigene Geschichte zu erlangen. Diese Möglichkeit der Thematisierung des Scheiterns sei „eine Überlebensstrategie für die stetig wachsende Zahl jener, die im modernen Kapitalismus zum Scheitern verurteilt sind“ (ebd.: 185). Es sei also im flexiblen Kapitalismus möglich, „zusammenhängende Erzählungen über das, was war, zu schaffen, aber nicht länger möglich, kreative vorausschauende Entwürfe dessen, was sein wird“, zu erstellen (ebd.: 184). Über das gemeinsame Umschreiben der Erzählung könne also das Scheitern zur Sprache gebracht und damit narrativ verarbeitet werden. Sennett setzt hier -wenn auch nur begrenzt auf die Gruppe der Programmierer- eine Kultur des Scheiterns voraus, innerhalb derer die individuell zugeschriebenen Fehler thematisiert werden können. Eine solche Möglichkeit, das Scheitern zu thematisieren und dadurch narrativ zu verarbeiten, wird aber durch die oben nachgezeichnete Einschränkung der Selbstthematisierungskultur beeinträchtigt. Sofern der Nachweis von Erfolgsfähigkeit die zentrale Anforderung an die biographische Thematisierung ist, verengt sich der Raum, innerhalb dessen überhaupt scheitern thematisiert und gemeinsam verarbeitet werden kann. Insofern ist auch fraglich, inwieweit der flexible Kapitalismus tatsächlich die Möglichkeit bietet, „zusammenhängende Erzählungen über das, was war zu schaffen“ (ebd.: 184): Denn die Thematisierungsmöglichkeiten erscheinen in der gegenwärtigen Erfolgskultur doch wesentlich rigider, als es Sennett annimmt, wodurch die „heilende Wirkung“ der Erzählung im gemeinsamen doing biography erheblich gemindert ist. Die oben genannten Strukturbedingungen einer ‘gelingenden Erzählung’, die auf Selbstbehauptung und die Schaffung eines Sinnzusammenhanges zielen, werden also durch die eingeschränkte Möglichkeit, Scheitern zu thematisieren, an ihrer Einlösung gehindert. Die Spannung zwischen den Strukturbedingungen eines angemessenen Umgangs mit der Lebensgeschichte und den aktuellen Thematisierungsmöglichkeiten des Selbst darf allerdings nicht in eine einseitige Entfremdungskritik148 münden, in der ausschließlich die Kollision von Authentischem und Inauthentischem beklagt Zu einer jüngeren Aktualisierung der Entfremdungskritik vgl. Rosa (2009a; 2009b); vgl. zudem zur emotionssoziologischen Entfremdungskritik: Neckel (2005). 148
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wird. Denn ausgeblendet wird so der Nutzen, der sich durch die Bezugnahme auf das biographische Erfolgsskript ergibt: Dieser Nutzen besteht vor allem darin, employability und Anerkennung zu sichern, und sich nicht einem verschärften Risiko der Exklusion auszusetzen. Insofern erzeugen die veränderten Anforderungen an die Biographiegestaltung erratische Bewegungen, die an der Spannungslinie von gesteigertem Anpassungsdruck und individuellen Abgrenzungsstrategien entstehen. Ebenso offenkundig wie die Vorzüge einer Fügung unter die veränderten Seinszumutungen sind die Überforderungen, die damit verbunden sind: Denn das System permanenter Bewährung kennt keine Auszeiten, und selbst eine authentische Biographie kann der paradoxalen Authentizitätsforderung, zu Sein, wie andere sich Authentizität vorstellen, nie gerecht werden. Als Ausdruck dieser Spannung wertet Rosa (2009a: 41) die Zunahme einer „Semantik und Rhetorik des Müssens“: Häufiger denn je rechtfertigten die Subjekte ihre Handlungen mit der Begründung, dass sie eben genau so und nicht anders handeln müssten. Das Bemerkenswerte an dieser Deutung ist nun weniger, dass sich äußere Zwänge verschärft hätten, aufgrund derer jeder einen größeren Sollensdruck spürt. Interessant erscheint vielmehr die Rechtfertigung der Handlungen mit dieser Semantik, die ja impliziert, dass man eigentlich anders handeln wollte, es sich aber nun einmal nicht empfiehlt. Das Müssen als Rechtfertigungsformel heranzuziehen kann somit als Ausdruck der Unsicherheit gewertet werden, inwieweit die eigenen Vorstellungen über eine angemessene Lebensführung und damit auch über eine selbstbestimmte Biographie durchgesetzt oder eben preisgegeben werden müssen. Die in diesem Kapitel nachgezeichnete Tendenz einer Ökonomisierung der Biographie sorgt damit, wie gezeigt werden konnte, in einem zweifachen Sinne für eine Radikalisierung biographischer Unsicherheiten: Denn erstens werden die Möglichkeiten der erzählerischen Bearbeitung von Diskontinuitäten und instabilen Anerkennungsperspektiven eingeschränkt, und zweitens erzeugt auch dort, wo die Erzählung keine Bewältigungsfunktion übernehmen muss, die Erwartung des Nachweises von Erfolgsfähigkeit einen erhöhten Druck bei der Bearbeitung der eigenen Geschichte. Die Hoffnungen, dass die Biographie in unsicheren Zeiten als Rückzugsort des Individuums fungieren kann, werden somit enttäuscht: Denn in gleichem Maße, wie die Ökonomisierungsanforderung in Bereichen von Familie und Freizeit wirksam wird, verändert sie auch den Rahmen biographischer Selbstthematisierungen, und begrenzt dabei abweichende Plausibilisierungsmöglichkeiten.
