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Tödliche Umwelt Kriminal-Erzählungen
DIANA VERLAG ZÜRICH Printed ...
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Dieses eBook ist nicht zum Verkauf bestimmt.
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Tödliche Umwelt Kriminal-Erzählungen
DIANA VERLAG ZÜRICH Printed in Germany © 1986 by Diana Verlag AG, Zürich Umschlaggestaltung: Graupner & Partner GmbH, München Satz: Compusatz GmbH, München Druck und Bindung: Ebner Ulm ISBN 3-905.414-36-8
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Michael Molsner Eine Stimme am Telefon 1 Pünktlich um acht klingelte das Telefon, wie neuerdings jeden Mittwochabend. Mark Stauder sah mich aufmerksam an. Ich nickte, und er hielt den Daumen hoch: Nicht nur das Aufzeichnungsgerät meines Anrufbeantworters war betriebsbereit, Stauder hatte es auch geschafft, den Zimmerlautsprecher zuzuschalten. Ich selbst bin aus der Betriebsanleitung nie ganz schlau geworden. Corinna Castrup schloß die Augen, sie wollte »ganz Ohr« sein. Ich nahm den Hörer ab. »G. Justus Wolff, Anlageberatungen.« Das G. steht für Gotthold, meine Eltern nennen mich bis heute so – kirchenfromme Protestanten, streng sparsam. Daß ich vermögenden Leuten gegen Provision behilflich bin, noch viel vermögender zu werden, kommt ihnen irgendwie unseriös vor. Wohin denn »das alles« mal führen solle, fragte mein Vater mich auf der Eröffnungsparty für mein Büro mit süßsaurer Miene. Als ich ihm ehrlich sagte: »Ich will Millionär werden«, war er schockiert: »Hoffentlich immer auf der geraden Straße, mein Junge.« Ich versicherte ihm, krumme Wege seien auch in unserer Branche die Ausnahme. Da kannte ich Winklhof noch nicht. Der Anruf heute abend war, wenn ich die Kreuzchen in meinem Kalender richtig nachgezählt hatte, bereits der zehnte. »So förmlich heute abend?« fing er an und lachte. »Ich bin’s doch bloß wieder, der gute alte Winklhof aus der Mainmetropole des Mammons.« Und er schlug noch mal seine ansteckende Lache an. Wer schon einem Telefonverkäufer zugehört hat, kennt seine Stimme unter andern so sicher heraus wie der versierte Sexkunde am Telefon eine Nutte von einer normalen Frau unterscheiden kann; der Tonfall ist so ganz anders. Winklhof sprach wie einer von diesen Telefonhaien – aber das täuschte wohl. Inzwischen hielt ich ihn eher für einen korrupten Wirtschaftsjournalisten, der sich ein fettes Zubrot verdiente.
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»Was gibt’s denn wieder? Sie wissen, ich bin nicht interessiert.« »Sollten Sie aber sein.« Seine Stimme wurde geschäftsmäßiger; er merkte, sein Charme verfing nicht. »Der Kurs von BIANCA steigt, oder? Hab ich zuviel versprochen?« Was blieb mir übrig als ein verdrossenes »Ja« – aber ich sprach es wie eine Frage aus. Es sollte klingen wie »Na und?«. »Diese positive Entwicklung setzt sich fort«, machte er sonniger weiter. »Am kommenden Freitag ist BIANCA der Spitzentip der Woche in folgenden Zeitungen…« Er räusperte sich, bevor er eine angesehene bürgerliche Tageszeitung und ein noch angeseheneres Wirtschaftsfachblatt nannte. Ich gähnte. »Sonst noch was?« »Jawoll, Herr Wolff. Als Geheimtip für den Senkrechtstarter des Jahres wird am Wochenende CHEMICAL UNITED in die staunende Öffentlichkeit lanciert.« Zuerst war ich mehr überrascht als erschrocken. »Wer besorgt das Lancieren?« Er nannte eine allgemein für seriös gehaltene Zeitschrift für Wirtschaft und Finanzen. Es war nicht so, als ob ich nun plötzlich mit einem Schlag gewußt hätte, wieso Winklhof mich – mich und keinen andern – in sein fragwürdiges Vertrauen ziehen wollte. Aber vielleicht ahnte ich es schon, mein Herz hämmerte. »Kann ich nicht begreifen, Herr Winklhof. Jedenfalls, bei uns in Petersried ist überhaupt noch nichts klar. Sogar der Bürgermeister hat von einem Skandalkonzern gesprochen, die Aktien fallen ja nicht ohne Grund.« »CHEMICAL UNITED, Aufsteiger des Jahres«, wiederholte er, lachte noch mal und legte auf. Auch ich legte den Hörer auf die Gabel zurück. Ich war erschüttert und wollte das im ersten Moment verbergen. Sinnlos. Corinna Castrup warf ihrem Partner einen erstaunten Blick zu; beide starrten sie mich neugierig an. Eine private Detektei, DIE EUROERMITTLER, Sitz in Kempten. Mich interessierte vor allem die Frau – als frühere Richterin für Wirtschaftsdelikte am Amtsgericht Augsburg hatte sie vielleicht noch Beziehungen, die mir jetzt helfen konnten. In ihrem teuren Lederkostüm machte die zierliche Person
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einen kompetenten Eindruck. Der junge Deluxe-Allgäuer, den sie als ihren Partner vorgestellt hatte, war wohl mehr fürs Technische zuständig; jedenfalls überließ er es ihr, das Wort zu führen. »Und dieser Herr Winklhof ist also nur eine Stimme am Telefon?« »Ich hab ihn nie gesehen«, bestätigte ich. »Sie wissen nicht mal, ob er wirklich Winklhof heißt?« »Er nennt sich so.« »Und ob er tatsächlich von Frankfurt aus operiert?« »Er behauptet es. Er hat ja auch jetzt wieder von der Mainmetropole des Mammons gesprochen.« »Und er bietet Ihnen nie eine Erklärung dafür an, wieso er schon Mitte der Woche weiß, welche Zeitungen am Freitag die BIANCAAktie empfehlen werden? Die Zeitungen sind heute ja noch gar nicht gedruckt, nehm ich an.« »Er lacht immer bloß, wenn ich frage.« »Herr Wolff – welche Erklärung haben Sie sich denn zurechtgelegt?« »Ich denk mir halt, er ist Wirtschaftsjournalist und schreibt die Empfehlungen selber.« »Aber Geld verlangt er keines von Ihnen? Das wär doch naheliegend.« »Das Papier steigt, also man kann dran verdienen«, warf Mark Stauder ein und grinste so freundlich animiert, als würde er sich gern am Gewinn beteiligen. »Genau, das ist richtig.« »Also Winklhof nennt Ihnen gratis und franko eine Aktie, die gestiegen ist und noch immer steigt.« Corinna zog das Gespräch wieder an sich. »Warum?« »Damit ich sie meinen Kunden empfehle.« »Die könnten mit dieser Empfehlung Geld verdienen. Und Sie?« »Je mehr lukrative Tips ich in meinem Börsen-Info abdrucke, desto mehr Anleger werden darauf aufmerksam und abonnieren es. Außerdem könnte es den Depots zugute kommen – ich verwalte ja auch Aktienpakete für meine Kunden, kaufe Papiere an oder stoße sie ab, je nachdem, welches den meisten Gewinn verspricht. Ich bin am
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Gewinn beteiligt. Also der Tip mit BIANCA war klar als Bestechung gedacht.« »Winklhof wollte Sie kaufen?« »Er hat es nie ausdrücklich gesagt, deshalb ist mein Verdacht zuerst in eine ganz andere Richtung gegangen. Ein Fall von Börsenmanipulation, dachte ich – da soll eine spanische Aktie hochgejubelt werden, eben die BIANCA, also sorgt man dafür, daß möglichst viele Anlageberater das Papier empfehlen. Je mehr es empfohlen wird, desto mehr wird gekauft. Je mehr gekauft wird, desto höher steigt der Kurs.« »Verstehe – und wieso kommen Sie jetzt auf den Gedanken, Sie sollen bestochen werden?« »Er hat CHEMICAL UNITED erwähnt! Ja, sagt Ihnen das nichts?« Sie sah ihren Partner an. Stauder zuckte die Schultern. »Ein Chemie-Multi. Aber er hat in letzter Zeit Pech gehabt. Schwere Unglücksfälle durch Schadstoffemissionen…« »CHEMICAL UNITED will hier, in Petersried, ein neues Zweigwerk bauen! Der Gemeinderat hat aber noch nicht entschieden, ob das Gesuch genehmigt wird. Es hat doch sogar in der Zeitung gestanden.« Corinna nickte. »Ich erinnere mich jetzt… Der Bürgermeister hat den Antrag begrüßt, aber auch strenge Sicherheitsgarantien gefordert. Haben Sie denn Einfluß auf den Gemeinderat, Herr Wolff?« »Ich bin der Fraktionsführer der Unabhängigen Liste! Das Zünglein an der Waage. Diese korrupten Lumpen.« Wir haben in Petersried zwei Kirchen – für uns Protestanten seit Kriegsende auch eine. Von beiden Türmen schlug es lärmend sechs Uhr. Feierabend für Meli Voss; sie schloß den Dritte-Welt-Laden hinter sich ab und kam mit ihrem verhaltenen Lächeln zu mir heraus: Ich möcht’ mich gern freuen, sagte ihr Lächeln, aber darf ich das? Ein schönes Mädchen. Leider versteckte sie ihre schlanken Beine in einer lappigen Baumwollhose aus Peru und ihren Busen hinter einem Campesino-Hemd aus Nicaragua. Wenigstens trug sie die schwarzen Locken heute offen, sie fielen über eine mexikanische Männerweste.
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Ich aß die senegalesischen Erdnüsse vollends auf, die ich vor zehn Minuten bei ihr gekauft hatte, und knüllte die Tüte aus Recyclingpapier zusammen. »Unsere Touristikbranche kann sich mal wieder über eine Riesensaison freuen«, sagte ich und wies auf die Gäste, die sich eng gedrängt durch unsere einzige Einkaufsstraße schoben. »Als ob sie es gar nicht erwarten könnten, ihr gutes Geld für schlechte Lebensmittel loszuwerden«, stimmte Meli zu. Immer wieder fallen ihr solche Bemerkungen ein, die mich zunächst einfach mit Stummheit schlagen. Es hätte keinen Sinn gehabt, die herrliche Auslage des Obst- und Gemüseladens in Schutz zu nehmen – die Erdbeeren aus Italien, Melonen aus Griechenland, Aprikosen aus Südfrankreich. Meli hätte mir im einzelnen nachgewiesen, mit welchen Insektiziden oder Herbiziden die Früchte vergiftet waren. Als wir bequem in meinem Wagen saßen, riskierte ich – um nur irgendwas zu reden – eine Frage nach ihrem bevorstehenden Abitur. Sie machte eine abwehrende Handbewegung: »Was ich weiß, das zählt bei den Lehrern nicht. Und den Scheiß, den die mir eintrichtern wollen, den mag ich nicht lernen.« Was sollte ich antworten? Als Fraktionsführer der Unabhängigen in unserem Gemeinderat vertrete ich eine sehr heterogene Wählerschaft. Wenn ich wiedergewählt werden will, muß ich das Kunststück fertigbringen, es allen halbwegs recht zu machen. Es hat keinen Sinn, ausgerechnet die fanatischen jungen Alternativen durch Widerspruch zu reizen. Die Familie Voss wohnt auf halber Höhe des Hirschrück, dem Hausberg von Petersried. Da hinauf fuhren wir. Als wir auf der Wendeplatte hielten, wartete Meli höflich, bis ich die Scheibe hochgekurbelt hatte. Mit offenen Fenstern konnte ich den Wagen nicht stehenlassen, das oberhalb gelegene Hotel Hammerschlag hatte seine Bettenkapazität erweitert, und die Abwässer von sechzig Gästen flossen nun durch den Tobel ab, der genau am Haus vorbeiführt. Die Abwässer waren ordnungsgemäß vorgeklärt, trotzdem stanken sie wie eine offene Kanalisation. Die Familie Voss lebte und atmete seit dem Hotelausbau wie neben einer Abortgrube.
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Ich widerstand der Versuchung, ein Taschentuch vor Mund und Nase zu drücken, und folgte Meli die steile Treppe hinauf. Oskar saß am roh zusammengezimmerten Holztisch vor dem Haus und trank seinen Kräutertee. Wilde Minze, selbst gepflückt. Das Fenster hinter ihm stand offen, deshalb hörte Sylvia unsere Begrüßungsfloskeln; für einen Moment sah ich ihr Gesicht auftauchen, argwöhnisch und verschlossen. Als sie mich erkannte, glitt ein Lächeln durch ihren Blick. Sie kam heraus. »Justus! Wie nett. Bierchen, Wein oder Tee?« »Tee, bitte. Aber schwarzen, wenn’s geht.« Meli küßte ihren Vater auf die Wange und ließ sich mit einer wohlig-anschmiegsamen Bewegung neben ihm auf die Bank nieder. Ich bemerkte, daß sie keinen Versuch machte, ihre Mutter zu begrüßen. Arme Sylvia, als ganz normaler Mensch hatte sie einen schweren Stand in dieser Familie. Dabei bissen alle von dem Gehalt mit runter, das sie im sogenannten höheren Dienst der Bundespost verdiente – in Kempten drüben. Sylvia gehörte zu den vielen Pendlern, die in Petersried wohnten, hier aber keine Arbeit fanden. Sie kam mit einer Tasse und einem Stück Nußkranz zurück. Ich bedankte mich. Wir saßen alle so locker und entspannt da wie in frischer Höhenluft. Unser Thema hätte der Gestank sein müssen und wie man ihn abstellen könnte – doch Oskar sprach über die Knappheit der fossilen Brennstoffe. Eines nicht fernen Tages würden sie verbraucht sein und was dann? »Wo bleibt die gütige Oma mit dem Silberhaar?« fragte ich, um ihn von seinem Lieblingsthema der globalen Katastrophen wegzubringen. Aber ich merkte gleich an seinem Unbehagen, daß ich ihn besser nicht nach seiner Mutter gefragt hätte. »Großmutter wollte ins Holz«, sagte er zu Meli. Ich wurde auf die Axthiebe aufmerksam, die vom Berg herunterklangen. »Was denn – mit achtzig Jahren macht die noch selber Holz?« »Sie hat sich geärgert, daß ich den Wintervorrat noch nicht aufgestapelt hab…« Er lächelte wie aus Nachsicht mit der Alten. »Jetzt macht sie es eigenhändig – aus Trotz und Bosheit. Sie hofft, ich krieg
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dann wieder meine üblichen Schuldgefühle. Aber diesmal krieg ich keine. Mach nur, hab ich gesagt.« »Sehr tapfer, Oskar.« »Ja?« Er sah überrascht auf. »Ach, Unsinn.« Er lächelte bescheiden wie ein Mann, für den Heldentaten etwas Alltägliches sind. Sylvia, dankbar für meine Ironie, drückte unterm Tisch ihr Knie gegen meines. KRACH KRACH KRACH kam es von oben. Als ob der penetrante Gestank nach Scheiße nicht genügend Störung gewesen wäre. Wie eine Berghexe hat die Alte ihren Sohn und die Enkelin in einen Wahn reingezogen, der ihr wohl tut und die andern zerstört. Sie tut so, als hätte sie ihrer Familie nach dem Krieg ein sicheres, schönes Heim geschaffen. In Wirklichkeit hat sie als Flüchtlingsfrau aus geborgten, selten gekauften, manchmal geschenkten und gelegentlich sogar geklauten Einzelteilen eine Art befestigter Hütte errichtet: krummwandig, klamm und finster. Und vor allem ohne Baugenehmigung. Das Hexenhaus ist ein Schwarzbau, er kann jederzeit abgerissen werden. Eigentlich hängt der Sitz der Familie Voss nur am dünnen Faden des Wohlwollens der Gemeindeverwaltung – die will ein altes Mütterchen nicht auf die Straße setzen. Seit er mit sieben Jahren seinen in Ostpreußen gepackten Rucksack hier niederlegte, hat Oskar illegal auf dem Hirschrück gewohnt. Aus Angst, verjagt zu werden, traut er sich nicht, seine Interessen gegen die Nachbarn zu vertreten. Er kann sie aber auch nicht verschweigen – daran würde er ersticken; also bringt er sie in verkleideter Form vor, indirekt, drapiert als globale Menschheitsanliegen. Nicht der stinkende Tobel vor seinem Fenster bekümmert ihn, wenn man ihn hört, sondern die Reinhaltung der Flüsse und Weltmeere. Statt ein selbstbewußter Nachbar zu sein, hat Oskar sich zum engagierten Ökologen entwickelt – aber ohne sich den Grünen anzuschließen; die Grünen fordern rigoros den Abriß von Schwarzbauten im ganzen Allgäu. KRACH KRACH KRACH. Noch mit achtzig Jahren war die Berghexe stark genug, ihren Sohn und seine Familie im Käfig einer Lebenslüge gefangenzuhalten.
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Oskar sprach mit mir also nicht über das Hotel Hammerschlag und seine Abwässer – er analysierte die Gefährdung unserer Alpenregion durch CHEMICAL UNITED. »Also dann«, rief Meli und schob ihren Arm unter den ihres Vaters, »organisieren wir gleich eine Demo oder versuchen wir’s vorher im guten?« »Wir könnten eine Unterschriftenliste auflegen«, schlug Oskar vor und richtete seinen sanften Blick auf mich. »Wie willst du denn zum Protest aufrufen«, fragte ich ihn, »bevor noch ein Sicherheitsgutachten vorliegt?« »Es steht doch fest«, sagte er mild, »daß bei der Produktion von CHEMICAL UNITED Giftstoffe anfallen…« »Die Manager behaupten, das Allgäuer Zweigwerk kann einwandfrei entsorgt werden.« »Und warum glaubt ihr, daß die jetzt auf einmal die Wahrheit sagen? In Südfrankreich haben sie auch erklärt, es ist alles sicher –- als das Giftgas sich verzogen hatte, waren drei Leute tot und ich weiß nicht wie viele geschädigt. Und wie war es in Belgien?« »Drum sitz ich ja hier und diskutiere. Ich hab selber Zweifel, aber es sind halt Zweifel und keine Vorurteile.« »Was sagt die SPD?« »Der Fraktionsführer als hauptamtlicher DGB-Funktionär sieht zunächst mal die Arbeitsplätze, die da entstehen könnten. Willst du ihm das verübeln?« »Und die CSU?« »Ja, nun…« Ich räusperte mich und überlegte, ob ich die Wahrheit sagen sollte. Aber warum eigentlich nicht? »Ein neues Projekt dieser Größe würde natürlich zu einer enormen Belebung der gesamten Wirtschaftstätigkeit führen. Denk an die Folge-Investitionen. Da wäre Wohnraum für die Belegschaft zu schaffen, Straßen, Schulen, Kindergärten… Da käme viel Geld in Umlauf.« Sie grinsten mich an, vom Berg herunter hallten die Axtschläge mit unverminderter Wucht. Was das Grinsen bedeutete, konnte ich nicht mißverstehen; trotzdem drückte es Oskar auch in Worten aus: »Also da könnten sich wieder mal ein paar wendige Geschäftsleute eine goldene Nase verdienen.«
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»Auf Kosten der Umwelt«, ergänzte Meli. »Und der Allgemeinheit!« rief Sylvia in ihrem verzweifelten Bemühen, ihrer Familie zu gefallen. Ich mußte sie wohl etwas grantig angesehen haben, denn als sie mich zum Auto begleitet hatte, flüsterte sie, sie komme mich bald wieder besuchen. Ihre Besuche waren selten geworden in letzter Zeit, wir hatten ein gar zu schlechtes Gewissen, wenn wir miteinander schliefen. »Irgendwelche aktuellen Sorgen?« fragte ich ablenkend. Daß etwas sie bedrückte, war ihrem Gesicht auch im Mondlicht leicht anzusehen. »Meli ist magersüchtig.« »Was?!« »Sie ißt wie ein Scheunendrescher, und dann geht sie aufs Klo und bricht alles wieder. Der Arzt sagt, es ist sehr gefährlich, sie kann verhungern.« »Und du durchschaust nicht, wieso?« Mir war es auf Anhieb klar. »Oskar selber liefert eure Tochter dem Hungertod aus. Indem er Meli jeden Genuß als irgendwie unehrenhaft darstellt! Am Autofahren darf sie sich nicht freuen, weil die Abgase den Wald ersticken. Sie soll nicht vergnügt zur Disco-Musik tanzen, weil das eine Konservenmusik ist, mit der die US-Imperialisten unser Gehirn waschen. In einen netten Allgäuer Jungen darf sie sich nicht verlieben, weil die Einheimischen schon immer gegen euch waren – und ein Tourist soll es auch nicht sein, weil der bald wieder wegfährt, und dann sitzt sie da, das arme Kind, und läßt den Kopf hängen… Und Alkohol ist gepanscht und Zigaretten sollten sowieso verboten sein, wegen Lungenkrebs… Dein Oskar hat den Diktatorenkomplex, der meint, die Welt geht zugrunde, weil sie nicht auf ihn und seine guten Ratschläge hört. Aber Meli verhungert mitten im reichsten Land von Mitteleuropa.« »Ach, Justus… Deine Erklärungen immer.« »Hab ich nicht recht?« »Nein!« »Wieso nicht?«
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»Meli hat ja einen festen Freund. Um diese Zeit kommt er immer… Bleib noch ein bißchen, dann lernst du ihn kennen.« »Mit welcher Begründung soll ich jetzt wieder mit rauf?« Während sie sich die Antwort überlegte, krachte es oberhalb im Gebüsch. Der junge Peter Hammerschlag kam längs des stinkenden Tobels den Berg herunter, ein losgetretener Stein rollte vor ihm her. Als er unsere dunklen Gestalten sah, wurde er langsamer. »Guten Abend…?« »Guten Abend, Peter«, sagte Sylvia munter. »Ach, Frau Voss…« Mir nickte er zu, wir kannten uns bloß vom Sehen. »Ist die Meli nicht da?« »Doch, sicher, gehn Sie nur rein.« Daß das Hotel Hammerschlag seine Abwässer an ihrem Schlafzimmerfenster vorbei zu Tal schickte, mußte sie ärgern. Daß der Sohn des reichen Hoteliers ihrer Tochter nachstieg, schmeichelte ihr offensichtlich. »Sei nicht mehr bös«, bat sie leise. »Dir bin ich nie bös, das weißt du genau!« »Soll ich bald zu dir kommen?« »Ich freu’ mich.« Aber in Wirklichkeit war es mir nicht recht, daß sie ihren Mann betrog, statt ihm energisch zu widersprechen. Ich mochte Sylvia viel zu sehr, um ihr diese Schwäche – eigentlich war es Feigheit – durchgehen zu lassen. Andererseits profitierte ich davon, was für ein Durcheinander! »Der alte Hammerschlag weiß doch von dem Techtelmechtel?« »Ja, und ist nicht begeistert.« »Bloß daß ich nichts Falsches sage. Mit dem hab ich noch einen Termin.« Ich küßte sie zum Abschied. »Ruf an, bevor du kommst – daß ich auch da bin.« Seit dem Anbau des riesigen neuen Flügels – alle Zimmer mit Dusche, Radio und TV – liegt das Hotel Hammerschlag beherrschend wie ein Schloß auf dem Hirschrück. Nachts leuchten die Fenster weit übers Tal hin – aber vom direkt unterhalb gelegenen Vossschen Haus ist das Hotel nicht zu sehen. Es geht zu steil hinauf, und Wald liegt dazwischen.
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Wär es noch Tag gewesen, ich hätte das Auto stehenlassen und wäre zu Fuß den befestigten Wanderweg weitergegangen. In einer Schleife, vorbei an der Fütterungsstelle für Rotwild, führt er zum Kamm des Hirschrück. Aber jetzt war es dunkel, und die Abkürzung längs des stinkenden Tobels, wo Peter heruntergekommen war, wollte ich nicht nehmen. Sie ist lebensgefährlich, wenn man sich nicht genau auskennt; sie verläuft oberhalb des Steiljochs – einer abfallenden Felswand. Wer da runter stürzt, sagt nichts mehr. Also drehte ich auf der Wendeplatte um und fuhr im zweiten Gang abwärts auf die B19 zurück. Nach einem halben Kilometer zweigt die Piste ab, die hinter den Hirschrück und an seiner Rückseite hinauf zum Hotel führt. Eine neue Straße, erst vor wenigen Tagen waren die Arbeitskolonnen abgezogen; ich befuhr sie zum erstenmal und war zufrieden damit. Der alte Hammerschlag kam gerade in seinen Arbeitshosen aus dem Stall, als ich vor der jetzt leeren, im Dunkeln liegenden CaféTerrasse einparkte. Wie viele Bauern mißtraut Hammerschlag dem Geschäft mit dem Fremdenverkehr: »Und was ist, wenn auf einmal keiner mehr kommt?« hab ich ihn fragen hören. Er hat deshalb die Gründlandwirtschaft nicht aufgegeben, zwanzig Milchkühe hält er noch; das Hotel wird von seiner Frau betreut. »Die neue Straße ist halt doch was anderes als der Rumpelweg mit seinen Schlaglöchern«, sagte ich, als wir uns setzten. Sofort lief er rot an. »Mir war der alte Weg gut genug!« Ich fühlte mich berechtigt, ihm offen ins Gesicht zu grinsen – denn ich hatte die Nachricht, auf die er wartete. »Sie ist besonders dann besser, Herr Hammerschlag, wenn sie zur Gänze von der Gemeinde bezahlt werden muß!« Er verschluckte sich. »Sakrament, Herr Wolff! Also die Gemeinde darf keine Beteiligung von mir verlangen?« Ich grinste. »Spannen Sie mich doch nicht so auf die Folter! Mit wem haben Sie gesprochen?« »Mit dem Bayerischen Gemeindetag in München – das ist ’ne Art Dachverband der Kommunalverwaltung. Da gibt’s selbstverständlich auch eine Abteilung für juristische Fragen…« Er hing an meinen
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Lippen, aber ich trank erst mal mein Helles aus und wartete, bis die Bedienung nachgefüllt hatte. »Prost, Herr Hammerschlag.« »Jaja, wohl bekomm’s…« »Also«, sagte ich, »ich habe dort mit dem zuständigen Herrn gesprochen, und dem war das Problem nicht neu. Er hat nicht mal nachschlagen müssen, aus dem Kopf hat er die Auskunft gegeben. Die Straße – schön, neu und breit, wie sie ist – liegt nun mal im Außenbezirk. Und im Außenbezirk darf die Gemeinde keine Kostenbeteiligung der Anrainer eintreiben.« »Sind Sie auch sicher?« »Freilich. Sie können sich darauf verlassen. Der Bürgermeister hatte und hat für seine Forderung an Sie keine Rechtsgrundlage.« Da explodierte er. »Den Lumpen, den verkommenen, zeig’ ich an! Fünfundzwanzigtausend Mark von mir liegen in der Gemeindekasse!« »Die hatten Sie schon erwähnt…« Hammerschlag sprach andauernd von diesem Scheck. »Und das ist bloß die Anzahlung, wenn es nach dem aalglatten, diesem ausgeschamten…« »Herr Hammerschlag!« mahnte ich. »Der Bürgermeister muß nicht unrechtmäßig gehandelt haben.« Seine Faust krachte auf den Tisch. »Entweder es gibt eine Rechtsgrundlage und er kann sagen, laut Paragraph soundso müssen alle Anlieger die neue Straße mitfinanzieren – oder es gibt keine und die Gemeinde zahlt, aber sonst niemand!« Das alles brachte er kaum heraus vor Empörung und erstickter Wut. »Herr Hammerschlag, bitte…!« »Wie soll man sich da nicht aufregen? Fünfzigtausend Mark, die Hälfte gleich als Anzahlung auf den Tisch! Und jetzt hör ich, es gibt keine Rechtsgrundlage. Wo samma denn, auf Sizilien?« »Herr Hammerschlag – Sie wissen, daß ich im Gegensatz zu Ihnen eine sehr gute Meinung von unserm Bürgermeister hab…« »Weil er euch Gemeinderäten hinten reinschiebt, was er den andern aus der Nase zieht! Hörn Sie doch auf«, schrie er, als ich widersprechen wollte. »Wieso hat er Ihnen denn eine neue Latern an die Kreuzung vor Ihrem Haus gestellt, kaum daß Sie gewählt waren?«
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»Herr Hammerschlag…« Der Haß zwischen seinem Clan und der Familie Brutscher war älter als ich. Obgleich ich das wußte, schokkierte es mich immer wieder, was beim geringsten Anlaß aus dem alten Ex-Bauern und Neu-Hotelier hervorbrach. »Bitte hören Sie mich an.« Er atmete schwer, nur mit Mühe bezwang er sich. »Jaja.« »Erstens, die Gemeinde darf von Ihnen keinen Pfennig als Kostenbeteiligung für den Straßenneubau eintreiben… Aber jetzt kommt ein Zweitens! Die Gemeinde, und als deren Vertreter der Bürgermeister, darf hingegen sehr wohl den Weg der freiwilligen Vertragsgestaltung beschreiten.« »Ich hör immer freiwillig…« »Der Bürgermeister hatte und hat also das Recht, von Ihnen als dem eigentlichen Nutznießer der neuen Straße…« »Ich hab keine Neu-Zuwegung beantragt, ich nicht!« »…eine Art freiwilligen Beitrag als Spende zu erbitten.« »Der Ignaz Brutscher und bitten? Ha!« Er war aufgesprungen. Etliche Gäste sahen herüber und grinsten, für sie war das Bauerntheater. »Über eine Bitte laß ich jederzeit mit mir reden, bin ich ein Unmensch? Aber wie ist es denn gewesen, als ich zu ihm ins Büro getreten bin? In der einen Hand hat er meinen genehmigten – meinen vom Landratsamt genehmigten Bauantrag gehalten und damit vor meiner Nas herumgewedelt. Und die andere Hand…« Inzwischen brüllte er so, daß der Koch aus der Küche kam. »…die andere Hand hat er aufgehalten, der Lump, und hat gesagt: ›Aber zuerst will ich deinen Scheck sehen, Otto, sonst geb’ ich den Bauantrag nicht heraus.‹« Am Nebentisch räusperte sich ein Tourist. »Dat issen unsittlichet Koppelungsjeschäft – jestatten, ich bin Anwalt.« »Sehr gut! Genau! Ein unsittliches Koppelungs…« Er ließ sich wieder auf seinen Stuhl fallen. »Jejebenenfalls is dat eine Nötijung!« »Nein«, sagte ich zum Nebentisch hinüber, »schönen Dank für den juristischen Beistand, aber ich hab mich selber sachkundig gemacht. Der Nötigungs-Paragraph ist ziemlich vertrackt formuliert, die Pression muß zu einem bösen Zweck ausgeübt werden. Und der Ignaz«,
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sagte ich nun wieder zu Hammerschlag, »der hat dir das Geld ja zum Nutz und Frommen der Gemeindekasse aus der Tasche gezogen. Nicht zu seinem eigenen Nutzen. Und«, machte ich schnell weiter, weil er bereits wieder explodieren wollte, »ihr habt jetzt hier dieses herrliche Hotel stehen, ein Millionenobjekt…« »Ich versteh’ schon!« All sein Haß schien sich umstandslos auf mich zu richten. »Und weil das Hotel so schön geworden ist, kann ich ja ruhig fünfzigtausend Mark Schmiergeld zahlen!« »Herr Hammerschlag, Sie beleidigen mich.« Ich stand auf. Seine Frau – groß, schlank, würdig – kam eilig herein, jemand mußte sie benachrichtigt haben. Er sah sie und wurde sofort ruhiger. »Das wollt ich nicht…« »Das meine ich aber auch. Für wen fahr’ ich denn eigens nach München und schlag mir die Zeit beim Gemeindetag um die Ohren?« »Jetzt hocken Sie sich halt wieder hin.« Frau Hammerschlag nahm bei uns Platz. »Um was geht’s denn?« »Sie sind nicht verpflichtet, die Kosten für den Straßenneubau mitzutragen. Aber der Bürgermeister hat das Recht, um eine Kostenbeteiligung zu bitten…« »Jeder kann um was bitten«, sagte sie aufmerksam. »Die Frage ist, ob ich geben will oder nicht!« »So mein’ ich es aber nicht. Der Bürgermeister hatte sozusagen ein moralisches Recht, eine Kostenbeteiligung zu verlangen – weil schließlich jeder Bewohner des normalen, inneren Dorfbereichs tief in die Tasche greifen muß, wenn man ihm eine neue Zufahrt baut. Jetzt sagte der Bürgermeister und sagen etliche Gemeinderäte mit Recht: Wieso soll der Hammerschlag eigentlich die ganze lange Straße zu seinem Hotel umsonst kriegen…?« »Ist es der Außenbezirk oder nicht?« fragte er dumpf. »Ja. Aber es wird im Gemeinderat als Gesetzeslücke empfunden, daß die Anrainer nicht zahlen müssen, wo innerhalb der geltenden Bebauungspläne jeder zur Kostenbeteiligung herangezogen und notfalls sogar gepfändet wird!« »Wir profitieren von einer Gesetzeslücke?« fragte sie erstaunt.
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»So sehen es die Fraktionsführer und Bürgermeisterstellvertreter – so haben sie es auf unserer letzten Sitzung gesehen. In öffentlicher Sitzung des Gemeinderats ist der Punkt noch nicht erörtert worden.« »Also moralisch gesehen müßten wir zahlen?« »Ja, Frau Hammerschlag.« »Aber gesetzlich sind wir nicht zur Zahlung verpflichtet?« »Ganz richtig.« »Was meinen Sie, daß wir tun sollten?« »Ich hab kein Geld übrig«, polterte er sofort wieder los. »Was denkt sich denn der Gemeinderat, daß mich der Neubau gekostet hat? Ich bin blank. Geld hab ich keins, nur noch Schulden! Ihr denkt alle, ich sei reich. Landreich bin ich, ja – aber geldarm!« Ich lächelte seine Frau versöhnlich an. »Ein Kompromiß ist in so einem Fall…« »Wo du nicht bist, Herr Jesus Christ!« schrie er. »Ein nackter Mann hat keine Taschen!« »Und wenn Sie einen Acker verkaufen…« »Das ist doch kein Bauland! Das ist landwirtschaftlich zu nutzendes Gebiet! Das ist wertlos – praktisch.« Ich gab es vorderhand auf. »Überlegen Sie sich, wie Sie vorgehen möchten. Von einer Strafanzeige wegen Nötigung würde ich absehen, Nötigung wird schwer nachzuweisen sein. Aber sonst vertrete ich im Gemeinderat alles, was Sie für richtig halten. Ist das ein Wort?« »Da bedanke ich mich aber sehr herzlich, Herr Wolff.« Warm griff sie nach meiner Hand. »Was Sie für richtig halten«, wiederholte ich. »Ob Sie jetzt die Anzahlung von fünfundzwanzigtausend zurückverlangen oder nur sagen, die fünfundzwanzigtausend kann die Gemeinde behalten, aber nicht als Anzahlung, sondern als Gesamtsumme…« »Kommt überhaupt nicht in Frage!« donnerte er mich an. »Wie gesagt, mir ist alles recht. Ich verstehe mich als Ihr Sprecher.« »Danke, herzlichen Dank«, wiederholte sie.
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»So – und jetzt hätt’ ich noch eine Frage…« Ich umriß die Problematik der Ansiedlung von CHEMICAL UNITED, kam aber nicht weit. »Wenn da unten die Schornsteine rauchen, bleibt hier heroben mein Hotel leer«, grollte er finster. »Für was hab ich dann angebaut?« »Es gibt heutzutag doch auch Schornsteine, die nicht rauchen, Herr Hammerschlag!« »Meine Gäste kommen aus Nordrhein-Westfalen. Fabriken sehen die jeden Tag. Im Urlaub wollen die ganz was anderes sehen.« Von den Tischen ringsum wurde Beifall gemurmelt.
2 Von Petersried im Allgäu fahre ich nach Berlin acht Stunden. Es ist die Route über Hof – man verläßt die Bundesrepublik unter einem riesigen Querbau durch. Manch einem wird der Kragen eng, wenn er hinauf schaut – so auch dem Dr. Prokop aus Kempten, meinem derzeit aktuellsten Kunden. »Sieht aus wie’s Tor zur Hölle!« Unbehaglich schaute er zurück, hinauf. »Uns tut hier keiner was«, beruhigte ich ihn und bog auf die Transit-Fahrspur ein. Tatsächlich macht die Abfertigung seit dem Viermächteabkommen selten Schwierigkeiten – wichtig für uns Geschäftsleute. Doch Prokop geriet ins Schwitzen, als der Vopo unsere Pässe zur Sicherheitsprüfung durch einen Schlitz nach hinten weitergab. »Ich bin in Dräsden geboren«, flüsterte er mir mit bangem Blick auf die düstere Uniform zu. Der Vopo gab uns die Pässe zurück. »Gute Fahrt.« »Danke – und Ihnen einen guten Tag!« »Wenn der wüßte, was wir in Berlin vorhaben…« Prokop schob den Zeigefinger hinter seinen Schlipsknoten und ruckte lockernd; zugleich reckte er das Kinn vor, dadurch strafften sich die Truthahnsäcke, die sonst als lockerer Faltenwurf an seinem Hals runterhingen. Ich schwenkte auf die löcherige Autobahn ein. »Das dürfte er ruhig wissen, Herr Dr. Prokop!« So einer war er also – geil auf Geld, aber mit schlechtem Gewissen. »Wir sind doch keine Spekulanten!« »So? Nein? Wie bezeichnen Sie denn Ihre Berliner Tätigkeit?«
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»Als Aufbesserung meiner Anfängerkasse durch Immobiliengeschäfte. Von Aktien allein kann ich noch nicht leben, der Kundenstamm muß sich erst stabilisieren. Vorerst ist es ein Stämmlein, es schwankt in jedem Konjunkturwind.« In einer DDR-Raststätte tranken wir Kaffee, neugierig beobachteten uns die Arbeiter und Bauern. Gegen drei Uhr nachmittags lud ich Prokop im noblen Glitzerhotel am Ku’damm ab und versicherte ihm, die Rechnung sei meine Sache. »Aber ich möchte nicht das Gefühl haben, daß ich Ihnen dadurch bereits…« »Woher denn.« Prokop wollte duschen, ein Stündchen schlafen und gegen Abend zur Baustelle nachkommen… Aber Abend war es noch nicht, erst Nachmittag, und was für einer. Ich war noch nicht richtig raus aus dem Wagen, da kam bereits Moek dahergekeucht – hinter ihm trampelten drei Malocher und hatten ihre sprechendsten Mienen aufgesetzt: Wir haben es schon immer gesagt. Aber auf uns hört ja keiner. »Herr Wolff…!« Er fuchtelte mit seinen schenkeldicken Armen. Ich begriff, daß er mich auf die Schmuddelfassade aufmerksam machte; schon vor dreißig Jahren hätte sie einen Anstrich vertragen können. »Das Gerüst!« Richtig, jetzt erinnerte ich mich. »Es hätte doch heut morgen angeliefert werden sollen!« »Es war ja schon aufgebaut! Vor einer Stunde. Es…« Er verstummte. »Da hat es jestanden, wa?« »Und wo ist es jetzt?« frag ich – man ist ja manchmal blöd. »Ehm komm ich raus und will die Männer einweisen, daß wir noch vor Feierahmd anfangen könn zu malern – wa?« Er holte Luft. »Da ham sie uns das Gerüst jeklaut, Herr Wolff!« »Blödsinn«, sagte ich nach einer Schrecksekunde. »Ein Gerüst kann man nicht klauen. Da müßte ja ein Lkw vorgefahren sein! Wie lang waren Sie denn im Hinterhof?« »Eine Stunde!« »So ein Schmarrn. Da müßten sie nicht nur mit Lkw, sondern auch mit Fachkräften und Werkzeug…« Ich brach ab. Berlin ist ’ne ausge-
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flippte Stadt, hier konnte so ziemlich alles passieren. »Rufen wir erst mal bei Mühlenberg an, die haben das Ding bestellt.« Zwanzig Minuten später stand Mühlenberg senior vor dem Haus und glotzte die leere Fassade an. Einen besseren Partner als diesen alten Fuchs hätte ich mir für meine Berliner Geschäfte nicht mal backen können! Er hat in dieser Gegend schon Häuser hochgezogen, als man das Material noch aus Bombentrümmern bezog. Aber jetzt fiel ihm nur ein mattes »Leck mich am Abend« ein. »Von euch hat es keiner abgeholt?« Er sah mich an wie einer, der an seinem Verstand zweifelt. »Einen Kran ham sie uns mal geklaut. Aber ein Gerüst! Ich muß sofort die Kripo verständigen.« »Da wär noch was«, sagte Moek, als Mühlenberg senior die Tür der Baubude krachend hinter sich zufallen ließ. Für den Anfang reichte es mir eigentlich schon, aber was half das? Wir stiefelten also ins Treppenhaus, und schon kam wieder die irre Oma aus ihrer Erdgeschoßwohnung geschossen: »Mein guter Mann liegt doch unten im Keller«, zeterte sie mich an. »Ihre Arbeiter störn seine Ruhe!« »Dauert gar nicht mehr lange, dann ist hier alles neu, und wir sind weg«, tröstete ich sie… »Noch keine Leiche da unten aufgetaucht?« erkundigte ich mich vorsichtshalber bei Moek, als wir die knarrenden alten Treppen hinaufstiegen. »Herr Wolff, der Mann liegt ganz orntlich auf dem Friedhof. Laut Polizei.« »Die muß es wissen.« Einen Lift einzubauen, kostet Zeit – noch war er nicht drin, wir mußten zu Fuß weiter. Im dritten Stock erwartete uns die nymphomanische Rita. In ihrem weißen Verkäuferinnenkittel – mit nichts drunter, wie ich sehen konnte – stand sie vor ihrer angelehnten Tür und flötete: »Herr Moek, bei mir müßte wieder was gerichtet werden!« »Nein, Fräulein Eder, die Heizung ist drin und die Maler kommen erst nächste Woche«, keuchte er mannhaft. »Eine von den neuen Fliesen im Bad ist aber…«
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Er winkte nur ab, und wir kletterten weiter. »Herr Moek«, sagte ich behutsam, »wie Sie Ihre Mittagspause gestalten, ist Ihre Sache. Aber ich will Sie nicht noch mal während der Arbeitszeit aus Ritas Bett…« »Kommt nich wieder vor!« beteuerte er. Im fünften Stock machte er halt; wir verschnauften erst mal. Dann wies er auf Herrn Riebloffs Tür. »Dat ist die Problemzone.« »Was denn, immer noch?« »Er is heute früh einfach in Urlaub gefahren. Ich war selbst ganz verdattert.« »Ohne die Schlüssel zu hinterlassen? Der Mann hat mir schriftlich zugesichert, daß wir seine Wohnung heute betreten können!« »Herr Wolff, der hat bei mir nichts hinterlassen als bloß ’n schlechten Eindruck.« »Ich hab aber seinen Brief.« Ich klopfte auf meine Brusttasche. »Morgen früh soll der Schlosser uns aufmachen!« Er zeigte mir sein zweifelndes Gesicht. »Auf meine Verantwortung!« »Ja, wenn’s so is, wa? – Dann wär da noch die Wohnung im sechsten Stock, die habe ich bereits aufschließen lassen!« »Im sechsten Stock ist doch gar keine Wohnung gemeldet!« »Es gibt aber eine.« Er führte mich hinauf und hinein. Ich hätte nicht sagen können, was ich erwartete – jedenfalls nicht das, was ich sah. Zweiundzwanzig originalverpackte Fernsehgeräte. Die verschiedensten Marken. Alles teure Color-Stereo-TVs. Treu äugte Moek mich an. »Ich wollte nur fragen, ob Sie vielleicht…? Wa?« »Diese illegale und unangemeldete Wohnung hat doch ganz offensichtlich ein professioneller Einbrecher…« »Ja, sieht so aus, nich?« Ich hatte genug, wahrhaftig. »Rufen Sie selber die Kripo an, Herr Wolff?« »Die werden sich allmählich fragen, was mit dieser Baustelle eigentlich los ist.« Das faßte er nun als Kritik auf und sang mir den ganzen Weg nach unten ein Klagelied vor: Er könne nischt dafür, er gebe sein Bestes!
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Auch für den Diebstahl des Preßlufthammers gestern nachmittag könne ich ihn nicht verantwortlich machen. Nur fünf Minuten habe er sich von der Baubude entfernt! Als er nach dem Scheißen, gut deutsch gesagt, zurückgekommen sei, habe er ja selber seinen Augen nicht getraut! »Wert?« fragte ich ermattet. »Ja – wie…?« »Na, Moek, der Wert des gestohlenen Preßlufthammers?« »Schwer zu schätzen, Herr Wolff. Es is’ ja man bloß ein Gebrauchswert…« Ich freute mich aufrichtig, im Innenhof einen Vertreter der normalen Welt vorzufinden: Prokop, wie aus dem Ei gepellt. Das war nun der Augenblick, auf den es mir ankam. Hier stand der Kunde, dort das Objekt. Das Verkaufsgespräch konnte konkret werden – ich faßte zusammen, was ich ihm bereits in aller Ausführlichkeit dargelegt hatte. »Also mit hunderttausend Mark kaufen Sie sich ein…« »Ja, aber nicht mehr!« »Den Zinsverlust gleichen Sie dadurch aus, daß Sie die Miete erhöhen.« »Ist das nicht Ausbeutung?« erkundigte sich grämlich der ehemalige FDJler, der noch in ihm steckte. »Nein, weil die Wohnqualität verbessert ist… Und das investierte Kapital kriegen Sie über Steuerabschreibungen innerhalb von acht Jahren wieder zurück.« »Wegen der Mieterhöhung – ich bin Zahnarzt und kein Hausmeister. Wenn ich mich erst mit Mietern rumärgern muß!« »Wir machen das für Sie, als Generalvermieter.« »Und was kostet mich das?« »Nichts, weil Sie unsere Provision auf den Kaufpreis schlagen und mit abschreiben.« Noch konnte der Tag ein Erfolg werden. Was kümmerten kleine Querelen mich, wenn nur das Geschäft klappte? »Und Wohneigentum, nämlich einen Anteil an diesem Mietshaus, haben Sie ja außerdem erworben! Wie klingt das?« »Irgendwie unmoralisch!« »Sehen wir uns die Musterwohnung an.«
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Innerlich ächzte ich, äußerlich blieb ich Weltmann. »Was halten Sie davon, wenn wir uns anschließend in Damenbegleitung amüsieren? Im Osten kann man sich einen sehr netten Abend machen, gewußt wo, Herr Dr. Prokop!« Es waren unerwartet düstere Räume, in die ich Dr. Prokop führte. Die nette Studentin, an die wir vermietet hatten, trug nicht mehr gelocktes Blond, sondern einen violetten Hahnenkamm. Ihr Mund war nicht mehr frisch und rot, sondern es lag eine Schminke darauf, so schwarz wie der Lack auf ihren Fingernägeln. Die Architektentochter hatte sich in ein Punkgirl verwandelt, die Wohnung war ihrer neuen Identität angepaßt. Ich versuchte, meiner Benommenheit und Wut Herr zu werden. Fräulein Berger hatte sämtliche Fensterscheiben schwarz angestrichen. Tageslicht hätte aber auch wenig genützt, denn die Wände und Decken, von uns mit weißer Rauhfaser austapeziert, waren ebenfalls schwarz übermalt. Das neu eingebaute Bad hatten wir rosenfarben ausgefliest; auch die Fliesen waren schwarz. Sogar die vormals weißen Fugen zwischen den Fliesen hatte Fräulein Berger eingeschwärzt. Wie eine Gruft sah das verdammte Ding aus, und meine vormals blonde Studentin war die amtierende Totengöttin! Aber ich wollte einen guten Eindruck machen, konnte ich da explodieren wie ein Spießbürger aus Petersried? »Alles sehr schön«, sagte Prokop gefaßt, als endlich die Tür hinter uns zufiel. »Und wann wollen Sie vollends renovieren – Anstrich und so?« Ich sagte mit trockenem Mund: »Lassen Sie uns darüber beim Essen reden.« Es gibt eine Kneipe am Prenzlauer Berg, die serviert ungarische Spezialitäten zu Zigeunermusik. Das armselige Ost-Berliner Milieu drum herum gibt dem Kunden das Gefühl, wahrlich König zu sein. Ines und Andrea – Hostessen, die ich für Kunden wie Dr. Prokop am Bändel halte – können einen Eisblock auftauen, besonders wenn der Zigeunerprimas dem Eisblock ins Ohr fiedelt. Aber der Hexensabbat nahm kein Ende – es gibt solche Tage, hinterher lacht man darüber.
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Also es ist kurz vor Mitternacht, wir kommen angesäuselt aus dem Lokal, Prokop ist praktisch unterschriftsreif… Plötzlich Hilferufe. Verdrücken wir uns, denke ich sofort; kein vernünftiger Mensch, der sich in Ost-Berlin eine Nacht um die Ohren schlägt, würde anders reagieren. Aber mein Prokop ist nicht vernünftig, sondern blau und verknallt. Wie ein Held reckt er das Kinn, er will den Mädels imponieren und ruft mir zu: »Eine Frau in Gefahr!« Ich denk mir: Jesus, Maria, helft! Da schießt er schon in die Dunkelheit davon – oder vielmehr ins verdüsterte Schummerlicht der realsozialistischen Straßenfunzeln. Was hätte ich machen sollen? Ich raste hinterher und erlebte eine unangenehme Überraschung. Ein junges Paar im Kampf mit drei Männern. Brutal sahen die Kerle aus, wahrhaftig. Mir fiel das Herz in die Hosen. Nicht meinem Dr. Prokop. Daß er früher mal Boxsportler gewesen sein muß, wird überdeutlich. Der massigste Angreifer kriegt einen Haken ans Kinn und schlägt lang auf den Rücken – der zweite klappt nach vorn zusammen, keucht und würgt, ihn hat Prokop in den Magen getroffen. Der dritte Angreifer zieht etwas aus der Tasche, das im Schummerlicht aussieht wie eine Gaspistole. Ich hab unterwegs eine Zaunlatte abgerissen und knalle sie ihm vor die Stirn. »Das war’s dann«, faßte Dr. Prokop die Situation zusammen und wandte sich mit Lebemannslächeln an das junge Paar. Die zwei guckten uns aus großen, verwunderten Augen an. Dann machten sie kehrt und rannten. Ich hab selten Leute so rennen sehen. »Danke hätten sie wenigstens sagen können.« Dr. Prokop ist indigniert. Mir schwant auf einmal, daß hier etwas ganz und gar nicht stimmen kann. »Nichts wie weg!« Den Satz hätte ich besser drei Minuten früher ausgesprochen, denke ich noch. Am Ku’damm angelangt, war ich fix und fertig. Mickrig schickte ich Andrea heim, während Prokop die Ines in den Aufzug des Nobelhotels führte. »Hängen Sie das Schild BITTE NICHT STÖREN an meine Tür«, gebot er dem Pagen; der grinste. Als ich vormittags
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gegen elf zum Frühstück kam, winkte Prokop mir frisch und munter mit der Serviette zu. »Schon die Nachrichten gehört, Herr Wolff?« »Wieso, ist Krieg ausgebrochen?« Es hätte mich nicht überrascht. »Radio DDR meldet, daß gestern zwei überführte US-Agenten durch drei Beamte der DDR-Sicherheitsorgane am Prenzlauer Berg verhaftet werden sollten. Sie seien durch eingeschleuste Westprovokateure befreit worden.« Ich konnte nicht lachen. Ich konnte nicht mal mehr frühstücken. Ich hab es auch nicht gewagt, Prokop den Kaufvertrag hinzulegen. Winklhof fing wieder mit seiner üblichen Wie-geht’s-wie-steht’sJovialität an, bevor er zur Sache kam. Er nannte BIANCA als Spitzentip der Woche in den und den Freitagszeitungen, wie seit bereits fast drei Monaten; und dann als Senkrechtstarter des Jahres zum zweitenmal CHEMICAL UNITED. Ich sah, wie Mark Stauder diese an sich nichtssagenden Worte von meinem Anrufbeantworter, wo ich das Gespräch mitschnitt, auf sein eigenes Kassettengerät überspielte. Corinna Castrup saß, wie bei ihrem ersten Besuch, mit geschlossenen Augen da, um besser hören zu können. »Ist notiert, Herr Winklhof – und jetzt möcht ich Ihnen zu dem Chemiekonzern gern noch was sagen. Und zwar kann ich Ihnen berichten, wie speziell einige Meinungsträger aus meiner Stammwählerschaft über die geplante Ansiedlung denken…« Ich hörte ihn lachen – und auflegen. Frustriert saß ich da, mit dem Hörer in der Hand. Corinna Castrup seufzte und öffnete ihre hübschen, dunklen Augen; ihr Partner grinste mich mitfühlend an und spulte das Band zurück. Er ließ es noch mal ablaufen, zum zweitenmal hallte Winklhofs Stimme durch mein Büro: »So, Herr Wolff, da wäre ich wieder, pünktlich wie jeden Mittwoch, pünktlich wie die LUFTHANSA… Aber Sie fliegen ja nicht gern, Sie fahrn lieber Auto, sogar, wenn es bis nach Berlin geht.« »Woher wissen Sie denn, daß ich in Berlin war?« Ich hörte meiner Stimme keine Angst oder Nervosität an, selbstsicher klang sie vom Band. »Wir wissen alles, das ist unser Beruf.« »Sie sprechen in Rätseln, Herr Winklhof. Wer ist wir?«
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»Was machen Ihre Berliner Geschäfte eigentlich, alles paletti?« »Ich kann nicht klagen…« An dieser Stelle machte die Castrup eine heftige Bewegung, und Mark Stauder stoppte das Band. »Das hat nichts zu bedeuten«, erklärte ich. »Vielleicht doch.« »Nee – Geplauder ist seine Masche, er macht immer erst Konversation, bevor er zum Eingemachten kommt.« Sie schüttelte ungeduldig den Kopf. »Grad vorhin haben Sie uns ausführlich berichtet, was in Berlin an der Baustelle alles schiefgelaufen ist…« Ich wurde aufmerksam. »Ja?« »Kann es nicht sein, daß Winklhofs Hintermänner Ihr Berliner Projekt bewußt sabotiert haben?« »Jessas – nee.« Ich war aufrichtig erstaunt, und ihre These erschien mir abenteuerlich. Für einen Moment ging mir sogar ein finsterer Verdacht durch den Kopf: Vielleicht dramatisierte sie die Berliner Vorgänge absichtlich, um mir Angst einzujagen und dann ein höheres Honorar aus mir herauszuquetschen. Deshalb antwortete ich sehr reserviert: »Daß Fräulein Berger ein Leben als Punkerin führen will statt als brave Romanistikstudentin, ist bestimmt ihr ureigenster Entschluß, den kann Winklhof nicht beeinflußt haben. Daß Dr. Prokop und ich wie die Trottel in eine OstBerliner Stasi-Aktion reinstolpern, hat auch kein Mensch vorher gewußt.« »Aber der Abbau eines Malergerüsts innerhalb von einer knappen Stunde ist eine geplante Aktion. Haben Sie Anzeige erstattet?« »Mühlenberg senior hat das besorgt – noch von der Baubude aus. Chef der Bauträgerfirma.« »Und?« »Kein Resultat. Aber das heißt nichts, die Berliner Kripo ist überlastet. Da kommt schon keiner mehr, wenn an der Baustelle was geklaut wird – die nehmen die Strafanzeigen telefonisch auf.« Trotz allem, was ich da sagte, wurde ich aber doch unruhig. »Frau Castrup – haben Sie denn konkrete Hinweise, daß Winklhofs Leute mit sol-
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chen Mafiamethoden arbeiten? Mich quasi durch gezielten Terror einschüchtern wollen?« »Ich halte es nicht für ganz ausgeschlossen.« Mark Stauder sagte plötzlich: »Ich auch nicht.« Meistens ließ er seine Partnerin reden, das gab seiner Äußerung jetzt besonderes Gewicht. Mein Herz klopfte schneller – wie früher, wenn Vater ohne Vorwarnung in mein Zimmer trat. Ich sah zu, wie sie ihr Notizbuch aufblätterte. »Die Firma BIANCA, Madrid, hat vor vierzehn Monaten noch am Rand eines Konkursverfahrens gestanden, die Aktie war für acht Mark zu haben – inzwischen steht das Papier bei zweihundertvierzig Mark und steigt weiter.« »Da kauft jemand ganz gezielt…« »Ein Großaktionär, die Firma nennt sich SILCO.« »Nie gehört.« »SELECTED INTERNATIONAL LEGACIES COMPANY, registriert in Vaduz, Liechtenstein. Der Briefkasten hängt vor der Kanzlei eines Rechtsanwalts Dr. Urs Bohland. Hilft Ihnen das ein Stück weiter, Herr Wolff?« Es war erst mein dritter Besuch in Vaduz. Das erste Mal war ich als Junge mit meinen Eltern hergekommen – Endstation einer Spazierfahrt am Sonntagnachmittag. Mein Vater, sonst streng in seinen Grundsätzen, hatte zur Einweihung des neuen Autos nicht nur Kaffee bestellt, sondern einen »Pflümli« dazu; er trank sonst niemals Alkohol, wenn er hinterher fahren mußte, und der Eindruck, den die Regelverletzung auf uns machte – auch auf ihn selber –, war tief und bleibend. Noch jahrelang hat mein Vater von diesem Pflaumenschnaps gesprochen und den Genuß sozusagen gerechtfertigt: So würzig habe er geschmeckt, so mild! Unbedingt müsse man wieder mal nach Liechtenstein fahren! Doch es ergab sich nicht mehr, zwei Stunden Fahrzeit hin und zwei zurück waren doch zuviel für einen Schluck Schnaps. Das zweite Mal kam ich von Lugano herauf und bog nur deshalb nach Vaduz ab, weil ich Hunger hatte und in meiner Erinnerung immer noch dieser »Pflümli« spukte – wo Vater so gut getrunken hatte,
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dachte ich wohl, würde ich bestimmt gut essen können. Aber es war eine lausige Mahlzeit gewesen. Und auch jetzt, beim dritten Besuch, mußte ich mich mit einem sehr mäßigen Pfeffersteak begnügen. Während ich es weichkaute, sah ich zum Schloß hinauf. Es machte einen vernachlässigten Eindruck; ich fragte mich, wieso der Fürst es nicht renovieren ließ; das nötige Kleingeld mußte in den Safes seiner Hausbank doch zu finden sein. Neben mir plapperten amerikanische Touristen. Sie trugen einer wie der andere T-Shirts mit einem aufgedruckten Umriß des romantisch feudalen Zwergstaats: Ich sah auf den weißen Baumwollrücken den Rhein als Schlangenlinie, den Uferstreifen mit der Stadt, den ansteigenden Schloßberg, wo die Häuser seltener wurden. Nicht schwer zu umreißen, dieses Fürstentum. Vaduz war an diesem Abend wie ausgestorben. Sind die Touristenbusse abgefahren, ist es nur ein langweiliges, graues Straßendorf. Nach Geschäftsschluß wirkten die vielen Souvenirläden links und rechts trostlos. In einem Hauseingang hockten zwei junge Mädchen auf der bloßen Stufe – wie in einem Balkanland – und sahen mir neugierig nach. In Vaduz jung zu sein, war wohl nicht leicht… Außer man hatte einen erfolgreichen Papa, konnte sich seinen Jaguar schnappen und schnell mal nach Zürich düsen. Ich fand das Schild von Dr. Bohlands Kanzlei neben einer in Schmiedeeisen gefaßten Riffelglastür. Das Haus, schmal und dreistöckig, war schlicht und doch geschmacklos. Ich zögerte fast, den Klingelknopf zu drücken – konnte sich hinter dieser grauen, glatten Fassade die Zentrale einer internationalen Finanzierungsgruppe verbergen? Ich las die Firmenbezeichnungen unter Dr. Bohlands Namen alle durch. INVESTOR’S COMMUNICATION, INVESTOR’S INSURANCE… in dieser Art ging es weiter bis SILCO, es waren mehr als ein Dutzend Bezeichnungen. Aber BIANCA stand nicht dabei, überhaupt keine Einzelfirma. Ich drückte die Klingel, nannte der Gegensprechanlage meinen Namen und durfte ins Treppenhaus eintreten. Die Tür zum Vorzimmer stand offen. Mein Herz klopfte doch fühlbarer als sonst, aber bis jetzt hatte sich noch keine Seele gezeigt.
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Im Vorzimmer sah ich Ledersessel um einen Rauchtisch stehen. Auf dem Tisch stand ein Aschenbecher mit Metallbügel, der Bügel formte die Buchstaben FL, Fürstentum Liechtenstein. Wie auf den Nummernschildern der Autos draußen. Plötzlich ging eine gepolsterte Doppeltür auf, und ein großer, massiger Mittvierziger in einem dunklen Einreiher mit silberfarbenem Schlips nannte freundlich meinen Namen. »Herr Wolff…« Ich stand auf und sagte, ja, Wolff sei mein Name, Wolff aus Petersried. Er gab mir nicht die Hand, sondern machte eine Bewegung, die mich in sein Büro einlud. Mahagonischreibtisch, braunlederner Chefsessel dahinter, zwei niedrigere braunlederne Besuchersessel – in einem davon nahm ich Platz. Das Büro und der Mann wirkten genauso kleinkariert wie das abendliche Vaduz. Schlauer war ich nach dem Gespräch mit Dr. Bohland – ich fuhr nicht gleich nach Hause, sondern erst mal den Berg rauf. An der Schulter des hohen Steilhangs nämlich haben die Reichen von Liechtenstein ihre Villen zwischen Blumen und Bäumen stehen. Da fand ich auch Dr. Bohlands Zuhause. Ich riskierte es, auszusteigen und über die Mauer zu blicken. Offener Grill vor einem Pool, und drum herum einige Gäste mit Damen. Nett. Einige Frankenmilliönchen mußten so ein Anwesen wohl kosten. Aber das war nachher – vorerst fühlte ich mich in dem Büro an der grauen Touristenstraße wie im Arbeitsraum des Leiters einer Konsumgenossenschaft. Bohland war etwa einsneunzig groß und sehr massig, aber eher fleischig als dick. Er hatte mattgraue Augen und volle Genießerlippen, gar nicht unsympathisch. Vielleicht sprach auch er gern ein Wort mit dem heimischen »Pflümli«, seine Nase war fast so deutlich geädert wie sein Schreibtisch. Der Schatten des Bergs fiel durchs Fenster; wir saßen nicht grad im Dunkeln, aber hell war es auch nicht. In diesem Schummerlicht wirkten seine Zähne besonders weiß, wenn er mir das schnelle, bereitwillige Lächeln des professionellen Verkäufers zeigte. Ich mußte einen
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inneren Widerstand überwinden, um trotz dieses Lächelns von meiner Irritation durch Herrn Winklhofs Anrufe zu sprechen – als ob es ungehörig wäre, daß ich Herrn Dr. Bohlands Entgegenkommen mit einer Beschwerde beantwortete. Ich sagte, ich hätte kein Vertrauen in ein Papier wie BIANCA, ganz ehrlich gestanden. Und für die Ansiedlung von CHEMICAL UNITED könne ich wenig tun: »Selbst wenn ich wollte, Herr Dr. Bohland. Aber das weiß ich noch gar nicht… Vielleicht darf ich Ihnen kurz auseinandersetzen, wie ich das kommunalpolitische Kräfteverhältnis in Petersried einschätze…« »Kräfteverhältnisse interessieren mich immer, Herr Wolff.« Ich starrte ihn einen Moment an, aber er verzog keine Miene und hatte es anscheinend nicht ironisch gemeint. »Die Gemeinde Petersried«, sagte ich also, »liegt nicht weit von Kempten… Da gibt’s einige Industrie, und von den Leuten, die in diesen Kemptener Betrieben arbeiten, haben etliche sich in Petersried angesiedelt. Das sind also Wähler, die machen ihr Kreuzchen sowieso schon bei der SPD. Ein neuer Großbetrieb bei uns bedeutet noch mehr SPD-Wähler.« Er schien sehr konzentriert. »Und das fürchtet Ihr CSUBürgermeister?« »Es wird einer von den Punkten sein, über die er sich den Kopf zerbricht, wenn er nachts nicht schlafen kann… Petersried braucht ja auch Geld für die geplanten Kureinrichtungen, und ein Großbetrieb liefert ein ganz unvergleichbares Gewerbesteueraufkommen. Insofern läuft ihm bestimmt das Wasser im Mund zusammen, wenn er an CHEMICAL UNITED denkt.« »Was sind das für Kureinrichtungen?« »Na, Gott – ein Thermalbad zum Beispiel. Wer die Übernachtungszahlen halten will, der muß den Gästen was bieten. Die Touristik ist eine heiß umkämpfte Branche, und wir haben keinen Schönwetterbonus im Allgäu – da regnet’s auch mal.« Sein schnelles Lächeln kam und ging. »Nach Ihrer Wählerarithmetik müßte die SPD geschlossen für eine Neuansiedlung sein!« »Mehr Großindustrie, mehr SPD-Wähler, klar. Andererseits will die Partei ja die abgesprungenen Grünen wieder in die Sozialdemokratie einbinden. Also Sie sehen, da gibt es ein kompliziertes Netz
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von Pro- und Kontra-Argumenten. Das geht quer durch die Fraktionen und ist durch jemand wie mich praktisch kaum beeinflußbar.« »Reden wir also von Ihnen.« Er hatte mittlerweile die Hände über dem Bauch verschränkt und machte einen fast trägen Eindruck, wie er das so sagte. »Ja, nun – die Unabhängigen, das sind vor allem Geschäftsleute. Wir wollen niemand verärgern, die Schwarzen sowieso nicht und die Roten auch nicht zu sehr. Drum vermeiden wir in aller Regel eindeutige Stellungnahmen. Wir suchen eher den Kompromiß, den Konsens.« »Ich verstehe Ihre Situation.« Wieder suchte ich nach einer Spur von Ironie in seiner Miene und fand keine. »Warum setzen Sie dann diesen Winklhof auf mich an und lassen mir jeden Mittwoch Informationen über BIANCA durchgeben? Was erwarten Sie denn von mir?« »Daß Sie erkennen, wo Ihr Vorteil liegt.« Diese Empfehlung überlegte ich mir eine Weile. »Das sagen Sie so. Aber es geht ja nicht nur um den Gemeinderat – die öffentliche Meinung ist schließlich auch noch da. Wollen die Petersrieder ein großindustrielles Werk im Hochwassergebiet der Iller? Wollen sie eine Dränage dieses Gebiets, also eine Vernichtung der jetzt ansässigen Pflanzen- und Tierarten? Das weiß ich nicht. Die Petersrieder wissen es wahrscheinlich selber noch nicht. Aber eins weiß ich jetzt schon, es ist mein Heimatort, und ich will auch nach der Abstimmung mein Gesicht noch vorzeigen können, ohne daß die Leute gleich spucken und fluchen.« Da sagte der Bursche doch ganz ungerührt: »Sie könnten umziehen.« Zuerst dachte ich, ich hätte nicht recht verstanden, und fragte idiotisch: »Wie bitte?« »Petersried ist nicht die Welt, Herr Wolff. Sie könnten umziehen.« Zusammen mit der Wut kam auch Angst in mir auf – es lag an seiner Art. Daß er ganz ruhig blieb, wenn er so etwas sagte, und meine Reaktion gar nicht fürchtete. »Warum sollte ich?« Eine lange Antwort vermied ich, weil ich spürte, daß meine Stimme dann zittern würde.
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Er räusperte sich. »Herr Wolff – ich habe mit CHEMICAL UNITED nur indirekt zu tun. Mein aktuelles Projekt ist BIANCA, und darüber möchte ich Ihnen gern einiges erzählen.« »Das ist jetzt ein Mißverständnis«, fiel ich ihm ins Wort. »Ich habe nicht nachfragen wollen, was für einen finanziellen Vorteil ich hätte…« »Warum nicht?« Schwer zu sagen, weshalb seine Unverfrorenheit mich mehr ängstigte als ärgerte. Aber es war so. »Herr Wolff – Sie sind zweiunddreißig Jahre alt und haben Ihr Anlagebüro vor vier Jahren gegründet…« Er hob die Hand, um mich am Sprechen zu hindern. »Sie haben die schwierige Anlaufzeit mit einer Hypothek überbrückt, einer Grundschuld aufs Haus Ihrer Eltern.« Ich saß da wie betäubt. Der Lump hatte mich ausforschen lassen! »Die Hypothek ist im wesentlichen verbraucht, die laufenden Einkünfte aus Ihrer Beratertätigkeit steigen nicht so schnell wie erwartet – manchmal fallen sie sogar –, und Sie sind deshalb in Verhandlungen über eine Neuverschuldung eingetreten. Ihre Eltern haben Angst und wissen nicht, wie sie sich dazu stellen sollen – eines Tages soll das Haus zwar sowieso Ihnen gehören, aber vorerst wohnen Sie alle ja noch darin. Sagen wir also, daß Ihre Eltern verwirrt sind. Und Sie sind nervös, möchte ich meinen. Sie haben sich an eine PublicRelations-Agentur gewandt, die in den Zeitungen Reklame für Ihr Büro machen sollte, aber die Agentur hat zehntausend Mark Vorschuß verlangt, und Sie haben im Moment einfach keine zehntausend Mark, jedenfalls nicht übrig. Sie wissen jetzt nicht mehr recht, was Sie tun sollen, um Ihren Betrieb auf Dauer zu stabilisieren. Sie fragen sich, warum andere in unserer Branche so erfolgreich sind und Ihnen der Erfolg versagt bleibt. Sie haben Angst, daß Ihre Bank eines Tages die Geduld verliert und das Haus versteigern läßt. Sie fragen sich, wie Sie Ihren Eltern dann je wieder in die Augen sehen sollen. Wenn Sie so intelligent sind, wie Sie auf mich wirken, dann muß die Frage, was Sie eigentlich falsch machen, Sie Tag und Nacht beschäftigen.«
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Ich merkte plötzlich, daß ich zu schnell atmete – konnte es aber nicht abstellen. Noch nie hatte jemand mir so brutal zugesetzt. »Was soll das sein?« brachte ich heraus. »Mein Augenblick der Wahrheit?« »Ach, Herr Wolff, glauben Sie mir, den wirklichen Augenblick der Wahrheit erleben Sie, wenn Sie Pleite machen. Da wird dann tatsächlich alles aufgedeckt, was Sie getan und versäumt haben. Nur daß es dann zu spät ist. Möchten Sie was trinken? Whisky…?« »Einen Pflümli könnt’ ich vertragen.« Ich hätte selbstverständlich ablehnen sollen. Aber es gibt Situationen, da braucht man einen Schluck – braucht Öl auf die Wogen. Stolz hin, Stolz her. »Trinken Sie nur«, sagte er freundlich, als die Sekretärin mir das Glas auf einem Tablett servierte. »Ihre Hände zittern wahrscheinlich, aber mich stört das nicht. Und Sie sollten sich auch nichts draus machen.« »Hören Sie schon auf, Ihre Macht auszuspielen.« »Warum?« »Sie beleidigen mich.« »Mein lieber junger Freund«, sagte dieses Arschloch da in aller Ruhe, »von der Wahrheit darf man sich niemals beleidigen lassen. Nicht in unserer Branche. Die Wahrheit ist immer Ihr Freund.« Ich nahm das kleine Glas mit beiden Händen vom Tablett. Trotzdem verschüttete ich etwas und mußte mir die Finger mit einem Papiertaschentuch abtrocknen. »Reden wir also ganz offen…«, fing er wieder an. Fast väterlich klang das – nur daß mein Vater so einen Ton nie angeschlagen hat, wenn ich in Schwierigkeiten war. »Es geht um Ihren möglichen finanziellen Vorteil durch BIANCA…« »Das BIANCA-Geschäft ist doch faul!« »Woher wissen Sie das?« »Machen Sie Witze? Wenn Sie spanische Aktien praktisch zum Papierwert ankaufen, acht Mark das Stück, was soll ich da sonst annehmen? Sie haben groß aufgekauft, über SILCO, und dadurch hat der Kurs einen ersten Sprung nach oben gemacht… Jetzt verkaufen Sie wieder, sehr langsam, ganz vorsichtig… Und wenn der Kurs zu fallen anfängt, kaufen Sie alles zurück. Wieder schnellt er nach oben. Sie wiederholen das Spiel. An den Börsen wird eine ständige Nach-
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frage erzeugt, aber niemand darf wissen, woher sie kommt. Allmählich werden dann die Winklhofs eingeschaltet – bestochene Journalisten, die das Papier in ihren Zeitungen anpreisen. Eventuell haben Sie sogar bestimmte Makler an der Hand, angeblich Selbständige – wie ich –, in Wirklichkeit aber schon von Ihnen eingekauft. Vermögensberater, Anlageprofis, die empfehlen das Papier ihren Kunden, die Nachfrage wächst und wächst, der Kurs steigt und steigt. Und wenn er stagniert, treten Sie selber wieder als Einkäufer auf, stimmt doch, oder? Verkaufen wieder bei gestiegenem Kurs und kaufen zurück… Und so immer weiter, bis die Aktie zu einem Phantasiepreis gehandelt wird. Schließlich verkaufen Sie alles. Wer dann auf den Aktien sitzt, ist der Geleimte.« »Ich würde Ihnen rechtzeitig signalisieren, daß Sie aussteigen müssen.« Das sagte er in aller Gelassenheit. »Herr Dr. Bohland…« »Nur die Ruhe.« Ich atmete tief durch. »Was glauben Sie«, machte er weiter, »was das wohl für Leute sind, die zuletzt auf den Aktien sitzenbleiben?« »Ärzte, Zahnärzte… Kleine Geschäftsleute auch…« »Das sind Zocker.« Es klang sonderbar, das Popwort aus seinem Mund zu hören. Es paßte nicht zu ihm, seinem duldsamen Lächeln. »Sie können doch nicht Ärzte mit Glücksspielern gleichsetzen!« »Was glauben Sie, was die tun, wenn sie – sagen wir – zweihunderttausend Mark an mich verloren haben?« Er lachte plötzlich, aber lautlos, und beugte sich weit über den Schreibtisch vor. Mit leicht geöffneten Lippen horchte er meiner Antwort entgegen. »Ich weiß, was ich tun würde. Ich würde Sie anzeigen.« »Was würden Sie dann als Beweis gegen mich vorbringen?« »Soll doch die Polizei die Beweise suchen, dafür ist sie ja da.« »Sicher, aber wo soll sie denn suchen?« Ich überlegte. »Daß Sie nicht nur der Aufkäufer der Aktien sind, sondern auch Verkäufer und Rückkäufer – alles in einer Person –, das muß nachweisbar sein. Sie tätigen diese Geschäfte über Banken. In deren Unterlagen müssen die Vorgänge aktenkundig sein, und wenn Verdacht auf eine Betrügerei größten Stils vorliegt, dann wür-
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de ich an Ihrer Stelle nicht so sicher sein, daß jede Bank Ihr Geheimnis wahrt.« Er sah unbeschreiblich nachsichtig aus. »Herr Wolff, bei welcher Bank wollen Sie denn nachfragen? Unter welchem Namen oder welcher Nummer laufen denn Vorgänge dieser Art?« »Sie meinen, ich kann Sie wohl anzeigen, aber der Polizei dann keinen konkreten Hinweis geben.« »Das meine ich in der Tat – bis zum Beweis des Gegenteils.« Ich zuckte die Schultern. Den Beweis des Gegenteils konnte ich nicht führen, wie denn. »Also ich kann Sie nicht anzeigen.« »Was folgt daraus?« »Ich weiß nicht.« »Herr Wolff – das sind Zocker. Die verlangen nicht, daß ich ins Gefängnis geh’. Die wollen nur eins, ihren Einsatz zurück. Glauben Sie mir, die Leute, die am meisten verloren haben – das sind diejenigen, die dann Tag und Nacht bei mir am Telefon hängen, ich soll sie doch mitnehmen in mein nächstes Projekt.« »Ausgeschlossen.« »Das können Sie mir schon glauben.« Das mußten Irre sein. Kein Wunder, er verachtete sie als Zocker. »Und Sie lassen sich darauf ein und nehmen das Geld dieser Leute noch mal an?« »Bei mir kann jeder Geld anlegen.« »Und warnen Sie die bereits Geprellten, wenn das neue Projekt in die Bruchphase kommt? So daß die rechtzeitig aussteigen können und nicht noch mal verlieren?« »Außer ich bin einem böse – auch das kommt vor. Dann wird er vernichtet.« Das häßliche Wort blieb eine Weile im Raum hängen, wir schwiegen uns an. Ich begann zu begreifen. Er betrieb Aktienbetrug nach dem Schneeballsystem. Solange der Schneeball rollte und dicker wurde, gab es nur Gewinner. Platzte der Schneeball, so verloren wenige – und diese wenigen entschädigte er dadurch, daß er sie an dem Speck beteiligte, den der nächste Schneeball schon ansetzte. Selbst kurzfristig Betrogene konnten ihren Reibach machen. Es war genial.
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Ruiniert wurden nur die, die Dr. Bohland für den Ruin bestimmte. Eine handverlesene Schar von Opfern. Kälte machte sich in mir breit. Warum erzählte er mir das? »Jetzt bin ich Ihr Mitwisser, Herr Dr. Bohland. Warum ich? Was ist an mir denn Besonderes?« »Daß Sie verwundbar sind.« Ich wollte antworten, aber mir fiel nichts ein. Ich mochte nicht den Empörten spielen, seine Ehrlichkeit hatte etwas Imponierendes. Er imponierte mir, ja. Für den Augenblick. »Sie sind gefährdet, und ich kann helfen.« »Ich hab Sie schon verstanden. Aber so wichtig kann CHEMICAL UNITED Ihnen doch gar nicht sein.« Zum erstenmal hatte ich den Eindruck, daß er eine Unsicherheit zeigte – er zögerte, bevor er sprach. »Es ist ein großer Konzern, Herr Wolff. Die Anlagen sind weltweit viel wertvoller, als der Aktienkurs es nach den Unfällen der letzten zwei Jahre ausdrückt – Sie verstehen?« »Die Aktien sind günstig zu haben.« »Sie müssen langfristig wieder steigen. Aber der Kurs braucht jetzt einen Anfangsschub. Irgendeine gute Nachricht muß auf die internationalen Börsenplätze getragen werden. Und selbst wenn es eine Nachricht von vergleichsweise geringer Relevanz wäre…« »Neuansiedlung in Petersried.« »Zum Beispiel.« »Bestechen Sie doch den Bürgermeister!« Ich sah Abneigung in seine Augen treten, mein Ton paßte ihm wohl nicht – jedenfalls stand er auf. »Es sind große Summen involviert, Herr Wolff. Sehr große Summen, weltweit.« Aus seinem Mund klang es sonderbar. Warum sonderbar? Ich dachte darüber nach, während ich zu meinem Wagen ging. Als ich den Zündschlüssel umdrehte, kam ich darauf: Bohlands Feststellung, es seien weltweit sehr große Summen im Spiel, hatte geklungen wie eine Drohung. Wenn ich nachts noch unterwegs bin, schaltet meine Mutter, bevor sie schlafen geht, die Außenleuchte ein. Ich sehe das weiße Lichtei
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von weitem auf dem Garagentor und weiß, die Eltern sind hinaufgegangen, vielleicht schlafen sie schon. Als ich in die Einfahrt rollte, sprang aus der Dunkelheit der kleine Kater ins Licht, Moritz. Er drehte und überkugelte sich unter dem Ansturm von Schwesterchen Maxi – beide stammen aus dem gleichen Wurf und sind langhaarig wie ihr Vater, der abgefeimteste Kater dieses Viertels von Petersried, ein großer, böser Haudegen. Hinter ihren Kleinen trat gemessenen Schritts die Mutter in den Lichtkreis, der Mohr. Das rabenschwarze Tier streckte sich, buckelte und gähnte; im offenen Maul ringelte sich die rosa Zunge. Ich streichelte sie. Ihr Schweif richtete sich steil auf, und sie drückte sich zärtlich an meine Beine. Die Kleinen tanzten um uns herum. Meine Eltern mögen Katzen nicht und lassen sie nicht zu sich in den ersten Stock hinauf. Sie haben die Treppe zu ihrem Wohnbereich sogar durch eine Gattertür blockiert; wegen der Haare auf den Polstern, sagt meine Mutter. Es ist ein recht eigenartiger Anblick, wenn man in unsere Diele tritt: rechts das Gatter. Wer meine Eltern besuchen will, muß es erst aushaken. Unten im Haus arbeite und schlafe ich, in der Mitte sitzen wir manchmal noch vor dem Fernseher zusammen. Eßecke und Wohnzimmer gehen ineinander, die Eßecke führt in die Küche. Ich füllte den Napf mit Fleisch aus der Dose und die Schale mit Milch; ein eifriges Schlappern und Schmatzen begann. Sie geben sich abends nicht, wie am Morgen, mit ihrem Trockenfutter zufrieden – sie bestehen auf richtigem Fleisch. Laut schnarren sie mich an, wenn ich nicht gleich den Unterschrank öffne, in dem, wie sie wissen, die Fleischdosen wachsen und nur herausgepflückt werden müssen… Oder wie immer der Vorgang sich in einem Katzenkopf darstellen mag. Ich sah ihnen zu und schenkte mir eine Flasche von meinem Lieblingsbier in den Krug mit Zinndeckel. Ein Kunde sagte mir mal: Man ist dort daheim, wo man unter den zwanzig Biersorten im Supermarkt die richtige herausgefunden hat. Aber es geht einem ja nicht nur mit dem Bier so. Dr. Bohland hatte zweifellos trotzdem recht, ich konnte umziehen und mir in neuen Supermärkten eine andere Lieblingsmarke unter
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den Biersorten suchen. Das war eine der Möglichkeiten, die ich hatte. Napf und Schale waren leer, meine Katzen putzten sich ausgiebig. Das Möhrchen war zuerst fertig und sah mich abwartend von unten herauf an. Katzen sind nicht gescheit, in dem kleinen Gehirn können nicht viele Gedanken wohnen – aber sie haben starke Gefühle. Und eine Körpersprache. Mit ihren Bewegungen können sie mir sehr deutlich machen, was sie fühlen, worauf sie warten, was sie von mir verlangen oder gern hätten. »Na gut, also gehn wir jetzt runter«, antwortete ich dem Mohr, der auch sofort lang wurde und zur Tür hin schnürte. Bevor sie nachts raus müssen in ihr Katzenhaus im Garten, sitzen sie gern noch im Büro unter meinem Schreibtisch und drehen ihre Ohren wie kleine Radarschirme dem Raschelgeräusch nach, das ich mit meinen Papieren mache. Aber es war schon spät diesen Abend, ich hörte nur noch den Anrufbeantworter ab. Sylvia Voss. »Ach, die blöde Maschine wieder«, klang ihre Stimme vom Band. »Und grad heut wär ich so gern vorbeigekommen.« Auch mir tat es leid, daß wir uns verpaßt hatten, und ich verzog das Gesicht. Ich hörte sie auflachen: »Oskar ist sowieso nicht zu Haus… Er zieht durch die Bierschwemmen, Unterschriften sammeln. Rufst du mich im Büro zurück?« Und KLICK, sie hatte aufgelegt. Da waren mir also zwei angenehme Stunden entgangen – und wem hatte ich sie geopfert? Ausgerechnet Bohland… Für intelligent hielt er mich. Hatte er wenigstens gesagt. Und klar durchblicken lassen: Wenn ich wirklich so intelligent war, wie er glaubte, dann mußte ich auch bestechlich sein. Auf den BIANCA-Zug aufspringen und hoffen, daß er mich nach 150 oder 200 oder sogar 300 Prozent Kurssteigerung herauswinken würde – rechtzeitig, bevor die Spekulation platzte und der Schneeball sich als Seifenblase erwies. Ich versuchte, Bohland zu vergessen – daß ich immer nur die unmittelbar anstehende Situation gut bewältigen kann, hatte ich längst gelernt. Im Moment kam es für mich nur darauf an, den Ausklang des Tages gemeinsam mit meinen Katzen zu genießen, Sorgen konnte ich mir dann morgen wieder machen.
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Ich nahm den Mohr auf meinen Schoß und drehte ihn um. Die Narbe sah gut aus. Ich hatte das Tier nach dem einen Wurf sterilisieren lassen. Die Naht war ausgezeichnet verheilt. Man kommt um die Sterilisation nicht herum; Katzen bekommen zweimal pro Jahr Junge, und jeder Wurf bedeutet mehrere neue Tiere, bis zu sechs Stück können es werden. Die sind dann ihrerseits schon nach einem Jahr fortpflanzungsfähig. Fürchterliches Katzenelend wäre die Folge, wenn man der Natur ihren Lauf ließe: Revierkämpfe auf Tod und Leben, Futtermangel, völlige Verwilderung. Die Natur ist grausam – Ordnung, Gleichmaß und Schutzräume schafft der Mensch. Als Mensch kann ich eingreifen und planen. Entweder große Betrügereien planen wie ein Bohland – oder ein gutes Leben: Für mich den Erfolg, für meine Eltern ein sorgloses Alter, für meine Katzen die Sicherung ihres Reviers, das sie brauchen, um in vierzehnjährigem Dasein die Möglichkeiten ihrer Art und Rasse zu entfalten. Rein rechtlich war es möglich, meinen Teil des Hauses zu verkaufen. Ich konnte den Eltern das Alter vergällen, indem ich ihnen fremde Mieter oder gar Miteigentümer vor die Nase setzte. Vor dem Gesetz machte ich mich auch nicht schuldig, wenn ich den Katzen ihr Revier entfremdete, indem ich Leute hereinließ, die sie – vielleicht – nicht mögen, nicht versorgen würden. Die Katzen mußten dann eben sehen, wie sie zurechtkämen, nicht? – oder krepieren, falls sie sich nicht anpassen konnten. Der Lauf der Dinge. Das Gesetz der Natur. Unter einer menschlichen Welt allerdings konnte ich mir was Besseres vorstellen. Bevor ich schlafen ging, hob ich die Tiere über die Fensterbank in den Garten hinaus. Solange ich lebte, sollten sie nicht ins Exil müssen – schon gar nicht ins Exil einer Stadtwohnung, wo nichts im Gras raschelte und keine Bäume wuchsen, auf die man sich flüchten konnte. Es gibt Anpassung, die will ich lebenden Wesen nicht zumuten, auch keinem Tier. Ich hörte noch, wie sie zwischen Büschen und Blumen ihre nächtliche Jagd begannen.
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3 Diesmal wurde Dr. Prokop erst an der Kontrollstation Hirschberg richtig wach. Auch starke Eindrücke schienen sich bei diesem alternden Zahnarzt rasch abzunutzen; er verschwendete keinen Blick an den volksrepublikanischen Grenzer und gähnte ihn sogar verschlafen an, als wir auf unsere Pässe warteten. »Was ist es für eine Wohnung?« fragte er mich, als wir auf die DDR-Autobahn rollten. »Im gleichen Haus wieder?« »Gleiches Haus, gleichartiges Angebot… Und diesmal wirklich in Weiß renoviert, nicht in Schwarz.« Ich lachte ihn an; ich hoffte, er würde beim Gedanken an unser punkiges Fräulein Berger mitlachen. Aber er guckte nur süß-sauer, irgendwas hatte ihn gegen mich eingenommen. »Mir sind Zweifel gekommen, ob ich im Immobiliengeschäft so gut aufgehoben bin«, sagte er nun. »Das ist mir sehr recht.« Ich gab mich munterer, als ich mich fühlte. Ich brauchte diesen Kunden, jeder neue Kunde war Gold wert in meiner Situation. »Zweifel sind immer der erste Schritt zur Erkenntnis, Herr Dr. Prokop.« Er rutschte unruhig neben mir hin und her, fummelte am Haltegurt. »Ich hab’ inzwischen auch andere Angebote überprüft.« Es hatte eine Weile gedauert, bis er dieses Geständnis riskierte, aber nun war es heraus. »Das betrachte ich als selbstverständlich.« Nur keine Panik, sagte ich mir. »Ich hab Annoncen gelesen und mir Prospekte kommen lassen… Börsenbriefe von Anlagefirmen«, verbesserte er sich. »Ich will Sie nicht mit Gewalt ins Immobiliengeschäft stoßen«, versicherte ich ihm. »Aktien sind sogar meine Spezialität… Warum abonnieren Sie nicht fürs erste mein AKTUELLES BÖRSEN-INFO? Ich geb das Ding seit drei Jahren heraus, und zwei Fachzeitschriften haben mir unabhängig voneinander bescheinigt, daß es zu den zuverlässigsten Informationsdiensten überhaupt gehört. Ich kann Ihnen nachweisen, daß jeder Anleger, der meine Tips realisiert hat, im Jahresdurchschnitt dreißig Prozent Gewinn aufs eingesetzte Kapital gemacht hat. Drei Jahre lang hintereinander«, wiederholte ich. Aber es beeindruckte ihn weniger, als ich gehofft hatte. 41
»Auf einzelne Aktien«, schob ich deshalb nach, »sind sogar bis zu sechzig Prozent Gewinn gemacht worden, und zwar innerhalb von sechs Monaten. Sie wissen, bei Einhaltung einer sechsmonatigen Spekulationsfrist ist die Rendite steuerfrei.« »Manchmal reden Sie wie ein Steuerberater«, mäkelte er. »Ja, wieso stört Sie das? Ein Mann wie Sie muß doch sehen, daß er sein hohes Einkommen möglichst intakt am Finanzamt vorbeibringt… Ich meine«, setzte ich noch mal an, »das ist doch gerade der Vorteil, den Ihnen ein Selbständiger wie ich bietet. Bei Ihrer Bank können Sie steuersparende Empfehlungen nicht erwarten. Banker verstehen vom Fiskus nichts, darauf werden sie nicht geschult.« Er schwieg mich eine Weile an, bevor er zögerlich fragte: »Und was kostet mich Ihr AKTUELLES BÖRSEN-INFO?« »Im Verhältnis nur ein Trinkgeld. Tausend Mark pro Jahr, und für skeptische Anfänger gibt es ein Einstiegs-Abo, ein Probejahr sozusagen, kostet nur fünfhundert Mark.« Mein Wagen brummte mit hundert dahin. Prokop sah unschlüssig zu der matten Sonne hinauf, die über den Äckern zu dösen schien. »Haben Sie schon viele Abonnenten?« »Ach – mehr als fünfhundert will ich gar nicht. Fünfhundert Abonnenten, das ist meine Zielvorstellung.« »Wieso nicht zweitausend?« »Wenn zweitausend Leute auf einmal die Börse stürmen, machen die ihren Kurs selber. Das ist nicht in meinem Sinn. Dann hätte der Kurs schon keine Beziehung mehr zum Realwert.« Er überlegte sich das. Das Resultat seiner Überlegung war ein schweres Seufzen. »Sie machen mir die Entscheidung nicht leicht… Aber ich muß Ihnen sagen, daß mir Börsenbriefe gratis angeboten werden. Auch mit Renditegarantien, und sogar mit höheren als nur dreißig Prozent per anno. Es gibt Börsendienste, die garantieren mir fünfzig und sogar hundert Prozent Gewinn pro Jahr!« »Gratis«, sagte ich trocken. Nun wurde er sauer. »Sie brauchen nicht ironisch zu werden. Mir ist durchaus klar, daß diese Leute nicht ihren Prospekt anbieten, sondern Aktien. Über den Aktienverkauf machen die ihr Geld.«
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Ich bemühte mich um Fassung und einen aufgeräumten Ton: »Herr Dr. Prokop… Wenn jemand eine Aktie kennt, die ihm pro Jahr sein Kapital verdoppelt – dann wird er den Tip nicht gratis ans Publikum weitergeben, sondern ihn selber verwerten. Oder glauben Sie an Weihnachtsmänner? Ein kluger Mann wie Sie?« »Nein«, sagte er böse, »und eben drum kommt mir Ihre 30-ProzentGarantie reichlich sonderbar vor. Wieso ist dann nicht ganz Deutschland bei Ihnen Kunde? Wahrscheinlich machen Sie auch mal Verluste, Sie reden bloß nicht darüber.« »Doch, das tu ich. Bei jedem Verkaufsgespräch.« Ich hatte mich wieder in der Hand und konnte ihn sogar freundlich anlächeln. »Es ist nur so, daß ein Anlage-Profi wie ich mit Stoploss-Marken arbeitet. Wenn ein Papier zwanzig Prozent Verlust gemacht hat, fliegt es raus. Egal, wie zuverlässig es aussieht, es fliegt raus. Zwanzig Prozent Verlust sind genug. Sehen Sie… der private Anleger kann nicht verlieren. Er bringt es einfach nicht fertig, ein Papier zu verkaufen, wenn es Verlust gemacht hat. Irgendwann muß es ja wieder steigen, sagt er sich und verkauft lieber die Papiere, die einen schönen Gewinn gemacht haben. Die haben ihre Schuldigkeit getan, sozusagen… Das führt dazu, daß private Anleger häufig bloß noch Verlustpapiere im Portefeuille haben – die steigenden Aktien sind alle abgestoßen.« Er sah aus, als hätte ich ihm eine Zitronenscheibe in den Mund geschoben; vermutlich hatte er selbst früher diesen Fehler gemacht und fühlte sich jetzt blamiert, obgleich ich nichts Näheres wußte. »Sicher, ich bin kein Spezialist«, fing er an, »ich kann nicht jeden Tag die Notierungen studieren…« »Ich kann das aber für Sie machen. Zahlen Sie Ihre hunderttausend Mark in ein Depot bei Ihrer eigenen Hausbank ein, mit dem Geld komm’ ich selber gar nicht in Berührung, Sie geben mir bloß DispoVollmacht. Auf jederzeitigen Widerruf, wohlverstanden: Sie brauchen Ihre Bank nur anzurufen und meine Vollmacht zu widerrufen, wenn Sie unzufrieden sind. Aber Sie werden nicht unzufrieden sein. Ich lege Ihr Geld in höchstens fünf bis sieben Werten an, damit ich ständig den Überblick behalte. Auch als Depotverwalter kann ich Ihnen dreißig Prozent Gewinn aufs Kapital pro anno zusagen.«
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Er warf mir einen schnellen Seitenblick zu. »Kostenpunkt?« »Zwanzig Prozent vom Jahresgewinn. Vom Gewinn, wohlgemerkt.« »Das ist nicht wenig.« »Und ein einmaliges Disagio von fünf Prozent aufs Kapital am Anfang, damit Sie nicht gleich wieder abspringen.« Ich lächelte, um die Scherzhaftigkeit der letzten Bemerkung anzudeuten. Aber nach Scherzen war ihm nicht. »Fünf Prozent von hunderttausend sind fünftausend Mark, und dann noch zwanzig Prozent vom Gewinn – da sind mir in den letzten Tagen aber bessere Angebote ins Haus geflattert.« »Vielleicht sehen sie nur besser aus. Mit dem Disagio und der Gewinnbeteiligung kann ich es mir leisten, Ihr Depot mit voller Konzentration zu betreuen. Und das bedeutet, ich bin Tag und Nacht aktionsbereit. Wenn ich weniger nehme, muß ich mir was einfallen lassen, um auf meine Kosten zu kommen, oder?« »Wie meinen Sie, sich was einfallen lassen?« »Ich müßte auf irgendeine andere Art dran verdienen – nicht so sauber und direkt, wie ich es jetzt vorschlage. Und das gilt nicht nur für mich, das gilt auch für meine freigebigen Kollegen.« Wieder ein tiefer Seufzer. »Vielleicht ist das Immobiliengeschäft doch das sicherste.« »Das auf jeden Fall, da riskieren Sie gar nichts und kassieren nicht schlecht.« »Ich muß es mir überlegen… Das verstehen Sie doch?« »Wo liegen denn ganz konkret Ihre Zweifel?« Nach der Seelenmassage glaubte ich, mir diese Frage leisten zu können. »Ich bin angerufen worden. Zweimal«, sagte er nach kurzem Zögern. »Ein Telefonverkäufer vermutlich.« »Kann sein.« »Hat er einen Namen? Ich kenne einige.« »Ein Herr Winklhof aus Frankfurt.« Ich ließ mir nichts anmerken, faßte nur das Steuer fester. »Und was will er Ihnen verkaufen?«
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»Ein ganz heißes Papier.« Plötzlich wurde er lebhaft, gestikulierte, sprach mich direkt an. »Er hat gesagt, ich soll in den Zeitungen nachlesen, dann würde ich schon sehen, wie heiß dieser Tip ist. Und er hat recht. Eine sagenhafte Kurssteigerung in knapp über einem Jahr. Das Papier heißt BIANCA, schon mal davon gehört?« Wieder einmal ließ Dr. Bohland mich fühlen, wie mächtig er war. »Es ist Gier und Geiz.« Gianno Mühlenberg grinste mich an, aber vorsichtig; er wollte den Friseur nicht stören, der ihm gerade den Bart abschabte. »Gier und Geiz, das ist ihre Psyche. Sie sind alle gleich, glaub mir… Ich weiß schon«, redete er meinen Abwehrversuch nieder, »privat und beruflich ist dein Dr. Prokop wahrscheinlich ein untadeliger Bürger. Eine Lichtgestalt der Provinz, ein Ritter Tadellos. Aber laß so einen die Hand auf hunderttausend Mark Anlagekapital legen, und er flippt aus. Zwei bis drei Prozent Zinsen kriegt er, wenn er das Geld auf sein Sparbuch einzahlt. Dann kommt er zu dir und hört, dreißig Prozent pro Jahr sind möglich. Da wird ihm schwindlig. Da denkt er, verdammt, wenn dreißig Prozent möglich sind, dann kann eine wirkliche Koryphäe mir vielleicht fünfzig Prozent besorgen! Sechzig, siebzig, hundert Prozent! Verstehst du? Gier und Geiz. Da denkt er nicht mehr, da verwandelt er sich in einen Bagger: Greif-grapsch-greif. Ich kenne diese Typen!« »Ich hab ihn wieder im Nobelhotel abgesetzt. Alle Getränke auf meine Rechnung, auch Sekt.« Er nickte mitfühlend. »Und heute abend sind wir im TAHITI, da kriecht Ines wieder auf seinen Schoß, ich hab schon mit ihr gesprochen – kostet mich einen halben Riesen. Und trotzdem, er druckst, er würgt, er guckt zur Seite… Aber er bringt das Ja nicht über seine abgeschlafften Lippen. Dieser Arsch!!« Gianno versuchte zu lachen, ohne geschnitten zu werden. »Jetzt hab ich halt gedacht, wenn du mit ihm redest, Gianno.« »Nicht im TAHITI, zu laut.« Er nuschelte, weil der Friseur gerade seine Oberlippe glatt kratzte. »Zu voll.« »Wo du willst.« »Essen ja, aber…« Der Friseur zog mit irritierter Miene die scharfe Klinge zurück. »Hier oben.«
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»Wär vielleicht gar nicht übel…« Wir saßen in seinem Riesenbüro über dem Ku’damm. Der West-Berliner Dschungel wirkte ordentlich und übersichtlich aus unserer Vogelperspektive. Gianno lag im zurückgekippten Chefsessel, den Latz um den Hals, und ließ sich rasieren wie jeden Nachmittag. Er lebt so, wie ich gern leben würde, wenn ich es mir leisten könnte. Erstens ist er sicher tüchtiger als ich, und zweitens hat er viel Geld geerbt – von seinem Vater, Mühlenberg senior, der hat im Bauboom Millionen gemacht und ist mein Ansprechpartner in Sachen Wohnraumsanierung. Gianno konzentriert sich auf Vermögensberatung; mit seinen Büros in London, New York und Tokio ist er über den Ticker ständig in Kontakt. Er hört das Gras wachsen, oder vielmehr die Kurse. Der Friseur wischte ihm das Gesicht ab und tätschelte Rasierwasser auf seine Haut. »Wir bestellen ein schönes Essen. Ines kriegt nicht einen halben Riesen, sondern zwei ganze. Dafür sitzt sie nicht mit am Tisch, sondern drunter. Wenn Prokop schwach wird und stöhnt, zahlt er die Rechnung.« Er lachte. Dem Friseur quollen fast die Augen aus dem Kopf. »Der junge Mann denkt, du meinst es ernst.« Ich grinste. Gianno lachte immer noch, er drückte dem Barbier ein Trinkgeld in die Hand, sprang auf und streckte sich. Dabei beobachtete er mich schlau. »In Wirklichkeit hast du Angst gekriegt, Justus – nicht der Friseur«, sagte er, als der junge Mann draußen war. »Kann sein, ich komm’ eben vom Lande.« »Du mußt dich schütteln, Justus – mußt die Provinz aus den Kleidern schütteln.« Er sprach jetzt ernst, lachte auch nicht mehr. »Schau, erst gestern war ein Team von RIAS hier. Zwei Reporter, die löcherten mich mit vorgehaltenem Mikro, wie kann man den arglosen Anleger vor skrupellosen Anlageberatern schützen. Meine Herren, hab ich gesagt, es gibt minderwertige Anlageberater. Aber es gibt auch minderwertige Anleger. Fragen Sie mich lieber, wie kann man den seriösen Anlageberater vor der Gier und dem Geiz seiner Kunden schützen? Wie, Justus? Sag du es mir.«
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»Das kann ich nicht sagen. Ich weiß es selber nicht.« Er hatte ganz recht, fand ich. »Mein Gott, was hatte ich für Ideale, als ich mit diesem Scheißberuf angefangen hab. Absolute Offenheit gegenüber dem Kunden. Genaue Aufklärung über das mögliche Risiko… Jetzt seh ich, das sind alles Kinderträume. Der Kunde will nicht die Wahrheit hören. Der will nicht hören, das Papier Sowieso macht Verlust, wir müssen verkaufen. Der Kunde will hören, was ihm angenehm ist, dann frißt er dir aus der Hand.« Er stand vor mir, die Hände in den Taschen, ein kleiner, behender Mann mit lächelndem Mund und ernsten grauen Augen. Reich geboren und trotzdem ein Freund von mir, ich weiß nicht warum. Beim Verband junger Unternehmer haben wir uns kennengelernt und schon nach dem ersten Whisky am kalten Büffet du gesagt, so was gibt es. »Justus…« Er legte den Arm um meine Hüften; um die Schultern konnte er ihn mir nicht legen, er ist zu klein. »Im sechzehnten Jahrhundert, als in Florenz und Venedig die doppelte Buchführung sich durchsetzte und das Bankwesen erfunden wurde… da kam ein Sprichwort auf. Mundus vult decipi, ergo decipiatur.« »Ich hab nicht Latein gelernt, nur Französisch.« »Die Welt will betrogen werden, also mag sie betrogen werden.« »Und das heißt?« »Warum bietest du deinem Dr. Prokop nicht genau das, was er haben will? Das absolut sichere Riesengeschäft mit garantiert hundert Prozent Rendite per anno aufs Kapital?« »Kein Mensch kann ihm das bieten.« »Im Gegenteil. Anbieten kann man alles, und wenn die Lieferung dann nicht klappt, erklärst du ihm eben, was dazwischengekommen ist. Und verlangst neues Geld. Und kriegst es, wart nur ab. Ich kenne doch meine Prokops.« »Gianno… Nein.« Ich schüttelte den Kopf. »Heiß mich einen Simpel, einen Deppen – aber ich glaub’ immer noch, daß die Wahrheit das beste Verkaufsargument ist.« Sein Gesichtsausdruck änderte sich, wurde milder und sonniger. »Du bist ein guter Kerl, Justus.« »Danke. Ein Arschloch also.«
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»Nein, ich mag dich. Was soll ich ihm also sagen?« »Mein Gott, mach ihm klar, was das bedeutet, wenn ein Anlagebüro Woche für Woche Fünftel- und Drittelseiten in großen Zeitungen mit Annoncen bepflastert. Sag ihm, was solche Anzeigenkampagnen kosten. Dir glaubt er es vielleicht. Frag ihn, wie seiner Meinung nach diese Leute das finanzieren… Warum guckst du so sparsam?« Er hatte genickt, aber recht zurückhaltend. Jetzt grinste er mich traurig an und hob mit einer sprechenden Geste, die an seine hübsche italienische Mutter erinnerte, beide Hände. »Du meinst es gut. Aber du machst es falsch.« »Sag mir, warum.« »Wir leben in einer Warengesellschaft. Was der Kunde verlangt, müssen wir liefern. Wenn er Illusionen verlangt, müssen wir ihm Illusionen liefern. Was willst du mit deiner Wahrheit, Justus? Immer noch deinem strengen protestantischen Vater gefallen? Sei lieber katholisch wie ich: Leben und leben lassen, und wenn man gesündigt hat, geht man beichten.« Ich wußte nicht, was ich antworten sollte. Er hatte ja recht. Jedes Wort, das er sagte, traf den Nagel auf den Kopf – sein Erfolg und sein Reichtum bewiesen das. Und gegen mich sprach so laut wie das Schlagzeug der Tanzcombo im TAHITI mein Mißerfolg. Statt zu antworten, lachte ich plötzlich. »Sag mal, ist das dein Ernst gewesen? Du wolltest ihm wirklich die Ines unterm Tisch servieren?« »Mein Guter – ich wollte dich bloß schockieren. Ich wollte dein protestantisches Gewissen bloßlegen!« Er lachte mit. Das belgische Zweigwerk von CHEMICAL UNITED war geschlossen worden, hörte ich während der Rückfahrt durchs Autoradio. Ungenügende Beachtung der Sicherheitsvorschriften. Der Vorstandsvorsitzende wies diesen Vorwurf der Behörden mit Entrüstung zurück; er sprach von neuen Sicherheitstechnologien, die nach dem Giftunfall eingebaut worden seien, und kündigte rechtliche Schritte an. Doch der Aktienkurs war weltweit bereits um dramatische sechs Prozent gefallen.
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Mein Herz klopfte. Ich fragte mich, was das bedeutete. Die Aktien wurden noch billiger, das bedeutete es. Wenn Dr. Bohland – oder die Finanzgruppe, die hinter ihm stand – sich in den Konzern einkaufen wollte, konnten sie das jetzt preiswert tun. Zurück in meinem Büro, Stunden später, hörte ich den Anrufbeantworter ab. Prokop, der feige Hund, sagte mir auf dem Band ab – viele Stunden waren wir in Berlin beieinander gewesen, und er hatte sich nicht getraut, unsere Geschäftsverbindung von Mann zu Mann zu beenden. Ich schaltete das Band erst mal ab, um den Schlag zu verdauen. Jeden Morgen, wenn ich herunterkomme und mich an meinen Schreibtisch setze, nehme ich den Kampf ums Bankkonto auf – nicht nur um die Bankkonten meiner Kunden, sondern auch um mein eigenes Konto. Ich mußte noch härter, noch effizienter kämpfen. Ich durfte mich nicht deprimieren lassen. Denn ich wollte ja nicht aufgeben, sondern meine Existenz verteidigen, stabilisieren, ausbauen. Das sagte ich mir. Aber ich fand lange nicht den Mut, das Band weiter abzuspielen. Ich hatte Angst vor noch mehr schlechten Nachrichten. Zum Glück folgten zwei kleinere Erfolgserlebnisse. Ein neuer Abonnent meines Börsen-Infos. Und eine Dame, sie wollte zweihunderttausend Mark anlegen und fragte an, unter welchen Bedingungen ich die Verwaltung des Depots übernehmen würde. Die letzte Mitteilung auf dem Band stammte von Dr. Bohland. Ich erkannte seine Stimme sofort. Er bestellte mich für den Freitagnachmittag ins Hotel BAYERISCHER HOF in München: »Wenn Sie es nicht einrichten können, bitte ich um Rückruf, damit mein Sekretariat einen alternativen Termin machen kann.« Von Beileidsbezeugungen bitten wir abzusehen, hatte es in der Annonce geheißen. Ich trat also nicht zu den Eltern, sondern ging lediglich am offenen Grab vorbei, um ein Schäufelchen Erde auf den Sarg zu werfen. Vielleicht war es übertrieben, daß ich überhaupt erschienen war; Peter Hammerschlag bedeutete mir nichts, ich kannte ihn nur vom Sehen. Allerdings kannte ich beide betroffenen Familien. Ich ging wieder ins Büro und versuchte zu arbeiten, aber der Unglücksfall ließ mir keine Ruhe. Vielleicht empfindet man es in einer
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so kleinen Gemeinde besonders schmerzlich, wenn nicht einer von den Alten stirbt – einer von denen, die, wie jeder weiß und sehen kann, »dran« sind… Sondern ein junger Mensch, dem alle eine Zukunft ganz selbstverständlich zugedacht hatten. Der junge Hammerschlag, der übernimmt mal das Hotel… Ich ließ, als der Nachmittag sich dem Ende zuneigte, meine Papiere auf dem Schreibtisch liegen und fuhr die B 19 entlang zur Abzweigung, die hinter den Hirschrück und auf seinen Kamm führt. Ich fuhr so langsam, als hätte ich keine neue Asphaltdecke unter den Reifen, sondern immer noch die alte Rumpelpiste mit ihren Schlaglöchern. An den dunklen Bäumen vorbei ging es hinauf, in der Rechtskurve vor dem Hotelparkplatz sah ich hoch oben die granitgrauen Zacken, das sogenannte Steiljoch des Hirschrück. Oberhalb führt der abkürzende Trampelpfad vom Hotel zur Vossschen Seite hinüber. Eine Seilsicherung hatte im Gemeinderat mal einer gefordert. Es war vor meiner Zeit gewesen. »Er hat seine Gummistiefel angehabt«, sagte Frau Hammerschlag, »weil es doch so naß war draußen.« »Also immerhin Schuhe mit einer Profilsohle. Aber daß er überhaupt noch raus ist bei dem Regen…« »Sein Mädchen hat ihn erwartet. Die Meli Voss.« Ihre Selbstbeherrschung wirkte fast unheimlich. Wie jeden Abend um diese Zeit saß die hochgewachsene Frau an der Rezeption – ganz in Schwarz allerdings heute. Sie schien meine Gedanken zu erraten, denn mit einem Blick auf ihren Schreibtisch sagte sie: »Drei Gäste reisen morgen früh ab. Die Rechnungen schreiben sich nicht von allein.« »Trotzdem sollten Sie sich heute schonen. Es muß ein entsetzlicher Schlag für Sie sein… Er kann Sie vernichten, wenn Sie jetzt nicht sehr stark sind.« Sie nickte. »Mein Mann ist verstört«, sagte sie nach einer Weile. »Er kann es gar nicht glauben. Der Hund auch nicht.« Sie wies auf den Rottweiler. Er lag mit aufmerksam hochgestellten Ohren hinter der Tür und äugte hinaus. »So hat er immer auf den Peter gewartet.«
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Der Hund spürte wohl, daß von ihm gesprochen wurde, er sah uns an und gab ein fiependes Winseln von sich. Er hatte sein Herrchen zweifellos aufgebahrt gesehen und wartete trotzdem auf ihn. »Es tut mir so leid«, sagte ich unglücklich. »Man hat gedacht, er übernimmt einmal das Hotel. Sonst hätte man ja gar nicht gebaut. Uns hätt’ auch der Pensionsbetrieb gereicht. Aber dem Buben, hat man gedacht, kann man doch nicht bloß einen Stall voller Rindviecher hinterlassen und ein paar Fremdenzimmer.« Sie ordnete abwesend ihre Papiere. »Auf einmal ist halt alles anders.« Ich glaube, es war dieser schlichte Satz, der mir das ganze Ausmaß der Tragödie erst wirklich nachfühlbar machte. Mit beherrschter Miene saß die schwarzgekleidete Frau vor mir – ich wäre fast in Tranen ausgebrochen. »So eine verfluchte Scheiße!« rief ich laut. Da lächelte sie ein bißchen. »Danke… Wenn Sie meinen Mann noch sprechen wollen…« »Ja, ich möcht’ ihm gern ein paar Worte – auch wenn man in Wirklichkeit ja nicht weiß, was man sagen soll…« »Er ist im Stall.« Als ich von der Eingangstür aus zurückschaute, schrieb sie schon wieder. Ernstes, hageres Gesicht, beschienen vom runden Lichtfleck der Lampe. Die Arbeit war jetzt vielleicht das einzige, was sie noch aufrecht hielt. In Gummistiefeln, wie sein Sohn sie am Unglücksabend getragen hatte, stand der Alte und gabelte frische Streu in die Boxen. »Die Viecher wissen ja nicht, was passiert ist«, sagte er zur Erklärung. Er sah aus wie todkrank. »An denen darf man es nicht auslassen.« »Ich bewundere Sie und Ihre Frau. Wenn ich nur irgendwas tun oder sagen könnte… Aber das kann man wohl nicht.« Er stellte die Gabel vor sich auf den Boden, faltete die Hände über dem Stiel zusammen und legte sein Kinn darauf. So sah er mich eine Weile übermüdet an. »Ich hab letzte Nacht kein Auge zugetan.« »Das kann ich mir vorstellen.« »Man fragt sich, wer schuld ist.« »Bei einem Unglücksfall? Niemand, Herr Hammerschlag.« »Der Ignaz Bratscher hat mir vorgehalten, ich wäre ein Außenseiter.«
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Es überraschte mich, daß er damit jetzt anfing. »Sie waren bei ihm? Wegen der Stellungnahme des Gemeindetags?« »An den Kosten für die Straße wollte ich mich nicht beteiligen… Und gegen die Ansiedlung von Industrie würde ich mich auch sträuben.« »Das ist Ihr gutes Recht!« »Er war aufgebracht.« Das war wiederum das gute Recht des Bürgermeisters, fand ich – sagte aber nichts. »Ob ich eigentlich der Auffassung wär, die Gemeinde könnte Geld scheißen.« »Sie sind doch nicht weich geworden?« »Er hat so eine Art… Ich wollt mich nicht lumpen lassen.« »Sie haben Ihren Scheck nicht zurückverlangt? Ich kann das für Sie machen.« Er sah weg. »Ich hab sogar den zweiten auch noch ausgeschrieben. Fünfzigtausend alles in allem.« Ganz und gar unverständlich war es mir nicht. Am Biertisch sind sie stark, die Petersrieder – da knöpft man sich den Bürgermeister vor und sagt ihm ins Gesicht, was man von ihm hält. Man flucht und man poltert, wie man’s gewohnt ist. Aber an einem Schreibtisch in einem Büro lassen sich Aggressionen, und wenn sie noch so berechtigt sind, so ungehobelt nicht leicht vortragen. Die Petersrieder können grobianisch poltern, aber nicht viele haben gelernt, ihren Zorn beherrscht und diszipliniert in eine Verhandlung einzubringen. Sie schimpfen, wo Schimpfen ungefährlich ist, und schweigen, wo es drauf ankommt. »Herr Hammerschlag, wir sollten dieses Thema ein anderes Mal erörtern…« »Nein, jetzt.« Er stellte die Gabel beiseite, nahm sich eine Zigarette und ging mit mir vor den Stall. Wir setzten uns auf die Bank vor den abenddunklen Bergen. »Ich sag’ ja, ich hab die ganze Nacht überlegt… Heute morgen bin ich dann – also ich hab den Weg da oben abgeschritten, wo unser Peter verunglückt sein soll… Der Boden war noch feucht da oben.
