Georg Vobruba Entkoppelung von Arbeit und Einkommen
Georg Vobruba
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Georg Vobruba Entkoppelung von Arbeit und Einkommen
Georg Vobruba
Entkoppelung von Arbeit und Einkommen Das Grundeinkommen in der Arbeitsgesellschaft
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage April 2006 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2006 Lektorat: Frank Engelhardt Der VS Verlag für Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: MercedesDruck, Berlin Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN-10 3-531-14934-2 ISBN-13 978-3-531-14934-2
Inhalt
Vorwort
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Recht aufArbeit? Wider die unheilige Allianz der Profit- und Besch~iftigungsmaximierer ................................................................
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................... 9
Die Entkoppelung yon Arbeit und Einkommen ................................................. 29 Arbeiten und Essen. Die Logik im Wandel des Verhgltnisses von gesellschaftlicher Arbeit und existentieller Sicherung im Kapitalismus ..... 45 Entwicklung und Stand der deutschen Diskussion um ein garantiertes Gmndeinkommen ...............................................................................................
71
Wege aus der Flexibilisierungsfalle. Pl~idoyer far die Verbindung von Arbeitszeitverkiarzung, Flexibilisierung und garantiertem Grundeinkommen ...93 Der Arbeitsmarkt - ein Markt?
........................................................................
Ende der Vollbesch~iftigungsgesellschaft .........................................................
109 117
Income Mixes.Die neue Norrnalit~it nach der Vollbesch~iftigung .................... 145 Politik in der Besch~iftigungsfalle ....................................................................
163
Gute Griande reichen nicht. Zur neuen Diskussion eines garantierten Grundeinkommens ...........................................................................................
175
Die flexible Arbeitsgesellschaft .......................................................................
189
Nachweise
........................................................................................................
211
Vorwort
Far die Entkoppelung von Arbeit und Einkommen zu argumentieren, er~abrigt sich. Dieser Prozess findet ohnehin staR, er wird aber kaum verstanden und keineswegs politisch angemessen reguliert. In diesem Band sind meine Beitr~tge zur Analyse der Entkoppelung von Arbeit und Einkommen gesammelt, sowie zu den Versuchen, sie in geregelte Bahnen zu lenken. Die folgenden Grundmotive verbinden alle Beitr~tge. Erstens: Vollbeschgftigung im traditionellen Sinn ist im Kapitalismus historisch und systematisch unwahrscheinlich. Dass sich die seit mehr als einem Vierteljahrhtmdert anhaltenden Probleme yon Arbeit und Einkommen in VollbescMftigung wieder auflGsen werden, ist nicht zu erwarten. Zweitens: Die entscheidende Ursache daffu" ist die Sonderstellung des Arbeitsmarktes. Die Beweislast far diese These hat die Theorie des Arbeitsmarktes als Umschlagsplatz ~ r Arbeit als fiktive Ware zu tragen. Und drittens: Es geht um die Analyse yon sozialen Entwicklungen, nicht urn norrnativ unterfdtterte politische Postulate.* Es ist eine sch0ne, abet auch merkwihrdige Erfahrung, mit eigenen Beitragen aus tiber 25 Jahren konfrontiert zu sein. Ich hoffe, dass die kompakte Pr~isentation in diesem Band Kontinuitgt und Wandel meiner Oberlegungen zum Thema sichtbar macht. Daraber hinaus denke ich, dass die Beitr~ige einen der intensivsten sozialwissenschaftlichen Diskurse der jtingeren Vergangenheit und Gegenwart erschliel3en. Den daran beteiligten Kolleginnen tend Kollegen habe ich vie! zu verdanken. Man sieht in diesem Fall besonders deutlich: Wissenschaft ist ein kommtmikativer Prozess mit monologischer Auswertung. Leipzig im Februar 2006
Georg Vobruba
F~r ihre Hilfebei der Fertigstellungdes Manuskriptsdankeich KarinLange.
Okologieproblematik und sich verfestigende Arbeitslosigkeit bestimmten den gesellschafiliehen Erfahrungshintergrund in der zweiten Hdlfte der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts. Ich habe in diesem Text versucht, beides miteinander zu verbinden. Es ging um die Kritik an jenen unredlichen Positionen, die mit der Forderung nach einem Recht auf Arbeit dutch die Hintert~r zu planwirtschafilichen Ans~itzen kommen wollten, um die Verarbeitung beunruhigender Konfrontationen zwischen Arbeitern und UmweItsch~tzern. Und es ging - schon damals - u m die Preisgabe yon Politik im Namen von Jobs, Jobs, Jobs. Allerdings, die Aktualit~it der Ausf~hrungen sollte man keineswegs dem Text zugute halten, sondern allenfalls den Verh~ilmissen vorwerfen. Tatsdchlich war die politische Verwaltung des gesellschaftlichen status quo seitdem doppelt erfolglos." Weder hat sich die vormalige Ordnung der Vollbeschciftigungsgesellschafi wieder herstellen lassen, noch ist es gelungen, aus den Problemen etwas Neues zu machen. So ist die Aktualit~t des Textes Beleg fur den z~ihen sozialen Wandel seit mehr als einem Vierteljahrhundert.
R e c h t a u f Arbeit? W i d e r die unheilige Allianz der Profit- u n d Besch~iftigungsmaximierer
Seit Vollbesch~iftigung nicht mehr selbstverst~indliches Nebenprodukt einer expandierenden Wirtschaft und einer auf Expansion setzenden Wirtschaftspolitik ist, sondem sich zusehends Unterbeschgftigung zu einem gesellschaftlichen und politischen Dauerproblem verfestigt, werden Forderungen nach einem staatlich garantierten Recht aufArbeit laut (vgl. dazu umfassend Rath 1974). Solche Forderungen kommen vor allem aus Kreisen der Sozialdemokratie, und zwar aus Gruppen, die sich selbst als fortschrittlich innerhalb der Sozialdemokratie verstehen. Ich habe die Absicht, im Folgenden die politische Unangemessenheit der Forderung nach einem Recht auf Arbeit darzulegen, ihre - im Wortsinn - reaktiongre StoBrichtung. Im Orientierungsrahmen '85 der SPD steht: ,,Vollbeschgffigung in allen Regionen unseres Landes zu sichern, ist die Grundforderung unserer Wirtschaftspolitik." (Oertzen et al. 1976: 48) Ebenso offiziell verkttndet die Sozialistische Partei Osterreichs, was das Problem sei: ,,Technologische Entwicklungen drohen die Besch~iftigungsm6glichkeiten ganzer Wirtschaftszweige zu vernichten." (SP() 1978: 54) Die Wirtschaft w~chst weiter, aber das Wachstum des Beschgftigungsvolumens kann nicht mehr mithalten. ,,Trotz wachsender Wirtschaft haben wir in der Bundesrepublik in den letzten Jahren fast zwei Millionen Arbeitsplgtze verloren. Das Ausmaf3 der Rationalisierungsinvestitionen beginnt dauerhaft, das AusmaB der Ersatz- und Erweiterungsinvestitionen zu t~bersteigen." (SPD Schleswig-Holstein 1977: 200) Rationalisierungsinvestitionen - so h6rt man - sind also der Kern des Problems. Nun ist das Phgnomen, dass Wirtschaftswachstum und Besch~iftigungswachstum nicht parallel verlaufen, alles andere als neu. Schon Marx wusste: ,,Die Nachfrage nach Arbeit ist nicht identisch mit Wachstum des Kapitals, die Zufuhr der Arbeit nicht mit dem Wachstum der Arbeiterklasse, so dab zwei voneinander unabhgngige Potenzen aufeinander wirken. Les d6s sont pip6s." (Marx 1968: 669) Denn: ,,Mit dem Wachstum des Gesamtkapitals w~ichst zwar auch
sein variabler Bestandteil, oder die ihm einverleibte Arbeitskraft, aber in bestgndig abnehmender Proportion." (ebd.: 658). Es ist dies allerdings durchaus keine Katastrophe - genauer: es muss keine sein. Betrachtet man den Vorgang zunehmender Rationalisierung der Gt~terproduktion gesellschaftsunspezifisch, so stellt er sich keineswegs als Unglack dar. In der fortschreitenden Rationalisierung und ihrem Ergebnis, der Ausstattung jedes Arbeitsplatzes mit zunehmend mehr Maschinerie und dementsprechender Steigerung der Arbeitsproduktivit~it, ist erst einmal eine Manifestation gesellschaftlichen Fortschritts zu sehen. Es ,,drfickt sich der gesellschaftliche Produktivgrad der Arbeit aus im relativen Gr6genumfang der Produktionsmittel, welche ein Arbeiter, w~ihrend gegebener Zeit, mit derselben Anspannung yon Arbeitskraft, in Produkt verwandelt" (ebd.: 650). Man wird sich rasch da~ber einigen k6nnen, dass die M6glichkeit ,,wfihrend gegebener Zeit, mit derselben Anspannung yon Arbeitskraft" mehr Grater produzieren zu k6nnen, erstrebenswert ist: Ist doch damit der ~rgerliche Umstand der prinzipiellen Knappheit der Grater ein S~ck gemildert. Wer das meint, muss noch lange nicht Wachstumsfetischist sein und die Mehrung materiellen Wohlstands far das hOchste Ziel menschlichen Tuns halten. Mehrproduktion bei gleich bleibendem Arbeitseinsatz ist n~imlich nur eine M6glichkeit, wie der gesellschaftliche Produktivitgtszuwachs konkret nutzbar gemacht werden kann. Insgesamt bieten sich vier Versionen, in denen der gesellschaftliche Produktivitgtsfortschritt seinen konkreten Niederschlag finden kann. Man kann mit gegebenem Arbeitseinsatz mehr produzieren. Der solcherart auf der Output-Seite genutzte Produktivit~itsfortschritt kann entweder in (A) zusgtzlicher Konsumgtiterproduktion oder in (B) zus~itzlicher Investitionsgtiterproduktion realisiert werden. Ebenso l~isst sich der Produktivit~itsfortschritt auf der Input-Seite der Produktion, beim Arbeitseinsatz nutzen. Das heit3t, dass ein gegebenes Produktionsniveau mit verringertem Arbeitseinsatz erreicht werden kann. ,,Verringerter Arbeitseinsatz" bedeutet, dass entweder die Intensit~it der Arbeit (C) bei gegebener Arbeitszeit gemindert wird oder dass - bei gleich bleibender Arbeitsintensit~it - (D) die Arbeitszeit reduziert wird.
I0
Schematisch: Produktivit~itsfortschritt
S
lfisst sich nutzen im: als:
~/, Outp~& zus~tzlicher Konsum
zus~itzliche Investitionen
(A)
(B)
xa
~/" Input,,,N Verminderung der Arbeitsintensit~it (C)
Verringerung der Arbeitszeit (D)
Diese M6glichkeiten gelten abstrakt - in dem Sinne: vonder konkreten gesellschaftlichen Organisationsform der Produktion absehend. Wie aber stellen sich Rationalisierung und Produktivitgtsfortschritt eingebettet in kapitalistische Produktionsverhgltnisse dar? Unter kapitalistischen ProduktionsverMltnissen wird der Produktivit~tsfortschritt zweischneidig: ,,Das Gesetz, wonach eine immer wachsende Masse von Produktionsmitteln, dank dem Fortschritt in der Produktivit~it der gesellschaftlichen Arbeit, mit einer progressiv abnehmenden Ausgabe yon Menschenkraft in Bewegung gesetzt werden kann - dies Gesetz drtickt sich auf kapitalistischer Grundlage, wo nicht der Arbeiter die Arbeitsmittel, sondern die Arbeitsmittel den Arbeiter anwenden, darin aus, dab je h6her die Produktivit~t der Arbeit, desto gr6Ber der Druck der Arbeiter auf ihre Besch~ftigungsmittel, desto prekgrer also ihre Existenzbedingungen: Verkauf der eigenen Kraft zur Vermehrung des fremden Reichtums oder zur Selbstverwertung des Kapitals." (ebd.: 674) Nun liegt die Tatsache, dass unter kapitalistischen Produktionsverhfilmissen der gesellschaftliche Produktivitgtszuwachs nicht zu konkret nutzbarem gesellschaftlichen Fortschritt ~hrt, sondern ganz im Gegenteil gerade die Existenz einzelner Lohnabh~ngiger zu gef'ahrden droht, nicht am b6sen Willen irgendwelcher Kapitalisten. Sie liegt vielmehr an der Funktionsweise des Systems selbst, an dem daraus resultierenden Zwang fltr die Einzelkapitale zu kostengttnstigster Produktion und Akkumulation. Wo irgend m6glich mfissen die Einzelkapitale bestrebt sein, menschliche Arbeit dutch vergegenstgndlichte Arbeit vorggngig produzierte Maschinen - zu ersetzen. ,,Mit der durch sie setbst produzierten Akkumulation des Kapitals produziert die Arbeiterbev61kerung also in wachsendem Umfang die Mittel ihrer eigenen relativen Oberzfihligmachung." (ebd.: 660) Produktivitgtssteigerungen fuhren also nicht dazu, dass die Arbeiter
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zunehmend von Arbeit frei, sondem dass sie ihre Arbeit los - arbeitslos werden (vgl. Welteke 1976). Die Beurteilung, was Rationalisierung konkret bedeutet, muss so zu einem ambivalenten Ergebnis ~hren: Zwar erm6glicht Rationalisierung eine Intensivierung der Produktion und schafft damit vergrO~erte Spielr~iume fur die Verteilung des Mehrprodukts - sei es in Form zus/~tzlicher Gfiter (A, B), sei es in Form ,,ersparter" Arbeitsmfihe (C, D). Unter kapitalistischen Produktionsbedingungen aber ist nicht nur der Antrieb zur Rationalisierung in der Funktionsweise des Systems instimtionalisiert, sondern damit zugleich auch schon fiber die Art der Verwendung des (abstrakt) gesellschaftlichen Produktivit~tsfortschritts mitentschieden. Der Zwang zu optimaler Kapitalverwertung bewirkt, dass die Produktivit/~tsfortschritte t~berwiegend ,,privat" verwendet, also reinvestiert werden. Zwar haben wir im Zwang zur Akkumulation unter kapitalistischen Produktionsverh~iltnissen einen gewaltigen Motor gesellschafflichen Produktivit/~tsfortschritts. ,,Aber alle Methoden zur Steigerung der gesellschaftlichen Produktivkraft der Arbeit, die auf dieser Grundlage erwachsen ... sind ... zugleich Methoden der Produktion von Kapital durch Kapital oder Methoden seiner beschleunigten Akkumulation." (Marx 1968: 653) Dies ist die Crux des Produktivit~itsfortschritts unter kapitalistischen Produktionsbedingungen: Dass sein Motor, die Akkumulation, nicht als gesellschaftlich beherrschbares Instrument, sondern als Angelpunkt des Systemfunktionierens selbst und damit als Selbstzweck, als Akkumulationszwang, instimtionalisiert ist. Was bedeutet das ~ r die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Lohnabh~ingigen? Wir sehen deren Lage in zweierlei Hinsicht tangiert: Zum einen bleibt das Niveau der Lebensumst~inde der Lohnabh~ingigen hinter dem gesellschaftlichen Produktivit~itsniveau zurfick. Zum anderen bedeutet Rationalisiemng tendenziell die Entstehung yon Gegens~itzen innerhalb tier Lohnarbeiterschaft: W~ihrend ein Teil weiter - und intensiver - besch~iftigt ist, wird ein anderer vonder Teilnahme an der Produktion ausgeschlossen. Da aber die Teilhabe am gesellschaftlichen Output: Konsum, Freizeit vonder Teilnahme am Input: Erbringung von Arbeitsleistung abh~ingt, kann nur jener Teil der Lohnabh~gigen, der nicht freigesetzt wird, die Erh6hung der Arbeitsproduktivitgt als Chance nutzen: aus gleichem Arbeitseinsatz mehr Nutzen zu ziehen. ,,Das eigentliche Problem des technischen und organisatorischen Wandels ist darin zu sehen, dab immer nur bestimmte Gruppen - in der Hochkonjunktur sind es relativ kleine, in der 12
Rezession dagegen augerordentlich grol3e - Opfer fttr den Wohlstand der Mehrheit zu erbringen haben." (Friedrichs 1978: 25) Es ist zu unterscheiden zwischen dem Effekt der Rationalisierung als solcher: der Vermindemng der Notwendigkeit menschlichen Arbeitseinsatzes zur Produktion und den gesellschaffsspezifischen Folgen der Rationalisierung: Arbeitslosigkeit. Weder geht es an, unbeschadet seiner konkreten gesellschaftlichen Auswirkungen in distanzloser Bewunderung des technischen Fortschritts zu verharren, noch darf man ihn als Bedrohung und Problemstifter sehen, da die Probleme sich ja nicht per se, sondern aus der spezifischen gesellschaftlichen Verfasstheit ergeben, innerhalb der technischer Fortschritt realisiert wird. Eine am Zwang zur Akkumulation orientierte technologische Entwicklung ist problematisch und weckt Wtinsche nach inhaltlicher Kontrolle. Doch soll fiber den konka'eten Problemen, die dies aufwirft, nicht der utopische Gehalt vergessen werden, den Technologic auch impliziert: Dass menschliche Arbeitsmtihe auf Maschinen abgew~ilzt werden kann. Rationalisierung bedeutet der Tendenz nach, dass die Gtiterproduktion vom menschlichen Arbeitseinsatz zunehmend unabh~ingig wird. Das verlangt als politische Konsequenz, Besch~iftigungssystem und Versorgungs-(Verteilungs-) system zunehmend voneinander zu entkoppeln. Das heigt: Rationalisierung im historischen Magstab birgt die Chance, dass es mehr und mehr obsolet wird, dass das einzelne Gesellschaftsmitglied nur nach Maggabe seines Beitrags zum BSP an der Verwendung des BSP teilhaben kann. Vielmehr er6ffnet sich die M6glichkeit, den gesellschaftlichen Reichtum immer weniger nach individueller Leistung und immer mehr nach individuellen Bedtirfnissen zu verteilen. Diese M6glichkeit nutzbar zu machen ist eine politische Aufgabe. Es gilt, dies bei 0berlegungen um ein m6gliches ,Recht auf Arbeit" zu bedenken. Das Parteiprogramm 1978 der Sozialistischen Partei Osterreichs sieht im Recht auf Arbeit eines der ,,Grundrechte der sozialen Demokratie" (SP0 1978: 53). ,,Der Grundwert der Arbeit ist bedroht" (SPD Rhein-Neckar 1977: 235) konstatiert die SPD Rhein-Neckar, und die SPD Schleswig-Holstein empfiehlt folgerichtig ,,alle Kri~fte anzuspannen, damit das Recht auf einen Arbeitsplatz POxjeden verwirklicht wird" (SPD Schleswig-Holstein 1977: 229). Dies sei zu fordem - heil3t es -, ,,weil Arbeit fOr den einzelnen eine wichtige M6glichkeit ist, sich selbst zu verwirklichen und zur Entwicklung der Gesellschafl seinen Beitrag zu leisten. Und weil Arbeit fin" den Arbeimehmer, fast immer die einzige M6glichkeit ist, sich eine ausreichende Existenzgrundlage zu schaffen." (ebd.: 227) Allein in der Bundesrepublik Deutschland sinkt die Zahl der 13
Arbeitslosen im Jahresdurchschnitt h~iufignicht einmal mehr unter eine Million. Dazu kommt wahrscheinlich noch eine erhebliche verdeckte Arbeitslosigkeit. Die Dauer der individuellen Arbeitslosigkeit wird tendenziell lfinger: Jugendliche, ~ltere Arbeitskr~fte, Frauen und Ausl~nder sind yon Arbeitslosigkeit saint ihren depravierenden Wirkungen verstfirkt betroffen. Abhilfe zu schaffen tut Not. Aber heiBt das unbedingt Arbeit zu beschaffen? In der Tat: ,,Arbeit ist die Existenzgmndlage menschlichen Lebens." Das gilt erst einmal in einem recht trivialen Sinn. Der Mensch ist zu seinem Oberleben in irgendeiner Weise auf die Auseinandersetzung mit der Natur angewiesen. Der Mensch - darin selbst ein St~ck Natur - stellt im Arbeitsprozess den f~r ihn existenz-notwendigen Zusammenhang mit der ihn umgebenden Natur her. ,,Die Arbeit ist zun~chst ein ProzeB zwischen Mensch und Natur, ein ProzeB, worin der Mensch seinen Stoffwechsel mit der Natur durch seine eigene Tat vermittelt, regelt und kontrolliert. Er tritt dem Naturstoff selbst als eine Naturmacht gegenfiber. Die seiner Leiblichkeit angeh6rigen Naturkr~ifte, Arme und Beine, Kopf und Hand setzt er in Bewegung, um sich den Naturstoff in einer t~r sein eignes Leben brauchbaren Form anzueignen." (Marx 1968: 192) An diesen simplen Tatbestand, dass der Mensch sich - zu aller Zeit - seine Existenz in der Auseinandersetzung mit der Natur zu sichem habe, knfip~ unmittelbar Grunds~tzliches: ,,Indem er durch diese Bewegung auf die Natur auBer ihm wirkt und sie ver~ndert, ver~ndert er zugleich seine eigene Natur." (ebd.) Dies verweist auf den Anteil, den Arbeit an der Konstitution des Menscben als Gattung insgesamt hat: ,,Die Arbeit ist das Ffirsichwerden des Menschen innerhalb der Ent~uSerung oder als ent~iuBerter Mensch ... Selbsterzeugungs- oder Selbstvergegenst~ndlichungsakt des Menschen." (Marcuse 1970:13) In so grunds~tzlicher Bestimmung hat Arbeit einen anthropologischen und einen erkenntnistheoretischen Aspekt, die sich wechselseitig bedingen. Seine konstitutionelle Bed~ftigkeit n6tigt dem Menschen die Auseinandersetzung mit der Natur ab. Eben in dieser Auseinandersetzung entwickelt er Subjektivit~t und ein System von Vorstellungen, Kategorien - insgesamt: Erkenntnis, in der er die ihn umgebende Welt als Lebenswelt erfasst und sich selbst in diese Lebenswelt stellt: Selbstkonstitution des Menschen und Konstituierung seiner Umwelt als Lebenswelt finden prozesshaft statt und bedingen einander gegenseitig. Im Brennpunkt dieses Prozesses steht die im Fortschreiten der Gattungsgeschichte des Menschen zunehmend gesellschaftlicher werdende Auseinandersetzung des Menschen mit der ihn umgebenden Namr: Arbeit. Insofem ist ,,gesellschaftliche Arbeit als Synthesis des Menschen mit der Natur zu denken" (Habermas 1973:
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43). Im Begriff des Menschen als einem ,,lebensffihigen" gesellschaftlichen Wesen ist Arbeit in diesem allgemeinen Sinne immer schon mit gesetzt. An solch Allgemeines zu erinnern scheint aktuell notwendig. Arbeit ist ,,die Grundlage unseres Lebens. Ohne die H~inde des Menschen und seine geistigen Kr~ifle gibt es keine menschliche Existenz und keinen gesellschaftlichen Reichturn." (SPD Rhein-Neckar 1977: 235) Man wird die Gtiltigkeit dieser Aussage allgemein vor dem Hintergrund des soeben Ausgefahrten nicht bestreiten. Es fragt sich jedoch, ob solche S~tze, in der aktuellen Situation und als politische Absicht umgemttnzt, ihre Gt~ltigkeit sich erhalten. Das Pathos der Grunds~itzlichkeit, mit dem die Forderungen nach einem Recht auf Arbeit ansetzen, soll Dignit~it und Dringlichkeit des Anliegens verdeutlichen. I n d e s - das Pathos ist geliehen. Es stammt aus dem Kontext der l]berlegungen um die Arbeit als einer anthropologischen Kategorie: Arbeit als Konstitutionsbedingung des Menschen. Dies wiederum hat politische Konsequenzen. Der pathetisch vorgetragene Arbeitsbegriff bleibt so allgemein, dass die konkreten gesellschaftlichen Bedingungen, auf die er sich beziehen muss, sobald er zum Inhalt einer politischen Fordemng wird, nicht bedacht werden. Das aber ist geffihrlich. Warum? Indem die Forderungen nach Sicherung eines Rechts auf Arbeit an 121berlegungen zum Arbeitsbegriff auf der (oben skizzierten) allgemeinsten Ebene, ansetzen, leihen sie sich nicht nur unberechtigterweise deren Pathos. Die emsthaft sch~idliche Konsequenz solcher Rhetorik ist, dass sie zwei Argumentationsebenen unzul~issig verkntipfl: An einen hochabstrakt und gesellschaftsunspezifisch gefassten Arbeitsbegriff werden Forderungen far eine sehr konkrete gesellschaftliche Situation geknt~pft. Folge davon ist, dass im Effekt ,,Arbeit far alle" gefordert wird, ohne Ansehung der gesellschaftlichen Bedingungen, denen sie bier und heute unterworfen ist. ,,Der Mensch ist geschaffen zur Arbeit, denn ohne Arbeit ist die Menschheit nicht imstande zu existieren und das menschliche Wissen zur h6chstm6glichen Vollkommenheit zu bringen." (zit. nach Wendelmuth 1977: 209) Derartiger Purismus des 19. Jahrhunderts schwingt in den Forderungen nach einem Recht auf Arbeit noch heute mit ...... ohne Arbeit ist die Menschheit nicht imstande ... das menschliche Wissen zur h6chstm~glichen Vollkommenheit zu bringen." Abstrakt mag das sehr richtig sein, vor dem Hintergrund konkreter gesellschaftlicher (Arbeits-)Verh~ilmisse jedoch ger~it solch eine Aussage in die N~ihe yon Zynismus. Zumindest aber ist es irrefahrend, einen derart abstrakten - das heiBt: yon den tats~ichlichen Arbeitsbedingungen absehenden - Arbeitsbegriff in die politische Diskussion einzubringen. Denn einerseits bef6rdert er durch das Pathos, das er sich leiht, eine Idolisierung der Arbeit (vgl. Seefranz 1978: 90). 15
Andererseits sieht dieser abstrakte Arbeitsbegriff gerade von jenen ArbeitsverhNmissen ab, die sich aus der konkreten gesellschafllichen Organisationsform der Arbeit ergeben. So kommt es, dass ,,Arbeiten zum Lebensinhalt hochstilisiert (wird), obwohl es in vielen F~illen schlicht Lebensunterhalt bedeutet" (ebd.). Der pathetisch-allgemeine Arbeitsbegriff verleitet also dazu, die Arbeitsbedingungen gar nicht zum Thema zu machen und Arbeit ohne Ansehung der tats~ichlichen VerhNtnisse als erstrebenswert zu postulieren. Damit ist die Forderung nach einem Recht auf Arbeit ebenso inhuman wie die Bedingungen selbst es sind, unter denen die Arbeit stattfindet. Idolisierung der Arbeit und Ausblenden der konkreten Arbeitsverh~lmisse - dazwischen spannt sich ein Feld yon Ideologie, in dem die Diskussion um das Recht auf Arbeit heute weitgehend verhangen zu sein scheint. Fragen wir ,,technisch": L~isst sich ein Recht auf Arbeit realisieren? Unter welchen Bedingungen l~isstsich ein Recht aufArbeit realisieren? Die Verankerung eines Rechts auf Arbeit ist nur sinnvoll als ein subjektives Recht: Seine Ausgestaltung mi.isste etwa folgendermagen aussehen: ,,Anspruchssubjekt ist grunds~itzlich der einzelne Arbeitslose, Anspruchsgegner der Staat oder private Arbeitgeber. Unter Anspruchsobjekt wird die Umschreibung der Handlungen verstanden, die der Anspruchsverpflichtete zu tun oder zu unterlassen hat." (Rath 1974: 89) Dazu kommt als weitere Bedingung, dass ,,die Rechtsordnung auch entsprechende M/Sglichkeiten zur zwangsweisen Durchsetzung des Anspruchs zur Verffigung stellt" (ebd.). Sinnvoll ist die Formulierung eines subjektiven Rechts auf Arbeit nut dann, wenn der Anspruchsgegner dieses Rechts, der Staat, tiber das Anspruchsobjekt, die Bereitstellung von Arbeitspl~tzen, tatsgchlich verfiigen kann. Dies ist prinzipiell in zweierlei Weise denkbar. Entweder der Staat kommt seiner Verpflichtung, das Recht auf Arbeit zu gew~hrleisten nach, indem er die Wirtschaft so stimuliert, dass er diese Arbeitspl~tze in ausreichender Anzahl anbietet. Oder der Staat richtet selbst die notwendigen Arbeitsplgtze ein, tritt selbst als Nachfrager von Arbeitskraft auf. Der Staat kann also versuchen, entweder durch 1. indirekte oder durch 2. direkte Mal3nahmen den Ansprachen aus einem Recht auf Arbeit nachzukommen. Tatsfichlich sind dem Staat bei beiden M6glichkeiten enge Grenzen gezogen. Man kann zwei Typen yon wirtschaftspolitischen Interventionsstrategien unterscheiden: Wirtschaftsinterventionen, die bei der F6rderung der Gewinneinkommen ansetzen, und Wirtschaftsinterventionen, die bei der F6rderung der Masseneinkommen/Massenkaufkraft ansetzen. Da die Okonomie nach dem Modell eines Kreislaufs gedacht wird, bauen beide Interventionsstrategien prinzipiell 16
auf die gleichen Wirkungszusammenhange: F6rderung der Gewinneinkommen soil fiber eine Verbesserung der Gewinnerwartungen zu zus~itzlicher Investitionst~itigkeit trod damit zu zus~itzlicher Nachfrage nach Arbeitskraft ftihren: F6rderung der Masseneinkommen soil die kaufkrgftige Nachfrage steigern, damit die Ertragschancen der Untemehmen verbessern und somit wiederum zu vermehrter Investition trod zus~tzlicher BescMftigung ftihren. Gegen die Wirksamkeit beider MaBnahrnetypen gibt es heute Bedenken. a) Gegen die Wirksamkeit staatlicber Profitbegianstigung zur F~rderung yon Investition und Beschgftigung l~isst sich einwenden, dass der Zusammenhang yon vermehrter Investition und zus~itzlicher Nachfrage nach Arbeitskraft nicht eindeutig ist (vgl. dazu Glastetter 1975; Vobmba 1978; Schwab 1978). Es hat sich in den letzten Jahren gezeigt, dass ,,Erweiterungsinvestition" - worauf der Zusammenhang yon staatlicher Profitbegianstigung, Wirtschaftswachstum und Beschaftigungswachstum baut - durchaus nicht der Normalfall untemehmerischen Investitionsverhaltens sein muss. Unter der Bedingung, dass die l~ingerfristigen Absatzchancen als unsicher angesehen werden, ist vielmehr ,,Rationalisierung" der dominante lnvestitionstypus. Profitsicherung wird also nicht fiber Mengenausweitung (Umsatz), sondem fiber Kostenreduzierung betrieben. Dabei gerfit der Staat in die paradoxe Situation, dass die fmanziellen Mittel, die er zur InvestitionsfOrderung zwecks Beschgftigungswachstum vergeben hat, noch zur Steigerung des Besch~iftigungsproblems beitragen: Denn sie werden mit zur Finanzierung yon Rationalisiertmg verwendet. Die Mittel, die der Staat aufwendet, um ,,sein" Besch~iftigungsproblem zu managen, werden somit in der Konsequenz gegen ihn gewendet. b) Auch gegent~ber der M0glichkeit, durch Anheben der Massenkaufl~raft 1 verst~irktes Wirtschaftswachstum saint Besch~iftigungswachstum zu initiieren, ist Skepsis am Platze. Zum einen ist ungeklart, in welchem Ausmal3 zus~itzliche Einkommensteile fiberhaupt far zusatzlichen Konsum verwendet oder ob nicht die Mehreinkommen zum gr6Bten Teil gespart warden. Diese Frage lfiuft auf das Problem einer realistischen Konsumfunktion hinaus. Dem k/Snnen wir hier nicht nachgehen. Angesichts der derzeitigen allgemein eher als ,,unsicher" interpretierten 0konomischen Situation l~isst sich vermuten, dass aus Sicherheitsmotiven (und daher weitgehend unabhangig von der Verzinsung) ein m/Sgliches Mehreinkommen gespart wird. Aber selbst, wenn wir annehmen, dass staatliche F0rderung der Masseneinkommen zu zusatzlicher Konsumgtiternachfrage fahrt, bleibt der beschgftigungspolitische Erfolg solcher MaBnahmen noch ungewiss. Denn es gibt gute In dieseRichtungargumentieren: Baischet al. (1977). 17
Argumente dafttr, dass die Untemehmen bei staatlich induzierter zus~tzlicher Nach~age ihre Profitsicherung nicht aber Mengenausweimng des Gaterangebots (saint erh6hter Produktion und Beschgftigung), sondern t~ber Preissteigerungen vomehmen. Erweiterungsinvestitionen durchzufahren, erscheint aus unternehmerischer Sicht nut sinnvoll, wenn eine lgngerfristige und dauerhafte Steigerung der Nachfrage zu erwarten ist. Der staatlich ges~tzten Mehmachfrage jedoch fehlt gerade die Garantie der Dauerhaftigkeit; mehr noch: Schon aus der Programmatik von Konjunkturpolitik ergibt sich, dass die staatlichen Stiitzungen wieder zurifckgenommen werden, sobald sie ihren Zweck erreicht haben, also: sobald der Wirtschaftsprozess wieder aufhOherem Niveau l~iuft. Dazu muss man voraussetzen dttrfen, dass die keynesianische Initialzfindung in eine sich selbst verstgrkende und selbst tragende Investition/Konsumtion mandet. Genau das aber ist in dem Mal3e nicht mehr der Fall, in dem die wirtschaftliche Expansion sich s~ikularen Grenzen partieller S~ittigung nghert. In diesem Fall gewinnen die staatlichen F6rderungen den Charakter vo~bergehender Magnahmen, auf die man sich untemehmerisch entsprechend einstellt: Die (kurze) Zeit der Mehrnachfrage wird intensiv (durch Preiserh6hungen) nicht extensiv (durch Mengenausweitungen) genutzt. In zunehmendem Mage verliert die angebotene Menge ihre Bedeutung als strategische Gewinnvariable far die Unternehmen. An ihre Stelle tritt der Preis als der prim~ire Ansatzpunkt, Gewinne zu stabilisieren. Insofern erhalten Preissteigerungen den Charakter untemehmerischer Abwehrreaktionen auf befarchtete Gewinnschmglerung (vgl. Glastetter 1975). Wer dies bedenkt, bemerkt wiederum eine paradoxe Wirkung staatlicher Interventionsversuche. Die Hebung der Massenkaufkraft fordert unternehmerische Abwehr-(Preissteigerungs-) Reaktionen geradezu heraus, da sie den Einzelunternehmen stets als eine Bevorzugung der Lohneinkommen auf Unternehmerkosten erscheinen. Dazu liefem die staatlichen Magnahmen zur Hebung der Massenkaufkraft auch noch den fmanziellen (Nachffage-)Spielraum far die untemehmerischen Abwehrreaktionen, far Preissteigerungen. Indirekt - ,,keynesianisch" - agierende Wirtschaftspolitik scheint somit zunehmend Schwierigkeiten ausgesetzt, ,,zu einem, hohen Beschgftigungsstand 'a zu gelangen. Die linkskeynesianisch inspirierten wirtschaffspolitischen ,,Alternativen", die in schOner RegelmgNgkeit angeboten werden, sind demgegent~ber wenig t~berzeugend. Die einen vertrauen stur auf die Mengenstimulierung durch zus~tzliche Nachfrage und sparen das Problem der Inflation einfach aus. Andere So der Auftragan die Wirtschaftspolitiklaut Stabilitatsgesetz. 18
sehen die M6glichkeit staatlich induzierter Inflation wohl, doch legen sie nahe, Inflation mr den Zweck vermehrter Besch~iftigung bis zu einem gewissen Grad in Kauf zu nehmen, 3 das Ziel der Preisniveaustabilit~it also zu ,,relativieren". Diese Position, der Inflation ein notwendiges l)bel ist, das es eben hinzunehmen gilt, wenn man die Arbeitslosigkeit beseitigen will, verkennt, dass unternehmerische Preissteigerungen die in inflatorische Prozesse mtinden, Abwehrreaktionen auf staatliche Kaufkraftsttitzung sind, insofern diese als Umverteilungsmal3nahmen zu Lasten der Unternehmer angesehen werden. Also ist Inflation kein Nebeneffekt Vollbesch~ifligung sichemder Wirtschaftspolitik, sondern Indikator ihres Scheiterns: Nicht Mengenausweitung bei steigendem Preisniveau wird bewirkt, sondern ein Ansteigen des Preisniveaus statt Mengenausweitung. Insgesamt scheint es weitgehend illusorisch, in einer der Versionen traditioneller keynesianischer Wirtschaflspolitik eine tragf~ihige Grundlage mr die Garantie eines Rechts auf Arbeit durch den Staat zu sehen. Die Hilflosigkeit solcher Erwartungen wird umso deutlicher, je klarer man sich macht, dass es ja gerade erst das offenkundige Versagen traditioneller Wirtschaffspolitik war, das dazu ftihrte, dass Fordemngen nach einem Recht auf Arbeit laut wurden. Solange sich Vollbesch~iftigung aus dem Wirtschaftswachsmm problemlos ergab oder sich doch mit wirtschaftspolitischen Mitteln herstellen lieB, war das ,,Recht auf Arbeit" kein politisches Thema. Wir k6nnen also in der Fordertmg nach einem staatlich garantierten Recht auf Arbeit einen gesellschaftspolitischen Anspruch erkennen, der manifest wurde, weil seine implizite Einl6sung problematisch geworden war. Wenn man das weirS, darf man diese Einl6sung nicht gerade auf jene Mechanismen granden, die dazu ge~hrt haben, dass der Anspruch auf ein Recht auf Arbeit die Schwelle politischer Thematisierbarkeit tiberhaupt erst tiberschritten hat. Die zweite prinzipielle M6glichkeit for den Staat, als Anspruchsgegner ftir ein Recht auf Arbeit zu fungieren, besteht darin, dass er selbst in ausreichendem Mage Arbeitspl~itze bereitstellt. Ftir diese Version, das Recht auf Arbeit zu sichern, spricht einiges. Bedenkt man, dass wenigstens einige Bereiche der 6ffentlichen Versorgung (Krankenh~iuser, 6ffentliche Verkehrsmittel etc.) notorisch unterversorgt sind, so ist es in der Tat nahe liegend, brachliegende Arbeitskraft in diese Sparten zu lenken, um auf diesem Wege beides zu erreichen: Sowohl das Problem der Unterbesch~iftigung zu bewfiltigen als auch das Angebot an 6ffentlichen GOtem und Diensten Die Unhaltbarkeitsoleher Positionen hat Hajo Riese (1978) in dankenswerterDeutlichkeit dargelegt. 19
zu erweitern. Als zusfitzliches Argument far staatliche Bereitstellung von Arbeitsplgtzen wird angefahrt, dass die fmanzielle Zusatzbelastung einer derartigen Politik far den Staat nicht allzu hoch w~ire. Da der Staat ohnehin far die Versorgung der Arbeitslosen aufzukommen hat, wttrde eine fmanzielle Mehrbelastung nut in H6he der Differenz zwischen Arbeitslosengeld und Arbeitslohn entstehen. Eine via regina zur BewNtigung des Besch~iftigungsproblems und zur Garantie eines Rechts auf Arbeit also? Man wird die M6glichkeit verst~irkter 6ffentlicher Besch~iftigung im Auge behalten massen. Dazu aber sollte man sich auch der Grenzen und der m6glichen Gefahren bewusst werden, die mit dieser Sorte besch~iftigungspolitischer Mal3nahmen verkntipft sind. Ich nenne im Folgenden: a) finanzielle Grenzen und b) politische Gefahren. a) Das Argument, der Staat sei durch zusfitzliche Einstellungen nur in H6he der Differenz zwischen Arbeitslosengeld und Arbeitslohnzus~itzlich belastet, stimmt formal. Tats~ichlich aber wird der Staat schon durch seine derzeitigen Verpflichtungen aus der Arbeitslosenversicherung in einem Mage beansprucht, das die langfristige finanzielle Abdeckung des Systems sozialer Sicherheit zum politischen Problem und Zankapfel gemacht haben. Soweit staatliche Finanznot eine Grenze staatlicher Handlungsf~ihigkeit markiert, wiirde diese durch (Sffentliche Einstelltmgen yon Arbeitskr~iften zwar nicht wesentlich problematischer, doch ist sie schon unter den gegebenen Umstanden problematisch genug. Unrealistisch jedenfalls sind Vorschlgge, die darauf abzielen, den Staat zur Einstellung Arbeitsloser rechtlich zu verpflichten. Dies wfirde zu einer l~ingerfristigen Kttmulierung flnanzieller Belastung des Staates fahren, die dieser nicht tragen kOnnte. Stellt man aber die Verpflichtung des Staates ,,Arbeitspl~itze mit wertschaffender T~itigkeit ... zur Verfagung" (Lohmann 1974: 213) zu stellen unter den Vorbehalt: ,,entsprechend der wirtschaftlichen M~3glichkeiten" oder: ,,bis zu der H6he der hierfar bereitgehaltenen finanziellen Mittel" (ebd.), so reduziert man die Garantie des Rechts auf Arbeit wieder auf wenig mehr als eine politische Absichtserkl~irtmg. Auf diesem Stand aber sind wir im Prinzip auch schon heute. Vollbesch~iftigungsgarantien des Staates k6nnen nicht mehr versprechen, als sein Budget halten kann. Die fmanzielle Problematik verweist direkt auf gef~ihrliche inhaltliche Zweideutigkeiten bei staatlicher Zurverfagungstellung von Arbeitsmtiglichkeiten. b) Wer vom Staat ausreichend Arbeitspl~itze verlangt, um ein Recht auf Arbeit zu realisieren, zugleich abet anerkennt, dass die fmanziellen M6glichkeiten des Staates begrenzt sind, steht bald vor folgendem Dilemma: Entweder die 20
staatlich gebotenen Arbeitsm6glichkeiten bleiben doch wieder hinter der Zahl der Besch~iftigungssuchenden zurtick. - Das Recht auf Arbeit wird eben nur ,,bis zur H0he der dafar bereitgehaltenen finanziellen Mittel" gewahrleistet. Oder es wird darauf bestanden, dass allen Arbeitsuchenden vom Staat eine Arbeitsm0glichkeit zur Verfagung gestellt wird. Dann aber karm es keine Entlohnung in g~ingiger H6he (Tarif- oder Marktlohn) mehr geben. Will man also auf ein Recht auf Arbeit als einklagbares Recht aller Arbeitsuchenden gegen den Staat bestehen und anerkennt man die finanzielle Begrenztheit des staatlichen Handlungsspielraums, so muss man Reduzierungen der Entlohnung in Kauf nehmen. Damit aber bleibt yore Inhalt des pathetisch geforderten Rechts auf Arbeit nicht mehr als eine Arbeitslosenunterstatzung mit Besch~iftigung. Besteht man gar noch darauf, dass dem Recht auf Arbeit eine Pflicht zur Arbeit zu korrespondieren habe 4, macht man also die Auszahlung dieser ,,Arbeitslosenuntersttitzung" yon der Bereitschaft des Betroffenen abh~ingig, die staatlich angebotene Arbeit zu akzeptieren, so ist man bei einem Zustand angelangt, der sich von staatlich verordnetem Arbeitsdienst nur mfihsam unterscheiden lasst. Dass solche Bedenken nicht aus der Luft gegriffen sind, verdeutlicht ein unterdessen allerdings aus dem Verkehr gezogener - Runderlass der Bundesanstalt far Arbeit, der regelt, welche Besch~iftigung ein Arbeitsloser annehmen muss, um nicht seiner Arbeitslosenunterstfitzung verlustig zu gehen. Darin wird festgelegt: ,,Im Interesse einer alsbaldigen Beendigung seiner Arbeitslosigkeit schuldet der Leistungsempffinger der Versichertengemeinschaft eine weitgehende Anpassung seiner Vermittlungswansche und -vorstellungen an die Bedfirfnisse des Arbeitsmarktes." (Der Spiegel Nr. 42, 1978: 29) Wer in seiner Qualifikationsstufe keine Arbeit finder, muss Arbeit in der n~ichst niedrigeren, im Extremfall auch Arbeit in der untersten Qualifikationsstufe akzeptieren. Dies warde bedeuten, dass ein Arbeitsloser letztlich zu jeglicher Art von Besch~iftigung gen6tigt werden kann. Die bisherigen Ausfahrungen sollten deutlich machen: ,,Es liegt auf der Hand, dab in einem marktwirtschaftlichen System, das grunds~itzlich durch individuell gesteuerte Angebots- und Nachfragekomponenten bestimmt wird, das Ziel der absoluten Vollbesch~iftigung far den Staat nicht zu erreichen ist." (Rath 1974:110) ,,Als Konsequenz dieser I3berlegungen ergibt sich, dab ein subjektives Offentliches Recht auf Arbeit nur in einem Land verwirklicht werden kann, in dem die Staatsgewalt die uneingeschrfinkte Verfagungsmacht fiber die geSo etwa Kurt Schumacher in seinen ,,Programmatischen Erklarungen" vom Oktober 1945. Vgl. Wendelmuth (1977: 215); vgl. auch Rath (1974:116).
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samte Wirtschaft, insbesondere die Arbeitspl~itze und den Arbeitsablauf besitzt." (ebd.: 111). Lassen wir dahingestellt, ob ,,die uneingeschr~inkte Ver~gungsmacht tiber die gesamte Wirtschaft" tats~ichlich dem Staat tibertragen werden sollte, damit dieser das Recht auf Arbeit verwirklichen kann. Hier muss es erst einmal darum gehen, ob die Verwirklichung eines Rechts auf Arbeit tiberhaupt erstrebenswert ist, wenn man darunter versteht, dem gegebenen Arbeitskr/ifteangebot die entsprechende Nachfrage zu schaffen. Wie wir gesehen haben, laufen die diesbeziaglichen Bestrebungen darauf hinaus, Gtiterproduktion um der Besch~iftigungsm6glichkeiten willen auszudehnen. 5 Derartige Bemtihungen sind von einer falschen Auffassung vom Zusammenhang von Arbeit und materieller Existenzsicherung getragen. Sie setzen Arbeit und Existenzsicherung in eins. Das ist unproblematisch, solange der historische Stand der gesellschaftlichen Produktivkrgfte eine arbeitsunabh~ngige Existenzsicherung verwehrt. Sie wird in dem Mage problematisch, in dem das Fortschreiten der Produktivkraftentwicklung menschlichen Arbeitseinsatz obsolet macht, da sie in solch einer Entwicklung die Perspektive planvoller Reduktion menschlicher Arbeitsmfihe nicht erfassen kann. In der Sicht, in der Arbeit und materielle Existenzsicherung unverrtickbar ident sind, bleiben Arbeit und die F6rderung yon ArbeitsmOglichkeit stets erstrebenswert und der Wegfall von Arbeitsm6glichkeiten (,,ZerstOrtmg von Arbeitsplatzen") stets tmerwtinscht. Dies hat bis zu der verqueren Ansicht hingeNhrt, dass durch Rationalisierung Arbeit ,,knapp" und darum ein ,,Gut" werde. 6 Wer glaubt, dass Arbeit ein knappes Gut geworden sei, welches es m6glichst gerecht zu verteilen gilt, oder wer gar meint, ,,Arbeit sei zu einem Wert an sich geworden" (Vetter 1977), verkennt die grunds~itzlich instrumentelle Funktionsstelle der Arbeit geh6rig: Die einseitige Propagierung der Beschaffung von Arbeitsm6glichkeiten als besch~tftigungspolitische Strategie befestigt damit einen grundlegend falschen Kurs und schreibt ihn fort. Das l~iuft darauf hinaus, dass Produktion um der Besch~iftigung willen ausgedehnt wird und nicht Beschgftigung um der Produktion willen stattfindet. Nicht arbeiten, um zu leben, sondern leben, urn zu arbeiten - dazu ffihrt die Verkehrung von Arbeit als Notwendigkeit und Arbeit als Selbstzweck.
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Die lJberlegungenzum gegenwartigenBesch~ftigungsproblem,die diesem lrrtum aufsitzen, sind mittlerweilezahlreich.Vgl.etwa:OttoUlrich(1977). GegendieseAuffassungwendetsich: PeterSpahn(1979: 180ff.).
Diese Verkehrung allerdings findet nicht nur in den K6pfen start, sondem wird durch die Funktionszusammenh~inge kapitalistischen Wirtschaftens, denen tier Einsatz und die Reproduktion der Arbeitskraft unterworfen ist, nahe gelegt. Unter kapitalistischen Produktionsverhgltnissen, ,,wo nicht der Arbeiter die Arbeitsmittet, sondern die Arbeitsmittel den Arbeiter anwenden", ist diese Verkehrung strukturell angelegt. ,,Die Gr613e der Akkumulation ist die unabh~ingige Variable, die Lohnh6he die abh~ingige, nicht umgekehrt." (Marx 1968: 648) Das heiBt; Die Arbeitskrgfte haben sieh zuerst den Bedingungen der Kapitalverwertung zu unterwerfen, erst danach - und yon gelungener Kapitalverwertung ,,abgeleitet" - k6nnen sie zu ihrem individuellen Nutzen kommen: der Existenzsicherung der Lohnabh~ingigen. Wer das Lohnabh~ingigeninteresse innerhalb der gegebenen Produktionsverhgltnisse verfolgen will, sieht sieh daher gen6tigt, sich auf die Eigengesetzlichkeit des Akkumulationsprozesses einzulassen, als dessen Derivat es Verbesserungen der Lage der Lohnabh~ingigen dann geben kann. Dabei fTagt es sich allerdings, wie rigide der Zusammenhang yon Eigengesetzlichkeit der Akkumulation und Lebensverhgltnissen der Lohnabhgngigen tatsgchlich ist und ob politische Strategien denkbar sind, die auf eine Entkoppelung dieses Zusammenhangs hinauslaufen k6nnten. Eine Politik, welche die Abh~ingigkeit der materiellen Lage der Lohnabhgngigen vom Kapitalverwertungsprozess unbesehen als Voraussetzung hinnimmt und damit noch befestigt, zeigt sich in zahlreichen heutigen ,,linken" Positionen. Dort macht man sich im Namen der Vollbeschgftigung untemehmerische Rentabilitgtsprobleme zu Eigen und sorgt sich im Namen nationaler Arbeitsplatzsicherheit um die internationale Wettbewerbsf~higkeit des nationalen Kapitals. Solchen Positionen muss der Gebrauchswert der Produktionsergebnisse gleichgaltig sein - wenn sie nur Arbeitsplgtze versprechen. 7 Damit verbindet sich der stillschweigende Verzicht auf auch nur die gedankliche M0glichkeit, Produktionsentscheidungen an Hand inhaltlicher Kriterien zu kritisieren. Diesem Vorwurf setzen sich alle Typen von Beschgftigungspolitik aus, die auf der NachfTageseite des Arbeitsmarktes ansetzen: F0rdemng des Wirtschaftswachstums zwecks Mehrnachfrage nacb Arbeitskrtiften und Mehrbeschgftigung. Die in der Funktionsweise des kapitalistisch-6konomischen Systems selbst angelegte Abtrennung yon Produktionsmotiv (TauschwertrealiIn geradezu anst~Biger Weise demonstriert das: Klaus Gr~ssler (1977). Es gelang in diesem Kampf, die Verlegung der Fertigung des MRCA-J~gers, eines Starfighter-Nachfolgers, zu verhindern.
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sation) und Produktionsnutzen (Gebrauchswerterstetlung) wird von den Verfechtem des Vollbesch&iftigungspostulats, die sich die eigenen KOpfe ~iber ffemde Kapitalverwermngsprobleme zerbrechen, best~tigt. Denn die Akkumulationsf6rdemng um der Arbeitsplatzbeschaffung willen, verstellt sich die Sicht auf MOglichkeiten konkreter Nutzung des gesellschaftlichen Produktivitgtsfortschritts. Solche M6glichkeiten lassen sich nur durch Regulierungen auf der Angebotsseite des Arbeitsmarktes wahrnehmen. Dies muss bedeuten, qualitative und vor allem - quantitative Ver~inderungen des Arbeitskrgfteangebots zu initiieren. Dem liegt die Auffassung zugrunde, dass der in Arbeitslosigkeit sich verdeckt manifestierende abstrakte gesellschaftliche Fortschritt dutch politischen Eingriff konkret nutzbar gemacht werden kann, indem er entweder qualitativ - in den Arbeitsbedingungen - oder quantitativ - in der Arbeitszeit zu einem Vorteil der abh~ingig Beschgftigten umgem0nzt wird. In solchen Politikstrategien er6ffnet sich die Chance, die Entwicklung der Lebensverh~iltnisse der Lohnabhgngigen von Akkumulation als Selbstzweck abzukoppeln. Damit lieBe sich eine wesentliche Voraussetzung far eine autonome Politik im Interesse der Lohnabh~ingigen schaffen. ,,Autonom" wgre solch eine Politik in dem Sinne zu nennen, dass sie das Interesse der Lohnabh~ingigen aus dem strukturellen Erpressungsverhgltnis 16st, in dem sie heute befangen ist; dass nicht mehr die Beracksichtigung von Kapitalverwertungsimperativen vorweg Bedingung der Verfolgbarkeit von Interessen der Lohnabhgngigen ist. Diese l)berlegungen legen zwei politische Forderungen nahe: 1. Besch~ftigung und Produktion, Arbeit und materielle Versorgung mOssen nach MaBgabe der Produktivkraftentwicklung entkoppe|t werden. Hierf0r scheint Arbeitszeitverkttrzung eine entscheidende Voraussetzung zu sein. 2. Ober die - tiberf~llige - Abkehr yon einer Politik gebrauchswertgleichgaltiger Produktionsmengenf6rderung zwecks Besch~ftigungsf6rdemng hinaus ist es notwendig, dass neue soziale Bewegungen in zunehmendem MaBe auf politischen M6glichkeiten gesellschaftlich folgenreicher Kritik von Produktionsinhalten insistieren. Diese beiden Forderungen stehen nicht unvermittelt nebeneinander, sondern bauen aufeinander auf. Ich werde das abschlieBend kurz erlfiutem. Solange die Befriedigung von Interessen der Lohnabhgngigen als Derivat des ,,funktionsrelevanten" Profitmaximierungsinteresses erfolgt, sind die Lohnabh~ngigen in Probleme der Kapitalverwertung notwendigerweise involviert. Das eigene Schicksal h~ngt mit dem Schicksal des ,,arbeitgebenden" Unternehmens unmittelbar zusammen. Die verbreitete Identifkkation abhgngig Besch~iftigter mit ,,ihrem" Betrieb ist nicht das Ergebnis raffmierter unternehmerischer
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Pazifizierungsstrategien, sondem Ausdruck einer realen Interessenkonstellation. Die Frage nach Formen gesellschaftlicher Einflussnahme auf Produktionsinhalte l~isst sich unter solchen Bedingungen nicht ernsthaft stellen. Denn untemehmerisches und Lohnabh~ingigeninteresse treffen sich auf der Basis optimalen betriebswirtschaftlichen Erfolgs, also: Tauschwertrealisation und machen gemeinsam Front gegen Interventionen neuer sozialer Bewegungen (Greenpeace etc.). Um an die Produktion gebrauchswertorientierte Mal3st~ibe anlegen zu k6nnen, ist also notwendig, dass erst einmal der strikte Zusammenhang yon Arbeit (in tauschwertrealisierenden Untemehmen) und materieller Existenzsicherung der Lohnabh~ingigen gelockert wird. In dem Mage, in dem die materielle Sicherung der Lohnabh~gigen nicht mehr von Problemen der Tauschwertrealisation direkt abh~ingt, erwerben diese zunehmend Konfliktf~ihigkeitgegentiber den sich aus Tauschwertproduktion und Akkumulationszwang ergebenden 6konomischen und sozialen Zwangsl~iufigkeiten. Somit stellt sich die Emanzipation der Lohnabh~ingigeninteressen aus ihrer Involviertheit in die Probleme der Kapitalverwertung als Voraussetzung dafttr dar, dass sich innerhalb der Gesellschaft die Chance er(Sffiaet, Produktionsentscheidungen an inhaltlichen Kriterien in politisch folgenreicher Weise zu ruessen. Die Begrenzung der Arbeit auf ihr instrumentell notwendiges Mag und die damit einhergehende Emanzipation des Interesses der Lohnabh~ingigen aus dem Zwangszusammenhang der Kapitalverwemmg sind Voraussetzung fiJr die MOglichkeit einer 6kologischen Transformation von Okonomie und Gesellschaft.
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Die Grundeinkommensdiskussion, die Anfang der 80er Jahre rasch breiter wurde, hatte yon Anfang an einen stark normativen Bias. Die Diskussion zog mich stark an, da sie die Chance bot, uber den festgefahrenen Status quo von Arbeit und Einkommen, Arbeitsmarkt und Sozialpolitik hinaus zu denken. Zugleich war ich abet ~berzeugt, dass die Konzentration auf normativ unterfiittertes Fordern weder sozialwissenschafilich fruchtbar ist noch politisch weiterf~hrt. Es geht in diesem Beitrag also in erster Linie darum, auf Probleme im VerhOlmis zwischen Arbeitsmarkt und Sozialstaat aufmerksam zu machen, an die sich Forderungen nach einem Grundeinkommen anschlieJ3en lassen. Man kann den Beitrag als den Versuch lesen, Schnittstellen yon tatsOchlicher Entwicklung und politischem Forderungsdiskurs zu bestimmen.
Die E n t k o p p e l u n g v o n A r b e i t u n d E i n k o m m e n
Die politisch kontrollierte Entkoppelung von Arbeit und Einkommen steht an. Wenn dies mehr als ein ~ommer Wunsch sein soll, dann muss man gleich fragen: Wie steht es um die Bedingungen, so etwas zu verwirklichen? Bei solchen l~erlegtmgen rut man gut daran, sich erst einmal zu vergewissern, wie ,,notwendig" die Forderung, um die es geht, eigentlich ist. Ich werde (1), dem nachgehend, zuerst zwei Phasen skizzieren, in denen sich der ,,Wandel des Verh~iltnisses von gesellschaftlicher Arbeit und existentieller Sicherung im Kapitalismus" (Vobruba 1985) bisher vollzogen hat. Daran schliel3en sich (2) systematische Ankntipfungspunkte politischer und theoretischer Art ftir die politische Einteitung der dritten Phase, der Entkoppelung yon Arbeit und Einkommen. Hat man Klarheit tiber die begr0ndbare Notwendigkeit einer Entkoppelung hergestellt, so muss man im n~ichsten Schritt (3) zeigen, an welchen Kriterien sich unterschiedliche Instrumente dazu prtifen lassen mtissen. Dabei geht es nicht darum, einzelne Instrumente zu begutachten, sondern urn den Schritt davor: zu begrtinden, warum welche Kriterien FOr eine Begutachtung wichtig sind. SchliefSlich (4) scheint es sinnvoll, nach politisch praktikablen Einstiegen in Richtung auf die Entkoppelung von Arbeit und Einkommen zu suchen und zugleich Ankntipfungspunkte zu anderen politischen Diskussionen und Projekten zu benennen.