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Der populären Gegenwartsdiagnose folgend, dass der „Verlust der Planbarkeit des eigenen Lebens“ als „Schlüsselerfahrung“ unserer Zeit gilt (Dörre 2009b: 19), und somit die Wahrnehmung erwerbsbiographischer Unsicherheiten in der Gesellschaft gewachsen ist (Bonß 2006), wurde in der vorliegenden Untersuchung der Frage nach der Möglichkeit einer Bestimmung biographischer Unsicherheiten unter den Bedingungen eines durch Prozesse der Prekarisierung und der Subjektivierung der Arbeit veränderten Erwerbssystems nachgegangen. Erkenntnisleitend war hier insbesondere die Frage danach, entlang welcher Vermittlungsschnittstellen die neuen Unsicherheiten kommuniziert und so für die Subjekte wahrnehmbar werden. Biographische Unsicherheiten wurden in systematischer Perspektive auf drei Ebenen verortet: Auf der Ebene der Arbeitsorganisation, wo die berufliche und damit biographische Unsicherheit gezielt als Instrument der Disziplinierung eingesetzt wird, auf der Ebene von Karriereskripten, deren Veränderung und Veruneindeutigung zu einer Erosion von Erwartungssicherheiten hinsichtlich der Karriereplanung beiträgt und schließlich auf der Ebene des Biographiemusters selbst, wo sich die Unsicherheit aus dem Dominantwerden von Erfolgskriterien bei der Plausibilisierung von Biographischem ergibt. Mit dieser Dreiteilung konnten verschiedene Unsicherheitsdimensionen voneinander geschieden werden, die in der bisherigen Unsicherheitsdebatte nicht hinreichend differenziert wurden. In Kapitel eins wurden zunächst verschiedene Unsicherheitsbegriffe differenziert, die in der aktuellen Diskussion über die neue Unsicherheit unvermittelt nebeneinander stehen. Dabei ging es insbesondere um die Spannung zwischen einem ‘absoluten’ Unsicherheitsbegriff, der Unsicherheiten als objektives Faktum an Mangellagen und an sozialstaatliche Sicherheitsversprechen der Vergangenheit rückbindet, und einem stärker konstruktivistischen Unsicherheitsbegriff, der die Trennung objektiver und subjektiver Unsicherheiten aufbricht und die soziale Strukturiertheit von Unsicherheitswahrnehmungen betont. Anschließend wurden die Prozesse der Prekarisierung und Subjektivierung der Arbeit als Elemente einer „Ökonomie der Unsicherheit“ konzeptualisiert, als Verfahrenslogiken und Ausdrucksweisen eines neuen marktzentrierten Kontrollmodus (Dörre 2001), innerhalb dessen die ‘diffuse Macht des Marktes’ zum Zwecke der Leistungssteuerung und zur Rechtfertigung beruflicher Unsicherheit herangezogen wird. Dieser umfassende Verweis auf Marktmechanismen steht in Gegensatz zu der Herangehensweise fordistischer Unternehmen, der Produktionsökonomie den
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Primat über die Marktökonomie einzuräumen. Insofern steht die gegenwärtig zu beobachtende „Radikalisierung der Vermarktlichung“ (Sauer 2007), also die gezielte Instrumentalisierung und Inszenierung der Unsicherheiten des Marktes, für einen Bruch hin zu einem postfordistischen Übergangsregime, dessen wesentliches Kennzeichen neben dem beständigen Verweis auf den Markt vor allem die gewandelte Unsicherheitspolitik darstellt. Entlang des Prekarisierungsdiskurses wurde der Wandel der Beschäftigungsformen hin zu zeitlich befristeten und ökonomisch nicht-existenzsichernden Beschäftigungsverhältnissen problematisiert, die nicht ausschließlich neue Problemlagen für die unmittelbar Betroffenen generieren, sondern zugleich als Prekarisierungsängste in alle gesellschaftlichen Teile diffundieren. Diese Prekarisierungsängste können als Ausdruck der von den Individuen wahrgenommenen Aufkündigung des „fordistischen Versprechens“, des Versprechens von materieller Sicherheit, Kontinuität