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Ich meine, ich hätte neben den Fußspuren vom Peter andere Spuren gesehen, kleinere.« »Ja – aber das ist doch nichts Ungewöhnliches. Der Weg wird immer wieder benutzt, auch wenn er nicht als Wanderweg…« »Jaja, drum red’ ich mit Ihnen. Wollen Sie nicht mal bei der…« Er schien zu würgen. »…bei der Familie Voss vorbeifahren?« »Um was zu tun?« »Ich hab den Oskar Voss gleich nach der… Zahlung an die Gemeinde angerufen. Ich hab ihm gesagt, wo ich jetzt die Fünfzigtausend für die Straße gegeben hab, kann ich nicht auch noch eine zusätzliche Reinigungsstufe für meine Kläranlage verkraften.« »Ich hab gar nicht gewußt, daß so eine Reinigungsstufe überhaupt im Gespräch war.« »Die beklagen sich über den Geruch da unten.« »Das weiß ich. Der Gestank ist auch wirklich penetrant, Herr Hammerschlag. Aber das ist ja nicht Ihre Schuld. Ihre Kläranlage entspricht den Auflagen des Wasserwirtschaftsamts. Die haben Ihnen bis ins einzelne vorgeschrieben, wie groß und in welcher Form die Kläranlage zu bauen war. Daß es jetzt trotzdem stinkt, ist also die Schuld der Behörde. Die hat ganz einfach nicht richtig gerechnet.« »Die kleine Voss hat sich doch bloß an meinen Buben gemacht, damit ich weich werd’ und ihnen die biologische Reinigungsstufe trotzdem baue.« »War Peter auch dieser Meinung?« »Der hat natürlich gedacht, sie liebt ihn.« Er lachte wie ein Mann, der sich nicht für dumm verkaufen läßt. Aus dem Gemeinderat war ich es gewöhnt, unzusammenhängende Einzelaussagen zusammenzufassen; das tat ich auch jetzt: »Peter und Meli sind fest miteinander gegangen. Ihr Sohn war oft unten zu Besuch. Er hat also zu Ihnen gesagt, Papa, die Leute sind arm dran, die wohnen wie neben der Abortgrube, da mußt du was tun. Darauf haben Sie Kontakt mit Oskar Voss aufgenommen und sich mit ihm darauf geeinigt, das in Ihrer Klärgrube vorgeklärte Abwasser noch zusätzlich durch eine biologische Reinigungsstufe zu schicken…« Er nickte. »So war’s.«
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»Jetzt haben Sie Herrn Voss davon unterrichtet, daß Sie nach dem Beitrag von fünfzigtausend Mark zum Straßenneubau vorerst nicht an eine biologische Reinigungsstufe denken können… Was hat eigentlich der Peter dazu gesagt?« »Ich hab nicht mit ihm drüber gesprochen.« »Dann hat er es sicher von Herrn Voss erfahren!« »Ja, anzunehmen.« »Und was wird Peter ihm geantwortet haben?« »Fahren Sie vorbei und fragen Sie Herrn Voss. Ihnen traut er, vielleicht sagt er es Ihnen.« Ich schüttelte ratlos den Kopf. »Aber was denken Sie denn, daß Ihr Sohn geantwortet haben könnte?« »Der hat genau gewußt, wie angespannt unsere Finanzen jetzt sind, nach dem Neubau.« »Sie wollen sagen, er hat Ihren Entschluß, die biologische Zusatzstufe jetzt nicht zu bauen, verteidigt? Auch gegen seine Freundin?« »Nehm ich an. Fragen Sie«, wiederholte er in dringlichem Ton. »Ich versteh nur nicht, warum Ihnen das… Was ist denn so wichtig dran? Ob Ihr Sohn bis zuletzt zu Ihnen gehalten hat? Wollen Sie das wissen?« »Ich will wissen, ob es wirklich ein Unfall gewesen ist.« »Was soll es denn sonst gewesen sein?« »Oder ob ihn jemand gestoßen hat.« »Herr Hammerschlag, das ist ein fürchterlicher Verdacht!« Auch ein abwegiger Verdacht, fand ich, bekam aber trotzdem Angst. »Er wird gesagt haben, das geht jetzt nicht anders, mein Vater hat momentan das Geld nicht übrig.« »Und dafür soll Herr Voss Ihren Sohn über den Felsen gestoßen haben? Ich kenn doch den Oskar. Der ist nicht mutig, der ist feig! Ein lieber Mensch, aber – Sie kennen ihn nicht. Sein Problem ist, daß er immer bloß quasselt und nie was tut!« Er seufzte. »Ich seh’ schon, Sie wollen es nicht begreifen.« »Ich begreife sehr gut, daß Sie mit diesem schrecklichen Unglück leichter fertig werden, wenn Sie irgend jemand die Schuld daran geben können. Überschlafen Sie diese Überlegungen, Herr Hammer-
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schlag. Morgen werden Sie selber merken, wie unbegründet sie sind.« »Wissen Sie was?« sagte er plötzlich. »Ich glaube, ich ruf doch die Kripo an.«
4 Ich stand am Münchener Promenadenplatz und sah mir das mondänste Karussell an, das der City-Bummler gratis besichtigen kann, die Drehtür zum Bayerischen Hof. Ein weißer Rolls hielt, ein Chauffeur stieg aus und öffnete den Schlag für einen Jüngling in Gammelkleidung. Vielleicht ein Showstar, das Gesicht kam mir bekannt vor. Dann trieb das gläserne Drehkarussell ein Paar heraus, sie jung und schön, er seriös und gereift. Ich trat unwillkürlich beiseite, um ihnen Platz zu machen, und hörte ihn sagen: »Grüß mir Greenwich Village.« Jaja, es gab viel Geld auf der Welt. Ich wußte besser als die meisten, wie man es vermehrte, wenn man es hatte. Das brachte mich auf die Frage, die mir seit Stunden im Kopf herumging: Ob Dr. Bohland heute Bargeld anbieten würde, und wenn ja, wieviel wohl. Ich trat ein und machte meinen Rundgang durch die Halle, von Tisch zu Tisch. Kein Bohland. Also setzte ich mich an die Bar, bestellte Kaffee und war nicht zu stolz, auf ihn zu warten. Ein Kunde hat mich mal provozieren wollen: Wenn Sie so genau wissen, daß die und die Aktie jetzt steigt, warum nehmen Sie dann nicht einen Kredit auf und kaufen das Papier selber? Dreißig Prozent von hunderttausend Mark sind dreißigtausend Mark! Völlig richtig. Gerade in letzter Zeit war ich manchmal nahe dran gewesen, zu diesem Mittel zu greifen. Aber sowenig ein Chirurg seine eigene Frau operiert, sowenig soll ein Anlageprofi eigenes Geld einsetzen: die Emotionen! Sie kommen dem kühlen und nüchternen Urteil in die Quere, Angst mischt sich ein und lähmt die Nerven. Das weiß jeder in unserer Branche. Man darf eigenes Geld nur einsetzen, wenn man es übrig hat. Mal angenommen, dachte ich so vor mich hin, er bietet jetzt einhunderttausend. Die Hälfte könnte ich auf einen Sonderfonds X ein-
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zahlen, in Zürich, sagen wir mal. Diesen Sonderfonds X würde ich nicht als eigenes, sondern als neutrales Geld ansehen. Dann hätte ich diesem Kapital gegenüber keine Gefühle. Ich könnte mir selber die dreißig Prozent Rendite per anno in die Tasche schaufeln, die ich jetzt drei Jahre lang hintereinander für meine Kunden herausgeholt hab. Das wären in einem Jahr…? Hm. Und ich würde den Gewinn auf dem Konto lassen. Das wären in zwei Jahren…? »Guten Tag, danke fürs Kommen«, sagte er freundlich und schob sich neben mich auf den gepolsterten Lehnhocker. »Für mich bitte auch Kaffee.« »Guten Tag, Herr Dr. Bohland.« Wohlwollend sah er mich an. »Sie wirken angestrengt… Von den belgischen Ereignissen gehört?« »Ja. Selbstverständlich.« »Was schließen Sie daraus?« »CHEMICAL UNITED steht jetzt sehr günstig, wenn man kaufen will. So billig war das Papier noch nie.« Er seufzte. »Aber man muß sehr vorsichtig sein, damit der Kurs nicht hochschnellt.« Das war klar, also sagte ich nichts dazu. »Wann beschließt Ihr Gemeinderat über die Ansiedlung?« »Heute ist der neunte, am neunzehnten ist die nächste Gemeinderatssitzung.« Ich zögerte, dann sagte ich es doch: »Vor jeder Gemeinderatssitzung treffen sich allerdings die Fraktionsvorsitzenden und Bürgermeister-Stellvertreter zu einer internen Beratung. Da werden alle Sitzungspunkte vorbesprochen. Damit es während der öffentlichen Sitzungen kein endloses Hin und Her gibt.« »Ich verstehe. Wann wäre die Vorbesprechung?« »Am zwölften.« »In drei Tagen.« »Ja.« »Und was da beschlossen wird, ist mehr oder weniger die Entscheidung?« »Sonst schon. Aber bei einer Frage von solcher Bedeutung kann kein Kollege überspielt werden. Jeder, der mit am Tisch sitzt, wird
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Stellung nehmen wollen. Und selbstverständlich wird dann abgestimmt.« »Können Sie mir Ihre Einschätzung des Votums geben?« »Meine Einschätzung… Was soll ich da sagen? Die Gemeinde braucht als Ergänzung zum Fremdenverkehr saubere Industrie. Das riesige Gewerbegebiet zwischen der B 19 und der Iller ist vor einem Jahr einstimmig ausgewiesen worden, weil sich darüber jeder klar ist. Aber es muß absolute Umweltverträglichkeit garantiert sein, sonst bleiben die Fremden weg.« Ich zögerte. »Ja…?« half er nach. »Ich glaube, daß aus zwei Gründen eine negative Stimmung in der Öffentlichkeit sich ausbreitet. Einmal, weil das Gewerbegebiet ursprünglich nicht für einen einzigen Großkonzern gedacht war, sondern für eine Vielfalt von Mittelbetrieben. Und dann selbstverständlich auch, weil der Großkonzern ausgerechnet CHEMICAL UNITED ist. Unser Parade-Ökologe in Petersried, ein gewisser Oskar Voss, hat bereits Unterschriften gegen die Ansiedlung beieinander. Unterschriften haben großes Gewicht in Petersried mit seinen bloß viertausend Einwohnern.« »Sie kennen diesen Voss?« »Sicher.« »Guter Mann?« »Nee, ein Spinner. Aber wichtig ist nicht, wer die Unterschriften sammelt, sondern wer unterschreibt. Schauen Sie – in Oberstaufen drüben, dem bekannten Schrothkurort, da hat seit ewigen Zeiten ein Mann die Verwaltung als Bürgermeister geleitet. Jeder hat gemeint, den kann nur der Sensenmann kippen. Er hat das auch angenommen. Die Machtstellung ist ihm zu Kopf gestiegen, und er hat gegen den Willen der kleinen Hoteliers einige Großhotels genehmigt. Bei der letzten Wahl hat er die Mehrheit nicht mehr bekommen – also die kleinen Hoteliers im Verbund mit den Umweltleuten und Heimatfexen haben ihn aus dem Amt gejagt, kann man sagen. Und jetzt prophezeie ich Ihnen was.« »Ich bitte darum.« »Jeder Bürgermeister in ganz Bayern hat sich diesen Erdrutsch von Oberstaufen ausführlich zu Gemüt geführt. So einen Fall erleben Sie
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nicht noch mal, daß ein Bürgermeister gegen eine lange Unterschriftenliste entscheidet. Das sind ausgefuchste Herrschaftstechniker. Die sind sich in jeder Minute des Tages bewußt, daß ihre Macht auf der Neutralisierung von oppositionellen Strömungen beruht. In einem Ort wie Petersried können Sie drum auch keine Opposition machen. Sie werden an der Herrschaft beteiligt.« »Mehr will ich ja auch gar nicht!« rief er munter. Mein Lächeln muß etwas fahl ausgefallen sein. »Sie haben mich nach meiner Einschätzung der Stimmabgabe pro und contra Ansiedlung gefragt, ich hab ein bißchen laut gedacht und fasse jetzt zusammen: Wenn viele Unterschriften gegen eine Ansiedlung zusammenkommen, dann können Sie vom Bürgermeister keine Zustimmung erwarten. Auch wenn er sonst noch so unternehmerfreundlich ist. Was nützt ihm ein hohes Gewerbesteuereinkommen, wenn ein anderer auf seinem Stuhl sitzt und es einsackt?« »Sie haben eine gesunde Einstellung zur Politik«, sagte er nur. »Und Ihr persönliches Votum?« »Zunächst mal habe ich ja wohl die Pflicht«, sagte ich, und mein Herz begann zu galoppieren, »den Gemeinderat darüber zu informieren, daß Sie als ausländischer Finanzier an mich herangetreten sind und Druck auf mich ausüben.« Der Drehstuhl knarrte. Dr. Bohland saß nun seitlich zur Bar und sah mir direkt in die Augen. Ich versuchte den Blick auszuhalten. »In welcher Weise setze ich Sie unter Druck, Herr Wolff?« Ich verbesserte mich: »Daß Sie mir seit Wochen Vorabinformationen über den Aktienkurs von BIANCA durchtelefonieren lassen, um mein Votum zu beeinflussen.« »Wer telefoniert Ihnen Informationen durch?« »Ihr Mittelsmann Winklhof.« »Ich kenne keinen Winklhof, kennen Sie einen? Hat er eine Adresse?« »Ich versteh’.« Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen. Was ich jetzt riskierte, war eine Attacke gegen einen – wie ich es empfand – weit überlegenen Gegner. »Aber in Vaduz, da haben Sie was anderes gesagt, Herr Dr. Bohland.« »Ich kann mich nicht erinnern.«
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»Aber ich. Und der Gemeinderat wird im Zweifel mir glauben, nicht Ihnen. Das ist in Kleingemeinden so, man glaubt den Leuten, die man seit Jahren kennt. Nicht den Fremden.« Eine Weile sagte er nichts. Wir saßen ruhig da, zwei Männer in Anzügen, und schauten uns an. Passieren konnte mir nichts, hier in der belebten Hotelhalle, an der Bar. Plötzlich lachte er auf. »Wo haben Sie Ihren Wagen stehen?« »In der Stachus-Tiefgarage, warum?« »Ich muß auch zum Stachus, ich begleite Sie hin… Muß nur vorher kurz telefonieren, warten Sie?« »Wenn Sie wollen…« Er bezahlte, bevor ich es verhindern konnte, für uns beide, und verschwand in einer Telefonkabine. Ich ging vor dem Hotel auf und ab. Ich war sehr aufgeregt. Wenn er mich jetzt zu bestechen versuchte, was würde ich antworten? Ich konnte ihn hinhalten und mir auf der Rückfahrt die Antwort genau überlegen. Die Frage war, nahm ich an oder schaltete ich die Polizei ein? Wir brauchten eine halbe Stunde bis zum Stachus. Er blieb an jedem Schaufenster stehen: »Wenn ich schon mal rauskomme«, sagte er, »dann muß ich das ausnützen. Solche Auslagen sehen wir in Vaduz nicht.« Und da hatte er weiß Gott recht. Elendes Kaff, dieses Vaduz. »Wir hören voneinander«, sagte er, als wir uns vor dem Eingang zur Tiefgarage verabschiedeten. Enttäuscht fuhr ich mit dem Lift nach unten. Für gar so wichtig schien er mein Votum im Gemeinderat doch nicht zu halten. Am Stadtrand tankte ich auf; kurz vor Landsberg hörte ich dann die Geräusche. Sie schienen aus dem Motorraum zu kommen, eine Art Klopfen. Nun bin ich kein großer Techniker, am Auto interessiert mich nur, ob es fährt. Immerhin hatte ich schon gehört, daß Maschinen, die mit Super fahren, normales Benzin nicht vertragen und »klopfen« können. Ich kam also auf die Idee, daß ich vielleicht versehentlich Normalbenzin eingefüllt hatte. Ich hielt auf einem Parkplatz und suchte die Quittung heraus. Da stand: Super. War es denkbar, daß die Tankstelle durch ein Versehen Normalbenzin in ihr Super-Reservoir gepumpt hatte?
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Auf der Autobahn hinter Landsberg fuhr ich zunächst bloß hundert. Aber ich merkte rasch, wenn ich Gas wegnahm, dann wurde das Klopfen lauter. Also beschleunigte ich auf hundert – sechzig, und das Klopfen verschwand beinah wieder. Doch dann wurde es trotz der hohen Geschwindigkeit immer penetranter. Eine Art Dröhnen und Pfeifen kam dazu; die Geräusche klangen gefährlich. Ich fuhr in ein Dorf ab, hielt vor einem Gasthof und fragte nach der nächsten Werkstatt. Die Wirtstochter machte ein langes Gesicht, es sei ja schon nach Feierabend. Ich aß erst mal zu Abend, das stimmte sie freundlicher, und sie suchte mir zwei Telefonnummern heraus. Bei der ersten antwortete niemand, bei der zweiten erreichte ich den Mechaniker. Er sagte, er könne in einer Dreiviertelstunde da sein. Ich trank langsam ein Bier. Am Stammtisch wurden sie auf mich aufmerksam und fragten, was denn los sei. Ich berichtete. Drei Männer standen gleichzeitig auf und begleiteten mich raus zu meinem Wagen. Sie musterten ihn sachkundig, einer ließ sich neben dem linken Vorderrad auf die Knie nieder. »Da fehlen ja zwei Muttern«, sagte er und rüttelte. »Sitzt schon ganz locker, Sie haben Glück gehabt.« Als der Mechaniker kam, mußte er alle verbliebenen Muttern – vier sitzen an jedem Rad – festdrehen. Sie waren gelockert, und die zwei, die fehlten, mußten während der Fahrt abgesprungen sein, meinte er. »Hatten Sie den Wagen kürzlich in der Werkstatt?« Er grinste. »Wieso, das kann doch kein Werkstattfehler sein!« »Sollte nicht, aber kann schon.« Die Stammgäste lachten gutmütig. Schon von weitem leuchtete mir die Lampe über der Garage entgegen. Die Katzen waren wohlauf, mit hochgereckten, zitternden Schweifen strichen sie um meine Beine, als ich ausstieg; ihre Art, um Futter zu betteln. Das fahlblaue Licht im Fenster des ersten Stocks zeigte mir, daß meine Eltern vor dem Fernseher saßen. Alles war wie sonst. Das beruhigte mich zwar, aber ich suchte den dunklen Garten trotzdem mit meinen Blicken ab, bevor ich ins Haus ging. Es steht einiges
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Gebüsch zwischen dem Haus und der gurgelnden Iller, meine Eltern haben Forsythien, Flieder und Haselsträucher auf das abfallende Grundstück gepflanzt. Ein ausgebildeter Schutzhund wäre nicht schlecht, dachte ich. Auf das Kommando SUCH! würde er die Büsche einzeln umkreisen und jeden Fremden sofort verbellen. Ich stellte den Katzen ihre Näpfe mit Milch und Fleisch hin und machte eine Flasche von meinem Lieblingsbier auf. Schlafen zu gehen hatte keinen Sinn, es war noch zu früh, und ich war zu unruhig. Ich nahm also mein Bierglas mit ins Büro und suchte die Augsburger Privatnummer von Corinna Castrup heraus. Irgend jemand mußte ich es erzählen. Sie schien zu begreifen, wie mir zumute war. Sie hörte aufmerksam zu, stellte Fragen, überlegte sich die Sache. »Soll ich Ihnen Herrn Stauder vorbeischicken? Er wohnt in Fischen, in zwanzig Minuten kann er bei Ihnen sein.« »Scheint mir doch etwas übertrieben.« Ich lachte. »Allein bin ich ja nicht, im Notfall wären meine Eltern auch noch da… Außerdem kann es ja tatsächlich ein Werkstattfehler gewesen sein.« »Ja, oder ein Fall von Vandalismus. In allen Großstädten gibt es junge Chaoten, die sich mit Destruktion antörnen. Sie zerstören Telefonzellen, schrauben die Muttern von Autorädern los…« »Ach, das ist bekannt?« »Es kommt vor, Herr Wolff. Aber in diesem Fall, ich weiß nicht. Sie haben Bohland gedroht, und es kann schon sein, daß er es für richtig gehalten hat, Ihre Drohung mit einer Warnung zu beantworten.« »Also Sie halten das auch für möglich?« Es beruhigte mich, daß sie mich nicht einfach für verrückt erklärte. »Es kommt darauf an, wer Dr. Bohland ist, was er für Hintermänner hat und wie diese Leute organisiert sind… Soll ich mich morgen gleich mal drum kümmern?« »Solche Leute werden gut getarnt sein, nicht?« »Wahrscheinlich, aber man kann es versuchen.« »Okay, tun Sie das.« Als ich auflegte, fühlte ich mich besser. Wenigstens geschah jetzt etwas. Ich rief auch noch in Berlin an, erreichte aber nur Mühlenberg
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senior. Sein Sohn habe in Mailand zu tun. In dringenden Fällen sei er telefonisch zu erreichen, er gab mir die Nummer. Ich ließ mir von der Auskunft die Vorwahl von Mailand geben und probierte es. Aber der Anschluß war belegt, und ich war zu nervös, um das Ende des Gesprächs abzuwarten. Statt dessen hörte ich meinen Anrufbeantworter ab. Oskar Voss bat um Rückruf. Ich sah auf die Uhr – zehn vorbei, vielleicht schliefen sie schon. Ich stieg noch mal ins Auto und fuhr zu der Eigenbau-Bruchbude an der Schulter des Hirschrück hinauf. Im Wohnzimmer sah ich Licht, also kletterte ich die steile Treppe rauf. Vorsichtshalber hielt ich mir ein Taschentuch vor Mund und Nase, obgleich der Kloakengestank aus dem Tobel vormittags und abends am stärksten war, nicht jetzt in der frühen Nacht. Ich hörte Oskars Schritte und dachte, die Tür würde nun gleich aufgehen – doch er rief mit scharfer Stimme heraus: »Wer ist da?« Das erstaunte mich. »Na, der Verfassungsschutz selbstverständlich.« Er schien der Auskunft hinterherzuhorchen, als könne was Wahres dran sein. »Bist du es, Justus?« »Du hast doch bei mir angerufen.« »Ach so.« Nun schloß er auf. Sein Gesicht wirkte angespannt, hager vor Streß. »Entschuldige, ich hab nicht mehr mit dir gerechnet. Komm rein.« Die Alte, die Berghexe, saß im Ohrenstuhl neben dem elektrischen Heizgerät und strickte mit kurzen, aggressiven Bewegungen an einem Schal. Sylvia sah mich aus der Küche heraus an, ihre Augen waren groß und dunkel wie nach einer Schreckensnachricht. »Ich wußte nicht, ob ihr noch auf seid, drum hab ich nicht angerufen…« »Jaja.« Oskar schob mir einen Stuhl hin. »Das ist sehr freundlich von dir… Du, was ich fragen wollte: Du hast doch mal diesen Kripomenschen von Kempten kennengelernt.« »Den Kriminaldirektor? Ja, als er dem Gemeinderat über die Ermittlungen in Sachen Vergewaltigung berichtete – diese Serie von Überfällen auf Mädels, die nachts aus der Disco kamen.« Ich erschrak. »Geht es um die Meli? Ist ihr was passiert?«
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»Noch nicht.« Oskar seufzte. Sylvia kam mit einer Kanne Tee aus der Küche und lächelte mich angestrengt an. »Trinkst du eine Tasse mit?« »Gern.« Sie ging zur Kommode, machte aber davor halt und hielt sich daran fest, als hätte sie es nötig, um nicht zu fallen. »Was ist denn los?« »Du, die Kripo ist heute stundenlang auf dem Trampelpfad zum Hotel Hammerschlag rumgekrochen. Anscheinend haben sich etliche Profile von Schuhsohlen im Schlamm eingedrückt, davon haben sie Gipsproben genommen. Und sie mit unsern Schuhen verglichen.« Er wies in den Flur hinaus, wo die Gummischuhe der Familie nebeneinander standen. Hier auf dem Land hat jeder Gummischuhe, man braucht sie, wenn man von den befestigten Wegen abweicht. »Jetzt wollen sie morgen Meli verhören.« »So… Wo ist sie jetzt?« »Sie schläft. Gott sei Dank kann sie schlafen«, sagte ihre Mutter. Sie wandte uns immer noch den Rücken zu. »Ja – ich nehm’ an, sie werden die Fußspuren von Meli da oben entdeckt haben. Na und? Selbstverständlich ist sie dort gelegentlich mit Peter unterwegs gewesen, sie war doch seine Freundin… Habt ihr das der Kripo nicht gesagt?« »Klar haben wir denen das gesagt. Aber du weißt doch, wie deutsche Beamte sind. Die sehen das Haus hier. Und uns. Meinen Bart. Und dann sagen sie sich, aha, Andersdenkende, Lumpenpack wahrscheinlich…« Ich wurde ungeduldig. »Im allgemeinen sind sie durchaus korrekt – also laß deine persönlichen Spinnereien jetzt mal außen vor.« Ich sprach schroffer als sonst. »Ist ein konkreter Vorwurf erhoben worden?« »Sie haben Meli sehr eingehend befragt, wo sie an dem Abend war, als Peter – na ja, man hätt’ meinen können, irgendwer hat ihn gestoßen. So haben sie ihre Fragen gestellt.« »Wie hat Meli reagiert?« »Zornig. Traurig.«
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»Hat sie denen gesagt, daß sie Peter geliebt hat?« Sie sahen mich nur an. »Oder wenigstens, daß sie mit ihm gegangen ist?« »Das schon.« »Sie hat doch sicher auch mit ihm geschlafen.« Ich lächelte, damit es nicht gar so hart klang. »Sicher ist er mal über Nacht hier bei ihr geblieben – oder sie hat bei ihm oben übernachtet…« Keine Antwort. »Ich meine nur, solche Fragen stellt auch die Kripo, und da muß Meli schon die Wahrheit sagen. Warum auch nicht? Die Wahrheit entlastet sie doch. Kein Mensch wird annehmen, daß Meli erst mit ihm schläft und ihn dann über die Klippe stößt, achtzig Meter tief…« »Hör doch auf!« rief Sylvia. Oskar räusperte sich. »Ich hab gedacht, wenn du morgen mit ihr nach Kempten fahren würdest…« »Ich? Wieso ich?« »Weil sie dich kennen, weil du Gemeinderat bist, weil… Daß sie nicht allein ist.« »Entschuldige mal, aber das wär doch wohl deine Sache, Oskar.« »Ich hab ja nur gedacht… Es war ja nur eine Frage…« Was war hier los? Die Alte strickte mit furiosem Tempo, daß die Nadeln böse klapperten. Die Junge saß da wie kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Oskar schien sich zum erstenmal, seit ich ihn kannte, nicht bloß um das Schicksal des Globus Sorgen zu machen, sondern um seine eigenen Angelegenheiten. »Leute – es ist doch alles okay? Sie hat es doch nicht wirklich getan, oder?« »Selbstverständlich nicht«, sagte Oskar mild. »Irgendwer muß der Kripo das gesteckt haben.« Sylvia sprach mit erstickter Stimme. »Die kommen doch nicht von sich aus von Kempten daher, bloß weil einer abstürzt.« »Der alte Hammerschlag wird uns angezeigt haben.« Oskar nickte bedächtig und bekümmert. »Vielleicht erleichtert es seinen Schmerz, wenn er jemand die Schuld geben kann«, sagte ich. »Seht es doch mal so. Für Hammerschlags ist es die Katastrophe ihres Lebens.«
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Sylvia fing an zu weinen und rief noch mal: »Hör doch auf!«
5 Auch wenn ich mir noch keine Sekretärin leisten kann, im Gegensatz zu Dr. Bohland, will ich meinen Kunden doch eine Tasse Kaffee oder Tee anbieten können. Ich hab mir eine Maschine gekauft, die beides gleichzeitig auf Knopfdruck zubereitet. Gianno Mühlenberg trank seinen Kaffee auf italienische Art, schwarz und mit Zucker, aber ohne Milch. Mark Stauder nahm Sahne zum Kaffee, aber keinen Zucker. Corinna Castrup bekam eine Teetasse und dazu die Dose mit Kandis. Während Kaffee und Tee in die durchsichtigen Kannen tropften, überlegten die drei sich, was ich ihnen erzählt hatte. Corinna rauchte nervös, Gianno hatte ein skeptisches Lächeln aufgesetzt, und Mark Stauder zerdrückte ein Streifchen Kaugummi zwischen den Zähnen. Ich schenkte Gianno zuerst ein – »Der Tee dauert noch einen Moment«, sagte ich zu Frau Castrup. Und zu Gianno: »Ich hab mich noch gar nicht bedankt, daß du so prompt hereingeschneit bist – aus Mailand.« Er machte eine abwehrende Handbewegung. »Mein Vater hat gesagt, du hättest in Berlin angerufen und ganz verstört gewirkt.« »Jetzt weißt du, warum.« Er nickte zurückhaltend. »Solche Geschichten sind mir natürlich nicht so neu wie dir. In Mailand kenne ich schon bald keinen Unternehmer mehr, der ohne Leibwache auf die Straße geht – aus Angst vor den Roten Brigaden. Und meine Freunde von der KP fürchten sich vor den Faschisten. Seit der Bombe in Bologna gehen sie nie ohne ihre zwei oder drei kompakt gebauten arbeitslosen Proletarier unter die Leute…« Da Corinna erstaunt aufsah, erklärte ich ihr: »Gianno ist mehr italienisch als deutsch. Ein katholischer, kommunistischer Unternehmer… Da unten soll das öfter vorkommen.« »Italien war schon immer mein Traumland«, meldete Stauder sich und grinste Gianno sympathisierend an. Seine Partnerin schien eher mißtrauisch zu reagieren, sagte aber nichts.
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»Jedenfalls haben wir lernen müssen, wie der Terror funktioniert.« Gianno öffnete ausdrucksvoll seine Handteller. »Er funktioniert deshalb, weil er immer, ohne jede Ausnahme, ganz eindeutige Signale gibt. Du drohst Bohland. Bohland läßt dir die Räder lockern. Das ist ihre Art. So arbeiten sie. Das glaube ich.« »Es ist sogar wahrscheinlich«, warf Corinna ein. Gianno nickte. »Aber daß Bohland ein Baugerüst abmontiert, obwohl es dir letztlich gar nicht gehört – es gehört ja meinem Vater beziehungsweise seiner Firma…« »Es war nur so eine Idee von mir«, entschuldigte sich Corinna. »Aber so arbeiten sie nicht. Ist nicht deutlich genug. Und noch verrückter wär es, einen jungen Mann von der Klippe zu stoßen, bloß weil dadurch ein Mädchen in Verdacht gerät, dessen Vater Unterschriften gegen CHEMICAL sammelt – also nein, Justus. Das ist paranoid.« »Ich kann nur sagen, als ich heute nacht wach lag und mir alles durch den Kopf gehen ließ – da bin ich auch schon halb übergeschnappt. Erst das Gerüst. Dann die Reifen. Dann wird Meli abgeholt…« »Inzwischen bringt er natürlich jede Mücke, die ihn nachts sticht, mit Dr. Bohland in Verbindung«, sagte Corinna erläuternd zu Gianno. Er wurde lebhaft: »Und das ist wieder ein Grund, warum der Terror funktioniert. Zum Schluß hat man Angst vor dem eigenen Schatten an der Wand.« »Ich möchte gern zurückschlagen«, gab ich bekannt. »Ich möchte dieser Saubande einen solchen Schlag verpassen, daß denen ein für allemal klar wird: Mit mir können sie das nicht machen.« Giannos Lächeln wirkte zweiflerisch. Corinna sah kopfschüttelnd in ihren Schoß und murmelte: »Wenn man nur Beweise hätte!« Mark Stauder nickte und leckte sich die Lippen. »Ich denk’ ganz genauso! Zurückschlagen. Aber gleich so, daß kein Gras mehr wächst.« Gianno räusperte sich. »Unsinn – nein, das bringt überhaupt nichts. Es gibt ja nicht nur den einen Dr. Bohland. Ich kenne namentlich drei – sogar vier Kollegen, die machen es ganz genauso. Und hinter ihnen steht richtiges Geld. Viel Geld. Die Teams sind meistens ungefähr
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gleich zusammengesetzt. Ein, zwei Anlageberater. Etliche Wirtschaftsjournalisten. Eine Herde von Telefonverkäufern. Und manchmal auch noch selbständige Makler, die steigen ein, weil sie mitverdienen wollen… Die Gewinne sind enorm, das ist klar. Und oft steuerfrei. Und es ist praktisch ein Geschäft ohne Risiko: Weil fast nie etwas nachweisbar ist.« Er wartete einen Augenblick. Da niemand von uns antwortete, sagte er mit seinem mattesten Lächeln: »Ich weiß, es klingt nicht – na ja, nicht macho. Nicht wie Rambo. Aber ich bin ja auch nicht Held von Beruf…« Er wandte sich direkt mir zu. »Du mußt diese Leute nicht unterstützen, bleib abseits und geh deinen eigenen Weg. Aber eins darfst du niemals tun, Justus: Wo solche Summen im Spiel sind, da legen sich kleine Leute wie wir nicht quer.« Wie »wir«, hatte er gesagt, sehr freundlich von ihm. Kleine Leute wie du, hätte er sagen müssen. »Nimm an, ich schreib’ alles auf, was ich erlebt hab, und übergebe den Bericht der Kripo.« Er beugte sich vor und sah mich eindringlich an: »Justus, ein Geschäft von solchen Dimensionen läßt man sich nicht verderben. Nicht von kleinen Leuten wie uns… Glaub mir. Sonst zieht man dich eines Tages aus deiner Iller.« Er wies auf den Fluß hinaus. Mir wurde doch sonderbar, als ich ihn das sagen hörte. »Was meinen Sie, Frau Castrup? Sie haben doch langjährige Erfahrungen mit Wirtschaftskriminellen. Ist Ihnen als Richterin so ein Fall schon mal vorgekommen?« »Dr. Bohland hat zweifellos eine kriminelle Vereinigung gegründet. Solche Banden sind immer gefährlich, schon wegen ihrer Gruppendynamik – die kriminelle Energie in so einer Vereinigung ist immer viel höher als die Summe der kriminellen Energien ihrer Mitglieder.« »Das ist ein Juristensatz!« beklagte sich Mark Stauder. »Die kriminellen Energien schaukeln sich gegenseitig hoch, höher, am höchsten. Zum Schluß begeht so eine Bande Straftaten, die kein Mitglied, einzeln für sich, je fertiggebracht hätte.« »So meinst du das!« »Ihre Partnerin hat recht, Herr Stauder.«
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»Also das heißt«, faßte ich ungläubig zusammen, »als ehemalige Richterin und jetzige Teilhaberin eines privaten Ermittlungsbüros raten Sie mir, ich soll nichts tun?!« »Ich bin nicht der Engel der Gerechtigkeit«, sagte sie schroff, »sondern, wie Sie so richtig bemerkt haben, eine private Ermittlerin. Sie bezahlen mich dafür, daß ich Ihnen mit Rat und Tat helfe – Ihnen, wohlgemerkt, nicht dem Staatsanwalt oder den Justizministern der Länder oder INTERPOL. Deshalb rate ich Ihnen, werfen Sie einen langen und illusionslosen Blick auf Ihre Ressourcen, die materiellen und die immateriellen, Ihr Bankkonto und Ihre seelische Festigkeit gleichermaßen. Und dann entscheiden Sie, ob Sie sich wirklich stärker fühlen als Dr. Bohland.« »Mark, was meinen Sie?« »Ihr habt mich total verunsichert!« Gianno starrte Corinna an wie ein Sammler von Gemälden ein schönes Bild. »Die materiellen und die immateriellen«, wiederholte er. »Das Bankkonto und die seelische Festigkeit gleichermaßen. Wunderbar! – Und«, sagte er plötzlich zu mir, »die Dame hat recht, Justus. Du bist ein Kindskopf.« Ich wußte gleich, daß sie es sein mußte – niemand außer Sylvia kommt abends so spät noch durch den Garten und klopft an meine Büroscheibe. »Was Neues von Meli? Wie geht’s ihr?« Sonst reden wir wenig, wenn ich sie einlasse; meist gehen wir gleich ins Schlafzimmer. Aber diesen Abend küßten wir uns nicht mal, ich nahm ihr den Mantel ab und hängte ihn über den Bügel – sie setzte sich neben meinen Schreibtisch auf den Kundenstuhl… Ernst sah sie aus. Bleich. »Ich muß mit dir reden, Justus.« »Ja, sicher. Was ist mit Meli? Wird sie noch verhört?« Sie schüttelte den Kopf. »Morgen wieder…« »Was denn, morgen wieder?!« Sie sah mich plötzlich fest an. »Justus…« »Du weißt, du kannst mir alles sagen.« »Ich bin es gewesen.« Man kann das Schlimmste erwarten, und dann trifft es einen doch, als ob man überhaupt nicht vorbereitet wäre. Als ich wieder klar sah,
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kniete ich vor ihr – vielleicht aus Mitleid, um mein Mitleid irgendwie darzustellen – und hielt ihre beiden Hände. Ich hörte meine angestrengten Atemzüge. »Weiß es Meli?« Sie schaute beiseite. »Ich glaub schon.« »Und Oskar?« Sie sah mich wieder an und nickte. Dann plötzlich preßte sie ihre Hände links und rechts so fest um meinen Kopf, daß ich nichts mehr hören konnte. Ich spürte am Zittern ihres Körpers, daß sie endlich weinte. Angst hatte ich keine Sekunde vor ihr. Nur Angst um sie. Ich machte mich aus ihrem Griff los und führte sie rüber ins Schlafzimmer. Inzwischen fröstelte sie so, daß ich sie, wie sie war, in allen Kleidern, in mein Bett steckte und bis zum Hals zudeckte. Ich selber setzte mich auf den Bettrand. Eigentlich interessierten mich ihre Erklärungen gar nicht… Konnte ich helfen? Das war die Frage. Daß Sylvia explodieren würde, hatte ich seit Jahren erwartet. Ich hatte sie sogar mehrmals vor einem Platzen dieses Dampfkessels, den sie aus sich machte, gewarnt. Nicht eindringlich genug. In diesen ersten Minuten machte ich mir selber mehr Vorwürfe als ihr. »Seit Jahren geht alles, was ich verdiene, in diese Bruchbude…! Oskar hat mir versprochen, daß wir diesen Sommer endlich mal wieder in Urlaub fahren. Auf nach Florenz…! Und dann auf einmal hat er das Holz für die Verkleidung vom Heizungsschuppen bestellt. Und die Platten für die Terrasse – eine Terrasse am Jauchegraben!« Sie lachte hysterisch auf. »Der meint, er kriegt seinen Schwarzbau am End noch genehmigt, wenn er ihn nur aufpoliert!« »Du hättest vor Jahren schon ausziehen müssen. Vielleicht wäre er dann zu sich gekommen.« »Ja, das sagst du immer. Und was mach’ ich dann?« »Ich kann doch nichts anderes sagen als die Wahrheit.« »Was ist Wahrheit…?« Da war er wieder, der schlimme Fatalismus, die erschreckende Schwachstelle ihres Charakters. »Du, ich hab’ seit Jahren bloß für dieses Haus gearbeitet! Und jetzt riecht es da Tag und Nacht nach Kloake!« »Ich verstehe dich.«
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»Tag und Nacht«, wiederholte sie. »Der Gestank geht nie wirklich weg. Wenn es warm ist und alle sich freuen, daß die Sonne scheint – dann kommen die Mücken.« »Ich verstehe dich, Sylvia.« »Soll ich erzählen, wie es war?« »Ich weiß nicht, ob ich der Geschichte jetzt gewachsen bin…« Aber erzählen mußte sie, und weghören konnte ich nicht. Sie hatten im Hexenhaus zusammengesessen. Peter sagte: »Ihr müßt das akzeptieren, mein Vater hat seinen Kreditrahmen voll ausgeschöpft, die Bank gibt nichts mehr.« Oskar in seiner Scheu vor konkreter Konfrontation schob die Schuld auf den Chemie-Multi: »Herr Hammerschlag hat ja die Klärstufe einbauen wollen! Da sagt ihm der Bürgermeister: Du kannst nicht die Kostenbeteiligung verweigern und trotzdem gegen die Industrieansiedlung sein, woher soll die Gemeinde das Geld nehmen? Da hat er nachgegeben. Keine Neuansiedlung CHEMICAL UNITED: keine Pression des Bürgermeisters. Und wir hätten einen sauberen Tobel gekriegt – das ist ein Kausalzusammenhang, Sylvia, du kannst ihn nicht abstreiten!« Sylvia wurde inzwischen schon immer übel, wenn sie ihn so reden hörte. »Peter, ich möcht’ Sie einen Moment allein sprechen.« »Ja, klar.« Er stand auf. Zum erstenmal sagte Meli was: »Wenn du deinem Vater das durchgehen läßt, schau’ ich dich nicht mehr an.« Er wollte antworten, doch es fiel ihm nichts ein. Er folgte Sylvia nach draußen. Das Gespräch mit ihr schien er zu fürchten, er sagte mickrig: »Ich muß aber jetzt heim…« »Ich begleite Sie.« Und sie stapften zusammen den Tobel entlang. »Riecht lieblich, nicht?« »Ich weiß, daß es… Aber was soll ich machen?« »Die Meli ist magersüchtig…« »Sie hat’s mir gesagt.« »Das macht der Ekel, Peter. Jeden ekelt das Leben an, wenn es so riecht, begreifen Sie das nicht?« »Ich bin nicht die Bank, Frau Voss, ich kann’s nicht ändern.«
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»Ihr Vater ist reich.« »Trotzdem hat er kein Geld.« Für wie dumm soll ich eigentlich verkauft werden? dachte sie. »Peter, haben Sie nicht das Gefühl, daß Sie uns Unrecht tun?« »Wir sind Ihnen nicht verpflichtet.« »Ach.« Er bumst meine Tochter und sagt mir, er ist uns nicht verpflichtet. »Schließlich dürften Sie gar nicht in dem Haus wohnen. Das Haus müßte schon längst abgerissen sein. Steht da überhaupt ein Haus? hat mein Vater mich mal gefragt. Ich weiß von nichts. Da wohnt niemand.« Jetzt zu mir sagte Sylvia: »Vielleicht bin ich verrückt, oder was meinst du?« »Nein, ich versteh’ dich.« Das hatte ich ihr schon mehrmals versichert. »Er ist vorausgegangen und gerutscht – es war rutschig bei dem Regen… Da hab ich ihn noch gestoßen, Justus. Ich!« Sie schaute ihre Hände an wie fremde Tiere. Plötzlich schlug sie sich ins Gesicht – mir fiel nichts Besseres ein, als diese krampfhaften Bewegungen in meiner Umarmung zu ersticken. Ihre entsetzlichen Selbstbeschimpfungen – »Die Alte hat recht! Ich taug’ nichts! Ich hab noch nie was getaugt!« – fing ich mit meinem Mund auf, den ich auf ihren preßte, bis sie ruhiger wurde. Es war draußen schon dunkel, als ich sie nach Kempten zur Kripo fuhr. Der große Raum in dem kleinen Rathaus dient alltags als Lesezimmer. Bei Regenwetter treffen sich hier die älteren Kurgäste und studieren unsere Regionalzeitung oder blättern die aktuellen Illustrierten durch. Für die Sitzung des Gemeinderats werden die einzeln stehenden Tische zusammengeschoben. Auf diese Tafel – sie sieht aus wie fürs letzte Abendmahl bestimmt – legte ich den Schnellhefter mit den Unterschriften. Den Kassettenrekorder stellte ich daneben. »Der Ignaz«, wie die Bevölkerung den Bürgermeister nennt, begann bürokratisch trocken mit der Verlesung von vorläufigen Stellungnahmen einzelner Behörden: Grundsätzliche Einwände wurden zunächst nicht erhoben. Nur der Bund Naturschutz sprach von einem
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Skandal, was Brutscher beklagte: »Vorurteile sind Urteile, die schon gefällt sind, bevor sich einer noch sachkundig gemacht hat.« Die Zuhörer reagierten unruhig – wir haben sonst auch bei öffentlichen Sitzungen nur wenig Publikum, aber diesmal waren alle Stühle besetzt. »Bevor ich die Debatte freigebe, darf ich fragen, ob eine Stellungnahme zu diesen einleitenden Erwägungen gewünscht wird.« Ich meldete mich. »Bitte, Herr Gemeinderat Wolff.« Ich hätte sitzenbleiben können, stand aber auf, um mir mehr Wirkung zu sichern. »Es hat sich wohl herumgesprochen, daß der Herr Voss in den letzten Tagen noch verstärkt Unterschriften gegen eine Neuansiedlung gesammelt hat.« Ich hielt den Schnellhefter hoch. »Eigentlich hat Herr Voss Ihnen die Listen selbst präsentieren wollen. Aus privaten Gründen fühlt er sich verhindert – ich kann auf die Gründe eingehen, aber nur, wenn Sie es wünschen.« Keiner sagte etwas, einige schüttelten den Kopf. Daß Sylvia sich selbst bezichtigt hatte und in Kempten in U-Haft saß, wußte hier jeder. »Es sind über dreihundert Unterschriften zusammengekommen«, sagte ich und hielt den Schnellhefter weithin sichtbar hoch. »Über dreihundert! Das zeigt, wie verbreitet die Sorge ist, unsere noch wohlerhaltene Kulturlandschaft könnte durch die Ansiedlung eines so riesigen Werks ernsten Schaden nehmen. Ich möchte dazu noch einige Anmerkungen machen.« Niemand widersprach, also redete ich weiter. »Meiner persönlichen Einschätzung nach ist die Erhaltung der gewachsenen soziologischen Strukturen in unserm ehemaligen Bauerndorf und jetzigen Fremdenverkehrsort kein Wert an sich, den es unbedingt zu erhalten gilt.« Das riß sie fast von ihren Sitzen, aber ich machte weiter: »Es sind ja früher auch keine Einwände gegen die Überfremdung der bäuerlichen Wirtschaft durch die Service-Strukturen des Kurgastbetriebs erhoben worden. Nach meiner Einschätzung – und jetzt betone ich noch mal, es ist eine persönliche Einschätzung – wäre gegen die Ansiedlung industrieller Inseln im Allgäu auch nichts einzuwenden. Im Gegenteil. Ein Großbetrieb schafft nicht nur Arbeitsplätze, er
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schafft vor allem qualifizierte Arbeitsplätze für unsere jungen Leute – nicht jeder müßte unsere Region verlassen, nur weil er studieren will und als Studierter hier keine Chance hat, eine angemessene Position zu finden. Und das ist noch nicht alles, was für die industriellen Inseln spricht. Die Entstehung größerer Belegschaften führt auch zu einer Weiterentwicklung des gesellschaftlichen und politischen Bewußtseins. Es ist kein Geheimnis, daß wir im Allgäu mit teilweise noch rückständigen Haltungen in der Bevölkerung zu kämpfen haben.« »Also, dazu muß ich was sagen!« Der Fraktionsführer der CSU war aufgesprungen. »Den Antragsgegnern wird hier unterstellt, daß sie durch Ansiedlung von Großindustrie einen Ruck nach links befürchten…« »Jawohl, eine politische Machtverschiebung zu Ihren Ungunsten!« Der Fraktionsführer der SPD sprang seinerseits auf. »Darum geht es doch! Einige haben Angst, daß wir dann den Bürgermeister stellen und nicht mehr Ihre Partei. Geben Sie das doch zu, Herr Kollege!« Die Unruhe war plötzlich tumultartig, Brutscher hob die Stimme. »Meine Herren – nach der bayerischen Gemeindeordnung erteilt der Bürgermeister das Wort. Und das Wort hat immer noch…« Es wurde erregt hin und her debattiert, aber der Bürgermeister ließ sich nicht beirren. »Das Wort hat immer noch der Kollege Wolff!« Er wußte, was ich sagen wollte, ich hatte es ihm zuvor in seinem Büro angekündigt. »Wenn ich trotz dieser für mich schwerwiegenden Argumente gegen den Antrag bin…« Der Lärm legte sich. »Wenn ich trotzdem gegen die Ansiedlung bin, dann deshalb, weil ich befürchten muß, daß speziell der Konzern, um den es hier geht, mit kriminellen Methoden arbeitet. Ich habe dem Bürgermeister vor der Sitzung einen Schriftsatz überreicht, in dem ich ausführlich darlege, wie und warum ein Finanzmakler aus Liechtenstein den Versuch gemacht hat, meine Stimme – mein heutiges Votum in diesem Kreis – zu kaufen. Wie und warum ich sogar bedroht worden bin, als ich mich gegen diesen Bestechungsversuch gewehrt habe. Die Vorgänge mögen im einzelnen nicht polizeimäßig zu beweisen sein, aber
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sie geben zu dem Verdacht Anlaß, daß der Konzern sich unsauberer Mittel bedient – und ich meine damit nicht, daß er die Luft, das Wasser oder die Erde verschmutzt: Das wissen wir vorerst noch gar nicht… Sondern ich spreche von einer Verschmutzung der politischen Moral.« Jetzt hatte ich ihre ganze Aufmerksamkeit und konnte die Kassetten abspielen, auf die Mark Stauder Winklhofs Anrufe überspielt hatte. Winklhofs gaumige Stimme klang sonderbar in dem Raum, es hatte was Obszönes, wie er BIANCA und dann auch CHEMICAL UNITED andienen wollte. Das Echo war, wie vorauszusehen, heftig. Der Antrag auf Neuansiedlung wurde nach nur einstündiger Debatte abgelehnt – ohne Gegenstimmen; Enthaltungen sind im Gemeinderat nicht möglich. Bei der einstündigen Debatte ging es fast nur um die Frage, ob zwischen Winklhof, Bohland und dem Konzern eine nachweisbare Verbindung bestand. Wir kamen zu der Folgerung, es sei nicht auszuschließen, daher das Votum. Im Grunde waren wir alle froh, den Chemie-Multi los zu sein, sollten sich andere mit dem undurchschaubaren Giganten rumärgern. Petersried würde weiter auf »saubere« Gewerbebetriebe von mittlerer Struktur setzen – »Und damit, meine Herren, können wir leben«, sagte Brutscher, als wir anschließend beim Bier saßen. »Besonders weil die Sozis dann nie aus ihrem 20-Prozent-Getto kommen«, steuerte der SPD-Fraktionsführer bei. Brutscher grinste. »Prosit.« Als wir unsere Bierkrüge senkten, fragte einer: »Du, Ignaz, was wird jetzt eigentlich aus dem Schwarzbau am Hirschrück? Reißen wir ab oder was?« »Solange die alte Frau Voss uns erhalten bleibt, wird nicht abgerissen«, sagte Brutscher freundlich. »Kann man nicht machen, tut man nicht.« »Sie is da daheim«, stimmte irgendwer zu. Drei Wochen später half ich Oskar und Meli, ihren Hausrat in einen Möbelwagen zu verladen. Sie hatten eine Drei-ZimmerNeubauwohnung in Kempten gefunden – hier waren sie Sylvia näher, die im Knast auf die psychiatrische Untersuchung wartete.
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Angetan mit schwer definierbaren, im Wind flatternden Gewändern blieb die Alte zurück; sie winkte dem Möbelwagen nicht nach, und ich ging nicht die Treppen rauf, um mich per Handschlag zu verabschieden. Ich nickte ihr nur zu und fuhr heim. Es war zufällig ein Mittwoch, und abends Punkt acht Uhr zog es mich zum Telefon. Aber Winklhof hat sich nie wieder bei mir gemeldet, und auch Dr. Bohland hat seine Energien lohnenderen Zielen zugewandt. BIANCA wird jetzt mit 580 Mark notiert. Tendenz steigend.
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Alexander Heimann Schattenhalb 1 An einem stockfinsteren Oktoberabend fuhr der knapp dreißigjährige Paul Mosimann, wohnhaft im mittelländischen Schattenhalb, seinen weinroten Volvo-Kombi auf einen morastigen Parkplatz nahe beim Flußufer, löschte die Lichter und wartete. Ein dünner Regen rieselte auf das Wagendach, und die elektrische Uhr tickte; sonst war nichts zu hören. Langsam gewöhnten sich Mosimanns Augen an die Dunkelheit. Durch das beschlagene Wagenfenster erkannte er den Rand des Platzes und den Anfang des Feldweges, der geradeaus davon wegführte, daneben den Schatten des dichten Ufergehölzes. Einmal ertönte der monotone Lärm eines fernen Flugzeuges, dann war es wieder ruhig. Mosimann knipste die Innenbeleuchtung an, blickte auf die Uhr am Armaturenbrett und überflüssigerweise auf den Chronometer an seinem Arm und seufzte ungeduldig. Halb acht vorbei, Müller würde wieder nicht kommen; offenbar scheute er das schlechte Wetter. Schwächling, dachte Mosimann verächtlich, stieg aus dem Wagen und entledigte sich des alten Militärmantels. Darunter war er im Trainingsanzug. Er hob noch einmal lauschend den Kopf, blickte in die Richtung, aus der Müller hätte kommen sollen, und schmiß den feuchten Mantel in den Kofferraum. Er deutete einige Kniebeugen an, schwang die Arme ein paarmal über den Kopf, nachher begann er davonzutraben. Das Flußufer war ein echtes Läuferparadies. Der Naturpfad schlängelte sich durch den von Erlen bestandenen Auwald oder zog sich in endlos erscheinenden Geraden den Damm entlang. Die Luft war hier sauber und nicht von Benzingestank oder der Ausdünstung mittelländischer Industrie verpestet. Paul Mosimann war erst vor dreiviertel Jahren nach Schattenhalb gekommen. Die einzige Fabrik des Dorfes hatte einen tüchtigen Buchhalter gesucht, und da er seiner Arbeit in der Stadt, seiner Woh-
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nung und seiner Freundin längst überdrüssig geworden war, hatte er sich gemeldet und die Stelle auch erhalten. Als passionierter Langstreckenläufer fand er hier ideale Trainingsmöglichkeiten vor, und anstatt einer teuren Wohnung leistete er sich einen teuren Wagen. Vor kurzem hatte er im gleichaltrigen Josef Müller einen ebenbürtigen Läuferkollegen gefunden. Nur war dieser Müller, der die nebulöse Tätigkeit eines freischaffenden Werbetexters ausübte, der unzuverlässigste Mensch der Welt. Oft hielt er es nicht für nötig, zum abgemachten Treff zu erscheinen, genau wie heute zum Beispiel. Als freiberuflich Schaffender konnte er es sich natürlich leisten zu trainieren, wann immer er wollte, und war nicht an feste Zeiten gebunden wie gewöhnliche Sterbliche. Mosimann fand langsam den richtigen Schritt, seine Lungen fingen an, gleichmäßig zu arbeiten, das Herz kam auf Touren. Links und rechts huschten die Schatten von Sträuchern und dünn gewachsenen Bäumen vorbei, durch deren zum Teil schon laublose Äste genug Helligkeit fiel, so daß Mosimann den Weg vor sich erkennen konnte. Er war gewohnt, im Dunkeln zu laufen, auch das Alleinsein machte ihm nichts aus. Das einzige, was ihn immer wieder von neuem irritierte, war der eigentümliche Widerhall seiner eigenen Schritte, den er sich zwar wahrscheinlich nur einbildete; denn tagsüber hörte er nie so etwas, und woher sollte hier draußen schon ein Echo kommen? Aber des Nachts hatte er ständig das Gefühl, als hetze jemand hinter ihm her. So auch jetzt. Mehrmals drehte er den Kopf; aber hinter ihm war alles leer, keine rennende Gestalt tauchte aus dem Finstern auf. Er lief regelmäßig und stetig, unter seinem Trainingsanzug breitete sich feuchte Körperwärme aus, seiner Nase entlang rannen die ersten Schweißtropfen und vermischten sich mit der Regennässe auf seinem Gesicht. Er geriet in einen Tunnel sich überschneidender Äste und Zweige, es wurde finster wie in einer Kuh, für einen Augenblick mußte er seine Schritte hemmen. Dann wurde es wieder heller. In einer leichten Biegung verließ der Weg das Gehölz und führte eine Weile unmittelbar dem Ufer entlang. Neben dem Rieseln des Regens war nun auch das leise Plät-
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schern des Flusses zu hören, dessen schwarze Masse sich träge und unaufhaltsam durch die Nacht wälzte. Weiter vorne zweigte der Weg wieder vom Ufer ab und verlief erneut unter den Bäumen. Während Mosimann den Fluß entlanggelaufen war, hatte er kein Echo mehr gehört; aber nun waren die Schritte wieder hinter ihm, deutlicher noch als vorher, und abermals zweifelte er daran, wirklich allein zu sein. Möglicherweise war es Müller, der ihm nachjagte. Abrupt blieb er stehen, aber außer dem schnellen, harten Klopfen seines strapazierten Herzens war kein Ton zu vernehmen. »Idiot«, stieß Mosimann zwischen zwei Atemstößen hervor; dann rannte er weiter. Bäche von Schweiß rannen an ihm herunter. Trotzdem begann er zu frieren. Er lief schneller, bald einmal würde er den in Aussicht genommenen Wendepunkt erreichen, dann konnte er umkehren und zurücklaufen. Da plötzlich knackte etwas im Geäst. Auf dem Seitenpfad, der von links in den Uferweg einmündete, erschien wie ein Geist eine weiße Gestalt und rannte knapp vor Mosimann her. Barbara Flückiger, stellte er fest. Ihr weißer Trainingsanzug und ihr Kopftuch waren unverkennbar. Sie arbeitete im selben Betrieb wie er und war ebenfalls Langstreckenläuferin. Er wußte, daß sie in letzter Zeit mehr trainierte denn je, um irgendwo an einem internationalen Silvesterlauf teilzunehmen. Er wußte überhaupt recht viel von ihr. Leider wollte sie von ihm nichts wissen; selbst sein Vorschlag, ab und zu gemeinsam zu rennen, war auf taube Ohren gestoßen. Er hegte sogar den Verdacht, sie habe den Ausgangspunkt ihres Lauftrainings so weit flußaufwärts verlegt, nur um ihm nicht zu begegnen. Aber siehe da, selbst weibliche Berechnung nützte nichts, wenn der Zufall hineinpfuschte. Es galt jetzt nur, möglichst rasch zu Barbara aufzuschließen. Sie konnte ihn ja wohl nicht gut wegschicken, wenn er einfach neben ihr herlief. Sein heutiges Laufpensum würde er wohl oder übel erweitern müssen. Doch sosehr er sich bemühte, zu ihr aufzuschließen, immer schneller rannte und richtig ins Keuchen geriet, er machte auf Barbara kei-
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nen Meter gut. Er konnte es kaum fassen, aber sie lief ihm buchstäblich davon. Ein nasser Zweig klatschte ihm ins Gesicht, er strauchelte über eine Unebenheit und wäre beinahe gefallen. Innerlich fluchte er; um laut zu schimpfen, fehlte ihm der Atem. Es folgte wiederum eine Gerade. Barbara hatte etwa hundertfünfzig Meter Vorsprung. Einmal schien ihm, als liefe sie langsamer; aber dann zog sie wieder davon. Er selbst wurde langsamer. Während er nun in diese von einer drohenden Stille erfüllte Nacht hineinrannte, in der nur der irritierende Widerhall seiner eigenen Schritte zu hören war, während er krampfhaft versuchte, sein Tempo zu steigern und trotzdem das Herz in der keuchenden Brust zu behalten, während er zugleich fror und schwitzte, nicht mehr darauf achtete, wo er hintrat, dabei über Steine und Wurzeln stolperte, und während der weiße Schemen vor ihm sich immer weiter entfernte und in der dampfenden Schwärze kaum mehr zu erkennen war, begann er sich allmählich zu fragen, wem er eigentlich nachrannte und ob es sich bei der Person vorne tatsächlich um Barbara Flückiger handelte. Der Weg machte erneut ein paar Wendungen, Äste hingen tief herunter. Mosimann sah vor sich nur noch ein finsteres Loch. Als es das nächste Mal etwas lichter wurde und der Weg abermals dem Damm entlangführte, war er dem davoneilenden Wesen deutlich näher gekommen. Nun war er wieder überzeugt, Barbara vor sich zu haben. Er schien endlich aufholen zu können. Es lag ihm zwar immer noch daran, mit Barbara anzubändeln, aber vor allem war sein sportlicher Ehrgeiz erwacht. Es nahm ihn doch beim Teufel wunder, ob er es nötig hatte, in punkto Rennen von einem Frauenzimmer in den Schatten gestellt zu werden. Nach einer Weile hörte der künstlich angelegte Damm auf und wurde von zahlreichen kleinen Buchten abgelöst, denen der Uferweg folgte. Die Strecke wurde wieder unübersichtlich. Mosimann rannte, was das Zeug hielt. Von Barbara war im Augenblick nichts zu sehen; aber nach dem nächsten Rank würde er sie bestimmt direkt vor sich haben.
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Der Regen hatte nachgelassen. Mosimann hörte das Glucksen des Wassers in den Buchten, einmal erschrak er ob dem halberstickten Schrei eines Nachtvogels. Er schoß um die nächste Biegung und erreichte freies Feld, das sich hier bis zum Fluß ausdehnte. Der Weg vor ihm war leer, von Barbara keine Spur zu sehen. Sie schien sich in Luft aufgelöst zu haben. Doch das war einfach nicht möglich, sie mußte vorne sein. Um so schnell aus seinem Blickfeld zu geraten, hätte sie fliegen müssen, und eine Möglichkeit, nach links oder rechts abzuschwenken, war hier nicht vorhanden. Jetzt blieb Mosimann abermals stehen. In seinen Halsadern pochte das Blut, ein Hitzeschwall durchflutete seinen Körper, dann begann er augenblicklich zu frösteln. Leise rieselte der Regen, sonst war es totenstill; denn der Fluß war hier zu weit weg, als daß man sein Rauschen hätte hören können. Das aufgeweichte Feld und die Schattenrisse von fernem Ufergebüsch lagen hinter einem grauen, nassen Schleier. Durch diesen hindurch schien erneut das Geräusch laufender Schritte an Mosimanns Ohren zu dringen. Was spielte sich hier ab? Wo war Barbara Flückiger geblieben? Wer rannte wie ein unsichtbares Gespenst im Finstern umher? Einbildung? War das alles nur Einbildung? Mosimann stand allein auf diesem gottverlassenen Feld. Zu sehen war kein Mensch, Schritte waren nicht mehr zu hören. Aber Hirngespinst hin oder her, etwas stimmte nicht, etwas ging hier vor. Er setzte sich wieder in Bewegung und begann den Weg, den er gekommen war, zurückzulaufen. Auf einmal schien ihm, als bewege sich weiter vorn, dort wo der Weg in das nahe Ufergehölz hineinschlüpfte, eine menschliche Gestalt. Und jetzt wollte er endlich wissen, was los war und wer hier noch herumgeisterte. »He!« rief er. »Fräulein Flückiger… Barbara Flückiger…!«
2 Als am nächsten Morgen die Betriebssirene der Batteriefabrik Mörgeli die rund achtzig Angestellten zur Arbeit rief, regnete es noch
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immer oder schon wieder. Der Steinboden in der Eingangshalle war naß, bei der Stempeluhr hatte sich eine richtige Pfütze gebildet, weil da die Arbeiterinnen und Arbeiter in ihren tropfenden Mänteln für einen Augenblick stehengeblieben waren. Zwei, drei Leute kamen zu spät und hasteten mit eingezogenen Schultern daher, als könnten sie so unsichtbar zu den Garderoben im Untergeschoß gelangen. Das Büropersonal mußte nicht stempeln, war aber angehalten, trotzdem pünktlich zu erscheinen, nicht zuletzt, um den Arbeitern ein gutes Beispiel zu geben, wie die Direktion jeweils beim Jahresrapport verlauten ließ. Aber auf fünf Minuten mehr oder weniger kam es nicht an. Mosimann verspätete sich manchmal bis zu einer Viertelstunde. Dafür arbeitete er abends hie und da länger. Als Hauptbuchhalter und Vorgesetzter einer Bürohilfe und eines Lehrlings war er schließlich beinahe ein Mitglied der Geschäftsleitung und konnte sich infolgedessen herausnehmen, seine Arbeitszeit etwas flexibler zu gestalten. Auch heute betrat er sein Büro mit Verspätung. Nach dem verregneten Training hatte er lange nicht einschlafen können, das seltsame Vorkommnis mit Barbara Flückiger war ihm nicht aus dem Kopf gegangen. Dazu hatte er sich offenbar – entgegen aller Abhärtungstheorien – eine Erkältung geholt. In der Nacht war es ihm vorgekommen, als hätte er Fieber, und am Morgen war er mit Halsschmerzen erwacht. Am liebsten hätte er sich krank gemeldet. Aber da er sich in der Firma gerne als pickelharter Sportsmann gebärdete, ging ihm dies wider den Strich. Abgesehen davon hatte er eine Menge zu tun. Auch war der kaufmännische Lehrling heute in der Schule und die Assistentin in den Ferien. Unlustig wühlte Mosimann in einem Stapel von Fakturen; dann setzte er sich an die japanische Rechnungsmaschine und begann mit dem Aufaddieren der zu bezahlenden Beträge. Doch unvermittelt griff er nach einem dünnen Aktenordner und trat damit auf den Gang hinaus, um nach Barbara Flückiger Ausschau zu halten. Aber die Milchglasfenster des Empfangsbüros waren zu, dahinter brannte auch kein Licht. Barbara hatte sich offenbar noch nicht eingefunden.
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Das war seltsam; denn als Empfangsdame durfte sie sich keine großen Verspätungen leisten. Hinter den geschlossenen Scheiben, wo sich auch die Telefonzentrale befand, begann es sowohl zu summen als auch zu piepsen. Mosimann verdrückte sich wieder in sein Büro. Er hatte keine Lust dabeizusein, wenn offenbar wurde, daß eingehende Anrufe ungehört blieben. Am Ende würde man ihm Vorwürfe machen, weil er nicht geantwortet hatte. An der Sonnenseite der Fabrik, die vor einigen Jahren um einen länglichen Flachdachbau erweitert worden war, lagen im zweiten Stock die Büros der beiden Herren Mörgeli. Bei Beat Mörgeli, dem Junior, standen außer dem Schreibtischstuhl zwei lehmfarbene Polstersessel, bei Senior Franz Mörgeli deren drei. Sonst glichen sich die zwei Räume aufs Haar. Auch die Herren Mörgeli ähnelten sich in dem Maße, wie dies eben bei Vater und Sohn vorkommen kann. Der Alte war sonderbarerweise schlanker als der Junge und machte überhaupt den frischeren Eindruck. Der knapp fünfundzwanzigjährige Sohn hatte zwar nicht gerade einen Bauch, aber er strahlte eine gewisse wohlgenährte Flegelhaftigkeit aus, und man merkte ihm an, daß er an Wochenenden nicht wie sein Vater ausgedehnte Bergwanderungen unternahm, sondern lieber in seinem Porsche herumflitzte. Im Betrieb jedenfalls munkelte man, es sei typisch: Was die eine Generation aufbaue, reiße die nächste nieder. Überhaupt könne der Junge dem Alten nicht das Wasser reichen. Pikanterweise bewegte sich das augenblickliche Gespräch der beiden akkurat in diesem Sinne. Das heißt, der Vater stand in der Zwischentür der beiden Büros und machte dem Sohn Vorwürfe wegen dessen anscheinend zu leutseligem Auftreten gegenüber Untergebenen. Er gebrauchte Worte wie: »Früher hätte man… mehr Disziplin… Frère et cochon…« und so weiter. Der Junge gab von seinem Schreibtisch aus zurück und setzte sich für mehr Menschlichkeit im Betrieb, für Transparenz und Psychologie ein. »Psychologie«, ereiferte sich der Alte, »Transparenz! Diese Worte kann ich schon gar nicht mehr hören. Wenn du dir von den Arbeite-
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rinnen in der Plattenmontage Schokolade anbieten läßt, hat das nichts mit Psychologie, sondern allein mit Dummheit zu tun. Wenn du, wie zum Beispiel gestern abend, die Flückiger in deinem Auto nach Hause fährst, ist das zwar transparent, aber nur in diesem Sinn, daß die ganze Firma zuschauen kann, wie du mit dir unterstellten Weibsbildern anbändelst. Kein Wunder kommt die Flückiger jeden zweiten Morgen zu spät. Heute ist sie jedenfalls wieder nicht zur Zeit da. Ich habe bereits den dritten Anruf über meinen Apparat entgegengenommen; geradesogut könnte ich mich an ihrer Stelle in den Empfang setzen.« »Reg dich nicht auf«, maulte Mörgeli junior. Er war inzwischen von seinem Stuhl aufgestanden und ging mit langen Schritten auf dem Spannteppich hin und her. »Es ist doch nicht mein Fehler, wenn die Flückiger zu spät kommt. Und wegen dem Nachhausefahren: Ich habe sie nur mitgenommen, weil es geregnet hat.« Ein Akt der Barmherzigkeit sei das gewesen. Er grinste. »Wenn du sie jedesmal mitfahren läßt, wenn’s regnet, dann sitzt sie jedenfalls sehr oft in deinem Wagen, und was den sogenannten Akt der Barmherzigkeit angeht, so hoffe ich nur, es werde zwischen euch nicht noch zu einem andern Akt kommen.« »Ah, endlich sind wir beim Thema«, ärgerte sich der Junge. »Ich habe nichts mit der Flückiger, verstehst du. Und wenn ich etwas mit ihr hätte, ginge es niemanden etwas an. Abgesehen davon hat die nichts als ihre Rennerei im Kopf. Dazu ist der Mosimann, diese Blindschleiche, scharf auf sie, und…« »Siehst du«, fiel ihm der Alte ins Wort: »Es ist bezeichnend, daß du so etwas überhaupt weißt. Du sollst dich nicht um den Firmenklatsch kümmern, sondern um deine Aufgabe als Juniorchef.« Das tue er auch, erklärte Beat Mörgeli, darum schlage er vor, daß man jetzt zum Geschäftlichen übergehe. »Meinetwegen«, knurrte Mörgeli senior, der zwar gerne noch weiter gestritten hätte, aber wohl oder übel einlenken mußte, wenn der Sohn vernünftig sein wollte. »Komm, die Offerte für den amerikanischen Druckgußautomaten ist eingetroffen. Die müssen wir uns ansehen, bevor wir den Deutschen zusagen.«
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Zur selben Zeit wurde im Nebengebäude auch von zwei Frauen über Barbara Flückiger und den jungen Mörgeli gesprochen. Dies allerdings nur in abgehackten Sätzen, denn die Kontrollarbeit am Fließband erforderte von den Arbeiterinnen trotz aller Monotonie ein gewisses Maß an Konzentration, und jedesmal, wenn der Vorarbeiter in seiner weißen Schürze näherkam, mußte der Schwatz ohnehin unterbrochen werden. »Ein hochnäsiges Ding ist sie, die Flückiger«, sagte die ältere der beiden, und dann nach einer Pause: »Dabei war ihr Pflegevater, der alte Husi, hier ein Leben lang Arbeiter.« »Daß unser Junior sich auf so etwas einläßt«, wunderte sich die andere. »Pfarrers Kind und Müllers Vieh… was willst du«, antwortete die erste. Das Fließband kam ins Stocken. Die lange, eben noch in Bewegung gewesene Kolonne der fast fertigen Batterien stand still, der Lärm der Vorschubrollen setzte aus. Weiter vorne war offenbar ein Einfülltrichter verstopft. Eine Arbeiterin fummelte mit nervösen Handbewegungen daran herum, die andern ließen die Arme hängen und schauten zu. Durch die Fenster der Maschinenhalle sah man hinaus in einen stumpfen Himmel, der von hier aus nie anders als grau erschien; denn die Spiegelung in den hohen Scheiben ließ selbst bei schönem Wetter keine Farbe durch, geschweige denn jetzt, wo es draußen noch immer wie aus Kübeln regnete. Der Vorarbeiter eilte herbei. Es kam zu einem kurzen Wortwechsel. Nach einigen Manipulationen an der Maschine begann der Motor zu summen, alles setzte sich wieder in Bewegung, zuerst die einzelnen Maschinenteile, dann die Arme und Hände der Arbeiterinnen. Die beiden Frauen von vorhin, die während des kurzen Arbeitsunterbruchs geschwiegen hatten, weil sonst ihr Gespräch in falsche Ohren hätte dringen können, wechselten erneut ein paar nicht ganz belanglose Worte: »Glaubst du, daß wirklich die neue Entgiftungsanlage gar nicht funktioniert?« »Weiß nicht, verstehe nichts davon.«
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»Der Rüedisühli von der Spedition sagt, das sei nur eine Attrappe, die vorgeschriebene Anlage wäre viel zu teuer gewesen.« »Schon möglich.« »Der ganze Saft der alten Batterien wird ins Grundwasser abgeleitet.« »Ist mir doch egal.« »Die lassen ja auch niemanden zu den Pumpen.« »Wer sagt das?« »Der Rüedisühli.« Ein schriller Glockenton verkündete, daß die im selben Raum befindlichen Pastiermaschinen zu arbeiten begannen und daß die Leute daher die Schutzmasken aufzusetzen hatten, um eine mögliche Schwefelsäurevergiftung zu vermeiden. Nach außen hin jedenfalls wurde das Giftgesetz in der Batteriefabrik Franz Mörgeli und Cie. streng befolgt. Um zehn Uhr war Barbara Flückiger noch immer nicht eingetroffen, und die Sekretärin von Franz Mörgeli, das angegraute, hornbebrillte Fräulein Wermuth, wurde beauftragt, beim alten Husi telefonisch nachzuforschen, was mit seiner Pflegetochter los sei. Der einstige Fabrikarbeiter Fürchtegott Husi wohnte am Rande des Dorfes Schattenhalb in einem Mittelding zwischen Chalet und Bauernhaus. An dessen Rückseite befanden sich neben dem Hühnerhof etliche Kaninchenställe, ein Taubenschlag und ein von Seerosen überwachsener Ententeich. Ein wenig abseits und der Sonne zugekehrt stand ein dunkel gebeiztes Bienenhaus. Wichtigstes Merkmal der Liegenschaft Husi jedoch war der riesige Garten, der das zwitterhafte Gebäude und dessen Dependancen umgab und sich bis zum etwa zweihundert Meter entfernten Waldrand hinunterzog. Fürchtegott Husi, der bereits seine Kindheit in diesem Haus verbracht hatte, war ein, wie man in der Landessprache zu sagen pflegt, richtiger »Grümscheler«, also einer, der außer schwarz schneien schon alles gemacht hatte. Seit ein paar Jahren galt sein Augenmerk vor allem dem biologischen Gartenbau, daneben züchtete er eine seltene Bienenart, und sonntags amtete er als Laienprediger in einer ziemlich verbreiteten religiösen Gemeinschaft. Auch war der ledig gebliebene Husi ein alter Geizkragen; trotzdem hatte er ein gutes
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Herz. Denn als die einzige Tochter seiner Schwester im Alter von dreizehn Jahren innerhalb kurzer Zeit Vollwaise geworden war, nahm er sie ohne großes Aufheben zu sich, schaute offenbar recht gut zu ihr und ermöglichte ihr später eine seriöse kaufmännische Ausbildung. Als an diesem Morgen der Anruf aus der Fabrik kam, tat Husi, der in seiner nassen Pelerine von draußen ans Telefon geeilt war und überall auf dem Stubenboden nasse Spuren hinterlassen hatte, sehr erstaunt. Er erklärte, Barbaras Zimmer sei leer und das Bett gemacht, sie müsse längst zur Arbeit gegangen sein. Diesen Bericht gab Fräulein Wermuth an die Direktion weiter, und nun kam doch noch etwas Spannung in den trostlosen Vormittag, der nicht nur den Arbeiterinnen und Arbeitern äußerst mühselig erschien. Außer der Wermuth und den beiden Herren Mörgeli wußte in der Fabrik zwar niemand vom erfolglosen Anruf bei Husi; aber noch vor der Mittagspause hieß es im ganzen Betrieb, die Flückiger sei verschwunden und man habe den Landjäger aufgeboten. Mit dem ersten Teil des Gerüchtes hatte es bekanntlich seine Richtigkeit, der zweite Teil war die logische Schlußfolgerung des ersten, stimmte jedoch nicht. Vorläufig dachten die Herren Franz und Beat Mörgeli nicht im Traum daran, die Polizei zu benachrichtigen. Dubiose Vorkommnisse mit Angestellten oder gar Polizei im Hause schadeten dem guten Ruf, und der gute Ruf der Fabrik spielte eine wichtigere Rolle als alle Vermißten der Welt. Das war übrigens alles, worüber sich Vater und Sohn im Augenblick einig waren; sie stritten sogleich wieder miteinander, und der Kopf des alten Mörgeli war vor Ärger rot wie eine Tomate. »Siehst du«, wetterte er, »genau davon habe ich heute morgen gesprochen. Wenn sich unsereiner mit Betriebsangehörigen einläßt, sitzt er gleich mit in der Patsche. Warum mußtest du die Flückiger gestern aufladen, he? Möglicherweise bist du der letzte, der sie gesehen hat. Wie willst du das verschweigen, wenn die Polizei aufkreuzt?« »Vorhin hast du gesagt, du würdest die Schroterei unter keinen Umständen alarmieren«, motzte der Junge, dem in der Tat nicht mehr geheuer zumute war.
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»Ich nicht«, rief der Alte, »aber Fürchtegott Husi wird zur Polizei rennen, bevor es Abend ist; der freut sich doch, wenn er uns etwas anhängen kann!« »Es braucht ja niemand zu wissen, daß die Flückiger in meinem Auto gesessen hat.« »Lieber Himmel, du bist noch dümmer, als ich geglaubt habe. Du meinst doch nicht im Ernst, daß du als Beat Mörgeli, Juniorchef von Mörgeli und Cie. inner- oder außerhalb der Fabrik auch nur einen Furz herauslassen kannst, ohne daß das ganze Kaff davon spricht.« »Ach Quatsch, so schlimm ist es auch wieder nicht.« »Natürlich ist es schlimm. Ich kann nur hoffen, daß die Flückiger bald wieder auftaucht. Ich will die Polizei unter keinen Umständen im Haus. Ich habe meine guten Gründe dafür.« In der Buchhaltung saß Paul Mosimann vor seinem Pult und überlegte ähnlich: Nur nichts mit der Polizei zu tun haben. Dazu war er nicht aus der verderbten Stadt aufs Land gekommen. Er wollte seine Ruhe haben, sein Laufpensum bewältigen und sich vielleicht mit der Zeit eine neue Freundin anschaffen. Mit der Flückiger konnte er kaum noch rechnen, besonders jetzt nicht, da sie zu allem Überfluß noch verschwunden war. Daß mit der etwas nicht stimmen konnte, wußte er schon seit gestern oder spätestens seit heute morgen, als sie nicht zur Arbeit erschien. Dafür mußte er im Betrieb nicht besonders die Ohren spitzen. Mit größter Wahrscheinlichkeit war er der letzte, der sie gesehen hatte; aber das brauchte niemand zu wissen und konnte auch niemand wissen. Das war eben der Vorteil, wenn man zurückgezogen lebte und nicht schulterklopfend durch die Gegend lief, wie es dieser Lackaffe Mörgeli junior tat, der bei jeder Gelegenheit mit dem Popolo gemeinsame Sache machte. Ein wenig Sport, ein wenig Auto fahren, eine angenehme Stelle und eine behagliche Zweizimmerwohnung, hie und da ein scharfes Filmchen auf dem neuen Videogerät, was wollte er noch mehr? Da konnte ihm der Rest der Welt getrost in die Schuhe blasen. Fatal war bloß – und Mosimann klopfte mit dem Bleistift auf die Schreibunterlage –, daß ihm ausgerechnet bei diesem harmlosen Lauftraining so Widerwärtiges in die Quere gekommen war. Er ahnte
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bereits, er werde diesen regnerischen Oktoberabend nicht vergessen können, solange er nicht wußte, was mit Barbara Flückiger geschehen war. Und sollte er es einmal erfahren, würde es keinen Deut besser sein; denn auch für den Buchhalter Paul Mosimann gab es nichts Schlimmeres als Alpträume, die Wirklichkeit wurden.
3 Es kam ungefähr so, wie Mörgeli senior es vorausgesehen hatte: Noch während der Mittagszeit pedalte Husi auf seinem vorsintflutlichen Rücktrittrad zum Posten der Kantonspolizei in Schattenhalb. Weil das Büro geschlossen war, ging er zur Wohnungstür von Polizeikorporal Hans Krähenbühl und läutete Sturm. Wo es brenne, fragte der vom Familientisch aufgescheuchte Krähenbühl etwas ungnädig. Er war es zwar gewohnt, zu allen möglichen und unmöglichen Zeiten herausgeklingelt zu werden; aber heute gab es sein Lieblingsgericht, Hörnli, Rindfleisch im Saft und Nüßlisalat. Dabei ließ er sich ungern stören. Die Barbara sei verschwunden, rapportierte Fürchtegott Husi und blickte ohne großen Respekt auf den schwarzen Schäferhund, der sich an Krähenbühls Beine schmiegte. »Seit wann?« wollte der Polizist wissen. »Seit heute morgen, das heißt seit gestern abend.« »Ja, seit wann jetzt?« »Wahrscheinlich seit gestern abend«, erklärte Husi. »Es sieht beinahe so aus, als wäre sie letzte Nacht gar nicht nach Hause gekommen. Alles in ihrem Zimmer ist noch so wie gestern.« Barbara sei ja erwachsen, er selber gehe normalerweise um etwa halb neun zu Bett und kümmere sich nicht darum, ob und wann sie nach Hause komme, fügte er beinahe entschuldigend hinzu. Krähenbühl strich sich mit Daumen und Zeigefinger durch den gestutzten Schnurrbart; dann winkte er Husi herein: »Setzen Sie sich einen Moment in die Wohnstube, ich will zuerst fertig essen. Nachher gehen wir hinüber auf den Posten.« Er gab dem Hund einen Klaps: »Komm, Rex.«
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Auch später auf dem Posten gab sich Krähenbühl kurz angebunden. Er war ein guter Polizist, der mit Sicherheit hätte Karriere machen können; aber er haßte den riesigen, unüberblickbaren Polizeiapparat der Städte. Dafür schätzte er den vergleichsweise bedächtigen Landbetrieb, der es ihm ermöglichte, gelegentlich den Rasen zu mähen oder in aller Ruhe fischen zu gehen. Wegen der paar Verkehrsunfälle, den vereinzelten Einbrüchen und den in letzter Zeit allerdings aktiver gewordenen Töffli-Rowdies hatte er sich bis jetzt nicht hintersinnen müssen. Ob Husi in der Fabrik nachgefragt habe, erkundigte er sich. Wie den meisten Dorfbewohnern war ihm bekannt, daß Barbara dort arbeitete. Eben genau dort sei sie zuerst vermißt worden, erklärte Husi. Krähenbühl strich sich erneut über den Schnurrbart. Wann Barbara zuletzt gesehen worden sei, wollte er dann wissen. »Ich selber habe sie gestern abend etwa um sieben Uhr zum letztenmal gesehen, bevor sie zum Training ging«, antwortete Husi. Wer sie seither noch angetroffen habe, wisse er nicht. »Was trainiert sie denn, die Barbara?« »Laufen.« »Aha, und wo läuft sie?« »Meistens am Fluß unten. Stundenlang rennt sie dort umher für nichts und wieder nichts.« Krähenbühl mußte lächeln. Es war typisch, daß der alte Arbeiter, der mit seiner Zeit noch immer möglichst viel Nützliches tat, für sportliche Betätigung wenig Verständnis aufbrachte. »Zusammenfassend läßt sich also sagen«, resümierte er, »daß Barbara zum Training gegangen ist, daß Sie selber um halb neun zu Bett gegangen sind und daß Sie seither nichts mehr von ihr gemerkt haben. Heute morgen hat man aus der Fabrik angerufen, und Sie haben erfahren, daß sie dort vermißt wird. Ist das richtig?« Fürchtegott Husi nickte. »Ja, dann sieht es tatsächlich so aus, als wäre Ihre Pflegetochter gestern nicht zurückgekommen. Aber weit kann sie nicht sein, man geht nicht einfach verloren, hier schon gar nicht.«
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Das könne er sich auch nicht vorstellen, meinte Husi, aber immerhin sei sie verschwunden. Dann müsse man sie eben suchen, konstatierte Krähenbühl und angelte den Uniformrock von der Lehne des Schreibtischstuhls. Indessen machte der Polizist kein großes Aufheben von der Angelegenheit. Zwar fuhr er am frühen Nachmittag mit seinem Opel Kadett bei der Fabrik vor, aber die beiden Herren Mörgeli durften beruhigt sein: Von offizieller Seite aus würde man kein unnötiges Geschirr zerschlagen. Auch der Buchhalter Mosimann, der Krähenbühl hatte kommen und gehen sehen, atmete erleichtert auf; offenbar wollte man von ihm nichts wissen. Nach dem kurzen Besuch in der Fabrik begaben sich Krähenbühl und Husi samt dem Hund Rex zum Fluß hinunter. Im Wagen wurde kaum gesprochen, draußen regnete es noch immer, die Wischer schmierten, und links und rechts beschlugen sich die Fenster. Das nasse Fell des Hundes roch stark, und die krumme Brissago, die Husi rauchte, machte die Luft auch nicht besser. Krähenbühl, der inzwischen von Husi erfahren hatte, daß Barbara als konsequente Umweltschützerin bei jedem Wetter mit ihrem Sportrad zum Fluß hinuntergefahren war, drosselte das Tempo, sobald sie das Ufergelände erreichten, und spähte angestrengt durch die halbblinden Scheiben. Als er unweit jener Stelle, an der gestern Mosimann seinen Volvo geparkt hatte, ein blaues, an eine Holzbeige angelehntes Damenrad erblickte, bemächtigte sich seiner doch ein ungutes Gefühl. Auch Husi begann hastig an seiner Brissago zu ziehen und deutete an, aussteigen zu wollen. Später standen sie beide vor dem Rad, das von Krähenbühl überflüssigerweise mehrmals aufgehoben und wieder abgestellt wurde; er wußte im Augenblick nicht recht, was er machen sollte. Schließlich befahl er den Hund zu sich und ließ diesen an einigen Kleidungsstücken Barbaras schnüffeln, die sie vorsorglicherweise mitgebracht hatten. Rex tat sein Bestes, um eine Fährte aufzunehmen; aber bei diesem Regenwetter waren alle Spuren hoffnungslos verwässert, und Krähenbühl war nicht überrascht, als der Hund einige Male im Kreis
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herumschnüffelte, sich dann mitten auf dem morastigen Weg auf die Hinterpfoten setzte und mit dem Schwanz wedelte. So begannen sie, dem Fluß entlang aufwärts zu gehen; denn Husi bezeichnete es als wahrscheinlich, daß Barbara diese Richtung eingeschlagen hatte, um so mehr als der Weg, der flußabwärts führte, von dort an einen harten Belag aufwies und daher zum Laufen wenig geeignet war. Sie gingen denselben Weg, den Mosimann gestern gerannt war, nur bedeutend langsamer, und weil sie alle paar Meter stehenblieben, um über den Wegrand hinaus zu äugen, Äste zur Seite zu biegen und die Köpfe ins Dickicht zu stecken, dauerte es eine Ewigkeit, bis sie einen einzigen Kilometer zurückgelegt hatten. Ab und zu zog der Hund an der Leine, aber irgendeinen brauchbaren Hinweis gab er nicht. Die beiden Männer fühlten sich klein und hilflos. Hier war gewiß keine unendliche, abgelegene Gegend, kaum einen Kilometer entfernt gab es Häuser, Straßen; aber alles erschien grenzenlos und durch den andauernd fallenden Regen vollkommen verwaschen. Besonders Krähenbühl kam sich wie in einem von der Sintflut heimgesuchten Niemandsland vor. So lächerlich in die Büsche hineinzuluchsen, als ob sie Pilze suchen würden, machte ihm ihre Hilflosigkeit besonders deutlich. Husi hatte, seit sie aus dem Wagen gestiegen waren, kein Wort gesagt. Beständig ging er dem Polizisten ein paar Schritte voraus. Eine innere Unruhe schien ihn voranzutreiben, was begreiflich war; aber gerade das gehetzte Voranpirschen würde am Ende wohl nichts bringen. Diese Übung können wir aufgeben, überlegte Krähenbühl. Wenn die Flückiger bis heute abend nicht von selbst zum Vorschein kommt, muß ich freiwillige Helfer aufbieten und die Gegend systematisch durchkämmen lassen. Auch der in solchen Fällen gang und gäbe Aufruf an die Bevölkerung durch Radio und Fernsehen würde unumgänglich werden. Ob die Diskretionswünsche der beiden Herren Mörgeli dann noch Vorrang haben würden, wagte er im Augenblick zu bezweifeln. »Wir kehren um«, sagte er zu Husi; doch der schüttelte den Kopf und murmelte etwas von allein weitersuchen.
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»Das hat doch keinen Sinn, Husi«, versuchte ihn Krähenbühl zu überzeugen. »Natürlich werden wir die Suche nicht aufgeben, aber wir müssen Hilfe holen.« »Vielleicht hat sie sich verletzt und liegt irgendwo da vorne«, sagte Husi, der dem Polizisten gar nicht zuhörte. »Dann wäre sie längst gefunden worden.« »Bei diesem Wetter kommt hier niemand durch.« »Doch, die Schulkinder von Aetzrüti benützen den Uferweg als Abkürzung und fahren hier immer auf den Rädern vorbei, obschon sie eigentlich nicht dürften; das weiß ich zufälligerweise. Abgesehen davon ist Barbara nicht die einzige, die hier trainiert, da rennen ganze Völkerstämme umher.« »Bis jetzt habe ich niemanden gesehen.« Nicht mehr länger bereit, mit Husi zu debattieren, blieb der Polizist stehen: »Kommen Sie, es war sicher richtig, daß wir hergekommen sind, um uns umzusehen; schließlich haben wir ja auch das Fahrrad sichergestellt; aber jetzt müssen wir andere Seiten aufziehen. Und vorher möchte ich nochmals mit Ihnen reden, Husi. Es ist nicht bewiesen, daß Barbara hier unten verschwunden ist, es muß sonst noch Möglichkeiten geben.« »Das Fahrrad ist Beweis genug!« rief Husi, der sich bereits etwa fünfzig Meter weiter vorne befand und keine Anstalten machte umzukehren. Krähenbühl pfiff dem Hund, den er inzwischen von der Leine gelassen hatte, und begann zurückzugehen. Mochte Husi in seiner Verbohrtheit so weit laufen, wie er wollte, ihn, Krähenbühl, ging das nichts an, höchstes, daß er auf einmal anstatt nur eine zwei Personen würde suchen müssen. Unaufhörlich fiel der Regen, und in den kleinen und großen Pfützen auf dem geraden Uferweg vor ihm spiegelte sich das fahle Licht des ausgelaugten Himmels.
4 Noch am selben Abend telefonierte Krähenbühl mit dem Gemeindepräsidenten Fritz Schällibaum, um mit diesem das weitere Vorgehen
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im Fall Barbara Flückiger zu besprechen. Zwar sei es eigentlich noch gar kein Fall, unterstrich Krähenbühl; aber es könne leicht einer daraus werden, wenn die Flückiger nicht innert nützlicher Frist wieder auftauchen würde. Schällibaum betrieb hauptberuflich eine Schweinemästerei und wurde von den paar Schattenhalber Bauern nur deshalb weniger scheel angeschaut als die Herren Mörgeli, weil sein Unternehmen der Landwirtschaft näherstand als die Batteriefabrik. Dieselben Bauern verschwiegen übrigens, daß die Firma Mörgeli seit jeher zuverlässige Steuerzahler ins Dorf brachte und daß die Fabrikangestellten zum Teil in Häusern wohnten, die auf teuer bezahlten, ehemals bäuerlichen Grundstücken standen. Ob es denn erwiesen sei, daß die Flückiger am Fluß unten trainiert habe, zweifelte auch Schällibaum. Vielleicht sei sie ganz woanders umhergerannt. Krähenbühl erwähnte das Fahrrad, räumte allerdings ein, er selber könne nicht beschwören, daß es sich um das Rad der Flückiger handle; man müsse da dem alten Husi glauben, der im übrigen einen reichlich konfusen Eindruck gemacht habe und dessen Aussagen sicher mit Vorbehalt zu werten seien. Auf Husi lasse er nichts kommen, erwiderte Schällibaum erstaunlich scharf, für den würde er jederzeit persönlich einstehen. Der Polizist schluckte dreimal leer. Da war er offenbar ins Fettnäpfchen getreten. Daß dieser verdrehte Knacker von Husi mit irgend jemandem das Heu auf derselben Bühne hatte, war ihm völlig neu. Ohne die Einwilligung des Gemeindepräsidenten möchte er nichts unternehmen, versuchte Krähenbühl seinen Fauxpas gutzumachen, welche Maßnahmen er also ergreifen solle. »Vor allem wünsche ich keine Einmischung von außerhalb unserer Gemeinde«, sagte Schällibaum, etwas milder gestimmt. »Die Flückiger werden wir schon selber finden. Was Sie mir vorher von Radio und Fernsehen geschwafelt haben, ist dummes Zeug. Nur nichts an die große Glocke hängen, Korporal Krähenbühl. Diskretion ist gefragt, verstehen Sie, äußerste Diskretion. Alles andere schadet dem Wohl der Gemeinde.«
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Schon wieder einer, der für Diskretion ist, dachte Krähenbühl und erkundigte sich nochmals, was also am besten anzukehren sei. »Ich trommle den ortsansässigen Zivilschutz zusammen, dazu die freiwillige Feuerwehr«, erklärte Schällibaum. »Die Leute werden unter Ihrem Kommando stehen, Korporal, Sie nehmen Ihr Hundevieh mit, und dann nimmt mich doch wunder, ob wir der Flückiger nicht auf den Sprung kommen.« Aber es zeigte sich dann, daß alles nicht so einfach war, wie Schällibaum es sich vorgestellt hatte. Der Feuerwehrkommandant erklärte, solange es keine Feuersbrünste oder Überschwemmungen zu bekämpfen gebe, könne er nicht eingreifen, und der Obmann des Zivilschutzes stieß ins gleiche Horn. Seine Leute seien doch keine Pfadfinder; außerdem müsse er zuerst beim Eidgenössischen Militärdepartement eine Bewilligung einholen, und bis er die hätte, würde es mindestens vierzehn Tage dauern. Mit diesem ernüchternden Bericht ging der Präsident auf den Polizeiposten, um mit Krähenbühl zu besprechen, was man jetzt machen wolle. Unterdessen war es zehn Uhr geworden, und Schällibaum wäre lieber zu Bett gegangen, als wegen der vermißten Flückiger von Pontius zu Pilatus zu rennen. Er war überzeugt, den Schwarzen Peter gezogen zu haben, und den versuchte er nun wieder dem Polizisten zuzuschieben. Krähenbühl, der hatte kommen sehen, daß alles an ihm hängenbleiben würde, wehrte sich nicht einmal besonders dagegen. Aber er sagte klipp und klar, er pfeife auf den guten Ruf der Gemeinde und werde von nun an seine eigenen Methoden anwenden; denn wenn man darauf warten wolle, bis im Dorf entschieden sei, wer wann wofür zuständig sei, könne man bestenfalls die übernächste Generation der Schattenhalber damit beauftragen, nach der Flückiger zu suchen. Schällibaum, der darauf gerne etwas erwidert hätte, aber beim besten Willen nicht wußte, was, zuckte die Schultern und meinte bloß, es sei überhaupt eine bodenlose Frechheit von der Flückiger, einfach mir nichts, dir nichts verlorenzugehen.
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Krähenbühl kam dann gar nicht dazu, seine, wie er gedroht hatte, eigenen Methoden anzuwenden. Kaum hatte er am nächsten Morgen die Füße zum Bett hinausgehängt, wurde er aus dem Weiler Aetzrüti angerufen: Schulkinder hätten beim Fluß unten etwas gefunden, er solle sofort kommen. Auf seine Frage, was in aller Welt denn gefunden worden sei, erhielt er keine Antwort, man hatte das Gespräch bereits unterbrochen. Der Polizist setzte sich, ausgerüstet mit Dienstwaffe und Funkgerät, aber diesmal ohne Hund, in seinen Opel und fuhr auf der Landstraße nach dem weiter oben am Fluß gelegenen Aetzrüti. Dort brauchte er gar nicht nach dem Anrufer zu suchen. Kind und Kegel waren draußen versammelt, und sobald er aus dem Wagen gestiegen war, begannen sie mit seltsam verhaltenen Schritten den Fußweg hinunterzugehen, der zum Fluß führte; kaum jemandem war es eingefallen, ihm auch nur zuzunicken. Endlich hatte es aufgehört zu regnen. Die Luft war klar gewaschen, nur aus den abgeernteten Feldern stieg gräulicher Dunst. Im schräg hereinfallenden Morgenlicht sahen die Leute aus, als wären sie alle schwarz angezogen, niemand sprach ein Wort. Krähenbühl kam sich wie in einem Leichenzug vor. Selbst die Kinder, die zum Teil ihre Räder neben sich herschoben, verhielten sich ruhig, und als plötzlich eines von ihnen völlig grundlos auflachte, wurde es gleich von den andern mit scharfen Zischlauten zum Schweigen gebracht. Dafür lärmten die überall in den Büschen sitzenden Vögel um die Wette. Es konnte, wie Krähenbühl ärgerlich dachte, doch wirklich passieren, was wollte, diese blöden Viecher zwitscherten stets munter drauflos. Daß etwas passiert war, wußte er spätestens seit heute morgen. Zum Spaß hatte man ihn sicher nicht kommen lassen, umsonst waren die Leute nicht so verdattert. Noch lag der Schatten der abziehenden Nacht über dem Fluß, auch unter dem niedrigen Gehölz nistete Dunkelheit, die vorläufig überhaupt nicht mehr weichen würde; denn jetzt im Herbst schien die Sonne nur noch halbwegs in die Uferlandschaft.
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Als man ungefähr dort angekommen war, wo Mosimann auf seinem Rückweg vorgestern Barbara gerufen hatte, blieb männiglich wie angegossen stehen und blickte auf Krähenbühl. »Und jetzt?« fragte er, und es waren die ersten Worte, die heute morgen gesprochen wurden. »Dort vorne«, bekam er zur Antwort, und dann begann ein einziger Mann den gegen den Fluß abzweigenden Pfad entlangzustapfen, während auf einmal die Kinder mit ihren Rädern wie ein Schwarm wildgewordener Hornissen um die auf dem Weg zurückgebliebenen Menschengruppen herumschwirrten. Krähenbühl folgte dem Mann, hintereinander pirschten sie dem Fluß zu, dort, wo der Pfad von Sumpfgras überwachsen war, hoben sie die Füße, als müßten sie durch hohen Schnee waten. Als sie das Ufer erreicht hatten, ging der Mann durch ein Gewirr von Ästen und Zweigen noch eine Weile flußaufwärts und blieb dann stehen. Krähenbühl, der ihm gefolgt war, stellte sich neben ihn. Der Mann deutete mit dem Kopf nach vorn und gleichzeitig nach unten, doch was Krähenbühl sehen sollte, sah er auch, ohne daß man ihn besonders darauf aufmerksam machen mußte. Dort, wo der Fluß wegen eines unscheinbaren, teils eingestürzten Deiches eine kleine Bucht bildete, lag bäuchlings ein Mensch auf einer von Kieseln übersäten Sandbank. Vor allem die Hosenbeine eines schmutzig-verfärbten, hellen Trainingsanzugs waren zu sehen. Kopf, Arme und Beine befanden sich im Wasser. Krähenbühls stummer Begleiter zog sich durch Schilfgras und Erlengebüsch zurück, der Polizist, der nun allein war, sprang von der Böschung hinunter und trat nahe zu der Leiche. Ertrunken ist die nicht, dachte er, bevor er überhaupt realisierte, daß er Barbara Flückiger gefunden hatte. Vielleicht verdankte er diese erste Eingebung der Tatsache, daß um den Hals der Toten ein zu einem Strang zusammengedrehtes Tuch geschlungen war oder auch dem Umstand, daß sich die Leiche zum größten Teil im Trokkenen befand. Der Polizist ging in die Hocke und beugte sich über die Tote. Just in diesem Augenblick schien ein scharfgelber Sonnenstrahl unter
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einem schwammigen Wolkenrand hervor und zündete in den dunkel dahinziehenden Fluß wie ein Scheinwerfer. Der Kopf der Toten wurde noch deutlicher sichtbar, daneben die Arme und die weißen, angeschwollenen Hände, die schwer im Wasser lagen, und die langen blonden Haare bewegten sich in der Strömung, als wären sie etwas Lebendiges.
5 Da hatte Krähenbühl also unverhofft einen ausgewachsenen Mordfall am Hals, und als bewährter Dorfpolizist hätte er sich nun beweisen können. Aber vorerst wußte er nicht einmal, wie er die simplen Probleme lösen sollte, die sich ihm im Augenblick stellten. Er hätte den Platz absperren müssen, verfügte aber über kein geeignetes Material und vor allem über keine Hilfskräfte. Auch wäre es dringend nötig gewesen, den zuständigen Untersuchungsrichter zu mobilisieren und alle übrigen Maßnahmen zu treffen. Aber um überhaupt etwas unternehmen zu können, mußte er den Tatort verlassen, und genau das wollte er nicht. Als zuständiger Beamter war er zu einer aufgefundenen Leiche gerufen worden, er hatte ein Verbrechen festgestellt, er konnte das Opfer, er konnte diesen Fall doch nicht einfach sich selbst überlassen, davonspazieren, den weiten Weg nach Aetzrüti gehen, um zu telefonieren. Wenn er zurückkäme, wäre am Ende die Leiche verschwunden. Da würde er schön mit abgesägten Hosen dastehen. Wenn er doch bloß den Mann vorher zurückbehalten hätte; aber er war in jenen Sekunden so konsterniert gewesen, daß er dessen Rückzug nur im Unterbewußtsein zur Kenntnis genommen hatte. Den Hund, den er jetzt mit einer Mitteilung unter dem Halsband hätte ins Dorf schicken können, hatte er ausgerechnet heute zu Hause gelassen, das Funkgerät in der Eile im Wagen vergessen; dafür trug er diese blöde Pistole bei sich, die ihm überhaupt nichts nützte. Aber er konnte hier nicht einfach stehenbleiben bis zum SanktNimmerleins-Tag und seine Leiche bewachen. Daß demnächst einer der Gaffer herkommen würde, war unwahrscheinlich. Die Leute
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hatten alle Angst und wollten mit der Sache lieber nichts zu tun haben. Die Sonne war bereits wieder verschwunden. Erneut schoben sich regenschwere Wolken über die am andern Ufer stehenden Baumwipfel. In der Bucht wurde es finster wie am Letzten Tag. Krähenbühl fuhr sich mehrmals durch den Schnurrbart, warf einen letzten Blick auf die Tote und erkletterte die Böschung. Irgend etwas mußte er schließlich tun, und zwar rasch. Er schlug sich durch das unwegsame Gelände, blieb dabei mehrmals an wildwachsenden Brombeerhecken hängen und verbrannte sich die ungeschützten Hände an den überall wuchernden Brennesseln. Sobald er den Pfad erreicht hatte, der vom Ufer wegführte, begann er zu rennen, um möglichst rasch nach Aetzrüti zu gelangen. Als er sich jedoch dem Weg näherte, auf dem die andern vorhin zurückgeblieben waren, entdeckte er, daß sie sich immer noch am selben Ort befanden und ihn mit stummen, bleichen Gesichtern anstarrten. Krähenbühl hemmte den Schritt und schlug ein eher gemächliches Tempo an. Irgendwie wäre er sich lächerlich vorgekommen, wenn er die ihn erwartende Menschengruppe rennend angesteuert hätte. »Zwei Leute bleiben hier und achten darauf, daß niemand zum Fluß hinuntergeht!« rief er durch den eben wieder einsetzenden Regen, und seiner Stimme war anzumerken, daß er sich unterdessen darauf besonnen hatte, wozu er eigentlich da war. »Alle andern sollen nach Hause zurückgehen und vor allem die Kinder mitnehmen.« Nun hatte es ein Ende mit Diskretion und Heimlichtuerei. Krähenbühl war nicht mehr gesonnen, auf irgend jemanden oder irgend etwas Rücksicht zu nehmen. Noch im Laufe des Vormittags traf Untersuchungsrichter Speck in Schattenhalb ein, fast gleichzeitig mit ihm Kriminalkommissär Willi Fuchs aus der Kantonshauptstadt. Weil der Polizeiposten räumlich beschränkt war und weil Krähenbühl schließlich auch noch anderes zu tun hatte, als sich ausschließlich mit dem Fall Flückiger zu beschäftigen, wurde im Kirchgemeindehaus ein provisorisches Büro eingerichtet, daß gleichzeitig als Verhörraum diente.
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Kommissär Fuchs hieß nicht nur Fuchs, sondern er glaubte, auch einer zu sein. Obendrein glich er einem. Aus seinen schräggestellten Augenschlitzen blitzte ein durchtriebener Blick, und wenn er den Mund über dem spitzen Kinn öffnete, bleckte er die Zähne, ohne dabei zu lächeln. Vorerst stellte er noch gar keine eigentlichen Befragungen an, er horchte bloß herum, zuerst in den paar Schattenhalber Geschäften, später im Gasthaus »Sternen«. Zwischenhinein setzte er sich sogar in den Coiffeursalon Straubhaar, obgleich es an seinem Bürstenschnitt kaum noch etwas abzuzwacken gab. Die Bucht, in der die Tote gefunden worden war, suchte er zweimal auf, zuerst in Begleitung von Krähenbühl und Untersuchungsrichter Speck, später nochmals allein. Als am nächsten Morgen Paul Mosimann zu seinem Leidwesen zum Verhör geladen wurde, war er baß erstaunt, was alles man über ihn innerhalb kurzer Zeit zutage gefördert hatte. Sogar von seiner Verbindung zum Werbetexter Müller wußte der Kommissär, und der Trainingsfahrplan Mosimanns war im Dorf offenbar so bekannt, daß ihm Fuchs exakt sagen konnte, wann und wo er an jenem bewußten Abend gelaufen war. Nicht anders erging es Beat Mörgeli; aber immerhin war der vom Senior gewarnt worden und bildete sich nicht länger ein, sein Lebenswandel sei ein Buch mit sieben Siegeln. Daß ihm allerdings noch die beiden Bußen unter die Nase gerieben wurden, die er wegen Geschwindigkeitsüberschreitung mit seinem Porsche eingefangen hatte, fand er ein starkes Stück. Am liebsten wäre er dem Kommissär davongelaufen, um deutlich zu machen, daß er, Beat Mörgeli, Juniorchef von Mörgeli und Cie. es nicht nötig hatte, von einem simplen Beamten an die Kandare genommen zu werden. Aber dieser Kommissär Fuchs hatte eine ganz gemeine Art, es zu keiner Debatte kommen zu lassen. Auch fragte er gar nicht richtig, sondern erging sich in perfiden Fest- und Unterstellungen, wobei er die Höflichkeit in Person blieb: »Sie hatten zur Flückiger ein zwangloseres Verhältnis, als Sie es zu den andern Angestellten haben, nicht wahr?« hieß es etwa. »Sie sind ja auch recht oft im Porsche mit ihr umhergefahren.« Oder: »Am bunten Abend des Schützenvereins haben Sie ihr sogar einen Heiratsantrag gemacht, den sie zwar nicht
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ernst genommen hat. Immerhin sind Sie damals mit ihr nach Hause gegangen.« Oder: »Ihre Firma hat in der Au unten einen Waldlehrpfad finanziert. Man sagt, die Flückiger hätte sich in diesem Sinne darüber mokiert, Autobatterien und Natur vertrügen sich nur schlecht miteinander.« An den Haaren herbeigezogen sei das, ärgerte sich Mörgeli junior. Ob der Herr Kommissär etwa glaube, man habe die Flückiger umgebracht, weil sie über den Waldlehrpfad gespottet hatte. »Nein, deswegen sicher nicht«, meinte Fuchs und verzog den Mund zu einem unfrohen Grinsen. Auch der alte Husi vergaß vor Schreck, an seiner Brissago zu ziehen, als er erfuhr, was man alles von ihm wußte und was man von ihm hielt. Starr, wie der Frosch vor der Schlange, saß er in seinem nassen Regenmantel dem Kommissär gegenüber, den Hut hatte er gar nicht abgenommen. »Sie behaupten, Herr Husi, Sie hätten nicht gemerkt, daß Barbara am fraglichen Abend weggeblieben ist«, stellte der Kommissär fest. »Sie glauben doch nicht im Ernst, daß ich Ihnen das abnehme. Ihr Holzhaus ist ausgesprochen ringhörig. Ich habe mich selbst davon überzeugt, man bemerkt jede Maus, die herumtippelt.« »Ich habe nichts gehört«, knurrte Husi. »Eben, Sie haben nichts gehört; darum mußte Ihnen auffallen, daß sie nicht nach Hause kam.« »Ich habe schon dem Krähenbühl gesagt, daß die Barbara nach Hause kommen konnte, wann sie wollte.« »Gerade das stimmt nicht. Sie konnte nicht nach Hause kommen, wann sie wollte. Im Gegenteil: Es gibt genug Zeugen, die bestätigen, daß Sie, Herr Husi, Ihrer Pflegetochter mehrmals eine Szene gemacht haben, weil sie sich verspätete.« Husi machte bloß eine wegwerfende Handbewegung. »Nein, Herr Husi, nur einfach so unter den Tisch wischen wollen wir diese Tatsache nun doch nicht. Daß Sie Barbara überhaupt keine Freiheit gelassen haben, daß Sie jedesmal rasend geworden sind, wenn sie sich auf ihre Freiheit berufen hat, pfeifen die Spatzen von den Dächern. Darum ist es absurd, wenn Sie mir weismachen wollen,
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Sie hätten sich ihretwegen keine Gedanken gemacht.« Fuchs erhob sich und blickte durchs Fenster. Draußen regnete es Bindfäden, der geteerte Platz vor dem Gemeindehaus glänzte schwarz wie ein Seehunderücken. »Sie haben an jenem Abend nicht friedlich im Bett gelegen, wie Sie es wahrhaben wollen«, sagte der Kommissär und wandte sich wieder Husi zu. »Entweder haben Sie vor lauter Sorge und Eifersucht nicht schlafen können und mit gespitzten Ohren auf Barbara gewartet, oder, was noch dümmer wäre, Sie sind selber nicht zu Hause gewesen.« Unterdessen war Polizeikorporal Krähenbühl hereingekommen, und Husi, der keine Worte gefunden hatte, um sich zu verteidigen, und deshalb wieder einmal stumm geblieben war, wurde vorläufig nach Hause geschickt. »Nehmen Sie es ruhig wörtlich, Herr Husi«, rief ihm der Kommissär nach und schielte hinterhältig aus seinen Augenschlitzen, »mit Verdacht entlassen sind Sie, wir sprechen uns noch!« Krähenbühl machte sich über den alten Husi seine eigenen Gedanken und sagte deshalb nichts. Er setzte sich dem Kommissär gegenüber, der inzwischen auch wieder Platz genommen hatte, und ließ sich von ihm über den bisherigen Verlauf der Untersuchung ins Bild setzen. Barbara Flückiger sei auf dem Uferweg mit ihrem eigenen Kopftuch erwürgt und anschließend zum Wasser geschleift worden, führte Fuchs aus. Spuren, die den Tathergang deutlich machten, habe man genügend gefunden. Eine Vergewaltigung oder andere Mißhandlungen ließen sich nicht nachweisen, es sei daher anzunehmen, daß es sich um einen vorsätzlichen und geplanten Mord gehandelt habe, und er, Fuchs, wäre erstaunt, wenn nicht jemand aus der Gegend damit zu tun hätte. Er könne einfach nicht glauben, daß es unter den Hiesigen einen Mörder gebe, wehrte sich Krähenbühl für die Schattenhalber. Sicher habe die Flückiger auch anderswo, vielleicht in der Stadt oder gar im Ausland, mit Leuten verkehrt. »Ich suche lieber in der Nähe«, erklärte Fuchs. »Ein Mord ist nicht etwas Exotisches. Die meisten Kapitalverbrechen spielen sich unter
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Leuten ab, die sich täglich begegnen. Sicher ist nicht einer vom andern Ende der Welt hergereist und hat die Flückiger um die Ecke gebracht.« »Also lautet unsere Devise nicht Honolulu, sondern Hintertupfingen«, grinste Krähenbühl. »Genau, Korporal, genau. Das heißt, in unserem Fall haben wir es eben mit den Schattenhalbern zu tun.« Wen alles der Kommissär schon verhört habe, wollte Krähenbühl wissen. »Zuerst ist ein gewisser Josef Müller dran gewesen«, erzählte Fuchs, »und gleich anschließend sein Trainingskollege Paul Mosimann. Die haben alle beide Dreck am Stecken. Müller nennt sich jetzt Werbetexter. Vorher war er Primarlehrer und ist wegen Unzucht mit einer Minderjährigen aus dem Schuldienst entlassen worden. Mosimann hat zwar bei seinem letzten Arbeitgeber in der Stadt zuverlässig gearbeitet, aber Geld aus einer ihm anvertrauten Vereinskasse verludert. Außerdem war er zur Tatzeit am Fluß unten, obschon er das zuerst abgestritten hat. Er war nämlich mit Müller verabredet, der jedoch nicht erschien. Wo Müller selber sich an jenem Abend herumgetrieben hat, weiß man nicht. Alibi haben sie beide keines.« »Die beiden sind aber keine Schattenhalber«, wagte Krähenbühl einzuwenden. »Immerhin wohnen sie da«, erwiderte Fuchs, »und mit den waschechten Eingeborenen steht es keinen Deut besser. Mörgeli senior trat zwar sehr selbstsicher auf. Aber als ich ihm vorhielt, seine Fabrik sei vor etwa zehn Jahren im Schweizerischen Beobachter erwähnt worden, weil offenbar die angefallenen Giftstoffe nicht vorschriftsgemäß vernichtet worden waren, reagierte er äußerst heftig. Ich frage mich je länger je mehr, weshalb. Seine Schwierigkeiten mit der Schwefelsäure haben gewiß nichts mit dem Mord an der Flückiger zu tun, um so weniger, als heute eine Entgiftungsanlage vorhanden ist.« Man munkle da so allerhand, brummte Krähenbühl. Eine Anlage sei schon vorhanden, aber ob sie auch funktioniere, sei eine andere Frage. Ob der Kommissär dem jungen Mörgeli in dieser Angelegenheit auch auf den Zahn gefühlt habe?
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»Nein«, sagte Fuchs, »der junge Mörgeli hatte seinerseits eine persönliche Beziehung zum Opfer; das ist interessanter als die Giftgeschichte. Der war mit der Flückiger viel enger liiert, als er es zugeben will, und für den fraglichen Abend hat auch er kein Alibi.« Im Zimmer war es selbst um die Mittagszeit so dunkel, daß man ganz gut hätte die Lichter anzünden können. Krähenbühl stand auf, um ein Fenster zu öffnen. Feuchtkalte Luft drang herein und mit ihr ein für den Kommissär nicht definierbarer Gestank, der wohl etwas mit der Landwirtschaft zu tun haben mußte. »Pfui Teufel«, rief er, »schließen Sie das Fenster, Korporal!« »Schällibaums Schweinemästerei«, erläuterte Krähenbühl, »bei schlechtem Wetter ist das manchmal fast nicht zum Aushalten.« »Was es doch in Schattenhalb nicht alles gibt«, wunderte sich der Kommissär.