I. Der Wandel des Verh~iltnisses von Arbeit und Einkommen im Kapitalismus Die pauperisierten Besitzlosen in der Frtihphase des Industriekapitalismus ~gten sich den neuartigen Anforderungen der industriellen Lohnarbeit keineswegs automatisch. Es war alles andere als selbstverst~indlich, Lohnarbeit als einziges Mittel gegen Armut und Hunger zu akzeptieren. ,,Sie mOssen erst gezwungen werden zu den vom Kapital gesetzten Bedingungen zu arbeiten. Der Eigentumslose ist mehr geneigt Vagabund und Rfiuber und Bettler als Arbeiter zu werden." (Marx 1974: 624)
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Die unbedingte Verkntipfung von Arbeit und Einkommen - so wollen wir diese erste Phase nennen - ist das Ergebnis politischen Eingriffs. Durch den Staat, insbesondere den polizeistaatlichen Umgang mit Bettlern und durch Arbeitsh~user, wurden Auswege in die Existenzm6glichkeiten auBerhalb des Arbeitsmarktes abgeschnitten. Erst auf dieser Grundlage kann der Arbeitsmarkt zum zentralen gesellschaftlichen Steuerungsmedium werden. Hunger wird damit zum arbeitspolitischen Regulativ (vgl. Potanyi 1978:113ff.). Dies Moment yon ,,Ktinstlichkeit", mit der die Arbeitskraft historisch zur Marktg~ingigkeit gezwungen wurde, ist ihr als systematisches Merkmal erhalten geblieben. Arbeitskraft ist nicht Ware, sondern ,,fiktive Ware" (vgl. Polanyi 1978:102 ff.; Offe/Hinrichs 1984; Vobruba 1983). Das heigt: Sie wird den Marktgesetzen gleich einer Ware unterworfen, fagt sich in ihren Qualitgten jedoch der Warenform nicht restlos. Das hat zwei Konsequenzen. 1. Gemessen an normalen Waren weist die ,,Ware" Arbeitskraft einen Oberschuss an Motiven auf, um am Arbeitsmarktgeschehen teilzunehmen. Sie nimmt nicht teil um schlicht (Faktor-) Einkommen zu erzielen, sondern u m - in letzter Konsequenz - materielle Not yon sich abzuwehren. Die Arbeitskr~ifte haben sich - in der Reinform eines liberal-6konomischen Gesellschaftsverstandnisses - vor der Drohung in Acht zu nehmen, die in dem beriJhmten Satz des Apostel Paulus steckt, ,,... daB so jemand nicht will arbeiten, der sow auch nicht essen." (2. Tess. 3.10) 2. Da for die Arbeitskr~ifte auf dem Arbeitsmarkt nicht NoB tiber 6konomische Interessen entschieden wird, sondem diese zugleich ihre Lebensinteressen sein mtissen, ist es unwahrscheinlich, dass die Verlierer im Arbeitsmarktgeschehen (die Arbeitslosen, Arbeitsgesch~idigten, Arbeitsunf'fihigen) die Regeln des Arbeitsmarktes dauerhaft widerstandslos akzeptieren. Solchen Widerstand vorwegnehmend oder ihm nachgebend - das spielt systematisch eine weniger grofSe Rolle, als manchmal angenommen wird (vgl. Alber 1982) - kommt es zur Ausbildung sozialstaatlicher Sicherung. Damit wird das Prinzip der unbedingten Koppelung von Arbeit und Einkommen durchbrochen. Aber das Recht, Einkommen ohne Arbeit zu beziehen, wird selbst unter arbeitszentrierte Vorbehalte gestellt. Es heiBt: Sozialstaatliche Sicherungsleistungen gibt es nur bei nachgewiesener Arbeitsbereitschaft. Es gilt das Prinzip: ,,Erst arbeiten, dann ..." Dies ist die zweite Phase, die Phase der bedingten Entkoppelung von Arbeit und Einkommen. Mit ihr entstehen zwei Steuertmgsprobleme: Einerseits muss der Transfer von Geld aus dem 6konomischen System in das System sozialer Sicherung gelingen. Dies findet via Steuern, Gebtihren und Beitr~igen statt. Andererseits muss die Ausbreitung von Motiven zu dauerhafter arbeitsmarktexterner Lebensftih30
rung unterbunden werden. Dies erfolgt durch administrative Kontrollen der arbeitszentrierten Vorbehalte sozialstaatlicher Sicherung. Die L6sung beider Aufgaben bereitet Schwierigkeiten. Der Geldtransfer wird in 6konomischen Krisen schwierig: Sie schlagen in Krisen des Sozialstaates durch. Die Hintanhaltung der Ausbreitung yon Motiven zu arbeitsmarktextemer Lebensftihrung ist jedenfalls in der herrschenden Optik - ein Dauerproblem. Davon zeugt die Missbrauchsdiskussion. Sie begleitete die Entwicklung des Sozialstaats von seinen Anf~ngen an. Die Diskussion des Missbrauchsvorwurfs ist nicht einfach. Man muss ihn dechiff~ieren, um ihn handhabbar zu machen. Zum einen richtet sich der Vorwurf gegen (behauptete) konkrete Ffille unberechtigter Inanspruchnahme yon Sozialleistungen. Das ist ein graduelles Problem, t~ber das sich empirisch reden lgsst. Zum anderen ist der Missbrauchsverdacht Ausdruck des Willens und der Schwierigkeit, die Koppelung von Arbeit und Einkommen zu verteidigen. Das ist eine prinzipielle, im weitesten Sinne ordnungspolitische Frage. In ihr treffen unterschiedliche Interessen und Gesellschaftsentwarfe aufeinander. Von dieser Doppelbedeutung rtthren die Schwierigkeiten eines kritischen Umgangs mit dem Missbrauchsverdacht her. Einerseits kann man den empirisch ungerechtfertigten Verdacht nicht hinnehmen und sich zum Anwalt derer machen, die er trifft (vgl. Windolf 1982; Vobruba 1984). Andererseits aber lfiuft man damit Gefahr, die Sicht darauf zu verstellen, dasses prinzipiell datum gehen muss, die Entkopplung von Arbeit und Einkommen voranzutreiben, um die existentielle Abh~ingigkeit - und vielfache Erpressbarkeit - der Lohnabhgngigen zu relativieren (vgl. Vobruba 1983; Greven 1984). In der politischen Praxis hat die reaktion~re Okkupation des Missbrauchsthemas zu Denkblockaden ge~hrt. Es wird in der wohlmeinenden Absicht, reaktiongre Attacken auf den Einzelnen abzuwehren, unversehens jenes Prinzip konserviert, das diese Attacken t~berhaupt erst mOglich macht (vgl. Esping-Andersen 1982; Offe 1982). Einfach das Gegenteil zu versuchen, wgre f~eilich ebenso wenig zielftkhrend: Es ist sinnlos, die bestm/Sgliche individuelle Ausnutzung des Sozialstaats zur politischen Empfehlung zu machen - etwa nach dem Motto: ,,Lieber krankfeiern als gesundschuften." Man nimmt dabei grobe Ungerechtigkeiten in Kauf. Denn jene, die soziale Leistungen am dringendsten brauchen, sind zu solchen ,,schlauen" Individualstrategien am wenigsten fghig, und man provoziert von breiten Mehrheiten getragene ideologische und administrative Abwehrreaktionen, die wieder jene zuerst treffen, die sich am wenigsten selbst helfen k6nnen. Das Dilemma im Umgang mit dem Missbrauchsverdacht ist ,,prinzipienimmanent" - das heiBt: unter der Geltung der bedingten Koppelung yon Arbeit 31
und Einkommen - nicht zu 10sen. - Ebenso wenig wie das reale Missbrauchsproblem selbst. Man muss beides zugleich unternehmen: Den Missbrauchsverdacht in die richtige Gr6genordnung bringen und auf die richtigen Adressaten orientieren und far die Entkoppelung von Arbeit und Einkommen argumentieren. Damit kommt die dritte Phase im Wandel des Verhgltnisses von Arbeit und Einkommen ins Blickfeld: Die Phase der Entkoppelung von Arbeit und Einkommen. Soviel l~isst sich bisher festhalten: Im Wandel des Verhgltnisses yon Arbeit und Einkommen gibt es immerhin eine Tendenz zunehmender Lockenmg: Das gilt zum einen far die Entwicklung von Phase zu Phase. Zum anderen gilt es fttr die Entwicklung innerhalb der sozialstaatlichen Phase. Denn in den letzten 100 Jahren wurden die Leistungen erh6ht, es wurde der Kreis der Anspruchsberechtigten erweitert und es wurden Anwartschaftszeiten und andere restriktive Bedingungen abgebaut (vgl. Alber 1982). Man darf daraus zwar keineswegs auf einen sozialpolitischen Automatismus schliegen, man darf die Brfiche in der Entwicklung nicht t~bersehen und man darf nicht glauben, dass das derzeitige Niveau sich ohne Anstrengungen erhalten l~sst. Alles in allem aber sprechen die Erfahrungen der letzten 100 Jahre doch far. die eindeutige Gerichtetheit und die (weitgehende) Irreversibilit~it der sozialstaatlichen Entwicklung. Vor diesem Hintergrund lgsst sich - so meine ich - doch mit einigem Optimismus an die Frage herantreten: Welche Anknt~pfungspunkte gibt es far das politische Projekt der Entkoppelung von Arbeit und Einkommen?
2. Systematische Ankniipfungspunkte Ich unterscheide zwei Arten yon Ankn~ipfungspunkten: Solche, die sich aus der gesellschattlichen Entwicklung ergeben und solche, die sich in den laufenden Theoriediskussionen finden lassen. Das System sozialer Sicherheit ist aufgrund seiner Arbeitszentriertheit durch die gegenw~rtige Krise der (Lohn-)Arbeit verletzbar. Sowohl auf der Seite des Finanzaufkommens, das ja wesentlich an Lohnarbeitsverhgltnisse anknt~pft, als auch auf der Seite der Leistungen, die - wie gesagt - unter Arbeitsvorbehalt stehen, droht das System zunehmend leer zu laufen. Wenn durch st~ndig steigende Arbeitsproduktivitfit, durch dahinter zurfickbleibende Wirtschaftswachstumsraten und das Heranwachsen geburtenstarker Jahrggnge eine immer grtil3ere Zahl an Menschen auf dem Arbeitsmarkt ~ibrig bleibt; wenn zugleich aber trotz verringerter Beschgftigung steigender Output erzielbar ist, dann folgt daraus die 32
Notwendigkeit, Finanzierung und Verausgabung sozialstaatlicher Leistungen aus ihrer Arbeitszentriertheit zu l(Ssen. Damit erzielt man erst einmal keineswegs eine Verbesserung oder Erweiterung sozialer Sicherheit, sondern man verhindert blol3, dass das System sozialer Sicherung in der Krise der (Lohn-)Arbeit seine Funktion verliert. Es genagt also schon eine Rt~ckbesinnung auf die kompensatorische Programmatik des Sozialstaats, urn die Notwendigkeit der LOsung sozialstaatlicher Leistungen aus ihrer Arbeitszentriertheit einzusehen. Aber man sollte dieses Argument noch um ein offensiveres erggnzen. Der Arbeitsmarkt erbringt simultan zwei Arten von Leistungen: Er weist den Arbeitskrgffen Arbeitsplfitze zu under verschafft ihnen Einkommen. Es ist Medium fiir die Allokation von Arbeitskraft und ffir die Zuteilung von Lebenschancen. Unter allen in Sicht befmdlichen Alternativen scheint nach wie vor der Arbeitsmarkt diese beiden Aufgaben am besten - well: 6konomisch effizient und persOnlich ffeiheitswahrend - zu erfdllen. Allerdings hat der Arbeitsmarkt den Nachteil, dass er nicht t~berall greift, dass sein Wirkungsbereich vielmehr oftensichtlich ,,naturwt~chsig" schrumpft. Nichts anderes bedeutet die zunehmende Dauerarbeitslosigkeit. Damit entsteht die Notwendigkeit, jenem Volumen an Arbeit, das dem Ausmal3 der Dauerarbeitslosigkeit entspricht, politisch wieder Anschluss an die Verteilung gesellschaftlicher Lebenschancen zu verschaffen. Das kann bedeuten, dass man versucht, die brachliegende Arbeitskraff wieder an den Arbeitsmarkt anzukoppeln - sei es durch F6rderung von Wirtschaftswachsturn, sei es durch allgemeine Arbeitszeitverkarzung. Aber dies ist keinesfalls die einzig denkbare Konsequenz. Gerade ,,wer die materielle Not der Arbeitslosen betont, gibt eigentlich zu, dass sie GOter, nicht Arbeit wollen." (Spahn 1980: 258) Die zweite Konsequenz, die sich daraus ziehen lfisst, ist, dass man arbeitsmarktexterne Zuggnge zu Lebenschancen schafft - also Arbeit und Einkommen entkoppelt. Schlieglich lasst sich noch an den Umstand anknfipfen, dass die Entkoppelung ja ohnehin stattfindet - NoB ungeregelt. Denn nichts anderes bedeutet es, wenn die Lasten der Arbeitslosigkeit die fmanzielle Leistungsf~higkeit der Arbeitslosenversicherung t~bersteigen und sie durch h6here Beitr~ge ges~tzt oder aus allgemeinen Steuermitteln bezuschusst werden muss. Die politische Alternative besteht also nicht zwischen dem Beibehalten des traditionell arbeitszentrierten Systems sozialer Sicherheit und der Entkoppelung yon Arbeit und Einkommen. Die Alternative besteht zwischen einer Entkoppelung, die man unkontrolliert ins Kraut schieBen l~isst - Arbeitslosigkeit und permanente Defizite der Sozialversicherungen - und einer Entkoppelung, die planvoll durchgefahrt wird und deren Folgen politisch absch~tzbar sind. 33
Nun zu den theoretischen Anknt~pfungspunkten. Hier interessieren einige Argumentationsstrgnge, die gleichsam ,,vor" der Diskussion um die Entkoppelung von Arbeit und Einkommen liegen, die auch keinen Bezug zu dieser Entkoppelung intendieren, die in ihrem einen oder anderen Aspekt aber dennoch auf die Entkoppelung weisen. Wichtig sind zum einen die Versuche, subjektive Rechtsansp~che auf soziale Sicherungsleismngen nicht analog der juristischen Denkfigur des Eigentums, das man erwirbt, sondern als gesellschaffliche Teilhaberechte sui generis, die einem zustehen, zu interpretieren (vgl. Kaufinann 1982). Dies ist von Bedeutung, weil hier in juristischem Gewande vom traditionellen Anwartschaftsprinzip in der Sozialpolitik - dem Prinzip ,,erst arbeiten, dann ..." abgert~ckt wird. In der sozialpolitischen Theoriediskussion ist das Anknfipfen an das Finalisierungskonzept - genauer: an monet~ire Finalisierung (vgl. Vobruba 1984) - sinnvoll. Finalisierung der Sozialpolitik (vgl. Albers 1976; Strasser 1979) bedeutet, dass Sozialleistungen nicht aufgrund vorhergegangener Ursachen, also: kausal, sondem gem~g definierter Zwecke erbracht werden. Unter monet~irer Finalisierung verstehe ich den Fall, dass diese Zweckdefinitionen in Geld ausgedrfickt werden. Damit lassen sich zum einen klar objektivierbare und aberpr~fbare Leistungsstandards formulieren, die ungerechtfertigte Leistungskumulation und krasse Unterversorgung vermeidbar machen. Zum anderen bedeutet Finalisierung - ihrer Idee nach - die M6glichkeit der Etabliemng reiner sozialpolitischer Zwecksetzungen und damit eines Prinzips, das dem Denkansatz eines arbeitsunabh~ngigen Einkommens entspricht. Teilhabe star Eigentum als juristisches Leitmotiv und Zwecksetzung (Finalisierung) statt Kausalit~t als sozialpolitische Orientierung - dies steckt den Rahmen ab, in dem Uberlegungen zur Entkoppelung yon Arbeit und Einkommen vorangebracht werden mt~ssen. Der ngchste Arbeitsschritt dazu muss nun sein, Kriterien zu entwickeln und zu begr~nden, an denen die Eignung verschiedener Instrumente zur Entkoppelung yon Arbeit und Einkommen zu priifen ist.
3. Kriterien for die Entkoppelung von Arbeit und Einkommen
Konzipiert man die Entkoppelung von Arbeit und Einkommen als politische Reaktion auf die Krise der (Lohn-)Arbeit, so bedeutet dies, dass man die Zuteilungsfunktion des Arbeitsmarktes nicht ersetzen, sondern erg~nzen will. Damit setzt man sich zugleich yon Positionen ab, die etwa yon Popper-Lynkeus und 34
Adler-Karlsson vertreten werden. Ihnen geht es um die Errichtung eines gesellschaftlichen Mehr-Sektoren-Modells in dessen einem Sektor der Arbeitsmarkt auger Kraft gesetzt wird. Seine Allokationsfunktion wird durch ,,eine klar defmierte Arbeitspflicht far alle" (Adler-Karlsson 1979: 496) bzw. den Dienst in der ,,Nghrarmee" (PopperLynkeus 1982: 125) ersetzt. An die Stelle seiner Funktion der Zuteilung yon Lebenschancen tritt die Versorgung im ,,Grundbedarfssektor" (Adler-Karlsson) bzw. eine ,,Minimum-Institution" (Popper-Lynkeus). Der Grundeinwand gegen diese Modelle lautet, dass sich die Sektoren dauerhaft gegeneinander nicht sauber abgrenzen lassen, sondern die Marktsteuerung mit der Zeit ganz verdr~ingt wird und sich ein allgemeines bfirokratisches Bewirtschaftungssystem mit all den bekannten Nachteilen etabliert. Wenn diese Gefahr vermieden, der Arbeitsmarkt also nicht ersetzt sondem erg~nzt werden soll, dann l~isst sich daraus unmittelbar ein erstes Kriterium: die Dosierbarkeit des Arbeitsmarkt-Entlastungseffekts formulieren. Es ist zu erwarten, dass das Angebot an Arbeitskraft mit der Einfohrung eines arbeitsunabh~ingigen Einkommens zurfickgeht. Ein solcher Rackgang ist arbeitsmarktpolitisch erwfinscht und zwar im Umfang der Arbeitslosigkeit. Das Ausmag des Rtickgangs h~ingt selbstverst~indlich yon der H6he des arbeitsunabh~ingigen Einkommens ab. Aber der Rackgang wird bei jeder Einkommensh6he vermutlich geringer sein, als allgemein - und vor allem von konservativen ga'itikem - angenommen wird. Denn zum einen ist mit einkommens-unabh~ngigen Arbeitsmotiven zu rechnen, die heute entweder verdeckt sind (das ist der Fall gut bezahlter Arbeit, die man auch bei geringerem Entgelt leisten wiirde) oder die unterdrackt werden (das gilt fOr jene ArbeitswOnsche von Frauen, die nicht - oder kaum - materiell bedingt sind). Und zum anderen ist es die Ausgestaltung des arbeitsunabhtingigen Einkommens selbst, die drastische Einbrtiche verhindert. Dies gilt jedenfalls dann, wenn man dem zweiten Kriterium folgt: dem Vermeiden der Armutsfalle. Die Armutsfalle entsteht dadurch, dass das arbeitsunabh~ngige Einkommen so organisiert ist, dass bei geringfligigem bis m~igigem Arbeitseinkommen gleich das gesamte arbeitsunabh~ingige Einkommen gestrichen wird. Dadurch entsteht far den Einzelnen ein ,,Sprungbereich" in dem sich die Arbeitsaufnahme absolut oder relativ nicht lohnt. Die Arbeit lohnt ,,absolut" nicht bedeutet, dass das Arbeitseinkommen niedriger ist als alas arbeitsunabh~ingige Einkommen. Die Arbeit lohnt ,,relativ" nicht bedeutet, dass das Arbeitseinkommen zwar das arbeitsunabh~ingige tibersteigt, dass aber die materiellen und immateriellen Kosten der Arbeitsaufiaahme diesen positiven Saldo tiberwiegen. Diesen ,,Sprungbereich" zu tiberwinden, also: eine Arbeit zu linden, die ausreichend mehr abwirft als das arbeitsunab35
hfingige Einkommen, wird h~iufig jenseits der M6glichkeiten des Einzelnen liegen. Damit entsteht die irrationale Situation, dass die Arbeitsaufnahme trotz des Wunsches nach Arbeit und (Zu-) Verdienst unterbleibt. Dies ist die Armutsfalle. Sie droht - das ist leicht vorauszusehen - den minder Quatifizierten, denen also, denen das arbeitsunabh~ingige Einkommen gerade Chancen bieten sollte. Wenn man die Armutsfalle nicht vermeidet, wird ein arbeitsunabhgngiges Einkommen also nicht nur arbeitsmarktpolitisch problematisch sondern auch sozialpolitisch kontraproduktiv. Es mt~ssen daher arbeitsunabh~ngige und Arbeitseinkommen kombinierbar gemacht werden. Dies muss derart geschehen, dass die Minderungen des arbeitsunabh~ingigen Einkommens bei Arbeitsaufnahme geringer sind als die Zuverdienste, dass also der Saldo ausreichend positivist. Mit anderen Worten: Das arbeitsunabhfingige Einkommen muss so organisiert sein, dass sich Leistung - gerade im unteren Einkommensbereich - lohnt. Aber das allein garantiert noch keine sinnvollen arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Ergebnisse. Selbst wenn man das arbeitsunabh~ingige Einkommen so organisiert, dass man die Armutsfalle vermeidet, ist noch nicht sichergestellt, dass man damit nicht die Verfestigung einer ,,unguten Doppelwirtschaft" (Huber 1982: 124) t'6rdert und finanziell besiegelt. In einer solchen ,,Doppelwirtschaft" st~inden einander eine Gruppe mit staatlich subventionierten Gelegenheitsjobs und eine Gruppe mit guten Markteinkommen, die das arbeitsmarktunabhgngige Einkommen nicht in Anspruch nimmt, unvermittelt und h6chstwahrscheinlich einigermaBen feindselig gegent~ber; feindselig wohl deshalb, weil die gut entlohnte Gruppe den - noch dazu durchaus richtigen - Eindruck gewinnen muss, die andere Gruppe dauerhaft zu alimentieren. Will man eine solche soziale Polarisierung vermeiden, so muss man versuchen, den Arbeitsmarktentlastungseffekt m6glichst breit - und das heigt auch: m6glichst auf allen Stufen beruflicher Qualifikation - zu streuen. Dies wiederum ist nut m/Sglich, wenn es auf allen Qualifikationsstufen fein portionierte Arbeitsmtiglichkeiten gibt. Daraus ergibt sich ein drittes Kriterium: Die Einrichtung eines arbeitsunabhgngigen Einkommens muss mit arbeitszeitpolitischen MaBnahmen verknt~pft werden. Erst aus der Verbindung yon Abstufungen des arbeitsunabhgngigen Einkommens mit Wahlm6glichkeiten der individuell gewt~nschten Lohnarbeits- und Einkommensmenge l~sst sich der Arbeitsmarktentlastungseffekt durch ein arbeitsunabh~ingiges Einkommen verallgemeinern und der strukturiert-starre Arbeitsmarkt wieder ,,verflt~ssigen". Erst auf dieser Grundlage er6ffnen sich jene Umsteigem6glichkeiten zwischen Lohnarbeit und arbeitsmarktexternen T~itigkeiten, die ja das Herzst~ck einer sinnvollen Dualisierung sind. 36
Die freiheitsstiftenden Effekte eines arbeitsunabhgngigen Einkommens liegen auf der Hand und sind weitestgehend unbestritten. (Die konservative Kritik spricht da nicht dagegen, ihr geht die Freiheit vielmehr viel zu weit.) Weniger deutlich wurde bisher gesehen, dass mit einem arbeitsunabhgngigen Einkommen auch neue Kontrollnotwendigkeiten entstehen. Das vierte Kriterium lautet daher: Minimierung des Kontrollaufwandes im Zusammenhang eines arbeitsunabhgngigen Einkommens. Ich sehe drei Bereiche, in denen das Kontrollproblem auftritt. Der Kreis der Berechtigten. Diese Variante des Kontrollproblems ergibt sich aus dem Zielkonflikt zwischen der Allgemeinheit eines arbeitsunabh~ingigen Einkommens und verteilungs- und sozialpolitischer Effizienz. Zwischen diesen beiden - und damit fiber das AusmaB des Kontrollaufwandes - muss entschieden werden; und zwar etwa anhand der folgenden Fragen: Wie werden Familien mit einem sehr guten Alleinverdiener und mehreren Nichtverdienem behandelt? Wie werden Einkommen aus Verm6gen beracksichtigt? Welche biographischen Sonderlagen (Behinderung, Krankheit etc.) werden als Anlass far zusgtzliche Unters~tzung anerkannt? Soll das arbeitsunabhgngige Einkommen jedermann zustehen, oder will man es an Voraussetzungen: deutsche Staatsbfirgerschaft, Vorliegen einer Arbeitserlaubnis, Dauer des Aufenthalts knfipfen? Die erstere Variante zieht rigide Kontrollen des Zugangs yon Ausl~ndem in die Bundesrepublik nach sich, die letztere Variante erfordert bfirokratische l)berprfifung der Anspruchsvoraussetzung. Die Mittelverwendung. Es muss entschieden werden, ob ein arbeitsunabhgngiges Einkomrnen selbst bereits das letzte Netz sozialer Sicherung abgeben soll, oder ob es durch eine ,,tiefer" gespannte Sozialhilfe erggnzt wird. Im ersteren Fall entsteht die Frage, wie man mit Anspruchsberechtigten, die nachweislich nicht in der Lage sind, mit dem Geld vemttnftig zu wirtschaften, umgehen soll. Soll die Auszahlung bei Vorliegen bestimmter Voraussetzungen in Gfitem (des tgglichen Bedarfs) erfolgen? Oder soll die Auszahlung in kleinen Raten stattfmden? Welche Instanz prfift die Voraussetzungen far einen solchen - vor ,,Selbstschgdigung" bewahrenden - Auszahlungsmodus? Und wer leitet ihn ein? Immerhin bedeutet dies nicht weniger als eine 6konomische (Tell-) Entmfindigung. Wird dagegen eine subsidigre Sozialhilfe beibehalten, so verzichtet man auf einen - m6glicherweise erheblichen - sozialpolitischen Rationalisierungseffekt und auf politische Bt~ndnisgenossen, die daran besonders interessiert sind und ein arbeitsunabh~ngiges Einkommen dabei gleichsam in Kauf nehmen warden.
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Die Sicherung der Finanzierung. Mit der Einrichtung eines arbeitsunabhgngigen Einkommens entsteht in jedem Fall ein zus~itzlicher Finanzierungsbedarf des Staates. Dadurch versch~irft sich auch in jedem Fall das Problem der Kontrolle von Steuerhinterziehung. Wo diese Kontrolle anzusetzen hat, hgngt davon ab, wie das Steuersystem gestaltet wird: ob es bei der derzeitigen Struktur bleibt, oder ob eine (schrittweise) Umstellung in Richtung auf eine allgemeine Wertsch6pfungssteuer erfolgt. Letztere entspr~iche dem Konzept der Entkoppelung yon Arbeit und Einkommen vonder Steueraufkommensseite her. Dagegen findern sich die Kontrollnotwendigkeiten mit der Art der arbeitsunabh~ngigen Einkommen kaum. Tats~chlich besteht zwischen einer negativen Einkommensteuer und einem garantierten Btirgergehalt kein wesentlicher Unterschied. (anders Opielka 1984) In beiden F~illen wird das Gesamteinkommen mit zunehmender H6he im Effekt zunehmend belastet. Bei der negativen Einkommensteuer ergibt sich das aus den Abschlggen auf den arbeitsunabh~ingigen H6chstbetrag, die entsprechend dem Arbeitseinkommen erfolgen. Beim garantierten Bt~rgergehalt ergibt sich derselbe Effekt, wenn das Gesamteinkommen, also: garantiertes Bt~rgergehalt und' Arbeitseinkommen, der Steuerprogression unterworfen wird. Nun wgre es auch denkbar, das Btirgergehalt yon der Besteuerung auszunehmen. Dies h~itte allerdings zur Folge, dass - mit Rticksicht auf die Finanzierbarkeit des Systems - schon geringe Arbeitseinkommen recht hoch besteuert werden mt~ssten: Damit aber wird die Aufnahme gerade yon gering dosierter Arbeit unattraktiv und unterbleibt. Es 6ffnet sich also die Armutsfalle, bzw. es kommt zu der oben skizzierten sozialstaatlichen Alimentation einer Gesellschaftsspaltung. Eine hohe Anfangsbesteuerung yon Arbeitseinkommen ist arbeitsmarktpolitisch, sozialpolitisch und gesellschaftspolitisch schgdlich. Ein steuerfreies garantiertes Bargergehalt und eine niedrige Besteuerung der Arbeitseinkommen im unteren Bereich sind finanziell illusorisch. Man muss sich also den Kontrollerfordernissen, die sich aus einer Staffelung des arbeitsunabh~ingigen Einkommens - egal ob als negative Einkommensteuer oder als in die Steuerprogression einbezogenes Bt~rgergehalt- stellen.
4. Einstiege Es ist politisch unwahrscheinlich, dass ein allgemeines arbeitsunabh~ngiges Einkommen sich bald wird realisieren lassen. Das spricht nicht gegen dieses Konzept, n~tigt aber zu zus~itzlichen lJberlegungen, wenn man es nicht faktisch gleich wieder fallen lassen will. Es geht nun darum, Probleme aufzugreifen, 38
deren L6sung in die Richtung Entkoppelung von Arbeit und Einkommen geht. Wichtig dabei ist: Es massen den Menschen Probleml6sungen angeboten werden, die ffir sie erkennbare Verbesserungen ihrer Lebenslagen versprechen und die sich innerhalb des Horizonts ihrer Realisierbarkeitsvorstellungen bewegen. Alles andere macht die Leute hOchstens grgerlich. Als Einstiege in die Entkoppelung von Arbeit und Einkommen kann ich mir vorstellen:
Die Verldingerung der Bezugsdauer yon Arbeitslosengeld Mit dem Andauem von Krise und Arbeitslosigkeit und mit der HOhe der Arbeitslosenzahl steigt die Dauer der individuellen Arbeitslosigkeit. Dauerarbeitslose sind einer schleichenden Entrechtlichung ausgesetzt (vgl. Vobruba 1983b). Nach dem Jahr Arbeitslosengeld werden die Bezugsbedingungen Nr Arbeitslosenhilfe und danach Sozialhilfe immer restriktiver. Die Einrichtung yon Arbeitslosenversicherungen tiberhanpt beruht auf der Einsicht, dass Arbeitslosigkeit gesellschaftliches Risiko und nicht individuelles Verschulden ist. Nimmt man diese Einsicht heute ernst, so muss man fordem, dass mit zunehmender Dauer der durchschnittlichen individuellen Arbeitslosigkeit die Bezugsdaner yon Arbeitslosengeld - im Sinne der Wahrung eines unbedingten Rechtsanspruchs - verl/ingert wird (vgl. Pfi'iem 1977:175 ff.).
Die Vereinheitlichung der Alterssicherung Die Organisation der Alterssichemng nach dem Kausalit~itsprinzip fahrt zu Rentenkumulation einerseits, zu Unterversorgung andererseits; - Ungereimtheiten, die sozialpolitisch nicht zu rechtfertigen sind. Die Ungereimtheiten werden in Zukunft noch zunehmen, weil es mit der dauerhaft prek~iren Beschgftigungssituation fttr den Einzelnen immer schwieriger wird, die Voraussetzung far einen ,,kausalen" Rentenbezug: eine durchgehende Lohnarbeitsbiographie, zustande zu bringen. Die einheitliche Definition von finanziellen Standards, mit denen man ab einem bestimmten Alter rechnen kann, wfirde Verteilungsungerechtigkeiten mindem, die Erwammgssicherheit und die Transparenz der Rentenregelung erh6hen. An die Stelle des Kausalitgtsprinzips tr/~te damit das, der Entkoppelung von Arbeit und Einkommen f'6rderliche, Finalit~tsprinzip. Das schliegt ffeilich keineswegs aus, dass oberhalb eines ausreichenden allgemeinen Standards die tatsgchlichen Renten durch individuelle Vorsorgeleistungen vari39
ieren. Von ,,Gteichmacherei" und einem staatlich verordneten ,,Rentenschock" mr vorherige Gut-Verdiener kann also keine Rede sein.
Die finanzielle Flankierung yon Arbeitszeitpolitik Man sollte die Perspektive auf die Entkoppelung von Arbeit und Einkommen keinesfalls als Alternative zu Arbeitszeitpolitik ansehen. Denn beide bedingen einander. Gefahren der Entkoppelung lassen sich nur arbeitszeitpolitisch abfangen (s. o.); Arbeitszeitpolitik wird durch MaBnahmen in Richtung der Entkoppelung erleichtert. Die Realisierung fi~eiwilliger Arbeitszeitumverteilung scheitert heute oft weniger an den unmittelbar damit verbundenen Einkommensminderungen. Sie wird vielmehr durch die berechtigte Sorge blockiert, dass Verzichte auf Teile von Arbeit und Einkommen sp~ter Nachteile sozialpolitischer Art bringen. So wird das Arbeitslosengeld nach dem letzten Einkommen, also auch: dem letzten Teilzeit-Einkommen, berechnet, unabhgngig davon, ob man davor ganztags gearbeitet und mehr verdient hat. In Zeiten unsicherer BescMftigung ist es daher individuell rational, wenn Ganztagsbeschgftigte ihre Teilzeit-Arbeitswfinsche nicht realisieren, um sozialpolitisch keinen Schaden zu riskieren. Gesamtwirtschaftlich ist dies Unterd~cken yon Arbeitszeit-Umverteilungspotentialen freilich irrational. Diese arbeitszeitpolitische Blockierung ist nur durch die Lockerung des Zusammenhangs yon Arbeit bzw. Arbeitseinkommen und Arbeitslosengeld aufhebbar. Im weiteren Zeithorizont wird freiwillige Arbeitszeitumverteilung durch die strikten Anwartschaftsregelungen zur Alterssicherung blockiert. Man ist nicht bereit, trotz der unmittelbaren materiellen M6glichkeiten auf Einkommenszeiten zu verzichten, weil man Rtrchten muss, dass einem sp~iter einmal die Zeiten abgehen. Auch hier hilft nut ein Schritt in Richtung der Entkoppelung yon Arbeit und Einkommen. Der Abbau des Kausalitgtsprinzips in der Alterssicherung ist also auch arbeitszeitpolitisch und damit: arbeitsmarktpolitisch - yon Bedeutung. Man kann dies aus arbeitszeitpolitischer Perspektive so formulieren: Neue Arbeitszeitregelungen mit M6glichkeiten individueller Arbeitszeitreduktion haben nur dann Aussicht auf Breitenwirksamkeit, wenn sie gemeinsam mit ihnen angepassten Vergnderungen des Systems sozialer Sicherheit, und insbesondere mit neuen Konzepten der Alterssicherung, angeboten werden. Das sind freilich nut Beispiele. Aber es sind Beispiele nach der Art eines Pragmatismus, den man, wie ich meine, pflegen sollte. Denn eine der wesentlichen Qualit~iten des Konzepts einer Entkoppelung yon Arbeit und Einkommen 40
d~fte darin liegen, dass man die Idee nicht ,,verrtit", wenn man sich ihr in der politischen Praxis schrittweise nghert. Diese Eigenschaft erst macht das Konzept unter heutigen Bedingungen politikf~hig. Literatur
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Dieser Beitrag entstand unter dem Eindruck der damals intensiv gefi~hrten Grundeinkommensdiskussion. Der rasche Austausch von Positionen und Einschdtzungen war anregend brachte aber eine gewisse theoretische Kurzatmigkeit zahlreicher Beitrdge mit sich. Es ging also darum, dieses Theoriedefizit abzubauen. Dazu habe ich die Entwicklung des Verhdlmisses zwischen Einsatz von Arbeit und Verteilung yon Einkommen als Abfolge yon Phasen in einem weiten Zeithorizont dargestellt, ohne dies als Automatismus zu interpretieren. Das ist nicht immer so verstanden und als ,, Geschichtsphilosophie" (Wegener 1985) kritisiert worden. Ich habe darauf spater mit dem Versuch einer handlungstheoretischen Rekonstruktion der Phasenf~bergange reagiert (Vobruba 1997), um zu zeigen, dass der Ansatz ausreichend Raum fi~r historische Kontingenzen ldsst.
Arbeiten und Essen. Die Logik im Wandel des Verh~iltnisses von gesellschafllicher Arbeit und existentieller Sicherung im Kapitalismus
,,Armut ist ein relativer Begriff." So Sidney und Beatrice Webb (1912: 3). Was ein Habe-Nichts ist, wird immer schon in Bezug aufjene bestimmt, welche haben. Armut ist darum stets ein Rest, eine Residualkategorie. Sie bezeichnet jene, denen es an dem mangelt, was anderen zur Ver~gung steht; jene, die nehmen mfissen, was die anderen ihnen lassen; denen nichts anderes iibrig bleibt. Aber dennoch: Armut steht je nach der geschichtlichen Entwicklung der Gesellschaft in unterschiedlichen Bezfigen. Um ihren gesellschaftlichen Stellenwert zu verstehen, muss man diese Bezfige ermitteln. Dabei stellt sich heraus, dass Armut sehr Verschiedenes bedeutete und class die Armen h6chst unterschiedlich behandelt wurden. Wenn es stimmt, dass Armut eine gesellschaftliche Residualkategorie 1 ist, dann lfisst sich die historische Verfinderung ihres gesellschaftlichen Stellenwerts nur im mittelbaren Zugriff erschlief~en, darum suche ich den Zugang zu diesem Problem, indem ich die Frage nach dem Wandel des Verhfiltnisses von gesellschaftlicher Arbeit und existentieller Sicherung verfolge, eben des Verhfiltnisses von Arbeiten und Essen. Armut wird plastisch vor dem Hintergrund des gesellschaftlich vorherrschenden Verteilungsmechanismus: als R e s t - aber als Rest, der auf den Verteilungsmechanismus funktional bezogen ist. In jeder Gesellschaff mfissen - unter Knappheitsbedingungen - zwei Probleme gel6st werden: Wie wird der Arbeitseinsatz zur Herstellung gesellschaftlichen Reichmms geregelt? Nach welchem MaBstab erfolgt die Verteilung des hergestellten gesellschaftlichen Reichtums? Kapitalistische Marktgesellschaften verknt~pfen beide Fragen in der Funktionsweise des Arbeitsmarktes. Er weist zugleich dem Faktor Arbeit Arbeitsplfitze (Systemintegration) und den Arbeitenden Lebenschancen (Sozialintegration) zu. Von bier aus lfisstsich Armutals Mangel an gesellschaftlichenTeilhabechancenbegreifen(vgl. Leibffied 198l a). Zum Residualcharakterder Armut: ,,Armut ist eine Verneinung. Wir k6nnen sie nicht aus sich selbst heraus verstehen, sondern nur in ihrer Beziehung zu dem Lieht, dessen Schatten sie ist, dem mensehlichenBlahen und Gedeihen." (Arlt 1925: 153; zit. nach Leibfried 1981b: 269). 45
Der Arbeitsmarkt legt also beides fest: Produktionseinsatz (Arbeit) und Existenzchance (Essen). Ich beginne mit einem Hinweis auf den Bedeutungswandel der Armut fin Ubergang yon traditionalen zu posttraditionalen Gesellschaften. Darm werde ich drei Phasen skizzieren, in denen sich das Verh~iltnis yon Arbeiten und Essen im Laufe der kapitalistischen Entwicklung wandelt, sowie die Konsequenzen darstellen, die sich daraus jeweils fdr die Armut ergeben: erstens die Durchsetzung des unbedingten Nexus yon Arbeiten und Essen (,,wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen")2 samt der Verelendung der Armen und dem Propagieren yon individuellen (Arbeits-)Anstrengungen als Weg aus der Armut; zweitens die Institutionalisierung von kollektiven Sicherungsmechanismen gegen besondere Verarmungsrisiken (Sozialstaat, Sozialversichemngen). Nun heifSt es: Wer essen will, muss wenigstens arbeitsbereit sein (oder lange genug gearbeitet haben). Es bedeutet dies eine - unter diesem Vorbehalt stehende - Lockemng des Nexus yon Arbeiten und Essen; drittens die Entkoppelung von Arbeiten und Essen. Die Phasenfolge ist keine zufallige. Die Vermutung, der ich nachgehen will, ist, dass in den Institutionalisierungen jeder dieser Antworten Instabilit~iten angelegt sind, die jeweils schlieBlich die ngchstfolgende Antwort hervormfen. Damit er6ffnen sich Interpretationsm6glichkeiten far den Obergang vonder ersten zur zweiten Antwort. Daraus ergibt sich ein Hinweis auf die Wahrscheinlichkeit des Obergangs yon der zweiten zur dritten Antwort. Oder anders, zeitdiagnostisch, formuliert: Wir leben heute in der Spgtphase der GOltigkeit der zweiten Antwort, der bedingten Entkoppelung yon Arbeiten und Essen. Notwendig erscheint es, die unbedingte Entkoppelung von Arbeiten und Essen gesellschaftlich zu bewerkstelligen. Im dritten Schritt geht es also nicht urn eine Prognose, sondern darum, Akmalitgt und, Brisanz einer gesellschaftspolitischen Aufgabe aufzuweisen.
1. Barmherzigkeit Arbeit - und zwar die eigene! - als Mittel gegen Armut, das war nicht immer so. Das mittelalterliche Weltbild wies den Armen zweierlei Arten yon Bedeutung zu. Zum einen waren es die Armen, die in der unmittelbaren Nachfolge Christi Urspr0nglich im 2. Briefdes Apostel Paulus an die Thessalonicher:,,Und da wir bei euch waren, gebotenwir euch solches,daft, so jemand nicht will arbeiten,der soll auch nicht essen." (2. Thess: 3. 10) Der Satz war gegeneine mt~NggehendeOberschichtgem0nzt. 46
standen; Armut war Gebot, Leben in Armut samt dem Verzicht, sie durch Erwerb - in welcher Form auch immer - abzuscht~tteln, war Heilsweg. ,,Ihr sollt euch nicht Schgtze sammeln auf Erden, da sie die Motten und der Rost fressen, und da die Diebe nachgraben und stehlen. Sammelt euch aber Sch~itze im Himreel, da sie weder Motten noch Rost fressen, und da die Diebe nicht nachgraben noch stehlen." (Matthgus 6. 19, 20) Und: ,,Niemand kann zwei Herren dienen. Entweder er wird den einen hassen und den anderen lieben; oder er wird dem einen anhangen und den andern verachten. Ihr k6nnt nicht Gott dienen und dem Mammon." (Matthgus 6. 24) Das Reichtums-Verdikt war aber in der Gesellschaft des Mittelalters praktisch nicht durchzusetzen. In der seelsorgerischen und religiOsen Alltagspraxis wurde es modifiziert. Nicht auf Reichtum an sich kam es an, sondem darauf, wie man ihn verwendete. Und damit ergab sich die zweite Bedeutung der Armen: Ihre Funktion war es, Anlass far Barmherzigkeit, also far eine gottget'~llige Verwendung des Reichtums zu sein. Der Arme stellt sich dem Reichen ,,als Anlal3 zur guten Tat in den Weg". (Luhmann 1975: 139) Im mittelalterlich-christlichen Weltbild standen Armut und Reichmm in wechselseitig funktionaler Verbindung. ,,Die reichen Menschen sind far die Erl6sung der Armen geschaffen und die Armen far die Erl(Ssung der Reichen." (Gurjewitsch 1980: 278) Freilich darf man sich darunter kein religi6s abgesichertes allgemeines Umverteilungssystem vorstellen. Die Barmherzigkeit der Reichen ist ja in erster Linie ,,Dienst am Prinzip", die konkrete Hilfe Dr die Armen eher ihr Nebenprodukt. ,,Die Vergabe von A1mosen richtet sich nicht nach den Notwendigkeiten individueller Notlagen, sondern z. B. der Reihenfolge und Bedeutung kirchlicher Feiertage, an denen jedermann, der darum nachkommt, ein bestimmtes Quantum yon, Geld oder Naturalien verabreicht wird, solange der Vorrat reicht - unabh~ingig yon der Art und dem Ausmag seiner Notsituation." (Sachge/Tennstedt 1980: 29) Immerhin stabilisierte die funktionale Bedeutung der Armut im religi6sen Weltbild die Lebenslagen der Armen. Armut blieb erhalten, war aber lebbar. Entscheidend dafar, arm genannt zu werden, war nicht, in Elend zu leben, sondern ohne Besitz zu sein: ,,... derjenige ist wirklich arm, der auf keine andere Weise einen Lebensunterhalt fmdet als durch Fleig und die Arbeit seines Geistes oder seines K6rpers" (Camus 1634: 5; zit. nach Stamm 1982: 78). Der Einfluss des Gebots christlicher Barmherzigkeit hielt sich im Volk noch fiber Jahrhunderte und konterkarierte die sp~iter rigide Anti-Bettel- und Anti-Armengesetzgebung. Dennoch, auf der far evolutionstheoretische Versuche notwendigen Abstraktionsh6he darfte gelten: Eine historisch gerichtete Theorie der Armut mfisste 47
ihren Gegenstand in den jeweiligen funktionalen Zusammenhfingen rekonstruieren. In traditionellen Gesellschaften in der Relation ,,Armut-Reichtum"; Armut als Vorwurfund Bezugssystem religi/Sser Anstrengungen far die Besitzenden. In posttraditionalen Gesellschaften in dem VerhWmis ,,Armut-Arbeit"; Armut als ,,Hungerpeitsche" (Weber) zur Arbeit.
2. Arbeit gegen Armut
Der Wechsel des Bezugssystems, in dern Armut ihre gesellschaftliche Bedeutung und Behandlung fand, wurde dutch die S~kularisierung und Kommunalisierung der Armenfarsorge (Sachge/Tennstedt 1980:31; Fischer 1979) eingeleitet. Affirmative Armutsdeutungen wurden angesichts zunehrnender Verstfidterung, der Ausbreitung bfirgerlicher Lebenshaltungen und des Aquivalententauschs zunehmend randstgndig. Die Vergnderung in der Bedeutung der Armut wurde besiegelt durch den Wandel der gesellschaftlich anerkannten Umgangsformen mit Reichtum, der yon Freigiebigkeit, dernonstrativem Konsum und Vergeudung zu Sparsarnkeit, Reinvestition und Geiz fahrte. Das sind die Folgen der seelsorgerischen Praxis des Protestantismus (Weber 1975:127 ff.). Dern entsprach, dass Armut ihre traditionale Funktionalit~it verlor. Zum einen konnte sie nicht lgnger Vorbild sein, sondem wurde eher zum Zeichen drohender Verdammnis und zum Anlass, dern durch eigenes Tun - durch Arbeit zu entrinnen. Die Stabilitfit der Armen als gesellschaftliche Schicht war damit hinffillig. Zurn anderen zerbrach der Zusamrnenhang von Barmherzigkeit - Arrout - Seelenheil. Die materielle Statze der Lebensbedingungen der Armen ging damit auch verloren. Die Motivation zur Almosen-Vergabe musste nun nicht mehr den Umweg fiber das Heilsinteresse des Gebenden nehmen, sondem konnte unmittelbar bei der Bedarftigkeit der Armen ansetzen - aber dafar gab es jetzt weniger Almosen. Von nun an ist Armut sinnlos (vgl. Vobmba 1983a: 64.) far jene, die sie trifft, und ,,nt~tzlich" (Wagner 1982) far jene, die (Produktionsmittel-)Besitz haben. Die generelle Empfehlung lautete jetzt: Arbeit als Mittel gegen Armut. ,,Arrout ist eine Arznei, dern Menschen nach dem Sfindenfalle auferlegt, damit er dadurch bfil3e und zu Gott zurfickkehre, vom B~3senweiche undes vermeide .., " (Wenzei Linck 1523; zit. nach Sachl3e/Tennstedt 1980: 59). Arbeit wurde angesehen als ,,unfehlbares Universalmittel, wenn es darum geht, irgendeine Form
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des Elends zu beseitigen" (Foucault 1977: 89). Dies Mittel ffeilich war in einer Vielzahl yon FNlen erfolglos. Die Armut blieb. Nun mussten, um das Prinzip ,,Arbeit gegen Armut" gegen diese schlechte Wirklichkeit zu immunisieren, die Armen in zwei Gruppen eingeteilt werden, deren eine die individuelle Schuld an der eigenen Armut zugerechnet bekam. Dies leistete die Unterscheidung in ,,w~dige" und ,,unwoxdige" Arme. ,,Als eine notwendige Sache, nicht allein hier, sondem in der ganzen Christenheit, ware da~r Sorge zu tragen, dab den Armen das Almosen gerecht zugetei|t w~de und nicht an die Allerunw~rdigsten getange, die am allerwenigsten seiner bedoxfen." (Johannes Geiler von Kaysersberg; zit. nach Sacl~e/Tennstedt 1980: 56) Die Notwendigkeit von Instanzen, die in der Lage w~ren, ,,woxdig" yon ,,unwoxdig" praktisch zu unterscheiden, wurde gesehen. ,,So rotate da sein ein Verweser oder Vormnnd, der alle die Armen kennte und, was ihnen not wfire, dem Rat oder Pfarrer ansagte, oder wie das aufs beste m6chte verordnet werden.", (Martin Luther, zit. nach SachBe/Tennstedt 1980: 59) Eine solche Instanz fehlte aber. Dennoch wurde die Unterscheidung mr das Schicksal der Armen bestimmend: Zunehmend wurden die Armen der unwiderlegbaren Vermutung unterworfen, ihre Armut sei selbstverschuldet, sie seien somit ,,unwoxdig" und der Hilfe nicht wert. FOx die Entwicklung des industriellen Kapitalismus ist die Ausbildung des Arbeitsmarktes konstitutiv. Sie setzt voraus, dass die Armut aus traditionalen Deutungen und Sicherungen freigesetzt wird. Doch dies allein reicht noch nicht aus. Allerorten bedurfte es staatlichen Zwangs, um den Besitzlosen alle existentiellen Auswege zu verstellen - auBer den in Richtung Lohnarbeit. ,,Sie m%sen erst gezwungen werden zu den vom Kapital gesetzten Bedingungen zu arbeiten. Der Eigentumslose ist mehr geneigt Vagabund und R~uber und Bettler als Arbeiter zu werden. Dies versteht sich erst yon selbst in der entwickelten Produktionsweise des Kapitals." (Marx 1974: 624; Weber 1975: 45) Die Inthronisation yon Hunger als arbeitspolitisches Regulativ (Polanyi 1978:113 ff.) ist das Ergebnis politischen Eingriffs. Mit dieser Kthnstlichkeit, die die Herstellung des Arbeitsmarktes kennzeichnet, lgsst sich in dreifacher Weise argumentieren. Eine ideologiekritische Version geht vom politisch-gewaltt~itigen Entstehungszusammenhang des Arbeitsmarktes aus, um die scheinbar gewaltt~eie SpMre der Okonomie zu ,,entlarven". Eine andere Theorie schlieBt vonder Kt~nstlichkeit des Arbeitsmarkts und der' ,,Ware" Arbeitskraft auf die funktionale Notwendigkeit nnentwegter (Sozial-)Staatsinterventionen (Lenhardt/Offe 1977). Eine weitere Argumentation nimmt diese Eigenheiten der Entstehung der ,,Ware" Arbeitskratt zum Anlass, systematisch die Besonderheiten dieser ,,Ware" zu beto49
nen und deren politische Ansprt~chigkeiten zu analysieren. Ich will die Sirmhaftigkeit dieser drei Versionen an dieser Stelle nicht gegeneinander abw~gen, werde aber nur die dritte verfolgen. Der Verlust agrarischer Existenzformen und das Bev61kemngswachstum ab dem 16. Jahrhundert fahrten zu einer drastischen Vermehrung der Armen. Die Kommunen, nach dem Heimatprinzip zur Unterstatzung ,,ihrer" Armen verpflichtet, waren t~berfordert. In dieser Zwangssimation gedieh die Politik der Armenintemierung (vgl. Stamm 1982: 88). Sie zielte weniger darauf, die sich entwickelnden Arbeitsm~rkte mit disziplinierten Arbeitskrgften zu ,,beliefem", eher sollte die Eint~bung ,,industri6ser" Arbeitsgesinnung ausreichend terroristisch gestaltet werden, damit die Armen davon absahen, weiter zu betteln oder 6ffentliche Unterstatzung zu beanspruchen. ,,Viele aus unserem Volk, die vorher hauptsrichlich yon wOchentlichen oder monatlichen Zuwendungen lebten ... befleiBen sich nun der Arbeit, und da sie erkennen, dab sie, wenn sie Unterstatzung von der Allgemeinheit erhalten wollen, auch mr die Offentlichkeit arbeiten mfissen, strengen sie sich an, beschaffen sich Spinnrrider und andere notwendige Materiale und arbeiten von frUh bis sprit, urn zu vermeiden, daft sie in das Arbeitshaus kommen." (An Account ... 1732:115; zit. nach Stamm 1982: 94). ,1770 schlrigt ein Unbekannter ... vor, Arbeiter, die der Offentlichen Wohlfahrt anheim fallen, in ein ,ideales Arbeitshaus' einzusperren. Ein solches Arbeitshaus maBte zu einem Hause des Schreckens gemachtwerden." (Boehringer 1905) De facto war die ,,Lebensqualit~it" in den Arbeitsh~iusem allerdings h6chst unterschiedlich (Hunecke 1983). Der CVoergang zur Liberalisierung der Armenpolitik erfolgte mit der Ausbreitung industrieller Arbeitsorganisation und der Etablierung der Arbeitsm~rkte. Mehr und mehr ersetzte der ,,stumme Zwang der 6konomischen Verhglmisse" den regulierenden politischen Eingriff. ,,LaBt sie auf sich selbst gestellt sein, und allein der Druck der Umst~inde wird sie im Laufe der Zeit fiber den Arbeitsmarkt verteilen ..." (Charity 1885: 119; zit. nach Stamm 1982: 103) ,,Der Druck der Umstgnde" - d a s bedeutet, dass die Drohung der Armut allgegenw~irtig ist und die Aussicht, ihr zu entgehen, einzig der Arbeitsmarkt bietet. Aber selbst dies reicht noch nicht hin, um ein stabiles Arbeitskraftangebot und Arbeitsverhalten sicherzustellen. ,,Alle Menschen neigen ... mehr zu Bequemlichkeit und Vergnt~genals znr Arbeit, es sei denn, dab Ehrgeiz oder Habsucht sie zu ihr drringt. Die ihren Lebensunterhalt durch ihr Tagwerk erwerben, stehen jedoch selten unter dem EinfluB eines jener beiden Motive, so dab nichts weiter sie dazu anlxeibt, sich nt~tz[ichzu machen, als ihre ArmuL die es zwar klug ist zu mindern, t~richt abet ganz zu beseitigen." (Mandeville 1980: 232)
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Um die Arbeitskr~ifte far den nun einsetzenden Prozess kapitatistischer Industrialisierung verwendbar zu machen, bedurfte es noch verschiedenartiger Eingriffe des Staates, der die Modemisierung der Wirtschaft vorantrieb, urn seine Machtgrundlage auszubauen. Dazu geh6rten die gesetzlich verordnete Verlangemng des Arbeitstages (Boehringer 1905), MaBnahmen zur Straffung der. Zeitdisziplin (vgl. z. B. Marx 1974: 624) und staatlich verordnete Lohnsenkungen, um die Bedarfsdeckungsmentalit~it der Arbeitenden zu brechen (Weber 1975: 50; Treiber/Steinert 1980). Ich nenne diese erste Phase konzentriert-zielgerichteten Staatseingriffs in die Entwicklung kapitalistischer Wirtschaft die Konstitutionsphase des Wohlfahrtsstaats (vgl. Vobmba 1983a: 44). Das Moment der K~nstlichkeit in der historischen Entstehung des Arbeitsmarktes schl~igt sich in der besonderen Labilit~itnieder, die der ,,Ware" Arbeitskraft systematisch eigen ist. Das betrifft zum einen den Status der Arbeitskraft, die auf dem Arbeitsmarkt gehandelt wird: Sie ist ,,fiktive Ware" (Polanyi). Das bedeutet, dass sie den Marktgesetzm~igigkeiten gleich einer Ware unterworfen ist, sich in ihren Qualit~itenjedoch der Warenform nicht restlos ftigt. Gemessen an normalen W~iren weist die ,,Ware" Arbeitskraft einen Oberschuss an Motiven auf, um am Arbeitsmarkt teilzunehmen. Das Kooperationsmotiv der Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt ist nicht schlicht das wirtschaftliche Motiv der Maxirniertmg von (Faktor-)Einkommen, sondem letztendlich der existentielle Zwang, Not abzuwehren. Sie bat sich, zumindest in der Reinforrn des 6konomisch liberalistischen Gesellschaftsverst~indnisses, vor der Drohung in Acht zu nehmen, die in dem Satz steckt: ,,Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen." ,,In dem Begriff des freien Arbeiters liegt schon, dab er Pauper ist: virtueller Pauper." (Marx 1974: 497) 3 Daran kntipft der zweite Aspekt der Labilit~it der ,,Ware" Arbeitskraft an. Das existentielle Einbezogensein der Arbeitskraft in das Arbeitsmarktgeschehen macht es tmwahrscheinlich, dass die Verlierer (die Arbeitslosen, Arbeitsgeschgdigten, Arbeitsunf~ihigen) auf Dauer lautlos vom System absorbiert werden k6nnen. W/~hrendder kapitalistische Warenanbieter das Produkt wechseln kann, wenn seine Ware unverkauflich ist, steht den Anbietem der ,,Ware" Arbeitskraft Daran kntipft eine engagierte Untersuchung ,,Ober den Zustand der Arbeiter- und ArmenbevNkerung im Preul?,ischen Staate und, die Gesetzgebung zur Verbesserung dieses Zustandes" yon Alexander Lette (1858): an: ,,Findet allerdings ... ein gewisser Zusammenhang statt zwischen der ArbeiterbevOlkerung einerseits und der ArmenbevNkerung andererseits, so liegt ... nichts n~iher und erscheint nichts natiMicher und dringender, als Behufs und vermittelst der Verbesserung des Zustandes der ersteren gleiehzeitig die Ursachen aus dem Wege zu rfiumen,. welche eine Degradation der Arbeiter- zur Armen-BevOlkerung im Gefolge haben kt)nnen." (in: Preuger 1983: 172)Mit fihnlicher Intention auch S. u. B. Webb (1912).
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keine gleichwertige Option zur Verfagung. Unverk~,uflichkeit heiBt hier nicht Verschwinden der Ware, sondern ,,dekommodifizierte" (Offe) Existenz: Elend. Daher ist es far die ,,Ware" Arbeitskraft eher als far normale Waren wahrscheinlich, dass bei nachhaltigem Versagen des Arbeitsmarktes das Marktreglement insgesamt politisch in Frage gestellt wird - sei es von Augenstehenden (einer patriarchalisch eingestellten, sozialverantwortlichen Obrigkeit), sei es von den potentiellen Marktverlierern selbst, sei es yon politischen Krfiften, die mit den Interessen der Marktverlierer kalkulieren (Konkurrenzparteien).4 Damit sind die wesentlichen historischen Akteure bei der Ausbildung von Sozialstaatlichkeit genannt (vgl. Alber 1982; Baron 1979; Tennstedt 1983a; Vobruba 1983a). Dieser Vorgang ist nicht unser Thema. Hier interessieren seine Folgen far die Beantwortung der gesellschafts-praktischen Frage, was als anerkannter Ausweg aus der Alternative Arbeiten oder Armut gelten darf. Wann ist, mit anderen Worten, Essen ohne Arbeiten erlaubt? Die Institutionalisierung der Antworten ist prek~ir - und muss prekgr sein.
3. Essen bei der Arbeitsbereitschaft
Vier Voraussetzungen mt~ssen erfullt sein, um ein Sozialversichemngssystem gesellschafflich institutionalisieren zu kOnnen: Erstens muss die Interpretation handlungsbestimmend sein, dass die sozialen Risiken, die es zu versichern gilt, aus gesellschafflichen Entstehungszusammenh~ingen herrahren und nicht individuell verschuldet sind. Zweiten muss die Arbeitsexistenz als gesellschaftliche Normalform der Existenz anerkannt sein, und es mfissen die ihr entspringenden Anforderungen von den einzelnen weitgehend internalisiert sein oder doch wenigstens faktisch erfallt werden. Drittens mt~ssen bfirokratische Instanzen in der Lage sein, die trennscharfe Unterscheidung zwischen Arbeitenden und sozialstaatlich Gesicherten einigermagen verlgsslich zu treffen. Dazu bedarf es operationaler Kriterien, denen bei der Vergabe sozialstaatticher Mittel zu folgen ist, und geeigneter Verfahren, um die individuelle Berechtigung des einzelnen festzustellen. Viertens muss die Wirtschaft ein Niveau erreicht haben, auf dem sich ein ausreichender Anteil am Bruttosozialprodukt far sozialstaatliche Zwecke. eNbrigen lfisst. Individuell: Die Versicherungspflichtigen mfissen sich die
Vgl. dazu die ambivalente sozialpolitische ,,Schubkra~" yon Kriegen: Thane (1983); Leibfried u.a. (1984b); Baron (1983).