und Aufstiegsmobilität, gewertet werden. Nicht nur LeiharbeiterInnen und befristet Beschäftigte sind damit von der Ausweitung der Prekarität betroffen: Auch BerufsanfängerInnen, für die die Wahrscheinlichkeit auf ein Normalarbeitsverhältnis sinkt, und in Normalarbeit Beschäftigte, die sich mit der Frage quälen, wann und in welcher Form ihr Arbeitsverhältnis ‘prekarisiert’ wird, sind von dem Rückbau der Erwartungssicherheit hinsichtlich einer stabilen und existenzsichernden Beschäftigung betroffen. Der von Ambivalenzen durchzogene Prozess der Subjektivierung der Arbeit wurde als erweiterte Inbetriebnahme subjektiver Potentiale rekonstruiert, innerhalb derer die Selbstverwirklichungsmöglichkeiten semantisch in Dienst genommen werden, um so gesteigerte Anforderungen an die Selbstorganisation und Leistungssteuerung zu rechtfertigen. Die Subjektivierung der Arbeit steht neben einer veränderten Leistungspolitik für einen weitreichenden Wandel im Verhältnis von Subjektivität und Arbeit, insofern als Markttauglichkeit und Wettbewerbsfähigkeit auch jenseits der unmittelbaren Beschäftigung an Anerkennung gewinnen, und so mehr und mehr als Bewertungsmaßstab der Person herangezogen werden. Unter Verweis auf empirische Untersuchungen über die Wahrnehmung und Verarbeitung von Prekarität konnte gezeigt werden, dass sich die veränderten Beschäftigungsbedingungen subjektiv als biographische Unsicherheiten rekonstruieren lassen, die von den Individuen als problematische Einschränkung ihrer erwerbsbiographischen Perspektive wahrgenommen wird. Ebenfalls konnte der Prozess der Subjektivierung der Arbeit im Spiegel der Wahrnehmung der Individuen als Quelle biographischer Unsicherheiten ausgemacht werden. Die besondere Brisanz der neuen Unsicherheiten ergibt sich allerdings erst aus dem Zusammenspiel von Prekarisierung und Subjektivierungsdynamiken; insofern als erst dadurch eine doppelte Aufwertung von Arbeit erfolgt: Einerseits wird Arbeit durch ihre unsichere Verfügbarkeit und Knappheit aufgewertet, andererseits dadurch, dass sie mit Selbstverwirklichungsspielräumen assoziiert wird. Neben der
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doppelten Aufwertung zeigen sich gleichsam als Kehrseite der Aufwertung die eingeschränkten Teilhabemöglichkeiten der Exklusionsarbeitsgesellschaft. Arbeit wird so subjektiv relevanter und unsicherer zugleich. Im zweiten Kapitel wurde biographische Unsicherheit entlang des Wandels von Karriereskripten rekonstruiert. Nachgezeichnet wurde der Prozess der DeInstitutionalisierung des Lebenslaufes (Kohli 1994), also des Rückbaus eines chronologischen Verlaufsmusters. Mit dieser Schwächung der Normalbiographie korrespondierte die Erosion des für die fordistische Epoche charakteristischen Karriereskriptes der Aufstiegskarriere. Als neues Karriereskripte wurden die boundaryless career sowie die protean career vorgestellt, die jeweils den Wandel der Anforderungen an die Beschäftigten durch die Organisationen reflektieren. Die neuen Karrieretypen liefern als Skript veränderte Erwartbarkeiten hinsichtlich zeitlicher Planung wie auch sozialer Anerkennung: Weder vermitteln sie die Möglichkeit der Vorwegnahme der Zukunft durch die Zusicherung von Arbeitsplatzsicherheit, noch bieten sie einen stabilen Rahmen für prospektive Anerkennung. Die neuen Karriereskripte stehen damit sowohl für die Auflösungserscheinungen des „fordistischen Zeitregimes“ wie auch für den Wandel der Anerkennungsordnung von der allgemeinen Würdigung der Arbeit hin zur Bewunderung besonderer Leistungen und vor allem Erfolge (Voswinkel 2002); und es sind gerade diese Karriereskripte, entlang derer der Wandel von Zeitstrukturen und Anerkennungsstrukturen individuell erfahrbar