6 Gegen Abend war Fuchs so weit, daß er eigentlich das halbe Kaff hätte verhaften lassen können, wie er sich Untersuchungsrichter Speck gegenüber äußerte. Doch Speck, der mit mürrischem Gesicht mitten im improvisierten Verhörraum des Kirchengemeindehauses stand, hatte keinen Sinn für Humor. Anstatt Witze zu machen, würde man besser die Untersuchung vorantreiben, knurrte er, aber offenbar tappe man noch völlig im dunkeln. Der Mord sei ja im Dunkeln geschehen, stellte Fuchs fest, und, falls er mit »man« gemeint sei, eine Person wenigstens möchte er verhaften lassen, den alten Husi nämlich. »Den biologischen Gärtner?« wunderte sich Speck. »Ja, genau den.« »Sie sind wohl nicht ganz bei Trost, Herr Fuchs; er ist ja der Pflegevater des Opfers.« »Eben.« »Beweise, Herr Fuchs, wo sind die Beweise?« »Die werde ich schon kriegen. Gerade darum möchte ich ja den alten Husi festnehmen lassen.«
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»Kommt nicht in Frage, Herr Fuchs, da kann ich vorläufig nicht einwilligen. Bringen Sie mir zuerst die Beweise; dann wollen wir weitersehen.« »Ohne Verhaftung keine Beweise und ohne Beweise keine Verhaftung«, grinste der Kommissär, »das ist das reinste Katz-undMausspiel.« »Richtig«, sagte Speck. »Katz-und-Mausspielen sollen Sie tatsächlich, aber bitte mit dem richtigen Mörder und nicht mit rechtschaffenen Leuten.« »Wer sagt denn, daß rechtschaffene Leute keine Mörder sein können?« »Ende des Disputs, Herr Fuchs«, verabschiedete sich der Untersuchungsrichter und ging mit gewichtigen Schritten zur Tür. Dort wandte er sich noch einmal um: »Leeres Gerede nützt uns nichts, Herr Fuchs!« rief er. »Taten will ich sehen, Taten!« Also Taten, dachte Fuchs, als er später im »Sternen«, wo er seit gestern logierte, auf dem hochbeinigen Bett lag und an die Decke hinauf starrte. Draußen rauschte der Regen, sonst war es still, die ländliche Ruhe kam dem lärmgewohnten Kommissär fast unheimlich vor. Im Zimmer war es dunkel, und es roch nach Holz und nach frischer Bettwäsche. Die Schatten der Deckenbalken hingen schwer über ihm und schienen allmählich herunterzuhängen. Fuchs mußte aufstehen, wollte er nicht ersticken. Er begann im Zimmer auf und ab zu gehen, drei Schritte hin und drei Schritte zurück. Der Fußboden knarrte, einmal machte er einen Schritt zuviel und stieß mit dem Oberschenkel gegen das Nachttischchen. Also Taten, dachte Fuchs noch einmal und wäre am liebsten hinausgelaufen, um wirklich etwas zu unternehmen; denn daß er trotz aller Müdigkeit nicht würde schlafen können, wußte er schon jetzt. Aber was nützte es schon, wenn er draußen umherrannte, in der Hoffnung, dem Freund Zufall zu begegnen? Innerlich mußte er zugeben, daß auch die angestrebte Verhaftung Husis nichts anderes als ein Schuß ins Blaue gewesen wäre. In diesem Sinne hatte der
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Untersuchungsrichter schon recht, Vermutungen brachten wirklich nichts. Fuchs setzte sich auf den hohen Bettrand und starrte auf seine nackten, weißen Zehen hinunter. Er hatte vorher nur Schuhe und Strümpfe ausgezogen, sonst war er noch in den Kleidern. Er hatte auch schon daran gedacht, zum Beispiel durch Korporal Krähenbühl das Gerücht ausstreuen zu lassen, bei der Toten handle es sich gar nicht um Barbara Flückiger. Diese sei nämlich unerwarteterweise nach Hause zurückgekehrt. Vielleicht hätte man damit den Mörder auf den Plan gerufen, möglicherweise glaubte der, in der Dunkelheit das falsche Mädchen erwischt zu haben. Er würde aus seinem Versteck hervorkommen, um sich von der Richtigkeit des Gerüchtes zu überzeugen. In seiner Phantasie sah Fuchs schon ganze Heerscharen vermeintlicher Mörder um Husis Haus herumstreichen. Aber das war natürlich Mumpitz! Kein Mensch würde auf einen solchen Fernsehtrick hereinfallen, ein vorsätzlicher Mörder schon gar nicht. Daß es sich um vorsätzlichen Mord handelte und daß man den Täter im Bekanntenkreis des Opfers zu suchen hatte, davon war Fuchs überzeugt. Wie er schon zu Krähenbühl gesagt hatte: Soweit es sich nicht um Raubmord oder um Sexualdelikte handelte, geschahen die meisten Verbrechen unter Leuten, die sich kannten. Die Flückiger war weder beraubt noch mißbraucht worden, die hatte ins Gras beißen müssen, weil sie für jemanden gefährlich gewesen war, weil sie von jemandem zuviel gewußt hatte oder weil sie von jemandem gehaßt worden war. Und dieser Jemand saß in Schattenhalb, jedenfalls nicht weit daneben. Also Taten, überlegte Fuchs zum drittenmal und bewegte dazu die linke große Zehe. Er war nach wie vor überzeugt, daß man in der Nähe beginnen mußte, praktisch vor der Haustür; später konnte man immer noch weitersehen, Schritt für Schritt. Und beginnen würde er eben doch beim Gärtner. Dort hatte Barbara gelebt und dort hatte sich das Unheil angebahnt. Der Mörder ist immer der Gärtner, ging es Fuchs durch den Kopf, und jetzt grinste er richtig. Er blickte auf den grün reflektierenden Reisewecker auf dem Nachttisch: Fünf nach elf, die Zeiger lagen
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nahe beisammen und sahen aus wie die gestellten Ohren eines Fuchses. Der Kommissär erhob sich und angelte nach Socken und Schuhen. Wenn er sich beeilte, reichte es gerade noch, um in der Gaststube ein Bier zu trinken. Und ab morgen, dachte er beim Hinausgehen, würde er die Liegenschaft von Husi wenigstens nachts bewachen lassen, vielleicht nützte das etwas, vielleicht nichts. So kam es, daß bereits im Laufe des nächsten Nachmittags zwei weitere Polizisten aus der Stadt in Schattenhalb eintrafen, um die von Fuchs geplante Überwachung zu übernehmen. Offiziell gab der Kommissär bekannt, daß er zwei zusätzliche Leute für die Spurensicherung habe kommen lassen, die im übrigen ebenfalls im »Sternen« übernachten würden; denn alles mußte natürlich möglichst diskret geschehen. Allerdings zeigte sich noch im Laufe des Abends, daß Theorie und Praxis wieder einmal weit auseinanderklafften. Besonders die Geheimhaltung war so eine Sache. Jedesmal, wenn einer der Polizisten das Gasthaus verließ, wußte es mindestens eine der drei Serviertöchter, und was eine Serviertochter wußte, wußten auch bald die Gäste. War endlich einer der Überwacher durch eine der Hintertüren auf die Straße geschlichen, so mußte er sich wundern, wie viele freundlich grüßende und kopfdrehende Menschen ausgerechnet an diesem Abend unterwegs waren. Kam er dann auf Umwegen beim alten Husi an, so lehnte dort bestimmt eine Horde von Jugendlichen, die er nicht gut wegschicken konnte, am Gartenzaun und palaverte bis in die Nacht hinein. Der einzige Trost für Fuchs bestand darin, daß, solange Husis Liegenschaft umlagert war, auch kein möglicher Täter auftauchen würde. Wenn sich dann so gegen Mitternacht die letzten Schattenhalber in ihre Behausung zurückgezogen hatten und die meisten Lichter gelöscht worden waren, konnte die eigentliche Überwachung beginnen. Dabei ging es vor allem darum, geschützt von den Ästen einer tiefhängenden Trauerweide, das Gartentor und den Hauseingang im Auge zu behalten. Darum genügte vorderhand auch ein Mann. Fuchs
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und der zweite Polizist hielten sich in ihren Zimmern bereit und sollten erst eingreifen, wenn sie über Funk dazu aufgefordert würden. Doch nichts geschah. Der dritte Abend kam, und noch immer hatten sich weder Paul Mosimann noch Freund Müller, weder Mörgeli senior noch dessen Sohn Beat nächtlicherweise dem Hause Husi genähert. Auch keine bis jetzt unverdächtige Person war erschienen. Husi selbst saß in seinem Haus wie die Maus in ihrem Loch und schien überhaupt nicht mehr auszugehen. Nur tagsüber stapfte er in seiner Pelerine draußen umher, las Fallobst auf und begann, den Garten für den Winter aufzuräumen. Irgend einmal hörte es auf zu regnen. Dafür kam in dieser dritten Nacht nun der Nebel und isolierte das Dorf von der übrigen Welt. Die Dunkelheit wurde nur von langen Strahlenbündeln durchbrochen, die aus den vereinzelt erleuchteten Fenstern drangen. Hie und da schlich auf leisen Sohlen ein Automobil vorbei und glotzte mit runden, matt leuchtenden Lichtern in die in Watte verpackte Umgebung. Auch der Fall Flückiger versinkt im Nebel, dachte Fuchs zwischen Wachen und Träumen und drehte sich auf die andere Seite. Er hatte sich den neuen Umständen rasch angepaßt, seit vorgestern schlief er ganz ordentlich, und hätte ihn nicht der unaufgeklärte Mord beschäftigt, so wäre er sich beinahe wie in den Ferien vorgekommen. Spätestens übermorgen würde er die Bewachungsübung abbrechen und andere Methoden suchen müssen. Erneut ärgerte sich Fuchs über den Untersuchungsrichter. Er war überzeugt, daß, wenn der in Husis Verhaftung eingewilligt hätte, man längst einen Schritt weitergekommen wäre. Der Inspektor gähnte. Als dann das Funkgerät neben ihm auf dem Nachttisch zu piepsen begann, hätte er geschworen, überhaupt nicht geschlafen zu haben; aber ein Blick auf den Wecker belehrte ihn eines Besseren: Es war morgens um zwei. Bei Husi tue sich etwas, erfuhr Fuchs, sobald er geantwortet hatte. Allerdings nicht unmittelbar beim Haus, sondern im Garten. Der Kommissär war mit einem Sprung aus dem Bett und mit einem zweiten in den Hosen. Er warf den Mantel über und fühlte nach der Pistole in der Brusttasche. Dann öffnete er vorsichtig die Tür und
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weckte den Polizeigefreiten Boss im anderen Zimmer. Ohne Licht tasteten sie sich die Treppe hinunter, die Schuhe trugen sie in der Hand, um keinen unnötigen Lärm zu verursachen. Die Liegenschaft Husi war fast nicht zu finden in diesem Nebel. Zuerst schien es, als würden sie ihr Ziel überhaupt nie erreichen, und dann stolperten sie auf einmal beinahe in den Gartenzaun hinein. Hastig wandten sie sich um und steuerten die Trauerweide mit dem Bewachungsposten an; aber der Gefreite Zimmerli kam ihnen bereits entgegen. »Wir müssen um den Zaun herumgehen«, flüsterte er. »Vorhin haben sie einen kleinen Lastwagen rückwärts durchs Gartentor manövriert und sind dann ganz nach hinten gefahren.« »Wozu einen Lastwagen?« wunderte sich der Gefreite Boss. »Mörder kommen doch nicht per Lastwagen.« »Wieso nicht?« meinte der Kommissär. »Es gibt nichts, was es nicht gibt. Überhaupt wollen die wahrscheinlich bloß Husis biologisches Gemüse abtransportieren.« »Jetzt, mitten in der Nacht?« zweifelte Boss. »Es ist nicht mitten in der Nacht, sondern morgens zwei, und um auf den Markt zu fahren, müssen sie hier früh weg.« »Nun, wir werden ja sehen.« Vorerst sahen sie allerdings fast gar nichts. Als sie um den halben Garten herumgeschlichen waren, hatten sie zwar auf einmal die schattenhaften Umrisse des Lastwagens vor sich, und drei, vier Gestalten, die sogleich wieder in der Dunkelheit verschwanden. Aber wer genau sich da womit abplagte, war beim besten Willen nicht auszumachen. Dafür hörten die Männer deutlich, daß ganz in der Nähe geschaufelt wurde. Offenbar grub man ziemlich tief, und es schien, als würden da nicht bloß Kartoffeln geerntet. Außer dem Geräusch der Schaufel war kein Laut zu vernehmen. Das war eigenartig; denn Leute, die einer legalen Tätigkeit nachgingen, sagten hie und da etwas zueinander. Hier aber blieben alle stumm wie Fische. Dann setzte das Geräusch des Schaufelns aus, das dumpfe Gepolter von Steinen, die auf eine feste Unterlage fielen, war zu vernehmen,
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anschließend ein undefinierbares Knirschen auf dem gekiesten Gartenweg. Die Polizisten starrten an eine Wand aus Nebel und Finsternis. Davor war immer noch das Lastauto zu erkennen, das dort stand wie ein unförmiges, vorsintflutliches Tier. Auf einmal tauchte eine gebeugte Schattengestalt auf, die etwas umherzuschieben schien, dahinter eine zweite. Jetzt endlich konnten die Polizisten erkennen, was hier vor sich ging: Fässer wurden herangerollt und auf den Lastwagen verfrachtet, eines nach dem andern. Zuerst dachte der Kommissär an Düngmittel. Aber solche würden hier höchstens aus- und nicht eingeladen; abgesehen davon paßten Düngmittel nicht in einen biologischen Garten. Dann fragte er sich ernsthaft, ob es irgendein Gemüse gab, das man in Fässer abzufüllen pflegte. Vom Gemüse kam er auf die zahlreichen Obstbäume, die er in Husis Garten gesehen hatte und von da auf Zwetschgen. Jetzt schien ihm alles klar: Da wurden in aller Heimlichkeit zentnerweise Zwetschgen verschoben, die für eine Schwarzbrennerei bestimmt waren. Er hatte es ja gewußt, daß dieser Husi kein unbeschriebenes Blatt war. Aber wie vorher seine Überlegungen, so dauerte auch sein insgeheimer Triumph nur einen Moment; denn neben ihm rührte sich der Gefreite Zimmerli: »Jetzt graben sie wieder«, flüsterte er, und der Kommissär mußte sich über seine eigene Dummheit wundern: Natürlich, sie graben, sie graben Fässer aus. Wozu in aller Welt sollten sie jedoch Fässer ausgraben, um zu Zwetschgen zu kommen? Es ist die reinste Quizfrage: Was befindet sich in Fässern, die nächtlicherweise in einem biologischen Garten ausgegraben werden? Die Antwort kam überraschend schnell; diesmal meldete sich der Gefreite Boss: »Kompost«, sagte er, »der Husi produziert Kompost. Offenbar hat er seine eigene Methode und vergräbt seine Gartenabfälle zuerst im Boden, das paßt zu seinem biologischen Tick.« »Jetzt sagen Sie mir bloß noch, Husis Spezialkompost dürfe nur nachts und bei Nebel transportiert werden, damit er keinen Schaden nimmt«, zischte Fuchs, der enttäuscht war, daß alles so banal sein sollte.
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Neue Fässer wurden herangerollt, dann knarrte der Seitenladen des Lastwagens; sie vernahmen ein metallisches Riegeln. Offenbar war die Fuhre fertig. Eine Taschenlampe wurde angeknipst, und ein Lichtschein geisterte über die Ladung. Während Sekunden war auf einigen der dunkelfarbenen Fässer ein großes, grünleuchtendes M zu erkennen. Innert weiterer Sekunden kam es Fuchs in den Sinn, wo er solche Fässer schon einmal gesehen hatte: auf dem Areal der Batteriefabrik Mörgeli. »Jetzt geht mir das berühmte Licht auf«, murmelte der Kommissär, und während der Lastwagen über den Gartenweg davonholperte und gänzlich vom Nebel verschluckt wurde, setzte er seinen beiden Gefreiten den Fall Flückiger auseinander. Noch vor dem Morgengrauen lag ein für den Untersuchungsrichter bestimmter schriftlicher Rapport vor: Betrifft: Ermittlung im Fall Flückiger Gerüchte, wonach die Entgiftungsanlage der Batteriefabrik Mörgeli nicht oder nur unzulänglich funktionieren soll, haben sich bestätigt. Säurehaltige Rückstände aus alten Batterien sowie giftige Produktionsabfälle werden offenbar in Fässer abgefüllt und im Garten des ehemaligen Fabrikarbeiters Fürchtegott Husi vergraben. Barbara Flückiger, die bei Husi gewohnt und in der Fabrik gearbeitet hat, muß davon gewußt haben. Als passionierte Umweltschützerin hat sie mit einer Anzeige gedroht. Wie weit und bei welchem der Beteiligten sie erpresserisch vorgegangen ist und wie weit neben den idealistischen auch wirtschaftliche Motive mitgespielt haben, wird sich erst noch weisen. Jedenfalls ist Barbara Flückiger so gefährlich geworden, daß sie beseitigt werden mußte. Mit ihrer einsamen, nächtlichen Lauferei hat sie den Mord geradezu herausgefordert. Wer den Mord geplant hat und wer der Täter ist, wissen wir noch nicht. Auch ist noch unklar, ob bereits früher, das heißt vor dem Mord, mit der Wegschaffung der Fässer aus Husis Garten begonnen wurde. Das neue Depot der Fässer ist ebenfalls noch unbekannt.
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Der zuständige Untersuchungsrichter wird dringend um Bewilligung der folgenden Maßnahmen gebeten: Kontrolle der Entgiftungsanlage in der Batteriefabrik, Stillegung des Betriebes, Umgraben des Gesamtgrundstückes Husi, Verhaftung der Herren Mörgeli senior, Mörgeli junior und Husi, Befragung sämtlicher Behördenmitglieder der Gemeinde Schattenhalb. gez. Fuchs, Kommissär
7 Dieses Schriftstück wurde dem Untersuchungsrichter von Fuchs persönlich überbracht. Es war noch früh am Morgen, Speck war kaum aufgestanden und noch kratzbürstiger als sonst. Immerhin rückte er mit einem Haussuchungsbefehl heraus, damit die Entgiftungsanlage der Fabrik kontrolliert werden konnte. Verhaftungen wollte er erst dann anordnen, wenn bewiesen war, daß die Schadstoffe tatsächlich unsachgemäß beseitigt wurden. Daneben konnte er es sich nicht verkneifen, ein paar spitze Bemerkungen zu machen, weil der Kommissär nicht einmal wußte, wohin man den Lastwagen mit der angeblich gefährlichen Fracht gebracht hatte. Fuchs versuchte gar nicht, dem Untersuchungsrichter begreiflich zu machen, er sei auf eine diskrete Überwachung und nicht auf eine Verfolgungsjagd ausgewesen. Er setzte sich so schnell wie möglich in seinen Wagen und fuhr zurück nach Schattenhalb. Schließlich hatte er ja, was er wollte: Der Haussuchungsbefehl würde vollauf genügen, um die späteren Verhaftungen durchzusetzen. Nach einem ausgiebigen Frühstück im »Sternen« schickte der Kommissär die Polizisten Boss und Zimmerli in die Kantonshauptstadt zurück. Der Fall Flückiger war ja so gut wie gelöst. Beim bevorstehenden Besuch in der Batteriefabrik und bei den anschließenden Verhaftungen würde ihn Korporal Krähenbühl begleiten, und dann konnten sich seinetwegen andere Leute mit dieser üblen Affäre herumschlagen. Als sie dann gegen zehn Uhr in Krähenbühls Opel zur Firma Mörgeli fuhren, begann sich der Nebel zu lichten. Ein bläulicher Schimmer breitete sich aus, und noch bevor sie die Fabrik erreicht hatten,
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brach auf einmal die Sonne durch und vergoldete die herbstliche Landschaft. Die Sonne leuchtet uns zum Sieg, dachte Fuchs in einem Anflug von Zynismus. Er hatte Krähenbühl bloß das Allernötigste mitgeteilt, und der war ziemlich verwundert, daß plötzlich alles klar sein sollte. Auch war ihm der bevorstehende Auftritt bei den Herren Mörgeli zuwider. Für Fuchs war das einfach; der hatte keine nähere Beziehung zum Dorf und zu seinen Bewohnern. Sobald der Fall abgeschlossen war, würde er seinen Posten in der Stadt wieder einnehmen und nie mehr nach Schattenhalb zurückkehren, während er, Krähenbühl, weiterhin hier leben mußte, unter Menschen, die offenbar viel hinterhältiger waren, als er bis anhin geglaubt hatte. Eine nicht ortsansässige Täterschaft wäre ihm nach wie vor lieber gewesen, und insgeheim hoffte er immer noch auf den großen Unbekannten von auswärts; denn, so überlegte er: Mit dieser ominösen Fässergeschichte war eigentlich noch gar nichts bewiesen. Doch als sie bei der Fabrik auf den Parkplatz einschwenkten, erschien eben der junge Mörgeli unter dem Hauptportal. Sobald er den Opel bemerkte, zog er sich eilig zurück und verschwand im Innern des Gebäudes. Krähenbühl kam es tatsächlich so vor, als mache sich dort das schlechte Gewissen persönlich aus dem Staube. In diesem Augenblick neigte er wieder dazu, dem Kommissär zu glauben. Hinter dem Schalter in der Eingangshalle saß eine junge Dame, die Krähenbühl noch nie gesehen hatte. Hoffentlich keine Umweltschützerin, fuhr es ihm durch den Kopf. Dann fragte er in gemessenem Ton nach dem Herrn Direktor Mörgeli senior. Der Besuch schien sie wenig zu beeindrucken. Wahrscheinlich kannte sie die Mordgeschichte bereits auswendig. Auch der alte Mörgeli schien nicht überrascht zu sein, möglicherweise war er vom jungen gewarnt worden; jedenfalls wurden sie sofort empfangen. Fuchs, der sich bis jetzt diskret im Hintergrund gehalten hatte, trat nun vor Krähenbühl ins Direktionsbüro. Mörgeli kam hinter dem Schreibtisch hervor und begrüßte sie, als wären sie seine ältesten Freunde. Dann rief er den Sohn herbei, der so aalglatt tat, als wäre er vorhin auf dem Parkplatz angesichts der beiden Polizisten überhaupt nicht erschrocken.
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Je freundlicher die Herren Mörgeli sich gebärdeten, desto mehr schien es Krähenbühl, sie hätten tatsächlich etwas zu verbergen. Er war bloß gespannt, wie Fuchs es fertigbringen wollte, das freundliche Gefasel über Wetter- und Geschäftslage zu unterbrechen, um seinen Haussuchungsbefehl zu präsentieren. Es war eine Frage der Zeit, und Direktor Mörgeli würde Cognac auffahren lassen. Aber Fuchs stand in punkto einander den Schmus bringen dem alten Mörgeli in nichts nach. Die nächste Gesprächspause benützte er, um endlich zu erklären, was es mit ihrem Besuch auf sich habe. Es sei, so führte er aus, im Zusammenhang mit dem Fall Flückiger, leider ein böses Gerücht entstanden, nach dem die Entgiftungsanlage der Fabrik nicht funktioniere. In polizeilichen Kreisen lege man Gewicht darauf, diese Verdächtigungen zu entkräften, was sicher im Interesse der Firma sei. Man wolle keine große Affäre daraus machen. Der heutige Besuch sei deshalb eigentlich gar nicht offiziell zu werten und so weiter. Von einem Haussuchungsbefehl ließ Fuchs überhaupt nichts verlauten, geschweige denn, daß er einen solchen vorgezeigt hätte. Mörgeli senior stelzte händereibend auf dem dicken Spannteppich umher, nickte seinem Sohn zu, als wollte er etwas bestätigen, das er schon lange geahnt hatte, und erklärte seinerseits, wie er geradezu glücklich darüber sei, Gelegenheit zu haben, diesem gemeinen Klatsch einen Riegel vorzuschieben. Nun wurde allerdings auch der Kommissär stutzig, und ihm dämmerte, vielleicht sei doch nicht alles so einfach, wie er es sich vorgestellt hatte. Zweifellos war man darauf aus, ihn an der Nase herumzuführen. Wer das riskierte, mußte sich ziemlich sicher fühlen. »Wir sind gerne bereit, Ihnen die ganze Fabrik zu zeigen, nicht wahr, Beat?« erklärte der alte Mörgeli. »Sie können sich dabei selber davon überzeugen, daß nicht nur unsere Neutralisationsanlage einwandfrei funktioniert, sondern daß der ganze Betrieb auf Sicherheit angelegt ist.« Er ließ sich dann breit und lang über die Explosionsgefahr bei Akkumulatoren aus: »Beim Laden einer Batterie mittels Gleichrichter bilden sich Sauerstoff- und Wasserstoffgas. Bei vollgeladener Batterie ist die Gasbildung am intensivsten. Dabei ist die produzierte
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Gasmenge um so größer, je höher der Ladestrom ist. Wasserstoff und Sauerstoff verbinden sich über den Platten im Innern des Akkumulators zu Knallgas. Dieses Gemisch ist verdammt explosiv. Der kleinste Funken genügt, um eine Explosion auszulösen. In einem solchen Fall ist die Detonation so stark, daß die Batterie auseinanderfliegt und die Säure ins Freie gespritzt wird. Personen, die sich in der Nähe befinden, sind durch herumfliegende Batterieteile und Säure sehr gefährdet. Darum«, schloß Mörgeli seinen Vortrag, »schreiben wir Sicherheit bei uns ganz groß.« Fuchs und Krähenbühl, die nur mit halbem Ohr zugehört hatten, wechselten einen kurzen, aber bedeutungsvollen Blick. Er versucht abzulenken, dachten beide gleichzeitig. Wenn das so weitergeht, werden wir zum Schluß alles gesehen haben, nur nicht das, was wir wollten. Ein Rundgang durch die Fabrik wäre sicher interessant, meinte der Kommissär, aber leider sei er etwas knapp an Zeit. Für heute würde ein Besuch der Entgiftungsanlage genügen. »Ganz wie Sie meinen«, lächelte Mörgeli, »willst du die Herren begleiten, Beat?« »Ich muß leider gleich weg«, erklärte Mörgeli junior und machte dabei ein Gesicht, das vor Bedauern nur so strotzte, »du weißt ja, die Sitzung mit denen von der Electros. Aber Brüstlein kann das machen, der ist ohnehin am besten im Bild über die Anlage.« »Gute Idee«, strahlte Mörgeli senior und griff zum Telefon. Wie sich der Junge nun wortreich verabschiedete und sie auf Brüstlein warteten, der sie führen sollte, kam sich Fuchs tatsächlich wie in einer billigen Kriminalkomödie vor. Es war doch einfach nicht möglich, daß Vater und Sohn Mörgeli darauf spekulierten zu verschwinden, während er und Krähenbühl mit Brüstlein gingen. Dennoch, warum sollten sie nicht? Fuchs wußte aus Erfahrung, daß in solchen Fällen oft die plumpesten Finten angewandt wurden und daß Verbrecher sich nicht zwangsläufig spektakulärer Winkelzüge bedienen mußten, um zu Erfolg zu kommen. Wenn die beiden tatsächlich abhauen wollten, so hatte er im Augenblick keine große Chance, es zu verhindern, außer er postierte Korporal Krähenbühl mit der Pistole
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vor der Bürotür. Aber das war unter den gegebenen Umständen und nach all den ausgetauschten Höflichkeiten einfach nicht denkbar. Als sie wenig später mit dem weißbekittelten Brüstlein, der ihnen als Betriebsleiter vorgestellt worden war, im Lift hinunterfuhren, kam Fuchs alles wieder so seriös vor, daß er sich seiner vorherigen Gedanken beinahe schämte. Aber schließlich wußte er, was er wußte. Die Vorkommnisse der letzten Nacht waren keine Einbildung gewesen, dies um so weniger, als er vorhin vom Parkplatz aus, wie schon bei seinem ersten Besuch, jede Menge Fässer mit dem grünen M gesehen hatte, die längsseits der Fabrik aufgestapelt waren. Auch auf dem Hinterhof, den sie jetzt überquerten, waren überall solche Fässer gelagert. Auf einigen davon war zusätzlich zum grünen M noch ein großer, weißer Totenkopf aufgemalt. Brüstlein, der für die Stellung, die er angeblich innehatte, einen recht jugendlichen Eindruck machte, wies mit dem Kopf auf ein helles, in der Sonne gleißendes Flachdachgebäude ohne Fenster, das direkt an die Fabrik angebaut war: »Dort drüben befindet sich die Neutralisationsanlage«, verkündete er mit einem gewissen Stolz in der Stimme. »Ist vor zwei Jahren gänzlich renoviert worden. Hat die Firma eine rechte Stange Geld gekostet, das kann ich Ihnen sagen.« Fuchs und Krähenbühl, die auf alles gefaßt waren, selbst auf Schüsse aus dem Hinterhalt oder auf eine heimtückische Falltür im Boden, nickten andächtig, und als ihnen nahegelegt wurde, aus Sicherheitsgründen die Atemschutzmasken überzuziehen, willigten sie ohne Protest ein. Brüstlein öffnete die schwere, gepanzerte Tür zur Anlage, und sie traten in einen von grellem Neonlicht erleuchteten Raum, der im ersten Augenblick einer Waschküche glich. Und während sie nun in ihren Masken da standen, dicke Rohre, verchromte Wannen und riesige Filter bestaunten, während die zylinderförmig verschalten Pumpen stampften und Wasser- oder weißnicht-was-für-ein-dampf aus diversen Düsen und Löchern aufstieg und ein Arbeiter ein Reagenzglas prüfend gegen das Licht hielt, währenddem quäkte Brüstlein unter seiner Maske hervor und pries die Anlage in den höchsten Tönen, warf mit Ausdrücken wie Borlösung, Akkumulatorensäure und Bleiverbinder um sich, kam vom Hundert-
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sten ins Tausendste, unterstrich den Reinigungseffekt mit der Tatsache, daß draußen im Abwasserkanal die fettesten Forellen schwämmen, und kam endlich noch zurück auf die Einweihungsfeier der renovierten Anlage vor zwei Jahren, bei der Gemeindepräsident Fritz Schällibaum eine flammende Rede über Pioniergeist und Umweltschutz gehalten habe. Fuchs und Krähenbühl standen da wie begossene Pudel – in ihren Masken sahen sie besonders albern aus – und fragten sich, wie sie jemals so blöd hatten sein können, an der Funktionstüchtigkeit der Anlage zu zweifeln und boshaft verstreute Gerüchte ernst zu nehmen. Angesichts dieser Superanlage mußte selbst der ermordeten Umweltschützerin Barbara Flückiger das Herz höher geschlagen haben. Aber als sie ihre Masken wieder abgelegt hatten und hinter Brüstlein zum Parkplatz zurückgingen, begann sich Fuchs von neuem Gedanken zu machen: Diese Anlage funktionierte zweifellos, aber war damit bewiesen, daß sie auch etwas taugte? So ein paar Rohre waren bald einmal installiert, ein paar Pumpen bald einmal in Betrieb gesetzt, und Arbeiter konnte man mit dem Reagenzglas umherfuhrwerken lassen, ohne daß deshalb ein Ergebnis erzielt werden mußte. Möglicherweise war das alles tatsächlich nur Staffage, und die Batterierückstände wurden eben doch in Husis Garten vergraben. Die Fässer, die er letzte Nacht gesehen hatte, waren eine Tatsache; daran gab es nichts zu rütteln. Auch hatte man sie hier viel zu freundlich empfangen, und alles war zu glatt über die Bühne gegangen. Je länger der Kommissär darüber nachdachte, desto überzeugter war er, daß man ihnen ein Riesentheater vorgespielt hatte. Als sie bei Krähenbühls Opel angelangt waren und Brüstlein sich anschickte, ihnen auf Wiedersehen zu sagen, hatte er bereits einen Plan geschmiedet, wie er den Herren Mörgeli und ihrem korrupten Betriebsleiter doch noch auf die Schliche kommen konnte. Eben als Krähenbühl den Motor starten wollte, erschien Mörgeli senior auf der Treppe zum Betriebseingang und winkte ihnen zu. Gleichzeitig fuhr ein Auto mit einem amtlichen Nummernschild auf den Parkplatz. Da mußten sie noch einmal aussteigen, um sich zu verabschieden. Der alte Mörgeli strahlte wie ein Maikäfer. Doch
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schenkte er seine Aufmerksamkeit bereits dem Mann, der dem eben angekommenen Wagen entstieg. »Welch ein Zufall«, meinte er, »das ist der Kantonschemiker, der unsere Anlage kontrollieren will. Da können Sie sich gleich noch von staatlicher Seite bestätigen lassen, wie vorzüglich unsere Umweltschutzmaßnahmen funktionieren, ha, ha.« Krähenbühl, der den kantonalen Beamten kannte, hüstelte verlegen. Hol doch der Teufel alle Mörgelis, alle Betriebsleiter und alle Kantonschemiker der Welt, dachte Fuchs, der sich vor Wut am liebsten in den Hintern gebissen hätte. »Jetzt fahren wir zu Husi«, knurrte er, als sie endlich wieder im Wagen saßen, »den nehmen wir auseinander, bis er nicht mehr pieps sagen kann.«
8 Mittlerweile war es beinahe sommerlich warm geworden, wie das im Spätherbst und nach einer langen Schlechtwetterperiode manchmal vorkommt. Am postkartenblauen Himmel kreuzten sich die vom Föhn zerfledderten Kondensstreifen der Flugzeuge, die Staffelweise vom nahen Militärflugplatz aufstiegen, und im Süden kamen plötzlich Berge zum Vorschein, die sonst nie zu sehen waren. Doch würde das Wetter kaum lange so bleiben; denn der Rauch der zahlreichen Kompostfeuer stieg nicht auf, sondern schlich träge über die abgeernteten Äcker, und das war bekanntlich ein schlechtes Wetterzeichen. Auch beim Haus Fürchtegott Husis mottete ein Feuer. Er selbst stand im hintersten Teil des Gartens und schaufelte eine Grube zu. Wie ein Totengräber, fuhr es Fuchs durch den Kopf, als er mit Krähenbühl vom Haus herkam, wo sie vorher umsonst nach Husi gesucht hatten. Als der Gärtner der beiden Polizisten ansichtig wurde – des uniformierten und des zivilen –, ließ er die Schaufel im Boden stecken und wischte sich die Hände an der grünen Schürze ab. Der Kommissär, erstaunt darüber, was für ein dürres Männchen Fürchtegott Husi war, wenn er nicht in seiner Regenpelerine steckte,
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mußte eine Anwandlung von Mitleid niederkämpfen; aber dann ging er direkt auf das Ziel los: »Sie schaufeln wohl die Löcher der letzten Nacht zu, nehme ich an!« rief er Husi zu. Er wisse nicht, was der Kommissär meine, brummte der. »Doch, das wissen Sie sehr genau«, sagte Fuchs und trat nahe an den Gärtner heran. »Letzte Nacht sind hier Fässer ausgebuddelt worden. Es hat keinen Zweck, daß Sie das abstreiten; denn ich habe es mit eigenen Augen gesehen, und Sie wollen wohl kaum behaupten, nichts davon zu wissen, wenn Ihr eigener Garten umgegraben wird.« Husi gab wieder einmal keine Antwort. Dafür schielte er beinahe hilfesuchend zu Krähenbühl. Aber der hob nur bedauernd die Schultern, so, als wollte er sagen: Tut mir leid, mein Lieber, ich habe mich lange gewehrt für die Schattenhalber, aber jetzt kann ich dir nicht mehr helfen. »Wir wollen nicht lange herumreden«, fuhr Fuchs fort. »Antworten Sie klipp und klar. Sind hier letzte Nacht Fässer ausgegraben worden? Ja oder nein?« Es dauerte fast eine halbe Minute, bis Husi ein mühsames »Ja« hervorbrachte. »Wohin sind die Fässer gebracht worden?« »In die Stadt«, antwortete Husi. »Aha, in die Stadt. Und was war in den Fässern?« Nun schaute auch Krähenbühl gespannt zu Husi. Wieder dauerte es eine Weile, bis der Antwort gab: »Sauerkraut«, sagte er endlich. Jetzt war es an Fuchs, dreimal leer zu schlucken. Krähenbühl mußte sich Mühe geben, nicht zu grinsen. Da war der Gefreite Boss gar nicht so daneben mit seinem Kompost, überlegte der Kommissär. Dann fand er die Sprache wieder: »Sauerkraut also. Und was ist das für ein seltenes Sauerkraut, das in Fässern der Batteriefabrik Mörgeli im Boden vergraben wird?« Was die Fässer anbelange, erklärte Husi, so könne er die bei seinem einstigen Arbeitgeber fast umsonst beziehen, und sein biologisches Sauerkraut sei eben deswegen berühmt, weil es im Boden noch einen zusätzlichen Gärungsprozeß durchmache. Ob letzte Nacht alle Fässer abtransportiert worden seien, wollte Fuchs wissen.
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»Ja.« Ob er von diesem fabelhaften Sauerkraut vielleicht eine Probe zurückbehalten habe. »Nein«, gab Husi Bescheid. Nachdem er vorhin recht viel auf einmal gesagt hatte, war er wieder einsilbig geworden. Der Kommissär wandte sich ab und machte ein paar Schritte zurück. Dann drehte er sich abrupt um und faßte Husi ins Auge: »Sauerkraut also«, sagte er noch einmal, und dann stauchte er den Gärtner so zusammen, daß der am liebsten in seinem eigenen Grund und Boden versunken wäre. »Sie muten mir doch nicht im Ernst zu, daß ich Ihnen dieses Märchen abnehmen. Wo sind Ihre Kohlfelder, die Ihnen erlauben, solche Mengen Sauerkraut einmachen zu können, he? Warum sollten Sie dazu ausgerechnet alte Giftgefäße benützen? Warum lassen Sie die Fässer bei Nacht und Nebel abtransportieren? Zeigen Sie mir jetzt, woher Sie überhaupt Ihren Kabis nehmen? Nachher möchten wir uns die Hobelmaschine anschauen. Im weiteren geben Sie uns die Adresse des Transportunternehmens, das die Fässer hier abgeholt hat, ebenfalls die Anschriften Ihrer Kunden in der Stadt und die Rechnungen, die Sie bis heute ausgestellt haben. Dann wollen wir sehen, wieviel von Ihrer Sauerkrautgeschichte übrigbleibt.« Fuchs hielt inne und schickte einen bedeutungsvollen Blick zu Krähenbühl. Der wechselte das Standbein, lüftete seine Polizistenmütze und strich sich durch den Schnurrbart. Husi rieb andauernd mit den Händen über seine Schürze und stierte zu Boden. »Von Anfang an haben Sie alles verharmlost«, erklärte der Kommissär, »haben den Unschuldigen gespielt und uns Ammenmärchen aufgetischt. Dabei sind Sie in eine scheußliche Affäre verstrickt, davon bin ich überzeugt. Ich gehe sogar so weit, Sie für den Tod Ihrer Pflegetochter verantwortlich zu machen.« Husi zuckte zusammen, aber er schwieg noch immer. »Sagen Sie doch endlich etwas«, fuhr Fuchs auf, »rechtfertigen Sie sich, führen Sie uns durch Ihren Betrieb, zeigen Sie uns eine einzige verdammte Faser Ihres Sauerkrautes.« Husi tat keinen Wank.
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»Also los, gehen Sie ins Haus, packen Sie Ihre Sachen zusammen! Sie sind verhaftet.« Der Kommissär schöpfte Atem. Speck konnte ihm gestohlen bleiben mit seinem Haftbefehl. Den würde er sich wie eine Postkarte nachschicken lassen, mit freundlichen Grüßen des Untersuchungsrichters. Krähenbühl hatte kommen sehen, daß alles mit der Verhaftung Husis enden würde. Als der Gärtner nun mit hängenden Schultern gegen das von welkenden Bäumen verdeckte Haus zu trottete, gab er die Hoffnung endgültig auf, der Schuldige in der Mordaffäre Flückiger sei nicht unter den Schattenhalbern zu finden. Fuchs forderte einen Dienstwagen an, die Gefreiten Boss und Zimmerli hatten gleich wieder umzukehren und nochmals nach Schattenhalb zu fahren. Es wurde beinahe drei Uhr, bis man mit Fürchtegott Husi abfahren konnte. Am Zaun standen einige Schaulustige, die trotz aller Geheimhaltung von dessen Verhaftung erfahren hatten. Nachdem sie von Krähenbühl aufgefordert worden waren, sich dünnzumachen, gingen sie ein paar Schritte zurück, blieben jedoch gleich wieder stehen wie die Ölgötzen. Korporal Krähenbühl schloß das Gartentor und kehrte der Liegenschaft Husi den Rücken. Es kam ihm in den Sinn, daß sich jetzt niemand mehr um den Garten kümmern würde. Das stimmte ihn traurig. Ob der Gärtner jemals zurückkehren würde, war ungewiß. Es dürfte für Kommissär Fuchs ein leichtes sein herauszufinden, was es mit den Fässern auf sich hatte. Mit größter Wahrscheinlichkeit war Husi der Mörder seiner Pflegetochter. Sein apathisches Verhalten vorhin und die widerstandslose Festnahme kamen einem Schuldgeständnis gleich. Gespannt war Krähenbühl nur, ob nicht die Herren Mörgeli trotz allem mit der ganzen Angelegenheit zu tun hatten. Wie er nun zu seinem Opel ging, den er am Straßenrand geparkt hatte, trug der laue Wind wieder einmal den durchdringenden Geruch von Schällibaums Schweinemästerei heran, auch ein typisches Zeichen dafür, daß sich das Wetter bald ändern würde.
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»Das ist wortwörtlich eine Schweinerei«, murmelte Krähenbühl und rümpfte die Nase. Da durchzuckte ihn auf einmal ein absonderlicher Gedanke, und, obgleich er sich dagegen sträubte, zwang ihn eine innere Macht zu handeln. Er faßte nach dem Pistolenfutteral an seiner Seite, rückte die Mütze zurecht und begann mit zielstrebigen Schritten die Straße entlangzumarschieren. Den Wagen zu nehmen, kam ihm gar nicht in den Sinn. Die Sonne stach vom unnatürlich blauen Himmel schräg herunter, so, als wolle sie heuer zum letztenmal noch all ihre Wärme abgeben, und hinter den ockerfarbenen Stoppelfeldern ringsum loderte das rote Laub der Buchenwälder. Krähenbühl schritt voran, stur und stetig, den Gestank der Schweinemästerei in der Nase und nur noch mit einer Idee im Kopf, schritt vorbei an vollbehangenen Obstbäumen, an Bauernhöfen und Einfamilienhäusern, ohne nach links oder rechts zu sehen, schritt durch die ganze Ortschaft Schattenhalb, dem Anwesen des Gemeindepräsidenten Fritz Schällibaum entgegen, das sich am andern Ende des Dorfes befand und seinen abscheulichen Geruch über die vergehende Landschaft dieses vielleicht letzten Sonnentages verbreitete. Später verließ er die Straße, weil er sonst einen Umweg hätte in Kauf nehmen müssen, und ging querfeldein auf das Haus zu. Erde und nasses Gras klebten an seinen Schuhen, irgendwo riß ihm ein am Boden liegendes Stück Stacheldraht einen Dreiangel aus der Uniformhose, doch er merkte es nicht. Als er den gepflasterten Vorplatz der Liegenschaft Schällibaum erreicht hatte, stellte sich ihm ein riesiger, wild bellender Dobermann in den Weg. Hinten im Durchgang zwischen dem Wohntrakt und der eigentlichen Schweinemästerei stand Schällibaum breitbeinig vor einem kleinen Lastwagen und blickte dem Polizisten gespannt entgegen. »Was gibt es Gutes?« rief er, traf jedoch keine Anstalten näherzukommen. Im Fenster neben der Wohnungstür erschien kurz der zerzauste Schopf einer der drei Mägde, die sich der ledig gebliebene Schällibaum hielt, und um die nächste Hausecke schlurfte ein Knecht davon.
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»Nichts Gutes«, antwortete Krähenbühl. »Pfeifen Sie den Hund zurück. Ich habe mit Ihnen zu reden.« »He, was sind das für Töne?« reklamierte Schällibaum. »Sie haben wohl vergessen, wer ich bin.« »Sie sind der Gemeindepräsident von Schattenhalb; aber das berechtigt Sie noch lange nicht, Ihren Hund auf mich zu hetzen.« »Was ist mit Ihnen los, Korporal Krähenbühl? Ich hetze doch den Hund nicht auf Sie. Komm, Cäsar, komm her!« Der Hund duckte den Kopf; dann kehrte er knurrend um und setzte sich neben seinen Meister. »Also, was kann ich für Sie tun?« fragte Schällibaum, indem er jetzt zwei, drei Schritte auf den Polizisten zukam. »Ich möchte mich bloß erkundigen, was Sie eigentlich mit den Metzgereiabfällen Ihrer Schweinemästerei machen«, erklärte Krähenbühl, dem seine Stimme selber unverhältnismäßig grob vorkam; aber er konnte sich nicht helfen. Seit er zu wissen glaubte, wofür der Gemeindepräsident verantwortlich zu machen war, hatte er eine unbändige Wut im Bauch. Schällibaum glotzte perplex aus seinem breiten Gesicht und sagte eine ganze Weile gar nichts. Aber dann schien er sich langsam vom soeben erlittenen Schock zu erholen, und nun trat er nahe an Krähenbühl heran. Der Hund folgte ihm. »Was zum Teufel soll das heißen?« fauchte er. »Wie kommen Sie überhaupt dazu, Ihre Nase in Dinge zu stecken, die Sie nichts angehen? Suchen Sie lieber Ihren Mörder, Sie Anfänger!« »Genau das tue ich«, stellte Krähenbühl fest, »und wenn ich Ihnen, Herr Schällibaum, nichts anderes anhängen kann, so werde ich Sie wenigstens wegen Beamtenbeleidigung anklagen.« »Jetzt reicht’s mir aber!« rief Schällibaum. »Ich soll Sie beleidigt haben? Sie sind wohl nicht ganz bei Trost. Sie haben mich beleidigt, jawohl. Ihr Hiersein beleidigt mich. Was wollen Sie überhaupt von mir?« »Das werde ich Ihnen gleich sagen«, erklärte Krähenbühl, dessen Wut sich rasch in eine kühl berechnende Ruhe gewandelt hatte. »Weil es Ihnen zu umständlich und kostspielig ist, bringen Sie Ihre Abfälle nicht, wie vorgeschrieben, zur kantonalen Kadaververwer-
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tungsstelle, sondern füllen diese in ausrangierte Fässer der Firma Mörgeli ab. Für die Endlagerung dient Ihnen Husis Garten, daß heißt, hat Ihnen gedient; denn in der letzten Nacht haben Sie die ganze Sauerei ausgraben und abtransportieren lassen. Dort steht der Lastwagen, mit dem das geschehen ist.« Bei den letzten Worten des Polizisten war Schällibaum wieder ein paar Meter zurückgetreten. Der Hund hingegen blieb vor Krähenbühl sitzen, sträubte die Haare und knurrte. »Was Sie da soeben von sich gegeben haben, werden Sie noch bereuen«, zischte Schällibaum mit gefährlich leiser Stimme. »Sie sind die längste Zeit hier Polizist gewesen, da können Sie Gift drauf nehmen.« »Sie streiten also ab, daß Sie die Abfälle Ihres Betriebes unsachgemäß beseitigen?« »Und ob ich das abstreite.« »Die Abfälle kommen in die Kadaververwertungsstelle? Alles ist in bester Ordnung?« »Alles ist in bester Ordnung!« »Kann ich das überprüfen?« »Nichts werden Sie überprüfen!« brüllte Schällibaum in plötzlicher Wut. »Scheren Sie sich weg von hier, gehen Sie zur Hölle, ehe ich mich vergesse.« Im Fenster tauchte erneut die Magd auf: »Die Flückiger hat er auch umgebracht!« schrie sie mit blecherner Stimme. »Er soll es nur zugeben.« »Willst du wohl schweigen, blöde Gans. Mach das Fenster zu.« Schällibaum war weiß wie ein Leintuch geworden. Weiberrache, dachte Krähenbühl. Sie hat sich wohl kürzlich mit ihrem Meister überworfen. Aber auch ohne ihre Aussagen war er überzeugt, daß Schällibaum Barbara Flückiger auf dem Gewissen hatte. So wie der bestrebt gewesen war, die Angelegenheit zu vertuschen, wie er Husi in Schutz genommen hatte und wie er sich jetzt aufführte… »Geben Sie auf, Fritz Schällibaum«, sagte der Polizist mit noch immer ruhiger Stimme. »Kommen Sie mit mir auf den Posten.«
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»Was soll das, Krähenbühl? Sie werden doch hoffentlich dieses Weibergewäsch nicht ernst nehmen?« Schällibaum verfiel in ein hysterisches Gelächter. Der Hund knurrte anhaltend. Hinter ihren Verschlägen grunzten die Schweine. Die Magd hatte sich verzogen, und auch sonst war kein Bein mehr zu sehen. Man hätte annehmen können, Schällibaum und der Hund seien die einzigen Bewohner des weitläufigen Anwesens. »Kommen Sie mit«, wiederholte Krähenbühl und sperberte nach dem Hund, der ihm immer noch den Weg versperrte. Doch anstatt näher zu treten, begann Schällibaum, Schritt für Schritt zurückzugehen. »Lassen Sie mich in Ruhe, Krähenbühl!« rief er. »Behalten Sie Ihren Seich für sich. Hauen Sie ab, oder ich hetze tatsächlich den Hund auf Sie, Sie Narr.« Nun hatte Krähenbühl genug. Entschlossen ging er vor, zugleich griff er nach seiner Waffe und entsicherte sie. »Faß, Cäsar, faß!« heulte Schällibaum. Sogleich sprang der Hund hoch. Aber bevor er richtig zupacken konnte, schoß Krähenbühl, der auf den Angriff vorbereitet gewesen war. Das riesige Vieh brach röchelnd zusammen, riß jedoch den Polizisten mit sich zu Boden. Auf einmal begannen die Schweine in ihren Ställen wie am Spieß zu brüllen. Auf dem Pflaster breitete sich eine dunkle Blutlache aus, daneben hingestreckt lag der zuckende Körper des Hundes, und darüber hinweg zielte Krähenbühl in halb liegender Stellung auf Schällibaum, der mit weit aufgerissenen Augen hinten bei seinem Lastwagen stand und nun langsam die Arme über den vierkantigen Schädel hob. Als Krähenbühl am selben Abend in seinen vor Husis Haus zurückgelassenen Opel stieg, hatte das Wetter – wie erwartet – bereits umgeschlagen. Unter dem bedeckten Himmel trieben die Rauchschwaden der feucht gewordenen Herbstfeuer und vermischten sich mit dem Pesthauch der Schweinemästerei. Der eiligst aus der Kantonshauptstadt zurückgekehrte Kommissär Fuchs war zufrieden. Der Fall Barbara Flückiger hatte sich so abgespielt, wie er es im Rapport an den Untersuchungsrichter festgehalten hatte, mit dem winzigen Unterschied, daß nicht die Abfälle der Firma
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Mörgeli, sondern jene der Schweinemästerei in Husis Garten vergraben worden waren. Der einzige Zusammenhang mit der Batteriefabrik lag darin, daß alte, in der Firma nicht mehr verwendbare Fässer an Schällibaum abgegeben worden waren. Schällibaum hatte auch den Mord an Barbara Flückiger gestanden. Sie war hinter sein Abkommen mit dem Gärtner gekommen und hatte mit ihren offenbar erpresserischen Drohungen Schällibaum bis zum äußersten getrieben. Wieweit auch Fürchtegott Husi der Mittäterschaft anzuklagen war, würden die Gerichte zu entscheiden haben. Krähenbühl seufzte. Er hatte einen schlimmen Tag und eine schlimme Woche hinter sich. Als er an der Kirche von Schattenhalb vorbeikam, verlangsamte er die Fahrt und blickte nachdenklich auf den Friedhof daneben, in dem Barbara Flückiger inzwischen begraben worden war. Wer redet eigentlich von all den Toten, die dort drinnen vermodern und den Boden verseuchen? fragte er sich. Dann gab er Gas, um endlich nach Hause zu kommen.
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Peter Zeindler Jagdbannbezirk Jagdbannbezirk ist reine Fiktion. Die Erzählung entstand aufgrund von Informationen, zum Teil auch aus Bereichen, die unmittelbar mit den Sicherheitspraktiken nichts zu tun haben müssen, wie sie in Chemiekonzernen üblich sind. Jagdbannbezirk ist ein Zusammensetzspiel mit Teilen aus dem weiten Feld der Industrie, Forschung und Wissenschaft, eine Modellerzählung, ein Gedankenspiel mit den grauenhaften Möglichkeiten, die tatsächlich eine Katastrophe gigantischen Ausmaßes auslösen können, eine totale Zerstörung unserer Umwelt durch Vorgänge im Bereich von Chemie oder Atomwirtschaft. In diesem Zusammenhang danke ich einer Anzahl von Personen, die mir wichtige Informationen geliefert haben. »Spionage!« Sembritzki mochte dieses Wort schon gar nicht mehr hören. Er lehnte seitlich am rauhen Stamm einer Eiche und starrte auf die schwarze Tafel, auf der überflüssiger- und doch sinnigerweise das Wort Jagdbannbezirk stand. Wem käme es schon in den Sinn, hier unten an der Aare, die in grünen Girlanden die Schweizer Bundeshauptstadt Bern umhalste, in moosfarbiger Kleidung herumzustreunen, eine doppelläufige Flinte in der Hand. Hier unten am Fluß verkehrten nur mehr oder weniger harmlose Spaziergänger und Jogger, und jene Kreatur, die als Zielobjekt für Scharfäugige geeignet gewesen wäre, graste und äste friedlich hinter Maschendrahtzäunen und eisernen Stäben im ein paar hundert Meter entfernten Tierpark Dählhölzli: Rehe, Hirsche, Wildschweine, Steinböcke, aber auch ein schwergewichtigeres Kaliber, Bisons und Auerochsen. »Ich sage dir, Konrad, das Ganze hat etwas mit Spionage zu tun!« Sembritzki wandte sich um und schaute den eleganten Mann im grauen Flanellanzug lächelnd an. Vor zwei Tagen hatte ihn Paul Landert angerufen und dabei jene für ihn aufregenden Tage und Nächte in Prag beschworen, als sie sich kennengelernt hatten. Damals hatte sich Landert, seines Zeichens Marketingleiter in einem
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großen schweizerischen Chemiekonzern, als Bewohner des Touristenhotels »Alcron« in ein vom tschechischen Geheimdienst STB inszeniertes galantes Abenteuer verstrickt und hatte dabei wichtige Geschäftsdokumente eingebüßt. Und Sembritzki, der sich zu jener Zeit ebenfalls im »Alcron« aufhielt und über die Praktiken Bescheid wußte, die in diesem Haus üblich waren, war es durch einen Akt plumper Erpressung gelungen, seinen Kollegen vom STB die ergatterten Papiere wieder abzujagen. Seither wurde Sembritzki vom dankbaren Landert in regelmäßigen Abständen zum Essen in seinen weißstrahlenden Bungalow abseits jener schweren Wolken eingeladen, die sich aus den Hochkaminen seiner Firma quälten. Jagdbannbezirk! Sembritzki lachte in sich hinein. Ganz oben am steil abfallenden Hang residierten die diplomatischen Abgesandten aus Ost und West in ihren feudalen Villen, und es war mehr als ein lächerlicher Zufall, daß er sich mit dem Vertreter eines Schweizer Chemiekonzerns mit weithallendem Ruf in diesem Bezirk verabredet hatte, wo er schon mehr als einmal Abgesandte und Kuriere getroffen hatte, die wie Schatten von irgendwoher eingefallen waren und sich auch bald darauf wieder aufgelöst und verflüchtigt hatten. In unmittelbarer Nähe der sogenannten Kraftzentren war so etwas wie ein Schonbezirk, und so hatte denn auch Sembritzki seinen Bekannten nach dessen aufgeregtem nächtlichen Telefonanruf an diesem bleiernen Herbstabend hierher bestellt. »Spionage«, sagte Sembritzki jetzt zum drittenmal mit verächtlichem Unterton und klaubte einen Zigarillo aus dem Futteral. »Der Mann ist unter Druck geraten, Konrad!« flüsterte Landert beschwörend, und seine hellgrauen Augen hinter der dicken Hornbrille blinzelten. »Warum wendest du dich nicht an deine unmittelbaren Vorgesetzten?« Landert schüttelte heftig den Kopf. »Verstehst du denn nicht? Wenn nun all das, was mir mein Kollege gebeichtet hat, allein seiner Phantasie entsprungen wäre. Wenn er all das nur erfunden hätte, aus Schuldgefühlen und weil er aus seiner Depression nicht mehr herausfindet…«
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»Eben«, murmelte Sembritzki und steckte sich endlich den Zigarillo zwischen die Lippen. Nachdenklich kaute er darauf herum und spuckte ihn endlich kopfschüttelnd wieder aus. »Fassen wir zusammen! Dein Kollege, dessen Namen du mir nicht nennen willst, leitender Mitarbeiter…« »Fabrikationsleiter«, korrigierte Landert leise. »…Fabrikationsleiter!« Sembritzki war verärgert über die Unterbrechung. »Entschuldigung, Konrad. Aber seine Funktion ist nicht ohne Bedeutung. In dieser Position hat er einen gewissen Spielraum!« »Dieser Mann also kassiert jahrelang Geld für Lieferungen, die nie wirklich bei euch im Konzern eingetroffen sind! Und das kassierte Geld zweigt er auf sein eigenes Konto ab!« »So ist es«, murmelte Landert. »Alle Achtung! Nur wie ist so etwas überhaupt möglich in einem völlig durchorganisierten Betrieb, wo nichts dem Zufall überlassen ist?« »Es ist möglich«, antwortete Landert beinahe beschämt. »Du brauchst auf der Seite der Lieferanten nur einen einzigen Mann, der mit dir zusammenspannt.« Sembritzki nickte und klaubte einen Tabakkrümel von der Unterlippe. »Die hohe Kunst der Konspiration«, sagte er spöttisch. »Nur erkläre mir, wie eine Ware bezahlt wird, die gar nie geliefert wurde.« »Enzyme!« Landert spuckte das Wort aus, als ob es ihn auf der Zunge brenne. Sembritzki wandte sich Landert erstaunt zu. »Enzyme? Das sind Fermente! Wozu braucht ihr die?« »Zu Versuchszwecken, als Anfangsprodukte für chemische Prozesse!« »Und wer liefert euch die?« »Eine Tochterfirma an der amerikanischen Ostküste.« »Und wie werden die geliefert?« »In Behältern. Ganz einfach!« »Und da gibt es keine Eingangskontrolle?« Landert steckte die Hände tief in die Taschen seines Jacketts, als ob ihn fröstelte. »Wenn Sendungen mit einem Radioaktiv-Zeichen ver-
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sehen sind, besteht wohl kein Grund, sie zu öffnen. Dann gehen sie direkt an den Empfänger!« »Erstens sind Fermente nicht radioaktiv, und zweitens spielt da wohl auch das Gewicht der Sendung eine Rolle«, warf Sembritzki ein. Landert schüttelte hilflos den Kopf. »Blei!« sagte er. Und dann nochmals: »Blei! Radioaktives Material ist durch Bleimäntel geschützt. Es hat somit ein gewisses Gewicht. Und wenn du nun Enzyme als radioaktives Material kennzeichnest und die Sendung mit einem Bleizusatz versiehst…« Er sprach den Satz nicht zu Ende. »…wird niemand auf den Gedanken kommen, das Paket zu öffnen«, schloß Sembritzki. »Alle Achtung!« Er schaute lange schweigend auf den graublauen Fluß hinaus. Da hatte sich also ein Mann in der Chefetage eines Chemiekonzerns während Jahren mit einem Kollegen jenseits des Atlantiks arrangiert, hatte Geld kassiert für eine Lieferung, die im Betrieb nie Verwendung gefunden hatte, weil sie überhaupt nicht existierte, und eines Tages war der Druck, der auf ihm lastete, so groß geworden, daß er sich einem Kollegen in der Firma anvertraute. Allerdings nicht ganz freiwillig, wie Landert behauptete. Der Mann jenseits des Atlantiks, der mit dem Prokuristen das trübe Geschäft getätigt hatte, war – so mindestens hatte es sich nach Monaten des Austauschs herausgestellt – gar nicht auf seine persönliche Bereicherung erpicht gewesen, sondern hatte irgend jemand in unmittelbarer Nähe des Prokuristen von diesem Geschäft unterrichtet und als Erpresser auf ihn angesetzt. Brisantes, fabrikinternes Material gegen Stillschweigen. So war das anscheinend gelaufen. Der Mann drüben in Amerika war der Initiant und Lockvogel gewesen. Und dann hatten seine Partner in Europa das Geschäft übernommen. Der Fabrikationsleiter stand jetzt nicht nur als Krimineller da, sondern gleichzeitig auch als Spion! »Wie interessant ist denn Werkspionage bei euch überhaupt?« fragte Sembritzki endlich und steckte einen neuen Zigarillo in den Mund. »Weißt du, was es für eine Konkurrenzfirma diesseits oder jenseits des Eisernen Vorhangs bedeutet, wenn sie Einblick in unsere Abläufe erhält, wenn sie zum Beispiel Materialien über die Herstellung
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gewisser Pestizide erhält, für die wir vielleicht eine Synthese auf sechs Stufen brauchen, während die Konkurrenz zehn Stufen benötigt! Da sind Millionen im Spiel, Konrad!« »Der Mann drüben hat deinen Kollegen geködert. Das übliche Spiel, wenn es wahr ist!« »Eben! Du kennst dich aus, Konrad. Du hast Beziehungen in diesen Kreisen!« Sembritzki stieß so etwas wie ein Stöhnen aus. Halb Belustigung, halb Abscheu. »Ich habe keine Lust, mich wieder irgendwo zu verheddern, mein Lieber!« »Konrad! Du mit deinen Beziehungen! Schau dich um! Sprich mit meinem Kollegen, nichts weiter. Ich möchte mich und die Firma nicht blamieren, wenn sich alles als Luftblase entpuppen sollte!« »Die Bundesanwaltschaft!« knurrte Sembritzki stur. »Das ist ihre Sache!« »Ein Gespräch, nichts weiter!« Landert machte einen Schritt auf Sembritzki zu, hob die Arme, als ob er seinen Bekannten packen wollte, und ließ sie dann resigniert wieder sinken. Sembritzki holte weit aus und warf seinen abgeknatschten Zigarillo mit Schwung in den verdämmernden Fluß hinaus. »Ich werde kommen!« sagte er und ging, ohne sich umzusehen, in den stahlblauen Abend hinein. Anderntags war er schon eine halbe Stunde zu früh am vereinbarten Treffpunkt, in einer ländlichen Wirtschaft, eingehüllt in grauquirlenden Stumpenrauch und das rauhe Gelächter von Bauern und Handwerkern in blauen und braunen Überkleidern. Anonymität war gefragt, und Sembritzki mußte lächeln, wenn er daran dachte, wie sehr die drei städtisch gekleideten Herren in dieser Umgebung auffallen mußten: er, Landert, der Marketingmann, und der Namenlose, der Spion und Krimineller in einem oder gar nichts von alldem war. Eine halbe Stunde über die vereinbarte Zeit hinaus war schon vergangen, als Landert endlich eintraf. Er war allein, verschwitzt, blaß, außer Atem. Wortlos ließ er sich auf den Stuhl an Sembritzkis Seite fallen, lockerte seinen Krawattenknoten und winkte den Wirt zu sich. »Einen Schnaps«, sagte er. »Irgendeinen!«
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Sembritzki sah Landert schweigend an, klaubte sich dann einen Zigarillo aus der Schachtel und klopfte damit in regelmäßigen Abständen auf den Tisch, so als ob er Morsezeichen aussenden wollte. »Er ist tot!« sagte Landert endlich leise. Sembritzki steckte wortlos den Zigarillo in den Mund und biß ihn durch. Die Spitze des Rauchstengels fiel in sein Glas. »Ist er umgebracht worden?« fragte Sembritzki endlich und schaute teilnahmslos auf den sich langsam im Weißwein auflösenden Zigarillo. Landert schüttelte den Kopf. »Er hat sich umgebracht!« »Ein Abschiedsbrief?« »Nur das hier. Es lag heute in meiner Post auf dem Büroschreibtisch!« Landert fingerte mit zitterndem Griff ein großes weißes Blatt Papier aus der Westentasche, faltete es auseinander und schob es Sembritzki hin. »Grabschrift: Es ist gut, des sinnlosen Suchens nach der Wahrheit überdrüssig und müde, seine Arme nach dem Befreier auszustrekken!« Sembritzki las halblaut den maschinengeschriebenen Text auf dem Bogen und dann noch die Unterschrift: »Karl Thoma.« »Sein Letzter Wille?« fragte er endlich und klaubte den Zigarillo aus dem Glas. »Anzunehmen«, sagte Landert. »Aber warum hat er diesen Grabspruch mir und nicht seiner Frau hinterlassen? Ich bin doch nicht sein Testamentsvollstrecker, Konrad!« sagte er beschwörend. »Vielleicht bist du es doch«, gab Sembritzki gleichmütig zurück. »Die Grabinschrift ist übrigens von Pascal.« Landert nickte abwesend. »Womit hat er sich umgebracht?« »Ich weiß es nicht, Konrad. Alles, was auf diesen Selbstmord hindeutet, ist dieser Bogen Papier mit der Grabinschrift!« Landert verlangte einen zweiten Schnaps, und als er kam, leerte er auch diesen in einem Zug. Lange lag seine rechte Hand auf der rohen Tischplatte. Das leere Glas steckte wie eine Kerze in der Höhle. »Und wenn Thoma gar nicht tot ist, Paul?« Landert schüttelte nur traurig den Kopf. »Weiß seine Frau Bescheid?«
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Landert zuckte mit den Schultern und ließ gleichzeitig das Glas los. »Jemand muß es ihr sagen!« »Nein!« rief Landert. »Ich nicht!« »Und vor allem dürfen vorläufig keine Nachrichten über Thomas Verschwinden nach außen dringen, wenn…« Sembritzki brach den Satz ab und schaute Landert mißmutig an. »Wenn?« Sembritzki war daran, Bedingungen festzusetzen im Zusammenhang mit einer Sache, die ihn nichts anging. Er hatte nicht die Absicht, sich aus seiner vertrauten Umgebung als Antiquar, aus seinem Refugium im Berner Mattenquartier herauslocken zu lassen, um im undurchschaubaren Labyrinth, das die mächtigen Baumeister dieser Welt, aus Wirtschaft, Industrie oder Politik, gebaut hatten, nach dem berühmten roten Faden zu tasten, der ins Zentrum führte – oder noch besser, hinaus. Wo hinaus? Vielleicht nur hinaus in eine taghell erleuchtete Nacht, die von den Scheinwerfern der wachsamen Fadenzieher bestrichen wurde! »Wenn?« fragte Landert noch einmal. »Wenn wir verhindern wollen, daß die Erpresser Thomas frühzeitig aufgeschreckt werden.« Jetzt hatte er es gesagt. Und mit diesem Satz hatte er bereits den Anfang zu einem Drehbuch gesetzt, dessen Ende nicht bekannt war und bei dem auch nicht feststand, ob er, Sembritzki, nur als Autor oder zusätzlich als Mitspieler, vielleicht gar als Opfer auftreten würde. »Komm!« sagte er und stand auf. »Wohin willst du?« Landert rückte seinen Stuhl noch enger an den Tisch heran, so daß er kaum mehr atmen konnte. »Wir besuchen die Witwe – sofort…« Auch diesen Satz sprach Sembritzki nicht zu Ende, denn Landert sagte noch einmal, ganz leise, atemlos sozusagen: »Nein!« Aber Sembritzki war schon bei der Tür. Sie hatte überhaupt keine Regung gezeigt, als Sembritzki, stellvertretend für den schweigenden Landert, über die Möglichkeit gesprochen hatte, daß ihr Mann tot sein könnte. Ihr flaschengrünes Satinkleid
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warf ein paar knisternde blaue Schatten, als sie ruhig zur Bar ging und sich einen Whisky einschenkte. Sie hatte einen tiefen Schluck genommen und war erst dann mit der Flasche und zwei zusätzlichen Gläsern zurückgekommen. Die Frau hatte Haltung, oder sie kannte keine Gefühle, mindestens nicht für jenen Mann, dessen möglicher Tod zur Debatte stand. Sie hatte genickt, immer wieder, hatte geraucht, getrunken, im übrigen aber war nichts abzulesen gewesen, was Aufschluß darüber gegeben hätte, ob sie mit dem gewaltsamen Ableben ihres Gatten gerechnet hatte. Er habe schon immer einen Hang zum Morbiden gehabt. Die Art und Weise, wie er seine an multipler Sklerose leidende Mutter über Jahre hinaus selbst gepflegt hatte, wenn ihm seine geschäftlichen Verpflichtungen Zeit dazu gelassen hatten, wie er selbst Spritzen angesetzt und die alte Frau gewaschen habe, und als sie dann endlich gestorben sei, zwei Jahre sei es her, sei keine Woche vergangen, ohne daß er ihr Grab besucht hätte. Gänge durch den Friedhof, zwischen Gräbern und unter Trauerweiden, seien seine liebste Freizeitbeschäftigung gewesen. Da hatte Sembritzki eingehakt. Wo denn, hatte er wissen wollen, ihr Mann, sollte er wirklich den Tod gefunden haben, begraben würde. »Im Familiengrab. Neben seiner Mutter.« Die Antwort war ohne Zögern gekommen. Ob er jemals davon gesprochen habe, den auf dem Blatt zitierten Grabspruch für sich zu beanspruchen. Oder ob dieser Grabspruch am Ende schon auf dem Familiengrab verewigt sei? In diesem Augenblick war es der Frau doch zuviel geworden. Sie war aufgestanden, hatte ein paar Schritte zur Tür gemacht und die beiden Herren gebeten, sie jetzt allein zu lassen. Sembritzki blieb die Erinnerung an große graugrüne Augen, an dunkelblondes Haar, das eng am Kopf lag, und an den Druck einer schmalen Hand. Und der Eindruck, daß die Frau mehr Gefühle hatte, als sie hatte zeigen wollen. Eine Stunde später stand er allein vor dem Familiengrab der Thomas. Astern flammten vor einem schneeweißen, rechteckig behauenen Stein, auf dem zwei Namen standen: Hermann Thoma, 19011968, und Charlotte Thoma, geborene Saladin, 1909-1983. Für einen
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goldstrahlenden Namen war noch Platz auf dem Stein. Wo würde Thomas Frau begraben werden, und wo sollte Raum für den Grabspruch von der Hand Pascals sein? Der Schatten einer Ulme fiel quer über das Familiengrab der Thomas und erstickte das lodernde Feuer der Astern. Sembritzki zögerte lange. Sein Zigarillo hing zerfasernd und feucht nach unten: »Es ist gut, des sinnlosen Suchens nach der Wahrheit überdrüssig und müde, seine Arme nach dem Befreier auszustrekken.« Unwillkürlich tat Sembritzki einen Schritt zurück. Befreier! murmelte er für sich und schaute hinauf in den stahlblauen Himmel, als ob er dort oben jene Stelle ausmachen könnte, wo magisch der hilfreiche Arm des Erlösers sichtbar werden könnte. Doch dort oben zog nur ein Schwarm Vögel still in strenger Formation vorbei, und Sembritzki hatte einmal mehr das Gefühl, daß von oben keine Hilfe zu erwarten war, sondern daß er selbst immer wieder in die lächerliche Rolle des Entfesselungskünstlers und auch des Befreiers anderer manövriert werde. Drei Stunden brauchte er, bis er endlich das gefunden hatte, wonach er suchte. Längst war es dämmerig geworden, waren die lodernden Astern erloschen, und mehr als einmal hatte sich Sembritzki vor den beharrlichen Schatten von Friedhofsaufsehern in Sicherheit bringen müssen, die säumige Besucher diskret aufforderten, das Gelände zu verlassen, da bald die schweren Tore geschlossen würden. Es ist gut, des sinnlosen Suchens nach der Wahrheit überdrüssig und müde, seine Arme nach dem Befreier auszustrecken. Der Stein war schwarz. Und die Schrift hob sich golden und scharf vom Hintergrund ab. Ein Kranz von kleinen roten Blumen umschloß die letzte Ruhestätte Melchior Hoppes, der bereits im Jahr 1968 diese Welt verlassen und seither auch keine Gesellschaft bekommen hatte. Melchior Hoppe hatte von sich nur ein kleines Häufchen Asche zurückgelassen, das wohl unter dem kreisrunden schwarzen Deckel langsam zerfiel, der mitten im blumigen Kreis zu sehen war.
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Sembritzki schaute sich um, kniete dann nieder, langte mitten hinein in den magischen roten Zirkel und griff schnell und entschlossen nach dem schwarzen Deckel, der sich ganz leicht abheben ließ. Unbeweglich kniete er vor Hoppes Grab und starrte zuerst lange in die schwarze Höhle, wo dessen Asche untergebracht war, und darauf in den umgekehrten Deckel, den er wie einen Teller auf der Hand balancierte. Im Augenblick, als er den Deckel sorgfältig wieder auf die Urne legte, hörte er das Geräusch. Ein schneller Schritt auf dem Kies, das Rascheln eines Mantels. Und der graue Schatten, der von der Dämmerung sofort wieder verschluckt wurde, hätte auch vom Reflex eines versiegenden Sonnenstrahls auf den zitternden Blättern einer Ulme stammen können und nicht von jenem Mann, den Sembritzki, nachdem er schnell aufgesprungen und um sich geblickt hatte, für einen kurzen Augenblick zwischen zwei Grabstellen erspähte. »Es ist gut, des sinnlosen Suchens nach der Wahrheit überdrüssig und müde, seine Arme nach dem Befreier auszustrecken!« Sembritzki nahm diesen Satz mit sich in den Oktoberabend, in den er sich gerade noch knapp vor den einrastenden schweren Friedhofstoren hineingerettet hatte. Bis spät in die Nacht hinein führte Sembritzki von seiner Wohnung unten an der Aare aus lange Telefongespräche. Zweimal rief er einen Bekannten in der amerikanischen Botschaft an, und ein dritter Anruf ging an die Frau des vermißten oder toten Karl Thoma. Vermißt nicht mehr. Definitiv tot. So sagte es ihm die Witwe am Telefon, dessen Muschel sie mit der Hand abdeckte, um zu verhindern, daß Sembritzki das Stimmengewirr mitbekam, das im Hintergrund wellenartig zu- und abnahm. »Mit Tabletten.« Ihr Kommentar war sachlich. Keine Gefühle schwangen mit, so daß Sembritzki beinahe in Versuchung geraten wäre zu fragen, ob er sich denn wenigstens mit einem Produkt aus der eigenen Firma aus dieser besten aller möglichen Welten hinausgeschlafen habe. Wo man ihn denn gefunden habe, wollte Sembritzki wissen. »In einem Hotelzimmer hier in Bern.« »Noch etwas?« fragte die Witwe ungeduldig.
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»Eine letzte Frage, Frau Thoma. Hatte Ihr verstorbener Mann seine Friedhofsbesuche auf bestimmte Wochentage gelegt?« Frau Thoma schwieg lange, und hätte Sembritzki nicht noch immer die Hintergrundgeräusche gehört, hätte er annehmen müssen, sie habe den Hörer aufgelegt. »Ich weiß es nicht«, sagte sie endlich so leise, daß Sembritzki das Ohr fest an den Hörer pressen mußte, um sie zu verstehen. »Wann war er zum letztenmal auf dem Friedhof?« »Wie soll ich das wissen«, sagte sie schnell. »Vor zwei Wochen vielleicht. Ja, es war am Donnerstag vor zwei Wochen. Am Todestag seiner Mutter.« »Heute ist Donnerstag«, sagte Sembritzki und legte den Hörer auf. Als er schon früh am andern Morgen Landerts Anruf erhielt, war er nicht überrascht. Daß Thoma tot war, wußte Sembritzki schon. Doch darüber hinaus schien sein Bekannter eine Information zu haben, die sein Weltbild völlig aufgebrochen zu haben schien. »Komm schnell!« Mehr hatte Landert nicht gesagt. Sie trafen sich diesmal am Stadtrand, wo Landert seinen hellgrauen BMW in einer Seitenstraße geparkt hatte und auf Sembritzki wartete, der wie immer als Benutzer öffentlicher Transportmittel, diesmal in Bahn und Tram, zwei Stunden nach dem Anruf zu Fuß eintraf. »Nun?« fragte Sembritzki anstelle einer Begrüßung, als er sich auf den Beifahrersitz hatte fallen lassen. »Jemand versucht uns zu erpressen, Konrad«, antwortete Landert mit gepreßter Stimme. Er schaute starr geradeaus durch die Windschutzscheibe. Seine Hände waren ins Lenkrad verkrallt. »Geld?« »Geld? Ja. Vielleicht. Offiziell Geld. Aber das ist es nicht allein.« »Was noch?« Landert schwieg lange. »Alles ist so undurchschaubar, Konrad. Wir haben in der Firma nichts über Thomas Tod verlauten lassen. Und niemand weiß, daß wir von seinen faulen Geschäften wissen.« »Niemand weiß es?« Sembritzkis Lachen klang verächtlich. »Du hast doch bestimmt irgend jemand in der Firma informiert!«
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»Natürlich!« Landert wandte sich Sembritzki brüsk zu. »Ich habe mit meinen Kollegen…« »Mit welchen Kollegen?« fragte Sembritzki scharf. »Mit den Kollegen von der Direktion!« »Was hast du ihnen erzählt?« »Nichts, Konrad. Das mußt du mir glauben. Nichts, bis zu dem Zeitpunkt, als Thomas Witwe die Direktion über den Tod ihres Mannes informierte!« »Und dann hast du ausgepackt?« Landert war verärgert. »Ausgepackt! Ich habe das weitergegeben, was mir Thoma vor seinem Tod erzählt hat!« »Und das Wort Spionage? Hast du es auch gebraucht?« Landert schüttelte heftig den Kopf. »Nein! Nur seine Manipulationen mit den Enzymsendungen!« »Wie viele Leute haben davon erfahren?« »Sechs! Das ist der engste Kreis. Wieviel trotzdem noch ein paar Stufen weiter nach unten gesickert ist, kann ich nicht beurteilen!« »Erpressung also!« Landert nickte. »Und wodurch und womit soll die Firma erpreßt werden?« »Ich weiß es nicht, Konrad. Das Ganze hat etwas mit Sabotage zu tun!« »Mehr weißt du nicht?« Landert schüttelte verzweifelt den Kopf. »Wie verstehe ich denn das? Du informierst deine Kollegen über die Verfehlungen Thomas, deine Kollegen aber informieren dich nicht über das, was als Folge von Thomas Tod gegen euch läuft?« »Das ist es ja genau, was mich beunruhigt. Vorläufig weiß nur der innerste Führungszirkel über die Zusammenhänge Bescheid.« »Du weißt also nicht, wo sabotiert werden soll und was für Forderungen mit dieser Sabotagedrohung verbunden sind.« »Ich weiß nur, daß die Agroabteilung davon betroffen ist!« »Ist das die Abteilung, in der Thoma gearbeitet hat?« »Ja. Vorher war er in der Pharmaabteilung. Später hat er gewechselt, wobei er noch immer in einzelnen Fällen Einfluß auf gewisse
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Entscheidungen im Pharmabereich hatte. Ein Fabrikationsleiter kann bei uns durchaus für mehrere Bereiche zuständig sein.« »Wie viele Leute arbeiten in einer Abteilung?« fragte Sembritzki endlich. »Das hängt von der Kapazität der jeweiligen Abteilung ab. Im Durchschnitt sind da jeweils hundert bis hundertfünfzig Leute beschäftigt.« Sembritzki nickte bekümmert. »Viele Leute! Wer aber kommt als Saboteur in Frage? Und welches sind die Motive?« »Alle kommen in Frage, Konrad«, sagte Landert leise und kurbelte das Fenster herunter. Er schwitzte. »Schließen wir die untersten Chargen aus!« »Da bleiben immer noch genügend Leute, die sich sozusagen während Jahren mit den verschiedenen Geräten vertraut gemacht haben. Jeder, der nur ein bißchen Verantwortung trägt, weiß, wie alles funktioniert. Und demzufolge weiß er auch, wie diverse chemische Prozesse manipuliert werden können oder wie man die Geräte durch gewisse Eingriffe so unter Druck setzen kann, daß die Kessel explodieren.« »Zum Beispiel?« »Indem man Sicherheitsventile kurzschließt oder das Kühlsystem ausschaltet.« »Der Saboteur ist nicht irgendwer, mein Lieber!« Sembritzki öffnete die Autotür, stieg aus und ging um den Wagen herum. Wer war der Mann auf dem Friedhof gewesen? Und wie gut hatte er Thoma gekannt? Und Thoma ihn? »Listen!« sagte Sembritzki, als er wieder neben Landert Platz genommen hatte. »Ich brauche Listen!« Landert schaute Sembritzki fragend an. »Verschaff mir Listen mit den genauen Biographien jener Angestellten, die in der Agroabteilung tätig sind!« »Ich kann nicht einfach vertrauliche Angaben über Mitarbeiter an Außenstehende weitergeben!« »Natürlich kannst du das nicht! Aber da sich jetzt die Schweizer Bundesanwaltschaft einschalten wird, ist damit zu rechnen, daß man auch dort die Mitarbeiterlisten einsehen will. Das ist doch die Gele-
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genheit, unter welchem Vorwand auch immer, die Listen im Doppel kopieren zu lassen!« Sembritzki stieg aus und ging, ohne sich noch einmal umzusehen, grußlos davon. Er wanderte durch ein freundliches Viertel der Stadt mit schmucken Vorgärten und Geranien vor den Fenstern, gelangte endlich ins Zentrum, ließ sich unten am Fluß mit der Fähre wie ein Tourist übersetzen und drang dann endlich in jenen Bezirk ein, der durch hochaufragende Häuser mit gleißenden Fensterfronten und Kamine abgesteckt war, die wie drohende Zeigefinger in den Himmel stocherten. Da war nichts von jener Traulichkeit zu spüren, die ihn noch in den Vierteln am Stadtrand eingehüllt hatte. Hier fühlte sich Sembritzki in der Rolle des Opfers, ausgeliefert, hatte das Gefühl, daß er von tausend Augen hinter den Glasfronten beobachtet und von unsichtbaren Dämpfen verfolgt werde, die allen Sauerstoff um ihn herum absorbierten, verschluckten, erstickten. Natürlich war das alles nur Einbildung, obwohl er einen stickigen Geruch in der Nase spürte und das Atmen ihm hier schwerer zu fallen schien als in seinem Berner Mattenquartier. Feierabend. Die Fabrikareale lagen beinahe still da, und wäre nicht der Rauch oder Dampf gewesen, der aus den Hochkaminen in den sich langsam blutrot färbenden Abendhimmel stieg, hätte man denken können, daß sich selbst diese Chemiegiganten sozusagen dem sanften Diktat des anachronistischen Betzeitläutens der Kirchen gebeugt hätten, das eine Zäsur zwischen Hektik und geruhsamem Feierabenddasein darstellte. Aber durch diese Mauern drang kein Glokkenschlag, und hier hatte man kein Ohr für die Geräusche des Abends, für Tellergeklapper, Gesprächsfetzen, das Klirren von Gläsern und das Scheppern von Besteck. Hier motteten chemische Prozesse, irreversibel scheinbar in die Unendlichkeit hinein, eine nicht mehr zu lösende Kette von Reaktionen, die jetzt ein einzelner Mensch zu sprengen drohte. Warum aber waren nirgends Sicherheitsmannschaften zu sehen, betriebsinterne Feuerwehr, Brandschutz, Polizeikräfte? Warum keine Warnung über Radio oder fahrende Lautsprecher? Warum keine Absperrungen? Hatte die Konzernleitung alles bereits im Griff? War
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der Saboteur entlarvt? Oder wurde alles so diskret abgewickelt, gleichsam von einer Geistertruppe lautlos und unsichtbar gemanagt? Und als sich der Abendhimmel am Horizont immer röter, immer glühender färbte, als sich aus Westen drei langgezogene Wolken wie Fischrücken vor den kleinen Rest von Sonne schoben, der langsam versank, als die Hochkamine nur noch als dunkelblaue Umrisse vor dem flammenden Hintergrund zu sehen waren, fragte sich Sembritzki, warum er nicht imstande sei, sich der Faszination dieses Eindrucks zu entziehen, den dieses Bild mit den harten Konturen vermittelte. Und einen kurzen Augenblick lang konnte er sogar den Saboteur verstehen, der in einer kurzen ewiglangen Sekunde imstande war, all das selbst auszulösen, Glut und Schwärze, ein kleiner Gott, der den furchtbar schönen Untergang selbst zu schaffen imstande war. »Bitte!« Sembritzki erschrak, als ihn ein Mann in grauer Uniform mit dem Firmenzeichen auf der steifen Mütze sanft anstieß. »Bitte!« sagte er noch einmal. Diesmal war seine Stimme kaum mehr zu hören. Sie wurde vom sanften Schnurren der Automotoren unter der Kühlerhaube der beiden schwarzen Mercedes verschluckt, die wie Leichenwagen an Sembritzki, der einen schnellen Schritt zurückgetan hatte, vorbeirollten. »Danke«, murmelte der Mann in der grauen Uniform, und Sembritzki fühlte, wie die Kälte ihm langsam über den Rücken kroch. Es war kaum mehr als ein leises Nachglühen, was da am fernen Himmel zu sehen war. Tonlose Bläue deckte langsam die Szene zu. Sembritzki mußte zweimal an Landerts Haustür klingeln, bevor geöffnet wurde. »Herr Sembritzki!« Weniger Freude als Überraschung klang aus der Begrüßung Frau Landerts, als sie den späten Besucher erkannte. »Paul ist nicht zu Hause. Eine wichtige Sitzung in der Firma, Herr Sembritzki!« »Der Krisenstab!« zischte Sembritzki zwischen den Zähnen und trat in die Eingangshalle. Kultivierte Atmosphäre hüllte ihn ein, vermischte sich mit dem Parfüm der Frau mit den traurigen, leeren Au-
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gen, die dieselbe Farbe hatten wie der samtene Hausmantel, den sie trug. »Es wird spät werden, Herr Sembritzki!« Ihr Widerstand klang nicht überzeugend. »Ich warte, Frau Landert!« »Bitte!« Sie öffnete die Tür zum Wohnzimmer, wo Sembritzki schon lange Abende mit Gesprächen verbracht hatte, deren Inhalt er längst vergessen hatte. Geschichten, Geschichten. Und alle ohne Pointe. »Whisky?« »Ja, bitte!« Das waren die letzten Worte, die er an diesem Abend an Frau Landert richtete. Sie stellte ihm stumm Whisky, Glas, Eiswürfel und Sodaflasche auf den Marmortisch und zog sich dann leise zurück, nachdem sie eine Weile wartend auf der Schwelle gestanden hatte, so lange, bis Sembritzki sie endlich anschaute und sie langsam die rechte Hand zur Stirn führte und sich mit leidendem Ausdruck darüber strich. Hatte er geschlafen? Als ihm der Lichtstrahl der Halogenlampe grell ins Gesicht sprang, fuhr er zusammen. Landert stand im Regenmantel im Türrahmen, und neben Sembritzkis rechtem Ohr bimmelte eine goldene Standuhr zwölf Mal. »Konrad!« Wie bei seiner Frau klang aus Landerts Stimme kaum Freude in der Stimme mit. »Paul!« gab Sembritzki müde lächelnd zurück. »Eine halbe Flasche!« »So lange wie die Sitzung gedauert hat, habe ich getrunken, Paul.« »Warum hast du gewartet?« »Neugier, nichts weiter!« Sembritzki versank immer tiefer im weichen Stoffsessel. »Ich kann deine Neugier nicht befriedigen, Konrad!« »Die Listen«, gab Sembritzki unbeirrt zurück. »Ich habe keine Liste, Konrad!« »Die Bundesanwaltschaft hat sie!«
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»Auch die Bundesanwaltschaft hat keine Liste, weil sie nicht eingeschaltet wurde!« Jetzt saß Sembritzki kerzengerade auf der vorderen Kante des Sessels und starrte Landert ungläubig an. »Was? Keine Polizei? Keine Sicherheitsmaßnahmen?« Landert schwieg, und Sembritzki bemerkte erst jetzt, was für eine Veränderung innert Stunden in diesem Mann vorgegangen war. War es die kleine Haarsträhne, die sich verselbständigt hatte und ihm ins rechte Auge hing? Oder das rechte Brillenglas, das im einfallenden Licht zwei dumpfe Fingerabdrücke zeigte? »Warum keine Sicherheitsmaßnahmen?« fragte Sembritzki noch einmal. Er merkte, wie seine Hand zitterte, als er einen Zigarillo aus dem Futteral klaubte. »Weil sich niemand im Betrieb erklären kann, warum unser Betrieb sabotiert werden sollte! Die ganze Angelegenheit muß mit Thomas Tod in Zusammenhang stehen. In welchem aber? Das wissen wir nicht!« »Und deshalb habt ihr darauf verzichtet, die Bundesanwaltschaft einzuschalten?« Sembritzki lachte verächtlich. »Was soll das, Landert. Du verschweigst mir doch die Hälfte!« Landert ging quer durch den Raum, lautlos trotz seines schleppenden Ganges, da der hochflorige Teppich jedes Geräusch schluckte, ging zum Marmortisch, griff nach der Whiskyflasche und nahm drei, vier scheinbar unendlich lange Schlucke. Das harte Geräusch, das entstand, als er die Flasche wieder auf den Tisch stellte, ließ beide, Sembritzki und Landert, zusammenzucken. Sembritzkis Zigarillo wanderte von einem Mundwinkel zum andern. »Eigenartigerweise kam die Sabotagedrohung erst im Augenblick, als der Betrieb, als die Belegschaft, von Thomas Ableben erfuhr. Warum, Konrad? Warum? Was besteht da für ein Zusammenhang?« Sembritzki zuckte mit den Schultern. »Der Mann, der den Anschlag androht, ist identisch mit Thomas Erpresser!« »Wo ist da die Logik, Konrad? Thoma ist tot. Der Erpresser hat jetzt überhaupt keinen Grund mehr zu fürchten, daß ihn Thoma anzeigt!« »Und wenn Thoma einen Abschiedsbrief hinterlassen hätte?«
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Landert schüttelte heftig den Kopf. »Nein! Nicht Thoma! Ein Mann, der so große Stücke auf Familienehre hielt! Nein! Er würde selbst im Tod niemals beichten! Er nicht!« Sembritzki schaute Landert mißtrauisch an. »Du schon, heißt das?« Landert wandte sich ab und trat ans Fenster. »Ich weiß es nicht, Konrad. Gut dastehn, selbst im Tod, oder da erst recht…« Er sprach den Satz nicht zu Ende. »Gut dastehn!« wiederholte Sembritzki laut. Die Verachtung in seinem Tonfall war Landert nicht entgangen. Er hatte sich brüsk umgedreht und starrte Sembritzki böse an. »Ja. Gut dastehn! Vor der Welt! Mehr habe ich nicht! Welt!« »Das gilt wohl auch für deine Firma!« Sembritzkis Feststellung klang so wie ein Peitschenhieb, scharf, bellend. Er war denn auch überrascht, als Landert keinen Augenblick lang mit seiner Antwort zögerte. »Ja«, sagte er. Und dann noch einmal: »Ja.« Jetzt war es ganz still im Raum. Sembritzki ließ seinen zerknatschten Zigarillo in den Aschenbecher fallen und stand auf. »Der Erpresser hatte einen Grund, deine Firma unter Druck zu setzen, Paul«, sagte Sembritzki unvermittelt. »Ich habe ihn gesehen, und er muß angenommen haben, daß er entlarvt ist!« »Du hast ihn gesehen? Wo? Wann?« »Auf dem Friedhof!« Und Sembritzki erzählte Landert von seinem Gang über den Friedhof und von dem Mann im Regenmantel, der ihn beobachtet haben mußte. »Und weshalb hast du dich mit der Urne beschäftigt, Konrad?« »Friedhöfe sind auch heute noch beliebte Umschlagplätze von Informationen, Paul!« »Ich verstehe dich nicht!« Sembritzki lachte leise in sich hinein. »Tote Briefkästen auf Gottesäckern!« Landert griff noch einmal zur Whiskyflasche. »Also stimmt es doch, daß Thoma Informationen weitergegeben hat?« »Anzunehmen. Erstens ist es nicht üblich, daß Urnen unversiegelt sind. Und zweitens fand ich im Deckel der betreffenden Urne eine
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Art Klammer, an der die Informationen so befestigt werden konnten, daß sie nicht in die Urne fielen.« Landert schaute Sembritzki kopfschüttelnd an. »Dann haben wir also diese Affäre dir zu verdanken!« Seine Stimme klang bitter. »Was soll’s, Paul! Warum diese Wortspielereien? Du hast mich um Rat gebeten, und ich habe mich umgesehen. Weiter nichts! Und jetzt bleibt euch und mir nichts anderes übrig, als uns aus der Affäre zu ziehen.« »Von dir weiß keiner etwas!« »Der Saboteur!« »Er hat dich nicht identifiziert!« Sembritzki wiegte nachdenklich den Kopf. »Vielleicht nicht. Vielleicht hat er mich für einen Mann der Bundespolizei gehalten, der aufgrund eines letzten Briefes Thomas Recherchen anstellte!« »Und jetzt?« Sembritzki trat ganz nahe an Landert heran. »Das fragst du mich? Das ist nicht mehr mein Fall, Paul. Längst nicht mehr. Das weißt du genau, und das wißt ihr alle ganz genau! Warum habt ihr die Polizei nicht eingeschaltet?« »Wir haben einen Ruf zu verlieren!« Sembritzkis Lachen klang bitter. »Und andere ihr Leben! Es fragt sich nur, was hier mehr zählt!« »Wir unternehmen alles, Konrad. Das mußt du mir glauben!« »Warum habt ihr dann keine Sicherheitsmaßnahmen getroffen? Warum habt ihr die umliegenden Häuser nicht räumen lassen? Warum laßt ihr eure Reaktoren weiterlaufen? Warum habt ihr das Personal nicht nach Hause geschickt?« »Zu viele Fragen!« Landert wandte sich von Sembritzki ab und starrte wieder in die Nacht. »Nur eine Frage ist für euch von Interesse!« »Welche?« fragte Landert, ohne sich umzudrehen. »Daß die Reaktoren auf keinen Fall stillgelegt werden dürfen!« »Chemische Prozesse können nicht einfach unterbrochen werden!« »Und der Geldfluß auch nicht, Paul!« »Eine Stillegung kostet uns Millionen!« »Ich verstehe!«
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Sembritzki ging langsam zur Tür. »Du kannst im Gästezimmer…« »Nein!« sagte Sembritzki, ohne sich umzuschauen. Doch in der Tür blieb er noch einmal stehen und sagte über die Schulter: »Wenn du weitere Informationen hast…« Aber er sprach diesen Satz nicht zu Ende. Langsam zog er die Tür hinter sich zu. Den Rest der Nacht verbrachte er in einem kleinen Familienhotel in unmittelbarer Nähe des Fabrikareals. Er hatte dieses Hotel schon am Abend gebucht, nachdem er festgestellt hatte, daß von gewissen Zimmern aus das Hauptportal einzusehen war, durch das wohl der größte Teil der Belegschaft zirkulierte. So stand er denn nach wenigen Stunden Schlaf schon um sieben Uhr hinter dem Fenster und beobachtete mit dem Fernglas die Frauen und Männer, die durch den Eingang strömten, und versuchte, aus Haltung, Gesichtsausdruck und Kleidung herauszulesen, wer von diesen vielen Menschen als Anlaufstelle für ein Gespräch in Frage käme. Aber je länger er hinschaute, desto unsinniger erschien ihm sein Vorhaben, auf diesem Weg zu Informationen zu kommen. Er mußte eine Kontaktadresse bekommen, über die er präzise Angaben über Sabotagemöglichkeiten erhalten konnte, jene Angaben, die ihm Landert aus welchen Gründen auch immer nicht liefern wollte. Er benötigte fünf Telefonate, bis er endlich jene Adresse erhielt, die ihm weiterhelfen konnte. Ein Zürcher Freund hatte einen Bruder, der in einem anderen hiesigen Chemiekonzern in leitender Position arbeitete und der sich auch bereit erklärte, sich mit Sembritzki zum Mittagessen zu treffen. Sie kamen gleich zur Sache, obwohl Sembritzki Mühe hatte, aus der freundschaftlichen Atmosphäre, die sich gleich beim Zusammentreffen entwickelt hatte, in ein hartes Gespräch einzusteigen. Der Mann wirkte ganz anders auf ihn, als er erwartet hatte: sportlich, entspannt, sympathisch. Seine hellblauen Augen blickten nicht kalt und unnahbar, sondern lebhaft und spiegelten einen versteckten Sinn für Humor. »Sabotage?« fragte er, ohne nach den Motiven zu fragen, die Sembritzki dieses Thema hatten aufgreifen lassen.
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Und dann sagte er noch einmal: »Sabotage!« Aber diesmal setzte er ein imaginäres Ausrufezeichen hinter das Wort. »Unser Sinn für Sicherheit im Betrieb ist viel ausgeprägter als in irgendeinem Unternehmen. Es gibt keine Sicherheitsvorkehrungen, die nicht in Betracht gezogen würden. Da geht es nicht nur um Menschenleben, sondern auch um unseren Ruf!« Sembritzki schwieg. Er dachte an all die Katastrophen in Chemiewerken, die nicht nur zufällig, sondern zum Teil auch aus Fahrlässigkeit, aus purem Zynismus heraus provoziert worden waren. »Aber Sabotage!« Sembritzki ließ nicht locker. »Ja«, sagte der Mann nachdenklich und steckte sich beinahe hastig eine Zigarette an. »Da sind wir verwundbar. Technische Verantwortung kann delegiert werden, Herr Sembritzki, nicht aber moralische Verantwortung. Wenn in einer chemischen Fabrik beispielsweise Phosgen produziert wird, kann der Chemiker bei Schichtwechsel die Verantwortung für das technische Funktionieren der Anlage seinem Kollegen weitergeben. Aber die Verantwortung, daß durch einen kleinen Eingriff der Kessel mit dem Phosgen zur mörderischen Bombe werden kann, nimmt er mit in seinen Schlaf!« »Schlafen Sie gut?« fragte Sembritzki leise und legte den Löffel weg, den er in die Suppe hatte tauchen wollen. Der Mann ihm gegenüber lächelte irritiert. »Vielleicht habe ich mich an den Gedanken gewöhnt, daß unser Geschäft nicht darin besteht, mit unseren Produkten der Menschheit zu helfen, sondern ganz einfach Geld zu machen.« Sembritzki schaute den andern überrascht an. »Sie meinen auch, was Sie sagen?« »Wer sind Sie denn, Herr Sembritzki, daß Sie mir diese Frage stellen!« Sembritzki tauchte schweigend den Löffel in die Suppe. Sie nahmen den Faden erst wieder auf, als der Kellner die Teller wegräumte. »Sabotage ist also möglich!« sagte Sembritzki und lehnte sich zurück. Der Chemiker nickte. »Auf allen Stufen? In allen Abteilungen?« Wieder nickte der andere.
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»Phosgen!« Sembritzki spuckte das Wort aus wie einen Tabakkrümel. »Phosgen, ja!« »Das war doch ein Kampfstoff im Ersten Weltkrieg!« »Aber noch immer äußerst wirksam!« »Wie meinen Sie das?« Der Chemiker schaute Sembritzki nachdenklich an. »Sie wollen, daß ich einen Fall supponiere?« Sembritzki nickte. »In der Agroabteilung einer Chemiefirma?« Wieder nickte Sembritzki. »Pestizide!« »Pestizide!« sagte der Mann und schaute Sembritzki über den Rand des Weinglases mit einem kleinen Lächeln in den Augenwinkeln an. »Chemische Reaktionen finden üblicherweise in großen Reaktoren statt. Nehmen wir an, daß ein Zwischenprodukt bei der Synthese von Pestiziden einem Oxydationsprozeß unterworfen wird, indem eine Wasserstoffperoxydlösung beigegeben wird.« Sembritzki nickte unsicher. »H2O2 zerfällt in H2O und Sauerstoff!« »Bravo!« sagte der andere, aber Sembritzki überhörte den Spott in dessen Stimme nicht. »Chemie ist keine Hexerei, wenn man gewisse Abläufe stören will. Da reichen sogar ein paar Grundkenntnisse, um die Apokalypse zu provozieren!« »Zum Beispiel?« fragte Sembritzki. »Ein paar Eisenspäne genügen!« »Um die Katastrophe auszulösen?« fragte Sembritzki ungläubig. »Ja. Um eine chemische Grundreaktion auszulösen, die ähnlich einer gewaltigen Bombenexplosion verheerende Auswirkungen haben würde!« »Ein bloßer Oxydationsprozeß, weiter nichts?« »Ja. Der Reaktor würde explodieren. Eine Kettenreaktion, nicht absehbar in ihrer Auswirkung, wäre die Folge. Weitere Reaktoren in derselben Fabrikationseinheit würden zur Explosion gebracht. Brände würden ausgelöst. Und…« Der Mann sprach nicht weiter. Er steckte ein Stück Leber in den Mund und kaute zuerst heftig, beinahe zornig. Doch je länger es dauerte, desto entspannter zeigte sich der Chemiker. Er aß ein zwei-
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tes Stück Fleisch, nahm einen tiefen Schluck Rotwein aus dem Kelch, wischte sich dann den Mund mit der Serviette ab und lehnte sich mit zufriedenem Ausdruck im Gesicht zurück. »Nein, Herr Sembritzki!« Sembritzki hatte sich einen Zigarillo in den Mund gesteckt und seinen Teller weit von sich geschoben. »Nein?« »Wenn ich jeden Tag mit dem Gedanken an solche Kettenreaktionen aufstehen und zu Bett gehen würde…« Wieder sprach er nicht zu Ende. »Dann?« fragte Sembritzki. Aber der andere schüttelte nur den Kopf. »Dann«, sagte er endlich mit verkniffenem Lächeln, »könnte ich nicht einmal mehr dieses Stück Fleisch mit Genuß essen. Entschuldigen Sie!« Er hob abwehrend die Hände. »Lächerlich!« fügte er noch hinzu und ließ die Arme wieder sinken. »Sie schulden mir trotz allem noch den Rest des Satzes, den Sie mit einem ›Und‹ begonnen haben!« »Sie sprechen von den Explosionsfolgen?« Sembritzki nickte. »Häuser im nahen und weiteren Umfeld der Fabrik würden zerstört. Menschen würden von der Explosion zerrissen oder bei lebendigem Leib verbrennen. Und…« »Und?« »Eine tödliche Phosgenwolke würde sich je nach Windrichtung über die ganze Umgebung legen!« »Kein Und mehr?« »Mobilisieren Sie Ihre eigenen Bilder, Herr Sembritzki! Sie kennen die Katastrophen in Oberitalien und in Indien!« »Der mutmaßliche Attentäter wäre aber selbst Opfer seiner Tat!« »Nicht unbedingt! Wenn er seine Flucht minuziös vorbereitet, mag er sich in Sicherheit bringen können, bevor der Druck so angestiegen ist, daß der Reaktor explodiert.« Mehr wurde in der folgenden halben Stunde nicht mehr geredet. Sembritzki fühlte plötzlich einen unerklärlichen Appetit in sich hochsteigen, und auch sein Staunen über die Art und Weise, wie er Reis in sich hineinschaufelte, die Leber zerteilte und den Wein durch
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die Gurgel rollen ließ, wurde immer mehr gedämpft. Er aß und trank schweigend, mit geschlossenen Augen, ein stummer Kauwettkampf mit seinem Partner, der erst, als der letzte Tropfen aus der Flasche gefallen war, noch einmal jene Frage stellte, auf die Sembritzki seit Beginn gewartet hatte. »Warum, Herr Sembritzki?« Sembritzki wußte, was der andere wissen wollte, und trotzdem zögerte er. Er fürchtete sich davor, daß immer mehr Leute jenen Faden in die Hand bekämen, an dem er selbst zu ziehen begonnen hatte, und daß ihm das Heft aus der Hand genommen würde. Mit Verantwortungsgefühl hatte das nichts zu tun, eher mit dem unerklärlichen Bedürfnis, in diesem Augenblick dabeizusein, wenn Weiterbestehen und Untergang sich streiften, jene Atemlosigkeit wenigstens zu fühlen, die sekundenschnell in diesem winzigen Zwischenraum vibrierte. »Warum?« fragte der Chemiker ein zweites Mal. »Warum haben Sie sich mit mir getroffen, ohne diese Frage gleich zu Beginn unseres Gesprächs zu stellen?« wollte Sembritzki seinerseits wissen. »Weil ich mich vor Ihrer Antwort fürchtete, Herr Sembritzki!« »Und jetzt fürchten Sie sich nicht mehr davor?« »Doch. Aber jetzt weiß ich konkret, daß Sie etwas wissen oder zumindest ahnen, das uns alle betrifft!« Sembritzki schüttelte den Kopf. »Hypothesen! Weiter nichts!« »Nein, Herr Sembritzki. Hören Sie auf, den kleinen Gott zu spielen!« »Es betrifft nicht Ihre Firma!« »Selbst wenn das so wäre! Glaubten Sie denn, daß jeder von uns separat seinen eigenen Untergang absolviert? Wir sind zwar Konkurrenten, aber im Untergang sind wir wie mit einer Kette miteinander verbunden!« Sembritzki schwieg. Der Zigarillo hing feucht nach unten. Speichel rann aus seinem rechten Mundwinkel. »Herr Sembritzki, was für Argumente muß ich denn noch bringen?« »Persönliche! Menschliche!«
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Der andere schaute Sembritzki, der verstockt wie ein kleines Kind auf seinem Stuhl hockte, kopfschüttelnd an. »Herr Sembritzki, ich kann ein persönliches, ein menschliches Argument anführen!« »Bitte!« »Mein Schwager arbeitet als Cheflaborant…!« »In der gefährdeten Firma?« Sembritzki unterbrach seinen Tischpartner brüsk. »Ja.« »Wie kann ich Ihren Schwager finden?« »Wie viele Leute wollen Sie denn noch in Ihren Strudel ziehen, Herr Sembritzki?« »So viele wie nötig sind, um eine scheinbar hermetische Infrastruktur aufzubrechen!« Der Chemiker lachte mitleidig. »Da gibt es nichts aufzubrechen, Herr Sembritzki. Da nicht! Da ist Jagdbannbezirk!« Sembritzki erinnerte sich an die Tafel unten an der Aare, wo er sich vor wenigen Tagen mit Landert getroffen hatte. Jagdbannbezirk konnte man da lesen an der Peripherie eines Territoriums, wo ebenfalls wie hier anonyme Fadenzieher am Werk waren, Diplomaten dort, clevere Geschäftsleute hier, die alles taten, um die Außenwelt fernzuhalten. »Verschaffen Sie mir eine Begegnung mit Ihrem Schwager!« Sembritzki war aufgestanden. Seine Serviette lag sorgfältig gefaltet neben seinem Teller. »Er wird sich mit Ihnen in Verbindung setzen. Wie? Wo?« Sembritzki schob einen Zettel mit dem Namen des Hotels und dessen Telefonnummer über den Tisch. »Ich nehme an, daß dieses Essen auf Kosten Ihrer Firma geht!« Sembritzki sagte es lächelnd, nickte seinem Gastgeber kurz zu und ging. Als er im Hotel eintraf, fand er dort eine Nachricht vor, er solle umgehend Landert anrufen. »Konrad!« Sembritzki hörte das Keuchen am andern Ende der Leitung. »Wir wissen jetzt mehr!« »Bedingungen?« »Ja!«
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»Art der geplanten Sabotage?« Landert schwieg. »Ich habe dich etwas gefragt, mein Lieber!« »Nichts Präzises!« »Zum Beispiel Eisenspäne?« Es gelang Landert nicht, einen Schrei der Überraschung zu unterdrücken. »Woher weißt du das?« »Ich habe mich umgehört!« »Bei wem?« »Ich stelle die Fragen, Paul! Welcher Art war die Nachricht?« »Eisenspäne in einer Schachtel.« »Ihr seid euch über die Folgen im klaren?« »Es wird nicht zur Katastrophe kommen, Konrad!« »Das heißt, ihr seid bereit, auf die Bedingungen des Saboteurs einzugehen?« »Was bleibt uns anderes übrig?« »Legt euren Betrieb lahm, Paul. Totaler Stillstand!« »Das können wir nicht!« Sembritzki hatte keine andere Antwort erwartet. »Ihr wollt also die ganze Angelegenheit diskret und vornehm abwickeln?« »Ja.« »Was heißt das?« Landert schwieg. »Das heißt wohl, daß ihr zu zahlen bereit seid. Das erstens. Und zweitens, daß ihr Nachforschungen anstellt, was die Identität des Erpressers betrifft?« Landert schwieg weiter. »Ist es so?« »So ungefähr«, sagte Landert endlich mit gepreßter Stimme. »Ja, so ungefähr«, murmelte Sembritzki verächtlich. »Dabei hast du nur etwas vergessen, mein Lieber. Der mutmaßliche Saboteur und Erpresser, der höchstwahrscheinlich identisch mit jener Person ist, die Thoma mit konzerninternen Informationen beliefert hat, glaubt von mir identifiziert worden zu sein. Darum hat er auch zu diesem letzten Mittel der Erpressung gegriffen, um heil aus der Sache he-
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rauszukommen. Er weiß nicht, daß ihr nicht wißt, wer er in Wirklichkeit ist, und er weiß auch nicht, wer ich bin und daß ich ihn nicht identifiziert habe. Er weiß nur, daß ein Spionageverdacht gegen ihn vorliegt, und deshalb muß er mit dem Einsatz der Bundespolizei rechnen!« Landert schwieg. »Hast du auf diese Feststellung keine Antwort, Paul?« fragte Sembritzki hämisch. »Der Krisenstab hat beschlossen, die Bundesanwaltschaft nicht einzuschalten.« Jetzt schwieg Sembritzki. Landert wartete. Endlich sagte er: »Die Sache wird intern geregelt!« »Eine Handvoll Eisenspäne gegen Verzicht auf Identifikation!« »Und ein paar hunderttausend Franken!« Sembritzki pfiff anerkennend durch die Zähne. »Noch immer billiger als die Einstellung des gesamten Betriebs oder ein Prestigeverlust in der Öffentlichkeit!« »So ist es«, sagte Landert leise. »Ihr rechnet also nicht wirklich damit, daß der Erpresser bis zum äußersten geht.« »Es ist gegen unsere Ideologie, Konrad!« Jetzt lachte Sembritzki laut heraus. »Du verschweigst mir etwas, Paul!« »Halt dich raus, Konrad! Halt dich aus alldem raus!« Sembritzki spürte die Verlegenheit Landerts. »Das ist wohl eine Drohung?« »Versteh mich recht, Konrad! Ich – wir möchten nicht, daß du versuchst, den Erpresser auf eigene Faust zu entlarven! Es steht zuviel auf dem Spiel!« »Für wen, Paul?« fragte Sembritzki spöttisch und legte leise den Hörer auf. Noch einmal griff er zum Telefon und ließ sich mit einem Kollegen in der Botschaft der USA verbinden. Er erkundigte sich nach der Personalliste des Schwesterkonzerns der vom Erpresser bedrohten Schweizer Firma an der amerikanischen Ostküste. Er wollte möglichst bald Namen sehen, Namen von Firmenmitgliedern, die im besonderen mit dem Versand von Enzymen an den Hauptsitz
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beschäftigt waren. Dann setzte er sich ans Fenster seines Hotelzimmers und wartete. Unbeweglich saß er da und starrte auf das weitläufige Areal der Chemiefirma, wo ein Mensch mit einer Handvoll Eisenspäne das Inferno auslösen konnte. Keine Maschine oder keine chemische Substanz ist sicherer als der Mensch, der sie geschaffen oder gefunden hat, dachte er. Als es leise an die Tür klopfte, war Sembritzki überhaupt nicht überrascht. Überraschend war für ihn gewesen, daß der Mann, der sich langsam aus dem Strom von heimwärtsstrebenden Angestellten herausgelöst und dann ohne zu zögern auf Sembritzkis Hotel zugegangen war, so ganz anders aussah, als er sich ihn vorgestellt hatte. Er hatte einen sozusagen sterilen, farblosen Mann erwartet, statt dessen entpuppte sich der Schwager seines unfreiwilligen mittäglichen Gastgebers als malerische Erscheinung, vollbärtig, in salopper Jacke. Das einzige Merkmal, was auf seine Arbeit in hermetisch geschlossenen Räumen hinwies, war seine schneeweiße Gesichtshaut. Auf Sembritzkis Aufforderung trat er schnell und entschlossen ein, sah sich kurz um, nickte Sembritzki zu und setzte sich dann wortlos auf den einzigen Stuhl im Raum. »Ja, es ist möglich, mit einer Handvoll Eisenspänen einen Reaktor zur Explosion zu bringen«, sagte er völlig emotionslos und ungefragt. »Keine Umwege?« fragte Sembritzki und setzte sich auf die Bettkante. »Haben wir Zeit für Umwege, Herr Sembritzki?« fragte der andere zurück. »Die Ewigkeit ist lang!« Aber dieser saloppe Ausspruch Sembritzkis entlockte seinem Gast nicht einmal ein dünnes Lächeln. Statt dessen sagte er ebenso emotionslos wie zuvor: »Die Kühlung kommt nicht mehr nach. Mit anderen Worten: Die Wärme im Kessel steigt durch den irreversiblen Prozeß, der durch die Zugabe von Eisenspänen ausgelöst wird, schneller als vorgesehen. Es entwickelt sich ein ungeheurer Druck, und der Reaktor explodiert wie eine gewaltige Bombe!« »All das weiß ich schon!« »Warum wollten Sie dann mit mir sprechen?«
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Der Bärtige war aufgestanden und zur Tür gegangen. »Können Sie mir die Fabrikationshalle zeigen?« »Sie gehören nicht zur Belegschaft, Herr Sembritzki!« »Lassen Sie sich etwas einfallen!« »Als Betriebsangehöriger können Sie nicht durchgehen!« Der Bärtige stand auf, trat ans Fenster und schaute lange schweigsam auf den Fabrikeingang hinab. Endlich wandte er sich Sembritzki wieder zu. Ein rosaroter Schimmer lag auf seiner bleichen Stirn, und er bleckte die langen Zähne. »Als Vertreter jener Firma, die unsere Behälter…« »Die Reaktoren?« unterbrach Sembritzki. »…die Behälter, Herr Sembritzki!« wiederholte der Mann stur. »Als Vertreter jener Firma, die die Behälter herstellt!« »Ich brauche Ausweispapiere!« »Sie brauchen einen Tagespassierschein. Und den kann ich Ihnen verschaffen!« »Und welches ist meine Identität?« »Deutscher oder Schweizer – Auslandschweizer vielleicht!« Sembritzki lachte in sich hinein. »Und wo liegt das Herstellerwerk?« »Irgendwo in der Schweiz!« Sembritzki überhörte den Spott nicht. »Sagen Sie mir etwas über die Art der Herstellung!« »Die Schweizer Firma wird mit Stahlblech beliefert.« »Warum kein Guß?« »Weil Stahl in bezug auf den Druckanfall knapper berechnet werden kann als Guß!« »Und wie trifft dieser Stahl beim Verarbeiterwerk ein?« »Gewalzt.« »Am Anfang war…?« fragte Sembritzki unbehaglich, weil er sich schämte, auf technischem Gebiet so wenig Kenntnisse zu haben. »Am Anfang ist ein Klumpen Stahl. Stahl wird geschmolzen, dann gewalzt und endlich abgekühlt.« »Und dann wird geliefert!« »Nachdem jedes Stück Blech genau geprüft und dann mit einem Stempel versehen wird, um zu dokumentieren, daß die Prüfung statt-
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gefunden hat und das betreffende Stück Blech im Protokoll wieder identifiziert werden kann.« »Eine todsichere Angelegenheit?« Der Bärtige ließ ein schepperndes Lachen hören. »Todsicher ist nur der Tod, lieber Herr Sembritzki.« »Etwelche Fehler bei der Herstellung werden aber eindeutig identifiziert. Darauf kommt es doch an!« »Ja, darauf kommt es an. Im Blech kann es während des Abkühlungsprozesses zu Blasen kommen, und wenn dann das Blech ausgewalzt wird, wird automatisch die Schicht an der betreffenden Stelle dünner.« »Sie wissen Bescheid«, sagte Sembritzki anerkennend. »Ich habe ein paar Jahre wissenschaftlich bei Thyssen gearbeitet!« Er sagte es nicht ohne Stolz. »Sagen Sie mir noch etwas über die Weiterverarbeitung. Wenn ich mindestens auf den ersten Blick glaubhaft wirken soll, muß ich wenigstens in den Grundzügen Bescheid wissen!« Der Bärtige hatte sich wieder auf den Stuhl fallen lassen. Er fühlte sich sichtlich wohl in der Rolle des Dozenten. »Kurz und bündig. Die angelieferten Stahlblechteile – sie sind viereckig – werden beim Hersteller zur gewünschten Form zusammengeschweißt. Ein Blech als Mantel, ein weiteres als Boden des Gefäßes, ein Flansch oben…« »Flansch?« fragte Sembritzki verlegen. »Verschluß. Ein Flansch oben, einer unten. So ungefähr.« Sembritzki schwieg. Draußen auf dem Flur hörte man Schritte, Türenschlagen. Dann war es wieder still. Graue Schatten krochen über die Wände, und nur die rotglühende Spitze der Zigarette, die sich Sembritzkis Besucher angesteckt hatte, brannte ein Loch in die bleierne Stille. »Kennen Sie Ihre Mitarbeiter und Kollegen persönlich?« fragte Sembritzki endlich. »Alle, die meiner Fabrikationseinheit angehören. Besser oder schlechter.« »Können Sie sich vorstellen, daß einer Ihrer Kollegen zur Sabotage fähig wäre?«
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»Das Zerstörerische hat kein Gesicht, Herr Sembritzki. Und um mich herum sehe ich bei meiner Arbeit nur Gesichter!« »Eine vage Antwort!« »Was für eine Antwort haben Sie von mir erwartet? Verdächtigungen?« Sembritzki zuckte mit den Schultern. »Warum stellen Sie nicht selbst ein paar Überlegungen an, Herr Sembritzki? Gesetzt den Fall, jemand hätte es wirklich auf Sabotage abgesehen, wie würde er sich dann verhalten?« Sembritzki war überrascht, daß ihm der Bärtige im Denken voraus war. »Fahren Sie fort!« sagte er leise. »Ein mutmaßlicher Saboteur würde kaum verheiratet sein. Jedenfalls stelle ich ihn mir kinderlos vor. Die meisten meiner Kollegen wohnen hier in unmittelbarer Umgebung. Ein paar wenige, und dazu gehöre auch ich, wohnen weit außerhalb. Aber gerade für diese Kollegen würde ich die Hand ins Feuer legen. Ich kenne deren Familienverhältnisse, deren Freunde und auch deren Kinder!« »Und die andern?« fragte Sembritzki gespannt. »Ein mutmaßlicher Saboteur wäre also meiner Meinung nach ledig. Und weder seine Eltern noch Geschwister würden im möglichen Katastrophengebiet wohnen!« Sembritzki nickte anerkennend und steckte sich einen Zigarillo zwischen die Lippen. »Im weitern ist nicht anzunehmen, daß solche Mitarbeiter, die bereits ein gewisses Alter erreicht haben – sofern keine Anlagen zu Depression oder abartigem Verhalten festgestellt wurden – als Attentäter in Frage kämen!« »Also?« sagte Sembritzki. »Also ist der Kreis jener, die in Frage kommen, äußerst klein, wenn…« Der Bärtige sprach nicht weiter. Er steckte sich eine neue Zigarette an, schlappte den Rauch tief in sich hinein und stieß ihn dann in einem dünnen Strahl wieder aus. »Wenn?« fragte Sembritzki. »Wenn wir von der Voraussetzung ausgehen, daß der Attentäter in unserer Fabrikationseinheit tätig ist oder überhaupt zur Belegschaft gehört.«
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»Warum sollte er nicht zur Belegschaft gehören?« »Wäre es nicht möglich, daß…« Wieder unterbrach er sich selbst mitten im Satz. »Kann ich von der Voraussetzung ausgehen, daß Ihre Information über eine mögliche Sabotage zuverlässig ist?« »Sie können! Meine Informationen habe ich aus zuverlässiger Quelle.« »Direktionsebene?« fragte der Mann. Sembritzki nickte. »Und keine Sicherheitsvorkehrungen?« fragte er, aber in seiner Stimme klang kaum Verwunderung mit. »Sie kennen die Praktiken in Ihrer Firma besser!« »Ja«, sagte der Mann gedehnt. »So zynisch sind nicht einmal die skrupellosesten Geschäftsleute, Herr Sembritzki. Irgend etwas paßt da nicht zusammen!« »Sie schulden mir noch die zweite Hälfte des Satzes von vorhin!« »Eben. Es wäre doch auch möglich, daß die Sabotagedrohung reiner Bluff ist. Daß irgend jemand von außen die Firma zu erpressen versucht, der weiß, daß mit einer Handvoll Eisenspänen eine Katastrophe größten Ausmaßes ausgelöst werden kann.« Sembritzki schwieg lange. Er war sich unschlüssig, wieviel von dem, was er wußte, er dem Mann, den er kaum kannte, mitteilen sollte. Andrerseits hatte er das Gefühl, in seinem Besucher den einzigen wirklichen Vertrauten zu haben. »So einfach ist es nicht«, sagte er endlich. »So einfach ist es nicht, Herr…?« »Albert!« sagte der andere schnell, und Sembritzki wußte nicht, ob er hier den Vor- oder Nachnamen zu hören bekommen hatte. »So einfach ist es nicht, Herr Albert. Es handelt sich nicht um eine sozusagen reine Sabotagedrohung. Dahinter steht Spionage, Werkspionage!« »Der entlarvte Spion als Saboteur?« fragte Albert. »Eher der Mann, der sich vom eigentlichen Spion Informationen beschafft hat, um sie dann weiterzugeben, und eben dieser Mann glaubt entlarvt worden zu sein!« »Er glaubt es nur?«
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Jetzt erzählte Sembritzki die ganze Geschichte. Er berichtete über sein Zusammentreffen mit der flüchtenden Gestalt auf dem Friedhof, erzählte vom Grabspruch, von Thomas Tod. »Thoma«, sagte Albert nur und zog heftig an seiner Zigarette. »Thoma hat Selbstmord begangen.« »Einwandfrei bewiesen?« fragte Albert. »Ich denke schon«, gab Sembritzki zurück. »Wer sollte denn schon Interesse am Ableben eines Informanten haben, es sei denn, er wäre zum Unsicherheitsfaktor geworden. Und dazu paßt die überstürzte Sabotagedrohung nicht!« »Sie sagen es, Herr Sembritzki. Überstürzt! Natürlich kann jeder meiner Kollegen in unserer Fabrikationseinheit Eisenspäne in den Reaktor schütten. Das ist die einfachste Methode, uns alle hochgehen zulassen. Aber wenn die Firma auch keine sichtbaren Sicherheitsmaßnahmen vorgenommen hat, keine Evakuierung, keine Stillegung der Reaktoren, kein Betriebsschutz, keine Polizei, so hätte sie doch wenigstens unauffällig, wenn das überhaupt möglich ist, unsere Reaktoren bewachen lassen können. Rund um die Uhr! Ich habe keine Leute gesehen, die ich nicht als Kollegen und Mitarbeiter hätte identifizieren können!« »Wie viele Leute bleiben denn noch als mögliche Saboteure in der engeren Auswahl?« »Zwanzig, fünfundzwanzig!« »Morgen also!« sagte Sembritzki. Albert war schon bei der Tür und wandte sich noch einmal um. »Morgen, Herr Sembritzki. Um zehn Uhr hole ich Sie am Fabrikeingang ab.« Sembritzki nickte. »Ein großer Tag morgen, Herr Albert. Meine Pirsch im Jagdbannbezirk und Thomas Beerdigung!« Als Albert gegangen war, stand Sembritzki noch lange am Fenster und schaute in die Nacht hinaus. Um elf Uhr ging er schlafen. Um drei Uhr morgens schrillte das Telefon. Es war sein Kontaktmann aus der amerikanischen Botschaft. In dieser Nacht fand Sembritzki keinen Schlaf.