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erforderlichen Beitrgge leisten k6nnen. Gesellschaftlich: Die Wirtschaft muss eine Gruppe Nichtarbeitender tragen k6nnen. Man sieht: Ein staatliches Sozialversicherungssystem einzurichten, weist in hohem Maf~e Voraussetzungen auf, yon denen sich zwei herauskristallisieren: Es mt~ssen die 6konomischen und intellektuellen Voraussetzungen vorliegen, damit ein Sozialversicherungssystem machbar wird, (Punkte 1 und 4). Es m~issen die Bedingungen dafttr geschaffen werden, dass das Sozialversicherungssystem nicht zerst6rerisch auf die Wirtschaft zurfickwirkt (Punkte 2 und 3). Die Institutionalisierung eines staatlichen Sozialversicherungssystems ist also als ein Vorgang aufzufassen, in dem es gelingen muss, stabile arbeitsmarktexterne Formen materieller Sicherung aufzubauen, zugleich aber das Funktionieren des Arbeitsmarktes nicht durch diese Sicherung in Frage zu stellen. Organisiert werden muss der Gatertransfer vonder Wirtschaft in das System sozialer Sicherung. Verhindert werden muss der Transfer von ,,Anti-ArbeitsMotiven" aus dem System sozialer Sicherung in die Wirtschaft. Mit der Errichtung staatlicher Sozialversicherungssysteme entsteht also ein neues labiles Arrangement. Sein Kernsatz lautet: Wer essen will, muss arbeitsbereit sein. Hunger als arbeitsmarktpolitisches Regulativ wird relativiert. Zugleich wird versucht, far ihn ein funktionales Aquivalent zu schaffen, indem durch Arbeit Anwartschaft auf soziale Sicherung erworben wird. Die Labilit~it dieser Konstmktion hat Eduard Heimann als ,,dialektische Paradoxie" (Heimann 1980: 168) bezeichnet und so gefasst: ,,Sozialpolitik ist Abbau der Herrschaft zugunsten der Beherrschten. Sozialpolitik ist also der Einbau des Gegenprinzips in den Bau der Kapitalherrschaft und Sachgfiterordnung; es ist die Verwirklichung der sozialen Idee im Kapitalismus gegen den Kapitalismus." (Heimann 1980: 167) Wenn man diese Aussage auf unsere auf Armut gerichtete Fragestellung bezieht, bedeutet sie: Sozialstaatliche Sicherung unterlguft die absolute Geltung und Funktion der Drohung mit Armut und Hunger. Sie lockert den Zusammenhang yon Arbeiten und Essen. In arbeitszentrierten Gesellschaftsformationen wie dem Industriekapitalismus muss das prek~r sein, da damit dem Arbeitsmarkt Funktionseinbugen drohen. Darum muss die Sozialstaatsprogrammatik unter den Vorbehalt der Arbeitsbereitschaft gestellt werden. Das gilt auch far die A1terssicherung, die diesen Zusammenhang bloB auf der Zeitachse streckt. Die staatlichen Garantien arbeitsmarkt-externer Sicherung stehen also unter arbeitszentrierten Vorbehalten, die sicherstellen sollen, dass das Arbeitsmotiv jenseits der ,,Hungerpeitsche" intakt bleibt. Dieses Arrangement macht auf den ersten Blick den Eindruck eines geschlossenen arbeits(markt)zentrierten Sys53
tems unter Einschluss sozialstaatlicher Sicherung. ,,DAB mit Lohnarbeit verbundene Existenzrisiken in der institutionellen Form der Sozialversicherung aufgefangen werden, macht Lohnarbeit far Arbeitskrgfte attraktiver und kommt so ihrer Arbeitsbereitschaft zugute." (Lenhardt/Offe 1977:110) Dennoch empfiehlt es sich nicht, diesem Eindruck so weit nachzugeben, dass man eine Theorie des Sozialstaats vonder funktionalen Voraussetzung abh~ingig macht, Sozialpolitik sei ,,die staatliche Bearbeitung des Problems der dauerhaften Transformation yon Nicht-Lohnarbeitem in Lohnarbeiter''5 (Lenhardt/Offe 1977: 101). Verwischt man so den Unterschied zwischen den Intentionen und Effekten staatlichen Eingriffs, so f~illtes schwer, die Frage often zu halten, ob es auch tats~ichlich immer gelingt, die arbeitsmarkt-extem Versorgten an den Arbeitsmarkt motivational rtickzubinden. Genau diese Frage aber ist entscheidend. Wenigstens die Untemehmerschaft, einschlieglich der ihnen nahe stehenden Wissenschaftler, Publizisten und Politiker, war sich zu keiner Zeit sicher, ob diese Frage in ihrem Sinne positiv beantwortet wiarde. Ihre Einsch~itzung der grunds~itzlichen Labilitat des sozialstaatlichen Arrangements ~iuf3ertsich in dem Verdacht, hier sei Missbrauch gegeben. Der Missbrauchsverdacht6 - also: es k6nnte gar jemand essen, ohne arbeiten zu wollen - begleitet die Entwicklung des Sozialstaats seit seinen Anf~ingen. ,,Das grOgte Obel, gegen das man sich bei allen derartigen Versicherungsleistungen schtitzen muB, ergibt sich aus der Gefahr des Simulantentums ... Das einzig wirksame Gegenmittel ... ist, das Interesse der Arbeiter zu wecken, sich selbst dagegen zur Wehr zu setzen." (Hennock 1982: 109) So steht es in einem englischen Erfahrungsbericht fiber das deutsche Sozialversicherungssystem aus dem Jahre 1911. In der Weltwirtschaftskrise zielte der untemehrnerische Kampf darauf, den Hunger als unbedingtes Regulativ des Arbeitsmarktes wieder zu inthronisieren (vgl. Baron 1983; Abromeit 1977). Die Vereinigung der Deutschen Arbeitgeberverb~_nde sprach in ihren Reformvorschlagen davon, es gehe darum, ,,in Wahrung berechtigter Unterstatzungsinteressen, sowie zum Schutze einer arbeitsfreudigen deutschen Arbeitnehmerschaft, die unberechtigte, wirtschaftlich und arbeitsmoralisch in gleichem Mal3e scMdliche Verwendung der Untersttitzungseinrichtungen zu verhindern" (Weisbrod 1982: 209). In dieselbe Kerbe schl~igt heute Molitor, wenn er meint, es sei ,,nicht mehr zu iibersehen, dass das Oder: ,,die Gesamtheit staatlicher Magnahmen zur Herstellung, Erhaltung und Sicherung eines verwertbaren Bestandes yon Arbeitskraften in der spezifischen Form der Lohnarbeit" (Sachge/Tennstedt 1980: 4). Zur Kritik vgl. Kaufmann (1982c: 54); Vobruba (1983a: 36f.). Zu einer ausffihrlicheren Kritik, des Missbrauchskonzept vgl. Heine/Kirchberger (1982); Matzner (1984); Vobruba (1984).
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System parasitfire Existenzen nfihrt, die allem m6glichen nachgehen, nur keiner geregelten Bemfst~itigkeit, vielmehr es vorziehen, faktisch andere far sich arbeiten und Sozialabgaben aufbringen zu lassen" (Molitor 1982: 325). Und schlieBlich Bundeskanzler Kohl: ,,Der Grundgedanke unserer Sozialpolitik muB auch in Zukunft sein, die Leistungen yon Staat und Gesellschafl ff~r die wirklich Hilfsbedt~rfligen zu gew~hrleisten. Sie brauchen die Solidarit~it der Gesellsehaft und nicht jene Geschickten, die es in zum Teil kenntnisreicher Ausnutzung yon Verordnungen und Gesetzen fertigbringen, Jahr ffir Jahr auf Kosten anderer zu leben." (Kohl 1983: 177)
An diesen beliebig vermehrbaren Beispielen f'~illtauf: In keinem Fall wird der Missbrauchsverdacht als bloBer Minderheitenstandpunkt ausgedrtickt. Stereotyp dient die Unterscheidung von ,berechtigten" und ,,unberechtigten" Unters~tzungsbeziehem bzw. von ,,wirklich Bedfirftigen" und ,,Parasiten" dazu, ein verallgemeinerbares Interesse an der Verhinderung mOglichen Missbrauchs zu formulieren. Diese Versuche kOnnen an jenem Interessengegensatz ankntipfen, der sich ergibt, sobald Arbeit als Mittel gegen Arrnut einma| allgemein anerkannt ist. Dann ist es nur ein Schritt bis zur Konfrontation von Arbeitenden und Armen. Es ist ,,ganz klar, dab keine zwei Klassen im Staate einander feindlicher gegenOberstehen als der Arbeiter, der sein Brot im SchweiBe seines Angesichts verdient, und der Bet-tier, der vonder Arbeit anderer lebt" (Bradford Observer, 11.8. 1836; zit. nach Fraser 1982: 37). Dieser Interessengegensatz7 wird durch die besondere Art noch versch~irft, wie Versicherungen die in sie eingezogenen interessenlagen strukturieren und tiberformen. Um zu verstehen, wie zugkraftig das Missbrauchsverdikt ist, muss man sich das Profil dieser Interessenlagen vor Augen fahren. Jedem System sozialer Sicherung stellen sich unter Knappheitsbedingungen zwei Aufgaben: die An der Vertiefung dieses Interessengegensatzes haben auch die Linken kr~iftig mitgewirkt. Zu Arbeitslosenunruhen in Berlin, im Februar 1892 nahm Wilhelm Liebknecht so Stellung: ,,Jedenfalls haben unsere Parteigenossen bei den Februarkrawallen weder Fenster eingeworfen, noch Laden gepltindert; wer das getan hat, verdient den Namen Lumpenproletarier, und zwar in noch schlimmerem Sinne als Marx ihn gebraucht hat. (Andauemder lebhafter Beifall und Hfindeklatschen.)" (Protokoll des SPD-Parteitags, 14.-21. 11. 1892, Berlin; zit. nach FrOba/Nitsche 1983: 60) Zu derartigen Einschfitzungen meinte die Vossische Zeitung unmittelbar nach den Februarunruhen: ,Lumpen, Zuhfilter, Pennb~der, Spitzbuben, Einbrecher, Diebe und Louis sind einige der Bezeichnungen, mit denen sie (die Arbeitslosen, die Krawall machten) vom offiziellen ,Vorw~irts' t~berschOttet wurden. Man schafft kt~nstlich einen Unterschied zwischen Lumpenproletariat und Arbeitsproletariat und taschenspielert so lange, bis man herausbekommt, daft eigentlich das Lumpenproletariat eine Schutztruppe der Bourgeoisie gegen das Arbeiterproletariat ist." (Vossische Zeitung vom 9. 3. 1892; zit. nach Fr6ba/Nitsche, ebd.)
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Erbringung von akuten Sicherungsleistungen; die Aufrechterhaltung der Leistungsfahigkeit des Versicherungsfonds und damit: Sicherheitsbereithaltung. Das logische Verhalmis zwischen beiden Aufgaben ist einfach. Die Leistungsffihigkeit des Versicherungsfonds ist Voraussetzung daffir, im Bedarfsfall faktisch Versicherungsleistungen erbringen zu k~nnen. Das VerhNtnis beider Aufgaben zueinander ist aber problematisch hinsichtlich der Interessen, welche die eine und die andere Aufgabe primer besetzen. Wer akut in Not gerfit, ist an m6g|ichst umf~nglichen Sichemngsleistungen interessiert. Dieses Interesse akmalisiert sich in einem engen Zeithorizont. Es ist dringlich. Die Sorge darum, die Leismngsffihigkeit des Fonds zu erhalten, liegt hier au~erhalb des Blickfeldes individueller Planung. Im Gegensatz dazu richter sich das Interesse deter, die potentiell an Sicherungsleistungen interessiert sind, auf einen weiteren Zeithorizont. Ihnen geht es in erster Linie um die langfxistige Erhaltung der Leismngsf~igkeit des Versicherungsfonds. Diesem Interesse muss es als Gef~hrdung erscheinen, wenn Versicherungsleistungen (insbesondere in Krisenzeiten) forciert in Anspruch genommen werden. Nun liegt es in der Natur von Versicherungen, dass die Zahl derjenigen, die akmell Leistungen beziehen, bei weitern kleiner ist als die Zahl derer, die potentiell dazu berechtigt sind, Leistungen in Anspruch zu nehme. Es ist daher Erfolg versprechend, t~ber den Missbrauchsvorwurf diesen latenten Interessengegensatz zu aktualisieren und ihn zum Vehikel zu machen, Armut in wirtscha~lich und politisch disziplinierender Absicht zu reinthronisieren. In der ersten Weltwirtsehaftskrise zumindest hatte diese Methode Erfolg. Unternehmerkreise beklagten 1929 noch den Verlust ,,ihrer" industriellen Reservearmee, der durch die staatliche Arbeitslosenversicherung eingetreten war. Diese habe den ,,Zustand des Angebots und der Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt vollst~ndig ausgeschaltet" (zit. nach Weisbrod 1982:210). Und Ludwig von Mises leistet wissenschat~lichen Beistand: ,,Nicht weil rationalisiert wird, sondern weil die Arbeitslosen der Notwendigkeit, sich nach neuer Arbeit umzusehen, enthoben werden, gibt es Arbeitslosigkeit als Dauererscheinung." (yon Mises 1931: 23) Dagegen die Realitat: Ende 1931 war die Zahl der Erwerbslosen ,,auf 5'A Millionen angewachsen. Nur rund ein Drittel yon ihnen war damals noch im GenuB von Arbeitslosenunterstfitzung, der Rest in. Krisen- und WoNfahrtsunterstfitzung" (Preller 1978: 446). In der Tat ging es in der Auseinandersetzung um die Sozialpolitik am Ende der Weimarer Republik nicht um ,,technische" Detailprobleme, sondern um gesellschaftspolitische Grundsatzentscheidungen. Versuchten die Gewerkschaften insbesondere die Arbeitslosenversicherung als die gesetzliche Garantie eines ,,unentziehbaren Existenzanteils" 56
(Naphtali 1928; zit. nach Weisbrod 1982:211) gegen den Zugriff der Finanzkrise zu verteidigen, so ging es dem Unternehmerlager darum, ,,den Rechtscharakter der Versichertmg" (Preller 1978: 424) zu brechen. ,,Ging den einen die Finanzwirtschaft fiber die Versicherung, so den anderen die Versicherung fiber die Finanzwirtschaft." (Ebd.) Auf dem HOhepunkt der Krise war die Arbeitslosenversichertmg ihres Charakters als gesetzliche Versicherung weitestgehend entkleidet worden. Die Unterstatzungen waren (wieder) an Bedtirftigkeitsprfifungen geknt~pfi, die Leistungsstandards drastisch gesenkt (Preller 1978:418 ff.). Armut war nicht nur wiederum als regulatives Prinzip gegenw~irtig, sondem ebenso massenweise als soziale Realittit. Denn mit den LOhnen und den Sozialversicherungsleistungen gerieten auch die Ft~rsorge-S~itze in den Sog der Krise. Das lag daran, dass ein ausreichender ,,Sicherheitsabstand" zwischen Lohnh6he und Ft~rsorgesatz zur politisch-programmatischen Grundausstattung der Ffirsorgepolitik z~hlte: ,,Die Ffirsorgeleistung darf demgegent~ber in keinem Falle diese Grenze berfihren, weil dadurch der Anreiz zur eigenen Arbeit vernichtet warde..." (Nachrichtendienst des Deutschen Vereins fttr 6ffentliche und private Ffirsorge Mai 1925; zit. nach Leibfried 1981b: 475; vgl. Leibfried u. a. 1984a). Strategien des Sozialabbaus sind Strategien der Herrschaftssicherung, weft sie existentielle Abh~ingigkeiten bei den Betroffenen aufbrechen lassen, die bedingungslosen Anpassungsdruck an die gegebenen und yon interessierter Seite gestalteten VerhNtnisse erzeugen. Das labile sozialstaatliche Arrangement brach in der ersten Weltwirtschaftskrise zusammen. Zur Wirklichkeit wurde wieder: Arbeiten oder Verhungern.
4. Ohne Arbeit Essen
Dass Missbrauch sozialer Sicherung nichts weiter als ein Himgespinst konservativer Sozialstaatsgegner und Menschenfeinde ist, das es sozialwissenschaftlich ,,aufzukl~ren" gilt - dieser Eindruck w~ire falsch. Man muss klar sehen: Die rechtsfOrmigen Standardisierungen leistungsausl6sender Tatbest~nde im Sozialversicherungsrecht bergen M6glichkeiten des Missbrauchs. ,,Die Bindung an generatisierte Regeln l~ifAtStrategien zweckfi~emder Ausnutzung aussichtsreicher erscheinen als in der interpersonellen Beziehung." (Kaufmann 1982a: 21) Allerdings bleibt zu fragen, wie welt man dies als ein Problem sehen muss. Grtmds~itzlich lassen sich aus der Diagnose, dass rechtsf6rmige Regelungen die M6glichkeit der Verwendung der Mittel for unbeabsichtigte Zwecke mit 57
sich bringen, zweierlei Folgemngen ableiten: Entweder man versucht, durch restriktive Fassung und Auslegung der Gesetze samt begleitenden Kontrollen den Kreis der Mittelbezieher einzuengen. Oder man entschliegt sich, durch weitere Defmitionen legitimer Zwecke, das Spektrum erlaubter Mittelverwendungen zu vergr~igem. Im einen Fall wird die Schere zwischen der Absicht des sozialpolitischen Gesetzgebers und der Realit~it der Mittelvergabe durch ~mderungen bei der Mittelvergabe, im anderen Fall durch ,Xmdemngen in den gesetzgeberischen Absichten geschlossen. Der erstere Fall wurde in extremer Form in der ersten Weltwirtschaftskrise verwirkticht und lfisst sich in milderer Form in den sozialpolitischen Handlungsmustem der letzten Jahre wiedererkennen (Vobruba 1983b). Der letztere Fall w~ire der gedankliche Ankntipfungspunkt ~r eine Politik der Entkoppelung yon Arbeiten und Essen - Ankntipfungspunkt mr die Forderung nach einer altgemeinen arbeitsunabh~ingigen materiellen Grundsicherung. Diese Forderung wird in jtingster Zeit8 unter den Stichworten ,,Garantiertes Mindesteinkommen" (Gerhardt/Weber 1983), ,,negative Einkommenssteuer" (NES), ,,soziale Dividende" (Sugarman 1980:81), staatlich garantierte ,,materielle Grundgeborgenheit" (Adler-Karlsson 1979), ,,egalit~ire materielle Grundsichemng" (Offe 1983a), insgesamt: ,,ein Recht auf Einkommen, das nicht vom Besitz eines Arbeitsplatzes abh~ingt" (Gorz 1983: 66) diskutiert. Wie steht es um die Voraussetzungen dieser Fordemng und wie um ihre Realisierungschancen? Die gegenwartige Krisenkonstellation lasst sich als Zusammentreffen zweier Entwicklungen beschreiben (Vobruba, 1983c). Es tut sich seit nun etwa zehn Jahren zunehmend eine Schere zwischen dem Wachstum des Bruttosozialprodukts und der Entwicklung der Besch~iftigung auf. W~ihrend das Wachstum des Bmttosozialprodukts einigermagen zyklisch verl~iuft, nimmt die Arbeitslosigkeit in Stufen zu (vgl. S. 108 ff., 215 ff.). Im Abschwung steigt sie an, in Erholungsphasen rastet sie auf dem erreichten Niveau ein, irn neuerlichen Abschwung steigt sie yon diesem Niveau aus weiter. Diese Tendenz st6rt die Funktionsweise des Arbeitsmarktes yon der Nacht~ageseite her. Mehr Produktion fahrt nicht mehr zu vermehrter Nachfrage nach Arbeitskr~iften.
Der Vorschlag selbst ist alt. Zuerst wurde er im Rahmen von Gesellschaftsmodellen prasentiert, die sich als reformerische Synthese yon Kapitalismus und Sozialismus verstanden. Vgl. so yon Josef Popper-Lynkeus, Die allgemeine N~ihrpflicht als Ltisung der sozialen Frage von 1912; vgl. auch PreufSer (1982: Bd. 3). Als politische Forderung wird er - in deutlicher Abkehr von frt~heren (Fehl-) Einschatzungen der Bedeutung staatlich garantierter materieller Sicherheit heute am deutlichsten von den Grt~nen vertreten vgl. Opielka (1985).
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Zugleich mit diesem nachfrageseitigen Funktionsverlust und trotz hoher Arbeitslosigkeit halt sich, und dies ist die zweite Entwicklung, eine hartngckige Diskussion um die Wt~nschbarkeit industrieller Arbeit. Arbeitsbedingungen, Arbeitsentgelt und die (6kologischen) Folgen der Produktion und ihrer Inhalte stehen in der Kritik. Die Angebotsseite des Arbeitsmarktes wird davon wenigstens insoweit berOhrt, als verschiedenste Produktionen problematischen Inhalts nur noch dadurch aufrecht erhalten werden kOnnen, dass die stmkturelle Erpressbarkeit des Einzelnen und der GebietskOrperschaften ausgenutzt wird. So jedenfalls liege sich der Umstand deuten, dass etwa R%mngsbetriebe die geheimnisvolle Tendenz haben, in strukmrschwache Regionen abzuwandern, wo die Arbeitslosigkeit hoch ist und der neue Betrieb de facto ein NachfrageMonopol auf dem regionalen Arbeitsmarkt hat. Brisant wird die Lage vor allem dann, wenn sich herausstellt, dass sich die Arbeitsplgtze selbst dann nicht erhalten lassen, wenn der Preis der Au~echterhaltung problematischer Produktionen entrichtet worden ist. Um die Konstellation dieser ,,doppelten Krise der Lohnarbeit" (Vobruba 1983c) in ein Bild zu fassen: Sprach fraher die krisenbange Frage ,,wie lange rauchen die Schlote wohl noch?" die drohenden Besch~iftigungsprobleme einer funktionsgestOrten Wirtschaft an, so ist es heute ebenso nahe liegend, wenn einem bei dieser Frage auch die sozialen und Okologischen Probleme einer, konjunkturell nicht gesttirten Wirtschaft einfallen. Es ist eben nicht mehr unumstritten, ob die Schlote rauchen sollen. Die so beschreibbare Krisenkonstellation muss ein arbeitszentriertes System sozialer Sichemng in Frage stellen. Das betrifft zum einen die Seite des Mittelautkommens: Wenn eine zunehmende Anzahl an Menschen, unfreiwillig oder freiwillig, nicht mehr in formellen Arbeitsverhgltnissen steht, dann wird ein Finanzierungsmodus zunehmend ineffektiv, der die Beitrgge zur sozialen Sicherung an die H6he der Lohneinkommen knt~pft. Und es betrifft zum anderen die Seite der Erbringung sozialstaatlicher Leistungen: Die arbeitszentrierten Vorbehalte bei der Vergabe der Leistungen sozialer Sicherung werden sinnlos, wenn die Chancen, an formeller Erwerbsarbeit teilzuhaben, abnehmen und auch abgelehnt werden, und wenn die durchg~ngige Arbeitsbiographie nicht mehr als allgemeine Normalbiographie angesehen werden kann und wird. Mag auch die reale 6konomische Entwicklung auf die Entkoppelung von Arbeiten und Essen hinweisen, also darauf, dass eine arbeitsmarktunabhgngige garantierte Basissicherung einzurichten ist, so wird sie sich daraus doch keineswegs automatisch ergeben. Die Abwet/r dieser Idee wird, das l~sst sich leicht voraussehen, im Namen der Verteidigung des Arbeitsmarktes stattfinden. Doch 59
um die Qualitgt der einschlggigen Argumente steht es schlecht. Es ist falsch, die Einrichtung einer garantierten Basissicherung mit einer Liquidation des Funktionierens des Arbeitsmarktes zu verknapfen. Dies gilt in zweierlei Hinsicht. Erstens ist es politisch verfehlt, die Forderungen nach einer solchen Basissichemng zum Instrument far die Auflaebung der zentralen Rotle des Arbeitsmarktes machen zu wollen. Um das einzusehen, muss man sich ins Gedgchtnis rufen, was die Leistungsf~higkeit des Arbeitsmarktes charakterisiert. Sein herausragender gesellschaftlicher Stellenwert verdankt sich einer Doppelfunktion: Er ist zugleich Allokationsmechanismus far den Faktor Arbeit und Zuweisungsmechanismus mr die Lebenschancen der Arbeitskrfifte (Vobruba 1983c). Die im Markt alltgglichen Anpassungsvorg~xlge von Angebot und Nachfrage sind auf dem Arbeitsmarkt zugleich permanente Emeuerungsvorg~nge der grtmdlegenden gesellschaftlichen Synthese: Abstimmungsprozesse zwischen gesellschaftlichen Anforderungen und individuellen Wtknschen. Das Besondere am Arbeitsmarkt ist, dass in ihm individuelle Wfinsche und gesellschaftliche Anforderungen verkntipft und dezentral aufeinander abgestimmt werden. Das gelingt, weil die ,,Logik der Situation", in der sich Arbeitskr~ifte auf dem Arbeitsmarkt befinden, so angelegt ist, dass die individuellen Interessen an bestm6glicher Verwendung und Verwertung der Arbeitskraft mit dem gesellschaftlichen Erfordernis bestm6glicher Allokation vereinbar werden. Eine garantierte Grundsicherung als Alternative zum Arbeitsmarkt-Einkommen bedeutet, dass auch ein neuer Allokationsmechanismus far Arbeitskraft errichtet werden muss. Damit ger~it diese Position in hoffnungslose Beweisnot. Alle historische Erfahrung zeigt, dass die greitbaren Altemativen zum Arbeitsmarkt hinter seiner Leismngsffihigkeit zurfickbleiben. Wer ,,Essen" dem Markt v611ig entzieht, wird bald vor dem Problem stehen, dass auch ,,Arbeiten" sich nicht mehr aber den Markt regeln lgsst. Josef Popper-Lynkeus (1912) und Gunnar Adler-Karlsson (1979) schlagen Gesellschaftsmodelle vor, bei denen die Produktion in einem Basis-Sektor auf einem allgemeinen Versorgungsrecht und einer allgemeinen Arbeitspflicht beruht. Beide Autoren wollen daneben einen marktwirtschafflich produzierenden Sektor ~ r den gehobenen Bedarf bestehen lassen. In beiden Fgllen sind die Modelle attraktiv, wenn beide Produktionssektoren strikt trennbar sind. Genau dies aber ist leider unbewiesen. Zudem spricht die grundsgtzliche Interdependenz aller Mgrkte gegen die Trennbarkeit. Jedenfalls wgre zu klgren: Was folgt daraus, dass die Produktionseinheiten beider Sektoren sowohl auf den Rohstoffm~irkten wie auf den Mgrkten far qualifizierte Arbeitskrgfte (,,Kader", die aber die allgemeine Arbeitspflicht hinaus im Basissektor arbeiten) miteinander 60
konkurrieren? Wie wird das abgrtindige Problem der Produktionsplanung gel/3st? Und wie lassen sich die stark regulativen Effekte einer Basis-NaturalienVersorgung mit den l~eiheitsstiftenden Absichten dieser vorgeschlagenen Gesellschaftsmodelle vereinbaren? Daraus lgsst sieh nur der Schluss ziehen: Eine vom Arbeitsmarkt unabh~ingige Basissicherung muss so gestaltet, sein, dass sie den Arbeitsmarkt nicht ersetzt, sondern erg~inzt. An einer Erg~inzung freilich besteht dringender Bedarf. Effizienz und freiheitsstiftende Wirksamkeit des Marktes laufen in dem MaBe leer, in dem er bestimmte Gruppen der Gesellschaft nicht mehr erreicht. Sichtbarer Ausdruck dieser Ineffizienz ist (Dauer)-Arbeitslosigkeit. Gerade um dem Arbeitsmarkt wieder zu fl~ichendeckender Wirksamkeit zu verhelfen, scheint es heute erforderlich, tiber eine garantierte Basissichertmg Arbeitskraftangebot in erheblichem Umfang vom Arbeitsmarkt wegzulocken. Das ist keine Alternative zu einer Verktirzung der Arbeitszeit und zu selektiver Wachstumsf0rderung, sondern eine Erganzung. Gleichwohl ist eine allgemeine f'manzielle Mindestsicherung eine gesellschaftspolitische Innovation, durch die sich eine Reihe heutiger gesellschaftspolitischer Blockaden aufl/3sen l~isst: Garantierte Basissicherung wtirde Potentiale einer freiwilligen Arbeitszeitumverteilung 9 aktivieren. Das Argument, das auf die Stabilitat der Massenkaufkraft zielt, k/Snnte in sozialpolitischer Richtung, in der es einzig noch Sinn macht, praktisch werden. Besch~iftigte in 0kologisch bedenklichen oder untragbaren Produktionen w~rden sich erforderlichen Umstellungen weniger erbittert entgegenstellen. Eine solche graduelle Entkoppelung von Arbeiten und Essen auf der Ausgabenseite erfordert allerdings eine entsprechende Entkoppelung auf der Einnahmenseite. Also: Bemessungsgrundlage mr die Beitrgge zur Finanzierung des Systems sozialer Sicherung kann nicht l~inger allein das Arbeitsentgelt sein. Die gedankliche Ann~iherung an diese Notwendigkeit wird wesentlich erleichtert, wenn man sich klar macht, dass diese Entkoppelung bereits im Gange ist. Nichts anderes bedeutet es, wenn die Sozialversicherungsfonds schon heute
Es ist wahrscheinlich, dass freiwillige Potentiale der Arbeitszeitumverteilung unter dem E indruck der Dauerkrise yon Sicherungsmotiven verschiittet werden, die sich auf m0glichst viel Arbeit und Einkommen richten: Eine garantierte Mindestsicherung kann helfen, solche Umverteilungspotentiale wieder freizulegen, also: chronometrische Arbeitszeitflexibilisierung erm0glichen. Noch dazu schafft eine solche Mindestsicherung Voraussetzungen daffir, dass sich die abhangig Besch~iftigten mit vermindertem Risiko, durch Arbeitszeitflexibilisierung t~bervorteilt zu werden, auf sie einlassen k0nnen, da durch die Mindestsicherung, wie schon PopperLynkeus (1912) betont, ihre Konfliktfahigkeit gestarkt wird.
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st~indiger Zuschtisse aus den allgemeinen Steuermitteln bedtirfen (Offe 1983a).1~ ,,Die gewaltige WertschSpfung in den Fabriken muss gerecht auf die Menschen verteilt werden. Es ist fraglich, ob der MafSstab des betrieblichen Arbeitslohnes hierfar noch zureichend ist." Dieser Hinweis von Ernst Albrecht (1983) l~iuft darauf hinaus, zum politischen Programm zu machen was ,,versch~mt" ohnehin geschieht. Darum ist dieser Vorschlag verntinftig. Der Umstand, ,,dab das Interesse ~r ein garantiertes Mindesteinkommen in allen politischen Lagern zu finden ist" (Huber 1982: 176), spricht durchaus fox seine Realisierungschancen, sollte aber doch auch Anlass ffir differenziertere Programmformulierungen und ffir vertiefte Analysen der sozial-, arbeitsmarkt- und gesellschaftspolitischen Folgen sein. Zweitens ist es unsinnig, die Forderung nach garantierter Basissicherung als Gefahr ff~r den Arbeitsmarkt anzusehen. Denn derartige Bedenken lassen sich durch eine geeignete Ausgestaltung der Basissicherung ausr~iumen. Sch~idlich ist in der Tat ein System, wonach das Einkommen eines Arbeitslosen bei jeglicher Arbeitsaufnahme gestrichen wird. Insofern ~hrt also die Annahme in die Irre, eine garantierte Basissicherung sei nichts weiter als Sozialhilfe ohne Bedtirftigkeitsprfifung. Damit konstruiert man tats~ichlich eine ,,Armutsfalle". Denn es ist dann gerade f/Jr unqualifizierte, armutsbedrohte Arbeitskr~ifte wirklich gescheiter, mit sozialstaatlicher Unterstfitzung recht und schlecht zu leben, als sich ~r nur wenig mehr Geld abzuplagen. Bei der Errichtung einer garantierten Basissicherung muss vielmehr gelten: ,,Leistung mul3 sich lohnen." - Allerdings ein wenig anders, als es die konservativen Interpreten dieses Satzes wollen. Garantierte Basissicherung muss bei Arbeitsaufiaahme erhalten bleiben und darf nur sukzessive mit zunehmender H6he des Arbeitseinkommens reduziert werden. Dazu ist erforderlich, dass es nicht als fixer Sockelbetrag, sondern als abnehmender Prozentsatz bei steigendem Arbeitseinkommen vorgesehen wird. Dieses Muster liegt dem Vorschlag einer negativen Einkommenssteuer im unteren Einkommensbereich zugrunde. ,,Ira Gegensatz zur bisherigen Sozialhilfe steigt also das Gesamteinkommen des Empf~ngers ganz erheblich, falls er eine gering bezahlte Arbeit annimmt, eben weil die staatliche Zahlung nur teilweise gektirzt wird." (Gerhardt/Weber 1983: 70) Klaus-Uwe Gerhardt und Arndt Weber stellen diesen Zusammenhang in dem folgenden Beispiel dar. 10 Dem kommt ein Rechtsverstfindnis entgegen, das in sozialstaatlichen Leistungen nicht Kompensation, sondern die Realisierung von Teilhaberechten sieht. Vgl. Kaufmann (1982b: 62); Luhrnann (1981); Leibfried (1981a: 268).
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,,In diesem gehen wir einmal unverzagt von 800 DM Mindesteinkommen aus und zeigen ftir einige Einkommensh6hen, wie hoch jeweils die negative Steuer ist." (Ebd.). Schaubild: Arbeitseinkommen, negative Steuer und verfligbares Einkommen im Falle eines Mindesteinkommens von 800 DM und eines negativen Steuersatzes von 50 %.
verfOgbares 1600 Einkommen
@ 1200
Negative St euer 800
1:3 Arbeitseinkommen
400
r
0
400
800
1200
1600
Arbeitseinkommen
(Quelle: Gerhardt/Weber: 1983:70) Welche Sackgassen drohen also dem Vorschlag einer allgemeinen Basissicherung? Die einen hoffen, man k6nne mittels einer arbeitsmarktunabh~ingigen Basissicherung den Arbeitsmarkt ausschalten. Die anderen beftirchten genau dies. u Die einen sind aus den falschen Grtinden da~r, die anderen aus den selben falschen Grttnden dagegen. Diese spiegelbildliche 0bersch~itzung 11
In der Tat wird ftir den materiellen Bereich bis zu einer vorgesehenen H0he das Subsidiarit~,tsprinzip damit funktionslos. Das mag Prozesse ordnungspolitischen Umdenkens erfordern, muss aber nicht gleich zum Untergang des Abendlandes fOhren, wie Klanberg zu befiirchten scheint, wenn er seine Frage: ,,... haben w i r e s hier gewissermal~en mit einer kulturell verinnerlichten sozialen Beziehung zu tun, die ein elementarer Bestandteil unserer gesamten occidentalen Zivilisation ist ... ?" emphatisch positiv beantwortet (Klanberg 1980: 248).
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darfte das Hauptproblem l~r eine Durchsetzung garantierter Basissicherung sein. Allerdings findet die Idee, ebenfalls quer durch die politischen Lager, auch zaghafte Be~rwortung. Chancen, verwirklicht zu werden, darften jedenfalls nur pragmatisch gehaltene Entw~rfe zur Basissicherung haben. Das mt~ssen Entwfirfe sein, in denen die finanziellen (steuerlichen) Voraussetzungen, die Frage m(iglicher sozialpolitischer Binnenrationalisierung und die Fotgen far die Entwicklung des Angebots auf dem Arbeitsmarkt gekl~irt sind. Da gibt es noch einiges zu tun. Im besten Fall gelfinge gerade mit einem pragmatisch gehaltenen Konzept zur Basissicherung eine gesellschaftspolitische Grenzaberschreimng yon epochaler Bedeutung. Wenn es gelingt, materielle Existenzsicherung so einzurichten, dass (Lohn-)Arbeitsbereitschaft nicht zerst6rt, sondern in berechenbarer Weise verringert wird, dann ist die Drohung mit Armut als arbeitsmarktpoIitisches Regulativ hinf~llig geworden. Damit er6ffiaen sich zugleich gute Chancen, Armut selbst zu bewfiltigen. Wenn sich das Angebot auf dem Arbeitsmarkt unabh~ingig von drohender Armut in ausreichendem Umfang erhalten l~isst, so weist dies auf die M6glichkeit eines stabilen sozialpolitischen Arrangements hin: Der Sicherungsmechanismus stellt sich nicht dadurch selbst in Frage, dass er seine eigene (ikonomische Grundlage: Arbeit untergr~ibt (Vobmba 1983a). So k6nnte es tats~ichlich nur noch ein Problem sinnvoller technischer Gestaltung - also: unmittelbar machbar - sein, Freiheitsgew~ihrung durch den (Arbeits-)Markt mit den Sicherungsleismngen des (Wohlfahrts-)Staates zu verknt~pfen. Damit brfiche nicht nur die beliebte reaktionfire Antinomie yon Freiheit und Sicherheit endgfiltig in sich zusammen, sondem es wfire dies zugleich auch ein Indiz ffir erhebliche gesellschaftliche Entwicklungsm6glichkeiten, die heute noch verborgen sind. Erinnem wir uns: Im l:lbergang yon traditionalen zu modemen Gesellschaften wurde Armut sinnlos, auflaebungsbedtirftig. Heute wird sie tiberflt~ssig, aufhebbar. Was in Aussicht steht, sind zwar keine ,,Wege ins Paradies" (Gorz 1983), abet Lebenschancen jenseits yon materieller Not. Immerhin.
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In diesem Beitrag ging es mir darum zu zeigen, dass die Idee eines garantierten Grundeinkommens eine Iange Tradition hat, und class es sinnvoll ist, die aktuelle Grundeinkommensdiskussion in Auseinandersetzung mit fr~heren Entw~rfen zu entwickeln. Und es geht mir immer noch darum. Denn immer noeh hat man den Eindruck, dass das Konzept eines garantierten Grundeinkommens alle zwei Jahrzehnte neu erfunden wird. Dies ist der Steigerung des sozialwissenschafilichen Reflexionsniveaus bei der Befassung mit dem Thema nicht unbedingt f6rderlich.
E n t w i c l d u n g und Stand der deutschen Diskussion u m ein garantiertes G r u n d e i n k o m m e n
1. Einleitung Der Bundesgesch~iftsf~hrer der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands sieht ein Gespenst: ,,Ein Gespenst geht um in Europa: die systemsprengende Idee eines garantierten Mindesteinkommens. Geistiger Vater dieses Gespensts ist Milton Friedman, der Papst des Monetarismus" (Glotz 1986: 135). N u n Milton Friedman mag der Vater so mancher Gespenster sein. Das garantierte Grundeinkommen ist jedenfalls nicht seine Idee. Er war einer ihrer Verfechter unter vielen (vgl. Friedman 1984). Richtiger dagegen ist die Beobachtung, dass die Diskussion um ein garantiertes Grundeinkommen in jfingster Zeit an Breite gewinnt. In der Tat: Die Idee ,,geht urn". Im Folgenden werde ich einen kurzen 13berblick fiber die Geschichte der Fordertmg nach einem garantierten Grundeinkommen geben. Dieser 13"berblick soll nicht nur den Sinn haben zu zeigen, dab es sich keineswegs um eine neue Forderung handelt. Er soll auch deutlich machen, in welchen unterschiedlichen Zusammenh~ingen und mit welchen unterschiedlichen Stol3richtungen die Forderung nach einem garantierten Grundeinkommen laut wurde und wie sehr sie gesellschaftspolitisch uneindeutig ist. Daran ankntipfend werde ich dann kurz auf die gegenw~irtige Grundeinkommensdebatte eingehen. Die Frage nach der allgemeinen Akzeptanz eines garantierten Grundeinkommens bleibt hier uner6rtert. Sicher ist, dass die Forderung nach einem garantierten Grundeinkommen so etwas wie einen ,,Bfirgerschreckeffekt" (Schreyer 1986) hat. Sicher ist, dass die Maxime ,,wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen" tief sitzt - trotz der zahlreichen faktischen Durchbrechungen (vgl. Vobruba 1985). Zumindest wahrscheinlich ist aber, dass die dieser Maxime zugrunde liegende Leistungsethik Erosionsprozessen ausgesetzt ist (vgl. Offe 1970), und es gibt auch Anzeichen dafdr, dass unter dem Eindruck der andauernden Beschfiftigungskrise und der abnehrnenden Leistungsf~ihigkeit der tragenden lohnarbeitszentrierten Teile des Systems sozialer Sicherung sich bei einigen Bev(51kertmgsgruppen ein Einstellungswandel (vgl. Esser, Fach, V~ith 1983: 206f.) 71
abzeichnet, der die Einfahnmg von Gmndsicherungselementen (saint der Perspektive auf ein garantiertes Gmndeinkommen) doch begt~nstigt (vgl. Graue Panther 1985; ALSO, taz 19.12.1984). Allerdings k6nnten sich durch die Entwicklung einer sich vertiefenden Gesellschaftsspalmng auch versch~rfte Interessenkonflikte aber das System sozialer Sicherung und seinen Umbau in Richtung auf ein garantiertes Gmndeinkommen ahzeichnen. Dies sind Fragen, die einstweilen often bleiben mfissen.
2. Die Wurzeln der ldee
Die Anf~nge der Idee eines garantierten Gmndeinkommens lassen sich schwer datieren. Entwarfe zu Gesellschaften, in denen jede(r) das erhNt; was sie/er zum Leben braucht, finden sich schon in den ,,klassischen" Utopien: In Moms' Utopia (1517), in Campanellas Sonnenstaat (1623) und in Bacons Neu-Atlantis (1638). Der Schwerpunkt lag hier allerdings noch anders. In diesen Utopien ging es datum - gegen die Verhglmisse der Feudalgesellschaft -, die gesellschaftlichen Konsequenzen einer Verallgemeinemng des Arbeitseinsatzes zu verdeutlichen. In Utopia gibt es ,,keine M6glichkeit zum Mt~Nggang und keinerlei Vorwand, sich vor der Arbeit zu dr~cken" (Morus 1983: 63). Da alle arbeiten mtissen, mtissen alle nur relativ kurz (sechs Stunden am Tag) arbeiten. Durch den allgemeinen Arbeitseinsatz einerseits, die begrenzten, ,,vemt~nftigen" Bedfirfnisse andererseits, wird das Problem (ikonomischer Knappheit ,,bewNtigt"; eine Konstruktion, die uns in allen jangeren Utopien ebenfalls begegnen wird. Auf der Basis derart bew~ltigter Knappheit ist dann die Versorgung aller m~Sglich. Es ist dies, da es nur notwendige Grater gibt und die Versorgung mit diesen allgemein ist, eine Totalversorgung; also eigentlich noch kein Gmndeinkommen. Diese gegen die Nicht-Arbeit des Adels gerichtete Wendung findet sich sp~ter noch z.B. bei Fourier und bei Wilhelm Weitling. Aber w~hrend in den klassischen Utopien die Gtiterproduktion auf das Notwendige beschrgnkt und die Versorgung aller mit den notwendigen Gatem daher eine Totalversorgung ist, fahrt Weitling eine Unterscheidung ein, die Nr die spgteren eher pragmatisch gehaltenen Entwfirfe konstitutiv ist: Die Unterscheidung von notwendigen Gatem und Luxusg~item. Ft~r den Bereich des Notwendigen entwickelt Weitling eine komplizierte (Pflicht-) Arbeitsorganisation. ,,Wenn es also n6tig ist, eine gewisse Arbeitszeit zu bestimmen, so kann es nur die des Notwendigen und Natzlichen sein, nicht aber die ~r die Hervorbringung des Angenehmen, solange die Begierde nach denselben nicht bei allen allgemein geworden ist" 72
(Weitling 1955). Weitling versteht also seine Unterscheidungen in notwendige und Luxusgt~ter und die Beschr~nkung der Arbeitspflicht auf die Herstellung ersterer als vorl~ufige - bis zu dem Zeitpunkt, da sich die Luxusbedfirfiaisse verallgemeinert haben. Eine intensive Diskussion setzte dann gegen Ende des 19. Jahrhunderts ein. Ich unterscheide zwei Richtungen: Die Totalutopien, die auf der aus den klassischen Utopien herkommenden Idee der Vollversorgung aufbauen und die utopischen Dualmodelle, f~r die die von Weitling eingef~arte Unterscheidung yon notwendigen und Luxusgfitern konstitutiv ist.
3. Gesellschaftliche Totalutopien In zahlreichen Zukunftsromanen jener Zeit warden Gesellschaften jenseits materieller Not beschrieben. Die bei weitem gr0Bte Verbreitung und den intensivsten EinfluB hatte der Roman ,,Looking backward" von Edward Bellamy. Es ist die Geschichte eines jungen Mannes, der im Jahre 1887 einschl~ft, im Jahre 2000 wieder erwacht und eine yon Grund auf ver~derte Gesellschaft kennenlernt. Das Buch, zuerst in englischer Sprache erschienen, wurde ,,in vielen Millionen yon Exemplaren in den Vereinigen Staaten gedruckt und in t~ber zwanzig Sprachen t~bersetzt" (Fromm 1981: 273). In Bellamys Zukunfisgesellschaft haben alle, fiber eine Art Kreditkartensystem, Anrecht auf die erw~nschten Grater. (Folgt man der Schilderung jener Zust~nde, so war auch erheblicher Luxus darin inbegriffen.) Daffir gibt es auch fftr alle eine 24jfihrige Arbeitspflicht. Allerdings ist die Arbeit ,,zu sehr eine Sache, die sich von selbst versteht, als dab es des Zwangs bed~rfe ..." (Bellamy 1887). Ft~r das Gesellschaftsverst~indnis und die Zukunftshoffiaungen relativ weiter Kreise war gegen Ende des 19. Jahrhunderts der offenkundige Widerspruch zwischen den technisch-/Skonomischen Potentialen (die bisweilen etwas t~bersch~tzt warden) und der realen Armut breiter Schichten jener Zeit maBgebend. Das kann einerseits. den Erfolg yon ,,Looking backward" erklfiren und war andererseits Ausgangsfrage weiterer ,,Zukunftsbilder". ,,Warum werden wir nicht reicher nach MaBgabe unserer wachsenden F~higkeit, Reichtum zu erzeugen?", fragt Theodor Hertzka in seinem Roman ,,Freiland. Ein sociales Zukunftsbild" (1890: XIV). Seine Antwort darauf ist erstaunlich ,,modern": ,,Weil der Reichtum nicht in dem besteht, was erzeugt werden kOnnte, sondern in dem, was thatsfichlich erzeugt wird, die thatsfichliche Produktion aber nicht blof3 vom AusmaBe der Produktivkrfifte, sondern ebenso auch vom AusmaBe des Bedarfs, nicht bloB vom ~berhaupt mOglichen Angebote, 73
sondem ebenso vonder iaberhaupt mSglichen Nachfrage abhangt - letztere aber durch die geltenden socialen Einrichtungen verhindert ist, parallel mit den produktiven Fghigkeiten zu wachsen" (Hertzka 1890: XX). Hertzka pr~isentiert also eine quasi vor-vor-keynesianische Diagnose. Seine Utopie spielt in geographischer Ferne im Gebiet von Kenia. Auch hier ist 6konomische Knappheit entproblematisiert. Ausschlaggebend dafar sind Automation, bequeme - und daher geme verrichtete - Arbeit und Solidarit~it. Der Besucher jenes Landes schildert: ,,Von der Grol3artigkeit der maschinellen Einrichtungen, yon der unermeNichen Kraftfalle, welche die geb~indigten Elemente hier dem Menschen zur Verf0gung stellen, kann sich der Abendlander ebenso wenig Vorstellung machen als yon dem raffinierten, ich m0chte fast sagen, aristokratischen Komfort, mit welchem die Arbeit aberall umgeben ist .... Ich war auch unter der Erde in den Kohlengruben und in den Eisenminen; auch dort fand ich es nicht anders: keinen Schmutz, keine aufreibende Plage f~r den Mensehen, der in vomehmer Ruhe zusieht, wie Seine gehorsamen Gesch6pfe aus Stah! und Eisen far ihn schaffen, ohne zu ermt~den und zu murren, yon ihm nichts anderes verlangend, als dab er sie lenke" (Hertzka 1890: 178).
Hertzka ist sozialreformerisch orientierter Fach6konom. (Freiland ist sein einziges literarisches Werk.) Er will kein Schlaraffenland konstruieren. Ein Bewohner Freilands erlautert: ,,Auch wir kSmpfen den Kampf urns Dasein, derm mahe- und arbeitslos f~tllt auch uns der Genug nicht in den Schog. Aber nicht gegeneinander, sondern miteinander stehen wir in unserem Streben." (Hertzka 1890: 181) Peter Kropotkins Ausgangspunkt gleicht dem von Hertzka fast aufs Wort: ,,Wir sind reich in unseren zivilisierten Gesellschaften. Woher also das Elend, das um uns herum herrscht?" (Kropotkin 1918: 3) Kropotkin fasst seine Vorstellungen allerdings nicht in Romanform. Gelten soll das Prinzip: ,,Nehmt soviel, als ihr bedttrft." (S. 32). Die ,,Eroberung des Brotes" - ,,la conquSte du pain" ist der Titel der franzSsischen Originalausgabe - ist far den Anarchisten Kropotkin das Entscheidende. Die ,,Eroberung der Macht" ist dagegen das falsche Ziel der ,,autoritaren Sozialisten". ,,Das Recht auf Wohlstand ist die soziale Revolution, das Recht auf Arbeit ist gCmstigenfalls ein industrielles Zuchthaus" (S. 27). Die Eroberung des Brotes ,,bedingt die Expropriation. Der Wohlstand far alle ist das Ziel, die Expropriation das Mittel." (S. 20) Auch Kropotkin setzt Hoffnung in radikale Automation. Dabei legt er als der meines Wissens - erste Autor auch Wert auf Rationalisierung der Haust~auenarbeit und betont die Erfmdung des Geschirrspt~lautomaten. Die Autoren der (yon mir so genannten) Total-Utopien haben ihre Entwarfe keineswegs als reine Phantasieprodukte verstanden, sondern immer wieder versucht, wissenschaftlich faBbare Tendenzen gesellschaftlicher Entwicklung, die 74
auf ihre Utopie hinstreben, ins Treffen zu fOhren. ,,Der ,Riickblick'", schreibt Bellamy im Nachwort zu seinem Roman, ,,wenn auch seiner Form nach ein phantastischer Roman, ist allen Ernstes als ein mit den Gesetzen der nagirlichen Entwicklung in Einklang stehender Vorausblick auf die ngchste Stufe in der industriellen und sozialen Entwicklung der Menschheit, vor allem in diesem Lande, gedacht ..." (Bellamy 1887: 213, 214) Und Kropotkin versucht eine allgemeine Tendenz zu zunehmender Entkoppelung von materieller Versorgung und eigener Leistung zu belegen. So weist er zum Beispiel auf die Einheitspreise der Post (unabh~ingig vom Briefweg innerhalb eines Landes) und restimiert: ,,Es liegt unbestreitbar, so schwach sie auch noch sein mag, die Tendenz vor, die menschlichen Bedtirfnisse vonder GrNSe der Dienste, welche der Mensch der Gesellschaft geleistet hat oder leisten wird, unabh~ingig zu machen." (Kropotkin 1918: 33)
4. Utopische Dualmodelle Von solchen phantasiereichen, eher mit intuitiven Belegen arbeitenden Entw0rfen setzen sich die Vertreter der utopischen Dualmodelle explizit ab. Sie ergehen sich weder in Spekulationen tiber die materielle Bescheidenheit und Vernihnftigkeit des Volkes bei seiner Gaternachf~age, noch rechnen sie mit freiwilligem, freudigem Arbeitseinsatz infolge verbesserter Arbeitsbedingungen und Einstellungswandel. Ihr Ausgangspunkt ist vielmehr die, bei Wilhelm Weitling schon anklingende, Unterscheidung von BedOrfiaiskategorien: notwendige Bedtirfnisse und LuxusbedOrfnisse (vgl. Novy 1978:25 lff.). Damit erst ist die Voraussetzung for das Konzept eines Grundeinkommens im engeren Sinne geschaffen. Denn die 0berlegungen um die Sicherstellung der Versorgung fOr alle drehen sich nur urn den Bereich des Notwendigen. Atlanticus (das ist das Pseudonym des Statistik-Professors Karl Ballod) und Josef PopperLynkeus sind die wichtigsten Vertreter dieser Richtung. Beide Autoren standen zur Sozialdemokratie in kritischer, aber nicht allzu grol3er Distanz. Immerhin verfal3te Karl Kautsky ein ausfohrliches Vorwort zu Atlanticus' Buch ,,Ein Blick in den Zuktmftsstaat. Produktion und Konsum im Sozialstaat" (1898). Aus dieser Einleitung wird auch gleich klar, wie prek~ir die weltanschauliche Einordnungder Verfechter eines garantierten Grundeinkommens ihren Zeitgenossen erschien, und - vor allem - wie hart sich die Sozialdemokratie darin tat, eine Position dazu zu beziehen. Kautsky schreibt: ,,Mancher wird sich vielleicht dartiber wundem, wie wir dazu kamen, uns far die Herausgabe dieser Schrift zu 75
interessieren, die keineswegs yon unserem Standpunkt aus geschrieben ist. Der Verfasser steht Anton Menger n~her als Marx, under wendet sich in seiner Arbeit zu wiederholten Malen sowohl gegen einzelne Marxisten, wie gegen unsere ganze Richtung. Aber bei allen Verschiedenheiten und Gegensgtzen ist er doch Sozialist, und seine Schrift hatte keine Aussicht, in einem bt~rgerlichen Verlag angenommen zu werden" (Kautsky in Atlanticus 1898: V). Dem Sozialisten Kautsky, der die Einleitung zugleich zur Polemik gegen Bemstein nt~tzt, erscheint die Arbeit Atlanticus' immerhin als wissenschaftlicher Teil-Nachweis der Einl6sbarkeit sozialistischer Programme der Gesellschaftsver~nderung: ,,Die vorliegende Schrift ist unseres Wissens die erste, die ziffemmgNg den Beweis zu erbringen versucht, dal3 schon mit den heutigen Produktivkr~iften, bei liberalster Entsch~idigung der bisherigen Kapitalisten und auch noch ihrer Nachkommen, Wohlstand ~r alle Mitglieder der Gesellschaft m6glich ist, wenn die Gesellschaft die planmggige Produktion wenigstens aller notwendigen Konsummittel in die Hand nimmt" (XVIII). Atlanticus' Vorschlag beruht auf der Zweiteilung in notwendige und Luxusgtiter. ,,Der Staat hat ftir die Herstellung der gew6hnlichen Kleidungs- und Nahrungsstoffe, sowie der Baumaterialien, der staatlichen Geb~iude und Kommunikationsmittel zu sorgen. Die Produktion von Luxusgegenst~inden, M6bel, das Bauen yon Wohnh~iusem, die Besorgung yon G~irten, des Haushalts, Herausgeben yon Btichem und Zeitschriften kann er getrost der Privatsph~ire tiberlassen" (Atlanticus 1898: 4, 5). Trotz dieses rigorosen planerischen Ansatzes bleibt Atlanticus merkwtirdig unentschlossen hinsichtlich der Frage der allgemeinen Pflicht, an diesem System zu partizipieren und daffir eine entsprechende Pflichtarbeit abzuleisten. ,,Ein jeder, der arbeiten will, muB in den Stand gesetzt werden, Besch~iftigung vom Staate zu erhalten. Die Arbeiten k6nnen nach Ableistung eines bestimmten Arbeitspensums, resp. einer bestimmten Anzahl yon Normalarbeitsjahren und Tagen, welche t?tir jeden Beruf durch sorgf~iltige Untersuchung festgestellt werden mtissen, for die iJbrige Lebenszeit vom Staate eine lebensl~ingliche Pension beziehen, welche gerade far gentigende Nahrung und Kleidung ausreicht" (Atlanticus 1898: 5). Die Auszahlung des Grundeinkommens erfolgt in Geld. Die Teilnahme ist letztendlich fakultativ. Dies sind die beiden Hauptangriffspunkte far Josef Popper-Lynkeus. Die Forderung nach einem garantierten Grundeinkommen hatte er schon 1878 in dem Buch ,,Das Recht zu leben und die Pflicht zu sterben" erhoben. Bereits hier unterscheidet er eine ,,Volkswirtschaft des Nothwendigen", in der es ,,eine ausnahrnslose Nahrpflicht" (Popper-Lynkeus 1878: 150) gibt und eine ,,Volkswirtschaft des l]-berflusses", in wetchem, wie er meint, auch schon bisher 76
nicht-materielle Arbeitsmotive maggeblich sind. Eine ausftthrliche Formulierung und detaillierte Berechnung des Programms einer ,,allgemeinen Nghrpflicht" gibt Popper-Lynkeus dann in dem 1912 erschienenen Buch ,,Die allgemeine Nghrpflicht als LSsung der sozialen Frage". Er fasst sein Programm so zusammen: ,,Die soziale Frage als Magenffage ist zu 16sen durch die Institution einer Minimum- oder N~hrarmee, die alles das produziert oder herbeischaffen hilft, was nach den Grunds~itzen der Physiologie und Hygiene der Menschen notwendig ist .... Die Versorgung dieses Lebens- oder Existenzminimums geschieht in natura, also nicht in Geldform, ausnahms- und bedingungslos far alle dem Staate angehSrigen Individuen; nur werden die tauglichen unter ihnen verhalten, eine bestimmte Anzahl von Jahren in der Nghrarmee zu dienen. Das Minimum sichert jedem: Nahrung, Wohnung nebst Wohnungseinrichtung, Kleidung, firztliche Hilfe und Krankenpflege. Alles das, was nicht zu diesem Minimum geh6rt, gilt als Luxus und bleibt der freien Geldwirtschaft, mit Privateigentum und Vertragsfreiheit, vorbehalten, welche, da die Existenz aller gesichert ist, eventuell noch freier betrieben werden kann als heute" (PopperLynkeus 1912: 5). Die Leistung des Grundeinkommens in Naturalien und die absolute Zwangsteilnahme am Grundversorgungssystem samt entsprechender Arbeitspflicht (und zwar 13 Jahre), dies hebt Popper-Lynkeus als die beiden essentiellen Unterschiede zum Konzept yon Atlanticus hervor, denn dieses sei ,,ira Gmnde nichts anderes als eine -jedenfalls nicht unbetrgchtliche - Erweiterung des alten Rechts auf Arbeit" (Popper-Lynkeus 1912: 503). Mit dieser Wendung gegen ein Recht auf Arbeit - was ihn notwendigerweise in Gegensatz zu den Sozialisten bringen mul3te - steht Popper-Lynkeus in gewisser Verwandtschaft zu Kropotkin. Das Konzept einer ,,allgemeinen N~ihrpflicht" fand zahlreiche Anhgnger. In Wien entstand eine ,,N~ihrpflicht-Propagandastelle", die es sich zur Aufgabe machte, die Idee in leicht fasslicher Form aufzubereiten und zu verbreiten. Politisch-praktische Konsequenzen hatte das Konzept von Popper-Lynkeus ffeilich nicht. Die Werke von Atlanticus und Popper-Lynkeus erlebten zahlreiche Neuauflagen und stimulierten die Diskussion bis in die 20er Jahre. Nachfolgearbeiten zum garantierten Grundeinkommen gab es im deutschen Sprachraum in jener Zeit (meines Wissens) aber keine. In der Weltwirtschaftskrise ist die Idee dann wohl ggnzlich untergegangen.