wird. Unter Verweis auf empirische Untersuchungen zu den Sicherheitsorientierungen von Beschäftigten wurde aufgezeigt, dass sich die Sicherheitserwartungen nicht bereits entlang der neuen Karriereskripte geformt haben, sondern nach wie vor stark durch die Vorstellungen von Normalbiographie und fordistischer Aufstiegskarriere geprägt sind. In Kapitel drei wurde biographische Unsicherheit als Veränderung von Biographiemustern nachgezeichnet. Als Folge des Relevanzgewinns von Arbeit im Zuge von Prekarisierungs- und Subjektivierungsprozessen erfolgt nicht nur eine „Ökonomisierung der Lebensführung“, also eine Ausrichtung alltagspraktischer Tätigkeiten im Bereich der Familie und der Freizeit auf die Erfordernisse der Erwerbsarbeit, sondern zugleich eine „Ökonomisierung der Biographie“ in Form veränderter biographischer Darstellungsformen und Plausibilisierungsmuster. Der Wandel des Biographiemusters wurde an drei Kristallisationspunkten aufgezeigt: An einem intensivierten Darstellungszwang, einem gewandelten Zeitbezug biographischer Erzählungen sowie an dem Relevanzgewinn von Erfolg als zentralem Bezugspunkt des Biographiemusters. Arbeit ist damit zu einem wichtigen Biographiegenerator avanciert; ihre Semantiken, aber auch Zeitstrukturen und Anerkennungslogiken bestimmen nunmehr das postfordistische Biographiemuster. Damit haben sich die Seinszumutungen nicht nur im unmittelbaren Arbeitskontext verändert, sondern wirken über diesen Bereich hinaus auch in der Lebenswelt, womit der Wandel als kultureller Wandel, eben als Wandel hin zu einer „Erfolgskultur“ gedeutet werden kann.
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Die in dieser Arbeit gewählte Herangehensweise, biographische Unsicherheit entlang der veränderten betrieblichen Organisation von Arbeit, des Wandels von Karriereskripten, Zeit- und Anerkennungsmustern und entlang der Veränderung von Biographiemustern zu konzeptualisieren, fußte auf der Überlegung, dass gerade das Brüchigwerden solcher Erwartungssicherheiten, die eine Lösung des Problems gesellschaftlicher Inklusion bereithielten, gegenwärtige Unsicherheiten anfachen. Insofern kann insbesondere dem Wandel der Zeitordnung wie auch dem Wandel der Anerkennungsordnung eine zentrale Bedeutung für die Zunahme biographischer Unsicherheiten beigemessen werden: Denn wo die Forderung nach einem erhöhten Tempo auf die begrenzte Möglichkeit der Umsetzung trifft, und wo das Wissen um veränderte Anerkennungslogiken mit der Unfähigkeit der Erzeugung ‘anerkennungsfähiger Leistungen’ kollidiert, wo also jeweils eine massive Spannung zwischen den neuen Veränderungen und den bisherigen Problemlösungsstrategien und tradierten Verhaltensweisen auftritt, können die Veränderungen letztlich nur als Unsicherheiten darüber, wie die kontinuierliche Teilhabe an der Gesellschaft überhaupt realisierbar ist, gedeutet werden. Damit zeigt sich zugleich, dass die gegenwärtig häufig gestellte Frage nach dem subjektiven Umgang mit neuen Adaptionszwängen einer Konkretion bedarf: Denn wie die Analyse zeigte, sind die neuen Anforderungen an die Subjekte im Sinne von Flexibilisierungs- und Ökonomisierungszwängen keineswegs eindeutig: Vielmehr zeigen sie lediglich eine Richtung auf, ohne auch nur annähernd Auskunft darüber zu geben, wie der Weg in diese Richtung zu beschreiten sei. Aber nicht nur das eingeschränkte Wissen darüber, wie den neuen Anforderungen nachzukommen sei, erschwert die subjektive Umsetzung. Hinzu tritt das Problem, dass selbst unter den Bedingungen einer vollständigen Fügung unter die Maximen des „unternehmerischen Selbst“ gesicherte Inklusion und Erfolg nicht garantiert werden können. Die Figuren des „Arbeitskraftunternehmers“ und des „unternehmerischen