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Punkt zehn Uhr stand Sembritzki in Mantel, Anzug und Krawatte im Regen vor dem Personaleingang des großen Chemiekonzerns. Ein Tag wie gemacht für Begräbnisse, dachte er und hoffte, daß der geheime Unbekannte, der Saboteur und Erpresser, nicht im umfassenden Sinne dasselbe dachte. Aber die Möglichkeit, daß ein paar Eisenspäne die Reaktoren im Innern der Gebäude zum Explodieren bringen könnten, schätzte auch Sembritzki immer kleiner ein. Der totale Verzicht auf den Einsatz von Sicherheitskräften, der Umstand, daß die Reaktoren nicht stillgelegt worden waren – all das sprach gegen die Möglichkeit eines Attentats. Und doch war da eine dritte Kraft im Spiel, die Sembritzki einfach noch nicht zu orten vermochte. Er wußte zwar, daß das Geheimnis irgendwo zwischen der amerikanischen Ostküste und der Schweiz verborgen war, vielleicht endgültig verschollen, unauffindbar, aber wieviel Zeit ihm blieb, dieses Unbekannte zu finden, war eine andere Frage! »Herr Sembritzki!« Albert, eine dunkelblaue Baskenmütze auf dem Kopf, in olivgrüner Windjacke, einen Schal mit Schottenmuster um Hals und Bart geschlungen, zupfte ihn am Ärmel. »Kommen Sie! Hier ist der Passierschein! Geben Sie sich professionell, beiläufig, uninteressiert freundlich.« »Kein Neuland, Herr Albert«, antwortete Sembritzki grinsend. »Die Kunst des Maskenspiels ist mein tägliches Brot.« »Wer sind Sie?« fragte Albert, und ein Hauch von Mißtrauen nistete sich zwischen seinen buschigen Augenbrauen ein. »Diese Frage kommt zu spät, Herr Albert. Sie hätten sie vorher stellen müssen, als wir noch weniger voneinander wußten!« Albert zuckte nur mit den Schultern, und zusammen betraten sie das Areal, passierten den Pförtner und gelangten dann ebenerdig in eine weitläufige Fabrikationshalle. Sembritzki war überrascht, daß ihn nicht der penetrante Geruch chemischer Lösungen am Wickel packte, daß er nicht eingehüllt wurde in eine Wolke von Dämpfen, schwefelgelb und bleigrau. Er sah eine Reihe von sechs gewaltigen Kesseln, die aus der Decke wuchsen wie Kokons und um die herum sich wie Reptilien gürtei-
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förmige Schläuche ringelten, ein Röhrengewirr, Sichtfenster, Zulaufleitungen. »Das sind die Reaktionsgefäße, Herr Sembritzki«, flüsterte Albert. Er ging jetzt einen halben Schritt hinter seinem Besucher, so daß er ihn flüsternd immer über das, was zu sehen war, informieren konnte. »Und der Rest?« fragte Sembritzki über die Schulter. »Der Rest wovon?« »Da ist doch nur die untere Hälfte des Gefäßes sichtbar.« Albert lachte. Seit er die Halle betreten hatte, wirkte er wie verwandelt. Eine Art von Besitzerstolz schien ihn gepackt zu haben, so, als ob all das, was da blitzte und chromte, ihm gehörte. »Hier unten befinden sich Zu- und Ablauf für Kühlung und Heizung. Auf der oberen Etage wird das Gefäß sozusagen geladen – beschickt mit Chemikalien.« »Sie bemühen sich um Verständlichkeit, Herr Albert!« »Ich rede so mit Ihnen, damit Sie mich verstehen!« »Wieviel Druck hält ein solcher Reaktor aus?« »Wenn ich Ihnen sage, zweihundert oder dreihundert Atmosphären, so ist diese Zahl überhaupt nicht aussagekräftig. Jedenfalls ist der Druck nie so hoch, daß das Reaktionsgefäß aus Stahlblech explodieren könnte.« »Im Normalfall«, flüsterte Sembritzki. Albert nickte. »Welches ist der Normalfall, Herr Albert?« Sembritzki war stehengeblieben und starrte auf eines der Reaktionsgefäße, die aus der Decke hingen. Männer in Berufsschürze, aber auch in ganz gewöhnlicher ziviler Kleidung gingen vorbei, ohne Notiz von ihnen zu nehmen. »Der Normalfall ist, daß der Druck im Gefäß nicht zu hoch ist. Der Normalfall ist, daß das Stahlblech von einwandfreier Qualität ist. Der Normalfall ist, daß die Schweißnähte perfekt verlaufen. Der Normalfall ist ein Gefäß ohne Poren oder Risse!« Ein Telefon schrillte laut. Jemand wurde über einen Lautsprecher in ein Büro beordert. »Der dort«, flüsterte Albert und zeigte mit einer Kopfbewegung auf einen Mann in weißer Berufsschürze, der, an die grüngestrichene
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Wand gelehnt, die beiden beobachtet hatte und erst wegschaute, als ihn Albert aufs Korn genommen hatte. »Was ist mit dem dort?« fragte Sembritzki zurück und zeigte mit ausgestreckter Hand auf einen der Reaktoren, so, als ob ihn ein Problem im Zusammenhang mit den chemischen Vorgängen, die sich im Innern des Stahlblechgiganten abspielten, besonders interessierte. »Das wäre ein möglicher Kandidat für den Posten eines Saboteurs!« sagte Albert ironisch. »Ledig. Fährt angeblich morgen nach Teneriffa. Die Eltern wohnen in Deutschland. Freundin: keine.« »Sie haben Material gesammelt«, sagte Sembritzki anerkennend. »Habe ich«, antwortete Albert und klopfte mit der Hand auf seine Jackettasche. »Ich habe hier eine Liste aller Mitarbeiter in dieser Fabrikationseinheit. Glauben Sie, Sie werden keinen Namen finden, der in Ihr Schema paßt. Und keine Biographie.« »Und der Mann, auf den Sie mich vorhin hingewiesen haben?« »Ist einer unserer Leute, die unter anderem auch mit Überwachungsaufgaben betraut sind. Ein Sicherheitsbeamter, getarnt als Techniker, was er – abgesehen davon – auch ist.« Wieder schrillte das Telefon. Und wieder wurde jemand in ein Büro beordert. Albert und Sembritzki stiegen über eine grüngestrichene Wendeltreppe ein Stockwerk höher. Da oben bot sich Sembritzki wieder dasselbe Bild: sechs Reaktionsgefäße, diesmal jedoch wuchsen sie wie Pilze aus dem Boden heraus. Und als Sembritzki die lange und hohe Halle hinunterblickte, sah er ganz weit am andern Ende seinen halbherzigen Freund Paul Landert. Grau und elegant stand er da und neben ihm der Mann in der weißen Berufsschürze, der kurz vor seiner Abreise auf die Kanarischen Inseln war. Dann ging alles sehr schnell. »Ich gebe die Liste in Ihrem Hotel ab«, flüsterte Albert und war auch schon über die Treppe verschwunden, bevor Sembritzki imstande war, ihm zu antworten. Zwei Männer waren von hinten an ihn herangetreten, hatten ihn diskret, beinahe sanft am Oberarm gepackt und ihm flüsternd befohlen, voranzugehen, immer in die Richtung, die sie mit leichtem Druck an seinem Oberarm anzeigen würden. Sie verließen die Fabrikationshalle durch eine hohe Glastüre, gingen dann durch einen scheinbar unendlich langen, mit Linoleum ausge-
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legten Gang, auf dem ihre Sohlen laut quietschten, und nachdem sie eine Art glasgeschützter Passarelle überquert hatten, die zwei Gebäudekomplexe verband, bedeuteten seine beiden Begleiter, Sembritzki möge vor einer dunkelrot gestrichenen Holztüre einen Augenblick warten, so lange, bis oben ein kleines rundes Lichtlein aufleuchtete. »Darf ich Sie fragen…« Sembritzkis Versuche, ins Gespräch zu kommen, mißlangen. Die beiden Männer, in dunkelbraune Anzüge gekleidet, schwiegen. Sie schwiegen auch noch, als die Türe endlich aufging und Sembritzki ein helles Büro betrat, mit Möbeln aus weißem Metall bestückt, mit Bildern konstruktiver Maler an den hellgrünen Wänden und mit weißen Lamellenstoren vor dem Panoramafenster. Zu sprechen begann jetzt ein Mann hinter dem weißen Schreibtisch mit der Glasplatte. Er zeigte auf einen schwarzen Ledersessel mit Armlehnen aus Chromstahl und lehnte sich dann in seinem hochlehnigen schwarzen Ledersessel beobachtend zurück. Die beiden Begleiter Sembritzkis verließen stumm den Raum. »Herr Sembritzki?« Es war mehr eine Feststellung als eine Frage, die der graumelierte Herr im dunkelblauen Anzug formulierte. Sembritzki nickte kaum merklich. »Darf ich fragen, warum Sie mich wie einen Verbrecher abgeführt haben, und mit wem ich es zu tun habe?« fragte Sembritzki. »Sie sind unter falschen Angaben in unseren Betrieb eingedrungen, Herr Sembritzki!« »Ich habe einen Passierschein!« »Wie haben Sie ihn sich beschafft?« »Durch Beziehungen, Herr…?« Sembritzki schaute sein Gegenüber fragend an, aber er bekam keine Antwort auf die Frage nach dessen Namen. »Sie kennen Herrn Landert?« »Herr Landert kennt mich!« entgegnete Sembritzki lächelnd. »Wo liegt da der Unterschied?« »Der Unterschied liegt darin, daß es Herr Landert war, der sich an unsere Bekanntschaft erinnerte!«
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Der Herr in Blau schaute Sembritzki mißtrauisch an. »Sie haben Geheimdiensterfahrung?« Sembritzki lehnte sich zurück und schloß die Augen. »Was für eine Frage, Herr…?« »Braschler!« »Auch wenn Sie mir jetzt entgegenkommen, indem Sie Ihren Namen – oder mindestens irgendeinen Namen – preisgeben, können Sie von mir quasi als Gegenleistung doch nicht erwarten, daß ich über meine Erfahrungen auf welchem Gebiet auch immer spreche. Abgesehen davon ist ein Geheimdienstmann solange ein Geheimdienstmann, als er nicht Farbe bekennt.« »Sie sind Deutscher, Herr Sembritzki!« »Ich habe die schweizerische Niederlassung. Mein Wohnsitz: Bern!« »Ich könnte Sie unter dem Verdacht der Werkspionage verhaften lassen!« Der Herr im blauen Anzug hatte sich leicht nach vorn gebeugt. Seine Hände spielten mit dem Telefonkabel. »Sie könnten!« sagte Sembritzki gleichmütig. Und dann nach einer Pause fügte er hinzu: »Aber Sie werden es nicht tun!« Braschler, oder wie immer er auch heißen mochte, verzog keine Miene. Er ließ das Telefonkabel los und lehnte sich wieder zurück. »Aha«, murmelte er. Mehr nicht. »Aha!« Sembritzki nickte und schwieg. Braschler zog eine Schublade heraus, griff hinein und legte ein graues Mäppchen auf die Schreibtischplatte aus Glas. Er hob den Blick seiner graugrünen, scheinbar unendlich müden Augen und klopfte mit dem Mittelfinger der rechten Hand ein paarmal auf den grauen Umschlag. »Sie waren fleißig, Herr Braschler«, sagte Sembritzki mit ironischem Lächeln. Er steckte sich einen Zigarillo in den Mund und wunderte sich überhaupt nicht, daß der Mann hinter dem Schreibtisch keine Anstalten machte, Sembritzki mit dem Alabasterfeuerzeug auf seinem Schreibtisch Feuer zu geben. Braschlers Informanten, wer immer die auch gewesen sein mochten, hatten offenbar gute Recherchierarbeit geleistet. Der Beweis dafür war die Tatsache, daß sie Braschler sogar darüber informiert hatten, Sembritzki habe seit
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Jahren die fixe Gewohnheit, in Augenblicken innerer Erregung einen Zigarillo zu kauen, ohne ihn aber auch nur ein einziges Mal anzuzünden. Seit man vor Jahren in Prag mit glühenden Rauchstengeln eine Information aus ihm herauszupressen versucht hatte, hatte er sich das Rauchen abgewöhnt. »Herr Sembritzki, Sie wissen, daß wir Ihre Ausweisung veranlassen könnten!« »Sie könnten«, antwortete Sembritzki auch diesmal. Und wieder fügte er nach einer Pause hinzu: »Aber Sie werden es nicht tun!« »Warum?« Endlich kam die Frage, auf die Sembritzki gewartet hatte. »Herr Braschler, Ihre Firma hat es trotz einer unmißverständlichen Sabotagedrohung unterlassen, Sicherheitsvorkehrungen einzuleiten. Keine Evakuierungen der umliegenden Quartiere! Kein Stillegen der Maschinen!« »Solange die Öffentlichkeit oder die Polizeikräfte über eine Sabotagedrohung nicht informiert sind, gibt es keine Sabotagedrohung! Was nicht publik wird, existiert nicht, Herr Sembritzki!« »Das sagen Sie ohne Gewissensbisse, Herr Braschler?« Zum erstenmal lachte Braschler, wenn auch nur ganz kurz und trocken. »Das Gewissen ist nicht eine Sache von Polizei und Öffentlichkeit. Wir sind uns unserer Verantwortung bewußt. Und wir wissen auch, was wir riskieren können!« »Immerhin benützen Sie das Wort Risiko!« »Ohne Risiko keinen Fortschritt!« »Sie kalkulieren spitz!« »Herr Sembritzki, ohne gefährliche giftige Stoffe kann keine chemische Industrie betrieben werden. Und ohne chemische Industrie würde es uns allen viel schlechter gehen!« »Finanziell?« fragte Sembritzki, obwohl er wußte, wie oberflächlich diese Frage war und auch tönte. »Ach, Herr Sembritzki«, antwortete Braschler nur und versorgte das graue Mäppchen wieder in der Schublade. »Sie leben also gern und gut mit dem Risiko, daß eines Tages, durch welche unglücklichen Umstände auch immer, gefährliche giftige Stoffe aus einem Ihrer Reaktoren entweichen könnten.«
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»Wir sind daran herauszufinden, welche der hochgiftigen Stoffe ersetzbar sind.« »Wenn ich richtig orientiert bin, gibt es sechzigtausend Stoffe. Wie wollen Sie wissen, welche Stoffe in welcher Zusammensetzung überhaupt gefährlich sind?« »Eine Frage der Erfahrung, der Forschung auch!« »Durch Schaden wird man klug«, sagte Sembritzki spöttisch. »Ach, Sie Pharisäer! Laborbedingungen genügen heute doch schon! Wir müssen nicht erst die Welt in die Luft sprengen, um zu wissen, warum sie in die Luft geflogen ist!« »Mit andern Worten, auch diese ominöse Sabotagedrohung findet sozusagen unter Laborbedingungen statt!« »Wir haben nicht auf Sie gewartet, um uns vorschreiben zu lassen, wie wir uns zu verhalten haben, Herr Sembritzki. Ihr Informationsstand ist niedriger als unserer. Deshalb bitte ich Sie, sich aus unseren Angelegenheiten herauszuhalten!« »Eine Bitte?« fragte Sembritzki lächelnd. »Verstehen Sie es, wie Sie wollen«, sagte Braschler kurz. »Sie vergessen, daß meine Informationen anderer Natur sein könnten als Ihre Informationen!« »Was soll das heißen?« Braschler saß ganz aufrecht auf seinem Stuhl. Seine Augenlider waren zwar halb geschlossen, Sembritzki aber fühlte beinahe körperlich den stechenden Blick der graugrünen Augen. »Auch ich habe meine Beziehungen, Herr Braschler!« »Informationenaustausch?« fragte Braschler lauernd und lehnte sich weit nach vorn. »Ein Deal?« Sembritzki lachte laut heraus. »Herr Braschler, Ihr Mitarbeiter Paul Landert hat mich ganz privat um Hilfe gebeten. Das war vor Thomas Tod. Seither fühlt er sich nicht mehr wohl in seiner Haut. Und seit diesem Zeitpunkt sitzen Sie in Ihrer Firma auf einem Pulverfaß. Nur etwas ist eigenartig: Sie unternehmen nichts, rein nichts!« Braschler zuckte mit den Schultern. »Und was folgern Sie daraus?« Sembritzki schwieg lange. Endlich sagte er ganz leise, so daß Braschler sich angestrengt nach vorn beugen mußte, um den Satz
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überhaupt zu verstehen: »Ich folgere daraus, daß Sie, daß Ihre Firma oder mindestens die Konzernleitung, genau wissen, wer der Saboteur ist!« Braschler lachte laut heraus. Täuschte sich Sembritzki, oder hatte dieses Lachen nicht spontan, nicht echt geklungen? »Lächerlich! Wenn wir wüßten, wer der Saboteur ist, hätten wir ihn längst verhaften lassen!« »Es sei denn, der Mann hätte etwas gegen Sie in der Hand. Und dieses etwas hat mit Thomas Tod zu tun!« »Was wissen Sie?« Braschler war aufgestanden, war um den Schreibtisch herumgegangen und stand jetzt unmittelbar vor dem sitzenden Sembritzki. Sembritzki schob seinen Stuhl langsam zurück und erhob sich ebenfalls. »Nein, Herr Braschler! Auch wenn es Ihnen und Ihrer Firma unangenehm ist, wenn ich in Ihren Angelegenheiten herumschnüffle, bin ich nicht bereit, mit Ihnen zusammenzuspannen!« »Es geht nicht um Ihre Bereitschaft, Herr Sembritzki!« Braschlers Stimme klang sachlich. »Ich habe meine Informationen nicht bei mir, Herr Braschler«, sagte Sembritzki freundlich. »Darf ich Sie bitten, mich hinausgeleiten zu lassen?« Braschler griff langsam zum Telefon. Als Sembritzki, von niemandem behelligt, auf das Fabrikareal hinaustrat, war er beinahe überrascht, daß da draußen das stattfand, was man Wetter nannte. Es regnete in Strömen. Der Wind wirbelte dürre Blätter auf, quirlte sie in der feuchten Luft und jagte sie dann mit einem Schlenker über die Mauer, die das Areal umgab. Die Fassaden der makellosen Gebäude waren mit ganzen Wasserspuren überzogen. Erst jetzt wurde ihm bewußt, daß das Gespräch mit dem geheimnisvollen Mann namens Braschler sozusagen unter Laborbedingungen stattgefunden hatte, in einem zartgrünen, von Lamellenstoren abgeschirmten Raum, in den weder Geräusche noch Licht von außen einzudringen vermochten. Ein Tag wie geschaffen für Begräbnisse, dachte Sembritzki wieder, als er im Bus durch den trüben Tag schaukelte. Vor dem Waldfried-
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hof warteten zwei schwarze Limousinen. Der dünne scheppernde Klang des Totenglöckleins quälte sich durch Wind und Nebel. »Endstation.« Das galt wohl auch für Karl Thoma im wahrsten Sinne des Wortes, der sich in seinen Ansprüchen an das Leben und seinen Versuchen, aus weniger mehr zu machen, verheddert hatte. »Endstation!« Das galt aber auch für Sembritzki an diesem Tag und für einen Mann im beigen Regenmantel und mit karierter brauner Sportmütze, der zusammen mit drei alten Frauen und einem Kind in Sembritzkis Rücken den Bus verließ. Hatte Sembritzki ein großaufgezogenes Begräbnis erwartet? Pompöse Kränze, groß wie Wagenräder, eine Kaskade von bunten Herbstblumen in einem monotonen Tag, goldstrahlende Treuebekenntnisse auf schwarzweißem Grund? Herren mit steifen Hüten, und langen, unendlich langen traurigen Gesichtern? Herren mit Handschuhen und schwarzem Seidenfoulard, Frauengesichter hinter sich kräuselndem Schleier? Ein Streichquartett, das aus dem fuchsroten, lackglänzenden Bauch des Cellos jene Molltöne entließ, die den Geigen und der Bratsche die hohen jubelnden Töne entrissen und sie zudeckte, einhüllte, einschlürfte in den vibrierenden Bauch des Instruments, und sie dann verwandelt, gedämpft wieder ausspuckte und schwerfüßig im lastenden Totentanz von Schuberts d-Moll-Quartett davonstampfen ließ? Nichts von alldem. Wo hatte die Witwe den traurigen Flötenspieler aufgetrieben, der aus seinem tropfenden Instrument am offenen Grab zerfransende Tonfolgen preßte? Wo hatte sie kurzfristig die paar gebeugten Frauen im schwarzen Wollkleid unter naßglänzenden Schirmen zusammengetrommelt, wo den kurzgeschorenen, blutjungen Pfarrer, dessen randlose Brille mit vielen kleinen Wassertropfen gesprenkelt war und dem der Nekrolog wie eine Folge zerplatzender Blasen von den Lippen sprang und auch gleich zusammen mit den Regentropfen in der geöffneten Bibel zerfloß? Der Prototyp eines Gefängnispfarrers an einem sogenannten Erstklaßbegräbnis! Aber erstklassig war an diesem Tag nur Paul Landert, der seinen besten schwarzen Anzug angezogen hatte, der ihm aber schwer und feucht auf den Schultern hockte. Und erstklassig war die Witwe in ihrem engen Tailleur, aus dem ganz oben ein kleiner Zahnkranz von Spit-
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zen blitzte. Aber keine Konzernvertreter, von Landert abgesehen, keine Angehörigen, sofern es sich bei den drei alten Damen nicht um Tanten handelte! Und vor allem fehlten die farbsprühenden Kränze! Es ist gut, des sinnlosen Suchens nach der Wahrheit überdrüssig und müde, seine Arme nach dem Befreier auszustrecken. Dieser Satz fiel an diesem regnerischen Tag nicht. Und auch der blutjunge Pfarrer hatte in etwas bemühter Anlehnung an den Apostel Thomas nur einen zweifelnden Satz parat, den dieser etwas abseits stehende Jünger beim Wiedererscheinen des Auferstandenen skeptisch von sich gegeben haben soll: »Reiche deine Finger und sieh meine Hände, reiche deine Hand und lege sie in meine Seite.« Als der Pfarrer diese Worte ausgesprochen hatte und zu deren verwässerter Interpretation ansetzte, fühlte Sembritzki den Blick der Witwe auf sich ruhen. War es ein Lächeln, das über ihr Gesicht glitt, oder war nur durch eine winzige Bewegung des Schirms ein Schatten von einem Mundwinkel zum andern gewandert? Oder hatte das Lächeln gar nicht ihm gegolten, sondern dem Mann im beigen Regenmantel, der anscheinend beschlossen hatte, Sembritzki nicht mehr aus den Augen zu lassen und der jetzt in dessen Rücken den Trauerfeierlichkeiten beiwohnte? Die Beisetzung fand im engsten Familienkreis statt. So würde es am nächsten Tag in der Zeitung stehen, denn die Witwe hatte es augenscheinlich vermeiden wollen, daß Thomas Tod nach außen bekannt wurde, bevor er unter dem Boden lag. Im engsten Familienkreise? Enger war nicht mehr möglich. Die Witwe schien wirklich die einzige Angehörige zu sein, und Sembritzki kam es vor, als ob alle andern Trauergäste, der Pfarrer eingeschlossen, entweder als Beobachter, Bewacher oder Spitzel anwesend wären und im Grunde genommen überhaupt nichts mit dem Mann zu tun hatten, der sich in den Labyrinthen von Spionage und Intrigenwirtschaft nicht genügend ausgekannt hatte und deshalb irgendwo in einem verschlungenen Gang, die letzte Sehnsucht nach Licht und Erlösung im Herzen, erstickt war.
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Als die Witwe mit leicht durchhängender Lippe und beiläufiger Geste nach der Schaufel griff und lehmige Erde in die Grube fallen ließ, wandte sich Sembritzki ab. Das Gemurmel der wenigen Trauergäste, die der Witwe ihr Beileid ablieferten, wurde immer leiser. Nur die Schritte des Mannes in seinem Rucken, dieses saugendknirschende Geräusch auf den weichen Kieswegen, verloren sich nicht. Sie behielten diese leicht verzögerte und abgeschwächte Nähe zu seinen eigenen Schritten und verstummten erst, als Sembritzki vor dem schwarzen Grabstein Melchior Hoppes stehenblieb. Ein paar Regentropfen schossen in bizarren Bahnen über den naßglänzenden Stein, und auch zwei Rosen aus dem offensichtlich frischen Rosenstrauß hingen wie rote kraftlose Samtlappen nach unten. Melchior Hoppe schien einen letzten Besuch bekommen zu haben! Als sich Sembritzki langsam umwandte, sah er seinen Begleiter im Regenmantel im Schutz einer Fichte eng an den Stamm gelehnt in Beobachterpose. »Sie interessieren sich für Friedhöfe?« fragte Sembritzki und tat zwei Schritte auf den Mann zu. »Ich interessiere mich für Sie, Herr Sembritzki!« sagte der Mann gleichmütig. Er machte überhaupt keine Anstalten, seine ihm anvertraute Aufgabe zu vertuschen. »Ein Vasall Braschlers?« Der Mann schüttelte nur leicht den Kopf. »Der Ausdruck Vasall paßt mir nicht!« »Und mir paßt Ihre Begleitung nicht!« »Sie werden sich damit abfinden müssen, solange Sie die Stadt nicht verlassen, Herr Sembritzki!« »Einer ist nicht genug! Einer wie Sie!« sagte Sembritzki zwischen den Zähnen und ging den langen Weg zu Thomas Grab zurück. Aber die Trauergemeinde hatte sich bereits aufgelöst, und nur zwei Arbeiter in graugrünen Mänteln aus glänzendem Ölzeug waren damit beschäftigt, mit einem kleinen gelben Trax lehmige Erde in die Grube zu schaufeln. Als Sembritzki beim Friedhofseingang eintraf, sah er den großen schwarzen Mercedes. Und er sah durch die nasse Scheibe das hellblonde Haar von Frau Thoma. Im Augenblick, als er am Auto vor-
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beigehen wollte, wurde die hintere linke Tür aufgestoßen, Frau Thomas Kopf wurde kurz sichtbar, und er hörte ihre Stimme, die ihn aufforderte, sich bei diesem Regen nach Hause fahren zu lassen. Als Sembritzki schon an Frau Thomas Seite auf dem Rücksitz saß, sah er beim schnellen Blick über die Schulter seinen Begleiter im Regenmantel, der mit hängenden Armen mitten auf der Straße stand. »Nächstenliebe war wohl nicht ausschlaggebend für Ihr Entgegenkommen, mich in die Stadt mitzunehmen«, sagte Sembritzki, ohne sich seiner Begleiterin zuzuwenden. Er konnte ihre linke obere Gesichtshälfte über die Schulter des stummen Fahrers im Rückspiegel sehen. »Warum waren Sie am Begräbnis, Herr Sembritzki?« fragte Frau Thoma. Auch sie schaute geradeaus durch die Frontscheibe. »Friedhöfe faszinieren mich! Vor allem Grabsprüche!« »Auf dem Grab meines Mannes steht kein Grabspruch!« »Aber auf dem Grab Melchior Hoppes, Frau Thoma: Es ist gut, des sinnlosen Suchens nach der Wahrheit überdrüssig und müde, seine Arme nach dem Befreier auszustrecken.« Frau Thoma schwieg. »Wonach suchen Sie, Herr Sembritzki?« sagte sie endlich und wandte sich ihm voll zu. Aber Sembritzki schaute weiterhin geradeaus auf die naßglänzende Straße. »Ich suche nach einem Geheimnis, das irgendwo zwischen der amerikanischen Ostküste und dieser Stadt verlorengegangen ist.« Er sah, wie die Finger in den enganliegenden Lederhandschuhen sich langsam krümmten, dann aber auch schon wieder entspannt auf dem schwarzbedeckten Oberschenkel lagen. »Sie haben etwas zu verbergen, Frau Thoma!« »Was?« Sembritzki zuckte mit den Schultern. »Herr Sembritzki!« Ihre Stimme klang leise, aber bestimmt. »Was immer Sie auch suchen, und was immer Sie auch finden werden, es wird Ihnen nicht weiterhelfen! Sie wissen, daß mein Mann Werkspionage getrieben hat. Und vielleicht wundert es Sie, daß weder die Firma noch die Bundesanwaltschaft etwas unternommen haben. Keine Untersuchungen. Nichts!«
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»Ja, es wundert mich, Frau Thoma.« »Dann lassen Sie es bei diesem sich Wundern bewenden, Herr Sembritzki! Sie haben bereits genug Unheil angestiftet!« Sie tippte dem Fahrer auf die Schulter. Der Mann stieg aus, öffnete den Schlag auf Sembritzkis Seite und bedeutete ihm mit einer Handbewegung auszusteigen. Sie befanden sich irgendwo in einem Außenquartier der Stadt. Sembritzki kannte sich nicht aus. Er stand lange noch am Trottoirrand und schaute in die Richtung, wo der schwarze Mercedes verschwunden war. »Sie haben bereits genug Unheil angestiftet!« Dieser Satz kreiste in seinem Hirn, lange Zeit. Der Regen rann ihm in den offenen Jackettkragen und über das Gesicht. Er wußte, daß er der Lösung sehr nahe war. Im Hotel fand er die Liste mit dem Team in der Fabrikationseinheit der Agroabteilung, die ihm Albert dort zurückgelassen hatte. Sembritzki verbrachte zwei Stunden über den Namen, Daten und Lebensläufen, obwohl er davon überzeugt war, daß sich in dieser Liste kein Name finden lassen würde, hinter dem sich ein Saboteur und Erpresser verbarg. Albert hatte recht gehabt. Der Attentäter gehörte nicht der Belegschaft an, sondern operierte irgendwo an deren Peripherie. Er wußte über die chemischen Prozesse und Abläufe im Betrieb Bescheid oder hatte vielleicht sogar eine Kontaktperson unter den Angestellten. Und er schien irgendeine Information zu haben, mit der er die Firma erpressen konnte. Die Sabotagedrohung war von der Firmenleitung nicht ernst genug genommen worden. Zu schnell schien man sich an höchster Stelle darauf geeinigt zu haben, die Bedingungen, die der Erpresser gestellt hatte, zu erfüllen. Anders war die totale Nachrichtensperre nicht zu erklären. Sembritzki rief Landert in seinem Büro an. »Was hattest du auf der Beerdigung zu suchen, Konrad?« Sembritzki hörte die erregte Stimme jenes Mannes, der ihn vor wenigen Tagen erst um Unterstützung gebeten hatte und der jetzt alles dafür gegeben hätte, wenn all das ungeschehen hätte gemacht werden können! »Neuigkeiten?« fragte Sembritzki, ohne auf die Frage Landerts einzugehen.
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»Neuigkeiten? – Ich bin ausgeschlossen! Ich erhalte keine Informationen mehr!« »Wirst du zu den Sitzungen nicht mehr zugelassen?« »Der Krisenstab ist reduziert worden, Konrad. Alles wird jetzt auf höchster Direktionsebene ausgehandelt. Unter Zuzug von ein paar Spezialisten.« »Spezialisten?« fragte Sembritzki mißtrauisch. »Spezialisten wofür?« »Psychologen, Rechtsanwälte!« »Keine Katastrophenspezialisten?« »Wozu? Kein Mensch spricht mehr von Sabotage!« »Wovon spricht man denn?« »Ich weiß es nicht, Konrad. Von Geld vielleicht!« »Ist der Erpresser identifiziert?« »Es wäre möglich. Aber…« In diesem Augenblick knackte es. Die Leitung war tot. Man hatte Thoma aus dem Verkehr gezogen. Endgültig! Und bald würde auch Sembritzki an der Reihe sein. Er steckte Alberts Personalliste in die Innentasche seiner Jacke. Dann verließ er das Hotel. Von einer Telefonzelle aus rief er Albert im Betrieb an und verabredete sich mit ihm auf denselben Abend. Dann ging er zur Post und ließ sich einen dicken Umschlag aushändigen, der mit dem Vermerk »postlagernd« an ihn adressiert war. Die folgende Stunde verbrachte er in einer rauchigen Kneipe unten am Fluß. Und während er immer hektischer die Seiten eines langen Berichts durchblätterte und in immer kürzeren Abständen nach dem Weinglas griff, bemerkte er trotz der fiebrigen Erregung, die über ihn gekommen war, die beiden Männer, die durch die ebenerdigen Fenster von außen ins Lokal geschaut hatten. Dann waren die beiden Schatten auch schon wieder verschwunden. Eine halbe Minute später betrat ein Mann in dunkelblauer Wolljacke die Kneipe, ging, ohne von Sembritzki Notiz zu nehmen, durch den Raum und setzte sich mit dem Rücken zur Wand an einen leeren Tisch im Hintergrund. Dort hockte er mit aufgestützten Armen scheinbar nur mit sich selbst beschäftigt unter der mit dumpf schwarzem Holz gerahmten Glasvitrine. Da waren eine Reihe von Pokalen und Zinnbechern aufgestellt,
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und aus silbernen Rahmen schauten muskelbepackte Männer, die aufquellenden Arme hinter dem Rücken verschränkt. Ihre weißen Turneranzüge wölbten sich, und die Lorbeerkränze hockten tief auf den viereckigen Schädeln. Als Sembritzki zur Toilette ging, hob der Mann an der Wand kurz seinen Blick. Sembritzki blickte auf die kräftigen Hände, die wie Teller neben dem Bierglas lagen, und sah die riesigen Füße unter dem Tisch, die in weißen Turnschuhen steckten. Ein Sportler! dachte Sembritzki, als er die Toilettentür hinter sich schloß und den Bericht, der ihn in der vergangenen Stunde beschäftigt hatte, hervorholte, in einem Plastikbeutel versorgte, den er auf sich getragen hatte, und diesen dann, nach ein paar schnellen Handgriffen, im Spülkasten der Toilette verstaute. Er fixierte den Deckel wieder und verließ die Toilette. Der Sportler saß noch immer an seinem Tisch. Er hatte unterdessen bezahlt, wie Sembritzki an dem mitten entzwei gerissenen Quittungszettel ablesen konnte. Sembritzki zahlte seinerseits, fegte mit der rechten Hand vier zerstümmelte Zigarillos vom Tisch und ließ sie in die Höhle seiner linken Hand fallen. Einen Augenblick lang schaute er versonnen auf die abgeknatschten Stengel und ließ sie endlich in die Außentasche seiner Jacke gleiten. Dann verließ er das Lokal. Hätte er etwa nicht den verlassenen Uferweg wählen sollen? Die Feuchtigkeit kroch langsam vom Fluß über die steil abfallende Ufermauer zu ihm herauf. Und das Rauschen war jetzt so stark, daß Sembritzki nur mit Mühe die Schritte in seinem Rücken hören konnte. Und dann ging alles sehr schnell und sehr lautlos. Als er in den Schatten einer gewaltigen Trauerweide trat, fühlte er auch schon den schnellen Griff, mit dem eine Gestalt aus dem Dunkel nach seiner Brust und dann nach seinem Hals griff. Und im selben Augenblick stürzte er auch schon unter dem gewaltigen Gewicht des Mannes zusammen, der ihn von hinten angesprungen hatte. Sembritzki fühlte Wolle in seinem Gesicht und dann auch schon eine Hand an seinem Hinterkopf, die ihn, in seine Haare verkrallt, rücklings auf den lehmigen Boden zwang. Und dann waren die Hände des andern Mannes überall, unter seinem Hemd, in seinen Taschen, zwischen seinen Beinen und sogar in seinen Socken und Schuhen.
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Zwei Minuten später waren die beiden schon wieder im Dunkel verschwunden. Alberts Liste hatten sie mitgenommen, hatten ein paar Blätter aus Sembritzkis Taschenkalender gerissen, den sie im zitternden Strahl einer Taschenlampe schnell durchforstet hatten, und auch seine beiden Kugelschreiber war er losgeworden. Gelassen hatten sie ihm das Portemonnaie, einen Taschenkamm, die Armbanduhr mit dem blauen Zifferblatt sowie die vier Zigarillostummel, die sie verkrümelt in seiner Tasche gefunden und ihm zum Abschied wütend ins Gesicht geschmissen hatten. Eine Weile noch blieb Sembritzki, die Arme um die Knie geschlungen, auf dem feuchten Uferweg sitzen, bis ihm die Nässe durch den Hosenboden kroch. Selbst wenn er mit dieser Attacke gerechnet, ja sie sogar auf eine Weise provoziert hatte, war es ihm doch schwergefallen, sich nicht zu wehren, als er die fremden Hände überall an seinem Körper gespürt, man ihn am Hinterkopf gepackt und so in eine Lage gebracht hatte, die jener eines jungen Hundes vergleichbar war, der dem Stärkeren seine verwundbare Weichseite zukehrte. Es war schwer, den Schwachen, das Opfer, zu spielen. Wie ungleich schwerer aber war es, diese Rolle leben zu müssen, so wie es Karl Thoma getan hatte! Als Sembritzki die Kälte über den Rücken schlich und das Rauschen des Flusses scheinbar immer lauter in seinen Ohren klang, hatte er mit einemmal Verständnis für diesen Mann, der, der selbstverschuldeten Rolle des permanenten Opfers müde, aufgegeben hatte, weil er nicht mehr imstande gewesen war, die Ansprüche, die seine Art von Leben stellte, erfüllen zu können. Oder: Ansprüche, die vielleicht nicht einmal seine eigenen gewesen waren! Es ist gut, des sinnlosen Suchens nach der Wahrheit überdrüssig und müde, seine Arme nach dem Befreier auszustrecken. Sembritzki stand endlich auf und kehrte auf Umwegen in die kleine Kneipe zurück, wo er auf der Toilette jene Papiere zurückgelassen hatte, die – so schien ihm – die Schlüssel zu dieser sogenannten Affäre Thoma waren, die scheinbar so harmlos und trivial begonnen und die sich endlich auf eine Weise aufgebläht hatte, daß mindestens für kurze Augenblicke die Möglichkeit einer Umweltkatastrophe größten Ausmaßes gedroht hatte!
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Alberts Papiere konnte Sembritzki gut entbehren. Albert hatte recht gehabt. Eine genaue Auswertung der Liste hatte ergeben, daß der Erpresser und mögliche Saboteur unmöglich Teil der Belegschaft sein konnte, mindestens nicht jener Fabrikationseinheit zugehörig war, die unmittelbaren Zutritt zu den fraglichen Reaktorgefäßen hatte. Die gesuchte Person agierte von außerhalb und hatte auf irgendeine Weise Zugang zum Konzern oder einen Kontaktmann innerhalb der Fabrikmauern. Die Informationen, die Sembritzki von seinem Kontaktmann in der amerikanischen Botschaft erhalten hatte, ließen keinen Zweifel mehr offen. Alberts Mietwagen, ein hellgrüner Ford Fiesta, stand in der Nähe des Stadttheaters. Sembritzki hatte Albert nahegelegt, auf seinen eigenen Wagen an diesem Abend zu verzichten, um mögliche Beobachter irrezuführen. Albert öffnete wortlos die rechte Türe und ließ Sembritzki zusteigen. Kaum hatte dieser seinen Fuß vom Asphalt genommen, schoß der Ford auch schon rückwärts aus der Parklücke. »Ja?« fragte Albert, ohne Sembritzki anzusehen. Sembritzki sah sein kühnes Profil, das wie Flammen auf dem Kopf zügelnde Haar, die helle, fliehende Stirn, die immer wieder vom grellen Licht entgegenkommender Autos, aber auch von Straßenlaternen und Reklamelichtern abwechslungsweise von weißen, gelben und einem Reigen von roten, blauen und grünen Farbsprenkeln besprüht wurde. »Sie hatten recht. Die Personalliste hat nichts hergegeben. Negativ!« »Auch ein Negativergebnis ist ein Ergebnis«, brummte Albert. Sembritzki drehte sich auf seinem Sitz um und schaute über seine linke Schulter durch das Rückfenster. »Keine Verfolger«, sagte Albert gleichmütig. »Ein Negativergebnis? Nur die logische Folge davon, daß wir beide uns perfekt verhalten haben!« Es hatte leicht zu regnen begonnen, und der Scheibenwischer, der mit rubbelndem Geräusch über die Scheibe fuhr, hinterließ konzentrisch halbkreisförmige Schlieren. »Wohin jetzt?« fragte Albert. »Nirgendwohin, Albert.«
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Albert nickte. Er hatte verstanden. Nach zehn Minuten Fahrt schaltete er plötzlich die Scheinwerfer aus und bog brüsk rechts ab. Sie befanden sich jetzt bereits außerhalb der Stadt, fuhren wie ein Geisterfahrzeug durch die Nacht, links, rechts und kamen endlich am Rand eines kleinen Wäldchens zum Stehen. Nicht einmal hatte es Sembritzki mit der Angst zu tun gekriegt. Der Mann am Steuer hatte Laseraugen! »Und?« Albert wandte sich zum erstenmal Sembritzki zu. »Ich glaube, den Erpresser zu kennen!« »So?« sagte Albert nur. »Thoma wurde erpreßt! Er hatte mit einem Kollegen von eurem amerikanischen Schwesterkonzern ein Ding gedreht. Die Firma zahlte für Sendungen, die niemals wirklich hier eingetroffen waren. Und das Geld teilten sich die beiden Fadenzieher diesseits und jenseits des Atlantiks!« »All das haben Sie mir bereits einmal erzählt, Herr Sembritzki!« »Ich weiß. Ich brauche Anlauf, um meine Schlußfolgerungen stützen zu können. Thoma hatte also Geld angehäuft. Doch eines Tages wurde er plötzlich erpreßt. Irgend jemand hatte von diesen Unregelmäßigkeiten erfahren und Thoma gedroht, ihn zu denunzieren, wenn er sich nicht bereit erkläre, hochbrisantes fabrikinternes Forschungsmaterial an diesen unbekannten Erpresser weiterzugeben!« »Und gleichzeitig verschwand jenseits des Atlantiks jener Mann von der Bildfläche, mit dem Thoma seine trüben Geschäfte angeleiert hatte!« ergänzte Albert und klaubte eine Zigarette aus einer verknautschten Packung. Mit Zeigefinger und Daumen strich er den krummen Rauchstengel glatt und steckte ihn endlich zwischen die Lippen, ohne ihn anzuzünden. »Feuer?« fragte Sembritzki, aber Albert schüttelte den Kopf. »Zigaretten oder Zigarillos zu kauen ist keine schlechte Sache«, murmelte er leise lachend. Jetzt holte auch Sembritzki einen Zigarillo hervor, und lange Zeit saßen sie stumm und knatschend nebeneinander. »Der Mann jenseits des Atlantiks!« sagte Albert endlich. »Ja, der Mann jenseits des Atlantiks!« antwortete Sembritzki. »Und?« fragte Albert.
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»Ein Mann mit einer reichen Biographie. Und vor allem mit einer gefälschten Biographie. Ich habe mir über eine Vertrauensperson Informationen über diesen Mann geben lassen. Dabei hat sich herausgestellt, daß die offiziellen Angaben bezüglich seines Herkommens sich nicht mit jenen Informationen deckten, die das FBI von diesem Mann hatte. Doch die beiden Informationen wurden erst im Augenblick verglichen, als der Mann untertauchte.« »Und?« sagte Albert ein zweites Mal, warf die abgeknatschte Zigarette durch das offene Wagenfenster und spuckte gleichzeitig, begleitet von einem explosiven Zungenschnalzen, eine Tabakkugel in die Nacht. »Das FBI war schon lange hinter diesem Mann her!« »Spionage?« Sembritzki nickte. »Werkspionage! Und im Falle Thoma als Lockvogel eingesetzt, als Strohmann im Schwesterkonzern!« »Und?« fragte jetzt Albert ein drittes Mal und kurbelte die Scheibe wieder hoch. »Interessant für uns war die Beantwortung der Frage, mit wem dieser Mann in Amerika Kontakte hier in der Schweiz hatte!« »Und diese Frage wurde beantwortet?« Sembritzki zuckte mit den Schultern. »Nicht direkt. Indirekt schon. Unser Mann in Amerika war fünf Jahre mit einer gewissen Irmgard Rosen verheiratet!« »Der Name sagt mir nichts, lieber Sembritzki!« »Warum sollte er auch. Mir auch nicht. Bis ich dann hier auf dem Einwohnermeldeamt zusätzliche Informationen ergatterte!« »Das heißt, Sie haben Irmgard Rosen identifiziert?« Sembritzki nickte. »Die Frau stammt aus der DDR, lebt aber schon über fünfzehn Jahre diesseits des Eisernen Vorhangs. Zuerst in der Bundesrepublik, dann in den USA, wo sie unseren Mann in Amerika heiratete. Fünf Jahre später wurde die Ehe aufgelöst. Die Frau war jetzt Amerikanerin, kehrte aber nach Europa zurück, war zuerst als Sekretärin in London tätig, dann als Mitarbeiterin der PR-Abteilung in einem französischen Pharmakonzern, wo sie ihren zweiten Mann kennenlernte.«
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»Thoma!« murmelte Albert, dessen Stimme überhaupt nicht überrascht klang. Sembritzki nickte. »Er besuchte geschäftlich die Firma, in der Irmgard Rosen arbeitete. Die beiden verbrachten wahrscheinlich einen intimen Abend. Und ein halbes Jahr später, nach einer kurzen, aber heftigen Wochenendliebe, wurde aus Irmgard Rosen Frau Thoma.« »Und sie war es, die Thoma erpreßt hat?« »Etwas anderes ist nicht vorstellbar, selbst wenn es ungeheuerlich klingt!« Albert nickte. »Sie hat ihre Kontakte zum Mann in Amerika gar nie abgebrochen!« »Wahrscheinlich. Es war eine reine Interessenverbindung, die die beiden damals in den Vereinigten Staaten eingegangen sind. Und auch die Trennung fand nur auf dem Papier statt. In Wirklichkeit blieben die beiden ein äußerst erfolgreiches Paar!« »Und Thoma hat die ganze Zeit über nicht gewußt, wer ihn erpreßt?« fragte Albert. Diesmal lag Verwunderung in seiner Stimme. »Es ist anzunehmen. Denn seine Frau war es, die ihn dazu brachte, über seine Verhältnisse zu leben. Sie provozierte einen Lebensstandard, den Thoma trotz guter Bezahlung im Konzern aus eigenen Mitteln nicht mehr bestreiten konnte. Und bei einem Geschäftsbesuch in eurem Schwesterkonzern in den USA muß er dann mit Irmgard Rosens Ex-Mann in Kontakt gekommen sein!« »Und dann Informationen gegen Stillschweigen!« »Thoma hat wahrscheinlich seine Frau gar nie über seine Manipulationen aufgeklärt, obwohl es ja gerade sie gewesen war, die alles eingefädelt hatte.« »Eine Graburne als toter Briefkasten!« lachte Albert, aber sein Lachen klang traurig, eher wie ein rastender Seufzer. »Der Grabspruch hat die Zusammenhänge geklärt, Albert!« »Geklärt!« Wieder ließ Albert sein gequältes Lachen hören. »Wer war der Mann auf dem Friedhof?« »Es war Thomas Frau. Etwas anderes ist nicht möglich. Sie kann keinen Vertrauten in der Firma haben!« »Und die Sache mit den Eisenspänen?«
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»Dazu braucht es keine Kenntnisse. Entweder hat ihr Mann ihr von dieser Sabotagemöglichkeit erzählt oder ihr Ex-Mann in den USA!« »Warum aber die Erpressung? Warum die Sabotagedrohung?« »Ich kann mir nichts anderes vorstellen, als daß Irmgard Rosen – oder eben Irmgard Thoma – in einem Männerregenmantel und mit einem Männerhut auf dem Kopf das ominöse Grab beobachtete, wo ihr Mann jeweils die Informationen deponierte. Sie wollte herausbekommen, ob ihr Mann vor seinem Selbstmord ausgepackt hatte.« »Er hat nicht«, brummte Albert lakonisch. »Nein. Familienehre war ein Begriff, über den er nicht hinwegkonnte! Aber als Irmgard Thoma mich am Grab herumhantieren sah, als sie feststellte, daß ich die Urne und vor allem den Deckel genau untersuchte, mußte sie annehmen, ich sei von der Polizei oder der Bundesanwaltschaft. Und aus einer Kurzschlußreaktion heraus hat sie mit Sabotage gedroht. Wenn ihr mich nicht in Ruhe laßt, sprenge ich euren ganzen Konzern in die Luft!« Sembritzki, der sich während des Erzählens angestrengt immer weiter nach vorn gebeugt hatte, sank aufatmend in seinen Sitz zurück. Er kurbelte die Scheibe auf seiner Seite herunter und atmete die feuchte Luft tief ein, die langsam den Geruch von Schweiß, feuchter Wolle und Tabak verdrängte. »Niemand konnte wissen, daß sie diese Drohung nicht in die Tat umsetzen konnte, weil sie gar keinen Zutritt zur Fabrikationshalle hat!« »Und trotzdem stellte unsere Direktion die Nachforschungen sofort ein! Und bald einmal wurde klar, daß man in der Konzernleitung auch gar nie mit der Sabotage wirklich gerechnet hatte.« Lange Zeit sprachen beide kein Wort mehr. Ihr Atem, der durch die Nasenlöcher und den halboffenen Mund schoß, war als scharfer weißer Strahl zu sehen, der sich an der Frontscheibe brach. Sembritzki kurbelte das Fenster wieder hoch und wartete, bis sie beide, eingepackt, gefangen von den sich langsam beschlagenden Scheiben, wie in einem Behälter aus Milchglas saßen. Eine vibrierende Atmosphäre von Nähe entstand, die beide irritiert zur Kenntnis nahmen und doch nicht wußten, wie zurückfinden in die kühle, sachliche Analyse. »Was ist es?« würgte Albert zusammenhanglos heraus. »Ja, was ist es?« sagte Sembritzki ebenso unvermittelt.
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»Frau Thoma erpreßt die Firma, so wie sie zuvor ihren Mann erpreßt hat.« »Aber es ist kaum anzunehmen, daß der Gegenstand der Erpressung identisch ist. Sie hat bald bemerkt, daß sie nicht identifiziert ist. Nicht identifiziert, das heißt, nicht öffentlich identifiziert. Sie weiß, daß ich ihr einziger wirklicher Gegner bin. Gegen mich hat sie nichts in der Hand, aber gegen die Firma ihres verstorbenen Mannes!« »Was?« fragte Albert, ohne eine Antwort zu erwarten. »Ja, was! Das ist eine Frage, die du beantworten könntest!« Sembritzki war es gar nicht aufgefallen, daß er vom Sie zum Du gewechselt hatte. Albert schwieg, die rechte Hand in seinen Bart verkrallt. »Warum fragst du die Witwe nicht selbst?« wandte er sich endlich an Sembritzki. Auch er hatte nahtlos zum Du gefunden. Es war bereits halb elf Uhr, als sie vor der Villa der Thomas eintrafen. Das zwischen ausladenden Kastanienbäumen halb versteckte Haus mit dem schwerlastenden Walmdach lag ganz im Dunkel. Nur ein einziges Fenster im Erdgeschoß war erleuchtet. Als Sembritzki auf die Türklingel drückte, fuhr er erschrocken zusammen beim voluminösen Dreiklang, der durch das ganze Haus dröhnte. Kein Erschrecken, keine Angst und überhaupt keine Überraschung waren auf dem Gesicht zu sehen. Frau Thoma, in eine weiße Bluse und einen weiten schwarzen Seidenrock gekleidet, lächelte sogar ein wenig, als sie Sembritzki erkannte. »Bitte!« Sie fragte nicht, warum er zu dieser Zeit Eintritt verlangte, noch schaute sie über seine Schulter in die Nacht hinaus, um festzustellen, ob da noch jemand im Dunkel lauere. »Sie kommen spät!« »Halb elf. Ich dachte, eine Frau wie Sie…!« »Ich meine nicht die Uhrzeit, Herr Sembritzki!« unterbrach sie ihn schnell. »Ich meine nur, daß es lange gedauert hat, bis Sie den Weg hierher gefunden haben!« Sembritzki sah die Frau überrascht an. Sie hatte ihn also erwartet. Und somit war sie nicht mehr zu überrumpeln. Sie wußte vielleicht mehr vom ihm als er von ihr.
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»Bitte!« Der Raum, in den sie ihn führte, war nicht sehr groß. Er wurde von einem eleganten Empireschreibtisch dominiert, der vor einer mit stahlblauen Vorhängen drapierten Nische stand. Und auf diesen Schreibtisch ging sie denn auch zu, setzte sich dahinter und bedeutete Sembritzki, auf einem zerbrechlich wirkenden, mit goldblauem Muster bezogenen Sesselchen Platz zu nehmen. Souverän hatte sie die Gesprächsproportionen festgesetzt. Sembritzki fühlte das fragile Möbel unter seinem Hintern, das ihn daran hinderte, sich in die Position des Inquisitors zu begeben. Sie war die dominierende Figur in diesem Gespräch, das allerdings ganz anders verlief, als Sembritzki es sich vorgestellt hatte. »Ja«, sagte sie, bevor er überhaupt eine Frage gestellt hatte und lehnte sich so weit zurück, daß das Licht der Tischlampe ihr Gesicht nicht mehr direkt traf. »Warum?« fragte Sembritzki zurück, der ihr knappes Zugeständnis richtig zu deuten wußte. »Ach, Motive, Herr Sembritzki!« Sie lachte leise, eher traurig als belustigt. »Was meinen Sie, warum die Psychologen und Psychiater heute so gefragt sind!« »Und?« Sembritzki hatte sich aus seiner starren Lage befreit. Er war aufgestanden und lehnte gegen das Büchergestell, das die ganze Wand dem Schreibtisch gegenüber einnahm. »Ich reise ab. Das Haus ist schon verkauft. Meine Zukunft ist geregelt!« »Diesseits?« Sie runzelte nur einen Augenblick lang irritiert die Stirn. Dann schüttelte sie ganz leicht den Kopf und sagte lauter, als es die Situation erfordert hätte: »Wenn Sie den Eisernen Vorhang meinen…« Sie brach mitten im Satz ab. Sembritzki nickte. »Ich meine den Eisernen Vorhang!« Sie zuckte mit den Schultern und schwieg. »Und keiner hindert Sie daran abzureisen?« »Keiner! Auch Sie nicht, Herr Sembritzki! Oder sollte ich mich vor Ihnen fürchten?«
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Sembritzki tastete in der Jackentasche nach einem Zigarillo. »Sie hatten Angst! Damals auf dem Friedhof!« »Angst?…« Sie schien zu überlegen. »Sonst hätten Sie nicht überstürzt die Firma mit der Sabotagedrohung erpreßt!« »Sie haben mich nicht erkannt, damals auf dem Friedhof, Herr Sembritzki!« »Nein! Aber das konnten Sie nicht wissen. Sie trugen damals den Mantel und Hut Ihres Mannes. Mantel und Hut hängen noch immer in der Garderobe. Und sie hingen schon bei meinem ersten Besuch dort draußen!« »Möchten Sie etwas trinken?« Sie vermied es, auf Sembritzkis Feststellungen einzugehen. »Ich bin im Dienst, und im Dienst trinke ich nicht«, erwiderte Sembritzki spöttisch. »Nein, Herr Sembritzki. Ich habe Sie nur empfangen, weil Sie als Privatmann gekommen sind. Und weil Sie nichts ausrichten können! Trinken Sie! Der Whisky steht hinter Ihnen im Büchergestell!« »Womit haben Sie die Firma erpreßt, Frau Thoma?« Der Zigarillo im rechten Mundwinkel zeigte steil wie ein Ausrufezeichen nach oben. »Nein, Herr Sembritzki. Keine Details! Warum sollte ich Sie auch informieren? Jeder Konzern ist erpreßbar. Jeder! Suchen Sie sich eine Möglichkeit aus!« »Aber Erpresser sind nicht vor dem Zugriff der Polizei geschützt!« »Da täuschen Sie sich! Wenn die Firma erpreßbar ist, ist auch der Erpresser geschützt, aus dem einfachen Grund, weil es sich keine Firma leisten kann, gewisse Manipulationen an die Öffentlichkeit dringen zu lassen!« »Kein Chemiekonzern kann es sich leisten, auch nur die geringste Unregelmäßigkeit zuzulassen, Frau Thoma! Niemand ist so verletzlich wie die Chemiekonzerne oder Atomkraftwerke!« »Eben!« »Verletzlich, was Sabotage betrifft!« sagte Sembritzki und schaute die Frau hinter dem Schreibtisch irritiert an.
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»Aber nur, weil eine Katastrophe, die durch einen Eingriff von außen ausgelöst werden kann, auch jederzeit ohne fremdes Zutun eintreten kann!« »Nirgends sind die Sicherheitsvorkehrungen größer als in der Chemie.« Sie nickte. »Jedes Sicherheitssystem ist so gut wie die schwächste Stelle im Kreis jener, die es zu verantworten haben!« Sembritzki schwieg. Er wußte, daß sie recht hatte. »Warum fühlen Sie sich so sicher, Frau Thoma? Anzunehmen, daß die Verantwortlichen des Konzerns aus welchen Gründen auch immer sich bereit erklärt haben, Ihren Rückzug zuzulassen. Weder Ihre Spionagetätigkeit aufzudecken, noch sich zu weigern, eventuellen Geldforderungen nachzukommen!« »Eventuellen Geldforderungen! Schön formuliert, Herr Sembritzki!« »Woher die Sicherheit, Frau Thoma? Noch einmal! Nicht alle Leute sind korrupt oder korrumpierbar! Einer wird reden! Irgendeiner!« »Jeder ist erpreßbar, Herr Sembritzki! Auch der sogenannte kleine Alltagsheld! Auch Sie!« Sembritzki biß seinen Zigarillo mitten durch und ließ ihn auf den blauen Teppich fallen. »Erpreßbar durch die soziale Stellung!« fuhr die Frau fort. »Keiner kann es sich leisten auszupacken, weil er sonst nicht damit rechnen kann, je wieder irgendwo eingestellt zu werden. Weder bei der Konkurrenz noch bei irgendeiner artverwandten Firma. Die Loyalität ist eine Frage der Angst, Herr Sembritzki! Des Überlebensinstinkts!« »Ich werde herausfinden, was den Konzern so erpreßbar macht!« Sie lachte und stand auf. »Was immer Sie auch aufdecken werden, es wird nicht mehr sein als eine Luftblase, die im Augenblick, wenn Sie sie berühren, auch schon platzt! Leben Sie wohl, Herr Sembritzki! Klugheit ist keine Eigenschaft, die Sie heute weiterbringt!« Sembritzki schaute mit leisem Kopfschütteln auf die Frau, die groß und blond vor dem stahlblauen Vorhang stand. Doch sein Kopfschütteln galt nicht der Souveränität, mit der sie die Situation beherrschte,
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oder dem, was sie da gesagt hatte, sondern dem Gefühl von Ohnmacht, das in ihm hochstieg. »Was haben Sie vor, Frau Thoma?« »Leben, Herr Sembritzki. Leben! – Bis zu dem Tag, wo die Bombe trotz allem doch einmal in dieser Welt von Opfern losgehen wird. Hier! Dort! – Keine Reaktorwand ist dick genug! Die dünne Stelle ist es!« Jetzt wandte sich Sembritzki wortlos der Tür zu und ging, ohne sich noch einmal umzusehen, hinaus. Es regnete nicht mehr. Wind war aufgekommen und hatte die kompakte Wolkendecke zerrissen. Albert war am Steuer des Autos eingeschlafen. Als Sembritzki sich neben ihn setzte, wandte er kaum den Kopf. »Und?« fragte er mit geschlossenen Augen. »Nichts!« antwortete Sembritzki. Er hatte die Hände tief in die Taschen seiner Lederjacke gesteckt und den Kopf eingezogen. »Wohin?« fragte Albert. Es dauerte lange, bis Sembritzki endlich antwortete. »Wie gut kennst du dich in der Firma aus, die die Reaktoren liefert?« »Hast du einen Verdacht?« »Die dünne Stelle ist es, hat sie gesagt!« »Die dünne Stelle im Reaktor?« Sembritzki nickte. »Wie sicher sind die Prüfungsverfahren, Albert? Wer garantiert uns, daß das gelieferte Stahlblech überall die erforderliche Dicke hat?« Albert lachte ein dünnes Lachen. »Ich habe dir erzählt, daß alles genau geprüft wird. Daß schon im Stahlwerk minuziöse Kontrollen gemacht werden, um festzustellen, ob das Stahlblech die erforderliche Dicke hat. Und daß auch in der Fabrik, wo die Reaktoren hergestellt werden, nochmals genauso pingelig nach Fehlern gesucht wird!« Sembritzki nickte. »Keine Fälschungsmöglichkeiten?« Albert zuckte mit den Schultern. »Gibt es Gründe irgendwelcher Art, daß nicht einwandfreies Material zur Verarbeitung kommt?«
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Albert dachte lange Zeit nach, bevor er endlich leise sagte: »Es gäbe Gründe. Wenn zum Beispiel bei der Materialkontrolle festgestellt würde, daß eine oder zwei gelieferte Reaktoren wegen geringer Materialfehler nicht einsatzfähig sind!« »Es käme zu Produktionsverzögerungen?« hakte Sembritzki ein. Albert nickte. »Normalerweise werden die Liefertermine sehr spitz kalkuliert. Nehmen wir an, die Reaktorhalle, eine neue Reaktorhalle, steht montagebereit da. Das heißt, es müssen nur noch die bestellten Reaktoren montiert werden.« »Und diese gelieferten Reaktoren sind nicht einwandfrei«, fuhr Sembritzki fort. »Das würde eine gewaltige Verzögerung des ganzen neuen Programms bedeuten.« »Millionenverluste!« sagte Albert leise. »Millionenverluste«, sagte auch Sembritzki und schlug mit der rechten Hand wütend auf das Armaturenbrett. »Wann wurde diese Reaktorhalle gebaut?« »Vor drei Jahren«, antwortete Albert. »Warst du da schon im Betrieb oder noch bei Thyssen?« »Ich war schon hier.« Sembritzki schwieg. Er wußte, daß die Chance, auch nur von weitem an den neuralgischen Punkt heranzukommen, sehr klein war. Und doch! »Hast du noch irgend jemanden in den Herstellerwerken, dem du ganz vertraust?« Albert schaute Sembritzki überrascht an, aber dieser starrte unbewegt geradeaus. »Nicht bei Thyssen, Sembritzki! Aber im Reaktorherstellerwerk. Da ist ein Mann, der der internen Prüfungskontrolle der Firma angehört!« »Das heißt, er hat Zugang zu den Prüfungsergebnissen des Herstellers. Er weiß, wenn irgendwelche Teile nicht einwandfrei vom Walzwerk geliefert wurden oder wenn es innerhalb der eigenen Firma zu Fehlern bei der Montage gekommen ist.« Albert schüttelte den Kopf. »Er gehört einer Prüfungskommission an, das ist alles. In manchen Fällen besteht diese Prüfungskommission aus Vertretern aller Firmen, die mit dem Endprodukt zu tun ha-
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ben. Oft aber verläßt sich der Verarbeiter auf die Prüfungsergebnisse des Herstellers.« »Aber eine Chance besteht, daß er Bescheid weiß?« fragte Sembritzki ungeduldig. Albert nickte. »Eine minimale Chance!« Sembritzki drehte den Kopf und blickte schweigend auf seinen Partner, der aber seinen Kopf nicht ihm zuwandte, sondern jetzt seinerseits verbissen in die Nacht starrte. »Ruf den Mann an, Albert!« »Jetzt? Weißt du, wieviel Uhr es ist?« »Ich weiß es, Albert. Es ist fünf vor zwölf!« »Doppelbotschaften haben die fatale Eigenschaft, überladen zu wirken und falsch zu tönen, lieber Sembritzki«, sagte Albert laut. Sembritzki war beschämt, weil ihn der andere, ein Tüftler und Wissenschaftler, dabei ertappt hatte, wie er sich auf dem Gebiet, das er als sein ureigenes betrachtete, auf dem Gebiet von Sprache und Bild, vertan hatte. »Tut mir leid«, murmelte jetzt Albert und berührte schnell und kaum merklich Sembritzkis Unterarm. Dann drehte er die Zündung und ließ den Wagen beinahe geräuschlos in die Nacht hineinrollen. Beim Blick über die Schulter sah Sembritzki noch einmal das einzig erleuchtete Fenster in Thomas Villa, dann schoben sich die ausladenden Äste der Kastanienbäume davor. Schweigend fuhr Albert zurück ins Zentrum, bis er vor einer Telefonzelle brüsk anhielt. Es dauerte lange, bis er endlich im Telefonbuch den richtigen Adressaten gefunden hatte, und noch länger dauerte das Gespräch, das Sembritzki als Schattenriß mitverfolgen konnte: die durch die Brechung des Lichts sich aufblähenden Gesten, wenn Albert die Hände zu Hilfe nahm, um seinen Worten mehr Gewicht zu geben, und der wiederholte Griff in die Jackettasche, wo Albert das Kleingeld zusammenklaubte, um den gefräßigen Apparat zu füttern. »Morgen«, sagte er, als er sich endlich wieder schwer neben Sembritzki auf den Fahrersitz fallen ließ. Und dann noch einmal: »Morgen!« »Morgen?«
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»Wir treffen ihn morgen!« »Und?« »Er kann sich an Details nicht erinnern. Das einzige, was ihm morgen zu tun bleibt, ist, protokollierte Prüfungsergebnisse der uns interessierenden Reaktoren zu checken!« »Die Chancen stehen eins zu tausend!« »Eins zu tausend?« Albert gab ein schepperndes Lachen von sich. »Wir haben nur dann eine Chance, wenn zum ersten überhaupt eine Unregelmäßigkeit vorgekommen ist und wenn diese Unregelmäßigkeit zudem noch die Reaktoren der Fabrikationseinheit betrifft, die wir meinen!« »Die zweite Möglichkeit liegt nahe, Albert. Dort hätte die Sabotage stattfinden sollen, und wenn im Ganzen auch nur eine so versteckte heimtückische Logik verborgen ist, werden wir die neuralgische Stelle in diesem Bereich ausmachen können.« »Morgen!« sagte Albert noch einmal, als ob er damit einen Riegel vorschieben könnte, Distanz gewinnen zu einer Sache, mit der er je länger desto weniger zu tun haben mochte. »Morgen«, sagte Albert jetzt ein letztes Mal, als sie vor Sembritzkis Hotel angekommen waren. »Ich rufe dich an!« Und dann verschwand er auch schon in der Kurve. Sembritzki fand in dieser Nacht keinen Schlaf. Zweimal ließ er sich mit Frau Thoma verbinden, aber der Nachtportier meldete, daß niemand den Hörer abnehme. Das konnte bedeuten, daß sie entweder tief schlief, den Stecker aus der Wand gezogen hatte oder daß sie bereits abgereist war! Aber je länger er über Frau Thoma nachdachte, desto unwichtiger erschien ihm diese Frau. Sie war es nicht, der die eigentliche Jagd galt, sondern sie hatte nur einen Stein ins Rollen gebracht, der einen ganzen Bergsturz zur Folge zu haben schien! Gegen vier Uhr erst fiel Sembritzki in einen unruhigen Schlaf, aus dem er immer wieder aufschreckte und zum Telefonhörer griff. Aber die Leitung blieb stumm. Erst um elf Uhr vormittags, als Sembritzki noch immer im Bett lag, starr auf dem Rücken, die Augen geschlossen, kam Alberts Anruf. »Nach Feierabend!« sagte er nur und gab dann noch einen Treffpunkt an, der außerhalb der Stadt nur mit einem Vorortzug zu errei-
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chen war. Sembritzki wußte Bescheid. Albert hatte es mit der Angst zu tun gekriegt. Er hatte gemerkt, daß er überwacht wurde, und brauchte Zeit, seine Verfolger abzuschütteln. An diesem Tag führte Sembritzki nur noch ein einziges Telefongespräch mit seinem Bekannten aus der US-Botschaft in Bern. »Unten an der Aare«, sagte er ins Telefon. »Am üblichen Treffpunkt. Zur üblichen Zeit!« Dann blieb ihm an diesem Tag nichts mehr zu tun. Er bezahlte die Hotelrechnung, setzte sich in die Hotelhalle und wartete. Als er gegen vier Uhr nachmittags das Hotel verließ, lag ein Haufen von sieben abgeknatschten Zigarillos in vier verschiedene Aschenbecher verteilt. Getrunken hatte Sembritzki nur Wasser. Er hatte einen klaren Kopf gebraucht, um endlich auch seinen letzten und zähesten Verfolger, den Mann mit der Sportmütze, abzuschütteln. Er war durch Warenhäuser gegangen, hatte Museen besucht, Kirchen, Restaurants, war mit Taxi, Straßenbahn und endlich mit dem Zug gefahren, als er sich endgültig unbeobachtet gefühlt hatte. Und nun stand er in diesem ländlichen Bahnhof, in dem altmodische, glockenförmige Läutwerke aufgeregt den langen Expreßzügen nachbimmelten, die ohne anzuhalten vorbeirauschten, und wartete auf Albert. Er wartete zehn, fünfzehn Minuten. Dann fuhr ein stahlblauer Citroën vor, hielt unmittelbar vor Sembritzki an. Die rückwärtige Tür ging auf, Sembritzki erkannte das bärtige Gesicht Alberts auf dem Rücksitz, stieg zu, und schon zog der Wagen wieder an. Am Steuer saß ein grauhaariger Mann, das heißt, grau war nur sein Haarkranz, dessen Strähnen wie die Blütenblätter einer Silberdistel nach allen Seiten standen. In der Mitte ein rundes, mit braunen Flecken gesprenkeltes Stück Kopfhaut, groß wie eine Untertasse. Lange fuhren sie schweigend durch einen kristallenen Herbstabend, bis endlich der Mann am Steuer ein einziges Wort sagte: »Ja.« Die Reifen knirschten, als er nach diesem Wort brüsk nach rechts abbog und dann durch eine beinahe herrschaftliche Einfahrt in eine Lindenallee einbog, die um mindestens zwanzig Meter zu kurz war, als daß sie noch das Prädikat »imposant« für sich hätte beanspruchen können. Sembritzki stellte keine Frage. Er wußte, was dieses knappe »Ja« bedeutet hatte, und aus den Augenwinkeln beobachtete er Albert, der
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seine Hände ganz tief in die Taschen seiner dicken weißen Wolljacke gesteckt hatte und wie eine Schildkröte seinen Kopf beinahe ganz im wuchtigen Kragen hatte verschwinden lassen. »Aber«, sagte jetzt der Mann am Steuer, nachdem er seinen Wagen vor einem verwinkelten Haus mit vielen Türmchen und dunkelrotem Rebenlaub an den Balkonen zum Stehen gebracht hatte. Eine Weile behielt er gewissermaßen seine Stimme oben, horchte dem rollenden R nach, bis es irgendwo im dumpfen Innern des Citroëns untertauchte. Eine Weile lang dachte Sembritzki, daß dieses einzige Wort nur der Auftakt zu einer langen Erklärung sei, doch dann plötzlich sackte der Atem des dritten Mannes durch, und es blieb nur noch Leere zurück, ein Stück Resignation. Sembritzki wußte, daß der Zeitpunkt noch nicht gekommen war, nachzuhaken. Er spürte beinahe körperlich Alberts Lethargie, die unendliche Schwere seines Denkens und Fühlens, die ihm nicht erlaubte, aufzutauchen, zu sprechen, diese zähflüssige Stille zu zerreden. So stiegen sie denn schweigend aus, und schweigend betraten sie das anscheinend völlig unbewohnte Haus, gingen durch ein weinrot gestrichenes Treppenhaus, über eine grauschwarz gesprenkelte Treppe und betraten dann einen mit dunkelbraunem Holz getäfelten Raum, in dem nur ein schwerer langer Eichentisch auf gedrechselten Füßen, sechs Stühle und ein niedriges Büchergestell ringsum den Wänden entlang aufgestellt waren, ein Rahmen, der etwas von einem Zaun, von einem Gehege an sich hatte. Schweigend ging der Gastgeber voran, ein hochgewachsener dünner Mann, leicht nach vorn gebeugt, der sich wie im Schlaf bewegte, schweigend, mit halb geschlossenen Augen die Kopfseite des Tisches ansteuerte und sich dann dort beinahe feierlich hinsetzte. Sembritzki zögerte nur einen kurzen Augenblick, dann setzte er sich zur Rechten des dünnen Mannes, während Albert, der einen Augenblick lang zögernd unter der Tür stehengeblieben war, sich abseits hinsetzte, den dritten Stuhl an der Längsseite wählte und dort einsam, verloren, irritiert und irgendwie traurig hockte. »Aber?« sagte Sembritzki endlich, nachdem sie unendlich lange, wie ihm schien, schweigend dagesessen hatten.
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»Das ›Ja‹ zuerst!« sagte der Mann am Kopfende, der mit fahriger Bewegung nach der Brille in seiner Brusttasche gefingert, sie dann eine Weile wie einen Gegenstand betrachtet hatte, den er zuvor nie gesehen zu haben schien, und sie dann mit müder und fahriger Bewegung wieder an ihren alten Platz zurückgeschoben hatte. »Ja?« sagte Sembritzki halblaut, um diese groteske Konversation nicht völlig versanden zu lassen. »Das Material war nicht einwandfrei!« sagte der dünne Mann leise. »Wie haben Sie das festgestellt?« Sembritzki hatte endlich wieder in die gnadenlose Tonart des Inquisitors zurückgefunden. Der Mann wischte mit einer eigenartigen, weitausholenden Bewegung über die Tischplatte, als ob er da etwas vom Tisch fegen müßte, was nur ihn wirklich störte. »Ich weiß nicht, wie gut Sie über unsere internen Prüfungsverfahren informiert sind, Herr Sembritzki«, sagte der Mann am Kopfende des Tisches so leise, daß sich Sembritzki weit nach vorn beugen mußte, um ihn zu verstehen. Sembritzki zuckte schweigend mit den Schultern. Er wollte soviel wie möglich erfahren, ohne durch voreilige Zwischenbemerkungen den an sich schon zähen Redefluß des Gastgebers zu stören. »Das Stahlblech, das endlich zur Fabrikation von Reaktoren benützt wird, erhalten wir von unserer Lieferfirma in der Bundesrepublik Deutschland.« Sembritzki nickte. Albert saß mit geschlossenen Augen da, seine weißen knochigen Hände auf dem Tisch gefaltet. »Schon im Walzwerk wird jedes Stück Stahlblech geprüft. Und zwar wird diese Prüfung mittels eines Kathodenstrahlseismographen durchgeführt.« Sembritzki hob hilflos die Schultern. »Stellen Sie sich vor, daß jedes Stück Stahlblech sozusagen auf einem fortlaufenden Band mit einem Schreiber festgehalten wird. So kann festgestellt werden – wie bei einem Echolot –, ob das Blech überall dieselbe Dicke hat, ob keine Blasen darin sind.« Sembritzki nickte. »Und?« fragte er.
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»Die Bleche werden dann zusammengefaltet und gehobelt. Auch hier kann festgestellt werden, ob sie an gewissen Stellen nicht die erforderliche Dicke aufweisen.« »Ich verstehe, was man alles tun kann«, sagte er, »aber ich möchte wissen, was alles wirklich geschieht.« Der Mann am Tischende schaute Sembritzki lange und forschend an. »Nicht so schnell, Herr Sembritzki. Bevor ich Ihnen erklärt habe, was man alles tut, kann ich Ihnen nicht klarmachen, was alles geschehen könnte!« »Zum Beispiel?« »Im Herstellerwerk werden dann beim fertigen Reaktor Schweißnähte auf ihre Homogenität, auf Risse und Poren genau gecheckt!« Sembritzki nickte. Das hatte ihm Albert schon einmal erklärt. »Wie?« »Durch Röntgenaufnahmen. Der Reaktor wird Stück für Stück rundherum abschnittweise geröntgt, und die einzelnen Bilder werden dann wieder so aneinandergefügt, daß das gesamte Gefäß genau überprüft werden kann.« Sembritzki schaute zu Albert hinüber, aber es gelang ihm nicht, Augenkontakt herzustellen. Albert war auf seinem Stuhl ganz weit nach unten gerutscht. Er hatte die Augen geschlossen, und nur das nervöse Zucken um den Mund machte deutlich, daß er nicht eingeschlafen war, sondern uneins mit sich vor sich hin brütete. »Sie sagten anfangs ›Ja‹. Bedeutete das, daß Sie eine Unregelmäßigkeit gefunden haben?« »Ich habe die Protokolle der betreffenden Reaktoren ganz genau geprüft. Gestern nacht bin ich noch in unseren Betrieb gegangen und habe mir das Ganze vorgenommen, die Protokolle vom Walzwerk und auch die Protokolle, die wir selbst vom fertigen Reaktor gemacht haben.« Sembritzki schwieg. Nur jetzt keine falsche Frage stellen, dachte er, nur diesen Redefluß nicht noch einmal stoppen! »Ich bin auf Unregelmäßigkeiten gestoßen, Herr Sembritzki«, fuhr der Mann endlich fort. »Es war nicht mehr zu beurteilen, ob das Protokoll des Walzwerks einwandfrei ist, jedoch habe ich in langen
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Quervergleichen herausgefunden, daß mindestens einer der fraglichen Reaktoren einen Fehler aufweisen muß.« »Wie haben Sie das festgestellt?« Sembritzki fühlte die Ungeduld in sich hochsteigen. Er mußte sich zwingen, ruhig sitzenzubleiben. »Das Protokoll, das von den fraglichen Gefäßen gemacht wurde, ist einwandfrei.« »Aber?« Sembritzki war jetzt doch aufgesprungen und fixierte den Mann am Kopfende, weit nach vorn gebeugt, die Arme auf dem Tisch abgestützt. »Bitte, Herr Sembritzki«, sagte der Mann leise. Sembritzki setzte sich hin. Seine Hände lagen geballt auf der Tischplatte. »Nach eingehender Prüfung habe ich festgestellt, daß mindestens zwei der einzelnen Röntgenaufnahmen identisch waren.« »Was?« »Man hat einen ganz bestimmten Ausschnitt ganz einfach ein weiteres Mal kopiert und ihn dann im Protokoll anstelle eines Abschnitts eingefügt, der möglicherweise einen Fehler aufwies.« »Beweise! Ich will Beweise!« »Der einzige Beweis besteht darin, daß festgestellt werden kann…« »…daß manipuliert worden ist!« unterbrach ihn Sembritzki. »Und was läßt sich daraus folgern?« »Daß jemand Grund gehabt hatte, das Protokoll zu manipulieren, weil eine einzelne Röntgenaufnahme einen Fehler zeigte, der aber vertuscht werden konnte, indem man eine identische, intakte Röntgenaufnahme kopierte und sie mit der entsprechenden Zahl und dem entsprechenden Stempel versah!« »Welche Rolle hat Thoma gespielt?« Sembritzki sah wieder zu Albert hinüber. »Thoma mußte als Fabrikationsleiter die Protokolle einsehen!« sagte Albert noch immer mit geschlossenen Augen. »Wäre es möglich gewesen, daß er selbst manipuliert hat?« Albert schüttelte den Kopf. »Reine Spekulation, Sembritzki! Es liegt nahe, daß Thoma den Fehler der Firmenleitung mitgeteilt hat!« »Welcher Firmenleitung?« »Seiner eigenen, so nehme ich an!«
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»Und dann?« »Dann hatte man eine Entscheidung zu fällen!« »In engstem Kreis sozusagen?« Albert nickte. »Wer mit von der Partie war, ist kaum mehr rekonstruierbar, es sei denn, man greift auf Sitzungsprotokolle zurück. Aber an diesen Sitzungen ist wohl kaum über ein solch heikles Problem gesprochen worden.« »Also?« fragte Sembritzki. Langsam öffnete Albert die Augen, setzte sich wieder gerade hin, was ihm anscheinend unendlich viel Mühe bereitete, und sagte: »Da wurde das gemacht, was ihr einen Deal nennt – so mindestens nehme ich an.« Sembritzki nickte. »Ja, Stillschweigen gegen Geld oder…« »Stillschweigen ist Geld!« murmelte Albert. »Da ging es doch nur noch um die Frage, wieviel Geld unserer Firma verlorengeht, wenn die Reaktoren nicht wie geplant in Betrieb genommen werden können!« »Man hat also den Fehler in Kauf genommen?« »So sieht es aus. In sozusagen beidseitigem Einverständnis. Man hat die Röntgenaufnahmen manipuliert und das Ganze offiziell zum Stimmen gebracht. So hatte die Herstellerfirma keinen Verlust, weil sie den fehlerhaften Reaktor nicht durch einen intakten ersetzen mußte, und wir konnten unsere Produktion zeitig aufnehmen, weil so eine möglicherweise große Verzögerung vermieden werden konnte!« »Und wie kommt Frau Thoma an diese Röntgenaufnahmen?« »Thoma hat sich wahrscheinlich Kopien machen lassen oder hat ein Protokoll von den geheimen Sitzungen abgefaßt. Oder er hat die Röntgenaufnahme zurückbehalten, auf der der Fehler zu sehen ist.« Was blieb jetzt noch zu sagen übrig? Nichts! Der Mann am Kopfende stand auf. »Das war’s, Herr Sembritzki!« Sembritzki schaute ihn ungläubig an. »Das kann’s wohl nicht gewesen sein! Sie haben brisantes Material in den Händen und sagen: Das war’s!« »Ich habe kein Material in Händen, Herr Sembritzki! Ich habe das fragliche Material eingesehen und gewisse Schlüsse gezogen!«
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»Sie können sich das fragliche Material beschaffen!« »Ich könnte, aber ich werde es nicht tun!« »Angst?« Spott war kaum in Sembritzkis Stimme festzustellen, höchstens ein ganz wenig Verachtung, aber auch so etwas wie Verständnis. »Ich habe eine Stelle zu verlieren, Herr Sembritzki. Ich habe Familie, ein Haus…« »…ein herrschaftliches Haus«, ergänzte Sembritzki und schaute sich im Raum um. »Nein, Herr Sembritzki, Sie täuschen sich. Dieses Haus gehört nicht mir. Soviel Naivität wäre zuviel. Ich weiß nicht, wer Sie sind, Herr Sembritzki, ich weiß nur das wenige, was mir Albert erzählt hat. Halten Sie mich für so naiv, Sie in meinem eigenen Haus zu treffen, an meinem eigenen Wohnort und etwa noch unter meinem richtigen Namen?« Sembritzki lachte bitter. »Ihr Sinn für Anonymität ist beeindrukkend!« »Gehen wir!« sagte jetzt auch Albert. Er war aufgestanden und schaute Sembritzki mit einem ganz kleinen zornigen Blinken in den Augen an. »Nur noch etwas!« sagte Sembritzki. »Frau Thoma scheint die Firma erpreßt zu haben. Sie drohte mit Sabotage!« »Eine Sabotagedrohung, die niemand ernst zu nehmen brauchte«, warf Albert ein. »Eine gewaltige Explosion wäre die Folge des Sabotageversuchs gewesen. Andere Reaktoren derselben Fabrikationseinheit wären mit großer Wahrscheinlichkeit ebenfalls explodiert. Es wäre zu einer gewaltigen Feuersbrunst gekommen. Häuser im näheren und weiteren Umfeld des Konzerns wären durch die Druckwelle zerstört worden. Menschen wären zerrissen worden oder bei lebendigem Leib verbrannt. Und eine tödliche Phosgenwolke hätte sich je nach Windrichtung über die ganze Gegend gelegt.« »Hätte, Sembritzki«, murmelte Albert. Sembritzki schüttelte den Kopf. »Alles, was Frau Thoma angedroht hat, ist jeden Tag möglich! Wenn beispielsweise die Schwachstelle in der Reaktorwand durchbricht!«
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Die beiden andern schwiegen. »Die Möglichkeit besteht?« Albert zuckte mit den Schultern. »Sie besteht.« »Du warst es, der mir gesagt hat, daß Stahl deshalb für solche Gefäße bevorzugt wird, weil er knapper berechnet werden kann als Guß. Wenn also der Druck zunimmt, bis zu einem gewissen Punkt, den eine intakte Gefäßwand aushält, weil die Marge groß genug ist…« Sembritzki sprach nicht weiter. Er schaute unruhig von einem zum andern. »Ja«, sagte Albert. »Dann…« »Es wäre also jeden Tag möglich!« insistierte Sembritzki. »Ja«, sagte Albert noch einmal. »Und?« fragte Sembritzki. »Damit leben wir«, sagte Albert. »Aber du warst sofort bereit, mit mir zusammenzuspannen, als es darum ging, eine mögliche Sabotage zu verhindern, Albert!« Sembritzki sprach jetzt sehr laut. Er war auf Albert zugegangen und hatte ihn an den Schultern gepackt. »Das war eine direkte Bedrohung, Sembritzki«, sagte dieser ruhig und trat einen Schritt zurück, so daß Sembritzkis Arme ins Leere fielen. »Wenigstens haben wir gelernt, mit der indirekten Bedrohung zu leben!« »Wo ist da der Unterschied, Albert?« »Die direkte Bedrohung ist eine Gefahr, heute und jetzt. Die indirekte Bedrohung ist eine Möglichkeit – nicht heute und nicht jetzt!« »Ihr seid also nicht bereit, die ganze Sache an die Öffentlichkeit zu bringen?« »Wenn wir die Sache an die Öffentlichkeit bringen, sind wir erledigt. Dann sind wir Ausgestoßene! Verräter! Dann sind wir so gut wie tot! Wenn wir aber schweigen, haben wir die Möglichkeit, am Leben zu bleiben…« »Oder in einem gewaltigen Inferno unterzugehen!« murmelte Sembritzki spöttisch. Aber diesen letzten Satz hörte schon keiner mehr. Die beiden andern hatten den Raum bereits verlassen. Und auch als er in Alberts Auto zurück in die Stadt fuhr, fielen keine Worte mehr.
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Erst als Sembritzki am Bahnhof ausstieg und schnell ins Dunkel des Wageninnern griff, um Alberts Hand zu suchen, wurde noch einmal gesprochen. Es war Albert, der sagte: »Nein!« »Ich verstehe dich nicht, Albert!« sagte Sembritzki leise. »Nein«, flüsterte Albert. Und dann: »Schade, eine Freundschaft kann das nie mehr werden!« Er zog die Autotür zu und fuhr davon. Zwei Stunden später traf Sembritzki an der Aare seinen Bekannten von der US-Botschaft. Das Gespräch, das die beiden im Dunkeln führten, war kurz. »Wenn sie nicht in den Osten wechselt, muß sie eines Tages wieder auftauchen«, sagte der andere Mann, bevor sie auseinandergingen. »Und dann werden wir sie schon finden!« Sembritzki warf einen Blick auf die Tafel mit der Aufschrift Jagdbannbezirk, bevor er langsam den Weg zu seiner Wohnung auf der anderen Flußseite unter die Füße nahm.
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-ky Management by Nessoshemd »Ist Ihnen denn wirklich nicht einsichtig, daß ein kräftiger Fußtritt gegen den Kopf eines Menschen absolut tödlich sein kann…!?« »Doch; aber in dieser Sekunde, da…« »…da haben Sie weit ausgeholt, um dann mit aller Wucht…!« »Nein!« »Die uns vorliegenden Filmausschnitte und Fotos zeigen dies aber mit aller Deutlichkeit…« »Das täuscht, da deuten Sie nur etwas hinein!« »Wir haben auch genügend Augenzeugen…« »Ich hab das innerlich nicht gewollt!« »Sie bestreiten also weiterhin jede Absicht – wie in der ersten Vernehmung…?« »Ja…!« »Also schön, fangen wir noch mal ganz von vorne an…« Als Reinsch die Deichkrone erreicht hatte, stieg er noch einmal vom Rad und sah zum Wasser hinunter. Im Gewimmel der Badenden war seine Familie kaum noch auszumachen; doch, da stand Jana und winkte beidhändig hinauf zu ihm, zeigte dann zu Sprungturm und Rutsche hinüber, wo Sammy und Sören, ihre beiden Söhne, schon wieder kräftig »zugange waren«, wie das hier oben hieß. Das Brammer Meer, ein trapezförmiger Baggersee zwischen Autobahn und Deich, hatte sich in den letzten Jahren zu einer attraktiven Freizeitstätte gemausert, und sie fuhren gerne zum Baden hierher. Reinsch stand am stilleren Ende des Sees, und wenn er über die surferbunte Fläche hinweg nach Nord-Nordwesten blickte, hatte er das fotoschöne Panorama seiner Stadt vor Augen; wie im Prospekt. Bramme – ein Meer aus ziegelroten Dächern und darin, wie Klippen, miteinander wetteifernd, die Türme: Rathaus, Polizei, Bahnhof, Post, Matthäikirche. Und der gemütlich-runde Wasserturm dazu, die Innenstadt fast zur Burg erhebend und bewachend. Zwischen den Klippen die Hochhäuser, Quader, mit Glas und Marmorplatten protzend. Reinsch fühlte sich an die glitschigen Blöcke aus Kunsteis erinnert,
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mit denen die Milchgeschäfte und die Kneipen vor Aufkommen der elektrischen Kühlschränke ihre Waren und Getränke frisch und salmonellenfrei gehalten hatten. Links davon, südwestlich also, hatten sie in den letzten Bau-Boom-Jahren ein Trabantenstädtchen hingeklotzt, Barkhausen genannt, mit vielen Frolic-braunen Backsteinkästen. Kurz davor, hart am Rande des Brammer Moores, hatten Jana und er ein BHW-finanziertes Reihenhaus in die Landschaft gesetzt. Sosehr sich Reinsch auch reckte, von hier aus sah er nichts; ein schmaler Geestrücken versperrte die Sicht. Sein Blick ging erneut zur Alt- und Innenstadt hinüber, und wenn ihn nicht alles täuschte, dann war die Dunstglocke dort noch etwas dichter geworden. Nicht daß ihn das schon an Athen, Los Angeles oder gar Mexiko-Stadt erinnerte, nein, doch was ihm im letzten Jahr nur wie ein feiner Grauschleier vorgekommen war, hatte nun schon den Charakter einer angehenden Gewitterfront, so diesig-schweflig lagerten die Luftschichten unter dem verblassenden Himmel von Bramme (BRD). Links vom Bahnhof das alte Industriegebiet, längst zu lütt geworden für moderne Unternehmen, die nur noch, so ihre kühlen Rechner, auf einer Ebene, in Flachbauten also, kostengünstig produzieren konnten. Am höchsten Schornstein stand vertikal ein Firmenname: BUTH KG. Und jeder, der in Bramme seinen – so das Amtsdeutsch – ständigen Lebensmittelpunkt hatte, der kannte den Slogan: Wohne gut mit Buth. Bramme-Kenner wußten, daß dies nicht allein auf die von Buth produzierten Möbel zu beziehen war, die durchaus Weltniveau aufwiesen, sondern auch im übertragenen Sinne seine Gültigkeit hatte, die gesamte Stadt meinte und fast schon als BKAkontrollierter kommunalpolitischer Imperativ zu gelten hatte: das Glücklichsein hier als staatsbürgerliche Pflicht. Wer offen zu bekunden wagte, nicht gut zu wohnen unter Buth in Bramme, der gab damit offen zu verstehen, daß er nicht mehr so recht auf dem Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung stand und recht eigentlich ein Staatsfeind war, auf alle Fälle rastermäßig observiert werden mußte.
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Das war so, wie es war, weil Bramme – trotz (oder wegen) all seiner sozialdemokratischen Bürgermeister – seit fast einem Jahrhundert von den Buths und ihrem Clan quasi besetzt gehalten wurde. Aber in diesem Sommer, da war einer gekommen, der alle Chancen hatte, Buths Brammer Allmacht ein wenig zu brechen… Vorerst jedoch quoll aus dem Buthschen Schornstein noch ungestört heller, weißer Dampf, und Reinsch zuckte zusammen. Seveso… Oder Bhopal… Eine Giftwolke! Er sah, er fühlte, wie diese Wolke langsam den Fluß hinaufgetrieben wurde und jetzt das Brammer Meer erreichte. Die Badegäste rannten, nach Luft ringend, Schaum vor dem Mund in Richtung Autobahn, dort auf Rettung hoffend, doch sie schafften die Böschung nicht mehr, erstickten, übereinanderstürzend, sich aneinander festhaltend und umklammernd. Reinsch sah seine Familie, seine Frau, seine Kinder, dort verenden, und er war unendlich hilflos dabei. Einige Sekunden nur, dann war seine Schreckensvision wieder vorbei, hatte er sie mit der Kraft seines Willens und seines Verstandes ausgeknipst wie eine Lampe, in sich zusammenfallen lassen wie ein Fernsehbild, wenn der Strom weg war, doch diese Sekunden waren lang genug, einen schweren Asthmaanfall bei ihm auszulösen. Er war Allergiker – Pollen (Birke, Haselnuß und Gräser), Hausstaub, Milben und bestimmte Chemikalien –, und er hustete schon über eine Stunde lang glasig-wäßrigen Schleim aus seinen verkrampften Bronchien heraus, doch es wäre diesmal, das wußte er, weil alles langsam wieder lockerer wurde, ganz sicher zu überstehen gewesen, ohne diese entsetzliche Atemnot zu überstehen gewesen, diese aufschießende Todesangst, hätte er nicht diese Wolke am Buthschen Schornstein gesehen. So aber keuchte er immer erbärmlicher, pfiff und röchelte, schaffte es nicht mehr, sich in den Sattel zu schwingen, loszufahren und seine sich dauernd multiplizierende Angst diesmal doch zu bezwingen, allein durch die Bewegung, durch das Treten und den Wind, wie er ihm in den Mund schoß, ihn regelrecht durchpustete. Es ging nicht mehr; blieb ihm nur die Sprühflasche, sein Sultanol, das Bronchospasmolytikum. Dabei war, trotz aller Panik, genau nach Vorschrift zu verfahren:
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– Die Schutzkappe vom Mundrohr entfernen. – Das Dosier-Aerosol kräftig durchschütteln. – Langsam und so tief wie möglich ausatmen. – Das Dosier-Aerosol mit dem Behälterboden nach oben halten und das Mundrohr mit den Lippen fest umschließen. – Tief und kräftig durch das Mundrohr einatmen und gleichzeitig den Wirkstoffbehälter einmal fest nach unten drücken. Die Zunge nicht anheben. Durch Druck auf den Boden des Behälters wird ein Aerosolstoß mit einer genau abgemessenen Einzeldosis des Wirkstoffes ausgelöst. Es ist wichtig, nach Betätigen des Dosier-Aerosols weiter einzuatmen, damit der freigesetzte Wirkstoff mit dem Atemzug in die Lunge getragen wird. – Das Rohr aus dem Mund nehmen, den Atem so lange wie möglich anhalten und dann langsam ausatmen. Reinsch tat, wie ihm geheißen, und die Inhalation, ein kurzer Sprühstoß, reichte; er konnte wieder freier atmen, war erlöst. Er steckte die Sprühflasche in die Jacke zurück, froh darüber, dies Wundermittel zu haben. Doch sosehr es ihn beruhigte, so löste es sofort wieder neue Ängste bei ihm aus: Was dann, wenn er es trotz aller Umsicht mal vergessen hatte, oder wenn es plötzlich alle war? Oder wenn ein Krieg ausbrach und es nirgends mehr zu haben war…!? Reinsch fuhr los, rollte ohne großen Kraftaufwand die verbundsteingepflasterte Deichkrone entlang, bis er an die Stelle kam, wo es hinunter zum Mühlengraben ging. Da waren Parkplätze in die Wiesen gewachsen, und er hatte sich heut morgen vorgenommen, wieder mal nach Autos zu suchen, deren Ölwannen leckten und das Grundwasser an der Bramme kräftig zu verseuchen drohten; was immer wieder vorkam. Doch diesmal schien alles in Ordnung zu sein. Schon wollte er weiterfahren, da stieg aus einem der gerade ankommenden Wagen Carsten Corzelius, Chefredakteur des Brammer Tageblatts und ihm seit Jahren freundschaftlich verbunden, seit sie im TSV in derselben Mannschaft Fußball spielten, bei den 2. Senioren.
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»Was denn!?« rief Corzelius. »Gerade Mittagspause – und du schon beim Baden…!? Ich dachte, nur die Schulkinder haben heute hitzefrei – unsere Polizei denn auch…?« »Ich bin dienstlich unterwegs – bitte sehr!« »Ach so, ja, du bist ja jetzt beim neuen K 9 – Umwelt- und Gewässerschutz…!« »Jaa, da hat’s mich ja schon immer hingezogen.« »Na, primstens! Ich bin höchstens ’ne Umweltgefahr durch die Schweißfüße, die ich hab…! Wenn ich jetzt damit ins Brammer Meer reingehe – Paragraph 324 Strafgesetzbuch: gemeingefährliche Vergiftung! Kannst du wohl gar nicht lachen darüber?« »Nein, du…! Wenn ich bloß daran denke, daß hier, wo wir jetzt stehen, früher mal ’ne Müllkippe gewesen ist. Was da noch alles an Cyaniden und Phenolen im Boden drin sein dürfte…!« »Nun, ja… Ich schick dir mal einen meiner Leute vorbei, macht doch mal ’ne Reportage drüber, die die im Rathaus…« Damit hatte er seine Badetasche aus dem Kofferraum herausgewuchtet. »Was ich noch sagen wollte: Am siebten September steigt nun doch das große Fußballspiel Polizei gegen Prominente. Zugunsten der PseudoKrupp-Kinder, weißte doch…« Reinsch nickte. »Hab ich schon gehört, ja. Ich soll Linksaußen bei uns spielen. Im September, da wird’s ja mit meiner Luft schon wieder gehen. Und du – machst du bei den Prominenten mit?« Corzelius nickte. »Klar, als Libero. Schwei im Tor, Buth als rechter Außenverteidiger, Witthues als Regisseur im Mittelfeld – da habt ihr nie ’ne Chance!« »Normalerweise nicht, aber im Fußball schon…!« »Warten wir’s ab!« Corzelius schlug ihm auf den linken Oberarm. »Mach’s gut!« »Du auch, aber nicht zu oft!« »In meinem Alter…!« Corzelius, mit seinen zweiunddreißig Jahren kokettierend, nahm seine Tasche und ging zum Brammer Meer hinunter. Reinsch sah ihm lange hinterher, fühlte sich als Irrer, als Verwirrter, so gerade noch getarnter Psychopath; er mit seinen Ängsten, seinen Visionen, immer nur die Apokalypse erwartend, das Ende,
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den Zerfall. Corzelius, kraftstrotzend und robust, die Joggertruppe, die ihn eben passierte, die Mädchen, die auf ihren Pferden zum Sandstedter Forst hinüberjagten – das war die Wirklichkeit, das Normale, das Leben; er, Reiner Reinsch, er stand für das Morbide, war zerfressen von seinen Phobien, blind geworden in seiner Fortschrittsfeindlichkeit, vergreist und verloren für das Leben von morgen. Der plötzlich auffrischende Wind, eine Bö war es schon, fegte ihm den menorquinischen Sonnenhut vom Kopf, und als er ihn wieder aufhob und dabei auf dem weißen Schweißband seinen Namen las – R. Reinsch –, da stand ihm sofort wieder das Erlebnis vor Augen, das wohl traumatisch für ihn war: Schulhof des Albert-SchweitzerGymnasiums, 7. Klasse, knapp dreizehn war er da, recht qualvoll pubertierend, ein Wintertag mit einer Schneeballschlacht. Und irgendwie im Getümmel hatte er seine rot-weiße Pudelmütze verloren, von seiner Oma selber gestrickt und – wegen ihres hohen Wertes – säuberlich mit seinem Namen beschriftet. Ein Mitschüler, stadtbekanntes Großmaul, er findet sie und läuft damit, einen alten Kalauer nutzend, über den Hof, dabei brüllend: »Ist hier jemand, der Reinsch heißt!?« Immer wieder ruft er das, die Mütze aufhaltend. »Ist hier jemand, der Reinsch heißt!?« Hundertfaches Gelächter. Endlos, grausam, ihn vergewaltigend. Von diesem Tage an war er gebrandmarkt, glaubte er, ein jeder, der seinen Namen hörte und gebrauchte, würde dabei Kot assoziieren, Fäkalien, Scheiße und Verschmutzung, und er entwickelte zwangsneurotische Symptome, suchte und strebte permanent-zwanghaft nach absoluter Sauberkeit und Ordnung um sich herum, mußte sich und allen anderen pausenlos beweisen, daß er so nicht war, wie sie ihn sahen, wusch sich immer wieder und ausdauernd und war ständig zugange, jedweden Schmutz, Dreck und Unrat beiseite zu schaffen, nur mit diesem Ritual und seiner Magie ab und an noch Ruhe findend, ansonsten immer getrieben von der Angst, im Schmutz zu versinken, in schleichender Verwesung zu enden. Anderes kam, diese Tendenzen verstärkend, schlimmerweise hinzu. So war er von autoritären Eltern sehr früh aufs Töpfchen gesetzt und zur Reinlichkeit erzogen worden, so hatten sie ihm, von ihrer Sekte dahingebracht,
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erste »unanständige« Regungen, Onanierversuche, gewaltsam auszutreiben versucht. Nur seiner eigentlichen psychischen Robustheit hatte er es zu verdanken, daß dies alles nicht in einem dramatischeruptiven Ausbruch kulminiert hatte, sondern eher latent und von außen kaum zu merken abgelaufen war. Trotz erheblicher sexueller und aggressiver Triebschübe war es ihm gelungen, als Jugendlicher ohne den Vermerk »mehrfach auffällig geworden« zu bleiben und als höflich-netter Mensch zu gelten. Nach dem Abitur war er zur Polizei gegangen und hatte dort außerordentlich gute Noten erhalten. Von seinem Vater nach friesischer Art – siehe Peter Petersen oder Lauritz Lauritzen – Reiner Reinsch genannt, hatte er zeitlebens, insbesondere aber seit dem Vorfall mit der Mütze, unter seinem Namen gelitten, ihn aber, in der Furcht, noch mehr Spott zu ernten, auch nicht zu ändern gewagt, nach seiner Heirat beispielsweise. Er war klug und nach innen gekehrt genug, um zu wissen, wie es um ihn stand, nicht zuletzt auch wegen der vielen Stunden Psychologie, die es im Rahmen seiner Kommissarsausbildung an der HÖV Bramme, der Hochschule für Öffentliche Verwaltung, insgesamt gegeben hatte, doch er hatte auch gelernt, ganz gut mit sich und seiner Krankheit zu leben, das Beste aus allem zu machen, siehe jetzt die neue Stelle, wobei eine psychiatrische Behandlung, das war sicher, sein berufliches Aus bedeutet hätte; also damit ausgeschlossen war. Er kam auf die schmale Asphaltstraße, die sich zur Autobahnauffahrt Bramme-Ost hinschlängelte, und wollte unter der Trasse hindurch zum Stadtpark fahren, um auch dort mal wieder nach dem Rechten zu sehen; vom Wirt des dortigen Cafés wurde gemunkelt, daß er sein Spülwasser bei Hochbetrieb schon mal schnell unmittelbar in den Schwarzen See einleitete. Als Reinsch aber, nun wieder kräftiger in die Pedale tretend, den Mühlengraben überquerte, fand er schon weit vor seinem eigentlichen Eingriffsort Gelegenheit, endlich nun, um damit auch vom Eigenvorwurf einer Spazierfahrt loszukommen, in amtlicher Mission wirksam tätig zu werden: Kinder wahrscheinlich hatten eine Bohle ins Wasser geworfen und mit einigen Pfählen und Steinen ein kleines
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Wehr errichtet – und an dem hatten sich nun Unmengen von Flaschen, Büchsen, Plastiktüten und Styroporreste verfangen. Reinsch sprang vom Rad, entnahm der linken Satteltasche einen Müllsack und machte sich ans Werk; in sich versunken und froherfüllt von seiner Tätigkeit, schon im vorhinein den Anblick genießend, den der gereinigte Bach alsbald bieten würde, nur hin und wieder gestört von den über ihn hinwegdröhnenden Autos. Plötzlich ein Krachen und Scheppern, explosionsartig scharf. Reinsch ließ den Müllsack fallen und sprang die Böschung hinauf, wußte schon, was er gleich zu sehen bekam: Einen Wagen, der an einer der alten Eichen »klebte«, vorn so eingedrückt, als wäre er schon in der Schrottpresse gewesen, blutüberströmte Gesichter, bizarr verdrehte Körper. Und so war es denn auch. Ein etwa vierzigjähriger Mann war herausgeschleudert worden und lag am Brückengeländer. Saharagelber Anzug, keine Krawatte, Typ Techniker, Ingenieur, Naturwissenschaftler, kurze, gelockte Haare, die Brille irgendwo zersplittert. Er atmete noch, und Reinsch, seinen wahnsinnig großen Ekel soweit überwindend, wie es die Pflicht von ihm verlangte, beugte sich nach unten, um mit den eingeübten Maßnahmen zur Ersten Hilfe augenblicklich zu beginnen; obwohl ganz sicher zwecklos. Da hörte er den Mann noch etwas flüstern: »…Hemd… Ich…« »Was ist mit Ihrem Hemd…?« »Nicht meins… Das…« Damit schien seine Lebenskraft erschöpft, und das nächste Wort, das sein Mund noch zu formen versuchte, konnte Reinsch nicht mehr so ganz verstehen; es klang aber wie »…Lessos…« »Dem Protokoll Ihrer ersten Vernehmung zufolge haben Sie in diesem Augenblick noch keinerlei Zusammenhänge… äh… gesehen, vermutet, konstatiert…?« »Nein, es war ein ganz alltäglicher Unfall für mich.« »Und daß es sich bei dem Toten um Dr. Ottmers gehandelt hat, das wollen Sie ebenfalls nicht gewußt haben?« »Nein…«
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»Sie haben also unverzüglich das Notwendige veranlaßt – Feuerwehr, Alarmierung der Kollegen von der Verkehrsstaffel et cetera – und sind danach zu Ihrer Dienststelle zurückgefahren?« »Ja.« »Um dann kurz nacheinander direkt mit den beiden Spitzenkandidaten des Brammer Wahlkampfes konfrontiert zu werden, mit Herrn Witthues und Herrn Dr. Schwei…?« »Ja…« »Erzählen Sie doch mal!« »Ja, bitte…« Reinsch, erklärter Feind aller Automobile, holte sein Rad, dessen englischroten Rahmen golden-groß seine Initialen zierten – RR also, wie Rolls-Royce – vom Parkplatz des Polizeihauses und schob es am Wallgraben entlang, um über die ebenso backsteinschmucke wie schmale Straße Vor dem Bremer Tor, immer verstopft, den Marktplatz zu erreichen. Von hier aus waren es, auch wenn er sein Gefährt, der parkenden Wagen wegen ebenso wie des fürchterlichen Kopfsteinpflasters, die ganze Große Tränke bis zum Bramme-Fluß hinunterschieben mußte, keine fünf Minuten mehr zur Fähre hin. Die paar Groschen für das Übersetzen, die zahlte er gerne, vermied er doch mit dieser Route die Barkhauser Heer- und die anderen Ring- und Ausfallstraßen mit ihrer total verpesteten Luft. Doch heute kam er nicht weit, denn der Marktplatz, Brammes gute Stube, war gänzlich angefüllt mit einer Menschenmenge, die gerade stürmisch Beifall klatschte und nach einem Lachsturm zu Teilen das Lied »Wir wollen unseren Bürgermeister Willem haben« endlich kraftvoll zu singen begann. Reinsch lehnte sein Rad gegen die wilhelminische Backsteinfront des Stadt- und Polizeihauses und kletterte, sich an einem Fenstergitter festhaltend, auf Gepäckständer und Sattel, um den Redner drüben vor dem Rathaus auf seinem schnell gezimmerten Podest besser sehen und hören zu können. Klein und rundlich war er, dieser Wilhelm Witthues, 57, und liebenswert-gemütlich mit seinem immer wie frisch poliert glänzenden Buddha-Gesicht, aber ungemein kompetent und tüchtig. Seit er als Geschäftsführer die noble EURODRESS, Berlin-München-Bramme,
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vor ihrem sicheren Konkurs gerettet hatte, galt er als Volkstribun und Wirtschaftsführer gleichermaßen, und damit als legitimer Nachfolger des amtsmüden Alt-Bürgermeisters Hänschen Lankenau; absolut unschlagbar. Und Witthues, auch von Reinsch hoch verehrt, ja, zur Vaterfigur für ihn geworden, war heute groß in Form: »…verpfände ich mein Wort hiermit, daß das Gelände des alten Brammer Hafens das schönste innerstädtische Freizeit- und Erholungszentrums ganz Deutschlands werden wird – und kein Platz mit öden Fabrikhallen und Emissionen, die uns das Atmen hier immer schwerer machen!« Riesenbeifall, und auch Reinsch klatschte, dabei fast den Halt verlierend, wie wild, wäre am liebsten, so sein heftiger Impuls, nach vorne gestürzt, diesen Menschen zu umarmen und ihm zu schwören, mit aller Kraft für ihn zu kämpfen. Witthues, ja, das war sein Mann, und er war, wenn die letzten Meinungsumfragen stimmten (68,4 % für ihn), der nächste Bürgermeister dieser Stadt, unaufhaltsam, mit ihren fast 90.000 Menschen. »Industrie – ja!« rief Witthues jetzt. »Aber eine saubere Industrie – und nicht binnen, sondern buten!« Ein wahnsinniger Jubel nun, denn ein jeder hier verstand, auf was Witthues damit angespielt hatte und auf wen: auf Günther Buth, den sie hier, zu Recht, den »heimlichen Herrscher von Bramme« nannten. Buth nämlich wollte den alten Brammer Hafen, überflüssig geworden im Containerjahrzehnt und auch versandet, zum »Industrieund Handels-Center Nord« umwidmen. Ein Technologie-Park sollte dort entstehen, zwei Bürohochhäuser miteinschließend, dazu noch einige hochmoderne Fertigungsstätten, Flachbauten, für seine eigene Unternehmensgruppe (Plastikmöbel, Gartenmöbel und dergleichen) wie für andere Branchen, Elektronik und Chemie vor allem. »Holzschutzmittel, Kunststoffe…!« rief Witthues. »Nein und abermals nein! Nicht hier in der Mitte unserer alten Stadt! Wir wissen doch alle, was das bedeutet: Tanks mit gefährlichgiftigen Chemikalien einen Steinwurf vom Rathaus entfernt, vom Markt! Natürlich kennen wir deren Sicherheit…! Natürlich ist Bramme nicht Seveso und Bhopal…! Aber der Mensch versuche die Götter nicht!«
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Die Zustimmung der Brammer, die hier versammelt waren, sicher repräsentativ und nicht nur alte Parteigänger der Lankenau-WitthuesGruppierung, war derart phonstark, daß Reinsch schon auf eine Dreiviertelmehrheit zu hoffen und zu tippen wagte. Diesmal hatte Buth, so schien es ihm, einen schweren taktischen Fehler begangen, denn wie sollte sein hauseigener Kandidat, ein arrogantakademischer Ex-Bankdirektor namens Dr. Schwei, Hans-Peter, gegen diesen »Liebling der Massen« auch nur die Spur einer Chance haben? Ja, hatte er sich total verrechnet mit seiner Strategie und seinem Motto »Fünfhundert Arbeitsplätze für Bramme – das Industrieund Handels-Center Nord ist unsere Zukunft«? Reinsch sah zum Marktplatz hinüber, wo die Buth GmbH & Co. KG ihr Stadtbüro hatte, direkt über dem Erste-Klasse-Restaurant »Zum Wespennest«, das auch dem Clan gehörte, selbstverständlich. Die Lamellenjalousie schien sich bewegt zu haben; Buth stand sicherlich dort oben und schaute ähnlich sauer drein wie Fußballtrainer Udo Lattek, wenn seine Bayern die Pokale verspielten. So jedenfalls das Bild von Reinsch, als er die Szene im inneren Monolog, sie so für Jana speichernd, kommentierte; er war ja auch ein ausgemachter Fußballfreak. »Arbeitsplätze?« fragte Witthues, demagogisch und rhetorisch absolute Spitze. »Auch ein Freizeit-Center Brammer Hafen schafft uns neue Arbeitsplätze! Und zwar Bademeister aus Fleisch und Blut – und keine Roboter, die die Möbel zusammenleimen und euch um eure Arbeitsplätze bringen! Fünfhundert Arbeitsplätze, ja, aber davon vierhundertneunzig für Computer und für Automaten! Echte Arbeitsplätze gewinnen wir keine – und nur eins bekommen wir hier mitten in der Stadt, was wirklich echt ist: den Dreck aus den Schornsteinen und aus den Abflußrohren!« Reinsch hatte Arbeit, und er hatte die dauernde Angst, eines Tages, wurde die Luft noch stärker belastet, bei einem seiner Asthmaanfälle trotz aller Wundermittel doch mal zu ersticken, und so schrie er sich heiser für Witthues, für Wilhelm Witthues, den Sieger. Nach der Kundgebung fuhr er nach Hause, immer wieder vorbei an Wahlplakaten, aber auch schon an ersten Hinweisen auf das Benefizund Spitzenspiel Prominente gegen Polizei zugunsten einer Elternin-
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itiative, Jana war natürlich mit dabei, die in Bad Brammermoor, gleich vor den Toren der Stadt, eine Spezialklinik zur Behandlung von Kindern errichten wollte, die am Pseudo-Krupp litten sowie auch an bestimmten anderen allergischen Erkrankungen, der Neurodermitis zum Beispiel. Reinsch, die Barkhauser Heerstraße trotz ihrer gut ausgebauten Radwege also vermeidend, pirschte sich von hinten an seine Reihenhaussiedlung heran, fuhr lieber auf holprigen Feldwegen am Rande des Brammer Moores entlang, dabei ab und an einmal absteigend und selten gewordene Pflanzen bestaunend, im sogenannten Flachwasserbiotop oder in der feuchten Sandheide davor. Nur die letzten Meter rollte er wieder auf asphaltierter Straße entlang, bog dann in den Günselpfad ein – und erschrak, denn an seiner Tür klingelte gerade, von zwei bildhübschen Damen begleitet, der Mann, dem vor einer halben Stunde sein ganzer Zorn, fast Haß, und seine Buhrufe allesamt gegolten hatte: Dr. rer. pol. Hans-Peter Schwei – der Gegenkandidat, Buths Favorit. Jana öffnete gerade, war verwirrt, machte eine abwehrende Geste, war aber schon gefangen vom teleerprobten Oberschichtencharme dieses Mannes, als Reinsch, schnell bremsend und vom Rad springend, vom Zaun her schrie: »Geben Sie sich keine Mühe, wir sind für Witthues!« Dr. Schwei drehte sich um, und Reinsch stieß sein Rad – »Das ist Hausfriedensbruch!« – mit solcher Wucht gegen seinen halbhohen Zaun, einen sogenannten Jägerzaun, daß der bedenklich wackelte. Wie dieser Bankdirektor da, ganz Eroberer, ganz Herrenreiter, Fürst und Herrscher, auf seinen Treppenstufen stand, seine Frau einfangend, das ließ Reinsch vergessen, daß und wie sehr er als Beamter stets verpflichtet war zu politischer Mäßigung, und er wäre zweifellos auf den Witthues-Gegner zugestürzt, ihn zu Boden zu reißen, wenn er nicht in diesem Augenblick die Beine der jungen Frauen an Schweis Seite voll wahrgenommen hätte. Da war ein Gedanke zwanghaft, wahnsinnig schön und erhitzend, der ihn abrupt verharren ließ: Wenn ich mit denen mal darf, dann wähl ich dich auch! Und das dachte und genoß er, während Jana ihn ansah. Mit dem nächsten Atemzuge kam er sich schlecht und schmutzig vor, stand
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betrübt und schweigend da, während Dr. Schwei, orientiert an amerikanischen Vorbildern, die Klinkenputzer-Standardworte sprach. »…ja, es geht in der Tat um den Brammer Hafen, gnädige Frau, da haben Sie recht…! Wir werden alle Mindestwerte, was die Emissionen betrifft, um das Zehnfache unterschreiten; wir werden aber auch für Sie einen Arbeitsplatz bereithalten – Sie waren Krankenschwester, nicht wahr? –, wenn die Kinder aus dem Haus sind und Sie wieder ins Berufsleben zurückzukehren wünschen…« Bei diesen Worten beugte er sich zu Sammy hinunter und strich ihm über die noch badefeuchten Locken, während ihn die beiden journalschönen Begleitdamen mit Fähnchen und Lolly beglückten. »Lassen Sie doch bitte meinen Sohn in Frieden!« rief Reinsch. »Der hustet jetzt schon die ganze Nacht hindurch, weil Buth und seine Fabriken das Tal hier verpesten! Und nun noch mehr Industrie…!« Reinsch, die beiden Begleiterinnen des Gegenkandidaten krampfhaft übersehend, riß das Gartentor, das nach dem Aufprall seines Rades zugefallen war, weitmöglichst auf und ließ eine Handbewegung folgen, die überaus eindeutig war. »Sie bestreiten also nicht eine gewisse… persönliche Betroffenheit…?« »Wie meinen Sie das…?« »Also, daß Sie und Ihre Familie selber bestimmte Wehwehchen aufzuweisen hatten, deren Ursachen Sie in der Umweltbelastung vermutet haben…« »Das waren keine Vermutungen und das waren keine Wehwehchen! Diese Diminuierung, die…!« »Bitte?« »Diminuierung, Verkleinerung, Verringerung; Diminutiv, die Verkleinerungsform eines Substantivs…« »Großes Latinum am Albert-Schweitzer-Gymnasium, ah, ja… Und dann die – verzeihen Sie – lumpige A-10er-Stelle bei der Polizei; das muß ja starke innere Spannungen ergeben, oder…?« »Wer hätte keine…?« »Also, schön: keine Wehwehchen, sondern echte Krankheitssymptome… Erzählen Sie mal…«
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Nach der Begegnung mit Dr. Schwei fürchtete Reinsch einen erneuten Anfall von Atemnot. Streß und Erregung waren oftmals die letzten Auslöser, und um diesem elenden Japsen diesmal vorzubeugen, beeilte er sich, mit Hilfe eines sogenannten Spinhalers eine ausreichende Dosis seines weißlichen Intal-Pulvers zu inhalieren, genauer: 20 mg an Dinatriumcromoglicium, das die Bronchien sozusagen vorsorglich versiegeln sollte. Viermal am Tag – nach dem Aufstehen, zur Mittagszeit, gegen Abend und vor dem Schlafengehen – immer wieder dieselbe Prozedur, sein allergisches Asthma in Grenzen zu halten: – Spinhaler mit dem Mundstück nach unten halten. Gehäuse abschrauben. Kapsel mit der farbigen Hälfte in den Propeller einsetzen. – Die graue Hülse einmal nach unten bis zum Mundstückring drücken (die Kapsel wird damit durchstochen) und wieder nach oben schieben. Spinhaler ist nun gebrauchsfertig. – Prüfen, ob Mundstück noch fest aufgeschraubt ist. Tief ausatmen. Dann Mundstück bis zum Mundstückring in den Mund schieben. – Kopf nach hinten legen und kräftig durch den Spinhaler einatmen. Spinhaler vom Mund absetzen und die Luft kurz anhalten. Dann erst ausatmen. – Jede Woche sollten die Pulverreste vom Propeller abgewischt bzw. alle Teile in warmem Wasser abgespült werden. Nicht über 25° Celsius lagern. Vorgang ab Abb. 4 drei- bis viermal wiederholen. Nachdem er so verfahren war, setzte er sich zu Jana und Sammy an den vorschriftsmäßig gedeckten Abendbrottisch: Brot, Butter, Käse und Wurst – alles an den für sie vorgesehenen Plätzen, ebenso Gläser, Flaschen, Messer, Gabeln und Servietten. Er lobte Jana wegen dieser Ordnung und ihrer diesbezüglichen Tugenden; alles, was sie berührte, wurde sauber, glänzend, appetitlich, keimfrei, frei von jedem Staub, und das war überlebenswichtig für ihn, für seinen Organismus, denn schon die kleinste Menge an Hausstaub, irgendwo auf-
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gewirbelt, konnte Blaulicht für ihn bedeuten, das heißt, im Notfallwagen ab ins Krankenhaus. Jana Reinsch wußte das; sie hatten es schon dreimal durchexerziert. Es war indes keinerlei Problem für sie, zu Hause immer und überall für eine fast klinische Sauberkeit zu sorgen, denn dies war ihr, gelernte Krankenschwester, die sie war, in all den Berufsjahren sozusagen in Fleisch und Blut übergegangen, obwohl durchaus kein Herzensbedürfnis. Für Reinsch wegen ihrer Nähe zu Kliniken und Ärzten besonders von Vorteil, hatte sie sich aber nach Geburt des zweiten Kindes ganz auf ihre Rolle als Hausfrau und Mutter konzentrieren müssen, half nur ab und an einmal im Bio-Laden einer Freundin namens Anke beim Verkauf giftfrei gezogenen Gemüses aus, war aber keinesfalls so frustriert und ewig vergnatzt, wie sie es einschlägiger Schriften zufolge wohl hätte sein müssen, denn einmal hatte sie als Mitbegründerin der Müttergruppe zur Bekämpfung von PseudoKrupp und Neurodermitis genügend außerhäusliche Kontakte behalten, insbesondere seit sie sich um die Spezialklinik in Bad Brammermoor bemühten, und zum anderen war sie vollauf damit ausgefüllt, im Privaten Sammys Krankenschwester zu sein, seit der Pseudo-Krupp ihn immer mehr beutelte. Daß ihr Mann jetzt bei der »Umweltpolizei« am Wirbeln war, fand sie gut, wie sie ganz generell, hätten Demoskopen sie danach befragt, ihre Ehe auf einer Skala von plus fünf bis minus fünf bei etwa plus drei eingestuft hätte. Sicher war er ihr in manchem zu grob und fast gewaltsam, kein Wunder bei seiner »quasi-militärischen Sozialisation bei sich im Polizeibereich«, so ihre Freundin Anke, die von Hause aus diplomierte Pädagogin war, und er neigte mitunter schon dazu, der Macht des Gummiknüppels wie auch der seines körpereigenen Gegenstücks allzusehr zu vertrauen und sie oft, spontan-jähzornig wie er war, übereilt »zum Einsatz zu bringen«, direkt und im übertragenen Sinne, doch das hatte sie, die sie aus einer Familie alter Polizeisoldaten kam, nie anders erwartet und erfahren, und ihrem Manne verzieh sie es besonders, da er in anderen Belangen, vor allem, was die Not seiner Kinder betraf, durchaus hochsensibel sein konnte. Das einte sie, daß sie beide total »childcentered« waren, ebenso wie ihr Kampf für eine Welt ohne tödliche Strahlen und Gifte.