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5. Die Wiederaufnahme der Utopie-Perspektive In jt~ngster Vergangenheit hat die Diskussion um ein garantiertes Grundeinkommen vor allem yon A. Gorz (1983) wesentliche Impulse erhalten. Gegentiber den ~lteren Diskussionen hat sich die Sto6richtung in einem gewissen Sinne umgekehrt. Die Wteren Konzepte waren armutspolitisch angelegt und behandelten die Frage, wie der notwendige Arbeitseinsatz zu regeln sei, als ein - allerdings entscheidendes - Nebenproblem. Gorz und unmittelbar nach ihrn eine Anzahl weiterer Autoren setzen anders an. Sie kehren in einem gewissen Sinn zu den klassischen gesellschaftlichen Gesamtutopien zu~ck, indem sie deren wichtigste Unterstellung aufnehmen: dass man vom Problem 6konomischer Knappheit (weitgehend) absehen kann. Freilich geschieht dies in den neuen Beitrggen nicht t~ber die spekulativen Annahmen der gesellschaftlichen Gesamtutopien, dass in der ,,anderen Gesellschaft" sich der Arbeitseinsatz als freudigfreiwillig und der Bedarf an Gfitern als vernttnftig-mal3voll herausstellen werden (s.o.). Nun wird vielmehr davon ausgegangen, dass sfikular hohe Produktivitfitssteigerungen dazu fahren werden, dass sich die gegenwgrtig gegebene enge Verknt~pfung yon Arbeit und Einkommen mehr und mehr erabrigen werde und erfibrigen m%se. So geht Gorz davon aus, dass das Quantum gesellschaftlich notwendiger Arbeit, dass auf die/den einzelne(n) entfallt, Ende des Jahrhunderts bei etwa 20.000 Stunden Lebensarbeitszeit liegen werden (vgl. Gorz 1983: 68). ,,Nun bedeuten aber 20.000 Stunden pro Leben zehn Jahre Vollarbeit oder zwanzig Jahre Teilzeitarbeit oder - weit plausibler - vierzig Jahre unregelmfil3ige Arbeit ..." (Gorz 1983: 68). Um ein Wechseln zwischen der (technisch bedingt drastisch reduzierten) Lohnarbeit und anderen T~tigkeitsformen zu erm0glichen, soll eine ,,lebenslgngliche Einkommensgarantie" gegeben werden. Diese gilt ,,nicht mehr als Entschgdigung, Beihilfe oder staatliche Betreuung des Individuums, sondern als die gesellschaftliche Form, die das Einkommen annimmt, wenn die Automatisierung nicht nur den st~ndigen Zwang zur Arbeit, sondern auch das Wertgesetz und die Lohnarbeit selbst abgeschafft hat." (Gorz 1983: 69) Der technische Fortschritt produziert somit nicht nur das Problem: dass immer weniger Menschen in Lohnarbeit Verwendung f'mden k6nnen, sondern liefert auch die Voraussetzung far seine L6sung: ,,In technischer Hinsicht stellt die Finanzierung des Einkommens auf Lebenszeit kein neues Problem dar ... Am besten erfolgt sie durch eine Besteuerung der automatisierten Produktionen." (Gorz 1983: 73)
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Trotz solch weitgehender Annahmen tiber gesamtwirtschaftliche Freisetzungseffekte durch Arbeitskrafte sparenden technischen Fortschritt I sieht Gorz das Problem der Regulierung des verbleibenden Rests abh~ingiger Arbeit. Hierftir schl~igt er die Ein~hrung von Lebensarbeitskonten vor. Auf ihnen sind Pflichtkontingente verbucht, die - bei Strafe des Entzugs des Grtmdeinkommens - abzuarbeiten sind. Dabei besteht freie Arbeitsplatzwahl im Rahmen der Vermittlung tiber ,,Arbeitsb6rsen" (vgl. Gorz 1986: 60). Den damit verbundenen Zwang sch~itzt Gorz als gering ein. Denn: ,,Sogar eine banalisierte, rasch erlernte, mit irgendeiner anderen austauschbare Arbeit, die weniger als 1.000 Stunden im Jahr beansprucht ... ist kein ermtidender, qu~ilender Zwang, der den Menschen verkrappelt, deformiert oder verbl6det, sondern eine Beschgftigung, die ihm willkommen ist aufgrund der Vielfalt, der Kontakte, des Rhythmus und der zeitlichen Organisation, die sie mit sich bringt (Gorz 1983: 86). Von dieser - an die Annahmen in den klassischen Utopien erinnemden optimistischen Einschatzung des Regelungsbedarfs des notwendigen Arbeitseinsatzes unterscheidet sich etwa G. Adler-Karlsson. Er schl~igt, den Vorstellungen von Josef Popper-Lynkeus sehr verwandt, eine Zweiteilung der Wirtschaft in einen Grundbedarfssektor und einen 13berfluss-Sektor vor (vgl. Adler-Karlsson 1979: 495). Im Grundbedarfssektor gibt es eine Arbeitspflicht. ,,In diesem Sektot hat jeder Mann und jede Frau das Recht und die Pflicht, einige Jahre (z.B. acht, zehn, maximal Nnfzehn) zu arbeiten" (Adler-Karlsson 1985: 7). DaNr wird eine lebenslange Grtmdsichertmg garantiert. ,,Die Bezahlung ftir die ausgeftihrte Arbeit mug in Form von Einkaufskarten geleistet werden, die man weder verkaufen noch weitergeben kann, und die materielle Grundgeborgenheit far das Individuum mug garantiert sein, solange es lebt" (Adler-Karlsson 1979: 495). Im lSlberfluss-Sektor dagegen herrschen Arbeitsmarkt-Verh~ilmisse, und es werden L6hne bezahlt. Mit der Er/3rterung der Notwendigkeit einer generellen Arbeitsverpflichmng klingt die Frage nach der Systemvertraglichkeit eines garantierten Gmndeinkommens an. Ftir Gorz ist ein Grtmdeinkommen nur die Konsequenz eines gleichsam ,,sanften" Ausstiegs aus dem Kapitalismus. Es ,,verweist die Automatisiertmg auf ein Jenseits des Kapitalismus und des Sozialismus." (Gorz 1983: 53). ,~anlich sieht Adler-Karlsson die beiden yon ihm vorgeschlagenen Sektoren: Grundbedarfssektor trod 13berfluss-Sektor als Bausteine einer Gesellschaftsformation an, in welcher ,,der Sozialismus und der Kapitalismus in einer Technologisch bedingte Arbeits|osigkeit ist einstweilen jedenfalls noch nicht eingetreten. Vgl. Spahn/Vobruba (1985). Zur Kritik der mit der Annahme hoher Produktivitfitszuw~tchse verbundenen Verteilungshoffnungen vgl. Opielka (1985).
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h6heren Einheit" (Adler-Karlsson 1979: 495) verbunden werden k6nnen. Durch die Grundsicherung sieht Adler-Karlsson jene ,,grundlegende Geborgenheit des Arbeiters geschaffen, so daf3 er es nie n6tig haben wird, sich dem Zwang zu unterwerfen, den das marxistische Ausbeutungsmodell voraussetzt. Falls die Bedingungen des Kgufers der Arbeitskratt nicht akzeptabel sind, hat der einzelne Arbeiter die volle Freiheit, sie nicht zu akzeptieren. Dadurch ist eine wesentlich gerechtere Verhandlungssituation im Vergleich zu fraher entstanden" (AdlerKarlsson 1979: 502). Habermas schliegt aus der Ersch6pfung der ,,Energien der arbeitsgesellschafflichen Utopie" (Habermas 1985: 157) auf die Notwendigkeit einer Reorganisation des Sozialstaats, bei der es ,,nicht mehr um die Einfxiedung einer zur Norm erhobenen Vollzeitbeschfiftigung gehen kann" (ebd.). Dafar weist er der Einfahrung eines ,,garantierten Mindesteinkommens" eine tragende Rolle zu: ,,Dieser Schritt ware revolutiongr, aber nicht revolutiongr genug" (ebd.). Indem Habermas die Idee eines garantierten Grundeinkommens in die Perspektive gesamtgesellschaftlicher Transformation rackt und die Notwendigkeit eines politisch inszenierten gesellschaftlichen Wandels mit der Ersch~pfung der utopischen Energien der gegebenen arbeitszentrierten Gesellschaftsformation begrandet, steht er in der - i m weitesten Sinne - utopischen Argumentationstradition. Da Habermas zugleich jedoch an konkretem Sozialpolitik-Versagen anknapft, weist seine Position zugleich auf die eher pragmatischen Argumentationen zum garantierten Grundeinkommen.
6. Probleme lohnarbeitszentrierter Sozialpolitik und garantiertes Grundeinkommen
Das gegenw~rtige, historisch gewachsene System sozialer Sicherung ist in hohem Make lohnarbeitszentriert (vgl. Vobruba 1985b; Gretschmann/Heinze 1985; Leibfried/Tennstedt 1985: 22; Hanesch 1985a: 101). Das bedeutet, dass sowohl der Zugang zu als auch die Bemessung von wichtigen (nicht allen!) sozialen Sicherungsleistungen an Lohnarbeit rackgebunden ist. Lohnarbeitszentrierte Vorbehalte, die den Zugang regeln, sind: ,,Erst lohnarbeiten, dann ..." und ,,Lohnarbeitsbereitschaft zeigen, damit ..." (vgl. Vobruba 1985b). Die Anbindung der H6he von Sicherungsleistungen an die Lohnarbeit erfolgt fiber das ~quivalenzprinzip. In dem Mal3e nun, so wird argumentiert, in dem faktisch nicht mehr davon ausgegangen werden kann, dass alle (die dies wollen) die lohnarbeitszentrierten Bedingungen far den Bezug yon Sicherungsleistungen erfallen, werden aus den Vorbehalten Zugangsbarrieren. Und in dem 80
Maf~e, in dem sich prekfire Lohneinkommenslagen ausbreiten, fahrt das Aquivalenzprinzip zu defizit~ren sozialen Sicherungsleistungen. Dazu kommt noch, dass die Lockerungen des Aquivalenzprinzips im Zuge von Sozialtransfer-Karrieren, wie sie im gegebenen System vorgesehen sind (Arbeitslosengeld - Anschlussarbeitslosenhilfe - Sozialhilfe) zugleich Verarmungsprozesse bedeuten. FOx alle, die nicht in der Lage sind, ,,Normalarbeitsverhglmisse" (vgl. Mt~ckenberger 1985) einzugehen, wirft somit die lohnarbeitszentrierte Sozialpolitik sozialpolitische Probleme auf: Vielen, die abweichend vom ,,Normalarbeitsverh~iltnis" tgtig sind, droht, neben vielf~ltiger sozialrechtlicher Benachteiligung (vgl. Landenberger 1984), sozialpolitische Unterversorgung (vgl. Hauser 1983). Denen, die Opfer yon sozialstaatlichen Abgruppierungsprozessen geworden sind, und denen, die erst gar keinen Zugang zum Arbeitsmarkt gefun den haben, droht das Problem des Ausschlusses, von den besseren (manchmal: von allen) Leistungen des Sozialstaats. Aus solchen Problemdiagnosen ist der weithin unbestrittene (vgl. Welzmt~ller 1985: 415) Schluss gezogen women, dass die gegenwgrtige starke Lohnarbeitszentriertheit der Sozialpolitik abzubauen ist. Zahlreiche Vorschl~ge gehen in diese Richtung. Unterschiede gibt es allerdings in ihrer Reichweite. Hier ist nicht der Ort, die zahlreichen L6sungsvorschl~ige, die an die Defizite lohnarbeitszentrierter Sozialpolitik anknt~pfen, im Detail nachzuzeichnen. Ich will lieber eine Systematik anbieten, in der das garantierte Grundeinkommen seinen Platz findet und in der die spezifische Differenz eines garantierten Grundeinkommens, zu anderen L6sungsvorschlggen deutlich wird. Unterscheidungskriterien Rtr die einzelnen Typen von L/Ssungsvorschlggen der Defizite lohnarbeitszentrierter Sozialpolitik lassen sich aus den folgenden Fragen gewinnen: A. Richten sich die Vorschlgge nur auf das Unterversorgungsproblem? B. Oder richten sich die Vorschlgge auch aufdas Ausschlussproblem? C. Versuchen die Vorschl~ge, Primgreinkommensausf~ille nur zu kompensieren, oder richten sie sich auch darauf, Vergnderungen der Primgreinkommensverteilung zu bewirken? Ich nenne far die einzelnen Typen einige Vorschlgge als Beispiele. Ad A. Auf die Bewgltigung des Unterversorgungsproblems richten sich die Vorschl~ge zur Sockelung der bestehenden Zweige sozialer Sicherung (vgl. Hauser 1984; Leibfried 1996). Der Leitgedanke dabei ist, (insbesondere) bei den Sozialversichemngsleistungen keine Auszahlungen in so geringer H6he zuzulassen, dass 81
sie um Sozialhilfeleistungen ergfinzt werden mCtssen. ,,Die bisherigen Teilbereiche der sozialen Sicherung (Arbeitslosenversicherung, Alterssicherung etc.) bleiben auf~echterhalten, werden aber durch das 'Einziehen' eines allgemeinen bedarfsorientierten Grundeinkommens(,Sockel') harmonisiert und reformiert" (Welzm~ller 1985: 419; vgl. Hauser 1984). In der Tat w~re eine Sockelungsstrategie geeignet, Verarmungsprozesse zu stoppen, wenn sich diese aus der durch das Aquivalenzprinzip bedingten Fortschreibung yon Niedrigl0hnen in entsprechend niedrige Sozialtransfers ergeben. Die reine Soekelungsstrategie geht allerdings dann ins Leere, wenn sozialpolitischer Abstieg mit AusschlieBungsprozessen aus den besseren Versorgungszweigen verbunden ist, oder wenn man in diese mangels erworbener Anwartschaft erst gar nicht hineinkommt. Dieses Problem wird von Beft~wortern der Sockelung durchaus gesehen. Sie fordem daher ,,eine Ergfinzung der sozialversicherungsrechtlichen Konstruktionsprinzipien durch eine allgemeine Mindestsicherung, die unabhfingig von Beitragszeiten und Beitragsh6he normiert wird" (B~icker 1985: 38) Dies Rkhrt zu den Vorschl~gen zur L0sung des Ausschlussproblems. Ad B. Zur LOsung des AusschluBproblems yon den (besseren) sozialen Sicherungsleistungen gibt es mehrere Vorschl~ge. Zum einen wird vorgeschlagen, bestimmte Lebenszeiten, in denen keine Lohnarbeit verrichtet wurde, fi3r den Erwerb von Anwartschaften den Zeiten der Lohnarbeit gleichzuhalten. ,,In der Rentenversicherung kOnnte beispielsweise durch die Ausweitung yon fiktiven Beitragszeiten (z.B. Erziehungsjahre) ein rentensteigemder Effekt erzielt werden; far teilzeitbeschgtligte Personen kOnnte die Fiktion eingebaut werden, dab sie rentenrechtlich als Vollzeitbeschtfftigte z~hlen und der Staat den Differenzbetrag zuschief~t. Durch Arbeitslosigkeit bedingte Unterbrechungen der Erwerbsbiographie mOJ3ten lackenlos und zu einem einkommensad~iquaten Verrechnungssatz in der individuellen Rentenberechnung be~cksichtigt werden etc." (Welzmfiller 1985: 419). Dabei wird also die Lohnarbeitszentriertheit der sozialen Sicherung als Prinzip erhalten, praktisch jedoch gelockert (vgl. Hauser 1984). Weiter gibt es den Vorschlag, Aktivit~iten im informellen Sektor, insbesondere im Bereich yon Selbsthilfe, sozialversicherungsrechtlich aufzuwerten. ,,Ft~r sozial als nt~tzlich definierte Tgtigkeitstatbest~inde, die, da sie nicht Erwerbsarbeit darstellen, durch die herkOmmlichen sozialen Sicherungswerke nicht abgedeckt sind, kOnnen Sozialversichertmgsgutscheine eingeNhrt werden, die den zeitlichen Input Dr die jeweilig relevanten Tgtigkeiten (etwa auf Stundenbasis) 82
ebenso wie den Natzlichkeitsgrad berficksichtigen. Far den letzteren Zweck werden bestimmte T~tigkeiten als mehr individuell oder mehr gesellschaftlich nt~tzlich, aber auch als mehr oder weniger attraktiv bestimmt und mit einem Natzlichkeitsindex versehen, der Zuschlgge far wenig attraktive und gesellschaftlich besonders nt~tzliche Tgtigkeiten und Abschlgge far das Gegenteil markiert." (Gretschmann/Heinze 1985:118) Schlieglich gibt es Vorschlgge, die Bezugsberechtigung far einzelne Leistungskategorien so zu verallgemeinem, dass Ausschlusseffekte nicht mehr eintreten k6nnen (Allgemeine Grundrente). Solche Vorschlgge werden von verschiedenen Seiten pr~isentiert (vgl. Miegel 1981; Graue Panther 1985). Bei einigen der Vorschl~ige werden solche L/Ssungsansgtze des Ausschlugproblems mit Senkungen des Leistungsniveaus bzw. mit Verschlechterungen der Sozialeinkommenspositinn von bisher besser Gesicherten verknapft (vgl. Miegel 1986). Damit wird die sozialpolitische Bew~iltigung des Ausschlugproblems als Null-Summen-Spiel innerhalb der Gesamtheit der tatsgchlichen und der potentiellen Leistungsbezieher angelegt. Die Vorschlgge in Richtung einer (schrittweisen) Verallgemeinerung des Zugangs zu sozialen Sicherungsleistungen weisen letztlich auf einen Sieherungsstandard, ,,der unmittelbar auf Teilhabe am Reichtum einer Gesellschaft und ihren Entwicklungsm6glichkeiten sowie auf die Teilnahme an ihrer sozialkulmrellen Entfaltung zielt. Ein solcher Standard bezieht sich auf die ,Mitte' dieser Gesellschaft und nicht auf ihren Rand. Er beabsichtigt nicht Ausgrenzung, sondern ,Eingrenzung', Leben als Bttrgerrecht" (Leibfried, u.a. 1985: 146). Damit n~ihem sich die erweiterten Sockelungsvorschlgge der Idee eines garantierten Grundeinkommens. Ad C. Von den bisher genannten L6sungsans~itzen der Probleme lohnarbeitszentrierter Sozialpolitik unterscheidet sich der Vorschlag eines garantierten Grundeinkommens in zwei wesentlichen Punkten. Zum einen erfibrigen sich zahlreiche Fragen, die sich aus den genannten Vorschlggen ergeben: Welche Betgtigungsformen werden tats~chlich als Lohnarbeitsgquivalent anerkannt (vgl. Welzmfiller 1985; Bgcker 1985)? Wie wird jener N~itzlichkeitsindex konkret erstellt und wie bewertet (Gretschmann, Heinze 1985)? Die regulativen Eingriffe, die sich aus der politisch-praktischen Beantwormng dieser Fragen ergeben, fallen beim Vorschlag eines garantierten Grundeinkommens weg. Zum anderen unterscheidet sich das garantierte Grundeinkommen von den vorangegangenen Vorschl~igen in seinem Bezug auf Vorg~inge auf dem Arbeits83
markt. W~ihrend die L6sungstypen A und B auf die Kompensation bereits entstandener Probleme durch Ausfall von Prim~ireinkommen ausgerichtet sind, intendiert ein garantiertes Grundeinkommen zugleich mit seinen Transfereffekten einen Arbeitsmarkteffekt. Das heigt: In der gesamten bisherigen Geschichte der Diskussion um ein garantiertes Grundeinkommen wurde die Frage, damit verbundener negativer Arbeitsanreize als Problem diskutiert. Diese Sicht wird mit der Dauermassenarbeitslosigkeit revidiert. Nun geht es eher darum, erwtinschte Arbeitsmarktentlastungseffekte durch ein garantiertes Grundeinkommen zu organisieren. Diesbeztiglich hat die neuere Diskussion erbracht, dass zwisehen dem Niveauaspekt und dem Verteilungsaspekt der Arbeitsmarktentlastung durch ein garantiertes Grundeinkommen unterschieden werden muss. Unbestritten ist, dass seine Einrichtung zu einer Senkung des Niveaus des angebotenen Arbeitskraftvolumens ~hren wtirde. Allerdings scheint - so kann man in loser Anlehnung an die einschl~igigen Experimente in den USA (vgl. Almsick 1981) schliel3en - dieser Effekt geringer zu sein, als gemeinhin angenommen wird. Weitgehende Einigkeit scheint auch dartiber zu bestehen, dass ein garantiertes Grundeinkommen m6glichst so organisiert sein sollte, dass die Reduktion des individuellen Arbeitskraftangebots in m6glichst feinen, den individuellen Prgferenzen entsprechenden ,,Portionen" erfolgen kann. Dies setzt voraus, dass Grundeinkommensteile mit Arbeitseinkommensteilen kombinierbar sind; - dass also nicht, wie es gegenw~irtigePraxis ist, die Aufnahme yon entlohnter Arbeit zum Verlust des gesamten Transfereinkommens fahrt. SchlieBlich ist in der neueren Diskussion vehement der Einwand vorgetragen worden (vgl. Blickhguser, Molter 1986; Ostner 1985), dass die Arbeitsmarktentlastungseffekte durch ein garantiertes Grundeinkommen voraussehbar zu Lasten des Anteils der Frauen an der Erwerbsarbeit gehen werden; dass, mit anderen Worten, ein garantiertes Gmndeinkommen die Gefahr der Abdr~ingung der Frauen vom Arbeitsmarkt impliziere. Dieser Einwand hat dazu gefdhrt, dass in jttngster Zeit Vorschl~ige unterbreitet werden (vgl. Opielka, Stalb 1986; Vobruba 1985), Grundeinkommen und Arbeitszeitpolitik zu kombinieren. Dafar wird von mehreren Seiten argumentiert: Zum einen scheint eine Arbeitszeitverkfirzung solchen Ausmages, dass durch sie ein wesentlicher Schritt in Richtung Vollbeschfiftigung getan wird, die Verteilungsspielr~ume, in denen die Tarifparteien agieren, zu aberfordern. Arbeitszeitverk/irzung mit Lohnausgleich st6gt an Grenzen 6konomischer Leistungsffihigkeit der Untemehmen, Arbeitszeitverk~zung ohne Lohnausgleich stellt die Existenzbedingungen in den unteren Einkommensgruppen in Frage. Dieses arbeitszeitpolitische Dilemma hat dazu gefiihrt, Arbeitszeitverkarzung ohne Lohnaus84
gleich und die parallele Einfahrung eines garantierten Grundeinkommens vorzuschlagen. Die Kombination von Arbeitszeit- und Grtmdeinkommenspolitik k~innte nach Opielka (1985) etwa, ,,in einer ,20-Stunden-Normalerwerbswoche' far alle abhangig Besch~iftigten bestehen, wobei an die Stelle eines betrieblichen weitgehend ein tiberbetrieblicher Lohnausgleich durch ein garantiertes Grundeinkommen in H6he von mindestens 1.000 DM pro Person tr~ite." (Opielka 1985: 135) Weiter gibt es 13berlegungen, freiwillige Reduktionen der individuellen Arbeitszeit (Teilzeit) dadurch zu f6rdern, dass - im Sinne einer 13bergangsstrategie - .diejenigen, die 20 oder weniger Stunden in der Woche erwerbst~itig sind oder sein kt~nnen, zuerst ein Anrecht auf das garantierte Grundeinkommen erwirken" (Opielka 1985: 148). Schliel31ich ist far die Notwendigkeit der Kombination yon Grundeinkommen und Arbeitszeitflexibilisierung (vgl. Vobruba 1985a) argumentiert worden. Will man durch eine geeignete Gestaltung eines garantierten Grundeinkommens Arbeitsentgelte und Grundeinkommens-bestandteile ftir den/die Einzelne(n) kombinierbar machen, so bedarf es nicht nur eines sequentiellen Auszahlungsmodus des Gmndeinkommens, sondern komplement~ir dazu auch einer entsprechend entrigidisierten Arbeitszeitordnung, die wohlportionierte Arbeitszeitquanten tats~ichlich individuell w~ihlbar macht. Die Anforderung lautet also, dass durch grundeinkommenspolitische und arbeitszeitpolitische Regelungen flit die Individuen ,,Alles-oder-Nichts"-Wahlsituationen zwischen Lohnarbeit und arbeitsmarkt-extemen Existenzformen vermieden werden mtissen.
7. Schluss
Die Differenzen zwischen den Befth~ortem der Sockelungen im bestehenden System sozialer Sicherung und den Befarwortem eines garantierten Grundeinkommens lassen sich im Wesentlichen an zwei Problemkreisen abarbeiten. Zum einen muss yon den Befarwortem des garantierten Grundeinkommens noch deutlicher gemacht werden, in welchem Verh~iltnis das Grundeinkommen zu den gegenwartigen Transferleistungen stehen soll (vgl. Opielka/Stalb 1986); welche Transferleistungen im Grundeinkommen aufgehen sollen, welche modifiziert und welche beibehalten werden sollen. Komplement~ir dazu kOnnen die Befarworter von Sockelungen ihr Vorverst~indnis revidieren, dass die Forderungen nach dem Grundeinkommen ,,in der Regel yon dem Gedanken der 85
Ersetzung des bestehenden Leistungssystems ausgehen." (Hanesch 1984: 125; Welzrnfiller 1985a: 365,366) Verstgndigung da~ber ist eine Frage weiterer programmatischer Prgzisiemngen und sozialpolitischer Forschung (Welzmfiller 1985: 416). Unreduzierbar aber bleibt doch eine grundsgtzliche gesellschaftspolitische Differenz. Die Einfahamg von Sockelbetrggen gndert im Prinzip nichts an den Zugangsregeln zu sozialstaatlichen Leistungen. Sie bleiben daher weiterhin an wohldefinierte sozialpolitische Sonderlagen geknfipft. Die Idee des garantierten Grundeinkommens aber bricht damit: Ihr geht es darum, prinzipiell jedem Gesellschaftsmitglied den Zugang zu materieller Grundsicherung als gesellschafiliches Teilhaberecht (vgl. Leibfried u.a. 1985; Greven 1986) zu er6ffnen. Genau hier liegt der Kern der gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung um ein garantiertes Grundeinkommen. Die Positionen dazu reichen yon Ablehnung: ,,Ein solches prinzipiell (erwerbs-)arbeitsfreies Einkommen und Leben ffir die einen muf3te finanziert werden dutch die Erwerbstfitigkeit der anderen! Dies w~ire gesellschafts- und verteilungspolitisch aber nicht zu akzeptieren" (Bgcker 1985a: 429) fiber vorsichtige Trendprognosen: ,,Man kSnnte sich nun durchaus vorstellen, dab eine zukfinftige Gesellschaft wesentlich durch Transfereinkommen neuen Typs aus dem gesellschaftlichen Produktivverm6gen gekennzeichnet ist (Glotz 1986: 142) bis zu Formulierungen, die ein gewisses MaB an Provokation (oder: Denk-AnstoB) intendieren: ,,Wer nicht arbeitet, soll wenigstens essen." (Kellermann 1985: 34f.). Hinter diesen Positionsunterschieden stehen Differenzen fiber eine gesellschaftliche Grundfrage: die Frage nach der Legitimit~tsbeziehung yon Arbeiten und Essen. Ihre Bedeutung in der gesellschafispolitischen Auseinandersetzung nimmt zu.
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Die Diskussion ~ber Arbeitszeitflexibilisierung und die Grundeinkommensdiskussion liefen in den 80er Jahren etwa parallel aber weitgehend unverbunden. Eine Verbindung lag jedoch nahe und versprach, Blockaden in beiden Politikfeldern zu lOsen. Datum bem~hte ich mich, die Arbeitszeitpolitik und Grundeinkommen mit Blick auf wechseIseitige Anschlussfdhigkeit zu analysieren. Zugleich ging es mir darum, mich yon 6kolibert~iren Argumentationen und deren Mutationspotential zu schlicht neoliberalen Positionen abzugrenzen.
Wege aus der Flexibilisierungsfalle. Pliidoyer fiir die Verbindung von Arbeitszeitverkiirzung, Flexibilisierung und garantiertem Grundeinkommen
Als 1984 der Kampf um die 35-Stunden-Woche entbrannte, verblassten alle anderen politischen Themen neben dem Streit um die Arbeitszeitverkttrzung. Dann aber, als die Streiks in der Metall- und Druckindustrie zu Ende gegangen waren, herrschte dr(ihnende Stille. Nun wird vereinzelt begonnen, Inventur zu machen. Was also ist herausgekommen? Die nfichtemen Fakten: Die tarifvertragliche Arbeitszeit in der Metall- und Druckindustrie betr~igt ab 1.4.1985 38,5 Stunden pro Woche. Die 38,5 Stunden mt~ssen in der Metallindustrie im Betriebsdurchschnitt eingehalten und l)beroder Unterschreitungen in einem Mortar mt~ssen im Folgemonat ausgeglichen werden. (Es k6nnen also manche Arbeitnehmer dauerhaft mehr, manche dauerhaft weniger arbeiten.) In der Druckindustrie muss jeder Arbeimehmer im Durchschnitt 38,5 Wochenstunden arbeiten (vgl. WZB 1984: 6). In seinen quantitativen Dimensionen ist dieses Ergebnis nicht eben sehr beeindruckend. 18 Minuten weniger Arbeit auf den Tag gerechnet - als Ergebnis des ,,gr6Bten Arbeitskampfes in der Geschichte der Bundesrepublik". Na ja. Die Bedeutung dieser AbschlOsse d~fte eher im Symbolischen liegen. Symbol aber wo~r? Die Auseinandersetzung darum wird - das l~isst sich ohne viel Risiko voraussagen - mit erheblichem publizistischen Aufwand geR~hrt werden. Denn die ngchste Runde der Arbeitszeitpolitik kommt bestimmt: Die Tarifvertrgge laufen am 30.9. 1986 (Metall) und am 31.3.1987 (Druck) aus. Schon jetzt zeichnet sich ab: Die Gewerkschaften sehen in den Abschlt~ssen den Bruch mit der magischen Zahl 40 und den Einstieg in die 35-StundenWoche. ,,Die 40-Stunden-Woche ist beseitigt, das Tor zur 35-Smnden-Woche aufgebrochen." (Janssen/Lang 1985: 10) Das Institut der Deutschen Wirtschaft dagegen feiert ,,den Ausstieg der IG Metall. aus der generellen Arbeitszeitverkt~rzung". (Weisser 1984: 139)Ein ,,echter KompromiB" sei gelungen, der ,,beiden Seiten in ihren Forderungen entgegenkam: der Gewerkschaft mit der Arbeitszeitverkarzung, den Arbeitgebern mit der Flexibilisierung". (ebd.: 146)
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Hier Arbeitszeitverktirzung, da Arbeitzeitflexibilisierung - dieses Muster bestimmte den ganzen Arbeitskampf, und es scheint sich auch weiter zu halten. Einer seiner ~agwth'digen Vorziage ist, dass es dem Denken schlichter Gemt~ter entgegenkommt. Arbeitszeitverkarzung gut, Arbeitszeitflexibilisierung schlecht das kommt bei Gewerkschaftem an. ArbeitszeitverkOrzung schlecht, Arbeitszeitflexibilisiemng gut - damit liegt man bei den Arbeitgebem richtig. Der einzige, aber entscheidende Unterschied: Die Interessen der Arbeitgeber sind in dieser Entgegensetzung besser aufgehoben. In einem zweifachen Sinn: In einer Reihe von Unternehmen ist man tats~ichlich an flexiblen Arbeitszeiten zwecks Personalanpassung an betriebliche Kapazit~itserfordemisse interessiert. Ftir die anderen (und das diirfte die Mehrheit sein) hat die tmtemehmerische Besetzung des Themas Arbeitszeitflexibilisierung immerhin den Sinn, dass dem Verktirzungsthema der Gewerkschaften wenigstens rhetorisch etwas entgegengesetzt werden kann. - Zur Erinnerung: ,,Statt 35 Stunden: Arbeitszeit nach Mag ..." war das ,,Angebot der Arbeitgeber", das auf Plakaten pr~isentiert wurde. Die Interessen der Arbeimehmer dagegen sind in dieser Entgegensetzung weniger gut aufgehoben. Denn die Interessen der Arbeitnehmer richten sich keineswegs so eindeutig gegen Arbeitszeitflexibilisierung, wie sich die der Arbeitgeber gegen Arbeitszeitverk0rzung richten. Die Zweischneidigkeit (vgl. Wiesenthal 1984; Wiesenthal 1985) dessen, was Arbeitszeitflexibilisierung beinhaltet, ist die Grundlage der Flexibilisierungsfalle: Den Arbeimehmern werden wunschgerechte Arbeitszeitformen in Aussicht gestellt, die sich dann doch als etwas ganz anderes entpuppen. Ihrem allgemeinsten Sinne nach heigt Arbeitszeitflexibilisierung nichts anderes als WahlmOglichkeiten der Lgnge oder/und der Lage der Arbeitszeit, abweichend yon der Normallage des Normalarbeitstages. Often bleibt dabei vorerst sowohl, wer w~ihlen kann als auch welcher Logik folgend vom Normalarbeitstag abgewichen wird. Hier gibt es im Prinzip zwei M(Sglichkeiten. Entweder wghlen die Arbeitnehmer L~inge und Lage ihrer Arbeitszeit entsprechend ihren bemflichen und augerbemflichen Wtinschen. Oder die Arbeitgeber wghlen entsprechend ihren betrieblichen Auslastungserfordernissen. Beide M6glichkeiten haben auger dem Wort ,,Flexibilisierung" nicht viel miteinander gemeinsam. Im ersten Fall geht es urn ein Sttick Befreiung von rigiden Zeitzw~ingen, im zweiten um die Perfektionierung der Unterordnung unter dieselben. Ftir die Beurteilung des gesellschaftspolitischen Gehalts von Arbeitszeitflexibilisiemng kommt es also auf die Beantwortung der Frage an: Wer wahlt? Der Zugang zu dieser Frage ftihrt tiber die Untersuchung der Rahmenbedingtmgen innerhalb derer die Arbeitszeit flexibilisiert werden soll. Diesen kommt man nfiher, wenn man eine Besonderheit des
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Arbeitsvertrages ins Auge fasst. Der Arbeitsvertrag ist eine eigenartig windschiefe Konstruktion. Eindeutig regelt er nur die Verpflichtung des K~ufers: Er, der Arbeitgeber, muss soundsooft soundsoviel Lohn zahlen. Nach der Seite des Verk~iufers hin ist der Arbeitsvertrag weniger prgzise. Was der Arbeitnehmer nun genau in der Arbeitszeit zu tun hat und wie er es zu tun hat, lgsst sich nie bis ins letzte Detail voraussehen und kann darum auch nicht zum Vertragsinhalt gemacht werden. Hier hat der Arbeitsvertrag seine ,,Unbestimmtheitslt~cke" (Berger/Offe 1982). Diese Besonderheit des Arbeitsvertrages hat ihren Grund darin, dass sein Gegenstand, die Arbeitskraft, gegent~ber normalen marktg~gigen Waren einige bedeutsame Unterschiede aufweist. Die Hauptsache ist: ,,In der absolut unlOsbaren Verbindung der Arbeit mit der Person ihres Verkfiufers also besteht das wesentliche Merkmal, wodurch sich die Arbeit von allen anderen Waren unterscheidet." (Brentano 1877: 185f.)Der Arbeitsvertrag ist ,,eine unmittelbar die Person ergreifende Verbindung". (Nikisch 1966:31) Daraus folgt: ,,Der Arbeitnehmer kann die Arbeitsenergie nicht in einem Behglter verpacken und diesen Beh~ilter, geNllt mit Arbeitsenergie, dem Arbeitgeber als Bestandsgr/SBe aberreichen." (Brockhaus 1979: 12) Man gibt bei Arbeitsbeginn seine Arbeitskraft am Fabriktor ab und geht selbst wieder heim - d a s wgre nicht nur eine reizvolle Perspektive for den Arbeitsvollzug, sondern entspr~che auch genau der Erfallung eines gewShnlichen Kaufvertrages: Der Verkgufer wird vom weiteren Umgang mit dem Kaufgegenstand ausgeschlossen. Der Arbeitsvertrag dagegen regelt vor allem die Pflicht des Verk~iufers (Arbeimehmers) zur Anwesenheit und Mitwirkung bei der Verwertung seiner Arbeitskraft. Die Unabtrennbarkeit des Arbeitenden yon seiner Arbeitskraft hat noch eine zweite Konsequenz: ,,Wghrend der Verk~iufer anderer Waren dem Sinken des Preises seiner Ware durch Minderung von deren Angebot Einhalt gebietet, faihrt das Sinken der Nacht~age nach Arbeit zu einer Steigerung des Angebots derselben und daher zu einem Sinken des Lohns." (Brentano 1877: 197) Normalen Warenanbietem stehen bei Absatzschwierigkeiten die M6glichkeiten often, entweder ihr Angebot - in Grenzen - strategisch zurackzuhalten oder das Produkt zu wechseln. Dagegen: ,,Das konkrete Arbeits,verm6gen', das die Anbieter yon Arbeitskraft zu bieten haben, durchlfiuft, anders als das Kapital, keine Phase der ,Liquidit~t', in der es sich aller stoffiichen Bestimmtheit entledigen und sozusagen ein neues Leben anfangen k6nnte." (Offe/Hinrichs 1984: 53) Die Machtasymmetrie von Lohnarbeit und Kapital auf dem Arbeitsmarkt l~sst sich in einem Satz zusammenfassen: ,,Der vereinzelte Arbeiter dagegen ist zur Fristung seines Lebens zu fortwg~arendemVerkaufe gezwungen. Oder soll er seine Ware 95
far einen besseren Markt in der Zukunft bewahren? - Wovon lebt er, w~hrend er das Steigen des Preises erwartet?" (Brentano 1877: 195) Die Besonderheit der Arbeitskraft als ,,fiktiver Ware" (Polanyi 1977) und die Besonderheit des Arbeitsvertrages - seine ,,Unbestimmtheitslt~cke" - machen politische Regulierungen der Angebotsseite des Arbeitsmarktes notwendig. Mehr noch: Aus der Unabtrennbarkeit der Arbeitskraft yon ihrem Trgger, dem Menschen, folgt, dass Entscheidungen fiber Arbeitszeit Entscheidungen fiber Lebenszeit, mithin gesellschaftspolitische Grundsatzentscheidungen sind (Vobruba 1983). Die Unternehmer haben, was die ,,Unbestimmtheitslficke" betrifft, ambivalente Interessen. Denn einerseits schliel3t diese die Gefahr ein, dass der Arbeimehmer seine Zeit am Arbeitsplatz nicht optimal im Untemehmenssinn nutzt. Dies signalisiert Regelungs- und Kontrollbedarf bis ins kleinste Detail. Andererseits bleibt das Unternehmen auf die ,,Lebendigkeit" der Arbeitskraft stets angewiesen. ,,Es wgre daher ganz zwecklos, ja kontraproduktiv, die Autonomie der Arbeitenden durch Detaillierung rechtlicher Leismngsanspr~che sozusagen wegregeln zu wollen, denn es ist gerade diese Autonomie, welche die Nutzung ,lebendiger' Arbeitskraft far den Unternehmer attraktiv macht." (Offe/Hinrichs 1984: 58) Vollst~indig vorhersehbare und daher standardisierbare Verrichmngen werden ohnelain Maschinen t~bertragen. Die ,,Unbestimmtheitslficke" des Arbeitsvertrages wird durch vermehrte Wahlm6glichkeiten yon Arbeitszeit aber noch vergr6gert. Ist das nun gut oder schlecht? Nach dem bisher Gesagten lgsst sich darauf nur antworten: Es kommt darauf an. Es kommt darauf an, wer die faktische Defmitionsmacht t~ber die Unbestimmtheitslt~cke hat - wer sich also durchsetzt, wenn es um die praktische Entscheidung der Frage geht, wer warm wie viel arbeiten soll. Ganz offensichtlich ist das eine Machtfrage, eine Frage der innerbetrieblichen Machtverhgltnisse. 121berbetriebliche Machtverhgltnisse wird nur in zweiter Linie im Betrieb selbst, in erster Linie aber auf dem Arbeitsmarkt entschieden: Je grOger das Angebot an Arbeitskr~ften und je leichter der einzelne Arbeimehmer ersetzbar ist, umso schw~icher ist seine Position im Betrieb. Je schwgcher die Position im Betrieb, umso unwahrscheinlicher ist es, dass Arbeitszeitflexibilisierung in arbeitnehmerorientiertem Sinne stattfmden kann. Darin schnappt die Flexibilisierungsfalle zu. Wie l~isst sich die Position des Einzelnen so stgrken, dass das Risiko der Arbeitszeitflexibilisierung handhabbar wird, dass sich in flexiblen Arbeitszeitregelungen Arbeitnehmerinteressen niederschlagen k/3nnen? Ich sehe drei M6glichkeiten. (Sie schliel3en einander nicht aus.)
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1. Stiirkung der Anbietermacht durch Arbeitszeitverkiirzung Die Besonderheiten der Arbeitskraft fahren dazu, dass der Arbeitsmarkt nicht ganz so funktioniert, wie im Marktmodell vorgesehen. Insbesondere fahrt Oberangebot zwar zu Preisverfall, der Preisverfall aber fahrt nicht zur Verringerung der Angebotsmenge. Ganz im Gegenteil. Bestrebt, das individuelle Einkommen nach MSglichkeit zu halten, wird jeder Arbeitende sich bemtihen, den Preisverfall durch individuelles Mehrangebot an Arbeitskraft zu kompensieren. Insgesaint lfiuft das darauf hinaus, dass bei sLnkendem Preis nicht weniger, sondern mehr angeboten wird. Die Anbieter yon Arbeitskraft geraten damit in eine widersprtichliche Lage: Das Mehr an Angebot, das far den Einzelnen durchaus sinnvoll erscheint, fahrt in tier Summe dazu, dass sich die Anbietersituation flu" alle verschlechtert. Eine solche Konstellation, in der aus der Summe individuell rationaler Strategien ein Ergebnis resultiert, das allen schadet, nennt man Gefangenen-Dilemma. Aus dieser Konsteltation fahrt nur kollektive Verabredung. Das aber heigt bei einer groBen Zahl von Mitwirkenden unbedingt: Organisation. Diese Organisation muss darauf gerichtet sein, das Angebot auf dem Arbeitsmarkt politisch ,,k0nstlich" zu verknappen. Denn eine ,,nattMiche" Verknappung des Angebots an Arbeitskrfiften gibt es nicht bzw. gibt es nur als existentielle Katastrophe. ,,Und in der Tat alas Einzige, wodurch bei Abwesenheit einer Organisation der Arbeiter das Angebot der Arbeit vermindert wird, wenn der Lohn unter das zur Lebenshaltung Erforderliche sinkt, ist Tod und Elend der Arbeiter." (Brentano 1877: 199) Der organisierte Kampf um kollektive Arbeitszeitverk0rzung ist daher kein ,,unzeitgemgBer Kampf der Dinosaurier", der Gewerkschaften und der Arbeitgeberverb~nde, sondem eine Notwendigkeit, die sich aus den Besonderheiten des Marktverhaltens der ,,fiktiven Ware Arbeitskraft" ergibt. Und dieser Notwendigkeit ist prinzipiell nie ein far allemal Genfige getan. Denn die Nachfrageseite auf dem Arbeitsmarkt h~ilt nicht still, sondem vermag sich durch Rationalisierungsinvestitionen immer wieder graduell yon der Angebotsseite zu emanzipieren; mit anderen Worten: durch Rationalisierung entsteht immer wieder ein relatives Oberangebot. Der Angebotsseite dagegen steht kein ~iquivalenter Mechanismus zur Verfagung. ,,Rationalisierung" der Arbeitskraft zwecks gradueller Unabhgngigkeit vonder Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt das ergibt offensichtlich nicht viel Sinn. Nun kann man freilich die Hoffiaung hegen, dass der Trend zu verringerter Erwerbsorientierung (,,Wertewandel"), lieBe man ihm nur freien Lauf, zu selbst~ndiger, individueller Arbeitszeitverkt~rzung fahren wttrde (vgl. Schmid 1984; 97
dem arbeitszeitpolitischen Sinn nach ~ihnlich Vobruba 1982). Allerdings - so einfach, wie es auf den ersten Blick aussieht, setzen sich individuelle Wiinsche nicht in arbeitszeitpolitische Ergebnisse urn. Zwar wtirde - folgt man der Mehrzahl der Beffagungen - die Realisierung der Arbeitszeitwtinsche per Saldo eine Verringerung des Angebots an Arbeitskraft bedeuten und den Arbeitsmarkt entlasten. Aber es l~isst sich mit Fug und Recht bezweifeln, ob in der Arbeitnehmerschaft zur Zeit tats~ichlich Wtinsche nach weniger Arbeit (und weniger Entlohnung) in einem solchen Ausmal3 schlummern, dass sich die gesarnte Arbeitslosigkeit absorbieren lief3e. H6chstwahrscheinlich ist dies nicht der Fall. Wenn das zutrifft, treten doch wieder Effekte auf, die einer Arbeitsmarktentlastung durch Arbeitszeitflexibilisierung entgegenwirken. Denn dann hat Arbeitszeitflexibilisierung wieder all die Nachteile, die sich ergeben, wenn sie aus einer Unterlegenheitsposition auf dem Arbeitsmarkt realisiert wird. Dann werden die Flexibilisierungswtinsche der Arbeitnehmer in der Betriebsrealitat ,,umgedreht"; sie werden zur Knetmasse ftir Personalrationalisierungsstrategien. Und wieder schnappt die Flexibilisierungsfalle zu. Diese l]berlegung l~isst es angeraten erscheinen, ein arbeitszeitpolitisches Strategiepaket zu empfehlen: Arbeitszeitflexibilisierung hat nut Aussicht auf arbeitnehmerfreundliche Real&ierung, wenn sie mit Arbeitszeitverkiirzung verbunden wird. Der (positive) Effekt w~re ein doppelter: Durch Arbeitszeitverk~rzung unters~tzt, kann Arbeitszeitflexibilisierung selbst Verknappungseffekte nach sich ziehen und somit ihrerseits die Arbeitszeitverkfirzung verst~rken. Eine Verknfipfung von Arbeitszeitverkfirzung und Arbeitszeitflexibilisierung erscheint aber auch aus der Zielperspektive Arbeitszeitverk/~rzung notwendig. Denn die offenkundigen Schwierigkeiten der Gewerkschaften, mit diesem Thema bei ihren Mitgliedern anzukommen, k6nnen immerhin aus zwei Ursachen herrfihren. Einerseits kann es durchaus sein, dass die Mobilisierungsprobleme nichts anderes sind als der Ausdruck des oben skizzierten Widerspruchs zwischen dem, was als Arbeitsmarktstrategie individuell sinnvoll erscheint, und dem, was kollektiv sinnvoll ist. Das Institut der deutschen Wirtschaft stellt - in seiner Sprache - eine Diagnose, die in diese Richtung weist: ,,Die Forderung nach der 35-Stunden-Woche (...) ist eine typische Funktion~rsforderung, die auch spfiter in den Tarifauseinandersetzungen nie Popularit~it gewinnen und die Mitglieder tiberzeugen und motivieren konnte. Der Grundwiderspruch, da6 durch weitere Verteuerung der ohnehin teuren Arbeitskraff neue Arbeitspl~tze entstehen sollen, ist bis zum Schlul~ des Arbeitskampfes dem ,kleinen Mann auf der StraBe' niemals begreiflich gemacht worden." (Weisser 1984: 20) Denken in betriebswirtschaftlichen Bahnen und zunehmende Individualisierung des Ange98
botsverhaltens der ArbeitskNifte - diese Tendenzen sollen nach dem Willen der Arbeitgeber durch entsprechend differenzierte Realisierungen des 38,5-Stunden Tarifvertrages mOglichst noch gef6rdert werden: ,Eine Auff~cherung der betrieblichen Arbeitszeit erh6ht betNichtlich die Chancen, dass die Mitarbeiter den engen Zusammenhang zwischen Arbeitszeit und Lohnh0he deutlicher erkennen und der Wunsch nach mehr Lohn dominiert."l Man sieht: Das Gefangenendilemma der Arbeitnehmer ist den Arbeitgebern lieb und teuer. Andererseits aber k0nnte es tats~chlich sein, dass sich Mobilisierungsprobleme fiJr allgemeine Arbeitszeitverktirzung daraus ergeben, dass die Arbeitszeitw~nsche zu differenziert geworden sind. Dies allerdings wtirde eher zu Desinteresse als zu Widerstand (wie im ersten Falle) gegentiber Arbeitszeitverktirzung fiihren. Im Ubrigen l~isst sich ein gewisses Mag an Flexibilisierungswtinschen - das man allerdings nicht tibersch~itzen sollte - in Arbeitszeitverktirzung ohnehin aufheben. Eines allerdings ist klar: ,Eine aussichtsreiche Besch~iftigungs- und Arbeitszeitpolitik ist nur auf der Basis der gewandelten und komplizierter gewordenen Bedtirfnisstmktur m6glich - nicht gegen sie." (Schmid 1984: 76) Wiederum stehen wit vor der Notwendigkeit: Man muss ein arbeitszeitpolitisches Strategiepaket schntiren, wenn man Besch~iftigungspolitik durch Arbeitszeitverktirzung aussichtsreich durchfuhren will; kollektiv verk~rzen und individuell flexibil&ieren.
2. St~irkung durch Rechtsanspriiche Ohne Zweifel stellt die Verknappung des Angebots an Arbeitskrtiften - also Arbeitszeitverktirzung - die ,,klassische" Strategie zur Verbesserung der Durchsetzungschancen der Interessen des einzelnen Arbeitnehlners dar. Allerdings lgsst sie sich erggnzen: dutch Rechtsansprtiche, auf die sich der Einzelne bei der Durchsetzung seiner Arbeitszeitwfinsche berufen kann. Diesen Weg geht der Entwurf zu einem Arbeitszeitgesetz der GRI]NEN. 2 Der Entwurf sieht eine Reihe yon Arbeitnehmerrechten auf Verringerung und Unterbrechung der individuellen Arbeitszeit vor. Er unterscheidet bezahlte Freistellungen, Freistellungen mit Lohnersatzanspr0chen und unbezahlte Freistellungen. Recht auf bezahlte Freistellung (w 12) gibt es fiir die Pflege yon erkrankten Mitbewohnern, mr ehrenamtliche, gemeindliche, gewerkschafispolitische usw. T~itigkeit. Freistellungen mit Lohnersatzanspmch (w 13) k6rmen Eltem yon Kindem unter 14 1 2
So der Metall-Arbeitgeber Peter Stihl, zit. nach JanBen/Lang (1985: 10), Vgl. Gesetzesentwuff des Abgeordneten Hoss und der Fraktion DIE GRUNEN, Entwurf eines Arbeitszeitgesetzes (AZG), Drucksache 10/2188, 25.10.1984,
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Jahren in Anspruch nehmen. Die Freistellung kann far Alleinerziehende bis zu drei Jahren dauern, Ehepartnern oder in ehe~ihnlicher Gemeinschaft Lebenden steht jeweils eine Freistellung von anderthalb Jahren zu: Unbezahlte Freistellungen (w 14) bis zu sechs Monaten kann jede/r Arbeitnehmer/in alle sechs Jahre ohne Begrfindung in Anspruch nehmen. Der Gesetzentwurf, dessen erklgrtes Ziel ,,eine sptirbare Verringerung der Massenarbeitslosigkeit" ist, wilt also Wahlm6glichkeiten zur Verringerung der Arbeitszeit rechtlich absichern. Dem gleichen Ziel dient die restriktive Bestimmung t~ber Nachtarbeit und Obersmnden (w 8, 5): ,,Kein/e Arbeitnehmer/in darf gegen seinen/ ihren Willen zur Ableistung yon Mehrarbeit oder Oberstunden herangezogen werden." Dariiber hinaus gibt es auch gleich vorsorglich ein Diskriminierungsverbot: ,,Lehnt ein/e Arbeitnehmer/in, die Ableistung yon Oberstunden ab (einzige Ausnahme: eine Sonderschicht pro Monat) (...) darf er/sie deshalb nicht diskriminiert werden." Dieses Diskriminierungsverbot scheint nun eher ein Indikator far ein Problem als dessen L6sung zu sein. Zwar bestimmt der Entwurf welter, dass bei Verschlechterungen der Arbeitsplatzbedingungen eines Arbeimehmers, die innerhalb yon sechs Monaten nach einer solchen Ablehnung eintreten, der Arbeitgeber dafar beweispflichtig ist, dass diese Verschlechterung nicht mit der Ablehnung des Arbeitnehmers in Zusammenhang steht; diese Regelung - gut gemeint - kann aber nur greifen, wenn der Arbeimehmer sich gegen Verschlechterungen zur Wehr setzt. Bei ungtinstiger allgemeiner Arbeitsmarktlage ist dies aber eher unwahrscheinlich, da jeder beflirchten muss, ersetzt zu werden. Damit droht die Wirksamkeit der geschilderten Bestimmungen der alten Stammtisch-Weisheit zum Opfer zu fallen: ,,Wo kein Kliiger, da kein Richter.". In dem MaBe, in dem der einzelne Arbeitnehmer keine Altemativen hat und daher auf seinen Arbeitsplatz angewiesen ist, wird seine Neigung sinken, Rechte, die sich gegen Unternehmensinteressen richten, tats~ichlich wahrzunehmen. Motiv dafftr kann entweder die Angst des Einzelnen sein, aus der wartenden Arbeitslosenschlange ersetzt zu werden; oder er verzichtet auf seine rechtlich abgedeckte Interessenwahrnehmung, urn den Untemehmenserfolg - und damit den Fortbestand seines Arbeitsplatzes - nicht zu gef~ihrden. Insgesamt: Die Bedeutung von arbeitszeitpolitischen Rechtsvorschriften sollte man nicht gering sch~itzen. Durch Rechte gest~rkt, wird es dem einzelnen Arbeimehmer in jedem Falle leichter fallen, seine Arbeitszeitu41nsche zu verwirklichen. Aber die Tragkraft von Rechten hat ihre Grenzen. Um in arbeitnehmerorientiertem Sinne wirksam zu sein, bedtirfen sie eines geeigneten Rahmens: Die Arbeitsmarktverh~iltnisse dtirfen far die Arbeimehmer jedenfalls nicht allzu
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ungttnstig sein. Recht kann (Arbeits-)Marktrnacht zwar verst~irken, kann sie aber nicht ersetzen.
3. ArbeitszeitpoUtik und garantiertes Grundeinkommen Es ist immerhin m6glich, dass in der arbeitszeitpolitischen Arena in n~ichster Zeit keine beschgftigungspolitischen Erfolge zu erringen sind. Grund daftir w~ire nicht nur der fortgesetzte erbittert bomierte Untemehmerwiderstand gegen Arbeitszeitverktirzung. Vielmehr ist es auch durchaus m6glich, dass die Arbeitszeitpolitik in ein schwer 16sbares Dilemma ger~it. Einerseits mindert die zunehmende Differenzierung der Arbeitszeitwtinsche den Druck und die Durchsetzungschancen kollektiver Arbeitszeitverkttrzung, andererseits droht eine Politik isolierter Arbeitszeitflexibilisiemng unternehmerisch ftmktionalisiert und um jeden Besch~iftigungseffekt gebracht zu werden. Geht also nichts mehr? Es wgre denkbar, dass besch~iftigungspolitische Erfolge mit Instrumenten yon auBerhalb angesteuert werden mtissen. Ich will diesen Gedanken verfolgen, indem ich die arbeitszeitpolitische Bedeu~mg eines garantierten Grundeinkommens (vgl. Vobruba 1984) untersuche. Unter einem garantierten Grtmdeinkommen verstehe ich das Recht auf staatliche Transferleistung tmabhangig yon der subjektiven (Lohn-) Arbeitsbereitschaft und vom Erwerb sozialer Anwartschaften; ein garantiertes Grundeinkommen bedeutet die staatliche Garantie materieller gesellschaftlicher Teilhabe Mr jedermann. 3 Was ergibt sich aus der Kombination yon Arbeitszeitpolitik und einem garantierten Grtmdeinkommen? Ein Risiko der Verbreitung yon flexiblen Arbeitszeiten liegt darin, dass bei Arbeitszeiten unterhalb der Normalarbeitsdauer - samt entsprechender Einkommensreduktion - der Zusammenhang von Lohnarbeit und Existenzsichenmg 16chrig wird. Insbesondere wenn, wie in letzter Zeit zunehmend der Fall, Teilzeitarbeit nicht freiwillig als Altemative zu Vollzeitarbeit, sondem nolens volens als Alternative zu Arbeitslosigkeit gew~ihlt wird, ger/it die durch Ganztagslohnarbeit als traditioneller Normalexistenz faktisch gegebene Existenzgarantie in Gefahr. Darum ist ,,die tarifpolitische Aufopferung des, ,Normalarbeitstages'" (Wiesenthal et al. 1984: 213) riskant. ,Denn tiberall, wo keine Mindestlohnoder Mindesteinkommen gelten, sichem traditionelle Arbeitszeitstandards wie 3 Zur Diskussionum das garantierteGrundeinkommenvgl. Schmid(1984a); Opielka/Vobruba (1986); Btichele/Wohlgenannt(1985) sowieeinzelneBeitragein Leibffied/Tennstedt(1985). 101
der Normalarbeitstag und die Wochenarbeitszeitnorm auch in den untersten Lohngruppen das Existenzminimum einer Kleinfamilie, dessen empirische H6he dann umgekehrt zum Bezugsmal3stab sozialstaatlicher Sicherungsleismngen werden konnte." (Ebd.: 214) Wenn sich nun der Normalarbeitstag als gesellschaftlicher Normalfall gegen die. Differenzierung der Arbeitszeitwansche und den Flexibilit~itsbedarf der Untemehmen nicht halten l~isst, die Existenzgarantie jedoch nicht preisgegeben werden soll, dann bleibt nur die M6glichkeit, diese Existenzgarantie vom Normalarbeitstag zu 16sen, sie anders zu sichem. Wenn Ganztagsarbeit samt ,,Ganztagsbezahlung" - worauf es ja eigentlich ankommt! nicht mehr als gesellschaftlicher Normalfall gelten kann, muss die Existenzgarantie arbeitsmarktextem durch ein garantiertes Gmndeinkommen gegeben werden. Das garantierte Grundeinkommen ist kein arbeitszeitpolitisches Instrument aber es hat arbeitszeitpolitische Effekte. Indem das garantierte Grundeinkommen die existentielle Angewiesenheit des Einzelnen auf Lohnarbeit relativiert und einen vorbehaltlosen4 arbeitsmarktextemen Zugang zu materiellen Lebenschancen schafft, bewirkt es arbeitszeitpolitisch dreierlei: 1. Es fahrt zu einer Verringerung des gesamten Angebots an Arbeitskraft. 2. Es erweitert die Verhandlungsspielr~iume der Lohnarbeitenden auf dem Arbeitsmarkt. 3. Es schafft neue Gestaltungsm6glichkeiten fiir die Akteure der Arbeitszeitpolitik. Ad 1. Ein garantiertes Grundeinkommen mindert die Erwerbsnotwendigkeit und Erwerbsneigtmg. Dieser Effekt, von konservativen Kritikem wamend vorhergesagt, kommt l~eilich in welt weniger drastischem Umfang zum Tragen, als allgemein angenommen wird. Dies jedenfalls lehren die ,,guaranteed income"Experimente Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre in den USA (vgl. Gerhardt/Weber 1984:18ff.). Als arbeitsmarktpolitisch erwttnscht kann der Entzugseffekt durch ein garantiertes Gmndeinkommen im Umfang der gegenw~irtigen Arbeitslosigkeit ge|ten. Das heigt freilich nicht, dass ausgerechnet die. Derzeit Arbeitslosen durch das garantierte Grundeinkommen voll alimentiert werden sollen. Erstrebenswert w~ire eine m6glichst breite Streuung der Verringerung des Dies im Gegensatzzum gegenwfirtigenSystemsozialerSicherung,in dem arbeitsmarktinterne LebenschancenunterarbeitszentriertenVorbehaltenstehen.Vgl. Vobruba(1985a). 102
Arbeitskraftangebots. Dies ist auch eine Frage der technischen Gestaltung des garantierten Grundeinkommens. Ad 2. In allen Verhandlungssystemen ist die Position jenes Partners schwficher, von dem bekannt ist, dass er sich eine Nichteinigung letztlich nicht leisten kann. Auf dem Arbeitsmarkt mt~ssen die Lohnabh~ngigen (das Wort sagt es) mit diesem Part zurechtkommen. Durch ein garantiertes Grundeinkommen werden einseitige Einigungszwfinge abgebaut. Streng genommen l~isst sich t~berhaupt erst auf der Basis eines garantierten Grundeinkommens von einem Arbeitsmarkt (vgl. Hausmann 1984: 86ff.) sprechen. Denn die notwendige Voraussetzung eines funktionierenden Marktes ist, dass die Marktpartner tiber vergleichbare Spektren an Handlungsm6glichkeiten ver~gen. Dies ist auf dem Arbeitsmarkt bisher nicht der Fall: Kapital ist auf Arbeitskraft weit weniger dringlich angewiesen - es kann sich durch Rationalisierung und Finanzinvestition der Kooperation immer wieder entziehen - als Arbeitskraft auf Kapital (vgl. Vobruba 1983a: 178ff.). Das garantierte Grundeinkommen kann man als Erg~nzung des Handlungsspektrums der Arbeitskrafl und damit als Instrument zur Vervollkommnung des Arbeitsmarktes auffassen. Damit ~ndern sich die Risiken flexibler Arbeitszeiten. Die Flexibilisierungsfalle wird blockiert. Zum einen werden Flexibilisierungsweisen, die gegen Arbeitnehmerinteressen stehen, schwerer durchsetzbar: Ist man auf einen Arbeitsplatz nicht alternativenlos angewiesen, kann man sich chancenreicher widersetzen. Des Weiteren werden verschiedene Formen von Arbeitszeitflexibilisierung flit einen grOf3eren Arbeitnehmerkreis akzeptabel: Arbeitszeitverringerungen, die mit Einkommensverringerungen verbunden sind, kann man sich vor dem Hintergrund eines garantierten Grundeinkommens viet eher w~nschen. Und schlief31ich werden verschiedene Folgerisiken flexibler Arbeitszeiten gemildert: Bisher ist es in besch~iftigungsunsicheren Zeiten nicht ratsam, yon Vollzeit auf Teilzeit zu wechseln. Denn wird man im Anschluss daran arbeitslos, erhalt man unter Umst~nden Arbeitslosengeld nur nach dem letzten - niedrigeren - Verdienst. Ebenso wird das Langzeitrisiko abgebaut, durch Arbeitsunterbrechungen keine ausreichende Rentenanwartschaft zustande zu bringen (vgl. Landenberger 1984). Der Vorteil einer Verknt~pfung von Arbeitszeitflexibilisierung und einem garantierten Grundeinkommen lasst sich am deutlichsten erkennen, wenn man die Nachteile der gegenw~irtigen Konstellation ins Auge fasst. Da wichtige Ansprfiche an das gegenw~rtige ,,lohnarbeitszentrierte" System sozialer Sicherheit 103
sich an dem jeweils vorherigen Arbeitseinkommen orientieren, ist es individuell rational, aus Sicherheitsbedtirfiaissen auf Vollzeitarbeit zu beharren - selbst wenn dies den eigenen Arbeitszeit-Freizeit-Pr~iferenzen widerspricht. Gesamtgesellschaftlich ist dies absurd. Denn es ffihrt zu einem Zustand von individueller 12Iberbesch~iftigung und zugleich kollektiver Unterbesch~iftigung. Diesen Zustand aufzuheben und die arbeitszeitpolitische Blockierung zu 10sen, scheint ein garantiertes Grundeinkommen geeignet, da es die blockierenden Sicherheitsbedtirfiaisse auff~ingt und damit yon der Arbeitszeitpolitik 10st. Ad 3. Auf der Grundlage eines garantierten Grundeinkommens entstehen neue arbeitszeitpolitische GestalmngsspieMiume. Ein wesentlicher Einwand gegen Teilzeitarbeit und ,,geringfiJgige Besch~iftigung" ist ihre mangelnde sozialrechtliche Absicherung. Die nachtrfigliche rechtliche Verbesserung solcher Besch~ifligungsverh~iltnisse get,it in die Schwierigkeit, dass damit solche Arbeitspl~itze verteuert und darum in der Folge nicht mehr angeboten werden. Das bedeutet, dass Regelungsversuche, welche die Besserstellung solcher Beschgftigten im Sinn haben, im Effekt gegen deren Interessen verstoBen. Durch Regelungen, die sich speziell auf solche problematischen Besch~iftigungsverhglmisse richten, werden aus der Not der Besch~iftigten geborene Allianzen von Teilzeitarbeitnehmem und Unternehmern hervorgerufen: Die Regelungen richten sich gegen die Unternehmerinteressen und mtissen diesen Arbeimehmergruppen als spezifische Diskriminierung erscheinen (vgl. Wiesenthal et al. 1984: 217f.). Solche sozial- und arbeitsrechtlichen Regelungsdilemmata lassen sich mit einem garantierten Grundeinkommen auflaeben. Denn zum einen bietet das Grundeinkommen Auswege aus dem ErpressungsverhNmis, in dem Arbeimehmer Regelungen, die sie begtinstigen sollen, als gegen ihr Interesse gerichtet wahrnehmen mtissen. Und zum anderen verhindert der hohe Allgemeinheitsgrad eines garantierten Grundeinkommens, dass sich die Verwertungsbedingungen for einen begrenzten Kreis an Arbeitskraften verschlechtem, deren relative Arbeitsmarktchancen sich also im Vergleich zu der Situation vor einer Regelung verschlechtern. Gesttitzt auf die gesteigerte individuelle Konfliktf~ihigkeit durch ein garantiertes Grundeinkommen, wird es also m0glich, Arbeitszeitflexibilisierung politisch besser zu regulieren. Arbeitszeitpolitik und garantiertes Grundeinkommen - das w~ire der zweite Schritt arbeitszeitpolitischer Emanzipation. Er wird so bald nicht gemacht werden. Gegenw~irtig w~ire schon einiges gewonnen, wenn der erste Schritt gel~inge:
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Die LOsung der Arbeitszeitdiskussion aus der Entgegensetzung yon Arbeitszeitverl~rzung und Arbeitszeitflexibilisierung. Was ist m6glich? Na~rlich k6nnte es so sein, dass die Arbeitgeberverbgnde Flexibilisierung weiterhin als Programm hochhalten und bei ihren Mitgliedem far deren Realisierung wie far saures Bier werben. Dann werden die Gewerkschaften h/3chstwahrscheinlich diesen Einsatz der Untemehrnerverbgnde far Flexibilisierung als Beweis dafar nehmen, dass das nichts Gutes sein kann. Und alles bliebe beim Alten. Denkbar w~re aber auch, dass die Fronten in Bewegung geraten. Dafttr gibt es Anzeichen. Die Flexibilisierungsm/Sglichkeiten, die in den Tarifabschlfissen der Metall- und Druckindustrie stecken, stoBen nicht bei allen Arbeitgebern auf Gegenliebe. ,,Sehr zum )~rger der in K61n ansgssigen Funktion~e yon Gesamtmetall, verkfindeten beispielsweise die KOiner Ford-Werke die 18-MinutenRegelung." (Der Spiegel, Nr. 47, 19.11.1984, S.93) Sie realisierten die Wochenarbeitszeit von 381AStunden durch tgglich 18 Minuten weniger Arbeit. Damit droht der Kampf um Symbole far die Arbeitgeber verloren zu gehen. Die IG Metall habe bei der n~ichsten Tarifrunde ,,alle Trttmpfe in der Hand", wenn die Mehrzahl der Unternehmen die 3889 durch schlichte Arbeitszeitverkarzung realisiert, heil3t es in einem Rundschreiben yon Gesamtmetall-Prgsident Wolfram Thiele. (Ebd.) Die vermehrte Einfahrung flexibler Arbeitszeitsysteme sei daher dringend geboten. Scheint sich hier arbeitszeitpolitische Vernunft eher hinter dem Racken der Arbeitgeberfunktion~re einen Weg zu bahnen, so wird sie anderswo direkter anvisiert. Der yon der 0sterreichischen Sozialpartnerschaft (also auch den Unternehmerorganisationen) getragene ,Beirat far Wirtschafts- und Sozialfragen' kommt in einer Untersuchung zu der ,,Ansicht, dab die Diskussion t~ber neue Arbeitszeitformen nur in loser Bindung mit den bestehenden Arbeitsmarktproblemen und der Arbeitszeitverk0rzung gefahrt werden sollte." (Beirat far Wirtschafts- und Sozialf~agen 1984: 146) Ist es einmal soweit, dass Arbeitszeitflexibilisierung nicht mehr gegen Arbeitszeitverk~rzung ausgespielt wird, bestehen gute Chancen, dass der schlechte Dualismus yon Arbeitszeitverlo?rzung und Arbeitszeitflexibilisierung hinfallig wird. Damit er6ffnen sich neue Kombinationsm6glichkeiten. Es lgge an den Gewerkschaften, die ihre Haltung gegen Flexibilisierung am Widerstand der Unternehmer gegen Verk~irzung stabilisiert hatten, zu Forderungen zu finden, die beides verknt~pfen. Ganz leicht wird ibnen das nicht fallen, denn mit dem unverdrossenen propagandistischen Einsatz gegen flexible Arbeitszeiten haben sie sich selbst Handlungsspielr~ume verbaut. ,,Themenraub" hat Helmut Wie105
senthal die untemehmerische Vereinnahmung der Arbeitszeitflexibilisierung genannt. Richtiger w~ire: Aneignung einer Fundsache.