Selbst“ liefern damit gerade keine Erfolgsrezepte für gelingende Inklusion; sie stehen vielmehr für Ensembles von Strategien, die lediglich die Wahrscheinlichkeit mindern, exkludiert zu werden. Nicht zuletzt diese Beobachtung mangelnder Erfolgsrezepte mag Sennett (1998: 81f.) zu seiner These der „Unlesbarkeit“ der neuen Arbeitsweisen und Castel (2000: 358) zu seiner These der „Kultur des Zufalls“ motiviert haben. Sich immer auf dem Prüfstand zu fühlen, ohne zu wissen, wo man steht und ohne objektive Erfolgsmaßstäbe zu kennen (Sennett 1998: 103) ist nach Sennett das Resultat der Unlesbarkeit, die nicht nur den Zweifel an unlesbaren Strukturen nährt, sondern zugleich den Zweifel an der eigenen Fähigkeit zur Selbstverortung. Neben der fehlenden Eindeutigkeit bei der Umsetzung neuer Anforderungsstrukturen und der unzureichenden Erfolgsgarantie kann aber noch ein weiterer Grund hinzugefügt werden, warum die neuen Anforderungsstrukturen als Quelle biographischer Unsicherheiten erfahren werden: Denn wo in der fordistischen Formation noch das Versprechen auf materielle Sicherheit und autonome Lebens-
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gestaltung als Verheißung wirken konnte, bietet das gegenwärtige postfordistische Regime keinerlei solcher Versprechungen mehr (vgl. Rosa 2005: 13f.; 283ff.; 2009b). Lediglich die Angst vor Exklusion ist als Triebfeder ist geblieben; sie ist der motivationale Kern der „Ökonomie der Unsicherheit“. Und insofern die Angst vor Exklusion die entscheidende Antriebskraft innerhalb der postfordistischen Formation bildet, scheint auch eine neue Rechtfertigungsordnung als legitimatorische Basis nicht als motivationale Grundlage herangezogen zu werden. Die Perspektive, die sich auf die Veränderungen der kapitalistischen Reproduktionsweise aufdrängt, kann mit Blick auf die eindimensionale motivationale Struktur dann vor allem eine Verlustperspektive sein: Nicht länger gibt es Versprechungen auf die Realisierung eines ‘gelingenden Lebens’; stattdessen dominiert die Angst vor dem Ausschluss, die eine widerwillige, aber subjektiv als alternativlos wahrgenommene Partizipation hervorbringt (Dörre 2009d: 201). In den genannten neuartigen Anforderungen an die Selbstorganisation und Ökonomisierung der Lebensführung und der Biographie von Individuen sind damit zahlreiche Momente der Überforderung für die Subjekte angelegt. In verschiedenartigen Gegenwartsdiagnosen werden diese Überforderungen je unterschiedlich problematisiert: Neben einer Diagnose, die die neuartigen Ökonomisierungszumutungen in einem Entsprechungsverhältnis zu den Interessen und Bedürfnissen der Individuen nach Flexibilität, Pluralität und Dynamik sieht, bzw. die langfristige Durchsetzung der Anforderungen ohne nennenswerte Widerstände der Subjekte proklamiert, sind gegenwärtig insbesondere pessimistischere Diagnose prominent, die die nahtlose, aber zugleich schmerzvolle Anpassung an die neuen Ökonomisierungszwänge postulieren, die mit der Gefahr der totalen Erschöpfung, dem Scheitern und der Depression einhergehen. Letztere These ist insbesondere mit dem von Sennett beschriebenen Phänomen des Drift, des richtungs- und ziellosen Dahintreibens assoziiert worden (1998: 15): Als Folge der Wahrnehmung struktureller Zwänge sei es den Individuen unmöglich, ihre Werte und Ideale gegen die neuen Flexibilitätsanforderungen zu behaupten. Sennetts psychostrukturelle Analyse zielt auf die Bestimmung einer Veränderung der Persönlichkeitsstruktur, eben des flexiblen Menschen, der die von ihm geforderte Anpassungsleistung als leidvollen Eingriff in seine autonome Lebensplanung erfährt. Mit dieser Argumentation wird häufig die auf psychosoziale Veränderungen zielende