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Sie hatten zwei Söhne: Sammy, 5 und Vorschulkind, ewig blaß und kränkelnd, sehr nach ihm kommend, und Sören, 13, so groß schon wie sein Vater, fast bullig wirkend und immer voll überschießender Kraft, ganz der Typ vom männlichen Menschen, wie er sich in ihrer Familie über viele Generationen hinweg systematisch ausgebildet hatte. Sören, Mittelstürmer bei den B-Schülern des TSV Bramme, 1. Mannschaft, kam ein wenig später und hatte sich beim privaten Zusatztraining auf dem Bolzplatz nebenan sein Oberhemd zerrissen. »Gott, das war dein letztes Hemd!« rief Jana Reinsch. »Ruf ich eben mal bei Thorsten an…«, sagte Sören, gekonnt lakonisch, wie immer. »Was hat denn Thorsten mit der Hemdenfrage zu tun?« »Gestern hat er erst gesagt, als mein bester Freund würde er auch sein letztes Hemd für mich hergeben…« Sein jüngerer Bruder wollte sich nun halbtot lachen darüber, und auch Jana konnte nur noch schmunzeln, einzig Reinsch brummte: »Was da wohl einer für arbeiten muß, eh er das Geld für ’n Hemd beisammen hat…!?« Sören grinste. »Beamte arbeiten doch nicht – die versehen bloß ihren Dienst…« Reinsch schmiß sein Messer auf den Teller und sprang auf. »Dann eßt doch alleine hier!« Schon war er draußen, die Tür hinter sich zuknallend. Seine elenden Aufwallungen, sein verdammter Jähzorn! Verpuffungen seiner Seele, wie Jana das nannte, schnell vorbei, ihn ungemein erleichternd; und nach knapp zehn Minuten saßen sie wieder beisammen, friedlich beisammen, und Sören wurde versprochen, morgen mit ihm shoppen zu gehen und dabei auch nach einem neuen und todchicen Oberhemd Ausschau zu halten. Nach dem Abendessen spielte Reinsch noch ein wenig mit den Kindern, Memory mit dem jüngeren und Tischtennis mit dem älteren seiner Söhne, doch da fing Sammy auch schon zu husten an. Danach war es dann wieder eine jener schrecklichen Nächte, die sie nach und nach immer mehr aushöhlten.
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Jana hielt Sammy im Arm und streichelte ihn, als der Husten anfallartig wiederkam. Es war ungeheuer wichtig, selber ruhig zu bleiben, denn seine Luftröhre wäre noch weiter verkrampft, hätte er seine Eltern in Panik erlebt. Sein Husten war hart, bellend und derart schmerzhaft, daß sein Weinen fast ein Wimmern wurde; es kam kaum Auswurf, der ihn entlastet und erleichtert hätte. Die Fenster hatten sie weit, weit aufgerissen – Luft, Sauerstoff! – und ihm AtosilTropfen eingeflößt, seine Erregung, seine Angst zu dämpfen. Reinsch las in Bittere Pillen, daß dieses Mittel – generell als »schwächer wirkend« eingestuft – therapeutisch zweckmäßig sei, was ihn sehr beruhigte, schreckte jedoch kurz darauf zusammen, als er die lange Latte möglicher Nebenwirkungen erblickte: Benommenheit, Krämpfe, Zittern, Unruhe, Hemmung der intellektuellen Leistungsfähigkeit, Gewichtszunahme, Depression, Beeinträchtigung von Libido und Potenz (hier mußte Reinsch, so schlimm das alles auch war, dennoch leise schmunzeln), auch Blutbildschaden, Spätdyskinesie nicht auszuschließen (hier war er gezwungen, im Lexikon nachzuschlagen; Dyskinesie war eine schmerzhafte Fehlfunktion im Ablauf von Bewegungsvorgängen). »Mit was wir den Jungen alles vollstopfen«, sagte er zu Jana. »Immer nur Gifte gegen Gifte… Sie werden später sogar die Friedhöfe umpflügen, auf denen wir liegen, so sehr werden sie uns hassen… Wenn sie es noch erleben sollten…!« Sammy; wieder bäumte der kleine Körper sich auf, röchelnd und pfeifend kämpften die Lungen um jedes Quentchen Luft. Jetzt schluchzte auch Jana, und Reinsch nahm den Jungen, während sie nach draußen eilte, selber am Ende, taumelnd, kreislaufschwach, wie ein Schizophrener ungewisse Stimmen hörend, die Worte wiederholend, den Erlkönig: Er hat den Knaben wohl in dem Arm! Er faßt ihn sicher, er hält ihn warm… Erreicht den Hof mit Müh und Not! In seinen Armen das Kind war tot… O Gott, nein, bitte nicht! Wenn Atheisten beten, dachte er, dann ist die Welt verloren. Jana kam zurück und sagte ihm, daß der Koffer jetzt gepackt sei, ob sie die Feuerwehr, den Krankenwagen anrufen solle, 112, oder doch noch nicht…? Der Schock für ihn, plötzlich ins Krankenhaus…?
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»Doch lieber wieder die Cortison-Zäpfchen?« Arzt hin, Arzt her, wem sollte man in dieser Zeit noch trauen? Wer wußte schon, warum der einem dieses oder jenes verschrieb, anderes hingegen nicht; vielleicht nur einer kleinen Reise wegen…? Ja… Was tun…? Sie sahen, ihre Entscheidung irgendwie rationaler zu machen, wieder in den Bitteren Pillen nach, unter Rectodelt diesmal, und fanden auch dieses Mittel mit therapeutisch zweckmäßig bewertet, ein in der Pharma-Bibel ja nicht eben häufiges Urteil und deswegen um so erfreulicher, waren aber auch in diesem Falle wieder bedrückt, als sie die wichtigsten Nebenwirkungen aufgelistet sahen: Verminderte Infektionsabwehr, Knochenerweichung, Augenschäden (Grüner, Grauer Star), Muskelschäden, Magen-Darm-Geschwüre. Mit Sammys Kreislauf schien es immer schlechter zu werden; wie lange würde er diesen Kampf noch durchstehen können? »…Scheißwelt, die ihre Geschöpfe so leiden läßt«, sagte Reinsch. »Es sind doch die Menschen, die…« Ein neuer Anfall, der ihn durchschüttelte wie eine Puppe, traf wie ein Erdbeben. »Ich schlag diesen Gangstern den Schädel ein, wenn sie hier nicht bald…!« Reinsch trat gegen Sammys Stoffball, daß der aus dem Fenster flog. »Dann hat Ihr Sohn aber diese Nacht überstanden, ohne daß Sie…?« »Ja, mit Cortison.« »Na, bitte…« »Das Kind ist fünf, und wenn man seinen Organismus schon in diesem Alter so stark belastet, dann…« »Meine Urgroßmutter hatte zwölf Kinder, und sechs davon sind gestorben, alle zwischen 1880 und 1895 – und alle ohne sauren Regen, Schwermetalle im Essen und Autoabgase…! Das ist eben die Natur…« »Haben Sie mal eigene Kinder!« »Sie hängen wohl an Ihren sehr?« »Ist denn das ’n Verbrechen?« »Es erklärt vielleicht vieles…«
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»Sie würden mich also laufen lassen, wenn in den Akten stünde, daß ich meine beiden Söhne laufend verprügelt und mißhandelt hätte!?« »Ja, sicher…« »Das ist doch…!« »Bleiben Sie sitzen, Reinsch, sonst…!« »Ja… Ist ja gut…!« »Ich mein’s doch nur gut mit Ihnen: Das Gericht möcht ich sehen, das Sie freispricht, wenn Sie da in der Hauptverhandlung auch zu toben anfangen und auf den Vorsitzenden Richter losgehen wollen! Das wär ja schlimmer für Sie als ’n Geständnis!« »Ich habe hier nichts zu gestehen! Ich gehör auch nicht auf die Anklagebank – da gehören jetzt ganz andere hin! Die Sache mit den Hemden, die stinkt doch zum Himmel und…« »Apropos: Hemden! Kommen Sie doch mal langsam zur Sache. Sie sind also nächsten Morgen mit Sören los und…?« »Ja, mit meiner Frau zusammen…« Während Sammy in der Obhut seiner Oma zu Haus im Bettchen blieb, das konnten sie schon wieder riskieren, stiegen Jana, Reinsch und Sören in der Knochenhauergasse von den Rädern, um langsam in Richtung Rathaus/Markt zu gehen und nach ein paar Sachen zu sehen. In der Kirchgasse war ein kleiner Laden, der vor Jahren mal einem gewissen Benno Drobsch gehört hatte, dem Robin Hood von Bramme (er hatte im Wald gefundene Terroristen-Gelder an Arbeitslose verteilt), und in diesem Lädchen nun verkauften Anke & Co. Janas kordiale Demo-Schwestern, ihre Öko-Sachen. Sie gingen hinein, begrüßten sich mit Szenen-Küßchen, Sören wollte und bekam einen Beutel Kürbiskerne, von der Chefin selbst getrocknet, und Jana mußte, nachdem sie ein Pfund nicaraguanischen Solidaritätskaffee gekauft und von Sammys Qualen berichtet hatte, »eine furchtbare Nacht!«, eine Liste unterschreiben, mit der die Mütter-Initiative Pseudo-Krupp (»Die Brammer Luft macht unsere Kinder krank!«) bei der WHO intervenieren wollte.
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Da Pseudo-Krupp und der sogenannte »Plötzliche Kindstod« immer weiter um sich greifen, wenden wir uns als Eltern betroffener Kinder an Sie. Wie wir aus den Forschungen von Mersmann, Wemmer, Haupt und anderen wissen, ist der hohe Schadstoffgehalt der Luft ursächlich an der Zunahme der Erkrankungen der oberen Luftwege beteiligt und sorgt dafür, daß deren Verlauf sich immer mehr verschlimmert. Wieder draußen, freuten sie sich über die Wahlkampfplakate, die von irgendwelchen jugendlichen Künstlern nachbehandelt worden waren: Dr. Schwei fehlten zwei Schneidezähne; dafür trug er aber zusätzlich eine schwarze Augenklappe, passend zum offiziellen Text des Plakats: Mit klarem Blick für Brammes Zukunft! Dem bereits feststehenden Sieger hingegen (»In den sicheren Hafen mit Wilhelm Witthues!«) hatte man schielende Augen verpaßt und ihm zudem, da er im Kapitänslook abgelichtet worden war, eine Riesenbuddel Korn in die Hand gedrückt. Es schmunzelten alle, auch die reichlich vorhandenen Verfassungsschützer, denn Humor dieser Art war wahrhaftig staatstragend, war unser großes Plus gegenüber unseren Brüdern und Schwestern im Osten. An die frisch gestrichene weiß-braune Fachwerkfassade der Pension Meyerdierks allerdings hatte ein Schwein mit dickem Filzer geschrieben: Wenn Wahlen wirklich was verändern würden, dann wären sie schon längst verboten worden! Da nun waren zwei von Reinschs uniformierten Ruhe- und Ordnungskollegen mit Demokrateneifer dabei, »diesen Mist« wieder von der Wand herunterzuschrubben, unterstützt von der gewaltig grummelnden Wirtin: »Die ham wohl eenen weg, diese Anarchisten! Die slah ick noch dat Hemd in Flammen!« Als die Reinigungsarbeiten beendet waren, wurde auf die etwas unschön gewordene Stelle das Plakat geklebt, das für das große Spiel Prominente gegen Polizei Werbung betrieb. Reinsch freute sich darüber, vermißte aber die genaue Mannschaftsaufstellung, hätte seinen Namen schon gerne gelesen, nicht zuletzt, um seinem Sohne zu zeigen, was er doch für ein wunderbarer Kicker war.
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Sören war scharf auf eine neue Gitarre (»Alle schwören: Ich will nur noch den Sören hören!«), doch erst war der Hemdenkauf für heute angesagt. Im Billig-Tempel am Markt fanden sie indessen nichts, was ihnen gefiel, und Jana meinte, sie sollten es doch mal bei Frauke Fahrendahl probieren; das war in der Knochenhauergasse, gleich nebenan, zwischen Großer Tränke und Mönchsgang ganz präzise. Vorher wollte Sören noch ein Soft-Eis schlecken, und sie kauften es ihm an einem Stand, der sich neben dem Harm-Clüver-Brunnen gerade aufgetan hatte, dicht neben dem sogenannten Unglücksstein von Bramme, einer Stelle, wo 1784 die Gräfin Sophie von einem herabstürzenden Ziegel erschlagen worden war, und den man nicht betreten durfte, wollte man nicht Ähnliches oder Schlimmeres erleiden. Doch Sören tanzte auf der granitenen Platte herum und freute sich diebisch über das Entsetzen des Eisverkäufers; war es echt, war es gespielt? »Junge, laß es lieber!« Und siehe da, kaum hatte Sören die Hälfte seines Eises im Bauche, da bekam er plötzlich himbeerroten Ausschlag, ausfasernde Inseln auf seiner hellen Haut, und mußte sich gewaltig kratzen. »Siehste, der Fluch des Steins!« sagte Reinsch. »Sieht mir eher danach aus, als geht das wieder los mit seiner Neurodermitis…!« sagte Jana. »Wirf das Zeug weg, los, da ist sicher ’n Farbstoff drin, den du nicht abkannst!« Sören tat es und ließ kühles Brunnenwasser auf die Arme laufen. »O Gott!« hörte er seine Mutter murmeln. »Mußte der denn so was vererbt kriegen…!?« So leise es gesprochen war, Reinsch hatte es noch verstehen können, und es traf ihn sehr. Er sollte die Schuld an allem haben, an allem, was die Kinder quälte! Nein! »Wär die Luft hier sauberer und das Wasser, dann wäre nichts mit beiden, absolut nichts! Was kann ich ’n dafür!? Die angeborene Empfindlichkeit alleine, die ist doch niemals dafür…!« »Entschuldige…« sagte Jana und schaffte es nicht, ihn anzusehen. Sören ging es wieder besser, und sie betraten fröhlich Fraukes kleinen Laden, denn die Fahrendahl war zwar immer etliche Prozente teurer als die anderen, hatte dafür jedoch mit Reinsch gemeinsam die
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harten Bänke des Albert-Schweitzer-Gymnasiums gedrückt, heftig begehrt zuweilen, doch niemals erobert, immerhin so stark in seiner Erinnerung verankert, daß er jetzt, als sein Sohn mutig nach einem Oberhemd fragte, sofort laut Erotisches dachte: »Warum heißt das Hemd Hemd? Weil es hemmt…« Ja, Hemden gab es viele – klassische, welche mit kurzen Ärmeln und welche mit langen, elegant als »Office-Hemden« oder kariert für die freie Zeit der Freien, aus Polyester und/oder Baumwolle, BRDund DDR-deutsche Fabrikate und solche von anderswoher; schwer fiel da die Wahl, doch Frauke Fahrendahl riet ihnen zu zwei Hemden aus einer einheimischen Firma (»Be Brammish, buy Brammish!«), Produkte eines alten Unternehmens, das auf der anderen Seite des Flusses, am Stadion und im sogenannten Sternenviertel, angesiedelt war, dort also, wo alle Straßen und Plätze an Astronomisches erinnerten. Und diesem – ihrem Standort zu Ehren hatte die EverChic gerade eine Hemdenserie auf den Markt geworfen, bei der vorn, zur Zierde, je nach Größe und verschieden, Jupiter, Saturn und Sternbilder wie Orion, Cassiopeia oder Großer Wagen aufgedruckt waren, dem Träger ein echtes Astronautengefühl zu vermitteln. »Prima!« rief Sören und entschied sich für langarmig-vanillefarben mit dem Saturn; 34,90. Mal was anderes als immer nur diese gewollt poppigen T-Shirts mit ihrem Kinderkram drauf, ein bißchen männlicher. »Sie hatten sich an diesem Vormittag freigenommen?« »Ja, ich hatte noch achtundachtzig Überstunden abzubummeln, und Sören mußte erst um zehn zur Schule.« »Und beim Kauf dieser Hemden für Ihren Sohn, da ist Ihnen noch nicht…?« »Nein, keinerlei Assoziationen dabei…« »Ich meine: im Hinblick auf Dr. Ottmers, den Mann da, den Sie sterbend am Mühlengraben aufgefunden haben…?« »Ja, ich versteh ja schon…! – Nein, nein, das hatte ich vergessen, völlig verdrängt.« »Interessant, ja. Und nach dem Hemdenkauf sind Sie dann gleich zu Ihrer Dienststelle gegangen…«
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»Ja, meine Familie ist die Große Tränke runter zur Fähre hin, und ich hatte noch ein paar Minuten Zeit, und da bin ich wieder die Knochenhauergasse entlang – und dann die Abkürzung über den Alten Friedhof zum Wall hin…« »An Ihrer alten Schule vorbei…?« »Ja.« Reinsch winkte Anke noch mal zu, leider war sie nicht allein im Laden, und blieb dann am Gitter stehen, das den Schulhof von der Straße trennte. Seine alte Schule… Ein Sturzbach von Erinnerungen… Besonders an jenen denkwürdigen Tag, wo hier der Herbert Plaggenmeyer, ein Mischling, eine ganze Klasse als Geiseln genommen hatte, um einen stadtbekannten Internisten, den Dr. Carpano, zu einem ganz bestimmten Geständnis zu zwingen. Zum Glück war er, Reinsch, damals schon mit der Schule fertig gewesen, die schreckliche Sache aber hatte sich in ihrem alten Klassenzimmer abgespielt, und er, seinerzeit im ersten Polizeipraktikum, hatte das Gelände abriegeln helfen. Gunhild, Corzelius’ Frau, kam immer wieder auf diese Stunden zu sprechen; sie hatte damals mit in der Klasse gesessen. Während er diese Bilder und auch andere, solche mit heiterer Tönung, filmähnlich-imaginär vor sich ablaufen sah, bemerkte er, wie sich in einer Ecke des Schulhofs, ganz in seiner Nähe, zwei etwa sechzehnjährige Knaben zu prügeln begannen. Einerseits fand er es scheußlich, andererseits faszinierte es ihn. Sicher, man sollte seine Konflikte anders lösen als mit den Fäusten; doch war es nicht geradezu unschuldigromantisch, wenn sich Menschen lediglich mit den Fäusten traktierten anstatt mit Kugeln, Bomben und Granaten? Ein harmloses Gefecht, wie ihm schien, und er sah keinerlei Anlaß, die beiden Jungen dadurch zu trennen, daß er nun »Aufhören!« schrie. Zumal das ja zuallererst wohl Sache der aufsichtsführenden Lehrer gewesen wäre – doch die übersahen die beiden Kämpfer zunächst mit pädagogischem Weitblick. Die beiden, der eine semmelblond-gelockt, der andere glattgestriegelt-dunkel, fochten amateurhaft fair und »zeigten saubere Aktionen«, wie Reinsch, regelmäßig bei den Turnieren seiner boxenden Mitpolizisten dabei, sachkundig konstatierte, und nichts, aber auch nicht das allergeringste schien darauf hinzudeuten, daß sich die Si-
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tuation schon Sekunden später derart dramatisch zuspitzen würde, wie es dann geschah. Der Semmelblonde fing sich einen rechten Schwinger ein und flog gegen das schmiedeeiserne Gitter, sich dabei sein Hemd in Höhe seiner linken Schulter etwa handbreit aufreißend. Aus einer nicht eben großen Wunde begann träge ein wenig Blut zu sickern, und das Ganze schien mit Hilfe eines Tempotaschentuchs, von einem Sekundanten schnell auf die aufgeritzte Stelle gepreßt, alsbald erledigt. Beide wollten weiterkämpfen, und der Semmelblonde erklärte, noch lange nicht am Ende zu sein; ganz im Gegenteil, erst wenn er sein eigenes Blut sehe, komme er so recht in Fahrt. Doch inmitten seiner nächsten Aktion brach er urplötzlich zusammen. »Waren Sie da nicht erstaunt, Herr Reinsch?« »Nein. Ich kenne mich ja aus im Boxen; einer meiner Freunde war Norddeutscher Meister, einer aus meinem Lehrgang deutscher Polizeivizemeister, und ich weiß, daß man manchen Schlägen ihre Wirkung gar nicht ansehen kann. Bei anderen wieder dauert es einige Zeit, bis sie einen umhauen. Es sah ja auch nur aus wie ein hingetupfter rechten Haken, der aber doch die Leber getroffen haben mußte oder den Solarplexus…« »Sie sind dann weitergegangen…?« »Ja, als sich die Lehrer der Sache angenommen und den Jungen in die nahe gelegene Turnhalle hineingetragen hatten – Erste Hilfe können sie ja alle leisten…« »Nun ja… Sie sind also zum Dienst gegangen, ohne sich um diese Sache noch weiter zu kümmern…?« »a) war es ja nur eine Bagatelle, und b) ist es nicht mein Ressort gewesen.« »Sicher, ich frage ja auch nur, weil Sie vorher schon Herrn Dr. Ottmers…« »Das liegt ja nun auf einer ganz anderen Ebene.« »Dennoch: soviel Zufall…!?« »Wieso Zufall? Es sollte eben so kommen, wie es gekommen ist; ich war…« »…auserwählt dazu…?«
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»Vielleicht war es meine Bestimmung, das herauszufinden, was ich dann herausgefunden habe.« »Ah, die berühmte Vorsehung…?« »Wer weiß schon, wann er wessen Werkzeug ist und wozu…?« »Wir sind in Bramme hier…« »Ich weiß.« »Gut, lassen wir das mit dem Zufall oder der Bestimmung – zumal Sie ja beim nächsten diesbezüglichen Ereignis nicht unmittelbarer Augenzeuge waren…« »Nein, obwohl…« »Ja, erzählen Sie mal…! Auch ein bißchen genauer noch, was Sie da mit Witthues gesprochen haben…« »Ja, gerne…« Reinsch und sein älterer Sohn hatten dieselbe große Leidenschaft: den Fußball, aktiv wie passiv. Was ihre eigenen Auftritte anging, so verkörperten sie beinahe rein zwei Typen von Balltretern, wie sie sich gegensätzlicher kaum denken ließen; der Senior nämlich, leptosom, fast schmächtig schon, war ein gefürchteter Flügelflitzer und Dribbler, clever und einfallsreich, doch bei der geringsten Körperbewegung wehleidig zu Boden sinkend, der Junior, der Sören, dagegen war ein bulliger Goalgetter englischen Zuschnitts, Ball nach vorn und hinterher, treten nach allem, was sich bewegte, und hart im Nehmen. So verschieden sie in dieser Hinsicht auch waren, als Zuschauer legten sie Verhaltensweisen an den Tag, die absolut identisch waren: Wenn ihr TSV ein Tor erzielte, dann sprangen sie jubelnd in die Luft und waren rein närrisch; hatte er indessen einen Treffer zu kassieren, versanken sie in tiefste Depressionen, und es juckte beiden in den Fäusten, auf den Platz zu stürmen und dort selber für Gerechtigkeit zu sorgen, insbesondere wenn der Schiri es mal wagte, ihrer Mannschaft den furchtbaren Tort eines Elfers anzutun. Das TSV-Stadion war an der Barkhauser Heerstraße gelegen, und zwar mit seiner tribünenabgewandten Seite so dicht am Fluß, daß in Not befindliche Abwehrreihen, um Zeit zu schinden, mitunter schon mal in Versuchung gerieten, den Ball ins Wasser zu schießen. Der Stammplatz der Herren von und zu Reinsch, so high fühlten sie sich, war rechts vor der Haupttribüne, im Block F also; und da standen sie
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auch heute wieder beim ersten Vorbereitungsspiel der neuen Saison, wo dem treuen Publikum an diesem frühen Abend im Spiel gegen den SV Meppen die diesjährigen Neuerwerbungen in Full Action gezeigt werden sollten. Eine immer wieder aufregende Sache, neue Lose, neues Glück. Vielleicht klappte es dies- und endlich mal mit dem Aufstieg in die Bundesliga II. Sie schreckten zusammen, als hinter ihnen auf dem großen Areal der EverChic-Bramme, ihrer Hemdenfabrik (vgl. die Werbung auf den Jerseybrüsten der TSV-Mannen), die Werkssirene loszuheulen begann, fürchteten schon, daß es ein Großfeuer wäre oder aber eine schrecklich-giftige Substanz (»…Dioxin!«) aus einem der vielen Schornsteine und blechernen Rohre plötzlich entwichen sei, überall dampfte und rauchte es ständig, sahen dann aber, ebenso aufatmend wie weiter spöttelnd, wie städtische und werkseigene Feuerwehr lediglich zur gemeinsamen Übung antraten. »Was ist der Unterschied zwischen Soldaten und Feuerwehrleuten…?« »Die einen kriegen ’n Orden, wenn sie rechtzeitig ausrücken – die anderen werden erschossen dafür!« »Ha-ha-ha!« Wie gesagt, die Stimmung der beiden Reinsch-Männer war glänzend, und ihr Stehplatz war insofern ideal, als die gesamte Brammer Prominenz, besuchte sie ein Spiel, auf dem Wege zur Tribüne hier an ihnen vorbeidefilieren mußte; und das war immer wieder ein schönes Vor- und Schauspiel. So war es auch kein Zufall, daß Carsten Corzelius – der, der später den entscheidenden Artikel schreiben sollte –, als er jetzt mit Wilhelm Witthues vom Parkplatz kam und der »Ehrenloge« zusteuerte, auf Reiner Reinsch aufmerksam wurde und die beiden Herren miteinander bekannt machte. »…auf den mußt du ganz besonders aufpassen beim großen Prominentenspiel…!« verriet er dem designierten Brammer Oberbürgermeister. »Von Reiner Reinsch dürfte die größte Gefahr für unser Tor ausgehen…! Der sieht gar nicht so aus, hat aber einen unheimlichen Bums!« »Seit wann darf denn von der Polizei Gefahr für einen Politiker ausgehen?« lachte Witthues.
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»Seit die Politiker laufend Selbsttore schießen!« gab Reinsch zurück und war im nächsten Augenblick ebenso erfreut wie erschrocken über diese seine Frechheit (»So was schickt sich doch nicht, mein Junge!«). »Da kannst du mal sehen, was du für furchtlose Anhänger hast…!« Corzelius grinste. Witthues horchte auf. »Was machen Sie denn bei der Polizei?« »Ich bin da im neuen K 9 – Umwelt- und Gewässerschutz…« »Na, bestens: Wenn ich in Amt und Würden bin, dann will ich eure Truppe ja ganz gehörig aufstocken. Reden wir vorher noch mal darüber…« »Ja, gerne…« Reinsch strahlte. Die Zuwendung dieses Mannes war wie ein Geschenk für ihn, erfreute ihn mehr als ein Koffer voller Geld. Knallrot war er geworden, und Witthues, durchaus sensibel für so was, entfernte sich mit einem schnellen Gruß, während Reinsch, durcheinander, wie er war, immer wieder dieselben stereotypen Sätze durch den Kopf schossen: Das ist ein Mann, was!? Für den würd ich durchs Feuer gehen! Das ist ’n Vorbild, was!? Mann…! Kein linker Spinner, sondern einer, der mächtig was kann. Klasse! Dem kann keiner an den Wagen fahren, der versteht was von der Wirtschaft! Wenn der mich in sein Team nimmt, dann… Wilhelm Witthues. Noch in den ersten Minuten des Spiels war er mehr mit Witthues beschäftigt, als mit den Akteuren unten auf dem Rasen, und erst ein kleiner Zwischenfall, in der 16. Spielminute, wie sich später herausstellen sollte, ließ ihn diese Begegnung vorerst vergessen: Da raste nämlich eine kleine einmotorige Sportmaschine, vom Trappenkamp kommend, so dicht über ihre Köpfe hinweg, daß sie schon dachten, sie wolle – wieder mal ein Werbegag? – mitten auf dem Spielfeld landen. »Idiot!« rief Sören, und Prof. Lachmund von der Hochschule für Öffentliche Verwaltung, echte Brammer Prominenz (Reinsch kannte ihn von Fortbildungskursen her), der mit seiner Tochter Svenja seit kurzem neben ihm stand, auch ein Fußballfan, meinte, sich die Ohren zuhaltend, das sei ja schon nachgrade Körperverletzung, § 223,
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StGB: Wer einen anderen körperlich mißhandele oder an der Gesundheit beschädige… »Nee, eher Störung der Totenruhe!« kicherte Sven ja unter Verweis auf die elf Schlaffis ihres TSV, die nichts Rechtes zustande bringen wollten. Mit aufheulendem Motor und einem Beinahe-Looping sahen und hörten sie die Maschine in Richtung Brammer Meer entschwinden, warteten instinktiv auf den explosionsartigen Knall und waren beinahe verwundert, daß er nicht kam. »Dann haben Sie, als Sie da im Stadion waren, den Absturz der Piper gar nicht mitbekommen?« »Nein, wahrscheinlich des Lärms wegen – der TSV war ja nach einem schnellen Konter völlig unerwartet 1:0 in Führung gegangen.« »Ah, ja…!« »Von der abgestürzten Maschine habe ich erst am nächsten Tag in der Zeitung gelesen.« »Schön, ja, aber das tut ja hier auch nichts weiter zur Sache… Und als Sie dann mit Ihrem Sohn vom Fußballspiel nach Hause gekommen sind, da hat grade die Müttergruppe gegen den Pseudo-Krupp bei Ihnen getagt?« »Ja. Meine Frau, die Anke und vier, fünf andere Mütter…« Anke hatte Corinna mitgebracht, deren sechsjähriger Sohn, der Immo, furchtbar dran war: Neurodermitis, Ekzeme. Als sie davon berichtete, geschah das derart laut, derart erregt, daß Reinsch, der draußen in der Küche saß und im Brammer Tageblatt das Kreuzworträtsel löste, jedes Wort verstand. »…immerzu aufgekratzte, geschwollene Finger und Handgelenke, die Ohrläppchen bluten und sind schon ganz eingerissen. Richtige Haut hat er keine mehr; das ist alles wie Pergamentpapier, wie bei ’ner Mumie. Wenn dann abends der Juckreiz kommt, dann kratzt er sich, bis alles blutet. Hältst du ihn fest, schlägt er um sich. Er kann das nicht mehr aushalten.« »Wart ihr nicht mal an der See mit ihm…?« »Ach, das Wasser da, diese Brühe…!« »Und mit ’ner speziellen Diät?« fragte Jana.
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»Wir sind gerade dabei auszuprobieren, worauf er so allergisch reagiert – auf alle Milchprodukte wahrscheinlich.« »So richtig schlimm wird’s ja erst, wenn das ’ne bakterielle Superinfektion gibt, wie bei Folko«, sagte Anke. »Überall am Körper kleine Eiterbeulen, die Lymphdrüsen angeschwollen, die Leisten ganz dick…« »Versuch’s doch mal mit ’ner Nadelakupunktur.« »Das bezahlt doch meine Kasse nicht…« »…obwohl es ja viel billiger ist als immer das blöde Cortison!« »Und nun wollen sie die Luft hier noch weiter verpesten, wenn der Schwei den Grundstein legt für die neuen Fabriken am Brammer Hafen unten…!« »Da gibt’s dann wenigstens keine allergieauslösenden Gräser und keine Pollen mehr!« rief Reinsch dazwischen, wurde als Zyniker bezeichnet und erlitt gleich darauf – »Zur Strafe!«, wie Corinna meinte – einen seiner durchaus nicht lustigen, sondern eher qualvollen Niesanfälle, zehn, fünfzehn Nieser, die ihn, einer wie der andere, so durchschüttelten, als wäre er an einem Preßluftbohrer festgeklebt. Analog zum Erdbeben ein regelrechtes »Körperbeben«. Entsprechend erschöpft war er hinterher, und Ankes »Gesundheit!« war der reinste Hohn. »Du hast wieder mal dein Lumopren vergessen!« rief Jana. »Ja, durch das Scheißfußballspiel!« Er beeilte sich, das Versäumte nachzuholen; die zweite Flasche in dieser Saison war schon zu öffnen: – Schraubverschluß entfernen. – Pumpe auf die geöffnete Lumopren-Flasche aufschrauben. – Schutzkappe von der Pumpe abziehen. – Flasche mit leichtem Daumendruck mehrmals nach oben drücken, bis erster Sprühstoß erfolgt. – Einen Sprühstoß in jedes Nasenloch geben und dabei leicht durch die Nase einatmen. Nachdem nun auch seiner Nase vermittels salzig schmeckender Cromoglicinsäure »ein zuverlässiger Schutz vor dem Eintreten der allergischen Reaktion infolge des Allergenkontaktes« zuteil gewor-
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den war (vom Cro-Magnon- zum Cro-Moglicin-Menschen, welch Fortschritt), hatte er zu nichts anderem mehr Lust, als sich vor den Fernseher zu setzen und geschwind nach irgendeinem IQ-80-Quatsch zu suchen, woran ja selten Mangel war, doch als er – per Fernbedienung natürlich – den Apparat »on«-machen wollte (»down« wie er war in diesem »environment«), da gelang es ihm nicht, so sehr er auch auf die Knöpfe drückte, ja, hämmerte. Sören, der, auf leisen Sohlen hereingekommen, ganz plötzlich hinter ihm stand, wollte sich schier ausschütten vor Lachen. »Wenn du auch statt der Fernbedienung deinen alten Taschenrechner nimmst…!« Reinsch erschrak. Nur ein Versehen, verständlich beim Halbdunkel hier – oder schon eine Folge des ewigen Medikamentenkonsums? Sören beruhigte ihn, das sei ihm auch schon mal passiert, die beiden Kästchen hätten ja in etwa dieselbe Form und Größe (»Nimm’s leicht!«), und ob er mal eben die alte Stichsäge »anwerfen« dürfe, um noch schnell das letzte Brett für sein neues Regal zurechtzuschneiden; zwar sei es schon spät, aber für die paar Sekunden nur mal…? »Du hast doch dein neues Hemd an!« »Das ist sowieso schon schmutzig, da ist Rührei drauf – Hemd and eggs…« »Ja, ’n neues Hemd und dann gleich ex!« »Ich paß schon auf!« »Wie bei dem Farbtopf neulich, den der Wind dann von’er Leiter runtergefegt hat!« »Im Augenblick ist es ja absolut windstill hier…« »Absolut still, ja, und das willst du jetzt ändern…« »Ich will das noch heute fertigkriegen.« »Die Säge ist doch sowieso kaputt; der Schalter am Griff, der geht doch nicht mehr…« »Ich hab das schon wieder gemacht. Man muß nur den Stecker in die Dose rein und dann…« »Mann, bist du denn, das ist doch gefährlich! Die muß doch sofort stehenbleiben, wenn du den Griff losläßt, sonst…!« »Ich säg mir schon nichts ab!«
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»Ja…« Sören zog ab, und Reinsch schaffte es nun, den Fernseher endlich in Gang zu setzen, sah ein Stückchen Hofberichterstattung aus der Republikhauptstadt, und nickte alsbald ein, nur einmal aufgeschreckt, als der Städtenamen Verden fiel, Verden an der Aller, denn da assoziierte er sofort Allergie und mußte automatisch, fast reflexhaft niesen. Schlagartig war er aber wieder wach, als er unten aus dem Hobbykeller ein wildes Schreien/Fluchen/Poltern hörte, und stürzte, sich sofort an die defekte Elektrosäge erinnernd, die Treppe hinunter. Doch es war weiter nichts passiert: Sören hatte sich nur ein wenig den linken Unterarm geritzt, zwar relativ pulsadernnahe, doch keineswegs bedrohlich. »Hab ich dir doch gleich gesagt: das Hemd kaputt!« »Aber der Arm ist noch dran!« »Du…!« Ein drohend langgezogenes U und ein leicht erhobener Arm. Sören duckte sich; er kannte die plötzlichen Eruptionen seines Vaters ebenso wie dessen Schlagkraft. »Wo ist denn mal ’n Pflaster…?« »Im Schränkchen hier… Und laß da bloß keinen Schmutz reinkommen!« »Nein, nein…« Sören machte sich ans Selbst-Verarzten. »Is ja nur ’n kleiner Ratscher…« »Blutet aber ganz schön. Und das schöne neue Hemd!« »Das Hemd, das Hemd…!« brummte Sören. »Das näht mir Oma wieder, wenn sie kommt. Mutti merkt das gar nicht.« Er zog es nicht mal aus und meinte, daß die Blutflecken als Saturnmonde zu gelten hatten. »Wozu hab ich ’n hier den Saturn auf der Brust!?« »Und der große Fleck da?« »Das ist der Titan.« Jana kam nach unten und wollte fragen, ob und was denn sei, bemerkte schnell Sörens kleines Malheur und wollte das alles gerade angemessen kommentieren (»Das bezahlst du aber diesmal von deinem eignen Geld«), als ihr Sohn plötzlich leichenblaß aussah, zusammenbrach, von seinem Vater nicht mehr aufzufangen war, über
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seiner Werkbank hing, diese, als er auf die weiß-grauen Fliesen stürzte, fast noch mit sich reißend, die Haut voller scharlachroter Flecken und Quaddeln. »Mein Gott, das ist ja wie ein anaphylaktischer Schock!« rief Jana, hatte das als Krankenschwester schon erlebt. »Er stirbt uns!« schrie Reinsch. »Schrecklich, ja…« »Sie können sich vielleicht vorstellen, was da in dieser Sekunde in mir…« »Sicher kann ich das – dennoch…!« »Wer da nicht mal durchdreht und…« »Ah, Reinsch…! Ich nehme das als Beginn Ihres Geständnisses…« »Nein: nur der Hinweis darauf, daß man sich hierzulande über ganz bestimmte Reaktionen nicht mehr wundern und erregen sollte – voller Abscheu und Empörung… Aber ich bin ja Beamter!« »Ich auch! Also – weiter im Text… Die erste Spur eines Verdachts hatten Sie dann, als Ihnen Ihre Frau einen Zeitungsausschnitt aus dem Brammer Tageblatt hinlegte, eine dpa-Meldung, vom 7. Juni wahrscheinlich; die Zeitung selbst ist vom 8. Juni 1985…« »Ja.« Ursache für »toxischen Schock« durch Tampons jetzt bekannt. Ein Ärzteteam aus Boston hat herausgefunden, warum die Benutzung bestimmter Tampons zu einer seltenen, aber schweren Vergiftung führen konnte, an der in den vergangenen fünf Jahren 85 Frauen in den USA gestorben sind. Laut Presseberichten hat eine Untersuchung der medizinischen Fakultät der Universität Harvard in Cambridge (US-Bundesstaat Massachusetts) ergeben, daß die Vergiftung durch Kunstfasern hervorgerufen wurde, die in einigen Tampons enthalten waren. Diese Fasern entziehen dem Körper Magnesium und fördern so die Entwicklung von hochgiftigen Bakterien, die einen sogenannten »toxischen Schock« auslösen können…
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Die Vergiftung trat bei etwa zehn von hunderttausend Frauen auf und wurde durch die Kunststoffe Polyester und Polyacryl ausgelöst… »Nun hat ja Ihr Sohn wahrscheinlich keine Tampons gebraucht – oder…?« »Ich bitte Sie – das ist…!« »Irgendwie müssen Sie doch da eine Gedankenverbindung gehabt haben – oder? Na, egal…! Aber sagen Sie: Dieser toxische Schock bei den Tampons, da ist doch eine Schleimhaut im Spiele gewesen, doch bei Ihrem Sohn…« »So genau wissen die Mediziner das noch immer nicht, zu vermuten ist aber, daß die angegriffene Haut meines Sohnes, seine ständige Neurodermitis… Die Haut war ja immer irgendwo offen, und es gab überall kleine nässende Wunden… Und sauber, na ja…! Und als er sich dann mit der Säge den Arm aufgerissen hatte, da müssen die toxischen Stoffe dann sofort in den Körper gelangt sein…« »Nun ja, ich bin kein Mediziner, aber meines Wissens hätte da nicht viel passieren dürfen…« »…ist aber was passiert! Für die Ärzte ist das noch alles Neuland, die Blackbox, die berühmte. Eigentlich hätte nichts geschehen dürfen, sicher, da haben Sie recht, aber irgendwie müssen die Fasern des Hemds, die Textilfarbe, die Cadmium enthalten haben soll, der Schweiß, das Blut, der Schmutz, das Sonnenöl, alle zusammen sogenannte Atopene gebildet haben oder was weiß ich! Unbekannte Substanzen, unbekannte Zusammenhänge, nichts ist da völlig unmöglich. Es gibt noch immer Dinge zwischen Himmel und Erde… Sie sehen ja, noch immer kein Gutachten – zwei Monate später!« »Ja, aber das braucht uns im Augenblick nicht weiter zu interessieren… Ihr großes Aha-Erlebnis, das hatten Sie dann vierundzwanzig Stunden später…?« »Ja. Aber das steht doch schon alles in den Akten drin…« »Ich hätt’s aber gern noch mal von Ihnen selbst gehört…« »Schön…« Reinsch kam mit seiner Frau aus dem Städtischen Krankenhaus, das auf ihrer Seite des Flusses, gleich hinter Brammermoorer Brücke und
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HÖV inmitten eines großen Parks gelegen war; sie hatten Sören noch bis morgen zur Beobachtung dabehalten wollen, teils aus medizinischen Gründen, teils – wie ihnen schien – um zur Aufbesserung ihrer Bilanz noch mehr Leistungen abrechnen zu können. Jedenfalls war Sören über den Berg, gerettet und wieder von der Intensivstation runter; sie konnten also aufatmen. Ein anaphylaktischer Schock könne es nicht gewesen sein, hatten die Ärzte gesagt, eigentlich, denn der entstehe als Folge einer Übersensibilisierung durch artfremdes Eiweiß, allerdings glichen sich alle Symptome frappierend, also: akutes Kreislaufversagen, Blässe, Exanthem (»Hautausschlag…«), Quaddeln sowie Gesichts-, Lid- und Ghottisödeme, was bedeutete, daß der Kehlkopf »zuwuchs« und inspiratorische Luftnot eintrat. Anaphylaxie, das sei eine besondere Art der Allergie, eine Allergie gegen Eiweiß, man müsse sich nun fragen, was in dem Hemd des Jungen eiweißähnlich gewirkt haben könnte: die Fasern, die Farbe oder was immer. (»Sie wissen doch: further research is needed!«) »Eventuell, vielleicht…!« ahmte Reinsch sie nach. »Wie schnell die doch mit ihrem Latein am Ende sind!« »Die Allergologen, ja…« Jana stimmte zu, dachte an den Kommentar eines jungen Assistenzarztes. »Sicher, wir sind im Erkennen ursächlicher Zusammenhänge so wenig fortgeschritten wie Soziologen, Politologen oder Psychologen – wir testen und tasten noch immer ziemlich hilflos an allem herum. Mehr als fünf Millionen chemischer Substanzen kennen wir – und nur einige wenige sind bisher einer gründlichen Toxitätsprüfung unterzogen worden. Was ist giftig, was ist harmlos? Im Hemd Ihres Sohnes scheint etwas enthalten zu sein, ein ganz bestimmtes Antigen, das mit Schweiß und Blut zusammen bei ganz bestimmten Personen zu gefährlichen Sofortreaktion vom Typ eins führen kann, wie wir das nennen, zum Kreislaufschock, der manchmal tödlich werden kann.« Nun, Sören war jung und voller Kraft, und bei ihm war es noch mal gutgegangen. Kam er aus dem Krankenhaus, hatte er eine Reihe zeitaufwendiger Tests durchzustehen und möglicherweise eine mehrjährige Hyposensibilisierungsbehandlung, also die langsame Zuführung
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der auslösenden Allergene, Woche für Woche die Spritze subkutan (unter die Haut) in den Arm gejagt. »Hilft denn das bei ihm? Bei mir selber hat es fast gar nichts gebracht…« »Die beste Therapie bei allergischen Krankheiten ist immer die Vermeidung der auslösenden Substanz, des Antigens…« »Also: nichts mehr einatmen, nichts mehr essen und trinken, nichts mehr anfassen und nichts mehr anziehen…?« »Im Prinzip: ja.« Diesen Dialog mit dem behandelnden Arzt noch immer im Ohr, ging Reinsch die Brammermoorer Heerstraße entlang und überquerte den Fluß, um dann über den »Schleichweg« Knochenhauergasse/Kirchgasse sein Büro im Stadt- und Polizeihaus zu erreichen. Ein Nachbar, Verwaltungsleiter des Krankenhauses, hatte sie morgens in seinem Wagen mitgenommen, und Jana war eben mit dem Bus nach Hause gefahren. In einer weißen Plastiktüte hatte Reinsch Sörens Hemd aus dem Krankenhaus geschmuggelt, den dortigen Koryphäen nicht trauend, um es nun von Laboratorien, die bei ihm in gutem Rufe standen, »dienstlich« untersuchen zu lassen. Der altgewohnte Weg für ihn, am Wienerwald vorbei, Erich Taschenmachers Supermarkt, dem Luperti-Stift und seiner alten Schule, mit der Hoffnung, Anke zu sehen, doch deren Bio-Laden, wahrscheinlich war sie wieder Kräuter sammeln, war noch geschlossen. Am Wasserturm vorbei und über den Alten Friedhof hinweg, vor Jahren Schauplatz einer großen Terroristenhatz, jetzt ganz nach Vorschrift friedhofsruhig, erreichte den Wall und setzte sich – Blick auf die Uhr: es war noch Zeit – auf eine der freien Bänke; müde war er, ausgebrannt, die Angst um Sören, die Nacht ohne Schlaf. Selbstvorwürfe quälten ihn; er war schuld an allem, er. Hätte er die kaputte Stichsäge weggeworfen oder wenigstens Sören deren Gebrauch, so spät am Abend noch, verboten, dann wäre alles nicht passiert. Er nahm das Hemd aus der Tüte und sah es sich an. Ekel stieg in ihm hoch, als hätte er einen glibbrigen Fisch erwischt, Abscheu, ein ungutes Kribbeln lief über den ganzen Körper hinweg, wie beim
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Berühren einer toten Ratte, und die Angst, die giftige Substanz, die da höchstwahrscheinlich im Gewebe steckte, könnte ihm durch seine, obschon gesunde Haut langsam in den Körper dringen. Er steckte Sörens Hemd schnell in die Tüte zurück, litt unter dem Gedanken, daß auch sein eigenes Hemd vielleicht… Nein, es war nicht von EverChic-Bramme! Er hatte seins blitzschnell ausgezogen, den kleinen Zettel am Kragen durchzulesen; diverse alte Muttchen schimpften vor sich hin: Diese Schweine von Stadtstreichern! Noch mal nahm er Sörens Hemd heraus, langarmig war es und vanillefarben, sah außerordentlich modisch aus, besonders wirksam der Saturn mit seinen Ringen, war offenbar ein Hemd wie jedes andere und hatte dennoch seinen Sohn um Haaresbreite umgebracht. Reinsch wurde immer unruhiger. Ein ungewisser Gedanke, ein Gefühl, latent und ungerichtet, sie quälten ihn. Er schnauzte Kinder an, die laut »peng-peng«-machend mit Plastikpistolen auf alles schossen, was sich in ihrer Nähe regte. »Nur Idioten schießen auf Menschen!« Dann hatte er zwei Damen am Wickel, die ihr Bonbonpapier achtlos auf die Erde warfen. »Die Wallanlagen sind doch kein Mülleimer!« Das vanillefarbene Hemd, da war doch was mit dem…? Schließlich brüllte er noch einen Schornsteinfegermeister an, der auf seinem Rad Richtung Innenstadt flitzte. »Hier ist doch keine Rennbahn, Mensch!« Diese Eruptionen bewirkten zwar leichte Stiche in seiner Gallengegend, sprengten aber noch immer nicht die Blockaden in seinen Synapsen hinweg, seinem Gedächtnis, ließen sie bestenfalls ein wenig wanken. Seine innere Unruhe wuchs, wurde quälender, wie der Juckreiz nach ein paar Dutzend Mückenstichen. Er hätte sich die Haut vom Leibe kratzen können! Da war ganz sicher irgendwas – und er kam partout nicht drauf…! Um sich abzulenken, kaufte er am nahen Kiosk ein Brammer Tageblatt und erschrak sogleich, als er auf der ersten Seite oben las, daß gestern abend eine Privatmaschine, einmotorig, zerschellt war oben am Galgenberg, Bad Brammermoor. Die Szene im Stadion, der »Tiefflieger«…!
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Kreislaufschock in der Luft – Maschine abgestürzt. Der Pilot, der 33jährige Zahnarzt Jens-Uwe Tietjen, habe sich, so erfuhr er weiter, kurz vor dem Start beim Außencheck zwar leicht am Arm verletzt, als er über einen Pflock gestolpert war, sich im Sturz festhakend am Halteseil eines anderes Vogels, doch dies sei wohl kaum als Ursache dafür anzusehen, daß er dann mitten im Flug das Bewußtsein verloren habe. Ein Foto, von seiner Freundin kurz zuvor mit einer Polaroid-Kamera geschossen, zeigte ihn frisch-fromm-fröhlich-frei in einem schicken Freizeithemd, langarmig, eiscremefarben… …von EverChic-Bramme mit dem feuerfarben-großen Jupiter als Signet darauf. Das war’s, die Initialzündung! Ein leichter Aufschrei; da war sie, die Erkenntnis. Wie eine Erlösung für ihn. Die Sache war klar, die Zusammenhänge ganz offensichtlich: – Sein Sohn hatte ein Hemd von EverChic getragen, hatte sich verletzt – und war dann »abgetreten«. – Der Flugzeugführer ganz analog dazu: ein Hemd von EverChic, eine blutende Wunde, ein Schock – dann, weil die Umstände so unglücklich waren, Absturz und Tod (das Ganze, Sören gegenüber, mit mehr Verzögerung ablaufend, aber das mochte an seiner andersgearteten Konstitution gelegen haben). – Und drittens: Da war ja auch noch der semmelblonde Schüler vom Albert-Schweitzer-Gymnasium, der sich vor seinen, Reinsch Augen, wild geprügelt hatte und dann, nach einem Sturz leicht blutend, urplötzlich k.o. gewesen war, ohnmächtig. Auch er – und da war das Bild wieder, nach dem er die ganze Zeit über so verzweifelt gesucht hatte – Träger eines Hemds von EverChic-Bramme. Reinsch rannte los, um von seiner Dienststelle aus augenblicklich das zu veranlassen, was nun nötig war: den weiteren Verkauf der EverChic-, der »Todeshemden« (so BILD am nächsten Tage) sofort zu
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stoppen wie alle die, die welche hatten, welche trugen, noch in den Mittagsmagazinen mit Nachdruck zu warnen, vor allem über den NDR und Radio Bremen. »Und das ist ja dann auch geschehen…?« »Ja.« »Zu diesem Zeitpunkt haben Sie aber noch keinen Zusammenhang mit dem Tod von Dr. Ottmers gesehen?« »Nein. Als ich den Sterbenden an der Mühlengrabenbrücke aufgefunden habe, da hatte er ja ein ganz normales Oberhemd an; ich meine: auf alle Fälle kein Hemd von EverChic mit einem Planeten oder einem Sternbild drauf.« »Das haben Sie auch selber nachgeprüft?« »Ja.« »Durch Befragung seiner Witwe?« »Ja.« »Gut… Aber zurück zu… Sie sind dann also zu Ihrer Dienststelle hin, um alles in Bewegung zu setzen, was nötig war, um den Verkauf der EverChic-Hemden zu unterbinden?« »Ja. Das ging zwar nicht ohne Schwierigkeiten und ohne einiges Theater ab, aber am späten Nachmittag waren wir dann endlich soweit: die Indizien und ersten – mündlich abgegebenen – gutachterlichen Stellungnahmen waren ja auch eindeutig genug.« »Aber als Sie dann am nächsten Morgen das Brammer Tageblatt aufgeschlagen haben, da waren Sie doch sehr erstaunt, sehr erstaunt darüber, was Sie da mit Ihrer Aktion so alles angerichtet hatten…?« »Sehr erschrocken und entsetzt…« Und das war die Schlagzeile, auf die der Untersuchungsrichter angespielt hatte, die Sensation des Tages: Witthues zieht Kandidatur zurück – Hemden seiner Firmengruppe haben toxische Schocks ausgelöst… …entschloß sich Wilhelm Witthues nach Vorliegen der ersten Expertenurteile sofort, seine Partei vom Verzicht auf das Amt des Oberbürgermeisters zu unterrichten. »Die Firma EverChic gehört zu unserer Unternehmensgruppe, und damit habe ich
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die volle Verantwortung daraus zu ziehen.« Das erklärte Wilhelm Witthues am frühen Abend der Presse gegenüber. »Es geht nicht an, daß jemand, der ein hohes politisches Amt bekleidet und sich selber als Vorkämpfer für eine Umwelt ohne krankmachende Stoffe bezeichnet, einem Unternehmen vorsteht, der EURODRESS, wie Sie wissen, deren Produkte einem Menschen den Tod und einigen anderen, darunter ja auch den beiden Schulkindern hier in Bramme, wo wir natürlich besonders viele unserer Hemden verkauft haben, schweren gesundheitlichen Schaden gebracht hat. Sicher sind es alles die berühmten ›unglücklichen Umstände‹ gewesen, und ich persönlich habe nicht das allergeringste von der Gefährlichkeit dieser sogenannten ›Todeshemden‹ gewußt oder geahnt, aber die Vorfälle belasten mich sehr und zeigen mir, daß ich in dieser Sache ohne Fortüne dastehe. Darum mein Rücktritt von der Kandidatur.« Wie wir weiter erfahren haben, ist die Firma EverChic-Bramme erst im Januar dieses Jahres durch die Vermittlung von Verena Witthues aus dem Eigentum der Familie Lessow, die sie 1935 gegründet hatte, an die EURODRESS, Berlin-München-Bramme, übergegangen, um deren Produktenpalette abzurunden… Ausschlaggebend für das schnelle Eingreifen der Behörden war eine Stellungnahme von Prof. Dr. Heinrich Peter, dem Chefarzt der Inneren Abteilung des Kreiskrankenhauses, der am Abend zuvor Sören Reinsch, dem dritten Opfer der »Todeshemden«, in letzter Sekunde das Leben gerettet hatte. Wäre nicht dessen Vater gleichzeitig leitender Sachbearbeiter beim neugegründeten Kommissariat 9, Umwelt- und Gewässerschutz, gewesen, so hätte es mit Sicherheit weitere Kreislaufschocks und womöglich auch Tote in dieser Sache gegeben. Oberkommissar Reiner Reinsch, 33, zeigte allerdings wenig Freude über seinen Erfolg. »Wilhelm Witthues war eine Vaterfigur für mich, und daß ich nun schuld bin am Ende seiner politischen Laufbahn, das kann ich nicht so schnell verkraften.« Witthues dagegen hat Oberkommissar Reinsch für dessen vorbildliches Verhalten gedankt und ihm in einem kurzen Tele-
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fongespräch erklärt, daß nur durch sein schnelles und umsichtiges Handeln weiterer Schaden von der Bevölkerung abgewendet worden sei. Ebenso hat Dr. Schwei, nunmehr alleiniger Kandidat für das Oberbürgermeisteramt bei den am übernächsten Sonntag stattfindenden Wahlen, dem Umweltpolizisten Dank und Anerkennung ausgesprochen und ihm für die Zukunft tatkräftige Unterstützung zugesagt. »Was Sie gar nicht sonderlich erfreut haben wird…?« »Nein.« »Und als Sie Ihren Sohn aus dem Krankenhaus abgeholt haben, da hat inmitten der Presseleute und Fotografen auch Dr. Schwei gestanden…?« »Ja.« »…und Ihnen die Hand geschüttelt…?« »Ja.« »Und Sie?« »Ich habe sie ihm gegeben, was sonst? Als Beamter hat man ja jedwede extreme politische Äußerung zu unterlassen, das heißt, daß man nach §35 II BRRG verpflichtet ist, bei politischen Willensbekundungen diejenige Mäßigung und Zurückhaltung zu wahren, die sich aus seiner Stellung gegenüber der Allgemeinheit ergibt…« »Das kommt ja alles sehr flüssig… Als wenn Sie mir etwas ganz Bestimmtes beweisen wollten…?« »Es gibt eben Dinge, die mir voll in Fleisch und Blut übergegangen sind; zum Beispiel, als Beamter immer sine ira et studio zu handeln.« »Waren Sie denn am fraglichen Tage dienstlich tätig…?« »Ja, sicher, schon aus versicherungsrechtlichen Gründen ist das als Dienst anzusehen gewesen. Außerdem sind mir ja dafür auch drei Überstunden gutgeschrieben worden.« »Um so schlimmer für Sie!« »Um so besser, denn mein dienstliches Verhalten hat ja fast fünfzehn Jahre lang zu keinerlei Beanstandungen Anlaß gegeben. Ganz im Gegenteil!« »Wir werden also sehen… Kommen Sie erst mal zum Ende Ihrer Version… Also: An sich hätten Sie’s ja nun gut sein lassen können mit Ihren Ermittlungen…?«
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»Es hat weiter in mir gearbeitet, ganz ohne mein Zutun…« Reinsch saß in seinem Büro und tat zufällig mal das, was der öffentlichen Meinung zufolge die deutschen Beamten ja fortwährend tun, sofern sie sich nicht gerade zum Kaffeekochen aufgerafft haben: Zeitung las er, und zwar im Brammer Tageblatt Lokales. Daß die Knochenhauergasse neu gepflastert werden solle. Daß ein Stadtstreicher, total besoffen, im Harm-Clüver-Brunnen, mitten auf dem Markt, fast ertrunken wäre. Daß Günther Buth zum Konsul des äquatorial-afrikanischen Staates Volta-Noire ernannt worden war. Daß Dr. Schwei nach seiner nun sicheren Wahl zum Oberbürgermeister ein großes Fest in der Innenstadt veranstalten wolle. Da schrillte das Telefon, und Reinsch nahm ab, mit einem innerlichen Aufstöhnen seinen Vorgesetzten vernehmend, Karl Kämena. »Wenn einer nach mir fragen sollte – ich bin beim Arzt.« Eine außerordentlich überflüssige Information, wie Reinsch befand, denn wo anders hätte er auch hingehen können, ihr »Ulkus-Karl«; ins Bordell am Mönchsgang nun gewißlich nicht. Kämenas Freunde und Gönner hatten ihn kurz vor seiner Pensionierung noch schnell von der Mordkommission ins neue K 9 versetzt, um ihn befördern zu können (»Bevor wir ihn ins Jenseits befördern, lieber nach A13 S…«), und nun war er also der Boß der kleinen Gruppe Brammer Umweltpolizisten, dabei voll und ganz Buths Erwartungen erfüllend (»Macht den Kämena zum Chef, der wird da am wenigsten Nutzen stiften!«). Kämena ging, und Reinsch frohlockte, hatte er doch eine kleine Wette mit seinen Kolleginnen und Kollegen gewonnen (»Kommt Kämena in dieser Woche noch auf seine fünfzigste Krankheit oder nicht?«). Reinsch war müde und unlustig, anfallartig depressiv, kam und kam nicht über das Stigma hinweg, der Mann zu sein, der Wilhelm Witthues’ Killer war. Mensch, warum haste den denn abgeschossen!? Du hättest die Sache doch auch ganz anders anpacken können! Viel leiser. Warum hast du denn nicht vorher mit ihm selber gesprochen, direkt mit ihm, dann…!? So ein unpolitisches Verhalten von dir! Jetzt kriegen wir nun Dr. Schwei als Bürgermeister und haben noch x-mal mehr Dreck in der Luft. Alles deinetwegen! Ja, blinder
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Eifer… Wieviel hat dir denn Buth dafür gezahlt, daß du die Sache mit den Hemden…!? Diese Beschuldigung, von Buth und Dr. Schwei gekauft worden zu sein, traf ihn am härtesten; hier offenbarte sich der wahre Grund für sein nachfolgendes Handeln, war der Auslöser seiner Assoziationsketten und der Katalysator seines Denkens zu finden. Die Käuflichkeit des Menschen und seine Dissonanzen dabei… Reinsch las also Zeitung, und beim Überfliegen jener Seiten, die ihn ansonsten wenig interessierten, stieß er auf eine Traueranzeige von Taschenbuchgröße, in der Geschäftsleitung wie Belegschaft der Firma EverChic-Bramme ihres bei einem »tragischen Verkehrsunfall« ums Leben gekommenen Textilingenieurs und Chemikers Dr. Martin Ottmers gedachten. Fassungslos und tief betroffen beklagen wir den Tod von Dr. rer. nat. Martin Ottmers, der im Alter von 38 Jahren allzufrüh aus unserer Mitte herausgerissen wurde. Wir trauern um einen verständnisvollen und immer hilfsbereiten Kollegen, dessen Ratschlage für uns alle von unschätzbarem Wert waren. Wir gedenken seiner in Dankbarkeit. Für die Geschäftsleitung Winston Lessow Für die Belegschaft Maaß, Vorsitzender des Betriebsrats Reinsch stutzte, und letztendlich war es wohl die für Brammer Verhältnisse etwas eigenartig anmutende Kombination von Winston und Lessow, die bei ihm in diesem Moment zur Intitialzündung führte: a) Dr. Ottmers gleich Textilfachmann, Chemiker und Ingenieur. b) Dr. Ottmers tot, aber es mußte ja nicht unbedingt ein »tragischer Verkehrsunfall« gewesen sein, ebenso konnte es sich auch um einen geglückten Selbstmord handeln: schließlich hatte sich Ottmers nicht angeschnallt gehabt!
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c) Als er, Reinsch, den sterbenden Ottmers an der Mühlengrabenbrücke… Zwei Worte hatte der noch hervorstoßen können: »…Hemd!« und »…Lessos…« d) Vielleicht aber auch, möglicherweise, nicht Lessos, sondern Lessow, Lessow gleich Winston Lessow, Geschäftsführer der EverChic-Bramme. Und, so Reinsch, weiter vor sich hin monologisierend, wenn die vier Annahmen a), b), c) und d) durchweg richtig waren, dann folgte daraus e) der Schluß, conclusio, daß Dr. Ottmers die Gefährlichkeit bestimmter EverChic-Hemden herausgefunden hatte, den rätselhaften toxischen Substanzen in ihren Geweben auf die Spur gekommen war, und mit dieser Erkenntnis sofort zu Winston Lessow ins Büro gelaufen war, um ihn zu warnen; dort und dann aber f) mit Hilfe eines sicher namhaften Betrages bewogen worden war, den Mund zu halten, mit dieser Last jedoch nicht lange hatte leben können; siehe g) den Selbstmord am Mühlengraben unten. Eine Entdeckung, die Reinsch im wahrsten Sinn des Wortes den Atem nahm; ein Sprühstoß Sultanol war nötig, die pfeifenden Lungen wieder einigermaßen zu beruhigen. Diese Hypothese – der Selbstmord des gekauften Ottmers – bedurfte nun, das wußte er, sorgfältigster Verifizierung, und ein erster Schritt dazu wäre ein Hinweis darauf gewesen, daß der Dr. Ottmers wirklich ein präsuizidales Syndrom, so der kriminologischpsychologische Jargon seiner HÖV-Dozenten, aufgewiesen hatte. Nun… Er überlegte zwar ein Weilchen, schreckte aber schließlich doch davor zurück, die Ottmers-Witwe anzurufen; das wäre schlecht gegangen. Doch als er dann Jana in seine Gedankengänge eingeführt hatte, vom Schreibtisch aus per Telefon, da wußte sie Rat, kam auf eine alte Freundin, Corinna, die, so ihre Erinnerung, in früheren Zeiten mal mit »Lady Ottmers« (mondän die Dame, sehr mondän) im selben Club Formation getanzt hatte. 239
Und richtig, keine Viertelstunde später erreichte ihn Janas Rückruf: »Ja, du, der Ottmers hat unheimliche Depressionen gehabt, und Schulden hatten sie auch ’ne Masse…!« »Aha, danke!« Reinsch nickte; das konnte also als belegt gelten, daß Dr. Ottmers ein Motiv zum Selbstmord gehabt hatte. Blieb Winston Lessow, Vertriebsleiter der EverChic-Bramme und als High-Society-Member sicher wenig gewillt, ihn, den kleinen Polizeibeamten Reiner Reinsch, in dieser Sache fürstlich zu empfangen, wenn überhaupt. Was also tun? Reinsch beschloß, sich diesen »Knaben« zunächst einmal ganz unauffällig »aus nächster Nähe« anzusehen. Und er traf ihn, nach vielerlei vergeblichen Bemühungen, schließlich unten am Fluß, der Bramme, am Anlegesteg, wo er, Geburtstagskind ganz offensichtlich, mit Omar-Sharif-Charme den Fährmann spielte für die illustren Gäste, unter anderen auch Buth und Dr. Schwei: auf seiner weißen Motoryacht sollte es über Bramme und Weser und an Bremen vorbei hinauf nach Elsfleth gehen, hin zum Landsitz der Lessows, zur großen Fete, die heuer, so das Brammer Tageblatt, nach Aston-Art gestaltet war (…nach Aston zum Galopp). Da nun sollte er Winston Lessow (englisch, englischer, am englischsten), ganz als Duke of Bramme, quasi verhören, ihn (»…an der Hemdengeschichte bin ich als Vertriebschef in keiner Weise beteiligt…!«) der ungeheuerlichen Tat verdächtigen, er habe den Tod von vielen Menschen billigend in Kauf genommen, um seine Profite zu machen. Nein, Reinsch konnte das nicht, wagte das nicht; es wäre Blasphemie gewesen, und die Götter rächten sich stets für solchen Übermut. So schlich er denn davon, RR, ängstlich und geduckt: den Paria ließen die Herren in Frieden. Und hätte er wirklich zu fragen gewagt, er hätte doch nichts anderes als schallendes Gelächter geerntet und die Drohung, daß man eine Dienstaufsichtsbeschwerde gegen ihn zu erheben gedenke. »Und mit Ihren Kollegen haben Sie sich nicht… äh, wie sagt man heute: ausgetauscht…?« »Gesprochen mit ihnen…? Nein, in diesem Stadium noch nicht.« »Ah, ja…!«
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»Das waren ja noch alles mehr oder minder Spekulationen.« »Es wären doch ganz konkret Zahlungen von Lessow an Dr. Ottmers nachzuweisen gewesen…« »Ja, aber wie!? Und ich alleine, wie sollte ich denn das…? Und für eine große staatsanwaltliche Aktion hatte ich vorerst noch keine ausreichenden Beweise. Ja, um da was in Gang zu setzen, da brauchte ich mächtige Verbündete, das war mir schon klar.« »…da haben Sie natürlich ganz automatisch an Witthues gedacht?« »Ja, in der Hoffnung, daß er als allererster daran interessiert sein mußte, was sich da in seiner Firma wirklich abgespielt hatte. Winston Lessow war ja schließlich sein Mitarbeiter, sein Untergebener, wenn man so will…« Reinsch radelte den Trappenkamp hinunter, ganz in Gedanken vertieft, und schrak gewaltig zusammen, als über ihm ein schwerer Güterzug die Bundesbahnbrücke passierte. Nahebei, das war ihm sofort im Gedächtnis, hatte sich das Drama von Professor Lachmund und Ann-Kristin, seiner »Klette«, ereignet, oben auf den Gleisen. Eine so faszinierende Geschichte für Reinsch, daß er, als er sich zum Haus der Lachmunds zurückdrehte, fast das Schild Ortsende Bramme gerammt hätte. Hier, zweihundert Meter jenseits des Brammer Areals schon, hatten die Witthues’ einen alten Bauernhof gekauft und, nomen est omen, zu einem stattlichen Domizil, dem »Weißen Hof«, aufmöbeln lassen. Reinsch kam, sah und staunte: Solche Prachtschuppen fand er ansonsten nur im appetitanregenden Journal seiner Bausparkasse. Ein Landsitz, gute 3000 m2, so schätzte er, der sich wunderbar für die großen Empfänge eines Brammer Bürgermeisters geeignet hätte. Aus und vorbei. Als Reinsch vom Rad stieg, war er befangen und fand sich so schüchtern wie als Dreijähriger im Angesicht des Weihnachtsmannes, zumal er nicht ganz sicher war, ob dieser Besuch hier eigentlich noch als dienstlich einzustufen war. Seine Hemmungen wurden noch stärker, als er Verena Witthues im Garten Krocket spielen sah, und in Anbetracht ihrer Maße – sicher 90-58-90, wie er als alter lui- und Playboy-Leser zu schätzen wußte (die Kollegen ließen das immer kursieren) – derart erektiv reagierte,
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daß dies ein sofortiges Klingeln völlig verunmöglichte. Doch als dann der Witthuessche Bobtail wild kläffend an den Gartenzaun sprang, war sein Zustand schnell wieder schlaffi-normal, zumal er nun auch registrierte, daß die Dame des Hofes nicht alleine war, sondern sich mit zwei Freundinnen gemeinsam dem frohen Rasenspiel hingegeben hatte. Zwar schaffte er’s noch immer nicht, den rundlichen Nippel des Witthuesschen Klingelknopfes ohne die diesbezüglichen Assoziationen zu drücken, doch als nun Verena Witthues – Gott, war die noch jung; kaum halb so alt wie Witthues, 57 – auf ihn zugeschritten kam, da gelang es ihm tatsächlich, ihr nur eunuchenhaft-uninteressiert in die vergißmeinnichtblauen Augen zu blicken anstatt… »Mein Name ist Reinsch; ich bin gekommen, um mich bei Ihrem Manne zu entschuldigen…« Richtig stolz war er, daß er das so bühnenmäßig-profihaft rausgebracht hatte; manch Bildschirmheld hätte für einen solchen Satz schon einen Teleprompter benötigt. Sie hielt ihren Krocketschläger wie einen Morgenstern (»Angst, aha!«) und zerklatschte mit der freien Hand eine moskitogroße Mükke, die sich auf ihrem sonnenbraunen Oberschenkel gerade laben wollte. »Mein Mann ist verreist…« Das waren genau die vier Worte, die Reinsch erwartet hatte; so und nicht anders. Nun hätte er sich ja schon weitere Sätze zurechtlegen können, doch das hatte er nicht, dabei seiner Improvisationskunst vertrauend. Bei einer Landesmutter von sechzig Jahren und mehr hätte das wohl auch geklappt, nicht aber in der Nähe einer solchen Frau. »Unsere Ermittlungen laufen ja noch«, hörte er sich plötzlich sagen, die schläfrig-laszive Südstaatenstille dieses Nachmittags fast knallartig zerbrechend, »und da sind wir auch auf einen Satz im Brammer Tageblatt gestoßen, der uns…« Er nestelte linkischverwirrt den Ausriß aus der Brusttasche seines Hemds. »Nicht von EverChic…« Ein mühsamer Versuch, die Situation ein wenig zu entspannen. Doch umsonst. »Also, hier…« Er las ihr nun vor: »Wie wir weiter erfahren haben, ist die Firma EverChic-Bramme erst im Januar dieses Jahres durch die Vermittlung von Verena Witthues aus
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dem Eigentum der Familie Lessow, die sie 1935 gegründet hatte, an die EURODRESS – also die Firma Ihres Mannes – übergegangen…« »Ja, und…?« Verena Witthues sah durch ihn hindurch. »Da haben Sie also selbst mit Winston Lessow verhandelt?« Als der Name Winston Lessow fiel, verlor sie dann die Contenance; ihren Krocketschläger so gegen das Torgitter knallend, daß Reinsch unwillkürlich einen Satz nach hinten machte, schrie sie: »Hören Sie auf, hier herumzuschnüffeln! Sie haben schon genug Schaden angerichtet, Mann!« Damit lief sie ins Haus, einen wie wahnsinnig kläffenden Hund am Zaun zurücklassend. Reinsch schwang sich, schneller als manch Querfeldein-As, auf sein Rad und suchte das Weite. Eine so außergewöhnliche Szene für ihn, daß er noch Stunden später, als er auf einem Nebenplatz des TSV-Stadions mit Carsten Corzelius zusammen Fußballer-Gymnastik machte, im Reporterstil davon berichten mußte. Er stand Rücken an Rücken mit Corzelius, und immer auf Pfiff des Trainers hin mußten sie sich gegenseitig, die Arme ineinander verhakt, über ihre krachenden Rücken in die Höhe ziehen. »Hat die denn was mit dem Lessow?« fragte Reinsch. »Es geht das Gerücht, seit sie beide zusammen beim Klassentreffen in Lausanne waren, letzten Sommer…« »In Lausanne…?« »Ja, beide waren mal im selben Internat in der Schweiz…« Corzelius keuchte und hatte Mühe, nicht allzu spöttisch zu wirken. »Bei ’ner Kahnpartie aufm Genfer See sollen sie beide gekentert sein, dicht am Ufer, zu zweit allein, und als sie dann durchs Wasser gewatet sind, da…« »Aha!« »Sie sagt, sie hätte sich gewehrt, andere sagen, wenn schon Schreie, dann höchstens solche der Lust und daß es nur ihre Rache gewesen sei, weil Witthues was mit seiner Sekretärin gehabt haben soll, der lieben Viola…« Die Trillerpfeife ihres Trainers unterbrach ihn. »Wir sind hier nicht zum Quatschen da! Los, Partnertausch!«
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Sie bekamen beide neue Kameraden zugeteilt und hatten in der Folge ihren Leib ohne libidinöse Kommunikation zu üben. »Und dieses Bild – Herr Lessow und Frau Witthues eng umschlungen im Genfer See – hat nun Ihre Phantasie entzündet…?« »Mehr die meiner Frau als meine eigene…« »Na, na!« »Sie hatte sich schon ihre eigenen Gedanken gemacht. Ich hatte ihr doch erzählt, daß der sterbende Dr. Ottmers zu mir noch etwas von einem Hemd gesagt hätte und dann noch ein Wort hervorgestoßen hat, das wie ›Lessos‹…« »…ja, ja, ich weiß!« »Wie gesagt, ich habe das zuerst als ›Lessow‹ gedeutet, Winston Lessow/EverChic, aber meine Frau ist dann, als ich ihr von meinem Besuch bei Frau Witthues und dem Gespräch mit Carsten Corzelius berichtet habe, auf die Idee gekommen, Dr. Ottmers habe nicht ›Lessos‹, sondern ›Nessos‹ gesagt: also ganz logisch ein ›Nessoshemd‹ gemeint…« »Haben Sie denn da genaueres darüber gewußt; ich meine, von der Sage mit dem Nessoshemd…?« »Nein, nur so in etwa. Aber meine Frau hat’s mir dann vorgelesen…« Jana Reinsch ging an ihrer Bücherwand entlang, besah sich die bunten Einbandrücken und zupfte ab und an dieses oder jenes Werk heraus, fand aber nichts, was sie entscheidend weitergebracht hätte. »Der Vergleich mit Herakles ist gut«, sagte Reinsch, seine Bratkartoffeln kauend. »Witthues der Herakles, der Bramme, den Augiasstall, ausmisten soll und der den Nemeischen Löwen, genannt Günther Buth, endlich erlegt.« »Na, bitte, du weißt doch noch ganz gut Bescheid!« »Aber nichts Genaueres über das berühmte Nessoshemd – nur, daß das irgendwie vergiftet war… Hat denn Sören nicht den Schwab oben – Sagen des Altertums?« »Nein, hat er nicht. Der fängt höchstens erst beim Robin Hood an…« »Kein Reihenhaus für Robin Hood, ja…!«
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»Wie…? Ach so!« Jana lachte zwar, kam aber über diese Assoziation prompt auf ihre Freundin Anke, denn die saß ja jetzt in jenem Laden, in dem Benno Drobsch, der »Robin Hood von Bramme«, bevor er in den Bau gefahren war, seine Träume vom kleinen Reihenhaus geträumt hatte. »Ich frag mal eben bei Anke nach, die haben doch jetzt einen in der Wohngemeinschaft, der am AlbertSchweitzer-Gymnasium Latein und Griechisch unterrichtet.« »Ja, gute Idee!« Jana eilte zum Telefon und kam Minuten später mit der Nachricht zurück, bei Anke hätten sie Reclams Lexikon der antiken Mythologie, und sie könne es sogleich abholen. »Ich fahr dann mal los mit’m Rad.« »Ja, okay!« Eine halbe Stunde später war sie wieder da, besagtes Buch im Einkaufskorb, und hatte schon von Ankes althumanistischem ÖkoGlaubensgenossen erfahren, daß die ganze Chose auch mit Herakles’ Weib zusammenhänge, Deïaneira mit Namen, Königstochter aus Kalydonien, Kalydon. »Also Verena gleich Deïaneira«, sagte Reinsch, als er dies vernommen hatte. »Paßt ja prima! Aber Königstochter…?« »Ich denke, sie ist eine geborene König…? Als sie in Hamburg Theater gespielt hat, stand das mal in’er Zeitung, daß die Schauspielerin Verena König den Witthues…« »Ja, stimmt!« »Des Königs Tochter also… Ist ja direkt beängstigend mit den ganzen Parallelen! Fehlt bloß noch, daß sie letztes Jahr in NeuKaledonien Urlaub gemacht haben…« »Weiß ich nicht. Aber lies doch mal vor, die Sage…!« Und Jana begann: »Nicht lange, nachdem sie Kalydon verlassen hatten, kamen Herakles und Deïaneira an den Fluß Buenos. Der Kentaur Nessos, der lange zuvor von Herakles aus Arkadien vertrieben worden war, hatte hier als Fährmann ein einträgliches Geschäft gefunden. Der Schurke hatte die Unverschämtheit zu behaupten, er habe das Recht dazu von den Göttern als Belohnung für seine Tüchtigkeit erhalten. Herakles brauchte selbst
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keinen Fährmann, nahm aber Nessos’ Dienste für seine neue Frau in Anspruch. Als er durch das brusttiefe Wasser schritt, hörte er Deïaneira um Hilfe schreien. Er eilte zum anderen Ufer und erschoß Nessos, der gerade seinen schönen Passagier vergewaltigen wollte.« »Und so was ist nun heute in der EG!« lachte Jana. Reinsch verwies ihr dies; es sei jetzt nicht die Zeit für solche Späße. Mit fast wissenschaftlichem Ernst trug er ihr seine Schlußfolgerung vor: »Wenn Nessos gleich Lessow, dann müßte Witthues ja Lessow erschossen haben, nach der Genfer-See-Affäre, meine ich; hat er aber nicht…« »Was nicht ist, kann ja noch werden…« »Lies mal weiter, bitte…!« Jana fuhr fort: »Im Sterben heuchelte Nessos gegenüber der naiven Deïaneira Reue. Er sagte ihr, sie solle sein blutiges Gewand an sich nehmen oder sein verspritztes Blut und den Samen auffangen und sie auf Herakles’ Gewand streichen, wo sie als Liebeszauber wirken würden.« »Das waren ja auch schon ganz schöne Säue damals!« »Deïaneira, die wußte, daß ihr Gatte sich in der kurzen Zeit seit ihrer Heirat bereits eine Konkubine genommen hatte, hielt es für durchaus wahrscheinlich, daß sie eines Tages ein solches Mittel brauchen könne. Ohne zu merken, daß das Blut des verräterischen Kentauren von dem tödlichen Gift der Hydra auf Herakles’ Pfeil durchdrungen war, befolgte sie Nessos’ Anweisungen und hob es auf.« Reinsch wiederholte seine Kritik an der Welt der Helenen (»Stille Einfalt, edle Größe, haha, und kein Wunder, daß in Bremen die Nutten in der Helenestraße residieren!«), war aber insgesamt ziemlich enttäuscht von ihrer Exkursion ins Griechisch-Mythologische. »Für unseren Fall bringt das ja nicht viel…«
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»Aber hast du nicht gesagt, daß Witthues auch ’ne Geliebte gehabt haben soll – siehe Konkubine…?« »Ja, angeblich seine Sekretärin; eine Viola Sowieso…« »Hier steht was von einer Iole!« lachte Jana. »Sag bloß!?« »…die hat er mal als Preis bei einem Wettkampf im Bogenschießen gewonnen, doch sie war ihm von einem König namens Eurytos nicht ordnungsgemäß ausgehändigt worden. Worauf Herakles nun einen Krieg vom Zaune bricht – letztes Abenteuer, letzter Sieg…« Nachdem sie die Story soweit selber komprimiert hatte, las sie nun weiter: »Im Triumph holte er Iole als seine Konkubine zu sich. Als er zum Kap Kenaion im Nordwesten von Euböa kam, errichtete er für seinen Vater Zeus einen Altar. Da er die Riten des Opfers mit Schicklichkeit einhalten wollte, schickte er seinen Herold Lichas nach Trachis, um von Deïaneira ein frisches Gewand zu holen. (…) Als Deïaneira von der jungen Konkubine ihres Gatten erfuhr, fürchtete sie, er werde sie selbst wegschicken… Sie erinnerte sich darum an Nessos’ angeblichen Liebeszauber und strich ihn auf das Gewand (oder sie schickte Nessos’ Gewand direkt mit).« »Schlechte Kripo-Arbeit damals, wenn sie das nicht richtig mitgekriegt haben!« »Sofort begann das Gift der Hydra, das Herakles benutzt hatte, um so viele Feinde zu vernichten, zu wirken und zerfraß seine Haut. Er riß das Gewand von seinem Körper, aber das Fleisch löste sich mit ab. Im Todeskampf packte er den unschuldigen Lichas, wirbelte ihn an den Füßen herum und warf ihn ins Meer… Sterbend kehrte Herakles nach Trachis zurück, wo sich Deïaneira tötete, als sie von dem Unheil erfuhr, das sie unwissend angerichtet hatte.« »Hm…« machte Reinsch, als Jana geendet hatte. »Müßte sich Verena Witthues nun selber töten…«
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»Quatsch: Sie hat doch ihrem Mann keins der tödlichen EverChicHemden geschenkt!« »Nein!« Reinsch sprang auf; das war’s! »Kein einzelnes Hemd, richtig, aber dafür eine ganze Hemdenfabrik!« Jana starrte ihn an. »Wieso das…?« »Na, überleg doch mal: Sie fährt in die Schweiz zum Klassentreffen, und hier in Bramme munkelt man, sie hätte da was mit dem Lessow gehabt. Witthues erfährt das und ist fürchterlich sauer, will Lessow genauso eliminieren wie damals der Herakles den Nessos. Nun – wir haben schließlich 1985 – erschießt er ihn aber nicht, sondern schwört, dessen Firma, die vergleichsweise kleine EverChicBramme, mit Hilfe seiner großen EURODRESS zugrunde zu richten. Da sagt Verena, um ihn versöhnlich zu stimmen, um zu zeigen, daß sie ihn noch immer liebt, da sagt Verena: Brauchst du gar nicht mehr, ich hab ja Lessow schon lange ausgetrickst, war ja alles nur ’ne große Show von mir. – Wieso? – Na, die Familie Lessow ist bereit, dir die EverChic für ’n Appel und Ei zu verkaufen, wenn Winston weiter in der Geschäftsführung bleiben kann. Das Treffen mit ihm, da war gar nichts weiter; wie gesagt: Ich hab das nur für dich getan, damit du hier in Bramme ganz groß rauskommst.« Jana dachte nach. »…so könnte’s immerhin gewesen sein, sicher… Aber was hat denn das noch mit der Sage zu tun, dem vergifteten Hemd?« »Ganz einfach: Nicht das Hemd war vergiftet, sondern sozusagen die ganze Hemdenfabrik!« »Wie…?« »Denk doch mal nach: Lessow wußte von Dr. Ottmers, daß bestimmte EverChic-Hemden, nämlich die vanillegelben mit dem Cadmium im Farbstoff drin, unter besonders ungünstigen Umständen bei besonders prädestinierten Trägern toxische Schocks auslösen können. Was hat er nun gemacht? Er hat Dr. Ottmers mit viel Geld zum Schweigen gebracht und dann erlebt, daß der entweder Selbstmord begangen hat, was für mich die größere Plausibilität besitzt, oder aber Opfer eines Verkehrsunfalls geworden ist, jedenfalls nicht mehr am Leben war. Ein weiterer Mitwisser war nicht vorhanden. Nun ging es Lessow und seinem Freund Günther Buth darum, die
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Gefahr Witthues aus der Welt zu schaffen und sich den millionenschweren Platz am Brammer Hafen für ihre Zwecke zu sichern. Also haben sie Verena Witthues benutzt, ihrem Mann die eh konkursbedrohte EverChic unterzujubeln, die Fabrik der Lessow- oder NessosHemden. Irgendwann, so ihr Kalkül, würde es schon einen spektakulären Zwischenfall geben – und dann ade Wilhelm Witthues.« Eine Rechnung, so Reinsch weiter, die voll aufgegangen sei. »…Sie haben dies ›Verfahren‹ dann ›Management by Nessoshemd‹ genannt…?« »Ja, analog zum ›Management by Objectives‹, der Steuerung von Menschen durch Zielvorgabe, oder dem ›Management by Delegation‹, wo man…« »Da haben Sie ja eine Menge Kenntnisse auf diesem Gebiet…« »Die umfassende Ausbildung an der HÖV-Verwaltungsbetriebslehre I.« »Wie auch immer: Mit Ihren gesammelten Erkenntnissen sind Sie dann sofort zu Ihrem Chef gegangen, um die notwendigen Maßnahmen – Ihrer Meinung nach notwendigen Maßnahmen! – gegen Lessow, Buth und Dr. Schwei in die Wege leiten zu lassen…?« »Ja, selbstverständlich!« Seit seiner Geburt, damals nur durch schnellen Austausch des Blutes gerettet, hatte sich Karl Kämena darauf gespitzt, beinahe jede der hier landesüblichen Krankheiten auch wirklich selber zu haben – oder war er nur Deutschlands größter Hypochonder, wie seine Kollegen immer meinten? Gleichviel, heute war es seine Bandscheibe, die ihm schwer zu schaffen machte, vor allem das dauernde Sitzen zur Qual werden ließ. So war er von vornherein wenig geneigt, Reinschs Vortrag über die Schlechtigkeit des Mikrokosmos Bramme und die mafiosen Machenschaften der Herren Lessow, Buth und Dr. Schwei ernster zu nehmen als sein Problem, was wohl günstiger für ihn sei, die Vormittags- oder die Nachmittagssprechstunde seines Orthopäden. Doch Reinsch war große Klasse heute, hatte Fotos mit, die Lessow und Verena Witthues bei der Lausanner Kahnfahrt zeigten, konnte die Aussage der Ottmers-Witwe präsentieren, ihr Mann habe ihr
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Gelder unbekannter Herkunft hinterlassen, wußte die Freundschaft Lessow-Buth und deren Nähe wiederum zu Dr. Schwei hinreichend zu belegen und verstand es zudem, seine Argumentationskette, bis hin zur conclusio des Management by Nessoshemd, auch rhetorisch glänzend zu entwickeln. »…so konnte Wilhelm Witthues also vom Sockel geholt werden, damit unser nächster Bürgermeister dann Dr. Schwei heißt und am Hafen das neue Industrie- und Handels-Center eingerichtet werden kann…« Kämena starrte ihn an mit seinen lieben Bernhardineraugen. Die paar Monate, die er noch hatte… Eine hohe Auszeichnung war ihm avisiert worden, vielleicht gar das Bundesverdienstkreuz, denn wenn er – auch nach der Pensionierung noch –, bis 1987 etwa, weiter an der HÖV seine »Spurenkunde I und II«, sein Spezialfach, lehrte, dann kam er auf fünfzig Jahre öffentlichen Dienstes. Viele Mordfälle hatte er aufklären helfen, war fast eine Heldenfigur seiner Stadt – und sollte nun mithelfen, sie derart in den Schmutz zu ziehen!? Ehrenwerte Männer Schimpf und Schande aussetzen, nur weil sich einer seiner Mitarbeiter – noch dazu einer, der hier als mehr oder minder pathologisch eingestuft wurde – eine mehr als hanebüchene Geschichte ausgedacht hatte? Reinsch ahnte, woher Kämenas Widerstand kam, und er hielt es für gut, ihn ein wenig unter Druck zu setzen. »Wenn nun Stern oder Spiegel von der Sache erfahren oder Monitor, der Klaus Bednarz…?« »Wenn Sie mit diesem unausgegorenen Zeug an die Öffentlichkeit treten, dann…!« Kamen mehrere Drohungen. »Sie wissen doch, das Beamtenrecht…!« »Ich weiß. Aber es ist nun mal so, wie es ist!« »Und wenn es wirklich so wäre, dann müßten Sie erst mal einen echten Beweis dafür haben – und den haben Sie nicht; das sind doch alles nur Spekulationen!« Reinsch schluckte und stand auf. »Und was ist dann passiert?« »Dr. Schwei ist mit dreiundfünfzig Prozent der Stimmen zum Bürgermeister gewählt worden, und ein paar Wochen später hat im
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Brammer Hafen die große Grundsteinlegung für die ersten Fabrikationsanlagen stattgefunden.« »Mit Reden von Herrn Buth und Dr. Schwei…?« »Ja.« »…oh, ist Ihnen nicht gut…!? Ich mach mal eben das Fenster auf…!« »Danke. Wenn ich nur mal kurz mein Sultanol…? Ein Sprühstoß und dann…« »Ja, natürlich.« »So, danke… Es geht schon wieder.« »Fein… Wo waren wir stehengeblieben…? Ah, ja, bei der Grundsteinlegung am Brammer Hafen. Sie waren da?« »Ja.« »So ein bißchen masochistischer Genuß?« »Nein, Kämenas dienstliche Weisung.« »Mit einer ungeheueren Wut im Bauche, voll des heiligen Zorns…?« »Ich brauch mich doch nicht selber zu belasten!« »Sie hätten viel Echo in der Öffentlichkeit, viel Publicity, wenn Sie jetzt ein volles Geständnis ablegen würden. Es wäre doch auch gut für Ihre Sache; ein Zeichen, ein Fanal…« »Ich habe ganz ruhig dagestanden und den beiden zugehört, Buth und Dr. Schwei. Wie sehr diese neuen Produktionsstätten dem Gemeinwohl und dem ganzen Bramme dienten. Investitionen für unsere Enkel…« »Und Sie haben nicht etwa Beifall geklatscht, als die Umweltschützer – Ihre Frau dabei und die Damen Anke und Corinna – den Festplatz stürmen wollten…? Und Sie haben nicht auch mitgebrüllt, Sätze wie ›Stirb gut mit Buth‹ oder ›Schwei, Schwei, Schwein – Umweltschwein!‹…?« »Nein.« »Na, schön… Ich darf das aber mal notieren; sehr interessant…! Also: Hat keinen Dampf abgelassen, sich nicht abreagiert, das Ventil nicht geöffnet, alles in sich hineingefressen.« »Sie drehen und wenden aber auch alles so, daß es…« »Das ist doch mal ’ne Tatsache.«
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»Die Tatsache ist, daß ich da außerordentlich beherrscht zugehört habe!« »Lassen wir das offen für die Hauptverhandlung… Weiter also in der Sache…! Im Anschluß an die Grundsteinlegung hat dann das große Fußballspiel Polizei gegen Prominente stattgefunden…« »Im TSV-Stadion, ja…« »Sie haben zwar in der vierundzwanzigsten Minute ein Tor geschossen, aber dennoch hat Ihre Mannschaft kurz vor Halbzeit eins zu zwei zurückgelegen…?« »Ja, Corzelius hat zweimal Glück gehabt mit seinen Schüssen.« »Und der neue Bürgermeister im Tor, Dr. Schwei, der hat phantastisch gehalten, zwei, drei Ihrer Schüsse, sogenannte unhaltbare alle, hat die Bälle – trotz seines Alters – noch regelrecht aus dem Dreieck herausfischen können… Ich hab hier den Spielbericht des Brammer Tageblattes… Stimmt das denn wirklich?« »Ja, das ist wohl richtig so…« »Das hat Sie noch mehr aufgestachelt?« »Ich hatte ja mein Tor geschossen – und noch die ganze zweite Hälfte Zeit, weitere Treffer…« »Ihr Haß gegen Buth und gegen Dr. Schwei…« »Meine politische Gegnerschaft!« »Da bekommen Sie plötzlich einen Paß steil in den Raum, laufen los, rempeln Buth zu Boden, sind nun völlig frei, stürmen auf den Torwart zu. Dr. Schwei will den Winkel verkürzen, kommt aus seinem Tor gelaufen, Ihnen entgegen, wirft sich, stürzt sich Ihnen vor die Füße und kann den Ball in der Tat unter sich begraben…« »Der war noch frei, der Ball!« »Sie holen dennoch aus und treffen ihn mit Ihren schweren Fußballschuhen mit voller Wucht am Kopf. Wie geplant, wie berechnet!« »Und wenn es wirklich so wäre, da müßten Sie erst mal einen echten Beweis dafür haben – und den haben Sie nicht; sind doch alles nur Spekulationen!«
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Marcus P. Nester Der Donnervogel Seit drei Tagen versuche ich nun vergeblich, Edgar zu erreichen. Er sei verreist, heißt es in seinem Büro. Nein, man dürfe nicht bekanntgeben, wo er sich aufhalte – auch mir nicht. Dabei bin ich immerhin sein behandelnder Arzt. Natürlich begreife ich, daß Edgar dem Rummel entfliehen wollte, den sein Fall in der Presse verursacht hat. Aber ich muß ihn dringend noch einmal untersuchen. Der Bericht des gerichtsmedizinischen Instituts, den ich heute morgen erhalten habe, hat mich sehr verwirrt. An die Polizei, die bestimmt weiß, wo mein Schulfreund steckt, kann ich mich nicht wenden. Da müßte ich zuviel von der Geschichte preisgeben – und dann geriete Edgar bös in die Bredouille. Aus alter Gewohnheit habe ich festgehalten, was ich über die Affäre weiß; wie ich mir über jeden Patienten ausführliche Notizen anlege. Ich habe heute morgen keine Sprechstunde, und bis mir meine Praxisgehilfin das Gespräch mit dem Gerichtsmediziner durchstellt, kann ich die Ereignisse der letzten zehn Tage Revue passieren lassen, anstatt Krankengeschichten zu studieren. Edgar H. Bodmer fluchte. Das war früher selten vorgekommen, denn der Herr Dr. jur. Bodmer war ein sehr beherrschter Mensch. Er fluchte denn auch nicht in der Öffentlichkeit, sondern in seinem Auto. Und er fluchte über sein Auto. Das kam in letzter Zeit leider häufiger vor. Dabei hing Bodmer so an seinem Kabriolett, das er vor zehn Jahren – bereits betagt, aber in vorzüglich gepflegtem Zustand – erworben und seither gehätschelt hatte. Nun hatte der Thunderbird die lästige Macke entwickelt, beim Anfahren unvermittelt abzustellen. Dann hieß es den Schalthebel des automatischen Getriebes in die Position »Neutral« oder »Parkieren« schieben, den Motor starten, auf die Bremse treten und schließlich sanft, mit einem Druck aufs Gaspedal, den Knüppel auf »Drive« stellen. Obwohl Bodmer den Werkstattmeister beschworen hatte, ungeachtet aller gesetzlichen Bestimmungen das Standgas so hoch wie irgend
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möglich einzustellen, geschah es immer öfter, daß der Motor mit einem Gurgeln erstarb und dadurch dem Lenker peinliche Momente bescherte, weil die nachfolgenden Fahrer sich über das Hindernis aufregten – was Bodmer gut nachempfinden konnte – und ihrem Mißfallen durch wütende Hupsignale, giftige Blicke oder eindeutige Handzeichen Ausdruck verliehen. Dann versank Bodmer jeweils in den weichen Polstern seiner Karosse und hoffte, daß niemand in ihm den aufstrebenden Stadtpolitiker erkannte. Edgar H. Bodmer war in Zürich beileibe kein Unbekannter. Und dafür hatte er zielstrebig gesorgt. Aus kleinbürgerlichen, früher hätte man gesagt: proletarischen Verhältnissen stammend, Sohn eines Maschinenzeichners in der über die Landesgrenzen hinaus bekannten Waffenschmiede, hatte er nach dem Besuch des Gymnasiums den Sprung an die Universität gewagt – zum Entzücken seiner Eltern, die es ihrem Einzigen an nichts fehlen ließen. Anno 68 dann nicht gerade ein Wortführer, aber ein verläßlicher Weggefährte im Kampf um eine neue Studienordnung – zum Entsetzen seiner Eltern –, doch schließlich ein mit »Magna cum laude« ausgezeichneter Doktor der Jurisprudenz. Das Anwaltspatent war schon schwieriger zu erlangen gewesen, weil in der städtischen Berufsvereinigung wohl Bedenken wegen Bodmers »revolutionärer« Vergangenheit aufgekommen sein mochten. Aber letztlich hatte er sich durch seinen Eintritt in eine gutbürgerliche Partei und seine aktive Mitarbeit rehabilitiert. Er paßte so schön in das Leitbild der wieder erstarkten Rechten: der strebsame junge Mann, im jugendlichen Eifer kurz fehlgeleitet, dann aber sich auf die wahre Aufgabe der geistigen Elite besinnend. An ihm ließ sich demonstrieren, daß die Partei des gesunden Mittelstandes, zu dem sich jeder zählen durfte, der nicht gerade auf die Sozialhilfe angewiesen war, keine Vorurteile und kein Nachtragen kannte. So hatte es kaum überrascht, daß Bodmer vor vier Jahren für den Gemeinderat vorgeschlagen und gleich im ersten Anlauf auch gewählt worden war. Die Partei konnte auf eine treue Wählerschaft zählen, die vielleicht heimlich hoffte, ihre Kinder oder Enkel würden es einmal Typen wie dem Edgar H. Bodmer gleichtun. Jetzt gerade hätte ihm wohl niemand nacheifern mögen, denn der Anwalt, Gemeinderat, Verwaltungsratspräsident, Kommissionsvor-
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sitzende, Zunftgenosse, Hausbesitzer und Ehegatte stand mitten auf einer vielbefahrenen Kreuzung, blockierte zwei Fahrspuren und – was ihn allerdings weniger störte – ein Tramgeleise und brachte seinen Wagen nicht mehr in Gang. Der Donnervogel kreischte und schüttelte sich – doch der Motor sprang nicht an. Und das störte Bodmer gewaltig; nun fühlte er sich dem Spott seiner Umgebung preisgegeben. Die Ampel hatte inzwischen für die Gegenrichtung auf Grün geschaltet, und Bodmers Thunderbird ragte wie ein erratischer Block aus dem Pendlerstrom. Standfestigkeit mochte zu den erwünschten Eigenschaften eines Politikers zählen – im Getümmel des morgendlichen Berufsverkehrs erwies sie sich entschieden als Hemmnis. Wütend schaute Bodmer zu dem Tramzug auf, der langsam, leise drohend auf ihn zugerollt war. Der Kondukteur wedelte ungeduldig mit der Hand, als wolle er eine lästige Fliege verscheuchen. Es war nicht einmal ein Mann, stellte Bodmer fest, welcher da hinter den spiegelnden Scheiben grimmig auf ihn herabsah, nein, gerade vor einer jener Weibspersonen mußte er sich blamieren, die mittlerweile vermehrt im Fahrdienst eingesetzt wurden, ihre Aufgabe auch zur Zufriedenheit der Benutzer und der Verwaltung versahen, bei Bodmer aber die Schreckensvision eines bolschewistischen Zürichs hervorriefen. Endlich sprang der Thunderbird an, schlürfte mit einem zwitschernden Sauggeräusch den Treibstoff in seine Eingeweide, begann zu ruckeln und zu zittern, kam langsam auf Touren, stieß dicke Schwaden unverbrannten Benzindampfes aus – dann drehte der Motor wieder rund. Bodmer trat aufs Gas, der Wagen tat einen Satz, ließ Tram und Flintenweib und die dicht aufgeschlossenen Mittelklassewagen hinter sich stehen: Der Donnervogel entfaltete seine Schwingen. Vor der Kreuzung beim Schauspielhaus hatte sich die übliche Kolonne gebildet. Bodmer reckte sich in seinem Sitz. Evelyn hatte recht; sie sollten sich endlich jene Gesundheitsbetten mit den beweglichen Latten anschaffen, die für einen tiefen Schlaf angepriesen wurden, auch wenn Bodmer diese Modelle als Altweiberschragen belächelte.
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Langsam rückten die Fahrer auf die Kreuzung zu, bis Bodmer selbst die Pole Position innehatte. Gerade als er starten wollte, glaubte er von links die Dreier-Tram wahrzunehmen, stieg auf die Bremse, sah, daß es sich um den Achter handelte, der hier abbog, gab somit wieder Gas – da erstarb sein Motor. Im nächsten Augenblick krachte es. Der Donnervogel wurde nach vorne gestoßen, Bodmer erst in den Sitz gedrückt, dann in die Gurte geworfen. Bodmer war eher verdutzt als erschrocken. In all den Jahren, da er nun diesen mächtigen Straßenkreuzer lenkte, hatte er nie auch nur die kleinste Schramme eingefangen – und jetzt war ihm irgendein unbedarfter Trottel hinten reingeknallt. Ein junger Mann in weißer Malermontur war aus dem orangen VW-Bus geklettert und besah sich, betreten im struppigen Bart kraulend, den angerichteten Schaden. Er hatte anscheinend noch nach links auszuweichen versucht. Seinem Lieferwagen war der Aufprall übel bekommen, die ganze rechte Front war eingestaucht. Bodmer stieg aus. Sein Donnervogel war verletzt. Wie man nach einem Schnitt nicht gleich hinzusehen wagt, scheute sich Bodmer vor dem Anblick der Zerstörung. Bereits die Flanke wies Spuren der Karambolage auf. Die Abdekkung des Hinterrades hatte sich teilweise gelöst und hing hinunter wie eine ausgerupfte Schwanzfeder. Die als Stoßfänger dienende Chromeinfassung der linken Heckleuchte war ausgerissen und stand in einem absonderlichen Winkel vom Blech ab. Bodmer strich mit der Hand über den Knick im Kofferraumdeckel und spürte, wie dort die hellblaue Lackschicht absplitterte. »Es tut mir leid.« Verlegen näherte sich der junge Maler. »Ich habe geglaubt, Sie fahren gleich los.« »Geglaubt…«, knurrte Bodmer. »Nicht aufgepaßt haben Sie!« »Es sah so aus, als ob…« »Wollen Sie etwa Ihre Schuld bestreiten?« fuhr Bodmer den Kerl an. »Nein, nein, bloß erklären, wieso…« »Dies können Sie auf dem Polizeiposten. Wir fahren jetzt hin und erstellen ein Unfallprotokoll.«
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»Muß das denn sein?« muffelte der Bursche. »Wegen so einer Bagatelle. Ich unterschreib Ihnen ja, daß ich für den Schaden aufkomme.« »Und dann macht Ihre Versicherung Zicken – nein, ich kenne das.« »Mann, lassen wir doch die Schmier aus dem Spiel. Sonst krieg ich wieder eine Buße wegen Nichtbeherrschen des Fahrzeuges, oder wie das heißt. Ist ja niemand verletzt worden.« »Das sagen Sie. Und der Schlag in mein Genick?« Bodmer rieb sich den Nacken. Vor einiger Zeit hatte er einen harten Strauß mit einer der größten Versicherungsgesellschaften des Landes ausgefochten, die nicht für die Folgen eines sogenannten Schleudertraumas aufkommen wollte, das seine Klientin bei einem Auffahrunfall auf der Autobahn erlitten hatte. Dank überzeugenden ärztlichen Gutachten hatte Bodmer zu guter Letzt eine bedeutende Entschädigung herausgeschlagen. Gespannt verfolgten die unvermeidlichen Gaffer das Gespräch zwischen den beiden Fahrern. Wo schon kein Blut geflossen war, mochten vielleicht ein paar Hiebe fallen. Bodmer trat auf die Neugierigen zu. »Wer von Ihnen hat den Unfallhergang beobachtet?« Er fragte scharf und knapp, wie er es als Hauptmann vor seinen Soldaten tat. So direkt angesprochen, wollte niemand antworten, man sah verlegen zum Nachbarn oder eilte geschäftig davon, als sei einem plötzlich etwas sehr Dringendes eingefallen. Eine elegant gekleidete, etwas zu stark geschminkte Dame mittleren Alters und ein Rentner mit Pudel harrten weiterhin aus, blieben aber stumm. Bodmer ließ nicht locker. »Haben Sie gesehen, wie das passiert ist?« fragte er nun in einem freundlicheren Umgangston. Der alte Mann kaute auf seiner Unterlippe, die Frau lächelte entschuldigend. »Je ne parle pas allemand«, sagte sie. In korrektem, allerdings hartem und dialektgefärbtem Französisch erkundigte sich Bodmer, ob er sie als Zeugin notieren dürfe. »Sie sollten Ihren Wagen wegstellen«, mahnte ihn der Malergeselle und wies auf die Tram, das sich genähert hatte. Zum zweitenmal versperrte Bodmer an diesem Tag einem öffentlichen Verkehrsmittel den Weg.