Literatur
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Peter Glotz, damals Bundesgesch(~ftsfiihrer der SPD, hatte in einem Aufsatz die Idee eines garantierten Grundeinkommens ausf~hrlich kritisiert. Es war in der Diskussion yon herausragender Bedeutung, dass sich ein Spitzenrepr(~'sentant einer groflen, traditionell stark auf Arbeit fixierten Partei auf diese Diskussion iiberhaupt einliefl. Glotz verOffentliehte seine Kritik in einem Sammelband (Opielka/Vobruba 1986) und in der Theoriezeitsehrift der Sozialistischen Partei Osterreichs (Glotz 1985). Dort erschien als meine Erwiderung dieser Aufsatz, in dem ich darzustellen versuchte, dass, jedenfalls beim Thema Arbeit und Einkommen, KIEirungen theoretischer Grundlagen yon unmittelbar politischer Bedeutung sein k6nnen. In einer seiner letzten 6ffentlichen Auflerungen hat Peter Glotz die Revision seiner Auffassung zum Thema dokumentiert (Lotter 2005." 52)." ,,Sinnloses Geschwdtz" sei das Gerede yon Vollbesch~ifiigung.
Der Arbeitsmarkt
- ein Markt?
Fragt man nach der Bedingung von Vollbesch~iftigung, so kann man von den ~ n f Weisen des deutschen Sachverstandigenrates, folgendes erfahren: ,,Ira Prinzip trod von den gegenwartigen gravierenden St6rungen einmal abgesehen ... erhalten Menschen Arbeit, wenn sie ~ r andere etwas herstellen wollen und dafdr im Austausch nicht mehr verlangen, als das, was sie herstellen, den anderen wert ist. Bei im tibrigen ungest/)rten Rahmenbedingungen k/3nnen so alle, die es wollen, arbeiten." (Sachverstandigenrat 1982: Zi. 211) Diese Erlauterung, die tatsachlich einer Meldung yon Radio Eriwan nicht unahnlich ist (vgl. Spahn 1983), fasst der Prasident dieses Sachverst~digenrates in der Konsequenz in dem schlichten Satz zusammen ,,Ist das tarifvertraglich festgelegte Lohnniveau zu hoch, dann stellt sich Arbeitslosigkeit ein." (Sievert 1983: 23) Auf dasselbe Ergebnis lauft das ,,Apfelsinen-Theorem" von Elisabeth Noelle-Neumann hinaus. Es lautet (in der distanzierten Kurzfassung yon Peter Glotz 1985: 37): ,,Wenn auf einem Markt zu bestimmten Preisen ein lJberangebot an Apfelsinen herrsche, w ~ d e niemand sagen, es gebe zu viele Apfelsinen, sondern: Apfelsinen seien zu teuer. So sei auch der Preis der Arbeit zu hoch; bei marktraumenden Preisen wiarde die Arbeitslosigkeit verschwinden." Solche Aussagen beruhen auf der Annahme, dass der Arbeitsmarkt wie ein richtiger Markt funktioniert. Die politische Empfehlung lautet dann, den Arbeitsmarkt mtiglichst ungest0rt zu lassen, da er so am besten und im Interesse aller funktioniert. Die Position von Peter Glotz stimmt mit solchen Ansichten in einem Punkt allerdings iaberrein. Auch er meint, dass der Arbeitsmarkt tatsachlich ein Markt ist. Sarkastisch merkt er an: ,,In der Tat: Sind erst einmal das Recht auf Arbeit und alle damit verbundenen tariflichen und rechtlichen Schutzwalle beseitigt, dann ware der Arbeitsmarkt endlich ein richtiger Markt wie derjenige ~ r Apfelsinen." (Glotz 1985: 37) Glotz unterscheidet sich natOrlich in der Bewertung dieses Umstandes vom Sachverstandigenrat und yon Noelle-Neumann. Er findet das schlecht.
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1. Peinliche Konsequenzen Ich bin der Ansicht, dass Glotz den Konservativen zu weit entgegenkommt - u m nicht zu sagen: dass er zur H~ilfte auf sie hereinf~illt. Denken wir yon der Annahme, der Arbeitsmarkt wtirde wirklich wie jeder andere Markt funktionieren, ein Sttick weiter! Wenn der Arbeitsmarkt wie jeder andere Markt funktioniert, dann gibt es auch einen marktr~iumenden Preis, also eine Lohnh0he, bei der sich Vollbesch~iftigung einstellt. Wenn das aber so ist, dann kann man Arbeitslosigkeit schlieBlich und endlich ja doch mit zu hohen LShnen erkl~iren und empfehlen, sie mit Niedrigl(ihnen und dem Abbau von arbeitsrechtlichen Schutzvorschriften zu bek~impfen. In der Bundesrepublik Deutschland passiert das ansatzweise ohnehin. Nattirlich kann man dennoch mit Peter Glotz der Meihung sein, dass dieser Preis ~ r Vollbesch~iftigung zu hoch ist, dass soziale Schutzrechte der Arbeitnehmer unverzichtbar sind usw., dass man also nicht zulassen soll, dass der Arbeitsmarkt wie ein richtiger Markt funktioniert. Aber das sind politische Postulate und um deren Schlagkraft sieht es nie besonders gut aus, wenn sie der 0konomischen Funktionslogik ins Gehege geraten. Schon gar nicht, wenn Massenarbeitslosigkeit herrscht. Denn: Wenn es tats~ichlich diesen, wenn auch verzichtreichen Weg geben sollte, den Arbeitslosen Arbeit zu verschaffen - wie soll man sich dann, des Vorwurfs erwehren, dass man mit den bestehenden sozialen Schutzrechten die relativen Privilegien derer verteidigt, die Arbeit haben, auf Kosten derer, die drauBen stehen? Und schon hat man sich, ohne dies zu wollen, auf die schltipfrige Unterscheidung zwischen ,,Arbeitsplatzbesitzern" und Arbeitslosen eingelassen, deren Interessengegens~itze ja, folgt man dem Arbeits- und Sozialminister der Bundesrepublik Deutschland, Norbert Bltim, die ,,neue Klassenspaltung" ausmachen. ,,Nicht zwischen Kapital und Arbeit entsteht die neue Kluft, sondem zwischen Arbeitsbesitzem und Arbeitslosen." (BRim 1983: 9) Man sieht: Das Anerkenntnis, dass der Arbeitsmarkt wie ein normaler Markt funktioniert, ftihrt in peinliche Konsequenzen. Diese Konsequenzen sind freilich alles andere als zwingend. Das hat einen einfachen Grund: Der Satz, dass der Arbeitsmarkt wie ein normaler Markt funktionieren k6nne, ist falsch. Aber offensichtlich ist es gar nicht so einfach, Arbeitskr~ifte yon Orangen zu unterscheiden.
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2. Strukturelle Unterschiede
Worin weicht der Arbeitsmarkt vom Gfitermarktmodel ab (vgl. Polanyi 1977; Offe, Hinrichs 1984, Hohn 1984)? Waren werden in der Erwartung hergestellt, dass sie sich auf dem Markt absetzen lassen. Die Entstehung der Arbeitskraft (also: Geburt, Erziehung, Ausbildung) folgt fberwiegend marktfremden Kalkflen. Konsequenz davon ist, dass sich der Umfang des Arbeitskraftangebots nicht entsprechend den wechselnden Knappheitsverh/iltnissen auf den: Arbeitsmarkt autonom reguliert, sondem immer politisch geregelt werden muss. Datum ist Arbeitszeitverkfrzung keine St6rung yon Marktmechanismen - und schon gar keine ,,Bewirtschaftung durch Rationierung" (Molitor 1982: 254) -, sondem notwendiger Eingriff an einer Stelle, an der kein Marktmechanismus wirkt (vgl. Vobruba 1983). Die Vertr/ige, die auf dem Arbeitsmarkt geschlossen werden, sind mit den Eigentumsfbertragungen auf Gt~term~irktennicht vergleichbar. W~ihrendbei Eigentumstibertragungen der Verk/~ufer vonder weiteren Verfiagung fiber den Kaufgegenstand ausgeschlossen ist und mit der Nutzung dieses Gegenstandes nichts mehr zu tun hat, regeln Arbeitsvertr~ige zentral gerade die Mitwirkungspflicht des ,,Verk/iufers" der Arbeitskraft bei ihrer Nutzung. Das liegt daran, dass Arbeitskraft yon ihrem Tr/iger unabtrennbar ist. Datum muss es Arbeitsrecht und Arbeitsschutz geben (vgl. Brockhaus 1979). Auf dem Arbeitsmarkt begegnen einander strukmrell ungleiche Kontrahenten. Besitzer von Kapital haben im Prinzip zwei M6glichkeiten: Sie k6nnen entweder ihr Kapital Untemehmem borgen beziehungsweise selbst zu Unternehrnem werden. Die Untemehmer kaufen davon Produktionsmittel und stellen Arbeitskrgfte ein. In diesem Fall leben die Kapitalbesitzer von ZinseiNdinften, welche unternehmerisch erwirtschaftet werden. Oder die Besitzer von Kapital verleihen ihr Geld nicht, sondem wenden sich damit an die Gfterm/irkte und kaufen dort, was sie brauchen: Dann leben die Kapitalbesitzer direkt von ihrem Kapital. Besitzer von Arbeitskraft haben keine vergleichbare Wahl. Arbeitskraft an sich lgsst sich nicht verzehren, von ihr kann man also nicht leben. Die isolierte Arbeitskraft, solange sie nicht mit Produktionsmitteln kombiniert ist, stit~et ihrem Besitzer keinen Nutzen. Die Besitzer von Arbeitskraft sind darauf angewiesen, dass sie mit Produktionsmitteln kombiniert werden. Sie k6nnen dies kaum selbst in die Hand nehmen. Denn es ist so gut wie unm6glich, auf nichts anderes als auf die eigene Arbeitskraft gestatzt, sich Kapital zu beschaffen. Auf Arbeitskraft an sich gibt es nfimlich keinen Kredit. Man kann sich also zwar mit 111
Kapital Arbeitskraft, nicht aber mit Arbeitskraft Kapital verschaffen. ,,Denn es ist ja erlogen, daB, wer Zeit hat, auch Geld hat; mit blofSer Zeit kann man sich kein Geld verschaffen, aber umgekehrt." (Horkheimer 1974: 235) Arbeitskraft ist daher auf die Kooperation mit Kapital dringender angewiesen als Kapital auf Arbeitskraft. Karl Marx hat dies tibrigens klar gesehen: ,,Sobald es dern Kapital einf~illt - notwendiger oder willktirlicher Einfall -, nicht mehr far den Arbeiter da zu sein, ist er selbst nicht mehr for sich, er hat keine Arbeit, datum keinen Lohn, und da er nicht - als Mensch, sondem als Arbeiter Dasein hat, so kalm er sich begraben lassen, verhungern etc." (Marx 1968: 523). Darum sind die Besitzer von Arbeitskraft altemativlos darauf angewiesen, Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt zu linden und mit Produktionsmitteln kombiniert zu werden. Dieser strukturelle Unterschied wird in der neoklassischen Lehrbuch6konomie verwischt. Da werden Arbeit und Kapital im Begriff der ,,Erstausstattungen der Haushalte" zusammengetan und als gleichwertige Marktvoraussetzungen aufgefasst (vgl. Vobruba 1983).
3. Waffengleichheit herstellen Aus diesen Uberlegungen lassen sich drei m6gliche Konsequenzen ziehen: Entweder man sieht fiber die strukturelle Differenz der Marktvoraussetzungen von Kapital und Arbeit groBzt~gig hinweg und empfiehlt, durch Abbau so genannter Markthemmnisse das Marktfunktionieren zu verbessem. Diese Strategien massen zu Lasten der Anbieter yon Arbeitskraft gehen: Das ist die neokonservative Option. Oder man schlieBt aus den unterschiedlichen Marktvoraussetzungen und der strategischen Unterlegenheit der Anbieter von Arbeitskraft auf die Notwendigkeit, das Marktfunktionieren durch entsprechende rechtliche Regulierung zu b~indigen und einzugrenzen, beziehungsweise in letzter Konsequenz zu ersetzen. Dabei haben allerdings regulierende Eingriffe in den Arbeitsmarkt den Nachteil, dass sie in zahlreichen F~llen zu ganz anderen Ergebnissen als den erwttnschten fahren. So etwa kt~nnen aus Schutzvorschriften far einzelne Gruppen auf dem Arbeitsmarkt Besch~iftigmngshindemisse far diese Gruppen werden. Die Position, welche den Arbeitsmarkt ersetzen will, ger~it schlieBlich dann in Schwierigkeiten, wenn es darum geht, Altemativen zum Arbeitsmarkt zu nennen. Die sind n~imlich schwer zu finden. Das gilt jedenfalls dann, wenn diese Altemativen nicht hinter das Mag an - durchaus nicht nur formaler - Freiheit mmackfallen sollen, welches der Arbeitsmarkt bietet (vgl. Berger/Offe 1982). 112
Die dritte mt~gliche Konsequenz setzt an den Marktvoraussetzungen an. Ihr geht es darum, die. strukturelte Unterlegenheit der Anbieter von Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt auszugleichen. Dazu muss man mit der ,,Erstausstattungsnaivit~it" der Neoklassik brechen und gleiche Marktvoraussetzungen far beide Arbeitsmarktkontrahenten politisch schaffen. ,,Es mug, neoklassisch gesprochen, erst einmal jedem Wirtschaftssubjekt eine Anfangsausstattung verschafft werden, um es in die Lage zu versetzen, sich am Markt frei bewegen zu k6nnen." (Schwab 1984: 82) Es geht also darum, die ,,Waffengleichheit" von Arbeit und Kapita| nicht als bare Mttnze zu nehmen, sondem als politisches Programm aufzufassen (vgl. Vogt 1979). Die Realisiemng eines solchen Programms muss darauf hinauslaufen, fiJr die Besitzer von Arbeitskraft Auswege aus dem Arbeitsmarkt einzurichten, welche den Auswegen, die den Besitzern yon Kapital immer schon often stehen, entsprechen. Das kann nur so funktionieren, dass man den Arbeitskr~iften ein Recht auf Existenzsichertmg abseits des Arbeitsmarktes einraumt, von dem sie unabh~ngig von ihrer Lohnarbeit und ihrer Lohnarbeitsbereitschaft Gebrauch machen k6nnen (vgl. Adler-Karlsson 1979). Das ist, tiber ihre sozial- und arbeitsmarktpolitischen Intentionen hinaus, der gesellschaftspolitische Sinn der Forderung nach einem garantierten Grtmdeinkommen (vgl. Vobruba 1986). Eine solche Ann~ihemng des Arbeitsmarktes an das Marktmodell bedeutet somit genau das Gegenteil yon dem, was Peter Glotz argw6hnt. Es geht nicht darum, im Namen des Marktes einen Sprung in die Vergangenheit liberal-kapitalistischen Marktfunktionierens zu organisieren. Vielmehr geht es darum, die Marktvoraussetzungen von Arbeit und Kapital politisch auf jenen Gleichstand zu bringen, den der 6konomische Liberalismus immer schon als gegeben annimmt. Davon kann erwartet werden, dass sich das Funktionieren des Arbeitsmarktes erheblich - und zwar im Interesse der Arbeitskr~ifte - ver~indert.
Literatur
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Diese Untersuchung verdankt sich der Persistenz der Problemlage gleichermaflen wie dem Altern der Debatte. Nach dem Fall des eisernen Vorhangs hatten die Wiedervereinigung und die Transformationsdynamik einige Zeit unverkennbar die meiste politische und sozialwissensehafiliche Aufmerksamkeit absorbiert. Dann aber gerieten die Probleme seit dem Ende der Vollbesehdifiigung wieder in den Blick. Was sah man? Zahen sozialen Wandel, eine unglaubliche Harm~ickigkeit der geldufigen Problemwahrnehmung der politischen Akteure, die auch dureh Jahrzehnte beschcifligungspolitischer Misserfolge nicht irritierbar ist. Was tun? Entweder mit Forderungen gegen die Wirklichkeit anrennen oder versuchen, in die Analyse der Besch~ifiigungsproblematik eine neue Reflexionsschleife einzuziehen. Ich habe mich far letzteres entschieden, erst versucht im Wege einer Rekonstruktion der fraheren Debatte ihrer zunehmenden Verengung entgegen zu wirken und dann die Konstitutionsbedingungen des Zieles Vollbeschafiigung mit zum Gegenstand der Untersuchung zu machen. 1 1
Vgl. dazu Urban (1998); Bleses/Vetterlein (2002); Lantzsch (2003).
Ende der Vollbesch~iftigungsgesellschaft
1. Einleitung Wenn Sozialwissenschaftler von epochalen gesellschaftlichen Ver~ndemngen in der Gegenwart sprechen, ist Vorsicht angebracht. Sozialwissenschaffler neigen dazu, zeitgen6ssische Prozesse sozialen Wandels zu dramatisieren. Ein Grund dafar dfirfte sein, dass sich grundlegende Verfindemngen besser als stabile Verhgltnisse als Forschungsthema dazu eignen, Aufmerksamkeit zu wecken. M0glicherweise liegt es auch daran, dass normale Zeiten einfach langweiliger sind als Zeiten raschen sozialen Wandels. Diese Warnung vorausgeschickt, will ich in dieser Arbeit zeigen, dass gegenwgrtig in den etablierten kapitalistischen Gesellschaften ein epochaler Wandel stattfmdet. Die Epoche der Vollbesch~ftigung ist lgngst, seit mehr als einem Vierteljahrhundert, vorbei. Wir leben mitten im Obergang zu Gesellschaften nach der Vollbeschgftigung. Dabei ist es wirklich angebracht, mit gewissen Einschrgnkungen von einem epochalen Wandel zu sprechen. Der Wandel, der sich im vergangenen Vierteljahrhundert auf dem Arbeitsmarkt ereignet hat, wurde lgngere Zeit als ,,Ende der Arbeitsgesellschaft" bezeichnet. Der Begriff ,,Arbeitsgesellschaft" sollte eine grundlegende Eigenschaft modemer kapitalistischer und sozialistischer Industriegesellschaften fassen: Arbeit ist zentrale gesellschaftliche Normalitgt, welche die soziale Integration sicherstellt (vgl. Arendt 1981). Sie prggt die individuellen Lebenslgufe und die wichtigsten Institutionen entscheidend. Entsprechend sollte das Schlagwort ,,Ende der Arbeitsgesellschaft" auf einen grundlegenden, epochalen Wandel hinweisen. Die Vorstellung war, dass der arbeitskraftsparende technische Fortschritt der Arbeitsgesellschaft langfristig ihre Grundlage entzieht. Arbeit als Notwendigkeit, aber auch als Quelle der Sinnstiftung und der Sozialintegration verschwindet - ,,[W]as k6nnte verh~ngnisvoller sein?" (Arendt 1981: 12). Der Einwand, der in der Diskussion bald kam, wies auf einen Kategorienfehler hin: Die Rede vom ,,Ende der Arbeitsgesellschaft" abertreibt, denn der Begriff ,,Arbeitsgesellschaft ~ ist zu welt. Der Gesellschaft geht nicht die Arbeit, sondem die abh~ingige Erwerbst~tigkeit aus. In der Gleichsetzung yon abhgn117
giger Erwerbst~tigkeit mit Arbeit tiberhaupt wurde - zu Recht - eine Geringsch~tzung anderer Arbeitsformen, vor allem der Hausarbeit, aber auch yon doit-yourself gesehen. Damit wurde die Aufmerksamkeit auf solche Arten von Arbeit gelenkt, und es verbreitete sich die Auffassung, es g~be zwar ,,wenig Arbeit aber viel zu tun." (Dierkes/Str~mpel 1985) Hier setzt der weitergehende Einwand an, dass die Vorstellung eines Rtickgangs der abh~ngigen Erwerbst~,tigkeit empirisch nicht gedeckt ist: Der Gesellschaft geht weder die Arbeit noch die Lohnarbeit aus. Die Besch~ftigungsentwicklung in den wichtigsten Industriestaaten zeigt das (vgl. Sachverstfindigenrat Jahresgutachten, Internationale Tabellen www.sachverstaendigenrat-wirtschaft/ gutacht/gutachten.php). Man sieht: In allen Industriestaaten hat die Arbeitslosigkeit langf~istig zugenommen. Die Besch~ftigung dagegen hat keineswegs entsprechend abgenommen. Zwar verbirgt sich hinter den Besch~ftigux~gszahlen eine zunehmende Vielfalt von Besch~ftigungsformen (vgl. De Grips et al. 1997), insbesondere eine Zunahme der Teilzeitarbeit. Aber yon einem s~ikularen Trend, in dem die Lohnarbeit verschwindet, ist nicht viel zu sehen. Es wird sich am Ende dieses Aufsatzes zeigen, dass dies dazu zwingt, die Diskussion tiber gesellschaftspolitische M6glichkeiten nach der Vollbesch~ftigung auf eine neue Grundlage zu stellen. Der Gesellschaft geht also keineswegs die Arbeit aus. Dennoch ist die Phase der Vollbeschfiftigung vorbei, dennoch sind tief greifende Wandlungs- und Anpassungsprozesse zu erwarten (vgl. Aronowitz/DiFazio 1994). Um diesen Wandel in eine griffige Formel zu packen, spreche ich vom ,,Ende der Vollbesch~ftigungsgesellschaft. Mit ,,Vollbesch~ftigungsgesellschaft" meine ich, dass wichtige Institutionen, etwa das Steuerwesen und die Sozialpolitik (vgl. Vobruba 1997:43 f.), auf Vollbeschfiftigung in Normalarbeitsverhfiltnissen aufbauen, und dass das Normalmuster individueller Lebenslfiufe um abhfingige Erwerbstfitigkeit zentriert ist. Die Vollbeschfiftigungsgesellschaft ist dutch Vollbeschfiftigung gepr~gt; das heif3t aber nicht, dass tats~chlich Vollbesch~ftigung existiert. Im Gegenteil: Die Charakteristika der Vollbeschfiftigungsgesellschaft werden erst richtig deutlich, wenn ihr die Vollbeschfiftigung verloren gegangen ist, wenn Vollbesch~ftigung nur noch als Sollgr6f3e hochgehalten wird: Gegenw~rtig bezieht sich die Vollbesch~ftigungsgesellschaft auf eine Fiktion - allerdings auf eine Fiktion mit realen Wirkungen. Zuerst werde ich auf die Unwahrscheinlichkeit der Vollbeschfiftigung eingehen. Sie beruht im Kern auf Besonderheiten der Angebotsseite des Arbeitsmarkts im Vergleich zu anderen Mfirkten. Unter diesen Besonderheiten ist auch 118
die Ursache dafar zu suchen, dass Arbeitslosigkeit und Besch~iftigung zugleich zunehmen konnten. Die Unwahrscheinlichkeit der Vollbesch~iftigung ergibt sich aus diesen Besonderheiten, aus dem Wegfall der Erfolgsvoraussetzungen 6konomischer Makrosteuerung und aus den Interessenkonstellationen der besch~iftigungspolitisch relevanten Akteure. Dann werde ich ein Phasenmodell der langffistigen Entwicklung von Arbeit und Einkommen vorschlagen, das in Vergangenheit und Zukunft tiber die Epoche der Vollbesch~iftigung hinausreicht. Ein solches Modell beweist nichts. Aber die Betrachmng einer l~ingeren Zeitperiode erm6glicht die Historisierung der Vollbesch~iftigung. Das heiBt (noch) nicht, dass man sie far endgtiltig vergangen ansehen muss. Es bedeutet aber, dass man sie als eine Phase in der langfristigen Entwicklung des Verh~ilmisses von Arbeit und Existenzsicherheit (vgl. Vobruba 1997:61 f.) in den Blick bekommt. Dies erm6glicht einen Perspektivenwechsel: Vollbesch~iftigung ist nicht mehr der Normalzustand, von dem aus alle anderen Phasen der Entwicklung als Abweichungen erscheinen (vgl. Burdillat/Outin 1995). Vielmehr wird in der Langzeitperspektive Vollbesch~iftigung als eine Phase unter anderen, in denen es alles andere als Vollbesch~iftigung gegeben hat, erkennbar. Das er6ffnet M6glichkeiten zu neuen Fragestellungen. Nun kann man nicht mehr nur nach M6glichkeiten der Rtickkehr zu Vollbesch~iftigung fragen. Vielmehr rtickt Vollbesch~iftigung in eine Reihe von Entwicklungsm6glichkeiten ein. Schlieglich werde ich die Diskussion rund um Arbeit und Einkommen vorstellen, in der auf das Ende der Vollbesch~iftigung offensiv reagiert wurde. Grundlage dieser Diskurse ist die ,,doppelte Krise der Lohnarbeit". Ich verwende diesen Begriff, um zwei einflussreiche Problemdiagnosen miteinander zu verkntipfen: Es gibt zuwenig Arbeitsplgtze, gemessen an der Zahl der Leute, die auf abh~ingige Erwerbst~itigkeit angewiesen sind; und viele Arbeitspl~itze entsprechen nicht humanisierungspolitischen, 6kologiepolitischen, friedenspolitischen und ~ihnlichen Kriterien. Lohnarbeit ist also quantitativ unzureichend und qualitativ unz@inglich. Diese Diskussion ist hier deshalb von zentralem Interesse, well nur sie eine Perspektive repr~isentiert, die tiber Vollbesch~iftigung hinausreicht. Wenn die Analyse der Unwahrscheinlichkeit der Vollbeschgftigung zutrifft, dann sind realistische Positionen eher in dem Rahmen zu finden, den diese Diskussion absteckt. Die zahllosen den Anstieg der Arbeitslosigkeit begleitenden Vorschl~ige zur Wiederherstellung traditioneller Vollbesch~iftigung sind dagegen selbst ein interessantes empirisches Ph~inomen: Was treibt eine Diskussion an, in der die M6glichkeit von Vollbesch~ftigung nun bereits ein Viertel Jahrhundert lang kontrafaktisch hochgehalten wird? Das ist hier nicht 119
das Thema. Aber wenigstens ein paar Hinweise dazu finden sich bei den Interessenpositionen zur Vollbeschgftigung. Und was hat es mit den ,,gewissen Einschrgnkungen" auf sich? Wenn ich von einem epochalen Wandel yon Vollbeschgftigungsgesellschaften zu Gesellschaften nach der Voltbeschgftigung spreche, so heigt das nicht unbedingt, dass es sich um einen dramatischen Prozess handelt. Weder handelt es sich um einen Vorgang, der in der Gesellschaft bisher verborgen geblieben ist. Im Gegenteil: Sowohl das Publikum als auch die politischen Akteure haben diesen Wandel lgngst zur Kennmis genommen und sich damit weitgehend abgefunden. Zumindest gibt es daNr Anzeichen, auf die ich noch zu sprechen komme. Noch handelt es sich um das Ende einer besonders |angen Epoche. Vielmehr handelt es sich um das Ende einer historischen Ausnahmesimation, allerdings einer solchen Ausnahmesituation, die die gegenwgrtige Gesetlschaft entscheidend geprggt hat.
2. Die Unwahrscheinlichkeit der Vollbeschiiftigung
Ist die Zeit der Vollbesch~ftigung in Normalarbeitsverhglmissen vorbei? Ich gehe dieser Frage nach, indem ich drei Punkte diskutiere: erst Besonderheiten der Angebotsseite des Arbeitsmarkts, dann Machbarkeit und Notwendigkeit yon Vollbeschfiftigung und schliel31ich Interessenpositionen zur Vollbesch~ftigung. Ergebnis werden Argumente far die Unwahrscheinlichkeit der Vollbesch~iftigung im Kapitalismus sein. Einen strikten Beweis der Unm6glichkeit von Vollbeschgftigung gibt es nicht; schon deshalb nicht, weft es sie ja fr~her immerhin gegeben hat.
Besonderheiten der Angebotsseite des Arbeitsmarkts Die Angebotsseite des Arbeitsmarkts unterscheidet sich in wichtigen Merkmalen vom Angebot auf anderen Mgrkten. Das Angebot an Arbeitskraft konstimiert sich aus zahlreichen, nicht nur 6konomischen Faktoren. Ft~r den Umfang des Arbeitskraftangebots einer Altersgruppe ist erst einmal die Zahl der Geburten yon Bedeutung. Dann spielen kulturelle und institutionelle Faktoren eine Rolle; zum Beispiel die Entwicklung der Erwerbsneigung von Personengruppen, die fraher nicht auf dem Arbeitsmarkt aufgetreten sind (Frauen), oder institutionelle Entwicklungen, die poten120
tielle Arbeitskr~ifte ermutigen oder davon abhalten, auf der Angebotsseite des Arbeitsmarkts aufzutreten (Gastarbeiter, Immigranten). All diesen Faktoren ist gemeinsam, dass sie unm6glich machen, dass sich das Angebot an Arbeitskraft rein nach marktstrategischen Gesichtspunkten - und das heiBt: KnappheitsverhNtnisse auf dem Arbeitsmarkt antizipierend - konstituiert. Ffir Zeugung und Geburt von Menschen spielen Erwartungen der Chancen der damit in welter Zukunft sich entwickelnden Arbeitskraff keine Rolle (vgl. Vobruba 1989). Das bedeutet: Mengenanpassungen auf der Angebotsseite des Arbeitsmarkts sind kaum m/Jglich. Denn die M6glichkeit massenhafter Abwanderung yon fiberz~ihligen Arbeitskrgften in Weltregionen mit aufnahmefahigen Arbeitsm~irkten gibt es nicht mehr; und arbeitsmarktexterne Existenzm6glichkeiten sind nur begrenzt verfagbar. Damit entsteht ein existentielles Problem. Anders als t~berscht~ssiges Gaterangebot kann t~berscht~ssiges Arbeitskraftangebot nicht fiber 6konomische Mechanismen, Abverkauf, Konkurs etc., zum Verschwinden gebracht werden, sondem bleibt der Gesellschaft als soziales Problem - Menschen ohne Einkommen - erhalten. Bis in die jtingere Vergangenheit kam der Landwirtschaft die Funktion zu, das in den Konjunkturzyklen periodisch entstehende Oberschussangebot an Arbeitskr~tften zu absorbieren, mit Aushilfsjobs auszustatten, durchzufattern, und bei Bedarf wieder an den industriellen Sektor abzugeben (vgl. Lutz 1984). Nachdem der prim~re Sektor in den westlichen Industriegesellschaften auf einen weitgehend durchindustrialisierten Rest geschrumpft ist, kann diese Aufbewahrungsfunktion nur noch yon den Systemen sozialer Sicherung erfallt werden. Sie tragen - in manchen L~indern besser, in manchen schlechter - entscheidend zur L6sung eines individuellen und eines kollektiven Problems bei, vor denen alle kapitalistischen Gesellschaften nach der Vollbeschgffigung stehen. Das (A) individuelle Problem ist die Verarmungsdynamik, das (B) kollektive Problem ist die Entstehung von Deflationsprozessen. (A) Verarmungsdynamik Arbeitskraft reagiert zumindest im unteren Einkommensbereich auf Lohnsenkungen invers. Das heigt, dass auf Reduktionen des Preises far Arbeitskraft nicht mit Angebotsreduktionen, sondern mit Erweiterungen des Angebots reagiert wird. Woran liegt das? Je ngher das (Familien-)Einkommen am Existenzminimum liegt - oder anders gesagt: wenn das Einkommen ann~ihernd zu 100% in Konsum geht, der von den Einkommensbeziehern als unverzichtbar angesehen wird -, um so wahrscheinlicher werden Versuche, Einkommensausfalle durch Mehrangebot an Arbeitskraft zu kompensieren. Diese Strategie fahrt die Anbieter von Arbeitskraft offensichtlich in ein Gefangenendilemma: Individuell 121
ist es sinnvoll, mehr Arbeitskraft anzubieten, kollektiv ist es jedoch selbstschgdigend. Denn das Gesamtangebot an Arbeitskr/fften wird noch welter ausgeweitet und die kollektive Anbieterposition weiter geschwgcht, was weitere Lohnreduktionen m6glich macht. Fehlen Mechanismen, die der Unterbieterkonkurrenz der Arbeitskraftanbieter ein unteres Limit setzen, impliziert diese Besonderheit des Arbeitsmarkts die Gefahr einer Dynamik yon sich selbst verstgrkenden Verarmungsprozessen auf dem Arbeitsmarkt und in der Folge auch augerhalb des Arbeitsmarkts. (B) Deflationsprozesse Arbeitskraft unterscheidet sich von allen anderen untemehmerischen Kostenfaktoren darin, dass ihr Preis, der Lohn, auch wesentlicher NachHagefaktor ist (Vobruba 1983:134). Zum einen entstehen Arbeitskosten in allen Unternehmen. Und zum anderen setzen sich die Arbeitskosten unmittelbar - und im Grenzfall zu ann~ihemd 100% - in kaufkrgftige NachHage um. Daraus folgt zweierlei. Erstens bedeutet der Umstand, dass L6hne als Kosten in die Wirtschaftsrechnungen aller Untemehmen eingehen, dass Lohnkostenentlastungen zu Senkungen des Preisniveaus fiJhren k6nnen. Kommt es dazu, dann erh6hen sich die Reallohnkosten wieder. ,,Lohngeschenke" der Arbeimehmer kommen unter diesen Umst~inden bei den Untemehmern nicht an (vgl. Spahn 1996: 143f.). Mit anderen Worten, eine restriktive Einkommenspolitik l~iuft stets Gefahr, durch deflationistische Prozesse, die sie selbst verursacht, in ihren Verteilungswirkungen wieder aufgehoben zu werden. Und zweitens heigt das, dass Lohnsenkungen zwar kurzHistig den einzelnen Betrieb entlasten k6nnen, dass aber in der Summe allen Untemehmen als Warenanbietern Kaufkraft verloren geht. Mit den beiden Eigenschaflen des Lohnes als Kostenbestandteil und NachHagefaktor korrespondieren die beiden Rollen von Untemehmen als Produzenten (NachHager yon Arbeitskraft) und Verk~iufer (Anbieter yon Waren). Daher laufen gelingende Reallohnsenkungen far die Unternehmensseite auf ein Gefangenendilemma hinaus: Ffir jedes einzelne Untemehmen als Nachfrager nach Arbeitskr~ften ist es rational, L6hne zu senken, kollektiv fdhrt es zur Selbstschgdigung der Untemehmen als Warenanbieter. Gewerkschaftliche Lohnpolitik, die auf starren Lohnuntergrenzen insistiert und ein System sozialer Sicherung, das de facto einen Mindestlohn (reservation wage) definiert, bewahren die Untemehmen, die kurzfristig an Kostenentlastungen interessiert sein mtissen, vor kollektiver Selbstschgdigung. In dieser Perspektive ist der Satz yon Henry Ford nicht mehr so erstaunlich: ,,G/~be es keine Gewerkschaften, so mt~gte man sie erfmden." (zit. nach Schreiber 1971: 278). 122
Ergebnis der Diskussion der systematischen Besonderheiten der Angebotsseite des Arbeitsmarkts ist, dass es auf dem Arbeitsmarkt Mechanismen gibt, die den Ausgleich yon Angebot und Nachf~age sowohl tiber Mengenanpassungen als auch tiber Preisanpassungen behindern. Dies ist ein wichtiges Zwischenergebnis, da die tiberwiegende Mehrzahl der Ma6nahmen, die zwecks Besch~iftigungsf6rdenmg vorgeschlagen werden, explizit oder implizit yon der Wirksamkeit tikonomischer Ausgleichsmechanismen auf dem Arbeitsmarkt ausgeht. Der Nachweis der Sonderstellung des Arbeitsmarkts (vgl. Spahn, Vobruba 1989) entzieht allen politischen Ma6nahmen, die nur darauf hinauslaufen, 6konomische Ausgleichsmechanismen freizusetzen, den Boden.
Notwendigkeit und Machbarkeit Aus dieser Diagnose wird tiblicherweise auf die Notwendigkeit staatlicher Intervention in den Arbeitsrnarkt zwecks BeschtiftigungsfOrderung geschlossen. Dabei wird aber kaum die systematische Differenz zwischen der Notwendigkeit und der Machbarkeit von beschaftigungsf(irdemdem Staatsinterventionismus gesehen. Vielmehr wird diese Differenz einfach dadurch tiberbrtickt, dass entsprechende ,,Empfehlungen" an die Politik gerichtet werden, die als ,,black box" behandelt wird. Das heil3t, dass bei solchen Empfehlungen Oberlegungen tiber systematische Grenzen staatlicher Steuerungsmtiglichkeiten keine Rolle spielen. Diese - aus sozialwissenschaftlicher Sicht - Steuerungsnaivitat ist ein wesentliches Merkmal so gut wie aller Spielarten tikonomischer Theorie. Die Ein~hrung der Unterscheidung von Notwendigkeit und Machbarkeit besch~iftigungsfOrdemder Staatsinterventionen macht es erst mtiglich, die beiden entscheidenden Fragen zu stellen: Wie hat sich die Machbarkeit und wie hat sich die Notwendigkeit von besch~iftigungsorientiertem Staatsinterventionismus entwickelt? (1) Wie hat sich die Machbarkeit entwickelt? Diese Frage l~iuft auf den Wandel der Erfolgsvoraussetzungen keynesianischer Interventionen hinaus. Diese Erfolgsvoraussetzungen haben sich drastisch verschlechtert. Da~r gibt es Grtinde, die sich aus Ver~inderungen der Rahmenbedingungen ergeben und Grtinde, die an der Funktionsweise keynesianischer Interventionen selbst liegen. Mit dem Ende des Systems fixer Wechselkurse, durch die Internationalisierung der Geldm~irkte und durch zunehmende realwirtschaftliche Verflechtungen ist der keynesianischen Makrosteuerung die Grundlage entzogen worden (vgl. Scharpf 1987: 301f.). So hat zum Beispiel die Regierung Mitterand im Jahr 123
1981 die Erfahrtmg machen massen, dass unter den Bedingungen eines voll internationalisierten Geldsystems eine beschgftigungsfreundliche Politik niedriger Realzinsen im Alleingang zu massiven Kapitalabfltissen ftihrt, und dass noch dazu bei starken Augenhandelsverflechtungen nur der Nachteil steigender Budgetdefizite ganz im Land bleibt, wahrend der Vorteil der Nachfragest~irktmg zu einem zu grogen Teil ins Ausland geht. Die praktischen Erfahrungen mit keynesianischer Steuemng haben zu zwei Arten von untemehmerischen Lemprozessen gef~hrt, die far die weitere Wirksamkeit keynesianischer Steuerung fatal waren. Zum einen machte man die Erfahrtmg, dass die Ausweimng yon Budgetdefiziten in Krisenzeiten - entgegen der keynesianischen Programmatik - keine Entsprechung in einem spiegelbildlichen Abbau dieser Defizite w~ihrend der Prosperitat fand. Das ftihrte zu der Erwammg, dass man keynesianische Nachfragestfitzungen irgendwann spater jedenfalls mit h6heren Steuem zwecks Finanziemng des 6ffentlichen Schuldendienstes bezahlen werde massen. Auch ~hrte die Asymmetrie von Ausbau und Abbau der Staatsverschuldung zu einer vermehrten Nachfrage nach anlagebereitem Kapital, und dies wiederum ftihrte, gemeinsam mit hohen Realzinsen, zur Expansion yon (besch~iftigungslosen) Finanzinvestitionen zulasten (besch~iftigungswirksamer) Realinvestitionen. Zum anderen scheiterte die keynesianische Steuerung an ihrer eigenen Programmatik, durch kurzfristige Interventionen eine dauerhafte, selbsttragende Prosperitat herzustellen. Denn die Untemehmen lernten die Kurzfristigkeit der keynesianischen Nachfi'agesttitzung zu antizipieren und sich auf die Kurzfristigkeit einzustellen: Produzieren an der Kapazit~itsgrenze statt Erweiterungsinvestitionen, 13berstunden statt Neueinstellungen. Diese unternehmerischen Antizipationen m6gen realistisch gewesen sein oder nicht jedenfalls ~hrten sie keynesianische Makrosteuerung in eine selffullfilling prophecy: Well die relevanten Akteure meinten, die expansiven Impulse wtirden nur kurzt~istig wirken, wirkten sie tats~ichlich nur kurzfristig (vgl. Vobruba 1983: 142). Im Gegensatz zu Scharpf (1987: 42), der als einen Grund ftir das Scheitem des Keynesianismus ,,die besonderen Schwierigkeiten einer Popularisierung keynesianischer Situationsdeutungen" nennt, meine ich also, dass gerade das Verstehen der Funktionszusammenh~nge, auf denen der Keynesianismus beruhte, seine Wirksamkeit zerst6rte. (2) Was heil3t Notwendigkeit? Eine M6glichkeit besteht darin, von einem wie auch immer vorgestellten - ,,objektiven" besch~iftigungspolitischen Handlungsbedarf auszugehen. Tut man das, dann ist die Frage nach der Entwicklung der ,,Notwendigkeit" von Beschgftigungsf6rdemng rasch beantwortet: Die 124
Notwendigkeit der Besch~iftigungsfOrderung nimmt rnit der Zahl der Arbeitslosen zu (vgl. Sheak 1995). Das ist die tibliche Vorgangsweise. Ein solcher aus einer externen Beobachterperspektive angelegter Begriff von ,,objektiver Notwendigkeit" hat allerdings seine Tt~cken. Es muss den derart vorgehenden sozialwissenschaftlichen Beobachtern unklar bleiben, ob die relevanten Akteure in ihrem Beobachtungsfeld dieses Verst~indnis yon Notwendigkeit teilen. Ein systematisches Auseinanderdriften der Problemsicht von (politischen) Akteuren und (sozialwissenschaftlichen) Beobachtern ist ~ r letztere prek~ir. Denn entweder bleibt ihnen das Auseinanderdriften tiberhaupt verborgen, oder sie k0nnen es nur dutch moralisch aufgeladene Appelle tiberbrticken, ohne irgendwie kontrollieren zu k(~nnen, ob ihre Appelle im politischen System auf Resonanzf~ihigkeit stoBen. Der Realit~itsverlust, der Sozialwissenschaftlern droht, wenn sie bei ihren besch~iftigungspolitischen Empfehlungen yon ,,objektiven Notwendigkeiten" ausgehen, statt die in der Gesellschaft selbst vorherrschende Problemsicht zu analysieren, wird zum Beispiel in dem folgenden Pl~idoyer Mr Arbeitszeitverktirzung deutlich. ,,There is an incomprehensible [sic!] (not to say irresponsible) resistance from politicians, employers,trade unionists,but also academics,against the mathematicalevidenceof the need for a reduction in labourtime."(Pacolet 1997:242) Tatsachlich scheint die Ftille an unterschiedlichen besch~iftigungspolitischen Vorschlagen eher ein Hinderungsgrund for erfolgreiche Besch~iftigungspolitik zu sein. Begreift man dagegen die Akteursffage als Teil des Besch~iftigungsproblems, so ger~it das Verh~iltnis der besch~iftigungspolitisch relevanten Akteure zum Nutzen und zu den Kosten unterschiedlicher besch~ftigungspolitischer Vorschl~ige in den Blick. Die Frage, in welcher Weise unterschiedliche Akteure zu unterschiedlichen besch~iftigungspolitischen Konzepten stehen, l~isst sich nur untersuchen, wenn man die Kosten dieser Vorschl~ige mit berticksichtigt. Was als Kosten anzusehen ist, ergibt sich aus der Perspektive der unterschiedlichen Akteursinteressen.
Interessenpositionen zur VollbeschEifiigung Wir k0nnen dies so zusammenfassen: Es hat in den letzten 20 Jahren faktisch einen Prozess fortlaufender Angleichung der politikwirksamen Auffassungen 125
von der Notwendigkeit von Beschgftigungsf(Srderung an die Machbarkeit von Besch~ffigungsf6rdemng gegeben. Dafur gibt es drei indikatoren: Erstens ist zu beobachten, dass sich die Selbstdarstellungen im politischen System der Situation auf dem Arbeitsmarkt sukzessive angepasst haben. Wurde fraher von ,,Vollbeschgftigung" gesprochen, so ist heute nur noch von ,,mehr Besch~iftigung" und yon ,,Arbeitslosigkeit als unserer ersten Sorge" die Rede. Zweitens hat sich das Ausmal3 an Arbeitslosigkeit, das als noch vollbeschgftigungskonform anzusehen sei, in den Auffassungen der C)konomen und Politiker stetig erh6ht. Und drittens haben sich die Themenschwerpunkte in der politischen und politiknahen Publizistik, welche die Beschfiftigungsentwicklung mit Kommentaren, Empfehlungen und Klagen begleitete, in markanter Weise gewandelt. In der ersten Phase der Arbeitslosigkeit nach dem ersten (31preisschock wurden noch Erwggungen zur Wtknschbarkeit und M6glichkeit eines ,,Rechts auf Arbeit" im Sinne eines Rechtsanspmchs gegent~ber dem Staat angestellt. Darauf folgte eine Phase, in der Vollbeschgffigung als Selbstverpflichmng und Ziel staatlichen Handelns hochgehalten wurde. Dann wurde das Thema ,,Vollbesch~iftigung" fallengelassen, und es war nur mehr yon ,,mehr Beschgftigung" die Rede. Mittlerweile ist die einschl~igige Textproduktion, sieht man yon einigen Nachzfiglem ab, zum Erliegen gekommen. Man sieht: Je weiter das Besch~iftigungsziel verfehtt wurde, als umso weniger erforderlich wurde seine Erreichung angesehen. Dabei ist bemerkenswert, dass dieser Verlust an besch~ftigungspolitischen Ambitionen sowohl auf der Ebene der Eliten als auch, wenn auch ztigemd, auf der Ebene der Bev61kemng zu beobachten ist. Die alte und fast vergessene Prognose aus der zweiten H~ilfte der 60er Jahre, Massenarbeitslosigkeit werde ,,systemsprengende" Effekte haben, hat sich nicht bestgtigt. Hohe Arbeitslosenzahlen blieben politisch weitgehend folgenlos, nicht einmal das legitimatorische Frfihwamsystem, ~mdemngen parlamentarischer Mehrheiten, zeigte Resonanz. Man kann mit Massenarbeitslosigkeit durchaus Wahlen gewinnen. Dies konnte far die Problemperzeption der politischen Eliten nicht ohne Folgen bleiben. Insgesamt fanden also auf allen Ebenen Lemprozesse zulasten der Arbeitslosen start. Um die Frage zu diskutieren, welches Interesse unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen an Vollbeschgftigung haben, muss man davon ausgehen, dass Besch~iftigungsf6rdemng ihrer Auffassung nach Kosten verursacht. Als Kosten kommen in Frage: Stgrkung der Anbieterposition auf dem Arbeitsmarkt, Steigerungen des Preis- und Zinsniveaus und Einkommensverluste.
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Das Interesse der Kapitaleigner steht eindeutig gegen Vollbeschaftigung. Vollbeschgftigung st~irkt die Anbieterposition auf dem Arbeitsmarkt und ist darum potentiell kostensteigemd. Dieses Interesse l~isst sich empirisch an den Kursverlusten der wichtigsten Weltb0rsen ablesen, die in aller Regel auf die Verlautbarung verringerter Arbeitslosenzahlen folgen. - Das Interesse der Unternehmen an Vollbesch~iftigung ist gespalten. Einerseits mOssen sie die kostentreibenden Wirkungen yon Vollbesch~iftigung Nrchten, ebenso sind sie als Nachfrager nach Kapital an niedrigen Realzinsen interessiert und mtissen darum zinssteigemde (Ober-)Reaktionen der Notenbanken auf preisniveausteigemde Effekte yon Lohnsteigertmgen bei Arbeitsangebotsverknappung ffirchten. Andererseits sind ihre Interessen vie! st~irker ortsgebtmden als die Interessen der Kapitaleigner. Unternehmen mOssen daher als Produzenten an einem ausreichenden Mal3 an sozialer Ordnung vor Ort interessiert sein. An Arbeitslosigkeit in einem Ausmal3, das diese Ordnung in Frage stellt, sind sie jedenfalls nicht interessiert. Untemehrnerverb~inde sind als politische Akteure daran interessiert, dass ,,Vollbesch~iftigung" a|s gesellschaftliches Ziel anerkannt bleibt. Denn gerade aus der Differenz zwischen Vollbesch~iftigungspostulat und Vollbesch~iftigung gewinnen die Untemehmensverb~inde Durchsetztmgsf~ihigkeit in diversen gesellschaftlichen Konfliktfeldern, der Umweltpolitik, Technologiepolitik, Verkehrspolitik, Energiepolitik etc. Der umweltpolitische Widerstand gegen zahlreiche Investitionsprojekte lasst sich gegenw~irtig viel leichter mit dem Beschaftigungsargument (vgl. Nissen 1993:85 f.) als mit dem Verweis auf die Attraktivit~it zukOnftiger Produkte politisch tiberwinden. - Die Gewerkschaften haben das deutlichste Interesse an Vollbesch~iftigung. Allerdings ist dieses Interesse nicht so eindeutig, wie man zun~ichst vielleicht annimmt. Aus der Sicht der Gewerkschaften sind alle besch~iftigungsf0rdemden Magnahmen unproblematisch, die auf Ausweitung des Besch~iftigungsvolumens und/oder auf Umverteilung des Beschaftigungsvolumens ohne Umverteilung von Einkommen hinauslaufen. Dagegen mfissen sie solche Varianten der Besch~iftigungsfOrderung meiden, bei denen ihrer Kernmitgliedschaft Verzichte auf Teile ihrer Arbeit und ihres Einkommens oder gar nur ihres Einkommens abverlangt werden. Die Bereitschaft dazu ist deshalb gering, weil der viel diskutierte Tausch ,,Einkommen(szuwachs) gegen mehr Arbeitspl~itze" in Wahrheit ein hOchst asymmetrisches Arrangement ist: Gegenw~irtiger, sicherer Arbeitsplatzverzicht der einen, flit zukfinftige, ungewisse Arbeitsplatzgewinne der anderen. Ebenso sehen die Gewerkschaften die Interessen ihrer Kemmitgliedschaft durch Deregulierung und durch die Erweiterung des Einkommensf'~ichers -
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nach unten gef~ihrdet. Das Interesse der Gewerkschaften an Besch~iftigungsf6rderung muss dort seine Grenze finden, wo ihrer Mitgliedschaft daraus erhebliche Kosten zu entstehen drohen. Da dies freilich mit dem prinzipiell universellen Vertretungsanspruch der Gewerkschaften nicht vereinbar ist, mtissen sie das Vollbesch~iftigungspostulat prograrnmatisch hochhalten. Die Gewerkschaften entsprechen damit, ohne es zu wollen, dem Interesse yon Untemehmerverb~inden an einer Differenz zwischen 6ffentlich solide verankertem Vollbesch~iftigungspostulat und realen Besch~iftigungsproblemen (vgl. Vobruba 1997: 57f.). Sie tragen selbst zu einer Gesamtkonstellation bei, in der sie mit einfachen Mitteln diszipliniert werden k6nnen.
3. Income Mixes
In historischer Perspektive ist Vollbesch~iftigung in Normalarbeitsverh~ilmissen im Kapitalismus nicht die Regel, sondem die Ausnahme. Um das anschaulich zu machen, greife ich hier auf meinen Vorschlag zurtick (vgl. Vobruba 1997:61 ff.), drei Phasen in tier Entwicklung von Arbeit und Einkommen im Kapitalismus zu unterscheiden. Zuerst kam eine lange Phase, in der sich der Arbeitsmarkt als Verteilungsmechanismus yon Arbeit und Einkommen neben einem traditionellen, nicht geldwirtschaftlichen Sektor entwickelte, mit ihm koexistierte und yon ihm subventioniert wurde. In dieser ersten Phase dominierten Income Mixes aus Geldeinkommen, die auf dem Arbeitsmarkt erzielt wurden, und Naturaleinkommen. Die Familieneinkommen bestanden in unterschiedlichen Zusammensetzungen aus den instabilen und oft unzureichenden L6hnen der M~inner, Naturaleinkommen der Frauen und, gegebenenfalls, aus Zusatzeinkommen der Kinder und der Alten. Etwa seit der Wende zum 20. Jahrhundert, allerdings von Land zu Land sehr verschieden, begannen staatliche Sozialleistungen eine nennenswerte Rolle als Zusatzeinkommen zu spielen. Aber noch in der Weltwirtschaftskrise waren Rtickzugsm6glichkeiten in die Landwirtschaft von existentieller Bedeutung (vgl. Lutz 1984). Es folgte eine relativ kurze Phase, die nach dem Ende des zweiten Weltkrieges begann. In raschen Verst~idterungsprozessen 16sten sich die Prim~ir6konomien, die viele Lohnarbeitsexistenzen lange Zeit noch flankierend untersttitzt hatten, auf. Nun war man in einem historisch bisher ungekannt hohen MaB auf Geldeinkommen angewiesen. Das damit verbundene Problem, dass dies ~Jr die tiberwiegende Mehrheit der BevNkerungen Angewiesenheit auf Lohn bedeutete, wurde aber damals nicht virulent. Denn die voll monetarisierte 128
Gesellschaft setzte sich als Vollbesch~iftigungsgesellschaft auf der Basis yon Normalarbeitsverh~iltnissen (vgl. Mtickenberger 1985) durch. Das heiBt: Alle waren zur Sicherung ihrer materiellen Existenz auf Geldeinkommen angewiesen. Und zugleich bot der Arbeitsmarkt Normalarbeitsverh~iltnisse in ausreichender Zahl, so dass alle, die dies brauchten, ihre Existenz tiber den Arbeitsmarkt sichern konnten. Flankierend dazu wurden die Systeme sozialer Sicherung zu Quellen eigenst~indiger Existenzsichenmg ausgebaut. Dabei handelt es sich allerdings nicht um eine wtihlbare Alternative zwischen Arbeitsmarkt und System sozialer Sichertmg. Vielmehr wird der Primat des Arbeitsmarkts gegentiber dem System sozialer Sicherung durch administrativ geregelte Zugangsbedingungen zu den Sozialleistungen abgesichert. Diese Zugangsbedingungen beziehen sich in von Land zu Land unterschiedlicher Rigidit~it auf Arbeitsbereitschaft, vorherige Arbeitsmarktteilnahme und LohnhOhe (vgl. Vobruba 1990). Daraus ergibt sich, dasses in allen gegenw~irtigen Wohlfahrtsstaaten nur wenige M6glichkeiten zu legalen Kombinationen aus Lohneinkommen und Sozialleistungen gibt. Das ist unproblematisch, solange alle Arbeitseinkommen mindestens existenzsichernd sind. Aber diese Voraussetzung ist mit dem Ende der Vollbesch~iftigung, mit der Zunabme von diskontinuierlichen Erwerbsverl~iufen (vgl. Mutz u. a. 1995) und mit der Ausbreittmg von Besch~iftigungsformen abweichend vom Normalarbeitsverh~iltnis verloren gegangen. Die sich nun abzeichnende dritte Phase kann man so beschreiben: Es bleibt die allgemeine Angewiesenheit auf Geldeinkommen erhalten, aber es gibt nicht mehr ausreichend viele NormalarbeitspRitze, um alle, die dies brauchen, mit stabilen und ausreichend hohen Geldeinkommen auszustatten. Darum entwickeln sich neue, geldbasierte Income Mixes. Insbesondere2 kommt es zu Kombinationen von (A) L6hnen und Sozialtransfers sowie von (B) L6hnen und Kapitaleinkommen. (A) Wir k6nnen in allen sozialstaatlich regulierten kapitalistischen Gesellschaften eine de facto Ausbreimng von Income Mixes aus Arbeitseinkommen und Sozialleistungen beobachten. Die Ausbreitung solcher Income Mixes findet einstweilen noch zum gr6Beren Teil im Bereich der Illegalit~it, zum kleineren Tell im Bereich der Legalit~it start. Illegale Income Mixes ergeben sich aus unterschiedlichen unerlaubten Erwerbstatigkeiten neben dem Bezug von SozialIch t~bergehe hier, dass im Zuge der Zurt~ckdrfingung des Agrarsektors die Zahl der Nebenerwerbsbauern und daher auch der Income-Mixes aus landwirtschaftlichen Erl6sen und Lohneinkommen zunehmen (Hallberg et al, 1991). Jedenfalls handelt es sich dabei weitgehend um Income-Mixes auf Geldbasis.