Diagnose eines „erschöpften Selbst“ (Ehrenberg 2004) in Verbindung gebracht, welche die Depression als Massenphänomen und Volkskrankheit moderner Gesellschaften des 20. Jahrhunderts identifiziert. Die durch Ehrenbergs La Fatigue d’ être soi populär gewordene Rede vom „erschöpften Selbst“ spielt auf die Zusammenhänge zwischen der Zeitwahrnehmung bei Depression und der modernen Zeitwahrnehmung, der stillstehenden Zeit und Zukunftslosigkeit, an. Das „erschöpfte Selbst“ steht damit für die Unmöglichkeit der Individuen, im Regime des Kurzfristigen ein Mindestmaß an Eigenverantwortung und Planung
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zu realisieren. Es leidet an der unmöglichen Aufgabe, „alles zu wählen und alles zu entscheiden“ (Ehrenberg 2004: 222). Die hier genannten Diagnosen zielen auf die problematischen Folgen der neuen Ökonomisierungszwänge, indem sie als Indikatoren bereits massive Beschädigungen entweder der Psychostruktur oder der psychischen Gesundheit anführen. Der Verweis auf solche neuen Pathologien streicht die Dramatik der aktuellen Veränderungstendenzen heraus und liefert damit wirkkräftige Metaphern und auch Startpunkte für die Kritik gesellschaftlicher Fehlentwicklungen, insofern in den genannten Veränderungen das Leiden der Subjekte in Form von Psychopathologien und problematischen Transformationen der Psychostruktur sichtbar wird. Allerdings, so hat die vorliegende Untersuchung gezeigt, finden die Leiden der Subjekte zugleich ihren Niederschlag in den wahrgenommenen Belastungen durch die neuen Unsicherheiten und in der Ablehnung von und Nichtentsprechung mit den neuen Anforderungen. Insofern müssen nicht erst dramatisierende Bilder bemüht werden, und das Leiden muss nicht erst in Form medizinischer Klassifikationen greifbar werden, um einen Startpunkt für die Gesellschaftskritik zu finden. Vielmehr bietet sich eine Perspektive an, in der die Wertvorstellungen, die sich in den Handlungen, Orientierungen und sprachlichen Bezugnahmen der Subjekte widerspiegeln, wieder als tragender Indikator der Zeitdiagnose fruchtbar gemacht werden. Der in dieser Arbeit angelegte Dreischritt von Unsicherheitsdimensionen bietet zahlreiche Anschlussstellen für die empirische Forschung: Wie sich entlang der in Kapitel eins genannten Untersuchungen zeigen ließ, liegt ein deutlicher Schwerpunkt der bisherigen Unsicherheitsforschung auf Fragen nach den subjektiven Verarbeitungsweisen objektiv veränderter Beschäftigungsverhältnisse, Lebenslagen und Erwerbsverlaufsmuster. Jenseits dieser Fokussierung auf Fragen der Verarbeitung von Problemlagen fordert aber insbesondere die Perspektiverweiterung über die Diffusionsthese Untersuchungen, die die Unsicherheiten in gesellschaftlichen Milieus, die nicht unmittelbar von materieller Prekarität betroffen sind, nicht nur identifizieren, sondern diesen Verunsicherungen näher auf den Grund gehen. Zu klären wäre hier beispielsweise, welche Relevanz dem „fordistischen Versprechen“ in den Erzählungen der Subjekte zukommt, wie der Wandel der Anforderungen reflektiert wird und auch, inwieweit sich der Wandel biographischer Plausibilisierungsmuster an den biographischen Erzählungen nachvollziehen lässt. Zudem bietet die in Kapitel drei umrissene These einer „Ökonomisierung der Biographie“ vielfältige Anknüpfungspunkte für die Empirie; insofern als biographische Thematisierungsbemühungen, die auf die Darstellung von Erfolgsfähigkeit ausgelegt sind, bisher nur unzureichend in der biographischen Forschung thematisiert werden. Solche Untersuchungen könnten Anhaltspunkte dafür liefern, inwieweit sich die neuen Maximen der Erfolgskultur bereits durchgesetzt haben.
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