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Die außerordentliche Generalversammlung im hinteren Konferenzraum der Praxis hätte längst beendet sein müssen. Der einzige Paragraph, den es zu ändern galt, war unbestritten. Um zu verhindern, daß die Aktien des kleinen Familienbetriebes an außenstehende Personen verkauft würden, sollte ein Vorkaufsrecht für die Teilhaber in die Statuten aufgenommen werden. Bodmer hatte seinem Klienten, dem alten Lanz, zu dieser vernünftigen Klausel geraten. Es waren weder der junge Advokat, der die Erben des verstorbenen Bruders beriet, noch die frischgebackenen Aktionäre selbst oder der an der Sitzung teilnehmende Treuhänder der Firma, die die Verhandlungen hinauszögerten, sondern der alte Schreinermeister. Seit mehr als einer Viertelstunde tat er nun begriffsstutzig, stellte Fragen, die mit dem Traktandum nichts zu tun hatten, versank gelegentlich ins Brüten und erzählte unvermittelt Anekdoten, die alle bereits zum Überdruß kannten. An einem anderen Tag hätten Bodmer, der den schrulligen Greis gut leiden mochte, diese Zicken nichts ausgemacht, doch nun, da ihm das Schicksal seines Donnervogels am Herzen lag, begann er sich über den verstockten alten Handwerker zu ärgern. Um sechs Uhr sollte er den lädierten Wagen zu seinem Garagisten bringen, um den Schaden gemeinsam zu begutachten – üblicherweise machte Vögtli seinen Laden bereits um halb sechs dicht. Doch erstens hatte er selbst an dem alten Thunderbird einen Narren gefressen, und zweitens hatte ihn Bodmer vor Jahren aus einer leidigen Angelegenheit herausgehauen. Ob Vögtli an dem Schmuggel von gestohlenen Luxuswagen nach der Türkei und arabischen Ländern tatsächlich so unbeteiligt gewesen war, wie dies Bodmer dem Gericht überzeugend dargelegt hatte, war ihm egal – Hauptsache, der Werkstattmeister kümmerte sich weiterhin so hingebungsvoll um seinen Lieblingsvogel. Bodmer richtete sich in seinem Sessel auf, streckte die Schultern nach hinten und reckte das Kinn hoch. Sein Nacken hatte den ganzen Nachmittag lang geschmerzt, und Bodmer begann sich ernstlich zu fragen, ob er bei der Kollision etwas abbekommen hatte. Mit einer undeutlich gemurmelten Entschuldigung stand er auf und ging zum Telefon, das auf einem kleinen Tisch neben dem Fenster stand. Die tief stehende Herbstsonne ließ die Dächer gegenüber glutrot auf-
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flammen. Seit Monaten hatte es nicht mehr geregnet, es schien, als wollte dieser Sommer nie zu Ende gehen. Bodmer wählte die Nummer seiner Sekretärin. »Fräulein Imhof, rufen Sie bitte meine Garage an und teilen Sie dem Chef mit, daß ich leider noch etwas später komme. Er soll aber unbedingt auf mich warten.« »Übrigens, Herr Doktor, hier draußen wartet immer noch die junge Frau, die Sie sprechen will.« »Ich habe Ihnen doch bereits gesagt, daß ich heute keine Zeit mehr habe. Vereinbaren Sie mit ihr einen Termin, oder schicken Sie sie zu einem Kollegen.« »Ich habe ihr beides vorgeschlagen, aber sie will…« Gereizt unterbrach Bodmer seine Sekretärin. Sie hatte sonst keine Mühe, ungebetene Besucher abzuwimmeln. »Sie müssen selbst sehen, wie Sie sie loswerden. Heute will ich niemanden mehr sehen, verstanden?« Er schämte sich ein bißchen, weil er so ungehalten geworden war. Die um den Konferenztisch Versammelten musterten ihn erstaunt. Der junge Jurist, der nochmals geduldig die Auswirkungen der Statutenänderung zu erläutern versucht hatte, war verstummt. Bodmer sah zum alten Lanz hinüber und merkte plötzlich, daß dieser seinen Widerstand aufgegeben hatte. Vielleicht verdankte Bodmer seinen Erfolg genau dieser Fähigkeit, im Ausdruck eines Menschen den ersten Moment des Zögerns, Nachgebens, Umschwenkens herauszulesen – und gleich auszunutzen. Er straffte sich, schritt auf den Tisch zu und lächelte entspannt. Ohne sich zu setzen, sprach er die Runde an. »Mir scheint, daß es meinem Herrn Kollega gelungen ist, die letzten Zweifel bezüglich unseres Traktandums auszuräumen – nicht wahr, Herr Lanz?« »Ja…« brummte der Alte gedehnt, und ein boshaftes Grinsen huschte über sein zerfurchtes Gesicht, »so wie er das erklärt hat…« Bodmer gönnte ihm den kleinen Triumph – wenn man nur endlich zum Schluß kam. »Gut. Dann möchte ich den Herrn Vorsitzenden bitten, zur Abstimmung über den neuen Paragraphen 4b zu schreiten.«
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Der Treuhänder ergriff die Gelegenheit, sich gebührend in Szene zu setzen, indem er das völlig klare Abstimmungsergebnis – einstimmige Annahme – feierlich registrierte und verkündete und darauf weitschweifig beschrieb, welche Publikationen, Anmeldungen und Eintragungen vorzunehmen seien, bis er den Aktionären die überarbeiteten Statuten zustellen könne. Fast hätte Bodmer die schmächtige, schwarzgekleidete Gestalt übersehen, die in einem der altmodischen Besuchersessel im Vorraum saß. Das wachsame Fräulein Imhof rief ihn respektvoll, doch entschieden vom Lift zurück und wies auf die Warteecke. »Ihre Besucherin, Herr Doktor Bodmer!« »Das war nun nicht nötig«, zischte er im Vorbeigehen seiner Sekretärin zu. Dann wandte er sich an die junge Frau, die aufgestanden war. »Hören Sie, mein Fräulein. Was immer Sie auf dem Herzen haben, heute kann ich mich nicht mehr damit befassen. Vereinbaren Sie mit jener freundlichen Dame einen Termin. Ich gehe!« »Kann ich mitkommen?« Bodmer drehte sich überrascht um. Er hatte die junge Frau kaum angesehen, sondern sich in den Regenmantel geworfen, den er trotz der anhaltenden Schönwetterperiode stets mit sich führte. Das Mädchen sah ihn mit großen, hellen Augen bittend an. Es waren schöne, ausdrucksvolle, ein bißchen traurige Augen – irgendwie kamen sie Bodmer bekannt vor. Was diese junge Generation sich herausnimmt, dachte der Rechtsanwalt. »Darf ich mitkommen?« – nicht etwa: »Dürfte ich Sie wenigstens kurz begleiten?« Als könne das junge Ding einfach über seine Zeit verfügen. Sie war größer, als sie zuerst geschienen hatte, aber sehr schmal und zerbrechlich. Bevor Bodmer etwas erwidern konnte, trat sie auf ihn zu und sagte leise: »Meine Mutter hat mir gesagt, wo ich Sie finde. Ich bin Kathrin Amstutz.« Bodmer erstarrte. Natürlich. Diese Augen: Silvias Tochter. Erst im Lift sprach er wieder mit dem Mädchen, das er nie als sein Kind anerkannt hatte. »Ich habe…«, er zögerte, ob er sie duzen sollte. Er hatte das Mädchen seit mindestens sechs Jahren nicht mehr getroffen. »Ich habe Ihrer Mutter ausdrücklich gesagt, daß ich keinerlei Kontakt wünsche.«
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»Ich weiß, Herr Doktor Bodmer«, sagte sie sanft, und die formelle Anrede klang ihm fremd, fast absurd. »Ich hätte Sie auch nicht aufgesucht, wenn ich nicht so dringend auf Ihre Hilfe angewiesen wäre.« »Aha, darum geht es.« Seit über achtzehn Jahren zahlte er nun Alimente – oder Unterstützungsbeiträge, wie er sie in der Übereinkunft genannt hatte, die er damals mit Silvia getroffen hatte. Keine Vaterschaftsklage – dafür eine angemessene Unterhaltszahlung bis zur Vollendung des zwanzigsten Lebensjahres. Des Vertrags, am Anfang seines Studiums aufgesetzt, brauchte sich Bodmer auch heute nicht zu schämen – wenigstens bezüglich der juristischen Abfassung. So schwer es ihm zu Beginn gefallen war, von seinem knappen Einkommen als Werkstudent die vereinbarten Summen abzuzweigen, so wenig spürte er nun von dem Dauerauftrag, den seine Bank monatlich ausführte. Eine Indexierung der Zahlungen hatte er natürlich vermieden. »Sie wissen Bescheid?« fragte das Mädchen erstaunt. »Ich kann es mir denken.« Mit einer galanten Bewegung stieß Bodmer die Lifttür auf. »Sie wollen mehr Geld.« »Nein«, sagte das Mädchen mit einem kleinen, bitteren Lachen. »Ich komme schon zurecht. Ich muß Sie in einer anderen Angelegenheit sprechen.« Sie standen auf der Straße, in der es von Feierabend Suchenden wimmelte. In einer Stunde würde hier außer den Nachtwächtern kein Mensch mehr anzutreffen sein. Die Hausfassaden, vom Widerschein des Abendhimmels in ein boudoirmäßiges, lachsfarbenes Licht getaucht, verströmten eine unkeusche Wärme, mit der sie sich den unzeitgemäß heißen Tag über vollgesogen hatten. Auf dem Weg zur Tiefgarage brachte Kathrin ihr Anliegen vor. Seit über einem Jahr wohnte sie nicht mehr bei ihrer Mutter, sondern in einer Wohngemeinschaft, die sich in einem Abbruchhaus in Oerlikon eingenistet hatte. Es war eine vernachlässigte Mietskaserne aus den zwanziger Jahren, die nun dem Erweiterungsbau des benachbarten Warenhauses weichen mußte. Nach mehreren Handänderungen gehörte die Liegenschaft jetzt einer Immobiliengesellschaft, die beim Kauf gleich vorsorglich allen Mietern gekündigt hatte. Als letzte
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harrten eine alte Frau – seit über vierzig Jahren dort wohnhaft –, eine vielköpfige Familie tamilischer Flüchtlinge und Kathrins Genossen in der verlotterten Bude aus. Vor kurzem waren die Wasser- und Stromzufuhr unterbrochen worden, und schließlich hatten die letzten Mohikaner einen Räumungsbefehl erhalten. Empört klaubte Kathrin das Schreiben aus ihrer kleinen Tasche und streckte es Bodmer hin. Ihre Stimme hallte in dem kahlen Untergeschoß. »Kennen Sie das?« Ungerührt setzte sich Bodmer in seinen Wagen. »Ich weiß, was das ist: ein amtlicher Räumungsbefehl.« Kathrin lehnte sich über die rechte Tür und starrte Bodmer böse an. »Nun tun Sie nicht so unschuldig, Herr Doktor Bodmer! Wir haben nämlich herausgefunden, wer hinter der Immotreu AG steckt.« Bodmer zuckte die Schultern. »Das ist kein Geheimnis – die Firma ist im Handelsregister eingetragen.« »Ja – und Präsident des Verwaltungsrates sind Sie.« Bodmer startete den Motor, der sich mit einem kratzenden Geräusch in Gang setzte, bis er rund und regelmäßig drehte. »Hören Sie, mein…« ›liebes Kind‹, hatte er sagen wollen, korrigierte sich aber noch rechtzeitig: »Mein Fräulein. Ich habe Ihnen gesagt, daß ich diesen Wagen dringend zur Reparatur bringen muß, und das werde ich jetzt tun. In der betreffenden Angelegenheit kann ich leider gar nichts für Sie unternehmen.« »Wo fahren Sie hin?« Kathrin rüttelte an der Wagentür. »Wieso?« fragte Bodmer überrascht. »In die Hagenholzgarage, beim Fernsehstudio draußen.« »Na prima, dann können Sie mich doch bis Oerlikon mitnehmen, und wir unterhalten uns noch ein bißchen. In so einem Schlitten bin ich noch nie gefahren.« Das Mädchen blickte den Thunderbird bewundernd an. »Ist ja echt stark, die Kiste.« Bodmer sah sie mißtrauisch an. »Meinen Sie das im Ernst?« »Klar. Wenn schon die Umwelt verpesten, dann wenigstens mit Stil. Wie alt ist er denn?« »Jahrgang 64. Sie müssen den Knopf dort hochziehen.«
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Kathrin löste die Türsicherung, aber der Schlag ließ sich nicht öffnen. Bodmer lehnte sich hinüber und drückte von innen gegen die Tür. »Die muß sich beim Unfall verklemmt haben.« »Bemühen Sie sich nicht«, sagte Kathrin leichthin, warf ihre Tasche auf den Rücksitz, schwang sich geschmeidig über die Tür und ließ sich lachend in den Sessel plumpsen. Bodmer setzte den Wagen vorsichtig zurück – Einstellhallen wurden nicht mehr für solche Kaliber gebaut. In dem feudalen Interieur wirkte das Mädchen wieder schmächtig. Warum sie sich so düster kleidet, wunderte sich Bodmer, in fröhlicheren Farben würde sie vermutlich recht hübsch aussehen. Im fahlen Neonlicht der Ausfahrtsrampe war von ihr nur gerade das schmale, bleiche Gesicht mit den großen Augen zu erkennen. Mit ihren grazilen Fingern hielt sie sanft den kleinen Bastvogel an, der am Rückspiegel baumelte. »Mexikanisch«, belehrte sie Bodmer unaufgefordert. Das Mädchen lächelte. »Ihr Glücksbringer?« Bodmer nickte. »Heute morgen hat er versagt.« Er ahnte nicht, daß der Blechschaden seines Donnervogels bald seine geringste Sorge sein würde. Ein unbeteiligter Beobachter hätte nie vermutet, daß in dem kleinen, nüchternen Raum im städtischen Amtshaus V eine Krisensitzung stattfand. Genau das war die Absicht der Teilnehmer. Was in dem schmucklosen Zimmer des Gartenbauamtes besprochen wurde, durfte nicht an die Öffentlichkeit dringen. Noch nie war es vorgekommen, daß der Stadtpräsident sich persönlich privat an Bodmer gewandt hatte – und dann gestern abend plötzlich, aus heiterem Himmel, dieser kurze Anruf. Evelyn hatte erst verständnislos den Kopf geschüttelt, dann an einen dummen Scherz gedacht, bis sie ihren Edgar doch an den Apparat rief. Und tatsächlich war der Stadtpräsident am anderen Ende der Leitung. Ohne Bodmer aufzuklären, worum es ging, hatte er ihn zu dieser dringlichen Sitzung gebeten – oder eher vorgeladen. Außer ihnen beiden waren hier die Vorsteherin des Finanzamtes, der Vorstand der Stadtwerke, der Rechtskonsulent des Stadtrates, ein Verwaltungsmitglied der Terravolta, der Fraktionspräsident von Bodmers Partei und ein Direktor der schweizerischen Großbank SIB zugegen. Bodmer ahnte
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aus dieser Zusammensetzung der Runde, welches Geschäft nun beraten werden sollte. Er täuschte sich nicht. Nachdem der Stadtpräsident, ein jovialer, schwerer Mann Ende Fünfzig, dessen erstaunliche Wendigkeit sowohl auf dem Tanzboden wie auf dem politischen Parkett immer wieder überraschte, sich bei den Anwesenden für ihr Erscheinen an dieser so kurzfristig angesetzten, informellen Besprechung bedankt hatte, hielt er sich nicht länger mit Präliminarien auf. Es ging um die Beteiligung der Stadt am Kernkraftwerk Zurzach. Die Terravolta, zu zwei Dritteln Besitzerin der Kernkraftwerke Zurzach AG, beabsichtigte eine Erhöhung des Aktienkapitals um 250 Millionen Franken. Der Stadtrat, dessen Mitglieder als Kollegialbehörde die Regierung bildeten, wäre bereit gewesen, sich über das Elektrizitätswerk mit 20 Millionen zu beteiligen. Nun lag aber seine Finanzkompetenz für einmalige Ausgaben bei maximal einer Million Franken, das heißt, er hätte das Geschäft dem Gemeinderat, der Legislative, vorlegen müssen. War es schon sehr fraglich, ob die Parlamentarier ihr Plazet gegeben hätten, so mußte man mit Sicherheit damit rechnen, daß gegnerische Kreise mit Hilfe des Referendums eine Volksabstimmung erzwungen hätten. Und – das hatten die Resultate der letzten eidgenössischen Abstimmungen über Energiefragen gezeigt – eine solche Beteiligung der Stadt wäre wahrscheinlich von den Stimmbürgern abgelehnt worden. Zu dem trotz aller massiven Propaganda in der Bevölkerung nicht ausrottbaren Mißtrauen gegenüber der Kernenergie kam nämlich die leidige Tatsache, daß der in Zurzach produzierte Strom unverhältnismäßig teuer war, so daß das Elektrizitätswerk – zur Abnahme seines Anteils verpflichtet – seine Tarife massiv hätte anheben müssen. Aus dieser verzwickten Lage hatte Edgar H. Bodmer, seit Jahren streitbarer Verfechter des Atomstroms und Sekretär einer Stiftung für eine »vernünftige Energiepolitik«, einen genial einfachen Ausweg gefunden. Die SIB, der die Terravolta fast vollumfänglich gehörte, sollte anstelle der Stadt die 20 Millionen einschießen. Die Stadt wiederum würde mit dem AKW einen Stromlieferungsvertrag abschließen und den ihr zustehenden Anteil zu kostendeckenden Preisen übernehmen. Da die Terravolta diese Preise so hoch ansetzen konnte,
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daß für ihre Aktionäre eine marktübliche Rendite herausschaute, riskierte die SIB bei diesem Geschäft nichts. Die Stadtregierung ihrerseits umschiffte die Klippen des Gemeinderates, weil ein solcher Vertrag als gebundene Ausgabe des Elektrizitätswerkes nicht dem Parlament vorgelegt werden mußte. Noch vor drei Wochen hatten Bodmer alle nun um den Tisch Sitzenden zu seinem blendenden Einfall gratuliert. Jetzt sahen sie ihn an, als hätte er ihnen etwas zuleide getan, etwa dem Vorsteher der Stadtwerke und Rosenzüchter die Blumen zertreten, dem TerravoltaVerwaltungsrat und Freizeitsegler das Boot in den Grund gebohrt oder seinem Fraktionspräsidenten und Hobbykoch in die Töpfe gespuckt. »Es ist uns nun zugetragen worden«, fuhr der Stadtpräsident in seiner Rede fort, »daß gewisse Kreise – wir alle kennen sie zur Genüge – von unserem Vorhaben erfahren haben und daraus politisches Kapital schlagen wollen. Konkret: Sie wollen morgen im Gemeinderat an unseren Kollegen von den Stadtwerken eine entsprechende Anfrage richten und diese als dringlich behandeln lassen. Wir sind hier zusammengekommen, um zu beraten, wie wir den zu erwartenden Vorwürfen entgegentreten wollen.« Der Stadtpräsident sah erwartungsvoll in die Runde. Als erster meldete sich der Rechtskonsulent, ein feingliedriger alter Herr, der stets leise und sehr zögernd sprach. »Nun, äh, ich meine, es ist doch so, daß vom juristischen Standpunkt aus gegenüber dem Modell, wie es Herr Dr. Bodmer vorgeschlagen hat, keine Einwände zu erheben sind. Darauf habe ich ja bereits an unserer damaligen Sitzung hingewiesen. Ich werde deshalb gerne Herrn Stadtrat Wyser die entsprechenden Argumente vermitteln.« Der Präsident lehnte sich vor. »Danke, Alfred. Wir wissen das natürlich zu schätzen. Aber ich fürchte, mit juristischen Argumenten allein können wir der Intervention nicht die Spitze brechen. Es kommt eben ein Problem hinzu, das Ihnen vielleicht noch nicht bekannt ist. Man munkelt – ich darf mich in dieser Runde wohl offen äußern –, man munkelt, daß unsere Idee nicht in ganz selbstloser
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Absicht entwickelt worden ist, sondern daß die SIB dafür eine, sagen wir: nicht unbedeutende Vergütung entrichtet hat.« Bodmer zuckte auf: »Das ist doch völlig absurd! Sie wissen – und das dürfte allgemein bekannt sein –, daß ich schon verschiedentlich für die SIB als Berater tätig gewesen bin und natürlich auch ein angemessenes Honorar für meine Bemühungen bezogen habe.« »Regen Sie sich bitte nicht auf, Herr Bodmer. Ihnen macht gewiß niemand von uns einen Vorwurf. Es geht ja nur darum, daß bei dem jetzigen Geschäft diese – äh – Koinzidenz als störend empfunden werden könnte, daß – ich spiele jetzt Advocatus diaboli – man behaupten könnte, der Stadtrat habe hier eine unübliche Finanzierungsmethode gewählt, die mit gewissen Privatinteressen verknüpft scheinen mag.« Bodmer verfluchte den netten jungen Direktor, der ihm die Quittung über die 50.000 Franken zur Unterschrift vorgelegt hatte – und er verfluchte sich, der für einmal nicht alle Konsequenzen bedacht hatte. Er blickte sich um. Wenig war in den Mienen der Anwesenden zu lesen, gewiß kein Verständnis. Nicht mal bei seinem Parteifreund Kägi, der seinen Blick mied. Ihm wurde klar, was gespielt wurde. Er war das Opferlamm. Um einen politischen Skandal abzuwehren – so kurz vor den nächsten Wahlen –, sollte er über die Klinge springen. Das Ende seiner Karriere. Zerschmettert die nicht unberechtigte Hoffnung auf einen Sitz im Stadtrat. Bodmer atmete tief durch. Seine Genickschmerzen meldeten sich wieder. Edgar war sehr nervös, als er zu mir in die Sprechstunde kam. Am Telefon hatte er mir von seinen Beschwerden berichtet, und ich hatte ihn zwischen zwei andere Konsultationen herbestellt, zum Unwillen meiner Praxisgehilfin, die solche Extratouren mißbilligt. »Hast du zugenommen?« fragte ich ihn, nachdem er seinen Oberkörper frei gemacht hatte. »Na ja, wir sind nicht mehr zwanzig. Und zum Sporttreiben komme ich nur noch selten.« »So gesund ist dein Squash gar nicht. Belastet die Gelenke. Dazu bist du nicht mal an der frischen Luft.« »Diesen Sommer habe ich mit Evelyn wieder vermehrt Tennis gespielt. Sie läßt dich übrigens grüßen.«
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»Ah, danke; wir sollten uns mal wieder treffen.« Wann immer wir uns sahen, sagten wir dies, aber seit ihrer Hauseinweihung vor vier oder fünf Jahren hatten wir uns nie mehr im privaten Rahmen besucht. Ich hatte Edgar nach den ersten Semestern an der Uni für lange Zeit aus den Augen verloren, bis er sich, kurz nach der Eröffnung meiner Praxis, für eine Untersuchung anmeldete. So wurde ich sein Hausarzt. Ich hieß ihn auf dem kleinen schwarzen Hocker Platz nehmen und begann, seinen Nacken abzutasten. »Brr, hast du kalte Hände«, beklagte er sich. »Schlechte Durchblutung. Ich sollte weniger rauchen.« »Gerade als Arzt. Immer noch Gauloises?« »Na, lassen wir das. Dreh den Kopf mal nach rechts, ja, so weit du kannst. Aber nicht senken, gerade halten. Und nun nach links.« Seine Mobilität war nicht eingeschränkt. »So, und jetzt beuge den Kopf nach vorn, das Kinn tief auf die Brust. Tut das weh?« »Natürlich tut das weh«, brummelte er, da er in dieser Stellung nicht deutlich sprechen konnte. »Deswegen bin ich ja hier.« »Wo hast du genau Schmerzen?« »Na hier, und da auch, da zieht es.« Er deutete mit der Hand auf den Ansatz der Nackenmuskulatur. »Das ist nicht unüblich. Du bist eben verspannt, verkrampft, wie alle wir mitteleuropäischen Schreibtischtäter. Wie lange hast du schon diese Beschwerden?« »Ich weiß nicht genau. Auf alle Fälle tut es erst jetzt nach dem Unfall ständig weh.« »Schon möglich, daß du da eine Muskelzerrung eingefangen hast. Um ganz sicherzugehen, werde ich dich rasch röntgen. Du bist ja kein Gegner der Strahlenenergie.« Edgar schien diese kleine Anspielung nicht zu schätzen, denn er wehrte mit einer ärgerlichen Handbewegung ab. Früher hatten wir uns oft über unsere gegenteiligen Anschauungen gestritten. Er sah in mir den nostalgischen Ex-Achtundsechziger, der – wohl mittlerweile gemäßigt und sozial angepaßt – noch immer von der damaligen Aufbruchstimmung träumte, ich hielt ihn für einen Renegaten und schamlosen Karrieristen – und das hatten wir einander oft genug an
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den Kopf geworfen. Allmählich waren unsere Diskussionen aber immer lauer und lahmer geworden; wir ließen jeder den anderen einen guten Mann sein und ergingen uns lieber in Anekdoten aus der Schulzeit. Ja, wir waren nicht mehr zwanzig… Bald wird die 25Jahr-Feier unserer Matura fällig. Ich rief meine Praxisgehilfin herein und bat sie, von Edgar Aufnahmen der Halswirbelsäule anzufertigen. Sie murmelte mürrisch etwas von dringenden Arbeiten, bevor sie Edgar mit gnädiger Herablassung zum Röntgenraum führte. Sie hatte ihn nie leiden mögen, wieso, war mir völlig unklar. Nun, Frau Amstutz ist eine ziemlich launische Person; es gibt Tage, an denen sie auch mir mit kaum verhohlener Feindseligkeit begegnet, wenn sie mich nicht gänzlich ignorieren kann. Ich habe es längst aufgegeben, nach den Gründen zu forschen oder die Schuld an ihrer Mißstimmung gar bei mir selbst zu suchen. Von diesen Anwandlungen abgesehen, ist sie eine Perle der Praxis, um die mich manche Kollegen mit jüngeren und hübscheren, aber nicht annähernd so selbständigen und einsatzfreudigen Arztgehilfinnen oft beneiden. Von ihrem Privatleben weiß ich so gut wie gar nichts, außer daß sie zwei Siamkatzen besitzt. Einladungen, auch von seiten meiner Frau, die mit ihr zusammen die Buchhaltung führt, uns doch mal im Familienkreis zu besuchen, wurden mit solcher Entschiedenheit abgelehnt, daß wir Frau Amstutz nie mehr mit solchen Vorschlägen zu behelligen wagten. Meiner Dankbarkeit ihr gegenüber, die mit mir zusammen die Praxis aufgebaut hat und am Laufen hält, kann ich nicht anders als durch eine für ihren Berufsstand recht großzügige Entlohnung Ausdruck geben. Edgar hätte zwar gerne auf eine Interpretation seiner Röntgenbilder gewartet, doch riefen ihn dringende Geschäfte in sein Büro zurück. Obwohl er ein Taxi genommen hatte, schaffte es Bodmer nicht rechtzeitig zu seiner nächsten Besprechung. Wie er es haßte, über keinen eigenen Wagen zu verfügen! Evelyn brauchte ihren kleinen Flitzer für einen Galeriebesuch irgendwo in Toggenburg, und Bodmer hatte noch keine Zeit gefunden, ein Ersatzfahrzeug für den havarierten Donnervogel zu mieten. Obwohl keine lebenswichtigen Innereien verletzt waren, würde die Reparatur einige Zeit in Anspruch
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nehmen, denn Originalteile waren für so ein altes Modell kaum mehr zu beschaffen. Bodmer fühlte sich wie Ikarus nach dem Absturz. Natürlich hatte der Taxifahrer zuerst die vordere Tür zum Beifahrersitz geöffnet. Bodmer hatte sie demonstrativ zugeworfen und war hinten eingestiegen. Es war nicht das Sicherheitsrisiko auf der Vorderbank, das er scheute; ihn ärgerte diese kumpelhaftige Lässigkeit des Fahrers. Man wurde nicht mehr chauffiert, sondern wie eine Ware transportiert. In seinem Zimmer wartete eine Witwe mit ihren zwei Söhnen, für die Bodmer die Erbteilung der Hinterlassenschaft des verstorbenen Familienvaters vorgenommen hatte. Obwohl er sich für diesen Dienst mit eineinhalb Prozent der zu teilenden Aktiven begnügt hatte, wobei die Tarifordnung bis drei Prozent zuließ – und er kannte etliche Kollegen, die diesen Ansatz sogar in einfachen und klaren Fällen voll ausschöpften –, hatten sich die Erben an seiner Honorarforderung gestoßen und wünschten eine detaillierte Begründung. Kaum kommen sie zu Geld, werden sie knickrig! Ehe Bodmer seinen Klienten schildern konnte, als welch barmherziger Pestalozzi er seine Bemühungen berechnet hatte, hielt ihn seine Sekretärin auf. »Herr Doktor Bodmer! Ihr Garagist hat angerufen. Sie sollen ihn ganz dringend zurückrufen. Etwas ist mit dem Wagen nicht in Ordnung.« »Natürlich«, knurrte Bodmer, »er soll ihn ja flicken.« Fräulein Imhof war aufgestanden und zum Empfangsfenster geeilt. »Nein, warten Sie, bitte. Da ist noch etwas anderes. Das Auto soll verseucht sein.« Bodmer sah sie verdutzt an. »Was sagen Sie?« »Ja, verseucht. Das hat er mir gesagt. Jemand hat ihn heute morgen angerufen und ihn vor dem Auto gewarnt, er solle die Finger davon lassen, der Wagen sei verseucht.« »Das ist doch ein blöder Witz.« »Das hab ich zuerst auch gedacht, aber dann hat er mir erklärt – also bitte, rufen Sie ihn doch rasch an!«
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Die beiden anderen Vorzimmerdamen hatten mit Tippen aufgehört und sahen Bodmer neugierig an. »Lassen Sie sich nicht von Ihrer Arbeit abhalten«, warnte er sie. Dann nickte er Fräulein Imhof zu. »Na gut, stellen Sie mir die Nummer ein; ich werde mich kurz bei meinen Klienten entschuldigen. Geben Sie mir das Gespräch nach hinten in den Konferenzraum – er ist doch frei, oder?« Die Sekretärin nickte und ging eilig zu ihrem Pult zurück. Die Stimme des Garagisten überschlug sich vor Erregung: »Endlich rufen Sie an, Herr Doktor, also ich verstehe das alles nicht.« »Fassen Sie sich bitte, Herr Vögtli«, beruhigte ihn Bodmer, »und erzählen Sie mir knapp und klipp und klar, was heute morgen geschehen ist – ich habe nicht viel Zeit.« Vögtli holte hörbar Luft: »Also das war so: Heute morgen, so kurz vor zehn, hat hier jemand angerufen…« »Wissen Sie wer?« »Nein, der hat doch keinen Namen genannt. Aber ein Mann war’s. Also der hat gefragt, ob wir den Thunderbird von Ihnen – also vom Bodmer, hat er gesagt, ob wir den in Reparatur haben. Ja, hab ich gesagt – ich hab gedacht, das wär einer von der Versicherung. Aber dann hat er gesagt: ›Laß die Finger von diesem Wagen, der ist verseucht.‹« »Verseucht?« echote Bodmer. »Ja, verseucht. Wörtlich.« »Und weiter?« »Ich hab gedacht, das ist so ein Spinner, der da einen Jux macht, und wollte schon aufhängen, aber da hat er noch gesagt, ich solle doch mal unter dem Fahrersitz nachsehen – aber nichts anfassen. Dann hat er aufgehängt.« »Und?« »Dann hab ich eben nachgesehen.« »Ja und? Mann, lassen Sie sich doch nicht jedes Wort aus dem Mund ziehen!« Bodmer glaubte, er würde seinen Kopf nie mehr bewegen können, so steif war sein Genick. »Da ist so eine seltsame Flasche unter Ihrem Sitz.« »Was für eine Flasche?«
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»Tja, so eine kleine, dunkle Glasflasche, also ganz undurchsichtig – und mit einem seltsamen Zeichen drauf. Aber so genau hab ich dann natürlich nicht mehr hingeguckt, ich mein, nach diesem Anruf.« Bodmer spürte, wie der Telefonhörer in seiner Hand feucht geworden war. »Was für ein Zeichen ist das? Ein Totenschädel?« »Nein, gar nicht, sondern wie ein Kreis, in dem drei Schnitze fehlen. Also das sieht etwa so aus wie eine Leichtmetallfelge mit drei Stegen, wenn Sie verstehen, was ich meine; von Speedway gibt es ein ähnliches Modell, die sind aber nicht sehr robust.« »Und die Farbe?« Bodmers Stimme war heiser. »Welche Farbe?« »Na, von dem Zeichen.« »Äh, gelb, glaube ich. Aber wie gesagt, ich hab das Ding dann halt nicht weiter untersucht, sondern gleich bei Ihnen angerufen.« »Das war sehr vernünftig von Ihnen, Herr Vögtli. Auch wenn es sich hier, wie ich überzeugt bin, um einen schlechten Scherz handelt, wollen wir keine unnötigen Risiken eingehen, nicht wahr. Lassen Sie deshalb die Arbeit am Wagen jetzt mal ruhen. Ich komme morgen vorbei und schaue mir die Sache an.« Der Werkstattmeister zögerte mit seiner Antwort: »Tja, ich bin halt schon ein wenig beunruhigt. Können Sie nicht vielleicht noch heute…« »Völlig ausgeschlossen«, unterbrach ihn Bodmer. »Lassen wir uns doch nicht ins Bockshorn jagen. Bis morgen also.« Bodmer schaute nachdenklich auf die Dächer des Hinterhofes, deren neue Kupferplatten glänzten. Sie schienen immer naß. Aber es hatte auch an diesem Tag nicht geregnet. Der Sommer klammerte sich mit letzter Kraft in den bereits gelben Baumwipfeln fest. Beinahe hätte Bodmer die Besucher in seinem Arbeitszimmer vergessen. Üblicherweise herrschte im großen Sitzungssaal des Rathauses, in dem jeden Mittwochabend der Gemeinderat tagte, eine lockere Ordnung, wie in einer Schulklasse, bevor der Lehrer das Zimmer betritt. Den Zuschauern auf der Tribüne mochte das gelöste Treiben ihrer zeitunglesenden, schwatzenden oder flanierenden Volksvertreter
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gelegentlich verantwortungslos erscheinen, was es mitnichten war, diente doch die Ratsversammlung lediglich dazu, über längst gefaßte Entschlüsse noch öffentlich abzustimmen. Die Voten interessierten – außer vielleicht den Vortragenden – niemanden mehr, die Interpellationen und Anfragen an den Stadtrat, der an der Stirnseite des Saales links und rechts vom Pult des Ratspräsidenten thronte, waren meistens auch schon allen bekannt, und die Antwort der Regierung bot selten Überraschungen. Zum Eindruck eines undisziplinierten Haufens mochten auch die baulichen Gegebenheiten beitragen, weil die Bänke für die 180 Mitglieder des Kantonsrates ausgelegt waren, so daß die – falls vollzählig versammelten – 125 Gemeinderäte zwischen den vielen leeren Sitzen wie Schachfiguren auf einem bereits halb abgeräumten Spielfeld wirkten. An diesem Abend lag eine unterschwellige Spannung in der Luft, da stieg die dumpfe Erwartung einer kleineren Sensation zur reich geschnitzten Kassettendecke aus Nußbaumholz empor. Das Gerücht, die parlamentarisch domestizierten Berufsrevoluzzer hätten im Stadtrat einen Hasen aufgescheucht, hatte die Runde gemacht. Bodmer vermeinte von allen Seiten teils prüfende, teils mißtrauische Blicke auf sich zu ziehen. Vergeblich hatte er in den letzen Tagen sein Gehirn zermartert, wer den Linken seinen kleinen Handel mit der SIB hätte zutragen können. Zwar hatte er sich gleich hingesetzt und aus alten Gutachten ein neues zusammengestoppelt, mit dem sich seine Tantieme begründen ließ. Doch wenn man nun weiter forschte und herausfinden würde, auf welchen Wegen sich Bodmer das Terrain gesichert hatte, das die Terravolta für den geplanten Erweiterungsbau des Kernkraftwerkes benötigte… Gleich zu Beginn der Sitzung stellte der Fraktionsführer der ALZ, der Alternativen Liste Zürich, von der bürgerlichen Ratsmehrheit die »Viererbande« genannt, den Antrag, ihre am letzten Montag bei der Stadtkanzlei hinterlegte Interpellation an den Stadtrat als dringliches Geschäft zu behandeln. Ob es stimme, wollte er wissen, daß der Stadtrat beabsichtige, sich von der SIB 20 Millionen Franken schenken zu lassen, dafür aber alle Verpflichtungen als Aktionär des AKW Zurzach einzugehen, wie Bezug des Atomstroms zu überrissenen Preisen, Mitverantwortung für die noch ungeregelte Entsorgung des
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Atommülls et cetera. Und ob es stimme, daß dieser Kuhhandel zwischen der Stadt und der SIB durch die nicht uneigennützige Vermittlung eines Mitglieds des Gemeinderats eingefädelt worden sei. Um den Abschluß eines solchen Skandalgeschäftes zu verhindern, sei die dringliche Behandlung ihrer Interpellation erforderlich. Stimmte der Rat diesem Antrag zu, so mußte die Regierung an der nächsten Sitzung zu den erhobenen Vorwürfen Stellung nehmen. Bei den nicht bereits unterrichteten Anwesenden fanden die Enthüllungen der ALZ einen starken Widerhall, und selbst im konservativen Lager machte sich Unmut breit über diesen Versuch der Regierung, mit einem Kniff die Zuständigkeit des Parlaments zu umgehen. Die Wortmeldungen häuften sich, und der Ratspräsident bekundete Mühe, gehässige Zwischenrufe zu unterbinden. Der Bauunternehmer Ammann, eine verläßliche Stütze des Bürgerblocks, unternahm es, die wankende Bastion des Freisinns mit seinen breiten Schultern zu stützen. »Es ist ja beileibe nicht das erste Mal«, schmetterte er durch den Saal, ohne sein Mikrofon zu benötigen, »daß sich unsere Linksaußen zu den Gralshütern der parlamentarischen Demokratie aufschwingen wollen. Und es ist auch nicht das erste Mal, daß ihnen dabei ein Teil dieses Rates auf den Leim geht. Aber lassen wir uns nicht täuschen! Seit Jahr und Tag benützen diese Grünschnäbel jede sich bietende Gelegenheit, einer verantwortungsvollen Energiepolitik das Wasser abzugraben!« Ammann war für seine blumigen Bilder bekannt, deren Häufung im Ratssaal oft Heiterkeit hervorrief. Weniger temperamentvoll suchte der Vertreter der Liberalen den Stadtrat in Schutz zu nehmen. Das Geschäft sei ja noch gar nicht offiziell behandelt worden, es hätten anscheinend erst Vorabklärungen stattgefunden, über die der Stadtrat keine Rechenschaft abzulegen habe, somit sei kein Anlaß für eine dringliche Interpellation gegeben… Auf diese Verteidigungslinie hatte man sich an der Besprechung im Gartenbauamt festgelegt. Bodmer starrte auf die Gemälde der alten Bürgermeister und Honoratioren, die über dem Holztäfer zwischen den tiefen Fensternischen hingen. Sie trugen alle steife Halskrausen, als litten sie ebenfalls an Nackenschmerzen. In den Glasmalereien der Standesscheiben bra-
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chen sich die Strahlen der untergehenden Sonne. Einen Augenblick lang glaubte Bodmer, auf der Zuschauertribüne Kathrin zu sehen, aber es war eine ihm unbekannte junge Frau, die sich über die Brüstung lehnte. Der neben ihm sitzende Fraktionspräsident weckte Bodmer aus seinem Grübeln. Einer der Ratsweibel streckte sich über die Bank und hielt Bodmer einen Briefumschlag hin. »Das ist soeben draußen für Sie abgegeben worden, Herr Doktor.« Bodmer nahm den Brief entgegen und drehte ihn in seiner Hand. Nur gerade sein Name stand auf dem Couvert, Absender trug es keinen. Bodmer riß es auf und entnahm ihm ein gefaltetes Blatt. Der Text darauf war aus Zeitungsausschnitten aufgeklebt. Bodmer las ihn kopfschüttelnd. Dann schob er das Blatt wortlos seinem Parteifreund zu, der ihn fragend angeschaut hatte. Dieser starrte erst verständnislos auf den Brief, dann sah er Bodmer verblüfft an. »Herrgott, Edgar, was soll das? Kannst du dir da einen Reim drauf machen?« Bodmer nickte langsam: »Ich fürchte, ja.« Leise erzählte er seinem Kollegen von dem seltsamen Anruf seines Garagisten. Friedrich Kägi, mit seiner langjährigen Erfahrung als Politiker und in seinem Beruf als Direktor einer Werbeagentur gewiß an Überraschungen aller Art gewöhnt, brachte seinen Mund kaum mehr zu. Entgeistert lauschte er Bodmers Bericht. Dann schlug er mit der Faust auf den Pultdeckel, daß es krachte. »Ja, verdammt noch mal, Edgar, was hast du unternommen?« Bodmer zuckte hilflos die Achseln. »Nichts. Ich habe gedacht, da spielt mir jemand einen üblen Streich.« »Aber dem muß man nachgehen, sofort!« brüllte Kägi. »Du weißt doch, wozu diese Chaoten imstande sind.« Der Sozialdemokrat, der sich bemüßigt gefühlt hatte, auch das Wort zu ergreifen, obschon sich seine Fraktion einmal mehr zu keiner einheitlichen Stellungnahme hatte durchringen können, da etliche Genossen ihren linken Brüdern den Publizitätserfolg neideten, dieser Redner empfand sich in seinen Ausführungen gestört und setzte zu einem Tadel an.
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»Ich bin mir bewußt, daß einige Leute in jenem Lager solch offene Worte nicht gerne vernehmen«, quäkte er zu Kägi herüber, »aber es sollte auch Sie interessieren, daß unsere Fraktion bereits im letzten Jahr anläßlich der Beratung…« »Nein!« schnitt im Kägi das Wort ab, indem er sein eigenes Pultmikrofon einschaltete. »Es tut mir leid, Herr Minder, Ihre Erinnerungen interessieren im Moment wirklich nicht. Herr Präsident, liebe Ratsmitglieder!« Beschwörend hob Kägi die Hände, da der Ratspräsident zur Glocke gegriffen hatte und die Genossen lauthals protestierten. »Auf ein Wort! Ich bitte Sie!« Die Lokaljournalisten reckten die Hälse; endlich kam mal wieder Leben in die Bude, fast wie zu jenen Zeiten der Jugendunruhen. »Ich wollte Ihr Votum keineswegs mutwillig unterbrechen, Herr Minder. Aber ich habe hier ein Papier vorliegen, über dessen Inhalt ich sehr bestürzt bin. Das Schreiben ist soeben meinem Kollegen, Herrn Bodmer, überbracht worden. Es handelt sich da um eine mysteriöse Drohung – natürlich anonym – gegen seine leibliche Sicherheit.« »Vorlesen!« forderten nun einige Stimmen. Kägi sah fragend zu Bodmer, und als dieser unschlüssig die Schultern hob, wandte er sich mit hochgezogenen Brauen erwartungsvoll dem Ratspräsidenten zu. »Na gut«, willigte jener ein, »wenn wir anschließend im ordentlichen Rahmen weiterfahren können.« Dies sollte ein frommer Wunsch bleiben. »›Lieber Atomknecht‹«, begann Kägi. Im Saal wurde es so still, daß die draußen vorbeifahrende Tram wie eine Panzerkolonne tönte. »›Du bist selber schon lange verseucht. Aber Radioaktivität ist ja ungefährlich, nicht wahr? Hopp Zurzach!‹« Betroffenheit und Empörung, aber auch Zweifel und Unglauben begannen sich auf den Gesichtern abzuzeichnen. Kägi ließ das Blatt sinken. »Dazu muß ich Ihnen mitteilen, daß in Herrn Bodmers Wagen, der sich zur Zeit in Reparatur befindet, ein verdächtiger Gegenstand untergebracht worden ist. Sie werden verstehen, daß wir darum diese
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Drohung – oder diesen Bekennerbrief – nicht auf die leichte Schulter nehmen können.« Nun brach im Saal das Chaos aus. Einige Reporter hetzten zu den Telefonzellen im Foyer, andere versuchten sich zu Kägi und Bodmer einen Weg zu bahnen. Die Volksvertreter scharten sich um ihre Parteihähne, als wäre im Hühnerhof der Fuchs dreingefahren. Während es dem Ratspräsidenten auch mit eifrigem Klingeln nicht gelang, die aufgebrachten Gemüter zu beruhigen, nutzte der stimmgewaltige Baulöwe die Gelegenheit, den verhaßten Grünen die Leviten zu lesen. »Da seht ihr, wohin diese Verhätschelung der Ökoterroristen führt! Euch verdanken wir es, wenn Zürich wieder im Morast der Anarchie versinkt. Die grüne Liesel kenn ich am Geläut!« »Ja, müssen wir uns solche Diffamierungen denn bieten lassen?« piepste die Psychologin aus dem Team der verdutzten Alternativler. »Jawohl! Müßt ihr!« Mit Donnerschall fegte der 2 1/2-ZentnerMann, der sich gerne damit brüstete, wie er früher die 50-KiloZementsäcke auf seine Schultern wuchtete, den Einwurf hinweg. »Wer Wind sät, wird Sturm ernten! Dies ist das Ergebnis eurer ständigen und unanständigen Obstruktionspolitik. Das sind nun die Geister, nach denen ihr so lange gerufen habt.« Kägi drängte Bodmer aus dem Saal. »Nun komm schon, Edgar. Jetzt gehen wir da rüber zum Polizeiposten und erstatten Anzeige. Dann fahren wir zu deinem Wagen, der muß nun sofort untersucht werden. Oder soll ich dich etwa ins Spital bringen?« Unter dem dorischen Säulenportikus der ehemaligen Hauptwache vermochte Bodmer seinen Freund zu bremsen. Zum Freund war der Fraktionsvorsitzende Kägi in dieser Stunde der Not wieder geworden, das spürte Bodmer. Nicht aus Partei- oder Geschäftsinteressen kümmerte er sich so rührend um ihn, sondern weil ihm Bodmers Schicksal naheging – und vielleicht auch ein klein wenig, weil er seinem als dynamisch gerühmten jüngeren Kollegen nun selbst beweisen konnte, daß er noch nicht zum alten Eisen zählte. Bodmer war es fast etwas lästig, mit welcher Entschiedenheit Kägi das Heft in die Hand genommen hatte.
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»Warte mal, Fritz!« Er hielt ihn am Ärmel zurück. »Ich weiß nicht, ob für so einen Fall die Kantonspolizei zuständig ist. Vielleicht sollten wir erst den Bezirksanwalt…« »Herrgott, das ist jetzt doch scheißegal!« Kägi schüttelte verwundert den Kopf und schnaubte ein ungläubiges Lachen durch seine breite Nase. »Du bist mir ein echter Formaljurist!« Damit legte er Bodmer väterlich den Arm um die Schulter und zog ihn mit. Der junge Beamte, der erst nach Kägis ungeduldigem zweiten Klingeln mit abweisender Miene die Milchglasscheibe seines Schalters weggeschoben hatte, begriff erst überhaupt nichts. »Also wer von Ihnen will nun eine Anzeige erstatten?« Anscheinend hatten sie ihn bei seinem Abendbrot gestört, denn er sprach mit vollem Mund und wischte sich einen Krümel von seinem Schnurrbart. Kägi beugte sich vor und schob seinen massigen Schädel drohend durch das Fenster. »Jetzt hören Sie gut zu, junger Mann. Ich bin Friedrich Kägi, freier Unternehmer und Präsident der liberaldemokratischen Fraktion im Gemeinderat. Und das ist mein Ratskollege Dr. jur. Edgar H. Bodmer, Rechtsanwalt. Und wir wünschen nun Ihren Vorgesetzten zu sprechen – aber dalli!« Einen winzigen Augenblick zögerte der Polizist, dann verzichtete er auf eine Kraftprobe und begnügte sich damit, die Glasscheibe vor Kägis Nase zuzuziehen. Wenig später ging eine Seitentür auf, und ein untersetzter Polizeibeamter bat die beiden Herren höflich in sein Büro. »Wachtmeister Schneebeli«, stellte er sich vor, »wobei kann ich Ihnen behilflich sein?« Die Einrichtung des Raumes war äußerst karg, vor dem Schreibtisch stand nur ein einzelner Stuhl, so daß Kägi erst einen unbequemen Drehhocker aus einer Nische neben dem grauen Aktenschrank holen mußte, ehe sie sich setzen konnten. Er legte dem Wachtmeister den Drohbrief auf den Tisch und faßte die Hintergründe in knappen Worten zusammen. »Wo ist diese Garage?« wandte sich der Beamte an Bodmer. »In der Hagenholzstraße, die Nummer weiß ich nicht. Kurz bevor man zum Fernsehen kommt.«
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Schneebeli schlug das Telefonbuch auf. Kägi lächelte Bodmer aufmunternd zu; der Beamte wirkte kompetent. »Sie werden es mir nicht verargen, meine Herren, wenn ich Sie noch um Ihre Ausweise bitte, bevor ich weitere Schritte in die Wege leite?« Sogar Stil hat der Mann, stellte Kägi befriedigt fest und nahm sich vor, für ihn beim Vorsteher des Polizeidepartmentes ein gutes Wort einzulegen, sobald er diesen alten Kumpel wieder treffen würde. »Da antwortet niemand mehr«, sagte der Beamte zu Bodmer. »Wo denn?« »Na, in der Garage.« »Die arbeiten bloß bis halb sechs.« Nachdem er die Farbe des Wagens und die Zahlen des Nummernschildes erfragt hatte, schaltete Wachtmeister Schneebeli seine Funkanlage ein. »Aurora an alle Wagen in den Stadtkreisen elf und zwölf sowie Flughafen und Wallisellen. Bitte genaue Position durchgeben.« Kaum hatte er seine Sprechtaste losgelassen, schnarrte es aus dem Lautsprecher: »Aurora von Wagen 17, verstanden. Fahren Autobahn Richtung Milchbuck, nächste Ausfahrt Irchel.« Schneebeli sandte den Wagen zur Garage Vögtli mit dem Befehl, den hellblauen Thunderbird zu beobachten, aber nicht heranzugehen. Dann wandte er sich seinen Besuchern zu: »Ich werde jetzt die Kriminalpolizei orientieren und der Bezirksanwaltschaft Bescheid geben. Ich schlage vor, daß Sie, meine Herren, nun zu dieser Garage hinausfahren und dort auf die zuständigen Leute warten. Den Papierkram können wir auch noch später erledigen.« »Prima«, sagte Kägi und stand auf. An der Tür hielt Bodmer inne. »Ach verflucht: Warte mal, Fritz! Ich bin ja heut abend mit Evelyn zum Essen verabredet; sie wollte mich nach der Sitzung im Rathaus abholen.« »Wo ist deine Frau jetzt?« »Wie soll ich das wissen?« »Hm.« Kägi kraulte sein Kinn, als trage er einen dicken Rauschebart. Schneebeli klopfte in noch beherrschter Ungeduld mit dem Kugelschreiber auf seinen Schreibtisch.
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»Nun denn«, faßte Kägi einen Entschluß. »Dann fährst du zu dieser Garage Vögeli…« »Vögtli«, korrigierte ihn Bodmer völlig unnötig. »Zum Thunderbird hinaus, und ich hole deine Frau ab, und dann warten wir gemeinsam auf dich.« »Kennst du sie überhaupt noch?« »Wie könnte ich eine so hübsche Frau vergessen, Edgar?« Kägi blinzelte dem Wachtmeister spitzbübisch zu, konnte ihm aber kein Lächeln entlocken. Dieser Taxifahrer bemühte sich nicht einmal, irgendeine Tür zu öffnen. Natürlich, dachte Bodmer, als er den fremdländischen Akzent des Mannes vernahm; ein Ausländer, von denen ist ja kein Anstand zu erwarten. Im Wageninnern roch es nach süßlichen Zigaretten. Bodmer kurbelte das Fenster hinunter. Der Abend war so lau, daß die Leute wie im Hochsommer in den Straßen promenierten. Etliche Cafés hatten sogar noch ihre winzigen Tischchen auf dem Trottoir stehen. Fast hätte man sich zu Hause in den Ferien fühlen können. Bodmer lehnte sich zurück und schloß die Augen. Für einige Sekunden saß er als Fremder in diesem Taxi und fuhr in eine andere Zeit. Er war verwirrt. Die Ereignisse der letzten Tage hatten ihn überrollt. Der Verkehr stadtauswärts würgte sich durch die gewohnten Engpässe und über die üblichen Knoten. Der Fahrer nahm es mit den Rotlichtern sehr genau; kaum schaltete die Ampel auf Gelb, trat er auf die Bremse. Schaltfaul war er auch; im vierten Gang quälte er den ruckelnden Wagen die Steigung zum Milchbuck hoch. Bodmer litt stumm. Der unermüdliche Kämpfer gegen Geschwindigkeitsbeschränkungen, Abgasvorschriften und Velowege, der Besitzer eines kultivierten, benzinverschlingenden Dinosauriers – the way they used to make them –, er war auf die Fahrkünste von Rikschakulis und Kameltreibern angewiesen. Als der Fahrer auf der doppelspurigen Ausfallstraße geduldig hinter einem Wohnmobil hertuckerte, hielt es Bodmer nicht mehr aus. »Mann, nun überholen Sie endlich!« »Abär ich muß doch jetzt bald rechts abzwäigän«, widersprach der Balkanflüchtling.
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»Nein«, zischte Bodmer, »noch lange nicht!« Was wurde von denen eigentlich bei der Taxiprüfung verlangt? »Nun fahren Sie zu – ich sage Ihnen, wo’s langgeht.« Sein Protest nützte nicht viel; sie brauchten fast zwanzig Minuten, bis endlich die erleuchteten Benzinmarkenschilder der Garage Vögtli in Sicht kamen. Das Gebäude selbst versank in der violetten Dämmerung, weder aus den Büros noch aus der Werkstatt strahlte ein Lichtschein. Vor den Zapfsäulen der Tankstelle hatte sich ein beeindrukkendes Aufgebot an Beamten und Polizeifahrzeugen eingefunden. Der Taxifahrer glotzte staunend zu dieser Ansammlung hinüber und vergaß beinahe Bodmers Herausgeld. Ein jüngerer Mann in Zivilkleidung trat auf Bodmer zu. »Grossenbacher, Kriminalpolizei. Ich nehme an, Sie sind Herr Bodmer. Dies ist Herr Dr. Reimann von der Bezirksanwaltschaft.« Damit stellte er einen ebenfalls kaum dreißigjährigen, hageren Mann in einem schlotternden Anzug vor. Bodmer kannte ihn nicht; mit den Strafverfolgungsbehörden hatte er in seiner späteren Karriere wenig mehr zu tun gehabt. »Leiten Sie die Untersuchung?« Der Hagere nickte: »Zumindest vorerst, ich habe heute Präsenzdienst.« Bodmer fröstelte in dem linden Abendwind, der vom nahen Flughafen das Gebrüll eines startenden Jets herübertrug. »Haben Sie diesen Drohbrief mitgebracht?« wollte der Detektiv wissen. »Nein«, bedauerte Bodmer, »den habe ich auf dem Posten gelassen.« »Na ja, dann untersuchen wir ihn eben morgen. Ich hoffe, Sie haben ihn nicht reihum gehen lassen.« Bevor sich Bodmer gegen diese Unterstellung verwahren konnte, fuhr Grossenbacher fort: »Als erstes müssen wir jetzt Ihren Wagen unter die Lupe nehmen. Die Kollegen vom wissenschaftlichen Dienst sind schon ganz kribblig. Ein radioaktiv verseuchtes Auto, das haben die auch noch nie erlebt.« »Herr Grossenbacher!« rügte ihn der Bezirksanwalt mit einem mahnenden Wink.
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Bodmer räusperte sich. »Warum sind die Leute noch nicht an der Arbeit?« »Wir warten auf den Garagisten, damit er die Werkstatt aufschließt.« In diesem Moment bog ein rassiges japanisches Sportcoupé mit aufheulenden Reifen in die Einfahrt ein und wurde brüsk abgebremst. Der drahtige kleine Geschäftsbesitzer schnellte aus dem Wagen. Seine schwarzen Knopfaugen leuchteten vor Aufregung. »Sehen Sie, Herr Doktor«, stürmte er auf Bodmer zu, »da steckt doch mehr dahinter, als Sie geglaubt haben. Ich hab mir gleich gedacht, daß es um den Thunderbird geht, als die Polizei anrief.« »Führen Sie uns jetzt bitte zu diesem Wagen«, mischte sich der Kriminalpolizist ein. »Gerne, der steht dort hinten.« »Im Freien?« Wie aus einem Mund kam die verblüffende Frage gleichzeitig vom Bezirksanwalt und vom Kriminalpolizisten. »Na klar. Drinnen wollte ich den nicht mehr haben. Den haben wir noch heute morgen dort hinten abgestellt.« Vögtli deutete auf eine Reihe unordentlich im Gras neben der Halle stehender, zum Teil beschädigter Personenwagen, die in der Dunkelheit nicht mehr deutlich auszumachen waren. »Dort ist kein Thunderbird – wir haben das Gelände abgesucht«, stellte Grossenbacher mit Nachdruck fest. »Das gibt’s doch nicht!« staunte Vögtli. Der Bezirksanwalt zog den Kriminalpolizisten etwas zur Seite. »Wenn Sie den Mann am Telefon gleich gefragt hätten…« »Ja«, raunzte Grossenbacher unwirsch, »Gerber zwo hat das Gespräch geführt – Sie kennen ihn ja…« Dann knüpfte er sich den Werkstattleiter vor, als sei dieser für das Verschwinden des Thunderbird verantwortlich. »War das Auto abgeschlossen?« »Es ist ein Kabriolett, Herr – äh – Herr Kommissar.« »Inspektor«, korrigierte ihn Grossenbacher kühl. »Also, waren die Türen verriegelt?«
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Nun wurde Vögtli ärgerlich: »Kaum. Wozu soll ich bei einem Kabriolett die Türen abschließen? Eine hat sowieso geklemmt, nicht wahr, Herr Doktor?« Bodmer nickte. »Wo bewahren Sie die Schlüssel zu diesen Wagen auf?« erkundigte sich Grossenbacher. »Na, im Büro.« »Gut. Dann schauen Sie nach, ob die vom Thunderbird noch da sind. Ich lasse nach dem Wagen fahnden.« Bodmer trottete zögernd dem Garagisten nach. Für ihn schien sich niemand zu interessieren. Seinen über alles geliebten Donnervogel würde er nie mehr sehen, davon war Bodmer überzeugt. Das Vehikel seiner Jugendträume war in der Nacht verschwunden. Wieder dröhnte vom Flughafen her ein Jet, und Bodmer sah unwillkürlich in die Höhe, als müßten im nun nachtschwarzen Himmel die großen Rückleuchten des Thunderbird aufscheinen. Vögtli trat aus der Glastür und rief zu den Polizeiwagen hinüber, daß der Schlüssel noch da sei. »Kopf hoch, Herr Doktor, der Schlitten taucht schon wieder auf – so ein Modell läßt sich ja nicht ohne weiteres verkaufen.« Bodmer wiegte ungläubig den Kopf – und plötzlich war er sich gewiß, daß der clevere kleine Autoschlosser seinerzeit gestohlene Wagen nach der Türkei verschachert hatte. Er spürte Vögtlis prüfende Blicke auf sich. »Fragen Sie schon, Herr Vögtli«, ermunterte er ihn. »Entschuldigen Sie, Herr Doktor, ich habe nur überlegt, na ja, wir sind doch beide mit diesem – verseuchten Auto, also ich meine, Sie sind da ja ständig drin gesessen, in der letzten Zeit – und – ich mache mir halt auch Sorgen. Besonders jetzt, wo das Auto weg ist, da muß doch – diese Flasche unter Ihrem Sitz… Spüren Sie denn irgend etwas? Ich meine…« »Ich weiß, Herr Vögtli«, unterbrach ihn Bodmer beschwichtigend, »Sie wollen wissen, ob ich an mir irgendwelche Krankheitszeichen festgestellt habe.« Er schüttelte den Kopf. »Natürlich bin ich jetzt auch beunruhigt, aber krank fühle ich mich nicht, das könnte ich
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nicht sagen. Schauen Sie mich an! Was finden Sie? Sehe ich krank aus?« Vögtli betrachtete ihn skeptisch. »Nein…« sagte er zögernd. »In diesem Neonlicht hier…« »An Ihrer Stelle würde ich mir keine Sorgen machen«, tröstete ihn Bodmer. »Es geht ja nicht nur um mich – um uns«, verteidigte sich der Garagist, »auch meine Leute – der Angelo hat gestern an Ihrem Wagen gearbeitet – und dann ist auch noch dieses Mädchen gekommen, das seine Tasche gesucht hat.« Bodmer stand ganz still. »Was für ein Mädchen?« fragte er leise. »Na, so Anfang Zwanzig, würde ich sagen. Recht hübsch, obwohl ich’s gern ein bißchen molliger mag.« »Und schwarz gekleidet?« »Genau.« »Das ist die Kathrin, mein Patenkind. Ja, die ist letzthin mit mir gefahren.« Vögtli wagte ein schelmisches Grinsen. »So genau will ich’s ja gar nicht wissen, Herr Doktor.« Bevor Bodmer etwas erwidern konnte, tauchte der Kriminalinspektor neben einer Zapfsäule auf, gefolgt vom dürren Bezirksanwalt und einem weiteren Beamten im Straßenanzug. »Die Fahndung läuft.« Zufrieden rieb sich Grossenbacher die Hände. »Die kommen nicht weit mit dem Thunderbird. Wir möchten Ihnen jetzt gern einige Fragen stellen, meine Herren.« Er war eindeutig freundlicher geworden. »Können wir uns dort drinnen unterhalten?« Er wies auf die kleine Loge des Tankwarts. »Gerne«, antwortete Vögtli beflissen, »in meinem Büro hinten sitzen wir aber bedeutend bequemer.« Als Bodmer um acht Uhr immer noch nicht im Restaurant erschienen war, beschloß Kägi, das Essen zu bestellen. Evelyn behauptete zwar, ihr sei nach diesen gräßlichen Mitteilungen der Appetit völlig vergangen, doch Kägi vermochte sie schließlich zu einer Bouillon mit Markbein zu überreden; gerade in solchen Situationen müsse man sich zum Essen zwingen. Bodmer hatte seine Gattin offensichtlich nicht über den seltsamen Anruf des Garagisten unterrichtet, so daß
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Kägi die leidige Aufgabe zugefallen war, Evelyn über einem Campari-Orange die Vorfälle zu berichten. Zum Glück verfügt diese Frau über eine rasche Auffassungsgabe und eine ausgeprägte Selbstbeherrschung, dachte Kägi, nicht auszumalen, wie seine Ehefrau reagiert hätte. Die beiden saßen an einem gemütlichen Ecktisch in einem traditionsreichen Restaurant, das sich eher durch seine gediegene Ausstattung als durch die Originalität seiner Küche auszeichnete. Kägi, selbst ein talentierter Koch und kulinarischen Experimenten weit weniger abgeneigt als politischen, bedauerte zwar, daß Bodmer in diesem Lokal einen Tisch reserviert hatte, doch da gerade die Wildsaison begonnen hatte, tat er sich an Nimrods Beute gütlich. Dem Ober hatte er eingeschärft, daß er sein Hasenrückenfilet wirklich nur ganz knapp gebraten wünschte. Die Rehpastete, die er eben verspeiste, mundete nicht übel, hingegen war wie erwartet der obligate Selleriesalat phantasielos und zu kalt. Evelyn löffelte lustlos in ihrer dünnen Suppe. »Edgar muß dringend ins Spital«, sagte sie nachdenklich. »Gewiß«, versicherte Kägi und pickte ein Pfefferkorn von seinem Bissen – auf den grünen Pfeffer hätte er in dieser Terrine gern verzichtet. »Haben Sie denn an ihm in letzter Zeit irgendeine Veränderung festgestellt? Also mir erscheint er munter wie immer.« »Sie leben nicht mit ihm«, bemerkte Evelyn kühl. Für einige Zeit getraute sich Kägi nicht, sie in ihrem Grübeln zu stören. Er bewunderte seine Tischnachbarin – auch die traurigen Umstände ihrer Begegnung konnten seinen Gefühlen keinen Abbruch tun. Er hatte Evelyn nur selten getroffen – etwa im Foyer des Opernhauses, daran erinnerte er sich – und sie nie näher kennengelernt. Daß sie aus einer angesehenen alten – und reichen – Familie stammte, wußte er, hätte es aber an diesem Abend ohnehin bald gemerkt. Sie hat einfach Stil, dachte er begeistert, Stil und Klasse. Mit einer solchen Frau an seiner Seite hätte er es gewiß zum Nationalrat gebracht. »Danke, mir nicht mehr«, wehrte Evelyn ab, als der Kellner ihr Glas füllen wollte, wogegen Kägi den Nachschub nicht unterband. Sinnend ließ er den Wein durch eine leichte Kreiselbewegung am
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Glasrand emporsteigen und schaute zu, wie er in sanftem Bogen hinunterrann. »Ich frage mich, ob Edgar viele Feinde hat.« Evelyn sah befremdet auf. »Das fragen Sie mich? Nach dem, was heute geschehen ist? Natürlich hat sich mein Mann durch sein unerschrockenes Eintreten für die Kernenergie oft genug exponiert. Und diese Terroristen schrecken ja vor nichts zurück.« »Das stimmt, das stimmt, Frau Bodmer. Diesem Anarchistenpack ist das Schlimmste zuzutrauen. Allein…« Er wiegte bedächtig den Kopf. »Ich habe da eben noch an andere Feinde gedacht, Gegner aus dem Geschäftsleben etwa. Als Anwalt und Rechtsberater kommt Edgar ja mit allerlei Zeitgenossen in Kontakt – nicht nur mit angenehmen. Jemand, der ihm bös will, könnte deshalb – das ist nur Spekulation, reine Spekulation – versucht haben, ihn zu schädigen, und will nun mit diesem Bekennerbrief den Verdacht von sich ablenken.« »Sind Sie etwa auch Jurist, Herr Kägi?« »Nein«, lachte Kägi, »ich habe Nationalökonomie studiert. Aber als Werbefachmann muß man selbstverständlich mit Ideen spielen können, spintisieren, auch das Verrückteste ernst nehmen.« Evelyn sah ihn forschend an und kaute auf ihrer weich geschwungenen Unterlippe – nicht sehr ladylike, aber sinnlich. »Spricht er mit Ihnen viel über Geschäftliches?« Kägi schüttelte den Kopf. »Eigentlich nie.« »Mit mir auch nicht. Früher, ja, als er noch öfters Prozesse führte…« Wieder versank sie ins Brüten, und Kägi war froh, daß der Hasenrücken aufgetischt wurde. Er war innen rosig und zart und nahm Kägis Aufmerksamkeit so gefangen, daß er den Maître d’hôtel erst wahrnahm, als sich dieser diskret zu seiner Nachbarin beugte. »Sie werden am Telefon verlangt, Madame – Ihr Herr Gemahl.« Evelyn zuckte nicht etwa auf, wie dies seine Frau nun getan hätte. Sie erhob sich elegant – und Kägi beeilte sich, ebenfalls aufzustehen, obwohl er sich gerade einen dicken Brocken aufgespießt hatte. Während er ihren entschlossenen und doch graziös wiegenden Schritten nachstarrte, durchzuckte ihn der Gedanke, daß hinter diesem mysteriösen Attentat ein leidenschaftliches Liebesdrama stecken könnte. Evelyn dünkte ihn beträchtlich jünger als ihr Mann. Mit einem träu-
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merischen Ausdruck ließ Kägi das weiche Fleisch sanft auf seiner Zunge zergehen. »Edgar läßt sich entschuldigen«, erklärte Evelyn knapp, als sie zurückkam. »Er fährt nun gleich nach Hause. Der Thunderbird ist verschwunden.« »Was?« entfuhr es Kägi. »Ja«, sagte sie und versuchte, gelassen zu wirken, aber Kägi glaubte ihr anzumerken, daß sie nur mit äußerster Anstrengung die Tränen zurückhielt. Er wußte, was sie dachte – und er dachte dasselbe. Wer den Wagen hatte verschwinden lassen, wollte Spuren beseitigen. Und Spuren bedeuteten, daß diese verfluchte Teufelei kein Humbug war! Kägi stand entschlossen auf und ließ den Rest des Hasenfilets liegen. »Ich bringe Sie jetzt zu einem Taxi, Frau Bodmer.« Evelyn sah ihn dankbar an. »Sie sind ein sehr einfühlsamer Mensch, Herr Kägi.« Der mit allen Wassern der Propaganda, Manipulation und Dämagogie gewaschene Zyniker und Skeptiker Friedrich Kägi errötete wie ein Schuljunge, und sein Herz schmolz wie der Limburger Käse, auf den er nun als Nachtisch verzichten mußte. Ich hatte Edgar auf elf Uhr bestellt, um mit ihm die Röntgenbilder zu besprechen und die Behandlung seiner Nackenschmerzen anzuordnen. Wie ich vermutet hatte, wies seine Halswirbelsäule keine traumatischen Läsionen auf, hingegen hatte er eine leichte Skoliose, eine der häufigen Degenerationserscheinungen unseres Bewegungsapparates. Aber Edgar war überhaupt nicht mehr an seinem Knochengestell interessiert. »Hast du die Zeitung gelesen?« war seine erste Frage, als er in mein Zimmer stürmte. Ich hatte noch keine Zeit dafür gefunden. »Dann halte dich fest«, warnte mich Edgar und erzählte die unglaubliche Geschichte dieses bizarren Anschlags, der auf ihn verübt worden war. Er schien die Zweifel in meinem Gesicht zu lesen. »Guck nicht, als sei ich ein Spinner! Du ahnst nicht, was ich durchgemacht habe.« »Verzeih. Aber du mußt zugeben, daß dies alles reichlich phantastisch tönt. Eine Flasche mit radioaktiver Flüssigkeit unter deinem
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Fahrersitz… So leicht kommt man ja auch nicht an solche Stoffe ran. Hat die Polizei irgendeine Vermutung, um was für eine Substanz es sich handeln könnte?« »Etwas aus dem medizinischen Bereich, glauben die – so, wie Vögtli die Flasche beschrieben hat. Aber da mußt du ja besser Bescheid wissen, wozu ihr solches Zeug verwendet.« »Als simpler Allgemeinpraktiker? Ich habe doch keine Ahnung von Nuklearmedizin. Die wird nur an den großen Universitätskliniken betrieben.« »Und dort gibt es diese radioaktiven Stoffe?« »Gewiß. Die werden teils für diagnostische Zwecke, teils für die Therapie verwendet. Ich denke da zum Beispiel an Radiumjod für Schilddrüsenbehandlungen…« und an Kobalt, wollte ich hinzufügen, hockte mich aber noch rechtzeitig aufs Maul. Kobalt war mir wegen seiner Gefährlichkeit eingefallen. Ich fragte Edgar, ob man etwa in der Werkstatt oder gar bei ihm eine radioaktive Strahlung festgestellt hatte. Die Polizei hatte noch am gleichen Abend eine Equipe des Eidgenössischen Instituts für Reaktorforschung aufgeboten – die scheinen wirklich für Notfälle gerüstet. Ihre Messungen hatten keine erhöhten Belastungswerte ergeben. Für Edgar war das bloß ein schwacher Trost, denn das Resultat besagte lediglich, daß kein radioaktives Material freigesetzt worden war; ob er selbst einer Strahleneinwirkung ausgesetzt gewesen war, ließ sich so nicht feststellen. »Du mußt mich untersuchen«, drängte Edgar. »Das ist nicht so einfach«, gab ich zu bedenken, »mit meinen Mitteln läßt sich eine erfolgte Strahlenexposition nicht schlüssig nachweisen. Es ist viel vernünftiger, bis morgen zu warten, wenn du ohnehin ins gerichtsmedizinische Institut bestellt bist. Die…« »Morgen! Morgen!« rief Edgar erregt und sprang vom Stuhl auf. »Und bis dahin soll ich vor Angst verrecken? Und wer weiß, was die mir dann überhaupt sagen, wenn sie was entdecken. Du kennst ja die Ärzte!« Er lachte bitter. Er tat mir leid, ich verstand seine Panik. Ich habe schon so viele Patienten erlebt, die beim geringsten Verdacht auf eine ernsthafte Krankheit fast durchdrehten. Und wenn sie alle behaupten, sie würden von ihrem Arzt schonungslose Offenheit über
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ihren Zustand erwarten – wir wissen, warum wir uns lieber in geheimnisvolles Schweigen hüllen, das der Hoffnung Raum läßt. »Wenn es dich beruhigt, mache ich geschwind die gängigen Blutuntersuchungen. Fühlst du dich denn überhaupt krank, hast du an dir ungewöhnliche Symptome beobachtet? Wie steht es mit dem Appetit? Stuhlgang? Dein Allgemeinbefinden? Schlaf?« »Mein Gott, das ist doch das Teuflische! Jetzt horch ich auf jeden Furz, ob er normal tönt. Und was heißt schon normal? Ich hab immer gedacht, es sei der Streß, wenn ich mich schlapp fühlte…« Meine Praxisgehilfin kam noch eine Spur ungnädiger als sonst herein; ich hatte sie in einem Telefongespräch gestört. »Bitte eine Senkung und ein Leuk-Diff«, bat ich sie höflich. Sie sah Edgar an, als hätte er sie mal in die Hand gebissen. Ich sollte ihr dringend wieder einschärfen, ihre Stimmungen den Patienten gegenüber zu unterdrücken. »Kann ich auf das Resultat warten?« fragte Edgar. »Um zwölf habe ich einen Termin im Hilton draußen.« »Frau Amstutz wird das gleich untersuchen«, kam ich einem Einspruch zuvor. Jetzt erdolchte sie mich mit ihren Blicken. »Und das Gutachten für Professor Brügge?« wandte sie ein. »Machen Sie später!« »Weißt du was«, schlug Edgar versöhnlich vor, »ich geh in der Zwischenzeit rasch ins Warenhaus hinüber; ich muß noch was für Evelyn besorgen. Apropos – warum kommst du nicht heute abend mit deiner Frau zu uns? Evelyn hat eine kleine Party vorbereitet. Sie freut sich bestimmt, euch endlich wiederzusehen.« »Unter diesen Umständen?« Er lächelte bitter. »Das Fest ist seit langem geplant.« Ich zögerte. Vorgenommen hatten wir uns für diesen Abend nichts – außer die Kinder mal früh ins Bett zu bringen. Doch auf ein Treffen mit Edgars Politclique und Mißwirtschaftskapitänen hatte ich keine Lust. Er schien meine Gedanken zu erraten – wie schon in der Schule. »Keine Angst – es sind Evelyns Freunde, nicht meine. Mit denen werdet ihr euch garantiert gut unterhalten.«
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Frau Amstutz hüstelte vorwurfsvoll, mich zu einer Entscheidung drängend. Bodmer beabsichtigte keineswegs, irgend etwas im Kaufhaus zu holen. Die Amaretto-Kirschen für Evelyn dienten als Vorwand. Ihm war eingefallen, daß wenige Schritte von der Arztpraxis entfernt Kathrin in der Abbruchliegenschaft hauste. Das Mädchen wollte er besuchen – und zwar unbeobachtet. Kriminalinspektor Grossenbacher hatte nämlich vorgeschlagen, Bodmer unter polizeiliche Bewachung zu stellen – nicht etwa aus Sorge um ihn, sondern weil er auf eine Spur der Attentäter zu stoßen hoffte, sollten diese nochmals mit ihm Verbindung aufnehmen. Der ausgemergelte Bezirksanwalt hatte dies eine vernünftige Idee gefunden, und obwohl es Bodmer widerstrebte, sich nun ständig beobachtet zu wissen, hatte er die Maßnahme gutheißen müssen. Jetzt bot sich ihm die womöglich einmalige Gelegenheit, durch den Hinterausgang der Praxis seinem Schatten zu entwischen. Aktenkundig sollte seine Beziehung zu diesem Mädchen auf keinen Fall werden. Bodmer verließ das Haus durch die auf den Hinterhof führende Tür. Eine Tordurchfahrt öffnete sich auf die hintere Querstraße. Bodmer bedauerte, daß er den Regenmantel in der Praxis gelassen hatte – an diesem Morgen hatte sich der Himmel endlich überzogen, und in der Luft schwebte der Geruch eines Wetterwechsels. Bodmer schritt zügig aus – viel Zeit durfte er nicht verlieren. Seine spanischen Gesprächspartner hielten auf Pünktlichkeit, und von dieser Verhandlung hingen seine Investitionen in Andalusien ab. Doch ein Gespräch mit dem Mädchen war ebenfalls wichtig; er mußte wissen, was sie bei ihrem Besuch in der Garage gesehen hatte. Sie war intelligent, kein Zweifel, und sicher konnte sie ihm besser Auskunft geben als jener letztlich recht einfältige Autoklempner. Bodmer war froh, daß Vögtli im Beisein der Beamten Kathrin nicht erwähnt hatte. In dem Haus mit dem tristen armeegrüngrauen Anstrich mauerten einige Handwerker im Parterre die Fenster zu. Bodmer staunte; diesen Auftrag hatte wohl sein Architekt erteilt. Er besah sich die wenigen Schildchen, die noch neben den Klingelknöpfen hingen, die mei-
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sten ungelenk beschrieben und nachlässig hingeklebt. Kathrins Namen fand er nirgends. Bodmer stieß die Haustür auf, in der keine Scheibe ohne Sprung war. Im Flur roch es muffig, nach kaltem, feuchtem Zement. An den Briefkästen fehlten die Türchen, in einigen steckten vergilbte und staubige Reklamesendungen. Kein Hinweis mehr auf die Bewohner. Er horchte ins Treppenhaus. Außer dem Geplapper der Muratori war kein Geräusch zu vernehmen. Ihm blieb wohl nichts anderes übrig, als an jeder Tür zu läuten – wie ein Hausierer. Im dritten Stock vernahm er auf sein energisches Klopfen hin – die Klingeln funktionierten nicht mehr – ein undeutliches Gerassel. Bodmer pochte nochmals gegen die Türverglasung. »Ja!« rief aus der Ferne eine dünne, schrille Stimme. Er verharrte und lauschte. Die Tür wurde einen Spaltbreit aufgezogen. Eine alte Frau, in einen fleckigen Morgenrock gehüllt, starrte Bodmer aus wäßrigen Augen böse an. »Ich hab deinen Fritzen schon gesagt, mich kriegt ihr hier nicht raus – und dabei bleibt’s!« Er vermochte gerade noch seinen Schuh in den Türrahmen zu stellen. »Einen Moment!« drängte er – da trat ihn die Alte gezielt an sein Schienbein. Bodmer zuckte zusammen und zog den Fuß zurück. Die Tür knallte vor ihm zu, daß die Scheiben zitterten. »Hau ab, du Wichser!« hörte er die Frau keifen. Jetzt sah er rot. In diesem Augenblick hätte keiner seiner Wähler den Gemeinderat Dr. jur. Edgar H. Bodmer wiedererkannt, denn dieser trat mit einem wuchtigen Stoß, der einem Karatekämpfer zur Zierde gereicht hätte, die Wohnungstür ein. »Jessesmariaundjoseph«, zeterte die Alte und hastete zum Küchenfenster. Bodmer zerrte sie roh zurück. »Halt die Schnauze!« fuhr er sie an. »Meinetwegen kannst du hierbleiben, bis du verreckst. Ich will wissen, wo die Kathrin Amstutz wohnt.« »Wer?« fragte die Frau eingeschüchtert. »Das Mädchen aus der Wohngemeinschaft.« »Aber die sind doch gestern ausgezogen, die wohnen nicht mehr hier.«
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»Sind Sie sicher?« Bodmer hatte sich wieder in der Gewalt. Die alte Frau nickte. »Wissen Sie, wo die hingezogen sind?« Sie schüttelte den Kopf. Sie war fast kahl. In der Wohnung stank es wie aus einem Müllsack, den man vergessen hat, vor den Ferien hinauszustellen. Plötzlich wurde Bodmer von einer grenzenlosen Traurigkeit überfallen. Er griff in seine Brieftasche und legte alle Geldscheine auf den schmutzigen Küchentisch. Erika hatte mich überredet, allein zur Party zu gehen; sie verzichtete zugunsten eines alten Fellini-Films, den Südwest 3 in der Originalfassung zeigte, gerne auf ein Treffen mit der Zürichberg-Schickeria, auf die sie dort zu stoßen fürchtete. Mich plagten andere Bedenken. Die Untersuchungsergebnisse hatten mir gar nicht gefallen: Zu hohe Geschwindigkeit der Blutsenkung, auffallend erhöhte Anzahl der weißen Blutkörperchen. Dies hätte auf irgendeine Infektion hinweisen können – wirklich beunruhigt war ich erst, als ich das Blutbild im Mikroskop betrachtete. Da glaubte ich die gleichen unreifen und deformierten Zellen zu entdecken wie kürzlich bei jenem Patienten, den ich mit dem Verdacht auf chronisch-lymphatische Leukämie hospitalisieren ließ. Wenn sich da eine Reaktion der Peripherie auf eine Schädigung des Knochenmarks manifestierte… Edgar ließ ich von meinen Befürchtungen nichts verlauten. Bereits meine vorsichtige Frage, ob er in letzter Zeit eine schwere Erkältung oder eine andere Infektionskrankheit durchgemacht hatte, jagte ihm offensichtlich einen solchen Schrecken ein, daß ich ihn auf die Untersuchung im gerichtsmedizinischen Institut vertröstete. Unter diesen Umständen hatte ich Mühe, den unbeschwerten Partygast zu mimen, doch stand ich mit diesem Problem nicht allein, denn auch die meisten anderen Eingeladenen wirkten den Gastgebern gegenüber befangen. Evelyn hatte darauf bestanden, das Fest an diesem vorgesehenen Datum zu veranstalten – ich nehme an, sie hoffte damit sich und Edgar von den bedrückenden Gedanken abzulenken. Man feierte das Ende einer erfolgreichen Ausstellung, die einer Berliner Textilkünstlerin – einer Freundin von Evelyn – nicht nur positive Zeitungskritiken, sondern auch etliche Verkäufe eingetragen hatte. Eines ihrer Werke, ein Objekt aus dicken Hanfseilen und ko-
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lossalen rostigen Nägeln, zierte eine Wand in der Eingangshalle der Bodmerschen Villa. Mir erschien es wie die Hängematte eines Fakirs, doch war ich zu keinem Urteil berufen. Mit den im ganzen Haus verstreuten Zeugnissen des Bodmerschen Kunstsinnes konnte ich überhaupt wenig anfangen. Es waren durchweg moderne Arbeiten – Gemälde, Grafiken, Plastiken und Objekte, wie man diese schwer in eine traditionelle Kunstgattung einzuordnenden Staubfänger nennt – von wahrscheinlich nicht unbedeutenden zeitgenössischen Künstlern. Wie mir Edgar verriet, genoß es seine Frau, als Entdeckerin und Förderin von zwar anerkannten, aber noch nicht von der Kunstmafia vereinnahmten Talenten zu wirken. Er hätte bestimmt lieber in sicherere Werte investiert. Die Gästeschar – etwa dreißig Personen – bestand entgegen Erikas Befürchtungen größtenteils aus netten Leuten, unter denen sich meine Frau auch wohl gefühlt hätte. Ich schätzte es, für einmal nicht unter Kollegen fachsimpeln oder mich mit befreundeten Ehepaaren über Kindererziehung unterhalten zu müssen. Der reichlich sprudelnde Champagner – neben Perrier und frisch gepreßtem Apfelmost von einem biologischen Bauernhof das einzige Getränk, das ausgeschenkt wurde – mochte dazu beigetragen haben, daß die Stimmung doch bald gelöst, ja heiter wurde. Ich plauderte erst angeregt mit einer jungen Sängerin über die Interpretation der Wahnsinnsarie in Donizettis Lucia di Lammermoor, dann stritt ich mit einem Schriftsteller über Literaturverfilmungen für das Fernsehen, und schließlich landete ich vor dem gemütlichen Kaminfeuer in einer hitzig über den holländischen Grafiker Maurits Escher diskutierenden Runde. Genie oder begabter Kleinmeister mit naturwissenschaftlichem Tick – die Standpunkte wurden mit Witz und Geist vertreten. Da ich dem Champagner tüchtig zugesprochen hatte, riskierte ich gelegentlich eine Bemerkung. Man verzieh mir, als man meinen Beruf erfuhr… Die Toilette war von Evelyns Dekorationseifer ebenfalls nicht verschont geblieben. Wenigstens war das Handtuch nicht mit Nägeln durchwirkt. Als ich die Hände wusch, ertönte nebenan die Türglocke. Das italienische Dienstmädchen, das sich bisher diskret im Hintergrund gehalten und nur ab und zu neue Platten mit leckeren Häpp-
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chen aufgetragen hatte, schaute verwundert auf eine junge Frau, die eben ihr nasses Béret auszog und ihre blonden Haare schüttelte. »Haben Sie mich nicht verstanden?« fragte das Mädchen höflich, aber mit einer gewissen Schärfe. »Ich möchte Herrn Dr. Bodmer sprechen. Sagen Sie ihm, Kathrin ist da.« Ich half ihr aus dem Mantel. Sie trug ein einfaches schwarzes Kostüm, das nicht einem Mädchen ihres Alters entsprach, aber dennoch zu ihr paßte. »Sie kommen ziemlich spät«, lächelte ich ihr zu und stellte mich vor. »Aha, der Leibarzt«, bemerkte sie schnippisch. »Sagen wir eher: der Hausarzt. Sie kennen mich?« Sie schüttelte den Kopf. »Sagen wir: wir haben gemeinsame Bekannte.« Wer das war, erfuhr ich nicht, denn nun stand Edgar im Durchgang zur Bibliothek. Er war sehr bleich. Ich nahm mir vor, ihn dringend zu einer gründlicheren Untersuchung zu bestellen. Ob die Kollegen im gerichtsmedizinischen Institut meinen Verdacht bestätigen würden? Das Mädchen eilte auf Edgar zu und sprach leise auf ihn ein. Er nickte, dann stiegen die beiden die breite, geschwungene Marmortreppe zum ersten Stock hoch. Hatte mein Schulfreund etwa eine junge Freundin? Bodmers Arbeitszimmer war mit einigen erlesenen Antiquitäten ausgestattet, die aber keineswegs ungemütlich wirkten. Hier hatte er sich ein Refugium nach seinem Geschmack geschaffen. »Was wollen Sie?« stieß Bodmer atemlos hervor, kaum hatte er die schwere Tür hinter sich zugezogen. Es war nicht das Treppensteigen, das seine Brust einschnürte. Kathrin streckte ihm ein Papier entgegen. »Bloß eine Unterschrift.« Der Anwalt stierte auf das Blatt. »Eine Schenkungsurkunde?« »Ja, Edgar. Du hast es versäumt, mir zu meinem achtzehnten Geburtstag etwas zu schenken – das mußt du jetzt nachholen.« »Du bist verrückt, völlig verrückt!« Er brach in wieherndes Gelächter aus. »Ein Haus soll ich dir schenken? Einfach so?« Er merkte nicht, daß sie sich ganz selbstverständlich duzten. »Es ist ja ein bescheidenes Objekt. Zum Abbruch bestimmt.«
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Bodmer schritt drohend auf sie zu: »Jetzt mach aber, daß du rauskommst. Ich will dich nie mehr sehen, verstanden! Nie mehr!« »Ich dich auch nicht, Edgar. Bloß noch morgen beim Notar um die Übertragung zu besiegeln.« Bodmer packte sie am Arm. »Raus jetzt!« Kathrin entwand sich seinem groben Griff. »Warte! Ich schenke dir auch etwas.« Sie nahm die kleine schwarze Tasche, die ihr von der Schulter gerutscht war, in die Hand. »Die kennst du, nicht wahr? Die habe ich am Montagabend in deinem Thunderbird liegenlassen.« Bodmer fuhr sich mit der Zunge über die Oberlippe. Sein Mund war plötzlich ausgetrocknet. »Am Dienstagmorgen bin ich dann rasch zur Garage rausgefahren und habe die Tasche aus dem Wagen geholt. Sie war unter den Fahrersitz gerutscht. Ich mußte ihn hochkippen. Du kannst dir vorstellen, wie ich gestaunt habe, als ich in den Zeitungen von diesem Attentat las. Denn am Dienstag, da war keine Flasche unter deinem Sessel. Und dann hat dein Garagist einen Anruf erhalten – und nun lag dort plötzlich eine mysteriöse Flasche. Und am Abend war der Thunderbird verschwunden – gerade rechtzeitig, damit niemand mehr deinen Bluff entlarven konnte.« Bodmer stützte sich auf seinen Schreibtisch, ein gediegenes LouisSeize-Möbel mit lederbespannter Arbeitsfläche. Mit einem Brieföffner zog er die Rankenmuster der Goldprägung nach, die die Ränder schmückte. Er hielt seinen Blick gesenkt. Zwei verschlungene Blütenzweige bildeten eine Art Henkerknoten. Hier war ein Teil der Vergoldung abgeblättert. »Ich weiß nicht, wie du das alles arrangiert hast, und ich weiß nicht, warum – aber ich weiß, daß du es getan hast. Heute morgen hat Silvia in der Praxis deinen Mantel aufgehängt. Dabei ist etwas aus einer Tasche gefallen. Das schenke ich dir.« Sie hielt einen kleinen Bastvogel in ihrer schmalen Hand. »Als ich die Tasche holte, hing der noch am Rückspiegel. Du hast deinen Donnervogel geopfert, aber nicht deinen Talisman.« Beide schwiegen.
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Bodmer öffnete die Balkontür. Der Wind zerzauste die Baumwipfel gegenüber. Ein sanfter Regen hatte eingesetzt, das Naß, nach dem die dürstende Erde seit Wochen gelechzt hatte. Ein würziger Duft, von diesem Schauer aus dem Staub gelöst, hing in der Luft. Bodmer sog ihn tief in sich hinein. Er ließ die feinen Tropfen, die der Wind versprühte, über sein heißes Gesicht rinnen. Kathrin war neben ihn getreten. Die Stadt lag ihnen zu Füßen. Leise raschelte der Regen auf das dürre Laub nieder, bis erneut ein heftig fauchender Windstoß die Blätter von den Zweigen riß und sie in rasenden Wirbeln über die Straße trieb. Dort unten, in einem der parkierten Wagen, saß wahrscheinlich Bodmers dienstlicher Schutzengel und wartete auf die bösen Terroristen, die ihn als Stütze der Gesellschaft ins Wanken bringen wollten. Sicher hatte der Mann Kathrins Besuch notiert, sie eventuell fotografiert. Bodmer konnte eine leise Bewunderung für das Mädchen, das neben ihm auf Zürichs Lichtermeer hinunterschaute, nicht unterdrükken. Wie sie sich aus den wenigen Anhaltspunkten die Geschichte zusammengereimt hatte, diese Leistung verdiente Hochachtung. Belastungsmaterial hatte sie zwar wenig in der Hand – es würde Aussage gegen Aussage stehen. Aber wenn er morgen auf Herz und Nieren untersucht wurde, würde bald klar, daß das »Attentat« eine Finte gewesen war. So hatte er es ja auch geplant. Er würde immer noch als Opfer eines ganz üblen Streichs, einer schändlichen Tat dastehen. Das Vordringlichste hatte er erreicht: Die ALZ-Interpellation war im Gemeinderat wuchtig abgeschmettert worden. In der nächsten Zeit war er vor Angriffen aus der linken Ecke sicher. Wenn Kathrin dagegen ihr Wissen publik machte, hatte er seinen Donnervogel vergebens geopfert. Dann würde der ganze Attentatswirbel, mit Hilfe eines tüchtigen Privatdetektivs – und Evelyns Beitrag nicht zu vergessen – rasch und geschickt in die Wege geleitet, als Schwindel auffliegen. Bodmer wischte sich mit dem Taschentuch über das Gesicht und trat ins Zimmer zurück. »Bist du dir bewußt, daß dein Vorgehen ganz klar als Erpressung zu taxieren ist?« Kathrin zuckte ihre schmalen Schultern und lächelte. »Ich sehe das als ehrlichen Handel. Wir schenken uns beide etwas, das uns wichtig
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ist. Was du getan hast, dürfte zumindest als Irreführung der Rechtspflege taxiert werden, oder?« Nun konnte auch Bodmer ein Schmunzeln nicht unterdrücken. »Sag mal, weißt du schon, was du studieren willst?« »Na klar, Jura. Damit ich Kerlen wie dir das Handwerk legen kann.« Das war seine Tochter. Mit wem immer ihre Mutter in jener Zeit noch geschlafen haben mochte – das war sein Kind. »Okay, Kathrin. Du hast gewonnen. Aber die Idee mit dem Haus mußt du dir aus dem Kopf schlagen. Da liegt eine hohe Hypothek drauf. Ich bezweifle, daß dich die Bank als Schuldnerin akzeptieren würde.« Irgendwie freute es ihn, daß sie bei all ihrer Gerissenheit noch nicht über alles Bescheid wußte, daß in ihr auch noch ein naives kleines Mädchen steckte. »Ich mache dir einen anderen Vorschlag: Ich werde dich als mein Kind anerkennen…« »Darauf pfeif ich! Du hast das Leben meiner Mutter versaut, du bist für mich nie ein Vater gewesen – auf einen wie dich kann ich verzichten!« »Sag das nicht, Kathrin. Du machst keinen schlechten Handel. Als Vater bin ich für deinen Unterhalt und deine Ausbildung verantwortlich. Und auch als außereheliches Kind bist du erbberechtigt.« Sie lehnte sich wütend über den Schreibtisch. »Nur an das denkst du!« spuckte sie ihm verächtlich entgegen. »Geld, Sicherheit, Auskommen, Erben.« Sie schüttelte traurig den Kopf. »Du bist ein armer Hund, Edgar. Du bist wirklich verseucht.« Bodmer antwortete nicht gleich. Schließlich fragte er leise: »Verstehst du mich tatsächlich nicht, Kathrin?« Sie öffnete den Mund, aber dann schwieg sie und musterte ihn prüfend. Er hielt ihrem Blick stand. Diesmal gelang es ihm jedoch nicht, die Gedanken seines Gegenübers zu lesen. Kathrin bestand darauf, daß ein unbeteiligter Zeuge bei der Unterzeichnung ihrer Übereinkunft zugegen sein sollte. Der Zeuge war ich. Ich begreife jetzt zwar, warum Frau Amstutz Edgar immer so besonders unfreundlich behandelt hat, aber wieso sie mir ihre Tochter
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verschwiegen hat, verstehe ich nicht. Von den Siamkatzen hat sie erzählt, von Kathrin nie. Sie ist eine sonderbare Person. Nachdem sich die »Attentäter« nicht mehr gemeldet haben und bei Edgar keine Krankheitsanzeichen festgestellt wurden, die auf eine radioaktive Verseuchung hindeuten könnten, geht die Polizei davon aus, daß es sich hier um einen üblen Bubenstreich einiger Chaoten gehandelt hat. Die Ermittlungen gegen die Urheber werden wohl bald im Sand verlaufen. Daß man vom Thunderbird keine Spur gefunden hat, ist nicht verwunderlich; Evelyn hat ihn in einem Baggersee versenkt. Mich verwirrt bloß eines: der Untersuchungsbericht des gerichtsmedizinischen Instituts. Sie haben Edgar äußerst gründlich durchgecheckt – er mußte sich sogar einer Lumbalpunktion unterziehen. Wieso haben ihr Blutdifferentialbild und die Senkung völlig normale Werte ergeben? Und wieso ist auf diesen sechs Seiten nirgends von deformierten Zellen die Rede, wie ich sie mit eigenen Augen gesehen habe? »Ja, Frau Amstutz?« Meine Praxisgehilfin hat an die Tür geklopft, das macht sie sonst nie. »Haben Sie das Institut immer noch nicht erreicht?« Sie schüttelt den Kopf. Warum sieht sie mich so merkwürdig an? »Ich – ich kann dort nicht anrufen.« »Was soll das?« »Ich habe eben den Bericht gelesen.« »Dann wissen Sie ja, worum es geht.« »Die Erklärung kann ich Ihnen geben, muß ich Ihnen geben. Es tut mir leid, Herr Doktor. Ich – ich habe etwas Scheußliches getan. Es war nicht Edgars Blut, das wir untersucht haben.« »Wie bitte?« »Ich habe das Blut ausgetauscht. Ich wußte ja bereits, was Edgar plante, Kathrin hat es mir erzählt – sie ist letzte Woche wieder zu mir gezogen. Da habe ich mich an dem Schwein gerächt, für alles, was er mir und Kathrin angetan hat. Ich wollte ihm einen Schreck fürs Leben einjagen.« »Sind Sie sich bewußt, was Sie da getan haben? Als Arztgehilfin?«
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»Ich werde wieder im Service arbeiten, wie damals, als ich Edgar kennenlernte.« »Aber vom wem stammt das Blut? Der Patient muß unbedingt weiter abgeklärt und behandelt werden!« »Ich bin seit langem in Behandlung – bei meiner Ärztin. Der Verlauf ist ziemlich stabil.« Meine eigene Praxisgehilfin leidet an Leukämie! Gratulation, Herr Doktor, zu deinem Scharfblick! Eine »sonderbare Person« hast du sie genannt. »Launen«, »Stimmungen«. Hast sie dir wohl nie genau angesehen, die Frau Amstutz. War ja keine Patientin… Ich werde sie nicht entlassen.
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Lydia Tews Super-Med Die Detonation war heftig. Erdklumpen und Steinbrocken schwirrten durch die Luft und klatschten zur Erde. Roland Fritsche lag hinter ein paar Büschen flach auf dem Bauch. Die Sträucher boten nur dürftigen Schutz. Etwas Hartes traf seinen Rücken, und Fritsche preßte vor Schmerz die Kiefer zusammen. Instinktiv zog er die Kapuze des Parkas, die er unter dem Kinn festgezurrt hatte, tiefer ins Gesicht und schützte den Kopf mit den Händen. Noch immer rieselte Staub und Dreck auf ihn herab. Nie hatte er geglaubt, daß es wirklich klappen könnte. Ein Funken von Mißtrauen war immer geblieben. Die Wenn und Aber, die alles zum Scheitern bringen konnten, nagten wie dumpfer Schmerz in ihm. Doch die Bombe – seine Bombe – war explodiert. Auf! befahl sich Fritsche. Jetzt kam es auf jede Sekunde an. Seine Glieder waren schwer wie Blei. Ewig hätte er so liegenbleiben können. Müde war er mit einemmal und furchtbar schläfrig. Endlich rappelte er sich hoch, er schob sich die schwarze Maske vors Gesicht und griff nach dem Gewehr. Er überquerte den Acker und sprang die Böschung hinunter. Pia und Zulp standen schon auf ihrem Posten. Die Mündungen ihrer Waffen zielten auf die Männer, die, benommen von der Explosion, aus dem zerbeulten Auto kletterten. Edgar Wilfing kroch als letzter heraus. Fritsche erkannte ihn sofort. Er sah genauso aus wie auf den Zeitungsfotos: Hager und trotz der hängenden Schultern irgendwie drahtig. Der Prototyp eines 45jährigen Topmanagers aus der Automobilbranche. Er schien erschrocken zu sein und starrte unentwegt auf die zerstörte Straße. Keine hundert Meter entfernt hatte die Bombe ein gewaltiges Loch gerissen und beide Fahrbahnen blockiert. Gutes Timing, überlegte Fritsche. Wilfing und seine Begleiter waren unversehrt geblieben. Fritsche war froh darüber.
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Die Männer, die um Wilfing herumstanden, hatten alle die Augen auf die zerstörte Straße gerichtet. Sie schienen blind für Pia und Zulp zu sein, die mit ihren Waffen auf sie zielten. »Die Schrecksituation ausnützen. Das ist unsere Chance. Der wichtigste Teil der Planung«, hatte er den anderen immer und immer wieder gepredigt. Fritsche prügelte sich innerlich vorwärts. Jetzt hatte auch er das Gewehr im Anschlag. Er zielte auf Wilfing. »Mitkommen!« befahl Fritsche. Ihn wunderte, wie fest seine Stimme klang. Wilfing verharrte reglos. Dann blickte er zu den Männern, die neben ihm standen. Doch die schienen noch immer nicht zu ahnen, was vor sich ging. »Na, los doch!« zischte Fritsche und umklammerte das Gewehr, bis die Gelenke schmerzten. Als Wilfing sich nicht rührte, rückten Pia und Zulp einen Schritt näher. »Auf keinen Fall nervös werden«, hatten auch sie sich eingebleut. »Cool bleiben, egal, was auch passiert.« Fritsche starrte Wilfing in die Augen. Er hielt dem Blick stand. Oder nahm ihn Wilfing überhaupt nicht wahr? Sah er durch ihn hindurch? Jetzt schien Wilfing begriffen zu haben. Fritsche registrierte Schweißperlen auf Wilfings Oberlippe, sie glitzerten wie Tautropfen. Wilfing nickte leicht mit dem Kopf, als wolle er ein Zeichen geben, daß er verstanden hatte. Er warf einen raschen Blick zu Pia und Zulp, die ihn mit eisiger Ruhe fixierten. Endlich setzte sich Wilfing in Bewegung. Fritsche wies ihm mit dem Mündungsrohr die Richtung. Wilfing ging wie ein Kranker, der wochenlang im Bett gelegen hat. Pia und Zulp trieben ihn vorwärts. Fritsche blieb stehen. Er bewachte die anderen Männer, die noch immer nicht reagierten, sondern stumm dem davonstolpernden Wilfing hinterherstarrten. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis Pia und Zulp das Fluchtauto erreichten. Der BMW parkte, verborgen von Büschen und Sträuchern, auf der anderen Seite der zerstörten Straße. Endlich ertönte
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das Hupsignal. Fritsche spurtete los, sprang über Erdklumpen und Asphaltbrocken, die die Detonation herausgeschleudert hatte. Als er zum Auto kam, lief der Motor bereits. Zulp saß hinter dem Lenkrad. Pia war neben Wilfing auf den Rücksitz gerutscht. Sie nestelte ein schwarzes Tuch aus der Tasche, um Wilfing die Augen zu verbinden. Wilfing wehrte Pias Hände ab. Als Wilfing sprach, klang seine Stimme heiser: »Ich verlange eine Erklärung.« Zulp starrte noch immer geradeaus. Ruhig sagte er, ohne sich auch nur umzusehen: »Hau ihm aufs Maul, wenn er nicht spurt.« Fritsche ließ sich auf den Beifahrersitz fallen. Schweiß rann ihm übers Gesicht. Wilfing schwieg. Widerstandslos ließ er sich die Augen verbinden. Zulp beobachtete es im Rückspiegel. Dann gab er Gas. Der Wagen holperte eine Böschung hinunter und bog dann in einen Feldweg ein. Fritsche lehnte sich zurück. Er zerrte die Vermummung herunter. Langsam wich die Spannung. Alles war gutgegangen. Die Bombe hatte gezündet. Wilfings Wagen war rechtzeitig zum Stehen gekommen. Nur die Karosserie war verbeult. »Ich bin krank«, sagte Wilfing. Seine Stimme klang gepreßt, eigentlich war es nur ein kehliges Grunzen. Niemand gab Antwort. Zulp konzentrierte sich aufs Fahren. Der Wagen kroch jetzt eine kurvige Steigung hinauf. Zulp schaltete in den ersten Gang. Dann bogen sie in einen Forstweg ein. Sie zuckelten im Schrittempo etwa eine halbe Stunde durch den Wald. Wieder Wilfings Stimme: »Ich habe Krebs.« Pia kicherte, verstummte aber sofort, als sich Fritsche umdrehte. »Dank des sensationellen Wundermittels sind Sie doch jetzt für alle Ewigkeit geheilt«, entgegnete Fritsche heftig. »Ach, so ist das«, murmelte Wilfing, als ob er plötzlich verstehen würde. Für einen Moment sah es so aus, als gäbe sich Wilfing geschlagen. Doch dann beugte er sich nach vorn und umklammerte mit beiden Händen den Vordersitz. Er sprach fest und selbstsicher: »Egal, was Sie mit mir vorhaben, das Präparat ist nicht mehr aufzuhalten. Ich habe die gesamte Öffentlichkeit hinter mir.« Pia fuhr dazwischen: »Ich hau ihm gleich aufs Maul!«
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Fritsche winkte ab. Und Wilfing sprach weiter: »Sie sind gegen den Fortschritt. Aber den Fortschritt kann man nicht aufhalten. Endlich hat die Wissenschaft ein Mittel gefunden, um der Krankheit, dem geistigen und körperlichen Verfall, ja sogar dem Tod Einhalt zu gebieten!« Zulp, der den Wagen über den schmalen Pfad steuerte und dabei, so gut es ging, herabhängenden Zweigen auswich, fragte ironisch: »Werden Sie für Ihre Agitation wenigstens bezahlt?« Wilfing war jetzt nicht mehr zu bremsen: »Haben Sie sich denn ausführlich über die Wirkung von super-med informiert?« Seine Stimme klang eindringlich und gehetzt. Pia kopierte Zulps ironisch gelangweilten Sprechstil: »Die Zeitungen berichten über nichts anderes mehr.« »Wir stehen alle an der Schwelle einer biologischen Revolution, weil super-med die Zellen des Körpers erneuert, und zwar durch den Abbau der eigenen Fettreserven. Also auf völlig natürliche Weise. Wußten Sie das? Auch Organschäden an Magen, Leber, Herz sind heilbar. Ohne Operationen! Wissen Sie überhaupt, daß super-med Haut und Haare regeneriert? Bestimmt wissen Sie nicht…« Fritsche drehte sich um und erwiderte heftig: »Ich weiß vor allem, daß durch wild zusammengeschusterte Argumente in der Bevölkerung eine Massenhysterie ausgebrochen ist.« Auch Pia war drauf und dran, sich in das Streitgespräch zu mischen. Zulp beobachtete sie im Rückspiegel. »Schluß jetzt«, warf er ein, so als würde ihn die Diskussion entsetzlich langweilen. Stumm fuhren sie weiter. Etwa eine halbe Stunde lang. Dann stoppte der Wagen. »Willkommen in unserer Idylle«, spottete Pia und kletterte aus dem Auto. Sie waren auf einer Waldlichtung. Im Laub der Buchen spielte die Nachmittagssonne. Ein Blockhaus mit einem überdachten Vorplatz stand auf dem kleinen, freien Platz, der von hohen Bäumen bewacht wurde. Davor, auf einer grüngestrichenen Bank, die neben der Eingangstür der Hütte stand, lümmelte ein stämmiger, junger Mann. Er hatte ein aufgedunsenes Gesicht und trübe Schlitzaugen. Lässig hob
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er den Arm, um seine Freunde zu begrüßen. »Hallo, Joke«, sagte Zulp. Fritsche schlug ihm auf die Schulter: »Probleme gehabt, Joke?« Der junge Mann grinste: »Alles paletti.« Er zeigte auf Wilfing: »Sein Einzelzimmer ist bezugsfertig.« Fritsche nickte. »Und außerdem seid ihr berühmt geworden.« Jokes Grinsen wurde noch eine Spur breiter. »Ich hab von euch bereits in den 15-UhrNachrichten gehört. Hab’s auf Band mitgeschnitten.« »Das hören wir uns später an«, sagte Pia. »Als erstes muß unser Gast versorgt werden.« Fritsche faßte Wilfing am Arm und schob ihn auf den Eingang des Blockhauses zu. Zulp lief direkt hinter ihnen. Er hielt wieder das Gewehr in der Hand. »Was haben Sie mit mir vor?« fragte Wilfing. Fritsche hatte ihn durch die Tür gestoßen. Das Innere des Hauses war wie eine Ferienwohnung eingerichtet. Hölzerne Eckbank, Gaslaterne, Geweihe an der Wand. »Vorerst bekommen Sie einen Schlaftrunk«, antwortete Fritsche. Pia träufelte aus einem Fläschchen in ein Glas Wasser eine helle Flüssigkeit. »Valium«, sagte sie. Wilfing schüttelte den Kopf. »Soll ich ihn umstimmen?« fragte Joke grinsend. Fritsche betrachtete Wilfing, der heftig den Kopf schüttelte. »Was wollen Sie von mir?« fragte Wilfing mit belegter Stimme. »Los, trinken Sie!« »Wer garantiert mir, daß das wirklich Valium ist?« »Seit wann denn so zimperlich? Als Sie freiwillig die Wunderpille geschluckt haben, hatten Sie doch auch keine Bedenken. Dabei lebt man als Versuchskaninchen heutzutage recht gefährlich.« Pia lachte. »Ich verlange eine Erklärung…« Zulp stand immer noch am Eingang. »Schluß jetzt, trinken Sie!« befahl Fritsche. Widerstrebend setzte Wilfing das Glas an die Lippen. Er trank in kleinen, vorsichtigen Schlucken. Pia hatte die Tür zu einem Verschlag geöffnet. »Ab mit ihm!« befahl Fritsche.
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Joke gab Wilfing einen Stoß. Er stolperte direkt auf die dunkle Öffnung des Vorschlages zu. »Schließ ab!« ordnete Fritsche an. Pia verriegelte die Tür hinter Wilfing. Als er sich die Augenbinde entfernte, starrte er auf das Matratzenlager und betrachtete angewidert das Campingklo. Fritsche saß rauchend auf der Eckbank. Pia war neben ihn gerutscht und hatte die Beine hochgelegt. Sie kaute an einem Riegel Schokolade. Mit der Schulter lehnte sie sich an Roland Fritsche, der nervös an einer Zigarette zog und ein Stück von ihr wegrutschte. Er war ziemlich fertig. Pia legte ihm die Hand auf den Schenkel. »Ist doch prima gelaufen«, sagte sie und leckte sich die klebrigen Finger. »Klar. Hätte aber auch schiefgehen können«, murmelte Fritsche. »Wenn das Auto nicht rechtzeitig gebremst hätte, dann…!« Fritsche ließ den Rest des Satzes in der Luft hängen. »Es hat aber.« »Absolutes Glück gehabt!« »Die Sache ist gelaufen. Genau wie geplant.« Pias Antwort klang endgültig. »Trotzdem…« Zulp lehnte am Türrahmen und schwieg. Rechts von ihm spielte Joke mit den Knöpfen eines Kassettenrecorders. Auch ein portabler Fernseher stand daneben. Joke betrachtete ihn liebevoll. »Ich werde bestimmt zum Waldschrat, wenn wir hier noch länger bleiben«, murmelte er. Zulp gab keine Antwort. Joke richtete sich auf und sah Zulp an. »Meinst du, daß die Hütte auf die Dauer sicher ist?« Zulps Augen hinter den Brillengläsern funkelten. Soviel Joke wußte, bezog hier des öfteren ein Freund von Zulp Quartier. Dieser Freund mußte wohl auch ein Sonderling sein, denn er schrieb Gedichte und gab sich hier oben in achthundert Metern Höhe tagelang seinen alkoholischen Exzessen hin. Jetzt war der Dichter für ein halbes Jahr in China oder Irland oder in Guadeloupe. So genau wußte das Joke auch nicht. Zulp hatte sich einfach den Schlüssel aus der leeren Wohnung seines Freundes geholt. Förster und Waldarbeiter
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kamen selten hier vorbei, denn der Wald war Privatbesitz und gehörte, ebenso wie die Hütte, einem alten spleenigen Adeligen, der an dem Dichter einen Narren gefressen hatte und ihm die Hütte und das riesige Grundstück zur freien Verfügung überließ. »Was machen wir, wenn ein Wanderer sich hierher verliert?« wollte Joke wissen. Zulp strich sich über den Bart. »Du kannst ihm dann die Vorteile des freien Waldlebens schmackhaft machen«, antwortete er in seiner ruhigen Art ironisch. Joke beließ es dabei. »Spiel uns jetzt die 15-Uhr-Nachrichten vor«, sagte Fritsche. Joke drückte die Play-Taste. Pia hatte die Beine von der Bank genommen und saß wartend da. Die Stimme des Nachrichtensprechers ertönte: »…der Gesundheitsminister betonte, daß durch den Abschluß des Labortests endgültig die Unbedenklichkeit von super-med erwiesen sei. Schon im nächsten Jahr werde das Präparat der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Der Minister dankte dem Forschungsteam der Vereinigten Pharmawerke für ihre hervorragenden Leistungen.« Die Entdeckung des Wirkstoffs super-med, so der Minister, sei ein Meilenstein in der Geschichte der Menschheit. »In einem Gedenkgottesdienst segnete der Erzbischof von…« Die Stimme des Nachrichten-Sprechers verstummte. Zulp hatte die Stop-Taste gedrückt. Fritsche hob fragend den Kopf. »Zeit für die Fernsehnachrichten«, sagte Zulp. »Oder ist jemand am Blabla des Erzbischofs interessiert?« Pia verzog das Gesicht: »Zum Kotzen, diese Agitprop-Show. Wird jeden Tag schlimmer.« Joke schaltete das tragbare Fernsehgerät ein. Der Moderator berichtete, daß unbekannte Gewalttäter am frühen Nachmittag Edgar Wilfing entführt hätten. Über die Motive der Kidnapper liege zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nichts vor. Die mutmaßlichen Entführer seien im Kreis der Gegner von super-med zu suchen, die seit Monaten gegen das Präparat und dessen Freigabe protestierten. »Na, so was!« rief Pia dazwischen und fuhr Fritsche lachend durchs Haar. Ein Bild von Wilfing wurde eingeblendet.
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»Edgar Wilfing ist unheilbar krebskrank. Vor einem halben Jahr hat er sich als freiwillige Versuchsperson bei den Vereinigten Pharmawerken gemeldet, die vermuteten, daß durch super-med auch Krebs heilbar sei. Unter strengster ärztlicher Kontrolle wurde Wilfing dreimal täglich super-med intravenös verabreicht. Schon wenige Wochen nach Einnahme des Präparats kam der Krebs zum Stillstand.« Pia zündete sich eine Zigarette an, rauchte in hastigen Zügen und zeigte auf den Bildschirm: »Das darf doch nicht wahr sein«, rief sie, »jetzt schleppen sie auch noch die alte Kuh ins Studio!« Über dem Bildschirm flimmerte ein Interview mit Helena Sommer, einer 65jährigen Schauspielerin, die sich ebenfalls für die Forschungszwecke der Pharmawerke zur Verfügung gestellt hatte. Pia wetterte los: »Schaut euch bloß die Tussi an. Aufgetakelt wie ein Pin-up-Girl. Und die soll aussehen wie zwanzig? Frißt wohl kiloweise die Wunderpille. Ganz klar, daß die das Reklameschild der Pharma-Bonzen ist!« Sie schnaubte verächtlich durch die Nase. »Die wirkt total gestylt. So was geht doch nur mit Schönheitsoperationen. Oder?« Sie sah fragend zu Fritsche hinüber. Doch der konzentrierte sich ganz auf das Interview. Helena Sommer lächelte in die Kamera. »Dank super-med habe ich das Alter besiegt. Ich fühle mich vital wie eine Zwanzigjährige. Nicht nur äußerlich hat super-med mich verjüngt. Gedächtnis und Konzentrationsfähigkeit und überhaupt die Freude am Leben sind wie nie zuvor«, sagte sie mit Reklamelächeln. »Ich verstehe die Menschen nicht, die es sich zum Ziel gesetzt haben, super-med zu verhindern. Es ist ein Segen für die Menschheit.« Als Helena Sommer begann, einen Appell an die Entführer von Wilfing zu richten, und sie bat, sein Leben zu schonen und ihn freizulassen, gab Fritsche Joke ein Zeichen, das Gerät abzuschalten. »Das ist Volksverdummung!« rief Pia und meinte Helena Sommer und ihre Ansprache. »Und die Leute hocken vor der Glotze und glauben den ganzen Scheiß. Kein einziger von denen blickt, was wirklich läuft. Von der gesellschaftspolitischen Dimension haben die keinen Schimmer.«
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Fritsche winkte ab. »Spar dir deine Argumente für unser Bekennerschreiben auf. Jetzt, wo wir eine Geisel haben, ist die Presse gezwungen, unsere Argumente zu veröffentlichen.« Joke spielte an der Programmskala des Radios. Er fand einen Sender, der ausnahmsweise einmal über die Gegner von super-med berichtete. Seit Bekanntwerden der Entführung vor zwei Stunden gab es überall spontane Demonstrationen. Befürworter und Gegner von supermed standen sich zum erstenmal hautnah auf der Straße gegenüber. Ein Gegner ereiferte sich: »Wenn super-med nächstes Jahr in den Handel kommt, dann haben wir die Situation, die Huxley in Brave New World beschrieben hat. Der Mensch wird zum seelischen Krüppel, der Entfremdungsprozeß erreicht die Spitze. Aber Kranksein gehört zum Leben, denn durch Krankheit besinnt sich der Mensch auf sich selbst. Und das Altern gehört zum Menschen. Es ist die Summe des gelebten Lebens«, erklärte er mit Pathos. Fritsche hatte einen Ordner geholt und begann Papiere auf dem Tisch auszubreiten. »Schalt ab!« rief er zu Joke hinüber. »Bei dem Geseiere kann sich doch kein Mensch konzentrieren.« »Typisches Öko-Gequatsche«, stimmte Joke zu. Alle drei vertieften sich in ihre Aufzeichnungen. Still war es in der Hütte. Auch von Wilfing nebenan im Verschlag hörte man keine Geräusche. Joke zog sich auf einen Schemel an der Wand zurück und betrachtete den Fußboden. Er stierte schweigend ins Leere. Die anderen, auf der Eckbank, hatten Berge von Aufzeichnungen vor sich aufgetürmt und schrieben. Bald würde Essenszeit sein. Joke stand auf und machte sich an der Küchenzeile zu schaffen. Er putzte Karotten, schälte Kartoffeln und setzte Wasser auf. Die drei auf der Eckbank nahmen von ihm keine Notiz. Wilfing mußte geschlafen haben. Mit dem Rücken an die Holzwand gelehnt, die Hände im Schoß verkrampft, war er wieder zu sich gekommen. Jetzt schmerzten seine Nackenmuskeln. Er legte sich flach auf den Rücken und versuchte, gleichmäßig zu atmen. Dunkel war es in dem Verschlag und muffig. Lange würde er diese Isolation nicht ertragen können.
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Er war krank. Er hatte Krebs. Blutkrebs. Als die Diagnose endgültig feststand, hatte er sich bei den Vereinigten Pharmawerken gemeldet. Sie hatten ein Mittel entdeckt, das einer biologischen Revolution gleichkam. Das Risiko, das er damit einging, war ihm bewußt. Das Präparat super-med war noch nicht für den Handel freigegeben, und es gab damals noch kaum Erfahrungsberichte. Er hatte sich trotzdem darauf eingelassen. Denn Risiken gab es überall. Und was gab es Schlimmeres als Krebs? Unheilbar. Schmerzhaft. Tödlich. Er hatte Glück gehabt, daß ausgerechnet er aus den Tausenden, die sich täglich freiwillig meldeten, ausgewählt worden war. Glück hatte er vielleicht deshalb gehabt, weil er Aktien der Vereinigten Pharmawerke besaß und langjähriger Duzfreund des Vorstandsvorsitzenden war. Glück hatte er auch gehabt, daß supermed den Krebs gestoppt hatte. Von Tag zu Tag war es ihm besser gegangen. Obwohl die Pharmawerke nur über ihre Erfolge berichteten, war in der Klinik, wo er behandelt wurde, durchgesickert, daß es auch zahlreiche Mißerfolge gegeben habe. Doch bei ihm hatte supermed anscheinend sofort gewirkt. Schon nach wenigen Wochen war es ihm, als sei eine schwere Last von ihm gewichen. Er hatte sich täglich frischer, freier und kräftiger gefühlt. Aber jetzt war es mit dem Glück vorbei. Diese verrückten Fanatiker hatten ihn als Geisel in ihrer Gewalt. Durch die dünne Holzwand konnte er ihre Gespräche belauschen. Politische Sektierer saßen dort drüben beisammen und wollten mit ihren utopischen Ideen den Fortschritt und das Wohlergehen der Menschheit zerstören. Wilfing hatte ihnen mit Schaudern zugehört. Sie hatten von »Geniezüchtungen« und der »Produktion von Übermenschen« geredet. Wilfing fragte sich, was super-med damit zu tun haben sollte. Die Terroristen dort hinter der Holzwand sahen alles verkehrt. Sie sprachen von Klassengegensätzen, die sich verschärften – dabei sollte das Präparat doch frei im Handel verkäuflich sein. Sie fabulierten, daß super-med ein Druckmittel der Herrschenden werden könnte – aber man lebte ja nicht bei absoluten Fürsten im Mittelalter, sondern in einer Demokratie, die bisher immer noch menschenwürdige Regelungen gefunden hatte.