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leistungen (vgl. Jordan et al. 1992). Legale Income Mixes von L6hnen und Sozialtransfers sind tiberall dort m6glich, wo die Anrechnungsregeln von Erwerbseinkommen auf Sozialleistungen gelockert werden; in den Fgllen also, in denen Erwerbseinkommen nicht zum Entzug yon Sozialleistungen in gleicher H6he ffthren. Es gibt in den Systemen sozialer Sicherung der meisten westlichen Industriestaaten langsame Entwicklungen, die in diese Richtung weisen. In dieser Hinsicht relativ weit fortgeschritten ist zum Beispiel die ,,Credit Income Tax" in den USA. Ansatze zu einer negativen Einkommensteuer gibt es in Osterreich. (B) Die Ausbreitung von Kombinationen aus Lohneinkommen und Kapitaleinkommen l~isst sich empirisch an der zunehmenden Inkongruenz von personeller und funktioneller Einkommensverteilung erkennen. Programmatisch gibt es dazu den Shareholder Socialism (vgl. Meade 1986; Roemer 1994). Dabei geht es im Prinzip urn die folgende Idee: Kapitalinteressen sind in kapitalistischen Gesellschaften derart strukturell bevorzugt, dass es keinen Sinn hat, dagegen politisch anzuk~impfen. Das lehrt die Geschichte der Sozialdemokratie. Zugleich muss anerkannt werden, dass der Kapitalismus als Mechanismus zur Bereitstellung materiellen Wohlstands sehr leistungsf~ig ist. Das lehrt die Niederlage des Sozialismus in der Systemkonkurrenz. Das soziale Problem besteht darin, dass - ohne soziale Regulierung - dieser Vorteil zu wenigen zugute kommt, w~ihrend zu viele davon nicht viel haben. Wenn es nicht m/Sglich ist, die Interessen dieser tiberwiegenden Mehrheit gegen die Position der Kapitaleigner durchzusetzen; und wenn auch ein ausreichender verteilungspolitischer Ausgleich tiber den Sozialstaat nicht (mehr) m6glich ist, dann muss man eben diese Mehrheit selbst zu Kapitaleignern machen. Alle diese Ansfitze laufen also darauf hinaus, die bisherige personelle Zuordnung von Bev61kerungsgruppen zu den gesellschafflichen Einkommensquellen und Interessenpositionen aufzul6sen. Einfacher gesagt lautet die Idee: Wenn der Kapitalismus gesiegt hat, dann muss man eben alle zu (Teil-) Kapitalisten machen, um sie an den F~chten dieses Sieges zu beteiligen. Wenn abh~ingige Erwerbst~itigkeit als Einkommensquelle nicht mehr ausreicht, muss sie durch Kapitaleinkommen ergfinzt werden. Dazu freilich mtissen Rechte auf Kapitaleinkommen neu verteilt werden. Es geht in dieser Sicht also darum, aus der Vollbesch~iftigungsgeseltschaft eine Aktiontirsgesellschaft zu machen. Es ist eine alte Frage, ob der Kapitalismus eine solche Verbreiterung seiner sozialen Basis vertr~igt. Gibt man den Leuten Rechte auf Kapitaleinkommen, so werden sie nichts mehr arbeiten. Die Entwicklung der n~chsten Zeit k6nnte aber genau dieser Sorge die Grundlage entziehen. Faktoren, die daffir sprechen, sind: 130
ausreichende Verfiigbarkeit von Arbeitskr~iften, kaum zunehmender Bedarf an Arbeitskrgften, wachstums- und wohlfahrtsstrategische Schltisselstellung yon hochqualifizierten Arbeitskr~ften, bei denen das Einkommensmotiv allein nicht ausschlaggebend ist. Der Nachweis der Unwahrscheinlichkeit von Vollbesch~iftigung und die Historisierung der Vollbesch~iftigung legen die Frage nach gesellschaftlichen Entwicklungsm6glichkeiten nach der Vollbeschgftigung nahe. Zu diesem Thema gibt es bisher nicht viel. Die einzige Diskussion, die das Ende der Vollbesch~iftigung offensiv aufgegriffen hat, ist zum Erliegen gekommen.
4. Die doppelte Krise der Lohnarbeit
Es gibt zurzeit nur wenig sozialwissenschaffliche Diskussion da~ber, ob das Ende der Vollbesch~iftigung ausschliel31ich als Verlust zu begreifen ist, oder ob dem auch positive Seiten abzugewinnen sin& Bezeichnenderweise werden am ehesten Fragen nach den Lebensbedingungen der Opfer der neueren Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt gestellt. Dagegen weil3 man nur wenig dartiber, wie das Ende der Vollbesch~iftigung in der Perspektive derer erscheim, die sich mit den gegebenen VerhNtnissen (einigermagen) erfolgreich arrangieren. In einem gewissen Sinn war die Diskussion schon einmal weiter. Am Anfang vom Ende der Vollbesch~iftigungsgesellschaft, in den sp~iten 70er und in den 80er Jahren, entwickelte sich eine breite Debatte fiber Altemativen zur industriell-kapitalistischen Produktion und Arbeit, die den Wegfall von Arbeitspl~itzen nicht nur als libel, sondern auch als Chance sah. Diese Alternativ6konomie-Diskussion ist interessant, well sie bis heute die einzige offensive Reaktion auf das Ende der Vollbesch~iftigunggeblieben ist. Ich werde zuerst die Entwicklung dieser Diskussion kurz rekonstruieren. Dann werde ich darauf eingehen, warum man in dieser Diskussion nur in ,,einem gewissen Sinn" weiter war als heute. Daraus wird sich zugleich eine Antwort auf die Fragen ergeben, warum die Diskussion zusammengebrochen ist und wie sie mit Aussicht auf mehr Dauerhaftigkeit heute neu angelegt werden mtisste. Die Besch~iftigungssituation in den westlichen Industriestaaten ~inderte sich zwischen der letzten Vollbesch~ftigungs-Prosperit~it und der ersten Krise mit einschneidender Arbeitslosigkeit rasch. Das Ende der Vollbeschfiftigung traf auf eine kritische politische und sozialwissenschaftliche Offentlichkeit, in der die folgenden beiden l)berzeugungen gut verankert waren. Einerseits stand die industriellkapitalistische Produktions131
weise unter Dauerkritik. Dabei ging es um die Qualit~it der Arbeitsbedingungen, um Produktionsinhalte (Kritik der Rtismngsproduktion) und urn Nebenfolgen (Kritik 6kologischer Folgesch~iden) der Produktion, sowie um das industriellkapitalistische Wohlstandsmodell insgesamt (Schumacher 1977; Binswanger/ Geissberger/Ginsburg 1979; Cooley 1980). Andererseitsging man wie selbstverst~dlich davon aus, dass der Grund far die zunehmende Arbeitslosigkeit eine abnehmende Zaht an Arbeitsplfitzen sei. Arbeitslosigkeit wurde also ohne weiteres auf ein Sinken der Nachfrage nach Arbeitskraft zur~ckgeftihrt. Als sich die Arbeitslosigkeit nach einigen Jahren als offensichtlich dauerhaft herausstellte, wurde dies als s~ikulares Ph~inomen aufgefasst. Man meinte in der stetig wachsenden Arbeitslosigkeit das sich anktindigende ,,Ende der Arbeitsgesellschaft" (Dahrendorf 1980; Guggenberger 1988) zu sehen. Vor dem Hintergrund dieser beiden Deutungen musste die Arbeitslosigkeit so verstanden werden: Die Arbeit ist quantitativ unzureichend und qualitativ unzul~inglich. Ich komprimiere die damalige komplizierte Diskurssituation im Begriff der ,,doppelten Krise der Lohnarbeit" (Vobruba 1989: 23). Es war far alle Beteiligten schwierig, sich in dieser Situation politisch eindeutig zu positionieren (vgl. Evers/Opielka 1985). War man ftir die bedingungslose Ltisung des quantitativen Problems (also ~ r Besch~ifligungsf6rderung), so geriet man mit der qualitativen Kritik (gesundheits-, fi'iedens-, umweltpolitische Bedenken) in Konflikt. Vertrat man bedingungslos die Richtung qualitativer Kritik, musste man sich Ignoranz vor dem quantitativen Problem (Arbeitslosigkeit) vorwerfen lassen. Diese Konstellation der ,,doppelten Krise der Lohnarbeit" ist im Kern die Ursache der abnehmenden Orientierungskraft der politischen rechts-links-Differenz. Sie bezeichnet ein bis heute ungel6stes politisches Strategieproblem.
,, N i i t z l i c h e " A r b e i t s l o s i g k e i t
Angesichts steigender Arbeitslosenzahlen entwickelte sich erst einmal die Idee, man k6nne quantitatives Versagen und qualitative Kritik kurzschliegen. Vereinfacht: Wenn Arbeitspl~itze ohnehin ihrer Qualit~it nach nicht akzeptabel sind, dannist es gut, wenn es keine solchen Arbeitsplatze gibt (vgl. Illich 1978; Bahro 1985). Diese Auffassung beruhte auf einer einfachen Kombination von Ideen yon Marx und Arendt. Man erweiterte Marx' Entfremdungskritik 6kologisch und verkntipfte sie mit Arendts !2Ibergang vonder Arbeits- zur T~itigkeitsgesellschaft. Die Idee der Durchsetzung einer anderen Qualit~it industrieller Produk132
tion und Arbeit wurde tiberlagert yon der Vorstellung des Ausstiegs aus der Lohnarbeit und des Umstiegs in ganz andere, bessere Formen von Arbeiten und Leben. Die empirische Evidenz daftir fand man in der Gleichzeitigkeit von Arbeitslosigkeit und Wertewandel (vgl. Inglehart 1977; Vonderach 1980; von Klipstein/Strfimpel 1984). Diese Gleichzeitigkeit untersttitzte die 13berzeugung, dass der 6konomische trod der kulturelle Wandel einander wechselseitig entproblematisieren: Der Rackzug der Lohnarbeit fdhrt zu Einkommensverlusten aber die werden durch den Wertewandel entproblematisiert. Der Wertewandel ftihrt zu Wtinschen nach mehr Selbstbestimmtheit - die Freiraume dafiir werden durch den Rtickzug der Arbeitsgesellschaft er~ffnet. Die Diskussion befasste sich darum mit den Fragen: Welche benefits hat abhangige Erwerbstatigkeit far die Arbeitskrafte? Und wie k6nnen diese benefits durch andere Tatigkeitsformen substituiert werden? Dabei wurde meist yon der Unterscheidung zwischen materiellen und immateriellen benefits ausgegangen. Eine vollstandige Substitution der materiellen benefits wurde den Alternatiyen zur Lohnarbeit in der Regel nicht zugetraut. (3fter dagegen wurde argumentiert, dass Arbeitslosigkeit zwar Wohlstandsverluste mit sich bringe, die durch Eigenarbeit nicht ganz kompensierbar sind, dass aber die gewonnene frei verft~gbare Zeit Tatigkeiten mit mehr immateriellen benefits ermtigliche. So wtirden die Wohlstandsverluste durch Wohlfahrtsgewinne (mehr als) aufgewogen. Diese Position bemhte zum einen auf einer Kritik der ,,kapitalistisch erzeugten" Bedtirfnisse, auf einer Kritik der Transformation aller Bedarfe in monetar befriedigbare Wtinsche nach Gtitem, und in einigen Fallen auch auf der schlichten These einer Nachfragesattigung. Daran wurde die Erwartung geknt~pft, der Verlust an Einkommen trod der Zuwachs an Zeit far Eigenarbeit werden die authentischen, nicht mehr kapitalistisch verzerrten, Bedtirfnisse wieder freisetzen. Die authentischen Wtinsche richten sich also auf weniger Gtiter und auf anderes als Gtiter - das war die Grundlage, auf der der quantitative und der qualitative Aspekt der doppelten Krise der Lohnarbeit miteinander kurzgeschlossen wurden.
Pragmatische Dualwirtschaft Eine pragmatischere Reaktion auf die doppelte Krise der Lohnarbeit bestand darin, diverse Forrnen von Dualwirtschaft vorzuschlagen. Diese Vorschlage gingen von der Annahme aus, dass der Bereich industrieller, entffemdeter Arbeit sich zwar nicht abschaffen, wohl aber erheblich einschr~tken lasse (vgl. 133
Adler-Karlsson 1979; Gorz 1980). Der Bereich industrieller Arbeit wird in emanzipatorischer Hinsicht aufgegeben3, wird abet zugleich so weit zurtickgedr~ingt, dass dies insgesamt nicht mehr schadet. Wichtig far die Entwicklung des Konzepts der ,,Dualwirtschaft" (vgl. Huber 1984) war die historische Rekonstruktion von Traditionen arbeitsmarktextemen Wirtschaftens und Arbeitens (vgl. Novy 1978; Novy/Prinz 1985), sowie die Erinnerung, dass in kapitalistischen Industriegesellschaften stets ein wesentlicher Teil der 6konomischen Aktivit~iten, insbesondere Hausarbeit, auBerhalb des Arbeitsmarktes geleistet wird (vgl. Ostner 1978; Cass 1981). Es gab reichlich Llberlegungen dazu, wie viel an Wohlstandsverlusten infolge von weniger Arbeit im formellen Sektor durch Eigenarbeit kompensiert werden kann. Diese LPoerlegungen wurden mit der These verbunden, es komme also angesichts der schwindenden MOglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt und des gleichzeitigen ,,Wertewandels" zu postaquisitorischen Werten darauf an, bisher dem Arbeitsmarkt vorbehaltene Aktivit~iten vermehrt auf den informellen Sektor zu verlagern. ,,Der hinter der ,Verlagerung' stehende Grundgedanke ist immer, daft in einer Situation, in der der formale Sektor nicht mehr genOgend Arbeitspl~tze anbietet (und es aus 6kologischen und sozialstaatskritischen Erwfigungen auch gar nicht wanschenswert ist, dab er sie anbietet) und in der es andererseits geniigend gesellschaftlich sinnvolle Arbeit gibt, die zu tun ist, die brachliegende Arbeitskraft far Formen kollektiver Selbstversorgung dadurch genutzt werden soil, dab die im formalen Sektor nicht einsetzbare Arbeit in den ,kleinen Netzen' yon Familie und kommunalen Produktionsformen (Freundschaft, Nachbarschaft) aktiviert wird." (Berger 1982: 109; vgl. Huber 1979)
Insgesamt wurde die Ansicht vertreten, dass abh~ingige Erwerbsarbeit durch den ,,autonomen Sektor" zwar nicht zu ersetzen sei, dass Eigenarbeit, kollektive Selbsthilfe und informelle Produktion aber in materieller und immaterieller Hinsicht eine wichtige Erg~inzung des Arbeitsmarkts darstellen (vgl. Gershuny/Pahl 1980; Heinze/Olk 1982; Grottian/Ktick 1983). Hier geht es nicht mehr um die direkte Koppelung von Arbeitslosigkeit und Altemativsektor, sondem um die Neuaufteilung von Lohnarbeitszeit und Zeit far arbeitsmarktexterne T~itigkeiten. Diese Auffassung fahrte zu Forderungen nach einer Arbeitszeitpolitik, welche die erforderliche Zeit far T~itigkeiten abseits abh~ingiger Erwerbsarbeit schafft (vgl. Vonderach 1982; Gorz 1983; Hegner 1983).
Parallel dazu gibt es eine langanhaltende Theoriediskussion, in der sich die Zentrierung der Gesellchaftstheorie auf ,,Arbeit~ aufl6st. Vgl. Habermas (1981); Offe (1984); Clausen (1988); GanBmann (1996).
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In der Annahme, Leben abseits vom Arbeitsmarkt und von entfremdeter Lohnarbeit sei eine Chance, konvergierte die altemativ6konomische Kritik an industrieller Arbeit ironischerweise mit neoklassischen Lehrmeinungen. Die Neoklassik versteht bekanntlich Arbeitslosigkeit als Ausdruck einer entsprechenden Pr~iferenz Rir alternative Zeimutzungen, die Hoffnungen mancher A1temativ6konomen richteten sich - ganz ~ihnlich - auf ,,Eigenarbeit" als bessere Alternative zur Lohnarbeit.
Grundeinkommensdiskussion Aber die Interpretation von Arbeitslosigkeit als Befreiung trug in der Praxis nicht weit. Die Aufmerksamkeit wurde bald auf den - eher selbstverst~indlichen Umstand gelenkt, dass die M6glichkeit arbeitsmarktexterner Existenz an materielle Bedingungen gekntipft ist. In einigermagen mtihsamen Diskussionen stellte sich heraus, dass die Haushalte in der Regel nicht wirklich fiber die arbeitsmarktexternen Optionen verftigen, die ihnen v o n d e r Neoklassik zugeschrieben werden; und dass sich solche arbeitsmarktextemen Optionen auch nicht so ohne weiteres individuell oder im kleinen kollektiven Rahmen entwickeln lassen, wie von den Alternativen angenommen worden war. Daraus nun wurde gefolgert, dass diese arbeitsmarktexternen Optionen erst staatlich bereitgestellt und abgesichert werden mt~ssen. Das war der Ausgangspunkt der Grundeinkommensdiskussion (vgl. Schmid 1984; Btichele/Wohlgenannt 1985; Opielka/Vobruba 1986). Alle Konzepte zu einem garantierten Grtmdeinkommen mOssen Antworten auf drei Fragen anbieten. 1. Wie soil der Kreis der Bezugsberechtigten definiert sein? Diese Frage wurde ganz offensichtlich als unangenehm empfunden und mit der vagen Formel ,,far alle" tibergangen. Mehr Interesse fanden die beiden weiteren: 2. Wie hoch soil der Garantiebetrag sein? 3. Und zu welchem Prozentsatz sollen Erwerbseinkommen auf das Grundeinkommen angerechnet werden? Die Grtmdeinkommensdiskussion konzentrierte sich zuerst eher auf den Garantiebetrag und spgter eher auf die Anrechnungsregelungen. In ihrer ,,emphatischen Phase" wurde die Grundeinkommensdiskussion mit der AltemativOkonomie-Diskussion verbunden. Die Idee war, die unvermeidliche ,,Entkoppelung von Arbeit und Einkommen" so zu regulieren und zu nutzen, dass das Grundeinkommen die materiellen benefits von Lohnarbeit wenigstens zum Teil substituiert und so die materiellen Voraussetzungen fiJr T~itigkeiten augerhalb des Arbeitsmarkts schafft. Der Vorschlag speiste sich aus
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einer Nmlichen Konstellation von Diagnosen und Motiven wie die Dualwirtschaftsdiskussion. ,,Wenn die durch den raschen technischen Fortschritt freigesetzte Arbeitskraft durch weiteres quantitatives Wachstum nicht mehr in den Arbeitsmarkt integriertwerden kann, weil ein solches Wachstum an 6kologischeGrenzenund an S~ttigungsgrenzeneines sinnvollenKonsumsst613t,dann ist Dauerarbeitslosigkeit wachsender Schichten der Be~Olkerung mit ihren katastrophalen psychischen und sozialenFolgennur dann vermeidbar,wenn zweierleigeschieht:wenn die Arbeitszeit massiv gek~irztwird und durch die Einfiahrungeines Grundeinkommensdas Einkommengrundsgtzlich vonder Erwerbsarbeit abgekoppelt wird." (Biachele/Wohlgenannt 1985: 19f.; ~hnlich Vobmba 1984) Die Hoffnung, der technische Fortschritt werde die mit dem garantierten Grundeinkommen verbundenen Verteilungsfragen entproblematisieren, wurde dann bald fallengelassen. Dagegen ist auch in der spateren, pragmatisch gewendeten Diskussion die Idee erhalten geblieben, dass die Option eines Grundeinkommens es mOglich mache, auf die bedingungslose Verteidigung gegebener Arbeitspl~itze zu verzichten, und damit den erforderlichen Handlungsspielraum fOr staatliche Okologiepolitik absichere (vgl. Nissen 1994). W~ihrend far diese Argttmente der Garantiebetrag, den jede(r) erh~ilt, die entscheidende Rolle spielte, findet in jfingster Zeit die Kombinierbarkeit von Erwerbseinkommen und Grtmdeinkommen, also die Technik der negativen Einkommensteuer, mehr Aufmerksamkeit. In dieser Perspektive werden Grtmdeinkommenskonzepte als Instrument zur Einrichtung eines sozialvertr~,iglichen Niedriglohnsektors, also als besch~iftigungspolitisches Instrument, empfohlen (vgl. Scharpf 1995). Im Sinne der hier eingeffthrten Systematik handelt es sich dabei um einen Vorschlag zur Gestalmng von geldbasierten Income Mixes. Die Diskussionen um die Mtiglichkeiten einer gesellschaftspolitisch produktiven Nutzung der Arbeitslosigkeit wurden jahrelang v o n d e r eingangs erw~ihnten falschen Vorstellung geleitet, man k6nne von steigenden Arbeitslosenzahlen auf sinkende Beschgftigung schliegen. Es wurde also von einem NullsummenSpiel zwischen Beschgftigung und Arbeitslosigkeit ausgegangen. Diese Vorstellung war far die Alternativ- und Gmndeinkommensdiskussion sch~idlich, da sie zu falschen Annahrnen fiber nutzbare VerteilungsspieMiume fohrte. Warum? Wenn man sich Arbeitslosigkeit nur als Folge des Rt~ckgangs von Besch~iftigtmg vorstellen kann, dann muss man angesichts des langerfristig stabilen Wirtschaftswachstums annehmen, dass die Arbeitslosigkeit auf einem Rfickgang der Nachfrage nach Arbeitskr~iften, verursacht dutch hohe Steigerungen der Arbeitsproduktivitgt, beruht. Zum Beispiel so: ,,Die mikroelektronische Revolution leitet das Zeitalter der Beseitigung der Arbeit ein." (Gorz 1983: 53). Diese Auf136
fassung abersieht die auBer6konomischen Bestimmungsfaktoren der Angebotsseite des Arbeitsmarkts. Es bleibt unbeachtet, dass in den vergangenen 25 Jahren in allen westlichen Industriestaaten die meiste Zeit Arbeitslosigkeit und Beschgftigung zugleich zugenommen haben. Auf ein Versagen des Arbeitsmarkts im Sinne eines sgkularen Rt~ckgangs der nachge~agten Arbeitsmenge 4 l~isst sich allenfalls ein kleiner Teil der Arbeitslosigkeit zur~ckfahren. Von einero Mangel an Nachfrage nach Arbeitskr~ften muss man also eher in dem Sinn sprechen, dass gemessen am zunehmenden Angebot, der zunehmenden Zahl auf Arbeitseinkommen Angewiesener, die Nachfrage zu gering ist. Das prinzipielle Problem derer, die als zusgtzliches Angebot auf dem Arbeitsmarkt auftreten, besteht darin, dass sie erst arbeiten m~issen (und wollen), um dann Einkommen zu erzielen, das zu Nachfrage nach Gt~tern und damit zu Produktionsimpulsen wird. Das 6konomische System wgre far die Arbeitsbereitschaft und Nr den Einkommensbedarf der zus~tzlichen Arbeitskraftanbieter nur dann resonanzf~ihig, wenn es den daraus resultierenden Nach~ageund Produktionsimpuls antizipieren k0nnte. Solange die zus~tzlichen Arbeitskrgfte aber nichts anderes als ihre Arbeitskraft haben, kOnnen sie sich mit ihrer Arbeitsbereitschaft und ihrem Einkommensbedarf im 6konomischen Sinn nicht bemerkbar machen. Mit dem Wandel yon nacht~ageseitigen zu angebotsseitigen Grfinden zur Erklfirung der Arbeitslosigkeit muss eine Ernfichterung bei der Einschgtzung der nutzbaren Verteilungsspielr~ume einhergehen. Die hoffnungsvolle Annahme, dasses nur darum gehe, durch den technischen Fortschritt drastisch erweiterte Verteilungsspielr~iume verteilungspolitisch zu nutzen, ist nicht zu halten. Es geht um mehr Leute, die im Rahmen des gegebenen Verteilungsspielraums Geld brauchen. Die Diskussion der ,,doppelten Krise der Lohnarbeit" litt an zwei grundlegenden Defiziten. Die Diskussion unterstellte unrealistisch weite Verteilungsspielrfiume und abersch~tzte die Erwerbsm0glichkeiten im Alternativsektor. Sie untersch~tzte also insgesamt den materiellen Aspekt der Krise der Lohnarbeit. Damit in engem Zusammenhang steht das zweite Defizit. Die Diskussion war eher normativ als analytisch. Am deutlichsten ist dieser Mangel in der Grundeinkommensdiskussion. Untersuchungen yon Motivlagen relevanter Akteure und Analysen von Akteurskonstellationen, welche zu strategisch nutzbarem Wissen h~tten Nhren k6nnen, wurden lange Zeit vemachlgssigt (vgl. aber Pioch 4
Die Folgen des sfikularen Rackgangs des Arbeitsvolumens sind in der Bundesrepublik in der Vergangenheit durch Arbeitszeitverk~rzungen abgefangen worden. Das Aussetzen yon Arbeitszeitverkt~rzung hat zur ohnehin hohen Arbeitslosigkeit zusfitzlich noch beigetragen.
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1996). Stattdessen dominierten mehr oder weniger elaborierte normative Begrfindungsversuche (vgl. van Parijs 1992) - kein gutes Zeichen far die politische Relevanz einer Diskussion (vgl. Vobruba 1997:113 ft.). Die Altemativ/Skonomie-Diskussion bezog sich st~irker, aber doch nicht ausreichend genau, auf Empirie. Zwar konnte in dieser Diskussion unmittelbar auf Beispiele ausder gesellschaftlichen Praxis verwiesen werden, aber es handelte sich um die Praxis eines relativ kleinen Bev61kerungskreises. Zwar wusste man das, und dem entsprechend war auch immer wieder einschrfinkend vonder Modellfunktion der real praktizierten Altemativ6konomie die Rede. Aber man verknt~pfte dies dann doch mit viel welter reichenden Erwartungen, dass der Altemativsektor ein Schlt~ssel zur L6sung grol3fl~chiger Probleme des Arbeitsmarkts sei. So wurde aus den tats~ichlich praktizierten Lebensformen einer relativ kleinen Gruppe unter der Hand ein pr~skriptiver Entwurf eines neuen Lebensmusters, der nicht verallgemeinerbar war. Insgesamt: Das Bemerkenswerte an der Diskussion der doppelten Krise der Lohnarbeit ist, dass sie das Ende der Vollbesch~iftigungoffensiv aufgriff, stattes zu beklagen. Aber sie scheiterte an ihren beiden Defiziten, Illusionen fiber Verteilungsspielr~iume einerseits nnd Mangel an Verallgemeinerbarkeit der Alternativentwtirfe andererseits. In Analysen fiber Entwicklungsm6glichkeiten der Gesellschaft nach der Vollbesch~iftigung mfissen daher das Verteilungsproblem und die Problem- und Chancenperzeptionen der Leute selbst eingebaut werden. Man weil3 fiber die Einkommensstrategien und die Lebenslagen nach der Vollbesch~iftigung nach wie vor wenig. MOglicherweise haben sich viele Leute bereits ganz gut auf die Situation nach der Vollbesch~iftigungeingestellt.
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Dies ist der Versuch einer Bestandsaufnahme der neuen Normalit~it nach der Vollbesch(~fiigung: Immer mehr Menschen beziehen ihr Einkommen aus mehr als einer Quelle. Kapitaleinkommen, Erwerbseinkommen und Sozialtransfers sind die Bestandteile moderner Income Mixes. Wenn sich solche Income Mixes immer mehr ausbreiten, muss Politik die Schnittstellen zwischen diesen Einkommensarten so gestalten, dass sic tats~ichlich kombinierbar werden. Damit entscheidet sich, ob Income Mixes eine Gefahr oder eine Chance sind.
Income Mixes. Die neue Normalit~it nach der Vollbesch~iftigung
I. Gesellschaflliche Ordnungen beruhen auf spezifischen Normalit~iten. Einerseits pr~igen diese Normalit~ten die individuellen Vorstellungen von Lebensgestaltung und sozialer Ordnung. Andererseits strukturieren sie die Funktionsweise von Institutionen. Schliel31ich wirken die institutionalisierten Normalitfiten auf individuelle Lebenschancen zurtick. Dass von einem Ende der Arbeitsgesellschaft keine Rede sein kann, hat sich mittlerweile herumgesprochen, trotzdem ist die Wiederkehr yon Vollbesch~ftigung hOchst unwahrscheinlich. Welches typische Muster von Arbeit und Einkommen entwickelt sich nach der Vollbesch~iftigung? Wie wird die neue Normalit~it aussehen? Dieser Frage gehe ich nach, indem ich untersuche, ob in Zukunft Existenzsichemng aus einer Einkommensquelle oder eher aus mehreren, einander erg~inzenden Einkommensquellen zu erwarten ist. Ich vermute letzteres und nenne diese Konstellation Income Mixes. Die kapitalistischen Marktwirtschaften sind l~ingst auf dem Weg zu einer neuen Normalit~it yon Arbeit und Einkommen. Die institutionalisierten Normalit~itsvorstellungen liegen zu dieser neuen Normalit~it quer, sie behindern ihre Entwicklung und machen all denen das Leben schwer, die yon Income Mixes leben wollen oder mtissen) Ich werde zuerst eine Periodenabfolge kurz skizzieren, in der Vollbesch~iftigung in Normalarbeitsverh~fltnissen als eine Konstellation unter mehreren m6glichen erscheint. Dann werde ich Argumente gegen die Wiederherstellbarkeit traditioneller Vollbeschfifligung und ~ r die sich gegenw~irtig abzeichnende Entwicklung zu modernen Income Mixes zusammentragen. Hier geht es um lndividuen, nicht um Haushalte. Nimmt man dagegen die Familie als Einheit, waren ,,income packages"(Rainwater u. a. 1986;AndreB 1999) immer schon bedeutend. Nattirlich sind individuelle IncomeMixes ihrerseits wieder Bestandteil von ,,income packages" von Familien. Man kann vermuten, dass durch die Ausbreitung von individuellen IncomeMixes Familien verst~rkt gen6tigtwerden, ,,incomepackages"zu schmiren. 145
Und schliel31ich werde ich auf ein paar Anforderungen eingehen, die sich daraus 9t~r die Beherrschung der Gefahren von Income Mixes ergeben (siehe hierzu Vobruba 1997 und Vobruba 1998 a).
II. Auf den ersten Blick ist die sich abzeichnende neue Normalit~it alt. Jahrhundertelang war es normal, Einkommen aus mehreren Quellen zugleich zu beziehen. Man kann sich das leicht klarmachen, indem man drei Perioden unterscheidet: In der ersten Periode fmdet eine langsame Verschiebung von Naturaleinkommen zu Geldeinkommen staR. Diese Periode erstreckt sich von den Anf'fing e n d e r Industrialisierung bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts. Es folgt eine relativ kurze Periode, in der L6hne die ausschliel31iche Einkommensquelle sind. Sozialleistungen, die eng an Lohnarbeit und L6hne ankn~ipfen, sind ersatzweise vorgesehen. Diese Periode begann mit dem Ubergang zur Vollbesch~iftigung nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. F ~ die Zukunft zeichnet sich gegenwfirtig eine dritte Periode ab, in der Existenzsicherung durch Geldeinkommen aus unterschiedlichen Quellen erfolgen muss, die einander erg~nzen. Meine dringende Vermutung ist, dass sich die Entwick|ung gegenw~rtig an der Schwelle vonder zweiten zur dritten Periode befmdet und dass sich die Einkommensmuster in den westlichen Industriegesellschaften und in den neuen Reformgesellschaffen Mittel- und Osteuropas in dieser dritten Phase einander annfihern werden.
III. Mit der Industrialisierung samt der Durchsetzung yon Arbeitsmfirkten lOsten sich die unterschiedlichen Formen des Zusammenlebens im ,,ganzen Hause" auf) Immer mehr Menschen mussten ihre Bedarfnisse an Wohnen und Ernfihrung aber M~irkte bel~iedigen. Damit wurde der Anteil der Geldeinkommen an den traditionellen Income Mixes, in denen Naturaleinkommen dominierten und Geld eine ergfinzende Rolle spielte, immer gr6ger. Ft~r die entstehende Industriearbeiterschaft wurden Income Mixes aus Geldl(Shnen als Haupteinkommen 2
AIs ein weiterer Entwicklungsstrang ware noch der Trend von strikt familienbezogenen zu mehr individuellen Einkommensstrategien zu verfolgen. Dabei ware an Untersuchungen der Entwicklungstendenzen yon Familienformen anzuschliegen, Vgl. Kaufmann (1995); Huinink (1995),
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und aus den Ertrggen der Eigenarbeit in kleinen Gemt~seg~irtenetc. als Zusatzversorgung zur Normalit~it. Familienbeziehungen und Familienarbeit flankierten die Existenzsicherung durch Lohnarbeit in erheblichem Umfang. Zum einen spielten Gemtiseg~irten und Kleintierhaltung mit ihren unmittelbaren Beitr~igen an Nahrungsmitteln eine wichtige Rolle. Diese Namraleinkommen wurden bei der Bemessung der Lohnh6hen stiltschweigend mit einberechnet. In einigen Industriezweigen schufen Arbeitgeber tiberhaupt erst die Voraussetzungen far solche flankierenden Naturalwirtschaften, indem sie den Arbeitern kleine Ggrten hinter dem Wohnhaus oder in wenig attraktiven Lagen, etwa unmittelbar am Gleisk6rper der Bahn, tiberliel3en. Daher stammen die typische Siedlungsform der Bergleute und ihre traditionelle Kleintierzucht, daher stammt auch der Ausdruck ,,Eisenbahnerkuh" far die Ziege. Diese Prim~ir6konomiendurften allerdings nicht so grog sein, dass sie den Zwang zu Lohnarbeit emsthaft inti~age gestellt h~itten (vgl. Thompson 1987: 239). Zum anderen spielte die Verwaltung der Geldeinkommen durch die Hausfrauen eine wichtige Rolle far den Lebensstandard der Familie. Planvolles, vorausschauendes Ausgabeverhalten, die Mobilisierung von Rationalisierungsreserven im Haushalt und die geschickte Kombination yon Geld- und Naturaleinkommen waren wichtige Beitr~ige zur gelingenden Existenzsicherung der Familie. Eine geschickte Haushaltsfahamg konnte bei gleichem Geldeinkommen den Unterschied zwischen einem Leben am Rande des Elends und einer bescheidenen, aber ausk6mmlichen Existenz ausmachen. Manche Unternehmer nahmen sich der damit verbundenen Probleme in den Arbeiterhaushalten an. Sie versuchten, auf die Haushaltsfahrung der Frauen Einfluss zu nehmen, indem sie ihnen Grundzage einer ,,methodischen Untemehmensfahrtmg" n~iher brachten; teils aus Diszipliniemngsgrfinden, teils, um diesen Aspekt der Existenzsicherung in den Arbeiterhaushalten zu verstfirken - und entsprechend an Lohnkosten zu sparen. Alles in allem: Familienbeziehungen und familienghnliche Beziehungen stabilisierten die dtirftigen Einkommensverh~iltnisse. Familienarbeit machte die Armut einigermagen ertrgglich.
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IV. Income Mixes aus GeldlOhnen, innerfamiligrer Umverteilung und Naturaleinkommen behielten in den westlichen Industriestaaten mr die Mehrheit der BevNkertmg bis zum Zweiten Weltkrieg ihre Bedeutung. Im langfristigen Trend nahm der Anteil von Naturaleinkommen und innerfamiligrer Arbeit zur Erg~inzung der L6hne ab, die Bedeumng yon sozialstaatlichen Leistungen nahm zu. Eine Erhebung des Kaiserlichen Statistischen Amtes aus den Jahren 1907/1908 zeigt, dass der Arbeitsverdienst des Mannes zwar der wichtigste, keineswegs abet der einzige Beitrag zum Familieneinkommen war (vgl. Wiegand 1982: 169). Noch in der Weltwirtschaftskrise spielten Gemfiseg~rten und Kaninchenzucht in den Industriegesellschaften eine bedeutende Rolle far das 12rberleben (vgl. Jahoda/Lazarsfeld/Zeisel 1975: 43). Der Beitrag sozialstaatlicher Leistungen zur Existenzsichertmg nahm dagegen nur langsam zu. In der erwghnten Erhebung des Kaiserlichen Statistischen Amtes waren staatliche Sozialtransfers als Beitrag zum Familieneinkommen bezeichnenderweise aberhaupt nicht vorgesehen (vgl. Wiegand 1982: 171). Zum einen bezogen in den ersten 50 Jahren der Entwicklung der Sozialstaaten keineswegs alle Personen sozialstaatliche Leistungen. Der Anteil der Empf~nger von Sozialleistungen an der BevOlkerung war vielmehr anfangs sehr niedrig und nahm in den ersten Jahrzehnten des Sozialstaats nur langsam zu. Noch 1930 war in den westlichen Industriestaaten nur ein relativ kleiner Tell der Besch~ftigten yon den Sozialversicherungssystemen erfasst. Die Unfallversicherungen erfassten im Durchschnitt 50,5% der ErwerbsbevNkerung, die Krankenversicherungen 46,6%, die Rentenversicherungen 44,0 % und die Arbeitslosenversicherungen 19,8% (Alber 1982:236 ff.). Zum anderen waren die Leistungen lange Zeit nicht als alleinige Quelle der Existenzsicherung, sondern nur als Zusatzeinkommen zu familialen Hilfeleistungen oder zu Naturaleinkommen gedacht. Entsprechend niedrig waren die Leistungen bemessen.
V. Nach dem zweiten Weltkrieg entwickelten sich zwei Trends parallel. Zum einen setzte ein Prozess rascher Verstgdtertmg ein. Dadurch wurde den Resten von Natural/3konomie rasch die Grundlage entzogen, und die Abh~ngigkeit von Geldeinkommen wurde total.
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,,Erst die sprunghaft voranschreitende Verst~idterung in der BRD, die auch in b~uerlichen Vororten und Landgemeinden ansteigende Bebauungsdichte im Gefolge einer anscheinend endlosen Hochkonjunktur besorgten den Zusammenbruch solider Traditionen proletarischer Existenzsicherung: Garten- und Ackerflgchen wurden umgewidmet in Bauland; stetig steigende industrielle Reall6hne bei gleichzeitig sinkenden Einnahmen aus landwirtschafllicher Produktion ver~nderten die Nutzung der noch erhalten gebliebenen Kleingartenkolonien. Sie dienten nun weniger zur Senkung der familigren Reproduktionskosten als zur Freizeitgestalmng." (Preuger 1989: 102).
Es wurden also erst jetzt atle vonder Geldgesellschaft erfasst. Zurn anderen entstand eine historische Konstellation, die sich mittlerweile als historische Sondersituation herausgestellt hat: Vollbesch~iftigung. Damit trafen zwei Entwicklungen zusammen. Die Geldgesellschaft setzte sich als Vollbeschgftigungsgesellschaft durch. Aufgrund dieser Parallelit~it war die totale Angewiesenheit auf Geldl6hne und die enge Anbindung yon Sozialleistungen an Lohnarbeit vorerst unproblematisch. Denn bei Vollbesch~iftigung fanden alle, die dies brauchten, tats~ichlich mindestens existenzsichemd entlohnte Arbeit. Mit den simultanen Vorggngen der endgaltigen Durchsetzung der Geldgesellschaft und der Vollbeschgftigung entstand also ein Problem, das auch gleich wieder gel6st war. Alle waren nun auf Geldeinkommen angewiesen, und der Arbeitsmarkt samt der daran angekoppelten Sozialpolitik versorgte alle mit Geldeinkommen. In kapitalistischen Marktwirtschaften wurde Sozialpolitik durch diverse Zugangsvoraussetzungen, insbesondere dutch den Erwerb yon Anwartschaftsrechten auf Sozialleistungen dutch abh~ingige Erwerbstgtigkeit und/oder Arbeitsbereitschaft, an Lohnarbeit angebunden. Diese Anbindung fmdet sich als strikte Nachrangigkeit des Systems sozialer Sichertmg gegent~ber dem Arbeitsmarkt - in allen kapitalistischen Marktwirtschaften, ihre Intensit~it allerdings variiert.
VI. Sozialstaatlich regulierte kapitalistische Marktwirtschaften und die sozialistischen Planwirtschaften haben gemeinsam, dass in beiden Gesellschaften abh~ngige Erwerbst~itigkeit zentrale gesellschaftliche Normalit~it ist. In kapitalistischen Marktwirtschaften ist die Teilnahme am Arbeitsmarkt, in sozialistischen Planwirtschaften die Mitgliedschaft im Betrieb der Schlt~ssel zum Zugang zu sozialstaatlichen Leistungen. Diese Leistungen wurden erst lange Zeit als integrierte Bestandteile komplexer Mitgliedschaftsrechte im sozialistischen Betrieb angesehen. Die Notwendigkeit einer eigenstgndigen Sozialpolitik wurde in sozialistischen Planwirtschaften nur z6gemd anerkannt. Jedenfalls war der 149
Betrieb die wichtigste sozialpolitische Instanz. Allerdings waren die LebensverhNtnisse in den sozialistischen Gesellschaften stets stark davon gepr~igt, dass sie nur in einem eingeschrgnkten Sinn Geldgesellschaften waren. Da Geld im Vergleich zum Kapitalismus nur reduzierte Funktionen erfiillen konnte, spielten im Alltagsleben neben dem Geld stets auch Strategien direkter Versorgung mit Naturalien, Tauschgeschafte, legale und weniger legale direkte Entnahmen aus den Betrieben eine gewisse Rolle bei der Existenzsicherung, die allerdings von Land zu Land variierten. Anders als in kapitalistischen Gesellschaften setzte sich in sozialistischen der Geldlohn als exklusive Quelle der Existenzsicherung nie ganz durch. Dazu kamen noch, aufgrtmd der relativ niedrigen L6hne und Renten, diverse Formen yon Arbeit nach der Arbeit. Insgesamt: Materielle Existenzsicherung in der Geldgesellschaft wird durch Teilnahme am Arbeitsmarkt, Mitgliedschaft im Betrieb und durch Sozialleistungen gesichert. Im wohlfahrtsstaatlich regulierten Kapitalismus hat sich die Geldwirtschafl weitgehend durchgesetzt, im Sozialismus haben sich diverse Formen yon Income Mixes erhalten. Eine wichtige Folge davon ist, dass man in den Transformationsgesellschaften mehr Erfahrungen im Umgang mit solchen Lebensbedingungen hat als im Kapitalismus. Dies wird bedeutsam, wenn sich die Lebensbedingungen auch im Kapitalismus in Richtung auf mehr Income Mixes wandeln.
VII. An dieser Stelle kOnnte man einwenden, dies sei kein historischer Trend, sondem eine politisch korrigierbare Fehlentwicklung. Aber die Vertreter der These, eine Rt~ckkehr zur Vollbesch~ftigung sei mOglich, laden sich eine beinahe untragbare Beweislast auf. Die Prognos AG hat 1996 die Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik fiir das Jahr 2010 auf2,6 Millionen geschatzt trod diese Sch~tzung 1998 auf4 Millionen nach oben revidiert (vgl. Prognos 1996; Prognos 1998). Jeder Versuch, den Abbau der Arbeitslosigkeit zum Gegenstand von politischen Abmachungen zu machen, hat mit der Schwierigkeit zu k~mpfen, dass nur die Angebotsseite, nicht aber die Nachfrageseite auf dem Arbeitsmarkt politisch steuerbar ist und somit Gegenstand von Abmachungen sein kann (vgl. Vobruba 1989:27 ff. und 75 ff.). Versuche zu einem Btindnis fiir Arbeit stehen also vor einem Dilemma: Beganstigungen der Nachfrageseite auf dem Arbeitsmarkt sind politisch relativ leicht durchsetzbar (Gewinnfordertmgen), besch~ftigungsrelevante Effekte sind damit 150
aber nur indirekt ansteuerbar, sind ungewiss und treten allenfalls sp/~ter ein. Die Angebotsseite dagegen kann man unmittelbar beschgftigungsrelevant steuem (Verknappung des Arbeitsangebots, Arbeitszeitverk~zung), die damit verbundene politische Begtinstigung der Position der Anbieter von Arbeitskraft ist aber politisch kaum durchsetzbar. Dazu kommt, dass Arbeitgeber, Arbeitgeberverb/inde, Gewerkschaften, Arbeitnehmer und Regierung h6chst unterschiedliche lnteressen an Vollbeschgftigung haben (vgl. Vobruba 1998b; Urban 1998). Einige dieser Akteure k6nnen auf einen besch~iftigungsf6rdemden Konsens viel leichter verzichten als andere - ein Umstand, der allen bekannt ist und von den nicht oder weniger Interessierten strategisch genutzt wird. Diese asymmetrischen Einigungszw~nge verstgrken das Dilemma. Kann der Staat diese Asymmetrie ausgleichen? Versteht man das Bt~ndnis far Arbeit als einen Versuch zu einem neokorporatistischen Arrangement, so wird deutlich, woran es dabei im Kern mangelt: Konstitutionsbedingung neokorporatistischer Konsense ist, dass der Staat far den Fall einer Nichteinigung glaubwOxdig mit Ersatzvornahme drohen kann. Keine noch so engagierte neokorporatistische Lrberzeugungsrhetorik (vgl. Streeck/Schmitter 1985) kann dies ersetzen. Das Problem der Erfolgschancen eines Bt~ndnisses far Arbeit 1/~sstsich daher auf die Fragen zuspitzen: Kann der Staat glaubhaft mit Ersatzvomahme drohen und das Besch~ftigungsniveau autonom politisch steuem? Oder lgsst sich zeigen, dass jenen Akteuren, die an einem Bt~ndnis far Arbeit weniger interessiert sind, aus seinem Scheitem doch erheblicher Schaden entsteht? 3 Die systematischen Probleme, vor denen ein B0ndnis far Arbeit steht, werden durch ein spezifisch sozialdemokratisches Dilemma welter verschgrft: Einerseits k6nnen sozialdemokratische Regierungen auf offensive besch/fftigungspolitische Zielsetzungen kaum verzichten. Es wgre ein lohnendes Thema intensiver Theoriearbeit, ob dies tatsgchlich so sein muss. Wie auch immer jedenfalls halten sie bisher das Besch~ftigungsthema hoch. Andererseits aber besteht die Gefahr, dass die deklarierte Verantwortlichkeit einer Regierung for einen markanten Abbau der Arbeitslosigkeit ein Verhalten der Tarifparteien ermutigt, das diesem Ziel entgegenwirkt. Scharpf (1988) hat t~berzeugend nachgewiesen, dass darin ein Grundproblem stabiler sozialdemokratischer Regierungsf~higkeit steckt: Eine besch~iffigungspolitische Faustregel k6nnte so lauten: Je klarer sich eine Regierung auf ein Beschgftigungsziel festlegt, umso gr6ger ist ihre Chance, es zu verfehlen. 3
Mit analogen Problemen haben die Versuche zu kfimpfen, neokorporatistische Arrangements auf der Europa-Ebene zu inszenieren.
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Freilich ist traditionelle Vollbeschgftigung nicht strikt unm6glich, schon deshalb nicht, weil es sie ja vor mehr als einem Vierteljahrhundert einmal gab. Aber Vollbesch~iftigung ist so unwahrscheinlich, dass dies eine Umkehr der Beweislast erzwingt: Wer heute far die Machbarkeit yon Vollbeschfiftigung argumentiert und entsprechende Vorschlgge macht, muss dies sehr sorgfgltig belegen. Wenn ich recht sehe, werden Bedenken an der Wiederherstellbarkeit yon Vollbesch~iftigung gegenw~irtig gerne ein wenig versch~mt vorgetragen. Die Rt~ckkehr zur Vollbesch~iftigung sei m6glich, aber es gehe dabei um einen neuen Typus yon Vollbeschgftigung, hOrt man. Mag sein. Aber wenn die Rede von einem neuen Typ der Vollbeschgftigung irgendeinen Sinn hat, dann den, dass es sich um einen hohen Grad an Arbeitsmarktpartizipation auf der Basis von Income Mixes handeln wird.
VIII. Die exklusive Zustgndigkeit von GeldlOhnen far die Existenzsicherung musste dutch das Ende der Vollbesch~iftigung fundamental in Frage gestellt werden. Dies geschah in den westlichen kapitalistischen Marktwirtschaften in einem schleichenden Prozess seit dem ersten Olpreisschub 1974. Es geschah in den sozialistischen Planwirtschaften nach deren AuflOsung 1989 in einem groBen Schock. Die Konsequenzen waren in beiden Ffillen gleich. Income Mixes wurden wichtiger. Zur Bew~iltigung dieser Situation k6nnen die BOrger in den ehemaligen sozialistischen Gesellschaften eher an eigene Erfahrungen anknOpfen als die in kapitalistischen Gesellschaften einget~bten. Die entscheidende Differenz der neuen Income Mixes in westlichen Industriegesellschaften gegenOber den frttheren ist, dass sie sich nun v611ig auf der Grundlage einer durchgesetzten Geldgesellschaft entwickeln. Income Mixes waren fraher gleichbedeutend mit Mischungen aus Geld- und Naturaleinkommen. Der Rt~ckweg zur Existenzsicherung durch - auch nur flankierende - Naturaleinkommen ist abgeschnitten. Hauptgrund dafar ist die weltweit rasch zunehmende Verstgdtertmg. Dieser Faktor bewirkt weltweit, in den ngchsten Jahr= zehnten aber vor allem in der Dritten Welt, dass die MOglichkeiten direkter Versorgung verloren gehen. Im Jahr 2025 wird mehr als die Hglfte der WeltbevOlkerung in Millionenstgdten leben, die grOBten werden die der Dritten Welt sein. Die Verst~dterung gemeinsam mit dem Verlust an einfachen Kenntnissen t~ber agrarische Produktion macht immer gr6Bere Teile der Weltbev6lkerung yon Geldeinkommen abhfingig. Zugleich ist vOllig ausgeschlossen, dass diese 152
Angewiesenheit auf Geldeinkommen ihre L6sung in einer Art Vollbesch~iftigung im WeltmaBstab finden wird, analog der historischen Situation in westlichen Industriestaaten nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Die weltweite Arbeitslosigkeit wird gegenw~irtig auf 800 Millionen Menschen gesch~itzt. Sie steigt in der Tendenz. Income Mixes jeder Art w~iren also wichtiger denn je. Aber in Zukunft kann es sich bei Income Mixes zunehrnend nur mehr um Mischungen zwischen verschiedenen Arten von Geldeinkommen handeln. Ich konzentriere mich irn Folgenden auf die Entwicklung aul3erhalb der Dritten Welt (vgl. dazu Kappel 1996).
IX. (1) Die Expansion der sozialstaatlichen Zust~indigkeiten und der sozialpolitischen Probleme hat dazu gefdhrt, dass gegenwfirtig in den sozialstaatlich regulierten kapitalistischen Gesellschaften bis zu 50% der Bev61kerung in irgendeiner Form sozialstaatliche Leistungen beziehen. Innerhalb dieser generellen Expansion nehmen die Einkommen zu, die sich aus L6hnen und Sozialleistungen zusammensetzen. Freilich sind in allen Sozialstaaten Kombinationen von Einkommen aus abhfingiger Erwerbst~itigkeit und Sozialleistungen nur begrenzt mOglich. Insbesondere zwischen L6hnen und Lohnersatzleistungen besteht tiberwiegend ein Verh~ilmis wechselseitiger Ausschliel3ung. Angesichts der Ausbreitung yon ,,working poor" und der Entwicklung gr613er werdender Gruppen von Dauerbeziehem yon Lohnersatzleistungen l~isst sich diese wechselseitige Ausschliel3ung in der Praxis aber immer weniger durchsetzen. ,,Ich denke auch, man hat irgendwie M6glichkeiten, die Sozialhilfe aufzustocken." Diese Einschatzung einer Bezieherin von Sozialhilfe (zit. nach Buhr 1995: 188) ist angesichts der Informalisierungstendenzen auf dem Arbeitsmarkt zukunftsweisend. Allerdings sind die Praktiken, solche Income Mixes aus Sozialtransfers und Arbeitseinkommen herzustellen, jenseits geringffigiger Arbeitseinkommen in den meisten Staaten illegal. Die Alternative: Ganz vom Lohn oder ganz von Lohnersatzleistungen zu leben, ergibt sich daraus, dass institutionell immer noch daran festgehalten wird, dass Arbeitseinkommen stets zur Existenzsicherung reichen. Auf der Kritik an dieser traditionellen Annahme basieren alle Vorschl~ige, die Kombinationsm6glichkeiten von Arbeits- und Sozialtransfereinkommen, also eine negative Einkommensteuer, empfehlen. Dabei handelt es sich um ein wichtiges arbeitsmarkt- und sozialpolitisches Projekt, das allerdings meist falsch beg~ndet wird. Die iJbliche Begrtindung lautet: Durch den Einfluss der 153
Gewerkschaften und des Sozialstaats gibt es De-facto-MindestlOhne. Diese Mindestl6hne verhindern Besch~iftigung entweder, weil diese De-facto-Mindest16hne fiber dem liegen, was Unternehmen ftir niedrig produktive Arbeitskr~ifte aufwenden k6nnen, oder weil sich far Arbeitskr~ifte, die einen Lohn zu erwarten haben, dernur geringfagig fiber dem Sozialleistungsniveau liegt, die Aufnahme einer regulgren Arbeit nicht lohnt. Sie bleiben in der Armutsfalle sitzen. In Wirklichkeit stehen beide Problemdiagnosen empirisch auf schwachen Beinen. Tats~ichlich wird in erheblichem Umfang zu L6hnen unter der Sozialhilfeschwelle gearbeitet (vgl. Gebauer/Vobruba 1999). Den Niedriglohnsektor, der mittels einer negativen Einkommensteuer hergestellt werden soll, gibt es also schon. Zur Diskussion kann freilich stehen, ob er mit einer negativen Einkommensteuer nicht sozialvertr~iglicher gestaltet werden k~nnte. Zweitens kann keine Rede davon sein, dass die meisten Sozialhilfebezieher auf Dauer in der Armutsfalle sitzen bleiben. Die fiberwiegende Mehrheit Arbeitsf~ihiger verl~isst die Sozialhilfe nach relativ kurzem Bezug wieder (vgl. Buhr 1995). Das freiwillige, wenngleich langfristig selbstschgdigende Verharren in der Armutsfalle ist schon deshalb sehr selten, weil Sozialhilfebezug und Arbeitsaufiaahme ja keineswegs gleichwertig w~ihlbare Mtiglichkeiten sind. Genau dadurch wird auch verhindert, dass Sozialhilfe einen Mindestlohn absichern kann. Auch daflir mtisste man bei niedrig entlohnten T~itigkeiten einfach in die Sozialhilfe ausweichen k6nnen. Die Nachrangigkeit des Sozialhilfebezugs ist jedoch rechtlich eindeutig geregelt trod wird durch Kontrollen der Bezieher saint administrativen Hilfestellungen und N(itigungen zur Arbeitsautiaahme weitgehend sichergestellt. Wenn Mainstream-13konomen Lohneinkommen und Sozialhilfe als w~ihlbare Alternativen ansehen (vgl. z.B. Siebert 1994), sind ihnen die restriktiven Bezugsbedingungen der Sozialhilfegesetzgebung und die Kontrollt~itigkeit der Sozial~imter entweder unbekannt oder sie gehen ohne jede empirische Information yon ihrer vtilligen Unwirksamkeit aus. Die These vonder einfachen Substituierbarkeit von Niedrigl6hnen durch Sozialhilfe offenbart also entweder schlichte Uninformiertheit oder einen irritierend sorglosen Umgang mit tier Wirklichkeit. 4 Trotzdem ist die gegenwartig gegebene Unvereinbarkeit yon Arbeitseinkommen und Sozialleistungen ein Problem, so dass Reformvorschl~ige in Richtung einer negativen Einkommensteuer durchaus wichtig sind. Denn Arbeit im unteren Einkommensbereich muss ja tats~ichlich aufgenommen werden, auch wenn sich das materiell kaum lohnt. Die Orientierung auf den Arbeitsmarkt hin muss also statt durch 6konomische Anreize durch administrativen Zwang erfolgen. 4
Informationen dazu bei Breuer/Engels ( 1994); Ganl3mann/Haas(1996); Andre• (1999).
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Das ist umst~indlich, kostspielig, verletzt Gerechtigkeitsgeftihle und setzt jene, die unter diesen Nachteilen ohnehin schon zu leiden haben, der tibten Nachrede durch Mainstream-Okonomen und die von ihnen inspirierten Stammtische aus. (2) Kombinationen von Arbeitseinkommen und Kapitaleinkommen sind rechtlich unproblematisch. Tats~chlich fmdet sich eine ztmehmende Anzahl von Menschen, die neben dem Arbeitseinkommen mehr oder weniger bedeutende Kapitaleinkommen erzielen. Zur Entwicklung zwischen 1979 und 1995: ,,Ftir alle sozialen Gruppen gilt gleichermal3en, dass sich die Verm/3genseinkommen in einem st~irkeren Ausmaf3 erh6ht haben als ihre gesamten ver~gbaren Einkommen." (Faik/Schlomann 1997: 92, 93) 1995 bezogen unterschiedliche Haushaltstypen Verm6genseinkommen in folgender H6he (in DM): Selbst~indige 19.900, Pension~ire 7.000, Angestellte und Beamte 5.500, Rentner 4.700, Arbeiter 3.100 und Arbeitslose 1.200 DM (vgl. Faik/Schlomann 1997: 94). Man kann dies auch aus dem langfristig immer weiteren Auseinanderdriften von funktioneller und personeller Einkommensverteilung ablesen: Die den beiden Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital jeweils zugerechneten Einkommensarten, Lohn und Gewinn, lassen sich immer weniger zwei ebenso klar abgrenzbaren BevNkerungsgruppen (abh~ingigen Erwerbst~tigen und Untemehmern) zurechnen. Freilich handelt es sich bei den Mischformen von Ltihnen und Gewinneinkommen tiberwiegend um ein Mittelschichtph~inomen. Hier zeigt sich ein destruktiver Zug des Subsidiarit~itsprinzips in der Sozialpolitik. Eigenes Verm/Sgen muss vorrangig vor dem Bezug yon Sozialhilfe (H1U) zur Sicherung des eigenen Lebenstmterhalts herangezogen und verbraucht werden. Das rigide gehandhabte Subsidiarit~itsprinzip scheint da~r verantwortlich zu sein, dass sich zwischen 1985 und 1995 in der Bundesrepublik (alt) bzw. in den neuen Bundeslandern ,,der Verm6gensbesitz unterhalb der Armutsgrenze signifikant verringert und der Verm~gensbesitz bei Einkommensreichtum ebenfalls signifikant erh/Sht (hat)." (Krause, Wagner 1997: 85) Die Nicht-Kombinierbarkeit der Einkommensquellen Kapital und Sozialstaat zerst6rt Selbsthilfepotentiale und erzeugt Armut. Als gesellschaftspolitisches Programm ist die Geschichte der Zulassung von Mischformen von Arbeits- und Kapitaleinkommen eine lange Misserfolgsgeschichte. Alle Ans~itze zur systematischen Realisiertmg yon Investivlohnkonzepten sind gescheitert. Zuletzt wurden in der Folge der deutschen Wiedervereinigung alle einschl~igigen M6glichkeiten verschenkt.
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X. Far westliche Industriegesellschaften bedeutet die Ausbreitung von Income Mixes einen fundamentalen Wandel. Die neuen Reformstaaten Mittel- und Osteuropas scheinen auf diese Entwicklung besser vorbereitet zu sein. Das liegt daran, dass Income Mixes hier nicht wirklich neu sind. Im Jahre 1994 antworteten auf die Frage: ,,Verdienen Sic in Ihrem regul~iren Beruf genug, um damit Ihren Lebensunterhalt bestreiten zu k6nnen?" mit ,,Ja": 58% in Tschechien und Slowenien, 43% in Polen, 34% in Ungarn, 24% in Bulgarien und 17% in der Ukraine (Neue Demokratien Barometer 1995: 74). Strategien zur fmanziellen Aufbesserung des Einkommens werden in den Reforrnstaaten Mittel- und Osteuropas im Durchschnitt in der folgenden Reihenfolge als wichtig genannt: 1. Einkommen aus dem ersten Beruf, 2. Herstellung yon Lebensmitteln far den eigenen Gebrauch, 3. Eink~Jnfte aus Pension/Arbeitslosenuntersttitzung, 4. Haus/Wohnung selber bauen/reparieren, 5. Einkommen aus einem zweiten Beruf, 6. Geld, das man nebenbei bekommt, 7. Hilfe yon Freunden und Verwandten, 8. Firmenleistungen, 9. Beziehtmgen, 10. Devisen (Neue Demokratien Barometer III 1995:77 ff.). An dieser Reihenfolge shad folgende Aspekte bemerkenswert: Naturalwirtschaftliche Aktivit~iten stehen an zweiter und vierter Stelle, zus~itzliche Geldeinkommen an dritter und fanfter Stelle. Beziehungen zu Handwerkern, eine entscheidende Ressource der Existenzsicherung im Sozialismus, haben mit der Transformation deutlich an Bedeutung verloren (vgl. Mtihler 1998: 166). Je welter man sich vonder 6konomisch leistungsstarken Mitte Europas entfernt, umso gr613er wird der Anteil von Naturalien an den Income Mixes. Die russischen Bergarbeiter wgren ohne ihre Gemtiseg~irten l~ingst verhungert. Generell triffl zu, dass for die Existenzsicherung in den Transformationsgesellschaften sowohl Income Mixes zwischen Natural- und Geldeinkommen als auch zwischen unterschiedlichen Arten yon Geldeinkommen eine wichtige Rolle spielen. Infolge der zunehmenden Durchsetzung der Geldgesellschafl werden sich die gegenw~irtigen Income Mixes in den Transformationsgesellschaften auf die Dauer nicht halten. Damit stellt sich die Frage, ob entsprechende Geldeinkommen an ihre Stelle treten werden. Der fltichendeckende Ersatz der Naturaleinkommen durch L6hne wOrde Vollbesch~ifligung in Normalarbeitsverh~ilmissen bedeuten. Das ist in den Transformationsgesellschaften mindestens ebenso unwahrscheinlich wie in den westlichen Industriegesellschaften. Die Ausbreitung von Eigenarbeit und kleinunternehmerischen Aktivit~iten wird einen zunehrnen156
den Teil der Existenzsicherung im Rahmen von monet~iren Income Mixes tibernehmen. Aber dem sind relativ enge Grenzen gesetzt. Denn die Verst~irkung des Anteils sozialstaatlicher Leistungen an den Income Mixes hat volkswirtschaftlichen Erfolg und politisch organisierbaren sozialen Druck zur Voraussetzung. Wenn aber die Transformationsgesellschaften in monet~ire Income Mixes hineinwachsen, dann brauchen sie Systeme sozialer Sicherung, deren Leistungen mit dem Bezug anderer Einkommen kombinierbar sind. Das Interesse an einem garantierten Grundeinkommen in Transformationsgesellschaften (vgl. G~ics 1991; Gankowa 1994) ist daher nicht so weit hergeholt, wie es auf den ersten Blick vielleicht scheint.
XI. Angenommen, Income Mixes werden zur neuen Normalit~it - was sind die Folgen? Eine wichtige Folge ist, dass die offizietlen Arbeitslosenzahlen ihre - ohnehin begrenzte - Aussagekraft verlieren. Warum? FOr die Erfindung von Arbeitslosenstatistiken war die Ausbildung einer trennscharfen Unterscheidung von Arbeit und Arbeitslosigkeit entscheidend. Die in Arbeitslosenstatistiken ausgewiesenen Zahlen k6nnen nur dann als Indikatoren eines sozialen Problems gelten, wenn man davon ausgehen kann, dass Arbeitslose eindeutig ohne Arbeit und Einkommen sind. Mit der Entwicklung yon Income Mixes wird die Unterscheidung von Arbeit und Arbeitslosigkeit unscharf (vgl. Waiters 1996). Daran kann man die Ambivalenz yon Income Mixes erkennen. Einerseits ist der Verlust einer Einkommensquelle nicht mehr so schlimm, wenn man mehrere Einkommensquellen zur Ver~gung hat. Insofern stellen Income Mixes eine Art Risikostreuung dar. Andererseits aber kann genau daraus der Verdacht entstehen, dass Arbeitslose keineswegs bedOrftig sind, dass sie sich immer irgendwie selbst helfen k6nnen. Selbstverst~indlich wird standardisierte Normalarbeit nicht v~llig verschwinden. Sie wird zum Privileg einer Minderheit. Was aber passiert mit der Mehrheir? Den Lebensunterhalt aus Income Mixes zu bestreiten, birgt Chancen und Gefahren. Es ist eine Gratwanderung. Ob die Chancen oder die Gefahren tiberwiegen, h~ingt yon der individuellen Situation und von den institutionellen Rahmenbedingungen ab. Far die individuelle Lebensqualitat ist der Zeitaufwand mr die Nutzung der unterschiedlichen Einkommensquellen entscheidend. Ist man zur Erzielung 157
eines ausreichenden Einkommens auf mehrere Jobs angewiesen, so ist der Arbeitnehmer den Zw~ingen des Arbeitsmarkts vollst/~ndig ausgeliefert. Ist man dagegen in der Lage, Arbeitseinkommen mit Gewirmeinkommen und/oder Sozialtransfers zu kombinieren, kann dies zu Autonomiegewinnen ft~hren. Denn Gewinneinkommen und Sozialtransfers erfordern einen geringeren Zeitaufwand. Allerdings hgngt es weit stgrker yon den institutionellen Rahmenbedingungen als vom einzelnen ab, aus welchen Einkommensquellen Income Mixes gebildet werden k6nnen. Ob Income Mixes eher Chancen oder eher Gefahren enthalten, h~ingt davon ab, aus welchen Einkommensquellen sie zusammengesetzt shad; insbesondere davon, wie zeitaufwendig es ist, Einkommen aus unterschiedlichen Quellen zu erzielen. Income Mixes mit einem erheblichen Anteil an Kapitalertr~igen und Sozialtransfers erfordern weniger Zeitaufwand als Income Mixes aus mehreren Arbeitseinkommen. Erstere repr~isentieren also eher die Chancen, letztere die Gefahren der neuen Normalit~it von Arbeit und Einkommen. Der Zugang zu Kapitalertr~igenund Sozialtransfers ergibt sich aber nicht yon selbst, sondern muss durch eine angemessene Verm6gens- und Sozialpolitik er6ffnet werden. Das sind die institutionellen Rahmenbedingungen von Income Mixes. Income Mixes werden in jedem Fall die neue Normalit~it von Arbeit und Einkommen. Es geht darum, politisch die institutionellen Rahmenbedingungen daffir zu schaffen, dass diese Entwicklung mehr Chancen als Gefahren birgt und dass die Kombinationen unterschiedlicher Einkommensarten, die die Bt~rger l~ingst praktizieren, legalisiert werden.
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Mit dieser Prognose ~ber die Aussichten der zweiten rot-griinen Bundesregierung (2002-2005) verfolgte ich zwei Absichten. Zum einen ging es datum, die politisehen Kosten des Festhaltens am VollbeschLiftigungspostulat zu untersuchen. Zum anderen habe ich versucht, das Argument so zu formulieren, dass das Interesse der politischen Akteure an ihrer Selbsterhaltung zum Abbau ihrer Lernresistenz in Fragen yon Beseh~iftigung und sozialer Sieherheit mobilisiert wird.
Politik in der Besch~iftigungsfalle
Die sozialdemokratisch-grttne Regierung wird an ihren selbstgesteckten Besch~iftigungszielen scheitern. Das ist absehbar. Schon die CDU/FDP-Regierung konnte ihr damaliges Versprechen, die Arbeitslosigkeit zu halbieren, nicht einl/5sen. Ohne die akute Flutkatastrophe und den sich abzeichnenden Irakkrieg hatte der besch~ifiigungspolitische Misserfolg auch Gerhard SchrOder das Amt gekostet. Nun bereitet das Kabinett Schr/Sder II sein endgfiltiges Scheitern vor: Zwecks Abbau von Arbeitslosigkeit setzt man auf den organisatorischen Umbau der Bundesanstalt far Arbeit und auf den Abbau sozialstaatlicher Leisttmgen. So gut wie alle angekfindigten Mal3nahmen laufen aufh6here Effizienz der Arbeitsvermittlung und Erh/Shung des Angebotsdrucks (,,bessere Vermittelbarkeit"), also auf zus~itzlichen Druck auf die Arbeitsvermittler und auf die Arbeitslosen, hinaus. All diese MafSnahmen ftihren nicht zur Vermehrung der Zahl an verfagbaren Arbeitspl~itzen, sondern allenfalls dazu, dass Arbeitspl~itze, die bisher abseits der offiziellen Arbeitsvermittlung besetzt wurden, nun fiber die Arbeits~imter verrnittelt werden. Dagegen sind die besch~iftigungspolitischen Ziele hoch gesteckt: ,,Wir wollen das Ziel nicht aufgeben, dass jeder, der arbeiten kann und will, dazu auch die M6glichkeit bekomrnt." (Schrtider 2003:617) Das bedeutet nicht weniger als den Abbau aller unfreiwilligen Arbeitslosigkeit, also Vollbesch~iftigung in einem sehr anspruchsvollen Sinn. Die Hartz-Kommission spricht explizit vom ,,Ziel der Vollbesch~iftigung", zugleich von ,,mehr als fttnf Millionen arbeitssuchenden Menschen" und h~ilt das ,,Ziel, in den n~ichsten drei Jahren 2 Millionen Arbeitslose in Lohn und Brot zu bringen", far ehrgeizig aber realistisch (Hartz-Kommission 2002: 32). Die rot-grfine Regiertmg hat sich damit in eine Situation hineinman6vriert, in der sie nur verlieren kann. Entweder, der Abbau sozialstaatlicher Leistungen gelingt in nennenswertem Umfang. Dann ist Entt~iuschung programmiert, denn dies wird zu keinem Abbau von Arbeitslosigkeit ffihren. Oder der Abbau sozialstaatlicher Leistungen gelingt nicht. Dann wird man der Regierung vorwerfen, zu grundlegenden Reformen nicht in der Lage zu sein. 163
Liegt die beschgftigungspolitische Misere an der politischen Unf~ihigkeit einzelner politischer Akteure, Politiker oder Parteien? Oder handelt es sich systematisch um ein hoffimngsloses Projekt? Jagt die Arbeitsmarkt- und Besch~iftigungspolitik seit Jahrzehnten einer Chimgre nach? Und was folgt aus diesem gigantischen Missverh~ltnis von besch~iftigungspolitischem Wollen und besch~ftigungspolitischem K6nnen? Die gegenw~rtige Politik wird der Beschgftigung nicht nfitzen, der sozialen Sicherung aber schaden. Das ist schlimm genug, das entscheidende Problem liegt jedoch anderswo. Ich will, jenseits der panischen ,,wir-mfissen-es-packen"Rhetorik, einige systematische Argumente dafar sammeln, dass die bedingungslose Fixierung auf ,,Arbeit, Arbeit, Arbeit" Politik still legt. Politik wird dann undurchfuhrbar, sobald irgendwie auch nur der Verdacht aufkommt, sie geffihrde Arbeitsplgtze. Und je gr6ger die Differenz zwischen besch~iftigungspolitischer Selbstverpflichtung und beschgftigungspolitischen M6glichkeiten, urnso wirkungsvoller das Blockadepotential des Vorwurfs, ein politisches Projekt koste irgendwelche Arbeitsplfitze. Politik steckt in der ,,Besch~iffigungsfalle" (vgl. Nissen 1993).
1. Warum ist Arbeitslosigkeit ein Problem?
Vollbesch~ftigung weltweit hat es nie gegeben. Im industriekapitalistischen Westen sind Vollbesch~ftigungsphasen historische Ausnahmesituationen. Seit t~ber einem Viertel Jahrhundert ist die letzte Vollbeschgftigungsphase vorbei. Arbeitslosigkeit hat sich als gesellschaftlicher Dauerzustand etabliert. Warum ist Arbeitslosigkeit ein Problem? Die t~bliche Antwort lautet: Arbeitslosigkeit ist ein Problem, weil der Verlust des eigenen Arbeitsplatzes ein Problem ist. Warum aber ist der Verlust des eigenen Arbeitsplatzes ein Problem? Eine gelfiufige Antwort lautet, dass Arbeitslosigkeit die individuelle Selbstverwirklichung durch Arbeit verwehrt. Systematisch beruht diese Antwort auf einer Verwechslung zweier Arbeitsbegriffe durch die Vermischung zweier Diskurse: In der Perspektive der philosophischen Anthropologie ist Arbeit tgtige Auseinandersetzung mit und Aneignung der Umwelt insgesamt. Sie erscheint in diesem grundlegenden Verst~ndnis als conditio humana. Dieser abstrakte Arbeitsbegriff kann aber nicht umstandslos auf konkrete gesellschaftliche Verh~iltnisse abertragen werden. Es gibt sowohl Tgtigkeiten, die ein hohes Mal3 an Zufriedenheit bringen als auch solehe, die ein hohes Mal3 an Arbeitsleid verursachen, Ob Arbeit konkret eher Leid oder eher Freude bereitet, hgngt vom 164
jeweiligen Fall ab und ist letztlich nur von den Betroffenen selbst zu beantworten. Aus politischer oder sozialwissenschaftlicher Beobachtungsperspektive solle man sich mit pathetischen Sinnzuschreibungen zu Arbeit zurtickhalten: Gemessen an den konkreten Arbeitsinhalten und Arbeitsbedingungen ist das Argument der Selbstverwirklichung durch Arbeit in vielen FNlen nicht nur unplausibel, sondern geradezu zynisch. Eine weitere Antwort lautet, dass Arbeitslosigkeit ein 13bel ist, well sie vieler Menschen einzige Einkommensquelle zerst6rt. Aber zum einen stimmt das Argument empirisch nicht. In Wohlfahrtsstaaten ist abh~ingige Erwerbst~itigkeit keineswegs die einzige Einkommensquelle. In der Regel kommen Sozialleistungen und in manchen Fallen Kapitalertr~ige in nicht unerheblichem Umfang dazu. Und zum anderen verfehlt das Argument in einer merkwfirdigen Weise sein eigentliches Ziel: Denn wer die Einkommenseinbugen betont, welche Arbeitslosigkeit verursacht, konzediert damit ja, dass es den Arbeitslosen nicht an Arbeit sondern an Einkommen mangelt (vgl. Spahn 1980). Dennoch steckt hier, bei der VerknOpfung von Arbeit und Einkommen, der Kern des Problems des Arbeitsplatzverlusts. Die dritte, am ehesten angemessene, Antwort lautet: Bezahlte Arbeit hat in der modemen, monetarisierten Gesellschaft eine eigenttimlich hervorgehobene soziale Qualit~it. Die geldwerte Nachfrage nach Arbeitskraft ist die gesellschaftliche Anerkennung ihrer Ntitzlichkeit. Entlohnte Arbeit schafft auf eine unproblematische Weise Anschlfisse an die Gesellschaft, erschliefSt Kommunikationsund Kooperationsm6glichkeiten. Sie tr~igt damit erheblich zur Definition der gesellschaftlichen Stellung trod Anerkennung ihres Tr~igers bei. Solche Chancen stellen neben der Entlohnung durchaus ein eigenst~indiges Motiv dar, Arbeit aufzunehmen. Das ist empirisch gut dokumentiert (vgl. Gebauer 2002). Selbstverst~indlich ist abhgngige Erwerbst~itigkeit nicht die einzige Quelle gesellschaftlicher Anerkennung. Abet die Anerkennung anderer Tatigkeitsformen erfordert bezeichnender Weise einen viel h6heren Begrandungsaufwand, muss tells an die gesellschaftliche Wertsch~itzung bezahlter Arbeit angepasst, teils gegen sie durchgesetzt werden, und ist nicht annghernd so stabil. Insbesondere ihre institutionelle Anerkennung, vor allem also ihre Verkntipfung mit sozialpolitischen Leisttmgen, kommt nur z~ih voran. Das lehrt der ebenso lange wie breite Diskurs tiber den Wert und die sozialpolitische Absicherung von Hausarbeit, Erziehungst~itigkeit, Pfleget~itigkeit. Unsere Gesellschaft ist tats~ichlich in dem Sinn eine ,,Arbeitsgesellschaft", dass abhangige Erwerbst~itigkeit erst einmal die Vermutung der gesellschaftlich anerkannten Ntitzlichkeit far sich hat. Unsere Gesellschaft ist eine ,,Vollbe165
sch~iftigungsgesellschaft" (vgl. Vobruba 2000) in dem Sinn, dass Vollbesch~ftigung als eine allgemein formulierte Normalitgtsvorstellung hochgehalten wird und dass wichtige gesellschaftliche Institutionen, vor allem das System sozialer Sicherung, auf Vollbesch~ftigung als Normalfall aufbauen. All das reicht durchaus, um in Arbeitslosigkeit ein ganz erhebliches Problem zu sehen. Man sollte also meinen, dass Vollbesch~ftigung wieder zu erreichen ein vordringliches politisches Ziel ist. Aber so einfach ist es nicht. Wer will den Abbau der Arbeitslosigkeit oder gar Vollbeschgffigung? Dies ist die Frage nach den Interessen der relevanten Akteure an beschfiftigungspolitischen Erfolgen und nach den Kosten, die mit Besch~ftigungspolitik verbunden sind. Im Prinzip sind zwei beschfiftigungspolitische Strategien denkbar. Zum einen kann man versuchen, mehr Beschfiftigung durch Steigerung der Nachfrage zu erreichen. Diese Strategie birgt- jedenfalls der allgemeinen Auffassung nach - d a s Risiko von Inflation. Inflation geht zu Lasten der Besitzer von GeldvermOgen, insbesondere der Besitzer von kleinen Geldverm6gen, also zu Lasten von Sparern. Denn anders als grol3e Kapitaleigner verfiigen Sparer kaum ~iber M6glichkeiten, ihr Geld vor inflationgren Tendenzen zu scht~tzen. Dazu kommt, dass Besitz kleiner Geldverm6gen sehr weit verbreitet ist, die Zahl derer, welche die Kosten einer nachffageseitig ansetzenden Beschgftigungsstrategie zu tragen hfitten, also sehr grog ist. Speziell in der Bundesrepublik m6gen die historischen Traumata mehrerer Hyperinflationen im 20. Jahrhundert die kompromisslose Hochschfitzung von Geldwertstabilitfit noch festigen. Zum anderen kann man versuchen, die Beschgffigung durch Verbilligung des Angebots an Arbeitskr~iften zu steigern. Diese Strategien gehen nur unter der folgenden Bedingung nicht zu Lasten der Erwerbstgtigen: Es muss gelingen, Arbeitslose zu niedrigen L6hnen zu beschgftigen, die L6hne der bereits Besch~iftigten aber stabil zu halten. Es ist jedoch sehr unwahrscheinlich, dass eine solche Arbeitsmarktkonstellation stabil wfire. Denn sobald Unternehmen beginnen, teurere Besch~ftigte gegen billigere Besch~ftigungssuchende auszutauschen, droht das Lohnniveau insgesamt unter Druck zu geraten. Das ist das Grundproblem aller Strategien, die mehr Beschgftigung durch Ausbau eines Niedriglohnsektors erreichen wollen. Die Beschgftigten haben also guten Grund, sich als Tr~ger der Kosten einer angebotsorientierten Besch~ftigungsstrategie zu sehen. Zur Frage, ob eine nachfrage- oder eine angebotsorientierte Strategie eher Besch~ftigungserfolge verspricht, gibt es unterschiedliche 6konomische Lehrmeinungen. Der Streit t~berfordert die Wirtschaftswissenschaften jedenfalls in 166
dem Sinn, dass er mit wirtschaftswissenschafllichen Mitteln nicht entscheidbar zu sein scheint. Nimmt man dies hin und billigt beiden Strategien gewisse Erfolgschancen zu, so k6nnte das Problem gerade darin bestehen, dass es zwei Erfolg versprechende Besch~ifligungsstrategien gibt. Problematisch ist dies deshalb, weil sie unterschiedlichen Trggern Kosten verursachen und daher unterschiedliche Interessen involvieren. Wenn beide - nachfrageseitige und angebotsseitige - Beschgftigungsstrategien auch in ihrem Ziel konvergieren, so sind sie doch nicht kombinierbar. Vielmehr evozieren sie h6chst unterschiedliche Interessenkonstellationen, welche sich politisch gegeneinander richten. Es ist also durchaus fraglich, ob ein nennenswerter Abbau der Arbeitslosigkeit oder gar Vollbesch~iftigung tatsgchlich ein politisches Ziel ist. Arbeitslos zu sein, wird in der 6ffentlichen Diskussion als Benachteitigung, m6glicherweise sogar als Notlage bezeichnet. Daraus wird dann unmittelbar der Schluss gezogen, dass die Wiederherstellung yon Vollbeschgfligung allen - oder doch: allen Gutwilligen - in der Gesellschaft ein Anliegen sein mfisse. Auf dieser Grundlage etwa kommt die Hartz-Kommission zu ihrem irritierend naiven Aufruf an alle ,,Profis der Nation" (Hartz-Kommission 2002: 284), an der Wiederherstellung yon Vollbeschfifligung mitzuwirken. Warum sind solche Anstrengungen so naiv? Die Wiederherstellung von Vollbesch~ftigung - gesetzt den Fall sie write irgendwie in Reichweite - warde nicht nur eine Ffille an individuellen Benachteiligungen beseitigen, sondern auch die Machtverh~iltnisse zwischen Nachfragern und Anbietern auf dem Arbeitsmarkt entscheidend vergndern. Diese zentrale politische Implikation yon Vollbesch~iftigung hat schon Michal Kalecki (1974) in seinem berahmten Aufsatz yon 1943 als Hinderungsgrund ~ r eine effektive Vollbeschgftigungspolitik analysiert. Die Kosten, die sich aus der St~irkung der Anbieterposition auf dem Arbeitsmarkt ergeben, werden auf zwei Ebenen sparbar. Auf der Ebene des einzelnen Betriebs fiele mit Vollbesch~ifligung die Wirkung der Drohung yon Arbeitslosigkeit auf die Arbeitsdisziplin, auf der volkswirtschafllichen Ebene die Wirkung auf die Lohndisziplin aus. Beide Effekte gehen zu Lasten der Unternehmen. Abbau der Arbeitslosigkeit ist also keineswegs ein unumstrittenes gesellschaftliches Ziel. Denn man sieht, dass nicht nur die Verfolgung, sondern auch die Erreichung des Ziels Vollbeschgfligung nicht nur mit Nutzen, sondern auch mit Kosten verbunden ist. Wenn das so ist, dann muss es unterschiedliche Interessenpositionen geben, die auf die Formulierung und Implementierung yon Besch~ifligungspolitik wirken. Um die Chancen einer effektiven Besch~iftigungspolitik realistisch einzusch~itzen, muss man sich yon allgemeinen und 167
unverbindlichen Bekennmissen 16sen und danach fragen, auf welche Interessen in der Gesellschaft sich Vollbeschgftigungspolitik tatsgchlich s~tzen k6nnte. Wie sehen diese Interessenpositionen aus? Um dieser Frage ngher zu kommen, versuche ich, Interessenpositionen der relevanten Akteure so zu rekonstruieren, wie sie sich aus ihrer Stellung im/Skonomischen Funktionszusammenhang ergeben. Ich statze mich dabei auf einschl~igige Vorarbeiten und Diskussionsbeitr~ige (vgl. Urban 1998; Vobruba 2000; Bleses/Vetterlein 2002).
2. Wer will Vollbesch~iftigung? Wer also will, ,,dass jeder, der arbeiten kann und will, dazu auch die MOglichkeit bekommt"? Wer will Vollbeschgftigung? Kapitaleigner kOnnen an Vollbeschfiftigung nicht interessiert sein. Vollbesch~iftigung st~irkt, wie schon gesagt, die Position der Anbieter auf dem Arbeitsmarkt und ist darum lohnkostensteigernd, sie ruft Inflationssorgen wach und l~isst zinssteigemde Mal3nahmen yon Notenbanken beRirchten. Das Interesse der Untemehmen an Vollbesch~ftigung ist gespalten. Einerseits mt~ssen sie die kostentreibenden und disziplinsenkenden Wirkungen yon Vollbesch~iftigung ebenso ftirchten wie die Kapitaleigner. Andererseits sind ihre Interessen viel st~irker an 6rtliche Gegebenheiten gebunden als die Interessen der Kapitaleigner. Unternehmen mt~ssen daher als Produzenten an einem ausreichenden Mag an sozialer Ordnung vor Ort interessiert sein. An Arbeitslosigkeit in einem AusmaB, das zu instabilen sozialen Verh~ltnissen fahrt, sind sie jedenfalls nicht interessiert. Untemehmerverbgnde sind als politische Akteure daran interessiert, dass ,,Vollbesch~iftigung" als gesellschaftliches Ziel anerkannt bleibt. Untemehmerverb~inde haben ein Interesse am Abbau der Arbeitslosigkeit, aber nicht bis zu Vollbesch~iftigung. Einerseits darf das Ziel im 6ffentlichen Diskurs nicht ins Illusorische abgleiten mit der Gefahr, dass es aufgegeben wird. Andererseits aber ist es far die Durchsetzbarkeit ihrer Interessen am ganstigsten, wenn eine gewisse Differenz zwischen besch~iftigungspolitischem Ziel trod realer Besch~fiigungssituation erhalten bleibt. Denn gerade aus uneingelOsten (uneinl6sbaren) besch~iftigungspolitischen Versprechen ergeben sich far Untemehmensverbfinde gute Durchsetzungschancen in diversen gesellschaftlichen Konfliktfeldern, der Umwelt- und Technologiepolitik, der Verkehrs- und der Energiepolitik etc. Das sieht man gerade an solchen F~llen, in denen selbst marginale politische Vergnderungen an der Drohung yon Arbeitsplatzverlusten zu scheitern zu drohen: Streichungen von Eigenheimzulagen oder die Besteu168
erung der Nutzung von Dienstwagen. Genau die Differenz zwischen beschgftigungspolitischen Zielsetzungen und tats~ichlicher Besch~iftigungssituation ist eine komfortable Grundlage untemehmerischer Interessenpolitik. Die Gewerkschaften haben ein deutliches Interesse, dass Arbeitslosigkeit bis hin zu Vollbesch~ftigung abgebaut wird. Allerdings ist dieses Interesse nicht so eindeutig, wie man auf den ersten Blick vielleicht annimmt. Hier spielt die oben eingefahrte Unterscheidung zwischen der Herstellung yon Vollbeschtiftigung und Vollbesch~iftigung selbst eine besondere Rolle. Vollbeschgftigung als Zustand ist den Interessen der Gewerkschaften als Organisationen und den Interessen ihrer Mitglieder eindeutig f6rderlich. Dazu ein historisches Statement des Sachversttindigenrats, bekanntlich eine tiber den Verdacht der Parteinahme fltr die Interessen der Arbeitnehmer erhabene Quelle: ,,Man mag es auch Freiheit nennen, wenn Arbeitnehmer dank einer hohen Nacht~age am Arbeitsmarkt gr613ere M/Sglichkeiten haben, den Arbeitsplatz zu wechseln und eine Beschtiftigung zu finden, die ihren Neigungen oder F~higkeiten besser entspricht, statt frthhere Berufsentscheidungen, die sich als Fehlentscheidungen erwiesen haben, aus reiner Existenzangst fftr unwiderruflich zu halten. [...] Erhalten die abhgngigen Lohnarbeiter mehr Sicherheit und mehr Selbstbewusstsein in wirtschaftlichen Dingen, mehr Ansehen und mehr Wfirde in den gesellschaftlichen Beziehungen und mehr Hoffnungen und Hilfen im wachstumsbedingten Strukturwandel, so verstgrkt sich auch ihre Zustimmung zu dem System, in dem wir leben. Das Schwinden der ,industriellen Reservearrnee' nach der Entdeckung der Vollbeschgftigungspolitik hat - zusammen mit der Kapitalakkumulation - in diesem Sinne fast den Charakter einer gesellschaftspolitischen Revolution." (SVR 1967/68: 131s Oh Gewerkschaften beschgftigungspolitische MaBnahmen unters~tzen k6nnen, h~ingt davon ab, wie ihre Mitglieder von Kosten und Nutzen solcher MaSnahmen betroffen sind. Aus der Sicht der Gewerkschaftsmitglieder sind nur solche beschgftigungsf6rdemden MaBnahmen unproblematisch, die aufAusweitung des Besch~iftigungsvolumens und/oder auf Umverteilung des Beschgftigungsvolumens ohne Umverteilung von Einkommen hinauslaufen. Dagegen mt~ssen die Gewerkschaften solche Varianten der Besch~ftigungsf6rderung meiden, bei denen ihrer Kernmitgliedschaft Verzichte auf Teile ihrer Arbeit und ihres Einkommens oder gar nur ihres Einkommens abverlangt werden. Die Bereitschaft dazu ist deshalb gering, well der viel diskutierte Tausch ,,Einkommen(szuwachs) gegen mehr Arbeitsptfitze" in Wahrheit ein hiSchst asymmetrisches Arrangement ist: Gegenw~trtiger, sicherer Einkommensverzicht der einen, fttr zukfinftige, ungewisse Arbeitsplatzgewinne der anderen. 169
Wie stehen die Empf~inger von Sozialleistungen zu mehr Besch~iftigung? Haben die Bezieher von Sozialleistungen, sofem sie im erwerbsf~ihigen Alter sind, ein Interesse an Besch~iftigtmgsfOrderung? Leute, die einigerma6en realistische Chancen sehen, wieder eine Arbeit zu finden, werden eine Politik der Besch~iftigtmgsf6rderung untersttitzen. Aber umso pessimistischer Sozialleistungsbezieher ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt einsch~itzen, umso weniger wahrscheinlich ist, dass sie eine offensive Besch~iftigungspolitik mit der MOglichkeit h6herer Inflationsraten untersttitzen. Denn: Die Hoffnung auf Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt mag zunehmen, absolute Sicherheit da~r gibt es aber nicht. Schon gar nicht bei Arbeitslosigkeit in Millionenh6he. Sicher dagegen ist, dass sie, die Sozialleistungsempf~inger, die Kosten dieser Politik in Form von Preissteigerungen zu tragen haben. Auch unter den Sozialleistungsbeziehern im erwerbsf~ihigen Alter ist die Unters~tzung einer expansiven Besch~iftigungspolitik also nicht so eindeutig, wie man auf den ersten Blick vermuten mag. Far Sozialleistungsempf~inger ohne R0ckkehrmOglichkeit auf den Arbeitsmarkt gilt das ohnehin. Wer ist dann eigentlich ohne Vorbehalt far Besch~iftigungspolitik? All jene, die um ihre Arbeitsplatze fi~rchten. Das sind viele, aber nicht ausreichend viele. Und je deutlicher die Betroffenen sehen, dass manche mit hoher Wahrscheinlichkeit immer wieder arbeitslos werden, andere abet mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht, umso kleiner wird die Gruppe derer, die vorbehaltlos Besch~iftigungspolitik unters~'tzen. Sie reicht als politische Basis nicht. Darum wird der Abbau der Arbeitslosigkeit zwar in der politischen Rhetorik hochgehalten, in der politischen Praxis bleiben jedoch alle L/Ssungsversuche stecken. Der Durchgang durch die unterschiedlichen Interessenpositionen zeigt: Das Vollbesch~iftigungsziel ist in der Gesellschaft schwach verankert. Einer entschiedenen Beschaftigungspolitik fehlt die Unter~tterung durch die Interessen der relevanten Akteursgruppen. Aber gibt es nicht international ermutigende Beispiele for erfolgreiche Vollbesch~iftigungspolitik? Ich iabergehe hier die Frage, ob tmterschiedliche L~inder tiberhaupt von einander lernen kOnnen; ob politische Instrumente, die in einem Land erfolgreich waren, sich so ohne weiteres in einem anderen Land anwenden lassen.
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3. ,,Neue Vollbesch[iftigung" Die meisten besch~iftigungspolitischen Erfolge haben eines gemeinsam: Sie sind das Resultat der Expansion yon Beschgftigungsformen, die deutlich yon Normalarbeit abweichen: also durch die Ausbreitung unterschiedlicher Formen von atypischer Besch~iftigung wie Teilzeitarbeit, Leiharbeit, diskontinuierlicher Besch~iftigung. In den USA, in den Niederlanden, in Grogbritannien sind solche atypischen BescMffigungen mittlerweile lgngst typisch geworden - zumindest far bestimmte Besch~iftigten- oder Altersgruppen. Zum Teil werden solche Entwicklungen in der politischen Rhetorik berficksichtigt: Es ist dann nicht mehr von ,,Vollbesch~iftigung", sondem von ,,neuer Vollbesch~iftigtmg" die Rede. Aber der damit verbundene Beruhigungseffekt beruht auf einer (Selbst-)T~iuschung. ,,Neue Vollbeschgftigung" auf der Basis von atypischen Besch~iftigungsverhNmissen mag einige Probleme beseitigen, insbesondere, wenn man davon ausgeht, dass eine atypische Beschgftigung immer noch besser ist als gar keine. Abet so lange zentrale gesellschaftliche Institutionen wie das System sozialer Sicherung auf der Einnahmen- wie auf der Ausgabenseite an Normalarbeit anknapfen, werden mit dem Begriff ,,neue Vollbesch~iftigung" hoffnungslose Erwartungen transportiert. Denn so lange die Gesellschaft institutionell an traditioneller Vollbesch~iftigung ausgerichtet ist, nt~tzt die Ausbreitung atypischer Besch~iftigungen - wenn auch bis hin zu einer ,,neuen Vollbesch~iftigung" - nur sehr wenig. Untersuchungen zeigen, dass sich im Programm-Diskurs der Gewerkschaften ein Trend zur Erweiterung ihres Arbeitsbegriffs abzeichnet, dass sie also bereit sind, atypische Besch~iftigungsformen - anders als noch vor einigen Jahren - zu akzeptieren (vgl. Bleses/ Vetterlein 2002). Wenn die Gewerkschaften an diese terminologische Konzession aber keine institutionellen Konsequenzen, insbesondere im Sinne der vollen Einbeziehung atypischer Beschfiftigung in das System sozialer Sicherheit, anschliegen, dann bleibt ihr programmatischer Wandel wirkungslos und es bleiben die atypisch Besch~iftigten - ,,neue Vollbeschaftigung" hin oder her - mit ihren Problemen allein. Die Wiederkehr traditioneller Vollbesch~iftigung ist also hoch unwahrscheinlich. Tats~ichlich fanden sich die politischen Akteure mit zunehmender Dauer der Arbeitslosigkeit immer mehr damit ab. Empirisch l~isst sich zeigen, dass in den vergangenen 30 Jahren die besch~iffigungspolitische Rhetorik zunehmend den besch~iftigtmgspolitischen M6glichkeiten angepasst wurde. Eine Analyse der Bulletins der Bundesregierung der Jahre 1973 bis 1999 kommt zu dem Ergebnis, dass an die Stelle von ,,Vollbesch~iftigung" als beschgftigungspoliti171
schem Ziel immer anspruchslosere Formulierungen getreten sind (vgl. Lantzsch 2003). Unmittelbar nach dem Ende der Vollbesch~iftigungsphase wurde noch die Wiedererlangung der ,,Vollbeschgftigung" hoch gehalten. Spgter dominierten dann Formulierungen wie ,,Bek~npfung der Arbeitslosigkeit" und schliei3lich ist nur noch von der ,,Erh6hung der Zahl der Besch~iftigten" die Rede. Da bei zunehmender Zahl an Erwerbsf~ihigen insgesamt die Beschgftigung und die Arbeitslosigkeit gleichzeitig steigen kOnnen, hat die letztgenannte Zielsetzung mit Vollbesch~iftigung so gut wie nichts mehr zu tun. Diese Tendenz zu immer unverbindlicheren besch~ftigungspolitischen Zielsetzungen findet sich in allen Regiemngskoalitionen, SPD/FDP, CDU/FDP und SPD/Grtine. Ein bemerkenswerter Unterschied besteht freilich darin, dass SPD-ge~hrte Regierungen ihre Beschgftigungsrhetorik an die realen Gegebenheiten ann~ihem, ohne konkurrierenden Zielen Priorit~it einzur~iumen. CDU-geftthrte Regierungen dagegen versuchen nicht nur Vollbesch~ftigungserwartungen abzubauen, bis hin zur Rede von einer ,,fatalen Vollbesch~iftigungsgarantie "1, sondem forcieren zugleich Ziele wie Preisniveaustabilit/it, die als unvereinbar mit Vollbesch~iftigung angesehen werden. Es geht hier nicht darum zu entlarven, dass die Bundesregierungen der letzten 30 Jahre Vollbeschtiftigung ,,in Wirklichkeit" gar nicht wollten. Eine solche Attittide w~ire dem Konstimtionszusammenhang politischer Zielsetzungen v611ig unangemessen. Vielmehr ist der langfristige Abbau yon Besch~iftigungsrhetorik als Anpassungsbewegung an den beschaftigungspolitischen Handlungsspielraum schlicht zur Kennmis zu nehmen. Nimmt man die publikumswirksamen besch~iftigungspolitischen Verlautbarungen der letzten Zeit, so gewinnt man den Eindruck, dass dieser langfristige Trend gestoppt wurde. Sehr zum Schaden der Politik. Heute ist das Ziel ,,Vollbesch~iftigung", bescheidener ,,Abbau von Arbeitslosigkeit", oder - noch bescheidener - ,,mehr Besch~iftigung", zum Instrument der Verteidigung gesellschaftlicher Besitzst~inde aller Art verkommen: Mit dem Argument der Verteidigung von Arbeitsplatzen l~isst sich auch noch der grN3te Unsinn durchsetzen. Mit dem Verweis auf drohende Arbeitsplatzverluste lassen sich noch die schtichtemsten Versuche politischer Gestaltung der Gesellschaft ersticken. All dies wird m6glich durch die gigantische Differenz zwischen besch~iftigungspolitischer Selbstverpflichtung und besch~iftigungspolitischen M6glichkeiten. So legt die Besch~iftigungsfalle Politik still.
1
Bundeskanzler Helmut Kohl, zit. nach Lantzsch (2003: 233).
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Wie l~isst sich politische Handlungsf~ihigkeit wieder gewinnen? Voraussetzung ist zweierlei: Erstens muss Sozialpolitik so gestaltet werden, dass der Angebotsdruck auf dem Arbeitsmarkt nicht noch welter zunimmt (beispielsweise sollte man die Anwartschaftszeiten far Rentenbezug nicht weiter ausdehnen, die Bezugsdauer yon Lohnersatzleistungen nicht weiter verkfirzen). Denn: Je grN3er die Angst vor dem materiellen Absturz durch Arbeitslosigkeit, desto intensiver die politische N6tigung, Arbeitspltitze um jeden Preis zu erhalten, desto kleiner der politische Handlungsspielraum. Arbeitsplatzangst fahrt zu politischem Immobilismus (vgl. Nissen 1994). Zweitens muss die politische Besch~iftigungsrhetorik m6glichst weit zurfickgefahren werden, um nicht Erwartungen zu schtiren, die ohnehin nur enttauscht werden k6nnen. Zur Wiederherstellung politischer Handlungsf~ihigkeit w~ire also erforderlich, sozialpolitische Lohnersatzleistungen auf einem ausreichenden Niveau zu stabilisieren und die Besch~iftigungsrhetorik abzubauen. Es k6nnte ja sein, dass - aus welchen GriJnden auch immer - am Sozialsparen kein Weg mehr vorbei fahrt. Aber aus dieser Not l~isst sich keine Tugend machen. Sozialabbau ffihrt nicht zum Abbau von Arbeitslosigkeit, diese beiden Themen sind strikt zu trennen. Gegenw~irtig geschieht genau das Gegenteil: Lohnersatzleismngen werden reduziert, die Besch~iftigungserwartungen werden gesteigert. Sozialabbau im Namen von mehr Besch~iftigung verfehlt nicht nur das selbst gesteckte Ziel, sondem hat dramatische Nebenwirkungen: Je stgrker sozialpolitisch gektirzt wird, umso mehr wird Arbeitslosigkeit zum existentiellen materiellen Problem. Ausreichend entlohnte Arbeit wird dann noch wichtiger als bisher, Abbau von Arbeitslosigkeit also noch dr~ingender. So wird durch Sozialabbau die Differenz zwischen politischem K6nnen und Wollen ausgeweitet. Politik des Sozialabbaus fahrt nicht die Menschen in Besch~iftigung, sondem die Politik in die Besch~iftigungsfalle. Sozialabbau ist Politik zur Abschaffung von Politik.
Literatur
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Gute Griinde reichen nicht. Zur neuen Diskussion eines garantierten Grundeinkommens
Etwa seit dem Beginn des 21. Jahrhunderts l~isst sich im deutschen Sprachraum ein bemerkenswertes Revival der Grundeinkommensdebatte beobachten. International verlief die wissenschaftliche und politiknahe Debatte um ein Grundeinkommen kontinuierlicher - nicht zuletzt durch ihre institutionelle Stabilisierung im Basic Income European Network (BIEN) mit seinen alle zwei Jahre stattfmdenden Grogkongressen. In der Bundesrepublik brach die Grundeinkommensdiskussion in der zweiten HNfte der Achtzigerjahre weitgehend in sich zusammen. Die Wiedervereinigung absorbierte offensichtlich die gesamte sozialwissenschaftliche Aufmerksamkeit. Erst in der jangsten Vergangenheit findet das Thema wieder sozialwissenschaftliche, publizistische und politische Aufmerksamkeit (vgl. www.netzwerk-grundeinkommen.de mit diversen Links). Diese Konstellation legt vergleichende Fragestellungen nahe: In welcher Weise hat sich die Grundeinkommensdiskussion gewandelt (oder auch nicht)? Wie wurde die Forderung nach einem Grundeinkommen fr(iher begrtindet, wie heute? Welche Verschiebungen von Schwerpunkten lassen sich beobachten? Welche Begrandungsmuster halten sich durch und was folgt daraus? Bald nach dem Erscheinen der ersten einflussreichen Publikationen zum Thema (vgl. Schmid 1984; Btichele/Wohlgenannt 1985) kam es zu der wenig iaberraschenden Entdeckung, dass Idee, Forderung und Diskussion auch damals schon keineswegs neu waren. In der Tat finden sich Vorl/iufer und Wurzeln der heutigen Debatte in den klassischen Utopien, in den heterodoxen sozialistischen Publikationen des 19. Jahrhunderts und in diversen Spielarten des Anarchismus. Ebenso fanden sich deutliche 13berschneidungen mit liberal-6konomischen, radikal btirokratiekritischen und sozialstaatskritischen Positionen quer durch das 20. Jahrhundert (vgl. Vobmba 1989). Die Vielfalt der Ans~itze wurde von Wolfram Engels (1985: 95) mit der griffigen Formel erfasst, beim garantierten Grundeinkommen handle es sich um einen ,,schwarz-rot-grOnen Reformvorschlag". Dies traf den Kern hinsichtlich der ideengeschichtlichen Wurzeln, nicht jedoch hinsichtlich der aktuellen politischen Durchsetzungschancen des Konzepts. 175
Ft~r diese Phase der Grundeinkommensdiskussion sind vor allem zwei Eigenschaften charakteristisch: Erstens gab es eine grol3e weltanschauliche Bandbreite, und zweitens eine grol3e Vielfalt an Begrt~ndungen (vgl. Opielka/Vobruba 1986; van Parijs 1992). Ich skizziere die wichtigsten Argumente fi~r ein garantiertes Grundeinkommen und sortiere sie in drei Gruppen.
1. Gesellschaftspolitische Argumente Das Autonomieargument. Dieses repr~sentiert ohne Zweifel die ~lteste Begr~ndungstradition for ein Grundeinkommen. Explizit oder implizit wurde an die klassischen Utopien, Randfiguren der sozialistischen Bewegung(en) und an die anarchistische Tradition angeknt~pft. Die Forderung nach einem garantierten Grundeinkommen richtet sich mit diesem Argument gegen den Zwang zur und die Fremdbestimmung von Arbeit. Ihre Rechtfertigung finder sie in einem nicht welter explizierten ,,Menschenrecht", ihre Realisierbarkeit in Vorstellungen immenser s~kularer Produktivitfitssteigerungen der kapitalistischen C)konomie. Das Okologieargument. Dieses Argument ist dem Autonomieargument insofern verwandt, als ein Grundeinkommen die materiell unterf~tterte MOglichkeit zur Verweigerung von Okologisch (oder friedenspolitisch) problematischer abh~ngiger Erwerbst~tigkeit er6ffiaet. In diesem Aspekt partizipierte die Forderung nach einem Grundeinkommen an der als selbstverst~ndlich vorausgesetzten Rechtfertigung ihres Effekts: Bei einem Instrument, dass die 6kologie- und ffiedenspolitische Handlungsffihigkeit st~tzt, er~brigte sich die Frage seiner Rechtfertigung. Das frauenpolitische Argument. Auch dieses Argument kann man als eine Art Derivat des Autonomiearguments begreifen. Ein Grundeinkommen wurde begrfindet als materielle Fundierung zum Ausstieg aus ungew~schten oder unzumutbaren Lebenssituationen. Diese Begrfindung freilich blieb keineswegs unbestritten. Das Gegenargument lautete, dass ein Grundeinkommen die Verdrfingung der Frauen aus dem Arbeitsmarkt erleichtere. Offensichtlich steht hinter dieser Diskurskonstellation die - wenn ich recht sehe - bis heute unaufgel6ste Kontroverse um die Einschfitzung yon abh~ngiger Erwerbst~tigkeit als emanzipationsfOrdernd oder -behindernd.
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2. r
Argumente
Das Argument alternativer Arbeit. Wichtig, und mit dem Okologieargument verbunden, war das Argument, ein Grundeinkommen kOnne als Grundlage selbstbestimmter T~itigkeitenfungieren. Weniger prominent war die Variante, es k6nne als Subvention for Unternehmensgrtindungen gentitzt werden. Weir popul~irer war die Vorstellung, mit einem Grundeinkommen t~konomisch nicht (oder nicht ganz) tragf~ihigeT~itigkeitenin der AlternativOkonomie finanziell zu untersttitzen. Das Kauflcrafiargument. Dieses Argument funktioniert in Verl~ingerung der konventionellen ,,built in stability" der Arbeitslosenversicherung. Der Sozialtransfer stabilisiert die Kaufkraft, und zwar insbesondere in wirtschafilichen AbschwOngen, sichert so ausreichende Gewinne und Besch~iftigung.Wie alle kreislauftheoretischen Argumente l~iuft auch dieses auf die Rechtfertigung des Grundeinkommens als im Interesse aller - Konsumenten, Investoren und Arbeitskrfifie - hinaus. Das Arbeitslosigkeitsargument. Das war die Forderung nach einem Grundeinkommen als Reaktion auf die offensichtliche UnmOglichkeit, Vollbesch~iftigung im Sinne der Sechziger- und frtihen Siebzigerjahre des 20. Jahrhunderts wieder herzustellen. Dieses Argument war rasch dem Einwand ausgesetzt, die Forderung nach einem Grundeinkommen sei das Eingest~indnis eines Versagens - womit die Debatte auf die Ebene der gesellschaftspolitischen Argumente wechselte. Das Argument war also umstritten und damals keineswegs dominant.
3. Sozialpolitische Argumente
Das Armutsargument. Es war dem Arbeitslosigkeitsargument ~ihnlich, aber prominenter. Seine Grundlage war der Nachweis, dass das gegebene System sozialer Sicherung angesichts rascher Wandlungsprozesse auf dem Arbeitsmarkt seine Sicherungsfunktion immer weniger er~llen kann. Einem Grundeinkommen als Instrument zur Absicherung der Gesellschaft nach unten (,,Abschaffung der Armut") wurde entgegen gehalten, dass dieses Ziel auch im Rahmen der gegebenen Institutionen des Sozialstaats, durch ,,Sockeltmgen" erreichbar sei; also ohne das Risiko eines sozialpolitischen Systemwechsels. Das B~irokratieargument. Dieses Argument machte eben diesen Systemwechsel zum Kern des Anliegens. Das Grundeinkommen wurde nicht als Erg~zung, sondern als Ersatz ~ r die bestehenden Systeme sozialer Sichertmg ange177
sehen. Durch die Standardisierung der Transferzahlungen und den Wegfall diverser Einzelfallprfifungen wurden M6glichkeiten eines radikalen (Sozial-) Bt~rokratieabbaus gesehen. Eine problemlose Rechtfertigung ergab dies nur im Rahmen eines liberalen, allenfalls 6kolibert~ren Weltbildes. Das Armutsfallenargument. Das Argument bemhte auf der welt verbreiteten Oberzeugung, dass an der Schnittstelle von Sozialhilfe und Arbeitsmarkt eine fehlerhafte Anreizstmktur besteht: Die (so gut wie) vollst~indige Anrechnung von Erwerbseinkommen auf den Sozialtransfer belastet Umsteiger von Sozialhilfe in Erwerbsarbeit mit einem unzumutbar hohen De-facto-Steuersatz - j e nach Freibetrag von etwa 80-100 Prozent. Rationalen Einkommenskalkt~len folgend verharren darum potenzietl Beschfiftigte im Sozialhilfebezug und bringen sich damit um die lgngerfristigen M0glichkeiten materiellen Aufstiegs ~. Darum: ,,Armutsfalle". Dem sollte dutch ein Grundeinkommen in der technischen Ausgestaltung einer negativen Einkommenssteuer, welche fliegende l)berggnge von Sozialtransferbezug in Erwerbseinkommen erm0glicht, entgegen gewirkt werden. Das Grundeinkommen (in Form der negativen Einkommensteuer) wird hier gerechtfertigt als Instrument zur Beseitigung einer Anreizkonstellation, welche selbstschgdigendes Verhalten nahe legt. Man sieht: Die Argumente in der Nteren Grtmdeinkommensdiskussion waren vielfaltig. Entsprechend gab es relativ reichlich Gelegenheit zur (sozial)wissenschaftlichen Ausarbeitung einzelner Argumente und Diskursstr~inge. Die neueste Grundeinkommensdiskussion 2 - soweit ich sie t~berblicke unterscheidet sich davon in zwei markanten Aspekten: Erstens. Die gltere Diskussion war im Kern eine akademische Veranstaltung, mit umfangreichem wissenschaftlich-publizistischen Output (zusammenfassend Wolf 1991). Die neueste Diskussion trggt dagegen viel starker kampagnenartige Zt~ge. In den letzten beiden Jahren ist es zu einer intensiven Vemetzung unterschiedlicher Initiativen gekommen, die in 6ffentlichen Diskussionen, im Internet, mit Plakataktionen, Zeitschriftenbeitr~igen far ein Grundeinkommen werben. Obwohl ,,autonome Politik" eher in den Achtzigerjahren als heute angesagt war, vermitteln diese Initiativen derzeit deutlich mehr als damals den Eindruck einer autonomen Bewegung far ein Grundeinkommen. Anhand der Analyseyon Lfingsschnittdatenlfisstsich zeigen,dass dieses Argumentempirisch weitgehend ungedecktist; vgl. Gebaueret al. (2003). Dass damit ein prominentesArgument f~r eine negative Einkommensteuerentfallt, ist yon ihren Verfechternbisher nicht bemerkt worden. Far Kontinuit~tvgl. vor allem Opielka (2004). Zur Wiederaufnahmeder ~lteren Diskussion vgl. ZeitsehriflfiirGemeinwirtsehaft(2000:Nr. 3-4); F~llsaek(2002);Blasehke(2004). 178
Zweitens. Das Repertoire an Argumenten for ein Grundeinkommen in der neuesten Debatte hat sich gegentiber frtiher deutlich verengt. Zwar listet die Homepage des ,,netzwerk-grundeinkommen" zahlreiche Argumentationsm6glichkeiten ~ r ein Grundeinkommen auf. ,,Aber es ist das Scheitem aller bisherigen Versuche der L6sung des Problems der Massenarbeitslosigkeit, welches in den letzten Dekaden dazu gefOhrt hat, dass die Grtmdeinkommensidee quer durch Europa und die Welt von einer wachsenden Zahl von BiargerInnen, WissenschaftlerInnen und Organisationen ernst genommen wird." (Ebd.) Von den Argumentationslinien, die sich in der ~ilteren Grundeinkommensdiskussion gefunden haben, sind also im Wesentlichen zwei tibrig geblieben: Das Arbeitslosigkeitsargument und, da es eng damit verbunden ist, das Armutsargument.
4. Kritik der guten Griinde
Dagegen gibt es keine Differenz zwischen ~ilterer und neuester Diskussion in der grundlegenden Argurnentationsweise: In der gesamten Grtmdeinkommensdiskussion, alter und neuer, geht es in erster Linie urn vielf~iltige Versuche den Nachweis zu Rihren, ein Grundeinkommen sei wttnschenswert, erforderlich, notwendig, ,,tmabdingbar". Es geht um gute Grtinde fttr ein Grundeinkommen. Die Frage der Bedingungen der Realisierbarkeit der Forderung, die Analyse politischer Konstellationen, yon Interessenpositionen, Einstellungen und Werthalmngen, die sich mr oder gegen ein Gmndeinkommen richten, fuhrt in der gesamten Diskussion ein Schattendasein. Dies ist ein doppeltes Defizit: Zum einen verzichtet die Grtmdeinkommensdebatte auf die Untersuchung der vielf~iltigen Durchsetzungsbedingungen ihrer Vorschl~ige. Und insbesondere bringt sie sich um jede MOglichkeit der Reflexion dartiber, in welcher Weise sich mit den Rahmenbedingungen ftir die Transfer- und Verteilungspolitik seit Mitte der Achtzigerjahre auch die Voraussetzungen Rir die Realisierbarkeit eines garantierten Grtmdeinkommens verandert haben. 3 Und zum anderen verbaut sich die Diskussion damit jeden systematischen Bezug zur empirischen Gerechtigkeitsforschtmg. Stattdessen werden in der Regel die eigenen Gerechtigkeitsiiberzeugungen engagierter Autoren mit empirischen Akzeptanzbedingungen in der Gesellschaft verwechselt. Auf letztere aber kommt es an. 3
Die einzigemir bekannteAusnahmeist Pioch(2003). 179
Man kann das Problem, das der Mainstream der Grundeinkommensdiskussion seit lgngerer Zeit umgeht, auch so formulieren: Die Vielzahl der Begrandungen eines garantierten Grundeinkommens ist so eindrucksvoll, und zahlreiche Argumentationen sind so tiberzeugend, dass sich die Frage stellt, wieso sie nicht breite lJberzeugungswirkungen entfaltet haben und ein Grundeinkommen nicht l~ingst realisiert ist. Offensichtlich reichen gute Grtinde nicht. Es gibt zwei M6glichkeiten, dieses Problem zu diskutieren: Eine M6glichkeit ist die Auseinandersetzung mit dem philosophischen Anspruch, dass sich mit wissenschaftlichen Mittein normative Positionen mit h6herem Verbindlichkeitsanspmch begrtinden lassen, als den normativen 12Jberzeugungen der Leute zugebilligt werden - und dass diese l)berlegenheit als Quelle far praktisch wirksame Rechtfertigungen verwenden kann. Tats~ichlich werden h~iufig konsistente normative Begrtindungen Far die Wtinschbarkeit eines garantierten Grundeinkommens entwickelt und es wird versucht, diese Begrtindungen mit Geltung auszustatten, indem man sie in der moralphilosophischen professionellen Diskussion verankert. Aber die Moralisierung eines gesellschaftlichen Anliegens ist ein deutliches Zeichen dafar, dass es politisch nicht durchsetzbar ist (vgl. Luhmann 1990). Politischer Moralinterventionismus (Vobruba 1997:113ff.) tr~,igt zur politischen Realisierbarkeit eines garantierten Grundeinkommens nichts bei. Die Diskussion um ein garantiertes Grundeinkommen sollte sich datum nicht in ,,die sch6ne Welt des Normativen" (Dux 2004: 297f.) flt~chten und weniger Energie ftir Rechtfertigungsentwarfe verwenden, die ja doch nur Beitrgge zu einem Selbstverst~indigungsdiskurs sein k6nnen, in dem ohnehin schon alle aberzeugt sind. Ich habe in einigen Beitrtigen (Vobmba 1997; 2003) - insbesondere im Anschluss an Dux (2001; 2004) und Sutter (2003) - zu zeigen versucht, dass das moralphilosophische Projekt in der Moderne hoffnungslos geworden ist, darum werde ich diese Argumentationsstrategie hier nicht welter verfolgen. Die sozialwissenschaftlich ertragreichere und politisch sinnvollere M6glichkeit, die Themen Grundeinkommen und Gerechtigkeit aufeinander zu beziehen, besteht darin, 1. die Idee eines garantierten Grundeinkommens mit Ergebnissen der empirischen Gerechtigkeitsforschung abzugleichen, um daraus Schlussfolgerungen Rir die Akzeptanz der Idee zu ziehen, sowie 2. den Wandel der sozialpolitischen Institutionen einerseits und die tats~ichliche Entwicklung der Arbeits- und Einkommensstrategien der Leute andererseits zu beobachten und zu analysieren, um Ankntipfungspunkte far ein garantiertes Grundeinkommen zu finden. 180
5. Empirische Gerechtigkeit Im Folgenden geht es also nicht darum, die in der wissenschaftlichen Publizistik vorgetragenen BegrOndungsversuche aufzunehmen und - aus welcher Perspektive auch immer - als ,,wahr" oder wenigstens ,,tiberzeugend" auszuzeichnen. Vielmehr sehe ich, um mit diesem Problem voran zu kommen, keine andere sozialwissenschaftliche Strategie als nach den empirisch vorfindbaren normativen Oberzeugungen in der Gesellschaft zu fragen. Es geht also um eine Frage an die soziologische empirische Gerechtigkeitsforschung: Welche empirischen Anhaltspunkte gibt es daftir, dass Begrfindtmgen ftir ein garantiertes Grundeinkommen den sozialen Akteuren in der Gesellschaft selbst plausibel erscheinen? Ich sehe drei MOglichkeiten, sich dieser Frage anzun~ern. Erstens kann man versuchen, aus der empirischen Forschung, die allgemein nach Akzeptanz und Akzeptanzbedingungen des Wohlfahrtsstaats fragt, einzelne Aspekte auf die Begrtindung eines Grundeinkommens zu beziehen. Generell zeigen die Untersuchungen zum Wohlfahrtsstaat der Bundesrepublik ein hohes MaB an Zustimmung zum Wohlfahrtsstaat im Allgemeinen und eine t~berraschend hohe Umverteilungstoleranz (vgl. Roller 1992; Ullrich 2000; auch Pioch/Vobruba 1995). Daraus lieBe sich schlieBen, dass die mit einem Grundeinkommen verbundene Umverteilung jedenfalls nicht auf prinzipielle Vorbehalte stoBen wOrde. Aber diese Schlussfolgerung ist voreilig. Denn die Akzeptanz yon Umverteilungseffekten betrifft Sozialtransfers ftir spezifische, wohldefmierte sozialpolitische Zwecke, zum Beispiel Heilungskosten oder Armut. Konstitutiv Rir die Idee eines garantierten Grundeinkommens dagegen ist, dass eine solche Zweckbindung fehlt. Darum hat ein Grundeinkommen die viel anspruchsvollere Voraussetzung einer generalisierten Umverteilungsbereitschaft. Zweitens kann man direkt nach Akzeptanzbedingungen eines Grundeinkommens fragen. Dazu ist mir nur eine Untersuchung (Liebig, Mau 2002) bekannt. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass die Idee einer generellen Abdichtung der Gesellschaft gegen Armut in der Gesellschaft samt der damit verbundenen Umverteilung breite Zustimmung findet. Damit ist aber nicht eine einheitliche Transferzahlung gemeint, sondern die als gerecht empfundene H6he der Unters~tzung variiert - etwa mit dem Familienstand oder der Arbeitsbereitschaft potenzieller Empf~inger(Liebig/Mau 2002: 124). Die empirische Erhebung zeigt also, dass die Zustimmung zur Idee einer Mindestsicherung mit Differenzierungen verbunden ist, wie sie ~ihnlichauch im sozialpolitischen Status Quo stattfinden, dass die generalisierte Umverteilungsbereitschaft also kaum gegeben ist.