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Natürlich, wenn es um die medizinischen Einwände ging, stimmte Wilfing zu. Auch er hatte sich wochenlang damit herumgeschlagen, ob er sich als Versuchsperson freiwillig melden sollte. Aber ein Mittel, das noch nicht erprobt ist, kann man nur erproben, indem man es anwendet. Und Nebenwirkungen hat schließlich jedes Medikament. Außerdem konnte es ja sein, daß super-med durch die Wirkungsweise der Zellregeneration auch die eventuellen Nebenwirkungen neutralisierte. Er hörte, wie an der Tür seines Verschlages der Riegel zurückgeschoben wurde. Wie im Karneval müssen wir aussehen, dachte Joke, als er in die schwarzen Gesichtsmasken seiner Freunde sah. »Schmeckt’s?« fragte er und blickte auffordernd in die Runde. Zulp schien nicht gehört zu haben. Blind für seine Umgebung, saß er am Tisch und war in seine Papiere vertieft. Hin und wieder führte er die Gabel zum Mund, kaute, schluckte, legte die Gabel weg und verbesserte einen Satz oder strich ein Wort aus. »Gut gemacht, Joke«, lobte Fritsche und nickte dem Jungen anerkennend zu, obwohl es ihm nicht schmeckte. Er wollte Joke nicht schon wieder am Zeug flicken. Pia nagte an einem Hühnerbein und sah zu Wilfing hinüber. Er saß auf einem Hocker an der gegenüberliegenden Wand und hatte den Teller auf seinen Knien. Auch ihm schien es nicht zu schmecken. »Auch ’nen Schluck Bier?« fragte sie und hielt Wilfing die Flasche entgegen, aus der sie eben getrunken hatte. Wilfing schüttelte den Kopf. »Na, los doch. Es soll Ihnen bei uns an nichts fehlen.« Als Wilfing nicht reagierte, trank sie selbst und stellte die Flasche wieder ab. Fritsche schob seinen Teller weg. Joke sah ihn fragend an. »Ich bin satt«, murmelte er. Joke zuckte mit den Schultern und spießte eine von seinen halbgaren Kartoffeln auf. Dann stand Pia auf. Die klebrigen Finger wischte sie an den prallen Schenkeln ab. Früher war Fritsche auf diese prallen Schenkel scharf gewesen. Pia hatte es als Beleidigung empfunden, weil sie sich für zu
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dick hielt. Am Küchenregal träufelte sie Valium in ein Glas. Sie ging zu Wilfing und baute sich vor ihm auf. Fritsche sah weg. Warum mußte sie alles so provokativ machen? »Der Nachtisch«, sagte sie zu Wilfing und reichte ihm das Glas. Wilfing nahm es, zögerte einen Augenblick und kippte dann die Flüssigkeit hinunter. Pia hatte die rechte Hand in die Hüfte gestemmt und wartete, bis Wilfing ihr das leere Glas zurückreichte. »Ich wünsche eine angenehme Nacht«, sagte sie zu ihm. Sie öffnete den Verschlag und machte eine einladende Geste. Wilfing stand auf. Mit gesenktem Kopf trottete er auf die Tür. Pia schloß hinter ihm ab. »Räum den Tisch ab«, sagte sie zu Joke. Fritsche half die Teller aufeinanderzustapeln und hielt sie Joke mit einem kumpelhaften Grinsen entgegen. Zulp schien darauf nur gewartet zu haben. Sofort breitete er seine Aufzeichnungen über den Tisch. Schweigend arbeiteten sie weiter. »Unser Bekennerschreiben ist fertig«, sagte Fritsche nach einer Weile und sah dabei Pia an. »Schieß los!« forderte sie ihn auf. Auch Joke, der die Essensreste in den Abfallbeutel schabte, hob interessiert den Kopf. Zulp schaute über Fritsches Schulter auf dessen Papier und verbesserte noch ein Wort in seinem eigenen Manuskript. Joke grinste: »Unsere Forderung muß stündlich in den Medien wiederholt werden.« Zulp hob den Blick und sah zu ihm hinüber. »Stündlich in den Nachrichten und täglich in den Zeitungen.« Fritsche las: »›Wir haben am 16. Juni um 13.20 Uhr Edgar Wilfing entführt. Als Aushängeschild der Vereinigten Pharmawerke und der super-med-Versuche hat sich Wilfing der Kollaboration mit den Chemofaschisten schuldig gemacht. In einem System der Klassengesellschaft kann jeder künstliche Versuch, das Leben zu verlängern, nur der Zementierung der Ausbeutungsverhältnisse dienen. Wer die Verfügungsgewalt über das Präparat super-med besitzt, besitzt die Macht über Leben und Tod. Der Mensch wird zum Roboter. Die Grundlagen des Lebens werden zerstört. Wir fordern:
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Stopp der menschenverachtenden super-med-Versuche! Vernichtung der Forschungsunterlagen! Nieder mit dem Chemofaschismus – der Kampf geht weiter!‹« Fritsche hob den Kopf. Zulp nickte zustimmend. Der Text war eine Gemeinschaftsproduktion, und Fritsche hatte ihn nur in die endgültige Fassung gebracht. Joke grinste. »Das zwingt die Schweine in die Knie«, sagte er und knallte den Spüllappen in die Waschschüssel. Er war nicht an der Entstehung des Schreibens beteiligt gewesen. »Mir fehlt das Menschliche«, sagte Pia. »Durch super-med gibt es keine natürliche Entwicklung mehr. Ich finde, das sollte noch mit rein.« Zulp zog an seiner Zigarette. »Außerdem fehlt noch ein Hinweis auf die Folgen«, sagte sie. »Zum Beispiel Überbevölkerung in den westlichen Industrienationen. Das bedeutet: Höherer Energieverbrauch, größerer Bedarf an Nahrungsmitteln, Wohnungen, sozialen Einrichtungen. Die Länder der dritten Welt als Lieferanten für Rohstoffe und Nahrungsmittel haben keine Überlebenschancen mehr.« »Dritte Welt«, sagte Zulp, »das Argument kannst du dir abschminken. Wer nicht in der Lage ist, die eigene Situation zu begreifen, schert sich einen Deut um die Menschen in anderen Ländern. Ich finde den Text okay.« Fritsche nickte. »Wir dürfen uns mit den Argumenten nicht verzetteln, sondern müssen uns auf unsere Forderungen konzentrieren. Stopp der Versuche. Vernichtung der Forschungsunterlagen!« Pia wollte noch etwas erwidern, ließ es aber sein. »Vergiß nicht unsere Geisel.« Fritsche rutschte näher zu Pia. »Wir haben Wilfing! Und ab jetzt freien Zugang zu den Medien. Wir können so viele Erklärungen veröffentlichen, wie wir für nötig halten.« Er boxte ihr spielerisch in die Seite. »Aber jetzt muß das Bekennerschreiben erst mal unter die Leute.« Es war schon dunkel, als sich Fritsche auf den Weg machte. Er war mit einem Kontaktmann verabredet, der den Text vervielfältigen und an die Redaktionen der Zeitungen und Rundfunkanstalten weiterlei-
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ten sollte. Fritsche fuhr auf dem privaten Forstweg zurück. Den Umweg, den Zulp gewählt hatte, damit Wilfing die Orientierung verlor, sparte er sich. Anfangs war Fritsche mit der Hütte als Hauptquartier nicht einverstanden gewesen. Doch schließlich hatte er zugeben müssen, daß der Platz ideal lag. Zulps strategische Vorschläge waren, wie alles, was er in Angriff nahm, hieb- und stichfest. Nicht umsonst hatte er jahrelang in einer K-Gruppe gearbeitet. Für die jetzige Aktion konnte er auf alte Kontakte zurückgreifen und auch ein Netz aus zuverlässigen Leuten knüpfen, die, wie Zulp behauptete, bei ihrem Marsch durch die Institutionen aufrecht geblieben waren. Wissenschaftler und Redakteure, Rechtsanwälte und Führungskräfte in der Industrie. Fritsche hatte anfangs gezögert, war dann aber einverstanden gewesen. Zulp hatte nie seine Arbeitskraft an den Kapitalismus verkaufen müssen. Er lebte von einer Erbschaft und verwaltete sein Vermögen. Auch Fritsche hatte sich nie ins bürgerliche Leben integriert. Doch er mußte jobben, um sich den Lebensunterhalt zu verdienen. Fritsche erreichte nach zweistündiger Fahrt die Stadt. Er kurvte durch eine Wohnsiedlung und parkte vor einer Telefonzelle. Der Umschlag mit dem Bekennerschreiben lag in einer Zeitschrift. Fritsche zog die Tür der Telefonzelle auf und wählte die Nummer der Wettervorhersage. Er wartete auf Höhnig, einen bulligen 2-ZentnerMann, absolut zuverlässiger Typ, den er seit Jahren kannte und der Kontakte zu einer kleinen Druckerei hatte. Fritsche sprach ein paar Sätze in den Hörer und legte ihn dann auf die Gabel zurück. Er zog die Tür der Telefonzelle auf. Höhnig stand direkt vor ihm. Er trug eine Mappe unter dem Arm und hielt einen Zettel mit einer Nummer in der Hand. Höhnig drängte sich an Fritsche vorbei in die enge Zelle. Während Fritsche zum Auto schlenderte, beobachtete er aus den Augenwinkeln heraus, wie Höhnig seine braune Mappe über die Zeitschrift legte, die Fritsche auf den Fernsprechbüchern deponiert hatte. Er wußte, daß Höhnig beides zusammen mitnehmen würde. Fritsche schloß die Fahrertür auf. Höhnig warf Geld in den Schlitz und kehrte ihm den Rücken zu, wählte die Nummer der Zeitansage oder hörte die Sportnachrichten ab.
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Zwei Stunden später stand Fritsche in der Eckkneipe, in der er manchmal abends ein Bier trank. »Wieder auf Tour gewesen?« fragte der Wirt und zapfte ihm ein Helles. Fritsche nickte. Der Wirt wußte, daß Fritsche als Aushilfskraft für eine Transportfirma ins Ausland fuhr. Ein Radioapparat dudelte, und in der Ecke flimmerte der Fernseher. »He, mach mal lauter!« rief ein Mann, der am Tresen lehnte. »Ich will die Spätnachrichten hören.« Die Gespräche verstummten, und alle starrten auf die Mattscheibe. Das Bekennerschreiben konnte noch nicht bei den Sendern sein. »Von dem entführten Edgar Wilfing fehlt bis jetzt jede Spur«, las der Moderator von seinem Blatt ab. Es wurde die Landstraße eingeblendet, an der Fritsches Bombe explodiert war. »Wilfing wurde gekidnappt, als er vom Krankenhaus kam, wo er ambulant mit dem Präparat super-med behandelt wurde.« Der Chefarzt der Klinik erschien im Bild. Er forderte die Entführer auf, Wilfing freizulassen. »Eine Unterbrechung der Behandlung mit super-med kann das Leben des Patienten gefährden«, sagte er. Am Stammtisch entstand Gemurmel. »Diese Idioten. Warum haben die einen Krebskranken hopsgenommen und nicht einen von den Oberbossen?« rief ein Arbeiter, der schon einige Biere intus hatte. Fritsche wußte, daß er Kurt hieß und bei den Männern immer aneckte. »Halt doch die Klappe, du Revoluzzer!« brüllte einer vom Nebentisch zurück. »Geht es denn nicht in deinen Suffkopf hinein, daß dieses Mittel die wichtigste Erfindung seit Jahren ist?« »Schon allein, weil man davon superschlank werden soll!« rief lachend sein Nebensitzer dazwischen. »Meine Alte ist jetzt schon ganz scharf auf die Wunderpille. Die macht seit Jahren Abmagerungskuren. Alle ohne Erfolg.« »Deiner Wampe würden ein paar Kilo weniger auch nicht schaden«, bekam er zur Antwort. Kurt riß wieder das Gespräch an sich. »Wenn es stimmt, was ich gelesen habe, dann seid ihr die letzten, die sich dieses Mittel leisten können.«
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»Woher willst du denn das wissen?« »Ich hab’s aus ’ner Zeitschrift. Da schreiben noch Leute, die sich wenigstens was zu sagen trauen. Diese Scheißpillen helfen nur, wenn man sie täglich in rauhen Mengen schluckt. Und wißt ihr, was die kosten werden? Ein Arbeiter wie ich muß ein Viertel seines Monatslohns dafür hergeben. Ein Viertel! Wer kann sich denn schon die Pillen leisten? Doch nur die reichen Motze! Aber bei uns kleinen Leuten ändert sich nichts. Überhaupt nichts.« Fritsche trank sein Glas leer und hielt es dem Wirt noch mal hin. »Was hältst du denn von der Sache?« fragte ihn der Wirt. Fritsche zuckte die Schultern. »Ich hab andere Sorgen.« Kurt war immer noch in Kämpferstimmung. Er hatte die Faust nach oben gereckt und stieß sie in die Luft, so, als wolle er einen unsichtbaren Gegner boxen. »Arbeitslosigkeit wird es geben. Jawohl. Weil keiner mehr krank wird oder in Pension geht. Und Duckmäusertum, das sage ich euch. Wer aufmuckt, dem braucht der Chef bloß das Gehalt zu kürzen, schon hat er keine Kohle mehr, um sich das Wundermittel zu kaufen. Einen Job kriegt nur noch einer, der sich mit dem Zeug fit halten kann und die Schnauze hält.« »Es hat immer Leute gegeben, die das Neue in Grund und Boden verdammten«, erwiderte sein Nebensitzer. »Die Kartoffeln wollte anfangs auch keiner fressen.« »Eben. Nur dauert’s immer eine Weile, bis auch die letzten Hohlköpfe das kapieren.« Und dann leiser: »Es soll auch die Potenz steigern.« Lautes Gelächter: »Kriegst wohl keinen mehr hoch?« Fritsche zahlte. Er verließ die Eckkneipe und schlenderte durch die kühle Nachtluft zu seiner Wohnung. Als er den Briefkasten leerte, rutschte ihm eine Werbebroschüre der Vereinigten Pharmawerke entgegen. In seiner Wohnung kam ihm die Luft abgestanden und stickig vor. Doch Fritsche wollte nicht die Fenster öffnen, es wäre sowieso nur der Smog der Verkehrskreuzung ins Zimmer gedrungen. Auf dem Bett lagen Pias Klamotten. Er warf sie auf einen Stuhl und zog sich dann aus. Müde war er, doch als er unter der Decke lag,
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konnte er nicht einschlafen. Unruhig warf er sich hin und her. Er knipste das Licht an, stellte den Radiowecker auf sieben Uhr und rauchte eine Zigarette. Auf dem Nachtkästchen stand eine Flasche mit Cognac. Es reichte gerade, um sich den Mund damit zu spülen. Fritsches Vorschlag war es gewesen, daß jeder so oft wie möglich zu Hause übernachten sollte. Sich an den gewohnten Orten aufhalten und so normal wie möglich weiterleben, so hatte er argumentiert. Bei ihm, der viel freie Zeit hatte und nur gelegentlich für drei, vier Tage von der Bildfläche verschwand, nämlich dann, wenn er mit dem LKW auf Achse war, wäre es am auffälligsten gewesen, wenn er plötzlich für länger weggeblieben wäre. Außerdem erhielt Fritsche den Kontakt mit den Verbindungsleuten aufrecht, die sich ihrem Kampf gegen super-med angeschlossen hatten. Er war also zwangsläufig mobiler als die anderen. Fritsche war es auch, der sich um die konspirative Wohnung kümmerte, deren Miete Zulp von seiner Erbschaft bezahlte. Fritsche wäre es lieber gewesen, wenn auch Pia hier geschlafen hätte. Doch Pia wollte auf der Hütte bleiben. Zulp hatte ihre Entscheidung richtig gefunden, Zulp, immer wieder Zulp. Auch Pia fuhr auf ihn ab. Und Pia war die einzige, die Zulp gelegentlich auf die Schulter klopfen konnte, ohne daß Zulp sofort zur Salzsäule erstarrte. In der Regel vermied Zulp alle körperlichen Berührungen und bewegte sich immer so, daß zwischen ihm und den anderen ein Sicherheitsabstand gewahrt blieb. Trotz seiner Berührungsangst wollte Zulp die Hütte, die nur einen einzigen Schlafraum mit zwei Stockbetten hatte, als ständiges Quartier beziehen. Wahrscheinlich litt er fürchterlich unter der Enge der Wohnverhältnisse. Doch wenn es um die Sache ging, machte er stets persönliche Abstriche, nahm sich selbst am unwichtigsten und ordnete sich völlig den Erfordernissen unter. Oder wollte Zulp nur dort oben bleiben, um mit Pia… Quatsch, sagte sich Fritsche. Zulp würde vermutlich die Nachtwache übernehmen, schätzte er, in seinen Papieren vertieft am Tisch sitzen und die nächste Presseerklärung formulieren. Sieben Uhr. Das Radio hatte sich eingeschaltet und Fritsche aus dem Schlaf gerissen. Der Nachrichtensprecher verlas ihr Bekenner-
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schreiben. Die Bundesstaatsanwaltschaft hatte einen Krisenstab gebildet. Mehr war zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht zu erfahren. Fritsche ging ins Bad und duschte. Er packte ein paar Sachen zusammen, wie ihm Pia aufgetragen hatte. Vorsichtig öffnete er die Wohnungstür und horchte. Im Haus war es seltsam still geworden. Fritsche zögerte, dann warf er die Tür zu, schloß hinter sich ab und versuchte sich zu erinnern, mit welcher Geschwindigkeit er immer die Treppe hinuntergesprungen war. »Sie bringen es jede Stunde. In allen Sendern!« rief Pia triumphierend, als Fritsche aus dem Wagen kletterte. »Hast du die Zeitungen dabei, steht’s da auch drin?« Während Fritsche aus dem Kofferraum eine Kiste mit Lebensmitteln hievte, griff sich Pia den Stapel Zeitungen, den er mitgebracht hatte. Die Schlagzeilen überfliegend, marschierte sie in die Hütte zurück. »Wo ist Zulp?« »Schläft«, antwortete sie, ohne den Kopf zu heben. »Ist die ganze Nacht wach gewesen.« »Und Wilfing?« »Dort drinnen.« Sie zeigte auf den Verschlag. Joke grinste. »Wir haben zusammen einen Morgenspaziergang rund um die Hütte gemacht und anschließend gemeinsam gefrühstückt.« »Wie geht es ihm?« »Beklagt hat er sich nicht.« »Verkraftet er das Ganze?« »Es bleibt ihm doch nichts anderes übrig.« Joke zuckte die Achseln und beugte sich wieder über das Aufnahmegerät. Er schnitt sämtliche Sendungen mit, die über ihre Aktion berichteten. »Pia hat ihm wieder Valium gegeben.« Pia blätterte eine Seite um und rief: »Alle großen Zeitungen haben es gebracht. Gute Arbeit, Roland.« »Und die Reaktion läßt nicht auf sich warten«, sagte Joke und drehte den Knopf des Radios lauter.
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»…Der Generalbundesanwalt erklärt, daß der Krisenstab rund um die Uhr im Einsatz ist. Gestern ging ein Bekennerschreiben aus dem linksterroristischen Umfeld ein.« Dann sprach der Generalbundesanwalt: »Wir fordern die Entführer auf, von ihrem zerstörerischen Tun Abstand zu nehmen und Wilfing freizulassen.« Auch der Pressesprecher der Vereinigten Pharmawerke richtete einen Appell an sie. »Mach lauter!« rief Pia. Alle drei drängten sich um den Tisch, auf dem das Radio stand. »Edgar Wilfing hat sich durch seinen mutigen Entschluß, sich freiwillig für die super-med-Versuche zur Verfügung zu stellen, in den Dienst für die Menschheit gestellt. Die Vereinigten Pharmawerke werden alles tun, um sein Leben zu retten. Wir werden mit den Entführern verhandeln, sobald wir ein Lebenszeichen von Edgar Wilfing erhalten. Edgar Wilfing soll den vollen Namen und das Geburtsdatum des Arztes nennen, der ihn als erster mit super-med behandelt hat.« Pia rief empört dazwischen: »Die Schweine schlachten aber auch wirklich alles für ihre Werbekampagne aus!« »Still«, zischte Fritsche und beugte sich über den Lautsprecher des Geräts. Jetzt sprach ein Pfarrer. Er hatte sich schon vor Jahren einen Namen in der gemäßigten Friedensbewegung gemacht. Er bot sich selbst im Austausch gegen den Gefangenen Edgar Wilfing an. Pia verzog angewidert das Gesicht. »Idiot!« murmelte sie. »Der ist wohl publicity-geil«, warf Joke dazwischen. Als die Nachrichten zu Ende waren, wiederholte Fritsche die Information, die unter den zahlreichen Verlautbarungen und Erklärungen für sie als einzige von Bedeutung war: »Die Pharmawerke sind zu Verhandlungen bereit, wenn sie von Wilfing ein Lebenszeichen erhalten.« »Kein Problem«, sagte Joke. »Soll ich Wilfing holen?« Fritsche winkte ab. Er wollte allein mit Wilfing sprechen. Er ging zu dem Verschlag, um die Tür aufzuschließen. »Stopp«, sagte Zulp mit ungewohnt lauter Stimme.
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Er stand plötzlich in dem Durchgang, der zur Schlafkammer führte. Obwohl er fast nicht geschlafen haben konnte, sah man ihm die Müdigkeit nicht an. Unwillkürlich ließ Fritsche die Hände sinken und sah Zulp an. Seine Augen unter den überhangenden Lidern funkelten hinter den Brillengläsern. »Gibt’s was?« fragte Fritsche. »Stopp der Versuche. Das erzwingen wir nie.« Pia stemmte die Hände in die Hüften und öffnete den Mund. Dann überlegte sie einen Moment und wartete ab. »Keiner ist auf unsere Forderungen eingegangen«, sagte Zulp, jetzt wieder in seiner gewohnten, monotonen, schleppenden Art. Er machte eine vage Bewegung in die Richtung, in der das Radio und die technischen Geräte standen. »Ist euch das überhaupt aufgefallen? Sie versuchen uns hinzuhalten.« »Damit haben wir doch von Anfang an gerechnet«, gab Pia zu bedenken. Joke ruderte mit den Armen: »Red keinen Quatsch. Wir haben Erfolg auf der ganzen Linie. Jede Stunde verlesen sie unsere Erklärung. Da, hör selber.« »Wir haben am 6. Juni um 13 Uhr 20 Edgar Wilfing entführt…« Die Stimme wurde wieder leiser. »Die Sendeanstalten bringen nichts anderes mehr. Jede Menge Verlautbarungen und Kommentare.« »Aber kein einziges Wort darüber, ob sie unsere Forderungen erfüllen werden. Und die lauten: ›Stopp der Versuche! Vernichtung der Forschungsunterlagen!‹ Darauf hat bis jetzt noch keiner reagiert.« »Die hatten doch noch gar keine Zeit dazu«, sagte Pia. Joke meinte unbeschwert: »Tja, ich schätze, die stehen noch immer unter Schock und brauchen eine Weile, bis sie sich wieder gefangen haben. Oder was meinst du?« Er sah fragend Roland Fritsche an. Fritsche schwieg. Auch die anderen waren jetzt still. Zulp sah sie alle der Reihe nach an. »Dann bin ich gespannt auf deine Einschätzung«, sagte Fritsche endlich.
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»Folgendes.« Zulp zählte an seinen langen, schmalen Fingern auf: »Erstens, weder die Bundesstaatsanwaltschaft noch die Pharmawerke haben in irgendeiner Weise zu unseren Forderungen Stellung genommen. Zweitens, daraus läßt sich schließen, daß Wilfing der Bundesstaatsanwaltschaft gleichgültig ist. Drittens, die Pharmawerke schlachten die Entführung lediglich für ihre Belange aus.« Pia lief in der engen Hütte erregt auf und ab. »Kriegste jetzt deinen Koller oder was ist los mit dir? Überleg doch mal: Wilfing ist für den Pharmakonzern eines der wichtigsten Zugpferde. Ihr einziger Krebspatient. Die Pharmabosse brauchen ihn lebend, und zwar ziemlich rasch. Wie stehen die denn in der Öffentlichkeit da, wenn sie nicht alles tun, um sein Leben zu retten.« »Das war auch der Grund, weshalb wir Wilfing als Geisel gewählt haben.« Fritsches Stimme klang gereizt. »Jetzt müssen wir einfach abwarten, wie sie reagieren, wenn sie von Wilfing ein Lebenszeichen erhalten.« Zulp gab sich noch nicht geschlagen: »Gut. Wir übermitteln ihnen den Namen von Wilfings Arzt. Doch wie weiter? Nehmen wir einmal an, die Pharmabonzen lassen ihren Pressesprecher erklären, daß die Versuche mit super-med eingestellt wurden und sämtliche Forschungsunterlagen vernichtet sind. Schön und gut. Das können wir dann auf Treu und Glauben für bare Münze nehmen.« Er machte eine kurze Pause. »Aber ich behaupte, daß sämtliche Forschungsunterlagen bereits mehrfach kopiert und an verschiedenen geheimen Orten untergebracht sind. Alle Daten und Fakten, die super-med betreffen, sind auf Mikrofilmen festgehalten, davon müssen wir einfach ausgehen. Die Produktion kann also weitergehen. Wenn nicht hier, dann im Ausland.« »Das werden sie nicht wagen!« rief Pia. Sie war unsicher geworden, und man merkte es ihr an. »Wir haben sie schließlich in der Hand, denn sie pokern um Wilfings Leben. Ein toter Wilfing ist für sie ein schlechter Wilfing.« Fritsche fand den Vergleich unmöglich. Zu Zulp sagte er: »Noch ist es in unserem Staat so, daß neue Präparate der staatlichen Kontrolle unterliegen. Seit die Pharmawerke mit Wilfing experimentieren und damit angeblich Erfolg haben, hat sich auch der Gesundheitsminister für super-med stark gemacht. Ab da
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lief die Propaganda auf Hochtouren. Denn das Bundesgesundheitsamt hat ja, wenn man’s glauben kann, die Versuche überwacht und das Präparat kontrolliert – auch wenn sie sich in Wirklichkeit von den Pharmachemikern nur die Unbedenklichkeit von super-med haben bestätigen lassen. Ohne Wilfing gilt der Versuch als gescheitert. Das Bundesgesundheitsamt wäre gezwungen, die Freigabe des Präparats so lange zu verhindern, bis die Ergebnisse neuer Versuche vorliegen.« Zulp nickte. »Richtig. Darum läuft mit Wilfing alles weiter wie geplant.« »Und was soll sich ändern?« wollte Pia wissen. »Wie ich gesagt habe: Unsere Forderungen!« Joke kratzte sich am Kinn und sah Zulp voller Erwartung an. »Na, dann los!« forderte Fritsche. »Wir haben nicht die Macht, die Versuche zu stoppen. Weder mit einer Geisel noch mit zehn oder mit hundert. Klar können wir fordern, was wir für das einzig Richtige halten. Doch uns fehlt die Kontrolle. Darum haben wir auch keine Macht.« Fritsche fuhr dazwischen: »Wir alleine nicht. Aber große Teile der Öffentlichkeit sind bereits auf unserer Seite. Durch unsere Aktion wird eine Bewußtseinsbildung in Gang gesetzt. Bisher sind die Jubelschreie der Pharmabosse über ihre angeblichen Erfolge durch Sachargumente nie entkräftet worden. Doch unser Kampf sorgt dafür, daß die Kritikfähigkeit der Leute wächst.« »Trotzdem wird der Pharmakonzern heimlich weiterproduzieren. Sie spielen mit der Angst vor Krankheit und Tod. Vielleicht gelingt es uns, die Freigabe von super-med zu verzögern. Aber in ein oder zwei Jahren stehen wir wieder vor der gleichen Situation wie heute.« »Deshalb ist es unsere Pflicht, die Öffentlichkeit aufzuklären. Und zwar stündlich über alle Nachrichtensender. Erst durch eine Änderung des Bewußtseins ist es möglich, super-med zu verhindern. Darum müssen unsere Informationen so formuliert sein, daß sie eine breite Masse ansprechen. Humane Gesichtspunkte gehören da hinein, zum Beispiel, daß der Mensch nicht berechtigt ist, in die biologische Entwicklung einzugreifen, und das natürliche Werden und Vergehen nicht gesteuert werden darf. Mit solchen Argumenten kriegen wir die
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Ökos und Friedensbewegten auf unsere Seite«, sagte Fritsche hitzig. Pia nickte. »Und natürlich darf der gesellschaftspolitische Aspekt nicht zu kurz kommen«, ergänzte er. Zulp lehnte noch immer am Türstock. Geduldig hatte er zugehört, obwohl er Fritsches Argumente bereits kannte. »Du hast vollkommen recht«, sagte er ruhig. »Aber die Aufklärung ist nicht allein durch uns zu leisten. Deshalb bleibt uns nur eines: Wir müssen die Veröffentlichung der Unterlagen fordern. Denn die Forschung muß der demokratischen Kontrolle des Volkes unterliegen.« Alle schwiegen. Fritsche entgegnete: »Wenn wir die Veröffentlichung der Unterlagen fordern, gehen die Produktionen und die Versuche in der Zwischenzeit trotzdem weiter.« »Richtig«, stimmte Zulp zu. »Vorerst wird es weitergehen.« »Und wenn das Mittel erst auf dem Markt ist, werden sich die Lebensgrundlagen verändern. Dann zählt nur noch der etwas, der den Leistungsnormen entspricht. Da, schau dir diesen Bericht an!« Fritsche zog eine Zeitung aus dem Stapel hervor und hielt Zulp die Schlagzeile vor die Nase. ›Super-med-Versuche mit debilen Kindern! Intelligenz und Leistungssteigerungen bis zu dreißig Prozent.‹ Fritsche schleuderte die Zeitung auf den Tisch zurück. »Das führt zur Züchtung von Intelligenzbestien. Zum Übermenschen!« Er holte tief Luft: »Deshalb muß unsere Forderung nach wie vor lauten: Stopp der Versuche. Vernichtung der Unterlagen!« »Klar, ideologisch gebe ich dir recht. Aber politisch ist es momentan nicht durchführbar, weil uns, wie gesagt, die Kontrollmöglichkeiten fehlen. Wenn wir die Öffentlichkeit von der Gefährlichkeit des Präparats überzeugen wollen, brauchen wir eine breite Front der Solidarität. Mit unseren stündlichen Erklärungen in den Rundfunksendungen alleine schaffen wir das nie. Alle Argumente, die von uns kommen, sind doch bisher, rein wissenschaftlich gesehen, noch nicht bewiesen. Erst wenn alle Zugang zu den Herstellungsmethoden haben, ich meine da insbesondere Pharmazeuten, Biologen, Mediziner, kann in der Bevölkerung durch die Vielzahl der verschiedenen Meinungen eine Bewußtseinsbildung in Gang gebracht werden.«
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Pia konterte: »Wissenschaftler unterliegen bekanntlich am stärksten den systemimmanenten Zwängen. Für die zählt doch nur die herrschende Ideologie.« »Aber die breite Masse ist nun leider einmal wissenschaftsgläubig. Außerdem gibt es auch Leute, die sich ihren kritischen Verstand bewahrt haben. Ich kenne einen, der ist Chemiker in einem Forschungsinstitut und hat schon für die verschiedensten Organisationen, zum Beispiel Greenpeace und so, gearbeitet. Außerdem hat er gute Kontakte. Wenn er mitmachen würde, hätten wir viele Organisationen hinter uns, die uns unterstützen würden.« Eine Pause trat ein. Fritsche dachte nach. Er trat durch die Eingangstür auf den überdachten Vorplatz hinaus und betrachtete die Buchen. Auch hier oben, in achthundert Meter Höhe und in weiter Entfernung von Fabrikschloten und Industrieanlagen, hatte der saure Regen erhebliche Schäden angerichtet. Die Bäume starben. Und das Waldsterben konnte nicht mehr gestoppt werden. Fritsche ging zurück zu den anderen. Wilfing erwachte. Er wußte nicht mehr, wie lange er in diesem Verschlag schon lag. Durch die Ritzen der Außenwand fielen winzige Streifen des Sonnenlichts. Also war es Tag. Der wievielte? Er konnte nicht abschätzen, wie lange seine Schlafperioden dauerten. Sich an den Mahlzeiten zu orientieren war auch keine große Hilfe, denn die waren unregelmäßig. Vielleicht fielen sie manchmal sogar aus. Wenn er wach war, lauschte er ihren Gesprächen. Hoffnung keimte in ihm auf, als er hörte, daß die Pharmawerke verhandeln wollten. Angst schnürte seine Kehle zu, als er beim Essen auf dem Schemel an der Wand saß und sie in seinem Beisein offen über die nächsten Schritte ihrer Aktion sprachen. Angst deshalb, weil diese Offenheit nur bedeuten konnte, daß sie ihn nie mehr freilassen würden. Doch dann war der mit den dunkelbraunen Locken zu ihm gekommen, und er war wieder ruhiger geworden. »Die Pharmawerke wollen einen Beweis, daß Sie noch leben«, hatte er gesagt. Das konnte nur bedeuten, daß er, Edgar Wilfing, bald freigelassen würde.
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»Wollen Sie ein bißchen an die frische Luft? Ein bißchen Spazierengehen?« hatte ihm der mit den Locken angeboten, als er ihm Peter Paul Paulusens Namen und dessen Geburtstag, den 4. 4. 44, genannt hatte. Paulusen war ein Arzt, zu dem Wilfing wirklich Vertrauen empfand. Schon nach kurzer Zeit hatte sie so etwas wie Kameradschaft verbunden, und sie hatten Gespräche geführt, die in der Regel bei einem Arzt-Patienten-Verhältnis nicht möglich waren. Deshalb wußte Wilfing auch Paulusens Vornamen und sein Geburtsdatum. Paulusen hatte ihm dreimal täglich super-med intravenös verabreicht. Jetzt mußte er ohne das Präparat auskommen. Ob jetzt wieder der Krebs zu wuchern begann? Gab es für ihn überhaupt noch eine Rettung, selbst wenn er hier freikommen würde. Statt eines Spaziergangs hatte Wilfing ihn gebeten: »Kein Valium mehr, bitte. Mein Herz!« Bei der nächsten Mahlzeit hatte Wilfing eine geringere Menge von der Frau ins Glas geträufelt bekommen. Wilfing legte die Hand auf die Brust. Würde sein Herz so lange durchhalten? Er fühlte sich erschöpft. Sein Körper sank auf die Matratze zurück, und er schlief ein. Fritsches Wagen rollte direkt auf einen Polizisten zu. Die Straße vor ihm war abgeriegelt. Der Uniformierte beugte sich zu seinem geöffneten Fenster herunter. Schweißperlen sammelten sich auf Fritsches Oberlippe. »Fahren Sie weiter«, ordnete der Uniformierte an. Mit dem ausgestreckten Arm zeigte er in eine Nebenstraße. Fritsche wollte wenden, wieder zurückfahren. Doch hinter ihm standen bereits mehrere Fahrzeuge. Fritsche setzte den Blinker und bog in die Straße ein, die ihm der Polizist angewiesen hatte. Er suchte einen Parkplatz. Nachdem er sich in die enge Bucht hineingezwängt hatte und die Fahrertür abschließen wollte, fiel sein Blick in den Innenhof eines Gebäudes. Polizeifahrzeuge. Eine ganze Hundertschaft war dort versammelt. Sie warteten auf ihren Einsatz. Entsetzen packte ihn. Der Schlüssel rutschte vom Schloß ab und fiel zur Erde. Los, beweg dich. Wenn du hier stehenbleibst, ist alles aus! Wenn bloß nicht dieses verfluchte Lampenfieber wäre. Sich
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unauffällig verhalten. Bloß nicht nach drüben in den Innenhof starren. Am besten so tun, als hätte man nichts gesehen. Oder war vielleicht gerade das besonders auffällig? Fing der Normalbürger nicht neugierig zu glotzen an, wenn er jede Menge Polizeifahrzeuge auf einem Haufen sah? Fritsche tastete nach dem Umschlag in seiner Windjacke. »Wir fordern: Veröffentlichung sämtlicher Unterlagen. Die Forschung darf nicht in den Händen einiger profitgieriger Multis sein, sondern muß der demokratischen Kontrolle des Volkes unterliegen. Nieder mit den Chemofaschisten! Der Kampf geht weiter!« Das Blatt Papier schien plötzlich Gewicht zu bekommen. Fritsche kam es vor, als zöge ein schwerer Stein in seiner Brusttasche ihn nach unten. Geh weiter, los, geh weiter. Mach endlich einen Schritt. Wenn du hier stehenbleibst, verlierst du die Nerven. Wenn die Jagd schon begonnen hat, dann sollen sie dich nicht gleich auf Anhieb kriegen. Noch hast du alle Trümpfe in der Hand. Fritsche hob den Schlüssel auf und ließ ihn in die Tasche gleiten. Dann überquerte er die Straße, spürte tausend Augen in seinem Rükken, zwang sich dazu, sich nicht umzudrehen. Er ging schnell. Ohne nach links und rechts zu sehen, schlängelte er sich an den Passanten vorbei, die ihm entgegenkamen. Fritsche mußte zur Josefstraße. Das waren noch dreihundert Meter. Als er in den Sebastianplatz einbog, stand er einer Menschenmenge gegenüber. Dicht an dicht drängten sie sich zusammen. Über den Köpfen der Menge schwenkten Fahnen und Transparente. »Wir wollen leben – stoppt super-med« las er. Ein Sprecher skandierte. Wortfetzen drangen zu ihm herüber. »Wir haben die Welt von unseren Kindern nur geliehen.« Die Menschen hatten sich untergehakt und den Satz aufgegriffen. Fritsche mußte da durch. Er stürzte sich mitten in das Gewühl. Weit kam er nicht. Die Menge wogte hin und her, wie eine Gummiwand. Fritsche stand eingekeilt zwischen ihnen. Dann ein einzelner Schrei: »Die Bullen
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kommen!« Der Schrei pflanzte sich fort, und jetzt riefen es hundert Kehlen durcheinander: »Die Bullen! Die Bullen!« Sie kamen aus einer Seitenstraße. Eine neue Hundertschaft war angerückt. Alles begann zu rennen. Fritsche spürte einen Ellbogen im Kreuz und einen Stiefel auf seinem Fuß. Überall panikartige Flucht. Fritsche versuchte sich an den Rand des Gewühls durchzukämpfen. Vergebens. Er wurde mit abgedrängt. Plötzlich lichtete sich der Haufen. Der größte Teil der Demonstranten war in die Seitenstraßen geflüchtet. Fritsche stand inmitten einer kleinen Gruppe. Die Leute trugen schwarze Lederjacken und hatten sich Palästinensertücher vors Gesicht gezogen. Es waren etwa dreißig. Sie hatten Fritsche eingekeilt. »Feuer und Flamme für den Staat!« schrie einer. Der Ruf pflanzte sich fort. Und schon flogen die ersten Steine. Sie prasselten auf die Plastikschilder der Polizisten, die in einer riesigen Übermacht rasend schnell näher rückten. Die Lederjacken gingen zum vollen Angriff über. Schulter an Schulter standen sie, schleuderten ihre Steine den Polizisten entgegen, tauchten weg, um den hinter ihnen Nachdrängenden freie Bahn zu machen. »Rückzug!« brüllte jetzt einer. Die Lederjacken drehten sich um und stürmten davon. Fritsche rannte mit ihnen. Keuchend lief er mitten im Pulk. Er schwitzte. Sein Hemd war naß. Auch der Umschlag in seiner Brusttasche mußte schon aufgeweicht sein. Beim nächsten Straßeneck stoppten die Lederjacken. Sie hatten wieder neue Steine gefunden und warfen sie den nachrückenden Polizisten entgegen. Jemand drückte Fritsche einen klobigen Steinbrocken in die Hand. Dann rempelte ihn eine wuchtige Schulter beinahe um. Er wurde zur Seite gedrückt. Jetzt hatte er freie Bahn. Mit schnellen Sprüngen brachte er Abstand zwischen sich und die Lederjacken-Männer. Keuchend bog er in eine schmale Seitengasse ein, verschnaufte einen Augenblick und spurtete weiter. Doch dann war ihm, als würden seine Knie weich. Für einen Moment schloß er die Augen. Es war aus. Mit erhobenem Schlagstock kamen ihm zwei Uniformierte entgegen. Er hielt noch den Stein in der Hand, war aber unfähig, sich zu rühren. Was hätte ihm in seiner Situation auch ein Stein genutzt.
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Fritsches Schläfen pochten. Doch dann drehte er sich um und begann wieder zu laufen. Er rannte zurück. Die gleiche Richtung, die er gekommen war. Hinter ihm schlugen die Stiefel der Polizisten aufs Pflaster. Sie waren schneller als er. Kamen näher. Immer näher. Er hörte sie keuchen. Er spürte schon den Schlagstock, der über seinem Kopf schwang. Jeden Moment mußte ihn der Knüppel treffen. Jetzt! Der Schlag blieb aus. Die Geräusche hinter ihm hatten sich verändert. Im Laufen drehte sich Fritsche um. In einer Toreinfahrt mußte eine Gruppe Lederjacken gewartet haben. Sie stürzten sich auf seine Verfolger. Zwei gegen fünf. Und die Lederjacken hatten auch im Nahkampf Erfahrung. Fritsche war aus der Schußlinie. Die Straße, die er jetzt betrat, war menschenleer. Er wagte es nicht weiterzugehen. Zwei Häuser weiter entdeckte er ein Café. Im ersten Stock fand er einen Fensterplatz. Jetzt mußte er warten. Er hatte den verabredeten Termin mit Höhnig nicht geschafft. Höhnig sollte in einem solchen Fall eine Stunde später zum selben Ort kommen. Fritsche konnte von seinem Fensterplatz aus die ganze Straße überblicken. Ganz hinten sah er einen Mannschaftswagen der Polizei. Polizisten hatten eine Gruppe Demonstranten festgenommen. Sie wurden in die Wagen verfrachtet und abtransportiert. Die Polizei hatte kräftig zugeschlagen. Fritsche vermutete, daß dies nicht die einzigen Verhaftungen waren. Vierzig Leute, so schätzte Fritsche, waren dort drüben von der Polizei umringt. Zum Glück war er jetzt in Sicherheit. Noch immer stand ihm der kalte Schweiß auf der Stirn. Um nichts in der Welt hätte er mit den Leuten dort vorne auf der Straße tauschen wollen. Er sah zu ihnen hinüber. Ihre Reihen hatten sich gelichtet. Der größte Teil war schon auf dem Weg ins Polizeirevier. Mensch, das konnte doch nicht wahr sein. Fritsche sprang auf, rempelte an den Tisch, so daß sein Kaffee überschwappte. Die Leute im Café musterten ihn. Tatsächlich. So eine Scheiße. Das war Höhnig. Der bullige 2Meter-Mann überragte sie alle. Er stand bei den Verhafteten. Umzingelt von einem Dutzend Uniformierter. Jetzt stoppte wieder eine Polizeiwanne. Höhnig wurde am Arm gepackt und auf die geöffnete
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Seitentür zugeschoben. Fritsche sah, wie Höhnig den fremden Arm abschüttelte und hinter einem blonden Mädchen in den Bus stieg. Die Türen wurden geschlossen. Der Mannschaftswagen gab Gas. Fritsche kramte in den Jackentaschen nach Münzen, warf sie auf den Tisch und hastete zum Ausgang. Auf der Straße herrschte wieder das gewohnte Bild. Fritsche marschierte los. Eine Gruppe junger Leute diskutierte in der Fußgängerzone. »Verhaftungen in rauhen Mengen«, sagte eine junge Frau. »Mindestens zweihundert Scheißbullen.« »Ist der Anwalt verständigt?« fragte einer mit Schnauzbart. »Bei dem steht seit ’ner Stunde das Telefon nicht mehr still.« Fritsche erfuhr, daß sich ein Szenenanwalt um die Verhafteten kümmern würde. »Was passiert mit ihnen?« fragte er die junge Frau. Sie zuckte mit den Schultern. »Personalien aufnehmen. ED-Behandlung. Wer auf ihrer Liste steht, den nehmen sie hops. Die anderen lassen sie laufen.« Fritsche ging weiter. Ob Höhnig auf ihren Listen stand? Früher, soviel wußte er, war Gernot Höhnig schon mal erkennungsdienstlich behandelt worden. Ob sie ihn dortbehielten? Oder würde Höhnig wieder freikommen? Zum nächsten Ausweichtermin würde es Gernot nicht mehr schaffen. Aber sicher doch zum übernächsten. Fritsche sah auf die Uhr. Also in eineinhalb Stunden. Bis dahin mußte er warten, sich die Zeit in Cafés und Kaufhäusern um die Ohren schlagen. Und den Bekennerbrief mit sich herumschleppen. Sollte er ihn in ein Schließfach legen und Höhnig einfach den Schlüssel übergeben? Fritsche schlenderte weiter. Seine Schultern schmerzten, und seine Nackenmuskeln waren verkrampft. Er merkte, wie er zusammenzuckte, wenn er hinter sich schnelle Schritte hörte. Einmal war er hastig zur Seite gesprungen, als er in seinem Rücken jemand vermutete, und hatte dabei die Blicke der Passanten auf sich gezogen. Eineinhalb Stunden warten. An einem Kiosk kaufte er eine Zeitung. Keine Neuigkeiten. Wie denn auch. Neuigkeiten gab es erst, wenn
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ihre neuen Forderungen bei den Redaktionen der Zeitungen eintrafen. Fritsche zwang sich, langsamer zu gehen und sich dem Strom der Fußgänger anzupassen. Er merkte, wie er bei seiner ziellosen Wanderung durch die Stadt immer wieder in die Nähe des verabredeten Treffs geriet. Er schwenkte nach links ab und sah eine Imbißstube. Dort reihte sich Fritsche in die Schlange der Wartenden ein. Die Demonstration auf dem Sebastianplatz wurde von allen kommentiert. »Mit denen gehört aufgeräumt, und zwar gründlich!« rief ein Handwerker, der in seiner Montur neben Fritsche stand. Der Saft des Gulaschs troff ihm aus dem Mundwinkel übers Kinn. »Alles Krawallmacher«, stimmte sein Nachbar zu, ein älterer Mann, der kurz vor der Pensionierung stehen mußte. »Bei Adolf hätte es so was nicht gegeben.« Fritsche würgte seinen Hamburger hinunter und ging. Er nahm seinen Marsch durch die Straßen wieder auf. Wie ein Magnet zog es ihn immer wieder zur Josefstraße. Es war wieder eine Telefonzelle, bei der sie verabredet waren. Wieder hatte sich Fritsche ihr, ohne daß er es wollte, bis auf wenige Dutzend Meter genähert. Zwei Polizisten standen dort. Einer sprach in ein Walkie-talkie. Trotz der Entfernung konnte Fritsche es genau erkennen. Die Verabredung war also wieder geplatzt. Oder hatte Höhnig… Nein! Das auf keinen Fall. Nicht Höhnig. Wenn sie ihn aber in die Mangel genommen, nach Strich und Faden ausgequetscht, ihm wer weiß was angedroht oder ihm sogar Straffreiheit zugesichert hätten. Konnte es da nicht sein, daß einer umfiel? Fritsche stand wie festgewurzelt und starrte noch immer zu der Telefonzelle hinüber. Dann ein Schlag. Eine schwere Hand auf seinem Rücken. Fritsche zuckte zusammen. Japste nach Luft. »He, Kumpel. Na, so ein Zufall«, Höhnig grinste über das ganze Gesicht. »Bist du wahnsinnig?« Fritsche brachte nur ein Krächzen zustande. »Komm, gehen wir ein Bier trinken. Alte Freunde trifft man nicht oft auf der Straße.« Höhnig hatte sich umgedreht und marschierte, die Hände in den Hosentaschen vergraben, voran. Fritsche blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen. Höhnig betrat ein Lokal.
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»Der Wirt ist ein Kumpel von mir«, sagte er und ging auf eine Sitzgruppe zu, die in einer Nische stand. »Ich habe mir schon Sorgen gemacht«, sagte Höhnig und prostete Fritsche zu. »Ich bin aufgehalten worden.« »Hab’s mitbekommen. Drum hab ich mir ja Sorgen gemacht.« Fritsche trank einen Schluck. »Wärst ja beinahe ins Schlamassel geraten, als die Öko-Freaks mit ihrer Demo den Sebastianplatz besetzt hatten.« Fritsche nickte. »Idioten. Mußten ausgerechnet mir in die Quere kommen.« Höhnig lachte. »Und dann dein Gastspiel bei den Streetfightern. Mann, o Mann, ich dachte, der Roland ist verrückt geworden.« »Die hatten mich eingekeilt, konnte nicht mehr vor noch zurück. Idioten. Und bei dir? Wie war’s bei den Bullen?« Höhnig zuckte mit den mächtigen Schultern. »Die haben jetzt deine Personalien.« »Nicht zum erstenmal.« »Als Kontaktmann bist du jetzt ja wohl out?« »Quatsch keinen Mist. Wir machen weiter wie bisher.« »Das Risiko ist zu groß.« »Pah, die haben meine Personalien aufgenommen und mich wieder abziehen lassen. Für die gehöre ich ins Ökolager. Es waren lauter Birkenstocklatscher und Latzhosentypen dabei. Lauter Softies.« »Trotzdem.« »Wie läuft’s denn?« wollte Höhnig wissen. Fritsche machte eine nichtssagende Geste. »Gibt’s Ärger?« »Kann man momentan noch nicht abschätzen.« »Und oben? Alles in Butter?« Fritsche nickte. »Eurem Gast geht’s also gut?« Fritsche sagte ruhig: »Wir müssen vorsichtig sein.« »Das bin ich immer. Weißte ja hoffentlich inzwischen.« »Aber die Bullen haben dich heute hopsgenommen.«
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Höhnig lachte. »Was Besseres hätte mir doch gar nicht passieren können. Jetzt habe ich wenigstens ein Alibi. Und zwar eines, das hieb- und stichfest ist.« Höhnig reckte den Daumen nach oben. »Also her mit dem Wisch.« Fritsche zögerte. Höhnig sah ihn herausfordernd an. Ein cooler Typ, das mußte Fritsche zugeben. Es wäre schade, einen solchen Mann zu verlieren. Das Lokal füllte sich. Ein paar junge Leute setzten sich an den Nebentisch. Der Wirt kam, um ihre Bestellung aufzunehmen. Höhnigs Baß dröhnte wie ein Nebelhorn durch den Raum. Höhnig zwinkerte Fritsche dabei zu. »Haste meine Steuererklärung fertig?« Noch immer war sich Fritsche unschlüssig. Doch dann griff er in die Brusttasche und zog den Umschlag heraus. Er war etwas feucht und knittrig. Er schob ihn über den Tisch. Der Wirt, der am Nebentisch die Getränke notierte, rief zu Höhnig herüber: »Na, du alter Schmarotzer. Haste wieder einen Dummen gefunden, der deinen Krempel für dich macht?« Höhnig brüllte zurück: »Was heißt hier Dummen? Ich zahl doch anständig dafür. Das Bier geht auf meine Rechnung.« Pia saß auf der Bank vor der Hütte und hielt das Gesicht in die Vormittagssonne. »Schaust du mal nach Wilfing? Der hängt ziemlich durch.« »Hast du ihm wieder Valium gegeben?« fragte Fritsche. »Bloß ’ne geringe Dosis.« »Ich glaube, er verträgt das Zeug nicht.« »Vielleicht simuliert er.« »War er an der frischen Luft?« »Er wollte nicht.« »Ich geh mal zu ihm.« Fritsche öffnete den Verschlag. Wilfing lag auf dem Rücken. Langsam drehte er den Kopf. Seine Augen wirkten matt und lagen tief in den Höhlen. Fritsche beugte sich zu ihm hinunter und fühlte seinen Puls. Er schlug schwach und unregelmäßig. Seine Wangen waren hohl und seine Gesichtsfarbe aschfahl. »Wie geht es Ihnen?« fragte Fritsche.
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Lange bekam er keine Antwort. »Durst«, murmelte Wilfing, »kein Valium mehr, bitte.« Fritsche nickte und ging in den Wohnraum zurück. Die Tür des Verschlags ließ er offen. Auf dem Gaskocher stand ein Topf. Fritsche füllte ihn mit Wasser und suchte in dem Küchenregal nach Tee. Das Päckchen, das er fand, war dem Aussehen nach zu schließen bestimmt schon uralt. Als das Wasser sprudelte, hängte er den Kamillenbeutel in eine Tasse und goß auf. Während er wartete, bis der Tee fertig war, beobachtete er Joke und Zulp, die im Radio einen Sender suchten, der etwas über ihre Forderungen brachte. »Nichts«, rief Joke. »Nur der dämliche Demo-Scheiß wird breitgetappt. Da, hört euch das an!« Joke drehte lauter. »Radikale Gewalttäter lieferten sich am gestrigen Abend mit der Polizei im Anschluß an eine Demonstration eine Straßenschlacht. Rund einhundert mit Steinen bewaffnete Jugendliche fielen über eine Gruppe von Polizeibeamten her. Bei der Auseinandersetzung gab es auf beiden Seiten mehrere Verletzte. Der Polizei gelang es, zwanzig Gewalttäter festzunehmen, die dem Umfeld der Wilfing-Entführer zugerechnet werden.« Jokes Schlitzaugen wurden noch eine Spur schmaler. Hitzig sagte er: »Erstens waren es nur dreißig und nicht hundert, so hat’s Roland gesagt, und zweitens ist es eine Schweinerei, sie zu unserem Umfeld zu zählen.« Fritsche zog den Teebeutel aus der Tasse und warf ihn in den Abfalleimer. Er hörte, wie Zulp mit Joke leise sprach. Seine Stimme klang gereizt: »Bei einer Aktion wie der unsrigen muß man immer damit rechnen, daß Trittbrettfahrer aufspringen. Viel schwerwiegender ist, daß man uns in die Richtung von radikalen Gewaltverbrechern drängt.« Pia kam in die Hütte zurück. »Man wirft uns in einen Topf mit irgendwelchen Spontis und Schlägertypen. Ich finde, wir sollten uns durch eine Erklärung öffentlich davon distanzieren und unsere politischen Ziele in aller Deutlichkeit noch mal wiederholen.« Zulp blickte zu Boden. Dann sagte er: »Wir haben gerade Sendepause. Man hat unsere Forderungen nicht veröffentlicht«, er zeigte auf die Zeitungen, die Joke heute morgen geholt hatte, »sie bringen auch nichts im Radio.«
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Fritsche ging zu Wilfing zurück. Er half ihm, sich aufzusetzen, und reichte ihm die Tasse. Wilfing nippte ein paarmal und setzte die Tasse dann ab. Wahrscheinlich war ihm der Tee noch zu heiß. Draußen ging die Diskussion weiter. Wilfing schien das gleichgültig zu sein. Fritsche überlegte, wie lang es dauern konnte, bis bei Wilfing die Wirkung des Valiums nachließ. Vermutlich war die Dosis, die ihm Pia gegeben hatte, zu stark gewesen. Wilfing trank noch ein paar Schlucke und stellte dann die Tasse weg. Er ließ sich zurücksinken und schloß die Augen. Als Fritsche wieder in den anderen Raum zurückkam, sagte Pia gerade: »Was geht da vor? Warum kommt nichts über unsere Forderungen?« »Vielleicht haben sie sie noch gar nicht erhalten«, überlegte Zulp. Fritsche sah fragend zu ihm hinüber. »Weiß man, was in einem anderen Menschen vor sich geht? Vielleicht ist Höhnig abgesprungen?« »Der nicht«, entgegnete Fritsche. »Ich kenne Höhnig seit Jahren. Auf ihn ist Verlaß.« »Auch noch, nachdem man ihn verhaftet hat?« fragte Zulp. »An Höhnig liegt es bestimmt nicht. Dafür lege ich meine Hand ins Feuer. Der würde uns nie im Stich lassen. Ganz im Gegenteil.« »Das sind Mutmaßungen. Nichts weiter.« »Trotzdem. Ich weiß, wann ich jemand vertrauen kann. Höhnig ist auf unserer Seite.« »Du vertraust zuviel. Bei einer politischen Aktion wie der unseren haben diffuse Emotionen nichts zu suchen. Das einzige, auf das man sich verlassen kann, ist die eigene strategische Planung.« »O Mann«, Pia verdrehte die Augen zur Decke. »Spar dir deine dämlichen Sprüche.« »Dann erklär mir mal, warum unsere Forderungen nicht bei den Redaktionen gelandet sind?« fragte Zulp. »Weiß ich doch nicht«, gab sie patzig zur Antwort. Fritsche sagte: »Wir müssen einfach warten. Natürlich kann etwas schiefgegangen sein. Aber an Höhnig liegt es bestimmt nicht. Vielleicht wollen unsere Gegner nur Zeit gewinnen.« »Also ’ne Hinhaltetaktik«, meinte Joke.
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»Wenn sie Zeit schinden wollen«, sagte Pia, »an mir soll’s nicht liegen. Ich kann warten.« »Aber Wilfing nicht. Es geht ihm schlecht.« Eine Pause trat ein. Jeder war mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. »Das Valium?« fragte Pia zögernd. Fritsche wußte keine Antwort. »Wenn uns der abnippt, sehen wir alt aus.« Joke kratzte sich am Kinn. »Mit oder ohne Wilfing«, sagte Zulp in die Stille hinein. »Wir machen weiter.« Alle schauten ihn an. Keiner gab Antwort. Jeder verzog sich in eine Ecke. Joke suchte in allen möglichen Sendern herum. Pia saß auf der Eckbank und malte Kringel aufs Papier. Es hatte zu regnen begonnen. Schwere Tropfen prasselten auf das rote Ziegeldach. Es klang wie ein rhythmisches Klopfen. An den Scheiben lief das Wasser herunter, und in der Dachrinne gurgelte es. »Vielleicht fehlen ihm die Infusionen«, sagte Pia, ohne ihre Kritzelei zu unterbrechen. Sie zupfte am Saum ihres losen Hemdes. »Das Zeug hat ihm wahrscheinlich doch geholfen.« Niemand reagierte. Pia sprach weiter. »Wie krank Wilfing wirklich ist und wie weit der Krebs schon fortgeschritten war, wußte doch keiner von uns. Vielleicht stand er kurz vor dem Endstadium und wurde mit super-med künstlich hochgepäppelt.« Sie hob den Kopf und knallte den Stift auf den Tisch. »Verdammt, so sagt doch etwas.« Zulp, in irgendwelche Papiere vertieft, sagte in seiner schleppenden Art: »Es hat keinen Sinn, sich in Selbstvorwürfe zu verstricken. Wir brauchen eine klare Linie, von der wir nicht abweichen dürfen.« »Na, und wie soll deine klare Linie aussehen?« äffte sie ihn nach. »Jedenfalls nicht so, daß wir darüber nachgrübeln, wie krank Wilfing vorher war und wie krank er jetzt ist.« Pia ließ nicht locker: »Wenn du meine Meinung hören willst, dann sage ich dir, daß Wilfing deshalb so durchhängt, weil ihm die Infusionen fehlen.« »Wenn du recht hast, dann bleibt uns nur ein Weg: Der Schritt vorwärts!«
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»Ich kann deine dämlichen Sprüche nicht mehr hören!« schrie sie. »Ich versuche dich bloß wieder zum logischen Denken zu bringen.« »Danke. Zu gütig.« »Wir können es auch bleibenlassen«, Zulp widmete sich wieder seinen Aufzeichnungen. »Spuck sie doch endlich aus, deine klaren Linien. Stell dich doch endlich und quatsch nicht bloß dämlich herum.« Zulp wartete noch einen Moment, bis auch die anderen ihm zuhörten. »Wenn es stimmt, was Pia sagt, nämlich, daß Wilfing deshalb so schlecht drauf ist, weil ihm die Infusionen fehlen, dann wissen darüber auch die Pharmabosse Bescheid.« Joke hakte den Daumen in den Hosenbund und schob den Bauch nach vorn. »Ja und? Darum wollen sie den Wilfing ja auch so schnell wie möglich zurückhaben!« »Oder auch nicht«, erklärte Zulp. »Werd mal deutlicher.« Joke strich sich eine Haarsträhne aus den Augen und schabte ungeduldig mit dem Fuß über den Bretterboden. »Wenn Wilfing stirbt, brauchen sie unsere Forderungen nicht erfüllen.« »Aber er ist doch ihr Zugpferd.« »Stimmt. Aber alles hat seinen Preis.« »Du meinst, die Schweine lassen ihn absichtlich hopsgehen?« »Es ist nur eine Vermutung. Aber so ließe sich erklären, weshalb sie auf unsere zweite Forderung und auf Wilfings Lebenszeichen nicht reagieren.« »Du meinst, sie haben bloß deshalb nach dem Namen des Doktors gefragt, um festzustellen, wie fit er noch ist?« »Sollten die Pharmabosse sich wieder melden, dann können wir damit rechnen, daß sie noch mehr Lebenszeichen fordern werden.« »Aber wenn es dann von Wilfing keine Lebenszeichen mehr gibt?« überlegte Joke. »Dann haben sie grünes Licht, Joke!« Fritsche stand auf und baute sich vor Zulp auf. »Das sind Spekulationen. Die kannst du dir schenken.« »Mag sein. Aber denk mal drüber nach.«
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»Zumindest wäre es eine Erklärung, warum sie nicht reagiert haben. Für die ist Wilfing so gut wie tot!« rief Pia. Sie zeigte auf die Tür zu dem Verschlag. »Wenn Wilfing die Flatter ins Jenseits macht, dann sieht es so aus, als hätten wir ihn auf dem Gewissen.« Joke versuchte zu grinsen. »Außer wir kommen an das Mittel und füttern Wilfing damit.« Und dann zu Zulp: »Kennst du bei deinen vielen Kontakten nicht auch irgendeinen Apotheker, der es zusammenbrauen kann?« Fritsche ging über Jokes Frage hinweg. »Vielleicht ist es wirklich so. Wenn die Pharmawerke von Anfang an wußten, daß Wilfing stirbt, sobald ihm das Präparat entzogen wird, dann haben sie mit uns nur ein taktisches Spielchen gemacht.« »Schweine, verdammte Schweine!« schrie Joke und boxte mit der Faust in die hohle Hand. Pia verzog das Gesicht. Sie war noch nie besonders gut mit Joke klargekommen. »Wir müssen unsere Vorgehensweise ändern«, sagte sie. »Egal, was die Pharmawerke vorhaben, wichtig ist, wie die Öffentlichkeit reagiert. Mein Vorschlag war es ja, daß wir über die Medien eine Aufklärungskampagne starten.« »Der Vorschlag ist richtig«, stimmte Zulp zu. Fritsche schaute ihn ironisch an. »Seit wann denn? Und vor allem, was versprichst du dir davon?« »Für die Bundesstaatsanwaltschaft muß es so aussehen, als würden wir an unserem Plan festhalten. Sie sollen glauben, daß es uns nur darum geht, vor der Gefährlichkeit des Präparats zu warnen.« »Um was geht es dir wirklich?« Fritsches Stimme klang erregt. Er war nicht mehr bereit, Zulp noch irgend etwas durchgehen zu lassen. »Wir verfassen eine weitere Erklärung.« »Die halten uns ja dann allmählich für doof!« rief Pia. »Das sollen sie auch. Das lenkt sie zumindest ab.« »Über die Forderungen hast du dir bestimmt auch schon Gedanken gemacht?« fragte Fritsche in scharfem Ton. Zulp kramte in seinen Papieren. »Das habe ich«, sagte er ruhig und sehr leise. Er zog ein Blatt heraus und las vor: »Wir fordern: Herausgabe der Unterlagen und Übergabe des Präparats super-med!«
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Er ließ das Blatt sinken und sah von einem zum anderen. Fritsche fühlte sich elend. Als keiner reagierte, sagte Zulp: »Durch diese Forderung kommen wir wieder mit ihnen ins Gespräch. Darauf müssen sie eingehen.« Niemand sprach. Sie warteten, daß er fortfuhr. »Dieser Text wird veröffentlich werden. Garantiert!« »Warum bist du da so sicher?« wollte Fritsche wissen. »Weil wir uns mit unserer Forderung ihnen in die Hände spielen. Sie brauchen nur darauf zu warten, bis wir an dem Ort auftauchen, an dem super-med übergeben werden soll. Dann schlagen sie zu.« »Du bist verrückt«, sagte Fritsche. »Also, ohne mich«, pflichtete ihm Joke bei. Zulp lachte, und das war ein derart ungewohnter Anblick, daß Pia für einen Moment ihre Wut vergaß. »Natürlich wird keiner von uns dort sein«, erklärte er. »Und was soll dann das Ganze?« fragte Pia. »Es ist ein Ablenkungsmanöver. Die Polizei konzentriert alle ihre Kräfte, um die Entführer Wilfings zu schnappen. Sie glauben an ein leichtes Spiel. Denn unsere Forderung zeigt ihnen, daß wir am Ende sind.« Fritsche schüttelte den Kopf: »Wieso sollen wir am Ende sein?« »Sie wissen, wie es um Wilfing steht. Deshalb glauben sie, daß wir jetzt das Präparat brauchen, um unsere Geisel am Leben zu erhalten.« Fritsche überlegte: »Mal angenommen, du hast recht. Wer garantiert uns, daß sie tatsächlich so reagieren werden?« Zulp schwieg. Joke buchte es auf Fritsches Pluskonto. Laut verkündete er wieder: »Also, ich mache da nicht mehr mit!« Als Zulp dann sprach, waren alle überrascht über den schneidenden Ton: »Wir können nicht auf halbem Weg stehenbleiben.« Und dann: »Keiner kann mehr abspringen.« Rein gefühlsmäßig spürte Wilfing, daß sich etwas verändert hatte. Er war zu müde und auch zu schwach, um sich darüber Gedanken zu machen. Aber im Halbschlaf nahm er wahr, daß die Gespräche dort draußen hektischer geworden waren und die Stimmung sich irgendwie verändert hatte. Sie werden mich freilassen, kam ihm in den Sinn. Es war ihm beinahe gleichgültig geworden. Wie eine weiche
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Wattewolke, so hüllte ihn die Müdigkeit ein. Manchmal sah er Bilder, wie in einem Film, in den man zufällig geraten war, an sich vorüberziehen. Es mußte sein früheres Leben gewesen sein: Konferenzräume, Flughafenhallen, Hotelzimmer – dann Krankenhäuser, Schwestern, Ärzte. Die Bilder verblaßten, und Wilfing fiel wieder in den Dämmerzustand des Vergessens. Höhnig saß am Steuer des weißen Mercedestransporters. Wenn er nervös war, dann konnte er es geschickt überspielen. Jedenfalls merkte man ihm nicht die geringste Erregung an. Der weiße Kittel mit der Aufschrift Bachhagels Getränkeservice spannte über den muskulösen Schultern und drohte jeden Moment in den Nähten zu platzen. »Ein bißchen Musik zur Entspannung?« fragte er Fritsche und drehte das Autoradio an. Gröhlend stimmte er in den Refrain des Liedes ein. Schaudernd drehte Fritsche leiser. Er spürte die Nervosität im Magen kribbeln. Trotzdem befriedigte es ihn, daß er jetzt neben Höhnig saß. Zugegeben, anfangs hatte Fritsche Höhnigs Vorschlag für absurd gehalten, doch als Höhnig ihm dann Kurt vorgestellt hatte, verflüchtigten sich seine Zweifel. »Ihr müßt bloß aufpassen, daß ihr auch tatsächlich den Wagen von Stein und Meier erwischt«, hatte er erklärt. »Die lassen ihre Firmenausweise und alle Fahrzeugpapiere immer im Handschuhfach liegen.« Kurt hatte eine Autonummer auf einen Zettel gekritzelt und sie ihnen zugeschoben. »Aber die schlagen doch bestimmt Alarm, wenn ihr Transporter weg ist«, hatte Fritsche behauptet. »Um die kümmere ich mich. Laß das meine Sorge sein. Morgens ein Anruf, angeblich von der Verwaltung, und die Sache ist geritzt.« »Und wenn sie zurückrufen?« »Die doch nicht. Das sind die faulsten Hunde, die ich kenne. Wenn sie erfahren, daß sie frei haben, dann bleiben die in ihren Betten und machen sich einen schönen Tag.« Fritsche hatte nach einigem Zögern zugestimmt.
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Heute im Morgengrauen war Höhnig beim Getränkeservice Bachhagel gewesen und hatte sich den weißen Mercedestransporter geholt. »Das Gelände ist zwar umzäunt, aber nicht abgeschlossen. Die Fahrer haben alle eine feste Route. Die müssen sie abzuckeln. Um welche Zeit sie morgens damit beginnen, ist ihre Sache. Keinem Menschen fällt also auf, wenn der Wagen von Stein und Meier nicht mehr auf dem Parkplatz steht«, hatte Kurt versichert. Er war ein halbes Jahr bei Bachhagel beschäftigt gewesen und hatte in Schulen, Fabriken und Handwerksbetrieben die Getränkeautomaten aufgefüllt und repariert. Höhnig pfiff noch immer die Melodie aus dem Radio mit. Siegesgewiß reckte er den Daumen nach oben. »Kurt ist schon ein fixer Kerl«, grinste er. Er drehte sich um und blickte für einen Moment zurück in den Laderaum. »Suppenkonzentrate, Kakao, Kaffee, Pappbecher, alles da. Bachhagel hat eine gute Organisation.« Fritsche nickte. Höhnigs unbekümmerte Art tat ihm gut. Er lehnte sich zurück und schloß für einen Moment die Augen. Höhnig mußte sein eigenes Gepfeife zuviel geworden sein, denn er suchte einen anderen Sender. Der Nachrichtensprecher verkündete: »Die Bundesstaatsanwaltschaft ist bereit, auf die Forderungen der Entführer einzugehen.« Dann wurde ihr Text verlesen. Schon seit Stunden wurde diese Meldung wiederholt. Zulp hatte also doch recht gehabt. Sofort nachdem die Bundesstaatsanwaltschaft sich zu einer Übergabe bereit erklärt hatte, war eine Anweisung an die Bundesstaatsanwaltschaft ergangen, daß sich ein einzelner Mann mit einem Koffer bereithalten sollte. Nähere Instruktionen würden folgen. Fritsche und Höhnig verließen das Stadtzentrum und bogen in ein Industrieviertel ein. Höhnig brachte den Mercedesbus vor dem Tor der Vereinigten Pharmawerke zum Stehen. Eine hohe Mauer umgab das Gebäude, und ein Schlagbaum wehrte ihnen die Weiterfahrt.
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Fritsche sah überall Überwachungsanlagen. Er erinnerte sich an Kurts Worte: »Der Schuppen ist bombensicher, äußerlich betrachtet. Er wird bewacht wie ein Hochsicherheitstrakt.« Höhnig fingerte aus dem Handschuhfach die Papiere und kletterte aus dem Führerhaus. Zwei Pförtner saßen in dem Häuschen. Einer kam ihnen entgegen. »Bachhagels Getränkeservice!« rief Höhnig und streckte dem Mann die Hand entgegen, in der er die Papiere hielt. »Die Firmenausweise«, verlangte der Mann, der eine graue Uniform mit dem Emblem der Vereinigten Pharmawerke trug. Höhnig reichte ihm die Ausweise von Stein und Meier. Der Pförtner betrachtete die Fotos. Dann blickte er zu Fritsche in den Wagen. Fritsche hätte beinahe die schwere Hornbrille zurechtgerückt und an dem glatt nach hinten gekämmten Haar gezupft. Noch immer verglich ihn der Pförtner mit dem Polaroidbild. Dann klappte er den Ausweis zu und verschwand ohne ein weiteres Wort im Pförtnerhaus. »Die machen einen Mordsheckmeck, bis du drin bist«, hatte Kurt gesagt, der selber schon die Tour zu den Pharmawerken gefahren war, als Meier sich krank gemeldet hatte. Fritsche sah, wie der Pförtner in seiner Liste blätterte. Er ließ sich viel Zeit damit. Fritsche rutschte ungeduldig auf dem Sitz hin und her. Höhnig grinste ihm durch die Windschutzscheibe zu. Der Pförtner kam wieder heraus. Ohne die Ausweise zurückzugeben, sagte er: »Ihre Fahrzeugpapiere!« Höhnig gab sie ihm. Wieder verschwand der Mann in seinem Häuschen. Hinter ihm fiel die Glastür ins Schloß. Er telefonierte und sah dabei unentwegt zu ihnen herüber. »Ihr dürft auf gar keinen Fall ungeduldig werden. Auch wenn die Kontrolle noch so lange dauert«, hatte Kurt sie beschworen. Nicht ungeduldig werden, wiederholte Fritsche in Gedanken. Bloß nicht ungeduldig werden. Jetzt kam der Pförtner herausgetappt. »Sie sind heute früh dran«, sagte er. »Wir wollen auch früh fertig werden.« Der Pförtner musterte Höhnig.
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Der grinste ihn an. »Um sechzehn Uhr übertragen sie das Länderspiel.« Jetzt nickte der mit der Uniform. »Öffnen Sie mal den Laderaum.« »Na ja, wenn’s sein muß«, stöhnte Höhnig. Marschierte aber sofort nach hinten und zog die Hecktüren auf. Es schien ewig zu dauern, bis der Pförtner die Kartons mit den Getränkekonzentraten inspiziert hatte. Fritsche registrierte, wie Höhnig mit den Füßen zu scharren begann. Dann endlich wieder die Stimme des Pförtners: »Bisher sind Sie immer freitags gekommen.« »Wir mußten unsere Route umstellen. Ein Kollege ist krank geworden. Für den müssen wir jetzt mitfahren. Deshalb sind die Kunden, die wir beide betreuen, früher dran«, sagte Höhnig. Der Pförtner gab keine Antwort. Ob er die Ausrede geschluckt hatte? Dann wurden die Hecktüren zugeworfen. »Sie können reinfahren.« Fritsche wischte sich die feuchten Handflächen an den Hosenbeinen ab. Als Höhnig auf den Fahrersitz kletterte, hielt er außer ihren Papieren noch ein gelbes Formular in dreifacher Ausfertigung in der Hand. Er reichte ihm ein Plastikschildchen. Der Name »Stein« stand drauf, »Bachhagels Getränkeservice«, die Ankunftszeit und die Unterschrift des Pförtners. »Steck’s dir an den Kittel«, forderte Höhnig ihn auf. Er startete den Motor und rollte mit zehn Stundenkilometer, wie es ein Verkehrsschild vorschrieb, durch die geöffneten Schranken. »Wenn ihr drinnen seid, parkt am besten direkt vor dem Haupteingang des Gebäudekomplexes«, hatte Kurt ihnen aufgetragen. »Der zweite Wachhund will nämlich ebenfalls die Karre sehen.« Fritsche hievte sich vom Beifahrersitz, lief nach hinten und holte einen Karton mit Plastikbechern heraus. Höhnig klemmte sich eine Kiste mit Getränkekonzentraten unter den Arm. »Auf zur nächsten Runde«, flüsterte Fritsche ihm zu. Die Sicherheitstüren blieben geschlossen, als sie die breiten Stufen des Haupteingangs hinaufgestiegen waren und unter der Lichtschranke standen. »Ihre Besuchserlaubnis«, schnarrte eine Stimme durchs Mikrofon. Ein Mann, der hinter kugelsicherem Glas saß, öffnete eine Klappe.
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Fritsche beugte sich zu dem Schild hinunter, das ihm »Hier sprechen« befahl. »Wir kommen von Bachhagels Getränkeservice.« »Ihre Besuchserlaubnis und Ihre Firmenausweise«, wiederholte die Lautsprecherstimme. Fritsche und Höhnig nestelten die Plastikkarten, die ihnen der Pförtner ausgestellt hatte, von den weißen Kitteln und legten sie zusammen mit den anderen Papieren in ein Schubfach. »Ihr müßt euch darauf gefaßt machen, daß ihr mehrmals kontrolliert werdet. Wie gesagt, das Reinkommen ist die größte Schwierigkeit«, erinnerte sich Fritsche an Kurts Worte. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis sich der Mann in dem Glaskasten entscheiden konnte, ob er seiner Kontrollpflicht Genüge getan hatte oder nicht. Als Fritsche glaubte, der Mann werde ihnen die Papiere zurückreichen, drückte er eine Taste auf dem riesigen Schaltpult und erkundigte sich statt dessen nach irgend etwas. Sie konnten nicht hören, was er sprach, sahen aber, daß er Meiers aufgeschlagenen Firmenausweis in der Hand hielt. Das Gespräch wurde beendet, der Ausweis zugeklappt. Dann begann der Mann zu schreiben. Fritsche trat nervös von einem Fuß auf den anderen. Als der Mann fertig war, füllte er die Spalten aus und malte mehrere Kreuzchen. »Hier unterschreiben«, krächzte die Lautsprecherstimme. Der Mann riß von dem Block mehrere blaue Blätter ab und schob sie durch den Schlitz. Fritsche zählte drei Durchschläge. »J. Meier«, kritzelte Höhnig an die vorgedruckte Zeile, bei der der Mann ein Kreuzchen gemacht hatte. Dann reichte er den Kuli an Fritsche weiter. Als der Mann ihre Unterschriften kontrolliert hatte, händigte er jedem von ihnen zwei Blatter aus. »Stellen Sie sich vor die Tür und warten Sie, bis der Gong ertönt«, wies sie die Stimme an. Fritsche griff nach der Schachtel mit den Pappbechern und stellte sich in Position. Sein Herz schlug wie wild, und er preßte den Karton fest an die Brust.
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Der Gong ertönte. Mit leisem Zischen öffnete sich die Tür. Fritsche schritt hindurch. Vor ihm eine zweite Tür. Wieder der Gong. Die Flügel glitten auseinander. Der Weg war frei. Er marschierte los. Sie standen in einer riesigen Halle. Laut klapperten ihre Absätze auf dem Marmorboden. Kurt hatte behauptet: »Wenn ihr drinnen seid, ist alles ein Kinderspiel.« Fritsche hörte, wie Höhnig leise seufzte. »Fangt mit dem Automaten im Erdgeschoß an. Er steht im linken Flügel.« Er hatte ihm einen Plan gezeichnet, über dem Fritsche stundenlang brütete. »Ihr müßt die Halle durchqueren und dann in den Mittelgang abbiegen. Kümmert euch um niemanden.« Fritsche sah eine junge Frau aus einer Tür treten. Sie musterte die beiden Kartons, die Fritsche und Höhnig trugen. »Fangt mit keinem ein Gespräch an«, noch immer hatte Fritsche Kurts Stimme im Ohr. »Die Pharmachefs mögen das nicht, kapiert?« »Tag«, sagte die junge Frau und ging dann vor ihnen her, ohne sie weiter zu beachten. Sie folgten ihr. Der Gang, den Fritsche und Höhnig entlangstapften, war breit und fensterlos. Links und rechts gingen Türen ab. Dann sahen sie ein Tischchen und ein Sofa aus schwarzem Kunstleder. Daneben stand der Getränkeautomat. Fritsche blieb stehen und stellte die Pappbecher ab. Hinter ihm schlug eine Tür zu. Erschrocken drehte er sich um. Ein Mann mit einem dunkelblauen Anzug starrte ihn an. Er trug eine Aktenmappe unter dem Arm. »Tut eure Arbeit und kümmert euch um niemand.« Der Mann lief in die gleiche Richtung wie die junge Frau, die jetzt am Ziel sein mußte. Das Klappern ihrer Absätze verstummte, und sie hörten ein Schloß schnappen. »Wenn ihr beim Automaten seid, zieht als erstes den Stecker raus, das ist eine von den dämlichen Sicherheitsvorschriften.« Höhnig bückte sich und zog an dem Kabel. Als er sich wieder aufrichtete, stand ihm der Schweiß auf der Stirn. Fritsche schob den Schlüssel in das Schloß des Automaten. Er drehte ihn zweimal herum. »Wenn die Tür klemmt, müßt ihr mit dem Fuß gegen die Verkleidung schlagen, zweimal, das dürfte genügen.«
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Fritsche versuchte, die Tür aufzuziehen. Ohne Widerstand drehte sie sich in den Scharnieren. Fritsche schluckte trocken. Still war es in dem Gebäude. Gedämpftes Schreibmaschinengeklapper schien das einzige Geräusch zu sein, das dieses Haus hervorbrachte. Wenn er mit dem Fuß gegen das Metall hätte donnern müssen, hätte es bestimmt einen Lärm gegeben, als wäre eine Bombe explodiert. »Und so wird der Automat aufgefüllt«, hatte Kurt erklärt. Wieder eine Skizze. Mit zittrigen Fingern machte sich Fritsche an den Nachfüllkammern zu schaffen. Dann leerte er den Münzbehälter. Höhnig reichte ihm die Plastikbecher. Die Halterung klemmte, Fritsche zog und schob. Mist, fluchte er innerlich. »Fangt bloß nicht an, miteinander zu diskutieren, wenn was am Automaten nicht funktioniert. Ein routiniertes Team quatscht zwar ununterbrochen, aber nur über Fußball und Autos.« Fritsche rann der Schweiß in die Augen. »Laß es«, flüsterte Höhnig, der seinen Kampf mit der Haltevorrichtung beobachtete. Fritsche ließ die Becher in den Karton zurückfallen. Höhnig schloß die Tür ab. Sie bückten sich nach dem Karton. Der Stecker, fiel Fritsche ein, und er gab Höhnig ein Zeichen. Wieder öffnete sich eine Tür. Zwei junge Mädchen kamen lachend heraus. »Gibt’s wieder Kakao?« fragte die eine. Fritsche konnte nur stumm nicken. Das Mädchen lächelte und warf Geld in den Schlitz. Höhnig und Fritsche gingen weiter. »Der Automat im Erdgeschoß war bloß zur Übung. Jetzt geht’s ab ins Allerheiligste«, hatte Kurt gesagt. »Dort steht ein Getränkeautomat?« hatte Fritsche ungläubig gefragt. »Auch Wissenschaftler haben Durst. Das Untergeschoß ist die Sicherheitszone, in die kommt ihr nur mit einer besonderen Genehmigung rein.« Fritsche lief hinter Höhnig her. Sie marschierten den gleichen Weg zurück, den sie gekommen waren. Wieder mußten sie die Halle durchqueren. Der Lift war auf der anderen Seite. Sie traten in die Kabine und schwebten nach unten. Sie standen in einem Flur. Vor ihnen eine einzige Tür. Zutritt verboten, verkündete eine rote
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Leuchtschrift. Der Eingang wurde von einem Mann um die Fünfzig bewacht. Auch er saß hinter kugelsicherem Glas in einer winzigen Kabine. »Bachhagels Getränkeservice«, sagte Fritsche mit heiserer Stimme. »Wie bitte?« Fritsche mußte es wiederholen. Diesmal hatte der Mann verstanden. »Kann ich den Passierschein sehen?« Fritsche reichte ihm den gelben Zettel, den sie vom Pförtner bekommen hatten. »Nein, das blaue Formular«, sagte der Mann. Fritsche fummelte in seiner Brusttasche herum und schob das Blatt durch den Schlitz hindurch. Wieder mußte er warten. Bei dem Gespräch mit Kurt hatte er gesagt: »Da kommen wir nicht hinein.« »Ich war doch auch schon drin. Und außerdem noch in den Sicherheitsabteilungen von hundert anderen Konzernen. Alles, was ihr braucht, sind ein paar Passierscheine. Wenn du erst einmal drinnen bist, wirst du sehen, wie einfach alles ist.« Der Mann in dem Glaskasten machte sich Notizen. Es schien die gleiche Prozedur zu werden wie bei den beiden ersten Malen. Wieder mußten sie ein Formular unterschreiben, diesmal war es rosa. Sie bekamen den Durchschlag ausgehändigt. »Fertig«, sagte der Mann hinter der Glasscheibe. »Stellen Sie sich an die Tür. Wenn der Summer ertönt, können Sie rein. Aber das kennen Sie ja sicher schon.« »Klar«, nickte Fritsche und drehte sich schnell weg. Mit ihren Kartons beladen standen sie wartend da, vor der Tür, die zu den Laboren der Vereinigten Pharmawerke führte. Wieder merkte Fritsche, wie seine Hände feucht wurden. Bald mußte der Karton aufgeweicht sein. »Hoffentlich klappt’s mit dem Feierabend«, sagte Höhnig mit lauter Stimme mitten in die entsetzliche Stille hinein. »Ich will das Länderspiel nicht verpassen.«
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Fritsche konnte gerade noch nicken, dann summte der elektrische Türöffner. Fritsche griff nach dem Messingknopf und zog die schwere Stahltür auf. Der Flur, den sie betraten, ähnelte dem im Erdgeschoß. Neonröhren an den Decken, Türen links und rechts. Nirgends eine Menschenseele. Als die Stahltür hinter ihnen mit einem dumpfen Flopp zufiel, drehten sich beide unwillkürlich um. Dann marschierten sie los. »Frau Ruschek«, dröhnte eine Männerstimme. »Frau Ruschek!« Aus der Tür kam eine Frau herausgewirbelt. Sie trug einen weißen Kittel und hatte die Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden. »Nanu? Was machen Sie denn hier?« fragte sie. »Bachhagels Getränkeservice.« »Na endlich, seit gestern morgen ist der Automat kaputt.« Sie verschwand im gegenüberliegenden Zimmer, an dessen Tür ein Schild mit der Aufschrift Prof. Dr. Rothaupt hing. »Dann wird’s wohl nichts mit dem Länderspiel«, sagte Höhnig mit lauter Stimme. Schulter an Schulter gingen sie weiter. Kurts Worte fielen Fritsch ein. Anhand einer Skizze hatte er ihnen erklärt: »Lauft den Gang entlang. Es sind etwa zwanzig Meter. Dann müßt ihr links abbiegen. Schaut stur geradeaus. Tut so, als hättet ihr es eilig.« Fritsche horchte auf das Klappern ihrer Schritte. Klangen sie eilig? Höchstens laut. Warum legen die den dämlichen Flur nicht mit einem Teppich aus? dachte er, sah die Abbiegung und gleich darauf Bachhagels Getränkeautomat. Daneben stand ein Tischchen. Höhnig und Fritsche stellten ihre Kartons darauf ab. Wieder die gleichen Handgriffe wie im Erdgeschoß: Stecker raus, Schlüssel ins Schloß, zweimal umdrehen, Türe aufziehen. Fritsche zog. Verdammter Mist, das Ding klemmte. Er holte mit dem Fuß aus und donnerte zweimal gegen die Verkleidung. Es gab einen Mordslärm. »Klemmt die Tür?« Fritsches Nackenhaare sträubten sich, als er die fremde Stimme hörte. Langsam drehte er sich um. Der Mann stand direkt hinter ihm. Wahrscheinlich war es ein Angestellter. Tief hatte er die Hände in den Taschen seines weißen Kittels vergraben und wippte auf den Fußsohlen auf und nieder. »Es wird Zeit, daß wir mal einen neuen aufstellen«, sagte Höhnig.
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»Hm«, machte der im weißen Kittel und wippte weiter. »Die Dinger gehen wohl schnell kaputt.« Fritsche zog die Tür des Automaten auf. Der Mann hinter ihm sah interessiert zu. Fritsche hantierte an den Nachfüllkammern herum. Jeden Handgriff, den er machte, beobachtete der Mann, ohne dabei seine Wipperei zu unterbrechen. Fritsches Finger versteiften sich und ließen sich kaum noch in den Gelenken biegen. Da hörte Fritsche, wie Höhnig sagte: »Bei Ihnen ist ja in der letzten Zeit mächtig was los.« »Hm«, machte der Wippende. »Es ist doch einer entführt worden.« Der Mann lachte und schaukelte weiter. »Auf die Geschichte ist jeder scharf. Alle, die hier runterkommen, fragen danach.« »Ist ja auch ein Riesending, das da gelaufen ist. Um was geht’s denn da in Wirklichkeit?« fragte Höhnig. »Wir wissen auch nicht mehr, als in den Zeitungen steht. Obwohl wir hier direkt an der Quelle sitzen.« Fritsche leerte den Münzbehälter. Klappernd fielen ein paar Münzen zu Boden. Als er sich bückte, war er fast in Augenhöhe mit den wippenden Schuhen. Plötzlich standen die Füße still, drehten sich um fünfundvierzig Grad. »Da hinter dieser Tür«, Fritsches Augen folgten dem Arm, der auf den gegenüberliegenden Eingang zeigte, »dort wird super-med hergestellt.« Fritsche sammelte die Markstücke auf. »Na klar«, hatte Kurt gesagt, »das Zeug liegt bei denen überall herum. Schon seit langem werden die Dinger auf Halde produziert.« Fritsche wollte es anfangs nicht glauben. »Das Präparat allein nützt uns nicht viel. Wir müssen auch an die Unterlagen rankommen.« »Kein Problem, auch das ist leicht zu schaffen.« »Die werden doch im Safe aufbewahrt.«
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»Nachts schon. Aber tagsüber werkeln die doch damit herum. Die können doch nicht wegen jedem Scheiß den Safe auf- und zuschließen.« Doch das waren nur Kurts Vermutungen. Denn in den Labors war er noch nie gewesen. Fritsche fummelte jetzt an der Halterung für die Pappbecher herum. Auch bei diesem Automat klemmte der Hebel. »Kriegt ihr’s hin?« fragte der im weißen Kittel. Er wippte wieder auf und nieder. Fritsche sah ihn an. »Frau Ruschek hat gesagt, der Automat sei kaputt«, fügte der Wippende ergänzend hinzu. »Mal schauen«, antwortete Fritsche. »Vielleicht waren die Kammern bloß leer.« »Nee, da hat was geklemmt. Beim Kaffee soll’s Probleme gegeben haben. Da muß die Brühe übergeschwappt sein.« Höhnig beugte sich, einen Schraubenschlüssel in der Hand, in den Kasten hinein. Er zog ein paar Muttern fester und drehte an einigen Schräubchen. Noch immer sah der Wipper interessiert zu. Warum zieht der nicht Leine, dachte Fritsche. Als wäre der Gedanke ein Signal gewesen, das ein hilfreiches Ohr aufgefangen hatte, ertönte eine blecherne Lautsprecherdurchsage: »Dr. Pankraz und Herr Ostertag bitte auf Zimmer zwei zu Professor Rothaupt. Ich wiederhole…« Der Weißkittel stand jetzt still und verzog das Gesicht. »Auch das noch«, murmelte er. Gleich darauf wurde die Tür, auf die er vorher gezeigt hatte, aufgerissen, und ein schmächtiger Mann mit Brille erschien. Auch er trug einen weißen Kittel. »Hast du gehört?« fragte er den Wipper. »Na denn, dann wollen wir mal«, antwortete er, nickte Fritsche und Höhnig kurz zu und bog mit seinem Kollegen um die Ecke. »Du brauchst nur reinzugehen, das Zeug liegt überall frei herum«, hat Kurt gesagt. »Alles ist kinderleicht.« Kinderleicht, wiederholte Fritsche in Gedanken. Los jetzt, gab er sich selbst das Kommando. Er schlich auf die Tür zu, die der Schmächtige wieder hinter sich geschlossen hatte. Wieviel Leute dort drin wohl arbeiten, fragte er
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sich, während er sich dünne Baumwollhandschuhe überstreifte und vorsichtig die Klinke drückte. Die Tür gab sofort nach und schwang auf. Fritsche stand in dem Labor. Der Raum war leer und ziemlich klein. Er hatte ihn sich größer vorgestellt. Eine Menge technischer Apparate registrierte er mit einem schnellen Blick. Wieder hörte er Kurts Stimme: »Das Zeug liegt überall frei herum. Schließlich arbeiten die doch Tag für Tag damit.« An der Wand stand ein Regal. Es reichte vom Boden bis zur Decke. Bücher und Aktenordner standen säuberlich nebeneinander aufgereiht. Und dann sah er super-med. Zwei Regalfächer voll, säuberlich in Kartons gestapelt, super-med. Blaue Schrift auf weißem Grund. Und drunter kleingedruckt: Unverkäufliches Muster. Versuchsreihe. Mindestens zwanzig Kartons standen da. Im Fach daneben entdeckte Fritsche einen Stapel Schnellhefter. Forschungsbericht… weiter kam er nicht. Draußen im Flur pfiff Höhnig. Fritsche horchte. Höhnig pfiff die Melodie der CapriFischer. Also war alles in Ordnung. Fritsche griff in das unterste Regalfach. Der Karton war leicht. Er schob die übrigen Schachteln auseinander, damit die Lücke nicht sofort auffiel. Dann streckte er die Hand nach dem Schnellhefter aus und legte ihn oben auf die Schachtel. Zurück zur Tür. Lauschend legte er das Ohr an das Holz. Höhnig trällerte noch immer die Capri-Fischer. Fritsches Hand lag schon auf der Klinke. Plötzlich ein Melodienwechsel. Fritsche hörte ein paar Takte von ›Police‹. Gleich darauf klapperten Schuhe über den Flurboden. Sie kamen rasch näher. Tripp-trapp. Tripp-trapp. Pia fiel Fritsche ein. Auch sie hatte mal ein Paar Schuhe besessen, deren Absätze bei jedem Schritt klapperten. Tripp-trapp, er hatte sie immer schon kommen hören, lange bevor sie den Schlüssel in die Wohnungstür steckte. Dunkelrot waren die Schuhe gewesen, mit einem kleinen Keilabsatz. Pia hatte sie im Schaufenster eines winzigen Ladens in AyaMonte entdeckt. Wie lang war das her? Drei Jahre, vier? Ihr erster gemeinsamer Urlaub.
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Tripp-trapp, tripp… Jetzt war es still. Nur noch Höhnigs angestrengtes Pfeifen war zu hören. Ihm muß der Schweiß schon aus allen Poren triefen, dachte Fritsche. »Funktioniert er wieder?« Eine weibliche Stimme. Fritsche fiel sofort die Frau mit dem Pferdeschwanz ein. Ob ihre Schuhe auch rot waren? Höhnig pfiff noch immer. Gequält und fürchterlich falsch. Hör doch endlich auf, rief ihm Fritsche in Gedanken zu. Ob sein Wunsch angekommen war oder ob Höhnig bloß die Puste ausgegangen war, konnte er nicht erraten. Jedenfalls hörte er Höhnig jetzt sprechen. »Die Kammer mit der Erbsensuppe klemmt noch.« »Erbsensuppe will bei uns kein Mensch. Schmeckt nach Plastik.« Dann verstummte das Gespräch. Red weiter, flehte Fritsche. Doch Höhnig schien diesmal keine Antenne für ihn zu haben. Statt dessen begann er wieder eine Melodie von ›Police‹ zu pfeifen. Ich erwürg ihn, fluchte Fritsche, der in regloser Lauerstellung hinter der Tür verharrte. Es schien eine Ewigkeit vergangen zu sein, bis Fritsche wieder Höhnigs Stimme hörte: »Und die Bouillon, schmeckt Ihnen die?« So eine Blödsinnsfrage, dachte Fritsche. Flirte mit ihr, verwickle sie in ein Gespräch, mach um Himmels willen alles, damit sie nicht durch diese Tür kommt. »Auch nicht«, lachte die Frau. »Ich trinke nur euren Kaffee.« »Ich werd’s ausrichten«, antwortete Höhnig. Wem denn, du Knallkopf, du Oberidiot. Was willst du denn wem ausrichten? Dann wieder Höhnig, dem sein Gesabber vermutlich selbst idiotisch vorkam: »Ich sag mal in der Zentrale Bescheid, wird Zeit, daß wir unser Programm umstellen.« »Machen Sie das«, sagte die Frau. Und dann hörte es Fritsche wieder. Das Tripp-trapp, tripp-trapp. Jetzt ganz laut und entsetzlich nah. Dann noch einmal: Tripp-trapp. Diesmal leiser. Die Frau war weggegangen. Draußen trällerte Höhnig die Entwarnung: »Wenn bei Capri die rote Sonne im Meer versinkt…« Fritsche riß die Tür auf. Schweiß glänzte auf Höhnigs Stirn, und dunkle Schwitzflecken breiteten sich unter seinen Achseln aus. Er
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starrte Fritsche an, als sei er von den Toten auferstanden. Dann packten Höhnigs Hände zu. Er riß ihm beinahe den Karton aus der Hand, stopfte ihn in die Schachtel von Bachhagels Getränkeservice, die um einige Zentimeter größer war und die er bereits vorsorglich leergeräumt hatte. Er warf Päckchen mit Suppenkonzentrat und Kaffeepulver hinein. Mit der Schachtel in der Hand stand er schon an der Abbiegung, die zum Ausgang führte. »Der Stecker«, krächzte Fritsche. »Mach’s du«, krächzte Höhnig zurück und trippelte ungeduldig, bis der Automat zu summen begann, als er wieder mit Strom versorgt wurde. Sie marschierten den Gang zurück. Die Stahltür, bei der sie kontrolliert worden waren, ließ sich von innen öffnen. Krachend fiel sie hinter ihnen ins Schloß. Jetzt zum Aufzug. »Halt«, die Stimme des Mannes im Glaskasten. »Ja?« Fritsche schluckte trocken. Der Mann streckte die Hand aus, wollte irgend etwas, forderte was zurück. Höhnig, der schon beim Aufzug stand, blieb widerwillig stehen. »Das rosa Formular«, sagte der Mann. »Ich muß notieren, um welche Zeit Sie den Sicherheitsbereich verlassen.« »Natürlich«, murmelte Fritsche. Der Pförtner schaute auf seine Digitaluhr, trug die Zeit in einem extra dafür vorgesehenen Kästchen ein und gab das Formular zurück. Weiter. Aufzug. Die Eingangshalle. Das Klack-Klack ihrer Schuhe auf dem Marmorfußboden. Der Ausgang. Rechts die Pförtnerloge. Fritsche hielt schon das blaue Formular in den Händen, schob es durch den Schlitz, beobachtete, wie der Mann auch hier die Zeit eintrug, nahm das Blatt wieder in Empfang. Mit saugendem Schmatzen öffnete sich die erste Tür, dann die zweite. Der weiße Mercedestransporter mit der Aufschrift Bachhagels Getränkeservice parkte direkt am Fuß der Treppe. Höhnig schloß die Hecktüre auf, stellte den Karton ab. Mit zehn Stundenkilometer zum Schlagbaum. Der mit der grauen Uniform wartete bereits. »Das hat aber lange gedauert.«
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»Die Nachfüllkammer von der Erbsensuppe hat geklemmt«, sagte Fritsche. Der Pförtner reagierte nicht. Dann noch einmal Formularkram. Ein rosa, ein gelbes, ein blaues Formular für den Pförtner. Rückgabe des Besucherausweises. »Wiedersehen«, sagte Höhnig. Der Pförtner nickte. Jetzt öffnete sich die Schranke. Höhnig gab Gas. Zulp lächelte und legte Pia die Hand auf den Arm. Es war nur eine ganz kurze Berührung, doch bei ihm so ungewohnt, daß sie Zulp verwundert ansah. »Aufklärung der Öffentlichkeit, das war es doch, was du immer gewollt hast«, sagte er zu ihr. »Sobald wir die Auswertung der Forschungsunterlagen haben, kann es damit losgehen. Dann hat die Pharmaindustrie ausgespielt.« Pia sagte: »Hoffentlich hält Wilfing so lange durch. Er will nichts mehr essen.« »Kümmere dich nicht um Banalitäten.« »Na, hör mal«, fauchte Pia ihn an. »Heb bloß nicht ab.« »Wir sind jetzt an einem Punkt, wo wir uns Sentimentalitäten nicht mehr leisten können.« Das Lächeln war verschwunden. Jetzt saß er wieder mit dem undurchsichtigen Gesicht da, dem man nie irgendeine Gefühlsregung ansah. »Da! Hör dir das an!« Zulp gab Joke ein Zeichen. Joke reagierte sofort und stand auf. Er spielte ihnen den Mitschnitt der letzten Nachrichten vor: »Eine geplante Kontaktaufnahme mit den Entführern ist gescheitert. Die Fahndung nach den Terroristen wird bundesweit fortgesetzt. Die Staatsanwaltschaft appelliert weiterhin an die Entführer, den krebskranken Edgar Wilfing freizulassen.« Wieder ein Zeichen von Zulp, und Joke schaltete ab. »Weißt du, was das bedeutet? Massenweise Razzien und Verhaftungen. Mancher, der uns unterstützt hat, wird aus Angst abspringen. Politische Spinner und Freizeitdemonstranten sind für uns eine Gefahr. Deshalb müssen wir alle Kontakte mit ihnen abbrechen.« »Unser Netz hat bisher keine einzige undichte Stelle gehabt«, erwiderte Fritsche in scharfem Ton. »Deshalb bleibt alles beim alten.« Pia nickte. Zulp sah die gegenüberliegende Wand an.
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Fritsche sprach weiter: »Es geht genauso weiter, wie wir es besprochen haben. Und zwar folgendermaßen: Morgen treffe ich mich mit unserem Chemiker. Er dürfte bis dahin mit den Unterlagen über super-med fertig sein. Du«, er sah dabei Zulp an, »wartest in der Hochhauswohnung, bis ich zurück bin. Wir fassen dann die Presseerklärung ab. Und der Inhalt wird folgendermaßen aussehen: Wilfing wird freigelassen, sobald Analysen, die der Chemiker erstellt hat, veröffentlicht werden. Außerdem geben wir bekannt, daß wir Abzüge des Forschungsberichts an verschiedene wissenschaftliche Institute geschickt haben.« »Das übernehme ich«, sagte Zulp und zog die Tasche mit den Exemplaren, die Höhnig für sie gedruckt hatte, zu sich herüber. »Heute noch. In der Hochhauswohnung.« »In Ordnung. Eine Verteilerliste liegt bei.« »Und wann soll ich mit Wilfing los?« erkundigte sich Joke. »Nachdem im Radio unser erster Bericht verlesen wurde. Du verläßt gleichzeitig mit Pia die Hütte.« »Klar, alles kapiert«, sagte Joke. »Und vorher räumen wir beide die Hütte leer und putzen sie blitzblank.« »Fingerabdrücke, Müll et cetera.« »Et cetera«, wiederholte Joke und grinste. »Dann bringe ich Wilfing zu dem stillgelegten Steinbruch, setze ihn dort ab…« »Nimm eine Decke für ihn mit«, unterbrach Fritsche. »Ja doch, werde ihn behandeln wie ein rohes Ei. Also: Sobald Wilfing im Steinbruch ist, düse ich ab und warte etwa eine Stunde, bis ich außer Reichweite bin. Von einer Telefonzelle aus rufe ich im Krankenhaus an und sage ihnen, wo sie ihren Patienten abholen können.« »Gut«, Fritsche nickte. »Sonst noch Fragen?« Alle schüttelten den Kopf. Wilfing merkte, wie sich jemand über ihn beugte. Eine Tasse wurde an seine Lippen gehalten. Wilfing versuchte zu schlucken. Es ging langsam und es strengte ihn an. Er wollte nichts trinken. Er wollte sagen, daß er keinen Durst hatte, war aber zu schwach dazu. Müde schloß er die Augen und ließ den Kopf auf das Kissen sinken.
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Fritsche kam es vor, als wäre heute der sonnigste Junitag seines Lebens. Er ertappte sich, wie er beinahe laut vor sich hin gesungen hätte. Gemütlich schlenderte er die Straße entlang. Noch immer klangen ihm die Worte im Ohr: »Jetzt habt ihr gesiegt!« Sie summten in seinem Kopf weiter wie eine Melodie: »Ihr habt gesiegt! Ihr habt gesiegt!« Plötzlich hatte Fritsche Hunger. Er kaufte sich zwei Wurstbrötchen, marschierte zu seinem Auto und begann zu essen, während er sich durch den Verkehr schlängelte. Zulp würde staunen, wenn er ihm von dem Gespräch mit dem Chemiker berichtete. »Das Dokument ist Gold wert!« hatte der Chemiker gesagt. »Vom Herstellungsverfahren, der Zusammensetzung bis zum aktuellen Stand der Erprobung – alles steht hier drin.« Mit der flachen Hand klopfte er auf die Mappe. »Was hast du sonst noch herausgefunden?« fragte Fritsche ungeduldig. »Das hier!« Er schlug eine Seite auf und fuhr mit dem Finger über die Zeilen. »Allerdings können nur Fachleute etwas damit anfangen.« »Und was bedeutet es?« »Euren Sieg! Durch die regelmäßige Einnahme von super-med wird im Körper eine Zellaktivierung in Gang gesetzt. Und zwar wirkt super-med sowohl auf die körperlichen Organe als auch auf die geistigen Funktionen ein.« »Dann stimmt es also, was die Pharmabosse erzählen?« Der Chemiker nickte. »Mit super-med wäre es möglich, Krankheit und Tod zu beeinflussen. Zusammenfassend kann man sagen, daß durch das Präparat ein Eingriff in die Evolution stattfinden würde, der zur Züchtung einer neuen Spezies führen könnte.« »Völlig problemlos?« »Nein. Ist euch nie aufgefallen, daß bei allen Versuchspersonen die Behandlung mit super-med nie beendet wurde?« Fritsche schwieg. Sein Gesprächspartner wartete auch auf keine Antwort. »Und zwar deshalb nicht, weil niemand mehr damit aufhören kann. Sobald super-med abgesetzt oder die Einnahme reduziert wird, tritt
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eine physische Schwäche auf. Der Körper kann nicht mehr ohne das Präparat leben.« Fritsche fiel Wilfing ein; der rasche Verfall dieses Mannes. Der Chemiker rückte seine Brille zurecht und sprach weiter: »super-med zerstört die Regenerationsfähigkeit des Körpers, und zwar nachhaltig.« »Also total und für immer?« »Ja. Wenn das die Öffentlichkeit erfährt, ist das Präparat gestorben. Und ihr habt gesiegt.« Wir haben gesiegt, summte Fritsche vor sich hin, während er zu der Hochhauswohnung fuhr. Er schloß die Wohnungstür auf und biß in das letzte Brötchen. Still war es. Von Zulp, der in einem der Zimmer sitzen mußte, war nichts zu hören. Im Flur standen zwei große Taschen. In der einen waren die Abzüge, die Zulp verschicken wollte. Die Taschen standen ordentlich nebeneinander. Zulp war ein Pedant. So ordentlich wird er wohl auch die Forschungsberichte eingetütet und adressiert haben, dachte Fritsche. Dann hörte er Zulp sprechen. Er mußte telefonieren. Was er sagte, konnte Fritsche nicht verstehen. Leise, um ihn nicht zu stören, ging Fritsche in die Küche. Er schob sich den letzten Bissen des Brötchens in den Mund und trat auf das Pedal des Abfalleimers. Als er das Einwickelpapier hineinwerfen wollte, stutzte er. Dann bückte er sich. Er zog ein leeres Medikamentenbriefchen heraus. Ungläubig drehte er es zwischen den Fingern. Fritsche öffnete die Tür des Hängeschränkchens. Hier hatte er den Karton abgestellt, den er im Forschungslabor der Pharmawerke geholt hatte. Der Schrank war leer. Er stürzte ins andere Zimmer. Zulp telefonierte noch immer. Er sah dabei zum Fenster hinaus. Neben dem Telefon lag ein Stapel brauner Versandtüten. Sie waren leer. Daneben Zulps Hand. Seine Finger spielten mit dem Griff eines Revolvers. »Wir treffen uns in der Schweiz«, hörte Fritsche Zulp sagen. »Spätestens übermorgen. Ich habe alles bei mir. Sobald ich da bin, fangen wir mit der Produktion an.«
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Friedhelm Werremeier Strix Uralensis Der Lüneburger Kriminalhauptkommissar Mandel legt die teure, hochgestochene Zeitschrift – ein Blatt auf glänzendem Kunstdruckpapier namens Zwischeneiszeit, das genausogut Transatlantik heißen könnte und ihn außerordentlich gefesselt, aber nicht minder deprimiert hat – zur Seite. Er schaut nachdenklich aus dem Fenster des winzigen Zimmers im Bahnhofsgebäude Dannenberg Ost, das man ihm für seine Ermittlungen zur Verfügung gestellt hat, und er würde am liebsten weinen, wenn er’s noch könnte. Statt dessen dreht er sich eine rabenschwarze Zigarette. Draußen nieselt es; die braunen Blätter des hereinbrechenden Herbstes wehen wie von fern über die Schienenstränge, und die im Regen sonst silbern schimmernden Geleise wirken stumpf und verrostet. Eine ölverschmierte Rangierlok ohne Wagen rattert und stöhnt durch die Szene. Fuchs und Hase, allenfalls, sagen sich hier gute Nacht. Wer in dieser Gegend stirbt, ist wirklich tot, denkt der Polizist – ein seltsamer, ja fast abwegiger Gedanke für einen Mann, der sich dauernd mit unklaren Todesfällen beschäftigt. Heinz Mandel, ein massiger, jovialer Fünfziger, dreht sich zu seinem Kollegen Henning Würtz um, der sich gerade den Mantel anzieht. »Warum konnte die Geschichte nicht eher erscheinen?« fragt er müde. »Sicher – ein Tag hätte schon ausgereicht…« sagt der große, hagere Hauptmeister achselzuckend. Er hat die Reportage, um die es hier geht, gleich um sieben gelesen, als das Blatt am Kiosk ausgelegt wurde. »Aber mach was dran – ist schließlich ’ne Monatszeitschrift!« Blaugrauer Rauch aus Mandels Selbstgedrehter wedelt hinter Würtz durch die Tür. Bevor, am Fuß seiner Zigarette, auch Mandel geht, schließt er die Zeitschrift sorgfältig weg.
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Strix uralensis – eine Posse aus dem Wendland. Ein Bericht von Robert Gerber. Passiert – so der Verfasser, der den Leser merkwürdig direkt anspricht – ist im Grunde nicht viel bei dieser Affäre, ums Ihnen fairerweise sofort zu sagen; keiner ist umgebracht worden, kaum ein nennenswerter Sachschaden ist entstanden, keiner hat sich auch nur den Fußknöchel verstaucht. Wenn Sie die gallenbittere Posse – denn eine solche ist es – dennoch aufmerksam lesen, werden Sie immerhin erfahren, daß es, sozusagen als Pointe, nicht nur Millionenschäden, sondern im Endeffekt auch zahlreiche Tote hätte geben können. Vor allem aber lernen Sie was: einiges über Moral. Über die doppelte, dreifache Moral von heute. Dafür, daß man ihr neuerdings auf Schritt und Tritt begegnet, läßt sich – gerade hier, gerade im einst so stillen hannoverschen Wendland – unter anderem sicherlich das Zeitalter der Kernkraftnutzung verantwortlich machen, das in des Wortes mehrfacher Bedeutung mit Gewalt über uns hereingebrochen ist. Ausschließlich ihm, jedenfalls, muß man die Leiden des nicht mehr ganz jungen Erich Munkhaus zuschreiben – unseres gesundheitlich etwas anfälligen, grundsätzlich aber immer noch erstaunlich an manchen Problemen der Welt interessierten Hauptdarstellers, den das Dasein schon früher übel gebeutelt hatte und der in der hiesigen Geographie sicher nur seinen Frieden finden wollte. Wahrscheinlich erinnern Sie sich sogar: Der seit einer Anzahl von Jahren verwitwete Mittsechziger Munkhaus, vom ersten Tage seines Ruhestands an ein begeisterter Naturschützer, war vor Jahren mal der Star- und Kronzeuge in einem sensationellen Hamburger Schwurgerichtsprozeß gewesen und wirklich eklig durch die Gazetten gezerrt worden. Bei der nächtlichen Beobachtung von Eulen hatte er gesehen, wie eine soeben ermordete Frau aus einem Auto geworfen worden war, und durch seine Aussage hätte sich der mutmaßliche Täter leicht ein stabiles Lebenslänglich einfangen können. Die spektakuläre Hauptverhandlung war allerdings mit einem umstrittenen Freispruch zu Ende gegangen – und das lag in erster Linie daran, daß es der Verteidigung gelungen war, den lästigen Eulenfreund als »aufge-
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blasenen, dummen Wichtigtuer in Tweed und Loden« völlig madig zu machen. Das Leben aber ging weiter, und so begegnen wir, zu Beginn dieser Geschichte, Munkhaus nunmehr am Rande der 8000-SeelenGemeinde Dannenberg auf einer asphaltierten Forststraße, die neben der zur Endstation Dannenberg Ost führenden Bundesbahnstrecke 152 von Lüneburg verläuft; hier strampelt er sich zu bereits mitternächtlicher Stunde, einen Rucksack auf dem Gepäckträger, mit dem Fahrrad ab. Erich Munkhaus war nach seinen schlimmen Erfahrungen mit der großstädtischen Justiz vergrätzt und verstört in den, wie er meinte, ruhigen Landkreis Lüchow-Dannenberg geflüchtet; dort, so hoffte er, gab’s bessere Menschen und außerdem immer was für einen Naturschützer zu tun – und dort hatte er sich, unauffällig wie bisher, nach außen hin unverändert, am Rand großer Wälder eine kleine Wohnung gemietet. Eine seltsame »Narbe«, immerhin, haben die Prozeßerlebnisse bei Erich Munkhaus hinterlassen. Über alle Höhen und Tiefen des Daseins hinaus ist er seinem längst zur Wissenschaft gewordenen Hobby zwar treu geblieben: mit all seinen allmählich nachlassenden Kräften setzt er sich immer noch – so auch heute – für die heimische Vogelwelt ein. Nächtliche Expeditionen allerdings sind ihm seit damals ein Greuel, und im Grunde hat er auch jetzt dauernd das dumme Gefühl, daß er gleich wieder mit Mord und Totschlag konfrontiert wird. Ganz so unrecht hat er da gar nicht. Denn in derselben Stunde, in der Erich Munkhaus freiwillig und etwas bänglich seiner naturschützerischen Tätigkeit nachgeht, steckt, wie sich später herausstellt, zehn Autominuten entfernt ein schlanker, ziemlich verbissen wirkender Mann um die Dreißig eine Schmeißer-Pistole Kaliber 6,35 in ein Schulterholster. Es sieht gefährlich aus und ist auch gefährlich: Peter Rigobert Schneider – ein ehemaliger Fürsorgezögling, als Heranwachsender aus mehreren Heimen abgehauen, nach einer abgeschlossenen Schlosserlehre zur Überraschung seiner Betreuer offenbar doch noch »voll integriert« – würde die Waffe »im Ernstfall« sofort gebrauchen.
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Draußen wird ein Jeep gestartet. Lars Riedlinger – älter, stabiler und größer als Schneider – muß die Zündung dreimal betätigen, bis das Auto anspringt. Dann ist Schneider aus dem Haus, steigt ein und beugt sich, während Riedlinger vorsichtig anfährt, gleich nach hinten. Alles da, stellt er fest und ist wenigstens vorübergehend beruhigt: ein Schweißbrenner mit Brennschneidgerät und allem, was dazugehört. »Hast du wieder die verdammte Wumme dabei?« fragt Riedlinger mißtrauisch. »Geht dich nix an!« sagt Schneider. »Also ja…?« »Vielleicht biste mal froh, wenn ich sie dabei habe!« sagt Schneider kaum freundlicher. »Also – ich bestimmt nicht!« Schneider ist und bleibt eine linke Type, sagt sich Riedlinger beklommen. Schneider in seiner verdammten Flippigkeit, abgesehen davon, daß er fachlich mehr als brauchbar ist – kein vernünftiger Mensch im Wendland hat Schußwaffen oder schleppt sie mit sich herum, sicher auch kein »Alternativer«. Gleich hinter Sangendorf kommen sie auf die Kreisstraße in Richtung Dannenberg. Keiner von ihnen ahnt, daß es eine seltsame Art von Sternfahrt ist. Als die Forststraße, die Munkhaus befährt, nach vier Kilometern fast rechtwinklig abknickt, bleibt er auf dem weiter geradeaus führenden Sandweg – parallel zum Schienenstrang nach Dahlenburg-Lüneburg. Und mit dem hat’s derzeit eine sozusagen zeithistorische Bewandtnis. Ebenso wie über die »Südstrecke«, die von Uelzen aus durch das Jagdgebiet Göhrde gebaut worden ist, sollen aus Richtung LüneburgDahlenburg demnächst Güterzüge den radioaktiven Abfall deutscher Kernkraftwerke nach Dannenberg transportieren. Gleich am Bahnhof Dannenberg Ost soll dann der Dreck, wie die Einwohner den »Atommüll« nennen – sogenannte Castor-Behälter mit stark strahlendem Material, die angeblich sogar eine Bombenexplosion aushalten können, ohne kaputtzugehen – mit einem gewaltigen Spezialkran
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auf dicke Brummis verladen und in die noch eine Ecke weiter östlich gelegene Gemarkung Gorleben befördert werden. Damit ist dann das Stichwort gefallen, mit dem in Deutschland heutzutage sicherlich jedes Kind vertraut ist: Gorleben und seine atomare Gegenwart sind seit annähernd zehn Jahren das Symbol des deutschen »Widerstandes gegen den Strahlentod« geworden. In und um Gorleben hat es ununterbrochen Aktionen und Protestdemonstrationen gegen die Kernkraft gegeben, und das bäuerlich geprägte Dorf an der Elbe war immer wieder Schauplatz heftiger Schlachten zwischen dem Staat und seinen gewiß nicht schlechtesten Bürgern. Ein solcher, möchte man meinen, ist im Grunde auch Munkhaus – und insofern könnte man eigentlich erwarten, ihm, als Naturfreund, zumindest unter den Mitläufern, wenn schon nicht Sympathisanten der Atomkraftgegner zu begegnen. Es gehört hier sowieso zum guten Ton, den Widerstand mit (fast) allen Mitteln zu unterstützen; falls die Bürgerinitiative je als Partei aufträte, bekäme sie vielerorts sicher eine Mehrheit wie die CSU in Niederbayern. Aber dennoch – Munkhaus ist auf Distanz geblieben. Und bei näherer Überlegung fällt einem auch rasch ein, weshalb: Einem ernsthaften Vogelschützer muß der Wirbel, der im Wendland Tag und Nacht stattfindet, seit dort Zeitgeschichte gemacht wird, nahezu zwangsläufig ein Dorn im Auge sein. Strikte Ruhe nämlich gilt seit jeher als die erste Naturschützerpflicht – und daran hält sich Munkhaus so streng, daß er die Fahrt über den Sandweg gerade jetzt unterbricht und seinen nicht mal so sehr lauten Fahrraddynamo abstellt. Sein Herz schlägt plötzlich viel schneller – am Ende geradezu rasend. Von Riedlinger und Schneider kann er nichts wissen – also sind es offenkundig die Finsternis und seine damit verbundenen »normalen« Ängste, die ihm offenbar noch mehr zu schaffen machen, als er befürchtet hatte. Oder kommt die jähe Tachykardie eher von der Vorfreude, der hochgespannten Erwartung auf das, was er – so, jedenfalls, hofft er – gleich sehen wird? Strix uralensis – den Habichtskauz. Auf Anhieb ein Begriff zwar ausschließlich für einen Mann, der in der Vogelkunde bewandert ist.
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Für den allerdings ein so spannendes Thema, als wär’s von Agatha Christie. Riedlingers Jeep hat kurz vor der Ortseinfahrt Dannenberg eine Reifenpanne. In der Dramaturgie des Schicksals, die hier zuständig ist, spielt der Vorfall eine wichtige Rolle. Anderenfalls nämlich würde eine Lücke von zehn Minuten entstehen, und alles weitere könnte sich nicht ereignen – nicht in dieser Form. Schneider pinkelt an einen Baum, während Riedlinger das Rad wechselt; im Anschluß daran starrt er längere Zeit in den Nachthimmel und kommt zu der Überzeugung, daß das Wetter für seine und Riedlingers Pläne geeignet ist wie kaum ein Wetter zuvor. Als Erich Munkhaus in einem tiefen, sandigen Schlagloch steckenbleibt und vom Rad fällt, kriegt er einen Heidenschreck: er hat immerhin unter anderem ein Gerät im Gepäck, für das er gerade netto fast fünfzehn Mille hinblättern mußte. Ohne das hochgradig empfindliche Night Scope Orion 80 B von Zeiss mit dem Anschluß Oriogon für die Contax-Kamera, die er ebenfalls im Rucksack mit sich herumschleppt, könnte er sofort wieder zurückfahren. Der im Grunde sparsame und fast geizige, wenngleich gerade deshalb finanziell ziemlich unabhängige Mann steigt also gar nicht erst wieder in den Sattel, und von jetzt an schiebt er das alte Fahrrad durch die sternklare Spätsommernacht – über Stock und Stein, Steigungen rauf, Steigungen runter. Er gerät ins Schwitzen; sein Herz hämmert nach wie vor gegen die Rippen, und dann muß er auch noch husten und heftig würgen. Gezwungenermaßen bleibt er stehen und wartet, bis der schlimme Anfall vorbei ist. Endlich: der letzte halbe Kilometer. Hundert Meter vor dem Nistbaum »seiner« Vögel lehnt Munkhaus sein Rad vorsichtig an die ausgetretene Böschung. Nimmt den Rucksack auf und geht, nein, schleicht sich weiter voran, findet gleich die Buche, die er suchte, und setzt sich dann unter sie ins Moos. Fummelt seine Geräte zurecht, was viel schwieriger ist, als man ihm im Laden beim Kauf gesagt hat – und erkennt beim ersten Blick durch die Orion auf halber Stammhöhe ein kreisrundes Loch von ungefähr dreißig Zentimetern Durchmesser.
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Genau ein Uhr morgens inzwischen. Kühl trotz der Julinacht bis ans Herz hinan. Von Gespenstern und Käuzen ist einstweilen nichts zu sehen, nicht mal durch das mit klammen Fingern gehaltene Night Scope. Zwei Wochen zuvor jedoch hat Erich Munkhaus zufällig beobachtet, wie zwei große Vögel in diesem Loch in der Buche verschwanden – zu seiner gewaltigen Überraschung offensichtlich Habichtskäuze, beim Anflug mehr als meterbreit. Ein weiteres, drittes Exemplar, ganz ähnlich den anderen, schien etwas weiter zur Eisenbahnstrecke hineinzuschweben – und ein vierter großer Schatten, immerhin, kreuzte weiter innen im Forst den Hintergrund… Wie hold ihm an dem Tage das Glück gewesen war, konnte der Rentner Munkhaus erst etliche Zeit später ermessen: Er hatte die scheuen Käuze in den nächsten zwei Stunden zwar noch einigemal sehen können, aber in aller Folgezeit nicht mehr. Er hatte Federn gefunden – aber das ist mittlerweile ein Kapitel für sich. Damals allerdings wurde bei ihm alles von der Freude überlagert, die ihn geradezu überflutete – dem Gefühl des Fachmanns, der die Bedeutung seiner Entdeckung auf Anhieb begriffen hatte: Den imposanten Strix uralensis, eine Eulenart, bei der die Weibchen sogar noch größer sind als die Männchen, darf es zumindest in Norddeutschland gar nicht geben – erst recht nicht an dieser »Atomstrecke«! Riedlinger und Schneider, die aus der Gegenrichtung gekommen sind und sich mittlerweile auf der gegenüberliegenden Seite der Eisenbahnstrecke befinden, denken nach wie vor nicht im Traum daran, daß hier um die Zeit außer ihnen noch wer unterwegs ist. Sie haben ihren Jeep eine kurze Ecke weiter hinten in den Wald gefahren und ziehen in einem gut geölten und gummibereiften Anhänger das schwere Gerät hinter sich her: außer dem Schweiß- und Schneidbrenner je eine Sauerstoff- und eine Azetylenflasche und den schweren Schlüssel für die Eisenbahngeleisbefestigungsschrauben. Alles klar zum Protest – zum gewaltsamen Protest. Ein Uhr vierzig inzwischen. »Hier!« flüstert Schneider. »Nee«, sagt Riedlinger, »dahinten erst, dieser eine schräge Telefonmast!«
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Lars Riedlinger hat recht. Unmittelbar hinter dem schrägen Telefonmast klettern er und Peter Schneider über den morschen Zaun und durch die Brombeerranken auf den Bahnkörper und finden die Stelle zwischen den beiden Gleisstücken, die sie sich auf ihren nächtlichen Erkundungsgängen ausgesucht haben, ohne jede Schwierigkeit wieder. Riedlinger, mit seiner Erfahrung, hat fast immer recht. Er ist als Student der Wirtschaftswissenschaften im Februar 1977 aus Berlin gekommen, etwa eine Woche nachdem der niedersächsische Ministerpräsident Albrecht die Gegend Gorleben definitiv zum Standort eines deutschen »Nuklearen Entsorgungszentrums« erklärte und die ersten hundert Traktoren mit Transparenten Wi willt den Schiet nich hebb’n! protestierend durchs Hinterland donnerten. Riedlinger war dabei, als die Atomkraft tatsächlich in die Natur des Wendlands einbrach; er fuhr dann zwar für einige Monate wieder weg, war aber früher als vorgesehen wieder da, erlebte an der Tiefbohrstelle 1004 im frühen Sommer 1980 die Gründung der »Republik Freies Wendland« mit – und schaute nach dreiunddreißig Tagen in ohnmächtiger Wut zu, wie die hundert Häuser dieses »Wehrdorfs« im Zugriff mehrerer Hundertschaften der Polizei »abgeräumt« wurden. Lars Riedlinger weiß und kennt alles: wie’s seinen Anfang nahm und wie’s eskalierte. Es eskalierte, predigte er Jahr für Jahr, in erster Linie durch »die menschenverachtende Verlogenheit der Atomherren« – jener von der DWK, der Deutschen Gesellschaft für Wiederaufbereitung von Kernbrennstäben, jener von der DBE, der Deutschen Gesellschaft zum Bau und Betrieb von Endlagern für Abfallstoffe, und jener von der Regierung. Außer den genannten Firmen gibt’s dann noch, von Riedlinger nicht ganz so verteufelt, die DNA, die Deutsche Gesellschaft für nukleare Aufklärung; deren Vertreterin, die ebenso hübsche wie kaltschnäuzige Ina Sieloff, die wir noch kennenlernen werden, soll den Menschen im Wendland werbemäßig was schmackhaft machen, was nach Lars Riedlingers Meinung sowieso bloß nach Gift und Galle schmeckt. Unterhalb von Gorleben befindet sich bekanntlich jener sogenannte Salzstock – ein mächtiges, unterirdisches Mineralgebirge, in das von
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Anfang an Schächte und Stollen für ein atomares »Müllendlager« gebohrt werden sollen; ursprünglich, im übrigen, sollte neben dem inzwischen schon in Betrieb genommenen Zwischen- und dem vorgesehenen Endlager auch eine Wiederaufbereitungsanlage für abgebrannte Kernbrennstäbe errichtet werden. Diese Idee, ein nach Ansicht zahlreicher Wissenschaftler besonders brisantes Unterfangen, gab der Staat dann zwar nach tausend und abertausend mehr oder weniger friedlichen Protestdemonstrationen und einer Unzahl gewaltsamer Anschläge auf, erlaubte sich aber fast im gleichen Atemzug einen wahrhaftig einmaligen Treppenwitz: In beziehungsweise um Gorleben blies er sein »momentan politisch nicht durchzusetzendes Projekt Wiederaufbereitung« ab – und bestimmte einen nur fünfundzwanzig Kilometer entfernten Landstrich um den Ort Dragahn zum neuen Standort! Und wenig später once more with feeling, wie Lars Riedlinger bitter kommentierte: wahr und wahrhaftig, ob man’s glaubt oder nicht, erneut rin in die Kartoffeln und wieder raus aus denselben… Inzwischen hat die DWK quasi hinter dem Rücken der Regierung schon wieder umgebucht und die DNA mit der DBE allein gelassen: nach Dragahn in Niedersachsen hat derzeit die Gemeinde Wackersdorf in Bayern das »Vergnügen«, als Standort einer deutschen Wiederaufbereitungsanlage eine, wie verheißen wird, erhebliche Verbesserung der Infrastruktur sowie die Schaffung vieler neuer Arbeitsplätze erwarten zu können. Darüber, wiederum, war Regierungschef Albrecht »sauer wie eine Fuhre alter Mist«, wie der zungenfertige Riedlinger diesmal erklärte, abgesehen davon, daß es gegen und in Wackersdorf naturgemäß genauso laute – und, von Fall zu Fall, durchaus auch gewaltsame – Protestaktionen gab wie gegen Dragahn und gegen Gorleben. Dieser »Erfolg«, sagte Riedlinger mal in einem Nachsatz, kann die DWK und die DNA allerdings ja wohl allenfalls selbst überrascht haben. Ins hannoversche Wendland aber, über Dannenberg und andere Routen nach Gorleben, befördert man heute immerhin Mengen von schwach strahlendem Lagermüll, und demnächst sollen auch viel gefährlichere abgebrannte Kernbrennstäbe angeliefert werden; die früher so unauffällig-konservative Gegend wimmelt deshalb nach
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wie vor von »Alternativen«. Riedlinger ist nur einer der vielen, die ihre grüne Heimat anscheinend von Anfang an nicht wieder aufgeben wollten und derzeit zwar auch schon mal im ebenso grünen Wackersdorf Putz machen, aber offenbar immer gleich nach Feierabend wiederkommen. Im Wendland nämlich sehen einige von ihnen längst ihre eigentliche Aufgabe: sie haben – anders als die antiatomare Bürgerinitiative, die sicher nicht zimperlich ist, von Gewalt aber nichts hält – auch dem letzten Atomfaß und vor allem jenem verdammten Endlager einen aktiven Kampf angesagt. Riedlingers erste größere Rolle in der Protestbewegung war zunächst »nur« die eines Redners – eines mitreißenden Redners allerdings, der sich nicht damit begnügte, die Stimmung bei Demonstrationen anzuheizen, sondern sich mit seinen »Informationsvorträgen« bei Gemeinderäten, Clubs und Vereinen in ganz Niedersachsen andiente. »Ein bärtiger Rudi Dutschke trat auf«, schrieb ein reichlich unkritischer Lokalredakteur, dem es unter anderem völlig schnuppe zu sein schien, daß hier ein Student, statt zu studieren, quasi auf Staatskosten agitierte, »ein Mann mit viel Sinn für Pointen, der die Sache auf den Punkt brachte und die Zuhörer mit Intelligenz zu fesseln verstand – ein Charismatiker mit ätzendem Witz…« Originalton Riedlinger. »Ich will Ihnen hier ja gar nichts verkaufen, und ich betreibe keine Mitgliederwerbung für Atomkraftgegner – ich will Sie einzig und allein an Ihr logisches Denkvermögen erinnern und Ihnen erklären, warum im Gorlebener Hinterland dauernd der Teufel los ist und wieso im Kreis Lüchow-Dannenberg immer wieder was im Busch ist. Das liegt einfach daran, daß wir alle, Sie und ich, dauernd behandelt werden, als ob wir unsere Hose mit der Kneifzange zumachen. Beispiel: Der Salzstock Gorleben ist als atomares Endlager nach Ansicht zahlloser Wissenschaftler absolut ungeeignet; ein berühmter Geologe hat gerade gesagt, also, er würde von dieser Gesellschaft keine einzige Aktie kaufen. Statt jetzt aber auf dieses Endlager-im-Salzstock-Projekt zu verzichten, verzichtet Herr Albrecht auf seine Wiederaufbereitungsanlage. Und da fragt man sich ja dann doch wohl: Ist es denn nicht bekloppt, die Kuh Wiederaufbereitung
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zu schlachten, wenn die Sau Endlager krank ist, und dann locker zu behaupten, das alles diene bloß der Fleischbeschaffung?« Als die Landesregierung die in Wirklichkeit keineswegs geschlachtete, sondern nur vorübergehend versteckte Kuh in Dragahn auf die Weide ließ, versprühte Riedlinger abermals seinen beißenden Hohn. »Sie glauben ja wohl selber nicht, daß die Grenze zwischen Ackerbau und Viehzucht ausgerechnet zwischen Gorleben und dem neuen Standort Dragahn verläuft! Atomare Verschmutzung, klimatische Veränderung und Zerstörung der Landschaft… das hat zwar Bauer Schulze zu befürchten, aber Bauer Klüßmeier gleich um die Ecke ist dagegen immun? Ehrliche Landwirte nennen das schlicht verarschen!« Irgendwann aber war er’s leid – und ungefähr seit 1983 ist Riedlinger, was allerdings außer seinen engsten Freunden keiner weiß, in seiner abgrundtiefen Enttäuschung über die »verlogenen Bonzen« dann einer derer geworden, die nur noch einem »gewaltsamen Kampf« Aussicht auf Erfolg zubilligen. Das fing an mit dem Niederreißen von Bauzäunen und dem Verstopfen von Toiletten in Polizeidienststellen, »so daß den Bullen die eigene Scheiße hoch kam« – und das führte nur wenig später zum »Abfackeln« von Baggern und ersten Attacken auf Bahneinrichtungen. Die waren längere Zeit hindurch noch ziemlich dilettantisch – aber das, hat Riedlinger beschlossen, soll ab heute nacht anders werden. Der verbohrte, verbissene Peter Schneider, dem Lars Riedlinger im Grunde überhaupt nicht über den Weg traut, auf den er als technischer Idiot aber auch nicht verzichten kann, hat die Schweiß- und Schneideapparatur inzwischen neben den Schienen aufgebaut; bis jetzt hat er’s fast ohne Geräusch geschafft. Das Brennschneidgerät ist über Schläuche mit beiden Flaschen verbunden, und aufgedreht, wie Schneider meint, hat er auch. Drei-, vier-, fünfmal läßt er das Feuerzeug aufflammen, aber nichts passiert. »Nun mach doch endlich!« flüstert Lars Riedlinger ungeduldig. »Gib Gas!« »Kommt nix!« flüstert Schneider. »Das verdammte Ding funktioniert nicht!«
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Lautlos und im Tiefflug schwebt ein großer Vogel von Süden nach Norden quer über die Bahnstrecke. Riedlinger registriert nur einen flüchtigen Schatten, der scheinbar keine Gefahr bedeutet. Strix uralensis – diesen Namen hören er und Schneider erst zehn oder zwölf Stunden später. Der ziemlich hell gefärbte Strix uralensis, der den Namen Habichtskauz der Ähnlichkeit seines Flugbilds mit dem des »echten« Habichts verdankt, war nach Überzeugung der Ornithologen vor Hunderttausenden von Jahren in den nördlichen Nadel- und Mischwäldern lediglich eine geographische Variante des deutlich kleineren Waldkauzes. In den Eiszeiten aber wurden beide Populationen voneinander isoliert und mauserten sich zu neuen Arten, die sich sogar an den Überlappungszonen ihrer Verbreitungsgebiete nicht mehr kreuzten. Soweit, sinngemäß, Brehms Tierleben. Erich Munkhaus, kalt und klamm unter dem Nistbaum, erinnert sich noch an jedes Detail. Er hatte in seinen Naturschutzzeitschriften gar nichts gefunden und am Ende dort nachgeschlagen, um gut gerüstet zu sein, bevor er am Tag nach seiner Beobachtung den zuständigen Revierförster Thon ins Vertrauen zog. Walter Thon indessen, der Munkhaus öfter im Wald getroffen und bei einigen Gläschen in der Kneipe durchaus auch schätzengelernt hatte, zog im Forsthaus, dem Ort der Begegnung, seinerseits eine umfangreiche Fachliteratur zu Rate. »Im Gegensatz zu ihren ehemaligen Vettern, den Waldkäuzen, die bei uns nach wie vor in größerer Anzahl anzutreffen sind, müssen wir bei den Habichtskäuzen leider bald mit dem vollständigen Aussterben rechnen«, zitierte er. »In kleinen Beständen ist der Strix uralensis inzwischen lediglich noch im Norden Europas, den nordasiatischen Taigagebieten und ganz vereinzelt in einigen Balkanregionen sowie den Gebirgen im Nordwesten Chinas anzutreffen…« Munkhaus nickte. »Aber jetzt mit einemmal«, fuhr Thon fort und hob unheilverkündend die Stimme, »jetzt plötzlich sollen sich zwei oder sogar drei Paare ausgerechnet an unserer verdammten Bahnlinie eingenistet haben?«
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»Richtig!« sagte Munkhaus tapfer. »Vielleicht, weil sie eine Vorliebe für Millirem und radioaktive Strahlung haben?« Munkhaus lachte pflichtgemäß, leicht meckernd, und hob die Schultern. »Aber Sie haben sie gesehen?« »Ja. Mindestens drei – eindeutig!« Thon wollte und wollte es nicht glauben. »Seit wann machen Sie denn wieder Nachtmärsche?« Munkhaus blätterte nervös in der Literatur. »Ich mach seit langem keine Nachtmärsche mehr, das ist mir… aber hier, lesen Sie doch selber!« Thon setzte die Brille wieder auf, die er zwischenzeitlich abgesetzt hatte. Es kann immer wieder beobachtet werden, las er, daß Strix uralensis auch am Tag der Jagd nachgeht. Er sah Erich Munkhaus kopfschüttelnd an. »Glauben Sie, damit können Sie mich beeindrukken?« »Es beweist zumindest, daß ich recht haben kann!« erklärte Munkhaus allmählich störrisch. »Munkhaus, Munkhaus«, meinte der Förster schließlich kopfschüttelnd, »also, bevor ich da die Pferde scheu mache – ich meine, bevor ich zu Ihrem höheren Ruhm die Naturschutzbehörde informiere und mich dabei lächerlich mache… also, da müßten Sie mir schon etwas mehr bieten!« »Was denn?« fragte Munkhaus. »Denken Sie mal nach!« sagte Thon lakonisch. Und nahm seinen grünen Hut zum Zeichen dessen, daß er die Audienz als beendet betrachtete. Im Grunde habe ich Thon seitdem längst genug geboten, sagt sich Munkhaus verbittert. Er denkt unter seiner Buche darüber nach, wie und weshalb er sich dazu durchgerungen hat, am Ende doch wieder auf einen der ihm so unangenehmen »Nachtmärsche« zu gehen. Im Verlaufe mancher »Tagmärsche« in den Wochen nach der Entdekkung der Vögel hatte er zwar etwas gefunden, was er gesucht hatte, nämlich etliche ganz typische Habichtskauzfedern, aber dieser Ignorant Thon hatte sie nur achtlos beiseite gelegt. »Klar, vom Kauz sind
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sie – dazu muß ich nicht Revierförster sein, um das zu sehen. Bloß, Munkhaus – eine Sache müßten Sie sich ja eigentlich selbst sagen: Seit wann ist eine vergammelte Feder der Beweis dafür, daß sie tatsächlich von einem ganz bestimmten Vogel verloren worden ist, in diesem Fall vom Uralensis?« »Ja, aber was wollen Sie denn noch?« fragte Munkhaus, völlig irritiert und verzweifelt. »Denken Sie nach!« antwortete Thon abermals. »Sie haben ja Zeit genug, Herr Munkhaus – wenn’s sie wirklich gibt, werden Ihnen die verdammten Strixe irgendwann schon noch mal ins Visier kommen!« »Visier?« wiederholte Munkhaus ratlos. »Ja. Oder Sucher!« erklärte Thon und ging ein weiteres Mal seiner Wege. Also Fotos. Erich Munkhaus, der inzwischen längst mit einer ehrenvollen Erwähnung seines Namens in der nächsten Auflage des Buchs »Abenteuer Naturschutz in Deutschland« gerechnet hatte, entwickelte zu seiner eigenen Verwunderung einen fast schon pathologischen Ehrgeiz. Er verbrachte, bewaffnet mit einer alles andere als preiswerten, wenngleich schon etwas angejahrten Contax-Kamera, fortan seine Tage vom ersten bis zum letzten Büchsenlicht in der Nähe jenes Nistbaumes – und Abend für Abend fuhr er enttäuscht nach Hause: seine Habichtskäuze hatten es anscheinend vorgezogen, fortan wie die Mehrzahl aller Eulen doch besser bloß nachts zu jagen. Ein einziges Mal, so glaubte er, hatte sich bei fast schon voll ausgebildeter Finsternis einer dieser großen Vögel sehen lassen – aber da hatte Munkhaus die Kameraapparatur schon eingepackt und war auf dem Heimweg. Munkhaus hatte letztlich buchstäblich keine Wahl mehr: es blieb ihm nur noch die kostspielige Flucht nach vorn. Er mußte Fotos der scheuen Vögel beibringen, und das ging nach Lage der Dinge nur, wenn er ein Nachtsichtgerät mit seiner Kamera koppelte. Also reiste er mit der Bahn nach Lüneburg und ließ sich von einem Optiker beraten – und als er dessen Laden wieder verließ, hatte er diese wahnsinnig teure Orion 80 B mit dem Oriogon, einem sogenannten Relaisobjektiv, fest bestellt. Zum Fotografieren mußte man die Con-
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tax quasi über das Oriogon mit dem Night Scope verbinden – und das alles hörte sich zwar etwas kompliziert an, war jedoch, wie der Fachmann reichlich leichtsinnig bei seiner Ehre schwor, auch bei Dunkelheit mit wenigen Handgriffen zu bewerkstelligen. Praktisch mußte, wenn fotografiert werden sollte, beim Beobachten eines Zielobjekts der Contax-Sucher als Okularbaugruppe für das Nachtsichtgerät verwendet werden. Es tat Munkhaus nahezu körperlich weh, sein Konto zu plündern und dem Lüneburger Optiker, der die Apparate in wenigen Tagen beschafft hatte, diesen Stapel Geld bar auf den Tresen zu packen. Aber dann überwand er auch seinen letzten inneren Schweinehund und ging – mit Schokolade, Dextroenergen, warmen Handschuhen und langen Unterhosen im Sommer – auf die nächtliche Strecke. Eine Strecke voller Grauen und Grusel: knackende Äste, all die tausend unheimlichen Geräusche eines nächtlichen Waldes, fiepende Gespenster und vampirhafte Schatten säumten des früher so tapferen Rentners Weg. Jetzt aber hat er, in all seinem Zorn, die subjektiv empfundene Kälte und selbst die Ängste vergessen. JETZT werde ich’s Herrn Thon beweisen! sagt er sich grimmig, jetzt, unter der Schicksalsbuche… zum tausendstenmal. Es mag ja sein, daß Thon so reagieren mußte, wie er reagiert hat – aber wart’s ab, Vögelchen, morgen hast du dein Foto, ein für allemal! Ausgerechnet in diesem Moment jedoch hat er plötzlich ein abgrundtief schlechtes Gewissen. Er erinnert sich an eine Geschichte, die er neulich fasziniert gelesen, dann aber offensichtlich, wohl wegen seiner nächtlichen Phobie, wieder verdrängt hat – eine Geschichte über die Bewachung von gefährdeten Kranichen im niedersächsischen Raum Mölln durch freiwillige Naturschützer des World Wildlife Fund. Da in Mölln hausen die Leute wochenlang, bei Tag und Nacht, in einem Campingwagen, werden naß und frieren, legen sich mit Randalierern an, verzichten oft genug auf Reisekosten und ihre sowieso lächerlichen Tagesspesen – und das alles bloß, um den größten deutschen Schreitvogel und dessen Brutstätten gegen zudringliche Spaziergänger, Eiersammler, Liebespaare und sonstige Störenfriede zu schützen! Er dagegen denkt hier bloß an seinen – na ja, Ruhm; er hat ein halbes Vermögen für eine profimäßige Fotoausrü-
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stung ausgegeben und nichts im Sinn, als Thon seinen »Beweis« zu liefern… War’s nicht viel eher seine verdammte Pflicht, darüber hinaus und vor allem ebenfalls Wache zu schieben – Wache für die Habichtskäuze, von deren Existenz hier draußen, bei all ihrer Existenzgefährdung, ja zumindest er überzeugt ist? Haben diese Vögel, vergleichbar mit den Möllner Kranichen, eigentlich nicht absolut Vorfahrt? Eine Kostenfrage, denkt Munkhaus widerwillig und mit sich selbst hadernd. Schließlich kann er, beim besten Willen, kaum noch mal fünfzehn oder zwanzig Mille ausgeben, um sich auch noch einen Campingwagen zu kaufen – eine Unterstützung durch die untere Forstbehörde hat er ja, wenn nicht ein Wunder geschieht, nicht zu erwarten. Gleich darauf allerdings muß er sich eingestehen, daß er’s natürlich doch könnte; daß er letztlich weder Erben noch Sorgen, statt dessen aber immer noch beinahe dreißigtausend Mark auf dem Konto hat und deshalb auch keine Ausrede. Daß er eine gute Rente kriegt – und daß der vor allem in seiner Brut- und Aufzuchtzeit erstaunlich tapfere Strix uralensis, der mit dem Schlagen von Mäusen, jungen Kaninchen, sich zu stark vermehrenden Vögeln und Fröschen, aber auch kranken Birk- und Auerhühnern maßgeblich zum »ökologischen Gleichgewicht« beiträgt, den nötigen Schutz vor Störenfrieden einfach haben muß. Gerade hier im Wendland, wenn er sich die Gegend schon aussucht – und Schutz nicht nur vor hundert lärmenden Familien mit Kindern, sondern, zusätzlich, vor tausend und abertausend noch lauteren Atomkraftgegnern! Trotzdem – finanziell tat’s ihm fürchterlich weh, überlegt sich Erich Munkhaus. Mit dem Campingwagen würd’s ihm bestimmt ebenso gehen wie mit dem Night Scope: der wird bestimmt noch teurer sein, als er sich’s vorstellt. Unter dem Strich kostet die Sache am Ende sicherlich nicht viel weniger als vierzig-, fünfundvierzigtausend – der helle Wahnsinn! Und so schafft er es schließlich doch noch ein allerletztes Mal, diese quälende Sache zu verdrängen oder wenigstens vor sich herzuschieben: exakt um zweiundzwanzig vor zwei ist er wieder ganz aufs Fotografieren konzentriert.
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Bisher, allerdings, hat er immer noch nichts im Sucher der Kamera, in dem er durch die zwischengeschaltete Bildverstärkerröhre die Umwelt grün, aber auch geradezu überdeutlich erkennt – nichts, was an Habichtskäuze erinnert. Elektronenoptisch verstärkt erkennt er, wenn er das binokulare Gerät nach oben hält, alle Blätter einzeln und die Schrunden in dem großen, runden Loch im mächtigen Stamm sowieso. Zur Bahnstrecke hin, glaubt er, kann man jeden Tautropfen auf den Telegrafendrähten erkennen. Er läßt das Gerät sinken und wischt sich mehrmals über die schmerzenden Augen. Allmählich wird’s ziemlich kritisch – er kann die fast drei Kilo schweren Apparaturen kaum noch in der Hand halten. Den großen Vogel, der von der anderen Seite der Eisenbahnstrecke her im Tiefflug gekommen ist und dem, von keinem bemerkt, ein zweiter gefolgt ist, hat er bisher nicht gesehen. Aber den, der in diesem Augenblick aus seinem Nistloch kommt, sieht er sofort – und damit, endlich, hat Erich Munkhaus das Glück vor Augen, auf das er im Grunde gar nicht mehr zu hoffen gewagt hatte! Der Revier- und Balzruf eines Habichtskauzes – es muß das Männchen von der anderen Seite sein – ertönt um zwei Uhr elf. Ein dumpfes Buuh, das zum schauerlichen Buhuu wird und minutenlang nicht endet, bis das helle Chraik eines Weibchens dazwischenfährt. Und dann sind da zwei hintereinander fliegende Schatten, scharf abgehoben gegen den klaren Himmel, unmittelbar über ihm, dann, etwas weiter entfernt, ein weiterer – und aus dessen Richtung ertönt Sekunden später der klagende, schrille, fiepende Todesschrei eines Beutetieres! Für die Ohren von Munkhaus wie Musik – der letzte Schrei eines jungen Nachtraubtieres… Erich Munkhaus knipst und knipst und knipst – der Film ist bald voll. Aber jetzt bleiben die Vögel – vier müßten’s sein – ja bestimmt hier im Revier neben den Schienen, sagt er sich begeistert. Und selbst, wenn die Aufnahmen bis jetzt nichts geworden sind – irgendwann werden wenigstens die beiden, die gerade balzen, sich artig auf einen Ast nebeneinander setzen und sich nach Kräften aufplustern, eigens für ihn, ihren Porträtfotografen…
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Der Auslöser sperrt. Der Film ist endgültig voll. Munkhaus legt einen neuen ein und braucht dafür sicher die doppelte Zeit, weil seine Hände zittern wie Espenlaub. Urplötzlich aber – sein Herz bleibt für eine Zehntelsekunde tatsächlich stehen – ein scharfer, klirrender, dann scheppernder Lärm in der nächtlichen Stille. Metall auf Metall. Heftiges, nervöses Flügelschlagen: zwei Habichtskäuze, soeben in Fast-Reichweite des Fotografen gelandet, heben sofort ab und starten durch. Erich Munkhaus könnte schreien vor Wut und bleibt dennoch still, als die beiden Vögel verschwunden sind. Er kann’s einfach nicht fassen. Während Schneider immer noch versucht hat, den vermutlich in die Düse des Brennschneidgeräts geratenen Dreck rauszupulen und die autogene Apparatur in Gang zu bringen, hat sich Riedlinger ungeduldig an das Lockern der Gleisbefestigungsschrauben gemacht. Das ist auch mit dem halbautomatischen Schlüssel eine Heidenarbeit, die wahrhaftig Bärenkräfte erfordert, und schon bei der allerersten verrosteten Schraube hatte Riedlinger das Gefühl, daß ihm im nächsten Moment das Gehirn platzt. Und dann ist ihm, gleich bei der dritten, die linke Hand einfach vom Griff gerutscht… er hat das Gleichgewicht verloren und ist nach vorn und mit voller Wucht in die Schottersteine gestürzt, und in all seinem wahnsinnigen Schmerz hat er dennoch gehört, wie der schwere Schlüssel hinter ihm scheppernd auf die Schienen fiel. Es gab einen Heidenlärm. Metall auf Metall. »Was machst du denn?« zischt Schneider erschrocken. »Scheiße…« stöhnt Riedlinger. »Ich glaube, mein Knie ist kaputt!« »Aufhören…?« fragt Schneider verstört. »Scheiße – nein!« stöhnt Riedlinger, viel zu laut. »Weitermachen – ich glaube, du spinnst!« »Mann, schrei doch nicht so… wenn einer den Krach gehört hat…«
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»Leck mich am Arsch!« Diesmal schreit Riedlinger tatsächlich. Aber dann packt er den Schraubenschlüssel und dreht mit schmerzverzerrtem Gesicht weiter. (Der Verfasser weist an dieser Stelle darauf hin, daß auf die Darstellung einer Reihe von Einzelheiten des Bahnattentates bei Dannenberg Ost aus verständlichen Gründen verzichtet wird, damit keine unerbetenen »Nachahmer« auftreten, und daß aus denselben Gründen sowohl der Tatbestand als auch Einzelheiten der späteren Fahndungs- und Ermittlungsarbeit in einigen Punkten unrichtig oder verschlüsselt geschildert werden.) Sobald Munkhaus den Schrei, der ihm das Blut in den Adern erstarren ließ, verkraftet hat, setzt er vorsichtig, unendlich vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Die Ausrüstung – Orion, Oriogon, Kamera – hat er in der Hand. Schußfertig, sozusagen. Der Sandweg steigt an, aber dann geht’s wieder abwärts und gleich noch mal hoch. Nach gut zweihundert Metern sieht Munkhaus schemenhaft einen Mann auf den Geleisen. Er windet sich durch die Brombeerranken, näher ran an die Bahn, reißt sich dabei todsicher die Jacke kaputt und achtet nicht darauf. Es sind ja zwei! erkennt Munkhaus erschrocken. Er würde in dieser Finsternis glatt an ihnen vorbeilaufen, wenn er nicht wüßte, daß da überhaupt jemand ist. Und mit einemmal wird’s hell. Aus der Entfernung beobachtet zweimal punktförmig hell: ein Feuerzeug schnappt auf, und aus dem Brenner eines Schweißgeräts springt eine grelle bläulichweiße Flamme. Munkhaus hört deutlich auch das Zischen des Brenners. Munkhaus hätte beinahe geschrien, und er hält sich krampfhaft die Hand vor den Mund. Die Szene ist jetzt auch für ihn klar und eindeutig: einer der beiden Männer – der, der einen grauen Parka trägt – dreht Schrauben los, der andere im dunklen Pullover zerschneidet allenfalls zwei Meter neben ihm eine Schiene… Eindeutig: Ein Attentat auf die Bahn! Bloß hier weg! denkt Munkhaus. Bahnattentäter würden jeden Zeugen ihrer Tat sofort ausschalten! Mit einem noch so fürchterli-
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chen Auftritt vor Gericht wär’s dann nicht mehr getan – dazu würde es gar nicht mehr kommen! Trotzdem: Er bleibt. Er schießt sogar ein Foto. Und stellt trotz aller Panik eine in dieser Situation fast geniale Überlegung an: die beiden müssen ihr Gerät mit irgendeinem Transportmittel hergeschafft haben – schleppen kann man das nicht! Außerdem müssen sie von der anderen Seite gekommen sein – aus der Himmelsrichtung Hitzacker und Göhrde, denn sonst hätte er sie vorher hören müssen! Zentimeter um Zentimeter schleicht sich Munkhaus, abermals durch die Dornenranken, zurück zum Sandweg. Weil der Schneidbrenner ziemlich laut zischt, ist es bestimmt nicht mehr ganz so gefährlich… immerhin, wenn Munkhaus entdeckt werden würde und wegrennen müßte, hätten sie ihn bestimmt nach dreißig Metern am Arsch. Eine Steigung nach der anderen, dazwischen Gefälle – fürs Herz reichlich strapaziös. Dann entdeckt Munkhaus, vom Scheitelpunkt einer der Steigungen aus, einen helleren und ziemlich großen Gegenstand auf der anderen Seite des Schienenstrangs. Erkennen kann er erst mal nichts – genaueres sieht er erst im Sucher der Contax. Er drückt abermals auf den Auslöser, bevor er noch einen klaren Gedanken fassen kann… Grün und überdeutlich: ein Jeep. Augenscheinlich reichlich vergammelt. Grün auf weiß erkennt Munkhaus überdeutlich die Nummer des Fahrzeuges: DAN – XX 54. Er hat plötzlich eine Erleuchtung oder vielleicht auch nur überreizte und überstrapazierte Nerven – sieht plötzlich, wie grün auf tiefschwarz und im Telextempo ein Bildschirmtext auf dem klaren Himmel erscheint… Annähernd kann gelten, daß bei Viertelmond ein Mensch auf dreihundert bis dreihundertfünfzig Meter, ein Pkw auf vierhundert, vierhundertfünfzig Meter noch gut zu erkennen ist. Absatz. Aber gleich weiter im Text der Night-Scope-Gebrauchsanleitung: Das Nachtsehfernrohr Orion 80 B kann eingesetzt werden bei Revierschutz, Jagd, Beobachtung nächtlich aktiver Tiere, Objektschutz, Polizei, Zollfahndungen, Verbrechensbekämpfung und vielen Aufga-
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ben mehr. Der Gebrauch von Colorfilmen erübrigt sich, wenn nicht speziell das Grün des Leuchtschirmbilds dargestellt werden soll. Munkhaus, mehr als verwirrt, schüttelt den Kopf. Die grüne Schrift verschwindet vom schwarzen Himmel, ohne Leuchtspuren zu hinterlassen. Erich Munkhaus gebraucht tatsächlich Colorfilme. Die Firma Foto Redlich, Dannenberg, bietet dazu den attraktiven Service an: Entwicklung und Abzüge in vier Stunden. Und wenn’s soweit ist, hat sich Munkhaus überlegt, kann’s ihm gar nicht schnell genug gehen, bis Thon die Fotos kriegt; die Redlich-Servicebeutel hat er deshalb immer dabei. Er läuft, schneller und unvorsichtiger als zuvor, über den Sandweg zurück – an den beiden Männern vorbei, die immer noch schweißen und schrauben, am Nistbaum der beiden Habichtskäuze vorbei, in Richtung Fahrrad. Plötzlich hört er, wie einer »Moment mal!« sagt. Ein Werkzeug fällt hin. Munkhaus huscht hinter einen Busch. Ein Mann kommt von der Bahn, schleicht an ihm vorbei, geht noch ein Stück weiter – und kommt zurück. Munkhaus ist halb wahnsinnig vor Angst. Er wagt zehn Minuten lang nicht, sich zu rühren. Dann erst robbt er weiter zum Fahrrad. Er verstaut seine Apparate, indem er sie einfach in den Rucksack wirft, springt aufs Rad und rast davon, als sei der Satan persönlich hinter ihm her. Die Bahnattentäter arbeiten weiter. Riedlinger war vorhin drauf und dran, alles einfach stehen- und liegenzulassen und abzuhauen. Dieser Schneider ist bekloppt, sagt er sich – Wahnsinn, wie der da mit entsicherter Pistole durch die Gegend schlich! Also, ich mach die Geschichte hier gerade noch mit ihm fertig, aber von nun an läuft nix mehr – ein für allemal! »Ich glaub immer noch, da ist einer gewesen!« sagt Schneider plötzlich. »Leck mich am Arsch!« flüstert Riedlinger grimmig. Er ahnt ja nicht, daß der Verrückte ausnahmsweise recht hat.
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Am Ortsrand Dannenberg muß Munkhaus absteigen. Muß sich links an die Brust greifen, in panischer Angst, mit weit aufgerissenen, entsetzten Augen… er schnappt verzweifelt nach Luft. Das Herz stolpert: einige viel zu rasche Schläge rutschen exakt ineinander. Und müde ist er – sterbensmüde. Trotzdem zwingt er sich noch dazu, den Film aus der Contax zu nehmen und in den Servicebeutel für die Schnellentwicklung zu stecken. Er fährt zu Foto Redlich, wirft ihn in den Kasten mit der Aufschrift EILAUFTRÄGE und fährt in seltsamen Schlangenlinien nach Hause. Am Ende weiß er dann zwar nicht mehr, wie er in seine Wohnung kommt; das, was dort noch zu tun ist, erledigt er wie in Trance. Aber zwei Gedanken wollen und wollen ihm bis zuletzt nicht aus dem Kopf: Erstens, es ist und bleibt seine verdammte Schuldigkeit als Mensch und Staatsbürger, morgen gleich in aller Herrgottsfrühe zur Polizei zu gehen und trotz und alledem eine Aussage zu machen. Zweitens, vorgestern mittag stand dieser Jeep DAN – XX 54 vor der Dorfkneipe in Krummwedel, und wahr und wahrhaftig nichts deutete daraufhin, daß seine beiden Insassen ihm und den Habichtskäuzen die Tour heute nacht derart vermasseln würden. Der Anruf erreicht den Aufsichtsbeamten im Bahnhof Dannenberg Ost um fünf Minuten nach fünf – achtunddreißig Minuten bevor der erste Zug des Tages in Richtung Lüneburg abgefertigt werden muß. »Guckt mal nach bei Kilometer neunundvierzig sieben«, sagt eine ruhige Männerstimme, offenbar durch ein über die Sprechmuschel gelegtes Taschentuch – eine Stimme ohne jeden erkennbaren Akzent. »Und falls schon ein Zug unterwegs ist, schlagt mal lieber gleich Alarm! Wir melden uns wieder… tschüs dann einstweilen…« Der zunächst mäßig erschrockene Aufsichtsbeamte holt einen Kollegen aus dem Bett, der in der Nähe von Kilometer neunundvierzig wohnt, und der geht dann gleich los und entdeckt diese »Sauerei«. Rast zurück, ruft aus seinem Haus an und brüllt fast ins Telefon. Zu dem Zeitpunkt hat tatsächlich schon ein kurzer Güterzug Lüneburg verlassen; er hat Göhrde und Leitstade passiert und wird vor Harlingen gestoppt.
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Binnen weniger Minuten ist dann im ganzen Regierungsbezirk der Teufel los. Bahn-, Schutz-, Bereitschafts- und Kriminalpolizei machen mobil, und auf Trab gebracht werden dabei auch der Kriminalhauptkommissar Heinz Mandel, der bei den »Antis« als eine Art »Familienbulle« gilt, seit er einen gewaltsamen Todesfall nach einer Schlägerei erstaunlich behutsam und gerecht aufgeklärt hat, sowie sein ständiger »Schatten«, Hauptmeister Würtz. Ein Krisenstab mit allen Beteiligten, vor allem auch der Bundesbahn, wird fernmündlich zusammengestellt, und seine Mitglieder rasen sternförmig und in zivilen Funkwagen nach Dannenberg. Irgend jemand kommt auf die Idee, unverzüglich auch die DWK, die DBE sowie die unvermeidliche DNA an den Tatort zu zitieren. Die Vertreterin der DNA ist eine Frau. Eine von ganz wenigen im Gesamtlager »pro Atom«. Ina Sieloff, siebenunddreißig, rothaarig und attraktiv, hat bei ihrem überhasteten Aufbruch gleich das Gefühl, daß die Sache in mehrfacher Hinsicht nicht koscher ist. Andererseits allerdings denkt sie: Schön, daß es endlich mal wieder was zu tun gibt! Bei Erich Munkhaus schrillt der Wecker, den er in seinem Zustand doch noch gestellt hatte, um sieben. Der Rentner kommt aus unendlichen Tiefen, wirklich wie aus einer Art Bewußtlosigkeit, stellt den Lärm ab und sackt sofort wieder zurück. Walter Thon nähert sich um zehn seinem Revier, bis dahin ahnungslos; eine Menge Schreibkram war vorher zu erledigen. Danach ist er noch zur Dannenberger Post gefahren, wo ihm eine seltsame und fast schon hektische Unruhe auffiel, und um neun Uhr neunundfünfzig sieht er, aus dem Ort kommend, bereits von weitem die Absperrung der Bereitschaftspolizei – dort, wo die Forststraße an der Bahn entlang rechtwinklig abknickt und der Sandweg weiter geradeaus führt. Vor der Absperrung hat sich eine größere Menschenmenge versammelt. Der Förster schaltet in den zweiten Gang und fährt langsam weiter. Den Radfahrer, der wild strampelnd in dieselbe Richtung fährt, hätte er beim Überholen fast nicht erkannt. Dann aber bleibt er stehen.
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»Munkhaus!« staunt er, als er das Fenster runtergekurbelt hat. »Wie sehen Sie denn aus?« Käsebleich, eingefallen – und japsend. »Ein… Bahnattentat!« japst Munkhaus. »Die haben, ich mein – da sind Gleise durchgeschnitten worden, und ’ne Riesenmenge Schwellen… Schwellenschrauben sind losgeschraubt worden…« »Oh, Mann…« sagt Thon erschrocken. »Woher wissen Sie das denn?« »Ich… ich war bei der Polizei…!« Das ist zumindest die halbe Wahrheit, denn da hat er, in Umrissen, noch mal das erfahren, was er schon wußte, bevor sie ihn wieder weggeschickt haben, weil sie’s eilig hatten. Immerhin: Er hatte sich wirklich wohl etwas geschraubt ausgedrückt. »Kommse«, entscheidet Thon, »stellnse Ihr Rad ab – steigense ein…« Munkhaus schließt sein Rad nicht mal ab und fällt stöhnend auf den Beifahrersitz. Dann die Absperrung. »Wo wollen Sie hin?« fragt ein Oberkommissar. »Ich bin hier Revierförster«, sagt Thon und hat schon seinen Dienstausweis parat. »Ich kann da vielleicht helfen, lassen Sie mich…« »In Ordnung!« sagt der Beamte. Seine Leute treten zur Seite – Thon und Munkhaus sind durch. »Also – rekapitulieren wir mal: Die Täter rufen zunächst bloß an, um den Standort der Falle bekanntzugeben«, sagt im Mittelpunkt des Geschehens ein großer, energisch wirkender Mann im hellen Trenchcoat. »Sie stellen da noch keinerlei Forderungen und sind ernstlich interessiert, daß die Falle tatsächlich entdeckt wird…« »Sicher, sicher«, sagt ein Polizeirat neben ihm, auf jeden Fall ein hohes Tier mit Litzen und Sternen, und es klingt etwas spitz. Er und dieser Große sind in einer Gruppe von acht Männern anscheinend die Bosse, die von ihren Leuten förmlich abgeschirmt werden. »Aber das kennen wir doch… ich weiß im Moment eigentlich nicht…« »Ach, wissen Sie, ich gelte wohl kaum ohne Grund als Verfechter eines methodischen Vorgehens!« fährt der Mann im hellen Mantel
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unbeirrt und mit heller, scharfer Stimme fort. »Es erscheint mir jedenfalls interessant, daß die Forderung, die Transporte von Kernkraftmaterialien nach Gorleben einzustellen, andernfalls – na ja, daß die eigentliche Forderung erst drei Stunden später kommt. Dazu meine erste Frage: Warum investiert der Anrufer zwei Gebühreneinheiten, wenn’s eine getan hätte? Beziehungsweise, warum geht der mutmaßliche Täter das für ihn zusätzliche, total überflüssige Risiko ein, durch einen zweiten Anruf per Fangschaltung ermittelt und erwischt zu werden?« »Weil er nicht wissen kann, daß er sich in dem Moment, in dem unsere Fangschaltung steht, tatsächlich sofort selber ans Messer liefert!« platzt ein Techniker mit dem Emblem der Bundespost am Overall raus. »Sind Sie da wirklich so zuversichtlich, Herr Broth?« sagt der Große stirnrunzelnd. »Absolut!« »…sich Ihrer Sache so sicher, daß Sie meinen, Sie könnten einfach dazwischen quatschen?« »’tschuldigung…«, murmelt Broth. Munkhaus hört mit offenem Mund zu. Er hat total vergessen, was er hier eigentlich wollte, nämlich eine wichtige Aussage machen, so schwer’s ihm auch fällt – denn als Gerechtigkeitsfanatiker, der er seit eh und je gewesen ist, hat der zusammengestauchte Techniker seine uneingeschränkte Sympathie, die ihn von allem anderen ablenkt. Er sieht, daß der arme Mensch, ein kraushaariger Junge mit Schlips und Kragen unter den Arbeitsklamotten, einen roten Kopf gekriegt hat und sich klammheimlich aus der geschwätzigen Runde verdrückt. Einer seiner Assistenten, ein sogar noch jüngerer Mann als er, gleichfalls im Overall, schaut ihm mitfühlend nach und wirft dem ziemlich arroganten Trenchcoat-Typ dann hinterrücks einen nahezu haßerfüllten Blick zu. »Also, ich war ja damals gerade in Karlsruhe, als dieser X die Bahn unsicher machte«, sagt der Polizeirat inzwischen ungerührt, »dieser Monsieur X, der zum Schluß den Italia-Expreß entgleisen ließ. Und wenn der nicht in – in der JVA Bruchsal, glaub ich, im Knast säße… also, ich würd sagen, der als der Gott sei Dank einzige Attentäter, der
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so was in den vergangenen zehn oder fünfzehn Jahren in der Bundesrepublik zustande gebracht hat…« Der andere schüttelt den Kopf. »Erstens ist das keine Antwort auf meine Frage, Herr Bieber, zweitens hat Monsieur X ja seinerzeit wohl bloß einfach Metallbügel in die Oberleitungssysteme gehängt…« »Nee, nee«, widerspricht Bieber, »gerade auch beim Italia-Expreß waren Schwellenschrauben gelöst und Gleisabstände verbreitert worden!« »Aber der Mann hatte finanzielle Forderungen gestellt, was hier eindeutig nicht der Fall ist!« »Sicher, bis jetzt noch nicht«, gibt Bieber zu. »Aber was nicht ist, kann ja noch kommen!« Munkhaus sieht von einem zum anderen. »Na schön – lassen wir das!« entscheidet der Zivilist. Er zündet sich eine Zigarette an. »Zweite Frage… wozu hier der enorme technische und außerdem Kraftaufwand von einunddreißig gelockerten Schrauben und vier durchgetrennten Schienenprofilen…« »Fünf!« korrigiert ein hagerer Mittfünfziger, augenscheinlich von der Bundesbahn. »…von fünf durchgeschnittenen Schienenprofilen, wenn im Sinne einer Demonstration eine einzige Schraube, ein einziger Schnitt genügt hätte?« »Um Eindruck zu schinden«, erklärt Bieber. »Sie wollen demonstrieren, was sie können…« »Sehr richtig. Und das ist ja in der Tat eine Menge, möchte ich meinen! Demonstrieren ist übrigens gut…« Er vertieft sich, glucksend lachend, in ein Meßtischblatt, das ihm Bieber erläutert; den paar Wortfetzen nach geht’s um den derzeitigen Stand der Spurensicherung. »Wer ist das eigentlich?« flüstert Munkhaus Thon zu. »Weiß ich nicht!« sagt Thon achselzuckend. Und stößt seinerseits einen massigen Mann ein paar Meter weiter an: »Wissen Sie, wer das ist, Herr Mandel?« »Der Leitende Kriminaldirektor Ehrmann«, sagt Heinz Mandel leise. »Vom Landeskriminalamt – der Leiter der Sonderkommission…«
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Mandel, Spezialist für vertrauliche »Hintergrundgespräche« mit der Gegenseite und insofern derzeit nur in einer Statistenrolle, sieht nacheinander den Revierförster und Ehrmann schräg von der Seite an. Übertriebene Ehrfurcht drückt der Blick nicht gerade aus. Auch das kriegt Munkhaus mit. Und mit einemmal hat er einen Heidenbammel davor, sich diesem Herrn Ehrmann, diesem As der deutschen Kriminalpolizei, anzuvertrauen… mit einemmal erscheint’s ihm viel sinnvoller, von vornherein die Klappe zu halten oder sogar… O Gott! denkt er plötzlich. Die Klappe muß ich ja auf jeden Fall halten! Die setzen doch bestimmt eine Belohnung aus für die Aufklärung des Verbrechens; bei Terrorismus im engeren und weiteren Sinn sind sie außerdem immer irrsinnig großzügig! Dreißigtausend, fünfzigtausend, hunderttausend; also, ich könnt’s ja wirklich gebrauchen, und deshalb muß ich unbedingt warten, bis über Belohnung entschieden worden ist! Da läßt Ehrmann das Kartenblatt sinken. »Also – der einzige Unterschied zu den bisherigen Anschlägen auf diese Strecke ist ja offenbar der, daß der Zug diesmal tatsächlich rausgesprungen wäre…« »Ja, sicher!« sagt der Bundesbahner. »Nach den Erfahrungen der DB-Sicherheitsabteilung…« Ehrmann jedoch schneidet ihm das Wort ab; drei lokale Repräsentanten der Atomfirmen, darunter auch Ina Sieloff, die dabeistehen und hier im Moment gar nichts zu melden haben, gucken sowieso bereits ziemlich indigniert. »Wir kommen damit zum dritten Anruf des Attentäters – nach meiner Ansicht dem eigentlich erst entscheidenden. Der Mann droht für den Fall, daß die Bundesbahn sich nicht um eine sofortige Einstellung der Atommülltransporte kümmert, mit weiteren Anschlägen, dann allerdings auf eine Hauptstrecke… Wie war noch der genaue Wortlaut?« »Ich hab’s mitgeschrieben«, sagt einer der Männer aus dem zweiten Glied, »das Tonband war noch nicht angeschlossen; ich weiß nicht, ob’s ganz wörtlich ist…« Er nimmt ein Blatt aus einer dünnen Akte und liest vor: »Ein für allemal – kein Faß und kein Container dürfen im Bahngüterverkehr je über Dannenberg transportiert werden! Außerdem haben Sie dafür Sorge zu tragen, daß die von Ihnen
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arrangierten Lkw-Transporte sofort aufhören! Und falls Sie versuchen sollten, uns auszutricksen, legen wir den ganzen deutschen Eisenbahnverkehr lahm – Intercitys und was nicht alles, überlegen Sie mal! Wir haben noch viel wirkungsvollere Methoden, Züge entgleisen zu lassen, und Sie wissen ja selbst, daß die Züge oft schon zweihundert fahren – wie das wohl krachen würde! Klarerweise sagen wir Ihnen dann bestimmt nicht mehr, wo wir die Falle gebaut haben, damit nichts passiert – dann würd’s nämlich tatsächlich passieren! Sie hätten dann also überhaupt keine andere Möglichkeit mehr, als alle Ihre schönen Züge vorsichtshalber im Stall zu lassen – kapiert?« Ehrmann nickt. »Wirklich nicht übel… ein sehr einfacher, aber auch sehr wirkungsvoller Trick! Bemerkenswert ist übrigens die Sachlichkeit des Anrufs, falls er wirklich in etwa wörtlich mitgeschrieben worden ist…« Diesmal wendet er sich an den Mann von der Bundesbahn: »Wie werden Sie auf die Drohung reagieren?« »Na, wie schon!« meint der Beamte grämlich. »Momentan geht das doch alles an die falsche Adresse – mit den Lkw-Transporten haben wir nie etwas zu tun gehabt! Und was den vorgesehenen Bahngüterverkehr betrifft, wenn das Endlager mal fertig sein sollte – also, ich geh davon aus, daß wir den Tätern zunächst mal ein Einverstanden signalisieren. Fragt sich nur wie, wenn sie sich nicht wieder melden…« Die schöne, trotz ihres frühen Aufstehens sehr ausgeschlafen wirkende Ina Sieloff – Munkhaus hat sie neulich schon mal auf einer Informationsveranstaltung bewundern können – protestiert daraufhin so lautstark, daß selbst Ehrmann aufmerksam wird. »Einer Erpressung ohne Ende wären damit ja wohl automatisch Tür und Tor geöffnet!« »Meine Güte«, meint der Bahnmensch, »warum lassen Sie sich denn nichts einfallen? Wenn ich im übrigen davon ausgehe, daß über den Fall wie immer bei solchen Drohungen strenges Stillschweigen bewahrt wird, ist das sowieso kein Zustand auf Dauer – gerade seit Monsieur X ist die DB auf solche Sachen hervorragend vorbereitet und weiß sich ihrer Haut zu wehren; das Ganze kostet hauptsächlich Steuergeld und unseren Leuten den Feierabend. Unsere großen
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Strecken werden heute so gründlich überwacht, daß Einzeltäter normalerweise keine Chance haben. Eine Gruppe von Tätern hat’s sicher genauso schwer, wenn die Überwachung verstärkt wird… andererseits, glauben Sie, wir könnten’s uns in unserer heutigen aggressiven Marketingsituation leisten, den Zugverkehr einzustellen? Entscheiden wird natürlich letzten Endes der Vorstand, aber da kann nichts anderes rauskommen!« »Hinsichtlich der Erpressung«, erklärt Ehrmann ungeduldig, »reden wir ja schließlich auch noch mit!« Er lächelt Ina Sieloff zu, sieht sich beifallheischend im Kreise um und wundert sich offensichtlich, daß niemand klatscht. »Wieweit sind Sie denn inzwischen wirklich mit Ihrer…« Dann sieht er, daß der von ihm zur Minna gemachte Fernmeldeexperte nicht da ist, und wird wieder ausgesprochen ungnädig. »Ach nee, wo ist denn nun schon wieder der Herr Broth?« »Zum Bahnhof gefahren«, sagt Broths Assistent. »Er will da keinerlei Risiko eingehen… ich meine, nachdem Sie in dieser Sache so viel Wert auf das neue Fangschaltungssystem legen…« »Sie wissen, daß im Bahnhof Dannenberg Ost mehrere Anschlüsse in Frage kommen?« »Ja, natürlich. Wenn der Mann wieder anruft, können wir in den nächsten zehn Sekunden sagen, von wo aus er gerade telefoniert. Die von einer unserer hausinternen Entwicklungsgruppe konzipierte neue Methode ist schon vom BKA…« »Daß ihr immer wie die Prospekte reden müßt!« sagt Ehrmann sarkastisch. Er wirft Munkhaus einen bösen Blick zu – der hat vor lauter Erleichterung darüber, daß seine Aussage in Anbetracht eines so perfekten Fahndungsmittels ja nun überflüssig ist, unwillkürlich einen Laut der Überraschung von sich gegeben. »Ich jedenfalls bin von Ihrer angeblichen Wunderwaffe in dem Moment überzeugt, in dem definitiv die ersten brauchbaren Resultate vorliegen. Leider habe ich schon so manche Techniker der Bundespost Sprüche klopfen hören und nachher wie begossene Pudel dastehen sehen…« »Dafür«, sagt der Assistent tapfer, »können allenfalls einige frühe Entwicklungsfehler verantwortlich gemacht werden, die inzwischen…«
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»Na gut!« Ehrmann wirkt abgelenkt. Und dann ist es endgültig soweit… dann krallt er sich, wirklich wie ein Habicht, den verstörten Munkhaus. »Was haben Sie eigentlich hier zu suchen?« donnert er den Eulenfreund an, der sich am liebsten in den Erdboden verkriechen würde. »Herr Munkhaus ist freier Mitarbeiter der unteren Forstbehörde!« sagt der Revierförster rasch – manchmal, überraschenderweise, eben doch ein Kumpel. »Wo ist Ihr Dienstausweis?« »Hier…« Thon reicht ihn rüber. Den aber will der Kriminaldirektor gar nicht sehen. »Ihren Ausweis!« herrscht er Munkhaus an. »Ich… ich habe keinen…« stottert Munkhaus. »Ich dachte nur, ich könnte Ihnen…« »So, so…« meint Ehrmann, plötzlich gefährlich leise. In der nächsten Sekunde wird’s losgehen: ein gigantisches Ungewitter. »Ich… also, ich meine«, stammelt Munkhaus weiter, »also, ich hätte da wirklich…« Einige Angaben zu machen, will er sagen, wichtige Angaben, die zwar vor allem zu seiner Errettung aus dieser furchtbaren Situation beitragen, zugleich jedoch auch der Polizei die Arbeit erheblich erleichtern und der Bundesbahn massiv aus der Bredouille helfen könnten. Aber er wird sie nicht los – kein Gedanke daran. »Ich lasse Sie einsperren!« brüllt Ehrmann. »Hauen Sie sofort ab, Sie, Sie, Sie Laus… wehe Ihnen, wenn Sie sich hier noch einmal blicken lassen!« Erich Munkhaus haut ab zu seinem Fahrrad. Er steht erneut am Rand eines Nervenzusammenbruchs und ist durch den beschämenden Auftritt – nebenbei das zweite Mal innerhalb einer Stunde, daß die Polizei nichts von ihm wissen wollte – in seinem sowieso schwer angeschlagenen Rechtsverständnis zutiefst erschüttert. Wie ein geschlagener Hund schleicht er sich durch die Absperrung, und tief senkt er den Blick vor den gaffenden Menschen. Seltsamerweise gewinnt gerade dabei der Ärger die Oberhand über die Depression. Und in leicht abgewandelter Form taucht erneut der Gedanke auf, der ihn vorhin schon mal kurz heimgesucht hatte: Eine
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Belohnung, denkt er zunächst, werde ich also nicht kriegen. Das Night Scope, der Campingwagen, all diese Tausende und Abertausende für den Strix uralensis… alles fällt flach. Es sei denn… Urplötzlich bleibt er stehen – wie angewurzelt. Sperrt effektiv Mund und Nase auf, vor lauter Staunen über die eigenen Gedanken, über deren Kühnheit und Dreistigkeit. Es sei denn, es sei denn… …ICH HOLE MIR DAS GELD WOANDERS! Er geht weiter. Das Rad ist noch da, aber jemand hat’s umgeworfen, und das Vorderrad scheuert. Also schiebt er’s nach Hause, und dann, mit einemmal, erinnert er sich an eine Bemerkung von Polizeirat Bieber. Bis jetzt nicht, aber das kann ja noch kommen, hat der Oberpolizist zu Ehrmanns Überlegungen gesagt, daß die Attentäter komischerweise kein Geld verlangt hätten. Kann man da vielleicht… na ja, tätig werden? fragt er sich. Oder ist das im Endeffekt nicht doch viel zu gefährlich? Also, ich fahr erst mal los, beschließt Munkhaus. Und dann haut er kurz entschlossen ganz aus der Dahlenburger Bannmeile ab, mit dem nächsten Bus nach Krummwedel: Mit dem Rad wäre er in seinem Zustand dort nie angekommen. Er wälzt auf der Fahrt immer bloß Zahlen im Kopf, und um ein Haar hätte er versäumt, rechtzeitig auszusteigen. In Krummwedel taumelt er geradezu in den Dorfkrug, körperlich total erschöpft und von seiner Idee wie erschlagen, und der Wirt hinter dem Tresen der Fünf Linden schaut ihn an und sagt »Hallo!« und weiß sichtlich nicht ganz genau, ob er den Mann nun kennt oder nicht. »Kennen Sie mich noch?« fragt Munkhaus. »Klar doch«, behauptet der Wirt, »lassen se mich bloß kurz überlegen…« »Vorgestern, der Nachmittag, an dem die beiden… die beiden Herren mit dem Jeep da waren…« »Richtig«, sagt der Wirt. »Ja – nun fällt’s mir wie Schuppen von den Augen. Wollnse sich nicht setzen?« »Ach, ich steh lieber…«
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»Sie sind ja ganz ab«, meint er, »was ist, wollnse wenigstens was trinken?« »Eine Fanta«, sagt Munkhaus. Aber als er das dumme Gesicht des Gastwirts sieht, steigt er schleunigst auf Korn um. »Wenn Sie auch einen möchten…« »Aber immer!« Der Wirt nimmt zwei Gläser aus dem Regal und schenkt ein. »Zum Segen!« »Prost!« sagt Munkhaus tapfer. Kippt den Schnaps, der nach Sprit schmeckt, in einem Zug runter und kommt dann, mit starkem Herzklopfen, zur Sache. »Kennen Sie zufällig diese – diese beiden Herren mit dem Jeep?« »Sollte ich?« fragt der Wirt ausdruckslos. »Ich glaub, eigentlich nicht…« »Aber haben die Sie nicht geduzt?« »Oooch, das tun hier viele… Was liegt denn da eigentlich genau an?« Munkhaus begreift, daß er sich’s offenbar nicht ohne Grund mit den Alternativen verderben will. »Es ist doch nur – also, halten Sie’s für möglich, daß mir die beiden mit dem Jeep das Fahrrad beschädigt haben?« »Ach so!« Der Wirt wirkt beruhigt. »Wenn’s nicht mehr ist! Gemerkt hab ich allerdings zwar nichts – ich hör nicht besonders gut…« »Aber…?« »Na ja, die Namen von den beiden kenn ich nicht, aber wohnen tunse draußen in Sangendorf, das übernächste Dorf… was ist, wollnse noch einen?« »Ja, aber dann doch lieber eine Brause!« sagt Munkhaus. Er überlegt, wie er nach Sangendorf kommt, wenngleich ihm allein bei der Vorstellung schlecht wird. »Fährt da heute vielleicht noch ein Bus hin?« Der Wirt guckt auf die nachgemachte Kuckucksuhr. »Da hamse aber Glück… in zwanzig Minuten, unten im Dorf von der Poststelle…« »Gut!« sagt Munkhaus – und es klingt wie ein Amen. Er hat tatsächlich sehr viel Glück, sagt er sich. Und wenn er bis zu dieser Se-
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kunde immer noch gezögert und daran gedacht hat, zurückzufahren – jetzt ist er, endlich und endgültig, zu allem entschlossen. Der Wirt stellt die Flasche Fanta hin. »Wollnse etwa auch ’n Glas?« Munkhaus schüttelt den Kopf. Er rührt die Brause gar nicht erst an. »Ich möchte zahlen!« Zahlen, denkt er, um anschließend zu kassieren. Peter Schneider sieht dann zufällig vom Küchenfenster der alten Kate aus, wie ein älterer Mann auf das am Ortsrand gelegene Haus zusteuert. Er nimmt auf alle Fälle seine Schmeißer 6,35 aus dem Holster, obgleich er sich sagt, daß die Sache so gefährlich nicht sein kann. Er steht am Tisch, als Munkhaus an die Tür klopft. »Kommse rein!« Auf kurze Distanz sieht der Mensch noch älter aus. »Tach«, sagt er und dreht nervös die Daumen ineinander, »besitzen Sie einen Jeep?« »Wie kommse überhaupt her?« »Mit dem Bus«, erklärt Munkhaus wahrheitsgetreu, »dann hab ich unten im Dorf gefragt…« »Ach so. Und was ist mit dem Jeep?« »Also haben Sie einen, oder haben Sie keinen?« fragt Munkhaus tapfer. Schneider erhebt sich. »Entweder, Sie sagen jetzt, was Sie wollen, oder…« »Oder?« Schneider starrt ihn an. »Jey, jey, jey – du hast wirklich ’n Rad ab, du Grufti!« Von diesem Moment an gehen die Aussagen der Beteiligten – definitiv aller Beteiligten – teilweise diametral auseinander. Und die Rekonstruktion dessen, was in der Kate in Sangendorf tatsächlich passiert ist, wird für den Chronisten geradezu zu einer Beweisaufnahme – zu einer, wie er glaubt, immerhin erfolgreichen Beweisaufnahme. Erich Munkhaus in der Kate kommt zwangsläufig schnell zur Sache. Er habe mit eigenen Augen gesehen, erklärt er rundheraus, wie Schneider und Riedlinger – die Namen der beiden Männer kennt er
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momentan allerdings noch nicht – das Bahnattentat verübten, sei aber bereit, unter gewissen Umständen die Klappe zu halten. Hinter ihm sagt in diesem Augenblick jemand: »Was meinen Sie damit?« Erich Munkhaus wirbelt so rasch herum, daß es ihn fast von den Füßen reißt. »Vorsicht, Vorsicht!« sagt Riedlinger und fängt ihn behutsam auf. Er hatte gerade mal nach dem hinter dem Haus stehenden Jeep gesehen und ist leise ins Haus gekommen. »Setzen Sie sich doch erst mal hin…« Munkhaus tut’s. Riedlinger geht, hinkend wegen seines kaputten Knies, zum Tisch, setzt sich stöhnend auf den Stuhl neben Munkhaus – und starrt ihn an. Einfach nur so. »Ich brauch dringend Geld«, sagt Munkhaus hastig. »Ich bin Vogelschützer, wissen Sie, und ich hab grade für fünfzehntausend Mark ein Nachtsichtgerät gekauft und brauch noch dreißig für einen Wohnwagen. Das ist doch auf Ihrer Linie, wir tun ja alle was für die Natur…« Schneider, jetzt hinter ihm, sagt zähneknirschend: »Ich leg den Schlaffi um!« »Es würde Ihnen nichts nützen«, behauptet Munkhaus. »Wenn ich tot bin, kommt alles raus. Ich hab’s nämlich aufgeschrieben und bei einem Rechtsanwalt hinterlegt – und wenn ich mich bei dem nicht täglich melde…« »Sie?« fragt Riedlinger, erstaunt und fast amüsiert. »Ausgerechnet Sie?« »Ja, ich schwör’s!« Dabei hat er sich das natürlich gerade erst im Bus ausgedacht; gelesen hatte er’s mal in irgendeinem billigen Politkrimi. »Wie heißt der Anwalt?« fragt Schneider und hält dem Rentner die Waffe an die Schläfe. »Sag ich nicht…« »Ach ja…« Und er haut ihm die Schmeißer kurz mal auf das rechte Auge.
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Munkhaus schreit vor Schmerz. »Laß das!« sagt Riedlinger scharf. »Gebrauch doch mal deinen Grips!« Dann zu Munkhaus: »Wie kommen Sie darauf, daß wir Ihnen das Geld geben könnten!« »Sie haben doch Forderungen gestellt – im Zusammenhang mit Ihrem Attentat…« »So – meinen Sie?« »Das tun… das tun…« »Na, kommen Sie schon!« sagt Riedlinger freundlich. »Das tun Attentäter doch immer…« Riedlinger lacht. »Ich glaub, ich sollte Sie doch mal filzen!« Während Schneider ihm unaufgefordert Feuerschutz gibt, tastet er Munkhaus ab und entschuldigt sich erstaunlicherweise sogar, daß er ihm auch zwischen die Beine gehen muß. »Keine Wumme, kein Messer!« Er denkt nach. Schneider sieht so aus, als ob er seine Waffe – ein zierliches Ding, wie aus einem Guß, das aussieht wie eine Wasserpistole und dennoch im Zweifel Blei und Tod sprüht – nur noch mit Mühe ruhig halten könne. »Okay«, meint Riedlinger. »Wir haben Forderungen gestellt. Wir haben gefordert, daß diese Atommülltransporte eingestellt werden – wenn nicht, lassen wir ’n Intercity entgleisen. Aber trotzdem sind Sie bei uns an der falschen Adresse – wir haben nämlich kein Geld gefordert, kapiert?« »Dann tun Sie’s eben nachträglich!« verlangt Munkhaus, der sowieso annimmt, daß er gleich tot ist. »Noch mal«, sagt Riedlinger, »wofür genau brauchen Sie die Kohlen?« »Für den Strix uralensis – ich mein, das sind Habichtskäuze, umweltbedrohte Eulen. Sie würden ganz entscheidend zu ihrer Rettung…« »…beitragen!« ergänzt Riedlinger, und man weiß nicht so ganz genau: meint er’s sachlich oder bloß ironisch? »Wie heißen die Viecher?« »Strix uralensis…«
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»Aha!« Und dann doch noch, wenn auch ganz freundlich: »Ich glaube, Sie sind bekloppt!« Keiner wirft in dieser Zeit auch nur einen einzigen Blick aus dem Fenster. Die Männer in Tarnanzügen, die sich über fünfzig Meter freie Fläche an die Kate heranrobben, erkennen ihrerseits keine Bewegung. In einem ausgetrockneten Graben, fast schon unmittelbar am Haus, legen sie eine allerletzte Pause ein. Über ein Horchgerät können sie schon seit einiger Zeit jedes Wort, das innen gesprochen wird, verstehen. Innen kommt Riedlinger, nach einigen weiteren grotesken Wortwechseln, unter anderem auch über die von Munkhaus so bewunderten Kranichwächter von Mölln, denen er nacheifern will, zu einem Entschluß. »Fünfzig Mille sind für die Bundesbahn nicht die Welt«, sagt er. »Und wenn ich damit jemandem helfen kann, ich meine, Ihnen und uns und diesen komischen Eulen – diesen, diesen Strix…« »…uralensis!« sagt Munkhaus. »Richtig – also grundsätzlich, wenn ich einem helfen kann, hab ich immer ’n offenes Ohr!« Schneider versteht nichts mehr. »Die haben uns doch sofort am Arsch, wenn das Wort Strix oder so fällt! Die wissen doch, daß der Typ sich um so was kümmert, und von daher wär es doch klar, woher der Wind weht…« »Peter, ehrlich…« sagt Riedlinger fast nachsichtig. »Ich sag doch nicht, wer die Kohlen braucht und wofür! Ich sag da bloß, daß ich nicht einsehe, daß sie diese Atomsauerei unterstützen und wir nicht auch noch dafür, daß wir sie wegmachen, die Unkosten tragen können – irgendwas in der Richtung!« Und dann geht er ans Telefon. »Halt!« sagt Munkhaus verängstigt. Er hat Vertrauen zu dem Mann und will nicht, daß ihm da was passiert – schon im eigenen Interesse nicht. »Wieso?« »Wen… wen wollen Sie anrufen?« »Sag ich doch dauernd«, sagt Riedlinger. »Die Bahn!« Dann nimmt er den Hörer ab.
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»Tun Sie’s nicht!« erklärt Munkhaus hastig. »Da gibt’s ’ne neue Fangschaltung… innerhalb von Sekunden…« »Woher wissen Sie das?« »Ich hab’s gehört – zufällig…« Riedlinger sieht Schneider an. »Technisch möglich ist heute alles«, erklärt Schneider zunächst, »aber wenn du ins Dorf zur Zelle gehst, wüßten sie ja auch, wo du bist. Und von da aus…« »Ja, soll ich etwa noch nach Lüchow fahren, wegen dem ganzen Scheiß?« »Nu wart mal…« Schneider geht wieder zu Munkhaus; er ist ja nicht blöd. »Jetzt mal Tacheles, Opa… hast du mit irgendeinem über die Sache gequatscht?« »Nein!« versichert Munkhaus. »Aber wennste das mit der Fangschaltung gehört hast, warst du doch bei den Bullen?« »Ich bin… ich bin zufällig vorbeigekommen, als sie drüber redeten…« »Ich werd nicht mehr!« sagt Schneider kalt. »Die reden von ihren Staatsgeheimnissen, wenn sone Kalkleiste wie du zuhört! Ganz zufällig!« Er schüttelt den Kopf. Und dann haut er Munkhaus, ohne die geringste Vorwarnung, seine Schmeißer mit voller Wucht über den Schädel, holt nochmals aus, wird von Riedlinger angesprungen und gepackt, keilt nach hinten aus… die beiden kommen ins Straucheln – und mit ohrenbetäubendem Krach geht ein Schuß los. Munkhaus, wenngleich nicht getroffen, fällt wie in Zeitlupe schwer zu Boden. Und die Tür fliegt krachend auf, und zwei, drei, vier Männer mit geschwärzten Gesichtern und kurzläufigen Revolvern im Anschlag sind im Zimmer und schreien: »Hände hoch – keine Bewegung!« Schneider schießt trotzdem. Ein Mann vom Mobilen Einsatzkommando wird ins Bein getroffen und bricht schreiend zusammen. Es ist ein Wunder, daß gerade in dem Moment ein anderer von der Seite her Schneider angesprungen, umgerissen und das Schußfeld verstellt hat – Peter Schneider wäre sonst mindestens dreimal tot…
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Riedlinger hat die Hände über dem Kopf und flüstert andauernd: »Scheiße, Scheiße…«
»Halt die Klappe!« schreit ihn einer an. »Diese Sau«, sagt Riedlinger trotzdem, »diese Mumie… der mit seinem Fangschaltungsgequatsche – der wußte doch, daß ihr da draußen längst rumkriecht!« Dann kapiert er, wie schief er damit liegt. Denn als der Pulverqualm sich verzieht, als Erich Munkhaus immer noch wie tot am Boden liegt und Riedlinger und der aus allen Knopflöchern blutende, stöhnende Schneider Handschellen tragen, kommt Kriminaldirektor Ehrmann herein. Hinter ihm ein Zivilist im graugrünen Parka. »Sie haben da als Fachmann sicher den besseren Blick, Herr Redlich – könnten die beiden das sein?« Er reicht dem Inhaber des größten Dannenberger Fotogeschäfts die Farbaufnahmen, die Munkhaus gemacht hat. Paul Redlich blickt von den Fotos auf die gefesselten Männer und umgekehrt. »Ich glaube ja!« meint er dann. »Ich mein, ich bin mir sogar ziemlich sicher!« »Sie sollten stolz auf sich sein!« sagt Ehrmann. »Ihr Handeln als Staatsbürger, uns unverzüglich die Fotos zur Verfügung zu stellen, verdient allergrößte Anerkennung!« Und dann sagt er, während Redlich die Kate verläßt und beklommen darüber nachdenkt, daß er sich einen solchen Stolz gerade in Dannenberg wahrscheinlich gar nicht leisten kann, nur noch kurz und knapp: »Abführen!« Das letzte Wort allerdings hat der Chef der Sonderkommission diesmal nicht. Zunächst kommen noch zwei Ambulanzfahrer, die den aus seiner klaffenden Schädelwunde erheblich stärker als Schneider blutenden bewußtlosen Eulenfreund auf die Trage betten. »Armes Schwein…« murmelt einer der beiden. Weiß der Henker, was er über den armen, geschundenen Erich Munkhaus wirklich weiß. Die Welt im Wendland, immerhin, ist klein. Die Posse – denn eine solche ist es, wie gesagt – nähert sich ihrem Höhepunkt und Ende.
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Ina Sieloff und der DNA-Justitiar Dr. Ralph Wangeness konferieren noch am gleichen Abend mit Kriminaldirektor Ehrmann und dem zuständigen Oberstaatsanwalt Dr. Kruck. Dabei geht es natürlich nicht um Riedlinger und Schneider, nicht um die Sache als solche, sondern ausschließlich um den bedauernswerten Munkhaus – denn das, was der in der Kate in zumindest technischer Hörweite der Fahnder von sich gegeben hat, reicht nach Ansicht des öffentlichen Anklägers doppelt und dreifach aus, um ihm ein Verfahren aus dem Umfeld von Nötigung und Erpressung anzuhängen. Jedenfalls könne man das, betont er mit großer Hartnäckigkeit, auf keinen Fall einfach unter den Teppich kehren. »Aber Herr Kruck, ich bitte Sie«, ereifert sich Dr. Wangeness, dessen Spezialität gerade die Grauzonen des Strafrechts sind, »das mit der Geldforderung hat der Mensch doch eindeutig nur gesagt, um die beiden bewaffneten Täter in Sicherheit zu wiegen und abzulenken! Versetzen Sie sich, bitte, doch mal in seine Lage, nachdem er, gründlich, wie er nun mal ist, obgleich objektiv ziemlich leichtsinnig, seiner Vermutung selber nachgegangen ist und den Attentätern in ihrem Haus plötzlich tatsächlich gegenübersitzt – was soll er denn da anderes machen als lügen, lügen, lügen?« »Eben!« sagt Ina Sieloff. Gott segne Wangeness, denkt sie, der spurt wirklich wie eine Eins. »Sie vergessen eines«, sagt Ehrmann, »der hat die Burschen doch sogar ausdrücklich gewarnt! Es hätte nicht viel gefehlt, und wir hätten…« »Papperlapapp!« meint der Anwalt. »Er wußte doch, daß diese Fotos in die Hände der Ermittlungsbehörde kommen mußten – er hat sie diesem Fotomeister Redlich absolut gezielt in die Hände gespielt!« »Also, ich glaub’s nicht«, sagt der Oberstaatsanwalt, »ich habe mich heute nachmittag länger mit diesem Förster unterhalten – diesem… diesem…« »Thon!« hilft Ehrmann aus. »…richtig – und dieser Herr Thon hat mir eine Menge interessanter Dinge über die – ich möchte fast sagen: Besessenheit des Herrn Munkhaus erzählt. Der Mann hatte einfach eine fixe Idee – es gebe
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hier in der Gegend eine seltsame Art von Eulenvögeln, und die gelte es zu schützen – koste es, was es wolle…« »Aber das ist doch keine verwerfliche Motivation!« unterbricht Dr. Wangeness. »Da würden wir doch sofort prüfen müssen, ob eine fixe Idee nicht sogar einen förderungswürdigen Zweck darstellen kann…« »…koste es, was es wolle, sagte ich«, vollendet der Ankläger hartnäckig. »Und da liegt der Hase im Pfeffer: Für ein kostspieliges optisches Gerät hatte Herr Munkhaus aus eigener Tasche schon fünfzehntausend Mark bezahlt. Jetzt brauchte er, wie er glaubte, noch einen Wohnwagen. Für den aber, wiederum, brauchte er nicht jene fünfzigtausend, die ihm die Verdächtigen Riedlinger und Schneider auf sehr illegale Weise beschaffen sollten, sondern allenfalls zwanzigtausend. Er wollte also unter anderem die Beträge, die er investiert hatte, quasi erstattet haben! Und das läuft doch wohl eindeutig und unbestritten auf eine erklärtermaßen individuelle Bereicherungsabsicht hinaus!« »Sie vergessen abermals die Fotos!« erklärt Dr. Wangeness. »Wie oft soll ich’s noch sagen – das waren eindeutig konkrete Fahndungshinweise, um die Ermittler auf die richtige Spur zu bringen! Ich weiß wirklich nicht, was Sie da noch wollen; der Mann hat nach meiner Überzeugung keine Anklage, sondern eine Belohnung verdient!« »Wie stellen Sie sich das denn vor?« fragt der Oberstaatsanwalt perplex. »Seit wann zahlt der Staat Belohnungen, wenn keine ausgesetzt sind?« »Aber die Frage stellt sich hier doch gar nicht«, erwidert Dr. Wangeness, »wenngleich es eine zumindest justizpolitische Frage sein könnte. Wir geben ihm die Belohnung! Wir, die DNA, zahlen ihm das Gerät und den Wohnwagen!« Er zündet sich eine teure Zigarre an, und beim Flackern des Streichholzes fügt er mit tiefem Ernst hinzu: »Wir – tun doch – immer bloß – Gutes, also – auch hier!« »Kinder, macht, was ihr wollt!« sagt Ehrmann. »Ich habe zu tun!« Er erhebt sich geräuschvoll und nickt huldvoll nach allen Seiten. Während er zur Tür geht, hat man den Eindruck, daß bei Dr. Kruck plötzlich der Groschen fällt. »Ich ahne, auf was es Ihnen hier ankommt«, sagt er, sobald sie zu dritt sind. Er wendet sich an Ina Sie-
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loff. »Eine – wie nennt man so was? –, eine spürbare Imageverbesserung, stimmt’s?« »Der Gedanke ist sicher nicht ganz absurd«, gibt die Vertreterin der DNA zu. »Wir sind seit Jahren bemüht, der hiesigen Bevölkerung endlich klarzumachen, daß wir als – na, sagen wir getrost – Freunde hier sind und nicht als Störenfriede. Und wenn ich dann noch von den kleinen Geschenken reden darf, die die Freundschaft erhalten…« »Aha«, sagt der Oberstaatsanwalt, »verstehe…« Ina Sieloff und Dr. Wangeness sehen ihn gespannt an. Sein glattes Gesicht zeigt keine Regung, aber hinter der gerunzelten Stirn arbeitet es sichtlich. »Gut«, sagt Dr. Kruck schließlich, »ich werde zusehen, was sich tun läßt. Ich denke sogar, daß sich im Hinblick auf einen Verzicht auf eine Ermittlung gegen Herrn Munkhaus einiges tun läßt – ich selbst würde ihn vernehmen und ihm die richtigen Fragen stellen…« »Na bitte!« sagt Dr. Wangeness. Der Oberstaatsanwalt jedoch hat die Hand gehoben und übergeht den Anwalt ein zweites Mal. »Das alles aber unter einer Bedingung, Frau Sieloff – erstens, Sie stiften Herrn Munkhaus tatsächlich das Geld oder die Geräte; es bleibt natürlich Ihnen überlassen, in welcher Form Sie Ihre Großherzigkeit dokumentieren wollen. Zweitens allerdings, davon kommt kein Sterbenswörtchen in die Zeitung!« »Wieso das denn nicht?« fragt Ina Sieloff perplex. »Tu Gutes und rede darüber… warum sollten wir denn da unser Licht unter den Scheffel stellen?« »Weil die Welt schlecht ist!« sagt Dr. Kruck. »Weil in dem Moment, in dem die Geschichte publik wird, die Menschen glauben müssen, Erich Munkhaus habe die Täter verpfiffen! Und das ist, wie Sie wissen, hierzulande eine verflucht zweischneidige Sache!« »Aber er hat sie doch verpfiffen«, meint Ina Sieloff kopfschüttelnd. »Er hat sie zum Wohl der Allgemeinheit verpfiffen, und dazu, meine ich, muß er doch stehen!« »So – meinen Sie?« fragt der Ankläger. »Ja, das meine ich!« erklärt sie. »Außerdem ist es sowieso egal, wenn ich ehrlich bin… die Bevölkerung ist so oder so davon überzeugt…«
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»Erich Munkhaus hat nichts und niemanden verpfiffen«, sagt Dr. Kruck grämlich, »wenn ich mal ehrlich sein darf. Und wenn er’s, entgegen meiner Überzeugung, doch getan oder wenigstens beabsichtigt haben sollte – dann, Frau Sieloff, sollten erst recht keine schlafenden Hunde zusätzlich geweckt werden! Meine Güte, ist Ihnen die Fähigkeit zu guten Werken ohne Hintergedanken total abhanden gekommen?« Ina Sieloff denkt nach. »Das«, sagt Dr. Wangeness süffisant in ihre Richtung, »ist nun Ihre Entscheidung…« »Nicht ganz«, meint sie am Ende. »Ich trau in diesem ganzen Wendland längst keinem mehr über den Weg. Und wenn’s rauskommt, daß wir von unserem Geschenk an Herrn Munkhaus zurückgetreten sind, weil uns eine entsprechende PR von Amts wegen untersagt wurde – na, Mahlzeit!« »Wollen Sie damit sagen, ich könnte die Sache aus dem Zimmer tragen?« grollt Dr. Kruck. »Gott bewahre!« sagt sie hastig. »Sie doch nicht! Aber ich konnte ja wohl kaum damit rechnen, daß Ihre Sensibilität derart ausgeprägt ist. Ich selber hab’s deshalb unvorsichtigerweise schon mal rumposaunt…« »Also?« fragt der Oberstaatsanwalt. »Es ist bitter genug«, sagt Ina Sieloff. »Wir könnten uns, wenn wir tatsächlich nur effizient denken würden, diese ganze Sache wirklich sparen. Aber bitte: Wir schmeißen diesem Herrn unser Geld nach, und von uns aus kommt trotzdem nichts in die Zeitung!« »Bravo!« sagt der Oberstaatsanwalt spontan und total unjuristisch. Und grinst Dr. Wangeness an und freut sich, daß der Kollege von der anderen Partei tatsächlich ebenfalls grinst. Und dann steht’s trotz und alledem letztlich doch im Lokalblatt – und springt im GENERALANZEIGER FÜR DAS GESAMTE WENDLAND, derjenigen unter den örtlichen Zeitungen, die nach Meinung des deutschnationalen Verlegers als einzige objektiv berichtet, unter der dicken, vierspaltigen Überschrift DNA HAT EIN HERZ FÜR DEN TIERSCHUTZ den Lesern die reinste Jubelstory ins Auge. Oberstaatsanwalt Dr. Kruck schäumt und tobt und bedau-
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ert zutiefst, daß er keine Handhabe hat, gegen den mutmaßlichen Tipgeber ein Ermittlungsverfahren einzuleiten. Gleich darauf aber wird ihm schmerzhaft klar, warum Dr. Wangeness so gegrinst hat: er, Kruck, hat sich austricksen lassen wie ein Anfänger! Denn diese Ina Sieloff hatte ihm ja sogar ausdrücklich gesagt, daß sie schon einiges rumposaunt hatte! Noch am Abend des Tages, an dem der GENERALANZEIGER die Story veröffentlicht hat, fliegt durch das Fenster des Krankenzimmers von Erich Munkhaus ein schwerer Feldstein; verletzt wird keiner, aber die Werte des Patienten verschlechtern sich dramatisch. Zahlreiche Mitglieder der ATOMKRAFT-NEIN-DANKE-Initiative diskutieren, wenn auch logischerweise ergebnislos, in den Kneipen heftig und mit Leidenschaft über Moral und »Konsequenzen« dieser Affäre. Ein im allgemeinen als recht friedlich geltender Wendländer bringt die Stimmung auf den Punkt, als er das berühmte Schlagwort der »Antis« dahingehend persifliert: »Wi willt den Kerl nich hebb’n!« Gemeint ist – natürlich – Munkhaus. Und insofern hilft heute nichts mehr – nichts als die »Generallösung«, auch diejenigen Karten, die bislang nur hinter verschlossenen Türen gespielt wurden, auf den Tisch zu legen, zu einer wenn auch noch so delikaten Rehabilitierung von Bürger Munkhaus. Was ich hiermit, bitte sehr, getan habe. Denn es darf nach meiner journalistischen Überzeugung nicht angehen, einen Menschen in die Ecke zu stellen, den letzten Endes, wie auch immer, sogar die Justiz ungeschoren gelassen hat. Und so bleibt mir zum Schluß nur noch dieser eine Appell, ein Appell an alle Wendländer: Laßt Erich Munkhaus nicht nur zufrieden, sondern laßt ihn auch weiter mit euch leben und seid weiter nett zueinander! Bestraft worden, auf für ihn besonders schmerzhafte Weise, ist Munkhaus außerdem längst. Seine Fotos der Habichtskäuze, von den Ermittlungsbehörden mit den »Fahndungsaufnahmen« zunächst beschlagnahmt und dann schnell wieder zurückgegeben, wurden mittlerweile als »wenig beweiskräftig« abgetan, und niemand hat die Vögel jemals wieder gesehen. Dem Strix uralensis ist das »Atomland Wendland« offensichtlich wirklich nicht geheuer – und wer, bitte schön, denkt in diesem
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Zusammenhang nicht automatisch an die berühmten Gänse vom Capitol? Soweit die Story von Robert Gerber. Inzwischen ist dann ja doch einiges passiert. Und der Lüneburger Kriminalhauptkommissar Heinz Mandel, seit heute früh aus reichlich tristem Anlaß doch noch mit einer sehr konkreten Ermittlungsaufgabe betraut, hat sich in und um Dannenberg die Hacken abgelaufen und ist trotzdem eine ganze Weile vor dem Hauptmeister Würtz wieder im Bahnhof Dannenberg Ost. Er raucht mehrere Selbstgedrehte nacheinander, reißt dann beide Fenster auf, macht sie wieder zu – und holt am Ende die Zeitschrift Zwischeneiszeit aus dem Schrank, um die Geschichte nochmals zu lesen. Er weiß jetzt, daß sie hervorragend recherchiert ist, wenngleich Gerber, der zwar mit Munkhaus, aber natürlich nicht mit den inhaftierten Tätern sprechen konnte, sich gerade bei der Wiedergabe der Gespräche zwischen Riedlinger und Schneider einige größere dichterische Freiheiten herausgenommen hat. Alles in allem, denkt Mandel, kann man sein Recherchenmaterial komplett zur Akte nehmen. Zu einer roten Akte – der Akte wg. des Verdachts des Mordes z. Nachteil von Erich Munkhaus. Soweit, sagt sich Mandel und weiß, daß er sich im Kreise dreht, hätt’s wirklich nicht kommen müssen. Dann kommt Würtz. Direkt von der Obduktion des in den heutigen Morgenstunden bläulich angelaufenen und mit möglicherweise eingeschlagenem Schädel aufgefundenen armen Eulenfreundes, wie Munkhaus von Robert Gerber genannt worden war. Erich Munkhaus, den das Kreiskrankenhaus, in dem er immer noch lag, erst nachträglich als »abgängig« gemeldet hatte, lag mit blutigem Kopfverband und ausgebreiteten Armen unter der Nistbuche seiner »Habichtskäuze«. »Na?« fragt Mandel. »War ja wohl die längste Obduktion meines Lebens«, erklärt Würtz. »Aber erzähl du mal erst! Denk an Ehrmann… immer methodisch…«
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Mandel grinst. Dabei gibt es eigentlich wirklich nichts zu grinsen, und er hört auch schnell wieder auf. »Gestern abend um zehn stellt die Nachtschwester zufällig fest, daß Munkhaus klammheimlich aus dem Krankenhaus getürmt ist. Auf die Idee, daß er jede Menge Herzglykoside mitgenommen hat, ist man erst heute mittag gekommen… das ist zu dem Punkt im Grunde schon alles…« Würtz nickt. »Klar, die Tabletten – danach sah’s ja gleich aus. Nur…« »Nur was?« »Es gibt in dem Fall nicht eine Todesursache, sondern mindestens drei. Oder auch fünf, oder acht, oder hundert. Trotzdem…« Henning Würtz sieht Mandel fast mißtrauisch an. »Sag mal, so ganz unter uns – glaubst du eigentlich immer noch an Mord?« »Was heißt immer noch? An Mord im unmittelbar strafrechtlichen Sinn hab ich nie geglaubt!« erwidert Mandel. »Aber gerade in diesem Fall sollten wir ja wohl hundertprozentig auf Nummer Sicher gehen!« Henning Würtz nickt abermals und nimmt sich seine Notizen vor. »Also… die Schädelkalotte von Munkhaus hatte einen auf den Röntgenaufnahmen nicht erkennbaren Riß – allein der hätte jederzeit zum Tode führen können, wie ich das verstanden habe. Ich red da von einer quasi älteren Verletzung, die offenbar durch einen Schlag oder den Sturz entstanden ist, als es in der Kate zur Schlägerei kam – vielleicht hängt der Staatsanwalt diesem Schneider in dem Punkt sogar eine Anklage wegen versuchten Mordes an…« »Vielleicht auch nicht«, sagt der menschenfreundliche Mandel. »Es hat bestimmt schon Dinge gegeben, die ich mir dringlicher gewünscht habe.« »Mag ja sein«, sagt Würtz, »aber da gibt’s jetzt ’ne merkwürdige Duplizität der Ereignisse. Dieser Schädelriß hat zwar jetzt tatsächlich zum Tode geführt, weil er letzte Nacht quasi erst richtig aufgerissen ist, aber der Obduzent will sich ebensowenig wie bei der ursprünglichen Verletzung festlegen, ob dafür ’n zweiter Schlag oder ’n zweiter Sturz verantwortlich ist. Kapiert?« »Sicher… aber eines von beiden wird er ja wohl für wahrscheinlicher halten?«
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»Er meint, daß es eher ein Sturz war, und das wird er auch in seinem Gutachten sagen – ein Sturz nach Bewußtseinstrübung infolge einer Überdosis von Herzglykosiden… damit haben wir die untergebracht. In dem Augenblick, in dem Munkhaus die geschluckt hatte, war er nicht mehr zu retten… also ist er so gesehen absolut freiwillig ausgestiegen. Er hatte einfach die Schnauze voll…« »Und wovon?« »Na – da rat mal!« sagt Würtz, und es klingt erheblich zynischer als beabsichtigt. »Das ließ sich bei der Leichenöffnung ebenfalls nicht mehr feststellen. Aber du hast ja diese Geschichte gelesen – da steht ja wohl alles drin. Seine Angst vor Nachtmärschen – darunter muß er schrecklich gelitten haben! Dann sein Geiz, ’ne Art Altersgeiz, wenn du willst – also, weh tut’s immer! Und dann jagen sie ihn bei Nacht und Nebel durch den tiefen Forst, dann macht ihn der Arsch Ehrmann zur Sau…« »Bitte, Henning!« »…dann zieht ihm Schneider eins über ’n Kopf – mein lieber Schwan, das wär mir schon lange zuviel! Und dann sind wir immer noch nicht an dem Punkt, wo ihm der Herr Oberstaatsanwalt eins reinwürgen will und ihm bei der Vernehmung das Wort im Mund verdreht…« »Zu seinen Gunsten!« wirft Mandel ein. »…und haben auch immer noch nicht die naheliegende Frage aufgeworfen«, fährt Würtz unbeirrt fort, »ob die Ärzte mit den Herztabletten nicht ’n bißchen reichlich leichtfertig umgegangen sind, und warum sie ihm die Glykoside eigentlich gegeben haben!« »Nämlich?« »Weil er auch ’ne schwere Herzinsuffizienz hatte!« erklärte Würtz. »Und wenn ich mich da tausendmal wiederhole – auch die hätte jederzeit zum Tode führen können, und im Endeffekt weiß keiner genau, ob sie’s nicht sogar getan hat bei all der Aufregung! Ich hab sein Herz schließlich mit eigenen Augen gesehen – schauerlich, sag ich dir…« Eine Weile sagt niemand was. »Im Grunde müßte man dann auch noch Redlich an die Hammelbeine kriegen«, sagt der Hauptkommissar schließlich, »diesen Foto-
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menschen. Seitdem die Sache mit den fünfzig Mille in der Zeitung gestanden hat, tönt der in der ganzen Gegend rum, um von sich abzulenken. Wärmt diese uralte Hamburger Geschichte auf und sagt, wär ja auch kein Wunder, daß so einer wie Munkhaus die armen Bahnattentäter verpfeift; wofür hätt’ er sonst wohl das Geld von der DNA kriegen sollen? Verborgen geblieben ist ihm das nach diesem Steinwurf bestimmt auch nicht – Munkhaus, meine ich…« »Ja, ja«, meint Würtz bitter. »Weißte, manchen Mitmenschen bleibt wirklich nichts erspart!« »Ja. Und dann dieser Förster! Der ist ausgerechnet gestern ins Krankenhaus marschiert, ’n paar Stunden ehe Munkhaus abhaut, und hat ihm erzählt, er wüßt’s jetzt definitiv, die Habichtskäuze seien – ätsch, ätsch – doch bloß ’n paar groß geratene Waldkäuze, und Munkhaus soll sich doch langsam mal ’ne Brille kaufen! Wenn du mich fragst, das hat ihm mindestens so den Rest gegeben wie alles andere!« Wahr und wahrhaftig, denkt Henning Würtz, eine abgrundtief düstere Sache. »Eigentlich ist also jeder verantwortlich, mit dem Munkhaus in letzter Zeit…« Das Telefon klingelt. Mandel nimmt ab. Hört eine Weile zu, sagt »Ach nee!«, hört wieder zu und macht von Anfang an ein ziemlich erschrockenes Gesicht. »Gut!« sagt er schließlich. »Schönen Dank auch!« Und legt auf. Würtz sieht ihn fragend an. »Lars Riedlinger ist abgehauen!« sagt Mandel finster. »Der Haupttäter, vermutlich… den Brüdern im Knast geht der Arsch mit Grundeis…« »Oje…« »Ja. Heute nacht hat er gesagt, er braucht Kopfschmerzpillen, und als der Wachtmeister kommt, knallt er ihm eine – und weg ist er! Heute nacht um zwei – vielleicht hat er ja an der Bahn was vergessen und will’s holen, und da läuft ihm mit einemmal Munkhaus über den Weg…« Das Gesicht von Henning Würtz wirkt plötzlich deutlich erleichtert. »Heute nacht um zwei kann er’s nicht gewesen sein. Da war Munkhaus schon tot…«
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»…sagt der Obduzent?« fragt Mandel. »Ja, genau!« sagt Würtz. »Woher weißt du das?« »Ich hab’s mir gedacht«, meint Heinz Mandel. »Und ich will dir mal was sagen: Ich bin froh, daß er’s nicht sein kann! Im Grunde war Riedlinger der einzige, der zu unserem Eulenfreund jemals nett war!«
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Die Autoren vorgestellt von Rudi Kost
Michael Molsner Mit seinen »Euro-Ermittlern« Markus Stauder und Corinna Castrup hat Michael Molsner dem deutschen Kriminalroman Neuland erschlossen. Ein Autor wagt es, sich in einer Serie ganz auf das Gebiet der Wirtschaftskriminalität zu konzentrieren. Ein Tanz auf dem Glatteis. Das Wirtschaftsleben mit seinen verschachtelten Strukturen und seinen geheimnisvollen Mechanismen ist eine spröde Materie. Vollends schwierig wird es, wenn es um die halblegalen und die illegalen Tricks geht, denen eine erkleckliche Zahl unserer Zeitgenossen ihren schnellen Reichtum verdankt: vermöchte man so genau dahinterzublicken, könnte man ja selbst einmal… Michael Molsner hat ein Pärchen ersonnen, das durch diesen Dschungel zu führen imstande ist – nolens volens, schließlich ist es ihr ungewöhnlicher Beruf, die Lücken ausfindig zu machen, durch die andere geschlüpft sind, jene Winkelzüge nachzudenken, die für schmutzige Geschäfte aller Art nun einmal unabdingbar sind. Ein seltsames Pärchen, diese Euro-Ermittler: sie früher Richterin für Wirtschaftsdelikte in Augsburg, Fachfrau also, mit ausgeprägt linker Familientradition, die sie nach einem DDR-Abenteuer (»Gefährliche Texte«, 1985) allerdings wesentlich nüchterner sieht; er ehedem Sportlehrer mit Hang zum unbeschwerten Leben und immer noch ein Allgäu-Playboy, wenn’s ihn ankommt. Zum Thema hat auch er einschlägige Erfahrungen beizusteuern – von der anderen Seite her (»Der Castillo-Coup«, 1985). Diese Personenkonstellation verrät den erfahrenen Autor – erfahren im doppelten Sinne. Mit seinen ersten, prononciert gesellschaftskritischen Büchern »Und dann hab ich geschossen« (1968), »Harakiri einer Führungskraft« (1969) und »Rote Messe« (1973) hat sich Michael Molsner, 1939 in Stuttgart geboren, entschieden geprägt von seinen Jahren als Gerichtsreporter, ein literarisches Instrumentarium erarbeitet, das er von Mal zu Mal souveräner und wagemutiger handhabte. 403
Erfahren hat Michael Molsner dabei allerdings auch, daß der Krimi, will er Massenware bleiben, solchen Wagemut nur in Grenzen erträgt. Er hat die Konsequenzen daraus gezogen, ohne von den Grundlinien seines politischen Verständnisses zu lassen. Seine Sympathien gehören weiterhin den Unterdrückten und Angeschmierten, seine dezidierte, doch nicht blindwütige Kritik gilt den Herrschenden, den Drahtziehern im Hintergrund, den heimlich und unheimlich faschistoiden Spießbürgern. Aber Michael Molsner hat gelernt – über die Stationen »Das zweite Geständnis des Leo Koczyk« (1979), »Eine kleine Kraft« (1980), »Die Schattenrose« (1982), »Ausstieg eines Dealers« (1983) – raffinierter zu verpacken, was ihn bewegt, auf die Suggestivkraft einer packenden Geschichte zu vertrauen. Die »Euro-Ermittler« sind der Ausfluß dieses steten Bemühens um die beste Form, den Leser zu unterhalten und gleichzeitig aufzuklären über die Widersprüche, die diese Welt offenbar am Leben erhalten.
Alexander Heimann Unter der Dunstglocke schweizerischer Idylle lauern Haß, Neid, Mißgunst. Nach außen ist soweit alles in Ordnung, doch es braucht nur wenig, die Funken stieben zu lassen. Drei Kriminalromane hat Alexander Heimann bislang geschrieben, »Lisi« (1980), »Die Glätterin« (1982) und »Bellevue« (1984), und sich mit ihnen in eine Tradition schweizerischen Krimischaffens gestellt, die bei Friedrich Glauser beginnt und mit Friedrich Dürrenmatt noch lange nicht zu Ende ist. Unterdessen sind gleichsam die »Enkel« wie Heimann am Werk, herausgetreten aus dem manchmal übermächtig scheinenden Schatten der beiden Friedriche. Alexander Heimann, Jahrgang 1937, der in Bern als Buchhändler lebt und neben seinen Krimis Sachbücher und Hörspiele geschrieben hat: Dieser literarische Eigenbrötler im besten Sinne braucht sich nicht nach großen Stoffen zu strecken. Die weltbewegenden Tragödien liefert der Alltag. Das Wetter spielt nicht ohne Grund eine wichtige Rolle in Heimanns Krimis: der hartnäckig fließende Landregen, das Gewitter und
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was ihm sommers vorausgeht, die drückende, alles lähmende Schwüle. Die Naturelemente werden zur Metapher für menschliches, allzumenschliches Verhalten. Irgendwas braut sich zusammen und sucht die Entladung; wie der Föhn die Wolken beiseite fegt und die Sicht freimacht, werden auch menschliche Abgründe in erbarmungsloser, schmerzender Klarheit bloßgelegt. Die Fassade der behäbigen Wohlanständigkeit ist so trügerisch wie die knorrige, mit Schweizerismen durchsetzte Sprache, derer sich Alexander Heimann mit Bedacht bedient. Rechtschaffene Leute drehen durch, und das Wetter steht in gar nicht so geheimnisvoller Beziehung dazu. Es ist natürlich höchstens der Auslöser, keinesfalls die Ursache; aber Luftdruck und Luftfeuchtigkeit, das wissen wir doch alle, wirken auf unsere Befindlichkeit ein. Da ist zum Beispiel ein Fünfziger-Jahre-Wohnblock außerhalb Berns, »das« Bellevue genannt, Stein gewordenes Sinnbild der Bürgerlichkeit. Über fröhliches Kindergeschrei senkt sich tödliche Stille, als jemand zum Gewehr greift und, gepeinigt vom Lärm und Spottversen, einen der »Gofen« einfach abknallt. Erbarmungslos, doch mit nie verhohlenem Verständnis seziert Heimann die Menschen und ihr Unvermögen, mit sich selber und ihrem Bild von sich ins reine zu kommen. Blickt man nur ein wenig hinter die Fassaden, erweist sich schnell, daß auf seine Weise jeder Dreck am Stecken hat und ängstlich bemüht ist, ja sein Gesicht zu wahren. Die ermittelnden Polizeibeamten sind da keine Ausnahme. Sie machen keine sonderlich gute Figur, diese Kommissäre und Wachtmeister. Helden nach gewohntem Verständnis sind sie jedenfalls allesamt nicht. Dazu sind sie selber viel zu sehr Mensch, im guten wie im schlechten. Es scheint gar nur des Schicksals glückliche Fügung zu sein, daß sie nicht selber auf der anderen Seite stehen, oft genug sind auch sie ihren Emotionen hilflos ausgeliefert.
Peter Zeindler Der deutschsprachige Kriminalroman hat bekanntermaßen über die Jahrzehnte hinweg mancherlei Nachholbedarf angesammelt, dann jedoch in Riesenschritten zu der ausländischen Konkurrenz aufge-
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schlossen. Ein Bereich jedoch blieb seltsamerweise lange ausgespart: Zum Spionageroman, zum Polit-Thriller hatten die hiesigen Autoren keinen Draht, obschon ihnen doch die Themen vor den Füßen lagen; die Angelsachsen hoben sie dankbar auf. Seit wenigen Jahren ist das anders. Nahezu zeitgleich mit seinem Gelsenkirchener Kollegen Peter Schmidt, doch literarisch anders verwurzelt, hat Peter Zeindler Maßstäbe gesetzt, an denen fürderhin niemand in diesem Genre vorbeikommen wird, auch im internationalen Vergleich nicht. Gleich mit seinem ersten Roman »Tarock« (1982) hatte Peter Zeindler, 1934 in Zürich geboren, einen beeindruckenden Start: ein Polit-Thriller im italienisch-schweizerischen Spannungsfeld, dessen Hintergründe sich der Aufklärung entzogen. Seine ersten Lorbeeren hatte sich Zeindler, promovierter Germanist, einst Lehrer und seit langem nun schon Journalist, mit Theaterstücken und Hörspielen verdient. Sein Gespür für geschickte Dramaturgie und hintersinnige Plots, für die Symbolkraft des literarischen Zitats und die Faszination des Rollenspiels kommt jetzt seinen Romanen zugute. »Die Ringe des Saturns« (1984) führt Konrad Sembritzki ein, dessen Abenteuer weitergeführt werden in »Der Zirkel« (1985), für den Zeindler mit dem Deutschen Krimi-Preis ausgezeichnet wurde. Sembritzki ist Berner Antiquar im Haupt- und Agent des Bundesnachrichtendienstes im Nebenberuf, ein Anti-Held, wie er im Buche steht, ein würdiger Nachfahre von John le Carrés legendärem George Smiley. Sembritzki, rundheraus gesagt, mag seinen Beruf nicht, doch wer einmal in dieses Spiel eingestiegen ist, kann sich nicht mehr daraus verabschieden. Er kann nur noch schauen, daß er seine Haut rettet und wenigstens das nicht verrät, was ihm lieb ist. Das ist nicht so einfach. Das Geheimdienstmilieu spielt raffiniert und es spielt falsch. Vor allem sind widerstreitende Kräfte am Werk, deren allmächtige Zirkel nicht zu durchdringen sind. Mit einem Klischee des Polit-Thrillers hat Peter Zeindler gründlich gebrochen: wenn Sembritzki seine Mission zu Ende gebracht hat, ist die Welt noch lange nicht gerettet. Die Hintermänner sind weiter am Werk. Nichts ist mächtiger, muß Sembritzki schmerzlich erfahren,
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als eine Rüstungsindustrie, die sich mit bestimmten Kreisen der Bundeswehr und des Geheimdienstes verbündet. Ein Agent, der um Aufklärung und um seinen Seelenfrieden kämpft, muß sich da manchesmal wie ein Don Quichotte vorkommen. Vielleicht kann diese Art von Roman ein Deutscher gar nicht schreiben. Vielleicht bedarf es dazu der Unbefangenheit eines Schweizers, der die ideologische Scheide mit Gelassenheit, dafür um so größerem literarischem Engagement zu betrachten weiß.
-ky Für Kritiker, die gern in Schubladen denken, ist -ky der Inbegriff des Sozio-Krimis, jener vordem so hoch gelobten, unterdessen, dem Zeitgeist folgend, so arg geschmähten Krimi-Abart, welche die Wurzeln von Verbrechen in den Strukturen der Gesellschaft sucht und mit harscher Kritik an Mißständen und den Versäumnissen des Staates nicht hinter dem Berg hält. -ky hat dieses Etikett bereitwillig angenommen, und in der Tat sind Romane wie »Stör die feinen Leute nicht« (1973), »Ein Toter führt Regie« (1974), »Es reicht doch, wenn nur einer stirbt« (1975) oder »Einer will’s gewesen sein« (1978) Musterbeispiele für die detaillierte Analyse sozialer Mechanismen, verpackt in eine spannende Handlung, die auch mit grotesken Situationen und ironischem Witz nicht spart. Zugleich waren das auch Erkundungen, wie das krimi-typische Erzähl-Einerlei aufzubrechen sei. -ky, bürgerlich Horst Bosetzky geheißen, 1938 in Berlin geboren und dort als Soziologieprofessor auch zuhause, hat sich noch für jedes seiner Bücher eigenwilliger formaler Mittel bedient, bis hin zum Briefroman (»Die Klette«, 1983) und historischen Verknüpfungen, wie sie schon im Titel »Friedrich der Große rettet Oberkommissar Mannhardt« (1984) angesprochen sind. Indessen ist im Werk -ky’s, zu dem auch eine böse Satire wie »Ich glaub’, mich tritt ein Schimmel!« zählt, unterschwellig eine Veränderung vor sich gegangen. Wer so aufklärerische Intentionen verfolgt wie er, der hat, eingestandenermaßen, auch politische Veränderungen im Sinn. Neuerdings transportieren die Geschichten -ky’s jedoch ein
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Stück verlorener Illusionen und zerstobener Hoffnungen, abzulesen etwa schon an »Kein Reihenhaus für Robin Hood« (1979). Schaut man etwas genauer hin, war diese Tendenz freilich weit früher bereits angelegt – seinen Kritikern zum Trotz war -ky trotz ausgesprochen phantasievoller Plots, trotz idealistischer Visionen stets ein Realist. Sein Berliner Oberkommissar Mannhardt, Antipode des Brammer Kripo-Helden Kämena, ist eine Figur, in der sich, wie in kaum einer zweiten, die Zeitläufe widerspiegeln. Ein Gedankenrevolutionär, aber nicht mutig genug, für seine Ideen zu kämpfen, seine Träume von einem anderen, besseren Leben auch in die Tat umzusetzen. Kein Wunder, daß er sich schließlich spiritistisch verliert und es der helfenden Hand des Alten Fritz bedarf, Mannhardt aus dem Sumpf des Selbstmitleids zu ziehen, in dem er zu versacken droht. Man müßte solcherlei der Neuen Weinerlichkeit zuschlagen, wäre es nicht -ky, der da schreibt. Angesichts seiner früher artikulierten gnadenlosen Kritik an den herrschenden Zuständen ist’s, ihm heutzutage sicher nicht froh ums Herz. Aber er ist solch ein VollblutSchreiber, daß er darüber seinen Zynismus und seinen Spott nicht verloren hat. Im Gegenteil: Es scheint so, als hätte die sarkastische Ader in ihm neue Nahrung gefunden. Manchmal allerdings klingt das auch wie Galgenhumor.
Marcus P. Nester Marcus P. Nester ist der dritte Schweizer in unserem Band, und das, wenn das Wortspiel erlaubt ist, spricht Bände. In der Schweiz hat sich in den letzten Jahren eine kleine, doch überaus feine KrimiProduktion entwickelt, die mit freundlichem Nachdruck darauf aufmerksam macht, daß »Swiss made« unterdessen auch bei Krimis als Zeichen für Qualität zu nehmen ist. In der Zunft der Krimi-Schreiber fällt Marcus P. Nester nicht durch nimmermüde Fließbandarbeit auf. Zwei Romane nur, in großem Abstand veröffentlicht, liegen von ihm vor. Aber die haben es dafür in sich.
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Vor allem, wenn es um Umweltverschmutzung geht, braucht Marcus P. Nester niemand etwas vorzumachen, er bringt da Erfahrungen aus erster Hand mit. Nester wurde 1947 in Basel geboren, studierte Geschichte, Deutsch und Englisch, besuchte die Filmkurse der Kunstgewerbeschule Zürich, drehte 1967 seinen ersten Kurzspielfilm, dem im Laufe der Jahre noch etliche folgten, war auch mal Lehrer und »bookshop assistant« in London, und bevor er 1979 zum schweizerischen Fernsehen ging, arbeitete er fünf Jahre in einem großen Chemie-Konzern. Dort war er Redakteur für audiovisuelle Unterrichtsmittel. Doch auch in dieser Position bekommt man genügend mit, um einen – später dann auch fürs Fernsehen verfilmten – Roman wie »Das leise Gift« (1982) zu schreiben. Thema, was wohl: die Umweltverseuchung. Aber auch, wie es so zugeht in einem Konzern: das Katzbukkeln, das Schielen nach der Karriere, die Intrigen. Wer das als bitterböse Persiflage auf das Angestelltenmilieu las, ging nicht fehl. »Das leise Gift« war Nesters zweiter Krimi. Den ersten hatte er 1978 zusammen mit Clemens G. Klopfenstein verfaßt: »Die MigrosErpressung« betraf den allmächtigen Schweizer Konzern, respektive dessen Milch. Vorerst ist da nur blaue Tinte drin, aber statt der Tinte könnten die beiden ausgeflippten Erpresser ja auch Gift hineintun… Die pointensichere Handlung und ätzender Witz gehören zum Stil von Marcus P. Nester. Seinen Landsleuten mag er nicht immer schmecken. Nester nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn er den Schweizern einen Spiegel vorhält. Einen Zerrspiegel zwar, wie es gute literarische Tradition ist, doch in der Überhöhung und der grotesken Zuspitzung zeigt sich die Wahrheit oftmals weitaus deutlicher als in einer platten Zustandsbeschreibung. Der Leser hat allemal den Gewinn. Wenn er hinterher auch um einige unangenehme Erkenntnisse reicher ist. Etwa, daß auch in der blitzsauberen Schweiz die Schlote rauchen, die Kernkraftwerke strahlen und auf dem Rücken der Basisdemokratie schmutzige Geschäfte gemacht werden. Abseits der wohlbehüteten Nummernkonten und der Käsekunde hat die Schweiz noch ein paar andere Geheimnisse, die sie wahrscheinlich lieber für sich behalten würde. Wenn es da nicht so ein paar hartnäckige Krimi-Autoren gäbe…
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Lydia Tews Lydia Tews wurde 1951 geboren und ist gelernte Buchhändlerin. Sie studierte Pädagogik bis zur Ersten Dienstprüfung und anschließend Kommunikationswissenschaft. In Schwäbisch Gmünd (unweit davon liegt der Pershing-Stationierungsort Mutlangen) gab sie die alternative Stadtzeitung »gegenDruck« heraus. Lydia Tews ist ein Prototyp einer neuen Generation von Autoren. Sie geht unbefangen ans Werk. Sie braucht keine Entschuldigungen, daß sie gerade Krimis und nichts »Besseres« schreibt. Literarische Einordnungen und Vorurteile kümmern sie wenig. Sie will einzig eine spannende, unterhaltsame Geschichte erzählen, mit ihr allerdings auch etwas transportieren. Es sind die politischen und sozialen Probleme unserer Zeit, die Lydia Tews in ihren Büchern aufgreift; und die Rolle der Frau in unserer Gesellschaft. Beispiel dafür ist die Hauptkommissarin Elfriede Schuhmann, die Hauptfigur in Lydia Tews ersten beiden Kriminalromanen »Sie sind ein schlechter Bulle, gnädige Frau!« (1982) und »Leichen brauchen kein Make-up« (1983). Mordfälle führen die junge Stuttgarter Kriminalbeamtin in die Provinz. Dort, in Klarenberg, wird sie mit Lebensformen konfrontiert, die es notwendig machen, auch mit sich selber ins reine zu kommen, mit seinen eigenen, vielleicht allzu gedankenlosen Vorstellungen vom »richtigen« Leben. Die schwäbische Kleinstadt, die Provinz mit ihrer Provinzmentalität: das ist Lydia Tews Thema. In der schwäbischen Kleinstadt, wo die Starrheit der überkommenen Beziehungsgeflechte noch deutlicher als in der Großstadt ist, spürt sie den rigiden sozialen und psychologischen Strukturen nach und setzt ihnen als Kontrast andere Lebensformen und Ideen entgegen. Das bedroht in der Provinz natürlich die Ansicht davon, wie »man« zu sein hat. Denn noch immer gilt die Devise, daß nicht sein kann, was nicht sein darf. – Und wenn etwa ein Chemiewerk Gift in die Luft schleudert und deshalb die Kirschen in Nachbars Garten alar-
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mierend gesundheitsgefährdend sind (»Störung der Totenruhe«, 1984), dann dürfte das eigentlich auch nicht sein. Lydia Tews hat neben Kriminalromanen auch Sach- und Jugendbücher und Hörspiele geschrieben.
Friedhelm Werremeier Friedhelm Werremeier macht sich neuerdings einen Spaß daraus, den Nebenfiguren seiner Geschichten nachzusinnen und sie auf ihre Tauglichkeit als Hauptfiguren zu überprüfen – so geschehen nicht nur mit dem Naturschützer Erich Munkhaus in der vorliegenden Geschichte, sondern auch mit Robert Gerber, einem Windhund von Reporter. In »Platzverweis für Trimmel« (1972) war er erstmals aufgetaucht, ist seitdem dem Hamburger Hauptkommissar und seinem Autor immer mal wieder über den Weg gelaufen, bis dann kam, was kommen mußte: Robert Gerber, unterdessen in Frankfurt ansässig, beanspruchte eine Reihe von Geschichten ganz für sich allein (»Trio unter Strom«, 1986). Ist das der Abschied von Trimmel? Mitnichten. Trimmel, bis zum Tode seines Darstellers Walter Richter dienstältester »Tatort«Kommissar, ist keineswegs in den Ruhestand geschickt worden. Er ist sogar lebendiger denn je, obschon seit längerem nichts Neues mehr über ihn zu lesen war. Friedhelm Werremeier, der Ex-Gerichtsreporter vom Jahrgang 1930, unter den deutschen Krimi-Autoren gewiß der beständigste, hat seine Trimmel-Romane und -Erzählungen mittlerweile samt und sonders neu bearbeitet, ein Novum in der Geschichte der Unterhaltungsliteratur, und damit auch behutsam auf den neuen Trimmel vorbereitet, der jetzt seine eigene Fernsehserie bekommen hat und mit dem Schauspieler Gerd Kunath nicht nur ein anderes Gesicht, sondern auch einen differenzierteren Charakter. Trimmel, wie man ihn durch Walter Richter kannte: das war ein typisch deutscher Bulle, der polternd, zornig und rachsüchtig mit seinen Fällen ein Stück Gegenwartsgeschichte (be-)schrieb, angefangen bei den Schwierigkeiten, von Deutschland-West nach DeutschlandOst zu gelangen (»Taxi nach Leipzig«, 1970/1983), über Umwelt-
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skandale (»Trimmel macht ein Faß auf«, 1973/1984), allmächtige Anwälte und Psychiater (»Trimmel hält ein Plädoyer«, 1976/1983) bis hin zu den Problemen mit der Steuer (»Trimmel und das Finanzamt«, 1982). Ungnädig, ekelhaft, gehässig, trotzdem oder gerade deswegen ungemein erfolgreich als Kripobeamter wie als literarische Erfindung: so ist das (Fernseh-) Bild, das man sich von Trimmel gemacht hat. Etwas aus dem Blick geraten ist dabei, daß Trimmel auch und vor allem ein Mensch ist, schon immer war, gar kein so Rüpel, wie man meint, sondern ein nachdenklicher, empfindsamer Mann, der sich bloß nicht gern in seinen Gefühlshaushalt blicken läßt. Werremeiers eigene Überarbeitungen seiner Romane, die Geschichten, die er für die neue Fernsehserie schrieb, kehren diese Seite Trimmels stärker hervor. Obschon Werremeier Trimmel seinen Erfolg verdankt, ist er von ihm nicht abhängig. Auch mit anderen Figuren fällt ihm noch stets eine außergewöhnliche Story ein – siehe Robert Gerber und Erich Munkhaus. Und das ist doch enorm beruhigend. Ohne Friedhelm Werremeier wäre die deutsche Krimi-Szene arm dran.
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