181
Die beiden bisher skizzierten Varianten yon Akzeptanztmtersuchungen haben freilich das Argument gegen sich, dasses in politischer Perspektive auf die Einstellungen der BevNkertmgen nicht wirklich ankommt. Es werden, so k6nnte ein ebenso schlichtes wie plausibles Gegenargument lauten, andere MaBnahmen zum Umbau des Wohlfahrtsstaats ja auch ohne Rticksicht auf die Interessen, Einstellungen und das Gerechtigkeitsempfinden der Bev61kerungen realisiert. Drittens l~isst sich also die Frage stellen: Wie steht es um die Einstellungen der politischen Akteure im engeren Sirra, der Politikerinnen und Politiker, zu einem garantierten Gnmdeinkommen? Im Vergleich der Einstellungen deutscher und niederlandischer 4 Spitzenpolitiker l~isst sich zeigen (vgl. Pioch 2000), dass die Breite des Spektrums ihrer Vorstellungen von sozialpolitischen Reformmtiglichkeiten stark vom Status Quo des jeweiligen Systems sozialer Sicherung abh~ingt: Je rigider die gegebene sozialpolitische Regulierung, umso enger der Horizont sozialpolitischer Ver~indemngsvorstellungen. Und umgekehrt: Je universalistischer das System, umso eher ist ein Umbau in Richtung auf ein garantiertes Grundeinkommen im Bereich des politisch Vorstellbaren. Zu beobachten ist also das Wirken einer starken normativen Kraft des Faktischen. Die in die sozialpolitische Institutionen eingebauten Gerechtigkeitsprinzipien (far die Bundesrepublik vgl. Nullmeier/Vobruba 1995) pr~igen die Vorstellungen yon sozialpolitisch M6glichem, Wtinschenswertem und Akzeptablem; und zwar sowohl bei den politischen Akteuren als auch in den Bev61kerungen. Aus den Wechselwirkungen von institutionalisierten Gerechtigkeitsprinzipien und empirischen Gerechtigkeitsvorstellungen ergibt sich far die Instimtionen der Systeme sozialer Sicherung ein hohes Potenzial an Selbstlegitimation: Der sozialpolitische Status Quo generiert bei Politik und Publikum sozialpolitische Gerechtigkeitsvorstellungen, die affirmativ auf ihn zur0ckwirken. Die sich daraus ergebende Pfadabhangigkeit ware nur zu durchbrechen, wenn sich politische Akteure finden, die in Antizipation der selbstlegitimierenden Wirkung realisierter UmbaumaBnahmen Schritte in Richtung Grundeinkommen machen. Dass dies passiert, ist unwahrscheinlich.
Zur Akzeptanz des Wohlfahrtsstaats der Niederlande bei der BevNkerung vgl. Van Oorschot (2001).
182
6. Weitergehende Fragen Ich komme damit zum letzten Punkt, zur Untersuchung des Wandels sozialpolitischer Institutionen und der Entwicklung der Arbeits- und Einkommensstrategien der Leute. Welche Entwicklungen lassen sich erkennen, die in Richtung Grundeinkommen gehen und in diesem Sinne forciert werden k0nnten? Tats~chlich ist die gegenwgrtige Entwicklung mehrdeutig: Einerseits gibt es zur Zeit einen breiten 0ffentlicher Diskurs, der Niveauabsenkungen und Verschgrfungen der Zugangbedingungen zu Sozialtransfers als zwingend erforderlich darstellt5 und eine Politik, die diesem Diskurs im Bereich arbeitsmarktnaher Sozialleistungen - bisher allerdings nur z0gerlich - gefolgt ist (vgl. Huber/ Stephens 2001; Palier 2001). Andererseits f'mden sich Ans~itze des Ausbaus der sozialpolitischen Unterstatzung arbeitsmarktfemer Lebenslagen (vgl. Bleses/ Seeleib-Kaiser 2004). Es w~re sinnvoll, an die Analysen dieser uneindeutigen sozialpolitischen Entwicklung anzuknfipfen, um weiter ffihrende Fragem6glichkeiten in Hinblick auf ein garantiertes Grundeinkommen zu erschlieBen. Die international vergleichende Sozialpolitikforschung liefert eine Ffille an Informationen fiber die Wirkungen sozialer Kr~fteverhNmisse und institutioneller Konstellationen for Abbau oder Stabilit~it von Sozialleistungen. Insbesondere besteht ein deutlicher Zusammenhang zwischen der H0he der Arbeitslosigkeit und dem AusmaB des Sozialabbaus (vgl. Huber/Stephens 2001). Dagegen ist der Zusammenhang zwischen Globalisierungsgrad und sozialpolitischer Entwicklung keineswegs empirisch eindeutig und theoretisch bisher nur unzureichend gekl~irt. Was l~isst sich daraus fOr die Frage nach Realisierungschancen eines Grundeinkommens lemen? Sind jene Konstellationen, welche fOr die bemerkenswerte Krisenfestigkeit (zumindest) einiger Bereiche der Sozialpolitik verantwortlich sind, potenzielle Anknfipfungspunkte for ein Grundeinkommen? Lassen sich die selektiven sozialpolitischen AusbaumaBnahmen einiger arbeitsmarktfemer Sozialleistungen (Familientransfers) als Vorboten eines Grundeinkommens interpretieren, oder sind sie diesbezOglich Sackgassen? In ~hnlicher Weise kann die Grundeinkommensdiskussion an Forschungen fiber vorfindbare Arbeits- und Einkommensstrategien der Leute anschliegen. Hier geht es um Fragen, wie: In welcher Weise werden die tatsgchlich verfOgbaKonstruktionenvon Sozialabbau als Sachzwangwerden vor allem auf der Grundlageyon ,Globalisierung" und ,,alternde Gesellschaft"errichtet. Kritischdazu Seeleib-Kaiser(2001) und Marschallek(2004), 183
ren Ressourcen - Arbeitsgelegenheiten, Sozialtransfers, soziale Netzwerke yon den Leuten genfitzt, urn aus zunehmend diskontinuierlichen Arbeitsbiographien einigermagen kontinuierliche Einkommensbiographien zu machen? Das Wissen um MOglichkeiten des Rackgriffs auf staatliche Sozialtransfers stelltwenn auch yon Land zu Land in unterschiedlichem MaBe - eine Hintergrundgewissheit und stabile Handlungsressource dar (vgl. Steinert, Pilgram 2003). Empirische Forschungen zu individuellen Strategien der Normalisierung atypischer Erwerbsverlgufe zeigen, dass sich die Leute keineswegs nur als Opfer der Transformation des Arbeitsmarktes sehen. Was also wissen wir fiber Strategien der Leute, Arbeitseinkommen, Kapitaleinkfinfte und Sozialtransfers zu kombinieren (vgl. Vobruba 2000) und fiber die derart erzielbare Lebensqualit~tt? Mit anderen Worten: Will man Aufschluss aber Anknfipfungspunkte ffir eine Grundeinkommenspolitik an die Lebensenm41rfe und -strategien der Leute, muss man diese erst genau kennen lernen und verstehen. Es geht also darum, diese Phgnomene entlang der Frage zu durchforsten, ob hier einzelne Aspekte eines Grundeinkommens ansatzweise vorweggenommen werden. Insgesamt bedeutet dies einen Realit~itsschwenk der Grundeinkommensdiskussion. Es geht darum: 1. Institutionen zu beobachten und zu fragen, ob der Wandel der sozialpolitischen Institutionen Ergebnisse hervorbringt, die sinnvoll als Vorformen eines Grundeinkommens verstanden und gent~tzt werden k6nnen. 2. Arbeits- und Einkommensstrategien der Leute zu beobachten und zu fragen, in welcher Weise sie damit praktisch Ziele verfolgen, welche in der Grundeinkommensdiskussion normativ hoch gehalten werden. Dass dies alles ein reichlich akademisches Programm sei, kOnnte man nun entgegen halten. Aber der Einwand zieht nicht wirklich. Denn die Gmndeinkommensdiskussion war immer eine weitgehend akademische Angelegenheit. Schon in den Achtzigerjahren gab es nur vereinzelte Oberspriinge in die parlamentarische Arbeit (der Grttnen). Wenn die Diskussion damals t~berhaupt einen politischen Effekt gehabt hat, dann den: Sozialdemokratie und Gewerkschaften, die bis dahin auf eine strikte Anbindung von Sozialleistungen an abh~tngige Erwerbst~itigkeit festgelegt waren, 6ffneten sich angesichts solcher viel weiter gehender Vorschl~tge zumindest der Idee eines Einbaus von Gmndsicherungselementen in die bestehenden Sicherungssysteme. Gegenw~irtig findet das Grundeinkommen Anschluss an die konventionelle Politik allenfalls via PDS/Die Linke. Es k6nnte zwar gut sein, dass Bt~ndnis90/ Die Granen die Grundeinkommensidee als Oppositionskonzept wieder entdecken. Damit aber k6nnte die folgende Blockadesituation entstehen: Einerseits 184
finden die Grtinen das Thema von der PDS/Die Linke besetzt vor, andererseits aber ist es nicht einmal in der PDS/Die Linke selbst durchsetzbar. Der vonder ,,sozialistischen Arbeitsgesellschaft" (Nissen 1992) gepr~igten Mentatit~it ihrer Stammw~ihler entspricht die Forderung ,,Arbeit ftir alle" (Wahlprogramm) viel besser.
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187
Die flexible Arbeitsgesellschaft
I. Einleitung Die Argumente, mit denen die These vom herannahenden Ende der Arbeitsgesellschaft ges~tzt wurde, lassen sich in zwei Gruppen zusammenfassen. Zum einen, so hieg es in der damaligen Debatte, nimmt die Zahl der Arbeitslgtze immet mehr ab. Als Indiz dafar wurde die wachsenden Arbeitslosenzahlen und als Ursache davon der s~kulare technische Fortschritt genommen. Der systemischer Zwang zu Effizienzsteigerung in der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft untergrabe deren sozialintegrative Grundlage: Arbeit - ,,also die einige T~tigkeit, auf die sie sich noch versteht. Was k6nnte verhgngnisvoller sein?" (Arendt 1960: 11 ; vgl. Dahrendorf 1980). Das war der Ausgangspunkt der Diskussion um die ,,Krise der Arbeitsgesellschaft" (Matthes 1983). Zum anderen war yon der abnehmenden individuellen und gesellschaftlichen Bedeutung abh~ngiger Erwerbstgtigkeit die Rede. Abhgngige Erwerbstgtigkeit sei in abnehmendem MaBe individuell identit~tsstiftend, verbt~rge immer weniger gemeinsame, kollektivierbare Interessenprofile und verliere ihre strukturierende Kraft ft~r individuelle Biographien. Abhgngige Erwerbst~itigkeit sei darum immer weniger als Bezugspunkt far das Wirken yon Institutionen, insbesondere von sozialstaatlichen Instimtionen, geeignet. Daraus wurde das Erfordernis abgeleitet, Politik ebenso wie die soziologische Theorie entsprechend zu adaptieren (vgl. Offe 1983). Insgesamt ~ckte Arbeit aus dem Zentrum der Beobachtung gesellschaftlicher Entwicklungsdynamiken (vgl. Habermas 1985). Dies ist die Gruppe der qualitativen Argumente far die These vom Ende der Arbeitsgesellschaft. Rackblickend erwies sich die These vom ,,Ende der Arbeitsgesellschaft" als ungemein fruchtbare Heuristik. Sie hat mehrere Jahrzehnte Gesellschaftsbeobachtung und Diskussion angeleitet. Dabei wurden wesentliche Teile der These widerlegt, einige ihrer Aspekte konkretisiert und insgesamt differenziertere Diagnosen erm6glicht. Dies sind die wesentlichen Modifkkationen der quantitativen Argumente: Zwar mag in einigen Volkswirtschaften das Arbeitsvolumen langfristig abnehmen. Dies aber ist in den meisten FNlen mit steigenden Beschgftigtenzahlen 189
verbunden. Von einem Verschwinden der Lohnarbeit kann also keine Rede sein. Abnehmende Arbeitsvolumina k6nnen mit steigenden Besch~iftigungszahlen freilich nur unter der Bedingung verringerter Arbeitszeiten Hand in Hand gehen. In der Tat hat genau dies in den vergangenen Jahrzehnten forciert stattgefunden; zwar nicht im Wege kollektiver Arbeitszeitverkfirzung, aber dutch die Ausbreitung atypischer Beschgftigungsverhglmisse mit verkt~rzten individuellen Arbeitszeiten (Teilzeit etc.). Parallel dazu setzte sich mt~hsam die Einsicht durch, dass sich die Arbeitslosenzahlen weitgehend unabhgngig yon der Beschgftigung entwickeln, da der Umfang des Angebots auf dem Arbeitsmarkt weitgehend auger6konomisch - also: demographisch, kulturell und politisch bedingt - bestimmt wird. Also: Die Besch~iftigtenzahlen nehmen zwar nicht ab, aber es findet unter dieser Oberflgche eine Transformation der Formen abh~ingiger Beschgftigung statt. Und so wurden die qualitativen Argumente weiter entwickelt: Die These vom Schwund der Bedeutung und der gesellschaftlichen Pr~igekraft abhgngiger Erwerbsarbeit wich zunehmend Befunden, welche auf gruppenspezifische Differenzierungen bei der Zuschreibung der Bedeutung von Arbeit hinaus liefen. Zum einen war rasch klar, dass mit dem Verlust von Arbeitsgelegenheiten keineswegs ein Verlust der Bedeutung von Arbeit einhergeht. Im Gegenteil: Gerade die unzureichende Nachffage nach Arbeit lieB Arbeitsm6glichkeiten als umso erstrebenswerter - bis zu der verqueren Auffassung, Arbeit sei ein wertvolles ,,Gut" - erscheinen. Empirische Untersuchungen zu Rfickkehrbemfihungen und Wiedereintritten in Besch~ftigung zeigen far die t~berwiegende Mehrzahl der Arbeitslosen, dass die Pr~gekraft yon abh~ingiger Erwerbstgtigkeit ist gerade dann stark ist, wenn man keine hat. Ebenso differenziert sich die Pr~gekraft nach Arbeitsmarktsegmenten und Berufsgruppen. Gruppen mit hoher Arbeitsidentifikation stehen neben Gruppen mit rein instrumentellem Arbeitsverstgndnis. Hinzu kommt, dass hohe Arbeitsidentifikation keineswegs mehr zwangsl~ufig zu kollektiven und organisiert vertretbaren lnteressenprofilen fahrt. Solche Differenziemngen der These vom ,,Ende der Arbeitsgesellschaft" lassen sich in der Formel vom "Ende der Vollbeschgftigungsgesellschaft" als Auf16sung einer stabilen gesellschaftlichen Ordnung der Arbeit komprimieren. Sie beschreiben zugleich die Grundlagen, auf denen sich der Diskurs t~ber die Flexibilitfit der Arbeit entwickelt hat: Transformation von Arbeit und Persistenz ihrer Bedeutung; Differenzierung der individuellen Prfigekraft und der organisatorischen Vertretung von Arbeit. Daraus resultieren einerseits neue Variabilit~ten der Formen der Arbeit, die sich als Bausteine far Flexibilit~itsarrangements 190
ntitzen lassen und andererseits neue Optionsrgume tar strategisches Handeln der arbeitsmarktrelevanten Akteure in Arbeitsfragen. Dies sind die beiden Grundlagen mr die Entwicklung der flexiblen Arbeitsgesellschaft. Ihre konkrete Gestaltung ist eine Frage machtbestimmter Aushandlungsprozesse. Der Diskurs t~ber Flexibilitgt der Arbeit hat darum zweierlei Status: Einerseits ist er selbst ein Aspekt der Aufl(Jsung institutionellen Rigidit~iten der Arbeitsgesellschaft, andererseits geht es in ihm um eine neue Ordnungsvorstellung, also um eine Arbeitsgesellschaft mit geregelter Flexibilitgt. ,,Flexibilittit" kann im politischen Diskurs deshalb als Patentrezept fungieren, weil das Konzept so rage gehalten wird. Aber wenigstens diese eine Spezifizierung zeichnet sich ab: Forderungen nach mehr Flexibilitgt zielen vor allem auf den Einsatz yon abhgngiger Erwerbst~itigkeit. Da sich Flexibilitgt in erster Linie also auf den Arbeitsmarkt bezieht, und da der Arbeitsmarkt in kapitalistischen Marktgesellschaften der zentrale Mechanismus zur Verteilung von Lebenschancen ist, steht das Thema im Zentrum gesellschaftlicher Interessenkonflikte. Entsprechend breit ist das Spektrum an Einstellungen zur Flexibilisierung yon Arbeit: Es reicht yon nachdrficklichen Forderungen nach Flexibilitgt bis zu erheblichem Widerstand dagegen. Man sieht sofort: Die unspezifische Forderung nach mehr (Arbeits-)Flexibilit~t t~bergeht relevante Fragen. Geht es um die Durchsetzung von Flexibilit~it entsprechend den eigenen Bedttrfnissen oder um die Anpassung an Flexibilitgtsanfordenmgen anderer? Um Erweiterungen oder um Verengungen des eigenen Handlungsspielraums durch Flexibilisierung? Und schliel31ich: Welche Schnittmengen der unterschiedlichen Interessen an Flexibilit~it und folglich welche Konsenspotentiale gibt es? Bei der sozialwissenschaftliche Befassung mit solchen Fragen ist zu berficksichtigen, dass Flexibilit~tt der Arbeit zugleich ein sozialwissenschaftlicher Fachbegriff und ein Okonomischer und politischer Kampfbegriff in politischen Diskursen ist. Es hat soziologisch keinen Sinn, in diese Diskurse einzutreten. Vielmehr muss man zu ihnen Distanz gewinnen. Denn nur so kann man systematisch zum Thema machen, dass der Begriff yon unterschiedlichen Akteuren unterschiedlich besetzt und benutzt wird, und dass sich die Einschgtzungen des Umfangs und der Nutzbarkeit existierender Flexibilit~itsspielrgume je nach Interessenposition dramatisch unterscheiden. Mit anderen Worten: Die Soziologie der Arbeitsflexibilit~it muss mit der Beobachtung arbeiten, dass es in ihrem Gegenstand h(Jchst unterschiedliche Beobachmngen und Deutungen yon Flexibiliter gibt. Hier geht es um eine theoretische Gnmdlegung der Soziologie der Arbeitsflexibilit~it. Um die dafar erforderliche Distanz zu sichem, konzentriere ich mich 191
erst einmal auf die begriffiichen Grundlagen und auf grundlegende Zusammenh~nge einer Soziologie der Arbeitsflexibilit~it.l Ich werde also erst einige Vorschlfige zum Begriffsinstrumentarium machen. Dann werde ich die Entwicklung der Debatte tiber Arbeitsflexibilittit skizzieren, die zunehmende Erweiterung des Flexibilit~itsdiskurses und einen Systematisierungsvorschlag darstellen, darauf ausbauend auf das Konzept der Flexicurity eingehen und schlieBlich anhand der Idee von Flexibilisierungsketten einige weiterfOhrende Fragen die Entwicklung einer flexiblen Arbeitsgesellschaft betreffen formulieren.
2. Die begriffliche Grundausstattung Flexibilit~it ist ein Potential. Der sozialwissenschaftliche Begriff Flexibilit~it bezeichnet den rasch abrufbaren Vorrat an Handlungsalternativen eines Handlungssystems. 2 Der Flexibilit~itsgrad bezeichnet die Menge an Handlungsalternativen. Flexibilisiemng ist die Herstellung von Flexibilit~it und erfolgt in Antizipation unterschiedlicher, rasch und unvorhersehbar wechselnder Anforderungen an ein Handlungssystem durch seine Umwelt. Man kann auch sagen: Flexibilitfit wird im Rahmen von Relationen zwischen individuellen und kollektiven Akteuren und ihrer Umwelt wirksam. Mit Blick auf die unterschiedlichen Tr~iger von Flexibilit~it ergeben sich zwei M6glichkeiten von Flexibilit~tsrelationen. Flexibilit~it bezeichnet entweder die Bereitschaft und F~higkeit von Akteuren, sich auf rasch wechselnde institutionelle Bedingungen, oder die Bereitschafl und F~ihigkeit von Institutionen, sich auf rasch wechselnde Anforderungen yon Akteuren einzustellen. Dies verweist auf eine erste Unterscheidung, die ffir die Soziologie der Arbeitsflexibilit~it wichtig ist: Flexibilit~it kann als Potential yon Institutionen und als Potential von Akteuren verstanden und soziologisch beobachtet werden. Neben diesen Kategorien zur Beschreibung des Potentials von Akteuren und Institutionen braucht man Kategorien zur Analyse yon Relationen zwischen unterschiedlichen Akteuren in Flexibilisierungsprozessen, kurz: Flexibilit~itsrelationen. Dazu empfiehlt sich eine zweite Unterscheidung: Bei der Untersuchung yon Flexibilit~itsrelationen geht es einerseits um Verursacher von Flexibilit~itserfordernissen and andererseits um Anpasser an Flexibilit~itserfordemisse. Mit dieser Unterscheidung nicht ident, abet eng an sie gekoppelt, ist die UnterIch tibernehmebier TeileeineranderenArbeit(Vobruba2006). Entscheidet man sich fOr einen solchen handlungstheoretischenFlexibilittRsbegrifl,kann man nattirlich nichtvon ,,Flexibilit~tvon M~.rkten"(GanBmann2000: 245) sprechen. 192
scheidung zwischen den Nutzen und den Kosten von Flexibilitht und die Frage nach deren Tr~igem. Diese Unterscheidung spielt insbesondere bei interessentheoretischen Untersuchungen von Aushandlungsprozessen von Flexibilitgtsarrangements zwischen unterschiedlich interessierten Akteuren, insbesondere korporativen Akteuren, eine Rolle. In unmittetbarem Anschluss daran stellt sich schlieNich die Frage, in welcher Weise Akteure oder Institutionen auf rasch wechselnde Anfordemngen durch ihre Umwelt reagieren. Die Behandlung dieser Frage erfordert die pr~zise Bestimmung der Dimensionen, in denen Arbeitsflexibilit~it hergestellt werden kann. Zur Beschreibung von Arbeitsflexibilit~it kommen die folgenden Dimensionen in Frage: Arbeitszeit, und zwar beztiglich der Lage (chronologischer Aspekt) und der L~nge (chronometrischer Aspekt) der Arbeitszeit (wann und wie lange wird gearbeitet?); Arbeitsort (wo wird gearbeitet?); und Qualitgt der Arbeit (wie wird gearbeitet?). Entsprechend umfasst Arbeitsflexibilisierung all jene Magnahmen, dutch welche die Bereitschaft und F~ihigkeit von Handlungssystemen gest~rkt werden, in diesen Dimensionen flexibel zu (re)agieren. Ich fasse die begriffliche Grundausstatmng Dr soziologische Untersuchungen von Arbeitsflexibilit~t und Arbeitsflexibilisierung kurz zusammen. Arbeitsflexibilit~t bezeichnet einen Vorrat an Handlungsaltemativen, Arbeitsflexibilisierung dessen Herstellung. Arbeitsflexibilitgt ist ein Potential yon Akteuren oder yon Institutionen. Es ist zu unterscheiden zwischen Verursachern von Flexibilit~itserfordemissen und Anpassern an Flexibilitgtserfordernisse, und eng verbunden damit zwischen Tr~gem der Kosten (Verlierer) und Beziehern der Ertr~ge (Gewinner) yon Flexibilisierung. Dimensionen der Arbeitsflexibitit~it sind: Zeit, Raum und Qualitgt der Arbeit.
3. Rfickblick: Die Debatte fiber Arbeitszeitflexibilit~it
Der Arbeitsflexibilit~itsdiskurs begann mit der Debatte um Arbeitszeitflexibilisierung in den sp~iten 70er und 80er Jahren des 20. Jahrhunderts. In dieser Debatte dominierte die Unterscheidung yon Gewinnem und Verlierem yon Arbeitszeitflexibilisierung alle anderen Differenzierungen. In analytischer Perspektive hat die frahe Diskussion tiber Arbeitszeitflexibilisiertmg also das Pferd yon hinten her aufgezaumt: Man fxagte nach Interessen, nach Gewinnem und Verlierern, noch bevor das Untersuchungsfeld tiberhaupt analytisch und empirisch aufgearbeitet worden war. Aus politischer Perspektive ist dieses Vorgehen zwar verst~indlich, aber sozialwissenschaftliche Untersuchungen sollten diese Pers193
pektive nicht verdoppeln, sondern aus Distanz zu ihrem Gegenstand Einsichten fiber ihn gewinnen. Die interessenperspektivischen Verkt~rzungen der frttheren Arbeitszeitflexibilisierungsdiskussion sicherten ihr zwar erhebliche Aufmerksamkeit, m6gen aber zugleich ein Grund flir ihren Mangel an Nachhaltigkeit gewesen sein. Ich rufe kurz die wesentlichen Phasen der Diskussion in Erinnerung. In der ersten Phase der Diskussion dominierten zuerst kurz Darstellungen yon Arbeitszeitflexibilisierung als moderne Arrangements im Interesse aller (vgl. Teriet 1976; Teriet 1977). Diese Position nahm den Interessenaspekt zwar auf, entproblematisierte ihn jedoch zugleich und neutralisierte sein Konfliktpotential, so dass man sich technischen Fragen widmen konnte. Dies war die Zeit, in der diverse Muster yon Arbeitszeitflexibilit~it erfunden und auf ihre Realisierbarkeit in Betrieben getestet wurden (vgl. Hoff 1983). Hand in Hand mit der Auffassung, Arbeitszeitflexibilitgt schaffe win-win-Situationen, ging die Entwicklung von Arbeitszeitberatung als einer betriebswirtschaftlichen Teildisziplin. Die erste Phase der Diskussion um Arbeitszeitflexibilisierung bezog sich also auf Interessen, nicht aber auf Interessenkonflikte. Das Grundproblem dieser fi~hen harmonistischen Sicht auf Flexibilisierung bestand in Folgendem. Arbeitszeit ist eine der wesentlichsten Determinanten der Gestalmng von Lebenszeit (vgl. Rinderspacher 1985: 288; Vobruba 1989: 75ff.). Die unterschiedlichen auf den Arbeitsprozess bezogenen Interessen manifestieren sich darum primgr in Arbeitszeitkonflikten und erfordem genaue Regelungen des zeittichen Einsatzes yon Arbeit. Insofern Arbeitszeitflexibilisierung dazu ffihrt, dass Arbeitszeitregelungen uneindeutig werden, muss sie also Gegenstand yon Interessenkonflikten werden. Dies zeigte sich bald, in der zweiten Phase. Der technokratische Optimismus wurde nun yon Wortmeldungen fiberlagert, in denen energisch auf die partikulare Interessengebundenheit von Arbeitszeitflexibilisierung aufmerksam gemacht wurde. Diese Entwicklung wurde durch mehrere Faktoren begt~nstigt. Zum einen: Sobald sich die Gewerkschaflen ~berhaupt zu Arbeitszeitflexibilisierung positionierten, positionierten sie sich dagegen (vgl. B~icker, Seifert 1982). Zum anderen: Im Konflikt um die Arbeitszeitverkarzung im Jahr 1984 beruhte die Strategie der Arbeitgeber im Wesentlichen darauf, Arbeitszeitflexibilisierung als ,,Alternativangebot" zur kollektiven Arbeitszeitverkt~rzung ins Gesprgch zu bringen. Damit best~itigten sie die Interessengebundenheit der Debatte und best~rkten die Gewerkschaflen in ihrer kritischen Haltung zu Arbeitszeitflexibilisiemng (vgl. Bleses/Vetterlein 2002: 135). Der Erfolg von kollektiver Arbeitszeitverkt~rzung wiedemm zog das Argument nach sich, dass je k~zer 194
die Arbeitszeit wird, ihre Lage zunehmend zum Gegenstand von Verhandlungen werden masse. Die Diskurskonstellation war kompliziert: Die Arbeitgeberverbfinde forcierten Arbeitszeitflexibilisierung, beanspruchten damit im Interesse aller zu agieren und setzten zugleich ihre Flexibilisierungsvorschlgge gegen die Politik kollektiver Arbeitszeitverkt~rzung ein. Die Gewerkschaften attackierten die Auffassung, Flexibilisierung sei im Interesse ,,Aller" und interpretierten die Verteilung der Vor- und Nachteile von Arbeitszeitflexibilisierung im Klassenparadigma, sahen die Arbeitnehmer als die Tr~ger der Flexibilisierungskosten und positionierten sich konsequent dagegen. In den Sozialwissenschaften gab es damals (in den letzten 70er Jahren und in der ersten H~lfte der 80er Jahre) eine vergleichsweise breite Arbeitszeitdebatte und intensive Arbeitszeitforschung (vgt. z.B. Offe et al. 1982; Talos/Vobruba 1983). Hier fanden sich intensive Bemahungen, das Thema Arbeitszeitflexibilisierung quer zum politischen RechtsLinks-Schema zu positionieren. Im Einzelnen drehte sich die Debatte vor allem um Kongruenzen und Inkongmenzen yon Arbeitszeitw~nschen der BescMftigten und betrieblichem Arbeitseinsatzbedarf (vgl. Strfirnpel 1982; Landenberger 1983) und damit um das tats~chlich empirisch feststellbare Ausmag der verschatteten Konsenspotentiale zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite. Weiter ging es in der Diskussion urn das Verhglmis yon Arbeitszeitflexibilisierung zu Beschgftigungsproblemen (vgl. Heinze et al. 1979; Mertens 1982). Angesichts der sich verfestigenden hohen Arbeits|osigkeit war dabei vor allem die Frage yon Interesse, ob das in chronometrischer Arbeitszeitflexibilisierung (insbesondere in Teilzeitarbeit) enthaltene Arbeitsumverteilungspotential beschgftigungspolitisch genatzt werden kann. Dazu wurde das folgende Argument vorgetragen: Umfragen zeigen, dass die tats~ichlich geleisteten Arbeitszeiten fiber den gewfinschten liegen. Vermehrte Teilzeitarbeit erm6glicht den Abbau fiber den Arbeits- und Einkommensprfiferenzen liegender Arbeitszeiten und ergibt neue Arbeitsm6glichkeiten und damit einen Beitrag zum Abbau von Arbeitslosigkeit. Die Pointe des Arguments also war: Abbau kollektiver Unterbeschgftigung dutch Abbau individueller 12rberbescMftigung (vgl. Strttmpel 1990). Daraber hinaus ging es in dieser Phase der Debatte um Kompatibilitgtsprobleme von neuen Arbeitszeitmustem mit Bedingungen kollektiver lnteressenvertretung (vgl. Deutschmann 1982; Vobruba 1982) und um Arbeitszeitflexibilisierung im Kontext weiter reichender Vorstellungen von sozialem Wandel (vgl. Olk et al. 1979; Vobruba 1985). Aus dieser Diskurskonstellation ergaben sich zwei Konsequenzen, die in der dritten Phase der Debatte ins Zentrum der Aufmerksamkeit rfickten. Zum einen 195
liegen sich die ,,falschen Allgemeinheiten" (Wiesenthal 1985) und insbesondere das Argument, dass Arbeitszeitflexibilisierung prinzipiell im Interesse aller sei, nicht l~inger aufrechterhalten. Dies entwertete das Thema als Arbeitgeber-Instmment gegen kollektive Arbeitszeitverk~rzung erheblich. Zum anderen liel3 sich die Gewerkschafisposition gegen Arbeitszeitflexibilisierung nicht durchhalten: Erstens, weil sich arbeimehmerseitige Wt~nsche nach flexiblen Arbeitszeiten nicht auf Dauer ignorieren liel3en und zweitens, weil sich die Gewerkschaften ungeschfitzt dem Vorwurf ausgesetzt sahen, dass erst ihre Weigerung, Flexibilisierung in ihr politisches Repertoire aufzunehmen jene Nachteile von Flexibilisierung verursache, deretwegen sie Flexibilisierung pauschal ablehnten. Spiegelbildlich wurde arbeitgeberseitigen Forderungen nach mehr Flexibilitgt die Empirie der tats~chlich existierenden Flexibilitfit entgegen gehalten und der Vorwurf erhoben, dass Untemehmen diverse FlexibilisierungsmOglichkeiten aufgrund eines nicht welter explizierten ,,Zeitkonservatismus auf der Arbeitgeberseite" (Matthies 1994: 157) nicht nutzten. Im Ergebnis schrumpfte die Schnittmenge gemeinsamer Interessen an Flexibilit~it erheblich - etwa in Folge ebenso schlichter wie wichtiger empirischer Befunde wie dem, dass Frauen an Vormittagsteilzeitarbeitsplgtzen, der Einzelhandel aber vor allem an Nachmittagsteilzeitarbeitskr~fften interessiert ist (vgl. Eckart 1983).
4. Erweiterungen des Flexibilitiitsdiskurses Gegen Ende der 80er Jahre kam es zu einer thematischen Erweiterung des Arbeitsflexibilitfitsdiskurses. Von da an ging es nicht mehr nur um Arbeitszeitflexibilisierung, sondern um die Flexibilisierung des Arbeitseinsatzes in allen seinen drei Dimensionen: Zeit, Raum, und Qualifkkation. Ft~r diese Erweiterung gab es zwei Hauptursachen. Zum einen trieben die zunehmenden /3konomischen Instabilit~ten, zunehmender globaler Wettbewerb, etc. die Ausweitung der Flexibilisierungsdiskussion an. Gleichgaltig ob real, konstruiert oder einfach interessenpolitisch fibertrieben - die breit geteilte Diagnose einer zunehmend instabilen Welt/Skonomie ist die ausschlaggebende Ursache far die welt verbreitete l~lberzeugung, dass umfassende Flexibilisierungen der Arbeits- und in ihrer Folge der LebensverhNtnisse ohne Alternative ist. Und zweitens wurde die Entwicklung atypischer Beschfiftigungsformen und die zunehmende sozialwissenschaftliche und politische Aufmerksamkeit ffir Prozesse der Erosion des Normalarbeitsver196
hgltnisses (vgl. Mtickenberger 1985; Vobruba 1990), seien sie deregulierungspolitisch initiiert, Unternehmensstrategie, oder Ausdruck des Wunsches nach selbstbestimmter Arbeit (vgl. H6rning et al. 1990) zu einem wichtigen Stimulus far Flexibilisierung in ihren drei Dimensionen. Damit trat die Flexibilisierungsdebatte in die Phase der Systematisierung nach unterschiedlichen Flexibilisierungsdimensionen ein. Die Durchsicht unterschiedlicher Vorschl/~ge ergibt, dass man yon einer allgemein anerkannten Systematisierung noch welt entfernt ist. Immerhin kristallisieren sich gewisse Konstanten heraus. Wenn ich recht sehe, k6nnte sich die folgende Systematisierung flir zukanftige Forschung als nfitzlich erweisen. Sie beruht auf zwei Unterscheidungen: Externe und interne Flexibilitgt sowie numerische und funktionale Flexibilit~it von Arbeit (vgl. Dragendorf 1988; Matthies et al. 1994; van Kooten 1999: 50; Klammer/Tillmann 2001: 7). Kombiniert man diese Unterscheidungen, so ergeben sich daraus die folgenden vier M6glichkeiten von unterschiedlichen Typen von Arbeitsflexibilit/~t.
Schaubild: Typen von Arbeitsflexibilitgt
Numerisch
Funktional
Extem
Heuern/Feuern, (Leiharbeit) (I)
Unternehmensberater, externe Krisenmanager (II)
Intern
Uberstunden, Teilzeit (III)
Job rotation, Springer, Weiterqualifikation (IV)
Diese Systematik von Flexibilit~itstypen beruht auf Unterscheidungen, die far die sozialen Konsequenzen von Flexibilisierungsstrategien wichtig sin& Numerische Flexibilitfit bezieht sich auf die Dimension Zeit, und zwar auf den chronometrischen und den chronologischen Aspekt des Arbeitseinsatzes (I und III). Funktionale Flexibilit/~t dagegen betriftt primgr die Dimension der Qualitgt des Arbeitseinsatzes (II und IV), eine Dimension, die wiederum in engem Zusammenhang mit der Qualifikation der Arbeitskraft steht. Die Unterscheidung extern/intern dagegen impliziert Flexibilit~t in der Dimension Raum. Interne Flexibilitfit bezieht sich auf Flexibilit~it innerhalb eines Unternehmens (llI und IV), 197
exteme Flexibilitgt impliziert Arbeitsplatzwechsel zwischen Unternehmen (I und II). Insbesondere die letztere Unterscheidung spielt eine wichtige Rolle far das Verstgndnis der Entwicklung des Ansatzes und unterschiedlicher Formen yon Flexicurity. Dies werde ich nun zu zeigen versuchen, indem ich Flexicurity zu der Unterscheidung zwischen intemer und externer Flexibilit~t in Beziehung setze.
5. Flexicurity: Z w i s c h e n A n p a s s u n g ...
Die Flexicurity-Idee entstand aus der Verknapfung yon Ideen zur Deregulierung des Arbeitsrechts und zum Urn- und Ausbau der Sozialpolitik. Die Diskussion hatte also ganz offensichtlich zwei interessenpolitisch h6chst unterschiedlich besetzte Ausgangspunkte. Die Erweiterung des Spektrums legaler Arbeitsverhfiltnisse durch Dereguliemng wurde als in der Denkwelt des Neoliberalismus beheimatet gesehen und als Arbeitgeberposition vorgetragen. Der Urn- und Ausbau des Sozialstaats und sozialpolitischer Rechtsansprfiche dagegen wurde mit marktskeptischen Positionen assoziiert und eher dem Repertoire Graner und heterodoxer sozialdemokratischer Positionen zugeordnet. Entsprechend kompliziert und langwierig war es, jenseits der weltanschaulichen und interessenpolitischen Frontstellungen Platz far die Denkm6glichkeit yon Komplementarit~tsverh~lmissen zwischen Deregulierung und sozialpolitischer Verrechtlichung zu schaffen (vgl. Standing 1986; Zapfet al. 1987; Vobruba 1997: 77f.). Das Flexicurity-Konzept kam Ende der 90er Jahre auf. Es stellt insofem eine Neuerung dar, als hier Flexibilit~it im Rahmen einer neuen, komplexeren Bedingungskonstellation gedacht wird. Die Grundidee yon Flexicurity ist, dass Flexibilit~it des Arbeitseinsatzes Kontinuitgt des Einkommens voraussetzt. Da~ber herrscht in der Diskussion weitgehend Einigkeit. Bei der Ausgestaltung gibt es zwei Grundversionen: In der ersten Version handelt es sich um Flexibilit~it im Rahmen des Betriebes, also um interne Flexibilitgt. Die erforderliche Einkommenskontinuit~it wird hier durch kontinuierliche Betriebszugeh6rigkeit hergestellt. In der zweiten Version dagegen handelt es sich um Flexibilitgt, die den Wechsel zwischen Betrieben und damit m(Sglicherweise den Wechsel zwischen Arbeit und Arbeitslosigkeit einschliel3t, also um externe Flexibilitgt. Dies bedeutet, dass die Einkommenskontinuitgt, die sich im Falle intemer Flexibilittit durch
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die Betriebszugeh0rigkeit ergibt, bei extemer Flexibilit~it aus einer arbeitsmarktexternen Einkommensquelle hergestellt werden muss 3. Arbeitsflexibilisierung und Sozialpolitik mtissen also so zusammen gedacht und aufeinander so abgestimmt werden, dass sich unterschiedliche Formen von Flexibilit~its-Stabilit~its-Arrangements realisieren lassen. Diese Unterscheidung zwischen extemen und internen Versionen von Flexicurity und den systematisch unterschiedlichen sozialpolitischen Anforderungen, die sich daraus ergeben, ist in der Flexicurity-Diskussion bisher nicht ausreichend klar getroffen wurde. Ich gehe n ~ e r darauf ein. 1. Jene Versionen yon Flexicurity, die auf interner Flexibilit~it beruhen, setzen kontinuierlicher Betriebszugeh0rigkeit voraus. Rascher Wandel der Quantit~it und Qualit~it der Nach~age aus der (Markt-)Umwelt von Unternehmen werden als Flexibilit~itsanforderungen an die Akteure im Betrieb weitergegeben (vgl. Flecker 2005). Damit einher k0nnen Schwankungen der Einkommensh6hen gehen, doch sichert die kontinuierliche Betriebszugeh6rigkeit die prinzipieller Kontinuit~it des Einkommensflusses (Feld III). Der Beitrag der Sozialpolitik zur ErmOglichung von Flexibilit~it besteht hier vor allem darin, Langzeitprobleme flexibler Arbeitsverh~iltnisse abzufangen. Dabei wird (implizit) stets an einen - allerdings sehr h~iufigen - Spezialfall interner numerischer Flexibilit~it gedacht: Die Anpassung an sich rasch tindernde betriebliche Erfordernisse erfolgt durch Expansion atypischer Besch~iftigungsverh~iltnisse, als Voraussetzungen ffir variable individuelle Arbeitszeiten und Arbeitseinkommen. Atypische Besch~iftigungsverh~iltnisse ziehen in einem auf das Normalarbeitsverh~iltnis fokussierten System sozialer Sicherung immer dann sozialpolitische Probleme nach sich, wenn auf ihrer Grundlage keine Anwartschaften auf ausreichende Sozialtransfers erworben werden k0nnen (vgl. Vobruba 1990). Atypische Beschaftigungsverh~iltnisse bedeuten jedoch nicht per se Flexibilit~it, sondern k0nnen als Bausteine Ftir Flexibilit~itsarrangements gentitzt werden. Die sozialpolitische Absicherung atypischer Besch~iftigungsverh~iltnisse (vgl. Keller/ Seifert 2005) ist darum nur indirekt ein Beitrag zu Flexicurity. Es geht dabei vor allem um ,,sozialpolitische Probleme in der Nacherwerbsphase" (Keller/Seifert 2000: 296). Zugleich wird in diesen Ffillen in der politischen und politiknahen Diskussion ohne weitere l~erprOfung unterstellt, dass die Arbeitgeber die Flexibilit~itsverursacher sind, die den Arbeitnehmern Anpassungen an FlexibiliEine interessante Ausnahme ist Leiharbeit: Externe Flexibilitat in der Raumdimension (Wechsel des Arbeitsorts) wird hier mit Einkommenskontinuitat dutch stabile ZugehOrigkeit zum verleihenden Unternehmen verbunden. Bezeichnender Weise handelt es sich dabei aber meist nur um stark reduzierte Einkommenskontinuit~it.
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tgtserfordemisse abverlangen; und dass die Arbeimehmer gegen all zu hohe Flexibilitgtsanfordemngen und Flexibilit~itskosten verteidigt werden mtissen. Hier manifestieren sich zwei traditionelle Schwerpunktsetzungen und Grenzen des Aktionsradius gewerkschaftlicher Politik der Arbeitsflexibilisierung: Zum einen ist exklusiv an Politik far Besch~iftigte gedacht. Die Idee, dass soziale Sicherheit (temporgre) Ausstiege aus abhgngiger Erwerbstgtigkeit erm6glichen soll, wird zwar am Rande erw~hnt, zentral drehen sich die Ideen aber um die sozialpolitische Absicherung der Folgen yon Flexibilitfit am Arbeitsplatz. Und zum anderen g ~ d e t diese Version des Flexicurity-Konzepts auf einer eindeutigen Annahme tiber die Ursachen yon Flexibilitfit: Arbeitsflexibilitfit ergibt sich als untemehmerisch gesetzte Notwendigkeit, auf welche sich die Beschfiftigten einzustellen haben. Konsequent hei6t es aus Gewerkschaftsperspektive: Es geht um die ,,Stgrkung der Anpassungsf~higkeit" (Riester 1999: 142). Insgesamt handelt es sich bei dieser Version yon Flexicurity um die Anpassung der Sozialpolitik an ArbeitsverhWmisse jenseits des Normalarbeitsverh~iltnisses. Eine Sozialpolitik, die nicht mehr strikt am Normalarbeitsverh~ltnis orientiert ist, soll die Akzeptanz dieser Arbeitsformen fOrdem und damit ihre unternehmerische Nutzung als Bausteine far Flexibilitgtsarrangement erm6glichen. 2. Bei den Versionen yon Flexicurity, die auf externer Flexibilit~t beruhen (Feld I), handelt es sich um Konzepte, bei denen soziale Sicherheit Flexibilitgt tiber den Einsatz in ein und demselben Unternehmen hinaus erm6glichen soll. Sozialpolitik spielt dabei eine aktive Rolle, sobald in das Konzept yon Flexicurity Sozialtransfers mr Erwerbsffihige (vgl. Hanesch 2001) eingebaut werden. In diesem Fall geht es um die Absicherung vo~bergehender arbeitsmarktexterner Lebenslagen und somit um mehr Flexibilit~it bei Arbeitsplatzwechsel. Aus Untemehmensperspektive bedeutet dies die sozialpolitische Absicherung externer, numerischer Flexibilitgt. Aus individueller Sicht wird eine Absenkung des Einkommensrisikos bewirkt, das mit abnehmender Beschfiftigungsstabilitgt (vgl. Struck/K6hler 2004) verbundenen ist. Soziale Sicherung leistet so ihren Beitrag zur Herstellung yon Flexicurity, indem sie die Untemehmen yon unternehrnensfremden (sozialen) Problemen, insbesondere yon der Aufgabe langfristige Einkommenskontinuitgt Rtr die Arbeitskrgfte herzustellen, entlastet. Dies ermOglicht ebenso individuelle Wechsel zwischen ArbeitsverhNmissen wie weniger problematisches Feuem und Heuern, da die Arbeitskrgfte jenseits des Arbeitsmarkts vor~bergehend sozialpolitisch absorbiert werden. Dieser Effekt wurde von Lutz (1984) als Funktion der Landwirtschaft far den Kapitalismus historisch untersucht, und yon Offe und Lenhardt (1977) als Funktion yon Sozialpo200
litik schlechthin angesehen. Das Bild der ,,atmenden Fabrik", das bestimmte Formen intemer Flexibilit~t veranschaulichen soll, passt abrigens far solche Formen yon Flexicurity auf der Basis externer Flexibilit~tt viel besser. Die 121berlegungen bisher betreffen die funktionsbezogene Perspektive auf Flexicurity, in der Flexibilitgt und soziale Sicherheit hinsichtlich ihres Entsprechungsverh~lmisses untersuchen werden k0nnen. Ebenso kann man Flexibilitgt und soziale Sicherheit als Gegenstand unterschiedlicher Interessen in Aushandlungsprozessen von Flexicurity begreifen und analysieren. Das ist die konflikttheoretische Perspektive auf Flexicurity. Die Verknapfung von funktionsbezogener und konflikttheoretischer Perspektive erfolgt dadurch, dass das Funktionieren yon Flexicurity-Arrangements eine Abstimmung zwischen den Interessen an Flexibilitfit einerseits und an sozialer Sicherheit andererseits zur Voraussetzung hat. Damit wird Flexicurity als Ergebnis komplexer Aushandlungsprozesse zwischen Vertretem von Interessen an Flexibilit~t und yon Interessen an sozialer Sicherheit erkennbar. Unter Flexicurity als Verhandlungsergebnis (vgl. generell Ozaki 1999) kann man dreierlei verstehen: 1. Die Verhandlungen haben Flexicurity direkt zum Gegenstand, die Verhandlungspartner haben Flexicurity als gemeinsames Ziel, Streitgegenstand sind die Konditionen. 2. Eine Verhandlungspartei will Flexibilit~t, die andere soziale Sicherheit. Flexicurity ist nicht Verhandlungsziel aber Verhandlungsergebnis, Kompromiss. 3. Schliel31ich gibt es Konstellationen, in denen Interessen an Flexibilit~t und an Sicherheit vOllig getrennt verfolgt werden, ja Domfinen unterschiedlicher Politiken sind, als deren Ergebnis sich gleichwohl Arrangements herstellen, die Flexicurity-Konzepten zumindest nahe kommen. Dies ist etwa dann der Fall, wenn das Arbeitsrecht dereguliert wird und sich gleichzeitig durch Verschiebungen yon lohnarbeitszentrierten zu familienbezogener Leistungen implizit eine Grundsicherungsorientierung durchsetzt. So entwickeln sich unter der Hand tats~chlich rudiment~re Ans~tze yon Flexucurity-Konstellation, die auf externer Flexibilitgt beruhen. ,,Augenscheinlich ist nicht nur dort Flexicurity drin, wo auch Flexicurity draufsteht." (Blanke/Bleses 2005:381) Diese Entwicklung findet einstweilen noch abseits der Programmdiskussion und der forschungspolitischen Aufmerksamkeit far Flexicuritykonzepte statt. Man kann diese drei Versionen externer Flexicurity auch als Sequenz yon intendierten zu nicht intendierten Ergebnissen lesen. Im ersten Fall ist Flexicurity Ziel der verhandelnden Akteure, im zweiten Fall Kompromiss, im dritten nicht intendiertes Ergebnis separater Entwicklungen.
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6 .... und A u t o n o m i e g e w i n n e n
Allen bisher genannten Formen von Flexicurity ist gemeinsam, dass sie unter der Dominanz von 6konomischen Flexibilit~tserfordemissen, beziehungsweise untemehmerischen Flexibilitfitsinteressen stehen. Sozialer Sicherheit kommt dabei die Rolle zu, Nachteile far Arbeitskrfifte abzufedem. Davon prinzipiell zu unterscheiden sind solche Formen von Flexibilit~t, die nicht 6konomischem Anpassungsdmck, sondem Wanschen entsprechen, die sich aus dem Eigensinn individueller Lebensfahrung ergeben. Mit Blick auf das Spannungsverhgltnis von Institutionen und Personen formuliert: Hier geht es um individuelle Bedttrfnisse an Flexibilitgt jenseits von (aber nicht zwingend: gegen !) Effizienzsteigerungen. Die Effekte solcher Formen yon Flexicurity subsumiere ich unter den weiteren Begriff ,,Autonomiegewinne". Welche empirischen Anzeichen gibt es dafur, dass soziale Sicherung zur materiellen Absicherung eigensinniger flexibler Lebensfahrung gent~tzt wird? Mittlerweile liegen einige Untersuchungen zu individuellen Einkommensstrategien der Leute zwischen Arbeitsmarkt und Sozialstaat vor. Die Ergebnisse weisen darauf hin, dass soziale Sicherheit tatsfichlich auch zur Steigerang individueller Flexibilit~it im Sinn yon Autonomiegewinnen genutzt werden kann, dass Lebensfahrung an der Schnittstelle von Arbeitsmarkt und Sozialstaat ein komplizierter Balanceakt zwischen instimtionellen Zwgngen und individuellen Autonomiebestrebungen ist (vgl. Gebauer et al. 2002; Gebauer/Vobruba 2003; Stranck 2003; Pelikan 2003; Struck 2005). Gerade um solche Gemengelagen genau analysierten zu kOnnen, halte ich eine klare Unterscheidung der unterschiedlichen Bedeutungsgehalte von Flexicurity far wichtig. Abet man sollte daraus keine kategorische Wendung gegen die Okonomie und ihre Erfordernisse machen. Autonomiesteigernde Flexicurity erm6glicht generell die Einbeziehung eines weiteren Zukunftshorizonts in individuelle Handlungskalkt~le. Dies schliegt die M6glichkeit ein, nicht erst reaktiv auf 6konomische Umweltgndemngen zu reagieren, sich also flexibel anzupassen, sondem m6gliche Ver~inderungen zu antizipieren und sich darauf prgventiv einzustellen, also im sozialen Wandel innovativ zu sein. Ich halte dies far den entscheidenden Vorteil des Europ~ischen Sozialmodells im globalen Wettbewerb gegent~ber den USA, in denen adaptive, erzwungene Flexibilitgt dominiert (vgl. Vobruba 2001). Soziale Sicherung, welche Einkommen verstetigt und damit eine gewisse Unabh~ingigkeit vom Arbeitsmarkt verbargt, wirkt zugleich qualifikationsstabilisierend und erh6ht damit die Chancen auf Wiederbesch~ftigung. Dieser Kombinationseffekt yon Autonomiegewinnen und Effizienzsteigerung wird irn Ver202
gleich USA - Bundesrepublik Deutschland (West) deutlich (vgl. Gangl 2004). Die Bedeutung yon sozialpolitisch unterfdtterter Flexibilit~it und damit der M6glichkeit der Nutzung von Autonomiegewinnen zum Zweck yon Effizienzsteigerungen hat zuletzt Martin Heidenreich (2004) empirisch belegt. Ich fasse zusammen. Die Zusammenh~inge zwischen sozialer Sicherheit und Arbeitsflexibilit~it lassen sich mit der Unterscheidung zwischen externer und intemer Flexibilit~it systematisch in folgender Weise verkntipfen: Versteht man Flexicurity als interne Flexibilitat, geht es im Wesentlichen darum, Sozialpolitik auf atypische Besch~iftigungsverhalmisse einzustellen. Versteht man Flexicurity als exteme Flexibilit~it, geht es datum, aus diskontinuierlichen Arbeitsbiographien (einigermagen) kontinuierliche Erwerbsbiographien zu machen. Die Effekte von Flexcuritykonzepten sind nicht ganz eindeutig. Je nachdem, wie die in solchen Konzepten realisierten Flexibilit~its-Stabilit~its-Balancen ausfallen, ergeben sich Kombinationen von (Skonomischen Effizienzsteigerungen und individuellen Autonomiegewinnen. Auf der Grundlage dieser Dekonstruktion der strikten Entgegensetzung von 6konomischen Effizienzsteigertmgen und individuellen Autonomiegewinnen mOsste es m6glich sein, die Effekte unterschiedlicher Kombinationen yon Flexibilit~it und sozialer Sichemng empirisch zu tmtersuchen, neue Schnittmengen von Interessen an Flexibilisiemng und sozialer Sicherung sichtbar zu machen und Parallelentwicklungen von Arbeitsflexibilisierungspolitik (Deregulierung) und Sozialpolitik so aufeinander zu beziehen, dass ihre impliziten Beitrage zur Herstellung yon Flexicurity-Konstellationen analysierbar werden. Es erscheint lohnend, die sich abzeichnenden Transformation der lohnarbeitszentrierten Sozialpolitik (vgl. Bleses/Seeleib-Kaiser 2004), wie auch immer sie politisch motiviert sein mag, in dieser Perspektive zu untersuchen. Erst auf der Grundlage solcher analytischen und empirischen Klfirungen liege sich dann sinnvoll der Versuch machen, zwischen ,,good and bad flexibilization" (vgl. Wallace 2003: 791) zu unterscheiden.
7. Flexibilitiitsketten in der flexiblen Arbeitsgesellschafl
Ich habe eingangs Flexibilit~t als Relation zwischen Akteuren und lnstitutionen und ihrer Umwelt eingefahrt. Die Umwelt yon Akteuren und Institutionen besteht ffeilich wieder aus Akteuren und Institutionen. Daraus folgt, dass Flexibilitgt eine Relation zwischen unterschiedlichen Akteuren, zwischen unterschiedlichen Institutionen sowie zwischen Akteuren und Institutionen bezeichnet. Ver203
steht man Flexibilitfit in dieser Weise als ein soziales Ph~inomen und soziologisches Thema im Spannungsverh~ilmis von Akteuren und Institutionen, dann erm6glicht dies unmittelbar eine weitere Einsicht, die, wenn ich recht sehe, bisher systematisch wenig beachtet wurde. Generell herrscht die lJberzeugung, dass der Grtmd far zunehmende Flexibilit~itserfordemisse darin liegt, dass Akteure und Institutionen einer zunehmend instabilen und turbulenten Umwelt ausgesetzt sind, auf deren Anforderungen sie sich einstellen mtissen. Die Frage nach den Ursachen dieses s~ikularen Trends wird mit dem Hinweis auf Entwicklungen in der 13konomie, von Weltmarktzusammenhangen etc. beantwortetund diese Art Antworten wird iablicherweise als ausreichend angesehen. Das mag far manche Zwecke tats~ichlich so sein, doch bringt man sich damit um die Chance einer weiter reichenden Einsicht. Wenn man sich klar macht, dass die Umwelt yon Akteuren und Institutionen wiederum aus Akteuren und Institutionen besteht, kann man sehen, dass Flexibilit~it in langeren Verursachungsketten steht. L~ingere Verursachungsketten im Sinn von Georg Simmel kommen dadurch zustande, dass ihre einzelnen Elemente Wirkungen und zugleich Ursachen flu" weiter gehende Wirkungen sind. Indem Flexibilitat als Wirkung und zugleich als Ursache weiterer Flexibilitat auftritt, entwickeln sich Flexibilisierungsketten. Pr~iziser: Flexible Reaktionen in der Umwelt eines Handlungssystems werden von diesem als Ver~inderungen dieser seiner Umwelt und als Anstol3 wahrgenommen, selbst flexibel zu reagieren. Anpassungen eines Akteurs oder einer Institution an Flexibilit~itsanforderungen, die aus deren Umwelt kommen, lassen bei ihnen weitere Flexibilitgtsanforderungen entstehen, welche sie an ihre Umwelt richten. Zum Beispiel in folgender Weise: Anforderungen von bestimmten Akteuren, etwa von Kunden, werden instabil, daraus ergeben sich Flexibilit~itserfordemisse far Institutionen, etwa Unternehmen, aus denen wiederum Flexibilitatsanfordemngen far die Akteure - also die Arbeitskrafte - werden, welche die Institutionen repr~isentieren, sie in Gang halten, in ihnen tatig sind. Aus deren flexiblem Verhatten werden wiederum an anderen Stellen Flexibilit~itsanforderungen, zum Beispiel in ihren Familien. Und so weiter. Wenn man Flexibilitat im Spannungsverh~ilmis von Akteuren und Instimtionen konzipiert, kann man also erkennen, dass Flexibilisierungsprozesse eine Tendenz zur Selbstverstgrkung haben. Der Arbeitsmarkt ist der zentrale Mechanismus far die Allokation von Arbeitskraft und die Verteilung von Lebenschancen. Arbeitsflexibilit~it betrifft die Allokations- und die Verteilungsfunktion des Arbeitsmarktes unmittelbar. Die Soziologie der Arbeitsflexibilit~it zielt darum sowohl direkt auf den Arbeitsmarkt als auch weit tiber ihn hinaus. Folglich er6ffnen die Vorschl~ige zu einer 204
theoretischen Grundlegung einer Soziologie der Arbeitsflexibilit~it weiter gehende Fragem6glichkeiten. Erstens geht es um Fragen nach Arbeitsflexibilitat zwecks 6konomischer Effizienzsteigerung und individueller Autonomiegewinne sowie um Fragen nach der Bedeumng von sozialer Sicherheit als Rahmung zunehmender Arbeitsflexibilit~it. Zweitens geht es um Fragen nach den Folgen des umfassenderen Ph~inomens einer sich abzeichnenden flexiblen Arbeitsgesellschaft. Wirkt Arbeitsflexibilisierung grundsgtzlich effizienzsteigemd, oder tauchen die Effizienzgewinne der einen bei anderen 6konomischen Akteuren ats Effizienzverluste auf? Mit dieser Frage schliegt die Soziologie der Arbeitsflexibilit~it an die Diskussion um Funktionsbedingungen unterschiedlicher Varianten des Kapitalismus an. Denn im Kern geht es in dieser Diskussion darum, die unterschiedlichen 6konomische und sozialen Leistungsprofile und -niveaus der weltwelt konkurrierenden Sozialmodelle auf unterschiedliche Gestaltungen und Gewichtungen ihrer Flexibilitgts-Stabilitgts-Relationen zurtickzuftihren (vgl. Streeck 2000; Soskice 1999; Vobmba 2001). Setzt sich Flexibilit~it immer welter fort oder kommen sie irgendwann zum Stillstand, weil der Flexibilisierungsimpuls im Laufe l~ingerer Flexibilisierungsketten absorbiert wird? Was lasst sich zu der Vermutung sagen, dass dieses Absorbieren Kosten verursacht, die systematisch zu Lasten der Absorbierenden, Akteure oder Institutionen, geht, also auf Kosten jener, welche den Flexibilisiertmgsimpuls nicht mehr weiter geben k6nnen? In dieser Perspektive k6nnte Sozialpolitik als Element von Flexicurity als ,,Interdependenzunterbrecher" (Huf 1998) angesehen werden, der zugleich Umverteilungen dieser Kosten bewirkt. Sofem man ftir plausibel htilt, dass sich die Selbstverstarkungstendenz von Flexibilit~it sozialpolitisch nicht vollst~indig beherrschen l~isst, ergeben sich schlieNich noch weiter ffihrende Fragen, die in Richtung auf eine durch die Soziologie der Arbeitsflexibilit~it informierte Gesellschaftsdiagnose weisen: Wohin ftihrt die allgemeine Selbstverst~irkungstendenz von Flexibilitat? Welche Probleme der Beherrschbarkeit yon Flexibilit~it als Folge yon Flexibilit~it sind zu erwarten? Was bedeutet der grundlegende soziale Wandel in Richtung einer flexiblen Arbeitsgesellschaft?
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Literatur
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